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German Pages 374 Year 1975
DIETER
SÜHR
Bewußteeinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
Schriften zur
Rechtetheorie
Heft 41
Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung Über Hegel und Marx zu einer dialektischen Verfassungstheorie
Von Dr· Dieter Suhr Privatdozent an der Freien Universität Berlin
DUNCKER
&
HUMBLOT
/
BERLIN
Als Habilitationsschrift auï Empfehlung des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Freien Universität B e r l i n gedruckt m i t Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Alle Rechte vorbehalten © 1975 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1975 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 03335 3
HERBERT KRÜGER
Inhalt Seite K u r z t i t e l der häufig zitierten Werke
10
Vorbemerkungen
11
Erster Teil Anknüpfungspunkte in der Gegenwart 1. Kapitel.
Heutige W i r k l i c h k e i t u n d Hegels Philosophie
15 15
1.1 Verbindungsfäden zu Hegel
16
1.2 Weltanschauung u n d Realpolitik
18
1.3 Verfassungstheorie i m geteilten Deutschland
22
Zweiter Teil Hegel und M a r x 2. Kapitel.
Hegel — Ausgangsprobleme
2.1 Hegels Schrift zur deutschen Reichsverfassung 2.11 Staatsbegriff 2.12 Aufgabe der Verfassungsschrift 2.13 Einleitungsfragment zur Verfassungsschrift 2.2 Religionskritische Jugendschriften 2.21 Eine geschichtliche Modellstudie 2.22 „Reich Gottes" 2.23 Lehren aus der Modellstudie 3. Kapitel.
Hegel — Ziel, Strategie u n d T a k t i k
29 29 29 30 31 33 40 42 46 51 63
3.1 Geschichtliche E n t w i c k l u n g u n d reaktionäre Kulisse
63
3.2 Geist u n d T a t
66
3.3 Bearbeitung des Bewußtseins
72
3.4 Echo auf Hegels W i r k e n
78
3.5 Heinrich Heine
82
Inhaltsverzeichnis
8
Seite 4. Kapitel.
Hegels Staatsphilosophie u n d die L i s t der D i a l e k t i k
86
4.1 Was v e r n ü n f t i g ist, das ist w i r k l i c h
86
4.2 Vernünftiger Staat u n d Deutschtümelei
97
4.3 Die L i s t der Staatsphilosophie
104
4.4 Eine Gestalt, die alt geworden ist
114
4.5 Philosophie des anonymen Todes
124
4.6 Die Wurzeln der dialektischen L o g i k
132
5. Kapitel.
M a r x u n d sein dialektischer Materialismus
. 136
5.1 M a r x , Feuerbach, Hegel
136
5.2 M a r x u n d Heine
144
5.3 V o n der Waffe der K r i t i k zur K r i t i k der Waffen
157
5.4 M a r x u n d Hegel 1844
160
5.5 E i n Verständigungsdialog
172
Dritter Teil Elemente einer dialektischen Verfassungstheorie 6. Kapitel.
D i a l e k t i k u n d kritischer Rationalismus
215 218
6.1 Wider-Spruch gegen die D i a l e k t i k
218
6.2 „Definierte Situation"
226
6.3 Wiedereinspeisungszusammenhänge
234
6.4 Platz- u n d Sprachenwechselei
243
6.5 Theoretische u n d praktische Widersprüche
248
6.6 Der menschlich-gesellschaftliche Prozeß als Polylog
252
6.7 Entstehung des Polylogs
254
7. Kapitel.
V o n der D i a l e k t i k zur Verfassungstheorie
260
7.1 Gesetze hinter den Gesetzen
260
7.2 Z u m V o r w u r f „Idealismus!"
264
7.3 Verfassunggebung als wahr-Sagung
274
7.4 Verfassung als G r a m m a t i k des gesellschaftlichen Prozesses
280
8. Kapitel. Bewußtseinsverfassung, Gesellschaftsverfassung u n d geschriebene Verfassung 288 8.1 Z u m theoretischen Ansatz
288
8.2 Verfassung des Bewußtseins. Oder: Theorie der internen Repräsentanten 292
Inhaltsverzeichnis Seite 8.21 Aufrechte innere Repräsentation
293
8.22 Verkehrte innere Repräsentation
295
8.23 8.24 8.25 8.26 8.27 8.28
295 296 299 300 302 305
Theozentrische innere Repräsentation Egozentrische innere Repräsentation Verdinglichende innere Repräsentation Mischformen der inneren Repräsentation Ich als ideelles W i r , W i r als ideelles Ich Bewußtseinsverfassung i n der Anthropologie des jungen M a r x
8.3 Verfassung der Gesellschaft. Oder: Theorie der externen Repräsentanten 308 8.31 Gesellschaftsverfassung als fleischgewordene Bewußtseinsverfassung 308 8.32 Das System von Gesellschafts-, Bewußtseins- u n d geschriebener Verfassung 310 8.4 Die Produktion des Menschen durch den Menschen
321
8.41 Arbeit an der N a t u r u n d A r b e i t am Menschen 321 8.42 Die Abhängigkeit der Menschen von der übrigen N a t u r u n d ihre Abhängigkeit voneinander 325 8.43 Anerkennung der Menschen durch die Menschen 331 8.5 Traditionelle Begriffe i m Lichte der dialektischen Verfassungstheorie 340 8.51 8.52 8.53 8.54 8.55
Allgemeinwille Repräsentative Demokratie Gemeinschaft als soziales Subjekt Freiheit v o m Menschen u n d Freiheit durch Menschen Geschriebene Verfassung
340 343 350 354 360
Namenregister
365
Sachregister
367
Kurztitel der häufig zitierten Werke Hegel, Georg Friedrich Wilhelm „Glockner":
Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe i n zwanzig Bänden. A u f Grund des Originaldrucks i m Faksimileverfahren neu herausgegeben von Hermann Glockner.
„Werke":
Werke (ebenfalls i n 20 Bänden). A u f der Grundlage der Werke von 1832 - 1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und K a r l Markus Michel. Frankfurt 1971.
„Ed. I l t i n g " :
Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831. Edition u n d Kommentar i n 6 Bänden von Karl-Heinz Ilting. StuttgartBad Cannstatt 1973 ff. (Bisher erschienen Bde. 1 - 3).
„Mollat":
K r i t i k der Verfassung Deutschlands. Hrsg. von Georg Mollat. Kassel 1893.
„Nohl":
Hegels theologische Jugendschriften. Hrsg. von Hermann Nohl. Tübingen 1907.
„Briefe":
Briefe von und an Hegel. Hrsg. von Johannes Hoffmeister. 4 Bde. 3. Aufl., Hamburg 1969.
„Hegel i n Berichten" : Hegel i n Berichten seiner Zeitgenossen. Hrsg. Günther Nicolin. Hamburg 1970.
von
Heine, Heinrich „Sämtliche Schriften" : Hrsg. von Klaus Briegleb, K a r l Pörnbacher. München 1971 ff. Marx, K a r l „MEW" :
K a r l Marx, Friedrich Engels, Werke, Berlin 1956 ff.
„MEW EB":
Ergänzungsbände I und I I zu den MEW.
„Landshut":
Die Frühschriften. Hrsg. von Siegfried Landshut. 1971.
Stuttgart
Vorbemerkungen 1. A m Anfang der Untersuchungen, die zu der vorliegenden Arbeit führten, stand das Thema „Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit", das jedoch weniger vom juristischen, als vielmehr vom sozialwissenschaftlichen und kybernetischen Ausgangspunkt her behandelt werden sollte. Recht bald jedoch löste sich die Ausgangsthematik gewissermaßen auf i n ein Feld für Untersuchungen, das schlagwortartig m i t „Gesellschaft - Bewußtsein - Sprache" umrissen werden kann. Da dieses Feld wiederum nicht nur ahistorisch-abstrakt bearbeitet werden sollte, sondern als auch geschichtlich ausgedehnter Bereich, mußte auf Erscheinungen eingegangen werden, die Gesellschaft, Bewußtsein und Sprache geprägt haben und noch prägen. Dabei fiel die Wahl auf Hegel und Marx; — warum, darüber gibt das erste Kapitel Aufschluß. Wer einen roten Faden für die Lektüre dieses Buches haben möchte, hält sich am besten an die Formel: Aus der urwüchsigen über die erkannte und angewendete zur verfaßten Dialektik. Damit sollen weder geschichtliche Notwendigkeiten noch allzu konkrete Entwicklungen behauptet, sondern nur die Etappen eines Gedankenganges angedeutet werden, die sich gelegentlich auch an der Sache selbst beobachten lassen, insbesondere bei Hegel und Marx, die der menschlichen Geschichte ihre dialektischen Gesetze abschauen wollten, u m ihnen Rechnung zu tragen oder u m sie ihrer Praxis zugrundezulegen. — Bevor der Versuch gemacht wird, die Dialektik zu präzisieren und i n eine modernere Sprache zu übersetzen, ist eine gründliche Auseinandersetzung m i t diesen beiden Dialektikern selbst erforderlich. I m letzten Teil der Arbeit geht es dann u m eine dialektische Theorie und Technik für den dialektischen Gegenstand: für die Innenverfassung des Bewußtseins, für die faktische Verfassung der Gesellschaft, für die sprachliche Verfassung als Verfassungsgesetz und schließlich für den Zusammenhang und Zusammenklang dieser drei Verfassungen i n der dialektischen Dreieinigkeit von Bewußtsein, Gesellschaft und Verfassungsgesetz. Das erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Selbstverständnis, das dieser Arbeit und vor allem der Verfassungstheorie des letzten Teiles zugrundeliegt, ist an kybernetisch-systemtheoretischen Erkenntnisweisen geschult und kann i m übrigen als „kritisch-rational disziplinierte
Vorbemerkungen
12
D i a l e k t i k " bezeichnet werden. A u f dieser Grundlage werden Erkenntniselemente verschiedenster Herkunft zu dem Konzept einer zusammenhängenden Verfassungstheorie miteinander verknüpft: aus der Soziologie und Entscheidungstheorie die definierte Situation; aus der Sozialpsychologie die Vorgänge der Verinnerlichung und Wiederentäußerung sowie der kognitiv-praktischen Resonanzen, Dissonanzen und Konsonanzen; aus der Anthropologie Beiträge zum menschlich-gesellschaftlichen Bewußtsein und zum Entfremdungsproblem; aus der praktischen und der Sprachphilosophie Erkenntnisse rund u m die Macht und Ohnmacht des Wortes sowie der Begriff des Sprachspiels samt der Frage nach der Grammatik der „Spiele", die oft blutiger Ernst sind und sich gerade nicht i m sprachlich-harmlosen Diskurs erschöpfen. 2. Nicht nur M a r x u n d seine Schüler verstanden sich als Praktiker, sondern auch Hegel hat seine Dialektik schon angewendet. Seine Praxis verbirgt sich allerdings hinter dem, was er als die List der Philosophie oder die L i s t des Geistes bezeichnet hat u n d was zugleich eine List Hegels w a r : des Philosophen, der den Geist m i t dem Maulwurf, welcher unter der Oberfläche arbeitet, zu vergleichen liebte. Dabei hielt Hegel sich schon an die Partisanenregel, wonach die geschichtlichen Umweltbedingungen nicht nur Bürden sind u n d Beschränkungen, sondern vielmehr auch das, was „das Wasser für den Fisch, die L u f t für den Vogel ist" (Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, 1803). Hegel ein Partisan der Arbeit am Bewußtsein seiner Zeit? Nein, — jedenfalls zunächst auch für mich nicht. Je tiefer mich jedoch meine Studien i n meine Sache hineinführten und je vertrauter m i r einige Probleme Hegels wurden, desto lästiger wurden die Zweifel, die mein Hegelbild allmählich zersetzten. V o n welcher A r t die Zweifel waren, sei an einem Beispiel erläutert: I n seinem Nachwort zu den von i h m herausgegebenen politischen Schriften urteilt Jürgen Habermas über das Verhältnis von Theorie und Praxis bei Hegel, daß i n der Landständeschrift von 1817 „der politische Schriftsteller Hegel zum ersten u n d einzigen M a l ganz m i t dem Logiker und Rechtsphilosophen, d. h. m i t dem Selbstverständnis des Systems" übereinstimme 1 . Den Mut, Hegel vorzuwerfen, seine politisch-schriftstellerische Praxis stimme bis auf eine Ausnahme m i t seinem System nicht zusammen, brachte ich nicht auf, zumal Hegel selbst dazu rät, bei großen Philosophen damit anzufangen, daß sie, u m ihres Ruhmes willen, „mehr Zutrauen verdienen als unsere eigenen Gedanken" 2 , und der verlangt, die Ge1
G. W. F. Hegel, Politische Schriften, m i t einem Nachwort hrsg. von
Jürgen Habermas, Frankfurt 1966, S. 364. 2
Briefe I S . 209.
Vorbemerkungen danken anderer aufzufassen und zunächst einmal auf eigene Vorstellungen Verzicht zu leisten 3 . Jedes kritische Urteil: „Hier widerspricht Hegel sich selbst", läßt sich also i n die selbstkritische Form übersetzen: „Hier reicht mein Erkenntnisvermögen nicht aus, u m nachzuvollziehen, ob und inwiefern Hegel m i t sich selbst zusammenstimmt." Also begann ich, Hegel noch einmal buchstäblich von vorn, nämlich von den Jugendschriften her, zu studieren, und zwar, indem ich gegen meine zum Teil schon niedergeschriebenen Vorstellungen künstlich die Erwartung m i t ins Spiel brachte, i n Hegels Werk und Leben mehr Zusammenstimmendes zu finden als bisher. Diese Erwartimg wurde übertroffen. Damit nun der Leser nicht nur meine Meinung über Hegel erfährt, sondern sich nach Möglichkeit selbst ein Urteil bilden kann, habe ich viele, auch längere Stellen aus Werken, Vorlesungen, Briefen und Zeugnissen von Zeitgenossen i n den Text m i t aufgenommen. Zwar ist auch eine solche Auswahl nicht frei von subjektiver Zutat, aber so kann der Leser doch etwas objektiver beurteilen, ob bei Hegel gewissermaßen die philosophische Hälfte des Kopfes nicht wußte oder verdrängte, was die politische tat, und umgekehrt. Das Hegelbild, das dabei entsteht, stimmt zu einem großen Teil m i t neueren Forschungen zusammen, tosbesondere das, was Karl-Heinz Ilting zum Berliner Hegel erforscht und zusammengestellt hat, bestätigt, von einigen Abweichungen i n der Deutung abgesehen4, was hier i m Kontext eines etwas anderen Erkenntnisinteresses erarbeitet worden ist. A u f die i n ähnlicher Richtung verlaufenden und sehr aufschlußreichen Studien von Jaques D'Hondt stieß ich so spät, daß sie m i r nicht die Arbeit erspart haben, die sie m i r hätten ersparen können 5 . A u f zwei weitere Studien zum jungen Hegel, die m i t bzw. nach A b schluß der eigentlichen Arbeiten an diesem Manuskript erschienen, sei ebenfalls hingewiesen, w e i l auch sie noch mehr und Exakteres zu den philosophisch-religiös-praktischen Problemen des jungen Hegel liefern, als hier möglich war: Hegel' s Development von H. S. Harris e, der sich insbesondere m i t der Verfassungsschrift auseinandersetzt, und die Studie von Karl-Heinz Nusser zum revolutionären Prinzip beim jungen Hegel 7 . 8 Z i t i e r t nach K . Löwith, V o n Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1969, S. 316 (dort kein exakter Nachweis). 4 Ed. I l t i n g , vor allem die Einleitung zu Bd. 1, S. 25 - 126, — u n d dazu meine Rezension i n : Rechtstheorie, Bd. 5 (1974), S. 175 - 188. 6 Jaques D'Hondt, Hegel i n seiner Zeit (Franz. Orig.: Hegel en son temps, Paris), B e r l i n 1973; ders., Verborgene Quellen des Hegeischen Denkens (Franz. Orig.: Hegel secret, Paris), B e r l i n 1972. 6 H. S. Harris, Hegel's Development. T o w a r d the Sunlight. 1770 - 1801. Oxford 1972. 7 Karl-Heinz Nusser, Hegels D i a l e k t i k u n d das Prinzip der Revolution, Der Weg zur praktischen Philosophie. München - Salzburg 1973.
14
Vorbemerkungen
I n dem Maße, wie sich das B i l d des Strategen und Taktikers Hegel herausschälte, wandelten sich auch die Vorstellungen über das Verhältnis von Marx zu seinem Lehrer. So entstand schließlich eine zweite, vollständig neue Fassung der Kapitel über Hegel und Marx. I n diesen Kapiteln sind nun die Spuren der überreichen Sekundärliteratur, die mich zunächst ebenso geführt wie irregeleitet hatte, nicht mehr zu finden. Diesen Mangel zu beheben, hätte exkursartige Auseinandersetzungen bedingt, die die Sache kaum gefördert, den Gedankengang aber bis zur Unkenntlichkeit kompliziert hätten. 3. I m übrigen w i r d hier eine Sache von solchem Zuschnitt abgehandelt, daß jeder Versuch, die Literatur auch nur annähernd zu erschöpfen, ohnehin aussichtslos ist. Vieles verdanke ich den Arbeiten von K a r l Löwith, Heinrich Popitz und Joachim Ritter; von Jürgen Habermas, Iring Fetscher und Robert Tucker; von Hermann Heller, Alexandre Kojève und Roger Garaudy; aber auch von George H. Mead und vielen, vielen anderen, die Spuren i n meinem Kopf und i n meinen Zettelkästen hinterlassen haben, ohne daß immer genau rekonstruierbar war, wem ich die Gedanken verdankte, die m i r i n den Sinn kamen. Niemand braucht m i r auch vorzuhalten, was dieser Arbeit hier oder dort fehle: Genauere Kenntnisse und Nachweise i n Philosophie, Geschichte und politischer Ökonomie; i n Soziologie, Psychologie und Sozialpsychologie; i n Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Logik; i n Anthropologie, Politologie und Theologie . . . Man w i r d ζ. B. Bodin vermissen, Hobbes und Rousseau und auf nichts oder zu wenig stoßen von Carl Schmitt, Rudolf Smend und Hermann Heller und von vielen weiteren, die an sich verdient hätten, m i t dem erwähnt zu werden, was sie zur Sache beigetragen haben. 4. Das Manuskript dieser Arbeit wurde Ende 1972 abgeschlossen, i n Teilen jedoch überarbeitet und i n den letzten beiden Kapiteln erheblich erweitert. Daß ich den Weg einschlagen konnte, auf welchem dieses Buch schließlich geschrieben wurde, danke ich Herrn Professor Dr. Helmut Quaritsch, als dessen Assistent ich die Atmosphäre des Aufbaus an der Ruhr-Universität Bochum und das Reizklima an der Freien Universität Berlin gerne miterlebt habe. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft schulde ich Dank dafür, daß sie es ermöglichte, verfassungstheoretischen Fragen ohne Hast so weit wie möglich auf den Grund zu gehen, sowie für die von i h r gewährte Druckbeihilfe. Berlin, den 7.10.1974
D. S.
Erster Teil
Anknüpfungspunkte in der Gegenwart 1. K a p i t e l
Heutige Wirklichkeit und Hegels Philosophie Deutschland ist kein Staat mehr. M i t dieser Feststellung begann Hegel an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert seine Schrift über die deutsche Reichsverfassung 1 . M i t der gleichen Feststellung kann auch heute eine Schrift beginnen, die nicht einem abstrakten Staatsbegriff nachgeht, sondern verfassungstheoretische Begriffe zu finden versucht, m i t denen heute i n Deutschland eine ergiebige Verfassungstheorie betrieben werden kann. Heute wie damals ist das L a n d durch Grenzen zerteilt, — freilich auf Grund von ganz anderen Bedingungen und m i t ganz anderen W i r kungen. So können die Grenzen, die damals das L a n d teilten, w i e sie es heute teilen, hier auch n u r erste, sehr oberflächliche Anknüpfungspunkte liefern f ü r Gedankengänge, die von heute zurück zu Hegel u n d von Hegel wieder i n die Gegenwart führen. Nicht selten sind es solche n u r äußerlichen, eher zufälligen Ähnlichkeiten, die den Blick plötzlich auf verborgenere und gewichtigere Bezüge hinlenken. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ging unter zu der Zeit, als Hegel an seiner Verfassungsschrift arbeitete. Diese Untergangsstimmung zeichnet den Horizont der weltgeschichtlichen Landschaft, i n der die Hegeische Eule der Minerva zum Fluge i n der Dämmerung ihre Schwingen ausbreitet. A b e r auf die philosophische Abenddämmerung folgte ein weltanschauliches Morgenrot, das Hegel sehr genau erwartet und, w i e sich zeigen w i r d , systematisch m i t vorbereitet hatte. Seitdem sind zwei Deutsche Reiche jeweils aus der Asche ihrer V o r gänger emporgestiegen u n d alsbald selbst wieder verbrannt. Es ist, als habe sich das Reich bei seinem Abtreten gegenüber dem „ W e l t 1 Fragmentweise schon mitgeteilt von K . Rosenkranz, Hegels Leben, Berlin 1844, Nachdruck Darmstadt 1971, S. 235-246. Erste Ausgabe: K r i t i k der Verfassung Deutschlands, hrsg. v. G. Mollat, Kassel 1893 (im Folgenden: Mollat), — darin der zitierte Einleitungssatz auf S. 134.
16
1 Kapitel: Heutige Wirklichkeit und Hegels Philosophie
geist" auf Mephistos Regel berufen: D u mußt es dreimal sagen! M i t dem Verschwinden auch des Dritten Reiches stehen w i r heute etwa dort, wo w i r vor 170 Jahren standen. N u r aus der Einzahl des untergegangenen Heiligen Römischen Reiches ist eine Dreizahl verschwundener Reiche geworden. Die Deutschen Reiche sind nicht mehr. Näher betrachtet zeigen sich Verbindungslinien, die von Hegel zur äußerlichen Lage Deutschlands heute führen, sowie entsprechende L i nien, die von Hegel zu verfassungstheoretischen Fragen i m heutigen Deutschland verfolgt werden können. Es kann freilich nicht erwartet werden, daß solche Behauptungen schon an dieser einleitenden Stelle dem Leser plausibel erscheinen. Sie sollen auch nur dazu dienen, i h m den Weg zu erleichtern, falls er bereit ist, den folgenden Gedankengängen vorsichtig und kritisch zu folgen. Zunächst also sind die Verbindungslinien zu Hegel als solche zu skizzieren. Dann muß der verfassungstheoretische Bezug verdeutlicht werden, ehe schließlich zu Hegel zurückgesprungen werden kann. 1.1 Verbindungsfäden zu Hegel Die drei großen Tatsachen der jüngsten deutschen Geschichte, die hier als Endpunkte geschichtlicher Linien ins Blickfeld rücken, sind: die Trümmer des nationalen Machtstaates, die sozialistische Deutsche Demokratische Republik und der — durch sozialstaatliche Kompensationsmechanismen gedämpfte — bürgerliche Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland. Die Trümmer des nationalen Machtstaates lenken die Aufmerksamkeit auf Hegels Staatsphilosophie. I n einer Zeit, i n der der Staat i n Verruf geraten war, w i r k t e Hegel durch seine Staatsphilosophie daran mit, daß er wieder einen guten Leumund bekam. Hegel hat dem Staat wieder Wertschätzung verschafft 2 . A u f diesen Kredit des Staates haben spätere Politiker ihre Wechsel ziehen können. So gut war sein Ruf, daß selbst wahnwitzig aufgeblähte Wechsel erst platzten und der Betrug ganz ans Tageslicht kam, als der nationale Machtstaat buchstäblich i n Schutt und Asche lag. Bei alledem war Hegels Philosophie gewissermaßen i n Berlin geblieben. Hier und von hier aus hat sie das Schicksal des Landes i m doppelten Sinne des Wortes mitgemacht. Die sozialistische Gesellschaftsordnung i n der Deutschen Demokratischen Republik lenkt die Aufmerksamkeit auf den dialektischen und 2 Rudolf Haym, Hegel u n d seine Zeit, B e r l i n 1857, Neudruck Hildesheim 1962, S. 4. — I n diesem Zusammenhang gehört auch H. Heller, Hegel u n d der nationale Machtstaatsgedanke i n Deutschland, Leipzig 1921.
1.1 Verbindungsfäden zu Hegel
17
den historischen Materialismus. Weiter verfolgt führt die Spur über Lenin, Marx und Engels ebenfalls zurück zu Hegel. Während der deutsche Machtstaat sich i n den Ersten Weltkrieg verstrickte, i n den Jahren 1914 und 1915, las wahrscheinlich niemand so genau Hegels Wissenschaft der Logik wie Lenin i m Lesesaal der Berner Bibliothek: „Man kann", notierte 3 er sich, „das »Kapital* von M a r x und besonders das I. Kapitel nicht begreifen, ohne die ganze Logik von Hegel durchstudiert und begriffen zu haben. Folglich hat nach einem halben Jahrhundert nicht ein Marxist M a r x begriffen!!" Lenins Exzerpte und seine engagierten Kommentare zur Logik füllen 150 Druckseiten . . . Und es sind vor allem diese Auszüge und Bemerkungen Lenins zu Hegels Logik, über die später Mao Tse-tung die Hegeische Dialektik unmittelbarer kennen lernen sollte 4 als auf dem Umweg über die Schriften von Marx und Engels. A u f ihrem Weg zum Sozialismus machte Hegels Philosophie nach allgemeiner Auffassung sogleich am Anfang bei M a r x eine Metamorphose durch. Sie verwandelte sich für Marx i n ein System der praktischen Gesellschaftspolitik. M a r x setzte sich scharf von Hegels Staatsphilosophie ab, und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch sehr praktisch: Der wirkliche Staat, i n dem Hegel seine Rechtsphilosophie geschrieben und seine Staatsphilosophie öffentlich gelehrt hatte, Preußen, zwang Marx, sich i n die Emigration abzusetzen, und Preußen ruhte nicht, bevor M a r x über Paris und Brüssel bis nach London ausgewichen war. M i t M a r x emigrierte ein mächtiger Ausläufer von Hegels Philosophie 5 . So ist es kein Zufall, daß „Das Kapital" i n London geschrieben wurde. Später, m i t der Oktoberrevolution, wurde das Bündnis besiegelt, das die praktisch gewordene Dialektik durch Lenin m i t der Sowjetunion Schloß. M i t der Roten Armee schließlich kehrte die Emigrantin nach Berlin zurück. Hier hat sie seitdem ebenfalls das Schicksal des Landes mitgemacht. Preußen hatte M a r x vertrieben. Deutschland hat den Marxismus-Leninismus zurückerhalten: eine A r t späte Rache des i n seiner Heimat ungeliebten Propheten, oder eine späte Heimkehr und Erfüllung. Die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland lenkt die Aufmerksamkeit nicht i n gleichem Maße auf Hegel zurück, aber sehr dicht an Hegel vorbei: zur bürgerlichen Französischen Revolution, — 3
Lenin, Werke Bd. 38, B e r l i n 1971, S. 170. Mao Tse-tung, Über den Widerspruch, i n : Ausgewählte Werke Bd. I, Peking 1968, S. 365 - 408. Dazu J. Schickel , Hegels China — Chinas Hegel, i n : O. Negt, A k t u a l i t ä t u n d Folgen der Philosophie Hegels, F r a n k f u r t 1970, S. 183 -194. 5 „ . . . während Hegel über M a r x zu L e n i n u n d nach Moskau wanderte". — Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, München u n d Leipzig 1932, S. 50. 4
2 Suhr
18
1 Kapitel : Heutige Wirklichkeit und Hegels Philosophie
zu der Zeit der „ K r i t i k und Krise" (Koselleck) vor dieser Revolution, — zum absolutistischen Staat und zu den Religionskriegen, aus denen er hervorgegangen ist. I n Richtung auf diesen geschichtlichen Strang pflegt unsere staats- und verfassungstheoretische Aufmerksamkeit sich standortgerecht zu wenden. Aber an M a r x und Hegel vorbei werden w i r keine geeignete Sprache und keine tragfähigen Verständnisbrücken für verfassungstheoretische Erwägungen i m geteilten Deutschland finden. Denn der Mangel der staats- und verfassungstheoretischen Begriffe, deren Wurzeln i m wesentlichen i n Richtung Frankreichs und der angelsächsischen Länder gesucht werden, besteht gerade darin, daß es für sie die dialektische K r i t i k der bürgerlichen Gesellschaft und des dazugehörigen Staates praktisch nicht gegeben hat, — höchstens insofern, als man i n i h r einen werbewirksamen Vorwand fand, dieser K r i t i k aus dem Wege zu gehen. 1.2 Weltanschauung und Realpolitik Selbstverständlich ist die heutige Lage Deutschlands nicht nur ein Produkt von Ausläufern der Hegeischen Philosophie. Aus dem dicht geflochtenen Netz der geschichtlichen Zusammenhänge w i r d Hegel hier nur als ein ideengeschichtlicher Knoten herausgehoben, w e i l einige auffällige Tatsachen der heutigen Wirklichkeit jedenfalls auch deutlich auf Hegel zurückweisen. Hegel selbst wiederum ist nur ein Kopf unter vielen, deren Gedanken während der Jahre etwa zwischen 1749 und 1832 (Goethes Geburt und Tod) den „Geist der Zeit" bestimmten. Wenn nun bei dem ideengeschichtlichen Knoten Hegel einige Fäden aufgenommen und i n Richtung auf das heutige Deutschland m i t Berlin als dem aktuellen geographischen Knoten unserer Probleme verfolgt werden, so geschieht das i n dem Bewußtsein, daß ungezählte andere Fäden vernachlässigt werden. So gewiß es ist, daß hier m i t jedem Satz ungezählte Fäden und Zusammenhänge vernachlässigt werden, so wenig steht i m einzelnen fest, welche Bezüge gerade unbeachtet bleiben. Daher sei noch darauf hingewiesen, daß dieser Betrachtung bewußt eine erhebliche Vereinfachung zugrundeliegt, ohne die die bisherige Gedankenführung gar nicht möglich gewesen wäre: Es w i r d nicht weiter danach gefragt, inwiefern die weltanschaulichen Komponenten der Politik, die sich nicht zuletzt i n den verschiedenen Gesellschaftsordnungen auf deutschem Boden niedergeschlagen haben, sich bei einer realpolitischen Betrachtungsweise verflüchtigen würden zur bloß weltanschaulichen Verpackung von Welt-Politik. Insbesondere w i r d nicht geprüft, inwiefern die Teilung Deutschlands als solche als das geschichtliche Ergebnis deutscher und anderer Machtpolitik betrachtet werden muß. Die A u f -
1.2 Weltanschauung und Realpolitik
19
merksamkeit konzentriert sich vielmehr auf die Tatsache, daß i n der DDR und i n der Bundesrepublik Deutschland nicht n u r über unterschiedliche Weltanschauungen theoretisiert w i r d , sondern daß die u n terschiedlichen Weltanschauungen auch praktiziert und täglich neu ins Werk gesetzt werden. Diese Wirklichkeit liefert die Fragen, u m die es i n der vorliegenden Arbeit geht. Die Weltanschauungen sind keine bloßen Hirngespinste, sondern i n die Gesellschaftsordnungen hineingearbeitet (bzw. als verfestigender ideologischer Überbau aus der Gesellschaft hervorgegangen). Sie sind konstitutionalisiert zu unterschiedlichen Verfassungssystemen einschließlich der hinzugehörigen Methoden u n d Leitlinien der Verfassungsanwendung. Cuius regio eius ordo®. B r i n g t man alles von der gegenwärtigen Lage Deutschlands i n Abzug, von dem man meint, es auf Konto „Machtpolitik" buchen zu müssen, dann hat man immer noch die weltanschaulichen Gegensätze, die von den anderen Komponenten der Politik überlagert oder verwendet werden. U n d diese weltanschaulichen Gegensätze liefern Stoff für Streit genug, denn sie ähneln nicht nur den religiösen Gegensätzen, sondern sie sind vom jungen M a r x 7 ganz bewußt i m Zuge einer radikalen Fortsetzung der Feuerbachschen Religionskritik als geistige Waffe der Politik entwickelt worden: „Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihre praktische Energie, ist i h r Ausgang von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion." Abstrakt betrachtet regen diese Feststellungen dazu an, Parallelen zu den Spannungen zu ziehen, die sich i n den Religionskriegen entluden und gegen die Staatstheorie und Staatspraxis den souveränen Staat entwickelten: als den hoheitlich-weltlichen Plätter der religiösen Fanatismen. Die Abwandlung des lateinischen Satzes: cuius regio eius religio, deutete diese Parallelen an. — Konkret betrachtet liegen jedoch andere Assoziationen v i e l näher: Noch viel weniger als damals geht es heute nur u m die verheerende Wirkung, die die Indoktrination verschiedener Vorstellungen vom Himmel hervorrufen kann, sondern u m die richtigen Formen des Zusammenlebens auf der Erde. Die weltlichweltanschaulichen Probleme dieses und des vergangenen Jahrhunderts zu lösen m i t Hilfe eines mächtigen Staates, hat Deutschland erst kürzlich zweimal ohne Erfolg versucht. U n d es hat den Anschein, als habe es sich bei den Versuchen nur u m Fluchtversuche gehandelt, durch die ® Vgl. C. Schmitt, S. 73 f.: Von cuius regio eius religio über eius natio zu eius ο economia. 7 Κ . Marx ! F. Engels, Werke, B e r l i n 1956 ff. (im Folgenden zitiert: MEW), Bd. 1 S. 3 ( = K . Marx, Die Frühschriften, hrsg. von S. Landshut, Stuttgart 1971, S. 216, — i m Folgenden zitiert: Landshut).
2·
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1 Kapitel : Heutige Wirklichkeit und Hegels Philosophie
die Lösung nur aufgeschoben und die Probleme nur verschärft, verdeutlicht und betoniert worden sind. — Auch diese von der Weltanschauung auf die Religion zurückführenden Assoziationen lenken die Aufmerksamkeit i n einen geschichtlichen Kontext, i n dem Hegel eine wichtige, wenn nicht die entscheidende Rolle spielt, mag sein System der affirmativen Verweltlichungen auch sehr viel geräuschärmer sein als aller übrige bloß kritische Atheismus. A m Anfang und am Ende des Weges zur Philosophie u n d Religion, den Hegel etwa i n der Phänomenologie des Geistes 8 zurücklegt, steht als Voraussetzung und als Resultat „die vollständige Weltlichkeit des Bewußtseins i n ihrer Notwendigkeit". Dieses Bewußtsein hat Hegel seinen Hörern und Lesern i n affirmativen Systemen der Philosophie vorphilosophiert M a r x hat dieses vollständig weltliche Bewußtsein als kritisches Vermögen theoretisch praktiziert. Achtzig Jahre nach Hegels spekulativem Karfreitag 9 und vierzig Jahre, nachdem auch M a r x zur weltlichen, menschlich-gesellschaftlichen Tagesordnung u n d Praxis übergegangen war, — und nachdem Heinrich Heine 10 zeitweilig gebeten hatte: „ K n i e t nieder — man bringt die Sakramente einem sterbenden Gotte", verriet Nietzsche die Erfahrung Pascals vom Tode Gottes auch den deutschen Lesern, die deutsche Emigranten w i e Heine u n d M a r x weniger zu lesen pflegten 1 1 . Hegel hatte es schon längst affirmativ und M a r x schon längst kritisch m i t dem weltlichen Nachfolger Gottes zu tun. Gott w a r tot, oder er hatte vielmehr für M a r x nie gelebt außer i n der Einbildung von sich selbst entfremdeten Menschen. Aber es lebte der Staat, den M a r x aufs K o r n nahm; es lebte die bürgerliche Gesellschaft der Privateigentümer, die er dabei vor die Mündung bekam; und es lebte der Geist dieser Gesellschaft — das Kapital. Auch bei Hegel w a r zunächst auf die ersten religionskritischen Jugendschriften eine Kampfansage an den Staat gefolgt, und insofern ist M a r x ein dem idealistischsten Hegel geistesverwandter Schüler seines Lehrers. I m sogenannten „ältesten Systemprogramm des deutschen 8 Hegel, Phänomenologie des Geistes (Sämmtliche Werke. Jubiläumsausgabe i n zwanzig Bänden, hrsg. von H. Glockner — i m Folgenden zitiert
als: Glockner —, Bd. 2 S. 35, = Werke, hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M.
Michel,
Frankfurt 1970 — Suhrkamp-Studienausgabe, i m Folgenden zitiert
als: Werke —, Bd. 3 S. 37).
9 Glockner 1, 433 ( = Werke 2, 432). Außerdem Glockner 16, 300 ( = Werke 17, 291): „Gott ist gestorben, Gott ist tot — dieses ist der fürchterlichste Gedanke, daß alles Ewige, alles Wahre nicht ist, daß die Negation selbst in Gott ist . . Λ — „Dieu est mort" ist denn auch der Titel eines Buches über das System und die Methode Hegels von Roger Garaudy (dt.: Gott ist tot, Frankfurt/M. o. J.). 10 H. Heine, Sämtliche Schriften, Bd. I I I S. 591. 11 Nietzsche, Werke i n drei Bänden, hrsg. ν. K . Schlechta, I I S. 125 ff. und andernorts (Index zu diesem Werk S. 133 f.).
1.2 Weltanschauung u n d Realpolitik I d e a l i s m u s " 1 2 (das i n Hegels f ü r d i e A b s c h r i f t e i n e r fremden
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H a n d s c h r i f t geschrieben ist, ζ. T . a l l e r d i n g s V o r l a g e g e h a l t e n w i r d ) h e i ß t es:
„ V o n der N a t u r komme ich aufs Menschenwerk. Die Idee der Menschheit voran, w i l l ich zeigen, daß es keine Idee v o m Staat gibt, w e i l der Staat etwas Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. N u r was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. W i r müssen also über den Staat hinaus! — Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; u n d das soll er nicht; also soll er aufhören ... Zugleich w i l l i d i hier die Prinzipien f ü r eine Geschichte der Menschheit niederlegen u n d das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung bis auf die Haut entblößen. Endlich kommen die Ideen von einer moralischen Welt, Gottheit, Unsterblichkeit, — Umsturz alles Afterglaubens, Verfolgung des Priestertums, das neuerdings Vernunft heuchelt, durch die V e r n u n f t selbst. — Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt i n sich tragen u n d weder Gott noch die Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen." — S c h l i e ß l i c h m u ß auch Nietzsche a u f d i e F r a g e d e r Nachfolge Gottes stoßen, u n d auch er e r w ä g t , d i e r e l i g i ö s e n T r i e b k r ä f t e u n d T r ö s t u n g e n f ü r w e l t l i c h e Z w e c k e z u b e n u t z e n u n d auszubeuten. A b e r Nietzsche w e i ß , daß d i e r e l i g i ö s e B e g e i s t e r u n g f ü r d e n S t a a t nachlassen w i r d , daß d e r S t a a t v o n d e r entfesselten Privatperson v e r e i n n a h m t , daß d e r S t a a t s b e g r i f f abgeschafft u n d daß d e r Gegensatz v o n p r i v a t u n d ö f f e n t lich aufgehoben w e r d e n w i r d 1 8 . „Die Aussicht, welche sich durch diesen sichern V e r f a l l ergibt, ist aber nicht i n jedem Betracht eine unglückselige: die K l u g h e i t u n d der Eigennutz der Menschen sind von allen ihren Eigenschaften am besten ausgebildet; wenn den Anforderungen dieser K r ä f t e der Staat nicht m e h r entspricht, so w i r d am wenigsten das Chaos eintreten, sondern eine noch zweckmäßigere Erfindung, als der Staat es war, zum Siege über den Staat kommen. Wie manche organisierende Gewalt hat die Menschheit schon absterben sehen . . . So w i r d ein späteres Geschlecht auch den Staat i n einzelnen Strecken der Erde bedeutungslos werden sehen — eine Vorstellung, an welche viele Menschen der Gegenwart k a u m ohne Angst u n d Abscheu denken können. A n der Verbreitung u n d V e r w i r k l i c h u n g dieser Vorstellung zu arbeiten, ist freilich ein ander D i n g : m a n muß sehr anmaßend v o n seiner Vernunft denken u n d die Geschichte k a u m halb verstehen, u m schon jetzt die H a n d an den Pflug zu legen, — während noch niemand die Samenkörner aufzeigen kann, welche auf das zerrissene Erdreich nachher getreut werden sollen. Vertrauen w i r also der K l u g h e i t u n d dem Eigennutz der Menschen, daß jetzt noch der Staat eine gute Weile bestehen bleibt u n d zerstörerische V e r suche übereifriger u n d voreiliger Halb wisser abgewiesen werden!" — 12 Veröffentlicht durch F. Rosenzweig, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Jg. 1917, 5. A b h a n d l u n g ( = Werke 1, 234-236, m i t Nachweisen zum Zuschreibungsstreit S. 628). Dazu nunmehr die Beiträge i n R. Bubner (Hrsg.), Das älteste Systemprogramm, Hegel-Studien, Beiheft 9. Bonn 1973. 18 Nietzsche, Bd. I, S. 682 f.
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1 · Kapitel : Heutige Wirklichkeit und Hegels Philosophie 1.3 Verfassungstheorie im geteilten Deutschland
Verfassungstheorie ist Staatsrecht i n der methodologischen Emigration. Indem die Verfassungstheorie gedanklich (und manchmal auch tatsächlich) auswandert, entzieht sie sich der unmittelbaren Zensur durch die Verfassung. Sie unterwirft sich nur freiwillig dem Gegenstand, den sie erforscht: dem verfaßten Gemeinwesen überhaupt. Der Staat, den sie gedanklich verläßt, bleibt dabei ein Beispiel für diesen Gegenstand, und meist sogar das naheliegendste und entscheidende Beispiel. A u f dem Wege über dieses Beispiel unterwirft sich die Verfassungstheorie mittelbar auch wieder dem Staat, den sie verlassen hat, aber nur i n dem Sinne, daß sie i h n als Beispiel und als Erscheinungsform ihres Gegenstandes nicht einfach leugnen kann, so als gäbe es diese Wirklichkeit von Gemeinwesen nicht. I n dieser geringeren Abhängigkeit von bestimmten Verfassungen liegt die Freiheit des Verfassungstheoretikers. Zwar ist jeder Staatsrechtler auch ein Verfassungstheoretiker i m kleinen (oder i m geheimen); das gehört zum Handwerk. Aber nur, wenn er sich ausdrücklich als methodischer Emigrant ausweist, darf er die Freizügigkeit auf dem Lande, i n der Zeit und i m Reich der Begriffe m i t gutem Gewissen ausnutzen. Für die Freizügigkeit zahlt er mit dem festen Halt an der Verfassung, den er als Staatsrechtler i n seiner Heimat hat. Er kann sich nicht mehr an der Verfassung festhalten, und er kann sie nicht mehr ohne weiteres benutzen, u m seine staats- und verfassungspolitischen Einsichten oder Wunschvorstellungen durch das Megaphon der Verfassungsauslegung zu verkünden. Schließlich unterliegt sein theoretisches Gepäck bei der Wiedereinreise ins Verfassungsrecht, sofern er keine Schleichwege benutzt oder fremde Truppen ihm E i n t r i t t verschaffen, einer strengen Kontrolle. Wer Verfassungstheorie i m geteilten Deutschland betreiben w i l l , findet sich i n einer schwierigen Lage. Er hat nach der methodischen Emigration zwei naheliegende und sich aufdrängende Beispiele für seinen Gegenstand vor sich, und zwar zwei Gemeinwesen, die nach Prinzipien verfaßt sind, die als „miteinander unvereinbar" bekannt sind. Dies allein genügte, i h n zur Resignation zu bewegen, die territorialen und weltanschaulichen Grenzen anzuerkennen und auch seine Gedankenwelt entsprechend zu parzellieren. So fände er sich i n keiner anderen Lage wie vor der methodischen Emigration und müßte als Verfassungstheoretiker ebenso w i e als Verfassungsrechtler sorgfältig darauf bedacht sein, daß die dogmatischen Pflänzchen i n den einzelnen Parzellen nicht über die Grenzen wachsen. Resigniert er nicht und be-
1.3 Verfassungstheorie im geteilten Deutschland
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hauptet, es sei möglich, eine verfassungstheoretische Sprache zu organisieren, i n der sich die beiden Hauptbeispiele, m i t denen er es zu tun hat, sach- und weltanschauungsgerecht erfassen ließen, kann er ziemlich sicher sein, daß man i n Ost und West an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln oder ihn als Konvergenzler belächeln wird. Damit sind die Schwierigkeiten aber durchaus noch nicht erschöpft. Der Staatsrechtler hat eine Verfassung, an der er sich festhalten kann. Daher braucht er sich nicht unbedingt u m das Gerücht zu kümmern, der Staat sei i m Verfall begriffen und sehe seinem Ende entgegen oder er sei gar schon tot 1 4 . Verläßt man aber die staatsrechtliche Heimat, muß man sich m i t dem Gerücht befassen. Wenn nämlich die Verfassungstheorie für den Fall gefaßt sein w i l l , daß das Gerücht stimmt oder sich langsam bewahrheiten sollte, muß sie sich theoretisch darauf vorbereiten: Sie hat ihre begriffliche Basis so weit anzulegen, daß sie auch die Gesellschaftsordnungen beschreiben kann, die sich während des Siechtums des Staates vielleicht abzuzeichnen beginnen oder sich während seines Verfalles ausbilden könnten. Die Verfassungstheorie hat sich also darauf einzurichten, die Verfassungen der werdenden Gestalten zu begreifen, die den alten Staat vielleicht entthronen oder i n die sich die Gesellschaftsordnungen umstrukturieren. So verwegen sich dieser Vorsatz auf den ersten Blick ausnehmen mag, so naheliegend und selbstverständlich erscheint er bei näherem Hinsehen. Gibt man nämlich den Begriff der Staatsverfassung als fixen Punkt der Verfassungstheorie auf, w i r d dem Begriff der Verfassung noch keine Gewalt angetan. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war zwar kein Staat i n dem Sinne, wie w i r i h n heute verstehen, aber es hat durchaus Sinn, von der Verfassung dieses geschichtlichen Gebildes zu sprechen, — und es war die Verfassungsgeschichte, deren Begriffe offen genug waren, u m die Entstehung des modernen Staates zu begreifen und u m das Profil zu beschreiben, durch das sich „der Staat" von dem geschichtlichen Hintergrund früherer Bildungen abhebt. Was sich für die Zeit vor dem modernen Staat bewährt hat, müßte sich auch für die Zeit gegen Ende des modernen Staates als nützlich erweisen.
14 Zusammenstellung bei H. Quaritsch, Staat u n d Souveränität, F r a n k f u r t 1970, S. 11 ff. Es gibt neuerdings eine Systemtheoretische Variante auf das alte L i e d v o n dem Staat, der alt geworden ist, nämlich die Degradierung des Staates zum politischen Teilsystem der (Welt-) Gesellschaft u n d damit auch den Anspruch der Soziologie auf jene Allgemeinheit, die bislang noch Sache der Staatslehre war. Siehe Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, i n : A r c h i v f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie 57 (1971), S. 1 - 3 5 ; ders., Soziologie des politischen Systems, i n : ders., Soziologische Aufklärung, 3. Aufl., Opladen 1972; ders., Politische Verfassungen i m K o n t e x t des Gesellschaftssystems, i n ; Der Staat 12 (1973), S. 1 - 22.
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1 Kapitel : Heutige Wirklichkeit und Hegels Philosophie
Sollte die Staatstheorie vergehen, w i r d die Verfassungstheorie bestehen 15 . Daher muß die Verfassungstheorie sich als potentielle Erbin der Staatstheorie betrachten, die vielleicht eines Tages vor der Frage steht, wie sie ihrer Verantwortung gerecht werden kann. Diese Spekulationen zeigen: Selbst wenn es auf deutschem Boden keine sozialistische Deutsche Demokratische Republik gäbe, sähe sich die Verfassungstheorie genötigt, eine A r t begrifflicher Notstandsplanung für den F a l l zu betreiben, daß der Staat abstirbt. Absterben aber w i r d der Staat erst recht nach sozialistischer Auffassung. So erweist sich die zusätzliche Schwierigkeit zu guter Letzt als Vorteil: W i r können aus der staatstheoretischen Not eine verfassungstheoretische Tugend machen. W i r müssen n u r den Begriff der Verfassung von vornherein offen genug begreifen, u m auch trans-staatlichen Gesellschaftsordnungen gewachsen zu sein. Z u den trans-staatlichen Gesellschaftsordnungen gehört die klassenlose Gesellschaft i m Sinne der marxistischen Gesellschaftstheorie. Es ist noch nicht ausdiskutiert, ob die klassenlose Gesellschaft eine Rechtsverfassung haben oder auf anderen Gesetzen beruhen soll. U m offen zu sein für die theoretische Bewältigung auch dieser Fragen, w i r d hier der Verfassungsbegriff nicht auf die Bedeutung festgeschrieben, die er bei uns als Rechtsverfassung des Staates angenommen hat. Dies bedeutet nicht, daß der Verfassungsbegriff ein für alle Male i n den Sand einer öden Begriffswüste aufgelöst wird, — und auch nicht, daß versucht werden soll, die Verfassung der „klassenlosen Gesellschaft" zu beschreiben (wozu eher marxistische als bundesrepublikanische Verfassungstheoretiker berufen sind). Es bedeutet nur, den theoretischen Boden so vorzubereiten, daß Wirklichkeit und Verfassungsbegriffe, daß Basis und Überbau, daß die gesellschaftlichen Realitäten von heute und morgen sich darin abdrücken können. Ob der Staat absterben wird, ist zwar für viele Betrachter noch durchaus ungewiß. N u r der Marxist weiß es bestimmt. Aber undenkbar ist es auch für viele Nichtmarxisten nicht mehr. So eröffnet der Blick auf eine nicht undenkbare Z u k u n f t zugleich den Blick auf ein Feld, i n dem Marxist u n d Nichtmarxist vielleicht eher vergleichbare Beobachtungen festhalten können als beim Blick auf die Gegenwart: etwa i n dem Sinne, daß der Marxist einen bestimmten transstaatlichen Zustand i m Wege der Geburtshilfe herbeiführen möchte, während der Nichtmarxist sich durch die „Entwicklung der Produktivkräfte" eher widerw i l l i g , aber zum Vergnügen der marxistischen Beobachter, über den bisherigen staatlichen Zustand hinausgetrieben sieht. So liefert die Ver15 Frei nach Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 2 Bde., 3. Aufl. 1924, i m Vorwort: „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht."
1.3 Verfassungstheorie im geteilten Deutschland
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fassungstheorie auf Grund ihrer zeitlichen Freizügigkeit einen ersten Gegenstand, über den man vielleicht ins Gespräch kommen könnte. Dieser erste Bezugspunkt für Vergleichbarkeiten liegt freilich i n einer vagen Zukunft. Er bietet daher wenig Material für handgreifliche Diskussionen über konkrete Wirklichkeiten. Aber die Freizügigkeit i n der Zeit gestattet nicht nur den Blick i n die Zukunft, sondern auch den i n die Vergangenheit: Die Unvereinbarkeiten der Weltanschauungen sind wie die Weltanschauungen selbst geschichtlichen Ursprungs. Man darf daher einmal von der Hypothese ausgehen, daß es Knoten i n der Entwicklung gibt, an denen die Widersprüche hervorgebrochen sind, die uns heute i n der Form gesellschaftlicher Unvereinbarkeiten vor Augen stehen. Diese Momente der geschichtlichen Entwicklung liefern die nächsten Anknüpfungspunkte für ein Gespräch. Vermutlich findet man dort auch die Grundfragen der Weltanschauungen i n ursprünglicher, frischer Form formuliert. Und wenn die Grundfragen der Weltanschauungen tatsächlich die Grundfragen auch der Verfassungen sind, verspricht der Weg zu diesen Fragen, an denen sich die Widersprüche entzündet oder offenbart haben, auch Aufschluß für das Verständnis der gesellschaftlichen Manifestationen eben dieser Widersprüche. Das ist die verfassungstheoretisdie Rechtfertigung für den Ansatz, der von heute zu Hegel und von Hegel wieder i n die Gegenwart führt. Eine K r i t i k von Verfassungszuständen 16 findet sich zudem auch genau an dem Punkt, wo der junge M a r x nach einer Auseinandersetzung m i t Hegels Philosophie i m allgemeinen zur K r i t i k einzelner Gegenstände i m konkreten übergeht: K r i t i k des Staates, wie er für M a r x i n Hegels Staatsphilosophie erscheint, und K r i t i k der deutschen Wirklichkeit, — und zwar jeweils i m Hinblick auf die Rolle des Menschen i n Staat und Gesellschaft 17 . A m Ende w i r d ins Auge gefaßt „das Ziel der menschlichen Entwicklung — die Gestalt der menschlichen Gesellschaft" 18 . Dem entspricht es, wenn heute i n der marxistisch-leninistischen Theorie des Staates und des Rechts eine „Erhöhung der Rolle der Grundgesetze, der Verfassungsgesetze i m System der Gesetzgebung der heutigen Sowjetgesellschaft" angesprochen w i r d 1 9 . Die Frage nach der Verfassung der Gesellschaft ist von der Frage nach dem Menschen in der Gesellschaft 18
S. 30.
W. Hennis ,
Verfassung
u n d Verfassungswirklichkeit,
Tübingen 1968,
17 K r i t i k des Hegeischen Staatsrechts, M E W 1, 203-333; Z u r K r i t i k der Hegeischen Rechtsphilosophie — Einleitung, M E W 1, 378 - 391 ( = Landshut, S. 29 - 149, 207 - 224). 18 M E W Ergänzungsband (im Folgenden: EB) I S. 546 ( = Landshut, S. 248). Hervorhebungen von m i r . 19 P. J. Nedbailo, E i n f ü h r u n g i n die allgemeine Theorie des Staates u n d des Rechts, B e r l i n 1972, S. 44, 14.
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1 Kapitel : Heutige Wirklichkeit und Hegels Philosophie
nicht zu trennen. Damit ist der dritte Anknüpfungspunkt erreicht, an dem Marxist und Nichtmarxist es m i t einem gemeinsamen Gegenstand zu t u n haben. Wenn daher ein nichtmarxistischer Staatstheoretiker methodisch aus seinem Staat i n die Verfassungstheorie auswandert und sich zu dem Punkt zurückbegibt, an dem man über den Menschen i n Streit geriet, läuft er nicht Gefahr, sich m i t Dingen zu beschäftigen, für die er kein Interesse hat. Folgt er ζ. B. Marx, u m die Bildung des Marxisten von den Ansätzen her nachzuholen und zu verstehen, begibt er sich auf das Gebiet gemeinsamer Fragen. Hemmungen, diesen Fragen auf dem Wege Andersdenkender auf den Grund zu gehen, kann eigentlich n u r derjenige haben, der dem eigenen Erkenntnisvermögen mißtraut. — Man kann diesen Ansatz bei Hegel (und Marx) schließlich auch m i t einem Vergleich erläutern, der zu einem B i l d aus der Psychoanalyse führt: Die praktischen und theoretischen Grenzen und Sprachschwierigkeiten, die heute die Trennung der Machtbereiche verschärfen, lassen sich gewissermaßen als manifestes, sozial-psychosomatisches Symptom auffassen, zu dessen Analyse, Verständnis und Bearbeitung man sich m i t dem Komplex der Hegeischen Philosophie auseinandersetzen muß. Dieser Vergleich bedeutet nicht, daß dieser Untersuchung eine idealistische Weltanschauung zugrundeliegt, etwa i n dem Sinne, daß die Ideen das Erste seien und erst ihre Verwirklichung i n die Gesellschaft hineinführe. Ebensowenig wie Psychosen aus dem Nichts entstehen, kommen Ideen und philosophische Begriffe über irgendwelche unbekannten Kanäle aus dem Jenseits i n die Köpfe der Denker. Sie sind vielmehr Geburten (oder Ausgeburten) geschichtlicher Menschen i n ihren konkreten geschichtlichen Lagen. Wenn hier nun trotz der marxistischen K r i t i k („Illusionen der Epoche") bei Hegel eingehakt wird, also auf philosophischer, ideologischer Ebene, erklärt sich das m i t zwei recht einfachen Erwägungen: Erstens führte auch der Weg des jungen Marx selbst von Hegels Philosophie zur gesellschaftspolitischen Praxis, — also vom philosophischen Himmel auf die politische Erde, wie sehr er später auch dafür eintritt, den umgekehrten Weg vom Sein zum Bewußtsein zu beschreiten. Diesen Weg der Gedanken von Hegel zu M a r x gilt es nachzugehen, u m die Abzweigungen festzustellen, die i n die politische Praxis führen. Zweitens sind Ideen und Begriffe unserem Bewußtsein direkter zugänglich und deshalb greifbarer als die Mannigfaltigkeit der persönlichen und gesellschaftlichen Umstände und Zufälligkeiten, die die Ideen und Begriffe i n den Köpfen mitbestimmen. W i r hören unsere eigenen Zusammenfassungen, Einbildungen und A n t worten auf die Wirklichkeit sehr viel klarer i n uns als das diffuse Gemurmel der Erfahrungen, Überlieferungen und Zufälligkeiten, die sie i n uns auslösen. Daher fällt es uns auch leichter, den Begriffen und
1.3 Verfassungstheorie im geteilten Deutschland
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Ideen anderer zu folgen, als das materielle, historische, gesellschaftliche und persönliche Geräuschmilieu zu erspüren und zu beschreiben, das die anderen zu ihren Äußerungen veranlaßt hat. So kommt es, daß w i r auf die Züge der geschichtlichen Ereigniszusammenhänge gern an solchen Stationen gedanklich aufspringen, an denen sie hellhörige und geistreiche Köpfe wie Hegel und Marx passiert und i n diesen Köpfen zu aufschlußreichen und selbst vielleicht wieder wirksamen geistigen Ereignissen geführt haben. Dabei kommt es nicht einmal entscheidend darauf an, daß die geistigen Ereignisse der Hegeischen Philosophie wirklich zur Ursache bzw. Mitursache nachfolgender Entwicklungen geworden sind, oder ob die Geschichte auch ohne Hegel ähnlich verlaufen wäre. Wichtig ist nur, daß i n Hegels Philosophie seine Zeit zur Sprache gebracht worden ist, — sei es treffend, sei es i n mystifizierter Form. Für Hegel war die Philosophie „ihre Zeit i n Gedanken erfaßt" 2 0 . Hier w i r d getrost angenommen, daß diese Selbsteinschätzung i m großen und ganzen zutrifft. Ob und inwieweit Hegels Philosophie umgekrempelt und entmystifiziert werden muß, um ihren Gehalt herauszuschälen, bleibt der Untersuchung selbst vorbehalten.
20 Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts, Glockner ( = Werke 7, 26).
7, 35
Zweiter Teil
Hegel und Marx 2. K a p i t e l
Hegel — Ausgangsprobleme Das geteilte Deutschland als heutige Wirklichkeit liefert die Suchbegriffe, zu denen Hegels Werk befragt werden soll: Die Trümmer des Nationalstaates (und die zwei Staaten auf seinem Gebiet) liefern das Stichwort „Staat" bzw. „Staatsphilosophie". Der praktizierte dialektische Materialismus i n der Deutschen Demokratischen Republik liefert die Stichworte „Dialektik", „Weltanschauung" u n d „Religion(skritik)". Das letzte, weitere Stichwort ergibt sich aus dem Ansatz dieser Untersuchung selbst: Hegels Philosophie w i r d betrachtet i m Hinblick auf die heutige gesellschaftspolitische Wirklichkeit. Dahinter steht die Frage nach dem Prozeß, i n dem Ideen und Begriffe entstehen und verwirklicht werden oder sonst Spuren i n der Gesellschaft hinterlassen. Es dürfte daher aufschlußreich sein festzustellen, ob und inwiefern Hegel selbst die „Verwirklichung" der Philosophie u n d insbesondere die Verwirklichung seiner Philosophie bedacht hat. 2.1 Hegels Schrift zur Deutschen Reichsverfassung Den Satz, Deutschland sei kein Staat mehr, schrieb Hegel zwischen 1799 und 1802. Aber er hat seine Schrift zur Deutschen Reichsverfassung zeitlebens nicht veröffentlicht. Sie zeigt jedoch die Vorstellungen vom u n d die Einstellung zum Staat, die der dreißigjährige Hegel i n zwischen — seit dem erwähnten „ältesten Systemprogramm" — entwickelt hatte. Vor allem aber ist die Verfassungschrift zusammen m i t den Fragmenten einer „Vorrede" und einer „Einleitung", die zu i h r existieren, außerordentlich aufschlußreich für die Frage, ob und w i e Hegel sich m i t der „Verwirklichung" von Philosophie u n d m i t der Verwirklichung seiner eigenen Ideen beschäftigt hat 2 1 . 21 Eingehende Interpretation der Schrift: Hans Maier, Hegels Schrift über die Reichsverfassung, Politische Vierteljahresschrift 4 (1963) S. 334 ff.; Beurteilungen der Fragmente: Heinrich Popitz, Der entfremdete Mensch, 2. Aufl.,
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2. Kapitel: Hegel — Ausgangsprobleme 2.11 Staatsbegriff
Seine Abneigungen gegen den Staat, soweit er etwas Mechanisches ist, hat Hegel um nichts gemindert 2 2 . Aber der Blick auf die handgreifliche Lage Deutschlands i n den napoleonischen Kriegen hat ihn inzwischen den Staat schätzen gelehrt: als gemeinsame Wehr gegen äußere Feinde und als Form menschlichen Zusammenlebens, die der Natur des Menschen entsprechen kann, wenn sie nicht mechanisch und hierarchisch bis i n alle Winkel durchorganisiert ist. Hegels Staatskriterium i n der Verfassungsschrift ist, wie das aller großen Staatsdenker, eine A n t w o r t auf die politische Lage, i n die er geschichtlich eingebettet ist. Es spiegelt die Hilflosigkeit des Reiches gegenüber den napoleonischen Armeen: „Eine Menschenmenge kann sich nur einen Staat nennen, wenn sie zur gemeinschaftlichen Verteidigung der Gesamtheit ihres Eigentums verbunden ist." Sie muß „eine gemeinsame Wehre und Staatsgewalt" bilden 2 8 . Nur dies ist notwendig. Zweitrangig sind demgegenüber die besonderen Formen von Verfassung und Regierung. Aber der Staat hat sich auch wirklich auf das Notwendige zu beschränken und i m übrigen „die lebendige Freiheit und den eigenen Willen der Bürger gewähren" zu lassen. Verlangt die Staatsgewalt zu viel, so w i r d der Bürger ihrer überdrüssig und geizt auch m i t dem Notwendigen. Nichts muß der Staatsgewalt „so heilig sein", als i n den Angelegenheiten, die nicht für die innere und äußere Sicherheit beansprucht werden müssen, „das freie T u n der Bürger gewähren zu lassen und zu schützen, ohne alle Rücksicht auf Nutzen; denn diese Freiheit ist an sich heilig" 2 4 . Hegel polemisiert: gegen Staatstheorien, bei denen alles bis i n die kleinsten Fäden der unmittelbaren Tätigkeit der Staatsgewalt unterworfen w i r d ; gegen das „Grundvorurteil, daß ein Staat eine Maschine m i t einer einzigen Feder" sei; m i t drastischen Beispielen gegen die „pedantische Sucht, alles Detail zu bestimmen" und die „unfreie Eifersucht auf eigenes Anordnen und Verwalten eines Standes, Korporation usw". — „Die maschinistische, höchstverständige und edlen Zwecken gewidmete Hierarchie erweist i n nichts ihren Bürgern Zutrauen, kann also auch keines von ihnen erwarten; — sie hält sich i n keiner Leistung sicher, deren Befehl und Ausführung sie nicht eingerichtet hat . . . , Darmstadt 1967, S. 4 2 - 4 9 ; Jürgen Habermas, Hegels K r i t i k der Französischen Revolution, i n : ders., Theorie u n d Praxis, Neuausgabe 1972, S. 128-147, insbesondere 135 - 137. — Inzwischen außerdem: H. S. Harris, Hegel's Development, Oxford 1972, S. 434 ff.; Hans Maier, Einige historische Vorbemerkungen zu Hegels politischer Philosophie, i n : R. Bubner (oben A n m . 12), S. 151 -165. 22
28 24
Hegel, Werke 1, 481 - 485 ( = Mollat S. 19 - 24). Werke 1, 472 f. ( = Mollat S. 10 f.). S. 481 f. ( = 20 f.).
2.1 Hegels Schrift zur deutschen Heichsverfassung
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zeigt dem Untertan die Überzeugung von seinem Unverstand und die Verachtung gegen seine Fähigkeit zu beurteilen und zu tun, was für sein Privatwohl zuträglich wäre . . . ; sie kann also kein lebendiges Tun, keine Unterstützung von seinem Selbstgefühl hoffen." Die Zukunft w i r d zeigen, prophezeit Hegel, welche Folgen es für einen Staat hat, wenn er, wie die französische Republik, nach angeblichen Vernunftgrundsätzen so organisiert ist, daß nichts, was irgendeine allgemeine Seite hat, den daran interessierten Kreisen des Volkes zur Verwaltung und Ausführung überlassen wird. Als Beispiel dafür, „welches Leben und welche Dürre i n einem anderen, ebenso geregelten Staate" herrschen, w i r d Preußen angeführt, bei dem das durch die Ereignisse aufs höchste geschärfte, wahre Interesse Deutschlands keinen Schutz mehr finden könne 2 5 . Soviel hat man seit der französischen Revolution gelernt: Die Wolke der Freiheit ist i m blutigen Spiel der Revolution und der Kriege zerflossen: bestimmte Gestalten und Begriffe sind i n die Volksmeinung getreten. Freiheit setzt Gesetze voraus. „Die Anarchie hat sich von der Freiheit geschieden, und daß eine feste Regierung notwendig zur Freiheit (ist), hat sich tief eingegraben, ebenso tief aber, daß zu Gesetzen und zu den wichtigsten Angelegenheiten eines Staates das Volk m i t wirken muß", und zwar i n der staatlichen „Organisation" durch einen „es repräsentierenden Körper", der insbesondere über die Staatsabgaben zu beschließen hat. Denn wie ehemals das Wesentlichste, die persönliche Dienstleistung, von der freien Übereinstimmung abhing, „so jetzt das Geld, welches allen anderen Einfluß i n sich begreift" 2 6 . 2.12 Aufgabe der Verfassungsschrift Die Aufgabe, die er sich m i t der Verfassungsschrift gestellt hat, umschreibt Hegel i n der Reinschrift (nicht i n dem erwähnten, noch ausführlich zu betrachtenden Fragment) m i t folgenden Sätzen: „Die Gedanken, welche diese Schrift enthält, können bei ihrer öffentlichen Äußerung keinen anderen Zweck noch W i r k u n g haben, als das Verstehen dessen, was ist, u n d damit die ruhigere Ansicht sowie ein i n der w i r k l i c h e n Berührung u n d i n Worten gemäßigtes Ertragen derselben zu befördern. Denn nicht das, was ist, macht uns ungestüm u n d leidend, sondern daß es nicht ist, w i e es sein soll; erkennen w i r aber, daß es ist, w i e es sein muß, d . h . nicht nach W i l l k ü r u n d Zufall, so erkennen w i r auch, daß es so sein soll 2 7 ."
Durch diese Sätze wohleingestimmt, erwartet der Leser, daß Hegel i h m darlegt, inwiefern die Wirklichkeit des Deutschen Reiches ist, wie 25 26 27
S. 484, 573 ( = 23 f., 120). S. 572 ( = 119), Hervorhebung von mir. S. 463 ( = 132).
2. Kapitel: Hegel — Ausgangsprobleme
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sie sein muß, so daß Autor und Leser schließlich Beruhigung i n der Einsicht finden können, daß es auch so sei, wie es sein soll. Es kommt jedoch anders: Hegel e n t w i r f t seinen Begriff vom Staat und mißt die Verfassungszustände an diesem Begriff. Dabei erweist sich der Organismus des Reichskörpers als Fossil von vergangenem Leben. „Einzelne Kreise von Gewalt" sind überliefert nach „ Z u f a l l und Charakter, ohne Rücksicht auf ein Allgemeines". Das alte Leben, das diese Formen einmal erfüllt hat, ist verschwunden; das neue hat sich nicht i n i h m angemessene Gesetze zu fassen gewußt. Das Ganze ist zerfallen. Der Staat ist nicht mehr. Das Bestehende ist nicht w i e es sein muß und sein soll, sondern es herrschen W i l l k ü r u n d Zufall. Daher findet sich am Schluß der Schrift mitnichten eine philosophische Anleitung, das Bestehende zu erkennen und sich i n dieser Erkenntnis zu beruhigen. Es findet sich dort vielmehr als Zielvorgabe eine konkrete Beschreibung, w i e ein zum Staat organisiertes Deutsches Reich aussehen könnte, und ein scheinbar sehr realistisches politisches Aktionsprogramm, nach dem „der gemeine Haufen des deutschen Volkes nebst ihren Landständen . . . durch die Gewalt eines Eroberers i n eine Masse versammelt . . . (und) gezwungen werden (müßte), sich zu Deutschland gehörig zu betrachten" 2 8 . Zwar gibt es i n dem politischen Programm keine Ausrufezeichen und keine Imperative, sondern Bedingungssätze und Konjunktive. Formal w i r d die beschreibende Sprache nicht verlassen. Aber i n der Sache ist klar, auf welcher Seite Hegel steht, — u n d es hat fast den Anschein, als benutze er die gelassene Sprache vor allem deshalb, w e i l er dem Leser die Illusion lassen möchte, den Entschluß zur Tat nicht bloß einer direkten politischen Anstiftung durch Agitation zu verdanken, sondern kühler eigener Abwägung auf Grund von sachlichen Informationen, so daß der Leser an seinen Entschluß u m so fester gekettet wäre. Hier spricht nicht mehr der Philosoph, der die Welt n u r erkennen w i l l , sondern ein deutscher Verfassungspolitiker, ein Verehrer 2 9 von Machiavell und Richelieu: „Wenn Deutschland nicht nach einigen Kriegen das Schicksal Italiens haben soll, so müßte es sich von neuem zu einem Staat organisieren . . . " U n d „wenn alle Teile dadurch gewännen, daß Deutschland zu einem Staate würde, so ist eine solche Begebenheit nie die Frucht der Überlegung gewesen, sondern der Gewalt". Denn „der Begriff und die Einsicht i n die Notwendigkeit (sind) v i e l zu schwach . . . , u m aufs Handeln selbst zu wirken; der Begriff und die Einsicht führt etwas so Mißtrauisches gegen sich mit, daß er durch die Gewalt gerechtfertigt werden muß, dann u n t e r w i r f t sich i h m der Mensch" 3 0 . 28 29
80
S. 580 ( = 129). Unten bei Anm. 100. Dazu auch Hennis (oben Anm. 16) S. 28 ff.
Hegel, Werke 1, 577, 580 f. ( = Mollat S. 126, 129 - 131).
2.1 Hegels Schrift zur deutschen eichsverfassung
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M i t dieser Belehrung schließt die Verfassungsschrift. Der Begriff i m Bewußtsein ist zu schwach, er vermag nicht aufs Handeln zu wirken und bedarf daher der Gewalt, u m dem Leben aufgezwungen zu werden. So endigt der Gedankengang, der m i t dem Vorsatz begann, das Bestehende nur zu erkennen und leichter zu ertragen, m i t dem Ruf nach einem Theseus für Deutschland und nach politischer Gewalt. 2.13 Einleitungsfragment
zur Verfassungsschrift
Vielleicht hat Hegel gespürt, daß seine Schrift einen Kampf spiegelt, den seine philosophische und seine politische Seele miteinander austrugen. Einen Anhaltspunkt dafür liefert der abrupte Schluß des Einleitungsfragmentes, das m i t einem „Oder . . g e n a u an der Stelle abbricht, an der es zum Schwur kommen mußte 3 1 . Doch ist nicht nur dieser Schluß vielsagend. Vielmehr liefert das Fragment eine A r t Schlüssel auch für das Verständnis der allgemeineren Begriffe der Hegeischen Philosophie: Hegel setzt sich damit auseinander, wie Ideen aus dem bestehenden Leben hervorgehen und i n dieses Leben wieder eindringen, also auch mit der Wechselwirkung „Sein-Bewußtsein-Sein". Seine Gedanken dazu seien hier i n engster Anlehnung an Hegels Ausdrucksweise, aber unter Vereinfachung des Satzbaus, m i t präzisierenden kleinen Ergänzungen und m i t einigen Einschüben wiedergegeben: Zwischen dem bestehenden Leben, das den Menschen angeboten und erlaubt wird, und dem unbekannten, das sie bewußtlos suchen, besteht ein Widerspruch, der sich vergrößert. I n dieser Lage gibt es einige, die die Natur des Menschen i n sich zur Idee hervorarbeiten und sich danach sehnen, aus ihrer Idee ins Leben überzugehen. Das Bedürfnis dieser großen Charaktere nach Leben für ihre Ideen t r i f f t zusammen m i t dem Bedürfnis der übrigen Menschen, sowohl ein Bewußtsein über das zu erlangen, was sie gefangenhält, als auch das Unbekannte zu bekommen, das sie verlangen. Jene Großen können m i t ihren Ideen allein nicht leben, — und allein ist der Mensch selbst dann, wenn er seine Natur vor sich selbst dargestellt, diese Darstellung zu seinem Gesellschafter gemacht hat und i n i h r sich selbst genießt; er muß auch das Dargestellte als ein Lebendiges finden. Hat die Zeit i h n i n eine innere, ideale Welt vertrieben, bleibt i h m die Wahl: entweder immerwährender Tod, wenn er nämlich i n dieser inneren Welt verharrt; oder das Bestreben, das Negative der bestehenden Welt aufzuheben, u m sich selbst i n der Welt finden und genießen, u m leben zu können. Wer derart vom Platz i n seiner inneren Welt auf die bestehende Welt i m 81
S. 457 - 460.
3 Suhr
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2. Kapitel: Hegel — Ausgangsprobleme
übrigen reflektiert hat, besitzt ein klares Bewußtsein von den Schranken, derentwegen er das i h m angebotene Leben verschmäht; er w i l l sein Leiden. Ohne diese Reflexion auf sein Schicksal hingegen leidet der Mensch willenlos. I n diesem Fall n i m m t er seine Bestimmtheiten und ihre Widersprüche (d. h. die i h n einengenden Schranken der bestehenden Welt) absolut und er opfert ihnen, selbst wenn sie seine Triebe verletzen, sich und andere auf. Dabei nimmt er die Schranken als unbezwinglich nur insoweit, wie sie als rechtliches und machthabendes Dasein erscheinen (und nicht auch insoweit, wie eben diesen Beschränktheiten ihre Schranken aus sich selbst, aus ihrer Beschränktheit erwachsen). — Bis zu diesem Punkt bedenkt Hegel die Ausgangslage des Ideenproduzenten i n einer widersprüchlichen Welt: Das bestehende Leben, das der „geselligen Natur" des Menschen nicht entspricht, macht i h n und andere leiden. Sein Leiden treibt i h n i n eine innere Welt. I n dieser Exklave analysiert er die Ursachen seines Leidens (wird sich der Schranken bewußt) und produziert er die Idee einer anderen Form menschlichen Zusammenlebens. Schätzt er die vorhandenen Widersprüche und die unartikulierten Bedürfnisse der Menschen richtig ein, so stößt sein Ideenangebot auf eine i h m entgegenkommende Nachfrage. Aber trotzdem muß die Frage noch beantwortet werden, die sich auch am Schluß der Verfassungsschrift stellte: die Frage nach der V e r w i r k lichung der Ideen. Wie kann der ideelle Odem des anderen Lebens, der i n der inneren Welt codiert worden ist, der bestehenden äußeren Welt eingeblasen werden? Hegel antwortet: Die Aufhebung dessen, was i n Ansehung der Natur negativ, i n A n sehung des Willens (als Widerstand) positiv ist, wird nicht durch Gewalt bewirkt, — weder durch die, die man selbst seinem Schicksal antut, noch durch die, die das Bestehende von außen erfährt. Durch Gew a l t w i r d die Schranke nicht vom Leben getrennt. Fremde Gewalt ist Besonderes gegen Besonderes, der Raub eines Eigentums, ein neues Leiden. Die Begeisterung eines Gebundenen ist ein i h m selbst furchtbares Moment, i n welchem er sich verliert und sein Bewußtsein i n den nur vergessenen, nicht totgewordenen Bestimmtheiten wiederfindet. (Indem er sich an bestimmten Schranken festbeißt, gibt er ihnen zu viel Ehre und infiziert sich, während er sie zu vertilgen meint, selbst m i t ihrem beschränkenden Charakter. So w i r d er, der seine Absicht auf das Allgemeine gerichtet hatte, durch die Fixierung auf den besonderen Gegner i n eine Tätigkeit hineingezogen, die nicht i n seiner wahren Absicht lag.) Die Aufhebung des Negativen am Bestehenden muß daher einen anderen Weg einschlagen. Das Gefühl des Widerspruches der mensch-
2.1 Hegels Schrift zur deutschen Eeichsverfassung
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liehen Natur m i t dem bestehenden Leben ist auch schon das Bedürfnis, daß er gehoben werde; und dies w i r d er, wenn das bestehende Leben seine Macht und alle seine Würde verloren hat, wenn es reines Negatives geworden ist. A l l e Erscheinungen der Zeit zeigen, daß diese Bedingungen i m Begriffe sind, einzutreten. Die Leiden der Menschen sind größer geworden, und noch hat kein besseres Leben diese Zeit angehaucht. Dieses bessere Leben w i r d vorerst nur genährt i m (ideellen) Tun großer Charaktere einzelner Menschen, i n der Betrachtung der Bewegungen historischer Völker, i n der Darstellung der menschlichen Natur und des Schicksals durch Dichter; durch Metaphysik schließlich erhalten die Schranken des Bestehenden ihrerseits ihre Grenzen und ihre Notwendigkeit i m Zusammenhang des Ganzen angewiesen. „Durch Metaphysik" — das heißt: indem die bestehende Welt m i t Hilfe einer innerweltlichen, „idealen" Metasprache thematisiert und problematisiert w i r d ; „innerweltlich" w i r d als metaweltlich, als metaphysisch aufgefaßt, ohne daß der weltliche Charakter des Bewußtseins i n Frage gestellt w i r d (vgl. „Intellektualwelt" 3 2 ). Die innere Welt ist eine Welt in der Welt, — ein Reich von Vorstellungen i m Kopf des Menschen, der selbst i n der Welt lebt. — Ohne weitere Überleitung stellt Hegel anschließend der schon verworfenen Veränderung durch Gewalt (a) eine andere Technik (b) gegenüber, die er für wirksamer hält, eine neue Form des Lebens hervorzubringen: a) Als daseiende Macht kann das beschränkte Leben nur dann vom besseren Leben feindlich mit Macht angegriffen werden, wenn das bessere Leben selbst zur äußerlichen Macht geworden ist, — wenn es also seinerseits sich auf Gewalt stützt und daher Gewalt auch fürchten muß. Diese Weise des Kampfes von Macht gegen Macht ist die A r t , i n der die Natur i n ihrem wirklichen Leben, das noch instinktartig und urwüchsig ohne Reflexion auf das Schicksal abläuft, das schlechtere Leben angreift oder widerlegt. Eben diese Weise kann aber nicht Gegenstand einer absichtlichen Tätigkeit sein. (Denn der Mensch, der durch Reflexion auf sein Schicksal sich gedanklich aus dem urwüchsigen Prozeß herausgearbeitet hat und sich seiner Natur bewußt geworden ist, kann nicht mehr absichtlich das Besondere wollen, sondern nur das Allgemeine. Durch den gewalttätigen Kampf Besonderer gegen Besonderes unterliegt zwar vielleicht das eine beschränkte Leben. Aber die Schranken, die im Bewußtsein beider Leben bestehen, sind damit nicht überwunden, geschweige denn die Formen des neuen Lebens i m Bewußtsein zu Hause.) b) Aber als ein beschränktes Leben kann das bestehende Leben mit der Wahrheit und Allgemeinheit, die es sich anmaßt, in Widerspruch 82
3·
Phänomenologie, Glockner 2, 614 ( = Werke 3, 586).
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2. Kapitel: Hegel — Ausgangsprobleme
gebracht und auf diesem Wege aus sich selbst angegriffen werden. Denn das beschränkte Leben gründet seine Herrschaft letztlich nicht auf Gewalt Besonderer gegen Besonderes, sondern darauf, daß es sich erfolgreich m i t dem würdigen Mantel des Rechts und der Allgemeinheit umgibt. (Diese Hülle läßt es unantastbar und unverletzbar erscheinen wie eine ewige Wahrheit, so daß die Angriffe, die man gegen es richtet, schon i m Frühstadium vom Gewissen des Angreifers gedämpft oder absorbiert werden. Die angemaßte 38 Hülle des beschränkten Lebens ist letztlich nichts anderes als eine Beschränktheit i n den Köpfen der Betroffenen, die sich durch die Hülle täuschen lassen oder darin befangen bleiben.) Die angemaßte Hülle ist aber selbst ein Teil des bestehenden Lebens. Sie muß den unzulänglichen Erscheinungsformen des Bestehenden genommen und der neuen Gestalt des Lebens, die gefordert wird, übertragen werden. (Das bestehende Leben derart zu enthüllen und die angemaßte Hülle dem verjüngten Leben zuzusprechen, — das ist nicht Sache der Gewalt, sondern des erkennenden Bewußtseins, das seine Erkenntnisse ausspricht und verbreitet. Diese Arbeit ist Bewußtseinsarbeit, und ihre Folgen schlagen sich — zunächst — i m Bewußtsein nieder.) Die Erkenntnis muß nach allem zugleich enthüllend-kritischen und übertragend-affirmativen Charakter haben. Was damit gemeint ist, ergibt sich nicht nur aus dem Gesagten, sondern kann an Hand vieler anschaulicher Stellen aus Hegels Schriften, ζ. B. aus der Einleitung zur Geschichte der Philosophie, verdeutlicht werden. Dort geht es u m die Methode, i n der Hegel sich m i t früheren philosophischen Systemen (wie hier m i t einer vorgegeben politischen Wirklichkeit) auseinandersetzt: „Nichts ist leichter, als das Negative daran zu zeigen. Man gibt sich die Befriedigung des Bewußtseins, daß man höher stehe als das zu Beurteilende, wenn man das Negative daran erkennt. Dies schmeichelt der Eitelkeit. Widerlegt man etwas, so ist man darüber hinaus. Wenn man über eine Sache hinaus ist, dann ist man nicht i n sie eingedrungen. Aber das Affirmative zu finden, dazu gehört, i n den Gegenstand eingedrungen zu sein, i h n gerechtfertigt zu haben; und dies ist bei weitem schwerer, als i h n zu widerlegen. . . . Beide Seiten müssen i n jedem Urteil enthalten sein 3 4 ." A m Anfang oder i m Frühstadium der Hegeischen Philosophie stößt man also auf das Problem, wie sich bestehende Verhältnisse verändern lassen. Dabei schwebt Hegel ein ganz konkretes Leben vor und er hat 88
Eine Unwahrheit, „welche sich die F o r m anmaßt u n d damit sich befestigt", — w i e es i n dem Aufsatz über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts f o r m u l i e r t w i r d . Glockner 1, 535 ( = Werke 2, 528). 84 Hegel, Einleitung i n die Geschichte der Philosophie, hrsg. v. Hoffmeister, 3. A u f l . 1959, S. 127.
2.1 Hegels Schrift zur deutschen
eichsverfassung
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eine ganz bestimmte Veränderung i m Sinn. A n diesem Modellfall der „Veränderung" beobachtet und studiert Hegel den Prozeß der Veränderung und seine Schwierigkeiten. Einzelne Stationen des Veränderungsprozesses und Zusammenhänge werden angeführt: Sämtliche sind konkrete und wirkliche Stationen, auch wenn sie schon i n recht verallgemeinerter Form besprochen werden. Sie ergeben ein fast perfektes Modell praktischer Veränderungsfragen, aus dem allein seihon die entscheidenden Begriffe der dialektischen Logik, die eine Logik der Veränderung ist, abstrahiert werden könnten. Dieses Abstrahieren (Herausziehen) der abstrakten Begriffe soll hier jedoch nicht vorgeführt werden. N u r die Stationen des Veränderungsmodells seien nochmals kurz zusammengefaßt: Das bestehende Leben einschließlich der w ü r d i gen Hüllen, die es sich anmaßt. Es verletzt die geselligen Triebe und befriedigt nicht die Bedürfnisse der Menschen, die sich nach einem anderen Leben sehnen. Die Menschen leiden unter dem Widerspruch zwischen ihrer Natur, die sich i n ihren Bedürfnissen ausdrückt, und dem Leben, das ihnen angeboten wird. I h r Leiden vertreibt sie i n ihre innere Welt Ziehen sie sich i n diese Welt dumpf zurück, ist es für sie ein immerwährender Tod. Arbeiten sie aber i m Inneren, erkennen sie die Schranken, an denen sie leiden, und arbeiten i n sich i m Widerspruche dazu eine Idee vom anderen Leben, von der Natur des Menschen hervor. Diese Arbeit gelingt wenigen Großen, die dann ihrerseits das Bedürfnis haben, ihre Ideen lebendig zu machen, zu v e r w i r k lichen. Dieses Bedürfnis gibt Probleme auf, aus denen sich Anforderungen ergeben, die schon vorher — d . h . beim Entwurf der Idee vom anderen Leben — bedacht sein wollen und durch die die Mannigfaltigkeit und Beliebigkeit der Ideen eingeschränkt w i r d : Das andere Leben muß aus dem bestehenden entwickelt werden, und zwar, wenn die Schranken w i r k l i c h überwunden und nicht nur ausgetauscht werden sollen, durch kritisch-affirmative Verschiebungen i m Bewußtsein. Dahinter steht der Gedanke: Folgt erst das Bewußtsein der Menschen dem neuen Leben, folgen auch die Handlungen. So geht die neue Gestalt schmerzlos i m Wege einer i m Bewußtsein systematisch vorbereiteten Metamorphose aus dem äußerlichen und aus dem innerlichen Material der alten Wirklichkeit hervor. Sie geht nicht nur schmerzloser hervor als bei dem Versuch, dem Leben Begriffe aufzuzwingen, sondern sie geht fester hervor und hat Gewalt weniger zu fürchten, w e i l sie sich nicht auf Gewalt stützt. Dieses Modell setzt allerdings voraus, daß das Bewußtsein der Menschen bearbeitet werden kann. N u r dann können sich die Verschiebungen i m Bewußtsein ausbreiten und ansteckend wirken. Ausbreiten kann sich das umorganisierte Bewußtsein nicht, wenn die Köpfe, die es zur Sprache bringen können, abgehauen, zum Schweigen gebracht oder
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2. Kapitel: Hegel — Ausgangsprobleme
übertönt werden, — oder wenn sie sich nicht klar ausdrücken und daher nicht verstanden werden. Zuletzt wendet Hegel seine Gedanken auf das Deutsche Reich an: Die machthabende Allgemeinheit als Quelle des Rechts ist verschwunden. N u r i m Zusammenhang m i t diesem Ganzen hatten die bestehenden Rechte ihren Grund und ihre Würde. Nun sind sie besondere Rechte geworden. Darüber hat die öffentliche Meinung schon heller oder dunkler durch Verlust ihres Zutrauens entschieden, so daß es wenig braucht, über diese Zusammenhänge ein klareres Bewußtsein allgemeiner zu machen. Dann beginnen die letzten Sätze des Fragmentes: „Entweder kann nun von der Wahrheit, die auch das Bestehende zugibt, ausgegangen werden." Das ist der Weg der kritisch-affirmativen Bewußtseinsverschiebung: „Alsdann werden die Teilbegriffe, die i n dem des ganzen Staates enthalten sind, aufgefaßt als allgemeine i m Gedanken, und ihre Allgemeinheit oder Besonderheit i n der W i r k lichkeit (wird) neben sie gestellt. Zeigt eine solche Teil-Einheit (sich) als eine besondere, so fällt der Widerspruch zwischen dem, was sie sein w i l l und allein für sie gefordert wird, und dem, was ist, i n die Augen. Oder . . . " — und m i t diesen drei Punkten endigt das Fragment. — „Oder", so müßte es fortfahren, „es kann von der Wahrheit ausgegangen werden, die nicht auch das Bestehende zugibt". Alsdann w i r d das Reich als schöner allgemeiner Begriff von einem Staat aufgefaßt und nichts gefunden, was i h m entspricht. Wiederum fällt der Widerspruch i n die Augen, aber m i t einem wesentlichen Unterschied: das tatsächliche Leben, das sich anmaßt, staatliches zu sein, spielt sich i n den Teilstaaten ab. Die Teilstaaten aber kommen als Ausgangspunkt für affirmative Ansätze nur flüchtig i n den Blick, wenn man m i t einem idealen Begriff vom Staat vor Augen nur aufs Reich schaut, das kein Staat mehr, sondern nur noch das Gespenst eines Staates ist. — Dieser Weg, der nach dem „Oder" hätte beschrieben werden müssen 35 , ist genau der Weg, den Hegel am Schluß der Verfassungsschrift bedenkt, wenn er vorschlägt, die Deutschen durch die Macht eines Eroberers i n eine Masse zu zwingen, — also durch Gewalt, die sie — jetzt wieder i n den Worten des Fragmentes — „von außen her" erfahren. Dieser Vorschlag der Verfassungsschrift läuft darauf hinaus, die gedanklichen und rechtlichen Fossilien des Reichs gewaltsam zu beleben: den „gemeinen Haufen des deutschen Volks" durch angreifende Macht, die die beharrende Macht bricht, zur Annahme und Verwirklichung des Staats- bzw. Reichsbegriffs zu nötigen. Das schlechtere Leben w i r d dabei (in den Worten des Fragmentes) vom Besseren „feindlich m i t Macht angegrif96
Eine andere Auslegung dieser Stelle gibt Popitz (oben A n m . 21) S. 48.
2.1 Hegels Schrift zur deutschen
eichsverfassung
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fen" — ein Vorgehen, das als Gewalt von Besonderem gegen Besonderes „nicht Gegenstand einer absichtlichen Tätigkeit" für jemanden „sein kann", der sein Schicksal und die Zusammenhänge bedacht hat und infolgedessen seinen Willen aufs Allgemeine richtet. Wenn Hegel die Erkenntnisse, die i m Fragment festgehalten sind, schon oder noch i m Bewußtsein hatte, als der Schluß der Verfassungsschrift formuliert wurde, hätte er die Unstimmigkeit spüren müssen. Er durfte nicht bewußt vorschlagen, was nicht Gegenstand absichtlicher Tätigkeit eines Philosophen oder eines philosophisch besonnenen Praktikers „sein kann". — Daß die Verfassungsschrift i n der Schublade blieb, lag daher vielleicht nicht nur daran, daß ihre Veröffentlichung zur Zeit der französischen Besatzung nicht ratsam war, sondern auch daran, daß i n der Schrift das Verhältnis zwischen philosophischer Erkenntnis und politischer Praxis, zwischen Idee und Leben, noch nicht gelöst oder sogar i n einer Weise behandelt worden war, die m i t philosophischer Reflexion unvereinbar war. Der Schluß paßte i m übrigen auch nicht ganz zu dem Akzent, der i n einer anderen Frage durchklingt, die Hegel an erster Stelle einer Disposition zur Verfassungsschrift eingereiht hatte: „Ist keine Verbesserung i m Frieden zu hoffen 8 6 ?" Sieht man zunächst einmal versuchsweise i n Hegels weiterem Lebenslauf und i n seinem Wirken die gelebte A n t w o r t auf die offenen Fragen, kann man folgendes B i l d entwerfen: So wie Hegel am Ende des Fragmentes i n dem Absatz, der m i t „Entweder" beginnt, theoredie i m Ganzen des Reiches enthalten sind, als tisch erwägt, Teilbegriffe, allgemeine aufzufassen, so optiert er später praktisch für den stärksten Teilstaat des ehemaligen Reiches: Preußens innere Reformen und seine Rolle i n den Freiheitskriegen machen es Hegel leicht 3 7 , die bissigen Vorbehalte gegen Preußen, die die Verfassungsschrift enthält, zurückzulassen und, nachdem er sich schon 1814 für die Nachfolge auf Fichtes Lehrstuhl interessiert hatte 3 8 , 1818 einem Ruf nach Berlin gern zu folgen. Dort lehrt und schreibt er eine affirmative Rechts- u n d Staatsphilosophie, die — nach dem Urteil von Hörern, Zeitgenossen und späteren Beobachtern — ihre Wirkung nicht verfehlt, und vierzig Jahre nach seinem Tod w i r d Preußen tatsächlich zur staatlichen Kernzelle eines deutschen Reiches. 86
Hegel, Werke 1, 603.
* 87 E. Weil, Hegel et l'Etat, Paris 1950, S. 18 ff.; J. Ritter, Hegel u n d die Französische Revolution, i n : ders., Metaphysik u n d Politik, F r a n k f u r t 1969, S. 239. 38 Briefe von u n d an Hegel, hrsg. v. J. Hoffmeister, Bde I - I I I , 3. A u f l . 1969. Bd. I V , 1960, i m Folgenden zitiert: Briefe, — hier Bd. I I S. 30.
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2. Kapitel: Hegel — Ausgangsprobleme
Diese Skizze einer gelebten Antwort auf politische, philosophische und persönliche Fragen des jungen Hegel knüpft hier vorerst n u r an zwei Dokumente m i t politischem Bezugspunkt an und steht daher auf sehr schwachen Füßen. N u r wenn das B i l d sich vor dem Hintergrund der anderen großen Auseinandersetzungen des jungen Hegel halten läßt, kann es als Orientierungshilfe für die Lektüre der späteren A r beiten dienen. Die andere große Auseinandersetzung führt der junge Hegel m i t Religion und Volksreligion i m allgemeinen sowie m i t den revolutionsreifen Zuständen der jüdischen Nation zur Zeit Jesu i m besonderen und m i t dem Menschen Jesus als einem gescheiterten Revolutionär. — 2.2 Religionskritische Jugendschriften I n der Verfassungsschrift beschreibt Hegel, daß die Zerstückelung Deutschlands keine oberflächliche Erscheinung sei, sondern i m Innersten der Menschen, i n Religion u n d Gewissen, verwurzelt sei. „Die Religion, statt durch ihre eigene Spaltung sich vom Staate abzusondern, hat vielmehr diese Spaltung i n den Staat hineingetragen und am meisten beigetragen, den Staat aufzuheben, und sich so i n das, was Verfassung heißt, hineingeflochten, daß sie Bedingung von Staatsrechten i s t . . . 3 9 ." „Die Religion . . . hat w o h l am meisten beigetragen, die Staatsverbindung zu zerreißen und dies Zerreißen gesetzlich zu machen 40 ."
Wenn die Zerteilung Deutschlands letztlich religiös mitverursacht und i m Religiösen verankert war, dann konnte sie n u r von Grund aus überwunden werden, wenn die Hebel auf derselben religiösen Ebene angesetzt wurden. I n der Verfassungsschrift ist das nicht ausdrücklich ausgesprochen. Aber Hegels Studien über Volksreligion u n d Christent u m passen i n diese Lücke, als seien sie zur Ergänzung der Verfassungsschrift geplant worden. So stehen z.B. folgende Sätze nicht i n der Verfassungsschrift, i n welcher am Schluß auch von einem Theseus die Rede ist, sondern i m Zusammenhang m i t Überlegungen zur Volksreligion: „Außer etwa Luther bei den Protestanten, welches könnten auch unsere Helden sein, die w i r nie eine Nation waren? welches wäre unser Theseus, der einen Staat gegründet u n d i h m Gesetze gegeben hätte . . .? 4 1 "
Irgendwann 4 2 jedenfalls muß es Hegel bewußt geworden sein, daß es darauf ankam, auf religiös-weltanschaulicher Ebene anzusetzen und 39 40
Hegel, Werke 1, 518 ( = Mollat S. 62/63).
S. 520 ( = 65). 41 S. 197 ( = Hermann Nohl, Hrsg., Hegels theologische Jugendschriften, Tübingen 1907 — i m Folgenden zitiert: Nohl — S. 215). 42 Den ersten Beleg für dieses Bewußtsein liefert w o h l ein Brief an Zellmann vom 23.1.1807, Briefe 1137 (Auszug unten bei Anm. 104).
2.2 Religionskritische Jugendschriften
41
von dort her das bestehende innere und äußerliche Leben i n Deutschland zu unterwandern und zu verjüngen. Dabei konnten Philosophie und Religion vortrefflich zusammenarbeiten. Jene lieferte den bloß auf Erkenntnis gerichteten harmlosen Schein („Abenddämmerung"), diese entband unterschwellig die Kräfte, die Veränderung bewirken sollten („Morgenröte"). Beides zusammen, nochmals philosophisch reflektiert, lieferte i n seinem Widerspruche die Philosophie und Technik der geschichtlichen Veränderung: Begreifen der Religion durch die Philosophie und die Hereinnahme der philosophischen Religion i n die dialektische Philosophie. — Als man sehr v i e l später i n Berlin eine Prachtausgabe des Eulenspiegel plante, fragte man Hegel mehrfach nach seiner Meinung über dieses Werk. Darin zeige sich, gab Hegel Auskunft, das deutsche Bewußtsein gerade auf dem Punkt, wo es, vorwärts und rückwärts blickend, das Ding an sich mehr schalkhaft als wissenschaftlich verauktioniere 4 8 . Als diese A n t w o r t von einigen Anbetern des Eulenspiegels — des Spiegels der Weisheit — übel gedeutet wurde und sie i h m entgegenhielten, durch den Eulenspiegel seien die Zeiten erfüllt, antwortete Hegel kurz und klar: „Der Messias b i n ich 4 4 ." Das ist gewiß eine Eulenspiegelei, — aber eben doch eine Eulenspiegelei. Befragt man Hegel selbst, ob dergleichen als biographisches Detail i m Hinblick auf die Sache selbst erwähnt werden dürfe, so erhält man die generelle Auskunft: „Das Interesse der Biographie scheint direkt einem allgemeinen Interesse gegenüber zu stehen, aber sie selbst hat die historische Welt zum H i n t e r grunde, m i t welchem das I n d i v i d u u m verwickelt ist; selbst das subjektiv Originelle, Humoristische (!) u. s. f. spielt an jenen Gehalt an, u n d erhöht sein Interesse dadurch . . . 4 δ ."
Mag das Humoristische von Hegels Eulenspiegel-Messianismus auf den historischen Hintergrund anspielen und Interesse gewinnen, so reicht es doch nicht hin, eine Gesamtdeutung darauf aufzubauen. Wieviel Wahrheit jene Eulenspiegelei enthält, stehe also dahin. Hegel t r i t t jedoch auch ernsthafter m i t dem Anspruch auf, es Jesus gleichzutun. Erst Förster 4 6 erinnert sich: „ I c h w a r m i t voller Überzeugung ein Bekenner der Kantischen Lehre v o n den Grenzen der menschlichen Erkenntnis . . . D e m t r i t t Hegel m i t hohem, Vertrauen erweckendem Selbstbewußtsein u n d m i t dem Ausspruch entgegen: ,Es gibt keine unüberwindlichen Schranken f ü r das menschliche W i s 48 Dazu, w i e Hegel diese „Verauktionierung" des Ding-an-sich gemeint haben dürfte, vgl. unten bei A n m . 498 sowie den T e x t vor A n m . 559. 44 G. Nicolin, Hrsg., Hegel i n Berichten, S. 416. 45 Enzyklopädie, A n m . zu § 549, Glockner 10, 430 ( = Werke 10, 351). 46 Hegel i n Berichten S. 204.
2. Kapitel: Hegel — Ausgangsprobleme
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sen! — Ich sage w i e Christus: Wer zu m i r k o m m t und meine Worte hört, der w i r d die Wahrheit haben!'"
Darüber hinaus gibt es Parallelen und deutlichste Bezüge zwischen Hegels politischen und religionskritischen Jugendschriften, seinen verfassungspolitischen Manuskripten, seinem Aufsatz über die Behandlungsarten des Naturrechts und — schließlich auch der Staatsphilosophie, die i n seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts" entwickelt wird. Das Bild, das der junge Hegel von Israel zeichnet, gleicht i n vielen entscheidenden Einzelheiten dem Bilde, das er von Deutschland entw i r f t : und zwar insbesondere i n dem Punkt, daß zunächst die Hoffnung auf einen m i t Macht ausgerüsteten Befreier bzw. Einiger i m Spiel ist. Man hat den Eindruck, als betreibe Hegel eine historische Modellstudie, u m Anregungen für seine eigene Zeit zu gewinnen. 2.21 Eine geschichtliche Modellstudie Während seines Aufenthaltes i n Bern (1793 - 1796) schrieb Hegel unter anderem ein abgeschlossenes Manuskript über das Leben Jesu 47 . Als jetzt vor kurzem gelegentlich des Drucks einer Studienausgabe Hegels die Frage anstand, ob dieses Manuskript mitaufgenommen werden solle, entschied man sich dagegen. Als einzig vollständig erhaltenes Manuskript der Berner Zeit sei es zwar bedeutsam — „kaum jedoch für Hegels philosophische Entwicklung" 4 8 . Diese Einschätzung zeigt symptomatisch, wie sehr „Hegels philosophische Entwicklung" gern abstrakt betrachtet w i r d : Als sei es für die Entwicklung eines Menschen kaum bedeutsam, wenn er das Leben eines anderen Menschen und keines geringeren als das Leben Jesu studiert und rekonstruiert. A l l e i n die Tatsache, daß Hegel den dogmatischen Schutt einer überlieferten Religion gewissermaßen unbeachtet läßt und i n schlichter Sprache das Leben des wirklichen Menschen zu erfassen versucht, von dem diese Religion ausging, und zwar zu erfassen ohne die Wunder und Verklärungen, liefert für sich schon mehr Aufschluß über die Entwicklung von Hegels Philosophie, als man auf den ersten Blick abzuschätzen vermag. Es kommt aber noch etwas hinzu. M i t vierundzwanzig Jahren schrieb Hegel seinen Freunden aus Bern: „ I c h b i n gewiß, daß D u indessen zuweilen meiner gedachtest, seit w i r m i t der Losung ,Reich Gottes 4 voneinander schieden. A n dieser Losung würden 47
Nohl
S. 75 - 136. Vgl. zum Folgenden außer den bekannteren Werken
über den jungen Hegel von Dilthey und Lukäcs: Joh. Wilh. Schmidt- Japing, Die Bedeutung der Person Jesu i m Denken des jungen Hegel. Göttingen 1924. 48 Werke 1, 622.
2.2 Religionskritische Jugendschriften w i r uns nach jeder Metamorphose, w i e ich glaube, wiedererkennen." Hölderlin, 10. J u l i 179449.)
43 (An
„Das Reich Gottes komme, u n d unsere Hände seien nicht müßig i m Schöße! . . . Vernunft u n d Freiheit bleiben unsere Losung u n d unser Vereinigungsp u n k t die unsichtbare Kirche." ( A n Schelling, Ende Januar 179550.)
Ein Mann, der entschlossen ist, nicht müßig zu sein bei der A n k u n f t des Reich Gottes: für dessen Entwicklung soll es kaum von Bedeutung sein, wenn er das Leben des Menschen rekonstruierte, der vor achtzehnhundert Jahren sich an der gleichen Sache schon einmal versucht hatte und (in Hegels Augen) i n seinem Lande politisch damit gescheitert war? Hegel selbst jedenfalls zeigt durch sein Interesse an der geschichtlichen Person Jesu, daß ihn der Mensch hinter dem Werk fesselt, und er bedauert es, daß es über die Entwicklung der Gedanken des jungen Jesu keine genaueren Aufzeichnungen gibt. „ V o n sehr großer praktischer Wichtigkeit aber ist die Geschichte Jesu, nicht bloß seine oder die i h m zugeschriebenen Lehren 5 1 ." (Hervorhebungen von m i r . — Also darf m a n w o h l m i t Hegel sagen: „ V o n sehr großer prak-
tischer Wichtigkeit ist die Geschichte Hegels, nicht bloß seine philosophische Lehre.")
„ W i e die B i l d u n g des Jesus gereift ist, über diese interessante Frage sind gar keine Nachrichten auf uns gekommen; i n seinem männlichen A l t e r erst t r i t t er auf . . . Seine ganze Manier hat das Ansehen, daß er zwar unter seinem Volke erzogen, aber fern von i h m — u n d w o h l länger als vierzig Tage — von dem Enthusiasmus des Reformators beseelt w u r d e . . . 5 2 . "
Hätte der junge Jesus eine Studie über das Leben des geschichtlichen Moses verfaßt: Hegel hätte dieser Studie außerordentliche Bedeutimg für die Entwicklung der Gedanken von Jesus beigemessen. I m „Leben Jesu" allerdings zeigen sich noch kaum die besonderen Interessen Hegels an der Strategie und Taktik Jesu, an die i m folgenden angeknüpft w i r d ; denn i m „Leben Jesu" erscheint Hegel noch weitgehend als Aufklärer und Kantschüler und Jesus als Tugendlehrer. U m so aussagekräftiger und kennzeichnend für Hegel sind dann diejenigen der „religionskritischen Jugendschriften", i n denen Hegel die Methoden verfolgt und kritisiert, die Jesus nach der Überlieferung bei der Verbreitung seiner Lehre angewendet hat. Hegels theologische Jugendschriften sind zu einem großen Teil politische Jugendschriften und zeugen Schritt für Schritt von Hegels praktischem und lebendigem Interesse daran, welche Kräfte m i t Hilfe der Religion entbunden werden können und wie es anzufangen sei, eine 49 50
51 52
Briefe I 9. Briefe 118.
Nohl S. 56 ( = Werke 1, 81). Nohl S. 149, 160, vgl. auch 76 ff. ( = 227, 115).
44
2. Kapitel: Hegel — Ausgangsprobleme
gediegene Religion zu schaffen, die diese Kräfte i n den Menschen auf Wunsch h i n und i n gewünschter Richtung tatsächlich entbindet. Statt der theologischen Langeweile, die Uneingeweihte hinter dem Titel (etwa der Nohlschen Ausgabe der „theologischen Jugendschriften") vermuten könnten, stößt man auf herzhafteste Menschenkenntnis und nicht nur auf Religionskritik, sondern auch schon auf Revolutionskritik. Die spätere Religionskritik der Junghegelianer w i r k t daneben ζ. T. wie ein fader, nämlich abstrakterer zweiter Aufguß. Marx, der Hegels Jugendschriften nicht kennen konnte (und sich für Hegels wirkliches Leben und seine geistige Entwicklung auch nicht sonderlich interessierte), hätte an diesen Studien seine (freilich nicht vorbehaltlose) Freude gehabt. U m so recht deutlich zu machen, unter welchem Blickwinkel Hegel Jesus und das Christentum studiert, empfiehlt sich hier ein nur scheinbar weit hergeholter Vergleich m i t den Gedanken eines einflußreichen politischen und theologischen Denkers, dessen Geschichtsphilosophie i n einigen Punkten eigenartig m i t der Hegeischen übereinstimmt (wie sehr sie auch i n ganz entscheidenden Momenten dahinter zurückbleibt): Für Donoso Cortes war Jesus nicht Religionserneuerer allein, sondern politischer Erneuerer von weltgeschichtlicher Größenordnung. A m deutlichsten zeigt sich diese Einschätzung an folgenden Sätzen: „ A l s man i h n (Jesus) wegen des Tributs zur Rede stellte, gab er die berühmte A n t w o r t , die die Fragesteller ganz aus der Fassung brachte: »Gebet Gott, was Gottes ist, u n d dem Kaiser, was des Kaisers ist!' D a m i t wollte er sagen: ,Ich lasse euch eueren Kaiser u n d nehme euch eueren J u p i t e r ' . . . Pilatus konnte nicht begreifen, was Staat u n d Religion, Cäsar u n d Jupiter, P o l i t i k u n d Theologie miteinander zu t u n haben sollen. Kaiphas dagegen wußte wohl, daß eine neue Religion den Staat umstürzen u n d ein neuer Gott den Kaiser entthronen werde, daß die politische Frage i n der theologischen m i t Inbegriffen s e i . . . 6 S ."
Hier sieht ein katholischer Denker, w e i l er zugleich ein politischer Denker ist, i n Jesus einen großartigen Umstürzler, der die scheinbar unverfänglichen und abwieglerischen Worte spricht: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist!" und der dabei vielleicht m i t innerer Belustigung schon daran denkt, m i t Hilfe seines Gottes den Kaiser selbst zu entmachten. Ganz ähnlich sieht auch Hegel Jesus, und doch trennen i h n i m übrigen geistige Abgründe von Donoso Cortes. Donoso Cortes führt Jesus i m Munde. Aber er selbst n i m m t eine konservative Rolle ein, w i e er sie an Kaiphas darstellt. Hegel hingegen zielt nicht darauf, m i t einer jahrtausendalten Lehre ein altes Reich vor dem Verfall zu bewahren. Er w i l l die fällige Erneuerung geistig 53
Donoso Cortes, Der Staat Gottes, Karlsruhe 1933, Neudruck Darmstadt 1966, S. 17 f.
2.2 Religionskritische Jugendschriften
45
vorbereiten, ohne d i e H ü t e r der v e r f a l l e n d e n O r d n u n g aufzuschrecken. H e g e l fesselt das geschichtliche Wann, das geschichtliche Warum und das geschichtliche Wie der politischen E r n e u e r u n g . N i c h t u m einen k a tholischen K a i p h a s z u spielen u n d A l t e s z u b e w a h r e n , erforscht er Jesu L e b e n u n d L e h r e , sondern u m v o m E r n e u e r e r d i e E r n e u e r u n g z u l e r nen. B e v o r H e g e l die L a g e der J u d e n z u r Z e i t Jesu analysiert, w e i ß er bereits, w o r u m es i h m b e i d e r R e l i g i o n g e h t : U m Triebfedern zum Handeln 64. „Meine Absicht ist nicht, zu untersuchen, welche religiösen Lehren am meisten Interesse fürs Herz haben, der Seele am meisten Trost und Erhebung geben können; nicht wie die Lehren einer Religion beschaffen sein müssen, die ein Volk besser u n d glücklicher machen soll, sondern was für Anstalten dazu gehören, daß die Lehren u n d die K r a f t der Religion i n das Gewebe der menschlichen Empfindungen eingemischt, ihren Triebfedern zum Handeln beigesellt (werden) u n d sich i n ihnen lebendig und wirksam erweis(en), — daß sie (die Religion) ganz subjektiv werde; wenn sie das ist, so äußert sie ihr Dasein nicht bloß durch Händefalten, durch Beugen der K n i e u n d des Herzens vor dem Heiligen." (Hervorhebungen u n d Ergänzungen von mir.) N u n zur Modellstudie selbst55: „ Z u der Zeit, da Jesus unter der jüdischen Nation auftrat, befand sie sich i n dem Zustande, der die Bedingung einer früher oder später erfolgenden Revolution ist und immer die gleichen Charaktere trägt: Wenn der Geist aus einer Verfassung, aus den Gesetzen gewichen ist u n d jener durch seine Veränderung zu diesen nicht mehr stimmt, so entsteht ein Suchen, ein Streben nach etwas anderem, das bald von jedem i n etwas anderem gefunden wird, wodurch denn eine Mannigfaltigkeit der Bildungen, der Lebensweisen, der Ansprüche, der Bedürfnisse hervorgeht, die, wenn sie nach und nach so weit divergieren, daß sie nimmer nebeneinander bestehen können, endlich einen Ausbruch bewirken und einer neuen allgemeinen Form, einem neuen Bande der Menschen i h r Dasein geben . . . E i n Allgemeines hält sie notdürftig noch zusammen, aber es ist so viel fremdartiger und mannigfaltiger Stoff, so vielerlei Leben u n d Ideale v o r handen, so viel unbefriedigtes, neugierig nach Neuem umherschauendes Streben, daß jeder m i t Zuversicht u n d Hoffnungen auftretende Reformator sich eines Anhanges für ebenso versichert halten kann als einer feindlichen Partei. Die äußere Unabhängigkeit des jüdischen Staates war verloren . . . ; die Forderung der Unabhängigkeit lag zu tief i n ihrer Religion, die anderen Völkern kaum das Neben-ihr-Bestehen gönnte; wie sollte sie die Herrschaft eines derselben über ihre Kinder erträglich finden? Das V o l k . . . wartete daher auf einen fremden, m i t Macht ausgerüsteten Messias, der für dasselbe täte, was es selbst nicht wagte, oder es zum Wagen begeisterte und durch diese Gewalt fortrisse . . . " M 65
Nohl S. 8 ( = Werke 1, 16 f.). Nohl S. 385 f. ( = 297 f.).
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2. Kapitel: Hegel — Ausgangsprobleme
„Hätte bei ihrer Unruhe und Unzufriedenheit m i t der Wirklichkeit das Bedürfnis nach etwas Reinerem i n ihnen gelegen, so hätte der Zuruf des Jesus Glauben gefunden, und dieser Glaube hätte das Geglaubte i n demselben Augenblick ins Dasein gebracht. M i t ihrem Glauben wäre das Reich Gottes vorhanden gewesen. Jesus hätte ihnen eigentlich nur ausgesprochen, was unentwickelt und unbewußt i n ihrem Herzen lag; und m i t dem Finden des Wortes, m i t dem Ins-Bewußtsein-Kommen des Bedürfnisses wären die Bande abgefallen, vom alten Schicksal hätten sich n u r noch Zuckungen des erstorbenen Lebens geregt und das Neue wäre dagestanden 56 ." A n dieser S t e l l e t a u c h t für uns d i e Zwischenfrage auf, w i e e i n e i n geschworen n ü c h t e r n e r K o p f m i t vollständig weltlichem Bewußtsein sich das konkret u n d genau v o r s t e l l e n k a n n : „Das Reich Gottes w i r d ins Dasein gebracht." — Daß Hegels Reich-Gottes-Begriff w e d e r m i t d e m der ü b l i c h e n Theologie ü b e r e i n s t i m m e n k o n n t e , noch etwas m i t d e r A u f k l ä r i m g französischer H e r k u n f t z u schaffen hatte, zeigt sich ζ. B . schon a n seiner späteren R e a k t i o n auf das A n s i n n e n , a n Schulen Unterricht i n „aufgeklärter Religionslehre" zu erteilen: „— der ich viele Jahre lang auf freiem Felsen bei dem Adler nistete und reine Gebirgsluft zu atmen gewohnt war, sollte jetzt lernen, von den Leichnamen verstorbener oder (der modernen) totgeborner Gedanken zehren und i n der Bleiluft dieses leeren Geschwätzes vegetieren . . . " (An Niethammer, Bamberg 180757.) 2.22 „Reich
Gottes"
D e m R e i c h - G o t t e s - B e g r i f f Hegels l i e g t zunächst eine Unterscheid u n g der N a t u r i n physische u n d psychische N a t u r z u g r u n d e ( w i e w o h l v o n j e d e r d e r b e i d e n j e nach Z u s a m m e n h a n g auch als v o n „ d e r N a t u r " ü b e r h a u p t die Rede ist). „ I n der Natur geschieht nichts Neues unter der Sonne, und insofern führt das so vielformige Spiel ihrer Gestaltungen eine Langeweile m i t sich. N u r in den Veränderungen, die auf geistigem Boden vorgehen, kommt neues hervor 6 8 ." „Die Natur haben w i r hier nicht zu betrachten, wie sie an ihr selbst gleichfalls ein System der Vernunft sei, i n einem besonderen, eigentümlichen Elemente, sondern nur relativ auf den Geist 5 9 ." „Nach der Schöpfung der Natur t r i t t der Mensch auf, u n d er bildet den Gegensatz zu der natürlichen Welt; er ist das Wesen, das sich i n die zweite Welt erhebt. W i r haben i n unserem Bewußtsein zwei Reiche, das der Natur und das des Geistes. Das Reich des Geistes ist das, was von den Menschen hervorgebracht wird. Man mag sich allerlei Vorstellungen vom Reiche 5
· Nohl S. 325 ( = 397 f.). Briefe 1196. 58 Hegel, Die Vernunft i n der Geschichte, hrsg. v. J. Hoffmeister, 1959, S. 149. 69 S. 50. 57
3. Aufl.
2.2 Religionskritische Jugendschriften
47
Gottes machen, so ist es immer ein Reich des Geistes, das i m Menschen realisiert und von i h m i n die Existenz gesetzt werden soll 6 0 ."
Z u m Reich des Geistes gehören Religion u n d Staatsverfassung. Für den Gott, der die physische Natur geschaffen hat, interessiert Hegel sich i n seinen Jugendschriften zur Religion nicht, sondern nur für den Gott, der — nach den Vorstellungen der Religion — i n die menschliche Geschichte eingreift: Den Gott, der als der Herr seinen Knechten (und durch seine Knechte) seinen W i l l e n kundtut u n d Gesetze gibt. Der Dienst gegenüber diesem Gott w a r Dienst gegen ein Fatum, das nicht, w i e das griechische, innerhalb der Natur und jenseits menschlicher Beeinflussung lag 6 1 . Gegenüber Gottes Gesetz w a r Ungehorsam denkbar und möglich. Gerade daß die Pharisäer sich m i t Anstrengung bemühten, gute Juden zu sein, beweist, „daß sie die Möglichkeit kannten, es nicht zu sein" 6 2 . Das Gesetz des alten Bundes ist der W i l l e des Herrn. I m Herrn ist aller Wille konzentriert. Das Gegenteil dazu ist für Hegel „Selbstbestimmung, Selbsttätigkeit" 6 8 . So aber bleibt für die Knechte i n ihrer Knechtschaft nur Willenlosigkeit. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich für Hegel die Qualitäten dieser Knechtschaft 64 : a) I m Entgegengesetzten zum Gesetz: Willenlosigkeit b) I n Beziehung auf andere Menschen (in der „Drittrichtung", wenn man diesen heutigen Terminus einmal zu Hilfe nehmen w i l l ) : Gefühllosigkeit; Mangel an schönen Beziehungen und Liebe; Trennung voneinander; U n geselligkeit c) Willenlosigkeit und Lieblosigkeit zusammen: Mangel an göttlichen Eigenschaften, — Gottlosigkeit
Das ist, auf knappe Formeln zugespitzt, die Ausgangslage. Hegels A r gumentation ist dann sehr knapp und bündig, und zwar sowohl, was den göttlichen Willen, als auch, was die göttliche Liebe b e t r i f f t 6 5 : „Hat der Mensch selbst Willen, so steht er i n ganz anderem Verhältnis zu Gott als der bloß passive; zwei unabhängige Willen, zwei Substanzen gibt es nicht; Gott und der Mensch müssen also eins sein." „Gott ist die Liebe, die Liebe ist Gott, es gibt keine andere Gottheit als die Liebe — nur was nicht göttlich ist, was nicht liebt, muß die Gottheit i n der Idee haben, außer sich. Wer nicht glauben kann, daß Gott i n Jesus war, daß er i n Menschen wohne, der verachtet die Menschen. Wohnt die Liebe, (so) wohnt (auch) Gott unter den Menschen . . . ; wo nicht, so muß von i h m gesprochen werden." 60
61 62 68 84 65
a.a.O. Nohl S. 386 ( = Werke I, 298). a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O. S. 391 ( = 304).
48
2. Kapitel: Hegel — Ausgangsprobleme
D e r Mensch, d e r n i c h t weiß, daß er g ö t t l i c h u n d f r e i ist, sondern sich als K n e c h t d e n k t , m u ß z u seiner V e r v o l l s t ä n d i g u n g d e n H e r r n z u r Idee haben. D e r Mensch, der n i c h t selbst v o n L i e b e e r f ü l l t ist, m u ß u m so d r i n g e n d e r wenigstens d i e Idee d a v o n haben. I n b e i d e n F ä l l e n redet d e r Mensch u m so m e h r v o n G o t t u n d Liebe, j e w e n i g e r er d a v o n i n sich hat. Das ist das A B C der religiösen Ersatzbefriedigung. K o s t e t d e r Mensch v o m Baum der Erkenntnis, daß er selbst W i l l e n u n d L i e b e hat, d a n n erkennt er, daß er ist w i e G o t t . E r entdeckt G o t t i n sich; G o t t offenbart sich i h m i n i h m selbst, i n der Menschheit. D i e Menschheit e r w e i s t sich d a m i t als der Werkmeister ihres Schicksals. G o t t b r a u c h t n i c h t auf d i e E r d e h e r u n t e r z u k o m m e n . E r ist schon da. A b e r er i s t den Menschen verborgen: verdeckt d u r c h die f i x e n V o r s t e l l u n g e n der ü b e r l i e f e r t e n R e l i g i o n m i t d e m Gott der Not 66 (dem G o t t insbesondere des israelitischen Notstandes i n Ä g y p t e n ) u n d d e m i h m gegenüber g e w o h n t e n Knechtssinn. Moderner ausgedrückt ergäben sich aus Hegels Ansätzen, i n denen spätere psychologische u n d sozialpsychologische Erkenntnisse zum Teil i n t u i t i v vorweggenommen sind, etwa folgende Einsichten: „Gott" ist auch (aber nicht nur) eine A r t Sammelstelle und V e n t i l i m Bewußtsein, über die insbesondere der Wille des Herrn eingeschleust, der Wille der Knechte aber nicht hinausgelassen wird. Außerdem w i r d über diesen Knoten i m Bewußtsein die Liebe eingesogen, die der Herr beansprucht, so daß sie anderen Liebesadressaten i n der „Drittrichtung" vorenthalten oder nur auf dem Umweg 67 über den Willen des Herrn zurückerstattet wird, wenn und soweit der Herr Verhaltensregeln für den Umgang m i t dem Nächsten setzt u n d Liebe anordnet. Sobald diese Funktionen des „Gott"-Zentrums i m Bewußtsein i n Frage gestellt werden, w i r d die Kanalisierung des nunmehr anerkannten eigenen Willens der ehemaligen Knechte zum Problem; die Verteilung der unter die Menschen zurückgedachten Herrschaft w i r d aus einer verhüllten zur offenkundigen politischen Aufgabe der Selbstorganisation. Die Frage nach der Natur Gottes und nach seinen Eigenschaften entpuppt sich als eine Frage nach dem Bild, das der Mensch von der Menschheit i n sich trägt, u n d nach der wirklichen Gesellschaftsordnung. Die Frage nach der Gestalt Gottes ist die Frage nach der Gesellschaftsverfassung. Der Theologe findet sich zum Teil wieder als Verfassungstheoretiker. Der Verfassungstheoretiker erkennt i m Theologen zum Teil einen geistigen Vorfahren, der i m Laufe der Geschichte seinen wirklichen Gegenstand aus den Augen verloren und einer Abstraktion seines Bewußtseins nachgeeilt ist. Gott nicht nur zu lieben, sondern auch zu erkennen, dieses biblische Gebot besagt i m Klartext, den Menschen u n d die Menschheit zu lieben und i n ihrer Wirklichkeit zu erkennen. Als eine Erscheinung des Bewußtseins schließlich gehört Gott i n die a.a.O. S. 257 ( = 292). Der Gott der Not — das ist eine theokratische Notstandsu erfassung: Eine durch die Not herausgeforderte, erzeugte u n d geformte Verfassung des Bewußtseins ebensowohl als auch Verfassung der daraus entspringenden gesellschaftlichen Wirklichkeit 87 Von diesem „Umweg" ist i n den theologischen Jugendschriften mehrfach u n d i n verschiedenen Wendungen immer wieder die Rede, z.B. Nohl S. 34, 59,161 f. ( = Werke 1, 54, 86,117 f.).
2.2 Religionskritische Jugendschriften
49
Zuständigkeit der Sozialpsychologie u n d einer sozialpsychologischen B e trachtung der Geschichte, so daß die Sozialpsychologie, w e n n nicht auf anderen Wegen, dann auf diesem ihre Verwandtschaft m i t der Staatslehre u n d der Verfassungstheorie aufklären könnte. — Hegel selbst hat freilich die Konsequenzen seines Ansatzes so nicht formuliert, aber so k a n n m a n sie heute formulieren, u m zu veranschaulichen, i m Schnittpunkt welcher Disziplinen Hegel souverän u n d m i t erstaunlicher Instinktsicherheit operierte. Ob seine Sicht der Dinge richtig war, steht hier nicht zur Beurteilung an, solange es n u r darum geht, die Tragweite seines Denkens verständlich zu machen. Als Beweis dafür, daß Hegels Ansätze dabei nicht verfehlt werden, ließen sich ungezählte Belege anführen, deren Sprache jeweils u m so offenherziger ist, je weiter Hegels Themen von der Tagespolitik entfernt waren u n d er sicher sein konnte, daß keine Unberufenen heraushören konnten, woher der W i n d wehte: „ I m allgemeinen ist die Religion u n d die Grundlage des Staates eins u n d dasselbe; sie sind an und für sich identisch . . . Es k o m m t hier wesentlich auf den Begriff der Freiheit an, den ein V o l k i n seinem Selbstbewußtsein trägt; denn i m Staat w i r d der Freiheitsbegriff realisiert, u n d zu dieser Realisierung gehört wesentlich das Bewußtsein der an sich seienden Freiheit. Völker, die nicht wissen, daß der Mensch an u n d f ü r sich frei sei, leben i n der Verdumpfung sowohl i n Ansehung ihrer Verfassung als ihrer Religion. — Es ist ein Begriff der Freiheit i n Religion u n d Staat. Dieser eine Begriff ist das Höchste, was der Mensch hat, u n d er w i r d von dem Menschen realisiert. Das Volk, das einen schlechten Begriff von Gott hat, hat auch einen schlechten Staat, schlechte Regierung, schlechte Gesetze 68 ." ( I m übrigen aber w a r Hegel selbstverständlich f ü r die Trennung des Staates u n d der Kirchen, die er geschichtlich vorfand 6 9 , — soweit m a n v o n i h m als Geschichtsphilosophen überhaupt sagen kann, daß er „ f ü r etwas w a r " , was i n seinen Augen eine Durchgangsetappe des sich bildenden menschlichen u n d allgemeinen Bewußtseins war.) W e n n H e g e l d a r a n d e n k t , d e n „ K n e c h t e n " b e w u ß t z u machen, daß W i l l e , L i e b e u n d G o t t i n i h n e n selbst sei, so l i e g t d e m j e d o c h alles andere z u g r u n d e als d e r F r e i h e i t s - u n d D e m o k r a t i e b e g r i f f d e r A u f k l ä r u n g u n d der französischen R e v o l u t i o n , d u r c h d e n — i n Hegels A u g e n — das Individuum u n d d e r Einzelwille ins Z e n t r u m gerückt w o r d e n ist. G o t t w i r d w e d e r a n g e g r i f f e n , n o c h abgeschafft oder v e r n i c h t e t . A b e r e r w i r d auch n i c h t so gelassen, w i e e r ist. E r w i r d v i e l m e h r e n t h ü l l t , als W i r k l i c h k e i t e r k a n n t u n d b e g r i f f e n u n d a n e r k a n n t : als R e a l i t ä t des B e w u ß t s e i n s , d i e d i e G e m e i n s a m k e i t d e r G o t t e s k i n d e r d a r s t e l l t e . Sie w a r e n das V o l k i h r e s Gottes, e r w a r d e r G o t t i h r e s V o l k e s . E r w a r i h r e Z u s a m m e n f a s s u n g , d i e k e i n e territoriale Zusammenfassung w a r , s o n d e r n eine G e m e i n s a m k e i t im Geiste. Diese G e m e i n s c h a f t l i c h k e i t g e h t i m Z u g e d e r E n t h ü l l u n g Gottes n i c h t v e r l o ren. Sie w i r d u m w e g f r e i e r , w i r k l i c h e r u n d menschlicher gesehen u n d b e g r i f f e n . D i e G e m e i n s a m k e i t , d i e sich i n d e m g e m e i n s a m e n G o t t ausdrückte, w a r die Form, i n der die Zusammengehörigkeit u n d die A b h ä n g i g k e i t v o n e i n a n d e r v e r m i t t e l t u n d b e w u ß t w u r d e . H i e r g e g e n sich 68 69
Glockner 15, 257 ( = Werke 16, 237). Vgl. ζ. B. aus den Frühschriften unten A n m . 99.
4 Suhr
2. Kapitel: Hegel — Ausgangsprobleme
50
aufzulehnen und nicht nur die sprachliche und verknöcherte Hülle, sondern die verborgene Wirklichkeit von Abhängigkeit, Gemeinschaftlichkeit und Zusammengehörigkeit selbst zu verleugnen, hieße, die Zusammengehörigkeit und Abhängigkeit der Menschen voneinander zu bekämpfen. („Nicht der Einzelne für sich, sondern zusammen m i t dem Bewußtsein der Gemeine, und das, was er für diese ist, ist das vollständige Ganze desselben 70 .") Das Erlebnis „Gott" i m Bewußtsein ereignet sich parallel i n den vielen einzelnen Bewußtseinen der Menschen, die diesen gemeinsamen Gott „haben". So geht die Bewußtseinserscheinung, die dieser Gott ist, nicht m i t dem Tode der einzelnen zugrunde, — i m Gegenteil: A m Tode des einzelnen w i r d erst richtig sichtbar und erfahrbar, daß m i t ihm nicht auch schon das verschwindet, was auch i n seinem Bewußtsein geistige und menschliche Wirklichkeit war. So w i r d erlebt, wie etwas Allgemeines sich fortpflanzt durch die einzelnen hindurch, die nur als Gefäße erscheinen oder als Klangkörper, i n denen Töne anklingen, deren Melodie sie überdauert. Die äußere Wirklichkeit muß „sich damit begnügen, Hülle zu sein und vorüberzugehen" 71 . Begnügt man sich für die äußere Wirklichkeit nicht damit, sie als solche Hülle anzusehen, — versucht man also eine vergängliche Äußerlichkeit (Leib) als solche einzelne m i t einer Bewußtseinserscheinung zu verkoppeln, die nicht oder weniger vergänglich ist („Geist", „Gott"), so hindert diese der W i r k lichkeit widersprechende Verkoppelung daran, das Allgemeine wahrheitsgemäß zu erkennen. W i r d etwa verlangt anzuerkennen, Jesus sei nicht nur im Geiste der Menschen auferstanden und habe dort als Geist i m fremden Körper gewirkt, sondern er sei m i t seinem eigenen Körper auferstanden, dann hängt diese Äußerlichkeit „dem Vergötterten wie Blei an den Füßen . . . , das i h n zur Erde zieht" 7 2 . Der Durchblick auf den „Geist" w i r d erst frei, wenn man die Hüllen i n Gedanken vorbehaltlos fahren läßt, u m zu erkennen, was sich dahinter oder durch sie hindurch entwickelt. Dieses, das sich entwickelt, ist zweierlei: Sowohl das Erscheinen des Volks i n der Geschichte (die objektive Seite Gottes, seine Gestalt, als eine prozeßhafte Wirklichkeit des Volkes i n der Welt der Wirklichkeiten), als auch das jeweilige Bewußtsein der Menschen von dieser objektiven Seite Gottes und seiner Gestalt. Sobald jedoch durch Wunder (also durch wunderbare 70
Phänomenologie. Glockner 2, 581 ( = Werke 3, 556). Sinngemäß schon bei Nohl S. 321 ( = Werke 1, 393): eine Harmonie, „ i n welcher nicht (nur) i h r vielseitiges Bewußtsein i n einem Geist, die vielen Lebensgestalten i n ein Leben einklingen, sondern durch welche auch die Scheidewände gegen andere gottähnliche Wesen aufgehoben werden u n d derselbe lebendige Geist die verschiedenen Wesen beseelt.. 71
Nohl S. 335 ( = Werke 1, 409).
72
a.a.O.
2.2 Religionskritische Jugendschriften
51
Einwirkungen des Geistes auf Äußerliches) oder durch Vergöttlichung eines auch äußerlich Vorhandenen (Jesus als des bestimmten I n d i viduums und die Auferstehung seiner Leiche) der Geist und eine einzelne Wirklichkeit miteinander gedanklich verhakt werden, w i r d der Geist ab-hängig von Ungeistigem gedacht und kann nicht wahrhaft erkannt werden. Deshalb scheiterte unter anderem auch Jesu Versuch, „die m i t . . . Jesus vergesellschaftete Wirklichkeit . . . zur Göttlichkeit zu erheben" 73 . Denn als verklärter und zum Gott erhabener Jesus, der wunderbare Tätigkeiten vollbringt, ließ sich weder Jesus selbst noch sein Geist m i t der übrigen Wirklichkeit „vergesellschaften". (Später, i n der Phänomenologie des Geistes 74 , w i r d der Prozeß der „Menschwerdung des göttlichen Wesens" systematisch beschrieben.) 2.23 Lehren aus der Modellstudie Was Jesus (immer i n den Augen Hegels) den Juden zunächst bringen wollte, w a r revolutionäres geistiges Dynamit von höchster Brisanz. Aber es kam nicht zur Wirkung: „Hätte i n den Juden der Funke des Lebens geschlafen, Hauches bedurft, u m zur Flamme aufzulodern, die alle u n d Ansprüche verbrannt hätte . . . Aber sie gefielen Stolz ihrer Knechtschaft, u m das, was sie suchten, i n Jesus ihnen anbot 7 5 ."
so hätte er n u r eines ihre armseligen T i t e l sich zu sehr i n dem dem zu finden, was
Die Gleichgültigkeit des größten Teils seines Volkes gegenüber seiner Botschaft verwandelte sich bald i n Haß. Beides bewirkt i n Jesus eine wachsende Erbitterung gegen sein Zeitalter und sein Volk, vor allem gegen die Führer des Volkes und Pharisäer, i n deren Bewußtsein der resistente Geist der Nation am leidenschaftlichsten wohnte. I n diese Bewußtseinsfestung einzudringen oder sich einzuschleichen, gelingt Jesus nicht. Was Hegel dabei zur revolutionären Technik Jesu bemerkt, ist wiederum aufschlußreich für die Folgerungen, die Hegel für sich daraus ziehen mußte: „Sein Ton gegen sie sind keine Versuche, sich m i t ihnen zu versöhnen,
ihrem Geiste etwas anzuhaben, sondern die heftigsten Ausbrüche seiner
Erbitterung gegen sie, die E n t h ü l l u n g ihres feindseligen Geistes; er handelt gegen diesen (Geist) nicht einmal m i t dem Glauben der Möglichkeit einer Änderung. Wenn i h r ganzer Charakter i h m widerstand, so konnte er . . . nicht auf eine Widerlegung u n d Belehrung ausgehen; er b r i n g t sie n u r durch argumenta ad hominem zum Schweigen, — das ihnen entgegengesetzte Wahre richtet er an die anderen gegenwärtigen Menschen . . . 7 e ." 73
74 75 7β
4«
a.a.O. S. 338/9 ( = 414), Hervorhebungen v o n mir.
Glockner 2, 569 ff. ( = Werke 3, 545 ff.). Nohl S. 325 ( = Werke 1, 397 f.). Nohl S. 326/7 ( = Werke 1, 398/9), Hervorhebungen von m i r .
52
2. K a p i t e l : Hegel — Ausgangsprobleme
A u c h d i e A n w e i s u n g e n Jesu a n d i e J ü n g e r , d i e er ausschickt, w e r d e n von Hegel kritisiert:
K e i n e Vorsorge
für
Reisebedürfnisse;
w ü r d i g e n H ä u s e r n s o l l e n sie sprechen, a n u n w ü r d i g e i h r e n
nur
in
Frieden
n i c h t v e r s c h w e n d e n ; „ a l s o k e i n B e l e h r e n u n d B e h a n d e l n u n d Dressier e n , (sondern) H a ß d e r W e l t , V e r f o l g u n g 7 7 . " Hegels eigene T a k t i k
( a m B e i s p i e l seines U m g a n g e s m i t
Spinoza
r e f l e k t i e r t ) h a t e i n e a n d e r e F o r m (was n i c h t h e i ß t , Jesus h a b e diese T a k t i k n i c h t auch z u m T e i l a n g e w e n d e t ) : „ D i e wahrhafte Widerlegung muß i n die K r a f t des Gegners eingehen u n d sich i n den Umkreis seiner Stärke stellen; i h n außerhalb seiner selbst angreifen u n d da recht zu behalten, w o er nicht ist, fördert die Sache nicht 7 8 ." Jesus h i n g e g e n g e h t so v o r , daß e r sich selbst i n d i e I s o l i e r u n g t r e i b t u n d scheitert79. „ E r beschränkt sich v o n jetzt auf Wirksamkeit auf Einzelne; u n d läßt das Schicksal seiner Nation unangetastet stehen, indem er sich selbst v o n i h m absondert u n d seine Freunde i h m entreißt; soweit Jesus die W e l t nicht v e r ändert sieht, so w e i t flieht er sie u n d alle Beziehungen m i t i h r . . . E r stand m i t dem Staat i n dem einzigen Verhältnis, innerhalb seiner Gerichtsbarkeit sich aufzuhalten, u n d der Folge dieser Macht über i h n u n t e r w a r f er sich m i t Widerspruch seines Geistes, m i t Bewußtsein leidend . . . Das Schicksal Jesu war, v o m Schicksal seiner Nation zu leiden, (und) entweder es zu dem seinigen zu machen u n d ihre Notwendigkeit zu tragen u n d ihren Genuß zu teilen u n d seinen Geist mit dem ihrigen zu vereinigen ..., oder das Schicksal seines Volkes von sich zu stoßen, sein Leben aber unentwickelt u n d ungenossen i n sich zu erhalten . . . Jesus wählte das letztere Schicksal, die Trennung seiner Natur und der Welt . . . Seine Tätigkeit w a r die m u t v o l l e Reaktion seiner N a t u r gegen die W e l t ; u n d sein K a m p f w a r rein u n d erhaben . . . ein erhabener Anblick, der sich aber bald i n einen gräßlichen verwandelt, w e n n das Heilige selbst v o m Unheiligen gelitten (hat) u n d eine Amalgamation beider m i t der Anmaßung, rein zu sein, gegen das Schicksal wütet, indem es selbst noch unter i h m gefangen liegt. Jesus sah die ganze Gräßlichkeit dieser Zerrüttung voraus; ich k a m nicht, sagte er, der Erde Frieden zu bringen, sondern das Schwert; ich kam, den Sohn gegen seinen Vater zu entzweien, die Tochter gegen ihre Mutter, die B r a u t gegen ihren Schwieger . . . Die Folgen vor Augen dachte Jesus nicht daran, seine Wirksamkeit zurückzuhalten, u m der Welt i h r Schicksal zu ersparen, ihre Zuckungen zu m i l d e r n u n d i h r i m Untergange den tröstenden Glauben an Schuldlosigkeit zu lassen." — I n a l l e n F o r m e n d e r c h r i s t l i c h e n R e l i g i o n i s t n a c h H e g e l dieser Grundcharakter einer Entgegensetzung v o n G o t t u n d W e l t enthalten. D a s G ö t t l i c h e i s t i m m e r i m B e w u ß t s e i n (als G l a u b e n ) aber n i e i m L e b e n (als „vergesellschaftete W i r k l i c h k e i t " des g ö t t l i c h e n B e w u ß t seins) v o r h a n d e n . D a h e r i s t es das Schicksal d e r c h r i s t l i c h e n R e l i g i o n e n , 77 78 79
S. 401 ( = 315). Glockner 5,11 u n d ähnlich 2, 27 ( = Werke 6, 250; 3, 27). Nohl S. 327 f. ( = Werke 1, 339 - 401), Hervorhebungen von mir.
2.2 Religionskritische Jugendschriften
53
„daß Kirche und Staat, Gottesdienst und Leben, Frömmigkeit und Tugend, geistliches und weltliches T u n nie i n Eins zusammenschmelzen können" 8 0 . M i t diesen Worten werden die Studien zu Jesus zusammengefaßt. I n einem anderen Papier schreibt Hegel 8 1 ζ. B. konkreter: „So hatte der Despotismus der römischen Fürsten den Geist des Menschen von dem Erdboden v e r j a g t ; der Raub der Freiheit hatte i h n (den Menschen) gezwungen, sein Ewiges, sein Absolutes i n die Gottheit zu flüchten, das Elend, das er (der Raub der Freiheit) verbreitete (hatte den Menschen gezwungen), Glückseligkeit i m H i m m e l zu suchen u n d zu erwarten! Die Obj e k t i v i t ä t der Gottheit ist m i t der Verdorbenheit u n d Sklaverei der M e n schen i n gleichem Schritt gegangen, u n d jene ist eigentlich n u r eine Offenbarung, eine Erscheinung dieses Geistes der Zeiten . . . Der Geist der Zeit offenbarte sich i n der O b j e k t i v i t ä t seines Gottes, als er, nicht dem Maße nach i n die Unendlichkeit hinaus, sondern i n eine uns fremde Welt hinübergesetzt wurde, an deren Gebiet w i r keinen Anteil, w o w i r durch unser T u n uns anbauen, sondern i n das w i r uns höchstens hineinbetteln oder hinein-
zaubern können, als der Mensch selbst ein Nicht-Ich
anderes Nicht-Ich war."
und seine Gottheit ein
Und i n dem gleichen Papier 8 2 w i r d die Brücke zu Hegels Gegenwart geschlagen: ι „Außer früheren Versuchen blieb es unseren Tagen vorzüglich aufbehalten, die Schätze, die an den H i m m e l verschleudert worden sind, als Eigentum der Menschen, wenigstens i n der Theorie, zu vindizieren; aber welches Z e i t alter w i r d die K r a f t haben, dieses Recht geltend zu machen u n d sich i n den Besitz zu setzen?"
Soweit Hegel daran dachte, bei der Vergesellschaftung der an den Himmel verschleuderten Schätze mitzuarbeiten, hatte er am Beispiel Jesu studiert, wie man es nicht machen sollte. Jesu Versuch, das Reich Gottes auf Erden ins Bewußtsein und i n die Wirklichkeit zu bringen, war fehlgeschlagen. Er mußte seine Lehre durch Verklärung dem Laufe der mißlungenen Erneuerung anpassen, wurde selbst isoliert und schließlich hingerichtet. Seine Lehre ging i n esoterischer Verklärung i n die Emigration, wo sie auf fruchtbaren Boden bei unterdrückten Menschen fiel. — Liest man nun die Verfassungsschrift nochmals, so entdeckt und versteht man die Bezugnahme auf den jüdischen Staat i m Schluß der A b handlung. Hegel setzt seine Hoffnung darauf, daß der deutsche Starrsinn nicht ganz so hartnäckig sei wie der jüdische: „Wenn die gesellige N a t u r des Menschen einmal ist gestört u n d gezwungen worden, sich i n Eigentümlichkeiten zu werfen, so k o m m t eine so tiefe V e r kehrtheit i n sie, daß sie ihre K r a f t jetzt auf diese Entzweiung v o n anderen 80 81 82
S. 342 ( = 418). S. 227/8 ( = 211 f.), Hervorhebungen u n d Einschübe v o n m i r . S. 225 ( = 209).
2. Kapitel: Hegel — Ausgangsprobleme
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verwendet u n d i n der Behauptung ihrer Absonderung bis zum Wahnsinn fortgeht; denn der Wahnsinn ist nichts anderes als die vollendete Absonder u n g des Einzelnen von seinem Geschlecht, u n d w e n n die deutsche Nation (auch) nicht fähig ist, ihre Hartnäckigkeit i n dem Besonderen bis zum W a h n sinn der jüdischen Nation zu steigern, dieser m i t anderen zur Geselligkeit u n d Gemeinschaftlichkeit unvereinbaren Nation, — w e n n sie (auch) nicht zu dieser Verruchtheit der Absonderung, zu morden u n d sich morden zu lassen, bis der Staat zertrümmert ist, kommen kann, so ist (doch) das Besondere u n d Vorrecht u n d Vorzug so was innig Persönliches, daß der Begriff u n d die Einsicht der Notwendigkeit v i e l zu schwach ist, u m aufs Handeln selbst zu w i r k e n ; der Begriff u n d die Einsicht f ü h r t etwas so Mißtrauisches gegen sich m i t , daß er durch die Gewalt gerechtfertigt werden muß, dann unterw i r f t sich i h m der Mensch 8 8 ."
Der Gedanke an die Gewalt zur Implantation des Begriffs i n das w i r k liche Leben steht nach wie vor im Widerspruch zu Hegels übrigen Studien, und zwar nun nicht nur i m Verhältnis zum Einleitungsfragment, sondern auch zu der religiös-politischen Modellstudie. Dort hieß es, die Vereinigung von Idee und Wirklichkeit bzw. von Göttlichkeit und Existenz oder Geist und Körper „ist ein Leben, d. i. gestalteter Geist; u n d w e n n dieser als Göttliches, Ungetrenntes w i r k t , so ist sein T u n eine Vermählung m i t verwandtem Wesen, m i t Göttlichem, u n d Erzeugung, Entwicklung von neuem, der Darstellung ihrer Vereinigung; sofern aber der Geist i n einer anderen, entgegengesetzten Gestalt als Feindliches, Beherrschendes w i r k t , so hat er seine Göttlichkeit vergessen" 84 .
Das Ungöttlichste ist die Darstellung von Wundern 8 5 . Ungöttlich ist daher auch die versteckte Hoffnung auf einen mächtigen Befreier und Einiger, der die Schranken und Fesseln, die ins Bewußtsein eingraviert sind, m i t äußerlicher Gewalt auf die Leiber der Menschen überwinden soll. Durch Gewalt kann keine verjüngte Gestalt des Lebens zustandegebracht werden, solange sie nicht von einem geistreichen Kopf so klar gesehen und offenbart worden ist, daß sie die alte Gestalt des Bewußtseins i n den Schatten stellt, sich i m Bewußtsein einnistet und dort gegen äußerliche Gewalt zunehmend i m m u n geworden ist. Solange die bessere Gestalt nicht i m Bewußtsein ist, lösen nur gewalttätige Negationen schlechterer Gestalten einander ab, die den Mangel des jeweils Negierten nicht loswerden: den Mangel, daß Herz und Vernunft der jeweiligen Gestalt des Lebens nicht zustimmen können, w e i l sie sich vernunftwidrig beschnitten sehen. Zeugnisse i n Hegels Briefen zeigen, daß er mehrere Jahre m i t sich und seiner inneren Unruhe und Hoffnung auf Veränderung gerungen hat. Es widerspricht also nicht der persönlichen Selbsteinschätzung 88 84
85
S. 130 f. (== 581). S. 338 ( = 414).
a.a.O.
2.2 Religionskritische Jugendschriften
55
Hegels, wenn hier Äußerungen Hegels zu Kernfragen seiner religiösen, politischen und philosophischen Probleme einander gegenübergestellt werden, die nicht recht zusammenstimmen. „Ich kenne aus eigener Erfahrung diese Stimmung des Gemüts oder v i e l mehr der Vernunft, wenn sie sich einmal m i t Interesse u n d ihren A h n d u n gen i n ein Chaos der Erscheinungen hineingemacht hat u n d w e n n (sie), des Ziels innerlich gewiß, noch nicht hindurch, noch nicht zur K l a r h e i t u n d Detaillierung des Ganzen gekommen ist. Ich habe an dieser Hypochondrie ein paar Jahre bis zur E n t k r ä f t u n g gelitten; jeder Mensch hat w o h l überhaupt einen solchen Wendungspunkt i m Leben, den nächtlichen P u n k t der K o n t r a k t i o n seines Wesens, durch dessen Enge er hindurchgezwängt u n d zur Sicherheit seiner selbst befestigt u n d vergewissert w i r d . " ( A n Windischmann, M a i 18108®.)
Wichtiger aber als der berühmte Schluß der Verfassungsschrift ist nach allem der Abschnitt über die Religion 8 7 . Er ist gleichsam eine unveröffentlichte Ouvertüre zu Hegels Geschichts-, Religions- und Staatsphilosophie, i n der die geschichtliche Lage und die tieferliegenden Kräfte der deutschen Nation studiert und i n großen Zügen dargestellt werden. Hier erscheinen bereits „Politik, Religion, Not, T u gend, Gewalt, Vernunft, List und alle Mächte, welche das menschliche Geschlecht bewegen", als Oberfläche und Werkzeuge zu ursprünglicheren Schicksalsmächten. Die Religion vor allem hatte dazu beigetragen, die zu Freiheit und Selbständigkeit strebenden Mächte i n Deutschland auseinanderzureißen und die Trennung innerlich zu untermauern und rechtlich zu fixieren. Unausgesprochen blieb die praktische Erwägung, die aus alledem folgt: Wenn der deutsche Charakter „sich auf das Innerste des Menschen, Religion und Gewissen", warf und wenn von diesem Punkt aus die äußere Trennung i n Staaten vor allem als eine Folge der Religion erschien, dann mußte eine Überwindung der Kleinstaaterei hinter der äußeren Fassade bei der Religion einsetzen. U n d wenn die Religionsgeschichte zugleich ergab, daß eine Erneuerung der Religion ohnehin weltgeschichtlich fällig war, dann w a r denkbar, daß am Ende m i t der Erneuerung der Religion auch die Erneuerung des Reichs Hand i n Hand gehen konnte und mußte. Hier bot sich vielleicht eine weltgeschichtliche Lage, die es zu nutzen galt. U m die langatmigen Kräfte unter der geschichtlichen Oberfläche und u m die Erneuerungsbedürftigkeit der Religion abschätzen zu können, mußte man wissenschaftlich an die Geschichte und an die Religion herangehen, — und zwar unter Vernachlässigung von Unwesentlichem, also auch philosophisch. Das ist der Wegweiser zu Hegel 86
87
Briefe I 313 ff., ähnlich: Hegel i n Berichten S. 64.
Mollat S. 60 - 69 ( = Werke 1, 516 - 523).
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2. Kapitel: Hegel — Ausgangsprobleme
und seiner Philosophie, der für diese Studien, die „Staat" und „Weltanschauung" betreffen, verfolgt werden muß. Hegel wurde also auf dem Weg über das eingehende Studium seiner Jugendideale („Reich Gottes" auf der einen und „Deutsches Reich" auf der anderen Seite) immer stärker hingelenkt auf das Studium der Geschichte und auf das Studium der Gesetzmäßigkeiten, nach denen i n der Geschichte Reichsbildungen und Erneuerungen von Religion und Philosophie sich abspielten. Die Ideale waren gedachte Idealzustände. Was Hegel schließlich zu greifen bekam, waren geschichtliche Prozesse. Die Geschichtsphilosophie lehrte i h n nicht zuletzt Geduld („Was die Langsamkeit des Weltgeistes betrifft, so ist zu bedenken: er hat nicht zu eilen; er hat Zeit genug — tausend Jahre sind vor dir wie ein Tag 8 8 .") Er sagte zu anderen auch für den Alltag, „der Mensch habe Zeit i m Leben, man brauche sich nicht übereilen, die Hauptsache würde sich finden" 8 9 . Die Geschichtsphilosophie lehrte ihn aber auch, daß Idee und Tat, daß Geist als Idee und Geist als w i r k liche Geschichte miteinander i n Beziehung standen, ja sich i n großen Zügen abwechselten. Jeweils i m Verfallsstadium einer weltgeschichtlichen Gestalt beobachtete Hegel ein sich-Besinnen und Bewußtwerden i n der Philosophie, das eine Verjüngung des Ideengutes zur Folge hatte und dadurch einer neuen weltgeschichtlichen Gestalt ein verjüngtes, ursprüngliches Leben ermöglichte. Die Geschichte machte i n seinen Augen jeweils Ernst m i t den Ideen, die sie zur Verfügung hatte, und ging erst über sie hinaus, wenn sich bei ihrer Verwirklichung offenbarte, daß sie nur Momente waren. Der Umweg über die V e r w i r k lichung w i r d i n Kauf genommen. „Es ist ein trivialer Satz: die Natur kommt auf dem kürzesten Weg zu ihrem Ziel — richtig! — aber der Weg des Geistes ist die Vermittlung, der Umweg" — der Umweg über „das Andere des Geistes" 90 : die Wirklichkeit i m übrigen. V o r allem aber zeigten die geschichtsphilosophischen Studien für Hegel, daß es Zeiten gibt, i n denen die Philosophie an der Reihe ist, Zeiten, i n denen Religion oder Weltanschauung verjüngt werden, und Zeiten, i n denen die durch den verjüngten Geist be-geisterten Menschen handeln. Es hier besser wissen zu wollen als die Geschichte, — oder sich stärker zu dünken als die Tendenzen der Zeit, mußte zu eitel Geschwätz oder zu leerem Aktionismus führen: jedes zu seiner Zeit! Aber Hegel brauchte nicht zu verzagen, wenn er nicht Hand anlegen konnte, w e i l die Zeiten auf Philosophie und Weltanschauung standen. Man brauchte n u r m i t dem Kopf zu arbeiten und konnte — Begabung, 88 89 90
Einleitung i n die Geschichte der Philosophie (oben A n m . 34), S. 62. Hegel i n Berichten S. 440. Einleitung . . . (oben A n m . 88), S. 62.
2.2 Religionskritische Jugendschriften
57
Fleiß und Selbstvertrauen vorausgesetzt — damit rechnen, daß der Kopfarbeit zu gegebener Zeit die Handarbeit folgen würde. Die Praxis w i r d den Stempel des philosophischen und reformatorischen Theoretikers u m so deutlicher der Wirklichkeit aufdrücken, je tiefer, reiner und gediegener der theoretische Quell sprudelte. U m die praktische Verwirklichung seiner schon i m Gedanken objektivierten Welt, die noch aussteht, braucht sich der Theoretiker nicht zu grämen, denn je gediegener, zeitgerechter und bedürfnisgerechter er theoretisierte, desto wahrscheinlicher machte er es zugleich, daß seine Theorie zu gegebener Zeit Wirklichkeit würde. Indem der Philosoph die ideellen Keime enthüllt und pflegt, kann er sich immer schon die ausgewachsene Pflanze hinzudenken, auch wenn er weiß oder damit rechnet, sie nicht mehr als Lebender „für sich" sehen zu können. A l l e diese Einsichten, die zur Orientierung i n der Zeit und zur Versöhnung m i t der Zeit vortrefflich geeignet sind, hängen ab von der einen Erkenntnis Hegels: Daß der (theoretische) Geist, wie die Geschichte für Hegel zeigt, seinem Erkenntnisgegenstand gegenüber nicht isoliert und allein bleibt, sondern ihn zu gegebener Zeit nach seinem Bilde formt. Dieses Wiedereindringen des Geistes i n sein anderes bildet zugleich den „logischen" Zusammenhang, u m den Hegels dialektische Logik kreist. Sie ist die systematische Ausarbeitung dieses Zusammenhanges auf allen Gebieten, auf denen Hegel sie zu erkennen glaubte. So liefert die dialektische Logik die Rechtfertigung dafür, daß Hegel sich, obwohl auf praktischen Erfolg i n Religion und Reich ausgerichtet, ganz und vorbehaltlos i n theoretische Tiefen stürzen darf und muß. Dafür, daß der Philosophie die Wirklichkeit folgt (insofern i n i h r „an sich" schon enthalten ist), sorgt die Reflexionsform des dialektisch-historischen Prozesses: re-flektiert auch i n dem Sinne, daß der Fluß des Prozesses von der geistigen Welt zur übrigen Wirklichkeit zurückgebogen ist. Hegel selbst beschreibt seinen Werdeprozeß i n einem Brief an Schelling vom November 1800 (zu einer Zeit also, als die Frage der „Verwirklichung" noch nicht zufriedenstellend gelöst war): „ I n meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordneten Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben w e r den, u n d das Ideal des Jünglingsalters mußte zur Reflexionsform, i n ein System zugleich sich verwandeln; ich frage mich jetzt, während ich noch damit beschäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen i n das Leben der Menschen zu finden ist 9 1 ."
Die Rückkehr zum Eingreifen i n das Leben der Menschen, die Hegel alsbald gefunden hat, ist die zeit- und bedürfnisgerechte Bewußtseins91
Briefe I 59/60.
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2. Kapitel : Hegel — Ausgangsprobleme
arbeit. Das Bewußtsein, diese Quelle aller Handlungen, galt es zu reorganisieren, ohne es aufzuschrecken und zu Abwehrmaßnahmen herauszufordern. Noch einen Vorteil, der nicht zu verachten ist und von Hegel durchaus geschätzt wurde, bot i h m die geistige Arbeit an der Idee: „Nicht die allgemeine Idee ist es, welche sich i n Gegensatz u n d Kampf, w e l che sich i n Gefahr begibt; sie hält sich unangegriffen u n d unbeschädigt i m H i n t e r g r u n d u n d schickt das Besondere der Leidenschaften i n den Kampf, sich abzureiben. M a n k a n n es die List der Vernunft nennen, daß sie die Leidenschaften f ü r sich w i r k e n läßt, wobei das, durch was sie sich i n E x i stenz setzt, einbüßt u n d Schaden leidet 9 2 ." „Die Idee als solche ist (schon) die W i r k l i c h k e i t ; die Leidenschaften sind der A r m , w o m i t sie sich (nur noch) erstreckt 9 3 ."
Diese „ L i s t der Vernunft" ist zugleich eine List des Geistes und der Philosophie. Als solche ist sie eine List des Philosophen, der i h r auf die Schliche gekommen ist: also eine List Hegels. Wer m i t h i n Hegels Philosophie auf die Spur kommen w i l l , muß ihre List durchschauen: Er muß wissen, wohin Hegel den A r m der Leidenschaften lenken wollte. M a n w i r d hier einwenden, Hegel würde zu weitgehend identifiziert mit dem Geist, von dem seine Philosophie handelt. Der Einwand ist jedoch nicht stichhaltig. N u r dann allerdings, wenn Hegel auf seine Zeit blickt, und auf sich selbst als einen Philosophen dieser Zeit, spricht Hegel zugleich von sich, wenn er vom Weltgeist spricht. Dann weiß er sich i n seinem System als Sprecher des Geistes. Als solcher kann er n u r mitreden, wenn er die früheren Gestalten des Geistes gedanklich nachkonstruiert u n d sich auf das bisherige Niveau hochgearbeitet hat und wenn er, den alle diese Gestaltungen als schon durchlebte nicht befriedigen, die fällige Gestalt ins Auge zu fassen beginnt. Daß Hegel sich selbst i n dieser Rolle sieht, — daß seine Philosophie und i h r „Geist" samt seiner List für Hegel selbst steht, hat er i n verschiedensten Formen ausgesprochen: Eine wurde oben bereits erwähnt (die eigene Natur vor sich selbst darstellen und diese Darstellung sich zum Gesellschafter machen, — sie aber auch als ein Lebendiges finden wollen). Eine andere, unmißverständliche findet sich i n einer Vorlesungsnachschrift: „ I m Philosophieren stelle ich mein Leben, mich selbst mir gegenüber; es setzt voraus, daß ich m i t meinem Leben nicht mehr befriedigt bin. Die Philosophie zeigt so an, w a n n die Entzweiung des Lebens, die Trennimg i n 92 93
Die V e r n u n f t . . . (oben A n m . 58), S. 105. S. 83. Vgl. dazu Fr. Schiller, unten bei A n m . 375.
2.2 Religionskritische Jugendschriften
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die unmittelbare W i r k l i c h k e i t u n d den Gedanken, das Nachdenken darüber, stattfindet 9 4 ."
Hegel selbst ist das Nachdenken über seine Zeit, von dem er spricht. Diese Einschätzung liefert zugleich einen praktischen Schlüssel für die Lektüre Hegels, der vielenorts Verständnishilfe leistet: Hier spricht ein „Sohn seiner Zeit", der genau weiß, daß er seiner Zeit Zugeständnisse machen muß, wenn er nicht an dem vorbeireden w i l l , was an der Zeit ist. Er weiß, daß die Konzentration seiner Philosophie auf Deutschland eine später freilich geschichtlich gerechtfertigte (in der Zeitdimension i n allgemeinen Zusammenhang eingeordnete) Einschränkung ist. Schon sehr früh heißt es: „Diese belebende Kraft der Ideen — sollten sie auch immer noch Einschränkungen an sich haben — wie die des Vaterlandes und seiner Verfassung usw. — w i r d die Gemüter erheben, u n d sie werden lernen, ihnen aufzuopfern, da gegenwärtig der Geist der Verfassungen m i t dem Eigennutz einen B u n d gemacht hat, auf i h n sein Reich gegründet hat." ( A n Schelling 179595.) „ I c h schaue darum auch, i n Rücksicht auf mich, so v o l l Zuversicht auf Dich,
daß Du mein uneigennütziges Bestreben, wenn seine Sphäre auch niedriger
wäre, erkennest u n d einen W e r t i n i h m finden könnest." ( A n Schelling 18009®) (Hervorhebungen jeweils von mir.)
Hegel opfert bewußt, soweit er Deutschland ins Auge faßt, einen T e i l der abstrakt-zeitlosen Allgemeinheit u m der Wahrheit in der Zeit und im Kontext der Weltgeschichte willen. Er läßt sich als Philosoph insoweit m i t etwas Besonderem, Zeitbedingten ein. Indem er „seinen Geist m i t dem der Nation vereinigt" 9 7 und dies auch weiß, bringt er seinem Volk ein Opfer, wie er es von denen verlangt, die er i n ihrem Eigennutz und i n ihrer Eitelkeit sieht, und er bringt dieses Opfer stolz und gern, wie er es ebenfalls von denen erhofft, die er erreichen w i l l . I m mer wieder betont er später, der Philosoph könne seine Zeit nicht überspringen, und tue er es, so könne er es nur i n der Einbildung. Die sehr konkret-geschichtliche Aufgabe, die Hegel vor sich sieht, läßt sich am lebendigsten zeigen i n dem Spiegel von Hegels Darstel94
Einleitung . . . (oben A n m . 88), S. 153. Briefe I 24. 98 Briefe I 60. Hierher gehört auch Hegels vermeintliches Paradoxon der Vaterlandsverteidigung, — Kuno Fischer, Hegels Leben, Werke u n d Lehre, 2. Aufl., Heidelberg 1911, Neudruck Darmstadt 1963 (im Folgenden: Fischer, Hegels Leben), Bd. I S. 278, u n d die korrekte aber noch unvollständige Interpretation Bd. I I S. 1244. Dazu Hegel, Die V e r n u n f t . . . (oben A n m . 58), S. 79: „Die I n d i v i d u e n wollen teils w o h l allgemeinere Zwecke, ein Gutes, w o l l e n aber so, daß dies Gute selbst von beschränkter A r t ist, z.B. edle Vaterlandsliebe, aber etwa eines Landes, das i n unbedeutendem V e r h ä l t nisse zur Welt u n d zum allgemeinen Zweck der W e l t s t e h t . . . " . 95
97
Vgl. Nohl S. 328 ( = Werke 1, 401).
60
2. Kapitel: Hegel — Ausgangsprobleme
lung dessen, was Richelieu für Frankreich geleistet hat und Machiavell für Italien leisten wollte: „Richelieu ist das seltene Glück zuteil geworden, von demjenigen Staat sowohl, zu dessen Größe er den wahren G r u n d legte (Frankreich), u n d von demjenigen, auf dessen Kosten es geschah (Deutschland), für ihren großen Wohltäter gehalten worden zu sein. Frankreich u n d Deutschland als Staat hatten beide dieselben zwei Prinzipien der Auflösung i n sich; i n dem einen zerstörte er sie vollends u n d erhob es dadurch zu einem der mächtigsten Staaten, i n dem anderen gab er ihnen alle Gewalt u n d hob dadurch seinen Bestand als Staat auf . . . " Seine Feinde i n Frankreich „unterlagen aber nicht der Person Richelieus, sondern seinem Genie, das seine Person an das notwendige Prinzip der Einheit des Staates band u n d Staatsämter v o m Staat abhängig machte. U n d h i e r i n besteht das politische Genie, w e n n das I n d i v i d u u m sich m i t einem Prinzip identifiziert; i n dieser Verbindung muß es notwendig den Sieg davontragen. Als V e r dienst eines Ministers ist das, was Richelieu gegeben hat, nämlich der ausübenden Staatsmacht Einheit gegeben zu haben, unendlich erhaben über das Verdienst, ein L a n d u m eine Provinz vergrößert oder es sonst aus Not gerissen zu haben" 9 8 .
Richelieu hatte — i n Hegels Augen — Frankreichs Einheit dadurch zustandegebracht, daß er die Hugenotten als Macht i m Staate besiegte und so auch der Liga ihren Existenzgrund nahm. I n heutigen Zeiten, heißt es i n der Verfassungsschrift noch, reiße die Ungleichheit der Religion den Staat nicht mehr auseinander", w e i l der Staat auf eigenen Beinen stehe und der Kirche nicht mehr bedürfe. Bald jedoch steht für Hegel fest, daß das neue Prinzip, nach welchem Deutschland seine Einheit wiederfinden kann und m i t dem Hegel sich identifiziert, die Wiedervereinigung von Staat und Weltanschauung ist: die Religion der vollständigen Weltlichkeit des Bewußtseins. Die religiös mitverursachte und mitverfestigte Zerstückelung Deutschlands ist der geschichtliche Boden, auf dem dieses Prinzip als die A n t w o r t auf die Zerrissenheit aufkeimen und Wurzeln schlagen mußte. Hegel nutzte die Zeit und Lage, i n die er hineingeboren worden war. Deutschland sollte seine Einheit aus der Wiederverbindung von Staat und verjüngter Religion gewinnen. Von diesem Bündnis zwischen erneuerter, weltlicher Religion und ebenso weltlicher Gegenwart war ein Staat zu erwarten, der mächtiger sein würde als Frankreich, das gegen oder m i t alten Religionen seine Einheit erhalten hatte. Das w a r Hegels A n t w o r t auf Richelieus Werk. — 98 Werke 1, 548 f. ( = Mollat S. 93 f.). Dazu später Glockner 11, 546/7 ( = Werke 12, 518): derselbe Gedanke. 99 S. 478 f. ( = 16 f.). I n einem Fragment heißt es sogar: „Daß n u n ein Staat möglich ist, ist die Trennung der Religion u n d P o l i t i k notwendig; es ist für die höchste Gewalt nicht, eine Macht über Religion zu haben, Gott behüte, sondern gerade keine . . . dann ist erst die höchste Gewalt zur Verteidigung des I n n e r n u n d Äußern möglich." (Werke 1, 609).
2.2 Religionskritische Jugendschriften
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„ A l s I t a l i e n seinem Elende zueilte . . . , als Deutsche, Spanier, Franzosen u n d Schweizer es ausplünderten u n d fremde Kabinette über das Schicksal dieser Nation beschlossen . . . , faßte ein italienischer Staatsmann m i t kalter Besonnenheit die notwendige Idee der Rettung Italiens durch Verbindimg desselben i n einen Staat . . . Er rief seinen Fürsten, die erhabene Rolle eines Retters von I t a l i e n u n d den Ruhm, seinem Unglück ein Ende zu machen, zu übernehmen, m i t folgenden Worten auf: ,Wenn es, w i e gesagt, notwendig war, daß, u m Moses' Größe zu sehen, das V o l k Israel Knecht i n Ägypten war, daß, u m die Erhabenheit u n d den M u t des Kyros zu erkennen, die Perser von den Medern unterdrückt w u r d e n u n d daß, u m die Trefflichkeit des Theseus ans Licht zu stellen, die Athener zersplittert waren, so w a r es jetzt, w e n n man die Geistesgröße eines Italieners sehen w i l l , notwendig, daß I t a l i e n i n seinen gegenwärtigen Zustand geriet, daß es mehr geknechtet sei als die Hebräer, mehr unterdrückt als die Perser, mehr zersplittert als die Athener, ohne Haupt, ohne Ordnung, geschlagen, beraubt, zerrissen, geplündert, u n d daß es Verderben jeder A r t zu tragen habe.. M a n k a n n wahrnehmen, daß ein Mann, der m i t dieser Wahrheit des Ernstes spricht, weder Niederträchtigkeit i m Herzen noch Spaß i m Kopfe hatte . . . Die Idee eines Staats, den ein V o l k ausmachen soll, ist durch ein blindes Geschrei einer sogenannten Freiheit so lange übertäubt worden, daß v i e l leicht das ganze Elend, das Deutschland i m Siebenjährigen K r i e g u n d i n diesem letzten französischen K r i e g (erduldete), u n d alle Fortbildung der V e r n u n f t u n d die Erfahrung der französischen Freiheitsraserei nicht hinreichend sind, die Wahrheit, daß Freiheit n u r i n der gesetzlichen Verbindung eines Volkes zu einem Staat möglich sei, zum Glauben der Völker oder zu einem Grundsatz einer Staatswissenschaft zu erheben . . . Machiavells Stimme ist ohne W i r k u n g v e r h a l l t 1 0 0 . " A l s H e g e l dies schrieb, w a r e r sich noch n i c h t d a r ü b e r i m k l a r e n , daß er es b a l d als seine Bestimmung ansehen sollte, f ü r sein V o l k j e n e W a h r h e i t , „ d a ß F r e i h e i t n u r i n d e r gesetzlichen V e r b i n d u n g eines V o l k e s z u e i n e m S t a a t m ö g l i c h sei, zum Glauben ... zu erheben". Das s o l l t e erst n o c h d e r W e g w e r d e n , a u f d e m H e g e l es i n D e u t s c h l a n d g r ü n d l i c h e r u n d besser m a c h e n w o l l t e als Machiavell i n I t a l i e n u n d als Richelieu i n F r a n k r e i c h . H e g e l ergriff Partei f ü r sein L a n d u n d m a c h t e sich d a r a n , seinem Volk a u f d e m W e g ü b e r d e n G l a u b e n z u r Einheit u n d der Welt z u e i n e r neuen, weltlichen Religion z u v e r h e l f e n . D e m Schicksal seines L a n d e s g e g e n ü b e r i n G l e i c h g ü l t i g k e i t z u v e r h a r r e n , h ä t t e seiner A r b e i t m i t d e m Interesse a u c h d i e b o h r e n d e Kraft genommen. Hegel n a h m P a r t e i f ü r seine Z e i t als d e m d e r z e i t i g e n M o m e n t i m Prozeß des W e l t geistes m i t d e m gleichen k l a r e n u n d entschiedenen B e w u ß t s e i n u n d m i t d e m gleichen E r n s t , m i t w e l c h e n e r sich gegen d e n unentschlossenen S k e p t i z i s m u s seiner Z e i t entschieden u n d d a z u b e k a n n t h a t , m i t d e r P h i l o s o p h i e die Wahrheit z u erfassen. 100
S. 553 - 558 ( = 98 - 103).
62
2. Kapitel : Hegel — Ausgangsprobleme
„ A u f die politische Apragmosyne zur Zeit, w e n n Unruhen i m Staate ausbrächen, hatte der atheniensische Gesetzgeber den Tod gesetzt; die p h i l o sophische Apragmosyne, f ü r sich nicht Partei zu ergreifen, sondern zum voraus entschlossen zu sein, sich dem, was v o m Schicksal m i t dem Siege u n d m i t der Allgemeinheit gekrönt würde, zu unterwerfen, ist f ü r sich selbst m i t dem Tode spekulativer V e r n u n f t behaftet 1 0 1 ."
101
Glockner 1, 217 ( = Werke 2, 215X
3. Kapitel Hegel — Ziel, Strategie, Taktik 3.1 Geschichtliche Entwicklung und reaktionäre Kulisse I m Jahre 1816 teilt Hegel aus Nürnberg Niethammer Betrachtungen mit, zu denen ihn die allgemeinen Weltbegebenheiten veranlassen 102 . Dieser Bericht zeigt unmißverständlich eine Zweischichtigkeit von Hegels theoretischer Praxis: Die tief erliegende geschichtliche Entwicklung, die i n der Französischen Revolution durch die Oberfläche geschlagen hat, geht nach Hegels Überzeugung unaufhaltsam voran. Die Reaktion dagegen, schreibt Hegel, habe er erwartet. „Sie w i l l ihr Recht haben. La vérité en la repoussant, on l'embrasse ist ein tiefsinniges Jacobinisches Motto." Indem die Reaktion sich gegen die Wahrheit stemmt, umarmt sie sie. Was die Reaktion w i l l , reduziert sich für Hegel auf Eitelkeit: „ E i n paar Bändchen und Blümchen und dergleichen" t u t wenig dazu. „Späße", „Sarkasmen" sind es, die „zur Schadenfreude zu verwenden" sind 1 0 3 und denen man einerseits „ i m Notfalle zu ihrer Perfektion verhelfen" kann, während man andererseits zugleich die tieferliegende Entwicklung m i t ernsthafterer Arbeit fördert: „ I c h halte mich daran, daß der Weltgeist der Zeit das K o m m a n d o w o r t zu avancieren gegeben. Solchem Kommando w i r d pariert; dies Wesen schreitet wie eine gepanzerte, festgeschlossene Phalanx unwiderstehlich u n d m i t so unmerklicher Bewegung, als die Sonne schreitet, vorwärts durch dick u n d dünn. Unzählbare leichte Truppen gegen u n d für dasselbe flankieren d r u m herum, die meisten wissen gar von nichts, w o r u m (es) sich handelt . . . Alles verweilerische Geflunkere . . . h i l f t nichts dagegen. Es k a n n diesem Kolossen etwa bis an die Schuhriemen reichen u n d ein bißchen Schuhwichse oder K o t daran schmieren, aber vermag dieselben nicht zu lösen, v i e l weniger die Götterschuhe m i t den elastischen Schwungsohlen . . . auszuziehen. Die sicherste (nämlich innerlich u n d äußerlich) Partie ist wohl, den Avanceriesen fest i m Auge zu behalten; so k a n n m a n sogar hinstehen u n d zur Erbauung gesamter vielgeschäftigter u n d eifriger Kumpanschaft selbst Schuhpech, das 102
Briefe I I 85 f. M a n muß als I l l u s t r a t i o n hierzu z.B. Hegels Brief an Paulus v o m 9.10.1814 (Briefe I I 41 ff.) zum feierlichen Schluß des Wiener Kongresses lesen: „ . . . ein Prozession . . . , i n der der deutsche Pippel über den Gänsedreck geführt" werde, — u n d manche weitere Kostprobe Hegelscher E i n schätzung. 103
64
3. Kapitel : Hegel — Ziel, Strategie, Taktik
den Riesen festhalten soll, m i t anschmieren helfen u n d zur eigenen Gemütsergötzlichkeit dem ernsthaften Getreibe Vorschub leisten . . . Doch genug u n d zu v i e l — Ihr H."
Hegel stellt sich also vor, daß er zur Erbauung seiner vielgeschäftigen, oberflächlichen Zeitgenossen und zur eigenen Sicherheit lustig mitmalt an den Kulissen für die nächste reaktionäre Komödie i m Stadttheater, während er zur höchsteigenen Ergötzung der unterschwelligen Entwicklung vorarbeitet, die demnächst das Theater i n Schutt und Asche legen kann. Dieses Spiel ist freilich doppelt gefährlich. Einmal kann die Täuschung der Zeitgenossen, die es voraussetzt, so gut gelingen, daß sie einen beim reaktionären Wort nehmen und sich den raktionären Einfluß des großen Philosophen auf die Kulissen gern gefallen lassen. Zum anderen verlangt das Spiel Vorsicht und Tarnung (Verhüllung), was ebenfalls dazu führen kann, daß der Philosoph mißverstanden w i r d — und zwar nun auch noch i n seinem ernsthafteren Anliegen, die tieferliegenden Entwicklungen zu fördern. Welches Ziel Hegel am Ende ins Auge gefaßt hatte, läßt sich recht genau belegen aus einem Brief Hegels an seinen Schüler Zellmann aus dem Jahre 1807: Die französische Nation w i r d u m die Revolution beneidet, w e i l das Individuum dort seine Furcht des Todes abgelegt und das Gewohnheitsleben ausgezogen habe. Daher beziehe sie ihre Kraft, während die deutsche Nation ihre Trägheit aufgeben und i n die W i r k lichkeit hinaustreten müsse, u m „vielleicht, indem die Innerlichkeit sich i n der Äußerlichkeit bewahrt, ihre Lehrer (zu) übertreffen". Aber die „Innerlichkeit" muß erst mobilisiert werden. „Interessanter w ü r d e werden, w e n n der P u n k t der Religion zur Sprache käme, u n d am Ende (!) könnte es w o h l dazu kommen; Vaterland, Fürsten, Verfassung u n d dergl. scheinen nicht der Hebel zu sein, das deutsche V o l k emporzubringen; es ist die Frage, was erfolgte, w e n n die Religion berührt würde. Ohne Zweifel wäre nichts so zu fürchten als dies 1 0 4 ."
I n dem Gedanken, es besser zu machen als die Franzosen m i t ihrer „ n u r politischen" 1 0 5 Revolution, klingen Motive an, die bei Heine und M a r x später offenherzig publiziert werden sollten (und vielleicht über Gespräche m i t Heine zu M a r x durchgedrungen sind; so ähnlich sind bei genauerem Hinsehen Hegels verdeckte Ansätze und das spätere publizistische Echo). Bevor man es ζ. B. als resignierend und selbstironisch 104
Briefe 1137 f. los y g i . ; Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Glockner 564 ( = Werke 12, 535): „Revolution ohne Reformation."
11,
3.1 Geschichtliche Entwicklung und reaktionäre Kulisse
65
auslegt, wenn Hegel i m Gegensatz zu den praktischen Franzosen von den Deutschen sagt: „ W i r haben allerhand Rumor i m Kopfe u n d auf dem Kopfe; dabei läßt der deutsche K o p f seine Schlafmütze ganz r u h i g sitzen, u n d operiert innerhalb seiner" 1 0 8 ,
muß man sich erinnern, was Hegel seinem Freund geschrieben hat: „Es ist bereits viel, was Deutschland von den Franzosen gelernt hat, u n d die langsame N a t u r der Allemands w i r d m i t der Zeit noch mandies profitieren. A u f einmal k a n n nicht alles verlangt werden." ( A n Niethammer, Bamberg Nov. 1807 107 .)
Der „deutsche Kopf" ist auch Hegel, und der Schein der Schlafmütze ist i h m gerade recht, u m darunter u m so ungestörter operieren zu können. Solange die weltanschauliche Generalstabsarbeit nicht erledigt und das Bewußtsein der Menschen noch nicht umgestimmt ist, kann und darf noch keine Umwälzung i n Gang gesetzt werden. (Heine 1 0 8 später: „Die Revolution aber hätte nimmermehr die Köpfe gebrauchen können, die von der Revolution . . . abgeschlagen worden wären." Und zu der „langsamen Natur": "Der deutsche Donner . . . kommt etwas langsam herangerollt...") Als sieben Jahre nach Erscheinen der Phänomenologie des Geistes Napoleon abdanken muß und auf Elba verbannt wird, schreibt Hegel wiederum an Niethammer (und diese Zeilen sind ein weiterer Schlüssel zu Hegel, der nichts erlebte und beobachtete, ohne daraus zu lernen): „Es sind große Dinge u m uns geschehen. Es ist ein ungeheueres Schauspiel, ein enormes Genie sich selbst zerstören zu sehen. — Das ist das τραγικωτατον, das es gibt. Die ganze Masse des Mittelmäßigen m i t seiner absolut bleiernen Schwerkraft drückt ohne Rast u n d Versöhnung so lang bleiern fort, bis es das Höhere herunter, auf gleichem Niveau oder unter sich hat. Der Wendep u n k t des Ganzen, der Grund, daß diese Masse Gewalt hat u n d als der Chor ü b r i g u n d obenauf bleibt, ist, daß die große I n d i v i d u a l i t ä t selbst das Recht dazu geben muß u n d somit sich selbst zugrunderichtet. Die ganze Umwälzung habe ich übrigens, w i e ich mich rühmen w i l l , vorausgesagt. I n meinem Werke (in der Nacht vor der Schlacht von Jena vollendet) sage ich . . . : ,Die absolute Freiheit (sie ist vorher geschildert; es ist die rein abstrakte, formelle der französischen Republik, aus der A u f k l ä r u n g , w i e ich zeigte, hervorgegangen) geht aus ihrer sich selbst zerstörenden W i r k l i c h k e i t i n ein anderes Land (ich hatte dabei ein Land i m Sinne) des selbstbewußten Geistes über . . . < l o e . " (Hervorhebungen u n d K l a m m e r n i m Original.)
Verfolgt man Hegels Wirken von Jena (1801 -1807) an, so findet man viele Wegemarken i n der eingeschlagenen Richtung. Nicht, daß 106 107 108 109
Geschichte der Philosophie. Glockner 19, 553 ( = Werke 20, 331/2). Briefe 1198. Unten bei A n m . 179. Briefe I I 28.
5 Suhr
3. Kapitel: Hegel — Ziel, Strategie, Taktik Hegels ganze Philosophie u m einen Gedanken kreiste. Sie ist für sich ein allgemeines System. Aber der Gedanke zieht sich als roter Faden hindurch. K a r l Friedrich Bachmann, Hörer Hegels i n Jena und späterer Hegel-Gegner, verbindet eine nicht sehr scharfsinnige Rezension 110 von Hegels Phänomenologie m i t einem persönlichen Bekenntnis, durch das man Hegel selbst hindurchhört: „Was uns aber selbst betrifft, so verehren wir i n dem Verfasser unseren geliebten Lehrer, u n d w e n n wir nicht eine oberflächliche Ansicht der Philosophie uns erworben haben, so bekennen w i r frei, daß w i r sie i h m verdanken
. . . Von der Wahrheit des Systems durchdrungen, haben wir es als das Ziel unseres Lebens festgesetzt, an der Realisierung desselben mitzuwirken, wiewohl auf einem anderen, mehr praktischen Wege. Denn w i r philosophieren f ü r die Unsrigen, das Vaterland u n d den Staat, die Philosophie soll belebenden Einfluß auf das Handeln zeigen, den A d e l der Seele erwecken, u n d uns lehren, w a h r zu denken u n d schön zu handeln; das System ist eine Speise, die n u r ein männliches Gemüt nährt, ein verweichlichtes u n d gemeines geht darin unter." (Hervorhebungen i m Original.)
3.2 Geist und Tat I n einer Randbemerkung i m Vorlesungsmanuskript zur Philosophie der Natur und des Geistes (Jena 1805, 1806) ist von der öffentlichen Meinung die Rede. Die Stelle ist nicht zuletzt deshalb aufschlußreich, w e i l sie zeigt, wie konkret und politisch Hegel zuweilen seinen „Geist" begreift, vor allem aber, w e i l sie zeigt, wie das Problem Geist - Tat Gewalt inzwischen gesehen w i r d : „gebildete öffentliche Meinung, Schatz der M a x i m e n des Bewußtseins, Begriffe des Rechts u n d Unrechts, Einsicht; gegen diese öffentliche Meinung k a n n m a n nicht. V o n i h r gehen alle Veränderungen aus, u n d sie selbst ist n u r der bewußte Mangel des fortschreitenden Geistes. Was der Geist sich zu
eigen gemacht, das ist als G e w alt überflüssig. Wenn die Überzeugung nachgelassen, die innere Notwendigkeit, so kann keine Gewalt sie zurück-
halten. A b e r Weisheit der Regierung, zu wissen, was eigentlich der Geist nicht mehr w i l l . Seine Sprache Allgemeinheit 1 1 1 ."
Später heißt es: „ W e n n der Geist einer Nation etwas verlangt, so bändigt i h n keine Gewalt112." 110 Heidelberger Jahrbücher, 1810, 1. Abt. S. 145 - 163, 193 - 209. Hier abgedruckter Auszug auch i n : Briefe I 498, sowie i n der Einleitung zu Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. J. Hoffmeister, 6. Aufl. 1952, S. X L I f . Vgl. den ähnlichen Tenor eines Briefes von Asverus an seine Eltern v o m 11.5.1819, Briefe I I 436 ( = Ed. I l t i n g 1, 47): „Was ich aber verlange, ist die Freiheit aller Menschen u n d die Einheit meines Vaterlandes." 111 Hegel, Jenaer Realphilosophie, hrsg. v. J. Hoffmeister, Nachdruck 1967, S. 260 A n m . 2. Hervorhebung von mir. 112 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hrsg. v. G. Lasson, Nachdruck 1968 der 2. Aufl. von 1923, S. 886.
3.2 Geist und Tat
67
A n Niethammer schreibt Hegel 1808 zum gleichen Thema: „Die theoretische Arbeit, überzeuge ich mich täglich mehr, bringt mehr zustande i n der Welt als die praktische; ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die W i r k l i c h k e i t nicht aus 1 1 3 ."
Schon vorher (zwischen 1803 und 1806) hatte Hegel sich i n seinem Wastebook 1 1 4 notiert: „Die Philosophie regiert die Vorstellungen, u n d diese regieren die Welt. Durch das Bewußtsein greift der Geist i n die Herrschaft der Welt ein. Dies ist sein unendliches Werkzeug, weiter hinaus Bajonette, Kanonen, Leiber. Aber i h r Panier u n d die Seele ihres Feldherrn ist der Geist. Nicht Bajonette, nicht das Geld, nicht einzelne K n i f f e u n d Pfiffe sind das Herrschende. Dies muß (allerdings) auch sein, w i e die U h r Räder hat, aber ihre Seele ist die Zeit u n d der die Materie ihrem Gesetz unterwerfende Geist. Eine Iliade w i r d nicht zusammengewürfelt, so auch nicht ein großes W e r k aus Bajonetten u n d Kanonen, sondern der Compositeur ist der Geist." „Das absolute Erkennen (ist) der große Besen, der alles wegfegt, qui fait
maison nette"
la
Als man Hegel 1808 vorschlägt, eine gemeinverständliche Landlogik zu schreiben, w i n k t er zwar ab, kommt aber dabei auf nichts Geringeres als den Gedanken: „Es k a n n nichts erwünschter sein . . . , als auf diese Weise auf einmal seine Philosophie zur herrschenden i n einem Reiche zu erheben 1 1 5 ."
Als nach der Ermordung Kotzebues die reaktionären Kräfte gegen die Burschenschaften losschlagen, sorgt Hegel sich vor Verdächtigmachern u n d Verleumdern. Als der König durch Kabinetts-Ordre seinen Minister dafür verantwortlich macht, daß an preußischen Universitäten weder Okensche Naturphilosophie noch andere Lehren vorgetragen werden, die die Jugend zum Atheismus verführen, hofft Hegel, daß i h n auch „diese neuere Gefährlichkeit . . . unberührt lassen" werde und schreibt, er habe beim Vortrag seiner Religionsphilosophie ein gutes Gewissen (was nicht geheuchelt ist, da Hegel Gott nicht bekämpft, sondern als Wirklichkeit erkennen und enthüllen w i l l , und da er eine staatsbejahende Religionsphilosophie vorträgt) 1 1 6 . Aber offen kann Hegel nicht sprechen 117 . Er muß sich noch i n die theologische Terminologie wenigstens zur Hälfte so einhüllen, daß er i m Rahmen dessen bleibt, was sagbar ist und angenommen wird. Insofern ähnelt 113
Briefe I 253. Werke 2, 560. 115 Briefe I 229. 116 Briefe I I 271. 117 I n einem Aphorismus aus der Zeit zwischen 1803 u n d 1806 heißt es: „Naturphilosophie. Es w i r d noch geraume Zeit vergehen, ehe es ganz ohne F l u n k e r n darin a b g e h t . . . " — Werke 2, 561. 114
5·
3. Kapitel: Hegel — Ziel, Strategie, Taktik seine Not der Not der alten Propheten, die, selbst noch unter Berufung auf Gottes Wort, eine Zeit prophezeien, i n der für einen Menschensohn diese Autoritätshilfe eines außerhalb der Welt gedachten Gottes entfällt. Hegel muß, w i l l er sich nicht isolieren und u m die Chance bringen, offiziell zu lehren, auf den status quo des allgemeinen Bewußtseins und dessen Sprache eingehen. „ A b e r Sie wissen auch, daß i m M i t t e l p u n k t sein auch den V o r t e i l hat, daß m a n hier richtigere Kenntnisse hat, was am Anschein ist, u n d damit seiner Sache u n d Lage gewisser w i r d ; u n d am Ende — a m Ende, doch davon habe ich auch gegen Sie nicht, noch nichts zu sagen, da selbst noch k e i n Anfang vorhanden i s t 1 1 8 . "
Niethammer kommt auf die Anspielung „am Ende — " zurück und deutet an, daß er weiß, was gemeint ist 1 1 9 . Schon vorher hatte Hegel sich aus Berlin allerdings angesichts der burschenschaftlichen Umtriebe und der A n t w o r t der Reaktion darauf bedrückt geäußert: „ I c h b i n gleich 50 Jahre alt, habe 30 davon i n diesen ewig unruhevollen Zeiten des Fürchtens u n d Hoffens zugebracht u n d hoffte, es sei einmal m i t dem Fürchten u n d Hoffen aus. (Nun) muß ich sehen, daß es i m m e r f o r t w ä h r t , ja, meint m a n i n trüben Stunden, immer ärger w i r d 1 2 0 . " —
Und bald heißt es auch: „ W e n n m a n vollends m i t der Philosophie i n die Jahre kommt, so gibt man sich u m so leichter darein, daß i n der Welt eben nicht mehr v i e l herauskommt121."
Doch das bedeutet weder, daß Hegel sein Ziel aus den Augen verloren, noch, daß er nichts bewirkt hätte, sondern vielleicht auch nur, daß Hegel trotz seiner weltphilosophischen Geduld die Inkubationszeiten unterschätzte. Einem Bericht Cousins zufolge hat Hegel z. B. auf seiner Heimreise von Paris 1827 vor dem Kölner Dom noch recht umstürzlerische Gedanken gehabt. Beim Anblick der Händler, welche vor dem Portal geweihte Medaillen und Heiligenbilder zum Verkauf boten, habe er ausgerufen: „Das ist eure katholische Religion und der Skandal, den sie uns darbietet! Werde ich sterben, bevor ich das alles habe fallen sehen 122 ?" 118
Briefe I I 272. Briefe I I 295. 120 Briefe I I 219. 121 Briefe I I 323. 122 Fischer, Hegels Leben I , S. 176. — Hegel i n Berichten, S. 528. — Vgl. hierzu auch Briefe I I I 202: Die „ K u r i e i n Rom ein ehrenwerterer Gegner als die Armseligkeiten eines armseligen Pfaffengeköchs i n Berlin," — sowie M . Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 2. Bd. 1. Hälfte, Halle 1910, S. 396. Hegel hatte i n B e r l i n die protestantische Orthodoxie zu fürchten! Vgl. J. D'Hondt, Hegel i n seiner Zeit, B e r l i n 1973, S. 44, u n d unten A n m . 230. 118
3.2 Geist und Tat
69
Noch kurz vor seinem Tode bezeugt Hegel selbst, daß es etwas gibt, das zum Volk getragen und ins Werk gesetzt werden müsse: Z u seinem letzten Geburtstag erhält er von Stieglitz einen Huldigungsreim, i n dem der „Fürst der Geister" gefragt w i r d , wann er das „rechte W o r t " sprechen werde, den hohlen Schein vom wahren Geiste zu trennen 1 2 3 . Hegel antwortet prompt (noch unter dem gleichen Datum wie der Glückwunsch) an seinem Geburtstag: Und käm's wie's längst mich drängt, doch loszuschlagen, So wär' Dein Ruf ein Pfand, es noch zu wagen M i t Hoffnung, daß noch Geister i h m entgegenschlagen, Und daß es nicht verhall' i n leeren Klagen, Daß sie's zum Volk (!) zum Werk (!) es tragen 1 2 4 !"
Man kann sicher sein, daß Hegel auch an sich selbst denkt, wenn er i n der Einleitung zur Philosophie der Weltgeschichte von großen Reden, vor allem von Reden i n einem V o l k schreibt: „Reden sind Handlungen unter den Menschen, und zwar sehr wesentliche und wirksame Handlungenn 125." (Lenin 1 2 6 exzerpiert später diesen Satz und fügt — Hegels Ansinnen genau treffend — hinzu: „Also sind diese Reden" — nämlich Hegels Ausführungen — „kein Geschwätz". L e n i n versteht hier w i e an manchen anderen Stellen Hegel richtiger, als es viele Berufsphilosophen vermögen, w e i l er vor vergleichbaren politischen Aufgabenstellungen steht wie Hegel. F ü r Hegels Sprache, soweit sie von „Geist" und „Gott" handelt, hat er allerdings fast nichts als bissigen Spott übrig. Als Praktiker der revolutionären Tat kam er der subversiven List nicht auf die Spur, die Hegel als Praktiker der systematischen Bewußtseinsbearbeitung auf Schritt und T r i t t anwendete). Für Hegel ist theoretische Arbeit samt ihrer Äußerung i n Reden und Schriften die langfristig gründlicher wirksame Arbeit als diejenige, welche man sich landläufig unter „Praxis" vorstellt. Hegel hielt aber die theoretische Arbeit nicht n u r für langfristig wirksamer als revolutionäre Gewalt, sondern w a r auch überzeugt, daß er sich den sehr viel schwierigeren Teil der praktischen Aufgaben vornahm. Ein paar Kanonen und Munition genügen, u m menschliches Bewußtsein massenweise und i n Sekundenbruchteilen auszulöschen. Aber es kostet unendliche Geduld u n d Mühe, ein einziges menschliches Bewußtsein, das zur Unselbständigkeit erzogen wurde, nicht n u r von einer Abhängigkeit i n die nächste zu befördern, sondern zur vernünftigen und selbstbeherrschten Selbständigkeit zu befreien. Die mühe123
Briefe I I I 345. S. 346 f. 125 Hegel, Die V e r n u n f t . . . (oben Anm. 58), S. 7. Vgl. Werke 1, 47: „ W i r k u n gen i m Großen durch Schriften." ( = Nohl S. 30). 128 Lenin, Werke Bd. 38 S. 295. 124
3. Kapitel: Hegel — Ziel, Strategie, Taktik
70
volle Arbeit am Bewußtsein verhält sich zur revolutionären Gewalt wie ein wohlwollendes Einüben i n Selbständigkeit zur bequemen Bearbeitung des Menschen durch den Menschen auf der Guilliotine. „Es ist weit schwerer, feste Gedanken i n Flüssigkeit zu bringen, als das sinnliche Dasein 1 2 7 ."
Aber wenn die Arbeit der geistigen Erneuerung u n d ihrer Vermittlung gelingt und wenn damit einem Bedürfnis der Menschen entsprochen w i r d , lohnt sich der Einsatz: „Originelle ganz wunderbare Werke der Bildung gleichen einer Bombe, die i n eine faule Stadt fällt, w o r i n Alles beim Bierkrug sitzt und höchst weise ist und nicht fühlt, daß i h r plattes Wohlsein eben das Krachen des Donners herbeiführt 1 2 8 ."
Dieser Aphorismus stammt aus der Zeit, als Hegel Privatdozent i n Jena w a r (1801 - 1807). Es könnte der Eindruck entstehen, als hätte er dabei an eine schnelle und plötzliche W i r k u n g gedacht. Aber er rechnete i n Jahrzehnten. Später rät er ζ. B. einem Bekannten, der ins Ausland gehen w i l l , obgleich er die Aussicht hatte, Rektor eines Schullehrerseminars zu werden: Die sichere Aussicht, als Professor auch ein Lehrer zukünftiger Lehrer zu werden, verdiene den Vorzug 1 2 9 . U n d am Schluß der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes 130 findet sich ein Ausblick, i n dem Hegel voraussieht, daß sein Werk von kritischen Schriftstellern zunächst bemäkelt werden w i r d : von den Toten, die ihre Toten begraben, — während er selbst auf die stillere W i r k u n g i m übrigen Publikum rechnet: auf die langsamere Wirkung, „welche die Aufmerksamkeit, die durch imponierende Versicherungen erzwungen wird, sowie die wegwerfenden Tadel berichtigt und einem Teile (nämlich Hegel selbst) eine M i t w e l t erst i n einiger Zeit gibt, während ein anderer (nämlich dieser oder jener eilfertige und imponierende Schriftsteller oder Kritiker) nach dieser keine Nachwelt mehr hat".
Dazu auch: „Rezensenten sind Totengräber. Aber wenn sie auch Lebendiges begraben, erhält sichs doch. Haben selbst zu lernen . . . 1 3 1 ."
Hegel w a r davon überzeugt, daß, was jetzt noch seine „einsame Sache" war, die noch erst „der Besonderheit angehörte", als das Wahre „die Natur hat, durchzudringen, wenn seine Zeit gekommen", damit es dann „als etwas Allgemeines" erfahren werde. E r wußte sich m i t 127 Werke 3, 37 = Glockner, 2, 35. 128 w e r k e 2, 550. — Zum „deutschen Donner" dann wiederum Heine, unten bei Anm. 179. 129 Hegel i n Berichten, S. 120.
130
Werke 3, 67 = Glockner 2, 65 f.
131
Werke 2, 560 (Aphorismus).
3.2 Geist und Tat
71
seinem einsamen Bewußtsein seinen etwaigen theoretischen K r i t i k e r n gegenüber i n gelassener Selbstgewißheit. Er faßte die M i t - und Nachwelt ins Auge, die seine Werke „erst i n einiger Zeit" beim Publikum haben würden, und wenn Hegel von M i t - und Nachwelt spricht, meint er nicht nur theoretische Gespinste, sondern „Transsubstantiationen" seiner Gedanken i n das Reich der äußerlichen Erscheinungen: A u f erstehung des Geistes i m Fleische und Belebung des Fleisches durch den Geist. Es ist zwar i n einem von „Witz und Humor funkelnden" 1 3 2 Briefe Hegels an Goethe, daß Hegel den Begriff „Transsubstantiation" benutzt. Aber der heitere und beschwingte Zusammenhang entwertet nicht das Zeugnis, i n dem Hegel spricht von der „Bewährung seines Glaubens an die Transsubstantiation des Innern und Äußern, des Gedankens i n das Phänomen und des Phänomens i n den Gedanken" 1 3 3 . Hier hat man bei einem Glase voller Wein (welcher beweise, daß „Geist i n der Natur" sei) so nebenbei den ganzen „Schluß" oder Kreis der Dialektik: die Transsubstantiationen des Äußerlichen ins Innere und des Inneren ins Äußere, — die Transsubstantiationen der Seinsgestalten i n Bewußtseinsgestalten und der Bewußtseinsgestalten i n Seinsgestalten (wobei i n dem Brief nicht mehr ausgeführt wird, daß erst die Widersprüche, die Negationen bzw. Verkehrungen für die nötige Abwechslung, für die Veränderung i m Zuge der Transsubstantiationen sorgen). „Die entwickelte Wirklichkeit, als der i n eins fallende Wechsel des Inneren und Äußeren, der Wechsel ihrer entgegengesetzten Bewegungen, die zu einer Bewegung vereint sind, ist die Notwendigkeit 134."
Das Stichwort „Transsubstantiation" (die Einstülpung des Äußeren i n den Kopf und das Herausstülpen des Inneren zu einer wirklichen Welt, — die Vergeistigung und Verwirklichung) w i r d bald bei Hegels Schülern und Schülersschülern wiederkehren: Bei Feuerbach 135 , bei Heine 1 3 6 , bei M a r x 1 3 7 , bei L e n i n 1 3 8 und bei Mao Tse-tung 1 3 9 — von anderen 1 4 0 zu schweigen, die nicht unmittelbar auf dem Wege anzutreffen sind, den der Gedankengang dieser Arbeit verfolgt. Wenn bei den 132
Fischer, Hegels Leben I I S. 124 f. Briefe I I 275 f. 134 § 147 der Enzyklopädie. 135 Unten A n m . 171: „Ensarkosis oder I n k a r n a t i o n des reinen Logs." 136 U n t e n A n m . 380: „Der Gedanke w i l l Tat, das W o r t w i l l Fleisch werden." 137 Unten bei A n m . 324: „Umschlagen der Philosophie", „Transsubstantiation i n Fleisch u n d B l u t " . 138 Unten bei A n m . 454: „ V e r w a n d l u n g des Ideellen i n das Reale". 139 U n t e n bei A n m . 455: „ W i e sich die Materie i n Geist u n d der Geist i n Materie verwandeln kann." „ V o m Sein zur Idee . . . von der Idee zum Sein." 140 Dazu etwa: Horst Stuke, Philosophie der Tat, Stuttgart 1963. 133
3. Kapitel: Hegel — Ziel, Strategie, Taktik
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dialektischen Nachkommen Hegels das sprachliche Echo und die praktische Brisanz Hegelscher Begriffe zum Vorschein kommen, sollte man sich bewußt bleiben, daß Hegel wußte, was er tat, wenn er dialektisch philosophierte. Es ging i h m u m die erste Etappe eines historischen Durchlaufs, dem die zweite folgen muß te als „der ungeheuere Überschritt des Inneren i n das Äußere, — der Einbildung der Vernunft in die Realität, woran die ganze Weltgeschichte gearbeitet" hat 1 4 1 . 3.3 Bearbeitung des Bewußtseins Hegels Vorlesungen i n Heidelberg und Berlin hinterließen nachhaltigen Eindruck bei so gut wie allen Hörern, die sich i n den etwas stockenden, aber immer wieder durch lebensvolle Beispiele angereicherten Vortrag einhören konnten. Insbesondere fügen sich die A n tritts- bzw. Eröffnungsvorlesungen i n Heidelberg (1816) und i n Berlin (1818) als besondere Akzente i n das deutliche B i l d ein, welches von seiner Strategie und Taktik gezeichnet werden kann. Man muß diese Vorlesungen lesen i n dem Gedanken an die Macht, die Hegel der Bildung und Stärkung des Bewußtseins und Selbstbewußtseins zutraute. Die Deutsche Nation, heißt es, habe sich als einzige eine Philosophie erhalten, die den Namen verdiene: „ W i r haben den höhern Beruf von der N a t u r erhalten, die Bewahrer dieses heiligen Feuers zu sein . . . , w i e früher der Weltgeist die jüdische Nation (für) das höchste Bewußtsein sich aufgespart hatte, daß er aus i h r als neuer Geist hervorginge 1 4 2 ."
A n dieser Stelle trägt Hegel am Rand des Manuskripts i n Berlin folgende Stichworte nach: „ ( W i r sind) überhaupt jetzt so weit, daß n u r Ideen gelten, (daß alles durch) V e r n u n f t gerechtfertigt (wird). Preußen (ist) auf Intelligenz gebaut — größerer Ernst u n d höheres Bedürfnis — diesem Ernste zuwider das schale Gespenst (der Altdeutschen v o m Reich?)"
I m Zusammenhang m i t der Untersuchung des jüdischen Schicksals war die Figur des schalen Gespenstes schon einmal als erschlaffter Dämon i n die Vorstellung gekommen: „Den entflohenen Genius einer Nation k a n n die Begeisterung nicht zurückbeschwören, das Schicksal eines Volkes nicht unter ihren Zauber bannen, w o h l (aber) einen neuen Geist aus der Tiefe des Lebens hervorrufen, w e n n sie rein u n d lebendig ist. A b e r die jüdischen Propheten zündeten ihre Flamme an der Fackel eines erschlafften Dämons an; sie suchten i h m seine alte K r a f t . . . u n d seine schauernd erhabene Einheit wieder herzustellen; sie konnten also n u r kalte u n d bei ihrer Einmischung i n P o l i t i k u n d Zwecke 141 142
Hegel, Rechtsphilosophie, A n m e r k u n g zu § 270, Werke 7, 419. Hegel, Einleitung . . . (oben A n m . 34), S. 3 ff. = Glockner 17, 19 = Werke
18, 11,
3.3 Bearbeitung des Bewußtseins
73
n u r eingeschränkte u n d wirkungslose Fanatiker werden . . . , nicht andere Zeiten herbeiführen 1 4 8 ."
I n diesen und ähnlichen Gedanken ist Hegels Urteil über die altdeutschen Schwärmer vorweggenommen, die i n seinen Augen das alte Reich und die alte Religion von den Toten auferwecken wollten ohne wahrhaftige und ernste Arbeit an einer vernünftig-strengen, reinen Erneuerung des Lebens durch wissenschaftlich betriebene Philosophie und philosophisch begriffene und gesicherte, weltliche Religion. Hegel hatte i n seinen früheren Studien mehrfach beobachtet, daß i n Zeiten der Not und des Kampfes gediegene Naturen sich zum Praktischen wenden. Das hat zur Folge, daß i n die theoretische Arbeit des Geistes Seichtigkeit ihren Einzug hält, so daß das Bewußtsein bis i n die Tiefe des Lebens, die rein und lebendig ist, gar nicht mehr vordringt und von dort auch keine Verjüngung für das Leben selbst beziehen kann. Erst die Atempause nach der Not bringt „Geschenke des Luxus". Was dieser „Luxus" für Hegel bedeutet, w i r d heute, da w i r fast nur noch i n materiellen oder materialistischen Kategorien wahrnehmen können, meist i m Sinne von Besitz und materiellem Reichtum auigefaßt. Die „Geschenke des Luxus" nach den Zeiten der Not sind jedoch vor allem etwas ganz anderes 144 , — nämlich ein Luxus i n dem Sinne, daß der Geist Zeit hat, über die Not des Tages hinaus sich zu besinnen: Nun, da „die Nation sich aus dem Gröbsten herausgehauen" hatte, war es Zeit, m i t Ernst und Zuversicht sich i n die Besinnung zu vertiefen. Das ist der Grundton der Antrittsvorlesung i n Heidelberg. „Ich habe mein Leben der Wissenschaft geweiht . . . Ich hoffe, es wird mir gelingen, Ihr Vertrauen zu verdienen und zu gewinnen. Zunächst aber darf ich nichts in Anspruch nehmen, als daß Sie vor allem nur Vertrauen zu der Wissenschaft und Vertrauen zu sich selbst mitbringen. Der Mut der Wahrheit, der Glaube an die Macht des Geistes ist die erste Bedingung der Philosophie 145." Hier wie sonst zielt Hegel darauf, den Menschen Vertrauen einzuflößen, vor allem Vertrauen zu sich selbst. Auch diese Richtung stimmt m i t Hegels frühen Studien zusammen: Die Erwartungen i n Israel zur Zeit Jesu hatte Hegel so beschrieben, daß das V o l k auf jemanden wartete, der es zum Wagen begeisterte und durch diese Gewalt fortrisse 146 . „Jetzt lernte ich die Einflüsse der Freiheit auf Geist und Herz begabter Jünglinge zum ersten Male kennen. Ach wie ganz anders w i r k t 143
Nohl S. 259, 225 = Werke 1, 295 u n d 209: „träge Messiashoffnung". Werke 1, 458; Einleitung . . . (oben A n m . 34), S. 39 ( = Werke 20, 483f.). Vgl. auch Werke 18, 70 f. = Glockner 17, 81 f.: Philosophie als eine A r t Luxus. 145 Einleitung . . . (oben A n m . 34), S. 5 = Werke 18, 13 = Glockner 17, 21. 140 Oben bei A n m . 55. 144
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3. Kapitel: Hegel — Ziel, Strategie, Taktik
freie Erziehung, als ein sklavisches Zucht-Regiment", erinnert sich J. G. A. W i r t h 1 4 7 an die Zeit als Schüler Hegels am Gymnasium i n Nürnberg: „Als Rektor i n Nürnberg w i r k t e Hegel unendlich segensreich: auch i n m i r entzündete er den unsterblichen Funken der Freiheit . . . dafür stammle ich noch seiner Asche meinen tiefgefühlten Dank." Hegels Modell für die freiheitliche Erziehung war Sokrates, bei dem i h m — i m Vergleich m i t Jesus — die Methode gefiel, wie Sokrates die Menschen zu sich selbst führte: „ E r hinterließ keine maurische Zeichen, keinen Befehl, seinen Namen zu verkündigen, keine Methode, der Seele auf das Dach zu steigen u n d M o r a l i tät i n sie einzugießen . . . Z u r Fertigkeit i m Guten die Menschen zu bringen, zeigt er keinen Umweg . . . , der über ihn gehen sollte, — wo er der M i t t e l punkt, gleichsam die Hauptstadt wäre, i n die man mühsam reisen u n d daraus die gnädigst erteilte Nahrung heimtransportieren u n d i n Zinsen zu legen hätte, keinen ordinem salutis . . . , sondern er klopfte gleich an der rechten Pforte an, ohne M i t t l e r , führte n u r den Menschen i n sich selbst hinein, wo er nicht einem wildfremden Gast, (einem) Geiste Wohnung bereiten sollte, der aus fernem Lande ankommen würde, sondern er sollte n u r besser Licht u n d Raum seinem alten Hausherrn machen, den die Menge der Geiger u n d Pfeifer i n (ein) altes Dachkämmerlein sich zurückzuziehen genötigt hätten148."
Jesus ist für Hegel i m Vergleich dazu zu wundertätig, als daß er zum göttlich-menschlichen Vorbild werden könnte. „So wie man . . . , um ein guter Nachahmer zu sein, selbst ein Stück vom Original sein muß . . . , so muß die Tugend besonders etwas selbst Erfahrenes, etwas selbst Geübtes sein 1 4 9 ." Üben kann man aber schlecht nach einem Vorbild, das ζ. B. bei der Heilung eines Kranken keine weitere Mühe hat, als ein Wort zu sprechen 150 . Ein weiteres Beispiel, das nicht weniger anschaulich und lehrreich für Hegels Methode ist, fügt sich gut i n diesen Zusammenhang. Hegel hatte von sich selbst gesagt, viele Jahre beim Adler i n freier Gebirgsluft genistet zu haben 1 5 1 , und er merkte auf bei der Lektüre von 5. Mos. 32 Vers 11: Dort blickt Moses zurück auf sein politisches Leben und vergleicht die A r t , i n der Gott durch i h n die Juden führte, m i t dem Adler, der seine Jungen zum Fluge gewöhnen w i l l . Hegel schreibt dazu: „ E r schwingt beständig die Flügel über dem Neste, n i m m t sie auch auf seine Flügel u n d trägt sie auf denselben fort. N u r vollendeten die Israeliten dieses schöne B i l d nicht, diese Jungen sind keine A d l e r geworden; sie geben eher . . . das B i l d eines Adlers, der Steine — getäuscht — erwärmte, ihnen seinen 147
Hegel i n Berichten, S. 116. Nohl S. 33 - 35 = Werke 1, 52 - 54. — „Es war, als schwebte i h m das Beispiel Sokrates v o r . . . " , — Hegel i n Berichten, S. 440. 148
149
Nohl S. 57 f. = Werke 1, 82 f.
160
a.a.O. Oben bei A n m . 57.
151
3.3 Bearbeitung des Bewußtseins
75
F l u g vormachte u n d sie auf seinen Flügeln m i t sich i n die Wolken nahm, deren Schwere aber nie zum Flug, deren geliehene Wärme aber nie zur Flamme des Lebens aufschlug 1 5 2 ."
Aufenthalte i n Provinzstädten empfindet Hegel als Verweisung. Stets zieht es i h n i n die Hauptstadt: zum Mittelpunkt Er geht m i t vollem Bewußtsein nach Berlin, u m dort an seiner Sendung zu arbeiten. „ M a n sei i n einem Staate, was man sei, so ist es am besten, es i n der H a u p t stadt zu sein; . . . N u r eine Universität, die sich gleichfalls zum obersten Z e n t r u m von Tätigkeit u n d Interesse macht, k a n n m i t einer Hauptstadt r i valisieren u n d sich selbst zu einer machen." ( A n Niethammer, 1808 aus Bamberg 1 5 3 .) „Es sind freilich schöne Gegenden, die ich verlasse, aber es ist nicht die Gegend, der man andere, für seine Bestimmung wesentliche Umstände aufopfern kann. B e r l i n ist ein großer M i t t e l p u n k t f ü r sich." (Hegel an seine Schwester Christiane, 1818 aus Heidelberg 1 5 4 .) „Sie wissen, daß ich hieher gegangen bin, u m i n einem M i t t e l p u n k t u n d nicht i n einer Provinz zu sein." (An Niethammer 1821 aus Berlin 1 5 5 .)
Noch eindringlicher als i n der Heidelberger Antrittsvorlesung r u f t Hegel i n der ersten Anrede seiner Hörer i n B e r l i n 1 5 6 dazu auf, den M u t zur Wahrheit sowie „Vertrauen zu der Wissenschaft, Glauben an die Vernunft, Vertrauen und Glauben zu sich selbst" mitzubringen. Preußen, das i h n nun i n sich aufgenommen hat, hat sich „durch das geistige Übergewicht . . . zu seinem Gewicht in der Wirklichkeit und im Politischen emporgehoben, sich an Macht und Selbständigkeit solchen Staaten gleichgestellt . . . , welche i h m an äußeren M i t t e l n überlegen gewesen wären". „Es ist die sittliche Macht des Geistes, welche sich i n ihrer Energie gefühlt, ihr Panier aufgesteckt, und dies ihr Gefühl als Gewalt und Macht der Wirklichkeit geltend gemacht hat." Hegel hat m i t dem Preußen der Reformen und Befreiungskriege ein Beispiel vor sich für die Richtigkeit seiner dialektischen Philosophie. Sofern er früher noch zweifelte und sich nur langsam mehr und mehr überzeugte, daß die theoretische Arbeit auf die Dauer mehr bewirke als die praktische, — jetzt hat er empirische Belege dafür, daß er auf dem richtigen Wege ist, und zwar Belege aus jüngster Zeit und innerhalb Deutschlands, nicht nur Belege aus geschichtsphilosophischer Vergangenheit. Selbstgewisser denn je macht er sich daran, „die philosophische Entwicklung der substantiellen Grundlage" zu pflegen und zu 152
Nohl S. 256 = Werke 1, 291.
153
Briefe I 226. Briefe I I 197. Briefe I I , 271.
154 155
158
Werke 10, 399 ff. = Glockner 8, 31 ff.
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3. K a p i t e l : Hegel — Ziel, Strategie, T a k t i k
v e r j ü n g e n , d a m i t d i e v o r h a n d e n e n u n d k e i m e n d e n A n s ä t z e sich e r w e i tern können: „ I n solchem substantiellen Gehalt aber haben w i r die Zeit gesehen, haben wir den Kern sich bilden sehen, dessen weitere E n t w i c k l u n g nach allen Seiten, der politischen, sittlichen, religiösen, wissenschaftlichen Seite, unserer Zeit anvertraut ist." „Diese Morgenröte eines gediegenen Geistes begrüße ich, rufe ich an; m i t i h m n u r habe ich es zu tun, indem ich behaupte, daß die Philosophie Gehalt haben müsse, u n d indem ich diesen Gehalt vor ihnen entwickeln werde." „Uberhaupt rufe ich den Geist der Jugend dabei an; denn sie ist die schöne Zeit des Lebens . . . E i n noch junges Herz hat noch den M u t , Wahrheit zu verlangen, u n d das Reich der Wahrheit ist es, i n welchem die Philosophie zu hause ist, welches sie erbaut u n d dessen w i r durch i h r S t u d i u m teilhaftig werden." Die Bedingungen stadt e r r e i c h t h a t , dem bislang n u r i n punkts-Bewußtsein
sind, w i e es scheint, g u t . N u n , d a H e g e l die Haupts p r i c h t er auch öffentlich vom „Mittelpunkt", von B r i e f e n d i e Rede w a r ; d e n n j e t z t g i l t es, das M i t t e l auszustrahlen u n d zu verbreiten:
„ H i e r ist die B i l d u n g u n d die B l ü t e der Wissenschaften eines der wesentlichen Momente i m Staatsleben selbst. A u f hiesiger Universität, der U n i v e r sität des Mittelpunktes, muß auch der M i t t e l p u n k t aller Geistesbildung u n d aller Wissenschaft u n d Wahrheit, die Philosophie, ihre Stelle u n d vorzügliche Pflege finden." „So w i r d die neue Kirche von Preußen repräsentiert, w o h i n der Blick der Freiheit sich gerichtet hat und noch richten wird 1* 7." — H e g e l „ d a c h t e ü b e r d i e B e d e u t u n g B e r l i n s ganz a n d e r s als S o l g e r : g a r n i c h t r o m a n t i s c h , s o n d e r n p o l i t i s c h . V o n dieser A u f g a b e w a r H e g e l e r f ü l l t , w i e v o n e i n e r M i s s i o n . Es w a r seine M i s s i o n " 1 5 8 . Schließlich m u ß h i e r noch e i n l e t z t e r M o d e l l f a l l v o n E r z i e h u n g , d e n H e g e l v o l l e r B e w u n d e r u n g u n d A n e r k e n n u n g schildert, a u s f ü h r l i c h w i e d e r g e g e b e n w e r d e n , — u n d z w a r aus z w e i G r ü n d e n : Erstens b e s t e h t e i n e äußere Ähnlichkeit z u Hegels L e b e n , d i e i h m m i t S i c h e r h e i t n i c h t e n t g a n g e n ist. U m diese äußere Ä h n l i c h k e i t z u e r k e n n e n , m u ß zunächst k u r z d a r a n e r i n n e r t b z w . b e r i c h t e t w e r d e n , w i e H e g e l n a c h d e m e r s t e n R u f , d e r i h n schon i n N ü r n b e r g e r r e i c h t h a t t e , v o n H e i d e l b e r g n a c h B e r l i n b e r u f e n w o r d e n ist. 157 Vgl. dazu B r i e f an Niethammer v. 10.10.1816, insbesondere: „Die katholische Gemeinde hat nämlich . . . einen festen M i t t e l p u n k t , dessen die protestantische entbehrt . . . Unser näheres Palladium sind . . . die Universitäten u n d die allgemeinen Unterrichtsanstalten. A u f diese blicken die Protestanten als auf i h r Rom u n d ihre bischöflichen Sitze h i n . . . Die einzige A u t o r i t ä t ist die intellektuelle u n d moralische B i l d u n g aller" — „ a l l e r " i m Gegensatz auch zum „protestantischen Pfaffentum . . . , das w i r auch gehabt haben". — Briefe I I 141. 158 Fischer, Hegels Leben I, S. 146.
3.3 Bearbeitung des Bewußtseins
77
Altenstein hatte Hegel i n Heidelberg besucht u n d ein „Gespräch m i t w e i t ausschauenden P l ä n e n " ^ geführt. „Ohne sich u m Fakultät oder Senat der Universität weiter zu kümmern, schon am 26. Dezember 1817, erließ er das Einladungsschreiben nach Heidelberg an Hegel. Beide kannten sich bereits . . . ,Ich mißkenne', schrieb er 1 6 0 , ,die Verpflichtungen nicht, welche Sie an Heidelberg zurückhalten können, allein Sie haben noch größere V e r pflichtungen für die Wissenschaft, f ü r die sich I h n e n hier ein ausgebreiterer u n d wichtigerer Wirkungskreis eröffnet. Sie wissen, was I h n e n B e r l i n i n dieser Hinsicht gewähren kann. Ihre Erwartungen sollen aber, w i e ich hoffe, noch übertroffen werden, w e n n sich verschiedene Pläne näher entwickeln, deren Verfolgung f ü r mich Pflicht ist'." Altenstein vermerkt am Rand des Entwurfes zu diesen Schreiben: „ A u f Briefbogen m i t Königlichem Siegel1® 1." — A l s Hegel i n B e r l i n sein A m t antrat, sagte er: „ I n d e m ich heute zum ersten Male auf hiesiger Universität i n dem A m t e eines Lehrers der Philosophie auftrete, zu dem mich die Gnade Seiner Majestät des Königs berufen hat, erlauben Sie m i r , ein V o r w o r t darüber vorauszuschicken, daß ich es nämlich f ü r besonders wünschenswert u n d erfreulich hielt, sowohl gerade i n diesem Zeitpunkte als auf hiesigem Standpunkte i n ausgebreitete akademische Wirksamkeit zu treten. Was den Zeitpunkt betrifft, so scheinen diejenigen Umstände eingetreten zu sein, unter denen sich die Philosophie wieder Aufmerksamkeit u n d Liebe versprechen darf . . . l e 2 . " (Hervorhebungen i m Original, insbesondere die des „Zeitpunktes".)
Der zweite Grund, noch einen Modellfall von Erziehung anzuführen, ist: Hegels Philosophie selbst sollte demnächst vom jungen M a r x i m Hinblick auf die Frage: „Was kommt danach?" tatsächlich verglichen werden m i t der Philosophie — des Aristoteles. „ V o n Mytilene w u r d e er (Aristoteles) durch P h i l i p p von Makedonien berufen, u m die Erziehung des Alexanders zu übernehmen, der damals 15 Jahre alt war. P h i l i p p l u d i h n dazu i n einem bekannten Briefe ein, den w i r noch haben. P h i l i p p schrieb: ,Ich habe einen Sohn, aber ich danke den Göttern weniger, daß sie m i r i h n gaben, als daß sie i h n zu deiner Zeit geboren werden ließen. Ich hoffe, daß deine Sorgfalt u n d deine Einsichten i h n meiner u n d seines künftigen Reiches w ü r d i g machen werden/ Es erscheint allerdings i n der Geschichte als ein glänzendes Schicksal, der E r zieher eines Alexander gewesen zu sein . . . Was aus seinem Zögling geworden ist, ist bekannt; u n d von welchem Erfolge seine Erziehung gewesen ist, ist die Größe von Alexanders Geist u n d Taten sowie dessen fortdauernde Freundschaft das höchste Zeugnis f ü r Aristoteles, w e n n er eines solchen Zeugnisses bedürfte, — sie geben ein Zeugnis für den Geist der Erziehimg. Aristoteles hatte auch an Alexander einen anderen, würdigeren Zögling, als Plato i n dem Dionysios gefunden hatte. Piaton w a r es u m seine Republik, u m ein Ideal eines Staates zu tun, das I n d i v i d u u m w a r n u r M i t t e l ; er läßt sich m i t einem solchen Subjekte ein, durch das es ausgeführt w e r den sollte, das I n d i v i d u u m ist gleichgültig. Bei Aristoteles dagegen fiel diese 159 1β0 1β1 162
a.a.O. I I , S. 1248. Briefe I I 170. Lenz a.a.O. (oben A n m . 122) S. 14 f. Glockner 8, 31 = Werke 10, 399.
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3. K a p i t e l : Hegel — Ziel, Strategie, T a k t i k
Absicht weg; er hatte rein n u r das I n d i v i d u u m vor, die I n d i v i d u a l i t ä t als solche großzuziehen, auszubilden." „Was i n der B i l d u n g Alexanders Aristoteles' philosophischem Unterricht zugeschrieben werden kann, ist, daß das Naturell, die eigentümliche Größe der Anlagen seines Geistes auch innerlich befreit, zur vollkommenen, selbstbewußten Selbständigkeit erhoben worden, die w i r i n seinen Zwecken u n d Taten sehen. E r erlangte diese vollkommene Gewißheit seiner selbst, die n u r die unendliche K ü h n h e i t des Gedankens gibt, u n d die Unabhängigkeit von besonderen, beschränkten Plänen u n d ihre Erhebung zu einem ganz allgemeinen Zweck, die Welt einzurichten zu einem gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Leben, Verkehr, Stiftungen von Staaten, der zufälligen I n d i v i dualität entnommen 1 6 3 ." „ V o n dem tiefsten u n d auch umfangreichsten Denker des Altertums, von Aristoteles, w a r Alexander erzogen worden, u n d die Erziehimg w a r des Mannes würdig, der sie übernommen hatte. Alexander w u r d e i n die tiefste Metaphysik eingeführt; dadurch wurde sein N a t u r e l l vollkommen gereinigt u n d von den sonstigen Banden der Meinimg, der Roheit, des leeren V o r stellens befreit. Aristoteles hat diese große N a t u r so unbefangen gelassen, als sie war, i h r aber das tiefe Bewußtsein v o n dem, was das Wahrhafte ist, eingeprägt u n d den genievollen Geist, der er war, zu einem plastischen, gleich w i e eine frei i n ihrem Ä t h e r schwebende Kugel, gebildet 1 6 4 ." D e r l e t z t e Satz des f o l g e n d e n Z i t a t s schließlich g i b t besser A u s k u n f t ü b e r das V e r h ä l t n i s Hegels z u seiner P h i l o s o p h i e als dicke B ä n d e d e r nachhegelschen S c h u l p h i l o s o p h i e : „Aristoteles ist als tiefer, gründlicher, abstrakter Metaphysiker bekannt; daß er es ernstlich m i t Alexander gemeint, zeigt sich. Die B i l d u n g A l e x a n ders schlägt das Geschwätz von der praktischen Unbrauchbarkeit der spekulativen Philosophie nieder 1 6 5 ."
3.4 Echo auf Hegels W i r k e n D i e v i e l e n B e r i c h t e v o n Zeitgenossen Hegels, v o n S c h ü l e r n u n d G e g nern, von Schriftstellern u n d Ministern, die v o n dem Eindruck u n d der W i r k u n g seiner V o r l e s u n g e n u n d B ü c h e r berichten, lassen i n d e r g r o ß e n M e h r z a h l n o c h h e u t e spüren, daß auch H e g e l es m i t d e r T i e f e e r n s t m e i n t e , b i s i n d i e er v o r d r i n g e n w o l l t e , u n d daß er sein Z i e l auch v i e l f a c h erreichte. „ H i e r sind übrigens die großen Verdienste nicht zu übersehen, welche Hegel sich u m die jungen Gemüter erwarb. Seine philosophische Rechtswissenschaft, seine Lehre v o m Staat als der w i r k l i c h e n sittlichen Idee, t r a t zwar n u r v o r das Bewußtsein weniger, aber doch größtenteils der besten Köpfe, denn diese fühlten . . . etwas von dem Meister, ,was m a n Respekt nennt', u n d übertrugen ihre Empfindung u n w i l l k ü r l i c h auf die übrigen, indem sie sie 163 164 165
Glockner 18, 301 f. = Werke 19, 136 f. Glockner 11, 353 = Werke 12, 332. a.a.O. (Anm. 163). — Hierzu auch unten A n m . 230.
3.4 Echo auf Hegels Wirken
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überzeugten, daß man erst gar vieles lernen müsse, bis m a n die Welt v e r bessern könne . . . Wenn Paulus . . . k l a r w i e Wasser w a r u n d die Schnitte seines scharfen kritischen Messers . . . schnell wieder heilten, so w a r es entgegengesetzt bei . . . Hegel, . . . dessen kritisches Messer i n die Tiefe ging, ohne daß w i r es fühlten." (Th. v. Kobbe, Heidelberger Zeit18®.) „Wenn es eine politische oder religiöse Überzeugung betraf, so konnte er, obwohl er ein schlechter Hedner war, bis zu einer gewissen feierlichen E r habenheit fortschreiten, die dem todstillen A u d i t o r i u m durch M a r k u n d Bein drang 1 ® 7 ." „ M i t Freuden hör ich von manchen Orten her, daß I h r e Bemühungen, junge Männer nachzubilden, die besten Früchte b r i n g t ; es t u t freilich Not, daß i n dieser wunderlichen Zeit irgendwo aus einem M i t t e l p u n k t eine Lehre sich verbreite, woraus theoretisch u n d praktisch ein Leben zu fördern sei. Die hohlen Köpfe w i r d m a n freilich nicht hindern, sich i n vagen Vorstellungen u n d tönenden Wortschwällen zu ergehen; die guten Köpfe jedoch sind auch übel daran, denn indem sie falsche Methoden gewahren, i n die man sie von Jugend auf verstrickte, ziehen sie sich auf sich selbst zurück, werden abstrus oder transzendieren. Möge sich I h r Verdienst, mein Teuerster, u m Welt u n d Nachwelt durch die schönsten Wirkungen immerfort belohnt sehen." (Goethe an Hegel unter dem 7. Oktober 18201®8.) „Doch der Wahrheit gemäß bekenne ich, daß sich m i r i n Hegels Vorträgen jenes Damaskus wunder (ich möchte es ein umgekehrtes nennen, die B e kehrung v o m theologischen Paulus zum philosophischen Saulus) . . . , stündlich wiederholte . . . Die Hegeische Philosophie der Geschichte, deren Gefahren ich erst später erkennen lernte, w a r i n der Tat jenes Webermeisterstück, w o v o n Mephisto i m Faust spricht. Die Fäden gingen auf u n d nieder, jeder T r i t t w a r sicher u n d berechnet, die Welt w u r d e dem Schöpfer nachkonstruiert, das Geheimnis der Parzen, i h r System, wonach sie die V e r hängnisse bestimmten, schien enträtselt. Die A r t , w i e aus jedem V o l k gleichsam die Wurzel seines Seins gezogen w u r d e . . . , erfüllte den jugendlichen Hörer m i t andächtigen Schauern." (K. Gutzkow, B e r l i n 18311®9.) „ . . . was meinem vielleicht n u r kurzen hiesigen Aufenthalt die Bedeutung einer Ewigkeit f ü r mich gibt, i h n zum Wendepunkt meines ganzen Lebens, u n d B e r l i n zum Bethlehem einer neuen Welt für mich macht, i n Hegels Vorlesungen. Denn w e n n ich sie, selbst unter dem schweren Kreuze des Begriffes u n d unter dem B l i t z u n d Donner der D i a l e k t i k als das größte Glück, das m i r n u r i m m e r begegnen konnte, zu schätzen u n d sie als das, was sie sind, als Himmelsgaben unbedingt ihre einflußreiche Macht auf mich ausüben zu lassen weiß, so habe ich es j a einzig u n d allein Ihres Geistes K r a f t zu verdanken . . . " ( L u d w i g Feuerbach an K . Daub, B e r l i n September 1824 170 .)
Vier Jahre nach diesem Brief an seinen ehemaligen Lehrer Daub schickt Feuerbach seine Dissertation an Hegel. Sein Begleitbrief dazu bestätigt, daß Hegels Erwartungen i n seinen Hörern i n Erfüllung gehen konnten, und daß seine Arbeit die ersten selbständigen Früchte zu tra166 167 168 189 170
Hegel i n Berichten, S. 180. Rosenkranz, Hegel als deutscher Nationalphilosoph, Leipzig 1870, S. 300. Briefe I I 237. Hegel i n Berichten, S. 423/4. S. 268 f.
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3. Kapitel: Hegel — Ziel, Strategie, Taktik
gen begann, an die er von Jugend auf gedacht hatte. Feuerbach schildert, daß Hegels Ideen „nicht oben i m Allgemeinen über dem Sinnlichen und der Erscheinung sich gehalten" hätten, sondern „schaffend" i n i h m „fortwirkten". Seine, Feuerbachs, Philosophie trage an sich „eine Spur von einer A r t des Philosophierens . . . , welche man die V e r w i r k lichung u n d die Verweltlichung der Idee, die Ensarkosis oder I n k a r n a t i o n des reinen Logos nennen könnte. . . . Auch b i n ich fest davon überzeugt, daß jene A r t des Philosophierens, die . . . vielleicht auch nie durch mich wenigstens zum Dasein u n d zur vollendeten Gestalt hervortritt, an der Zeit ist oder (was eins ist) i m Geiste selbst der neuesten Philosophie begründet ist, aus i h m selbst hervorgeht. Denn w e n n es sich bei der Philosophie, die nach I h n e n benannt w i r d . . . , nicht u m eine Sache der Schule, sondern der Menschheit handelt, — w e n n der Geist wenigstens i n der neuesten Philosophie darauf Anspruch macht, dahin drängt, . . . allgemein weltgeschichtliche, offenbare Anschauung zu werden u n d i n eben jenem Geiste nicht bloß der Same zu einem besseren literarischen Treiben u n d Schreiben, sondern zu einem in der Wirklichkeit sich aussprechenden allgemeinen Geiste, gleichsam zu einer neuen Weltperiode liegt, so gilt es jetzt sozusagen ein Reich zu stiften, (der Stifter dieses Reiches w i r d freilich keinen Namen haben, kein I n d i v i d u u m , oder jenes einzige I n d i v i d u u m , das ist, der Weltgeist, sein) . . . Es g i l t jetzt einen neuen G r u n d der Dinge, eine neue Geschichte, eine zweite Schöpfung, w o nicht mehr die Zeit u n d drüber u n d draußen der Gedanke, sondern die V e r n u n f t die allgemeine Anschauungsform der Dinge wird"171. —
Andere Zeugen berichten: „ E r gehört übrigens nicht zu den Philosophen, die ihre W i r k u n g bloß ihren Ideen überlassen wollen, er macht Schule u n d macht sie m i t Absicht." ( W i l helm von Humboldt, B e r l i n 1828 172 .) „Es ist die letzte, es ist zugleich die glänzendste u n d glücklichste Epoche von Hegels Leben u n d Philosophie, i n die w i r i h n jetzt noch hineinbegleiten." — Die Berliner Epoche — „Getragen von der Gunst der Mächtigen, schwelgend i n den Erfolgen u n d i n dem R u h m seines Werkes, sah er sich, ein philosophischer D i k t a t o r über Deutschland, am Z i e l seines Strebens." (Haym, rückblickend 1857 173 . H a y m täuscht sich insofern, als Hegel i n B e r l i n selbst schon sah, daß aus seiner Philosophie i n der Welt anscheinend nicht mehr v i e l herauskäme. Hegel dachte über Preußen hinaus u n d w a r daher enttäuscht. H a y m meint, Hegel identifiziere sich restlos m i t Preußen, u n d verfehlt daher Hegels wahre Stimmung. Aussagekräftig bleibt gleichwohl die Einschätzung als philosophischer D i k t a t o r f ü r Deutschland. I m gleichen Werk Hayms heißt es auch noch:) „Diese Zeit muß m a n sich zurückrufen, u m zu wissen, was es m i t der w i r k lichen Herrschaft u n d Geltung eines philosophischen Systems auf sich hat. Jenes Pathos u n d jene Überzeugtheit der Hegelianer v o m Jahre 1830 muß m a n sich vergegenwärtigen, welche i m vollen, bitteren Ernste die Frage ventilierten, was w o h l den ferneren I n h a l t der Weltgeschichte bilden werde, 171
Briefe I I I 245 ff. — Hervorhebungen ζ. T. von m i r . Hegel i n Berichten, S. 380, — vgl. auch dort S. 323 u n d 440. 178 R. Haym, Hegel u n d seine Zeit, 1. Aufl. B e r l i n 1857, Nachdruck Hildesheim 1962, S. 357. 172
3.4 Echo auf Hegels Wirken
Öl
nachdem doch i n der Hegeischen Philosophie der Weltgeist an sein Ziel, an das Wissen seiner selbst hindurchgedrungen sei."
Willibald Alexis schildert uns, daß Hegel und seine Schüler an Saphirs „Berliner Schnellpost für Literatur, Theater und Geselligkeit" mitarbeiteten. Hegel habe sich Saphirs — „dieser Karikatur der Zeit" — bedient, u m dadurch für seine Zwecke zu wirken: „Während dieses tollen Theaterjubels, der als Champagner schäum über unserer sozialen B i l d u n g petillierte, organisierte Hegel i n der Stille sein geistiges Regiment, welches, auch w e n n es ganz zersplittern sollte, schon u m seiner Strategie u n d T a k t i k w i l l e n ewig m e r k w ü r d i g bleibt. Der große P h i l o soph w a r noch ein v i e l größerer Feldherr, der seine Truppen aus Kantonen rekrutierte, w o andere Feldherrn k a u m ihren Troß herbeigezogen hätten. Er wußte alle K r ä f t e zu benutzen." (Berlin 1826 174 .)
Zwar zerfällt die Hegeische Philosophie alsbald nach seinem Tode. Haym kann von einer Ermattung der Philosophie überhaupt sprechen. Doch darf man gerade darin kein Anzeichen dafür sehen, daß Hegels Philosophie ein Berliner Strohfeuer geblieben sei. Wenn nämlich Hegel die Bearbeitung des Bewußtseins seiner Hörer und Leser als Untergrundarbeit zur Vorbereitung von politischen Taten angelegt hat, darf man die Spuren seines Wirkens und die Belege für die Wahrheit seiner Philosophie i n seiner M i t - und Nachwelt nicht so sehr bei den Theoretikern, sondern muß sie bei den Praktikern nach i h m suchen. Dazu wären auch zu zählen Lehrer an Schulen und Universitäten, Offiziere, Pastoren und Beamte. Es ist sogar zu erwarten, daß bloße Philosophen mangels Seelenverwandtschaft den weltanschaulich-politischen Pfiff der dialektischen Philosophie gar nicht mitbekommen und i n epigonale Frustrationsstimmung geraten, während das, was Hegel als seine M i t welt und Nachwelt ins Auge gefaßt hatte, sich „erst i n einiger Zeit" i n der praktischen Welt bemerkbar macht, — ohne daß die Handelnden sich dann auch nur bewußt sind, wes Geistes K i n d ihr Bewußtsein ist. Was nach Hegel zu t u n bleibt, ist nicht so sehr, weiterhin dialektisch zu philosophieren, sondern ein Reich zu bauen. Welche Fragen schon sehr f r ü h von Hörern Hegels diskutiert w u r den, dafür sei noch eine Briefstelle angeführt, weil sie nicht zuletzt zeigt, daß Hegels Philosophie nicht erst von Marx, sondern schon i n dessen Geburtsjahr 1818 i m Hinblick auf das „Was dann?" m i t der des Aristoteles verglichen wurde: „Eine interessante Frage wäre: was w i r d u n d muß (nach der inneren K o n sequenz) auf die Hegeische f ü r eine Philosophie folgen? Daub meinte zu m i r , keine mehr, es könne keine mehr folgen. Daraus ergäbe sich notwendig, daß die Religion i n i h r unumschränktes Herrscherrecht eintreten müßte. Wenn sie das täte! aber daran k a n n niemand glauben, w e r unsere Zeit sieht." 174
Hegel i n Berichten, S. 302.
6 Suhr
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3. K a p i t e l : Hegel — Ziel, Strategie, T a k t i k
— H e g e l a l l e r d i n g s g l a u b t e sehr w o h l d a r a n : daß d e r p h i l o s o p h i s c h e n E i n k e h r u n d Besinnung die religiös-weltanschauliche Erneuerung folgen würde. Der B r i e f fährt fort: „Was soll also werden? Da t u t sich eine schauerliche K l u f t auf, ein langer Schlaf gleich dem durch das M i t t e l a l t e r hindurch. Sollte es Hegel w i e dem Aristoteles gehen? sollte n u n auch i h m , w i e diesem Jahrhunderte lang nachgebetet werden? u n d i n der Tat, welche Ähnlichkeit zwischen Hegel u n d Aristoteles, dieselbe Präzision u n d Konsequenz, dieselbe selbstgenügsame K ü h n h e i t ; u n d auch n u r historisch betrachtet, steht Hegel w o h l ziemlich i n demselben Verhältnisse zur gesamten neueren Philosophie, w i e Aristoteles zur gesamten alten. Plato u n d Aristoteles: Schelling u n d Hegel, welche auffallende Ähnlichkeit! ich habe es gesagt, w e n n so etwas eintrifft, so erinnere Dich einmal daran." (Richard Rothe an seinen Vater aus Heidelberg 1 7 5 .)
3.5 Heinrich Heine E t w a z u d e r Z e i t , als H e g e l s R e c h t s p h i l o s o p h i e erscheint, t r i f f t i n B e r l i n auf Hegel auch Heinrich Heine, der hellhörige K r i t i k e r deutscher Z u s t ä n d e u n d spätere F r e u n d v o n K a r l M a r x . D i e s e r A u g e n - u n d Ohrenzeuge b e r i c h t e t 1 7 6 : Ich konnte leicht prophezeien, welche Lieder einst i n Deutschland gepfiffen u n d gezwitschert werden dürften, denn ich sah die Vögel ausbrüten, welche später die neuen S anges weisen anstimmten. Ich sah, w i e Hegel m i t seinem fast komisch ernsthaften Gesichte als Bruthenne auf den fatalen Eiern saß, u n d ich hörte sein Gackern.
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S. 176 f. Sämtl. Schriften V S. 196 f. — Ganz anders wertet die hier angeführten u n d weitere Stellen D. Sternb erger, Heinrich Heine u n d die A b schaffung der Sünde, H a m b u r g u n d Düsseldorf 1972, S. 271 ff.: Erst nach Anregung durch M a r x habe Heine rückblickend Revolutionäres i n Hegel hineingesehen. Dem widerspricht, daß Engels berichtet, der Mann, welcher schon 1833 gewußt habe, daß i n der deutschen Philosophie u n d insbesondere i n der Hegeischen die Revolution angelegt gewesen sei, habe „allerdings Heinrich Heine" gehießen (unten A n m . 354). Sternberger meint unter Berufung auf weitere Stimmen, Hegel werde bei Heine nicht unter den deutschen Revolutionären i m Philosophenkleid beim Namen genannt. U n d ob er beim Namen genannt w i r d ! A l s größerer Denker nach Schelling trete Hegel auf, welcher „die Naturphilosophie (!) zu einem vollendeten System ausbildet". U n d die „Naturphilosophen" wiederum werden i m gleichen Zusammenhang nach den pietätlosen K a n t i a n e r n u n d nach den furchtlosen Fichteanern als die noch schrecklicheren unter den zur Tat schreitenden Philosophen vorgeführt. Hier ist Hegels Philosophie f ü r Heine Naturphilosophie, — so w i e sie f ü r i h n auch Pantheismus ist bei der Schilderung eines lupenrein Hegeischen G o t t - W e l t - A l l s : „ G o t t ist identisch m i t der Welt . . . Jedes V o l k hat vielleicht die Sendung, einen bestimmten T e i l jenes G o t t - W e l t - A l l s zu erkennen und k u n d zu geben . . . V o n der ganzen Menschheit k a n n m a n m i t Recht sagen, sie sei eine I n k a r n a t i o n Gottes! . . . Diese Religion, der Pantheismus . . . " (Heine, Sämmtliche Schriften I I I S. 633/4, 638 f., 571 f.; auch V S. 498/9). 176
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3.5 Heinrich Heine 177
W i r haben jetzt Mönche des Atheismus, die Herrn Voltaire lebendig braten würden, w e i l er ein verstockter Deist sei. Ich muß gestehen, diese Musik gefällt m i r nicht, aber sie erschreckt mich auch nicht, denn ich habe hinter dem Maestro gestanden, als er sie komponierte, freilich i n sehr undeutlichen und verschnörkelten Zeichen, damit sie nicht jeder entziffre . . . Er liebte mich sehr, denn er w a r sicher, daß ich i h n nicht verriet; ich hielt i h n damals sogar für servil. Als ich einst unmutig w a r über das Wort: „Alles, was ist, ist vernünftig", lächelte er sonderbar u n d bemerkte: „Es könnte auch heißen: ,Alles, was vernünftig ist, muß sein'." Er sah sich hastig um, beruhigte sich aber bald, denn nur Heinrich Beer hatte das Wort gehört. Später erst verstand ich solche Redensarten. So verstand ich auch erst spät, warum er i n der Philosophie der Geschichte behauptet hatte: das Christent u m sei schon deshalb ein Fortschritt, w e i l es einen Gott lehre, der gestorben, während die heidnischen Götter von keinem Tode etwas wußten. Welch ein Fortschritt ist es also, wenn der Gott gar nicht existiert hat! W i r standen einst des Abends am Fenster, und ich schwärmte über die Sterne, den Aufenthalt der Seligen. Der Meister aber brümmelte vor sich hin: „Die Sterne sind ein leuchtender Aussatz am Himmel." — „ U m Gottes willen", rief ich, „es gibt also droben kein glückliches Lokal, u m die Tugend nach dem Tode zu belohnen?" Er sah mich spöttisch an: „Sie wollen also noch ein Trinkgeld dafür haben, daß Sie i m Leben Ihre Schuldigkeit getan, daß Sie Ihre kranke Mutter gepflegt, daß Sie Ihren Bruder nicht verhungern ließen und Ihren Feinden kein Gift gaben."
Eine fast gleiche Fensterszene hat Heine Lassalle erzählt, der davon berichtet: „Heine gestand ein, von der Hegeischen Philosophie nichts begriffen zu haben: dennoch sei er immer überzeugt gewesen, daß diese Lehre den wahren geistigen Kulminationspunkt der Zeit bilde . . . Eines Abends habe er, wie so häufig, als er i n Berlin studierte, Hegel besucht . . . " Es folgt die Szene, i n welcher Heine über den Sternenhimmel und über die göttliche Liebe und Allmacht, die darin ergossen sei, phantasiert u n d dann plötzlich Hegel hört: „,Die Sterne sind's nicht; doch was der Mensch hineinlegt, das eben ist's!' . . . Von diesem Moment ab habe er (Heine) gewußt, . . . daß i n diesem Manne, so undurchdringlich dessen Lehre für ihn sei, der Puls des Jahrhunderts zittere. Er habe den Eindruck dieser Szene nie verloren; u n d so oft er an Hegel denke, trete i h m dieselbe Erscheinung stets i n Erinnerung 1 7 8 ."
Mag auch Hegels Philosophie Heine mehr oder weniger verschlossen geblieben sein; — an den Abenden bei Hegel, seinem „großen Lehrer", dürfte dieser i h m manches U r t e i l über geistige und politische Entwicklungen i n Deutschland mitgeteilt haben, aus denen Heine sein Hegelb i l d zusammenfügen konnte. 177 Vgl. Bruno Bauer / Arnold Rüge, Hegels Lehre von Religion und Kunst, Leipzig 1842, S. 100: „Voltaire empfindet noch die erste Hitze . . . des Hasses und wütet . . . , Hegel dagegen macht die Sache i n aller Seelenruhe gewöhnlich m i t einer philosophischen Kategorie ab, seine Vergehen kosten i h n nicht mehr Mühe als wenn er ein Glas Wasser tränke." 178 Hegel i n Berichten, S. 235 f.
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3. Kapitel : Hegel — Ziel, Strategie, Taktik
Die Prophezeiungen, die Heine meint, stehen insbesondere i n dem bekannten Schlußabschnitt seiner Schrift über „Religion und Philosophie i n Deutschland". Sie sind, wie alle großen Orakel, so inhaltsreich lind offen zugleich, daß man sich ihrer 1870/71 ebenso erinnern mußte wie während der beiden Weltkriege. Sie waren der Zensur von 1834/1835 verdächtig genug, u m sie aus der ersten Auflage der Schrift zu tilgen. U m das B i l d abzurunden, wäre es nützlich, hier genauer wiederzugeben, was Heine „Über Deutschland" aus seiner Sicht zu berichten wußte, doch das würde hier den Rahmen sprengen. Aber einige Kostproben 1 7 9 , die auch i m Hinblick auf M a r x bedeutsam sind, seien hier noch wiedergegeben für die Leser, die ihnen nicht schon begegnet sind und keinen Heine zur Hand haben: „Das Wissen w i r d Wort, u n d das W o r t w i r d Tat." „Die deutsche Philosophie ist eine wichtige das ganze Menschengeschlecht betreffende Angelegenheit, u n d erst die spätesten E n k e l werden darüber entscheiden können, ob w i r dafür zu tadeln oder zu loben sind, daß w i r erst unsere Philosophie u n d hernach unsere Revolution ausarbeiten. Mich dünkt, ein methodisches V o l k w i e w i r , mußte m i t der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich m i t der Philosophie beschäftigen, u n d durfte erst nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen. Diese Ordnung finde ich ganz vernünftig. Die Köpfe, welche die Philosophie zum Nachdenken benutzt hat, k a n n die Revolution nachher zu beliebigen Zwecken abschlagen. Die Philosophie hätte aber nimmermehr die Köpfe gebrauchen können, die von der Revolution, w e n n diese i h r vorherging, abgeschlagen worden wären . . „Lächelt nicht über meinen Rat, den Rat eines Träumers, der Euch vor Kantianern, Fichteanern u n d Naturphilosophen warnt. Lächelt nicht über den Phantasten, der i m Reiche der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die i m Gebiete des Geistes stattgefunden. Der Gedanke geht der Tat voraus, w i e der B l i t z dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher u n d ist nicht sehr gelenkig, u n d k o m m t etwas langsam herangerollt; aber kommen w i r d er, u n d w e n n I h r es einst krachen hört, w i e es noch niemals i n der Weltgeschichte gekracht hat, so w i ß t : der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht."
Heine g i b t 1 8 0 uns schließlich auch noch eine persönliche Einschätzung von Hegel und seiner Philosophie, an der nicht zuletzt ein Charakterzug Hegels bemerkenswert ist, den auch andere Zeitgenossen beobachtet haben 1 8 1 und den Hegel selbst stets erstrebt hat: Ausgeglichenheit und Heiterkeit bei der Arbeit (auf die es hier deshalb ankommt, weil nicht ausgeschlossen ist, daß die persönliche Ausgewogenheit oder Zerrissenheit sich im Werk spiegelt und i m Zuge der „Verwirklichung" der Philosophie zu einer ausgewogenen oder zerrissenen Gesellschaft 179 180 181
Heine, Sämmtl. Schriften I I I , S. 401, 638, 640; s. a. V S. 498, 928. S. 633. Vgl. Briefe I 314; Hegel i n Berichten, S. 250.
3.5 Heinrich Heine
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führt, so wie umgekehrt eine unausgewogene Gesellschaftsordnung sich i n verklemmtem Bewußtsein zu spiegeln pflegt). „ . . . der große Hegel, der größte Philosoph, den Deutschland seit Leibniz erzeugt hat. Es ist keine Frage, daß er K a n t u n d Fichte w e i t überragt. E r ist scharf wie jener u n d k r ä f t i g w i e dieser, u n d hat dabei noch einen konstituierenden Seelenfrieden, eine Gedankenharmonie, die w i r bei K a n t u n d Fichte nicht finden, da i n diesen mehr der revolutionäre Geist waltet. D i e sen M a n n m i t H e r r n Joseph Schelling zu vergleichen, ist gar nicht möglich; denn Hegel w a r ein M a n n von Charakter. U n d w e n n er auch, gleich H e r r n Schelling, dem bestehenden i n Staat u n d Kirche einige allzubedenkliche Rechtfertigungen verlieh, so geschah dieses doch f ü r einen Staat, der dem Prinzip des Fortschritts wenigstens i n der Theorie huldigt, u n d f ü r eine Kirche, die das Prinzip der freien Forschung als i h r Lebenselement betrachtet; u n d er machte daraus kein Hehl, er w a r aller seiner Absichten eingeständig."
Bei Heines Bemühungen, seinen Lesern einzuschärfen, daß die Tat ein K i n d des Wortes sei 1 8 2 , überrascht es am Ende auch nicht mehr, wenn er seinen Lesern (wie Hegel vor i h m seinen Hörern) noch bewußt machen möchte, Aristoteles habe nicht n u r philosophische Werke verfaßt, sondern auch einen Alexander erzogen. Heine wundert sich, daß Aristoteles uns keine nähere Kunde über den Jünglingskönig hinterlassen habe, desto bessere aber über „babylonische Meerkatzen, indische Papageien und griechische Tragödien". „ A b e r die große Bestie, die er a m nächsten vor Augen hatte, die er selber auferzogen, u n d die w e i t merkwürdiger war, als die ganze damalige W e l t menagerie, hat er leider übersehen u n d unerforscht gelassen 183 ."
Auch Hegel hat es unterlassen, diejenigen „Vögel" zu untersuchen und über sie zu berichten, die er „ausbrütete" und welche „später die neuen Sangesweisen anstimmten". Hegel liebte Heine vielmehr gerade deshalb, w e i l er sicher war, von diesem nicht verraten zu werden. Solche Verschwiegenheit und Doppeldeutigkeit wiederum w a r Hegel schon an Aristoteles aufgefallen: Als Alexander seinem Lehrer eines Tages vorgeworfen habe, daß er, Aristoteles, nicht hätte bekannt machen sollen, was sie miteinander getrieben hätten, habe Aristoteles i h n beruhigt, „daß es ebensowohl bekanntgemacht als nach wie vor nicht bekanntgemacht sei" 1 8 4 . Dies wiederum ist einem Hegel aufgefallen, der schon i n anderem Zusammenhang festgestellt hatte, daß man, u m einen anderen Menschen nachzuerleben und nachzumachen —, daß man, „ u m ein guter Nachahmer zu sein, selbst ein Stück vom Original sein m u ß " 1 8 5 . 182 183 184 185
Heine, a.a.O., S. 395. S. 560. Glockner 18, 303 = Werke 19,137. Nohl S. 58 = Werke 1, 83; siehe oben bei A n m . 149.
. Kapitel Hegels Staatsphilosophie und die List der Dialektik „Ich war begierig, was der gute Hegel hier für einen Eindruck machen würde. Es spricht niemand von ihm, denn er ist still und fleißig." Das ist der erste Eindruck Solgers alsbald nach dem Eintreffen von Hegel i n B e r l i n 1 8 6 . Bei jedem dümmsten Nachbeter, bemerkte er noch, wäre mehr L ä r m geschlagen worden. — Anderthalb Jahre später kann die Rechtsphilosophie endlich i n Druck gehen, nachdem Rücksichten auf die Zensur bewirkt hatten, daß der Termin u m etwa ein Jahr hinausgeschoben wurde. „ I c h wollte eben anfangen drucken zu lassen, als die Bundestagsbeschlüsse ankamen. Da w i r jetzt (wissen), w o r a n w i r m i t unserer Zensurfreiheit sind, werde ich (sie) jetzt nächstens i n Druck geben." ( A n Creuzer, Berlin, 30. Oktober 1819 187 .)
Die Vorrede trägt das Datum des 25. Juni 1820. Diese Vorrede ist stärker als das Werk selbst wegen ihres angeblich reaktionären Gehaltes zum Scheidepunkt der Geister i n ihrem Urteil über Hegel geworden, — und sie hat ihn, wegen der Polemik gegen Äußerungen von Fries auf dem Wartburgfest vom 18. Oktober 1817, manches Wohlwollen gekostet. 4.1 Was vernünftig ist, das ist wirklich Mehr denn je muß Hegel jetzt den Weg i n die Isolierung vermeiden. A u f die Vernichtung des bestehenden Lebens auszugehen, ist nicht nur illusorisch, sondern muß, wenn es einige Wirkung haben würde, die Reaktion nur dadurch stärken, daß man ihr einen Widerstand bietet, an dem sie sich verjüngen und ihre Macht beweisen und stärken kann. Das heißt, daß Hegel nun i n die Gesellschaft eintauchen und ihr Leben mitmachen muß: als ansteckender Herd nicht der Entzweiung, sondern des Lebens, der Vernunft und der Versöhnung. Der Gedanke, sich so selbst i n das Bestehende „einzuimpfen" 1 8 8 , fällt i h m deshalb leicht, w e i l 186
Hegel i n Berichten, S. 189. Briefe I I 220. Dazu ausführlich Ilting i n seiner Edition, Bd. 1 S. 64 ff. 188 Z u Hegels Vorstellung, sich selbst i n einen Wirkungskreis „einzuimpfen", siehe Brief an Niethammer, M a i 1808, Briefe I 227. Vgl. auch Nohl S. 4 ( = Werke 1, 10): Etwas „auf ein Bedürfnis des menschlichen Geistes impfen". 187
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4.1 Was vernünftig ist, das ist w i r k l i c h
er o h n e h i n f ü r d i e a b s t r a k t e a u f k l ä r e r i s c h e F r e i h e i t k e i n W o h l w o l l e n e m p f i n d e t , w ä h r e n d es i h m a u f e i n p a a r B l ü m c h e n o d e r
Bändchen
m e h r i n d e n geschichtlichen K u l i s s e n d e r R e a k t i o n n i c h t a n k o m m t , sof e r n n u r d i e g r o ß e R i c h t u n g m i t d e m F e r n z i e l eines Reiches selbstb e w u ß t e r F r e i h e i t s t i m m t . So k a n n er o h n e große S e l b s t v e r l e u g n u n g seine s u b v e r s i v - k o n s t r u k t i v e Auch für
diese h a t e r Modelle
geistige M a u l w u r f t e c h n i k 1 8 9
anwenden.
i n anderem Zusammenhang
( K a m p f der A u f k l ä r u n g m i t dem Aberglauben) u n d w a r v o n
studiert einem
B i l d so angeregt, daß er entgegen seinen s c h r i f t s t e l l e r i s c h e n G e p f l o g e n h e i t e n e i n w ö r t l i c h e s Z i t a t a u f g e n o m m e n h a t 1 9 0 . Z u n ä c h s t h e i ß t es: „Die M i t t e i l u n g der reinen Einsicht (der Aufklärung) ist deswegen einer ruhigen Ausdehnung oder dem Verbreiten w i e eines Duftes i n der w i d e r standslosen Atmosphäre zu vergleichen. Sie ist eine durchdringende A n steckung, welche sich nicht vorher gegen das gleichgültige (in Gleichgültigkeit verharrende) Element, i n das sie sich insinuiert, als Entgegengesetzes bemerkbar macht, u n d daher nicht abgewehrt werden kann. Erst w e n n die Ansteckung sich verbreitet hat, ist sie (als bewußt gewordene Veränderung) für das Bewußtsein, das sich i h r unbesorgt überließ . . . Es ist i h r dies höchst vorteilhaft; denn sie vergeudet n u n nicht unnütz ihre K r a f t , noch zeigt sie sich ihres Wesens u n w ü r d i g . . . ein unsichtbarer u n d unbemerkter Geist, durchschleicht sie die edeln Teile durch u n d durch, u n d hat sich bald aller Eingeweide u n d Glieder des bewußtlosen Götzen gründlich b e m ä c h t i g t . . . " A n dieser Stelle w i r d Rameaus Neffe aus dem gleichnamigen W e r k v o n Diderot zitiert (soweit hier gesperrt): „Das Reich der N a t u r setzt sich ganz sachte fest, das Reich meiner D r e i einigkeit, gegen welche die Pforten der Hölle nichts vermögen. Das Wahre, das der Vater ist, der das Gute zeugt, das der Sohn ist, aus dem das Schöne hervorgeht, das der heilige Geist ist. Dieser fremde Gott setzt sich bescheiden auf den A l t a r an die Seite des Landesgötzen. Nach u n d nach gewinnt er Platz u n d an einem hübschen Morgen gibt er mit dem Ellenbogen seinem Kameraden einen Schub, und bauz! baradauzl der Götze liegt am Boden. u Hegel fährt fort: „— An einem schönen Morgen, dessen M i t t a g nicht b l u t i g ist, w e n n die Ansteckung alle Organe des geistigen Lebens durchdrungen hat . . . u n d die neue, f ü r die Anbetung erhöhte Schlange der Weisheit hat auf diese Weise n u r eine welke Haut schmerzlos abgestreift." Wohlgemerkt: Diese Sätze stammen aus einem Zusammenhang i n der Phänomenologie des Geistes (1807), der die A u f k l ä r u n g betrifft, die sich als „reine Einsicht" gegen i h r Entgegengesetztes, den (Aber-)Glauben, geltend macht u n d die, als Entgegengesetztes, eine „unterscheidende Bewegung" ist. Diese Entzweiung, die zunächst im Gedanken stattfindet, bricht dann auch i n der Wirklichkeit aus als gewaltsamer Kampf (Französische Revolution). 189 Z u m „ M a u l w u r f " Glockner 19, 685, 691 ( = Werke 20, 456, 462): „ A u f sein Drängen — w e n n der M a u l w u r f i m I n n e r n f o r t w ü h l t — haben w i r zu hören u n d i h m W i r k l i c h k e i t zu verschaffen." 190 Glockner 2, 418 f. = Werke 3, 402 f. — Einschübe i n K l a m m e r n von m i r .
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4. Kapitel: Staatsphilosophie und List der Dialektik
Dieses gewalttätige Ende aber resultiert daraus, daß m i t der Entzweiung begonnen wurde, w e n n auch unterschwellig, während Hegel sich dem Leben
zuwendet und mit der Versöhnung beginnt, um auf diese Weise das Reich der N a t u r zu befördern. D a n n entfällt, w e n n die Rechnung aufgeht, das gewaltsame Ende, aber die Technik der Bewußtseinsverschiebung bewährt sich dabei erst recht. Insofern dürfen die angeführten Zeilen aus ihrem K o n t e x t i n der Phänomenologie des Geistes hierher verpflanzt werden, u m eines der Veränderungsmodelle vorzuführen, m i t denen Hegel umgeht als ein Routinier der subversiven Innovation.
U m die Köpfe zu erreichen, i n denen der Geist der Nation wohnt bzw. demnächst wohnen wird, muß Hegel diesem Geist entgegenkommen, und zwar nicht arglistig, sondern aufrichtig und in der festen Überzeugung, daß das bestehende Leben nicht nur von Schranken durchsetzt ist, von Verknöchertem und Entzweitem, sondern daß darin auch Vernunft am Werke ist (klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben). Damit ist es Hegel ernst: „Wenn der Mensch einmal dahingekommen, daß er es nicht mehr besser weiß, als Andere, d.h. daß es i h m ganz gleichgültig ist, daß die anderen es schlecht gemacht haben, und i h n nur dies interessiert, was sie recht gemacht: dann ist Frieden und die Affirmation i n ihn eingetreten 1 9 1 ." Trotz des Dranges, sich gegen die Welt aufzubäumen, muß der Mensch in ihr die Vernunft suchen und durch Darstellung der Vernunft fördern. I n diesem seinem Drange zur Gegenwart des Menschen ist Hegel durch Goethe so sehr bestärkt worden, daß er später schreibt, es sei „die Gesundheit Euer Excellenz", die er bei jedem Experiment aus jenem Glase 1 9 2 trinke, das er von Goethe erhalten hatte, und (wiederum einige Jahre später) gegen Goethe bekennt: „ W e n n ich den Gang meiner geistigen E n t w i c k l u n g übersehe, sehe ich Sie überall darein verflochten u n d mag mich einen I h r e r Söhne nennen; mein Inneres hat gegen die Abstraktion Nahrung zu widerhaltender Stärke von I h n e n erhalten u n d an I h r e n Gebilden w i e an Fanalen seinen L a u f zurechtgerichtet 1 9 3 ."
Das erste Aufbäumen gegen die Welt (die Negation), mündet i n A b straktionen. Erst das zweite Aufbäumen gegen das eigene Aufbäumen (die Negation der Negation der Welt) zwingt den Blick wieder auf die Erde, — aber einen Blick, der nun nicht mehr dumpf i n der Gegenwart befangen ist, sondern nach dem Ausflug i n die doppelte Negation ein freieres Verhältnis zur Welt gewonnen hat. Die Erfahrung des zweifachen Aufbäumens ist nicht verloren. M i t der zweiten Negation stirbt nicht die Bewegung, welche die Negationen ins träge Bewußtsein ge191 192 193
Aphorismus, zitiert bei Rosenkranz Oben A n m . 133. Briefe I I I 83.
(oben A n m . 1), S. 556.
4.1 Was vernünftig ist, das ist wirklich
89
bracht haben. Aber es t r i t t ein entscheidender Wandel ein: Der Kampf, den der Mensch gegen den anderen und gegen die Welt führt, verwandelt sich i n einen Kampf, den d e r M e n s c h mit dem anderen und mit der Welt gegen sich selbst, sowie i n einen Kampf, den d i e W e l t mit dem Menschen und mit dem anderen gegen sich selbst 194 führt. So kann der Mensch die Welt bejahen, ohne vor sich und der Welt dazustehen, als sagte er „Ja und Amen" zum Existierenden. Es entsteht freilich leicht der Anschein, daß ein Mensch, der i n die wohlfeilen Lieder von der Schlechtheit der Welt nicht einstimmt, sich m i t dem Schlechten i n der Welt solidarisiere. Wer aber w i e Hegel die Erfahrung hinter sich hat, daß das Schlechte i n der Welt seinen guten Anteil auch i n ihm selbst hat, und wer aus dieser Erfahrung heraus seine Verdammungsurteile über die anderen zurückhält, u m an sich selbst und zunächst auf diesem Wege i n der Welt zu arbeiten, läßt sich durch das Ja zur Welt nicht täuschen, das auf dem Wege über die besonnenen Negationen erkämpft wurde. — Wenn — i n Hegels Augen — Jesus der scheiternden Erneuerung die Verklärung seiner Ideen folgen ließ und schließlich resignierte: „Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt", — so muß Hegel demgegenüber unerbittlich festhalten: „Das Reich der Vernunft ist von dieser Welt." Also lehrte er: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig." Damit aber auch derjenige Leser der Vorrede zur Rechtsphilosophie, der m i t Hegels Philosophie i m übrigen weniger vertraut ist, merke, welche epochale Bedeutung Hegel dieser Formel beimißt, läßt er sie unmittelbar (und eingerückt wie hier oben i m Text) folgender Feststellung über Plato folgen: „Dadurch . . . hat er sich als der große Geist bewiesen, daß eben das Prinzip, u m welches sich das Unterscheidende seiner Idee dreht, die Angel ist, u m welche die damals bevorstehende Umwälzung der Welt sich gedreht hat." (Hervorhebungen von mir.)
Dieser weltgeschichtlichen Bezugnahme läßt Hegel seine Formel folgen, die die Angel ist, u m welche die jetzt bevorstehende Umwälzung der Welt sich drehen wird. U m dieses Zeugnis des Hegeischen Selbstbewußtseins und Selbstvertrauens richtig zu begreifen, muß man z.B. den § 552 aus der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 194 Vgl. Hegel über Goethe: „ E r w i r d m i t allem fertig; ist er es doch m i t sich geworden, das w a r w o h l die größte Aufgabe, da die stärksten Gewalten." — Hegel i n Berichten, S. 419. Vgl. auch Ed. Ilting, Bd. 1 S. 191: „Stärke gegen mich selbst."
90
4. Kapitel : Staatsphilosophie und List der Dialektik
samt A n m e r k u n g 1 9 5 lesen, w o der gleiche Gedankengang ausführlicher dargestellt w i r d , insbesondere: „Plato war es nicht verliehen, dahin fortgehen zu können, zu sagen, daß, solange nicht die wahrhafte Religion i n der Welt hervortritt und i n den Staaten herrschend wird, so lange ist nicht das wahrhafte Prinzip des Staates i n die Wirklichkeit gekommen . . . N u r i n dem Prinzipe des sein Wesen wissenden, des an sich absolut freien und i n der Tätigkeit seines Befreiens seine Wirklichkeit habenden Geistes ist die absolute Möglichkeit und Notwendigkeit vorhanden, daß Staatsmacht, Religion und die Prinzipien der Philosophie in Eins zusammenfallen 19β, die Versöhnung der Wirklichkeit überhaupt m i t dem Geiste, des Staats m i t dem religiösen Gewissen, i n gleichen dem philosophischen Wissen sich vollbringt." (Hervorhebungen von mir.) D i e gleichen Gedanken, ohne Bezug z u Plato, Schlußparagraphen der Rechtsphilosophie.
kehren
wieder
im
U n m i t t e l b a r i m Anschluß a n die F o r m e l ü b e r die V e r n u n f t u n d die W i r k l i c h k e i t w i r d noch e i n m a l u n m i ß v e r s t ä n d l i c h k l a r g e s t e l l t , daß diese F o r m e l alles andere m e i n t als eine Festschreibung der K u l i s s e n u n d H ü l l e n des Lebens: „Darauf kommt es . . . an, i n dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen. Denn das Vernünftige, was synonym ist m i t der Idee, indem es i n seiner Wirklichkeit zugleich i n die äußere Existenz t r i t t , t r i t t i n einem unendlichen Reichtum von Formen, Erscheinungen und Gestaltungen hervor, und umzieht seinen K e r n m i t der bunten Rinde, i n welcher das Bewußtsein zunächst haust, welche der Begriff erst durchdringt, u m den inneren Puls zu finden und i h n dann ebenso i n den äußeren Gestaltungen noch schlagend zu fühlen. Die unendlich mannigfaltigen Verhältnisse aber, die sich i n dieser Äußerlichkeit . . . bilden, dieses unendliche Material und seine Regulierung, ist nicht Gegenstand der Philosophie . . . guten Rat darüber zu erteilen, kann sie sich ersparen." D e n „ i n n e r e n P u l s " f i n d e t der Leser i n den letzten P a r a g r a p h e n der Rechtsphilosophie, w e n n er sie zu lesen versteht. U n d was das W o r t „ w i r k l i c h " in der Formel von der Vernunft und der Wirklichkeit bedeutet: D a z u w e i s t H e g e l a l l e d i e j e n i g e n seiner Leser, die i h n n i c h t k e n n e n u n d seine L o g i k noch n i c h t i n der H a n d h a t t e n , nachdrücklich u n d ausdrücklich d a r a u f h i n , daß e r „ i n einer ausführlichen Logik auch die W i r k l i c h k e i t a b g e h a n d e l t " h a b e 1 9 7 . D o r t , v o n H e g e l draufgestoßen, f i n d e t der Leser d e n n auch d e n offenherzigen u n d u n m i ß v e r 195
Zusatz zu § 552 der Enzyklopädie. Glockner 10, 444 = Werke 10, 364. So hieß es schon sehr früh: „Die Idee von Gott mag noch so sublimiert werden, so bleibt immer das jüdische Prinzip der Entgegensetzimg des Gedankens gegen die Wirklichkeit, des Vernünftigen gegen das sinnliche, die Zerreißung des Lebens, ein toter Zusammenhang Gottes u n d der Welt . . . " . — Nohl S. 308 = Werke 1, 375. 197 Anmerkung zu § 6 der Enzyklopädie. 196
91
4.1 Was vernünftig ist, das ist w i r k l i c h
s t ä n d l i c h e n Schlüssel z u der F o r m e l , m i t w e l c h e r d e r Z e n s o r g l ä n z e n d irregeführt
w u r d e u n d über die Scharen v o n Hegellesern
gestolpert
sind: „Was w i r k l i c h ist, k a n n wirken; das, was es hervorbringt 198."
seine Wirklichkeit gibt etwas k u n d durch
H e g e l n i m m t das W o r t b e i m W o r t : „ W i r k l i c h k e i t "
i s t W i r Jc-lichkeit.
W e n n also das V e r n ü n f t i g e w i r k l i c h ist, so k a n n es w i r k e n , u n d es zeigt seine w i r k e n d e V e r n ü n f t i g k e i t d u r c h das, w a s es h e r v o r b r i n g t . O b w o h l H e g e l w e i ß , w i e v i e l schwerer es ist, feste G e d a n k e n i n F l ü s s i g k e i t z u b r i n g e n , als d i e s i n n l i c h e W i r k l i c h k e i t , u n d o b w o h l e r d i e Resistenz u n d H a r t n ä c k i g k e i t d e r a l t e n R e l i g i o n u n d i h r e r „ H e i l i g k e i t e n " k e n n t , h a n d e l t er b i s z u m Schluß i n d e m G l a u b e n , i h r e m Geiste „ e t w a s a n h a b e n " z u k ö n n e n . D e n n er w a r sicher, daß dies d e r e i n z i g l a n g f r i s t i g w i r k s a m e W e g d e r V e r ä n d e r u n g w a r u n d daß, w e n n dieser W e g scheiterte, a n d e r e W e g e erst recht scheitern m u ß t e n . W i e sehr es H e g e l u m die A n g e l g i n g , u m d i e die W e l t sich d r e h e n w ü r d e , u n d n i c h t u m d i e i n s t i t u t i o n e l l e n K u l i s s e n , zeigen auch f o l g e n d e Sätze aus d e r gleichen A n m e r k u n g i n d e r E n z y k l o p ä d i e : „Es ist n u r für eine Torheit neuerer Zeit zu achten, ein System verdorbener Sittlichkeit, (sowie) deren Staatsverfassung u n d Gesetzgebung ohne V e r änderung der Religion umzuändern, (oder auch) eine Revolution ohne eine Reformation gemacht zu haben, (—) zu meinen, m i t der alten Religion u n d ihren Heiligkeiten könne eine i h r entgegengesetzte Staatsverfassung Ruhe u n d Harmonie i n sich haben u n d durch äußere Garantien — ζ. B. sogenannter K a m m e r n u n d die ihnen gegebene Gewalt, den Finanzetat zu bestimmen . . . — den Gesetzen Stabilität verschafft werden. Es ist f ü r nicht mehr als für eine Nothilfe anzusehen, die Rechte u n d Gesetze v o n der Religion trennen zu wollen, bei vorhandener Ohnmacht, i n die Tiefen des religiösen Geistes hinabzusteigen u n d i h n selbst zu seiner Wahrheit zu erheben. Jene Garantien sind morsche Stützen gegen die Gewissen der Subjekte, welche die Gesetze, u n d darunter gehören die Garantien selbst, handhaben sollen; es ist dies vielmehr der höchste, der unheiligste Widerspruch, das religiöse Gewissen, dem die weltliche Gesetzgebung ein Unheiliges ist, an diese binden u n d i h r unterwerfen zu wollen . . . " „Es hälfe nichts, daß die Gesetze u n d Staatsordnung zur vernünftigen Rechtsorganisation umgeschaffen würden, w e n n nicht i n der Religion das Prinzip der Unfreiheit aufgegeben w i r d . Beides ist unverträglich m i t e i n ander; es ist eine törichte Vorstellung, ihnen ein getrenntes Gebiet anweisen zu wollen, i n der Meinung, ihre Verschiedenheit werde sich gegenseitig r u h i g verhalten u n d nicht zum Widerspruch u n d K a m p f ausschlagen." Daß H e g e l seine G e g e n w a r t einschließlich d e r preußischen nicht f ü r das G l ü c k a u f E r d e n h ä l t , das p h i l o s o p h i s c h r a t i f i z i e r t u n d festge198 Logik, Zweites Buch. Glockner oben bei A n m . 141.
4, 686 = Werke 6, 208. Dazu siehe auch
92
4. Kapitel : Staatsphilosophie und List der Dialektik
schrieben werden müßte, — daß vielmehr für tatendurstige Männer viel zu t u n blieb, läßt sich kaum anschaulicher und lebendiger verdeutlichen als m i t seinem düster-hoffnungsreichen B i l d von der Rose im Kreuze der Gegenwart, das Hegel i n der Vorrede zur Rechtsphilosophie verwendet: „Die Vernunft als die Rose i m Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung m i t der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist, zu begreifen.
Das ist „ein dunkles Wort, welches man nicht anführt, w e i l man es nicht versteht; es besagt die Nichtidentität zwischen Vernunft und Wirklichkeit, während man jenes frühere Wort von der Identität zwischen Vern u n f t u n d Wirklichkeit so oft anführt und verschrieen hat, stets i n falschem u n d mißverstandenstem S i n n " 1 9 9 . Genau genommen besagt das B i l d von der Rose i m K r e u z 2 0 0 allerdings nicht die Nichtidentität von Vernunft und Wirklichkeit, sondern dies: Es ist vernünftig, wenn die Wirklichkeit in sich widersprüchlich, in sich nicht-identisch ist. Gerade darin, daß die Wirklichkeit in sich entzweit, in sich ein Widerspruch ist, ist die Vernunft am Werke. Dies Zerrissensein, worunter der Mensch ächzt als unter seinem Kreuz, ist der Boden, auf dem die Rose wächst; eine Rose freilich, die allen verborgen bleibt, welche die dialektische Rolle des Widerspruches nicht erkennen u n d welche sich dagegen wehren, die Gegenwart u n d ihre Last als den Boden anzuerkennen und zu wollen, der fruchtbar ist, w e i l er aufgerissen ist. I n einer solchen Gegenwart h i l f t kein Basteln u n d Flicken, — „keine Halbheit, die das Erkennen i n eine Annäherung zur Wahrheit setzt". (Vorrede). Vielmehr muß der Riß selbst stillschweigend durch philosophische Erkenntnis bejaht werden, und zwar nach der gleichen Logik, die ζ. B. i n diesem Aphorismus steckt: „ E i n geflickter Strumpf (ist) besser als ein zerrissener; nicht so das Selbstbewußsein 2 0 1 ."
Ein geflickter Strumpf w i r d weitergetragen u n d weitergeflickt. Ein zerrissener w i r d erneuert. So ergeht es dem Selbstbewußtsein. U n d so ergeht es anderen „Hüllen", „Krusten" und „Rinden" unter dem Druck 199
Fischer, Hegels Leben I, S. 146 (und dazu I I , S. 1240). Hierzu: G. Lasson, Rose u n d Kreuz — Ein Interpretationsversuch, Beiträge zur Hegelforschung 1909, S. 43 - 70, sowie die dort (1910, S. 49) angeführte Parallelstelle ( = Glockner 20, 448 = Werke 2, 578); K . Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1969, S. 28 ff. — Vgl. auch ζ. B. schon die V o r stellungen i n den ersten Sätzen des Leben Jesu: „Schwacher Schimmer" der Vernunft i n einer noch nie gänzlich hereingebrochenen „Finsternis" (Nohl S. 75). Außerdem J. D'Hondt, oben Vorbemerkungen Anm. 5 (1972), S. 268 ff. 201 w e r k e 2, 558. 200
4.1 Was vernünftig ist, das ist wirklich
93
des inneren Pulses des Lebens. Das ist das Spiel, das die dialektische Wirklichkeit und Hegel m i t i h r nach den Gesetzen der dialektischen Logik treibt. I n Hegels Logik w i r d man daher Hegels Botschaft am klarsten und reinsten finden. Wenn irgendwo Zweifelsfragen über „Anpassungen" Hegels i n seiner Staatsphilosophie auftreten, so w i r d man auf die Geschichtsphilosophie zurückgehen. Bleiben hier noch Zweifel, auf die Logik: „Die Logik ist . . . die Wahrheit, wie sie ohne Hüllen an und für sich ist 2 0 2 ." Nach allem fällt es nun nicht mehr schwer, den Sinn der Sätze zu begreifen, die Hegel i n der Vorrede zur Rechtsphilosophie über die Aufgabe formuliert, an der er schon i n seiner Jugend gearbeitet hatte. „So soll denn diese Abhandlung, insofern sie die Staatswissenschaft enthält 20*, nichts anderes sein als der Versuch, den Staat als ein in sich Ver-
nünftiges zu begreifen
und darzustellen.
Als philosophische Schrift muß sie
am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen; die Belehrung, die i n i h r liegen kann, k a n n nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, w i e er sein soll, sondern vielmehr, w i e er, das sittliche Universum, erkannt werden soll."
Es ist das gleiche Motiv, das i n der Reinschrift der Einleitung zur Verfassungsschrift formuliert wurde. Nunmehr w i r d der Vorsatz, nur zu erkennen, was ist, äußerlich durchgehalten. Der kritische Teil der Verfassungsschrift hatte sich dadurch i n der Hauptsache erledigt, daß das Reich, dem er galt, ohnehin verschwunden war. Die spätere Staatsphilosophie liefert den affirmativen Teil gewissermaßen nach. Die Verfassungsschrift hatte m i t dem Ruf nach einem m i t Macht gerüsteten Messias geendet, der die Deutschen i n ein politisches Gehgestell zwingen sollte, u m sie daran zu gewöhnen, sich zu Deutschland gehörig zu betrachten. Dieser Messias ist für Hegel gestorben. Hegel hoffte nicht (mehr) auf Wunder, sondern arbeitete selbst. „Wer, was seine Zeit w i l l , ausspricht, i h r sagt und vollbringt, ist der große Mann der Zeit. Er tut, was das Innere und Wesen der Zeit ist, verwirklicht sie 2 0 4 ." — Hielt Hegel sich dazu berufen? „Der eine k l ä r t das Zeitalter auf, der andere empfindet es i n Sonetten h i n auf, erzieht es auf, reflectiert, schaut es hinauf. Das Zeitalter ist f ü r jeden der truncus ficulnus, aus dessen Ganzem jeder einen M e r k u r fabriciren w i l l ; aber der Teufel f ü h r t i h m unter den Händen den truncus, oder, u m i n ein ander Gleichnis überzugehen, den Montblancgranit weg u n d läßt i h m 202
Einl. zur Logik. Glockner 4, 45/6 = Werke 5, 44. Die ausdrückliche Einschränkung bestimmter Partien der Vorrede auf die Staatswissenschaft (insoweit v o n m i r hervorgehoben) ist w o h l bewußt gemacht worden. Hegel hat nicht gedankenlos schriftlich dahergeschwätzt. 204 Rechtsphilosophie, Zusatz zu § 318: Werke 7, 486. 203
94
4. K a p i t e l : Staatsphilosophie u n d L i s t der D i a l e k t i k
n u r ein Splitterchen oder Körnchen, so daß, w e n n er sein fertiges Werk n u n mehr bei Licht besieht, er ein verdammt kleines Merkürchen hervorgebracht hat, u n d nicht genug über Schlechtigkeit der Zeit u n d des Teufels schimpfen kann, so daß eine Menge von Zeitälterchen herumlaufen, die alle anders schildern: Salzmännisches, Campesches, Kuhpockenzeitälterchen; — " Was also t u n m i t dem Zeitalter an Hegels Stelle? „— es abklären, daß es reiner klarer Ä t h e r werde, aus dem frei die Sterngestalten i n ewiger Sonnenschönheit i n der M i t t e herausspringen 2 0 5 ." D a s M e d i u m , i n d e m d i e A b k l ä r u n g s t a t t f i n d e t , i s t das Hegels P h i l o s o p h i e i s t Bewußtseinsphilosophie:
Bewußtsein.
„Das Bewußtsein des Geistes ist jetzt wesentlich das Fundament, u n d die Herrschaft ist dadurch der Philosophie geworden. M a n hat gesagt, die französische Revolution sei von der Philosophie ausgegangen, u n d nicht ohne G r u n d hat m a n die Philosophie Weltweisheit genannt, denn sie ist nicht nur die Wahrheit an u n d f ü r sich, als reine Wesenheit, sondern auch die Wahrheit, insofern sie in der Wirklichkeit lebendig wird 206 " A b e r d i e P h i l o s o p h i e , d i e d e r Französischen Revolution vorausging, w a r „ n u r a b s t r a k t e s D e n k e n " , n i c h t , w i e Hegels P h i l o s o p h i e , „ k o n k r e t e s B e g r e i f e n d e r a b s o l u t e n W a h r h e i t " . Hegels D e n k e n „ h a t es m i t d e r W i r k l i c h k e i t z u t u n " — m i t dem, w a s wirkt — „ u n d i s t eine G e w a l t gegen das Bestehende g e w o r d e n , u n d diese G e w a l t i s t die Revolution überhaupt" 207. So v i e l H e g e l n u n d e r g e i s t i g e n A r b e i t der B e w u ß t s e i n s f o r m u n g z u t r a u t , so g e r i n g schätzt er d i e n i c h t d u r c h B e w u ß t s e i n s v o r b e r e i t u n g e r ü b r i g t e o d e r w e n i g s t e n s gesicherte G e w a l t . H i e ß es früher (1807 a n Niethammer)208: „Die deutschen Staatsrechtslehrer unterlassen nicht, eine Menge Schriften über den Begriff der Souveränität u n d den S i n n der Bundesakte zu schreiben. Der große Staatsrechtslehrer sitzt i n Paris . . . Die deutschen Fürsten haben den Begriff einer freien Monarchie noch nicht gefaßt, noch seine Realisierung versucht — Napoleon w i r d dies alles zu organisieren haben." So h e i ß t es jetzt i n d e n V o r l e s u n g e n ü b e r P h i l o s o p h i e d e r Geschichte: „Keine größeren Siege sind j e gesiegt, keine genie volleren Züge j e aufgef ü h r t worden; aber auch nie ist die Ohnmacht des Sieges i n einem helleren Lichte erschienen als damals. Die Gesinnung der Völker, d. h. ihre religiöse u n d ihre Nationalität, hat endlich diesen Koloß gestürzt .... Denn es ist ein falsches Prinzip, daß die Fesseln des Rechts u n d der Freiheit ohne Befreiung des Gewissens abgestreift werden, daß eine Revolution ohne eine Reformat i o n sein könne . . . Äußere Übermacht vermag nichts auf die Dauer: N a 205
Aphorismus, Werke 2, 567. 2oe Vorlesungen . . . (oben A n m . 112) S. 924 = Glockner 527 f. 207 208
a.a.O. Briefe I 185.
11, 556 = Werke 12,
4.1 Was vernünftig ist, das ist wirklich
95
poleon hat Spanien sowenig zur Freiheit als Philipp I I . Holland zur Knechtschaft zwingen können 2 0 9 ."
Hegel wußte nicht, daß der große, von i h m so bewunderte und schließlich unterlegene Mann i n der Verbannung fast zur gleichen Zeit formulierte 2 1 0 : „Es gibt n u r zwei Mächte i n der W e l t : den Säbel u n d den Geist. A u f die Dauer w i r d der Säbel immer v o m Geist besiegt."
Heute freilich würde man dazu neigen, sogleich die Frage anzuschließen: Und wie steht es m i t der Macht der Ökonomie über den Geist? — wie m i t der Macht des Geistes über die Ökonomie? M a r x jedenfalls muß der Macht seiner Worte und seines dahinter stehenden Geistes schon einiges zugetraut haben, wenn er überzeugt war, bei einer weltgeschichtlichen Revolution und Epoche Geburtshilfe leisten zu können. Hätte er seinen Worten weniger und der Tat mehr zugetraut, hätte man i h n häufiger auf den Barrikaden und seltener hinter Büchern und Papier finden müssen. Doch führen diese Fragen von Hegel ab, für den jedenfalls ohne strategische, operative Eingriffe ins Bewußtsein und dessen Organisation keine nachhaltige Umwälzung i n Richtung auf wirkliche Freiheit und wirkliche Selbständigkeit der Menschen zu bewerkstelligen war. Hegel durchschaute die reißerischen Parolen und die bunte Rinde der Institutionen und suchte die konkrete Vernünftigkeit, die sich i n der täglichen Staatspraxis unabhängig von dem Wechsel von der monarchischen zur republikanischen Verfassung zeigte. So gelang es i h m — uns heute nicht unbedingt i n allen Punkten nachvollziehbar, — ganz bestimmte Gründe dafür anzugeben, w a r u m die Aufklärung i n Deutschland nicht m i t gleicher Brisanz w i e i n Frankreich sich i n einer Revolution entlud: Hier habe die vorhergegangene religiös-geistige Revolution, die Reformation, schon dafür gesorgt, daß „das unsägliche Unrecht, das aus der Einmischung der geistlichen Gewalt i n das weltliche Recht entsteht", abgeschafft worden sei 2 1 1 . Deshalb ist es unzulässig, Hegels berühmte Formulierung: „Wo aber die Freiheit der evangelischen Kirche herrscht, da ist Ruhe 2 1 2 ," nur i n dem Sinne zu verstehen, als plädiere Hegel für eine A r t reaktionärer Kirchhofsruhe. Was dieser 209
Glockner 11, 562 = Werke 12, 533/4. Z i t i e r t nach Friedrich Sieburg, Napoleon. Die hundert Tage, 8. A u f l . 1962, S. 419. M e i n Versuch, diesen Satz i n den Memoiren oder Gesprächen genauer nachzuweisen, führte zwar auf einige ähnliche u n d viele hier insbesondere i m Hinblick auf die politische Einschätzung der Religion interessante Stellen, blieb aber erfolglos. 210
211
Glockner 11, 554 ff. ( = Werke 12, 526 ff.).
212 Vorlesungen . . . (oben A n m . 112), S. 925 (bei Glockner u n d i n den „ W e r ken" nicht abgedruckt).
96
4. Kapitel: Staatsphilosophie und List der Dialektik
Satz beschreibt, ist für Hegel vielmehr ein geschichtlich vorgefundener Beleg für seine revolutionäre Erkenntnis, daß gründliche geistige Bewußtseinsarbeit m i t weniger Aufwand schneller und nachhaltiger vorwärts bringt als Gewaltanwendung ohne kritisch-affirmative Bewußtseins Verschiebung: Was der Geist sich zu eigen gemacht hat, das ist als Gewalt überflüssig. Fast spöttisch zeichnet Hegel den Kontrast: A u f der einen Seite die nachhaltige Wirkung der reformatorischen Bewußtseinsarbeit (der „innere Puls" gewissermaßen), auf der anderen Seite der Leerlauf der Revolutionen i m Gefolge der Französischen, bei denen die Haupterscheinung der Umsturz und die Wiederaufrichtung der Throne gewesen sei (die „bunte Rinde"). Gleichwohl denkt Hegel durchaus nicht gering von der Französischen Revolution, und er versäumte bekanntlich in keinem Jahr, auf die Erstürmung der Bastille zu trinken, — gelegentlich zur Überraschung seiner verdutzten Begleiter, wenn diese sich des Datums nicht bewußt waren 2 1 3 . Aber das Weltwendende an diesem Ereignis w a r für i h n nicht der gewaltsame Sturm auf die Festung, sondern die Tatsache, daß das bestehende Leben und Unrecht mit beginnendem Bewußtsein zum schamlosen Unrecht wurde und auf diese Weise erst die tatendurstige Idee des Rechts sowie einer besseren Verfassung produzierte: „Der Gedanke, der Begriff des Rechts machte sich n u n . . . m i t einem Male geltend, u n d dagegen konnte das alte Gerüste des Unrechts keinen Widerstand leisten. I m Gedanken des Rechts ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden, u n d auf diesem G r u n d sollte alles stehen. Solange die Sonne am Firmamente steht u n d die Planeten u m sie herumkreisen, w a r das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist, auf den Gedanken stellt u n d die W i r k l i c h k e i t nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß der νου ς die Welt regiert; n u n aber erst ist der Mensch dazu gekommen, zu erkennen, daß der Gedanke die geistige W i r k l i c h k e i t regieren sollte. Es w a r dies ein herrlicher Sonnenaufgang. A l l e denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene R ü h r u n g hat i n jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur w i r k l i c h e n Versöhnung des Göttlichen m i t der Welt n u n erst gekommen214."
Die Revolution führte nicht zur Versöhnung des Geistigen und Weltlichen, w e i l das aufklärerische Prinzip, nach dem sie letztlich angetreten war, i n Hegels Augen nur eine abstrakte Negation des (Aber-) Glaubens war, die den Stempel dieser bloß abstrakten Verneinung eines abstrakten Prinzips auch bei ihrer Verwirklichung auf der Stirn behielt. Die Regierung ging, wie Hegel sagt, nur der Theorie nach ans Volk, i n der Sache (konkret) aber an den Nationalkonvent und dessen 213 214
Hegel i n Berichten, S. 299. Glockner 11, 557/8 ( = Werke 12, 529).
4.2 Vernünftiger Staat und Deutschtümelei
97
Komitees, und es handelte sich nur darum, welche Partei die Regierung an sich reißen würde. „ D a m i t hängen auch alle anderen Erscheinungen zusammen. Es herrschen m m die abstrakten Prinzipien der Freiheit und, w i e diese i m (bloß) subj e k t i v e n W i l l e n ist: der Tugend . . . Die Tugend ist hier ein einfaches Prinzip u n d unterscheidet n u r solche, die i n der Gesinnung sind u n d solche, die es nicht sind (wie bei der negierten Religion). Die Gesinnung k a n n n u r von der Gesinnung erkannt u n d beurteilt werden. Es herrscht somit der Verdacht; die Tugend aber, sobald sie verdächtig w i r d , ist schon v e r u r t e i l t . . . Der Verdacht erhielt eine fürchterliche Gewalt u n d brachte den Monarchen aufs Schafott, (weil) dessen subjektiver W i l l e eben das katholisch-religiöse Gewissen war. Es herrschen also jetzt die Tugend u n d der Schrecken . . . 2 1 5 . "
Diese Tyrannei überlebte sich selbst, das Direktorium verging und schließlich mußte auch Napoleon samt den Verfassungen, die er gebracht hatte, der konstitutionellen Monarchie weichen. „So haben sich die Menschen praktisch an die W i r k l i c h k e i t gewendet. Sosehr die Freiheit i n sich konkret ist, so w u r d e sie doch unentwickelt i n ihrer Abstraktion an die W i r k l i c h k e i t gewendet; u n d Abstraktionen in der Wirk-
lichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit
zerstören
21β
."
4.2 Vernünftiger Staat und Deutschtümelei Die Schrecken der Revolution und die Leistungen Preußens, das sich regenerierte und reformierte, muß man i m Bewußtsein behalten, wenn man verstehen w i l l , warum Hegel das konstitutionelle Gerüst dieses Staates i m großen und ganzen bei der Darstellung des vernünftigen, i n sich gegliederten und organisierten Staates hinnimmt. Wahrscheinlich t r i f f t die Erinnerung K a r l Hegels die Grundhaltung Hegels recht genau: „Plötzlich wurde 1830 die politische Stille durch die Julirevolution i n F r a n k reich u n d ihre Folgen i n Belgien unterbrochen. M i t Schrecken sah m e i n Vater i n i h r eine Katastrophe, die den sicheren Boden des vernünftigen Staates wankend zu machen schien, aber anders als Niebuhr, dachte er doch nicht, daß sie uns zum Despotismus u n d zur Barbarei führen w ü r d e 2 1 7 . "
Hegel, der auf die Macht des Geistes vertraute, vernahm nicht so erdrückend wie etwa Heinrich Heine die Zeichen an der Wand, aus denen dieser i m Wintermärchen seinem geliebten Vaterland eine fürchterliche (buchstäblich „braune") Zukunft prophezeite, oder er wollte sie nicht wahrhaben und reagierte u m so gereizter. Während Hegel noch 215
216 217
S. 561 ( = 532).
Glockner 19, 553 = Werke 20, 331. Hegel i n Berichten, S. 415.
7 Suhr
98
4. Kapitel: Staatsphilosophie und List der Dialektik
daran arbeitete, dem Staat zu festem, tiefgegründetem Ansehen zu verhelfen, zeichnete sich bereits ab, daß die Geister, die Hegel m i t ausdauernder Gründlichkeit beschwor, sich zu Zwecken dienstbar machen ließen, die es bald anderen Arbeitern des Geistes, den hellhörigen Köpfen der Nation, immer schwerer machen sollten, die Vernunft noch zur Sprache zu bringen und zu verbreiten. I n Hegels eigener Sprache müßte man heute seine Lage etwa so fassen: Er hat seinem Volk ausgesprochen, daß es ein Staat sein w i l l und daß es i n diesem Staat die Erfüllung finden w i l l , nämlich den Einklang zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen ideell gewolltem und tatsächlich gelebtem Leben, zwischen der (verweltlichten) Religion und der (begriffenen) Welt. Damit traf er langfristig ins Zentrum der Bedürfnisse. Er konnte sich i m großen und ganzen auch mitteilen, ohne seine Absicht so offenkundig durchscheinen zu lassen, daß man sich gegen i h n gewehrt hätte, seine Bücher der Zensur verdächtig geworden wären und seine Professur der Reaktion zum Opfer gefallen wäre. Vorsichtig verknüpfte er seinen Begriff des Staates m i t dem Knoten i m Bewußtsein seiner Hörer, der den Namen „Gott" trägt und über den sich die Sehnsüchte und Kräfte ansprechen und erschließen ließen, die über die Adresse „Gott" angesprochen und abgerufen werden können. Zugleich wandte Hegel jedoch alle Mühe darauf, die Geister, die er rief, i n die Zucht der Vernunft zu nehmen. M i t dem Begriff vom Staat sollte der Begriff der Vernunft unlösbar vertäut werden, indem der Staat als fest und vernünftig gegliederte und organisierte Wirklichkeit dargestellt wurde: „die reiche Gliederung des Sittlichen i n sich, welche der Staat ist, die Architektonik seiner Vernünftigkeit, die durch bestimmte Unterscheidung der Kreise des öffentlichen Lebens u n d ihrer Berechtigungen u n d durch die Strenge des Maßes, i n dem sich jeder Pfeiler, Bogen u n d Strebung hält, die Stärke des Ganzen aus der Harmonie seiner Glieder hervorgehen macht 2 1 8 ."
Eben diese Strenge hält Hegel Fries entgegen, dessen Berufung auf den „echten Gemeingeist", auf „das Leben von unten aus dem Volke", „lebendige Gesellschaften" und „heilige Ketten der Freundschaft" die Zucht der Wissenschaft vermissen lasse und auf die unmittelbare Wahrnehmung, auf die zufällige Einbildung abstelle. So werde, was die mehrtausendjährige Arbeit der Vernunft sei, m i t dem einfachen Hausmittel, dem Gefühl, und m i t der Frömmigkeit aufs Spiel gesetzt. Baue man auf solcherlei Meinungen und subjektive Überzeugungen, so ließen sich die verbrecherischsten Grundsätze als Überzeugungen m i t dem Begriffe des Wahren und den Gesetzen des Sittlichen auf eine 218 vorrede zur Rechtsphilosophie. Glockner 7, 27 = Werke 7,19.
4.2 Vernünftiger Staat und Deutschtümelei
99
Stufe stellen. Hegel sieht den strengen Bau der Verfassung „ i n den Brei des ,Herzens, der Freundschaft und der Begeisterung 4 zusammenfließen". Dieser Weg führe — Hegel zitiert recht frei Mephisto aus dem Faust — über die Verachtung von Verstand und Wissenschaft, des Menschen allerhöchster Gaben, dahin, sich dem Teufel zu ergeben und zugrundezugehen. A m Haß gegen das Gesetz ließen sich die „falschen Brüder und Freunde des sogenannten Volkes . . . (erkennen und) abscheiden." Die subjektiven Zwecke und Meinungen, das subjektive Gefühl und die partikulare Überzeugung seien die Prinzipien, „aus welchen die Zerstörung ebenso der inneren Sittlichkeit des rechtschaffenen Gewissens, der Liebe u n d des Rechts unter Privatpersonen, als die Zerstörung der öffentlichen Ordnung u n d der Staatsgesetze folgt".
M i t seiner Botschaft vom streng gegliederten, vernünftigen Staat traf Hegel nicht i n gleichem Maße ins Zentrum des Bedürfnisses seiner Landsleute wie m i t der national-staatstheologischen Botschaft. Das hatte seinen Grund zwar nicht nur aber auch darin, daß Hegels Staatsphilosophie für viele Köpfe, die Vernunft darin suchten, zu antiquiert und unvernünftig war. Das beste Zeugnis hierfür liefert die zunehmend schärfere K r i t i k i n den Briefen v. Thadens an Hegel: Nachdem v. Thaden Hegel zunächst selbst v o l l Vertrauen geraten hatte, der Jetztwelt entgegenzukommen und m i t einer Abhandlung über Staat und Staatsverfassung nicht bloß die Gelehrten, sondern auch die Politiker anzusprechen, klingt später durch die scharfe K r i t i k an der Rechtsphilosophie offen die Enttäuschung hindurch 2 1 9 . Hegel selbst hat gemerkt, daß er seinen Hörern und Lesern nicht begreiflich machen konnte, was er und wie ernst er es m i t der Vernunft meinte: „ A m schlechtesten aber k o m m t m a n m i t Begriffen u n d V e r n u n f t über M a terien des Staats an; daß ich aber bei unserem Freiheitsgesindel nicht besser ankommen wollte, habe ich bereits drucklich selbst bezeugt. M a n muß aber auch über das Anderswärts unbekümmert sein." ( A n Niethammer 1822 220 .)
Bei allem Nationalbewußtsein, philosophischem Nationalstolz und Sendungsbewußtsein, die Hegel nirgends verleugnet, ist er sich als der Philosoph des Allgemeinen treu geblieben. Es gibt keine Spuren von Deutschtümelei 221 , sondern das entschiedene Gegenteil davon i n der Polemik gegen Fries und die Wartburgfeststimmung. Tagebucheintragimg K a r l Försters 2 2 2 , B e r l i n J u l i 1820: „Großheim spricht m i t großer Anhänglichkeit von Hegel, auch v o n dessen Einflüsse zur U n t e r 219
Briefe I I S. 55 f., 205 f., 223 f., 278 ff. Briefe I I S. 325. 221 Vgl. J. Ritter, Hegel u n d die Französische Revolution, i n : ders., M e t a physik u n d Politik, F r a n k f u r t 1979, S. 248 f. 222 Hegel i n Berichten, S. 214. 220
7*
100
4. K a p i t e l : Staatsphilosophie u n d L i s t der D i a l e k t i k
drückung übertriebener Deutschtümerei. E r scheint sich als offner Gegner Friesens zu g e r i e r e n . . . " D i e geschichtliche S e n d u n g , A u f g a b e u n d R o l l e , d i e er f ü r das g e r m a nische R e i c h als e i n e m Reich d e r V e r n u n f t v o r s i c h sah u n d e r f ü l l t w i s s e n w o l l t e , w a r gerade n i c h t g e t r ü b t d u r c h das, w a s H e i n e später als d i e W a r t b u r g s t i m m u n g so beschrieb: „ A u f der W a r t b u r g . . . herrschte jener beschränkte Teutomanismus, der v i e l von Liebe u n d Glaube greinte, dessen Liebe aber nichts anderes w a r als Haß des Fremden u n d dessen Glaube n u r i n der U n v e r n u n f t bestand, u n d der i n seiner Unwissenheit nichts besseres zu erfinden wußte als Bücher zu verbrennen! . . . I m Bierkeller zu Göttingen mußte ich einst bewundern, m i t welcher Gründlichkeit meine altdeutschen Freunde die Proskriptionslisten anfertigten, f ü r den Tag w o sie zur Herrschaft gelangen würden. Wer n u r i m siebenten Glied von einem Franzosen, Juden oder Slawen abstammte, w a r d zum E x i l verurteilt. Wer n u r i m mindesten etwas gegen J a h n oder überhaupt gegen altdeutsche Lächerlichkeiten geschrieben hatte, konnte sich auf den Tod gefaßt machen . . . " (Von Hegel aber sagt Heine: „Hegel w a r ein M a n n von Charakter 2 2 3 .") A u f s c h l u ß r e i c h auch ist d i e Scheinanklage, w e l c h e B r u n o B a u e r gegen Hegel erhebt: „ E r hat seine Schüler dem deutschen Wesen entfremdet u n d k o m m t dazu noch, daß seine Nachfolger m i t Unrecht von den Regierungen gedrückt zu werden glauben, so ist es natürlich, w e n n sie sich allen patriotischen Gefühlen, Regungen u n d Begeisterungen entziehen. Welcher Hegelianer hat i n das Jauchzen eingestimmt, welches durch ganz Deutschland gehört wurde, als Becker's Rheinlied die Zungen löste? H a t einer v o n I h n e n das L i e d ger ü h m t u n d anerkannt? Nein! Sie haben es verspottet oder ignoriert. I h r e Interessen, glauben sie, sind zu groß u n d umfassend, als daß sie sich noch u m eine bloße Territorialfrage bekümmern sollten . . , 2 2 4 . " D i e s e m R ü c k b l i c k B a u e r s e n t s p r i c h t , w a s R i c h a r d R o t h e ü b e r Hegels Zeit i n Heidelberg berichtet: „Den »Deutschen* stehen i n der Burschenschaft e diametro gegenüber die sogenannten Philosophen oder Hegelianer, die übrigens i n den Burschenversammlungen ihre Philosophie nicht auskramen, sondern ganz anständig reden u n d handeln u n d nirgends mehr sehen als da ist, aber die Augen haben f ü r das, was ist. Sie sind den Deutschen die Verhaßtesten u n d vor allem unter ihnen Carové, der m i r i n dieser Hinsicht jetzt v o l l k o m m e n gefällt 2 2 5 ." 223 Heine, Sämtl. Schriften I V , S. 88 f., u n d I I I , S. 633. Dazu als „Vorspiel" Hegel, Briefe I I 43: „altdeutsche Monumente u n d vaterländische A n t i q u i t ä t e n aller A r t als: das Nibelungenlied . . . " . 224 Bruno Bauer, Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den A t h e isten u n d Antichristen, Leipzig 1841, S. 94. — Dazu M a r x i n der Deutschen Ideologie, M E W 3, S. 41: „nationaler als die Bierphilister, die von Deutschlands Einheit träumen." 225 Bei Ilting, Ed. Bd. 1 S. 44 f.; O. F. Scheuner, Burschenschaft u n d Judenfrage, B e r l i n 1927, S. 19; dort zitiert nach Friedrich Nippold, Richard Rothe, Wittenberg 1873, S. 95 f.
4.2 Vernünftiger Staat und Deutschtümelei
101
Hegel, der bei seiner A n k u n f t i n Berlin die „Morgenröte eines gediegenen Geistes" begrüßt und „den Geist der Jugend" angerufen hatte, sieht nun, wie eben diese Jugend von altdeutscher Gefühlseligkeit und aufgewärmter Frömmigkeit i m Bündnis m i t liberalem Opportunismus verführt w i r d durch „seinwollende Philosophen", insbesondere durch — seinen alten Feind 2 2 6 — Fries, einen „Heerführer dieser Seichtigkeit". Was in den Augen Hegels hier vor sich geht, r ü h r t an den Nerv seines Lebenswerkes. So erklärt sich auch die ungewöhnliche Schärfe i m Tonfall der persönlichen Angriffe: Es ist der Zorn des Menschen, der sorgfältig verlesenen geistigen Samen 2 2 6 a auf seinen Acker sät, dem dann andere Unkraut dazwischen säen und der heraufkommen sieht, daß andere auf ihrem Wege auch die Ernte seiner Saat mitnehmen und mißbrauchen. Nur wenn es sich u m einen gediegenen Geist aus reiner, geschichtsphilosophisch abgeklärter und geläuterter Quelle handelt, durch den das Leben i n Deutschland verjüngt wird, kann dieses Land (immer i n Hegels Augen) zugleich m i t seinen besonderen Interessen und Leidenschaften und zugleich m i t der Lösung seiner besonderen Aufgaben ein Bedürfnis der Welt befriedigen. Das „Ziel" darf nicht sein ein deutsches Reich ohne Wandel der Religion, sondern ein neues Reich u m der Manifestation der Vernunft willen. Nur auf diesem Wege können die deutsche geschichtliche Besonderheit und die weltgeschichtliche Allgemeinheit i m Gedanken und i n der Wirklichkeit des neuen Reiches zusammenstimmen. Alles andere ist Beschwörung und Wiederbelebung alter Gespenster aus Eigensucht und deren schneller und ergebnisloser Tod, — ergebnislos, w e i l die Weltgeschichte nur u m einige Opfer reicher wäre, ohne daß durch diesen Leerlauf die geschichtliche Aufgabe erfüllt würde, ein Reich der Versöhnung von Religion und Welt, von Philosophie und Wirklichkeit, von Idee und Leben zu verwirklichen. — Die Polemik i n der Vorrede der Rechtsphilosophie (und andernorts, insbesondere schon i n Partien der Phänomenologie) ist Hegels deutsche Version des alten: „Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer!" Hegel kannte die Schwächen der Deutschen, die schon Fichte gefürchtet hatte, und ist ihnen i n diesem Punkt nie entgegengekommen. Ein Mann von geringerem Charakter aber m i t gleichem W i r k - W i l l e n wie Hegel hätte kaum widerstanden, die Idee eines deutschen Reichs unter Ausnutzung der Gefühle und der frömmlichen Begeisterung zu fördern. Gerade das aber w a r i h m zuwider. 226
D'Hondt (oben Anm. 122) S. 69 ff.
226a v g l . Briefe I I S. 218/19: Schlechter „Samen . . . aus Heidelberg . . . " .
102
4. Kapitel: Staatsphilosophie und List der Dialektik
„Es ist k e i n Land, w i e Deutschland, w o jeder E i n f a l l sogleich zu etwas a l l gemeinem gemacht, zum Götzen des Tages ausgebildet, u n d die Aufstellung desselben zur Charlatanerie getrieben w i r d , so daß er auch eben so schnell vergessen w i r d u n d die Frucht verlorengeht, die er tragen würde, w e n n er i n seine Grenze eingeschränkt worden wäre. Dadurch w ü r d e er i n seinem Maaße erkannt u n d so v i e l geschätzt u n d gebraucht, als i h m gehört, da er auf die andere Weise m i t seiner ungebührlichen A u f b l ä h u n g zugleich ganz zusammenschrumpft und, w i e gesagt, vergessen w i r d . " (Aphorismus der Jenenser Periode 1 2 7 .)
Wenn es richtig ist, daß sich auch an den Vorstellungen vom Patriotismus der Charakter eines Menschen abschätzen läßt, so spricht Hegels Standpunkt für sich: „ U n t e r Patriotismus w i r d häufig n u r die Aufgelegtheit zu außerordentlichen Aufopferungen u n d Handlungen verstanden. Wesentlich aber ist die Ge-
sinnung, welche i n dem gewöhnlichen Zustande und Lebensverhältnisse
das
Gemeinwesen f ü r die substantielle Grundlage u n d Zweck zu wissen gewohnt ist. Dieses bei dem gewöhnlichen Lebensgange sich i n allen Verhältnissen bewährende Bewußtsein ist es dann, aus dem sich auch die Aufgelegtheit zu außergewöhnlicher Anstrengung begründet. Wie aber die Menschen häufig lieber großmütig als rechtlich sind, so überreden sie sich leicht, jenen außerordentlichen Patriotismus zu besitzen, u m sich die wahrhafte Gesinnung zu ersparen oder ihren Mangel zu entschuldigen 2 2 8 ."
Von einem enthusiastischen deutschen Notstands- und Eroberungspatriotismus des Gefühls und der Frömmigkeit hielt Hegel nichts. Der Geschichtsphilosoph kannte die Vergänglichkeit solcher Gemütsausbrüche. I h m kam es auf einen soliden, gediegenen Gewohnheitsstaatsbürger an, der sich i m täglichen Leben darin bewährt, daß er sich i m Zusammenhang des Ganzen weiß und dies berücksichtigt, und der dann allerdings auch zu außerordentlichen Opfern fähig sein würde: zu Opfern für eine weltgeschichtliche Sendung. Hegel verkehrte i n dem eher liberalen und oppositionellen Z i r k e l u m Rahel und K a r l August Varnhagen v. Ense (in den Anfang der zwanziger Jahre auch Heine kam, als er nach eigenem Zeugnis i n Berlin „Philosophie an der Quelle" studierte). Varnhagen schreibt später, er sei m i t Hegel auf bestem Fuße gewesen; ein paar einsame Abende auf seinem Zimmer hätten zu vertraulichen Gesprächen geführt über Dinge, die Hegel i m größeren Gespräch immer vermieden habe 2 2 9 (Zuletzt allerdings sei Hegel immer schwieriger, tyrannischer und absolutistischer geworden und seit 1830 hätten sie beide ihre abweichenden politischen Urteile nicht mehr ohne Not gegeneinander aussprechen können). 227 228 229
Aphorismus, Werke 2, 565 f. Rechtsphilosophie, A n m e r k u n g zu § 268. Hegel i n Berichten, S. 332 f., 471.
4.2 Vernünftiger Staat und Deutschtümelei
103
„,Die Philosophie, noch gut angeschrieben i m Staat, soll sich i n Acht nehmen! Der H o f 2 3 0 w i r d i h r schon noch was anhängen, u n d Hegel steht nicht sicherer als andere 4 , hatte Varnhagen . . . geschrieben . . . und der Blick unseres Philosophen für die i n Staat und Gesellschaft wirksamen Kräfte w a r k l a r genug, u m der Grenzen seiner Macht jederzeit bewußt zu bleiben 2 3 1 ." „Berlin, 26.12.1826 Des H e r r n Prof. Hegel Ansehen und Einfluß n i m m t noch immer zu; die Ministerien glauben i n seiner Philosophie eine ganz legitime, staatsdienerische, preußische zu besitzen und zu handhaben. Wie viel Freiheit, Konstitutionssinn, Vorliebe für England i n dieser Richtung lebt u n d w i r k t , ahnden sie nicht. Übrigens ist Hegel darin merkwürdig, daß er w i r k l i c h m i t Macht auf äußere Bedeutung lossteuert... Berlin, 30.10.1827 Herr von Humboldt spricht stark gegen Hegel, der i h m nicht liberal genug ist, dem Despotismus zuneige, den Absolutisten Recht gebe, der Freiheit schade; indes ist Hegel durchaus konstitutionell, protestantisch, liberal, v o l l A n t e i l für die französische Revolution, für englisches Freiheitsleben 2 3 2 ." A b e r l i b e r a l i m S i n n e der a b s t r a k t e n F r e i h e i t u n d des a b s t r a k t e n Rechts, die i n Hegels A u g e n der Französischen R e v o l u t i o n z u g r u n d e lagen, w a r H e g e l nie, u n d angesichts seiner B e g r i f f e v o n einer „ n i c h t n u r politischen" R e v o l u t i o n , die n i c h t F r a n k r e i c h , sondern e i n e m „ a n deren L a n d " 2 3 3 aufgetragen w a r , m u ß t e es H e g e l z u w i d e r sein, w e n n i n Deutschland k e i n e neue Seite i n der Geschichte des Geistes aufgeschlagen, sondern eine mäßige A b l i c h t u n g des französischen V o r l ä u f e r s e i n g e k l e b t z u w e r d e n drohte. M i t einer aufgewärmten A u f l a g e der i n Hegels P h i l o s o p h i e schon ü b e r w u n d e n e n a b s t r a k t e n F r e i h e i t d r o h t e Deutschland den weltgeschichtlichen T r u m p f a n e i n d r i t t e s L a n d 2 3 4 z u verspielen, d e n es i n d i e H a n d gespielt b e k o m m e n hatte. So g a l t i m K o p f v o n H e g e l f ü r d i e I d e e n der Französischen R e v o l u t i o n m e h r oder w e n i g e r das, was er v o n a l t e n Philosophen u n d R e l i g i o n e n ü b e r h a u p t gesagt h a t t e : „Mumien unter das Lebendige gebracht, können unter diesem nicht aushalten; der Geist hatte längst ein substantielleres Leben in sich, t r u g einen 230 v g l . jr. Rosenzweig, Hegel u n d der Staat, 2. Bd., München und B e r l i n 1920 S. 210: „Nicht Atheismus 4 , sondern Pantheismus 4 hieß das Schlagwort, als es bald w i r k l i c h gegen Hegel gewendet wurde . . . aus den Kreisen des verjüngten Pietismus, der werdenden konservativen Partei, k a m es u n d verschloß i h m den Weg zum künftigen Träger der Krone. 44 — Dies dürfte der Weg gewesen sein, auf welchem Hegel u m die Chance gekommen ist, für den zukünftiger Träger der Krone zu werden, was — i n Hegels Augen — Aristoteles für Alexander war. Nicht Hegel, sondern Joh. Peter Friedrich Ancillon (1767 -1837) erzog den Kronprinzen. Dazu Heine, Sämtl. Schriften I I I , 457 f. nebst Kommentar von Pörnbacher S. 973 f. 231
Lenz a.a.O. (oben Anm. 122, S. 396). 232 Tagebuch Varnhagen, Hegel i n Berichten, S. 323, 355.
233 234
Oben bei Anm. 109. Vgl. Hegel über Rußland, unten bei Anm. 552.
104
4. Kapitel : Staatsphilosophie und List der Dialektik
tieferen Begriff seiner selbst längst i n sich, u n d hatte somit ein höheres Bedürfnis f ü r sein Denken, als jene Philosophien befriedigten. E i n solches
Aufwärmen ist daher nur als der Durchgang des Sich-Einlernens in bedingende vorhergehende Formen, ein nachgeholtes Durchwandern" i n der Erinnerung. Es handelt sich dabei n u r u m „Übersetzungen", nicht u m „Originale". „ U n d der Geist befriedigt sich n u r i n der Erkenntnis seiner
eigenen Ursprünglichkeit
23δ
."
4.3 Die List der Staatsphilosophie Hegels Philosophie ist zweischichtig. Sie hat es auf der Ebene der Logik und der Geschichtsphilosophie m i t der Vernunft zu tun, die ist und ewig ist. Und sie hat es auf staatsphilosophischer Ebene als Philosophie ihrer Zeit zu t u n m i t ihrer Gegenwart. Diese Zweischichtigkeit g i l t auch für die Staatsphilosophie und sie erscheint dort als die List eben dieser Staatsphilosophie. Es ist die „Ehre der List gegen die Macht, die blinde Macht an einer Seite an(zu)fassen, daß sie sich gegen sich selbst richtet" 2 3 6 . U m eine bestehende Macht gegen sich selbst auszuspielen, bedarf es eines Anknüpfungspunktes innerhalb des Bestehenden, und zwar eines Punktes, an dem das Bestehende sich selbst widerspricht: Diesen inneren Widerspruch g i l t es dann zu pflegen und zu entwickeln, damit er hervortrete u n d zur W i r k u n g komme. K o m m t er zur Wirkung, so w i r d er ausgetragen. Wer den Widerspruch als solchen hervortreten läßt, damit er ausgetragen werde, steht selbst gedanklich über dem Widerspruch, ohne selbst auf einer der beiden Seiten mitzukämpfen. „ E r läßt die Natur sich abreiben, sieht ruhig zu und regiert n u r m i t leichter Hand das Ganze: List 237." „Uber dem Widerspruche stehen", heißt aber durchaus nicht, selbst willenlos zu sein. Es heißt nur, genügend K ü h l e u n d Distanz zu bewahren, u m sich nicht seinem ersten besten Triebe gemäß m i t Macht gegen bestehende Macht aufzulehnen und aufzureiben. Es heißt, genügend Vernunft zu besitzen, u m die bestehende Macht von der Seite her anzugreifen: „ w i e ein Mantel dem Stiere dargeboten wird, gegen den er anrennt und, nichts treffend, getroffen w i r d 2 3 8 . " Das ist „die List, die der Tätigkeit sich zu enthalten scheinend, zusieht, w i e die Bestimmtheit und i h r konkretes Leben darin eben, daß es seine Selbsterhaltung u n d besonderes Interesse zu treiben vermeint, das Ver235 236 237 238
Einleitung . . . (oben A n m . 34), S. 73 = Werke 20, 517. Jenaer Realphilosophie (oben A n m . I l l ) , S. 199. a.a.O. S. 200.
4.3 Die L i s t der Staatsphilosophie k e h r t e , ( n ä m l i c h ein) sich selbst auflösendes u n d z u m M o m e n t
105 des
G a n z e n machendes T u n i s t " 2 3 9 . A n w e l c h e m strategischen O r t i n n e r h a l b d e r bestehenden M ä c h t e d e r archimedische P u n k t des W i d e r s p r u c h e s z u f i n d e n ist, v o n d e m aus es u m g e k r e m p e l t w e r d e n k a n n , h a t H e g e l e x a k t angegeben, u. a. i n d e m E i n l e i t u n g s f r a g m e n t z u r Verfassungsschrift, das o b e n a u s f ü h r l i c h besprochen w o r d e n i s t : „Das Beschränkte k a n n durch seine eigene Wahrheit, die i n i h m liegt, angegriffen u n d m i t dieser i n Widerspruch gebracht werden; es gründet seine Herrschaft nicht auf Gewalt Besonderer gegen Besondere, sondern auf Allgemeinheit; diese Wahrheit, das Recht, die es sich vindiziert, muß i h m genommen u n d dem Teile des Lebens, das gefordert w i r d , gegeben w e r den 2 4 0 ." „Denn es ist die Erscheinung, von der ein T e i l nichtig, ein T e i l affirmativ ist241." „ A l l e endlichen Dinge aber haben eine U n w a h r h e i t an sich, sie haben einen Begriff u n d eine Existenz, die aber dem Begriff unangemessen ist. Deshalb müssen sie zugrundegehen, wodurch die Unangemessenheit ihres Begriffs u n d ihrer Existenz manifest w i r d 2 4 2 . " D a n a c h w e r d e n n i c h t z w e i tatsächliche M ä c h t e o d e r G e w a l t e n , z w e i „ B e s o n d e r h e i t e n " g e g e n e i n a n d e r ausgespielt (etwa, i n d e m sie a u f d i e S p i t z e g e t r i e b e n u n d d a n n K a m p f h ä h n e n g l e i c h a u f e i n a n d e r losgelassen w e r d e n ) . V i e l m e h r w i r d d i e bestehende G e w a l t o d e r M a c h t b e i d e r W a h r h e i t gepackt, d i e sie sich a n m a ß t . D i e Anmaßung s o l l dadurch v e r w i r k l i c h t w e r d e n , daß b e w u ß t g e m a c h t w i r d , i n w i e f e r n d i e Existenz noch h i n t e r i h r z u r ü c k b l e i b t . Z u r Veranschaulichung f ü r diese dialektische Technik der sozialen U m wälzung empfiehlt sich hier ein Vergleich: Wenn m a n einen einzelnen Menschen m i t einer entsprechenden L i s t dazu bewegen w i l l , sich zu w a n deln, darf man nicht den einen „inneren Schweinehund" i n i h m gegen den anderen aufhetzen u n d ausspielen. Dies würde n u r zu inneren Kämpfen, aber nicht v o m Fleck führen. A m Ende bliebe i m m e r noch einer der beiden „inneren Schweinehunde". Es k o m m t vielmehr darauf an, den Betroffenen bei seinem „besseren Ich" zu fassen, welches auch er kennt u n d i m Munde führt, u m i h m sodann klarzumachen, was er danach sein w i l l , ohne es zu sein. Das Ziel dabei ist, i h n durch Verweis auf sich selbst zu nötigen, für sich i n der W i r k l i c h k e i t zu sein, was er seinem Ansprüche nach an sich schon ist. Dabei beginnt das Gespräch m i t den Worten: „ D u hast Recht. Ich anerkenne, was D u (an sich) bist. Lassen w i r uns das genauer betrachten . . . " Der andere w i r d so lange bejaht, bis er sich selbst verneinen muß. Da der andere dabei jedoch bei sich selbst genommen u n d n u r zu sich selbst geführt 239 Phänomenologie. Glockner 2, 52 = Werke 3, 53/4. 240 241 242
Werke 1, 459. Die V e r n u n f t . . . (oben A n m . 58), S. 105. Zusatz 2 zu § 24 Enzyklopädie. Glockner 8, 90 = Werke 8, 86.
106
4. Kapitel : Staatsphilosophie und List der Dialektik
w i r d , k a n n er sich selbst (seine bisherige Existenz) verneinen, selbst (seine Ansprüche an sich als Mensch) verleugnen zu müssen.
ohne
sich
U m nun ganz konkret durch einen einprogrammierten Widerspruch m i t Preußen über Preußen hinauszugehen, muß Hegel die Allgemeinheit, die es sich anmaßt, — muß er i h m das Recht, das es sich vindiziert, aufgreifen, besprechen und bejahen, und zwar so, daß Preußen sich selbst schließlich nicht mehr m i t seiner Existenz zufriedengeben kann. Preußen als Staat eines Teilvolks ist ein beschränktes Leben. Als solches kann es durch seine eigene Wahrheit, die i n i h m liegt, nämlich durch seine Staatlichkeit, angegriffen und m i t seiner eigenen Existenz i n Widerspruch gebracht werden. Die Staatlichkeit, die es für sich beansprucht, gebührt nicht einem Teilvolk, sondern dem ganzen Volk. Ist erst das Reich dieser Vorstellung revolutioniert, hält die Wirklichkeit nicht aus; denn man „muß überhaupt wissen, daß der Zustand der Welt, eines Volkes von dem Begriff abhängt, den es von sich h a t " 2 4 3 . Donoso Cortes übersetzte Jesu Worte: „Gebet Gott, was Gottes, und gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist!" i n die Formel: „Ich lasse euch euren Kaiser und nehme euch euren Jupiter." Hegels Strategie läßt sich auf die Formeln bringen: „Ich lasse euch eure preußische Monarchie und nehme euch die Einbildung, sie sei schon ein Staat. Gebt Preußen, was Preußens, und gebt dem Volke, was des Volkes ist!" — U n d wenn erst das V o l k erhalten würde, was des Volkes ist, dann müßten ohnehin Kulissen gerückt werden, und die dann zu errichtenden Einrichtungen der Staatsverfassung konnten nicht ins Blaue hinein vorweggedacht werden. Es war Sache der Männer, die das Werk m i t dem Volk vollbringen würden, dem konkreten Material dann die angemessene und dem Geiste des Volkes entsprechende Form zu geben. Hegels Auigabe war, diese Menschen heranzubilden, und es ist aufschlußreich, die Spuren zu verfolgen, wie sie sich z. B. i m Kapitel über das preußisch-deutsche Problem von 1848 i n Friedrich Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat" wiederspiegeln. Wer meint, hier werde Hegel zu viel methodische Raffinesse unterschoben und seine Arbeit zu kaltblütig und zu organisatorisch-technisch gesehen, lese i n der Verfassungsschrift nach, was Hegel an Machiavelli bewunderte („kalte Besonnenheit", „Wahrheit des Ernstes", „weder Niederträchtigkeit i m Herzen noch Spaß i m Kopfe"), und bedenke, daß Hegel sich notiert hatte: „Der Organisateur ist der Geist." Seine Verschiebungs- und Verknüpfungstedmik für die Bewußtseinsbearbeitung hat er außerdem selbst exakt (wenn auch etwas umständlich) beschrieben 244 : 243 244
Einleitung . . . (oben A n m . 34), S. 62 = Werke 20, 506. Hegel i n Berichten, S. 134.
4.3 Die List der Staatsphilosophie
107
„ D i e Stufen des Vorstellens" — oder besser: die Stufen der Operationen i m u n d am Bewußtsein — „sind, daß die Intelligenz 1) sich erinnert, indem sie sich überhaupt v o n dem Inhalte des Gefühls lostrennt u n d denselben i n i h r Inneres versetzt; 2) diesen I n h a l t sich einbildet, i h n ohne sein Objekt frei aus sich hervorr u f t u n d v e r k n ü p f t u n d sich so ein B i l d von i h m macht" — ζ. B. ein B i l d v o m Staat ohne die derzeitige Existenz Preußens noch daran zu hängen 3) „ i h m seine unmittelbare Bedeutung n i m m t u n d i h m eine andere mittels einer Verknüpfung m i t einem Gedanken i m Gedächtnis gibt." — z . B . dem „Staat" die Bedeutung, „Staat eines Volkes" zu sein — u n d als solcher der „Gang Gottes auf Erden". —
Die List besteht darin, daß der Anspruch des Bestehenden, ein Staat zu sein, beim Wort, aber doch auch wieder nicht ernst genommen w i r d : Der Anspruch w i r d beim Wort genommen, u m daran anzuknüpfen und u m aus dem vorhandenen inneren Material ein gediegenes Staatsbewußtsein zu entwickeln und zu organisieren. Der Anspruch w i r d jedoch nicht ernst genommen insofern, als das Staatsbewußtsein nicht für den existierenden Staat entwickelt wird, sondern für das Reich, das aus dem Bewußtsein der Menschen als Werk freier und selbständiger Tat hervorgehen und i n dem Preußen (im dreifachen Sinne des Wortes) „aufgehoben" sein w i r d : vernichtet, hinaufgehoben und aufbewahrt. Hegel, der Listenreiche 2 4 5 , knüpft am Bestehenden an, und zwar am inneren Material, das zum Bestand gehört w i e das äußere. Dabei macht er sich kaum als etwas Entgegengesetztes bemerkbar. E r kann daher auch nicht recht abgewehrt werden. Er schlüpft i n Gedanken und m i t Worten i n die bestehenden Götter des Bewußtseins hinein u n d verwendet sie als die trojanischen Pferde, i n deren geistlichen und geistigen Hohlräumen er seine philosophischen Begriffstruppen ins Bewußtsein der Menschen einschleust. „Der deutsche Kopf läßt seine Schlafmütze ruhig sitzen und operiert innerhalb seiner." Aber Hegels List ist keine Arglist u n d ist auch kein Betrug. Denn sie zielt nur darauf, dem Bewußtsein der Menschen zu verdeutlichen, was das ist, wonach das Bestehende i n seinem Drange strebt. Insoweit kann er auch recht offen sprechen, — vor allem, wenn er eine Sprache 245 Erinnert sei an Hegels Vergleich zwischen der Organisation einer Iliade u n d der Philosophie bzw. dem Geist als dem Compositeur (oben bei A n m . 114). Auch über den Eulenspiegel (welcher von dem ernsthaften Hegel als die schalkhafte Erscheinungsform des deutschen Bewußtseins eingestuft wurde, oben bei A n m . 43) läßt sich m i t Hegel selbst eine Brücke schlagen zu dem anderen ernsthaften Manne: „Die älteren Deutschen waren eigentlich ein lustiges Volk. Aus dem würdigen Ulysses, dessen Leben eine Ernsthaftigkeit ist, haben sie einen albernen Eulenspiegel . . . gemacht . . . " — A p h o rismus, Werke 2, 541.
108
4. Kapitel: Staatsphilosophie und List der Dialektik
der Allgemeinheit spricht, die von den Hütern des Bestehenden deshalb noch nicht als verdächtig begriffen wird, w e i l sie die Besonderheit, die sie behüten, noch unter die allgemeine Sprache subsumieren können. „ L i s t ist etwas anderes als Pfiffigkeit. Das offenste Handeln ist die größte L i s t ( w i r müssen sie i n ihrer Wahrheit nehmen), nämlich: durch seine Offenheit bringt es das Andere zum Tage, daß es an und für sich sich zeigt, eben darin sich selbst vernichtet. (List ist) das große Betragen, die A n d e r n zu nötigen, zu sein, w i e sie an u n d f ü r sich sind, ( — dies) ins Licht des B e wußtseins (zu bringen) 2 4 6 ."
Viele Wege, sagt das Sprichwort, führen nach Rom. A l l e Wege der Hegeischen Philosophie, könnte man vereinfachend sagen, führen auf sorgfältig ausgewählten Routen ins Reich. Sie sind durch keine aufdringlichen Tafeln und Wegweiser warnend oder reißerisch beschildert. Aber an dem Punkt, an dem sie sich treffen, gibt es, wenn man ihnen bis dorthin bereitwillig gefolgt ist, keine gedankliche Umkehr mehr, sondern nur noch den praktischen Ausweg vom an-sich-Sein ins fürsich-Sein durch die Tat. Die Tat führt i n die übrige existierende Welt, u m der Welt zum Begriff und dem Begriff zu seiner Welt zu verhelfen: insbesondere dem Volk zum Staat und dem Staatsbegriff zum Volk. — Die gängigen Vorstellungen zu Hegels Philosophie gehen freilich i n einer ganz anderen Richtung. Wenn von dem germanischen als dem vierten welthistorischen Reiche die Rede ist, w i r d gern Hegels eigenes B i l d vom Greisenalter des Geistes angeführt: Die Philosophie erscheint dabei als rein innerlich-geistige Versöhnung des Geistes m i t sich selbst, — als eine grandiose Selbsttäuschung und Selbstbefriedigung der Philosophie oder des Philosophen i m Reiche seiner geistigen Konstruktionen. Das germanische Reich der §§ 358 - 360 der Rechtsphilosophie wäre, wenn diese Hegelinterpretation ihre eigenen Ansprüche ernst nähme und konkret würde, eine geistige Dunstblase, m i t der Hegel resigniert Abschied n i m m t von der Wirklichkeit. Dieses Reich wäre i m Verhältnis zu Hegel, was das Reich Gottes i m Verhältnis zu Jesus (in den Augen des jungen Hegels) schließlich wurde: Ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, sondern der bloßen Einbildung angehört. A m Ende der Hegeischen Philosophie stünde die Verklärung, die Entweltlichung und die Entwirklichung seiner Begriffe. U n d dies müßte anerkannt werden, obgleich Hegel i m Vorwort nicht müde wird, auf bloße Einbildungen über Seinsollendes zu spotten und die Erkenntnis i n den Mittelpunkt stellt, daß das Vernünftige wirklich ist (wobei das Wirkliche sich daran zeigt, was es hervorbringt). Man kann Hegel wahrscheinlich nicht gründlicher u m den K e r n und u m die Wurzeln seiner Philosophie betrügen als dadurch, daß man i h n 248
Jenaer Realphilosophie (oben A n m . I l l ) , S. 199. 1. K l a m m e r i m Original.
4.3 Die List der Staatsphilosophie
109
und seine Begriffe derart entleibt, — so, als hätte er sich aus der Welt und aus der Wirklichkeit hinausgestohlen m i t der Stimme eines Gemüts, „das ungern von seiner Hoffnung, den deutschen Staat aus seiner Unbedeutendheit emporgehoben zu sehen, Abschied n i m m t u n d noch vor dem gänzlichen Scheiden von seinen Hoffnungen seine immer schwächer werdenden Wünsche sich noch einmal lebhaft zurückrufen und seines schwachen Glaubens an die Erfüllung derselben noch einmal i m Bilde genießen w o l l te"247.
Diese Formulierungen stammen i n der Tat von Hegel. Sie stehen i m ersten E n t w u r f zur Verfassungsschrift und wurden — vermutlich schon bei der Niederschrift 1799 — gestrichen. Das alte Reich, dem diese wehmütigen Gedanken nachtrauern, ist für Hegel inzwischen tatsächlich und begrifflich gründlich untergegangen. „Die Lüge eines Reichs ist vollends verschwunden 2 4 8 ." Der auch geistige Tod dieses Reiches hat für Hegel den Weg frei gemacht zur Verjüngung des Lebens von der „substantiellen Grundlage" der Religion her: für tiefschürfende Er-Innerung des Geistes und nachfolgende Ent-Äußerung zu neuem Leben. Betrachtet man die Stelle, an der Hegel vom Greisenalter des Geistes spricht, genauer, so muß man sich allerdings auch wundern, wie flücht i g oder w i e voreingenommen gegenüber Hegel sie immer wieder gelesen worden sein muß, u m sie derart mißzuverstehen, daß man sie ζ. B. so auslegt: „ I m natürlichen Greisenalter des Geistes . . . erscheint der Geist i n der pragmatischen Geschichte als Schwäche 24e."
I m Original heißt es sehr viel differenzierter und exakter: „Das natürliche Greisenalter ist Schwäche; das Greisenalter des Geistes aber ist seine vollkommene Reife, i n der er zur Einheit zurückkehrt, aber als Geist. Der Geist als unendliche Kraft erhält die Momente der früheren E n t wicklung i n sich und erreicht dadurch seine Totalität 2 5 0 ." Oder auch: „Viertens folgt dann das germanische Zeitalter, die christliche Welt. Wenn man auch hier den Geist m i t dem I n d i v i d u u m vergleichen könnte, so würde dieses Zeitalter das Greisenalter des Geistes heißen müssen. Es ist (aber) das Eigentümliche des (natürlichen) Greisenalters, daß es nur i n der Erinnerung, der Vergangenheit, lebt; u n d so ist hier der Vergleich 247
Werke 1, 452 (in der Fußnote). Glockner 11, 567 = Werke 12, 539. 249 Popitz (oben Anm. 21), S. 50. Ähnlich ζ. Β . E. Topitsch, Sozialphilosophie zwischen Ideologie u n d Wissenschaft, 2. Aufl., Neuwied und Berlin 1966, S. 287. 250 D i e V e r n u n f t . . . (oben Anm. 58), S. 253, Hervorhebungen von mir. 248
110
4. Kapitel: Staatsphilosophie und List der Dialektik
unmöglich. Das I n d i v i d u u m gehört seiner Negativität nach dem Elemente an u n d vergeht. Der Geist aber kehrt zurück zu seinen Begriffen 2 5 1 ."
Gerade nicht „als Schwäche", die der Gebrechlichkeit eines alten Mannes gliche, erscheint der greise Geist i n der pragmatischen Geschichte. Er kehrt vielmehr i n „vollkommener Reife" und als „unendliche K r a f t " „zur Einheit" zurück: zu sich selbst i n seiner anderen Gestalt als wirkliche Welt. Der greise Mensch lebt nur i n seiner Erinnerung. Der greise Geist bezieht aus seiner Er-Innerung und Selbstbesinnung die Kräfte, die i h n verjüngen, und er erfährt seine „unendliche K r a f t " , indem er sich ent-äußert und i n der Ent-Äußerung sich wiederfindet. „Die Verjüngung des Geistes ist nicht ein bloßer Rückgang zu derselben Gestalt; sie ist Läuterung, Verarbeitung seiner selbst 2 6 2 ." I n einem anderen Zusammenhange heißt es: „Das Z i e l der N a t u r ist, sich selbst zu töten u n d ihre Rinde des U n m i t t e l baren, Sinnlichen zu durchbrechen, sich als Phönix zu verbrennen, u m aus dieser Äußerlichkeit v e r j ü n g t als Geist hervorzutreten 2 5 3 ." „ O f t scheint er (der Geist) sich vergessen, verloren zu haben; aber innerlich sich entgegengesetzt, ist er innerliches Fortarbeiten — w i e Hamlet v o m Geiste seines Vaters sagt, ,Brav gearbeitet, wackerer M a u l w u r f ' —, bis er, i n sich erstarkt, jetzt die Erdrinde, die i h n von seiner Sonne, seinem Begriffe schied, aufstößt, daß sie zusammenfällt. I n solcher Zeit hat er die Siebenmeilenstiefel angelegt, w o sie (die Rinde), ein seelenloses, morschgewordenes Gebäude, zusammenfällt u n d er i n neuer Jugend sich gestaltet zeigt 2 5 4 ."
U n d schließlich folgende Selbstbesinnung, i n einem Aphorismus zusammengefaßt, dessen lateinischer Schluß eines der von Hegel so geschätzten mehrdeutigen Verben enthält: „Unsere Nachwelt
ist die nächste Messe. Wie i n der Vernunft sich Alles
zusammenzieht, so rückt auch i n der Gebirgsansicht der Strom näher. Pedes eorum, q u i efferent te, sunt ante i a n u a m 2 5 5 . " (Die dich hinaustragen, ausführen und emporheben, stehen schon vor der Tür.) „Siehe die Philosophie, wodurch die deinige widerlegt u n d verdrängt werden w i r d , w i r d nicht lange ausbleiben, so wenig, als sie bei jeder anderen ausgeblieben i s t 2 5 9 . "
Seine Stärke erlangt der Geist dadurch, daß er die abstrakten Prinzipien aufgibt, die der Verstand der Welt, die als mangelhaft aufgefaßt wird, nur entgegensetzt und i n den Kampf gegen sie einbringt. 251 252 253
254 255
S. 156 f., Hervorhebungen von m i r . S. 35. Zusatz zu § 376 Enzyklopädie. Glockner 9, 721 = Werke 9, 538.
Werke 20, 456 = Glockner 19, 685.
Werke 2, 548. 26β Werke 18, 36. Vgl. auch Schluß der Vorrede zur Phänomenologie.
4.3 Die List der Staatsphilosophie
111
Diese abstrakten Prinzipien sind zwar auch verwirklicht worden und werden verwirklicht: z.B. die Französische Revolution (nach Hegelscher Auffassung). Auch i n diesen Fällen kehrt das Denken i n die übrige Welt zurück; aber nicht als Geist, sondern als Abstraktion, und es bringt dadurch keine Versöhnung des Geistes m i t sich, sondern den Kampf einer Abstraktion gegen eine andere oder gegen den w i r k lichen Geist, der sich ihr gegenüber als unverwundbar erweist. Der wirkliche Geist als Leben setzt sich gegenüber Abstraktionen, die man i h m beibringen w i l l , immer wieder durch. Diese Schwäche der A b straktionen des Denkens hat ihren Grund darin, daß dem konkreten Leben nicht schon vorher Z u t r i t t zum Bewußtsein gewährt und Einfluß auf die Organisation der Ideen gelassen wird. Dieser Mangel beruht darauf, „daß das Weltliche nicht ins Geistige einschlägt, daß es nicht zu einer vernünftigen Organisation im Bewußtsein k o m m t " 2 5 7 . Der Geist als Abstraktion (als Ungeist, sozusagen) ist daher schwach, mag er sich noch so gewalttätig und blutig i n der Welt gebärden. Gerade die Gewalt, die er anwenden muß, und die Gewalt, m i t der er sich halten muß, zeigen seine Ohnmacht und eine Schwäche, die i h n ängstlich macht. Dies erkannt, sind die Konsequenzen zu ziehen: Dem Leben w i r d freiwillig Einfluß auf die vernünftige Organisation des Bewußtseins eingeräumt, u m dem Widerstand zuvorzukommen, den das Leben leisten würde gegen die Verwirklichung von Ideen, die das Leben nicht schon vorher an sich oder i n sich selbst aufgenommen haben. Aber auch der Geist, der das Weltliche i n sich hat einschlagen lassen und eine vernünftige Organisation des Bewußtseins zustandegebracht hat, muß sich noch selbst wieder realisieren. Denn zunächst ist die Versöhnung m i t der Welt nur gedacht (im Gedanken „objektiv gemacht"), aber noch nicht verwirklicht (in der übrigen Welt hervorgebracht). „Die Versöhnung ist . . . zunächst an sich vollbracht, aber damit muß sie auch für sich vollbracht werden 2 5 8 ." U m die letzten Paragraphen der Rechtsphilosophie zu verstehen, muß man sich genau vorstellen können, was m i t den dialektischen Wendungen „an sich" und „ f ü r sich" gemeint ist, und was es bedeutet, wenn es von einem Gegensatze nur heißt, er sei „an sich" zur marklosen Gestalt geschwunden, ohne daß hinzugefügt wird, er sei auch schon „für sich" verschwunden (§ 360). Das bedeutet, daß das für-sichSein der Versöhnung noch aussteht, — daß noch Arbeit vorhanden ist. Das an-sich-Sein ist der Embryonalzustand des für-sich-Seins: „der Keim, die Anlage, das Vermögen . . . , die Möglichkeit (aber die reale 257 D 258
i e V e r n u n f t . . . (oben A n m . 58), S. 253. S. 255.
112
4. Kapitel: Staatsphilosophie und List der Dialektik
Möglichkeit . . .) 2 5 9 ." „Das, was an sich ist, hat den Trieb, sich zu entwickeln, zu existieren, überzugehen i n die Form der Existenz 2 6 0 ." Existiert es dann, — hat es sich realisiert, so kann der Geist es gewissermaßen m i t den Sinnen anfassen. Es ist dann auch für ihn. Er findet sich darin. Es ist sein Werk. Er genießt sich darin. (Lenin 2 6 1 vermerkt sich i n einem anderen Zusammenhang, „ w i e außerordentlich richtig und treffend die Termini ,an sich' und ,für sich' sind !!!") Die i m Gedanken „objektiv gemachte" (also nicht bloß subjektiv gefühlte oder ersehnte) Versöhnung von Ideellem und Weltlichem, von Staatsbegriff und Staat des wirklichen Volkes, von Religion und Leben, — diese gedankliche Versöhnung der Gegensätze ist nur erst der Keim, die Anlage, das ideelle Inkubationsstadium und das Vermögen zur wirklichen Versöhnung. „Es ist die F o r m des Gedankens, was die gründliche Versöhnung zustandeb r i n g t : die Tiefe des Gedankens ist die Versöhnerin. Die Tiefe des Gedankens w i r d dann i n der Weltlichkeit zum Vorschein kommen . . . Der Gang dieser Uberwindung macht das Interesse der Geschichte aus, u n d der P u n k t des Fürsichseins der Versöhnung ist dann i m Wissen: hier ist die Wirklich-
keit umgebildet und rekonstruiert.
Dies ist das Ziel der Weltgeschichte, daß
der Geist sich zu einer Natur, einer Welt ausbilde, die i h m angemessen ist, so daß das S u b j e k t seinen Begriff von Geist i n dieser zweiten Natur, i n dieser durch den Begriff des Geistes erzeugten W i r k l i c h k e i t findet u n d i n dieser O b j e k t i v i t ä t das Bewußtsein seiner subjektiven Freiheit u n d V e r nünftigkeit hat. Das ist der Fortschritt der Idee überhaupt; u n d dieser Standpunkt muß f ü r uns i n der Geschichte das Letzte sein. Das Nähere, daß es überhaupt v o l l f ü h r t ist" — an sich v o l l f ü h r t ist — „das ist die Geschichte; daß noch Arbeit vorhanden ist, gehört der empirischen Seite an . . . Doch die Länge der Zeit ist etwas durchaus Relatives, u n d der Geist gehört der E w i g k e i t an. Eine eigentliche Länge gibt es f ü r i h n nicht. Dies ist die fernere Arbeit, daß dieses Prinzip sich entwickele, sich ausbilde, daß der Geist zu seiner Wirklichkeit komme, zum Bewußtsein seiner selbst in der Wirklichkeit262."
Vor dem Hintergrund dieser Gedanken muß man auch die letzten Paragraphen der Rechtsphilosophie lesen, insbesondere den Schlußparagraphen. I m Laufe der germanischen Epoche hat sich das Geistliche nicht i n seinem Himmel zurückgehalten, sondern sich i n die Politik eingemischt und sich dadurch degradiert zum irdischen Diesseits und zur gemeinen Weltlichkeit. Das Weltliche auf der anderen Seite hat sich hinaufgebildet zum Gedanken und zum Prinzipe vernünftigen Seins und Wissens, zur Vernünftigkeit des Rechts und des Gesetzes. 259 260
261 262
Einleitung . . . (oben A n m . 34), S. 101. Vgl. Werke 18, 38 - 42. S. 107.
Lenin, Werke, Bd. 38, S. 193. Die V e r n u n f t . . . (oben A n m . 58), S. 256, Hervorhebungen von m i r .
4.3 Die List der Staatsphilosophie
113
Damit „ist an sich der Gegensatz (zwischen Geistlichem und Weltlichem) zur marklosen Gestalt geschwunden . . s o daß die wahrhafte Versöhnung objektiv geworden" ist. Was nicht mehr ausgesprochen, sondern dem selbständig denkenden Leser zur eigenen Entdeckung und Ausführung überlassen bleibt, ist, daß dem an-sich-Sein der Versöhnung das für-sich-Sein folgt, — daß insbesondere die Staatsverfassimg noch m i t dem natürlichen geschichtlichen Träger (§§ 346, 347) des Versöhnungsauftrages zur Deckung gebracht und daß das wirkliche Reich auch von der Religion als der wirkliche Gott begriffen werden muß. — Wollte man den Fragen auf den Grund gehen, die sich an dieser Stelle aufdrängen, müßten die Fäden verfolgt werden, durch welche Hegels Lehre von den vier welthistorischen Reichen m i t der geistigen Tradition, insbesondere mit der deutschen Reichspublizistik verbunden oder wenigstens darauf zugeschnitten ist. Doch muß es hier m i t diesem Hinweis sein Bewenden haben. Es sei noch einmal hervorgehoben, daß Hegel m i t dem germanischen Reiche nicht das alte Reich gemeint haben kann, das i n den ersten Perioden der vierten Geschichtsepoche als Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation existiert hatte, sondern ein noch ausstehendes Reich. Diese Erwartung steht auch nicht i m Widerspruche zu der geschichtsphilosophischen Erkenntnis, daß der Weltgeist bisher von einem Volk zum nächsten V o l k weiterschritt, wenn ein Volk seine weltgeschichtliche Mission erfüllt hatte und i n Verfall geraten war. Denn eben diese Emigration des Geistes sollte nun nicht mehr stattfinden. Dem Verfall der alten Ordnung sollte die Wiedergeburt eines verjüngten Lebens i m eigenen Volke folgen. „ M i t dem E i n t r i t t des christlichen Prinzips ist die Erde f ü r den Geist geworden; die Welt ist umschifft u n d f ü r die Europäer ein Rundes. Was noch nicht von ihnen beherrscht w i r d , ist entweder nicht der Mühe w e r t oder aber bestimmt, beherrscht zu werden. Das Verhältnis nach außen ist so nicht mehr
das Bestimmende; die Revolutionen gehen im Innern vor.
Hieraus folgt, daß die Perioden i n der Geschichte der germanischen Welt nicht w i e bei den Griechen u n d Römern durch die doppelte Beziehung nach
außen, rückwärts
dem späteren scheidende.
zu dem früheren
welthistorischen Volke und vorwärts
zu
sich bestimmen. E i n ganz anderes Prinzip ist hier das ent-
Der germanische Geist ist der Geist der neuen Welt, deren Zweck die Realisierung der absoluten Wahrheit . . . ist. Diese Idee soll n u n i n Gegenw a r t des Selbstbewußtseins i n die wirkliche W e l t eingebildet werden . . . 2 β 3 . " 2β3 Vorlesungen . . . (oben A n m . 112), S. 763. Dieser T e x t weicht v o n den anderen Ausgaben etwas ab. Hervorhebungen von m i r geändert. 8 Suhr
114
4. Kapitel: Staatsphilosophie und List der Dialektik
Und dazu § 347 der Rechtsphilosophie: „ D e m Volke, dem solches M e r k m a l als natürliches Prinzip zukommt, ist die Vollstreckung desselben i n dem Fortgange des sich entwickelnden Selbstbewußtseins des Weltgeistes übertragen. Dieses V o l k ist i n der Weltge-
schichte, für diese Epoche, — und es kann in ihr nur einmal Epoche machen, — das Herrschende. Gegen dies sein absolutes Recht, Träger der gegenwärtigen Entwicklung des Weltgeistes zu sein, sind die Geister der anderen Völker rechtlos, u n d sie, w i e die, deren Epoche vorbei ist, zählen nicht mehr i n der Weltgeschichte. " „Da der Geist n u r als das w i r k l i c h ist, als was er sich weiß, u n d der Staat,
als Geist des Volkes, zugleich das alle seine Verhältnisse
durchdringende
Gesetz, die Sitte u n d das Bewußtsein seiner I n d i v i d u e n ist, so hängt die Verfassung eines bestimmten Volkes überhaupt von der Weise der B i l d u n g des Bewußtseins desselben ab; i n diesem liegt seine subjektive Freiheit, u n d damit die Wirklichkeit der Verfassung." (§ 274 der Rechtsphilosophie.)
Schließlich erhält auch die wiederkehrende Formel von dem Geist, der „sich weiß und will", ihren Sinn. Bei oberflächlicher Betrachtung mutet sie an w i e ein eigenartiger Schnörkel, ein gedanklicher Salto des Geistes i m Kopf des Philosophen. N i m m t man die Formel aber wörtlich, so zeigt sich, daß sie darauf zielt, das ausgebildete Staatsbewußtsein i n den Menschen aus dem Wissen ins Wollen und damit i n die Praxis umschlagen zu lassen: Zunächst w i r d das Staatsbewußtsein so tief verankert, w i e möglich. Dann w i r d der so zum Herrn des Bewußtseins gemachte Staatsbegriff m i t dem Dasein eines bestimmten Volkes zusammengeschweißt: „Der Staat hat endlich die Seite, die unmittelbare Wirklichkeit eines einzelnen und natürlich bestimmten Volkes zu sein 2 6 4 ." Und zum Schluß muß dies alles nicht n u r gewußt, sondern auch gewollt werden. Ist dieser W i l l e erst eine allgemeine Tatsache i n den Köpfen der Menschen, finden sich auch die leidenschaftlichen Arme, m i t denen er sich i n die übrige Welt erstreckt. Dann kehrt sich das Staatsbewußtsein, das inzwischen m i t dem „substantiellen Grund", dem Volk, verknotet ist, gegen die Existenz als Staat eines Teilvolks. Es bringt auf diesem Wege den Staat des ganzen Volkes hervor. So w i r d derjenige, dessen List einen solchen Prozeß erkennt und fördert, „von Grund auf Meister". Denn er bewirkt, „daß das Andre i n seinem T u n sich selbst v e r k e h r t " 2 6 5 .
4.4 Eine Gestalt, die alt geworden ist Hegel verweilt nicht bei dem Staatsbegriff, wie er i n der Rechtsphilosophie dargestellt wird. Er weiß, daß er es m i t einer „alten Ge284 285
§ 545 Enzyklopädie. Glockner 10, 425 = Werke 10, 345. Jenaer Realphilosophie (oben A n m . I l l ) , S. 199.
4.4 Eine Gestalt, die alt geworden ist
115
stalt" zu tun hat, und er blickt i n der Vorrede bereits auf diese Gestalt zurück: Als der Gedanke der Welt erscheint die Philosophie „erst i n der Zeit, nachdem die W i r k l i c h k e i t ihren Bildungsprozeß vollendet u n d fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst i n der Reife der W i r k l i c h k e i t das Ideale dem Realen gegenüber erscheint u n d jenes sich dieselbe Welt, i n ihrer Substanz erfaßt, i n Gestalt eines intellektuellen Reiches erbaut. Wenn die Philosophie i h r Grau i n Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, u n d m i t Grau i n Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern n u r erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst i n der Dämmerung ihren Flug".
Auch um diese Sätze hat es viel Streit gegeben. Und wie so oft prägen sich gute Bilder besser ein als strenge Begriffe, so daß sich bei vielen die Vorstellung erhalten hat, Hegels Philosophie liege allgemein ein Erkenntnismodell des Zurückblickens zugrunde, das über fertige Wirklichkeiten nicht hinauskomme und zu Verjüngungen untauglich sei. Diese Vorstellung findet man nicht so sehr ausdrücklich vorgetragen, aber sie verrät sich daran, daß die „Eule der Minerva" zum geflügelten Wort geworden ist. Es tut daher not, sich darüber zu informieren, was Hegel nun tatsächlich von einer Erkenntnis hält, die es nur m i t fertigen Wirklichkeiten zu tun hat. Die anschaulichste Stellungnahme findet sich i n der Einleitung zur Wissenschaft der L o g i k 2 6 6 . Dort beschreibt und beurteilt Hegel den bisherigen Begriff der Logik (Erkenntnistheorie) Steckbrief artig : „Es w i r d erstens vorausgesetzt, daß der Stoff des Erkennens als eine fertige Welt außerhalb des Denkens an u n d f ü r sich vorhanden, daß das Denken f ü r sich leer sei, als eine F o r m äußerlich zu jener Materie hinzutrete, sich damit erfülle, erst daran einen I n h a l t gewinne u n d dadurch reales Erkennen werde. Alsdann stehen diese beiden Bestandteile . . . i n dieser Rangordnung gegeneinander, daß das Objekt ein für sich Vollendetes, Fertiges sei, das des Denkens zu seiner W i r k l i c h k e i t vollkommen entbehren könne . . . Wahrheit ist die Übereinstimmung des Denkens m i t dem Gegenstande, u n d es soll . . . das Denken nach dem Gegenstande sich fügen u n d bequemen. Drittens . . . k o m m t daher (das Denken) i n seinem Empfangen u n d Formieren des Stoffes nicht über sich hinaus . . . Es k o m m t also auch i n seiner Beziehung auf den Gegenstand nicht aus sich heraus zu dem Gegenstande: dieser bleibt, als ein D i n g an sich, schlechthin ein Jenseits des Denkens."
Dieser „Steckbrief" einer Erkenntnistheorie paßt genau auf die Vorstellungen, die das geflügelte Wort von der Eule der Minerva auszulösen pflegt, und er paßt m i t geringfügigen Einschränkungen auf die betreffenden Sätze i n der Vorrede selbst. Hegels Urteil über diese Theorie einer bloß nachzüglerischen Erkenntnis ist unmißverständlich: Es handelt sich u m 266
s*
Glockner 4, 38 f. = Werke 5, 36 ff.
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4. Kapitel: Staatsphilosophie und List der Dialektik
„ . . . Vorurteile . . . I r r t ü m e r , deren durch alle Teile des geistigen u n d natürlichen Universums durchgeführte Widerlegung die Philosophie ist, oder die vielmehr, w e i l sie den Eingang i n die Philosophie versperren, vor derselben abzulegen sind."
Wer sich also nicht schon den Zutritt zu Hegels Philosophie selbst verbauen w i l l , t u t daher gut daran, das Erkenntnismodell „Eule der Minerva" vor der Lektüre zu vergessen oder zumindest für nur sehr bedingt zutreffend zu halten. Es t r i f f t für die einzelnen Etappen der Philosophie zu, auf die Hegel i n seiner Geschichtsphilosophie als auf ihre Momente zurückblickt: I n diesen Etappen treten die Völker zunächst i n urwüchsiger Gestalt des ursprünglichen Lebens auf; Sitte und Religion sind noch von keinem zersetzenden Verstand i n Frage gestellt. Sie w i r k e n noch i n voller K r a f t und Lebendigkeit. Dann aber machen sich Risse bemerkbar zwischen Sitte und Religion auf der einen und dem übrigen Leben auf der anderen Seite. Durch das Denken und Nachdenken werden Sitte und Religion i n Frage gestellt, problematisiert und zersetzt. Sie verlieren ihre Kraft. Das ist die Epoche des Verfalls, i n dem die jeweilige Philosophie auf den Plan t r i t t : „ D e r weitere Fortgang ist dann, daß der Gedanke sich sammelt, konkret w i r d , u n d sich so eine ideelle Welt hervorbringt i m Gegensatz (!) gegen jene reale. Wenn also die Philosophie bei einem Volke hervortreten soll, so muß ein Bruch geschehen sein i n der w i r k l i c h e n Welt. Die Philosophie ist dann die Versöhnung des Verderbens, das der Gedanke angefangen hat; diese Versöhnung geschieht i n der . . . Welt des Geistes, i n welche der Mensch entflieht, w e n n i h n die irdische Welt nicht mehr befriedigt. Die Philosophie fängt an m i t dem Untergange einer reellen Welt. Wenn die Philosophie auft r i t t u n d — grau i n grau malend — ihre Abstraktionen ausbreitet, so ist die frische Farbe der Jugend, Lebendigkeit schon vorbei. Es ist eine Versöhnung dann, was sie hervorbringt, aber n u r i n der Gedankenwelt, nicht i n der irdischen. So zogen sich auch die Griechen, w e n n sie anfingen zu denken, v o m Staate zurück 2 6 7 ."
Diese Beobachtungen gelten für Hegel auch i n Betreff der jüngsten Geschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, — aber m i t einer kleinen, entscheidenden Abweichung, die sich nur bei genauer Lektüre zeigt: Hegel zog sich nicht vom Staat zurück; sondern wurde staatlich anerkannter und geförderter Staatsphilosoph. Hegel entwarf nicht (wie i n seinen Augen die Philosophen früherer Verfallsepochen) „eine ideelle Welt im Gegensatz gegen jene reale", — eine ideelle Welt, die von dem Boden, auf dem sie gewachsen ist, nicht angenommen w i r d und daher zum nächsten Volk emigriert; sondern er erbaute sich „dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, i n Gestalt eines intellektuellen Reichs". Dieselbe Welt, i n ihrer Substanz erfaßt, ist nicht die Welt der einzelnen besonderen Staaten, sondern das Prin267
Einleitung . . . (oben A n m . 34), S. 151 - 153.
4.4 Eine Gestalt, die alt geworden ist
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zip, das durch diese bunte Rinde hindurchschimmert: die Rose i m Kreuze der Gegenwart, — der innere Puls der Geschichte, der i n den äußeren Gestaltungen noch schlagend gefühlt und begriffen werden kann. Wenn aber die Philosophie ihr Reich nicht gegen die Welt, sondern m i t i h r baut; wenn sie das Zeitalter nur „abklärt", ohne es zu verdammen; und wenn sie aus der bisherigen Geschichte weiß, daß der philosophischen Besinnung die Neugeburt der Religion folgte, dann gibt es keinen Zweifel, daß Hegel auch noch i n der Rechtsphilosophie und später unausgesprochen darauf hinarbeitete, daß „am Ende" kommen würde, wovon er „noch keinen Anfang" sehen konnte: die weltliche, staatlich-weltanschauliche Erneuerung der Religion auf breiter Front. So betrachtet ist die Vorrede zur Rechtsphilosophie ein Meisterstück an Vieldeutigkeit. Wie die dialektische Gleichsetzung von „Wirklichkeit" und „Vernunft" aufzufassen ist, hat Hegel Heine gegenüber selbst authentisch festgestellt: Es könne ebensogut heißen: „Alles, was vernünftig ist, muß sein 2 6 8 ." Und daß auf die Abenddämmerung, i n der die Eule der M i nerva ihren Flug beginnt, ein neuer Morgen folgt, der nicht erwähnt wird, läßt sich ebenfalls belegen. K a r l L u d w i g Michelet schrieb Rezensionen und Beiträge für das unter Hegels Leitung iniziierte „Journal für wissenschaftliche K r i t i k " . I n einem seiner Beiträge hatte er Hegels Sätze dahin erläutert und erweitert, daß er hinzusetzte: „Die Philosophie ist aber auch der Hahnenschlag eines neu anbrechenden Morgens, der eine verjüngte Gestalt der Welt verkündet." Das Manusk r i p t ging an Hegel. „ A l s ich Hegel n u n eines Tages besuchte, zog er meine Handschrift aus seinem Pulte hervor, u n d las m i r meine kühne Behauptung vor. Ich meinte i m ersten Augenblick, er wolle die Stelle beanstanden. Doch bald bemerkte ich an seinem wohlwollenden Schmunzeln, daß er es nicht übel nahm, gewissermaßen überboten zu sein, sondern sich vielmehr an der jugendlichen Z u versicht seines Fortsetzers zu erfreuen schien. Auch w u r d e die kritische Stelle ungehindert abgedruckt 2 8 9 ."
Hätte Michelet die Anrede Hegels an seine Hörer bei seiner ersten Vorlesung i n Berlin gehört und i m Gedächtnis behalten („Diese Morgenröte 2 7 0 eines gediegenen Geistes begrüße ich, rufe ich an . . . Überhaupt aber rufe ich den Geist der Jugend dabei an . . . " 2 7 1 , gesprochen 288
Hegel i n Berichten, S. 235. S. 331. 270 Siehe auch die Vorrede zur 1. A u f l . der Enzyklopädie, Glockner = Werke 8 S. 12/13. 271 Oben nach A n m . 156. 289
8, S. 6/7
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4. Kapitel: Staatsphilosophie und List der Dialektik
n u r eineinhalb Jahr vor Formulierung der Vorrede zur Rechtsphilosophie, aber w o h l während der A r b e i t an diesem Werk), so hätte i h n das Schmunzeln nicht zu überraschen brauchen. „Die Philosophie ist also a n
sich
schon eine weitere Bestimmtheit des
Geistes, sie ist die innere Geburtsstätte des Geistes, der später in der Wirklichkeit auftritt 272(Sperrung von mir.) Was i n den Paragraphen der Staatsphilosophie meist n u r an den Lücken erkennbar ist, deren I n h a l t der Zensur nicht unter die Nase gerieben u n d dem Leser zur eigenen Entwicklung überlassen w i r d , das ist ζ. B. i n der Enzyklopädie schon deutlicher, wenn auch i n allgemeiner Sprache, ausgedrückt: „ I n dem Dasein eines Volkes ist der substantielle Zweck, ein Staat zu sein und als solcher sich zu erhalten; ein V o l k ohne Staatsbildung (eine Nation als solche) hat eigentlich keine Geschichte, wie die Völker vor ihrer Staatsbildung existieren und andere noch jetzt als wilde Nationen existieren 2 7 3 ."
Das also w a r die fernere Arbeit, die Hegel durch Bewußtseinsbearbeitung vorbereitet hatte: Dem deutschen Volke, das sich seine „ N a t i o nalität, den G r u n d alles Lebendigen, gerettet" hatte (Antrittsvorlesungen i n Heidelberg u n d Berlin), zur Staatsbildung u n d zur Geschichte zu verhelfen. W a r diese Aufgabe erst tief ins Bewußtsein eingedrungen, w ü r d e n die I n d i v i d u e n M i t t e l u n d Wege finden, der Aufgabe gerecht zu werden, — die Individuen, die Hegel zu Selbstvertrauen, zu Selbstbewußtsein u n d zu Selbständigkeit erziehen w o l l t e u n d denen er daher auch i n dem P u n k t vertrauen muß te, daß sie die notwendigen Schritte finden u n d gehen würden. Es w a r nicht seine Aufgabe, den jungen Adlern, die er fliegen lehren wollte, ihren Flug i m einzelnen vorzuschreiben, sondern nur, sie zu bilden u n d durch eine Aufgabe zu begeistern. „Das Ziel muß gewußt werden, das erreicht werden s o l l 2 7 4 , " heißt es i m K o n t e x t von Erwägungen, die die Erziehung des Menschengeschlechts betreffen. A b e r nicht einmal dieses durfte Hegel, der Einzelne, beim Namen nennen, denn es w a r nicht die Aufgabe des Philosophen, das praktische „ I c h w i l l ! " zu sprechen, das die wirkliche Person an der Spitze des wirklichen Staates verbindlich f ü r alle zu sprechen hatte, wenn sie es für richtig erachtete. Es ist daher durchaus verständlich, w e n n Hegel nicht n u r zur eigenen Sicherheit, sondern aus Prinzip geschwiegen u n d sich lieber g e k r ü m m t u n d gewunden hat, als daß er sich verraten u n d damit sich u n d seine Sache gefährdet hätte. 272 Einleitung . . . (oben Anm. 34), S. 150. Sperrung von mir. Vgl. dazu I. Fetscher, Hegel — Größe und Grenzen, Stuttgart u. a. 1971, S. 119 ff. 273 Zusatz zu § 549 Enzyklopädie. Glockner 10, 429 = Werke 10, 350. 274 Die V e r n u n f t . . . (oben Anm. 58), S. 150.
4.4 Eine Gestalt, die alt geworden ist
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„ H i e r i n B e r l i n sind hagelnde Gefechte i n stillen Z i m m e r n vorgefallen, w o sich der alte Löwe auf Leben u n d Tod wehren mußte gegen die andrängenden Freunde u n d Schüler, welche i h m m i t eigenen Waffen vorfochten: Wie kommst D u zu Deiner spielerischen Dreieinigkeit, Deinem kraus gewundenen Staate, was hat Deine Kategorie m i t allerlei Arabesken zu schaffen, w a r u m k r ü m m s t u n d windest D u Dich bei der Namensnennung des Resultates, u n d w a r u m glitschest D u auf dem Parkett der vornehmen Welt u n d verlierst den ursprünglichen, stolzen Gang 2 7 5 ?"
Von der Verfassung eines bestimmten zukünftigen Reiches gar zu handeln, das noch nicht am Horizont der existierenden Welt zu erkennen war, hätte genau das bedeutet, was Hegel zuwider war: (wie später seinem Schüler Marx der utopische Kommunismus) nämlich abstraktes Konstruieren von Gestalten, die nicht von dieser Zeit und nicht von diesem Ort waren. Geht eine Theorie des Individuums über ihre Zeit hinaus, „baut es sich eine Welt, wie sie sein soll, so existiert sie wohl, aber nur i n seinem Meinen, — einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt". Das aber, stellt die Vorrede zur Rechtsphilosophie klar, war Hegels Sache nicht. Hegel arbeitete nicht an Entwürfen von Verfassungen für utopische Reiche. Er arbeitete auch nicht selbst auf dem Feld, auf dem Politiker untereinander „praktische" Politik betreiben. Er arbeitete nur mittelbar an der Verfassung Deutschlands: nämlich an dem gegenwärtigen Geist, aus dem i n Verbindung m i t den jeweils konkreten Existenzen Verfassungen hervorgehen, wenn es so weit ist. „Die Frage, wem, welcher u n d w i e organisierten A u t o r i t ä t die Gewalt zukomme, eine Verfassung zu machen, ist dieselbe m i t der, wer den Geist eines Volkes zu machen habe27®."
Wenn Hegel erstens insgesamt mit List zu Werke ging, — wenn er zweitens gewissermaßen vom Platz des Logikers und Geschichtsphilosophen schon zuschaute, wie sich die Füße derer vor der Tür versammelten, die ihn als den Philosophen und Staatsphilosophen seiner Zeit hinaus- und ausführen würden, — wenn es i h m drittens auf ein paar Blümchen oder Bändchen mehr an den Kulissen der reaktionären Gegenwart nicht ankam, — dann ist sogar zu erwarten, daß Hegel i n die Philosophie seiner Etappe noch viele weitere Widersprüche aus dem Leben mitaufgenommen hat, um die Brisanz der Ladung zu verschärfen. Es ist eine Aufgabe für sich, die etwaigen weiteren Widersprüche, deren Wirkung Hegel vielleicht miteinprogrammiert hat, i n den Einzelheiten seiner Staatsphilosophie aufzufinden. Dabei dürfte sich die K r i t i k von M a r x an Hegels Staatsphilosophie vermutlich als anregend erweisen, und vielleicht stellte sich 275 276
Hegel i n Berichten, S. 539. Zusatz zu § 540 Enzyklopädie. Glockner 10, 415 = Werke 10, 336.
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4. Kapitel: Staatsphilosophie und List der Dialektik
heraus, daß viele der Widersprüche, über die der junge M a r x seinen höhnischen Spott ausschüttet, zu den „Späßen und Sarkasmen" Hegels gehören, m i t denen er i n seiner „gütigen Absicht" sich vorgenommen hatte 2 7 7 , der Reaktion „notfalls zu ihrer Perfektion zu verhelfen". Vieles spricht dafür, daß der alte Meister sehr viel häufiger i n seinem Inneren geschmunzelt hat, als weniger listige K r i t i k e r und Wissenschaftler ahnen, welche, wenn sie einen Widerspruch i n Hegels Philosophie entdecken, i h n für Hegels Widersprüchlichkeit halten, — so, als sei Hegel sich dieses soeben entlarvten Widerspruches nicht bewußt gewesen. Hegel w a r sich jedoch regelmäßig der Widersprüche sehr genau bewußt, die i n seiner Philosophie waren und sein mußten, so w i e sie auch i n seiner Welt waren. Hegel steht gewissermaßen neben seinen geliebten Widersprüchen: Er beobachtet sie, bringt sie zur Sprache, fördert sie und wartet schließlich listig ab, daß sie zur Wirkung kommen mögen. Dies und genau dies ist dialektisches, ist spekulatives Denken i n Hegels Sinne: „Das spekulative Denken besteht nur darin, daß das Denken den Widerspruch und i n i h m sich selbst festhält, nicht aber, daß es sich . . . von i h m beherrschen und durch i h n sich seine Bestimmungen n u r i n andere oder i n nichts auflösen l ä ß t 2 7 8 . " Was als in sich entzweit erkannt oder w o r i n ein Widerspruch als wirklich vorhanden begriffen ist, das ist reif für Veränderung und dessen gegenwärtige Gestalt ist fällig, dem Gedächtnis der Geschichte überantwortet zu werden. U m lebendig nachzuvollziehen, von welcher A r t die Versöhnung war, die Hegel m i t seiner Gegenwart gefunden hatte, muß noch etwas angeführt werden, das Hegel feststellte, als er i n Berlin erstmals vom Katheder sprach. Hegel hatte es nicht nötig, der Welt seinen Widerspruch, sein „Nein" entgegenzusetzen, w e i l diese Welt schon in sich selbst entzweit u n d mit sich selbst i m Widerspruche war: „Noch steht das Unendliche dem Endlichen gegenüber, das Ewige macht noch den Gegensatz zum zeitlichen; die Welt ist i n zwei getrennte Teile zerrissen, — ein Reich der Gegenwart u n d ein Reich des Jenseits; an jenes b i n det mich die W i r k l i c h k e i t — mein Bewußtsein, — zu diesem reißt mich der Geist fort; i n keinem k a n n ich ganz sein, u n d i n keinem k a n n ich bleibend verweilen; keines ist f ü r mich befriedigend, jedes hat absolute Ansprüche an mich, u n d diese Ansprüche sind i m Widerspruch, u n d den Widerspruch k a n n ich nicht lösen, indem ich eines aufgebe, sondern beide behaupten i h r Recht. Dieser Widerspruch ist es, der das nähere Bedürfnis der Philosophie enthält, dessen Auflösung sie zum Ziele hat; der i n sich entzweite Geist sucht i n ihr, d. h. i n sich selbst, seine Versöhnung 2 7 9 ." 277
Briefe I I 86 f. — Oben nach A n m . 102. Logik, Zweites Buch, Glockner 4, 547/8 = Werke 6, 76. 27β w e r k e 10, 407. Vgl. auch Werke 1, 444: Der Mensch „ i n einen besonderen Staats- u n d besonderen Kirchenmenschen zertrümmert". 278
4.4 Eine Gestalt, die alt geworden ist
121
Und dazu schließlich i n den Vorlesungen über die Philosophie der Religion: „Wenn die Zeit erfüllt ist, daß die Rechtfertigung
durch den Begriff
Be-
dürfnis ist, dann ist i m unmittelbaren Bewußtsein, i n der W i r k l i c h k e i t die Einheit des Inneren u n d Äußeren nicht mehr vorhanden u n d ist im Glau-
ben nichts gerechtfertigt
28
°."
Wenn die Einheit der Welt m i t sich seihst begrifflich konstruiert werden muß (wie i n Hegels Staatsphilosophie und ihrem „Grau i n Grau"), dann ist für die unmittelbare Überzeugung keine Einheit vorhanden. Sucht also jemand nach Erfüllung nicht i n der begrifflichen Konstruktion, sondern im unmittelbaren Leben selbst, so w i r d er i n Hegels Staatsphilosophie fast nichts davon, wohl aber Widersprüche finden, und zwar u m so schneller und rücksichtsloser, je besser er als ein Schüler Hegels darin geschult ist, die Welt ohne überlieferte Erkenntnisfesseln zu erkennen. Hegel hätte sich i n diesem Falle m i t den Einzelheiten seiner Staatsphilosophie mitnichten derart identifiziert, daß er den gegenwärtigen Zustand hätte festschreiben wollen, i n dem zwar durch den Begriff a l l e s , im Glauben aber n i c h t s gerechtfertigt war. Die Staatsphilosophie m i t ihren Einzelheiten erschiene als abschließender Rückblick auf eine Etappe, m i t welcher Hegel sich versöhnen konnte, w e i l sie zu Ende ging und w e i l er sie in seinem Geiste schon hinter sich gelassen hatte. Hegel hätte nicht nur gewußt, sondern miteingeplant, daß seine Schüler ihn, den Philosophen seiner Etappe, m i t Hegel, dem Geschichtsphilosophen und Logiker, „aufheben" würden, — und er hätte ihnen dieses Vergnügen als K u r zur Stärkung ihres Selbstbewußtseins geradezu verordnet. „Das Ganze der Geschichte der Philosophie ist ein Reich vergangener, nicht n u r leiblich verstorbener Individuen, sondern widerlegter, geistig vergangener Systeme, deren jedes das andere tot gemacht, begraben hat. Es ist ein Schlachtfeld, n u r bedeckt m i t den Gebeinen der Toten. Statt ,folge m i r nach* müßte es freilich nach diesem Sinne vielmehr heißen: Folge d i r selbst nach, d . h . halte dich an deine eigene Überzeugung, bleibe bei deiner eigenen Meinung stehen. W a r u m bei einer fremden 2 8 1 ?"
Tatsächlich spricht Hegel i n der Vorrede der Rechtsphilosophie nicht nur von der „Dämmerung", sondern stellt i m nachfolgenden Absatz klar, daß dem Vorworte ohnehin nur zukam, „äußerlich und subjektiv von dem Standpunkt der Schrift, der es vorangeschickt ist, zu sprechen". Daß dieser Standpunkt nicht der einzig mögliche ist, zeigen Hegels Geschichtsphilosophie und Hegels Logik. Sie liefern den ande280
Philosophie der Religion, Schluß. Glockner 16. 355 f. = Werke 17, 343 f. (Hervorhebung v o n mir). 281 Geschichte der Philosophie, Einleitung. Glockner 17, 45 = Werke 18, 35.
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4. Kapitel : Staatsphilosophie und List der Dialektik
ren Standpunkt, von dem aus der Zwiespalt sichtbar wird, der dafür sorgt, daß die Gegenwart nicht bleibt, was sie ist. „ W i e sich die zeitliche, empirische Gegenwart aus i h r e m Zwiespalt herausfinde, wie sie sich gestalte, ist i h r zu überlassen u n d ist nicht die unmittelbar praktische Sache u n d Angelegenheit der Philosophie 2 8 2 ."
Ist es auch nicht die unmittelbare praktische Aufgabe der Philosophie, die eine Gegenwart praktisch i n die andere zu überführen, so ist es doch ihre mittelbar praktische Angelegenheit. So wenig — i n Hegels Augen — Aristoteles seinem Schüler Alexander die Werke oder gar die einzelnen Taten vorgezeichnet hat, so sehr hat er i h m zur Freiheit und Gewißheit seiner selbst verholfen. Und so wenig Hegel seinen Schülern Krücken in die Hand drücken wollte, an denen sie humpeln würden, bevor sie gehen gelernt hätten, so entschieden arbeitete er daran, sie zu freien, selbstbewußten Menschen heranzuziehen, deren Augen für die Erkenntnis der weltlichen Gegenwart geschult sein würden. Das ist die mittelbar praktische Sache der Philosophie: Sie hat die altgewordenen Gestalten, die das Bewußtsein i m Griff haben, solange es sie sich noch nicht vergegenständlicht hat, durch das Begreifen zum Gegenstande für das Bewußtsein zu machen. — Bevor nämlich eine Gestalt alt geworden ist, erfüllt sie das Bewußtsein (bestimmt es). Die Philosophie arbeitet sodann, um diese Gestalt zu begreifen, die das Bewußtsein noch an sich hat, ohne schon darüber zu stehen. Ist die Gestalt begriffen, dann ist sie zum begriffenen Gegenstande des Bewußtseins herabgesetzt: wie ein Kleidungsstück, das man nicht wahrnimmt, solange man es an sich hat, und das man erst ablegen kann, wenn man es ergriffen, ausgezogen und dabei als ein alt oder zu eng gewordenes Kleidungsstück buchstäblich be-griffen hat. Eine Gestalt begreifen heißt also, sie auf ihren Abgang vorbereiten: eine A r t letzter Ölung vor ihrem Dahinscheiden und vor ihrer Beerdigung. Was währenddessen noch i n den alten Hüllen sich als neue Gestalt entwickelt, ist nicht unmittelbare Sache der Philosophie, sondern der Tat, die es m i t der jeweils konkreten Gegenwart zu tun hat. „ I c h wünsche, daß diese Geschichte der Philosophie eine Aufforderung für sie enthalten möge, den Geist der Zeit, der i n uns natürlich ist, zu ergreifen u n d aus seiner Natürlichkeit, d. h. Verschlossenheit, Leblosigkeit hervor an den Tag zu ziehen u n d — jeder an seinem Ort — m i t Bewußtsein an den Tag zu bringen 2 8 3 ."
Trotzdem läßt das B i l d von der Eule der Minerva, die i n der Dämmerung ihren Flug beginnt, einen Hauch von Wehmut anklingen. Mag 282 283
Oben A n m . 280. Geschichte der Philosophie, Schluß. Glockner
19, 691 = Werke 20, 462.
4.4 Eine Gestalt, die alt geworden ist
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der Logiker und Geschichtsphilosoph das Kommen und Gehen, Entstehen und Vergehen, Verjüngen und Altern auch durchschauen und i n seinem Innern schon die Gegenwart hinter sich gelassen haben, — als lebendiger Mensch ist er Sohn des unerbittlichen Kronos: seine Zeit ist der Rahmen seiner Bestimmung, ist sein Schicksal. Hegel ist es nicht vergönnt, selbst mit Hand anzulegen an der neuen Gestalt, die er seit langem heraufziehen weiß und der er i n „Furcht und Hoffnung" entgegensieht. („Der Geist hat m i t der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht i m Begriffe, es i n die Vergangenheit hinab zu versenken 284 .") Die neue Gestalt t r i t t noch nicht i n ihren Einzelheiten hervor. („Indem einerseits die erste Erscheinung der neuen Welt nur erst das i n seine Einfachheit verhüllte Ganze . . . ist, so ist dem Bewußtsein dagegen der Reichtum des vorhergehenden Daseins noch i n der Erinnerung. Es vermißt an der neu erscheinenden Gestalt die Ausbreitung und Besonderung des Inhalts; noch mehr aber vermißt es die Ausbildung der Form 2 8 5 .") Dieser Beschränkung unterwirft sich Hegel „ohne Murren". Aber er ist Mensch, und als solchen stimmt es ihn wehmütig, wenn er sich i n der Abenddämmerung weiß, ohne an den Taten und Gestalten des nächsten Tages unmittelbaren A n t e i l zu haben. Diese Stimmung auszudrücken und zu mildern, ist das B i l d von der Eule wohl geeignet. — Hegel hat aber mehr philosophisch begriffen und bewußt gemacht als nur die staatliche Gestalt des Lebens i n der Abenddämmerung seiner Etappe. Er hat den bisherigen Wechsel der Gestalten von Etappe zu Etappe als eine Gestalt für sich begriffen und seinem Bewußtsein vergegenständlicht : „Die Erscheinung ist das Entstehen u n d Vergehen, das selbst nicht entsteht u n d vergeht, sondern an sich ist u n d die W i r k l i c h k e i t u n d Bewegung des Lebens der Wahrheit ausmacht. Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht t r u n k e n ist . . . I n dem Gerichte jener Bewegung bestehen zwar die einzelnen Gestalten des Geistes wie die Gedanken nicht, aber sie sind so sehr auch positive notwendige Momente, als sie negativ u n d
verschwindend sind. — In dem Ganzen der Bewegung, es als Ruhe aufgefaßt . . . 2 8 8 . " (Letzte Hervorhebung von mir.)
Das Ganze der Bewegung, i n einem (in sich dynamischen) Begriff festgehalten und so „als Ruhe aufgefaßt": das ist die Gestalt, die nun begriffen wird. Sie verhält sich zu ihren Momenten wie der Begriff des Gehens zu den einzelnen Schritten, die beim Gehen getan werden. Wenn es aber (im Hegeischen System) so ist, daß eine begriffene Sache reif ist, überwunden zu werden, könnte man auf die Idee verfallen, 284 285 288
Phänomenologie, Vorrede. Glockner 2, 18 f. = Werke 3, 18 f. a.a.O. S. 45 ( = Werke 3, 46 f.).
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4. Kapitel : Staatsphilosophie und List der Dialektik
daß es nun m i t dem bisherigen „Werden und Vergehen" selbst auf irgendeine noch zu bestimmende Weise ein Ende hat. Eine Gestalt w i r d jedoch nicht überwunden, indem sie liquidiert, sondern indem sie „aufgehoben" wird, das heißt, indem sie sich auf „höherer", bewußterer Ebene und i n gewandelter Gestalt fortsetzt. Fügt man daher der nun ins Bewußtsein gedrungenen Dialektik der Gestalten das jetzt erarbeitete Bewußtsein hinzu, so verwandelt sich die noch ungewußte Dialektik der Gestalten i n die bewußt gestaltende Dialektik. Die Gesetze, denen die Gestalten bislang ausgeliefert waren, diese Gesetze werden jetzt auf sie angewendet: Bei Hegel (und später bei Marx), i n dem er m i t Hilfe dialektischer Gesetze eine neue Gestalt hervortreiben w i l l . (Der Wildbach, der m i t Naturgewalt Schaden stiftete, soll nun als Kraftspender dienen, der zu Diensten ist.) Diese neue Gestalt aber war sichtbar nur erst i n ihrer „Einfachheit" (später das „reine Licht" beim jungen Marx). Wenn diese neue Gestalt bei ihrer konkreten Entwicklung i n der Welt die früheren i n sich aufnehmen und „aufheben" muß, dann muß sie nicht nur den altgewordenen Staat der Rechtsphilosophie, sondern auch die begriffene Dialektik der Geschichtsphilosophie i n sich „aufheben": Sie muß also führen von der geschichtlichen Dialektik der Gestalten m i t Hilfe der gestaltenden Dialektik ins „Reich" der gestalteten Dialektik. Dieser Weg führt aus der ungewußten über die angewendete zur verfaßten Dialektik. Dafür allerdings, daß Hegel die dritte Station dieses Weges irgendwo bereits als „verfaßte Dialektik" oder i n ähnlichen Begriffen — etwa als verfaßte „Unruhe und Bewegung" oder verfaßter „Widerspruch" — angedeutet hätte, habe ich keine Zeugnisse finden können. —
4.5 Philosophie des anonymen Todes Der milden Abenddämmerung folgte ein weltanschaulicher Morgen und ein blutiger Mittag. Es gab außerdem jedoch Trägheitsmomente i m deutschen Bewußtsein, an denen selbst Hegels Arbeit nicht viel ändern konnte, zumal man sich an Hegel, dem Philosophen auch der Etappe, festhalten und i h n für sich ausbeuten konnte. Die Tragik des Hegeischen Werkes an Deutschland liegt — auf eine zugespitzte Formel gebracht — darin, daß er daran mitgearbeitet hat, Deutschland zwar gerade nicht altdeutsche Sehnsüchte und gefühlsträchtige Frömmigkeiten, aber eben doch eine Gestalt auf den Leib zu hexen, von der er selbst wußte, daß ihre existierenden Formen alt geworden waren. Veraltet daran war nicht die Idee eines Reiches der Vernunft auf Erden i m Sinne Hegels, — „ a l t " aber war der Staat als absolutes Individuum und Konzentrationspunkt aller Allgemeinheit. Für diesen Staat wurden Würde und Allgemeinheit beansprucht; seine Organisa-
4.5 Philosophie des anonymen Todes
125
tion wurde bestimmt als gelebte Versöhnung von Idee und Wirklichkeit. Aber das Problem der Ungeselligkeit der Menschen, das innerhalb des vernünftigen Staates gedanklich und praktisch gelöst werden sollte, wurde nicht gelöst, sondern nur verschoben. Es tauchte als Problem der Ungeselligkeit der Nationalstaaten untereinander sowie als Problem der Ungeselligkeit der Stände bzw. Klassen i m Staat selbst wieder auf. Es war das Problem, das Hegel ζ. T. schon i n der Verfassungsschrift angesprochen hatte, als er von der jüdischen Nation sprach: von dieser „ m i t anderen zu Geselligkeit und Gemeinschaftlichkeit unvereinbaren Nation". Noch präziser heißt es i n der Neufassung des A n fangs (1800) von „Positivität der christlichen Religion" (1795/96): „Jesus, der das Übel seines Volkes an der Wurzel angriff, nämlich an seiner hochmütigen u n d feindseligen Aussonderung von allen Nationen, es also zum Gott aller Menschen, zu allgemeiner Menschenliebe . . . führen wollte, dessen neue Lehre eben deswegen mehr noch zur Religion der W e l t als seines V o l kes wurde — ein Beweis, w i e tief er die Bedürfnisse seines Zeitalters aufgegriffen hatte 2 8 7 ."
Hegel setzte die Tradition der Auserwähltheit fort, indem er die Allgemeinheit des Geistes i n seiner Geschichtsphilosophie zeitlich auflöste und die welthistorischen Völker zu berufenen Völkern machte. I m germanischen Reich sollte i n der Welt verwirklicht werden, was i m Christentum bis dahin noch jenseits der Welt angesiedelt war. Hegel knüpfte bei seinem geschichtlichen Volk an, u m nicht i m leeren Räume weltbürgerlichen Redens zu verdunsten und u m seine politischen und geistigen Leidenschaften m i t dem Weltgeist abzustimmen. So knüpfte er an die Eigenschaft des alten Gottes an, die sich früher i n seinen Augen als mitbestimmend für das jüdische Verhängnis erwiesen hatte: an die nationale Auserwähltheit. Da er zugleich an die Verwirklichung einer „Religion der Welt" dachte, konnte der Prozeß nur dann zu einem Hegels Weltgeiste entsprechenden Ende führen, wenn das Reich zum Reich der Welt emporwuchs und die Herrschaft der Vernunft über die Welt ausbreitete. A n der einen Eigenschaft des alten Gottes, der Gott eines auserwählten Volkes zu sein, hingen aber auch seine übrigen Eigenschaften: Reizbarkeit, Zorn, Erhabenheit, Opferbedürftigkeit, Unmenschlichkeit i n der Vergeltung usw. Diese Eigenschaften wurden teils bewußt, teils ungewollt, ebenfalls verweltlicht und später vom Reiche nach innen w i e nach außen „verwirklicht". Von den beschworenen Geistern erschienen nicht nur die gerufenen, sondern auch ungerufene. Die gründliche Geschichte ließ dem alten Gotte Zeit und Gelegenheit, noch einmal wirklicher Staat zu werden und seine Eigenschaften statt i m religiösen Gewand nun 287
Nohl S. 149 = Werke 1, 227.
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4. Kapitel : Staatsphilosophie und List der Dialektik
noch einmal i m weltlichen „ K l e i d des Jahrhunderts" (Schiller) 288 auszukosten. Der rote Faden, der i n den autonomischen Totalitäten der Staatsphilosophie endet, führt allerdings auch zurück bis i n frühe und früheste Schriften. Er hängt zusammen mit der Abneigung Hegels gegen Kosmopolitismus und m i t der Auflösung der philosophischen Allgemeinheit und Wahrheit i n einen Prozeß von Besonderheiten, die als geistige und weltliche Verdichtungszonen räumlich und zeitlich über den Erdball verteilt sind. Dieser rote Faden zeigt sich auch schon i n der K r i t i k des jungen Hegel am „Vater unser". Diese K r i t i k sei hier ausführlich wiedergegeben, w e i l sie erstens genau zeigt, wie Hegel von Anfang an im Staat Gemeinschaftlichkeit w i l l , zwischen den Staaten aber nichts dergleichen anerkennt, und w e i l sie zweitens noch einmal einen gedanklichen Bogen schlägt zurück zum Ausgangspunkt (Hervorhebungen und Ergänzungen von mir): „ . . . betet i n eurem Kämmerlein, u n d ein solches einsames u n d einzelnes Gebet ist das Vaterunser. Es ist nicht das Gebet eines Volkes zu seinem Gotte, sondern das Gebet eines Isolierten, Unsicheren, Ungewissen. Dein Reich komme, dein Name werde geheiligt; (das ist nur) der Wunsch eines Einzelnen, u n d ein V o l k k a n n nicht wünschen: dein W i l l e geschehe, ein Volk
von Ehre und Stolz tut seinen eigenen Willen und weiß von keinem anderen als einem feindlichen — (nur) der Einzelne k a n n den W i l l e n Gottes u n d den allgemeinen (Willen des Volkes als einander) entgegengesetzt sehen. Gib uns unser (täglich Brot) usw. — Eine B i t t e der stillen Einfalt, die i m Munde eines Volks nicht paßte, das sich seiner Herrschaft über die Nahrungsmittel bewußt ist oder unmöglich n u r den Gedanken an die Speise eines Tages haben kann, sondern w o h l u m Gedeihen des Ganzen, u m freundliche N a t u r beten k a n n ; beten ist nicht bitten; vergib uns — (das ist) auch (nur) ein
Gebet des Einzelnen; Nationen sind Getrennte, Abgesonderte, es ist nicht denkbar, wie sie einer anderen Nation verzeihen sollen; es könnte nicht
durch eine Vereinigung, sondern n u r durch das Gefühl der Gleichheit oder des Übergewichts der Macht, Furcht geschehen. — Das Bewußtsein eigener Sünden, diese Reflexion k a n n sie (die Nation) n u r durch Schmerz erhalten; denn sie k a n n ihren W i l l e n nicht unter einem Gesetz anerkennen. Aber der Einzelne k a n n beten, soviel Liebe ich habe, soviel möge ich erfahren 2 8 9 ."
Man könnte nun die Erwägungen, die Hegel i n seiner Jugend zur Natur des Menschen angestellt hat und zu denen er durch die bestehenden Ungeselligkeiten zwischen den deutschen Kleinstaaten angeregt worden war, i m Hinblick auf die Ungeselligkeit des Staates i n Hegels Philosophie durchspielen. Dabei würde sich zeigen, daß Hegel alle Eigenschaften, die er beim Menschen als seiner Natur zuwider ansieht, dem Staate von Vernunft wegen zuspricht. Während Hegel z. B. das Recht im Staat auf die freie Selbstbestimmung der Persön288
289
Unten bei A n m . 378.
Nohl S. 399 = Werke 1, 313.
4.5 Philosophie des anonymen Todes
127
lichkeit gegründet wissen w i l l , „welche das Gegenteil der Naturbestimmung ist", — und während er hinzufügt: „Das Recht der N a t u r ist . . . das Dasein der Stärke u n d das Geltendmachen der Gewalt, u n d ein Naturzustand (ist) ein Zustand der Gewalttätigkeit u n d des Unrechts, von welchem nichts Wahreres gesagt werden kann, als daß aus
ihm herauszugehen ist 290 ."
dient i h m die „autonomische Totalität" des Staatsindividuums als Prinzip, u m zu rechtfertigen, warum zwischen den Staaten i m Naturzustand geblieben w i r d 2 9 1 . Das ist zwar eine plausible Argumentation, wenn man, wie Hegel, die Philosophie als „Rechtfertigung der Vorsehung" betrachtet. Aber i m Ganzen seines Systems bleibt doch ein nicht nur dialektischer W i derspruch: Nachdem der Geist zum Selbstbewußtsein gekommen ist, hört die instinktartige Arbeit des Weltgeistes i n der Geschichte an sich auf (nicht das Schicksal i m übrigen). A n die Stelle der blinden, instinktartigen Arbeit t r i t t die Arbeit in Gegenwart des Selbstbewußtseins. Mochte also die urwüchsige Arbeit der Vergangenheit, auch soweit sie fürchterlich war, durch die Geschichtsphilosophie „gerechtfertigt werden" 2 0 2 , u m dem Ganzen noch Sinn und Vernunft abzugewinnen, so gibt es von nun an keine Rechtfertigung mehr, die m i t der Unwissenheit über die Zusammenhänge argumentieren kann. Mochte für die Vergangenheit die Geschichte als Weltgericht und als die Schlachtbank angesehen werden, auf der die Volksgeister zum Wohle und Fortschritt des Weltgeistes geopfert wurden, so entfällt diese Notlösung zur erkennenden Versöhnung m i t der Welt genau von dem Augenblick an, i n dem das Treiben durchschaut wurde und der bewußt gewordene Geist auf sich zurückblicken konnte, u m sich über diese seine bisherige dumpfe Gestalt zu erheben (vgl. § 343 der Rechtsphilosophie). Hegel traute dem Bewußtsein eine Macht aufs Handeln zu wie kaum ein Philosoph vor ihm; denn er machte diesen Zusammenhang zum Angelpunkt seiner Philosophie. Wenn er nun eine Staatsphilosophie verfaßt und unters Volk bringt, i n der die „autonomische Totalität" des Staates zur Gestalt von ungeselligen Superindividuen führt, die untereinander i m Naturzustand stehen, dann mußte er sich sagen, daß diese Darstellung ungeselliger Superindividuen als Inkarnationen der 290
A n m e r k i m g zu § 502 Enzyklopädie. Werke 10, 311 f. = Glockner 10, 391. § 333 der Rechtsphilosophie. 292 Dazu Hegels vernichtendes U r t e i l einerseits u n d seine „Rechtfertigung" der Greuel der Kirche i m M i t t e l a l t e r andererseits. Glockner 11, 486 = Werke 12, 460: „Das widrigste u n d empörendste Schauspiel, das jemals gesehen worden u n d das n u r die Philosophie begreifen u n d daher rechtfertigen kann." 291
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4. Kapitel : Staatsphilosophie und List der Dialektik
Vernunft die Wirkung haben würde, diesen Gebilden zur Erscheinung i n der wirklichen Welt zu verhelfen (Was vernünftig ist, ist wirklich, — muß sein). Hier liegt die „Schwäche" der Staatsphilosophie, — oder ihre unheimliche Stärke als Philosophie ihrer Zeit und für ihre Nachwelt. Dieser Schwäche bzw. Stärke muß hier noch i n einem Punkte nachgegangen werden. Es ist für uns heute fast unbegreiflich, daß Hegel dem Staat als Ganzem, — dieser Wirklichkeit der sittlichen Idee, i n Gegenwart des Bewußtseins zumutet, was für den Umgang des Menschen m i t dem Menschen die Barbarei ist, von der nichts anderes gesagt werden kann, als daß aus ihr herauszutreten sei: die bewußtlose, selbstvergessene Gewalt Besonderer gegen Besondere des Naturzustands. A u f der höchsten Ebene, auf der der Weltgeist sich manifestiert, w i r d auf sein Ziel und seine Bestimmung stillschweigend verzichtet: Nicht der selbstbewußte Geist bildet sich eine Welt, die i h m angemessen ist und i n der er sich wiederfinden und genießen kann, — sondern die instinktartige Gewalttätigkeit macht das Weltgericht. A u f welche Stufe diese Pointe den Weltgeist zurückwirft, läßt sich am besten m i t den Worten veranschaulichen, die Hegel i n der Phänomenologie des Geistes 293 selbst formuliert hat, — und zwar insbesondere zur Tierreligion: „Das wirkliche Selbstbewußtsein dieses zerstreuten Geistes ist eine Menge vereinzelter ungeselliger Völkergeister, die i n ihrem Haß sich auf den Tod bekämpfen u n d bestimmte Tiergestalten als ihres Wesens sich bewußt w e r den, denn sie sind nichts anderes als Tiergeister, sich absondernde, ihrer ohne Allgemeinheit bewußte Tierleben." „Eine komische Selbstvergessenheit ihrer ewigen Natur."
I n harter Bewußtseinsarbeit streift, wie es an anderer Stelle heißt, die menschliche Gestalt die tierische ab, — aber i n Hegels Staatsphilosophie m i t dem Ergebnis, daß die Menschen sie sich i n der Form des Staates als autonomischer Totalität sogleich wieder überstülpen. Die Ungeselligkeit der Menschen untereinander i m Staat wurde m i t dem nationalen Staatsbewußtsein zeitweilig fast übergründlich i n Zusammengehörigkeits- und Solidaritätsbewußtsein überwunden. Aber der Mangel, der am Individuum scheinbar kuriert wurde, kehrte alsbald zurück i n der Inkarnation des Staates: gebündelt u n d organisiert, verjüngt und gekräftigt durch die be-geisterte Gemeinschaftlichkeit i m Innern. Hegel „löste" ein zwischenmenschliches Problem, indem er es i n ein zwischenstaatliches übersetzte. (Und Deutschland löste später ebenfalls seine innenpolitischen Probleme, indem es i n nationalstaatliche 293
Glockner 2, 530 = Werke 3, 507/8 u n d 533.
4.5 Philosophie des anonymen Todes
129
Sackgassen s t ü r m t e , d i e es v o n sich selbst h i n w e g f ü h r t e n u n d a u f sich selbst z u r ü c k w a r f e n : das h e i ß t , es löste seine P r o b l e m e m i t n i c h t e n . ) A m b e d r ü c k e n d s t e n zeigt sich d i e V e r s c h i e b u n g des U n g e s e l l i g e n u n d U n m e n s c h l i c h e n v o m e i n z e l n e n Menschen a u f d e n S t a a t i n Hegels P h i l o s o p h i e des K r i e g e s 2 9 4 . D e r K r i e g i s t d i e H e i m k e h r i n d e n N a t u r z u s t a n d a u f h ö h e r e r , s t a a t l i c h g e h e i l i g t e r Ebene. F a s t h ö r t m a n eine düstere V a r i a t i o n a u f d e n Satz h i n d u r c h : H i e r b i n i c h Mensch, h i e r d a r f ich's sein. I m K r i e g i s t das I n d i v i d u u m i m S t a n d d e r T a p f e r k e i t , i n d e m d i e A u f o p f e r u n g des Selbst f ü r d e n G e i s t des V o l k e s w i r k l i c h w i r d , u n d z w a r so, „daß Jeder als dieser Einzelne sich selbst als absolute Macht macht, als absolut frei sich schaut, f ü r sich u n d reell gegen ein Anderes als die a l l gemeine Negativität. I m Kriege ist es i h m gewährt: es ist Verbrechen für das Allgemeine, der Zweck die Erhaltung des Ganzen gegen den Feind, der auf die Zerstörung desselben geht. Diese Entäußerung muß eben diese abstrakte F o r m haben, individualitätslos sein, der Tod k a l t empfangen u n d gegeben werden, nicht durch die statarische Schlacht, w o der Einzelne den Gegner ins Auge faßt u n d i m unmittelbaren Hasse denselben tötet, sondern der Tod leer gegeben u n d empfangen w i r d — unpersönlich, aus dem P u l v e r dampf" 295. „ . . . dem Schießpulver . . . gebührt der Verdienst, daß es den individuellen Haß gegen den einzelnen Feind ganz v e r b a n n t 2 9 6 . " „Gänzlicher Gehorsam u n d A b t u n des eigenen Meinens u n d Räsonierens, so Abwesenheit des eigenen Geistes, u n d intensivste u n d umfassendste augenblickliche Gegenwart des Geistes u n d Entschlossenheit, — das feindseligste u n d dabei persönlichste Handeln gegen Individuen, bei v o l l k o m m e n gleichgültiger, j a guter Gesinnung gegen sie als I n d i v i d u e n 2 9 7 . " D e r K r i e g macht ernst m i t a l l e d e m , w o v o n sonst n u r i n d e r K i r c h e gepredigt w i r d : m i t der Eitelkeit der zeitlichen Güter u n d Dinge. I m K r i e g e w i r d wirklich geopfert. I m K r i e g e e r h ä l t d i e B e s o n d e r h e i t i h r Recht, — w i r d W i r k l i c h k e i t . „ E r hat die höhere Bedeutung, daß durch i h n . . . ,die sittliche Gesundheit der Völker i n ihrer Indifferenz gegen das Festwerden der endlichen Bestimmtheiten erhalten w i r d , w i e die Bewegung der Winde die See vor der Fäulnis bewahrt, i n welche sie eine dauernde Ruhe, w i e die Völker ein dauernder oder gar ewiger Friede versetzen w ü r d e ' 2 9 8 . " 294
Dazu Heller (oben A n m . 2), S. 121. Jenaer Realphilosophie (oben A n m . I l l ) , S. 261 f. 29β Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (oben A n m . 112), S. 855 f. 295
297 298
§ 328 der Rechtsphilosophie. A n m e r k u n g zu § 324 der Rechtsphilosophie.
9 Suhr
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4. Kapitel : Staatsphilosophie und List der Dialektik
Der Staat als natürliches, geographisches und antropologisches I n d i v i d u u m 2 0 9 ist reizbar: Er kann i n seiner autonomischen Totalität jede Kleinigkeit und Empfindlichkeit zum Streit- und Kriegsvorwand nehmen. „ i n d e m ein Staat seine Unendlichkeit u n d Ehre i n jede seiner Einzelheiten legen k a n n u n d u m so mehr zu dieser Heizbarkeit geneigt ist, je mehr eine kräftige I n d i v i d u a l i t ä t durch lange innere Ruhe dazu getrieben w i r d , sich einen Stoff der Tätigkeit nach außen zu suchen u n d zu schaffen" 8 0 0 . „ W e n n so das Ganze zur Macht geworden u n d aus seinem inneren Leben i n sich nach außen gerissen ist, so geht der Verteidigungskrieg i n Eroberungskrieg ü b e r 3 0 1 . "
A n dieser Philosophie des abstrakten Tötens zeigt sich die unheimliche Folgerichtigkeit, m i t der der Staat zum Über-Individuum hinaufphilosophiert wird. Hegel hätte an den Kernwaffen und am Knopfdrucktöten seine wahre Freude gehabt, — oder es bedürfte vielmehr erst zweier Weltkriege, u m die Wirklichkeit zur Besinnung ganz i m Sinne von Hegels Philosophie zu bringen: Z u r Reflexion auf die staatlich-weltliche Religion des Staates und des anonymen Todes, der i n geistiger Staatsekstase kalt gegeben und empfangen wird. A n der A r t , wie sie ihre Menschenopfer legitimiert und zelebriert, am Opferkult, kann man die Religion (die Fessel und Führerin des Bewußtseins) erkennen. Hegel muß zum anonymen Tode kommen; denn als konkrete Individuen und Persönlichkeiten wären die Soldaten Menschen von geselliger Natur. Diese Geselligkeit würde, auf den Menschen des feindlichen Volkes angewendet und praktiziert, der ungeselligen Natur der Staaten und ihrer reizbaren autonomischen Totalität hinderlich sein. Die gesellige Natur des Menschen hat daher insoweit aus dem Bewußtsein zu verschwinden oder muß, falls sie als gute Gesinnung gegen die Soldaten des Feindes noch vorhanden ist, durch gänzliche Abwesenheit des eigenen menschlichen Bewußtseins restlos überspielt werden. Das Ganze der Staatsphilosophie, soweit sie sich nicht auf die innere, strenge Vernünftigkeit des Staates bezieht, ist ein Gemälde von fürchterlicher Erhabenheit Der Schöpfer dieses erhabenen Gemäldes der abstrakten Tapferkeit aber schreibt m i t fünfzig Jahren an seinen Freund: „Sie wissen, ich b i n einesteils ein ängstlicher Mensch, andernteils liebe ich die Ruhe, u n d es macht eben nicht gerade ein Behagen, alle Jahre ein G e w i t ter aufsteigen zu sehen, w e n n ich gleich überzeugt sein kann, daß mich höchstens ein paar Tropfen eines Streifregens treffen 3 0 2 ." — 299 800 801
§ 346 der Rechtsphilosophie. §§ 334, 335 der Rechtsphilosophie. § 326 der Rechtsphilosophie.
4.5 Philosophie des anonymen Todes
131
Fast gewinnt man den Eindruck, als sei Hegel, der Geschichts- und Staatsphilosoph, die objektivierte, tapfere und todesmutige Ergänzung zu Hegel, dem ängstlichen Menschen und Bürger. Dieser Eindruck löst die Frage aus, welche Bedeutung das Todesfurchtthema i n der Philosophie i m allgemeinen und bei Hegel i m besonderen hat. Aber es würde hier zu weit vom Wege abführen, den einschlägigen Fragen auch n u r i n Hegels Arbeiten nachzuspüren. Wahrscheinlich liegt jedoch genau hier auch ein Schlüssel zum psychologischen und sozialpsychologischen Verständnis nicht so sehr Hegels selbst als vielmehr seiner Philosophie und der späteren Wirklichkeiten, die zu seiner Philosophie (sei es durch sie, sei es unabhängig von ihr) in erstaunlicher Ähnlichkeit stehen. — So möchte man schließlich m i t Hegel über Hegel sagen: „Was der Geist w i l l , ist seinen Begriff erreichen; aber er selbst verdeckt sich denselben, ist stolz u n d v o l l von Genuß i n dieser Entfremdung seiner selbst 3 0 3 ."
Darin soll jedoch keine Besserwisserei ausgedrückt, sondern nur eine Mahnung an uns selbst ausgesprochen werden. Das gleiche gilt, wenn nun noch ein weiteres Urteil m i t Hegel über Hegel formuliert wird. Hegel kannte die Reizbarkeit der Staaten. Er wußte, welche Opfer und Leiden fällig sind, wenn der Weltgeist sich an die Schlachtbank begibt. Und er pries den anonymen Tod. Hegel mußte also „die ganze Gräßlichkeit" voraussehen. Er „ k a m nicht, sagte er, der Erde den Frieden zu bringen" 3 0 4 , sondern den verjüngenden Krieg und den abstrakt-heldenhaften, anonymen Tod. Zu Jesu Enthüllung, er sei nicht gekommen, Frieden zu bringen auf Erden, sondern das Schwert, sagt Hegel: „ H i e r i n liegt eine Abstraktion von allem, was zur W i r k l i c h k e i t gehört, selbst von den sittlichen Banden. M a n k a n n sagen, nirgend sei so revolutionär gesprochen als i n den Evangelien, denn alles sonst Geltende ist als ein Gleichgültiges, nicht zu Achtendes gesetzt 3 0 5 ."
Ebenso kann man m i t Hegel über Hegel schreiben, nirgend sei so revolutionär gesprochen als i n seinen Ausführungen über den Krieg und über die Segnungen des Krieges. „Die Folgen vor Augen, dachte er nicht daran, seine Wirksamkeit zurückzuhalten, u m der Welt ihr Schicksal zu ersparen, ihre Zuckungen zu mildern und i h r i m Untergange den tröstenden Glauben an Schuldlosigkeit zu lassen 306 ." 302 303
304 305 306
9*
Briefe I I 272. Die V e r n u n f t . . . (oben A n m . 58), S. 152.
Nohl S. 329 = Werke 1, 402. Glockner 11, 420 = Werke 12, 396. Nohl S. 329 = Werke 1, 402.
132
4. Kapitel : Staatsphilosophie und List der Dialektik 4.6 Wurzeln der Dialektischen Logik
Wenn diese Arbeit eine philosophische Untersuchung wäre, die sich der Dialektik bei Hegel widmete, schlössen sich hier die entscheidenden Kapitel an: Die Darstellung von und die Auseinandersetzung m i t Hegels Logik i n der dialektischen Sprache, die Hegel geprägt hat. Dabei ergäbe sich der Ansatz aus der Einsicht: Hegels Leben und W i r ken ist praktische Dialektik, — ist Dialektik i n der Anwendung und i n der Verwirklichung. Die Logik erschiene dann als Niederschrift des der Welt und sich selbst zusehenden Philosophen: eine Niederschrift, i n der er die Regeln seines Lebens und seiner Welt i n abstrakter Form sich selbst zur K l ä r u n g und den anderen zur Einübung i m spekulativen Denken abgefaßt hätte. So reizvoll die Aufgabe erscheint, dem weiter nachzugehen, — sie führte auf einen Weg, der i m Rahmen dieser A r b e i t nicht viel weiter brächte. N u r einige Gedanken gehören noch hierher, die i m Hinblick auf den weiteren Gang dieser Untersuchung, insbesondere i m Hinblick auf das Hegelbild des dialektischen Materialismus, aufschlußreich sind. Hegel begann bei „untergeordneten Bedürfnissen der Menschen" 3 0 7 , — bei Problemen seiner Zeit, die i h n beschäftigten: M i t der Frage nach einer zeit- und ortsgerechten Religion und m i t der Frage nach einer Wiederherstellung des Reichs bzw. nach der Vorarbeit für ein neues Reich. Beides waren Veränderungs- u n d Erneuerungsprobleme ersten Ranges. Als ein deutscher Kopf, als den er sich selbst begriff, machte Hegel sich dabei systematisch an die Arbeit. Daß er bei den Bedürfnissen der Menschen anknüpfen und „die belebende K r a f t von Ideen" ins Werk führen mußte, war von Anfang an klar. Aber u m i m großen S t i l zu verändern und zu erneuern, mußte Hegel die Gesetze der Veränderung u n d Erneuerung kennen u n d beherrschen: so wie jemand, der hydraulische Pressen bauen möchte, die Gesetze der Hydrodynamik kennen und technisch beherrschen muß. E i n Lehrbuch über die Gesetze der Veränderung, auf das er hätte zurückgreifen können, fand Hegel nicht vor. Es gab nur empirische Modellfälle für Veränderungen i n der Geschichte auf der einen Seite u n d eine Logik auf der anderen, m i t der sich n u r unbewegte Identitäten erfassen ließen. Eine Logik darüber, w i e Altes aus sich heraus Neues hervorbringt, gab es nicht. Also mußte Hegel sie entwickeln. „Über jedes logische Kompendium wollte ich w o h l . . . Vorlesungen halten,
aber wie ich das Alte, den Übergang zum Neuen, d. h. das Negative des Alten, und das neue Positive miteinander auf eine Art verbinden sollte, welche allgemeingültig, als in einem Lehrbuche wäre — dazu weiß ich sogleich noch nicht Rat zu schaffen. Hätte ich ein paar Jahre über meine 307
Briefe I 59, Auszug oben bei Anm. 91.
4.6 Dialektische Logik
133
Logik, w i e sie jetzt zu werden anfängt, zu der ich i n Jena k a u m den G r u n d gelegt u n d nicht ausführlich gelesen habe, gelesen, so wüßte ich m i r vielleicht eher zu helfen." ( A n Niethammer, M a i 1808 308 .)
Bevor man Hegels Logik aufschlägt und liest, empfiehlt es sich, daß man versucht, die Aufgabe, wie Hegel sie sich selbst gestellt hat, als eine A r t Hausaufgabe zunächst für sich allein und selbständig zu lösen, und zwar m i t Ausdauer. Das ist ein guter Weg, sich m i t dem logischen Problem und seinen Tücken vertraut zu machen, — und ohne das Problem verstanden zu haben, sagen einem Hegels Lösungen nichts. Wichtig ist dabei, daß das Neue nicht durch irgendeine Hintertür von draußen, aus irgendeinem Jenseits kommt, das jenseits der Gefilde der gesuchten Logik angesiedelt ist, sondern von dorther, wo es wirklich herkommt: vom Alten. I m A l t e n also muß schon angelegt sein, was erst „später" manifest w i r d oder was das Neue heraustreibt (soweit man i n einer Logik die Zeit noch i n Form eines „später" berücksichtigen darf) . . . Außerdem empfiehlt es sich selbstverständlich, die geschichtlichen Veränderungsprobleme i m Auge zu behalten, die auch Hegel immer wieder vor sich hatte, als er die Gesetze zu formulieren suchte, die er zu ihrer systematischen Bewältigung benötigte. Da es für Hegel schwerer schien, „feste Gedanken i n Flüssigkeit zu bringen", als das „sinnliche Dasein" i n Bewegung zu setzen, kam alles darauf an, eine Methode zu finden, die festen Gedanken i m Kopfe an Ort und Stelle zu zertrümmern oder zu zersetzen, u m den harten inneren Stoff für neue Formung reif zu machen. Diese Methode mußte nicht nur gefunden und beschrieben, sondern auch geübt werden. Hegel faßte seine Logik als die Methode auf, den trägen Gedanken das Übergehen vom A l t e n zum Neuen beizubringen: als die Logik des spekulativen 309 Denkens, das die Beschränktheiten des Bewußtseins überwindet. Darüber, wie man „praktische Übungen i m spekulativen Denken" anstellen könne, hat er sich wiederholt Gedanken gemacht 310 . „Schon das abstrakte Denken praktisch zu üben, ist höchst schwer; dann das empirische (Denken), u m seiner Mannigfaltigkeit willen, zerstreut am allermeisten. — Es ist w i e m i t dem Lesenlernen, m a n k a n n nicht ganze Worte auf einmal anfangen zu lesen, w i e superkluge Pädagogen gewollt haben, sondern muß m i t dem Abstrakten, den einzelnen Stäben anfangen. So ist i m Denken, i n der Logik, gerade das Abstrakte das Allerleichteste, denn es ist ganz einfach, rein u n d unvermischt. Erst nach u n d nach k a n n m a n zu Denkübungen am Sinnlichen oder Konkreten fortgehen, w e n n jene einfachen Laute sich gehörig i n ihren Unterschieden befestigt haben." „ . . . praktische Übungen i m spekulativen Denken . . . Aber dieses erscheint m i r das Allerschwerste. Einen konkreten Gegenstand oder ein Verhältnis der 308 809 310
Briefe I 230. Hervorhebungen von mir. Vgl. oben A n m . 278. Briefe I 390, 397. Vgl. auch die Nachweise unten A n m . 512.
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4. Kapitel : Staatsphilosophie und List der Dialektik
W i r k l i c h k e i t ins Spekulative hinüberspielen, i h n so herauszupräparieren, daß er spekulativ gefaßt werde, das ist so gut das Letzte, als beim m u s i k a l i schen Unterricht ein Stück nach dem Generalbaß zu beurteilen. — Unter praktischer Ü b u n g i m spekulativen Denken weiß ich nichts zu verstehen, als wirkliche, reine Begriffe i n ihrer spekulativen F o r m zu behandeln, u n d dies ist die innerste L o g i k selbst."
Diese ausführlichen Zitate zu dem pädagogischen Problem, die Spekulation zu üben, sind hier am Platze, w e i l sie zweierlei zeigen: Erstens, wie sehr Hegel sich bewußt war, daß er es i n seiner Logik m i t Generalnennern der Veränderung zu tun hatte, die er aus der empirischen Wirklichkeit herausgezogen und auf eine abstrakte Form gebracht hat. Zweitens zeigen sie den Weg, den Hegel einschlug, um seine Logik wieder i n die Köpfe hineinzubringen: Er wählte — jedenfalls i n der Logik — gerade nicht die induktive Methode, das A b strakte als das Wiederkehrende i n dem Mannigfaltigen an Hand von vielen Beispielen so oft vorzuführen, daß der Schüler es mitbekommt wie etwa ein K i n d die Grammatik seiner Muttersprache, nämlich eher unbewußt und praktisch als bewußt und abstrakt. Stattdessen dachte er daran, die dialektischen Begriffe auswendig lernen zu lassen, und vertraute darauf, daß die Schüler sie dann als Strukturen der empirischen Welt wiedererkennen und anwenden würden. M i t seiner Überzeugung, das Abtrakte sei das Allerleichteste, überschätzte er jedoch wahrscheinlich die Fähigkeit seiner Leser, die für die Vorstellung so widerspenstigen dialektischen Begriffe sich anzueignen und — vor allem — i n der Welt wiederzuerkennen. — Für Hegel verhalten sich die festen Gedanken zu praktischen Taten ungefähr wie die Laufleinen sich zu den Hunden verhalten, die daran entlang laufen. (Kolumbus warf die wirklichen Leinen erst los und stach auf Westkurs nach Indien erst i n See, nachdem die Erde für sein Bewußtsein eine Kugel war.) Wenn also Hegel daran denkt, ein „Verhältnis der Wirklichkeit" ins „Spekulative" hinüber zuspielen, so denkt er daran, es i n die Werkstatt einzubringen, i n der die Leinen gelöst werden. Ein Verhältnis der Wirklichkeit, das für diese Werkstatt und i n dieser Werkstatt herauspräpariert sowie der Spekulation ausgesetzt worden ist, — bei diesem Verhältnis sind die Leinen gelöst, wenn es wieder freigegeben wird. Jemanden spekulatives Denken i m Sinne der Philosophie Hegels und ihrer Logik lehren, heißt, i h n darin zu schulen, seine festen Gedanken i n Flüssigkeit zu bringen und die Laufleinen zu lösen, an denen er angebunden ist. U n d dies wiederum heißt, der Praxis andere Wege freimachen. „Das absolute Erkennen ist der große Besen, der alles wegfegt, qui fait la maison nette 3 1 1 ." 311
Oben bei A n m . 114.
4.6 Dialektische Logik
135
Es war daher keine Übertreibung, wenn Hegel i n seiner Philosophie die Revolution 312 überhaupt sah. U n d es ist heute keine Übertreibung, Hegel als einen Barrikadenkämpfer einzustufen, — aber nicht als einen solchen, der Barrikaden in den Straßen errichtet und darauf stirbt, sondern als einen, der Barrikaden im Bewußtsein einreißt (oder dort verschwinden macht durch die Widersprüche, die er zu Hilfe r u f t u n d für sich w i r k e n läßt). U m als Barrikadenkämpfer i m alten Bewußtsein operieren zu können, mußte er unbemerkt eindringen u n d sich — nach inzwischen von anderen für die äußere Praxis formulierter und bewährter Partisanenregel — darin herumtummeln wie ein Fisch im Wasser 318. Das hat er getan: m i t einer nur von wenigen Andeutungen gegenüber Vertrauten durchbrochenen Verschwiegenheit. — „ I h m ist die Brust von hohem W i l l e n voll, Doch was er w i l l , es darf's kein Mensch ergründen. Was er den Treusten i n das Ohr geraunt, Es ist getan, und alle Welt erstaunt. So w i r d er stets der Allerhöchste sein, Der Würdigste . . Dieses 314 B i l d von dem Kaiser und Menschen, der befehlen soll und i m Befehlen auch ohne öffentlichen Applaus schon Seligkeit finden muß, entwirft Faust i m I V . A k t des zweiten Teiles von Goethes Tragödie. I n dem gleichen Jahr, i n welchem Goethe sich entschloß, diesen zweiten Teil des Faust auszuarbeiten, bekannte er i n einem Brief vom 3. M a i 1824 an Hegel 8 1 5 : „Möge alles, was ich noch zu leisten fähig bin, sich an dasjenige anschließen, was Sie gegründet haben u n d auferbauen."
312 Vgl. J. Ritter (oben A n m . 37): „Es gibt keine zweite Philosophie, die so sehr u n d bis i n ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution ist." — Siehe auch oben bei A n m . 207, Hegel: „Die Revolution überhaupt." 313 Schon i m Naturrechtsaufsatz sind die besonderen Momente u n d E x i stenzen (dort noch „Potenzen") nicht etwa etwas, das das Leben (nur) beschränkt, sondern i m Gegenteil das Lebenselexier: Sie sind keine Beschränkung, — „sowenig es das Wasser f ü r den Fisch, die L u f t f ü r den Vogel ist. 1 "
— Glockner 1, 535 = Werke 2, 528. 314 315
Vgl. hierzu Fischer, Hegels Leben I I , S. 1159 f., u n d I , S. 161. Briefe I I I 42.
5. Kapitel
Marx und sein dialektischer Materialismus A m Ende —, am Ende hatte Hegel erwartet, daß auf der Grundlage seiner vorbereitenden A r b e i t am Bewußtsein i n Staat und Politik die Religion weltlich zur Sprache kommen und die Praxis bestimmen werde. Die Junghegelianer brachten die Religion tatsächlich zur Sprache, und am Ende spielte M a r x 1843/1844 die entschieden positive Aufhebung der Religion als weit-anschauliche, politische Trumpfkarte aus. Wacker gearbeitet, braver M a u l w u r f ! „Praktisch waren i m damaligen Deutschland vor allem zwei Dinge", schreibt Engels, „die Religion u n d die P o l i t i k . . . Der K a m p f wurde noch m i t p h i l o sophischen Waffen geführt, aber nicht mehr u m abstrakt-politische Ziele; es handelte sich d i r e k t u m Vernichtung der überlieferten Religion u n d des bestehenden Staats . . . 8 1 β . " „Es ist eine m e r k w ü r d i g e Erscheinung", berichtet M a r x aus Paris an Feuerbach, „wie, i m Gegensatz z u m 18ten Jahrhundert, die Religiosität i n den Mittelstand u n d die höhere Klasse, die Irreligiosität dagegen — aber die Irreligiosität des sich als Menschen empfindenden Menschen — i n das französische Proletariat her abgestiegen i s t 8 1 7 . "
U n d auch später, etwa bei Josef Dietzgen, geht es ganz bewußt darum, daß die „neue Religion" Mensch werden solle 8 1 8 . 5.1 Marx, Feuerbach, Hegel M a r x w i r d i n dem Jahr geboren, i n welchem Hegel seine Professur i n Berlin antritt (1818) u n d jenen „ M i t t e l p u n k t " erreicht, den er für den Dienst an seiner Bestimmung erstrebt. Ein halbes Jahrzehnt nach Hegels Tod (1831) bezieht M a r x nach kurzem Studium i n Bonn die Universität Berlin (1836). I n einem Rechenschafts- und Bekenntnisbrief an seinen Vater aus dem folgenden Jahre schildert er, wie er nach festem Grund für sein Selbstverständnis i n dieser Welt gesucht hatte: 816
M E W 21 S. 270. M E W 27 S. 426. 818 Josef Dietzgen, S. 12 ff. 817
Kleinere
philosophische
Schriften,
Stuttgart
1903,
5.1 Marx, Feuerbach, Hegel
137
„ E i n Vorhang w a r gefallen, mein Allerheiligstes zerrissen, u n d es mußten neue Götter hineingesetzt werden. V o n dem Idealismus, den ich beiläufig gesagt, m i t Kantischem u n d Fichtischem verglichen u n d genährt, geriet ich dazu, i m Wirklichen selbst die Idee zu suchen. Hatten die Götter früher über der Erde gewohnt, so waren sie jetzt das Z e n t r u m derselben geworden. Ich hatte Fragmente der Hegeischen Philosophie gelesen, deren groteske Felsenmelodie m i r nicht behagte. Noch einmal w o l l t e ich hinabtauchen i n das Meer, aber m i t der bestimmten Absicht, die geistige N a t u r ebenso notwendig, konkret u n d festgerundet zu finden w i e die körperliche, nicht m e h r Fechterkünste zu üben, sondern die reine Perle ans Sonnenlicht zu halten. Ich schrieb einen Dialog von ungefähr vierundzwanzig Bogen: ,Kleanthes, oder v o m Ausgangspunkt u n d notwendigen Fortgang der Philosophie 4 . . . . ein rüstiger Wanderer schritt ich ans Werk selbst, an eine philosophischdialektische E n t w i c k l u n g der Gottheit, wie sie als Begriff an sich, als Religion, als Natur, als Geschichte sich manifestiert. M e i n letzter Satz w a r der Anfang des Hegeischen Systems u n d diese A r b e i t . . . , dies mein liebstes K i n d , beim Mondenschein gehegt, trägt mich w i e eine falsche Sirene dem Feind i n den A r m . . . Während meines Unwohlseins hatte ich Hegel v o n Anfang bis Ende, samt den meisten seiner Schüler kennengelernt. Durch mehrere Zusammenkünfte m i t Freunden geriet ich i n einen D o k t o r k l u b . . . Hier i m Streit offenbarte sich manche widerstrebende Ansicht, u n d i m m e r fester kettete ich m i c h selbst an die jetzige Weltphilosophie, der ich zu entrinnen gedacht, aber alles Klangreiche w a r verstummt, eine wahre I r o n i e w u t befiel mich, w i e es w o h l leicht nach so v i e l Negiertem geschehen konnte . . . 3 1 9 . "
Vier Jahre später promoviert Marx. Er erarbeitet sich eine festere eigene Position i m Verhältnis zu Hegel. Dabei vergleicht er seine Lage zur Zeit nach Hegel m i t der Philosophie und der geschichtlichen Epoche nach Aristoteles: I n diesen Weltphilosophien sieht er Knotenpunkte der Entwicklung, — Momente, „ i n welchen die Philosophie die Augen i n die Außenwelt kehrt, nicht begreifend, sondern als praktische Person gleichsam I n t r i g u e n m i t der W e l t spinnt, aus dem durchsichtigen Reiche des Amenthes heraustritt u n d sich ans Herz der weltlichen Sirene w i r f t . Das ist die Fastnachtszeit der Philosophie; kleide sie sich n u n i n eine Hundetracht w i e der Cyniker, i n ein Priestergewand w i e der Alexandriner oder ein d u f t i g Frühlingsgewand w i e der Epikureer. Es ist i h r da wesentlich, Charaktermasken anzulegen. Wie uns erzählt w i r d , daß Deukalion bei der Erschaffung der Menschen Steine hinter sich geworfen, so w i r f t die Philosophie ihre Augen hinter sich . . . , w e n n i h r Herz zur Erschaffung einer Welt erstarkt ist; aber w i e Prometheus, der das Feuer v o m H i m m e l gestohlen, Häuser zu bauen u n d auf der Erde sich anzusiedeln anfängt, so wendet die Philosophie, die zur Welt sich erweitert hat, sich gegen die erscheinende Welt. So jetzt die Hegeische" 3 2 0 . 319 320
MEW EB I, S. 3 - 12 ( = Landshut S. 1 - 11). S. 215 ( = S. 12).
5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus
138
Die Philosophie des Aristoteles löst sich i n den Augen von M a r x auf i n den Zyklus der epikureischen, stoischen und skeptischen Philosophie, — die Hegels i n die „meistenteils bodenlos dürftigen Versuche neuerer Philosophen". So scheint beiden zu begegnen, „was einer guten Tragödie nicht begegnen darf, nämlich ein matter Schluß" 8 2 1 . Doch das B i l d ändert sich, wenn man nicht nur auf die Philosophie, sondern auch auf die Politik schaut. „Endlich, w e n n w i r auf die Historie einen Blick werfen, sind Epikureismus, Stoizismus, Skeptizismus partikulare Erscheinungen? Sind sie nicht die U r typen römischen Geistes? Die Gestalt, i n der Griechenland nach R o m w a n dert? . . . 8 2 2 . " „Titanenartig aber sind diese Zeiten, die einer i n sich totalen Philosophie u n d ihren subjektiven Entwicklungsformen folgen, denn riesenhaft ist der Zwiespalt, der ihre Einheit ist. So folgt Rom auf die stoische, skeptische u n d epikureische Philosophie 8 2 8 ."
M a r x wendet auf die Aristotelische Philosphie den Spruch an: A n ihren Früchten sollt i h r sie erkennen. I h n fesseln bei Aristoteles nicht die philosophischen Vorläufer, sondern was politisch nach i h m kam, — „ w i e man aus dem Tod eines Helden auf seine Lebensgeschichte schließen kann". Das „Umschlagen der Philosophie" — „ihre Transsubstantiation i n Fleisch und B l u t " — weist auf die „subjektive Form" und auf die Bestimmtheit hin, die eine „ i n sich totale und konkrete Philosophie als das M a l ihrer Geburt an sich t r ä g t " 3 2 4 . Ob Marx, wie Hegel 3 2 5 und Heine 3 2 6 vor ihm, i n diesem Zusammenhange auch daran gedacht hat, daß Alexander der Große ein Schüler des Aristoteles war, ist nicht zu ersehen; es hätte nahegelegen, zumal M a r x i n der Dissertation A r i stoteles den „mazedonischen Alexander der griechischen Philosophie" 3 2 7 nennt und i m Jahre 1842 i n der Rheinischen Zeitung schreibt: „ D i e Zeit des Alexander w a r die Zeit des Aristoteles, der die E w i g k e i t des individuellen* Geistes u n d den Gott der positiven Religionen verwarf. U n d n u n gar Rom! Leset den Cicero 8 2 8 !"
Die Verwirklichung von Hegels Philosophie ist für M a r x bislang nur bis i n die epigonale Fastnachtszeit vorgedrungen. Dieser Philosophie stehen ihr Alexander und ihr Rom erst noch bevor. Weder ist das 821 822
828 824 825 828 827 828
S. 266. S. 266.
S. 216 ( = Landshut S. 14). S. 219 ( = S. 14 f.). Oben bei A n m . 163 - 165. Oben bei A n m . 183. M E W E B I S. 266. M E W 1 S. 91.
5.1 Marx, Feuerbach, Hegel
139
Deutsche Reich, dessen Idee (ohne daß M a r x es wußte) den jungen Hegel bestrickt und den alten Hegel nicht losgelassen hatte, wiedergeboren; noch ist dieses Reich zum Inbegriff der Unvernunft ausgeartet und auf der Hegeischen Schlachtbank der Geschichte dem Fortgange des Weltgeistes wieder geopfert worden, wie die Hegeische Dialektik befahl. Ebensowenig hat Hegels Logik schon ihre Metamorphose zum dialektischen und historischen Materialismus hinter sich; sie w i r d sich erst demnächst als Marxismus ans Herz einer anderen weltlichen Sirene werfen: ans Herz des Proletariats, u m später selbst wieder von Staaten ans Herz gedrückt oder gehaßt und bekämpft zu werden. Noch ist M a r x selbst nicht einmal so weit, daß er schreiben kann: „Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat Die Philosophie k a n n sich nicht v e r w i r k l i c h e n ohne Aufhebung des Proletariats, das Proletariat k a n n sich nicht aufheben ohne die V e r w i r k l i c h u n g der Philosophie 3 2 9 ."
Das aber steht fest: M a r x hat nicht vor, sich nur i n bunte Fastnachtsgewänder zu hüllen. I h m ist eine WeZtphilosophie vorausgegangen, und er faßt das Rom i n seinen Blick, das ihr folgen muß: Unglücklich und eisern sind diese Zeiten, „denn ihre Götter sind gestorben u n d die neue G ö t t i n hat unmittelbar noch die dunkle Gestalt des Schicksals, des reinen Lichts u n d der reinen Finsternis. Die Farben des Tages fehlen noch. Der K e r n des Unglücks aber ist, daß die Seele der Zeit, die geistige Monas, i n sich ersättigt, i n sich nach allen Seiten ideal gestaltet, keine Wirklichkeit, die ohne sie fertig geworden ist, anerkennen d a r f " 3 3 0 .
Der junge Marx selbst darf keine Wirklichkeit anerkennen, die ohne ihn fertig geworden ist. Denn was er für die Philosophie sagt, gilt für ihn selbst. Das schreibt er zur gleichen Zeit ausdrücklich nieder. So wie der Philosoph objektiv die Beziehung des Gedankens zur W i r k lichkeit beschreibe, so sehe i n Wahrheit er die Beziehung seiner selbst zur Wirklichkeit (ein Hegelsches 331 Selbstverständnis): „ I n dem allgemeinen Verhältnis, das der Philosoph der W e l t u n d dem Gedanken gibt, verobjektiviert er sich nur, w i e sein besonderes Bewußtsein sich zur realen Welt v e r h ä l t 3 3 2 . "
Für Marx* eigenes, besonderes Bewußtsein hat die neue Göttin also noch die Gestalt des reinen Lichts und der reinen Finsternis. Es stehen Titanenkämpfe bevor, deren Spuren für spätere Generationen die 329 330 331 332
MEW 1 S. 391 ( = Landshut S. 224). MEW EB I S. 216 ( = Landshut S. 14). Oben A n m . 94. M E W EB I S. 274.
140
5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus
„immanente Bestimmtheit und den weltgeschichtlichen Charakter" von Hegels Philosophie nachträglich offenbaren werden. Dann muß Hegels Philosophie aber auch einem faustischen Kopf, der die geschichtlichen Gezeiten zu nutzen versteht, i m voraus Anregungen und Navigationshilfen liefern. Die Verwirklichung von Hegels Philosophie, so wie sie M a r x vorschwebte, setzte voraus, daß man sich darunter etwas Realisierbares vorstellen konnte. Dazu mußte sie irgendwie entziffert, dechiffriert oder „entmystifiziert" werden. Eine ganze Reihe von Anregungen nahm M a r x auf diesem Wege auf. Z u den gewichtigsten gehören neben denen von Engels die Wirkungen der Feuerbachschen Religionskritik und die Verwandtschaften, die Moses Heß zwischen dem Phänomen „Gott" und der Erscheinung „Geld" entdeckt hatte. Wenn das Geld, wie Hegel nur beiläufig bemerkt hatte, jetzt allen anderen Einfluß i n sich begriff 3 3 3 , dann lag es nahe, dieses alles beeinflussende, alles beherrschende Medium m i t jener Gestalt i n eine funktionale Parallele oder i n einen Fortsetzungszusammenhang zu bringen, der früher, als die Religion noch Saft und K r a f t hatte, aller Einfluß und Wille zugeschrieben wurde. M a r x war von Feuerbachs Hegel- und Religionskritik hell begeistert, und bevor seine Begeisterung i n überholende K r i t i k mündete, riet er den Theologen und Philosophen: „Es gibt keinen anderen Weg für Euch zur Wahrheit und Freiheit, als durch den Feuer-bach. Der Feuerbach ist das Purgatorium der Gegenwart 3 3 4 ." Rückblickend urteilt Engels noch 1888: „ D a k a m Feuerbachs ,Wesen des Christentums* . . . M a n muß die befreiende W i r k u n g dieses Buchs selbst erlebt haben, u m sich eine Vorstellung davon zu machen. Die Begeisterung w a r allgemein: W i r alle waren momentan Feuerbachianer 3 3 6 ."
Angesichts dieser Befunde empfiehlt es sich, die Reihe der befreienden Bethlehemerlebnisse und sonstigen Messianismen der Zeit, die hier und andernorts bezeugt werden, zurückzuverfolgen zu ihrem Ursprung: Die Quelle ist Hegel. Seine Vorlesungen hatten Berlin für Feuerbach erst zum „Bethlehem einer neuen Welt" gemacht 336 . „ I c h wußte nicht, was ich wollte u n d sollte, so zerfahren u n d zerrissen w a r ich, als ich nach B e r l i n k a m ; aber ich hatte k a u m ein halbes Jahr i h n gehört, so w a r auch schon v o n i h m m e i n K o p f u n d Herz zurechtgesetzt; ich 333 Oben v i a t u r aller 334 MEW 335 MEW S3e Oben
A n m . 26. Auch Werke 11, 565 (Aphorismus): „ G e l d ist die A b b r e äußerlichen Notwendigkeit." 1 S. 27. 21 S. 272. A n m . 170.
5.1 Marx, Feuerbach, Hegel
141
wußte, was ich sollte u n d w o l l t e : nicht Theologie, sondern Philosophie! Nicht faseln u n d schwärmen, sondern lernen! Nicht glauben, sondern denken! E r w a r es, i n dem ich zum Selbst- u n d Weltbewußtsein kam. Er w a r es, den ich meinen zweiten Vater, w i e B e r l i n meine geistige Geburtsstadt damals nannte . . . M e i n Lehrer also w a r Hegel, ich sein Schüler, ich leugne es nicht, ich anerkenne es vielmehr noch heute m i t Dank u n d Freude. U n d gewiß schwindet das, was w i r einst gewesen sind, nie aus unserem Wesen, w e n n auch aus unserem Bewußtsein 3 3 7 ."
Zwar wenden sich die u m 1842 erschienenen Schriften Feuerbachs gegen Hegels Philosophie, die als philosophische Fortsetzung der Theologie entlarvt werden soll. („Wer die Hegeische Philosophie nicht aufgibt, der gibt nicht die Theologie auf 3 8 8 .") I n der Sache aber kommt Feuerbach dem jungen Hegel sehr nahe, und was die Begeisterung bei seinen Lesern auslöst, sind Wiederholungen jener Damaskuserlebnisse 3 3 9 des Wandels vom theologischen Paulus zum philosophischen Saulus: Erlebnisse, die u m und nach Hegel sich bei denen abspielten, i n denen Hegels Saat plötzlich aufging oder Hegels Geist i n anderen Köpfen wieder auferstand. Feuerbach bewegte sich stärker innerhalb Hegelscher Gedanken, als i h m klar war. Zwar klingt es zunächst verblüffend einfach und überzeugend, wenn Feuerbach Hegel entgegenhält: „ W e n n n u n aber . . . das Bewußtsein des Menschen von Gott das Selbstbewußtsein Gottes ist, so ist j a per se das menschliche Bewußtsein göttliches Bewußtsein. W a r u m entfremdest D u also dem Menschen sein Bewußtsein u n d machst es zum Selbstbewußtsein eines von i h m unterschiedenen Wesens, eines Objekts? . . . Wo das Bewußtsein Gottes, da ist auch das Wesen Gottes — also iim Menschen 3 4 0 ."
Doch t r i f f t diese K r i t i k Hegel nicht (ganz abgesehen davon, daß Hegel „Gott" gerade nicht zum Objekt macht, sondern als Selbstbewegung, als Prozeß oder als allgemeines Subjekt dieser Welt begriffen wissen will). I n Hegels weltlicher Gottgestalt ist viel mehr an Welt, an konkretem menschlichen Handeln und Denken berücksichtigt, und zwar geschichtlich ebenso wie geographisch konkretisiert, als bei Feuerbachs Versuchen, Hegels Philosophie an menschlicher Weltlichkeit zu übertreffen. Gemessen an der Verweltlichung Gottes, die Hegel systematisch (wenn auch noch nicht ohne mehrdeutige Hüllen) betrieben hat, und 337 338
Hegel i n Berichten, S. 292. Feuerbach, Kleinere Philosophische
M. G. Lange, Leipzig 1950, S. 72. 339 340
Schriften
(1842 -1845), hrsg.
Oben bei A n m . 169. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Reclam-Ausg. 1971, S. 346.
v.
142
5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus
gemessen an seiner philosophischen Verwissenschaftlichung der theologischen Figuren, bedeuten der von Feuerbach betriebene wahre Materialismus und die Verlegung der wahren Heimstätte des menschlichgöttlichen Bewußtseins i n den Menschen Lösungsversuche innerhalb Hegelscher Ansätze, die bei Feuerbach nicht besser gelungen sind als bei Hegel. Modern könnten die entsprechenden Fragen etwa so formuliert werden: Wenn ich selbst (das biologische Produkt meiner E l t e r n und) das gesellschaftliche P r o d u k t eines Sozialisationsprozesses bin, — w e r oder was macht dann „ m e i n " Bewußtsein u n d w e r oder was spricht aus m i r oder durch mich hindurch: Ich selbst oder ein anderes Ich (oder „ W i r " ) , das ich nicht recht zu fassen kriege, oder die gesellschaftlichen Verhältnisse? — die V e r h ä l t nisse, die mich geformt u n d programmiert haben u n d die (wenn m a n nicht allergisch ist gegen terminologische Variabilität) den „Geist" oder „ G o t t " ausmachen, dem ich mich n u r schwer oder gar nicht entwinden k a n n u n d auf den ich meinerseits f ü r die Z u k u n f t wenig, verschwindenden oder gar keinen Einfluß habe. U n d w e n n ich Einfluß haben sollte, — geht er dann w i r k l i c h
von mir aus und nicht nur durch mäch hindurch?
Es handelt sich offenbar u m einen Prozeß, i n den das Ich eingespannt ist, als ob es sich nicht selbst gehöre. Zugleich aber erfährt das Ich sich als selbständig und, bei einem hinreichend faustischen Bewußtsein, begreift den Prozeß als i h m gehörig, von i h m abhängig. Da das Ich gewohnt ist, vorwärts zu blicken, sieht es vorzugsweise die Flüsse, die von ihm aus i n den Prozeß einfließen, die den Prozeß zu seinem Prozeß machen. Wäre das Ich auch gewohnt zurückzublicken, sähe es eher die Flüsse, die zu ihm hin und durch es hindurchfließen, — die das Ich als Eigentum des Prozesses erscheinen lassen. Wenn das Ich also nicht die ganze übrige wirkliche Welt vergißt und einfach „Ich" denkt, sondern genauer nach sich selbst fragt, so pendelt sein Wissen von sich h i n und her (oszilliert) zwischen dem Prozeß der vielen („Wir") und sich selbst („Ich"). Hegel beschreibt nun, wie der Geist i m Laufe seiner Entwicklung erfährt, was er ist: nämlich die prozeßhafte Einheit „verschiedener, für sich seiender Selbstbewußtseine": „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist 341 ." Feuerbach rennt also jedenfalls bei Hegel nur offene Türen ein, wenn er dem Idealismus vorwirft, er habe zwar recht, „ w e n n er i m Menschen den Ursprung der Ideen sucht, aber unrecht, w e n n er sie aus dem . . . Ich ohne sinnlich gegebenes D u ableiten w i l l . . . die Gemeinschaft des Menschen m i t dem Menschen ist das erste Prinzip u n d K r i t e r i u m der Wahrheit u n d A l l g e m e i n h e i t " 3 4 2 . 341
Phänomenologie des Geistes, Glockner 2, 147 = Werke 3,145. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Z u k u n f t , Zürich u n d W i n t e r t h u r 1842, S. 67 ( = K l . phil. Schriften, S. 153). 342
5.1 Marx, Feuerbach, Hegel
143
„Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du 3 4 8 ." „Das Wesen des Menschen ist n u r i n der Gemeinschaft, i n der Einheit
des
Menschen mAt dem Menschen enthalten, die sich aber nur auf die Realität des Unterschiedes
v o n Ich u n d D u stützt . . . Mensch m i t Mensch — die
Einheit von Ich und Du ist Gott 844 ."
Hegel hatte das alles schon viel anschaulicher gesagt, denn er kannte den Eigendünkel und die harten Herzen der Menschen. Er kannte auch alle Folgen, die die Verwirklichung von solchen ichverfangenen Bewußtseinsstrukturen i n der Gesellschaft nach sich zieht. Also zielt er sogleich aufs Problem, wenn er sich m i t dem Dialog verschiedener Bewußtseine befaßt: „Das versöhnende Ja, w o r i n beide Ich v o n i h r e m entgegengesetzten Dasein ablassen, ist das Dasein des zur Zweiheit ausgedehnten Ichs, das sich d a r i n gleich bleibt u n d i n seiner vollkommenen Entäußerung u n d Gegenteile die Gewißheit seiner selbst hat; — es ist der erscheinende Gott m i t t e n unter ihnen345."
Hätte Feuerbach von seinem „entgegengesetzten Dasein" gegen Hegel gelassen, hätte er wahrscheinlich Hegel nicht so weit verfehlen können. Es ist immer schwer, selbst i m Umgang m i t den Nächsten zu beherrschen, womit man andere Menschen zum Glück und zur Gottheit führen w i l l . Als Feuerbach sich nach eigenem Zeugnis i n Berlin von Hegel mit etwa diesen Worten verabschiedete: „ Z w e i Jahre habe i d i Sie n u n gehört, zwei Jahre ungeteilt I h r e r Philosophie gewidmet; n u n habe ich aber das Bedürfnis, mich i n das direkte Gegenteil zu stürzen. Ich studiere n u n A n a t o m i e " 8 4 6 ,
hat Hegel wahrscheinlich insgeheim geschmunzelt und gewußt, daß sein Schüler, wenn er das direkte Gegenteil suchte, nichts anderes finden würde als Hegel selbst, schon gar, wenn Feuerbach sich auf den Weg machte, den Menschen über „Anatomie" und später Antropologie zu suchen. Tatsächlich führte Feuerbachs Weg vom „anatomischen" Menschen wieder zum Dialog zwischen den Menschen. Das ist fast genau der Punkt, an dem der junge Hegel begonnen hatte, als er die Vergesellschaftung des göttlichen Bewußtseins konkret ins Auge faßte. Aber erst sehr viel später, als M a r x den Basissatz des dialektischen Materialismus formuliert: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das 848 844 845 346
S. 83 ( = S. 169). a.a.O. Phänomenologie, Glockner 2, 516 = Werke 3, 494. Hegel i n Berichten, S. 292.
144
5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus
i h r Sein, sondern umgekehrt i h r gesellschaftliches Sein, das i h r Bewußtsein bestimmt" 3 4 7 , haben Hegels Schüler endlich zu einem ganz entscheidenden Punkt der Philosophie ihres Lehrers zurückgefunden. N u r der terminologische Unterschied, der ökonomische Kontext und die undialektische Auslegung dieses Satzes verdecken die weitgehende Übereinstimmung i n der Sache selbst. Diese Behauptung dürfte auf äußerste Skepsis u n d entschiedenen Widerspruch stoßen, w e i l das Verhältnis Hegel - Feuerbach - M a r x durchweg anders, und zwar weitgehend vom Selbstverständnis Feuerbachs und Marx* her gesehen wird. Ich werde den Beweis meiner Behauptung weiter unten (im „Verständigungsdialog") nachholen. Hier sei nur erwähnt, wie man sich die mehrfache Umkrempelung der Hegeischen Philosophie i n wenigen Jahren plausibel machen kann, ohne daraus die Folgerung ziehen zu müssen, daß es sich u m wirkliche Umkrempelungen i n dem Ausmaß handelt, wie die Umstülper meinten, die sie vornahmen: Feuerbach u n d M a r x haben sich selbst als große, selbständige Denker erfahren, die sich schließlich aus dem Schatten Hegels hinausmachen wollten. Beide stürzten sich i n Gegenteile von Hegels Philosophie (Feuerbach ins „direkte Gegenteil", M a r x stellte sie i n nochmals kritischer Absetzung gegen Feuerbach „ v o m Kopf auf die Füße"). Aber Hegels Philosophie behandelt die „Identität" der Gegenteile; sie analysiert den Prozeß, der von einer Gestalt (und sei es eine geistig-philosophische) i n i h r Gegenteil treibt. Dieser Prozeß läßt sich nicht „umkehren" oder auf die Füße stellen. Er ist der Taumel der Umkehrungen selbst.
5.2 Marx und Heine Es gibt keine Anzeichen dafür, daß M a r x vor Ende 1843 Hegels hintergründige politische Strategie gekannt und durchschaut hat. Bis zu diesem Zeitpunkt sieht er i n Hegel zwar den Weltphilosophen, aber eben auch n u r den Philosphen, der i m Reich der reinen Wesenheiten zu Hause ist u n d sich m i t idealistisch-esotherischen Begriffskonstruktionen philosophische Ersatzbefriedigung verschafft, — w i e auch Lenin später ζ. B. überzeugt ist, daß Hegel seine Dialektik „ v o r ihrer Anwendung auf das Leben u n d die Gesellschaft" n u r genial erraten habe 3 4 8 , und nicht auf die naheliegende Idee kommt, daß Hegel sie ganz systematisch unter dem Druck seiner zeitbedingten politischen und religiösen (gesellschaftlichen) Probleme gesucht, am Problem entwickelt und durch Bewußtseinsbearbeitung praktiziert haben könnte. M a r x läßt sich vom Hegelbild der nachhegelschen Theoretiker täuschen u n d w i r d dadurch verleitet, seinen Lehrer ganz erheblich zu unterschätzen. Seine minutiöse und außerordentlich scharfsinnige K r i t i k der staatstheoretischen Paragraphen i n der Rechtsphilosophie entspricht noch ganz der Einschätzimg Hegels als eines philosophischen Apologeten des status 347 348
M E W 13 S. 9. Lenin, Werke, Bd. 38 S. 131.
5. Marx und H e e
145
quo, dem der Staat nur zum Beweis für die Logik (und keinesfalls die Logik als subversive Bewußtseinstechnik zur Hervorbringung eines Reichs) dient 8 4 9 . „Das Wirkliche w i r d zum Phänomen, aber die Idee hat keinen anderen I n h a l t als dieses Phänomen. Auch hat die Idee keinen anderen Zweck als den logischen, ,für sich unendlicher w i r k l i c h e r Geist zu sein'. I n diesem Paragraphen ist das ganze M y s t e r i u m der Rechtsphilosophie niedergelegt u n d der Hegeischen Philosophie überhaupt." (gemeint ist § 262 350 .)
Wenn man steh aber m i t Hegel intensiv, genau und nicht nur — wie heute oft — aus zweiter oder dritter Hand beschäftigt, tauchen spätestens beim Lesen der Einleitung zur Wissenschaft der Logik einige Fragen auf, die man sich beantworten muß, u m sich ein einigermaßen stimmiges Hegelbild zu machen: a) Dieser Hegel, dessen ganze Philosophie und Logik u m die Erkenntnis kreist, daß das Denken nicht (nur) „nach dem Gegenstande sich fügen und bequemen" müsse, sondern (auch) auf i h n zurückwirke, — dieser Hegel sollte nicht daran gedacht haben, was geschieht, wenn sein Denken auf die Welt zurückwirkt, sollte gewissermaßen bei der Lösung eines Kreuzworträtsels auf eine erbauliche logische Einsicht gestoßen sein, die Revolutionäre wie M a r x und Lenin begeistert als das Gesetz ihres Denkens und Handelns erkennen? b) Wenn Hegel die (Rück-)Wirkungen seines Denkens auf die Welt bedacht hat, — wie stellte er sie sich vor und worauf wollte er hinaus? c) Wenn Hegel es ernst meinte m i t seiner dialektischen Logik als der Logik der Veränderung, des Wandels und des Werdens, w i e reimt es sich zusammen, daß er eine (angeblich) apologetische Staatsphilosophie verfaßt? M a r x braucht sich nicht alle diese Fragen mühevoll selbst zu stellen und zu beantworten, indem er Hegels Probleme genau erfaßt und sich gründlich i n den Menschen Hegel hineinversetzt. Denn er lernt i m Dezember 1843 i n Paris Heinrich Heine kennen, der Hegel über die Schulter geschaut hat, als der Maestro seine Melodien komponierte 8 5 1 . U m nachzuvollziehen, m i t welchen Gedanken sich M a r x bei seinen Gesprächen m i t Heine noch einmal 8 5 2 auseinanderzusetzen hatte, und 340
MEW 1 S. 216 ( = Landshut S. 33).
350
S. 208 ( = S. 26). 351 Oben bei A n m . 176. 352 M a r x kannte Heines Schriften schon vorher. Siehe Ernst E. W. Kux, K a r l M a r x — Die revolutionäre Konfession, Zürich 1966, S. 33, 114. Z u M a r x u n d Heine außerdem: Walther Victor, M a r x u n d Heine, B e r l i n 1951. 10 Suhr
146
5. K a p i t e l : M a r x u n d sein dialektischer Materialismus
u m i n M a r x * nachfolgenden S c h r i f t e n d i e S p u r e n H e i n e s u n d Hegels entdecken z u k ö n n e n , m u ß m a n z u v o r g e n a u lesen, w a s H e i n e Über Deutschland, ü b e r Die romantische Schule u n d Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, insbesondere ü b e r L u t h e r u n d Hegel, z u b e r i c h t e n w u ß t e 8 5 3 . A n e r k e n n e n d schreibt Engels später ü b e r Heines einsame K e n n e r s c h a f t : „ W i e i n Frankreich i m achtzehnten, so leitete auch i n Deutschland i m neunzehnten Jahrhundert die philosophische Revolution den politischen Zusammenbruch ein. A b e r w i e verschieden sahen die beiden aus! Die Franzosen i n offnem K a m p f m i t der ganzen offiziellen Wissenschaft, m i t der Kirche, oft auch m i t dem Staat; ihre Schriften jenseits der Grenze, i n H o l l a n d oder England gedruckt, u n d sie selbst oft genug drauf u n d dran, i n die Bastille zu wandern. Dagegen die Deutschen — Professoren, v o m Staat eingesetzte Lehrer der Jugend, ihre Schriften anerkannte Lehrbücher, u n d das abschließende System der ganzen Entwicklung, das Hegeische, sogar gewissermaßen zum Rang einer königlich preußischen Staatsphilosophie erhoben! U n d hinter diesen Professoren, hinter ihren pedantisch-dunklen Worten, i n ihren schwerfälligen, langweiligen Perioden sollte sich die Revolution verstecken? Waren denn nicht gerade die Leute, die damals f ü r die V e r treter der Revolution galten, die Liberalen, die heftigsten Gegner dieser die Köpfe verwirrenden Philosophie? Was aber weder die Regierungen noch die Liberalen sahen, das sah bereits 1833 wenigstens ein Mann, u n d der hieß allerdings Heinrich Heine 8 5 4 ." Engels, d e r ehemals H e i n e s B u c h ü b e r B ö r n e als das N i c h t s w ü r d i g s t e bezeichnet h a t t e , w a s es i n deutscher Sprache j e gegeben h a b e 3 5 5 , f ü h r t n u n i m A n s c h l u ß a n diese soeben z i t i e r t e n S ä t z e sogleich dasjenige B e i s p i e l f ü r d i e Hegeische Z w e i d e u t i g k e i t u n d r e v o l u t i o n ä r e K r a f t an, v o n d e m H e i n e M a r x bezeugen k o n n t e , w i e H e g e l es i h m selbst interpretiert hatte356. „Nehmen w i r " — schreibt Engels — „ e i n Beispiel. K e i n philosophischer Satz hat so sehr den D a n k beschränkter Regierungen u n d den Z o r n ebenso beschränkter Liberaler auf sich geladen w i e der berühmte Satz Hegels: ,Alles was w i r k l i c h ist, ist vernünftig, u n d alles was vernünftig ist, ist w i r k l i c h / Das w a r doch handgreiflich die Heiligsprechung alles Bestehenden . . . Bei Hegel aber ist keineswegs alles, was besteht, ohne weiteres auch w i r k l i c h . Das A t t r i b u t der W i r k l i c h k e i t k o m m t bei i h m n u r demjenigen zu, was zugleich notwendig ist". U n d n a c h e i n i g e n w e i t e r e n G e d a n k e n , d i e d e r D i a l e k t i k Hegels n u r sehr u n v o l l k o m m e n gerecht w e r d e n , f o l g t eine Z u s a m m e n f a s s u n g : 858 Heine, Sämtl. Schriften, Bd. 3, S. 353 - 641. 354 M E W 21 S. 265 - 267. 855 858
M E W 1 S. 440 f. Oben bei A n m . 176.
5. Marx und H e e
147
„Der Satz von der Vernünftigkeit alles Wirklichen löst sich nach allen Regeln der Hegeischen Denkmethode auf i n den anderen: Alles was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht." —
Heine also rückt das Hegelbild des jungen M a r x gegen Ende des Jahres 1843 erheblich zurecht, und zwar vor allem, was Hegels Staatsphilosophie betrifft. A u f andere Weise lassen sich wichtigste neue Sichtweisen und ein entscheidender neuer Tonfall bei M a r x seit Dezember 1843 nicht erklären. Ganz w i r d es M a r x zwar nicht klar, daß und welche Widersprüche Hegel i n der deutschen Wirklichkeit und i n der hinzugehörigen Philosophie listig bejaht, w e i l sie etwas anderes Neues hervortreiben sollen. Aber nun w i r d Hegels Staatsphilosophie immerhin respektvoll und mit Selbstverständlichkeit als die ideale Verlängerung der zurückgebliebenen deutschen Verfassungszustände i n Richtung auf den modernen Staat aufgefaßt: als Schritt i n Richtung auf die Überwindung des deutschen status quo. Jetzt hat M a r x (insoweit) den wahren, konkreten und politisch weiterdenkenden Hegel vor sich. Von diesem Hegel kann er sich endlich tatkräftig abstoßen, u m i h n i n Theorie und Praxis zu überbieten: Hegel wollte das deutsche Leben verjüngen, indem er Preußen in der (alten) Gestalt des modernen Staates (aber durch philosophisch erneuerte, weltliche Religion) auf den Weg ins Reich schickte. Dazu baute Hegel wenigstens den Widerspruch i n seine Staatsphilosophie ein, nach dem Preußen ein Staat ohne Volk und Deutschland ein Volk ohne Staat war, während die Vernunft durch ein Volk als Staat bzw. als Staat eines Volkes verkörpert wird. M a r x hatte zunächst nur den Staat und die Staatstheorie der Hegelsehen Philosophie kritisiert, nicht den Staat überhaupt: N u r der abstrakte Staat, der Staat als sittliches A l i b i einer bürgerlichen Gesellschaft, und natürlich auch die Monarchie werden kritisch zerlegt. Aber „ i n der Demokratie ist das formelle Prinzip zugleich das materielle Prinzip"357. „Die neueren Franzosen haben dies so aufgefaßt, daß i n der wahren Demokratie der politische Staat untergehe. Dies ist insofern richtig, als er qua politischer Staat, als Verfassung, nicht mehr f ü r das Ganze gilt . . . I n der Demokratie hat der abstrakte Staat aufgehört, das herrschende Moment zu sein 8 5 8 ."
Nachdem M a r x aber erfahren oder erkannt hat, daß Hegel selbst schon über die deutschen Zustände hinausgedacht hatte, w i l l er Hegels alter Gestalt den Todesstoß versetzen: Die Geschichte sei gründlich, wenn sie eine „alte Gestalt" zu Grabe trage 359. Er steuert nun ein Ziel 357
MEW 1 S. 231 ( = Landshut S. 48).
358
S. 232 ( = S. 48/9). S. 382 ( = S. 212).
859
1
148
5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus
jenseits des status quo und dessen von Hegel vorgesehener Überwindung an: die „menschliche Höhe", welche die nächste Zukunft den Völkern bringen w i r d 3 6 0 . „ W i e die alten V ö l k e r ihre Vorgeschichte i n der Imagination erlebten, i n der Mythologie, so haben w i r Deutsche unsre Nachgeschichte i m Gedanken erlebt, i n der Philosophie. W i r sind philosophische Zeitgenossen der Gegenw a r t , ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein. Die deutsche Philosophie ist die ideale Verlängerung der deutschen Geschichte. Wenn w i r also statt der
oeuvres incomplètes unserer reellen Geschichte die oeuvres posthumes un-
serer ideellen Geschichte, die Philosophie, kritisieren, so steht unsere K r i t i k m i t t e n unter den Fragen, v o n denen die Gegenwart sagt: That is the
question ...
Die deutsche Rechts- und Staatsphilosophie ist die einzige mit der offiziellen modernen Gegenwart al pan stehende deutsche Geschichte. Das deutsche V o l k muß daher diese seine Traumgeschichte m i t zu seinen bestehenden Z u ständen schlagen u n d nicht n u r diese bestehenden Zustände, sondern zugleich ihre abstrakte Fortsetzung der K r i t i k unterwerfen 3 6 1 ."
Diese Sätze von M a r x beschreiben die Weiche, über die er die Geleise Hegels tatsächlich verläßt. Er verkündet jetzt seinem Meister, dem er bislang bestenfalls ein paar theoretische Kratzer zufügen konnte, den politischen Streit u m den Staat. Hegel wünschte sich für sein V o l k ein Reich als vernünftigen Staat. M a r x macht sich daran, sein V o l k von diesem Staat zu emanzipieren, bevor es i h n hatte. Dort, wo Hegel das deutsche Bewußtsein schon durchpflügt und seine Saat geduldig-sorgfältig jahrelang eingegraben hat, beginnt nun auch Marx zu pflügen und zu säen: vom E x i l aus. Hegel hat i n dem Bündnis zwischen schwärmerischer Deutschtümelei, opportunistischen Liberalen und christlicher Frömmigkeit schon seinen ärgsten Feind erkannt. M a r x t r i t t also einen Kampf an, der sich sowohl gegen Hegel als auch gegen Hegels Feinde richtet: Er hat es m i t dem Geist der französischen Revolution zu tun, der i n Deutschland noch keine rechte Chance hatte; m i t den Altdeutschen, die zum Zuge kommen wollten; und m i t Hegels weiterwirkendem Geist, der gleich einem unsichtbaren Schleier von Würde und Allgemeinheit u m den Staat und erst recht u m den späteren Staat des deutschen Volkes schwebt. Dieser Schleier machte „den Staat" gegen zersetzende K r i t i k so unverletzlich wie i n der Sage das Drachenblut Siegfried gegen alle Angriffe von vorn unverletzlich gemacht hatte. (Sehr viel später, als das Reich i n Erscheinung getreten ist, und als Hegel die erste Runde des Zweikampfes — wenn auch unter großen Verlusten an geistiger Substanz — gewonnen hat, spottet M a r x über das übrige mittelmäßige Epigonentum i n Deutschland, das Hegel als ,toten Hund 4 behandelt habe, während er, Marx, am ersten 860 361
S. 385 ( = S. 216). S. 383 ( = S. 213/4Ì.
5. M a r x u n d H e e
149
B a n d des K a p i t a l g e a r b e i t e t habe. E r setzt sich z w a r i m m e r n o c h v o n Hegels I d e a l i s m u s d e u t l i c h s t ab, s p r i c h t aber i m m e r h i n H e g e l d e n D e n k p r o z e ß aufgefaßt h a b e als Demiurg
des
davon,
daß
Wirklichen,
das n u r seine äußere E r s c h e i n u n g b i l d e 3 6 2 . ) D e r a n d e r e T o n f a l l , d e n M a r x an der Wende
1843/44 anschlägt, l ä ß t
sich e b e n f a l l s l e i c h t belegen. März 1843: „Der Staat ist ein zu ernstes Ding, u m zu einer Harlekinade gemacht zu werden." ( A n Rüge 3 6 3 ) Wende 1843/44: „Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie . . . Diese heitere geschichtliche Bestimmung vindizieren w i r den politischen Mächten Deutschlands 3 6 4 ." — M a i 1843: „ V o n unser Seite muß die alte W e l t v o l l k o m m e n ans Tageslicht gezogen u n d die neue positiv ausgebildet werden. Je länger die Ereignisse der denkenden Menschheit Zeit lassen, sich zu besinnen, u n d der leidenden, sich zu sammeln, u m so vollendeter w i r d das Produkt i n die W e l t treten, welches die Gegenwart i n i h r e m Schöße t r ä g t 3 6 5 . " September 1843: „Größer noch als die äußeren Hindernisse scheinen beinahe die inneren Schwierigkeiten zu sein. Denn w e n n auch k e i n Zweifel über das ,Woher 1 , so herrscht desto mehr Konfusion über das »Wohin 1 . . . Ist die K o n s t r u k t i o n der Z u k u n f t u n d das Fertigwerden f ü r alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was w i r gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden ... Die V e r n u n f t hat i m m e r existiert, n u r nicht i n der vernünftigen Form. Der K r i t i k e r k a n n also an jede F o r m des theoretischen u n d praktischen Bewußtseins anknüpfen u n d aus den eigenen Formen der existierenden W i r k lichkeit die wahre W i r k l i c h k e i t als i h r Sollen u n d ihren Endzweck entwickeln. Was m m das w i r k l i c h e Leben betrifft, so enthält gerade der politische Staat, auch w o er v o n den sozialistischen Forderungen noch nicht bewußterweise erfüllt ist, i n allen seinen modernen Formen die Forderungen der Vernunft. U n d er bleibt dabei nicht stehen. E r unterstellt überall die V e r n u n f t als realisiert. E r gerät aber ebenso überall i n den Widerspruch seiner ideellen Bestimmung m i t seinen realen Voraussetzungen . . . W i r entwickeln der W e l t aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. W i r sagen i h r nicht: Laß ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; w i r w o l l e n D i r die wahre Parole des Kampfes zuschreien. W i r zeigen i h r nur, w a r u m sie eigentlich k ä m p f t . . . W i r können also die Tendenz unseres B l a t tes i n ein W o r t fassen: Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit . . . Es handelt sich u m eine Beichte, u m weiter nichts. U m sich ihre Sünden vergeben zu lassen, braucht die Menschheit sie n u r f ü r das zu erklären, was sie sind." ( A n Rüge 3 6 6 ) 302 363 364 365 366
Das K a p i t a l I , M E W 23 S. 27 (Nachwort zur 2. Aufl., geschrieben 1873). M E W 1 S. 338 ( = Landshut S. 156). S. 382 ( = S. 212). S. 343 ( = S. 166). S. 343 ff. ( = S. 166 ff.).
150
5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus
Wende 1843/44: „ K r i e g den deutschen Zuständen! . . . M i t ihnen i m K a m p f ist die K r i t i k keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der K o p f der Leidenschaft. Sie ist kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. I h r Gegenstand ist i h r Feind, den sie nicht widerlegen, sondern n u r vernichten w i l l . . . I h r wesentliches Pathos ist die Indignation, ihre wesentliche A r b e i t die Denunziation I h r verlangt, daß m a n an wirkliche Lebenskeime anknüpfen soll, aber i h r vergeßt, daß der wirkliche Lebenskeim des deutschen Volkes bisher n u r i n seinem Hirnschädel" — nämlich i n Hegels Philosophie, die M a r x nunmehr statt der W i r k l i c h k e i t überbietet — „gewuchert h a t " 3 6 7 .
Plötzlich ist nicht mehr die Rede davon, daß die neue Welt erst positiv ausgebildet werden müsse, — daß die Frage nach dem „Wohin" noch i n ein Feld der Konfusion führe, — daß der denkenden Menschheit noch Zeit bleiben müsse, sich zu besinnen und daß der Welt aus ihren Prinzipien neue zu entwickeln seien. Stattdessen: Krieg; der Gedanke an den „Scharfrichter" 3 6 8 ; Denunziation: Zuspitzung. Indem M a r x umschwenkt auf den Kampf gegen den Staat, verläßt er zugleich auch die bis dahin noch befolgte Maxime Hegels, das Vernünftige aus seinen Keimen i n der Wirklichkeit heraus zu entwickeln. Statt „ w i r k licher Lebenskeime" : Feindschaft und Vernichtung. Zugleich aber nähert M a r x sich i n einem entscheidenden praktischen Punkt immer mehr dem jungen Hegel, und zwar i n dem Maße, wie der eigentlich philosophische Teil des Weges von M a r x i n die praktischgesellschaftspolitischen Probleme mündet, die er lösen w i l l . Der junge Hegel hatte sich die Frage gestellt, wie Ideen lebendig werden und wie die Vorstellungen vom besseren Leben verwirklicht werden können. Sei es aus Rücksicht auf nicht bedachte Folgen, wie sie bei der Französischen Revolution sich gezeigt hatten, sei es aus anderen Gründen, hat Hegel das Problem „Verwirklichung" an historischen Beispielen gründlichst studiert und darüber i n seiner Phänomenologie des Geistes geistreich und ausführlich berichtet. Er hat daran gelernt und sich danach gerichtet. Was für Hegel eine der Ausgangsfragen seiner Philosophie war, m i t der er begann, w i r d für M a r x zu der Einsicht, m i t der er von der Philosophie Hegels i n der von i h m darin gesehenen Abstraktheit Abschied nimmt, — fast, als bestätige sich seine frühere Einsicht nun auf eigene Weise: „Mein letzter Satz war der Anfang des Hegeischen Systems 369 ." Die Frage, die i h m einen Schlüssel zum Verständnis Hegels abgegeben hätte, taucht auf, als er i m großen und ganzen m i t seinem Urteil über Hegel schon fertig ist. Nicht daß keine nachhaltigen Spuren von Hegels Philosophie i m dialektischen Materia367 368 389
S. 380, 384 ( = S. 210, 214/5). a.a.O. Oben bei A n m . 319.
5. Marx und H e e
151
lismus aufbewahrt wären, — aber die Beschäftigung m i t der Spekulation weicht bei M a r x nun der publizistischen Praxis. So kommt es, daß die Verwirklichungsprobieme und die Tücken von Verwirklichungsversuchen, die einen Faden durch Hegels Philosophie bilden, von M a r x gar nicht erst zur Sprache gebracht, geschweige denn systematisch durchdacht und berücksichtigt werden. Der Überschneidungspunkt, bei dem Hegel auf seine Probleme Marx aufs Proletariat stößt, w i r d durch folgende Zitate markiert:
und
Hegel zur V e r w i r k l i c h u n g des Reichs Gottes durch Jesus: „ M i t dem Finden
des Worts, mit dem Ins-Bewußtsein-Kommen
des Bedürfnisses
wären die
Bande abgefallen, v o m alten Schicksal hätten sich n u r noch Zuckungen des erstorbenen Lebens geregt, u n d das Neue wäre dagestanden 3 7 0 ." Hegel zur Ü b e r w i n d u n g der deutschen Zustände: „Das Gefühl des W i d e r spruchs der N a t u r m i t dem bestehenden Leben ist (auch schon) das Bedürfnis, daß er gehoben werde; u n d dies w i r d er, w e n n das bestehende Leben seine Macht u n d alle seine Würde verloren hat, w e n n es reines Negatives geworden ist . . . Worüber die öffentliche Meinung heller oder dunkler durch Verlust des Zutrauens entschieden hat, darüber braucht es wenig, ein klareres Bewußtsein allgemeiner zu machen 3 7 1 ." Marx zur Ü b e r w i n d u n g der deutschen Zustände: „ M a n muß den w i r k l i c h e n Druck noch drückender machen, indem m a n i h m das Bewußtsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem m a n sie publiziert . . . M a n erfüllt damit ein unabweisbares Bedürfnis des deutschen Volks, u n d die Bedürfnisse der Völker sind i n eigener Person die letzten Gründe i h r e r Befriedigung 3 7 2 ." Marx: „Es genügt nicht, daß der Gedanke zur V e r w i r k l i c h u n g drängt, die W i r k l i c h k e i t muß selbst zum Gedanken drängen 3 7 3 ." Hegel: „Das Bedürfnis jener (vielen Menschen), ein Bewußtsein über das, was sie gefangenhält, u n d das Unbekannte, das sie bewußtlos suchen, zu bekommen, t r i f f t m i t dem Bedürfnis dieser (Philosophen), ins Leben aus ihrer Idee überzugehen, zusammen 3 7 4 ."
Der praktische K a l k ü l der Veränderung, der bei dem Bedürfnis und den Trieben der Menschen anknüpft und sie auf dem Wege über das Bewußtsein ansprechen w i l l , gehört freilich nicht M a r x und Hegel allein, sondern ist wohl biblischen Alters und wurde nicht zuletzt von Schiller — dessen einschlägige Schriften Hegel i n Bern genau studiert hat — als der Weg angegeben, auf dem die Ideen des deutschen Idealismus vollstreckt werden würden. Leicht ist i n den folgenden Sätzen eine Vorform des Schemas zu erkennen, nach dem endlich der 370
371
372 373
374
Nohl S. 325 = Werke 1, 398. Hervorhebungen von mir.
Hegel, Werke 1, 458.
MEW 1, 381 ( = Landshut S. 211). S. 386 ( = S. 218).
Hegel, Werke 1, 457.
152
5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus
„naturgeschichtliche", „blinde" oder „naturwüchsige" Prozeß der bewußten und planmäßigen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch den gesellschaftlichen Menschen Platz machen w i r d : „Soll biete Welt sucht
sich also die Philosophie, mutlos u n d ohne Hoffnung, aus diesem Gezurückziehen? . . . Der K o n f l i k t blinder K r ä f t e soll i n der politischen ewig dauern, u n d das gesellige Gesetz nie über die feindselige Selbstsiegen?
Nichts weniger! Die V e r n u n f t selbst w i r d zwar m i t dieser rauhen Macht, die ihren Waffen wiedersteht, unmittelbar den K a m p f nicht versuchen, u n d so wenig als der Sohn des Saturns i n der Ilias selbsthandelnd auf den f i n stren Schauplatz heruntersteigen. A b e r aus der M i t t e der Streiter w ä h l t sie sich den würdigsten aus, bekleidet i h n w i e Zeus seinen E n k e l m i t göttlichen Waffen, u n d b e w i r k t durch seine siegende K r a f t die große Entscheidung. Die V e r n u n f t hat geleistet, was sie leisten kann, w e n n sie das Gesetz findet u n d aufstellt; vollstrecken muß es der mutige W i l l e u n d das lebendige Gefühl. Wenn die Wahrheit i m Streit m i t K r ä f t e n den Sieg erhalten soll, so muß sie selbst erst zur Kraft werden, u n d zu i h r e m Sachführer i m Reich der Erscheinungen einen Trieb aufstellen; denn Triebe sind die einzigen bewegenden K r ä f t e i n der empfindenden Welt. H a t sie bis jetzt ihre siegende K r a f t noch so w e n i g bewiesen, so liegt dies nicht an dem V e r stände, der sich nicht zu entschleiern wußte, sondern an dem Herzen, das sich i h r verschloß, u n d an dem Trieb, der nicht f ü r sie handelte 3 7 5 ."
Dem entspricht es, wenn Hegels „Geist" die Leidenschaften für sich arbeiten läßt, während er sich selbst aus dem Getummel zurückhält. Wie Schiller geht Hegel davon aus, daß sich eine bessere Zukunft aus der Gegenwart notwendig ergeben muß, und daß sein Geist wie Schillers Vernunft sich aus der M i t t e der Streiter den oder die würdigsten auswählen und m i t göttlichen Waffen bekleiden würde. M a r x erkennt dann für die Vollstreckung der sich aus seiner Gegenwart notwendig ergebenden Veränderungen i m Proletariat den würdigsten Streiter. Die Arbeiter sind die Berufenen: „Die Brüderlichkeit der Menschen ist keine Phrase, sondern Wahrheit bei ihnen, und der Adel der Menschheit leuchtet uns aus den von der Arbeit verhärteten Gestalten entgegen 876 ." Schiller hatte allerdings auch dunklere Ahnungen. Er wußte, wie schwierig es sein würde, an dem lebendigen Uhrwerk des Staates das rollende Rad während seines Umschwunges auszutauschen. Ungeduld würde schlimmere Übel heraufbeschwören als die bestehenden. Die Abfolge von Hoffnung und Jubel, Entsetzen, Enttäuschimg und Besinnung auf die Fehler beim Miterleben der Französischen Revolution waren Schiller und Hegel noch lebendig; M a r x kannte sie nur noch aus der Überlieferung. 876 Schiller, Sämtl. Werke, 18. Bd., Stuttgart u n d Tübingen 1828, S. 34 f. (Achter Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen). 876 M E W E B I S. 553. Vgl. auch B r i e f an Feuerbach, M E W 27 S. 426.
5. M a r x u n d H e e
153
„ V i e l zu ungestüm . . . stürzt sich der göttliche Bildungstrieb oft u n m i t t e l b a r auf die Gegenwart u n d auf das handelnde Leben u n d u n t e r n i m m t , den formlosen Stoff der moralischen Welt umzubilden. Dringend spricht das Unglück seiner Gattung zu dem fühlenden Menschen, dringender ihre E n t w ü r d i g u n g ; der Enthusiasmus entflammt sich, u n d das glühende Verlangen strebt i n kraftvollen Seelen ungeduldig zur Tat. A b e r befragt er sich auch, ob diese Unordnungen i n der moralischen Welt seine V e r n u n f t beleidigen, oder nicht vielmehr seiner Selbstliebe schmerzen? Weiß er es noch nicht, so w i r d er es an dem Eifer erkennen, w o m i t er auf bestimmte u n d beschleunigte W i r k u n g dringt. Der reine moralische Trieb ist aufs Unbedingte gerichtet, f ü r i h n gibt es keine Zeit, u n d die Z u k u n f t w i r d i h m zur Gegenwart, sobald sie sich aus der Gegenwart notwendig entwickeln m u ß 8 7 7 . " V e r b ü n d e t sich das I d e a l m i t n o c h g ä r e n d e n K r ä f t e n u n d T r i e b e n oder v e r l e i h t es e i n e r o h n e h i n schon ü b e r m ä c h t i g e n N a t u r V e r s t ä r k u n g , — oder v e r k n ü p f t es sich m i t e i n e r schon h e r r s c h e n d e n Schwäche u n d physischen B e s c h r ä n k u n g , w e r d e n d i e l e t z t e n g l i m m e n d e n F u n k e n v o n S e l b s t t ä t i g k e i t ausgelöscht: „ M a n w i r d i n anderen Weltteilen i n dem Neger die Menschheit ehren, u n d i n Europa sie i n dem Denker schänden. Die alten (autoritären) Grundsätze werden bleiben, aber sie werden das K l e i d des Jahrhunderts tragen, u n d zu einer Unterdrückimg, welche sonst die Kirche autorisierte, w i r d die P h i l o sophie ihren Namen leihen. V o n der Freiheit erschreckt, die i n ihren ersten Versuchen sich i m m e r als Feindin ankündigt, w i r d m a n dort einer bequemen Knechtschaft sich i n die A r m e werfen, u n d hier, von einer pedantischen Kuratel zur Verzweiflung gebracht, i n die w i l d e Ungebundenheit des N a t u r zustands entspringen. Die Usurpation w i r d sich auf die Schwachheit der menschlichen Natur, die Insurrektion auf die Würde derselben berufen, bis endlich die große Beherrscherin aller menschlichen Dinge, die blinde Stärke dazwischen t r i t t , u n d den vorgeblichen Streit der Prinzipien w i e einen gemeinen Faustkampf entscheidet 3 7 8 ." I m J a h r e 1888 n i m m t E n g e l s r ü c k b l i c k e n d f ü r d i e deutsche A r b e i t e r b e w e g u n g i n A n s p r u c h , sie s e i d i e E r b i n d e r deutschen klassischen P h i l o s o p h i e 8 7 9 , u n d e r t r i f f t d a m i t durchaus i n s Schwarze, w e n n g l e i c h d i e E r b i n f r e i l i c h e t w a s a n d e r s ausgefallen ist, als i h r e E l t e r n u n d Großeltern, die noch nicht den ökonomischen B l i c k v o n M a r x u n d Engels h a t t e n , sich i h r e N a c h k o m m e n s c h a f t v o r g e s t e l l t h a b e n . A l s M a r x noch n i c h t sein A b i t u r b e s t a n d e n h a t t e , sah H e i n r i c h H e i n e schon d e n Ü b e r g a n g i n d i e p o l i t i s c h e P r a x i s k o m m e n , d e r i m deutschen I d e a l i s m u s v o r p r o g r a m m i e r t w a r , u n d k o m m e n t i e r t e d e n Prozeß (1834/35). V i e r J a h r e b e v o r M a r x sich anschickt, Hegels P h i l o s o p h i e gegen d i e e r scheinende W e l t z u k e h r e n , schreibt H e i n e z u m p o l i t - p h i l o s o p h i s c h e n S e e l e - L e i b - P r o b l e m des deutschen I d e a l i s m u s : 877 378 879
Schiller, a.a.O., S. 41 (Neunter Brief). S. 33 (Siebenter Brief). M E W 21 S. 307.
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5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus
„Der Gedanke, den w i r gedacht, ist eine solche Seele, und er läßt uns keine Ruhe, bis w i r i h m seinen Leib gegeben, bis w i r i h n zur sinnlichen Erscheinung gefördert. Der Gedanke w i l l Tat, das Wort w i l l Fleisch werden. Und wunderbar! der Mensch, wie der Gott der Bibel, braucht n u r seinen Gedanken auszusprechen, und es gestaltet sich die Welt, es w i r d Licht oder es w i r d Finsternis, die Wasser sondern sich vom Festland, oder gar wilde Bestien kommen zum Vorschein. Die Welt ist die Signatur des Wortes. Dies merkt Euch, I h r stolzen Männer der Tat. I h r seid nichts als unbewußte Handlanger der Gedankenmänner, die oft i n demütigster Stille Euch all Euer T u n aufs Bestimmteste vorgezeichnet haben 3 8 0 ."
U n d er warnt die jungen Deutschen: „Die deutschen Revolutionäre irren sich, wenn sie wähnen, daß eine materialistische Philosophie ihren Zwecken günstig sei. Ja, es ist dort gar keine a l l gemeine Revolution möglich, solange ihre Prinzipien nicht aus einer volkstümlicheren, religiöseren u n d deutscheren Philosophie deduziert und durch die Gewalt derselben herrschend geworden. Welche Philosophie ist dieses? W i r werden sie späterhin unumwunden besprechen. Ich sage unumwunden, denn ich rechne darauf, daß auch Deutsche diese Blätter lesen 381 . (Später w i r d die Hegeische Philosophie als Höhepunkt der angekündigten Philosophie besprochen 382 .)
Auch i n seinem „Wintermärchen" berichtet Heine von einer vermummten Gestalt, die hinter i h m herschleiche: Ich treffe dich immer i n der Stund, Wo Weltgefühle sprießen I n meiner Brust u n d durch das H i r n Die Geistesblitze schießen.
Z u r Rede gestellt spricht diese Gestalt: Ich b i n von praktischer Natur, U n d immer schweigsam u n d ruhig. Doch wisse: was d u ersonnen i m Geist, Das führ ich aus, das t u ich. U n d gehn auch Jahre drüber hin, Ich raste nicht, bis ich verwandle I n Wirklichkeit was du gedacht; D u denkst, und ich, ich handle. D u bist der Richter, der Büttel b i n ich, u n d m i t dem Gehorsam des Knechtes, Vollstreck ich das Urteil, das du gefällt, U n d sei es ein ungerechtes. 380 881 382
Heine, Sämtl. Schriften Bd. 3, S. 593. S. 558. S. 569, 632 ff.
5. Marx und H e e
155
Dem K o n s u l t r u g m a n ein B e i l voran, zu Rom, i n alten Tagen. Auch d u hast deinen L i k t o r , doch w i r d das B e i l d i r nachgetragen. Ich b i n dein L i k t o r , u n d ich geh Beständig m i t dem blanken Richterbeile hinter d i r — ich b i n Die Tat von deinem Gedanken 3 8 3 .
Später wurde Heine auch noch klar, daß Hegel kein „Mönch des Atheismus" i n dem Sinne war, daß er Gott abschaffen oder vernichten wollte, sondern daß diese Bewußtseinserscheinung sich nur ent-wickeln oder häuten sollte, u m weltlich und richtiger begriffen und wirklichkeitsgerechter organisiert zu werden. Heine meinte, daß die Religionsk r i t i k der Junghegelianer nicht bis zur vollen Einsicht i n das Wandlungs- und Uberlebensvermögen des unsterblichen Gottes i m Bewußtsein vorgedrungen war. Er hielt den Gottestötern i m Jahre 1852 vor: „Nein, es ist nicht wahr, daß die Vernunftskritik, welche die Beweistümer für das Dasein Gottes . . . zernichtet hat, auch dem Dasein Gottes selber ein Ende gemacht habe. Der Deismus lebt, lebt sein lebendigstes Leben, er ist nicht tot, und am allerwenigsten hat ihn die neueste" — also die nachhegelsche — „Philosophie getötet. Diese spinnwebige Berliner Dialektik kann keinen Hund aus dem Ofenloch locken, sie kann keine Katze töten, wie viel weniger einen Gott 384 ." Diese Einsichten seien i h m einige Jahre nach seiner Begegnung mit Rüge i n Paris (also nach 1844) gekommen. Er fährt fort: „ W i e oft seitdem denke ich an die Geschichte dieses babylonischen Königs (Nebukadnezar), der sich selbst f ü r den lieben Gott hielt, aber von der Höhe seines Dünkels erbärmlich hinabstürzte, w i e ein Tier am Boden kroch u n d Gras aß . . . I n dem prachtvoll grandiosen Buch Daniel steht diese Legende, die ich nicht bloß dem guten Rüge, sondern auch meinem noch v i e l verstockteren Freunde M a r x , j a auch den Herren Feuerbach, Daumer, Bruno Bauer, Hengstenberg u n d w i e sie sonst heißen mögen, diese gottlosen Selbstgötter, zur erbaulichen Beherzigung empfehle. Es stehen überhaupt noch viele schöne u n d merkwürdige Erzählungen i n der Bibel, die ihrer Beachtung w e r t wären, ζ. B. gleich zu Anfang die Geschichte v o m verbotenen Baume i m Paradiese u n d von der Schlange, der kleinen Privatdozentin, die schon sechstausend Jahre vor Hegels Geburt die ganze Hegeische Philosophie vortrug. Dieser Blaustrumpf ohne Füße zeigt sehr scharfsinnig, w i e das Absolute i n der Identität von Sein u n d Wissen besteht, w i e der Mensch zum Gott werde durch die Erkenntnis, oder was dasselbe ist, w i e Gott i m M e n schen zum Bewußtsein seiner selbst gelange — Diese Formel ist nicht so k l a r w i e die ursprünglichen Worte: Wenn i h r v o m Baume der Erkenntnis genossen, werdet i h r w i e Gott s e i n ! 3 8 6 " — 383
Bd. 4 S. 591. S. 509 f. 385 Vgl. dazu Hegel, ζ. B. Zusatz 3 zu § 24 Enzyklopädie (Werke 8, 88 ff. = Glockner 8, 91 ff.) sowie Hegel i n Berichten, S. 152. 384
156
5. K a p i t e l : M a r x u n d sein dialektischer Materialismus
E i n e r d e r M ä n n e r , d i e H e i n e a u f z ä h l t — Bruno Bauer — h a t t e 1840 a n o n y m seine „ P o s a u n e des j ü n g s t e n Gerichts ü b e r H e g e l d e n A t h e i s t e n u n d A n t i c h r i s t e n " e r t ö n e n lassen: E i n leidenschaftliches B e k e n n t n i s z u m r e v o l u t i o n ä r e n H e g e l , v e r p a c k t als ebenso leidenschaftliche, scheinbare V e r t e i d i g u n g des w a h r e n G l a u b e n s a n d e n G o t t d e r c h r i s t lichen Theologie. D i e V e r k l e i d u n g u n d der Stil, durch welche Hegel hindurchschimmert, bringen z w a r manche Zuspitzung u n d Verzerrung m i t sich. T r o t z d e m w i r d h i e r T r e f f e n d e r e s ü b e r H e g e l m i t g e t e i l t als gemeinhin angenommen w i r d . Ü b e r Hegels W e g z u d e m „ M i t t e l p u n k t " h e i ß t es i n A n s p i e l u n g a u f französischen A t h e i s m u s u n d a u f d i e I d e e n d e r Französischen R e v o l u tion: „ D a kam, nein! — da berief, da hegte u n d pflegte, da beschützte, j a ehrte u n d besoldete m a n den Feind, den m a n draußen besiegt hatte, i n einem Manne, welcher stärker w a r als das französische Volk, einen Mann, welcher die Dekrete jenes höllischen Convents wieder zur Gesetzeskraft erhob, ihnen neue, festere Grundlagen gab u n d unter dem einschmeichelnden, besonders f ü r die deutsche Jugend verführerischen T i t e l der Philosophie Eingang v e r schaffte. M a n berief Hegel u n d machte i h n zum M i t t e l p u n k t der Universität B e r l i n ! " (S. 44) „ M a n glaube nicht, daß die Rotte, m i t welcher der christliche Staat i n unsern Tagen zu kämpfen hat, ein anderes Prinzip befolgt u n d andere Lehren bekennt, als der Meister des Trugs aufgestellt hat . . . Sie haben vielmehr n u r den durchsichtigen Schleier, i n welchen der Meister zuweilen seine Behauptungen hüllte, hinweggenommen . . . Es w a r n u r die L i s t der alten Schlange . . . , welche den teuflischen Erfindungen u n d Gedanken den Schein des Christlichen, Kirchlichen u n d Gottseligen gab. Dieser Schein täuschte die früheren Anhänger, lockte sie an, verstrickte sie i n die gefährlichen Netze des Systems, infizierte sie m i t dem schleichenden G i f t des Prinzips u n d so k a m es, daß der Sauerteig dieser Philosophie i m m e r weiter u m sich griff, bis er endlich Alles angesäuert, Gesinnung, Herz, Brust, Denken u n d Wissen, Dichten u n d Trachten säuerlich g e m a c h t . . . " (S. 45/6) Ä h n l i c h i s t d e r K l a n g d e r Sätze i n „ H e g e l s L e h r e v o n d e r R e l i g i o n u n d K u n s t " — a n o n y m v o n Bruno Bauer u n d Arnold Rüge, 1842: „ A u c h i n der Lästerung der Heiligen hat Hegel sich den Spötter Voltaire zum V o r b i l d genommen, obwohl w i r i h m den zweideutigen oder schrecklichen R u h m zugestehen müssen, daß er sein V o r b i l d noch übertroffen hat, da er seine Lästerungen ruhiger u n d gelassener vorträgt u n d ihnen durch allgemeine philosophische Bestimmungen größere K r a f t gibt. Voltaire empfindet noch die erste Hitze u n d G l u t des Hasses u n d wütet, w e n n er die Lieblinge Gottes, die Männer nach dem Herzen Gottes angreift. Hegel dagegen macht die Sache i n aller Seelenruhe gewöhnlich m i t einer p h i l o sophischen Kategorie ab, seine Vergehen kosten i h n nicht mehr M ü h e als w e n n er ein Glas Wasser tränke. Voltaire zittert noch v o r W u t u n d Angst, w e i l er noch nicht allen Glauben aus sich vertrieben hat, Hegel ist unerschütterlich, w e i l er den Glauben gar nicht mehr kennt." (S. 100)
5.3 Von der Waffe der Kritik zur Kritik der Waffen Zur Frage, inwiefern Hegels Theorie praktisch „Posaune" schließlich noch:
157
sei, liest man i n der
„Die Rotte der jüngeren Hegelianer möchte uns vorreden, daß Hegel sich allein i n die Beschaulichkeit der Theorie versenkt u n d nicht daran gedacht habe, die Theorie zur Praxis fortzuführen. A l s ob Hegel nicht m i t höllischer W u t die Religion angegriffen hat, als ob er nicht auf die Zerstörung des Weltzustandes ausgegangen sei. Seine Theorie w a r i n i h r selber u n d d a r u m die gefährlichste, umfassendste u n d zerstörendste Praxis. Sie w a r die Revolution selbst . . . Der Satan ist listig! I n der T a t ! . . . Es muß heraus u n d offen gesagt werden: Hegel w a r ein größerer Revolutionär als alle seine Schüler zusammengenommen." (S. 81 f.)
5.3 Von der Waffe der Kritik zur Kritik der Waffen Das Ziel, das M a r x 1843/1844 für seine revolutionäre Arbeit ins Auge faßt, ist, wie gesagt, nicht nur die Überwindung der wirklichen deutschen Zustände, sondern auch ihrer philosophischen Verlängerung zu einem deutschen Reich. Die Mittelstufe der politischen Emanzipation, die Frankreich durch seine Revolution erreicht hatte, soll übersprungen werden. „Wenn ich die deutschen Zustände von 1843 verneine, stehe ich, nach französischer Zeitrechnimg, kaum i m Jahre 1789 886 ." Die halbe, die nur politische Revolution nach dem Muster der Französischen, hält M a r x nicht nur für nicht durchführbar i n Deutschland, sondern auch gar nicht für wünschenswert. I h m geht es u m die radikale, die allgemein-menschliche Revolution (wie es ähnlich auch Hegel schon u m eine „nicht nur politische" Erneuerung gegangen war). „ K a n n Deutschland zu einer Praxis ά la hauteur
des principes
zu einer Revolution, die es nicht nur auf das offizielle
gelangen, d. h.
Niveau der modernen
Völker erhebt, sondern auf die menschliche Höhe, welche die nächste Z u k u n f t dieser V ö l k e r sein w i r d 3 8 7 ? "
Auch Heine träumt (September 1844) davon, daß „ w i r das vollenden, was die Franzosen begonnen haben, . . . , (daß) w i r diese überflügeln i n der Tat, wie w i r es schon getan i n Gedanken" 3 8 8 . Was i n der nächsten Zukunft sein soll, scheint schon gelöst zu sein. M a r x jedenfalls hält sich dabei nicht auf, sondern analysiert die Ausgangslage für die ins Auge gefaßte Revolution i n Deutschland. Er weiß, wie Schiller und Hegel vor i h m wußten, daß seine Theorie nur verwirklicht wird, wenn sie die Verwirklichung der Bedürfnisse bzw. Triebe der Menschen anbietet. Dann folgen die für M a r x weichenstellenden Gedanken: Theorie und Masse finden einander nur, wenn beide radikal genug sind. Also muß die Masse radikale Bedürfnisse entwickeln, die Theorie 386
MEW 1 S. 379 ( = Landshut S. 209).
887
S. 385 ( = S. 216).
388
Heine, a.a.O. Bd. 4, S. 574 f.
158
5. K a p i t e l : M a r x u n d sein dialektischer Materialismus
r a d i k a l e A n g e b o t e . M a r x ' Theorie i s t schon r a d i k a l ; d e n n sie i s t A u f h e b u n g d e r R e l i g i o n u n d theoretische W i e d e r e i n s e t z u n g des M e n s c h e n i n s Z e n t r u m des Lebens. A b e r d i e deutsche Wirklichkeit ist noch nicht radikal. Die „Voraussetzungen u n d Geburtsstätten" radikaler Bedürfnisse f e h l e n noch, — j e d e n f a l l s f ü r die bloß p o l i t i s c h e R e v o l u t i o n . A b e r eine a n d e r e M ö g l i c h k e i t zeichnet sich ab f ü r d i e a l l g e m e i n menschliche E m a n z i p a t i o n : „Nicht die radikale Revolution ist ein utopischer T r a u m f ü r Deutschland, nicht die allgemein menschliche Emanzipation, sondern vielmehr die t e i l weise, die nur politische Revolution, die Revolution, welche die Pfeiler des Hauses stehenläßt. Worauf beruht eine teilweise, eine n u r politische Revolution? Darauf, daß ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft sich emanzipiert u n d zur allgemeinen Herrschaft gelangt, darauf, daß eine bestimmte Klasse v o n ihrer besonderen Situation aus die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft unternimmt. Diese Klasse befreit die ganze Gesellschaft, aber n u r unter der Voraussetzung, daß die ganze Gesellschaft sich i n der Situation dieser Klasse befindet, also z . B . Geld u n d B i l d u n g besitzt oder beliebig erwerben kann. Keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft k a n n diese Rolle spielen, ohne ein Moment des Enthusiasmus i n sich u n d i n der Masse hervorzurufen, ein Moment, w o r i n sie m i t der Gesellschaft fraternisiert u n d zusammenfließt, m i t i h r verwechselt u n d als deren allgemeiner Repräsentant empfunden u n d anerkannt w i r d , ein Moment, w o r i n ihre Ansprüche u n d Rechte i n Wahrheit die Rechte u n d Ansprüche der Gesellschaft selbst sind, w o r i n sie w i r k l i c h der soziale K o p f u n d das soziale Herz ist. N u r i m Namen der allgemeinen Rechte der Gesellschaft k a n n eine besondere Klasse sich die allgemeine Herrschaft vindizieren. Z u r Erstürmung dieser emanzipatorischen Stellung u n d damit zur politischen Ausbeutung aller Sphären der Gesellschaft i m Interesse der eigenen Sphäre reichen revolutionäre Energie u n d geistiges Selbstgefühl allein nicht aus. D a m i t die Revolution eines Volkes u n d die Emanzipation einer besonderen Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfallen, damit ein Stand f ü r den Stand der ganzen Gesellschaft gelte, dazu müssen umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft i n einer anderen Klasse konzentriert, dazu muß ein bestimmter Stand der Stand des allgemeinen Anstoßes, die Inkorporation der allgemeinen Schranke sein, dazu muß eine besondere soziale Sphäre f ü r das notorische Verbrechen der ganzen Sozietät gelten, so daß die Befreiung von dieser Sphäre als die allgemeine Selbstbefreiung erscheint. D a m i t ein Stand par excellence der Stand der Befreiung, dazu muß umgekehrt ein anderer Stand der offenbare Stand der U n t e r jochung sein . . . Es fehlt aber jeder besonderen Klasse i n Deutschland nicht n u r die Konsequenz, die Schärfe, der M u t , die Rücksichtslosigkeit, die sie zum negativen Repräsentanten der Gesellschaft stempeln könnte . . . Wo also die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation? Antwort: I n der B i l d u n g einer Klasse m i t radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, w e l che einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt u n d k e i n besonderes Recht i n Anspruch n i m m t , w e i l k e i n besonderes Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an i h r verübt w i r d . . w e l c h e m i t einem
5.3 Von der Waffe der Kritik zur Kritik der Waffen W o r t der völlige Verlust des Menschen ist, also n u r durch die völlige dergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen k a n n 3 8 9 . "
159 Wie-
Hegel hatte vorübergehend an einen Eroberer gedacht, der die Deutschen i n einen Staat zwingen sollte, war aber von dieser Idee halb wieder abgekommen, w e i l er überzeugt war, daß durch bloße Gewalt nur wieder neue Gewalt, die Gewalt zu fürchten hat, neues Unrecht und neues Leiden gesetzt werden: ein Leerlauf, der erst endet, wenn auch der Geist es fertig bringt, die neue Gestalt des Lebens zu enthüllen, darzustellen und ins Bewußtsein einzusenken. Marx setzte darauf, daß die Massen radikaler würden und seine Theorie i n ihr Bewußtsein eindringen würde, um sie als Gewalt i n Gang zu setzen. Für Hegel war das germanische Reich das Forum, auf dem die Versöhnung zwischen Idee und Wirklichkeit vollbracht werden sollte, — für den jungen Marx war Deutschland das Forum, auf dem eine neue Entfremdung des Menchen von sich selbst auf die Spitze zu treiben war, u m sie dann ebenfalls endgültig zu überwinden. „ M a n muß gestehen, daß Deutschland einen ebenso klassischen Beruf zur sozialen Revolution besitzt, w i e es zur politischen unfähig ist. Denn w i e die Ohnmacht der deutschen Bourgeoisie die politische Ohnmacht Deutschlands, so ist die Anlage des deutschen Proletariats — selbst von der deutschen Theorie abgesehen — die soziale Anlage Deutschlands. Das Mißverständnis zwischen der philosophischen u n d der politischen E n t w i c k l u n g i n Deutschland ist keine Abnormität. Es ist ein notwendiges Mißverhältnis. Erst i n dem Sozialismus k a n n ein philosophisches V o l k seine entsprechende Praxis, also erst i m Proletariat das tätige Element seiner Befreiung finden . . . 3 9 °." „Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung v o m Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt . . . I n Deutschland k a n n keine A r t der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede A r t der Knechtschaft zu brechen. Das gründliche Deutschland k a n n nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revo-
lutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen* 91."
Das ist die Lage am Vorabend des geschichtlichen Tages, der i n den Augen des jungen Marx die Vollstreckung des Urteils bringen soll, das die Geschichte durch i h n gesprochen hat. Dazu läßt sich folgender Stand des Prozesses aus den A k t e n rekonstruieren: Das Erkenntnisverfahren i n der geschichtsphilosophischen Hauptsache ist abgeschlossen. Die Entscheidung lautet: I m Namen der Geschichte! Die Deutschen und m i t ihnen die Menschen überhaupt sind zu emanzipieren und auf die menschliche Höhe zu befördern, welche die nächste Zukunft der Völker sein wird. 389 390 391
MEW 1 S. 388 - 390 ( = Landshut S. 219 - 223). S. 405. S. 391 ( = S. 224).
160
5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus
Eine genaue, vollstreckbare Beschreibung der zukünftigen gesellschaftlichen Organisation findet sich i n der Entscheidungsformel nicht, aber es finden sich strenge Anforderungen an die Menschlichkeit, die i m zukünftigen Zustand der Gesellschaft zu herrschen hat. U m so wichtiger sind die Anweisungen an die Mitwirkenden für den Morgen des kommenden Tages: Sie müssen den Industrialisierungsprozeß vorantreiben, der — zumal i n Deutschland — noch nicht weit genug fortgeschritten ist. Die wirtschaftliche Entwicklung muß erst noch das radikale, notorische Verbrechen einer Klasse hervorbringen sowie die radikale andere Klasse: den proletarischen Gerichtsvollzieher, — oder richtiger: den Scharfrichter. Denn zu Kapitalverbrechen müssen sich die Verbrechen des Kapitals erst noch auswachsen. Erst wenn alle diese Bedingungen erfüllt sind, kann die Vollstreckung des Urteils über die irdische Bühne gehen. Dann „ w i r d der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns" 392. „Die Geschichte ist der Richter, i h r Urteilsvollstrecker der Proletarier 3 9 3 ." Das Urteil ist unanfechtbar, — und zwar aus folgenden Gründen: „ N u r bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein. Bis dahin w i r d am Vorabend jeder allgemeinen Neugestaltung der Gesellschaft das letzte Wort der sozialen Wissenschaft stets lauten: ,Kampf oder Tod; blutiger Krieg oder das Nichts. So ist die Frage unerbittlich gestellt 4 3 9 4 ." 5.4 Marx und Hegel 1844 Noch i m Jahre 1844 beschäftigt M a r x sich wiederum m i t Hegel. I n den ökonomisch-philosophischen Manuskripten setzt er sich m i t Teilen der Phänomenologie des Geistes (Begriff der „Arbeit", „absolutes Wissen") auseinander und stellt sich die „ w i r k l i c h wesentliche Frage", die von den religionskritischen Junghegelianern übergangen worden sei: „Wie halten w i r es nun m i t der Hegeischen Dialektik 395?" — „ M a n muß beginnen m i t der Hegeischen Phänomenologie, der Geburtsstätte u n d dem Geheimnis der Hegeischen Philosophie 89 ®." 892
wahren
a.a.O. M E W 12 S. 4 (Vortrag 1856); M E W 4 S. 502: „ K ä m p f t also n u r m u t i g fort, i h r gnädigen Herren v o m K a p i t a l ! . . . I h r müßt alle mehr oder weniger besitzlosen Klassen i n w i r k l i c h e Proletarier, i n Rekruten f ü r uns v e r w a n deln . . . aber, vergeßt es nicht — ,Der Henker steht v o r der T ü r / " (Engels 1848). 898
894 896
898
MEW 4 S. 182 ( = Landshut S. 524). MEW EB I S. 568 (== Landshut S. 249). S. 571 ( = S. 252).
5.4 Marx und Hegel 1844
161
M a r x hatte inzwischen gelernt, Religion und Philosophie als Reflexe der ökonomisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit i m übrigen zu begreifen. Er war von der Auseinandersetzung m i t Hegels Philosophie ausgegangen und hatte zur gesellschaftlichen industriellen Wirklichkeit hingefunden. Sein Weg führte vom Abstrakten zum Konkreten, er führte aus dem philosophischen Himmel auf die ökonomische Erde (um von dort zu einer eigenen Theorie wieder sich zu erheben). Auch hatte er Hegel inzwischen als einen politischen Denker kennengelernt, der über die deutschen Zustände hinausgewollt hatte. Trotzdem sucht M a r x die „wahre Geburtsstätte und das Geheimnis der Hegeischen Philosophie" nicht bei dem Menschen Hegel und dessen geschichtlicher Situation, sondern nur i n einem Produkt Hegels: i n der Phänomenologie des Geistes. Der junge Hegel hatte durch die Bibel, durch die Berichte der Apostel hindurchgefragt, u m den geschichtlichen Menschen Jesus i n seiner Lage, i n seinen gesellschaftlichen Verhältnissen und seiner politischen Situation m i t geistigen M i t t e l n nacherleben zu können: „Von sehr großer praktischer Wichtigkeit ist die Geschichte Jesu, nicht bloß seine oder die i h m zugeschriebenen Lehren 897." Marx aber, der vor nicht allzu langer Zeit noch geschrieben hatte, daß Hegel seine Philosophie nicht als fertige empfangen habe, daß sie i h m vielmehr „eine werdende (gewesen sei), bis an deren äußerste Peripherie sein eigenstes geistiges Herzblut hinpulsierte" 3 9 8 , dieser M a r x beschäftigt sich jetzt nur m i t einem schriftlichen Gegenstand, m i t einem Produkt, das i h m von Hegel überliefert ist und das er von dem „wirklichen, leiblichen, auf der festen wohlgerundeten Erde stehenden, alle Naturkräfte ausund einatmenden" 3 9 9 Hegel abstrahiert, der hinter diesem Produkt verborgen bleibt. Hegel der Mensch, der die Französische Revolution als Zeitgenosse erlebt hatte, der Napoleons Aufstieg, Napoleons Macht, den Untergang des Reiches und Napoleons A b t r i t t beobachtet, der über die deutschen Zustände hinausgewollt und dabei nicht zuletzt die Zensurbestimmungen Preußens hatte berücksichtigen müssen, — dieser Mensch und Zeitgenosse weltbewegender und erregender Ereignisse ist M a r x gleichgültig. Das ist bemerkenswert; denn zur gleichen Zeit kämpft M a r x mit seiner Gesellschaftskritik für nichts so entschieden wie dafür, daß die Menschen sich einander nicht dadurch entfremden, daß sie die Produkte ihrer Arbeit zwischen sich schieben, sie von Produzenten abstrahieren und auf diesem Wege ihre Beziehungen verdinglichen. 897
898 899
Oben bei A n m . 51.
MEW EB I S. 326 ( = Landshut S. 15). Vgl. M a r x a.a.O. S. 577 ( = S. 273).
11 Suhr
162
5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus
Wenn diese Forderung für Warenherstellung i n der industriellen Massenproduktion aufgestellt wird, dann müßte sie entweder auch i m geistigen Individualverkehr zwischen M a r x und seinem wichtigsten Lehrer verwirklicht werden, oder es sind Schwierigkeiten m i t i m Spiel, die das Problem der Entfremdung und vor allem das ihrer Überwindung noch so sehr viel verwickelter machen, als es beim Blick auf die industrielle Produktion für M a r x zu sein schien, daß es schon schwierig für Marx selbst ist, Idee und Praxis zur Deckung zu bringen. Genau dies soll hier deutlich werden, wenn das Entfremdungsproblem i n einer gegenüber seinem üblichen ökonomischen Kontext verfremdeten Umgebung an M a r x selbst durchgespielt wurde. Daß M a r x dabei selbst das „Opfer" wurde, braucht seine Anhänger nicht zu verdrießen; denn i n jedem Falle zeigte sich, daß M a r x offenbar nicht nur ein wirkliches Problem enthüllt, sondern auch griffige Worte gefunden hat, u m es verständlich zu machen: Was w i r produzieren und w o r i n w i r unsere Wesenskräfte investieren, das kann i n der Hand anderer gegen uns gewendet werden und anderen den Blick auf uns als Menschen verbauen, — selbst wenn es sich u m Schriftwerke handelt, durch die w i r uns dem anderen mitteilen wollen oder durch die hindurch ein philosophischer Kopf zu einem anderen zurückfinden möchte. Hegel freilich dürfte M a r x kaum Vorwürfe machen; er hat stets erstrebt, objektiv zu schreiben, „die Sache selbst" sich entwickeln zu lassen 400 . Auch waren M a r x aufschlußreiche Manuskripte Hegels ebensowenig zugänglich wie viele sonstige Zeugnisse über Hegel, so daß Marx Hegels Werk fast nehmen mußte, wie er es vorfand und wie es von Hegel gemeint w a r : als objektive und von seinem Verfasser entäußerte Darstellungen der Sache selbst. Hegels Dunkelheit und seine theologisch-weltliche Zweideutigkeit taten ein Übriges. M a r x bekommt also nur einen abstrakten Hegel vor die Augen. So konkret, lebensvoll und für den Menschen aufgeschlossen und hingegeben Marx sich selbst begreift, so verdünnt zu einem Gespinst sieht er Hegel und so logisch ausgetrocknet und blutlos ist seine Beziehung zu Hegel, über den es ζ. B. heißt: „Der Philosoph legt sich — also selbst eine abstrakte Gestalt des entfremdeten Menschen — als den Maßstab der entfremdeten Welt an. Die ganze
Entäußerungsgeschichte
und die ganze Zurücknahme der Entäußerung ist
daher nichts (!) als die Produktionsgeschichte des abstrakten (!), i. e. absoluten Denkens, des logisch spekulativen Denkens 4 0 1 ." 400 y g i a. Jung über Hegel bei Nicolin, Hegel i n Berichten, S. 534: „Fragte ich mich, was der Totaleindruck des Gehörten sei, so mußte ich diesen als Selbstlosigkeit bezeichnen, die n u r noch Objekte dachte, sich selbst aber losgeworden war." 401
MEW EB I S. 572 ( = Landshut S. 254).
5.4 Marx und Hegel 1844
163
Das klingt außerordentlich scharfsinnig und plausibel. Es verschafft auch eine gewisse Befriedigung, wenn dem Leser m i t solchen Sätzen Gelegenheit geboten wird, schnell und scheinbar gründlich m i t M a r x über Hegel hinausgegangen und zur menschlichen Praxis zurückgekehrt zu sein. Doch diese Befriedigung w i r d nur dem verschafft, der noch nicht auf die Erscheinungsformen der Entfremdung sensibilisiert ist. Wer empfindlich gegen Kommunikationstechniken ist, bei denen der Mensch sich dem Menschen entfremdet, — wer also versucht, den Menschen dahinter zu sehen und zu verstehen, sieht i n den angeführten Sätzen zunächst einmal dies, daß ein wahrer w e i l wirklicher Mensch von Fleisch und B l u t wie Hegel sich nicht als „abstrakte Gestalt" und als Gespenst seiner selbst einer ebenso entfremdeten Welt als Maßstab anlegte. Vielmehr verfährt der sonst so menschenaufgeschlossene und handfeste Marx m i t Hegel so, als hätte Hegel keinen menschlichen Leib. So stellt sich Hegels Werk i n M a r x und allen, die Hegel i m wesentlichen über i h n kennen lernen, gespenstisch „auf die Hinterfüße" 4 0 2 . Über das Gespenst des Toten w i r d eine geistige Entfremdungsgerichtsbarkeit getrieben. I n Marx' eigenen Worten: „Einen Menschen unterabteilen, heißt i h n hinrichten, wenn er das Todesurteil verdient, i h n meuchelmorden, wenn er es nicht verdient 4 0 2 a ." Was M a r x der Gerichtsbarkeit seines Scharfsinns aussetzt, ist aber weitgehend nur der Hegel, der i n seinem Kopf ist: ein Hegel, dessen B i l d durch den Filter des Geistes und des Selbstbewußtseins von M a r x selbst hindurchgepreßt worden ist und der dabei Mark und Knochen eingebüßt hat („ohn' Aug', ohn' Zahn, ohn' Ohr, ohn' alles" 4 0 3 ). W i r können freilich immer den anderen Menschen nur durch die Filter unseres eigenen Geistes oder i m Spiegel unserer eigenen Vorstellungen nacherleben. Auch das B i l d von Hegel und Marx, das sich i n diesen Zeilen spiegelt, ist nur ein Zerrbild, das meine Züge als die eines Fremden nicht loswird. N u r insofern läßt sich der Verfremdung etwas gegensteuern, als versucht wird, den wahren und wirklichen Menschen zu sich und durch sich hindurch sprechen zu lassen und i h m i n sich und bei anderen Gehör zu verschaffen. Außerdem muß betont werden: Hinter dem Sog zu einer Betrachtung, bei der der Betrachtete durch den Betrachter sich selbst entfremdet wird, steht nicht notwendig ein böser Wille, schon gar nicht bei Marx. I m Gegenteil: Marx achtet Hegel nach wie vor und zollt i h m ausdrücklich seinen Respekt. Die Entfremdung geht schlicht aus der geistigen Nachfrage- und Konkurrenzsituation hervor: M a r x t u t 402
Vgl. S. 461. 402a M E W 23 S. 385. 403
11·
Vgl. M E W E B I S. 587 ( = S. 285).
164
5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus
nichts weiter, als sein philosophisches Erkenntnisbedürfnis am Werk seines Lehrers zu befriedigen, ohne dabei sonderlich an dem Menschen interessiert zu sein, der diese geistige Ware produziert hat. M a r x ist jedoch viel zu genau und zu aufmerksam, als daß er nicht auf Stellen bei Hegel stieße, die ihn zwingen, das logische Abstraktum „Hegel" wenigstens i n einem Punkte zu ergänzen, — Stellen, an denen davon die Rede ist, daß der Geist sich zur Besonderheit bestimme, daß er ins Anderssein übergehe, daß er sich als Natur frei aus sich entlasse usw. Auch begreift M a r x die Logik insgesamt durchaus zutreffend: Die ganze Logik sei der Beweis, „daß das abstrakte Denken f ü r sich nichts ist, daß die absolute Idee f ü r sich nichts ist, daß erst die Natur etwas i s t " 4 0 4 .
Dann aber muß M a r x sich erklären, w i e ein Weltphilosoph dazu angeregt wird, i n einem dreibücherigen Werk zu beweisen, daß seine großen Ideen sich — mit nichts befassen. U m diesen Widerspruch zu deuten, macht M a r x sich eine Hegeltheorie bzw. ein Hegelbild: „Dieser ganze Übergang der L o g i k i n die Naturphilosophie ist nichts anderes als der — dem abstrakten Denker so schwer zu bewerkstelligende u n d daher so abenteuerlich von i h m beschriebene Übergang aus dem Abstrahieren in
das Anschauen. Das mystische Gefühl, was den Philosophen aus dem abstrakten Denken i n das Anschauen treibt, ist die Langeweile, nach einem Inhalt." (Hervorhebungen i m Original 4 0 5 .)
die Sehnsucht
„Der Hegeische ,Widerspruch', die Springquelle aller D i a l e k t i k " 4 0 6 , und die dialektischen Übergänge seiner Philosophie, werden also letztlich doch als Äußerung eines Lebendigen begriffen: als Produkt von Hegels „unendlicher Langeweile" 4 0 7 . M a r x hätte zu Hegels Bewußtsein fast wie folgt fortfahren können: „Es fehlt i h m die K r a f t der Entäußerung, die K r a f t , sich zum Dinge zu machen u n d das Sein zu ertragen. Es lebt i n der Angst, die Herrlichkeit seines I n n e r n durch Handlung u n d Dasein zu beflecken; u n d u m die Reinheit seines Herzens zu bewahren, flieht es die Berührung der W i r k l i c h k e i t u n d beharrt i n der eigensinnigen Kraftlosigkeit, seinem zur letzten A b s t r a k t i o n zugespitzten Selbst zu entsagen u n d sich Substantialität zu geben u n d sein Denken i n Sein zu verwandeln u n d sich dem absoluten Unterschiede anzuvertrauen. Der hohle Gegenstand, den es sich erzeugt, erfüllt es daher n u n m i t dem Bewußtsein der Leerheit . . . ; i n dieser durchsichtigen Reinheit seiner Momente eine unglückliche sogenannte schöne Seele, v e r g l i m m t sie i n sich, u n d verschwindet als ein gestaltloser Dunst, der sich i n L u f t auflöst." 404 405 406
407
S. 583 - 586 ( = S. 280 - 284). a.a.O. K a p i t a l I, M E W 23 S. 623 A n m . 4.
MEW EB I S. 586 ( = Landshut S. 285).
5.4 Marx und Hegel 1844
165
Diese und viele ähnliche Sätze stammen aber nicht von Marx, sondern von Hegel selbst 4 0 8 , dem die „ K r a f t der Entäußerung, die Kraft, sich zum Dinge zu machen" besaß und der durchaus i n dem Bewußtsein philosophierte, daß seine Philosophie bewußtes Sein war, das sich i n Realität verwandeln würde, und sei es auch erst durch Schüler wie Marx. Hegel dachte an die Schüler der zukünftigen Lehrer, die er philosophisch ausbildete. Wenn Marx nun ausgerechnet Hegel als den Inbegriff der lebens-* fernen Abstraktion, der unendlichen Langeweile und Kraftlosigkeit auffaßt, obwohl Hegel immer wieder und nicht nur i m Zusammenhang m i t der „schönen Seele" den abstrakt-selbstgenügsamen denkerischen Dunst verspottet hat, der sich i n L u f t auflöst, so entsteht der Eindruck, als sei die unendliche Langeweile, die M a r x Hegel andichtet, nicht Hegels Mangel, sondern nur ein anderer Ausdruck für die Leere, die Marx selbst empfand, als er sich bei der Lektüre von Hegel „nichts" oder nur die von i h m bezeugten Abstraktionen vorstellen konnte oder wahrhaben wollte. Der ganze Übergang von der Hegeischen Philosophie i n die Anschauung und i n die politische Praxis ist der von Marx selbst „so schwer zu bewerkstelligende und daher so abenteuerlich beschrittene Weg" aus der Abstraktion ins Anschauen zu einem I n halte hin. Für Hegel war dieser Weg unproblematisch, w e i l er bei der politischen Praxis begonnen und sie auch bei seinen Formulierungen i n der „Sprache der Allgemeinheit" stets i m Auge behalten hatte. Für M a r x war dieser Weg „so schwer" zu bewerkstelligen, w e i l er Hegel nicht vom Problem her, sondern von der Philosophie und daher nur rückwärts kennenlernt. Gefällt m i r ein Kunstwerk nicht, so liegt das nicht unbedingt am Kunstwerk. Sieht M a r x i n Hegel nur Abstraktionen, so muß das nicht unbedingt an Hegel liegen. Hegel ist nicht wegen seiner Langeweile aus der Abstraktion i n die Anschauung hinabgestiegen, sondern von seinen politischen und religiös-weltanschaulichen Problemen zur Philosophie und Logik empor- und von dort zur Praxis der Bewußtseinsbearbeitung wieder hinabgestiegen. Es war M a r x selbst, der den umgekehrten Weg zurücklegte: den Weg von Hegels Philosophie, w i e er sie faßte, über die K r i t i k des Staates zur K r i t i k der politischen Ökonomie. Daher läßt sich nicht nur insofern, als M a r x (wie jeder Hegelinterpret) den Philosophen i m Spiegel seiner eigenen inneren Welt sieht, sondern i n einem noch konkreteren Sinne sagen: Was M a r x den Geist des Hegel heißt, das ist zum Teil nur Marxens eigner Geist. Und wenn es richtig ist, daß von den theoretischen Produkten der Menschen (Religion und Philosophie) auf die Basis zurückgeschlossen werden «os Hegel, Phänomenologie, Glockner 2, 504 = Werke 3, 483/4).
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kann, aus der sie hervorgegangen sind, so müßte auch das von M a r x produzierte Hegelbild Aufschlüsse geben können über den gesellschaftlichen Menschen Marx, der es hervorgebracht hat. Wendet man n u n auch noch die bislang vernachlässigte andere, komplementäre Hälfte des Entfremdungsschemas auf den geistigen Verkehr M a r x - Hegel an, so ergibt sich: I n dem gleichen Ausmaß, wie M a r x Hegel u m den Menschen bringt, der er war, entfremdet M a r x sich selbst dem Menschsein. Man könnte m i t M a r x erwägen: „Gesetzt, w i r hätten als Menschen produziert: Jeder v o n uns hätte i n seiner Produktion sich selbst u n d den anderen doppelt bejaht . . . Unsere Produkte wären ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete 409 ."
Da aber M a r x Hegels Werk vom Verfasser abstrahiert, leuchtet i h m nur Abstraktheit entgegen, eine Abstraktheit, die mindestens zur Hälfte der bloße Widerschein des eigenen Denkens ist. Daher läßt sich wiederum m i t M a r x sagen (indem nur die Klassen, von denen M a r x spricht, m i t den Personen vertauscht werden, von denen hier die Rede ist): „Marx f ü h l t sich i n dieser Selbstentfremdung w o h l u n d bestätigt, weiß die Entfremdung als seine eigene Macht, u n d besitzt i n i h r den Schein einer menschlichen Existenz; Hegel f ü h l t sich i n der Entfremdung vernichtet, erblickt i n i h r seine Ohnmacht u n d die W i r k l i c h k e i t einer unmenschlichen Existenz." (Veränderungen gegenüber dem Original kursiv 4 1 0 .)
Wiederum geht es nicht darum, M a r x zu „entlarven" oder zu treffen, sondern i m Gegenteil darum, die Tauglichkeit seiner Begriffe und des Entfremdungsschemas i n verfremdetem Kontext vorzuführen und den Umgang m i t ihnen zu üben. Man kann Marx sogar kaum einen besseren Dienst erweisen als den, durch die kritische Perspektive i h m gegenüber selbst seinen Gegnern den Z u t r i t t zu seinen Begriffen und zu seiner Sache zu erleichtern. Sollte dabei zugleich eine Seite von M a r x sichtbar werden, die m i t anderen Seiten nicht ganz zusammenstimmt: Auch dann handelt man noch i n seinem eigenen Sinne; erstens, w e i l es i h m u m die Enthüllung und Überwindung jeglicher Entfremdungsformen ging; zweitens, w e i l man genau den Anweisungen folgt, die M a r x selbst für den F a l l formuliert hat, daß ein großer philosophischer Lehrer „Akkomodationen" bewußter oder unbewußter A r t begangen hat. Was für Akkomodationen gilt, gilt u m so mehr für Unstimmigkeiten, die nicht einmal eine „Anpassung" darstellen: „Hätte w i r k l i c h ein Philosoph sich akkomodiert" oder, w i e hier, sein i n n e r stes Anliegen nicht bis i n alle W i n k e l seines Wesens durchgeführt, „so 409
410
M E W E B I S. 462 f.
MEW 2 S. 37 ( = Landshut S. 317).
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haben seine Schüler aus seinem inneren wesentlichen Bewußtsein das zu klären, was für ihn selbst die Form eines exoterischen Bewußtseins hatte. A u f diese Weise ist, was als Fortschritt des Gewissens erscheint, zugleich ein Fortschritt des Wissens. Es w i r d nicht das partikulare Gewissen des Philosophen verdächtigt, sondern seine wesentliche Bewußtseinsform k o n struiert, i n eine bestimmte Gestalt u n d Bedeutung erhoben u n d d a m i t zugleich darüber hinausgegangen 4 1 1 ."
Nicht nur Hegel erscheint bei M a r x entmenscht oder vervormenscht, sondern auch andere werden m i t ein paar ideologiekritischen Federstrichen i n „Individuen" verwandelt, denen die Philosophen verkehrter Weise „unterschoben" haben, daß es sich bei ihnen u m „den Menschen" gehandelt habe, der bewußt seine Geschichte gemacht habe: „Die Individuen, die nicht mehr unter die Teilung der A r b e i t subsumiert werden, haben die Philosophen sich als Ideal unter dem Namen ,der Mensch* vorgestellt, u n d den ganzen, von uns entwickelten Prozeß als den E n t w i c k lungsprozeß ,des Menschen' gefaßt, so daß den bisherigen I n d i v i d u e n auf jeder geschichtlichen Stufe ,der Mensch* untergeschoben u n d als die t r e i bende K r a f t der Geschichte dargestellt wurde. Der ganze Prozeß wurde so als Selbstentfremdungsprozeß ,des Menschen* gefaßt, u n d dies k o m m t w e sentlich daher, daß das Durchschnittsindividuum der späteren Stufe i m m e r der früheren u n d das spätere Bewußtsein den früheren I n d i v i d u e n u n t e r geschoben (wurde). Durch diese Umkehrung, die v o n vornherein von den w i r k l i c h e n Bedingungen abstrahiert, w a r es möglich, die ganze Geschichte i n einen Entwicklungsprozeß des Bewußtseins zu v e r w a n d e l n 4 1 2 . "
Erst Karl Marx erkennt, welchen Hirngespinsten die bisherigen „ I n d i viduen" samt den Philosophen aufgesessen sind, die i n diesen „ I n d i viduen" schon den Menschen am Werke gesehen haben. Karl Marx durchschaut, daß sie nur bewußtlose Leiber i n einem urwüchsigen Produktionsprozeß waren, der das Wenige gemacht und bestimmt hat, was den Leibern an verkehrtem, vorgeschichtlichem Bewußtsein zugestanden wird. Die Sonne der bewußten Menschen geht erst jetzt auf. Hegel hat in der Tat bei den bisherigen und bei den gegenwärtigen Individuen unterstellt, daß es sich u m Menschen handelte. Er hat i n der Tat bei seiner Arbeit die methodologisch wirksame, innerlich aufrichtige Vermutung w i r k e n lassen, daß es vor i h m schon Menschen gegeben hat. Er hat i n der Tat geglaubt, daß der Mensch nicht aufgehört bzw. längst begonnen hatte, ein vernünftiges Wesen zu sein. Er setzte den Glauben voraus, „daß die Überzeugung vieler Jahrhunderte, das was die Millionen, die i n diesen Jahrhunderten darauf lebten u n d starben, f ü r Pflicht u n d heilige Wahrheit hielten, — daß dies nicht barer Unsinn . . . gewesen i s t " 4 1 8 . 411 412
418
M E W E B I S. 327 ( = S. 16). M E W 3 S. 69 ( = S. 408).
Hegel bei Nohl S. 143 = Werke 1, 221.
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Z u dem Verfahren von Marx, den bisherigen Individuen „den Menschen" unter den Füßen weg- oder sonst abzuziehen, hätte Hegel wie anderen Aufklärern geantwortet: „Diese Erklärungsart setzt eine tiefe Verachtimg des Menschen, einen grellen Aberglauben an seinen Verstand voraus 4 1 4 ."
Den Vorwurf wegen seiner „Unterschiebungen" hätte Hegel als Anerkennung gewertet. Er hätte erklärt, sie trete nur deshalb noch i m Gewand eines Vorwurfes auf, w e i l das Bewußtsein des Vorwerfenden noch nicht (bzw. nicht mehr) bis dahin gebildet sei, daß es den jeweils wirklichen Menschen für den Menschen nehme. Das leblose Hegelbild, das M a r x vor Augen hat, erweist sich als ein Hindernis für M a r x selbst. M a r x denkt sehr oft wie Hegel, ohne daß er es weiß oder sogar i n dem Bewußtsein, seinen Lehrer zu überbieten. Das fertige B i l d von Hegel steht M a r x auch i m Wege, als er jetzt (1844) i n Paris noch einmal die Phänomenologie und die Logik aufschlägt, u m Antworten oder Anregungen für die Lösung der ökonomischen und gesellschaftlichen Entfremdungsprobleme zu finden, zu denen sich sein früher allgemeiner Ansatz „Verwirklichung der Philosophie" inzwischen verdichtet u n d verändert hatte. Insbesondere verschließt die fixe Vorstellung: „Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige", für M a r x und seine Nachfolger den Zugang zu einem Universum Hegelscher Gedanken, die brauchbar bleiben ohne Rücksicht darauf, in welcher konkreten Hülle Entfremdungsprobleme erkannt und zur Sprache gebracht werden. Die Arbeit, welche Hegel kennt und anerkennt, ist nämlich nicht allein eine „abstrakt geistige", sondern ist die Arbeit des Geschichtsprozesses an den Gestalten, i n denen sich das Leben der Völker auf der Erde abspielt und entwickelt: und zwar sowohl Arbeit des „natürlichen Lebens", das sich urwüchsig entfaltet und es noch nicht zur Reflexion gebracht hat, als auch Arbeit der menschlichen Erkenntnis, die etappenweise i n den allgemeinen Prozeß eingeflossen ist. Das Produkt dieser dialektischen Zusammenarbeit von instinktartiger Entwicklung des Lebens und bewußter Intervention schlägt sich nieder als Verfassung von Staat u n d Gesellschaft: als ordo und religio, — als Gesellschaftsordnung und Weltanschauung. Die Arbeit, die Hegel kennt und anerkennt, ist also nicht zuletzt Arbeit an der Gesellschaftsverfassung („statt Gestalten nur des Bewußtseins, Gestalten einer W e l t " 4 1 5 , von denen auch M a r x wußte, daß sie nur zwei verschiedene Perspektiven der gleichen gesellschaftlichen Sache sind). Die Arbeit, m i t der Hegel 414
416
S. 144 ( = 222).
Hegel, Phänomenologie, Glockner 2, 338 = Werke 3, 326.
5.4 Marx und Hegel 1844
169
sich beschäftigt, betrifft also genau die Fragen, von denen nach M a r x „die Gegenwart sagt: that is the question" 4 1 6 . So schält sich der hauptsächliche und wirkliche Unterschied zwischen Hegel und Marx genau heraus. Hegels urwüchsige und natürliche Bestimmtheiten des Geschichtsprozesses sind die „geographischen und anthropologischen Existenzen" der Völker, vor allem der welthistorischen Völker. Hegel gliedert die Menschheit nicht nur geschichtlich, sondern auch geographisch. M a r x denkt hingegen den Staat aus der Zukunft der Geschichte weg und bekommt so auch für die Vergangenheit den Blick frei: auf einen Arbeitsprozeß der Gattung Mensch, dessen allgemeine Linien erst richtig hervortreten, wenn man vernachlässigt, wie die Verdichtungspunkte der Entwicklung auch geographisch als Staaten über die Erdkugel verteilt sind. Diese theoretische Vernachlässigung der Völker hat ihre praktische Parallele darin, daß Marx, wie Heine i h m prophezeite, i n Deutschland gewissermaßen keinen Fuß auf den Boden setzen konnte, solange der nationale Gott sich noch nicht ausgelebt hatte. Sie ist auch die Keimzelle einer ganzen Reihe von theoretischen und praktischen Schwierigkeiten m i t den besonderen Wegen einzelner Völker zum Kommunismus. I n seinen letzten Gründen aber ist und bleibt der Ansatz von M a r x allgemeiner: Die Deutung der Menschheitsentwicklung als Prozeß, i n dem die Gattung sich hervorbringt, w i r d nunmehr theoretisch nachkonstruiert, ohne auf die geographischen Besonderungen zurückgreifen zu müssen. Das schlägt sich vor allem darin nieder, daß die praktische Verwirklichung der verhießenen Gesellschaftsordnung nicht mehr wie bei Hegel von einem Volk ausgehen muß, das ein Reich des neuen Lebens bringt. Nicht ein Volk muß eine religiös-weltanschauliche Bewußtseinshäutung theoretisch und praktisch zustandebringen und dann der übrigen Menschheit die Augen öffnen, sondern die Menschheit als ganze muß sich emanzipieren. Zwar knüpft auch M a r x zunächst an die deutsche Lage und vor allem an die deutsche Philosophie an, und noch 1867 ruft Marx i m Vorwort zum ersten Band des Kapital den Deutschen zu: „De te fabula narratur!" 417 — Aber sein System ist nicht wie Hegels auf das germanische Reich zugeschnitten und angewiesen. Es spielt keine Rolle, wenn der ursprüngliche Anknüpfungspunkt bei dem gründlichen Volk, das nur von Grund auf revolutionieren könne, verlassen w i r d . I m Gegenteil: Was für Hegel unausweichliche geschichtliche Konkretisierung der Philosophie war, w i r d von M a r x als nationale „Marotte" verspottet. 416 417
MEW EB I S. 383 ( = Landshut S. 214). M E W 23 S. 12.
170
5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus
„Diese ganze Geschichtsauffassung samt ihrer Auflösung u n d den daraus entstehenden Skrupeln u n d Bedenken ist eine bloß nationale Angelegenheit der Deutschen u n d hat n u r lokales Interesse f ü r Deutschland, w i e zum Exempel die wichtige, neuerdings mehrfach behandelte Frage: w i e m a n denn eigentlich ,aus dem Gottesreich i n das Menschenreich komme', als ob dieses ,Gottesreich 4 je anderswo existiert habe als i n der Einbildung u n d die gelahrten Herren nicht fortwährend, ohne es zu wissen, i n dem »Menschenreich 4 lebten, zu welchem sie jetzt den Weg suchten, u n d als ob das wissenschaftliche Amüsement, denn mehr als das ist es nicht, das K u r i o s u m dieser theoretischen Wolkenbildung zu erklären, nicht gerade umgekehrt darin läge, daß m a n ihre Entstehung aus den w i r k l i c h e n irdischen Verhältnissen nachweist 4 1 8 ."
Was M a r x m i t vollem Einsatz ökonomischer Wissenschaftlichkeit so gründlich analysiert, ist allerdings auch als flüchtiges Durchgangsstadium i n den Etappen der Hegeischen Geschichtsphilosophie enthalten: Der Schritt aus der täglichen Not i n ein Leben, das einsetzte, wenn sich die Menschen aus dem Schlimmsten herausgehauen hatten und sich m i t ihrer Hände Arbeit und i m Umgang miteinander ein schöneres Leben einzurichten begannen 419 . Die Not verlangt zunächst die strenge Zucht eines „Gottes der Not" und Feindschaft gegen die etwaigen Unterdrücker. Der Übergang zu freundlicherem Leben (zu Göttern des — materiellen oder geistigen — Luxus) erschien dann als Ungehorsam und Abfall gegenüber dem ursprünglichen Gott der Not. Und selbst wenn der A b f a l l gelang, konnten die an Knechtschaft gewohnten Menschen nicht freie und selbstbeherrschte Verehrer der neuen, freundlicheren Götter werden, denen sie nun dienten, sondern wiederum nur Knechte, die nun abhängig wurden von Götzen: „von der Welt, die ihnen vorher entweder selbst oder ihrem Ideale unterwürfig war." „Wie hätten sie ihr ganzes Schicksal, den alten Bund des Hasses auf einmal abschütteln und eine schöne Vereinigung organisieren können? Sie wurden bald wieder zu jenem (Gott der Not) zurückgepeitscht . . . 4 2 °." Dieser jeweilige Übergang aus einem Reich der Not (-wendigkeit) i n ein Reich der (relativen) Freiheit (oder neuer Knechtschaft) ähnelt zwar nur i n sehr groben Zügen dem Übergang aus der Notwendigkeit i n die Freiheit i m historischen Materialismus. Aber die Ähnlichkeit ist groß genug, u m wenigstens plausibel zu machen, daß auch schon i n Hegels Not-Luxus-Modell 4 2 1 erstens das Problem des Kampfes ums tägliche Brot m i t der Natur und gegen Feinde sowie zweitens vor allem das Problem gesehen und durchgearbeitet wurde, wie eine „schöne Vereinigung zu organisieren" sei. Bei großzügiger 418 419
M E W 3 S. 40. Vgl. Zusatz 3 zu § 24 Enzyklopädie (oben A n m . 385), sowie zum Folgen-
den Nohl S. 257 ff. = Werke 1, 292 ff. 420 Nohl S. 258 = Werke 1, 293. 421
Oben bei A n m . 144.
5.4 Marx und Hegel 1844
171
Betrachtungsweise könnte man das Verhältnis von M a r x zu Hegel vielleicht auf folgende Formel bringen: Hegel hat das zweite Problem vor dem ersten, M a r x das erste vor dem zweiten gründlich studiert. Dann könnte der eine jeweils die Lücke füllen, die der andere offen gelassen hat, und sie ergänzten einander auf die fruchtbarste A r t und Weise. Dadurch, daß betont wird, M a r x sei i n vielem der Hegeischen Philosophie näher, als er weiß, und habe deshalb auf der anderen Seite sich selbst den Weg zu einem kleinen Universum Hegelscher Kenntnisse über „Verwirklichungsprobleme" verschlossen, soll der erhebliche Unterschied zwischen beiden nicht verwischt werden. Es ist jedoch notwendig, daß die Verwandtschaft zwischen dem dialektischen Materialismus und Hegel anschaulich und genau aufgeklärt wird. Denn erst dann vermögen w i r uns und vermag der Marxismus selbst sich die Quellen richtig zu erschließen, auf die niemand anders als M a r x nachdrücklich hingewiesen hat, aus denen zu schöpfen i h m jedoch nicht mehr möglich war, weil die ungeheure Arbeit an der K r i t i k der politischen Ökonomie i h n bis zu seinem Tod restlos auslastete. Die Phänomenologie des Geistes von Hegel, schreibt Marx, ist „die verborgene, sich selbst noch unklare u n d mystizierende K r i t i k ; aber insofern sie die Entfremdung des Menschen — w e n n auch der Mensch n u r i n der Gestalt des Geistes erscheint — festhält, liegen i n i h r alle (!) Elemente der K r i t i k verborgen u n d oft schon i n einer w e i t den Hegeischen Standpunkt überragenden Weise vorbereitet u n d ausgearbeitet. Das »unglückliche Bewußtsein', das ,ehrliche Bewußtsein' etc. etc., diese einzelnen Abschnitte enthalten die kritischen Elemente — aber noch i n einer entfremdeten F o r m —
Es ist aber außerordentlich schwierig, i n der konventionellen, trockenen und distanzierten Form „objektiver" wissenschaftlicher Darstellung die Überlappungspunkte zwischen der Hegeischen Dialektik und dem dialektischen Materialismus zur Sprache zu bringen und zu entwickeln, ohne selbst dem geistig-sprachlichen Entfremdungskobold mehr als ohnehin unvermeidlich zum Opfer zu fallen: dem Kobold, der einem unter der Hand Hegel und M a r x i n Abstraktion ihrer selbst verwandelt. Das Unrecht, jemanden durch Abstraktionen als Menschen zu töten, ist größer als das, i h n als lebendigen Menschen nicht ganz richtig zu treffen und nachzuvollziehen. Hier lasse ich i h n leben, wenn auch n u r insoweit, wie ein großer Kopf von einem kleinen erfaßt werden kann. Dort aber bringe ich i h n um.
422
MEW EB I S. 573 ( = Landshut S. 262/3).
172
5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus 5.5 Ein Verständigungsdialog
Die klassische Form der Verständigung ist der Dialog. Sofern die Gesprächspartner bereit sind, nicht nur sich m i t ihrer Rede durchzusetzen, sondern auch dem anderen zuzuhören, weist die Logik der dialogischen Situation jenen typisch dialektischen Wechsel von A k t i v i t ä t und Passivität, von Entäußerung und Verinnerlichung auf, welcher die Kernstruktur jeder dialektischen Wirklichkeit ausmacht. A n der Fähigkeit, Fremdes und Ungewohntes hereinzulassen und sich darauf einzulassen, zeigt sich, ob jemand i n sich tatsächlich ein dialektischen Erkenntnisvermögen entwickelt hat, oder ob er es nur beansprucht, aber nicht besitzt. Und an der Sucht, an den je eigenen festen Vorstellungen, Begriffen und Worten ängstlich festzuhalten, zeigt sich nicht weniger, daß der Betroffene noch so gründlich von undialektischer Halsstarrigkeit befallen ist, daß er noch einen weiten Weg vor sich hat bis zur Beherrschung der dialektischen Erkenntnistechnik. Die dialektische Sache selbst und die Ontologik der dialektischen Situation drängen also dazu, den Dialog auch als Form der Darstellung zu wählen. Das erschwert zwar zunächst allen denen den Nachvollzug des H i n und Her der Sätze, die i n ihrem eigenen Lesen, Denken und Sprechen an monologische Muster gewöhnt sind. Doch gerade die, denen es schwerfällt, sich i n die Haut anderer zu versetzen und aus fremden Horizonten heraus die Welt anzuschauen, sollten ihren inneren Widerstand überspielen und ruhig das Ungewohnte an sich herankommen und i n sich eingehen lassen. Nur dafür bitte ich um Nachsicht, daß es den folgenden Seiten an belletristischer Eleganz fehlt. Die Form wurde nur u m der Sache, nicht u m irgend eines Effektes w i l l e n gewählt. — Bei dem Versuch, Hegel und M a r x näher zu kommen und beide weiterzuentwickeln, indem sie miteinander ins Gespräch gebracht werden, sollen beide aus ihrem Selbstverständnis heraus reden, ohne daß sie jedoch dabei an ihre Zeit und Probleme, an ihre Sprache und ihre Bilder gefesselt werden dürfen. Wie i m wirklichen Leben erscheint M a r x als der Angriffslustigere, der eher direkt zuschlägt, während Hegel — getreu seiner Regel, i n die K r a f t des Gegners einzugehen und sich i n den Umkreis seiner Stärke zu stellen, — M a r x eher folgt und nachgibt, u m dann seine Begriffe aus denen seines Gesprächspartners heraus als unentbehrlich nachzuweisen. Dabei geht es der Sache nach (soweit es sich insbesondere um das Verhältnis zwischen Sein und Bewußtsein, zwischen Materiellem und Ideellem handelt) weniger d a r u m 4 2 2 a , die „aktive Rolle des Bewußtseins" und die Funktion des „subjektiven Faktors" auch i n der marxistischen Theorie noch einmal auszuwalzen. Das Ziel ist es vielmehr, beides: die Dialektik von „Sein
5.5 Verständigungsdialog
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u n d Bewußtsein" und die der „Widersprüche" zugleich verständlich zu entwickeln und zu präzisieren. Das schließt die Frage ein, wie der doppelte Widerspruch (die berühmte Negation der Negation) m i t Bewußtwerdungsstufen zusammenhängt, die durchlaufen werden müssen, bevor die doppelte Negation exakt und als intersubjektiv nachvollziehbare Struktur begriffen werden kann. Bevor diese Stufen kognitiv durchschritten sind, kann man zwar die Formel von der Negation der Negation auswendig lernen und hier oder dort anheften, aber letztlich doch ohne die erreichbare Gründlichkeit des Verstehens. Daß solches zunächst nur kognitives Verstehen jeder dialektischen Praxis vorangehen sollte, braucht nicht hervorgehoben zu werden: Was nicht verstanden ist, kann nicht bedacht werden. Was nicht bedacht wird, führt nur selten zu angenehmen Überraschungen. Der Dialog, der nun „protokolliert" w i r d , befindet sich gerade bei dem Satz, von dem oben behauptet wurde, daß m i t i h m Hegels Schüler zu einem entscheidenden Moment der Philosophie ihres Lehrers zurückgefunden hätten. Dagegen verwahrt sich M a r x selbstverständlich ganz entschieden: gegen eine solche Hereinnahme des „dialektischen Materialismus" i n den Hegeischen „objektiven Idealismus". M.: I m Wolkenreich der Abstraktionen lassen sich selbstverständlich Systeme entwickeln, die den dialektischen Materialismus i n irgend einer Ecke auch noch enthalten. Diese Ecke ist dann aber der einzige Teil des Systems, i n dem Wahrheit und Wirklichkeit zu finden sind. Lasse alles übrige weg! Dann zeigt sich: Dieses Übrige waren gedankliche Luftgebilde, die nur dazu taugen, die Welt zu mystifizieren. H.: W i r werden sehen. Wie umschreibst D u Deinen Ausgangspunkt genau? M.: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das i h r Sein, sondern umgekehrt i h r gesellschaftliches Sein, das i h r Bewußtsein bestimmt423." H. : Vorher hattest D u das schon einmal ausführlicher formuliert. M.: „Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist i h r wirklicher Lebensprozeß . . . Ganz i m Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom H i m m e l auf die Erde herabsteigt, w i r d hier von der Erde zum H i m m e l 422a
Dazu insbesondere Gottfried
Stiehler,
Dialektik und Praxis. Berlin
1968, sowie zuletzt Bernd Guggenberger, Die Neubestimmung des subjektiven Faktors i m Neomarxismus, München 1973. 423 M E W 13 S. 9.
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5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus gestiegen. D. h., es w i r d nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei dem leibhaftigen Menschen anzukommen; es w i r d vielmehr von den w i r k l i c h tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt . . . Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein 4 2 4 ."
H.: Also kurz gefaßt: „Das Sein bestimmt das Bewußtsein." M.: Ja. H.: D u unterscheidest demnach das „Sein" vom „Bewußtsein"? M.: Freilich. Aber ein Bewußtsein, das dem Sein gegenüber selbständig wäre, gibt es deswegen noch nicht. Zwischen beiden gibt es keinen Schnitt, der die einheitliche gesellschaftliche Wirklichkeit i n zwei voneinander isolierte Welten teilt. Zwischen Sein und Bewußtsein besteht eine dialektische Einheit der Gegensätze, — oder: Das Bewußtsein ist ins Sein hineingeschachtelt. Das Bewußtsein ist bewußtes Sein. Bewußtsein ist nur ein Aggregatzustand des Seins. H.: Wobei D u die Betonung aber auf die eine Seite setzt: auf das bewußtlose Sein? M.: Das Sein ist die Basis. Die gesellschaftlichen Produktivkräfte sind der Grund, der das Bewußtsein bestimmt. H.: — bei relativer Selbständigkeit des Bewußtseins. M.: Selbstverständlich. Die Dialektik anerkennt gerade das Hin-undHer: „daß die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen 4 2 5 ." H.: Aber der Mensch kann sich über seine Lage irren; — er kann sich anders begreifen als er ist; — er kann sich frei dünken, wo er Funktionär der Verhältnisse ist, die i h n umgeben. M.: „So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, auch dem vorhandenen K o n f l i k t zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären 4 2 6 ." 424 425 428
M E W 3 S. 26. M E W 3 S. 38. M E W 13 S. 9.
5.5 Verständigungsdialog
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H.: Diese Menschen bekommen gewissermaßen „nur Stöße durch den Kopf wie von einer unsichtbaren H a n d " 1 0 2 , ohne recht zu wissen, wie ihnen geschieht. M.: Also studiere ich nicht die Einbildungen der Menschen, sondern die objektiven Verhältnisse, u m der Wahrheit über das subjektive Bewußtsein auf die Spur zu kommen. Also muß man die objektiven Verhältnisse verändern, u m das Bewußtsein zu verändern. H.: So dünkte sich einst der Mensch auch, er stünde i m Zentrum des Weltalls und die Gestirne umkreisten ihn. Aber er irrte sich. Seine Einbildung betrog ihn genau i n dem Maße, wie er sich über das objektive Sein der Gestirne und Planeten irrte. Er wähnte sich i m festen Zentrum und mußte erfahren, daß er i n Wahrheit m i t der Erddrehung herumgewirbelt und m i t der Erde u m die Sonne getragen wird. So i r r t sich auch der Mensch über seinen Standpunkt oder über seine Rolle i m gesellschaftlichen Prozeß? M.: So ungefähr. N u r wenn der Mensch — u m i n Deinem Beispiel zu bleiben — die objektive Welt außerhalb seiner selbst genau genug beobachtet, entdeckt er z.B., wie Schiffe am Horizont versinken. Solche Beobachtungen der äußeren Wirklichkeit lösen erste abstrakte Zweifel aus, die freilich das innere Weltbild noch nicht erschüttern oder gar berichtigen. Diese Zweifel untergraben zunächst nur das naive Vertrauen ins alte Weltbild und bewirken schließlich, daß nach Vorstellungen gesucht wird, denen man wieder vertrauen kann. Es w i r d schließlich ein anderes Weltmodell entworfen, — nicht, w e i l der Mensch sich i n Gedanken selbst bespiegelte, sondern w e i l er die Augen öffnete für die Wirklichkeit, die i h n umgibt. H.: So ist es auch m i t den Einbildungen des Menschen über sich in der Gesellschaft. M.: So ist es m i t den Einbildungen des Menschen über sich im Entwichlungsprozeß der Produktivkräfte. Die Gestirne kreisen ruhig dahin, und der Mensch kann ihr Kreisen m i t seinen Vorstellungen immer genauer einkreisen, ohne daß sich die Bahn der Gestirne dadurch veränderte. Die ökonomischen Verhältnisse jedoch entwickeln sich und bestimmen immer von neuem das Bewußtsein zu Einbildungen, noch ehe es sich zum neusten Stand weitergearbeitet hat. Diese hoffnungslose Lage verändert sich zugunsten des Menschen erst, wenn er nicht mehr nur etappenweise von einer Illusion über seine Epoche i n die nächste getrieben wird, sondern den ganzen Prozeß der Bestimmung des Bewußtseins durch das Sein durchschaut. Dann erst kennt er das Gesetz, dem sich sein Bewußtsein
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5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus fügt. Dann erst kommt er der Wahrheit über sich selbst auf die Spur.
H.: Einverstanden. N u n sollten w i r genauer zusehen, wie das Bewußtsein Fortschritte macht bei den Versuchen, der Wahrheit über sich selbst auf die Spur zu kommen. M.: „Das Bewußtsein", von dem D u sprichst, ist eine Abstraktion vom jeweiligen gegenwärtigen und wirklichen Menschen. Bei einem solchen Ausgangspunkt können auch nur Abstraktionen entwickelt werden. H.: Wenn ich von „Bewußtsein" spreche, meine ich konkrete, menschliche Bewußtseinsereignisse ζ. B. i n D i r und i n mir. Solche einzelnen, punktuellen Bewußtseinszustände sind für den Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung jedoch zunächst belanglos. Es bringt nichts, wenn einer der Wahrheit über sich auf die Spur kommt. Mein Schüler und Dein Lehrer Feuerbach hat das recht gut ausgedrückt: „Was ist Theorie, was ist Praxis? Worin besteht i h r Unterschied? Theoretisch ist, was nur noch i n meinem Kopfe steckt, praktisch, was i n vielen Köpfen spukt. Was viele Köpfe eint, macht Masse, macht sich breit und damit Platz i n der W e l t 4 2 6 a . " „Bewußtsein" bezeichnet i n jedem Gespräch, das Praxis zum Gegenstand hat, also allgemeinere, massenhaftere Bewußtseinsschübe. Sehen w i r also zu, wie das Bewußtsein sich entwickelt und die Wahrheit über sich selbst ergründet. M.: Sehen w i r zu, wie es vom Sein bestimmt wird, die Wahrheit über sich zu erfahren. H.: Das Sein bestimmt das Bewußtsein! Das dauert widerspruchslos an, bis hellhörige Menschen es i n den gesellschaftlichen Verhältnissen, i n die sie hineingezwängt sind, nicht mehr aushalten und ihnen Zweifel daran kommen, ob es so bleiben muß, wie es ist, während andere, weniger bewußte Naturen das Leid geduldig und stumm ertragen, das jene hellhörigen anschreit. M.: Diese Menschen wachsen ihren Herrn zu, wie eine Zucht von Sklaven oder Pferden. Die Herren nehmen sich selbst, wie sie sich vorfinden, und stellen ihre Stiefel hin, wo ihre Füße gewachsen 42 ®a L u d w i g Feuerbach an A r n o l d Rüge i m J u l i 1843, zit. bei Kurt V o l k u n d Staat, Stuttgart 1971 S. 6.
Lenk,
5.5 Verständigungsdialog
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sind: auf die Nacken der anderen, die keine andere Bestimmung kennen, als ihre Nacken zu beugen 427 . H.: Das geht Hand i n Hand m i t einer Religion, die für diese Welt eine Weltanschauung des Leidens liefert, so daß den Unterdrückten auch noch der Weg zu der Idee abgeschnitten wird, daß es anders sein könne. So verschleudert die Menschheit ihre Schätze an den Himmel. Und was viele noch nicht wissen, — was ihnen noch nicht bewußt ist: i n Deinem Kopf ist es zum Gegenstand des Bewußtseins herabgewürdigt. Dein Bewußtsein hat es unter sich und damit hinter sich. M.: Diese Sprache verstehe ich schon besser. Und was folgt aus alledem? K r i t i k der Religion, K r i t i k ihres unheiligen staatsphilosophischen Nachfolgers und wissenschaftliche Analyse der materiellen Verhältnisse. H.: W i r dürfen das K i n d nicht m i t dem Bade ausschütten. Es geht auch bei Religion und Staat nur darum, die — wie D u es sagst 428 — mystischen Nebelschleier wegzublasen, u m die Wahrheit hervortreten zu lassen, die sie ausdrücken und verbergen. — Bevor w i r fortfahren, möchte ich noch einmal auf wirklich ganz konkretes, menschliches Bewußtsein und auf die Strukturen zu sprechen kommen, nach denen es verfährt: auf Dein Bewußtsein. M.: N u n wirst D u mich psychoanalysieren. H.: Nein, — ich w i l l nur die Technik Deines Bewußtseins studieren, welche Dich befähigt hat, m i t Deinem Bewußtsein das Sein zu überbieten 4 2 9 . Von dieser Kunst sollten viele Menschen profitieren. Vielleicht ist diese Technik des Bewußtseins erlernbar. M.: Man muß sich nur gründlich genug zum Organ der gesellschaftlichen Verhältnisse machen und sie richtig aussprechen. Das ist der Kunstgriff. Der Rest ist harte wissenschaftliche Arbeit. H.: Geht es dabei ohne Widersprüche zu, — gibt es keine Negationen i n der Arbeit des Bewußtseins? M.: Das steckte schon i n dem, was w i r bisher besprochen haben: Kritik der Religion, Kritik des Staates und Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie. Diese dreifache Kritik i n der Theorie wie i n der Praxis ist ein dreifaches Nein, ausgelöst i n m i r durch die Verhältnisse, die — wie D u sagtest — die hellhörigen Menschen anschreien. 427 428
429
F r e i nach M E W 1 S. 339 ( = Landshut K a p i t a l I M E W 23 S. 94.
S. 161).
MEW EB I S. 553 ( = Landshut S. 265).
12 Suhr
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5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus
H.: D u siehst Menschen geschunden und es bäumt sich i n D i r auf. Es treibt Dich zur theoretischen und praktischen K r i t i k . Das Bewußtsein, zunächst bestimmt durch die Verhältnisse, w i r d über sie und über sich hinausgetrieben. Es überbietet i n einzelnen Köpfen das Sein und kann nun Masse machen. Es übernimmt die Führung, das Sein gibt nach. M.: Das Sein gibt nur dann nach, wenn das, was das Bewußtsein an Theorie zu bieten hat, den Bedürfnissen der Menschen entgegenkommt. Dann kann das Sein ins Rollen kommen. H.: Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosphie, ihr Herz, sagst Du, das Proletariat: Die Philosophie — das ist Deine Philosophie, oder die Philosophie der Gesellschaft, deren Organ D u bist; und der Kopf, das ist Dein Kopf. Dein Bewußtsein bestimmt nun das gesellschaftliche Sein. M.: Richtig aber idealistisch verdreht. Es ist eine ausgemachte Sache, daß sich die tätige Wirksamkeit des Bewußtseins i m Laufe der Geschichte verstärkt, und zwar gerade auch bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Gingest D u wirklich dialektisch vor, könntest D u gleichwohl den Vorrang des Seins nicht derart aus den Augen verlieren: Nicht nur dann, wenn die Menschen sich einen Himmel einbilden, u m es auf der Erde noch auszuhalten, sondern erst recht auch dann, wenn sich die Menschen nicht mehr länger ein H für das E vormachen lassen und wenn sie sich theoretisch und praktisch aufbäumen zu K r i t i k und Kampf, ist i h r Bewußtsein zu diesem Widerspruch durch das Sein bestimmt. Auch das Bewußtsein, das das Sein negiert, ist dazu noch vom Sein bestimmt. So erzeugt nach den Gesetzen der dialektischen Logik das materielle Sein aus sich selbst heraus notwendig den notwendigen Widerspruch zu sich selbst, der die Not wendet. H.: Habe ich recht verstanden: Das Sein negiert sich auf dem Wege über das Bewußtsein, welches das Sein i n theoretischer und praktischer K r i t i k überbietet? M.: Ja. H.: Also darf ich auch sagen: Das Sein negiert sich kraft des Bewußtseins? M.: Ja, — aber ohne Sein kein „Nein". H.: Ja, — und kein „Nein" ohne Bewußtsein: Im Bewußtsein zündet die Negation, kraft derer sich das Sein selbst negiert und sich aus sich weitertreibt.
5.5 Verständigungsdialog
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Im Bewußtsein schlägt der Widerspruch empor: die Springquelle aller Dialektik. I m Bewußtsein Dialektik.
vollzieht sich die Geburt der gesellschaftlichen
M.: Die Dialektik, von der w i r hier sprechen, ist kein bloßes Bewußtseinsereignis. Sie ist angelegt i m materiellen Sein und entwickelt sich dort als Widerspruch zwischen den Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. I n den Tiefen des gesellschaftlichen Seins wurzelt die Dialektik. I m Sein w i r d der Widerspruch gezeugt und genährt. H.: Aber im Bewußtsein seinen ersten Schrei.
t u t er seinen ersten freien Atemzug und
M.: U n d ins Sein dringt der Widerspruch wieder ein, sobald die Theorie zur Praxis wird. H.: Bleibt noch die Frage, ob auch alle Deine Leser und sonstigen Anhänger, die nach Lenins glaubhaftem Zeugnis unsere Dialektik nur selten w i r k l i c h beherrschen, Deinen berühmten Satz vom Bewußtsein, das durch das Sein bestimmt wird, immer richtig, nämlich dialektisch genug, verstehen. Denn der Wortlaut verhüllt dem Leser oder Hörer das Wichtigste, anstatt es i h m zu offenbaren: daß nämlich das konkrete, menschliche Bewußtsein die Stätte ist, wo der Funke der Veränderung emporzuckt. I m Bewußtsein ist es: Dort schlägt dem übrigen Sein die Stunde des Widerspruches. M.: Aber es ist doch das Sein, das an den Seilen zerrt, die die Glocken treiben. Und vorher — bevor es dem dumpferen Bewußtsein dämmert, gilt uneingeschränkt und ohne dialektische Negation: Das Sein bestimmt das Bewußtsein. H.: Eben! Deshalb kommt es m i r auf die Hellhörigkeit, Beweglichkeit und Selbständigkeit — des Bewußtseins an. Deshalb habe ich das Bewußtsein zum Dreh- und Angelpunkt meiner philosophischen Praxis gemacht. Ohne Bewegung i m Bewußtsein, keine bewußte Bewegung i n der Gesellschaft. Ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Bewegung 4 3 0 . Die verändernde Tat ist nur die Exekutive des verän430
Mao Tse-tung, Ausgewählte Werke, Bd. 1 (Peking 1968), S. 358 („Über die Praxis"). Lenin, Werke, Bd. 5 S. 379 („Was tun?"). 12*
5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus
180
derten Bewußtseins, und die veränderte Wirklichkeit das lebendige Zeugnis für das, was die Theorie wirklich war und ist. M.: D u stellst Dich i n ein anderes Licht als das, i n dem D u für mich früher standest. Aber nach wie vor noch hast D u es immer nur m i t der religiösen, philosophischen und staatstheoretischen Oberfläche zu tun, m i t den Haupt- und Staatsaktionen 431 , nicht m i t dem Puls der Entwicklung, — nicht m i t den ökonomischen Kräften, welche diese Oberfläche determinieren. H.: Genug, u m eine schlechthin revolutionäre Philosophie zu schaffen, die dem Prozeß der Wechselwirkungen zwischen Sein und Bewußtsein, zwischen Äußerem und Innerem gerecht wird. M.: Wieso dann noch von „Gott" reden, vom „Weltgeist" und von ähnlichen mystischen Gestalten oder vielmehr Gestaltlosigkeiten? H.: Von den strategischen und taktischen Gesichtspunkten der Wortw a h l abgesehen, kam es darauf an, die Tradition nicht zu verleugnen, i n der meine Arbeit steht. So trägt das als Prozeß Begriffene, das m i r vor Augen schwebt und das mich miteinbegreift, je nach Kontext, Blickwinkel oder Adressaten, und auch je nach Entwicklungsstand meiner eigenen Gedanken ζ. B. die Namen: „allgemeiner Prozeß", „Selbstbewegung", „allgemeines Subjekt", „Substanz", „Geist" oder auch „Gott" (diesen „sinnlosen L a u t " 4 3 2 ) . Leider halten sich viele durchschnittliche Köpfe, denen es an Begriffen zur Sache mangelt, bei m i r viel zu sehr an den Namen fest, m i t denen sie dann wie m i t Münzen operieren, ohne die Sache zu fassen. M.: Hefte D u an Neues alte Namen, und es w i r d vom A l t e n eingemeindet und erstickt! Die Erfahrung kennst Du! H.: Könnten wir uns darauf einigen, von „Selbstbewegung" zu sprechen? Dabei darfst D u vorbehaltlos an „Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse" denken, während ich m i r vorbehalte, daß außerdem auch noch andere Selbstbewegungsprozesse m i t i m Spiel sind, bei denen es nicht unbedingt zweckmäßig ist, sie auf ökonomische Prozesse zurückzuführen. M.: D u tust, als huldigte ich einem dogmatischen Ökonomismus. A u ßerdem mißhagt m i r die Bezeichnung: M i t der Vorsilbe „selbst"Bewegung fängt nämlich schon jene Umdeutung des objektiven 481 482
MEW 3 S. 36, 39 ( = Landshut S. 364). Hegel, Phänomenologie. Glockner 2, 26 = Werke 3, 26.
5.5 Verständigungsdialog
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Prozesses i n ein „Selbst", ein „Subjekt", einen „Geist" und „ G o t t " an. Das ist der Anfang aller Mystifizierung. H.: Was hast D u gegen das Wörtchen „selbst" i n diesem Zusammenhange einzuwenden? W a r u m ist es für Dich zu einer A r t Rührmich-nicht-an geworden? Da ist L e n i n 4 3 3 , meine ich, imbefangener: „Bewegung und «S e 1 b s t bewegung» (dies N B ! selbsttätige [selbständige], spontane, innerlich-notwendige Bewegung), «Veränderung», « Bewegung und Lebendigkeit», «Prinzip jeder Selbstbewegung», «Trieb» zur «Bewegung» u n d zur «Tätigkeit» — Gegensatz zum «toten Sein» — wer würde glauben, daß das der K e r n der Hegelei, der abstrakten u n d abstrusen (schwerfälligen, absurden?) Hegelei ist? Diesen K e r n mußte man entdecken, begreifen, hinüberretten, herausschälen, reinigen und das haben M a r x u n d Engels getan."
Das Wörtchen „selbst" hat hier eine rein grammatische und damit logische Funktion: Es gibt das wieder, was Lenin darunter versteht, wenn er „selbsttätig" und „selbstständig" hinzuassoziiert. Was meinst Du: Handelt es sich nun u m eine Selbstbewegung oder steht ein anderer großer Beweger i m Hintergrund? Oder mißfällt es Deinen Anhängern, wenn sie sich selbst bewegt, w e i l sie sie gerne bewegen wollen? M.: Weder noch. Die Menschen bewegen den Prozeß. Durch sie entwickelt er sich. Er ist ihre Entwicklung. H.: Aber er entwickelt sich nicht immer, w i e sie es wollen, sondern bringt Unvorhergesehenes an den Tag, das ihrem ursprünglichen Wollen widerspricht. Diese negativ-urwüchsigen Momente sind m i t von der Partie. M.: Das ist aber noch kein Grund, statt von den wirklichen Menschen abstrakt zu sprechen vom Werkmeister, vom Weltgeist usw. H.: Das ist eine sprachtechnische Vereinfachung, die den w i r k l i c h zusammenhängenden Prozeß m i t einem Namen zusammenfaßt: nach der gleichen Methode, nach welcher D u die vielen „Teilarbeiter" gelegentlich zum gesellschaftlichen „Gesamtarbeiter" zusammenfaßt und vom „Gesamtwirken der Menschen" sprichst 4 3 4 . M.: Einverstanden: „Selbstbewegung", i n der die Menschen einander 4 3 5 machen. — W i r sind inzwischen von der Frage abgekommen, m i t welcher Technik es dem menschlichen Bewußtsein gelingt, das Sein zu überbieten. 485
484 485
Lenin, Werke, Bd. 38, S. 131.
Kapital I MEW 23 S. 369; MEW EB I S. 574 ( = Landshut S. 269). Vgl. M E W 3 S. 37.
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5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus
H.: Gibt es dabei für Dich noch mehr als dies, was w i r festgestellt haben: daß das Bewußtsein sich gegen das Sein absetzt, indem es dem Sein widerspricht. M.: Dieser Widerspruch ist nur der erste Schritt, der zwar aus der immittelbaren Bestimmtheit des Bewußtseins hinaus und i n einen ersten Widerspruch hineinführt. Doch i n diesem ersten bloßen Widerspruch zum Sein ist das Bewußtsein theoretisch u n d praktisch noch ebenso gefangen wie vorher. Noch weiß der Mensch, der dieses Bewußtsein hat, i n seiner Negation der Schranken nicht, daß der Prozeß, gegen den er sich aufbäumt, bejaht werden muß, w e i l er die Voraussetzungen schafft, unter denen er überwunden werden kann. U m dies einzusehen, bedarf es eines weiteren Schrittes. H.: — d e r Negation der Negation. M.: Ja, — genau genommen noch etwas mehr. Es bedarf einer Erhebimg des Bewußtseins über beide Formen der Befangenheit i m Sein, sowohl über das dumpfe Nichtwissen dessen, was vor sich geht, als auch über das bloß dumpfe Aufbäumen gegen die U m stände. H.: Dieses i n den Bestimmungen durch das Sein positiv oder auch negativ befangene Bewußtsein w i r d überwunden, indem es zum Gegenstand der Betrachtung herabgesetzt wird. Es w i r d zum betrachteten Bewußtsein, und zwar i n einem betrachtenden Bewußtsein. Es w i r d zum begriffenen Bewußtsein i n einem begreifenden Bewußtsein. Das begreifende Bewußtsein ist theoretisch freier und beweglicher. Größere Freiheit und Beweglichkeit der Theorie ist größere Freiheit und Beweglichkeit der Strategie, wenn es u m praktische Fragen geht. M.: Ich weiß, D u schätzt die ätherische Höhe u n d Beweglichkeit des Bewußtseins, das sich Stufe für Stufe von seinen Befangenheiten ibefreit. Ich b i n skeptischer. H.: Je gründlicher D u die Menschen von dieser Skepsis überzeugst, je nachhaltiger D u sie damit ansteckst, desto eher wirst D u rechtbehalten. Wie sollte der sich bewußt werdende Mensch auch frei und selbständig gehen lernen, wenn i h m eingeredet wird, seine Beine würden i h m doch nicht gehorchen. U n d wie sollte der sich bewußt werdende Mensch die Welt zu größerer Menschlichkeit verändern, wenn i h m eingeredet wird, seine Arme könnten nicht tun, was sein Bewußtsein beschließt.
5.5 Verständigungsdialog
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Bilde den Menschen ein, ihr Bewußtsein sei fremdbestimmt und ohnmächtig, wenn es sich theoretisch befreit, so w i r d die eingebildete Fremdbestimmtheit eine wirkliche Fremdbestimmtheit und die eingebildete Ohnmacht w i r d zur wirklichen Ohnmacht. — Willst D u m i r trotz unserer unterschiedlichen Einschätzung der praktischen Wirkung noch einige Schritte weiter folgen bei Gedanken zu logischen Formen von Bewußtseinsprozessen? M.: W i r sind nicht so weit auseinander, wie D u meinst. N u r zu! H.: Deinem Bewußtsein als einem begreifenden Bewußtsein sind Entwicklungsgesetze ökonomischer Prozesse klargeworden. So haben die Menschen, — so hat die Menschheit durch Dich etwas über sich hinzugelernt. M.: N u n kommt die ganze Akrobatik des Selbstbewußtsein! H.: Das Bewußtsein, sagten w i r , ist das Produkt des gesellschaftlichen Seins, — einfache und doppelte Negation auf dem Wege der Bewußtwerdung miteinbegriffen. M.: „Bei m i r ist das Ideelle nichts anderes als das i m Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle 4 3 6 ." H.: Also produziert die Materie i n Deinem Kopf Erkenntnisse über sich selbst. D u bist nur ihr Umsetzer und Übersetzer, der die Sprache der Ereignisse i n die Sprache der Worte übersetzt, — die einfachen und doppelten Widersprüche wiederum miteinbegriffen. M.: Ich mache mich nur zum Organ dessen, was geschieht. H.: D u setzt aber nicht nur Materielles u m i n Ideelles, sondern noch etwas mehr. M.: W i r haben eben den ganzen Prozeß der Umsetzung des Materiellen ins Ideelle besprochen: Also haben w i r diesen Prozeß zwischen Materiellem und Ideellem seinerseits ins Ideelle übersetzt. H.: Das ist der Weg der Erkenntnis: eine Einbahnstraße ins Ideelle? M.: Als seiest D u nicht derjenige, welcher seine Erwartungen auf den Gegenverkehr gesetzt hat: auf die Umsetzung und Übersetzung des Ideellen ins Materielle! H.: Sind w i r uns wieder einmal einig? — Die Menschheit, sagten w i r , produzierte i n D i r Erkenntnisse über sich. Sie besitzt m i t Dir, durch Dich und nach D i r Wissen von sich 43e
Nachwort zur 2. A u f l . des Kapital, M E W 23 S. 27.
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5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus selbst. Dieses Wissen der Menschheit von sich selbst ist Selbstwissen der Menschheit von sich. Was D u von ihr weißt, weiß sie durch Dich von sich. Dein Wissen von i h r ist i h r Selbstwissen. Dein Bewußtsein von ihr ist ihr Selbstbewußtsein. D u bist i h r Wissensvermittler und i h r Bewußtseinsvermittler.
M.: Diese Spielerei i n Wissens- und Bewußtseins^ ermittlung führt nicht weiter. Menschen wie Du und ich haben ein Selbstbewußtsein. Was D u konstruierst, ist Mystifizierung. H.: Sagst D u nicht selbst, man dürfe etwas nicht danach beurteilen, als was es uns bei naiver Betrachtung dünkt? — man dürfe dem menschlichen Bewußtsein nicht ohne weiteres abnehmen, was es von sich glaubt? — man müsse vielmehr die objektiven Strukturen und Zusammenhänge analysieren, u m der Wahrheit auf die Spur zu kommen? M.: Ja, — aber meine Feststellung, daß das Individuum sich über sich täuschen kann, betrifft die Vorstellungen, die es sich von seiner Bolle und Freiheit i m Produktionsprozeß macht. Davon unabhängig ist jedoch gewiß: nur der einzelne, wirkliche Mensch hat Selbstbewußtsein u n d kann als Subjekt bezeichnet werden. Alles andere ist Mystizismus. H.: Das andere ist nichts Verschleierndes oder Verborgenes, sondern schlichte Logik. Ich halte fest: Es gibt für Dich eine Gewißheit über die alleinige Subjektqualität des einzelnen Menschen und über seine Begabung zu Selbstbewußtsein. Woher nimmst D u den Glauben, daß D u nicht vielleicht gerade i n dieser Überzeugung den Illusionen Deiner Epoche aufgesessen bist: den Illusionen der Epoche des Einzigen und seines Eigentums? — des Einzigen und seines Selbstbewußtseins? M.: (schweigt) H.: Wie erklärst oder konstruierst D u Dir, daß Du darunter leidest und daß es Dich zur K r i t i k und Praxis anspornt, wenn D u erlebst, daß andere gedemütigt werden? Ist es nicht ihr Leiden und sind es nicht ihre fehlenden Freuden, welche Dich bedrücken, — welche sich i n Dir umsetzen und übersetzen i n Gemeinschaftsbewußtsein? M.: D u hast nur zu abstrakt begonnen. Deshalb haben w i r aneinander vorbeigeredet. Jetzt, da D u konkret geworden bist, stimmen w i r wieder zusammen.
5.5 Verständigungsdialog
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H.: Eben w e i l ich weiß, daß D u dieselbe Sache schon beschrieben hast, w a r ich so beharrlich i n dem Versuch, das Gemeinsame nun auch i n den Sprachen und i m Verständnis aufzudecken. M.: Ich habe geschrieben: „ A l l e i n auch wenn ich wissenschaftlich tätig bin, so b i n ich gesellschaftlich, w e i l als Mensch tätig . . . mein eigenes Dasein ist gesellschaftliche Tätigkeit; darum das, was ich aus m i r mache, ich aus m i r für die Gesellschaft mache und m i t dem Bewußtsein meiner als eines gesellschaftlichen Wesens. Mein allgemeines Bewußtsein ist nur die theoretische Gestalt dessen, wovon das reelle Gemeinwesen, gesellschaftliche Wesen, die lebendige Gestalt ist . . . Daher ist auch die Tätigkeit meines allgemeinen Bewußtseins — als eine solche — mein theoretisches Dasein als gesellschaftliches Wesen. Es ist vor allem zu vermeiden, die »Gesellschaft 4 wieder als Abstraktion dem I n d i v i d u u m gegenüber zu fixieren. Das I n d i v i d u u m ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung — erscheine sie auch nicht i n der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, m i t anderen zugleich vollbrachten Lebensäußerung — ist daher eine Äußerung und Bestätigimg des gesellschaftlichen Lebens . . . Als Gattungsbewußtsein bestätigt der Mensch sein reelles Gesellschaftsleben u n d wiederholt nur sein wirkliches Dasein i m Denken, wie umgekehrt das Gattungssein sich i m Gattungsbewußtsein bestätigt u n d i n seiner Allgemeinheit, als denkendes Wesen, für sich ist 4 3 7 ."
H.: Denke diese Gedanken bis zu ihrem logischen K e r n oder Gerippe weiter! Dann stößt D u von den bloß sprachlichen Andeutungen zur genaueren logischen Struktur der Bewußtseinsprozesse vor, und was vorher absurd schien, w i r d selbstverständlich. Dein Bewußtsein und Deine Tätigkeit sind nichts anderes als eine Äußerung des „gesellschaftlichen Lebens" oder des „reellen Gemeinwesens". D u bist das subjektive Dasein der gedachten und empfundenen Gesellschaft „ f ü r sich". Sie hat i n D i r subjektives Dasein. D u bist n u r das Gefäß oder Organ, i n welchem sie zum Wissen und zum Bewußtsein von sich kommt. Dein Wissen von der Gesellschaft ist i h r Selbstwissen, Dein Bewußtsein von i h r ist i h r Selbstbewußtsein. M.: Der Logik dieser Erwägungen habe ich einstweilen nichts entgegegenzusetzen. Es scheint, als drückten sie tatsächlich das n u r schärfer aus, was ich zu formulieren suchte. U n d doch sind es widerspenstige Vorstellungen, die nicht leicht i n meinen Kopf eingehen wollen. 437
M E W EB I S. 538/9 ( = Landshut S. 238/9).
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5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus Auch zeigt das konkrete Beispiel, daß andere Menschen sich i n m i r zu Worte melden, — daß meine Stimmungen von ihren Lagen abhängen. Sie lassen i n m i r Mitbewußtsein oder Gemeinschaftsbewußtsein anklingen, als seien sie i n m i r repräsentiert. Es ist, als seien sie an mein eigenes inneres Sensorium für Freud und Leid angeschlossen wie mein eigener Körper. Aber konkret vorstellen vermag ich m i r noch nicht, inwiefern mein Ich-Bewußtsein mich betrügt und wie es korrigiert werden müßte.
H.: Der Betrug löst sich dialektisch auf, wenn das Bewußtsein als der Prozeß zwischen Allgemeinem und Einzelnem begriffen wird, der das Bewußtsein macht. — I m übrigen kann niemand erwarten, daß die ersten abstrakten Zweifel an einer tief eingewurzelten und ausgekosteten Bewußtseinsform schon ein anderes Bewußtsein schaffen könnten. Noch sind w i r ja auch nicht sicher, ob und bis zu welchem Grade das Ich-Bewußtsein w i r k l i c h trügt, sondern w i r erwägen es nur. M.: Sollte es w i r k l i c h trügen, entsprächen unsere ersten abstrakten Zweifel am egozentrischen Ich-Modell den ersten Unsicherheiten, die am homozentrischen Weltmodell aufkommen, wenn physikalische Beobachtungen nicht mehr m i t i h m zusammenstimmen. So wenig wie diese ersten Ungewißheiten schon das neue Weltmodell, so wenig machen etwaige erste Zweifel an unserem egozentrischen Ich-Bewußtsein schon das berichtigte Bewußtsein. H.: U m zu prüfen, ob und inwiefern unser Ich-Bewußtsein uns betrügt oder einer Ergänzung bedarf, sollten w i r demnach an Hand der abstrakten Zweifel zunächst nur eine ebenso abstrakte Konstruktion für das andere Bewußtsein entwickeln, die den abstrakten Zweifeln Rechnung trägt. M.: Es ist wie m i t dem Kapitalisten: So wenig er bereit ist einzusehen, wie sehr i h n sein eigenes Bewußtsein u m den Menschen betrügt, der er sein könnte, — so schwierig dürfte es einem entfremdeten Ich-Bewußtsein sein, sich von seiner Täuschung frei und m i t der Einsicht ernst zu machen: Das Sein bestimmt auch das Ich-Bewußtsein. Noch bevor nämlich sich die ein-Sicht i n das wahrere Selbst eröffnete, müßte das befangene Ich-Bewußtsein seinen Ich-Horizont aufgeben wie der Kapitalist seinen sachherrschaftlichen und egozentrischen Eigentümerhorizont. H.: Die bloße Konstruktion des berichtigten oder erweiterten Bewußtseins kann gar nicht anders, als dem bisherigen Bewußtsein zunächst als ein Angriff auf sich selbst, als befremdlich und hirnverbrannt zu erscheinen. Sie erscheint u m so verrückter, je
5.5 Verständigungsdialog
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entfremdeter das bisherige Bewußtsein seiner menschlichen W i r k lichkeit ist, — das heißt, je größer der Abstand zwischen dem vertrauten Selbstdünken und der (vielleicht) wahrhafteren Neukonstruktion des Bewußtseins ist. Die Empfindlichkeit, m i t der das alte Bewußtsein auf die Zumutung der Neukonstruktion reagiert, ist schließlich schon ein erstes Indiz, daß es die Neukonstruktion fürchten muß. Fürchten muß es sie nur, wenn etwas Wahres an i h r ist. Der Eifer, m i t dem sich das alte Bewußtsein dagegen wehrt, die Neukonstruktion auch nur zur Kenntnis zu nehmen, verrät die unbewußte Angst, liebgewordene Bewußtseinskrücken ablegen zu müssen. M.: Es besteht jedoch kein Grund zur Furcht. Die Dialektik lehrt, daß die alte Gestalt nicht verdammt und vernichtet, sondern i m Doppelsinne des Wortes aufgehoben wird. H.: So ist es. Das alte Bewußtsein müßte demnach die angebotene Neukonstruktion gelassen zur Kenntnis nehmen und zunächst als Konstruktion auswendig lernen, ohne inwendig dazu schon anschauliche und lebendige Beziehung zu haben. Dabei würde sich die Konstruktion naturgemäß zunächst als widerspenstig erweisen. Aber das alte Bewußtsein dürfte sich dadurch nicht beirren lassen. Ist die K o n struktion falsch, so schadet es nichts und das alte Bewußtsein hat geübt, auch m i t widerspenstigen Gedanken umzugehen. Hat die Konstruktion aber etwas Wahres an sich, so wird es sich zeigen. Das Wahre zeigt sich daran, daß es dem alten Bewußtsein bei der Organisation und Einordnung von Erfahrungen nützliche Dienste erweist. Die neue Konstruktion macht sich allmählich unentbehrlich und erfüllt sich m i t Anschauung und Empfindungen, bis sie zur zweiten Natur geworden ist. Und an einem schönen Morgen bemerkt das Bewußtsein, daß es seine alten Horizonte als solche erkennt: entrückt, wie uns heute das Ptolemäische Weltbild entrückt ist, aber doch auch immer noch vertraut. W i r sagen nach wie vor: ,Die Sonne steigt über den Horizont i n den Himmel hinauf', und nicht: ,Wir tauchen soeben aus dem Erdschatten auf 4 . Ebenso ist zu erwarten, daß der Mensch auch nach der etwaigen Reorganisation seines Ich-Bewußtseins normalerweise sagen w i r d : ,Ich denke nach4, und nicht: ,Das Sein denkt i n mir 4 . Außerdem hat die Bewußtseinsstruktur, die ich i m Auge habe, selbstverständlich dialektischen Charakter. Die erste Einsicht ist für das stolze ego-zentrische Ich-Bewußtsein der Epoche niederschmetternd (sie ist sein Karfreitag). K o m m t es nachher wieder zu. sich, hat es allen Grund, sich an einer neuen Wahrheit zu freuen.
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5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus Zunächst muß der Mensch sich gründlich damit abfinden, daß er bloßes Geschöpf eines unübersehbaren, übermächtigen Selbstbewegungsprozesses der Gattung ist (der gewesenen und seienden Milliarden von Menschen, die „einander machen"). Seine I n d i v i dualität, m i t der er sich nach dieser oder jener Richtung auf spreizt, ist vor diesem i n Zeit und Raum ausgedehnten Hintergrunde lächerlich. Wenn er die Macht hat, sie i m großen Stile auszuprobieren, ist seine Individualität ein individualistischer Fremdkörper, der vom allgemeinen Prozeß brutal zermahlen wird. Solche Werke verkehren sich i n i h r Gegenteil. Dann aber besinnt sich das menschliche einzelne Bewußtsein und weiß nun, daß es sich selbst schon allgemein begreifen und sich als allgemeines organisieren muß, u m dem allgemeinen Prozeß zu gleichen, u m m i t i h m zusammenzustimmen und u m m i t i h m zu kooperieren. Indem es diese Einsicht zu seiner zweiten Natur macht, schließt das Bewußtsein seine individuelle Eitelkeit und Aufspreizung ab, gleicht sich dem Prozeß an, den es begreift, und erkennt, daß es i h m insoweit ebenbürtig ist. Das tückische Sein, das dem Menschen seine Werke verkehrte, w i r d als Moment des Prozesses verstanden und der Prozeß selbst w i r d als Freund erkannt. M i t dem Freund aber muß der Mensch nun auch die Verantwortung teilen. Die Menschheit ist jetzt allmählich dabei, sich dessen bewußt zu werden. — Aber ich bin abgekommen. W i r waren bei der Frage, w i e eingewurzelte Bewußtseinsstrukturen überwunden werden.
M.: W i r fangen erst an, eine alte Gestalt unseres Bewußtseins zu begreifen und zu überwinden, wenn die Gestalt ihrerseits den Griff lockert, m i t dem sie selbst das Bewußtsein i m Griff hat. Das Bewußtsein, kaum entlassen, dreht sich auf der Stelle u m und greift selber zu. H.: Dieses: Das unerschrockene sich-Fallenlassen aus der alten Gestalt und das Zugreifen noch i m Fall, das ist das begreifende Bewußtsein. Das hört sich vielleicht ,unpraktisch' an, ist aber die begriffene Praxis überhaupt, soweit sie sich abstrakt begreifen läßt. Denn hier w i r d von Bewußtseinsgestalten gehandelt, die nicht nur i m Bewußtsein spuken, sondern i n der Welt zur Wirkung kommen. Solche Gestalten blieben oft als Gerippe i m sich selbst noch undurchsichtigen Bewußtsein hängen, bis die praktischen Erfahrungen m i t ihnen zum Himmel schrien. M.: Man kann m i t solchen gespensterhaften Bewußtseinsgestalten alle Stimmen im Menschen zum Schweigen bringen, über die sich das
5.5 Verständigungsdialog
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Leiden und die Freude anderer Menschen als eigenes Leiden und eigene Freude bemerkbar machen. Man kann sie damit so schalldicht einmauern, daß man gute Werke zu t u n meint, wenn Ketzer und Hexen verbrannt werden. Es ist, als töte der eine Mensch den anderen wirklichen Menschen, damit dieser andere Mensch i h n nicht durch seine Heden und seine Taten ständig an die Stimmen der anderen erinnert, die i n den Verließen des eigenen Bewußtseins lebendig eingesargt sind. H.: Ich halte gerade diese kirchengeschichtlichen Beispiele für bemerkenswert, w e i l sie hoffen lassen. Wenn es nämlich geschichtlich bewiesen ist, wie gründlich Stimmen anderer i m Bewußtsein durch Übung getilgt und abgetötet oder schalldicht eingekapselt werden können, so zeigt dies vor allem: Das Bewußtsein ist dressierbar. Also, meine ich, muß es auch möglich sein, das Bewußtsein darauf zu dressieren, die Stimmen der anderen, die i n i h m repräsentiert sind, wieder zu hören. U m die Stimmen i m Bewußtsein zum Schweigen zu bringen, genügen freilich Dogmen, Tyrannei und Strafen. U m sie wieder zu beleben und zum Sprechen zu bringen, muß ihnen ein inneres For u m verschafft und geübt werden, auf sie zu lauschen. Wenn Taubheit und Blindheit zur zweiten Natur eingedrillt werden können, ist es auch möglich, die Tauben wieder hörend und die Blinden wieder sehend, die i m Bewußtsein Lahmen wieder gehend und die i m Bewußtsein Abgestorbenen wieder lebend zu machen. Hier liegen die praktischen Aufgaben von heute. — M.: Zur Praxis wollte ich Dich ohnehin aus den ätherischen Gefilden des Bewußtseins zurückrufen. Stelle Dich nicht immer auf den Kopf, sondern versuche es auch einmal auf den Füßen 4 3 8 ! H.: A n diesem Deinem berühmten B i l d b i n ich wahrscheinlich nicht unbeteiligt, w e i l ich zuerst von den Menschen sprach, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt erstmals auf den Kopf gestellt hätten 4 3 9 . U m so willkommener ist es mir, daß D u es jetzt ins Gespräch bringst und ich Gelegenheit habe, es zu berichtigen oder zu ergänzen, damit es i n Zukunft richtiger verstanden werde. M.: — damit der Mensch sich endgültig wieder auf die Füße stelle! H.: „ V o m Kopf auf die Füße" — Dieses B i l d scheint Dich oder wenigstens viele Deiner Nachfolger geradezu zu bezaubern. Als ob die Wirklichkeit das Stillestehen sei: das Stillestehen auf dem Kopf — 488 489
Vgl. M E W 23 S. 27. Oben bei A n m . 214.
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5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus beim abstrakten und kopflastigen Hegel — und das Stillestehen auf den Füßen — beim lebensnahen und konkreten Marx. Ich muß dabei immer an das Sprichwort denken: „Was man nicht i m Kopf hat, muß man i n den Füßen haben." Selbstverständlich ist die normale Haltung des leiblichen Menschen, daß er seinen Kopf oben und seine Füße unten trägt. Diese Haltung hat nicht zuletzt den Vorteil, daß die Augen besser sehen, worüber die Füße stolpern könnten, wenn der Kopf endlich hoch getragen w i r d ! Das B i l d ist daher ebenso aufschlußreich wie mißverständlich.
M.: Hast D u ein besseres? H.: W i r müssen dem Kopf- und Fußsteher nur dialektischen Odem einblasen: Die praktische Wirklichkeit ist nicht so träge, daß sie stillestünde auf dem (theoretischen) Kopf oder stillestünde auf den (praktischen) Füßen. Sie ist ein Akrobat, der Räder schlägt. Versuchst Du, i h n bei seinen dialektischen Rädern festzuhalten, wenn er gerade einmal auf die Füße springt, wirst D u einige Überraschungen erleben: Entweder ist das, was D u dabei ergreifst und auf die Erde zwingst, nur das Schuhwerk des Akrobaten: eine Hülle, aus der er herausgefahren ist, eh' D u es merkst. D u erschienest i n diesem Falle als der Clown, der i n der epigonalen „Fastnachtszeit" meiner Philosophie (wie D u sie einmal genannt hast) auch noch ein praktisches Stückchen davon erhäschen w i l l . Und während der Clown noch stolz vor dem Publikum die Schuhe festhielte, sie und seinen Blick auf die Basis gepreßt, schlüge der Akrobat längst woanders seine Räder. Oder D u bekommst w i r k l i c h die Füße zu fassen und hältst sie eisern fest. Dann w i r d Dich der Akrobat, der die Wirklichkeit ist, samt Deiner Theorie herumschleudern. Dann kann Deine Theorie, die selbst ein Kopf ist, nicht recht fassen, wie i h r geschieht. Sie muß sich den Schwüngen überlassen und ihre Taumel m i t theoretischen Kompensationstaumeleien zum Thema „Basis und Überbau" mühev o l l ausgleichen. Laß die Füße getrost los und n i m m erst einmal Platz am Rande der Manege! Dann kannst D u ruhig zusehen, Deine Augen sowie Deinen Kopf gebrauchen und auf Deine Füße springen, u m Hand anzulegen, wenn der Augenblick günstig ist. I m Grunde tust D u das ja auch. Aber die fixe Idee: „ V o m Kopf auf die Füße!" verdeckt es vielen Deiner Leser und Schüler.
5.5 Verständigungsdialog
191
M.: Ich kann meine Einwände ohne weiteres auch i m Rahmen Deiner Variation auf meine Vorstellungen formulieren: Spring einmal auf die Füße und werde praktisch! H.: Vom Platz am Bande der Manege aus, auf dem ich gerade sitze und von dem aus ich den Akrobaten beobachte, sieht die Praxis zunächst so aus: Praxis ist Sache der Tat. Tat ist Sache des Willens. Wille ist Sache des Bewußtseins. I m Bewußtsein Praxis.
kippt die Theorie über den Willen u m i n die
M.: Aber das Bewußtsein ist Sache der ökonomischen Verhältnisse. Die ökonomischen Verhältnisse kippen i m Bewußtsein u m i n Theorie, ehe die Theorie umkippt i n die Praxis. H.: Einverstanden. Das Ideelle, sagst Du, ist nichts anderes als das i m Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle. Gilt das auch vom Willen, — gilt das insbesondere auch von Deinem Willen? M.: Die ökonomische Entwicklung hat Tendenzen, die m i t eherner Notwendigkeit w i r k e n und sich durchsetzen. Der einzelne mag anders denken oder wollen, — dagegen kann er nicht. Was ich vom einzelnen allgemein schreibe, g i l t auch für mich: „Weniger als jeder andere k a n n m e i n Standpunkt, der die E n t w i c k l u n g der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen f ü r die Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben m a g 4 4 0 . " „ I n dem Maße, w i e die Geschichte voranschreitet u n d m i t i h r der K a m p f des Proletariats sich deutlicher abzeichnet, haben die Theoretiker nicht mehr nötig, die Wissenschaft i n i h r e m Kopfe zu suchen; sie haben n u r sich Rechenschaft abzulegen v o n dem, was sich vor ihren Augen abspielt,
und sich zum Organ desselben zu machen441."
Mein Wille entspricht diesen unerbittlichen Tendenzen. Ich spreche ihre Notwendigkeiten nur i n subjektiver Form aus, wenn ich für mich sage: Ich will die Emanzipation des Menschen vom Griff des Kapitals. Mein Bewußtsein und mein Wille sind nur die subjektive, theoretische Gestalt dessen, was der reelle Prozeß ist und wohin er tendiert. Was i n der Entwicklung ungewußt naturgeschichtlich abläuft, bringe ich für sie ins Bewußtsein und zur Sprache. 440
441
M E W 23 S. 16.
MEW 4 S. 143 ( = Landshut S. 514).
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5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus
H.: Diese Anschauungsweise kommt m i r sehr vertraut vor. M.: Ja, ich b i n nur das subjektive Tüpfelchen auf dem „ i " : der Verdichtungspunkt, i n dem das bewußtlose Sein der Tendenzen ins Bewußtsein springt. Durch mich zur Sprache gebracht, verbreitet sich das bewußt-Sein auch i n anderen Köpfen und stellt auch dort die wenigen noch erforderlichen Verbindungen her, über die die latenten inneren Tendenzen zum Willenszentrum durchgeschaltet und auf diesem Wege zur offenen Macht werden. So w i r d die Geburt der neuen Gesellschaft, m i t der die alte schwanger geht, eingeleitet und abgekürzt. Mein subjektiver, ideeller Wille ist nur der Ausdruck der objektiven, materiellen Tendenzen des Entwicklungsprozesses. Mein subjektiver Wille ist „seine" objektive Tendenz. H.: Waren nicht auch die alten Propheten „Umsetzer und Übersetzer" durch die sich der objektive Wille eines anderen allmächtigen Geschehens namens „Gott" kundtat? Und ist nicht für Dich „Gott" ein Ding objektiver Zwänge, die von den Propheten nur subjektiv ausgesprochen wurden? Hieß es einst: „Sein Wille geschehe, wie i m Himmel, so auch auf der Erde", so heißt es jetzt: „Seine Tendenz geschehe, wie i n der Theorie, so auch i n der Praxis." M.: Das ist eine nur formelle Ähnlichkeit. Der Gott der Bibel ist eine irreale Einbildung i m Bewußtseinshimmel. Die ökonomische Entwicklung ist ein wissenschaftlich erforschter, naturgeschichtlicher Prozeß. H.: Eine „formelle" Ähnlichkeit ist immerhin eine „logische" Ähnlichkeit. Das zeigt sich daran, daß man i n den betreffenden Sätzen nur die Vokabeln, nicht aber die Grammatik, auszuwechseln braucht. Da die Vokabeln wiederum nur Namen für die „objektiven Notwendigkeiten" sind, verringert sich der Unterschied noch weiter. Der menschliche Wille bleibt i n jedem Falle auf der Strecke. M.: Selbst wenn D u m i t Deinem Vergleich auch nur i m entferntesten Hecht hättest, stimmte er ohnehin nur für das, was ich die „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft" genannt habe. Diese schließt ab m i t der proletarischen Umwälzung, welche zugleich der letzte naturgeschichtlich und der erste bewußte A k t ist, durch den der Mensch den Menschen produziert. Dabei und vor allem danach w i r d die Gesellschaft planmäßig und bewußt von Menschen nach ihren menschlichen Bedürfnissen gestaltet durch die organisatorische Arbeit emanzipierter Menschen.
5.5 Verständigungsdialog
193
Außerdem steht es D i r nicht an, m i r i m Punkte „Vergleichbarkeiten m i t Gott" Vorhaltungen zu machen. Wo bleibt der menschliche Wille, wenn Dein Weltgeist sein Weltgericht hält? H.: W i r sind dabei, unsere SeelenVerwandtschaften aufzuklären. Etwas vereinfacht besteht der Unterschied zwischen uns darin, daß i n Deiner Welt die Geschichte des Menschen erst m i t Dir am Ende der Vorgeschichte des Menschen beginnt, während sie i n meiner Welt schon seit einigen Tausend Jahren i m Gange ist. I n meiner Welt sind die Menschen seit Aufdämmern ihres politischen Bewußtseins als tätiges menschliches Bewußtsein dabei und arbeiten selbstbewußt m i t am Fortschritt der Freiheit, mag dabei auch regelmäßig etwas anderes herausgekommen sein, als sie zunächst wollten. Diese schrittweise Arbeit der Menschen halte ich für w i r k lichkeitsgerechter als die Uberzeugung, daß alles Bisherige nur Vorgeschichte und alle unsere Vorfahren demnach keine Menschen, sondern nur Vormenschen waren. M.: Es gibt viele Äußerungen von mir, m i t denen ich belegen könnte, daß auch die Entwicklung der Produktivkräfte das Produkt bewußter Arbeit der Menschen ist und daß die jeweils feudalen oder bürgerlichen Verhältnisse i n großen Umrissen auch als fortschrittliche Gesellschaftsformationen bezeichnet werden müssen. H.: Ich weiß: D u sprichst den Individuen innerhalb der ökonomischen Entwicklungsprozesse nicht das bewußte Handeln ab noch den subjektiven Willen, Freiheit zu verwirklichen. D u willst nur klarstellen, daß die Arbeit nicht nur das jeweils Nächstliegende hervorbringt, das vorher i m Bewußtsein war, sondern auch etwas, m i t dem die Menschen nicht gerechnet haben. Diese subjektiv nicht vorweggenommenen Seiten der Arbeit und der Werke kehren sich als nicht gewollte Folgen und daher als Fremdes gegen den Arbeiter und machen die „negative Seite" der Arbeit aus. Was so erst nach einem gesellschaftliche η Inkubationsprozeß aus der Arbeit hervorgeht, hast D u i m Auge, wenn D u von notwendigen A b läufen und von naturgeschichtlichen Zusammenhängen sprichst. M.: Ich sehe, D u hast hinzugelernt. I n Deiner Phänomenologie des Geistes kennst D u „ n u r die positive Seite der Arbeit, nicht auch ihre negative" 4 4 2 , die auf den Menschen zurückschlägt. H.: Genau diesen Punkt wollte ich noch m i t D i r besprechen. M.: Jetzt kommt meine Sache zur Sprache. 442
MEW EB I S. 574 ( = Landshut S. 269/70).
13 Suhr
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5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus
H.: Der Einfachheit halber können w i r die Ergebnisse Deiner politökonomischen Untersuchungen voraussetzen. Diese Studien haben Deine frühen Ansätze i n den Schriften seit Ende 1843 fast durchweg bestätigt, ausgebaut und weiterentwickelt. Könntest D u den K e r n der Sache noch einmal i n wenige Worte zusammenfassen? M.: Unter den Produktionsverhältnissen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung produziert das Proletariat durch seine Arbeit Produkte, die ausgetauscht werden. Das Werk menschlicher Arbeit verwandelt sich dabei i n ein Wertding, das nicht mehr für ein echtes, menschliches Bedürfnis, sondern für den Austausch produziert wird. Dabei erhält der Arbeiter nur einen Teil des Wertes seiner Arbeit, u m seine Arbeitskraft damit zu erhalten. Das Austauschsystem führt dazu, daß der Mehrwert i n der Hand weniger zu einer Macht, zu einer stillen oder offenen Gewalt gegen die ursprünglichen Produzenten wird. So sehr kehrt sich die eigene Arbeit um, daß die Arbeiter selbst die M i t t e l für die Maschinengewehre schaffen, m i t denen sie von wenigen i n Schach gehalten werden können. Aber das geht vorüber. Der Kapitalist übersieht — w i e D u es früher für einen anderen Stand ausgedrückt hast, — „daß diese Absonderung die Grube ist, die er sich selbst gräbt, daß, je mehr er i n seinem Streben, sich zu isolieren, Fortschritte macht, er an Stärke verliert, daß jeder Gewinn Vergrößerung der Gefahr i s t " 4 4 3 . Er arbeitet der Revolution i n die Hand und bereitet den A k t vor, i n dem die Arbeiter i h r Schicksal selbst i n die Hand nehmen. H.: I n diesem ganzen Prozeß produzieren die Arbeiter aus physischen Gegenständen Waren. Die Gegenstände bearbeiten sie bewußt Mittelbar produzieren sie aber auch die Produktions Verhältnisse. Diese Produktionsverhältnisse produzieren sie jedoch nicht bewußt. Sie gehen hervor aus dem Produktionsprozeß, der i n der proletarischen Umwälzung mündet. Die Umwälzung kann sich allmählich oder plötzlich vollziehen. I n jedem Fall n i m m t der Arbeiter bzw. das Proletariat nun sein gesellschaftliches Schicksal selbst i n die Hand. Wie vorher an den Gegenständen, so arbeitet er auch an den Produktions Verhältnissen jetzt bewußt, wenn i m Zuge der proletarischen Umwälzung die allgemein-menschliche Emanzipation stattfindet. — Verstehe ich Dich ungefähr richtig? M.: Ja, — die Produktionsverhältnisse
werden nun bewußt gestaltet.
„ D i e aktive Rolle des Bewußtseins verstärkt sich i m Laufe der Geschichte . . . Sie t r i t t i n besonderer F o r m bei der Gestaltung der gesell443
Hegel, Werke 1, 603.
5.5 Verständigungsdialog
195
schaftlichen Verhältnisse i n Erscheinung. I n dieser Beziehung erlangt das Bewußtsein i n unserer Epoche eine qualitativ neue Bedeutung. Der Übergang der Gesellschaft zum Sozialismus ist der Übergang zu einer bewußten Beherrschimg des gesellschaftlichen Lebensprozesses insgesamt 4 4 4 ."
H.: Dann drängen sich dem Dialektiker einige Gedanken auf: Als die Arbeiter bewußt an den Gegenständen gearbeitet haben, stellte sich, wie D u es verbildlicht hast, ihr Produkt schließlich gegen sie auf die Hinterfüße. Es kostete einen langen Entwicklungsprozeß, ehe diese negative Seite der Arbeit sich schließlich doch als positiv erwies, nämlich insofern, als sie die ökonomischen Bedingungen schuf oder schafft für die proletarische Revolution. Wenn nun aber die Arbeiter bewußt die gesellschaftlichen Verhältnisse produzieren (gestalten, organisieren): Kann sich auch dieses i h r Werk und Produkt gegen sie auf die Hinterfüße stellen? — Beginnt m i t h i n der Kreislauf auf höherer Ebene von Neuem: bewußte Arbeit an der Gesellschafts Verfassung — negative Auswirkungen und Rückschläge dieser Arbeit auf den Arbeiter — schließlich positive Fernwirkungen? Kurz gefragt: Wie sieht es m i t den etwaigen nicht n u r positiven, sondern auch negativen Seiten der Arbeit an der GesellschaftsVerfassung (an den Produktionsverhältnissen) aus? M.: Wenn die proletarische Revolution über die geschichtliche Bühne geht, t r i t t nicht, wie bei früheren Revolutionen, ein besonderer Stand den Kampf an und hängt sich nur scheinbar den Mantel des allgemeinen Interesses um. Vielmehr ist das Proletariat der allgemeine Stand par excellence . Deshalb w i r d die Befreiung nicht nur den Schein, sondern auch die Wirklichkeit der allgemeinen Freiheit bringen. H.: D u weichst m i r aus, indem D u an meinen, aus dialektischen Erwägungen abgeleiteten Vermutungen vorbeiantwortest: Wenn m i t der proletarischen Revolution die Klassenantagonismen ökonomischer Struktur und Herkunft verschwunden sind, dann bleiben, wie D u selbst nicht ausschließt, die „individuellen Antagonism e n " 4 4 5 . Es ist das zwischenmenschliche Verhältnis, das nun vielleicht ohne ökonomische Hüllen i n nuce zum Verfassungs- und Gesellschaftsproblem wird. Je nach Betonung, kann man hoffen, daß dieses zwischenmenschliche Verhältnis i n nuce, also von ökonomischen Klassengegensätzen gelöst, harmlos oder nicht minder 444
S. 76. 445
1
R. O. Gropp, Grundlagen des dialektischen Materialismus, B e r l i n 1971, M E W 13 S. 9.
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5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus problematisch ist, als es die gründlich wirtschaftswissenschaftlich durchstudierten, also „vertrauten" Klassenantagonismen waren. Deine letzte, „nicht nur politische" Revolution könnte sich als der A k t erweisen, durch den die politischen Gegensätze von ihrem ökonomischen Gewand befreit werden, u m nunmehr unverhüllt auf der Bühne zu erscheinen. Was D u die „nicht mehr nur politische" Revolution genannt hast, wäre dann eine „noch immer ökonomische" gewesen. Die gesellschaftlichen Probleme würden sich am Ende von den ökonomischen emanzipieren, u m i h r eigenes hartes Gesicht zu zeigen. Das große Werk des Proletariats, also seine bewußte Arbeit an der Gesellschafts Verfassung, hätte nicht nur positive, sondern auch negative Seiten, nämlich ungeahnte politische (oder „gesellschaftliche") Rückwirkungsprobleme.
M.: Dieses Bumerangproblem muß ich m i r noch durch den Kopf gehen lassen. H.: W i r brauchen jedoch nicht zu befürchten, daß jetzt auf der höheren, organisatorischen und gesellschaftsverfassenden Ebene der „ A r b e i t " ein neuer Jahrtausende währender Entwicklungsprozeß ganz von vorn einsetzte, der dem der ökonomischen Verhältnisse gliche, bis endlich die negativen Folgen der „ A r b e i t " höherer Ordnung ins Bewußtsein dringen und bewältigt werden können. Denn die Gesetzmäßigkeiten der negativen Seite bei der Arbeit höherer Ordnung sind bereits bewußt, durchdacht und für die Praxis aufbereitet und angewendet worden. M.: Wer ist es, der den dialektischen Materialismus so weit vorangebracht hat? H.: Ich bin's — oder vielmehr ich war's, bevor D u die Dialektik halbiertest. Ich kann mich übrigens sogar rühmen, diese Verdrängung des schon Gelernten i n groben Zügen vorhergesagt zu haben. Daß dabei allerdings so viel geschichtliche Erfahrung unter der Schablone von der „Vorgeschichte" restlos verschüttet werden würde, ahnte ich damals nicht, als ich schrieb: „ . . . das neue Dasein, eine neue Welt u n d Geistesgestalt. I n i h r hat er (der Geist) ebenso unbefangen von v o r n bei der U n m i t t e l b a r k e i t anzufangen, u n d sich von i h r auf wieder groß zu ziehen, als ob alles Vorhergehende f ü r i h n verloren wäre, u n d er aus der Erfahrung der früheren Geister nichts gelernt hätte. A b e r die Er-Innerung hat sie aufbewahrt u n d ist das Innere u n d die i n der Tat höhere F o r m der Substanz. Wenn also dieser Geist seine Bildung, von sich n u r auszugehen scheinend, w i e der v o n v o r n anfängt, so ist es zugleich auf einer höhern Stufe, daß er anfängt 4 4 6 ." 446
Letzter Absatz der Phänomenologie des Geistes.
5.5 Verständigungsdialog
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Angenommen es verhalte sich m i t der „Arbeit höherer Ordnung" an Deiner zukünftigen Gesellschaft ungefähr so, wie ich es jetzt sehe, und nicht w i e die es sehen, die )yvon sich n u r auszugehen" meinen. Dann befinden w i r uns, wenn nach Deiner Zeitrechnung die proletarische Umwälzung stattfindet, nach meiner zyklischen Zeitrechnung ungefähr wieder i n dem Kapitel der Phänomenologie des Geistes, das von der „Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins durch sich selbst" handelt. N u r muß man sie i m H i n blick auf die neue Aufgabenstellung zu lesen verstehen und darf sich dabei an meiner Sprache nicht so sehr stören, daß sie einem den Weg versperrt zu dem, was ich zu sagen habe. Insbesondere w i r d der Leser dort zunächst mehr über die „negativen" Seiten der Arbeit finden als über die „positiven". Seinerzeit hattest D u allerdings noch so wenig Interesse am Problem der „ A r b e i t höherer Stufe", daß D u sie als „ r e i n geistige" Arbeit verkannt und verspottet und die vielen, vielen Stellen überlesen hast, i n denen von der „negativen" Seite auch dieser Arbeit die Rede ist. Obwohl D u ζ. B. zwei Absätze zuvor noch zutreffend „das Große" meiner Phänomenologie auch darin siehst, daß i n i h r die „Dialektik der Negativität" als bewegendes und erzeugendes Prinzip erkannt und dargestellt worden sei, hältst D u m i r wenige Sätze später vor, was D u auch eben angeführt hast: ich sähe nur die positive Seite der Arbeit, nicht auch ihre negative. U n d noch heute sehen Deine Nachfolger es so: Die gesellschaftlichen Fernwirkungen bei der Verwirklichung von Idealvorstellungen seien meist anders ausgefallen als erwartet oder erhofft; sie seien nicht i n der vorgestellten Weise realisierbar gewesen. „Der Gesetzmäßigkeit, die sich darin verbarg, kamen vor dem Proletariat und vor M a r x und Engels keine Klasse und kein Wissenschaftler auf die Spur 4 4 7 ." M.: Sollte ich und sollten meine Schüler lesenden Auges so b l i n d gewesen sein? H.: Jeder hat seine spezifischen Blindheiten; und es gehört dazu, daß er sie nicht kennt. Laß mich ein Beispiel bringen für die „negative Seite" der Arbeit höherer Ordnung: Der Kopf der proletarischen Emanzipation, schreibst Du, sei die Philosophie, i h r Herz das Proletariat. Dein Herz ist auf Seiten des Proletariats. So ist Deine Philosophie zwar Produkt Deines Kopfes, aber für den Arbeiter wie für Dich das Gesetz auch des Herzens? 447
Frank Rupprecht, Ideal und Wirklichkeit, Berlin 1971, S. 16.
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5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus
M.: D u verschiebst das B i l d etwas, aber so kann man es noch gelten lassen. H . : „Das Gesetz des Herzens hört eben durch seine V e r w i r k l i c h u n g auf, Gesetz des Herzens zu sein. Denn es erhält d a r i n (in der V e r w i r k lichung) die F o r m des Seins u n d ist n u n allgemeine Macht, f ü r welche dieses Herz gleichgültig ist, so daß das I n d i v i d u u m seine Ordnung dadurch, daß es sie aufstellt, nicht mehr als die seinige findet. Durch die V e r w i r k l i c h i m g seines Gesetzes bringt es daher nicht sein Gesetz, sondern . . . n u r dies hervor, i n die w i r k l i c h e Ordnung sich zu verwickeln, u n d zwar i n sie als eine i h m nicht n u r fremde, sondern feindliche Über-
macht 448."
M.: Ähnliche Gedanken darüber, daß die Philosophie bei ihrer Verwirklichung i n die Schäden verfällt, die sie bekämpft, habe ich i m Zusammenhang m i t meiner Dissertation gehabt 4 4 9 . — U m so eher hätte ich später die Phänomenologie i n diesem Punkte richtig verstehn müssen, wenn ich nicht ein Brett vor dem Kopf hatte. Was folgt daraus für die Praxis, i n der die Menschen unverbrettert miteinander verkehren sollen? Ein Mensch darf einen anderen nicht danach beurteilen, welche Vorstellungen die Sprache des anderen i n i h m beim ersten Lesen zum Klingen bringt. Dieses K l i n gen ist nur die Dissonanz, die man selbst zu den Noten des anderen komponiert. Man muß vielmehr versuchen, die Klänge zu vernehmen, die der andere i n sich hörte, als er seine Noten schrieb. Aber wie das? H.: Suche ich bei meiner geistigen Arbeit immer nur, wodurch ich mich von dem anderen unterscheide und w o r i n ich i h n widerlegen und i n welchem Punkte ich über ihn hinausgehen kann, u m i h n unter mir zu wissen, dann leiten mich immer nur meine eigenen Vorstellungen und Maßstäbe. Sie leiten mich nur immer wieder zu m i r selbst zurück. Sie verleiten mich dazu, das als den anderen Menschen anzusehen, was i n Wahrheit nur ein Fischzug durch meine eigenen an Geiste reichen oder armen Gewässer ist. Suche ich aber, w o r i n ich m i t dem anderen übereinstimme und was ich mit ihm gemeinsam habe, — suche ich also nach dem Allgemeinen i n uns, muß ich meine Vorstellungen zunächst beiseitelegen, u m für die des anderen buchstäblich auf-geschlossen zu sein. M.: Ich kann nicht i n die andere Haut schlüpfen. H.: Nicht reell, aber ideell. Nicht körperlich, aber geistig. D u bist m i t Deinen Sinnen i n die Haut des anderen geschlüpft, sobald D u aufrichtig und eindringlich nachvollzogen hast, daß der andere als 448
449
Phänomenologie. Glockner 2, 286 = Werke 3, 277.
MEW EB I S. 328 = Landshut S. 17.
5.5 Verständigungsdialog
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Mensch wie D u selbst diesen oder jenen Gedankengang aus seinem eigenen, menschlichen Bedürfnis heraus gedacht hat. Daher steht am Anfang des Hinhörens das ehrliche Eingeständnis, daß auch der andere ein Mensch ist m i t seinen Stärken und Schwächen. A u f dieser ersten Gemeinsamkeit kann man sich niederlassen und füreinander aufgeschlossen sein. Ich versuche dabei, nicht dadurch vorwärts zu kommen, daß ich den anderen zurückstoße, sondern dadurch, daß ich i h m entgegenkomme, mich neben i h n stelle und in die gleiche Richtung schaue, i n die er blickt und i n der er m i r etwas zeigen kann. Nur wenn ich i h m von Anfang an die K r a f t zugestehe, etwas erkannt zu haben, kann ich von dieser K r a f t Gewinn ziehen und aus seiner Erkenntnis lernen. M.: Deine Kraft ist die Dialektik. Was es m i r schwermachte, sie lebensvoll nachzuvollziehen, waren Deine Worte, hinter denen D u sie versteckt hast. H.: Wahrscheinlich würde ich heute zum Teil offener, zum Teil noch logischer und abstrakter schreiben. M.: Wie also kommt z.B. die Idee an den Anfang, wenn doch das Bewußtsein erst als Werk am Ende erscheint? H.: Zunächst einmal muß ich daran erinnern, daß mein „Geist" erscheinen muß, bevor die Philosophie sich m i t i h m beschäftigen kann. Und er erscheint auch bei mir wie bei D i r die ökonomische Entwicklung „zuerst als Bewegung auftretend, i n seiner natürlichen Gestalt; dann (erst) w i r d er reflektierend, geht über seine natürliche Gestalt hinaus, d. h. negiert dieselbe" 4 5 0 .
D u kannst durchaus die „natürliche Gestalt" meines Geistes m i t Deinem „Sein" und die „reflektierende" m i t Deinem „Bewußtsein" parallelsetzen. Dann zeigt sich, daß die Reihenfolge Sein-Bewußtsein von uns beiden i n gleichem Sinne betrachtet wird. Ich stimme ζ. B. v o l l und ganz zu, wenn D u schreibst: „Das Nachdenken über die Formen des menschlichen Lebens, also auch ihre wissenschaftliche Analyse, schlägt überhaupt einen der w i r k l i c h e n E n t w i c k l u n g entgegengesetzten Weg ein. Es beginnt post festum u n d daher m i t den fertigen Resultaten des Entwicklungsprozesses 4 5 1 ."
M.: Wenn demnach auch bei D i r das Sein am Anfang steht, kann ich meine Frage nur wiederholen: Wie kommt die Idee dorthin? H.: Durch den Zwang, den logische Erwägungen auf mich und auf meinen Begriff der Welt ausüben. U m D i r den Weg dieser logt450 451
Einleitung . . . (oben A n m . 34), S. 151. M E W 23 S. 89.
200
5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus sehen Notwendigkeiten zu zeigen, gehe ich noch einmal von Deinem Satz aus: „Das Sein bestimmt das Bewußtsein." Die Bestimmungen für das Bewußtsein finden sich demnach i m Sein. Auch die allgemeine Bestimmung zum Bewußtsein findet sich i m Sein. Das Bewußtsein ist also buchstäblich eine Bestimmung des Seins. M i t dem Sein ist demnach auch schon die Bestimmung zum Bewußtsein gegeben. Das Sein ist das Material, das i n sich diese Bestimmimg realisiert. Denke D i r die Bestimmung vom Anfang weg! — und es entfällt das Bewußtsein, das als Resultat herausgekommen ist.
M.: Nicht ganz, — es genügt, statt der Bestimmung zum Bewußtsein nur von der Möglichkeit auszugehen, daß das Sein bewußtes Sein hervorbringt. H.: Zugestanden, — aber Deine Geschichtstheorie wie meine sieht notwendige Entwicklungen vor. Wenn also Bewußtsein notwendig herauskommt, muß ich logisch zwingend eine unbedingte Bestimmung des Seins zum Bewußtsein annehmen. Aber ob nun „Bestimmung" oder „Möglichkeit" oder „Wahrscheinlichkeit": i n jedem Falle ist am Anfang eine Anlage des Seins, sich i n Sein und bewußtes Sein zu unterscheiden. M.: So kann man es sehen. H.: U m seine Bestimmung zum Bewußtsein zu realisieren, muß das Sein die Unterscheidimg zwischen Sein und Bewußtsein i n sich hervorbringen u n d manifestieren. Der Prozeß, i n dem dies geschieht, ist das Werden. Das Werden ist das Entstehen und Vergehen, das selbst nicht entsteht und vergeht. Seine Ausgangsbedingungen und Entwicklungsdeterminanten sind die Wahrheit. Nenne und buchstabiere sie, wie D u willst! Es ist nicht ganz einfach, ihr logisches Abstraktum zu begreifen. Vielleicht hätte ich nicht von „Idee" sprechen sollen, obwohl ich nicht ganz begreife, was daran falsch oder auch nur unzweckmäßig sein sollte: Was ist es anderes, was ich i m Kopf habe, als die Idee des Werdens und des Lebens? Und war dies, was ich i m Kopf habe und was sich darin nachträglich niedergeschlagen hat, etwas anderes, als ich es noch nicht i m Kopf hatte und als es nur eine Bestimmung des Seins war, die sich erst noch realisieren mußte? M.: Das genügt fürs erste. Große praktische Bedeutung scheint es jedenfalls nicht zu haben. Gleichwohl interessiert mich nun noch, ob es sich m i t der Kennzeichnung des Ganzen als „Geist" oder als „Subjekt" ähnlich verhält: Was als Resultat aus dem Prozeß her-
5.5 Verständigungsdialog
201
vorgeht, nämlich Bewußtsein, Subjektivität, Geist, das hatte er von Anfang an als Bestimmung, die i h n trieb, an sich? H.: So ist es, — ein Wortspiel: Der Geist-an-sich hat den Geist an sich. Aber man darf dabei nie vergessen, daß es nicht u m unbewegte Ausgangsbedingungen oder Ausgangsbestimmungen geht, sondern u m einen Prozeß und seine logische Struktur. U n d diese logische Struktur entspricht zum Teil der Struktur des Prozesses, i n der sich auch das einzelne menschliche Bewußtsein entwickelt: „Das K i n d ist an sich Mensch, hat erst an sich Vernunft, ist erst M ö g lichkeit der V e r n u n f t u n d der Freiheit, ist n u r so dem Begriffe nach frei. Was n u n so erst an sich ist, ist nicht i n seiner Wirklichkeit. Der Mensch, der an sich v e r n ü n f t i g ist, muß sich durch die Produktion seiner selbst durcharbeiten durch das Hinausgehen aus sich, aber ebenso durch das Hineinbilden i n sich, daß er es auch für sich w e r d e 4 5 2 . " —
Wer freilich meinen „Geist", wenn ich ihn als „Subjekt" beschreibe, nach dem kindlichen Vorbild des „lieben Gottes" m i t Bart und weißem Haar sich verbildlicht, fügt aus seiner einfältigen, logisch nicht geschulten Vorstellung etwas hinzu, wovon ich nie gesprochen habe: die Vorstellung von einem seit Urzeiten schon ergrauten und daher m i t ausgebildetem Selbstbewußtsein ausgestatteten pseudo-menschlichen Wesen. Diese unphilosophische Personifizierung gehört nicht meiner Philosophie, sondern dem gemeinen Bewußtsein an, das unfähig ist, von dem zu abstrahieren, was Eltern und Pastoren i n das kindliche Gemüt eingesenkt haben. M.: So erklärt sich auch Deine Sprache, wenn D u die Geschichte als einen Denkprozeß „des Geistes" vorführst? Das Denken, das i m Prozeß als Bestimmung angelegt ist, kommt hervor und erprobt sich praktisch gegen sein Anderes, — gegen das natürliche Leben? H.: „Der Geist ist das Denken überhaupt, und der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch das Denken 4 5 8 ." — Aber wenn das Denken i m Laufe der Geschichte i n allen Formen, die es hervorbrachte, erfährt, daß das allgemeine Sein i h m die Bälle immer wieder zurückschleudert, mit denen das Denken i h m beikommen wollte, indem es gegen das Andere vorging, begreift es den Prozeß langsam als ein Spiel, das es mitspielen muß, anstatt i m Prozeß einen Feind zu sehen, den es überwinden und tilgen w i l l . M.: Das muß klarer gesagt werden, wenn es nicht nur geglaubt, sondern begriffen werden soll. 462 463
Zusatz zu § 10 der Rechtsphilosophie. Glockner 7, 63 «= Werke 7, 61/2. Zusatz zu § 4 der Rechtsphilosophie. Glockner 7, 50 = Werke 7, 46.
5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus
202
H.: Ich werde weiter nach einer faßlicheren Darstellung suchen. — Zunächst aber ist noch zu Deiner Frage, wie die Idee an den A n fang komme, etwas zu ergänzen. F ü r mich ist die bisherige Geschichte der Menschheit nicht i n so scharfer Abgrenzung wie bei D i r bloße ,Vorgeschichte 4 , während derer das Sein das Bewußtsein bestimmt, sondern Geschichte des tätigen Bewußtseins der Menschen. Jedem Schritt des Bewußtwerdens geht zwar eine Etappe des Seins voraus, aber es folgt i h r auch jeweils eine Etappe, i n der das Sein die Spuren der jüngsten (wie der früheren) Bewußtwerdungsakte als deren Verwirklichungen an sich trägt. Z u diesen seinen Spuren i n der Geschichte hat das Bewußtsein jeweils einen Vorsprung. Auch bei Dir erreicht die Entwicklung einen Punkt, von dem an die menschliche Gesellschaft bewußt gestaltet werden soll: die proletarische Revolution, m i t der die Vorgeschichte der „naturgeschichtlich" bestimmten Menschheit endet. Ich nehme von Anfang an die menschliche Tätigkeit auch i n Bezug auf die gesellschaftlichen Verhältnisse als das, was sie ist: als bewußtes und gewolltes Handeln, — freilich als ein Handeln, das Überraschungen birgt und wie die produktive Arbeit bei D i r Rück-Schläge aus dem Sein aufs Bewußtsein m i t sich bringt. Trotzdem haben jeweils die Ideen einen Phasenvorsprung zu dem, was sie gewollt und ungewollt anrichten. W i r d dieser Phasenvorsprung der Ideen zum Inbegriff der Arbeit des Menschen an sich selbst (nicht als Individuum, sondern als Mitglied der Gattung) erhoben, so ergibt das einen Vorsprung für „die Idee". Auch auf diesem Wege kommt man ohne Not zur Idee als dem A n knüpfungspunkt. Lenin wußte wohl, w a r u m er schrieb: „Der Gedanke von der Verwandlung des Ideellen i n das Reale ist tief: sehr wichtig für die Geschichte. Aber auch i m persönlichen Leben des Menschen ist ersichtlich, daß hieran v i e l Wahres ist. Gegen den Vulgärmaterialismus. N B 4 5 4 . "
Noch klarere Einsichten i n die Dialektik sprechen aus den Sätzen eines weiteren großen Revolutionärs. Mao Tse-tung schreibt: „ Z u einiger richtigen Erkenntnis gelangt man oft erst nach einer vielfachen Wiederholung der Ubergänge von der Materie zum Bewußtsein und vom Bewußtsein zur Materie . . . Unter unseren Genossen gibt es viele, die dieses erkenntnistheoretische Prinzip noch nicht verstehen . . . Für sie ist eine solche, i m alltäglichen Leben oft zu beobachtende E r scheinimg des Sprungs, wie sich die Materie i n Geist u n d der Geist sich in Materie verwandeln kann, etwas Unbegreifliches 455 ." 454
Lenin, Werke, Bd. 38, S. 106; S. 204: Bewußtsein bildet die Natur ab und schafft sie auch. 456 Mao Tse-Tung, Vier philosophische Monographien, Peking 1968, S. 151 (Hervorhebungen von mir).
5.5 Verständigungsdialog
203
— etwas Unbegreifliches freilich nicht für Dich. Denn für Dich beginnt i n der Zeit der proletarischen Umwälzung die Epoche der bewußten Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse: der Übergang „von der Idee zum Sein", w i e Mao Tse-tung sagt, oder die „Verwandlung des Geistes i n Materie". M.: Vor der proletarischen Revolution besteht eine Gesellschaftsformation, „ w o r i n der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert". Und „die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d.h. des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht" 4 5 6 . H.: Das den der test
sind Wendungen aus Deinem „Kapital", die belegen, daß D u Grundgedanken der planmäßigen und bewußten Gestaltung gesellschaftlichen Verhältnisse nie aufgegeben hast. D u sagζ. B. 1845/46:
„Der Kommunismus unterscheidet sich v o n allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- u n d Verkehrsverhältnisse u m w ä l z t u n d alle naturwüchsigen Voraussetzun-
gen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpf der bisherigen Menschheit behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft 457." M i t der proletarischen Umwälzung kehrt sich für Dich der materialistische Satz: „Das Sein bestimmt das Bewußtsein", um i n den idealistischen Satz: „Das Bewußtsein bestimmt das Sein." Diese Umkehrung des materialistischen Verhältnisses des Seins zum Bewußtsein i n das idealistische Verhältnis des Bewußtseins zum Sein beginnt m i t Deinem Bewußtsein, das erstmals das Sein, wie D u sagst, „überbietet". I n diesem Moment erarbeitet es sich einen Phasenvorsprung, u m nach der Revolution ganz die gestaltende Führung zu übernehmen.
„ D a alles, was die Menschen tun, durch i h r e n K o p f muß, bevor es ausgeführt werden kann, müssen die Menschen nicht n u r i n der P r o d u k tion, sondern i n i h r e m gesamten Zusammenleben ihre Handlungen bzw. Zwecke ideell vorwegnehmen 4 5 8 ."
H.: So erhalten i n Deinem System die Ideen, die nichts anderes als Bewußtseins-Gestalten sind, zunächst einen Vorsprung und dann Selbständigkeit: Sie werden zum Demiurgen der Wirklichkeit. 458
457 458
M E W 23 S. 94 f.
MEW 3 S. 70 = Landshut S. 399. F. Rupprecht, oben Anm. 447, S. 16.
204
5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus Hierzu gibt es dann kaum noch Streit zwischen uns, es sei denn darüber, daß ich mich entschieden dagegen wehre, alle Bestimmungen der Produktions Verhältnisse i n der Zeit vor D i r als vom Sein zum Bewußtsein und alle i n der Zeit nach Deiner Revolution vom Bewußtsein zum Sein verlaufend zu begreifen. Die Wirklichkeit war seit Beginn der Geschichte der Akrobat, der Räder schlägt. Sie ist es heute noch und sie w i r d es bleiben. Es ist dies Räderschlagen selbst, das nun als solches bewußt geworden und begriffen ist und das daher jetzt bewußt und planmäßig i n den Begriff genommen werden kann und verfaßt werden muß.
M.: Zurück zur politischen Praxis der revolutionären Tat und notfalls Gewalt: Hier sind unsere Gegensätze unüberwindlich. H.: Ja und nein. Der Gedanke einer Tat, von dem das Bewußtsein erst gründlich infiziert ist, ist schon die Tat des Gedankens. Gedanken sind Taten i m Zustand der Mobilmachung. A u f dem Wege, den die jüngste Geschichte für mich eingeschlagen hatte, nämlich auf dem Weg zum Reich, standen zunächst Bewußtseinsschranken i m Wege, die zu unterwandern waren. Aber für den Augenblick, i n dem die Zeit reif geworden sein würde, die Reichsidee zum Volk zu tragen und ins Werk zu setzen, — für diesen Augenblick sowie für das selbstbewußte Dasein, die Verteidigung und die Ausbreitung des Reichs der Vernunft habe ich der tätigen Gewalt wahrscheinlich systematischer das Wort geredet als D u für die Revolution. Darin, einen Feind zu kreieren 4 5 9 , brauchen w i r einander nichts vorzumachen, höchstens insofern, als D u ihn beim Namen nennst, während ich das den Praktikern überlassen habe. Wenn mein Staat gereizt oder gekränkt wird, kennt er kein Pardon, und auf die einzelnen Menschen kommt es dabei nicht an. I h r einzelnes Bewußtsein ertrinkt i m Strom des allgemeinen Bewußtseins. Ihre Körper werden i m Krieg wie i n Deiner Stunde der Revolution zu gleichgültigen Hüllen, i n denen der Staat bzw. die Klasse voranschreitet und siegt oder geschlagen wird. Das Ganze w i r d verklärt durch die Sphärenmusik des Weltgerichts. Meine Philosophie des Krieges ist eine Theorie, die den Menschen darauf vorbereitet, ohne eigene Hemmungen i m Bewußtsein für den Staat zu töten und sich töten zu lassen. I m Punkt „praktischer Gewalt" brauche ich also von D i r wirklich nichts zu lernen. Ich habe das alles nur unauffälliger und subversiver vorgetragen. Ich 469
7, 494.
Hegel, Zusatz zu § 324 der Rechtsphilosophie, Glockner
7, 436 = Werke
5.5 Verständigungsdialog
205
habe es meinen Hörern und Lesern nicht i n die Ohren gehämmert, sondern eingeflüstert. M.: Dein freies Geständnis zeigt an: D u würdest heute nicht mehr so denken und schreiben. A n den Menschenopfern, die D u dem A l l gemeinen bringst, zeigt sich, daß meine K r i t i k Deines Staates als einer unheiligen Heiligengestalt ins Schwarze getroffen hat, — auch wenn ich damals diese Stellen Deiner Staatsphilosophie gerade nicht kritisiert, sondern i n meine Revolutionsphilosophie transponiert habe. H.: Das Bewußtsein ist nicht nur die Stätte des Leidens, der Besinnung und der Negation, sondern auch eine festverschlossene Lade, i n der die alten Gesetze und Gestalten, Kleinodien und Reliquien aufbewahrt werden. Je hartnäckiger das Schloß, desto größer die Versuchung oder der Zwang, es nicht durch List und Reden aufzuschließen, sondern m i t Gewalt aufzuschießen. — Damit w i r d freilich das Bewußtsein nicht befreit und umorganisiert, sondern nur die Menschen samt ihrem Bewußtsein werden geopfert. Beseitigst D u die Führer, bleibt immer noch das führungsbedürftige Bewußtsein der Unterdrückten und Geführten: und zwar haltbedürftiger denn je wegen der Unsicherheit, die damit einhergeht, daß sie den Halt an den gewohnten Kulissen verlieren. Hier, bei diesem Übergang von einem Knechtsdienst i n den nächsten oder i n selbständige Einordnung und Mitarbeit dürften auch die Probleme liegen, wenn das Proletariat beginnt, seine Gesellschaftsordnung bewußt zu gestalten und zu leben. Der Dienst i n einer Diktatur, und sei es die des Proletariats, ist jedenfalls kein gutes Training für Selbständigkeit und für selbstbeherrschte Freiheit. M.: Von dem mühseligen Prozeß, i n dem das „bürgerliche" Bewußtsein nach der Revolution überwunden werden muß, habe ich gelegentlich geschrieben. Es ist m i r auch klar: Das Bewußtsein ist die Bastille, i n der die Gedanken an Ketten liegen, welche die Taten gängeln. Es ist eine Festung, die mit Kanonen nicht zu brechen ist. U n d werden m i t Kanonen die Verhältnisse geändert, geht die A r beit am Bewußtsein erst los: Das Training i n Freiheit, Selbständigkeit und Menschlichkeit. H.: Es ist weit schwerer, die festen Gedanken i n Flüssigkeit zu b r i n gen, als das sinnliche Dasein! M.: Man muß nicht nur die Verhältnisse ändern, sondern die Werkzeuge i n die Festung des Bewußtseins hineinbefördern, m i t der sich die Gedanken selbst befreien können. Wenn ich Deiner Philosophie folgte, wäre das Selbstbewußtsein des Menschen das w i r k -
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5. Kapitel: Marx und sein dialektischer Materialismus samste Werkzeug zu diesem Zweck, — und zwar i m technischen Sinne: das sich-selbst-Wissen, u m an sich selbst arbeiten und sich selbst befreien zu können.
H.: Das „Selbstbewußtsein" kann nicht als Fertigware geliefert werden, sondern nur die Informationen, m i t denen es gebildet und geübt werden kann. Nicht zuletzt deshalb ist meine Philosophie eine Philosophie des Selbstbewußtseins. M.: Z u sehr. Das Selbstbewußtsein, wie D u es dann auch Deinem Staat zuschreibst, w a r so un staatlich wie der Verkehr unter Menschen und das Bewußtsein der Menschen unmenschlich sein kann. — Bevor die Gedanken aus ihrem Bewußtseinsgefängnis i n die Freiheit entlassen werden können, müssen sie also i n jeder Hinsicht resozialisiert werden (also gerade nicht verstaatlicht und an einen Pfosten angebunden werden, der eine A r t von Monopol für Vernunft und Sittlichkeit hat). Ein Bewußtsein, das an Ketten und Befehle, an Sachen und Fetische gewöhnt ist, muß sich erst wieder an Menschen gewöhnen. Sollen die Menschen in der Wirklichkeit auf menschlichen Wegen gehen, müssen sie in ihren Köpfen dekkungsgleiche Karten des sozialen Geländes m i t sich herumtragen. Sonst muß man sie an jeder Biegung oder Abzweigung führen und es kommt zu an sich vermeidbaren Zusammenstößen. Diese Karte des sozialen Geländes zu erstellen und ins Bewußtsein einzugravieren, ist nicht eine Sache der Gewalt, sondern der Geduld. Dafür brauchen w i r keine Sprengstoffexperten, sondern Experten des menschlichen Bewußtseins. H.: Deine Schüler und Schülersschüler werden Dich bei diesen Worten nicht wiedererkennen. Auch m i r fällt es schwer. M.: Ich bin noch ganz der alte. Hast D u nicht selbst gesagt: Je hartnäckiger das alte Bewußtsein, desto sicherer, daß es nicht aufgeschlossen, sondern aufgeschossen wird? Und wie hartnäckig ist das Bewußtsein?! H.: Vielleicht wächst die Wahrscheinlichkeit, das Bewußtsein auf zuschließen, wenn D u nicht nur m i t Mißtrauen und m i t der Peitsche hinter seinen Rücken, sondern m i t Vertrauen und m i t der Vernunft vor seine Augen trittst? Wer ist schon aufgeschlossen, wenn geschossen wird?! M.: Ich bin nicht so optimistisch. Die Zeit war knapp, ich mußte mich aufs Wichtigste konzentrieren. H.: Unerledigte Arbeit kann nachgeholt werden. —
5.5 Verständigungsdialog
207
I m Zusammenhang m i t dem Begriff der Arbeit hast D u die produktive Tätigkeit des Arbeiters m i t dem Schaffen einer Biene verglichen (wie auch ich übrigens die zunächst instinktartige Arbeit i m Zusammenhang m i t meinem „Werkmeister") 4 6 0 . M.: Ich erinnere mich nicht, ob ich damals gerade dort i n Deiner Phänomenologie gelesen habe, — es hätte eigentlich nahegelegen. Jedenfalls schrieb ich: „Was aber den schlechtesten Baumeister v o r der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle i n seinem K o p f gebaut, bevor er sie i n Wachs baut. A m Ende des Arbeitsprozesses k o m m t ein Resultat heraus, das bei Beginn desselben schon i n der Vorstellung des Arbeiters, also ideell vorhanden w a r 4 6 1 . "
H.: Nach der proletarischen Revolution setzt auch für Dich die bewußte Phase der Gesellschaftsgestaltung ein. Ich darf Deine Bienenfabel also variieren: „Was aber den schlechtesten Revolutionär v o r der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die neue Gesellschaftsordnung i n seinem K o p f gebaut, bevor er sie i n der Gesellschaft baut. A m Ende der A r b e i t k o m m t ein Resultat heraus, das bei Beginn der A r b e i t schon i n der Vorstellung des Revolutionärs, also schon ideell vorhanden war. W a r vorher nicht v i e l i m Kopf, k o m m t am Ende auch nicht v i e l heraus."
M.: I m Prinzip richtig, — aber wenn D u recht hast m i t Deiner Vermutung, daß die Entfremdungsprobleme der produktiven Arbeit auf höherer Ebene wiederkehren, kommt am Ende vielleicht etwas anderes heraus, als vorher ideell vorhanden war. Außerdem zwingt die Praxis m i t allen ihren geschichtlichen Ausgangsbedingungen und Gegebenheiten immer wieder zur Improvisation, die nicht ideell vorweggenommen werden kann. H.: Gleichwohl würde es mich nach meinem Fehlschlag m i t dem Reich reizen, m i t D i r zusammen nach den vernünftigen Vorboten i n der alten Gesellschaft zu suchen, die die neue ankünden. Vielleicht gibt es solche Vorboten, aus denen sich die Grundrisse oder Gestaltungskriterien der neuen Gesellschaft i m Kopf entwerfen lassen. Solange es an diesen Grundrissen fehlt, w i r d das Proletariat vielleicht seinen Gott des kapitalistischen Notstandes — die Diktat u r des Proletariats, erst einmal ins Werk gesetzt — nur wieder los unter ähnlichen Schwierigkeiten wie diejenigen, welche die Erneuerer i n Palästina einst m i t ihrem Gott des ägyptischen Notstandes hatten. 460 461
Hegel, Phänomenologie. Glockner 2, 531 = Werke 3, 508.
M E W 23 S. 193. Vgl. dazu L . Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion (Sämtl. Werke, Bd. 8), Leipzig 1851, S. 159: Werke, denen der Gedanke, der E n t w u r f vorausgegangen ist, — m i t dem Hausbau als Beispiel.
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5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus
M.: Beides: der geschichtliche Vergleich und die theologische Sprache, sind an den Haaren herbeigezogen. Hier handelt es sich u m Religion und Theologie, dort u m Wirklichkeit und Wissenschaft. Hier handelt es sich u m ein Hirngespinst, dort u m eine notwendige und systematische Revolution. Hör' auf m i t diesen Vergleichen! H.: Dort wie hier handelt es sich auch u m — Politik. Der „ H e r r " , dem Moses lauschte, sprach handfest vom Elend seines Volkes und von dessen Unterdrückung. Er hieß Moses, einen Ausweg zu betreten, und er bezeichnete sich als den Gott „Ich-werdesein"! — War Moses nicht vielleicht auch „ n u r " ein „Umsetzer und Übersetzer" der gesellschaftlichen Verhältnisse, i n denen er das Volk leiden sah, i n eine Sprache, m i t der er das Bewußtsein des Volkes erreichen, und i n eine Praxis, m i t der er i h m helfen konnte? Und wenn er Stimmen i n sich hörte, die i h n trieben, — wem sollte er sie zuschreiben? M.: Ein Gott ist definiert als etwas Ewiges, — wie übrigens Dein Staat als Reich insgeheim auch. Die Diktatur des Proletariats aber ist per Definition technischer Übergang. Die Auflösung dieser D i k tatur gegen die kapitalistische Not ist mit einprogrammiert. Schon aus diesem Grund taugt sie nicht wie „Gott" oder „Staat" zum Fetisch für moderne Pharisäer und Schriftgelehrte. H.: Stimmt theoretisch. — Ich schlage vor, daß w i r uns zum Schluß auf folgendes einigen: Es könnte ein Bedürfnis des Proletariats und der Menschen insgesamt sein, die menschliche Gesellschaft bewußt zu entwickeln und zu verwirklichen. Bewußt verwirklichen kann der Mensch nur, was er vorher i m Bewußtsein hat. Also muß es theoretisch dargestellt und mitgeteilt werden. Zunächst müssen die Bedürfnisse m i t Theorie abgespeist und insoweit auch zufriedengestellt werden. Erst dann kann die zweite Phase des Gesetzes zum Zuge kommen, das besagt, daß die Bedürfnisse der Menschen i n eigener Person die letzten Gründe ihrer praktischen Befriedigung sind. M.: Das hängt von den Ausgangsbedingungen ab. Wo ich nicht hörbar reden und lesbar schreiben kann oder übertönt werde, bleibt mir nichts als zu schießen, bis wieder geredet und geschrieben werden kann. — Die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, und die revolutionäre Theorie w i r d zur Gewalt, wenn sie die Massen ergreift. H.: Was der Geist der Massen sich wirklich zu eigen gemacht hat, das ist als Gewalt überflüssig.
5.5 Verständigungsdialog
209
U n d was D u noch nicht i n den Geist oder i n das Bewußtsein der Massen gebrachst hast, kannst D u nur m i t Gewalt gegen die Menschen erhalten, m i t einer Gewalt, die selbst Gewalt zu fürchten hat. A u f Gewalt bauen, heißt auf schwachen Grund bauen. M.: Die Wirklichkeit sieht anders aus. H.: Ich bezweifle das. Ehe D u die Waffe der K r i t i k theoretisch u m die K r i t i k m i t den Waffen erweitert hattest und noch ehe D u tiefer i n die K r i t i k der politischen Ökonomie vorgedrungen warst, hast D u einmal etwas niedergeschrieben, von dem ich heute gern wüßte, wie D u dazu stehst: „ W i r haben die feste Überzeugung, daß nicht der praktische Versuch, sondern die theoretische Ausführung der kommunistischen Ideen die eigentliche Gefahr bildet, denn auf praktische Versuche, u n d seien es Versuche in Masse, k a n n m a n durch Kanonen antworten, sobald sie gefährlich werden, aber Ideen, die unsere Intelligenz besiegt, die unsere Gesinnung erobert, an die der Verstand unser Gewissen geschmiedet hat, das sind Ketten, denen m a n sich nicht entreißt, ohne sein Herz zu zerreißen, das sind Dämonen, welche der Mensch n u r besiegen kann, indem er sich ihnen u n t e r w i r f t 4 6 2 . "
M.: Wie ich dazu stehe, ergibt sich daraus, was ich vom Bewußtsein als der Festung gesagt habe, die m i t Kanonen nicht zu brechen ist. — Ehe w i r uns trennen, mußt D u m i r aber auch eine — Deine! — Gretchenfrage beantworten: Wie hast Du's heute m i t dem Staat? H.: Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was w i r k l i c h ist, das ist vernünftig. Sehen w i r also zu! M.: Verhülle Dich nicht! H.: Was vernünftig dargestellt wird, das w i r k t ; und was als Vernünftiges w i r k t , bewirkt Vernunft. Stelle Menschlichkeit und Vernunft konkret dar, und Deine Darstellung w i r d wirken. Verfehlst D u Menschlichkeit und Vernunft schon i n der Darstellung, w i r d es sich i n der Wirklichkeit zeigen. D u hast die Verantwortung! Triffst D u Menschlichkeit und Vernunft, so w i r d sich auch das zeigen. M.: D u überschätzt die Wirkung von Worten. H.: D u die von Gewalt. Gewalt ist die Ziehmutter der Beschränktheit. Hat nicht meine Philosophie und haben nicht vor allem die Worte und Sätze meiner Logik i n D i r und durch Dich gewaltlos gewirkt? — und zwar gewirkt als ein Teil der gesellschaftlichen Verhältnis462
MEW 1 S. 108 ( = Landshut S. 154).
14 Suhr
210
5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus se, die Dich gemacht und durch Dich hindurch sich umgesetzt und übersetzt haben? D u hast bislang nur Deinen abstrakten Hegel ausgewertet und schon dieser gab D i r das dialektische A B C Deiner Weltanschauung. N i m m mich erst konkret! I n meiner Philosophie ist noch mehr Wirkstoff!
M.: Konkreter, Bitte! H.: Erst muß ich Deine Erkenntnisse und unser beider geschichtliche Erfahrung gründlich einarbeiten. Einstweilen zu Deiner Gretchenfrage nur dies: Die Göttlichkeit des entwickelten Staates gehört langsam der Geschichte an. Seine Organisation aber ist Gegenwart. Was von Vernunft und Gattungsleben an anderen Knoten als dem Staate konkret enth ü l l t und bestärkt oder ideell und praktisch festgemacht werden kann, kann und muß der Staat getrost entbehren. Wie ich erwartet habe, ist i n Staat, Gesellschaft und Politik die Religion als Weltanschauung gründlich zur Sprache gekommen, — f r e i l i c h etwas anders u n d v o r a l l e m v e r w i r r I i eher, als i c h es m i r
vorgestellt hatte. Es könnte sein, daß mein „Weltgeist" die derzeitigen Momente seiner Entwicklung auf höherer Stufe nun nicht mehr so deutlich i m zeitlichen Nacheinander zur Geschichte bringt, sondern zu gleicher Zeit nebeneinander i n Szene setzt: So wie i n der Parabel, die der weise Natan dem Sultan erzählt, die drei Ringe unter die Brüder, so sind heute i n der Welt die Weltanschauungen unter die Menschheit verteilt. Die Menschen wetteifern nun wirklich i n dieser Welt miteinander oder vielmehr gegeneinander u m den Beweis, wer die wahre Anschauung habe. Daß i n diesem Streit n u r weltliche Beweismittel zugelassen sind: das ist das Gesetz der Epoche, an deren umwälzender Geburtsstunde die Einsicht stand: Was wirklich ist, ist vernünftig. W i r werden sehen, welche Weltanschauung den besten Menschen produziert. M.: Keine, die nicht dialektisch ist! H.: Die Weltanschauungen, die so nebeneinander ins Werk gesetzt werden (oder vorhandenen Werken das Bewußtseinskorsett liefern), und zwar nach wie vor auch noch die nationalstaatlichen Leitideen, entfremden die Menschen einander: Und zwar zwischen den Staaten, soweit nationalstaatliche und weltanschauliche Ideologie einander decken (oder i m Sinne weltgeschichtlicher Sendung miteinander verknüpft werden), — sowie i n den Staaten selbst, soweit verschiedene Parteien verschiedene Ideologien propagieren und so Scheidewände zwischen den Menschen quer durch Familien-
5.5 Verständigungsdialog
211
und andere Gemeinschaften erzeugen. Kommen die Weltanschauungen nicht einander i n Richtung auf die Wahrheit und die Menschen näher, bleiben sich auch die Menschen untereinander fremd. U m ihrer Strukturen und Dinge im Bewußtsein w i l l e n behandeln die Menschen dann einander häufig selbst wie bloße Sachen, — und zwar je lieber ihnen ihre je eigenen Bewußtseinsdinge, desto unlieber sind ihnen die anderen Menschen, sofern sie nicht die gleichen Dinge i n ihrem Bewußtsein haben. M.: D u wirst das Bewußtsein der Menschen nicht ändern, wenn D u nicht die Verhältnisse veränderst. H.: Deine Veränderung der Verhältnisse bleibt so lange ein Leerlauf, wie D u nicht das Bewußtsein veränderst. M.: Ein Schulbeispiel für einen dialektischen Zirkel! Bei welcher Station i n diesen Z i r k e l praktisch eingegriffen werden kann, hängt von den Ausgangsbedingungen ab. H.: Ganz recht, — das wußte schon Schiller: „ . . . ist hier nicht vielleicht ein Zirkel? Die theoretische K u l t u r soll die praktische herbeiführen u n d die praktische doch die Bedingungen der theoretischen sein? A l l e Verbesserung i m Politischen soll von V e r edelung des Charakters ausgehen — aber w i e k a n n sich unter den E i n flüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln? M a n müßte also zu diesem Zweck ein Werkzeug aufsuchen, welches der Staat nicht hergibt, u n d Quellen dazu eröffnen, die sich bei aller p o l i tischen Verderbnis rein u n d lauter erhalten 4 8 3 ."
M.: D u hast leicht reden von Bewußtseinsveränderung, — und noch leichtsinniger ist es, die konstitutionellen „Kulissen" und ihre Bedeutung für das Bewußtsein zu unterschätzen. Was D u leichthin als „Rinde", „Oberfläche" oder als „ H a u t " abtust, aus der sich die Schlange des Lebens herauswinden kann, gleicht eher dem stützenden und schützenden Hohlskelett der Insekten, das ihre Evolution begrenzt. Also kommt es auf die objektivierten und institutionalisierten Formen des Zusammenlebens gerade an. Wenn nun Gott i n und zwischen den Menschen ist und sonst nirgends, wie spielt sich der wirkliche Gottesdienst ab, — welches ist seine institutionelle Logik? H.: Wie ist die klassenlose Gesellschaft verfaßt? M.: Es scheint, als stimmten w i r i m Problem zusammen. H.: Die zukünftige Dialektik des Werdens kann durchaus weiterhin instinktartig sein, — aber sie muß es nicht mehr sein. I n Deinem 483
u*
Schiller (oben A n m . 375) S. 37 (Neunter Brief).
212
5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus wie i n meinem System bricht eine neue Zeit der bewußten Gestaltung der Gesellschaft an. Der Mensch hat es in der Hand, ob er die urwüchsige Dialektik — die ökonomische wie die politische oder gesellschaftliche — i n eine bewußte Dialektik verwandelt, die sich i n menschlichen Formen hält und die er beherrscht, — oder ob er diese dialektische Seite seines Schicksals urwüchsig weitersprießen lassen w i l l . Es genügt freilich nicht, daß der Mensch es in der Hand hat, urwüchsigen Entwicklungsstößen der dialektischen Wirklichkeit m i t Bewußtsein zuvorzukommen, u m sie i n menschlichen Formen sich abwickeln zu lassen. Der Mensch muß vielmehr die Verfahren, i n denen der urwüchsigen Dialektik weitestmöglich zuvorgekommen werden kann, und den Willen, es zu tun, im Kopf haben: Entweder Bewußtsein, Selbstbeherrschung und Zähmung der Dialektik ins Menschliche, — oder Bewußtlosigkeit, Selbstherrlichkeit und Treibenlassen i m Studel der Prozesse. Der Mensch ist nunmehr mehr denn je, was er sein will — oder eben das Gegenteil von dem, was sein zu wollen, er unterläßt.
M.: Was heißt „gezähmte Dialektik"? — menschliche Dialektik? H.: Damit ist die Aufgabe umschrieben. Anregungen für ihre Lösung stecken w o h l am ehesten i n der Phänomenologie des Geistes, — auch wenn ich bezweifele, ob darin schon „alle Elemente der K r i t i k verborgen und oft schon i n einer weit den Hegeischen Standpunkt überragenden Weise vorbereitet und ausgearbeitet" sind 4 6 4 . M.: D u meinst: Weiter i n Richtung der Dialektik des Menschen durch den Menschen?
der
Anerkennung
H.: Genau das: Anerkennung des Menschen durch den Menschen als lebendiger Prozeß. M.: Die Formen dieses Prozesses dürfen sich aber nicht nur verlieren als subjektiv-ideelle Dunstgebilde i m nachgiebigen Reiche der Phantasie. Sie müssen als wahre, weil wirkliche Verfassung der Gesellschaft und als das herausgearbeitete Werk des Menschen geachtete und gelebte Wirklichkeit sein. Die Verfassung ist der objektivierte gesellschaftliche Mensch 465 , wie der einzelne die subjektive Seite des gesellschaftlichen Menschen ist. Das also ist die Aufgabe: Für alle Knotenpunkte i m Netz des gesellschaftlichen Umganges aller m i t allen müssen die Formen der Anerkennung erkannt, ent464
4βδ
Oben A n m . 422.
Vgl. MEW 1 S. 231 und 331 = Landshut S. 47 und 148.
5.5 Verständigungsdialog
213
wickelt, dargestellt und verwirklicht werden: Die Anerkennung des einen durch den anderen, des einen durch alle und aller durch den einen. Die Anerkennung der wenigen durch viele und der vielen durch die wenigen. Die Anerkennung aller durch alle. H.: Also bilde die einzelnen massenhaft i n der Praxis der Anerkennung aus! M.: W i r müssen an beiden Enden anfangen: am subjektiven wie am objektiven. — A n der Bewußtseinsverfassung und an der Gesellschaftsverfassung. Der Anfang am subjektiven Ende: Immer mehr Menschen müssen lernen, wissen und üben, daß i h r täglicher Umgang m i t dem jeweils wahren, w e i l wirklichen anderen Menschen der Prozeß ist, i n dem ein jeder kraft der Anerkennung, die er dem anderen zollt, mitarbeitet an der Produktion des Menschen durch den Menschen. Immer mehr Menschen werden dann den jeweils anderen Menschen anerkennen und so den allgemeinen Menschen hervorbringen. Immer mehr Menschen bringen kraft ihrer alltäglichen A n erkennung schließlich massenweise den Menschen hervor. I n tausendfachen Anerkennungsakten w i r d tausendfach der Mensch durch den Menschen produziert. Der Anfang am objektiven Ende: Jeder Knotenpunkt i m Netz des gesellschaftlichen Umgangs aller m i t allen w i r d nicht nur i n der blassen Theorie und Einbildung als Umschlagplatz für konkrete und wirkliche Anerkennung aufgefaßt, sondern jeder Knotenpunkt w i r d auch als Umschlagstätte wechselseitiger Anerkennung gesellschaftlich ver faßt. Dann entsprechen einander die Verfassung jedes einzelnen subjektiven Bewußtseins, das von den Formen der Anerkennung als von seiner gesellschaftlichen Natur geprägt ist, und die Verfassung der Gesellschaft, i n der die Menschen sich ihre gesellschaftliche Natur vergegenständlicht und objektiv gemacht haben. H.: Eine mühevolle und langwierige Arbeit für uns und für jeden einzelnen. Die massenhafte Anerkennung des Menschen durch den Menschen kommt nicht über die Gesellschaft wie ein Orgasmus aus einem urwüchsigen Prozeß. Sie ist vielmehr das stets gefährdete Werk täglicher menschlicher Anstrengung aller, deren Bewußtsein den Geist der Zeit und die Wirklichkeit der Gesellschaft ausmacht. M.: W i r haben das tiefe Bedürfnis der Menschen nach alltäglicher, wahrer, w e i l wirklicher Anerkennung auf unserer Seite. Dieses Bedürfnis ist auch die Kraft, es zu stillen. Der Gedanke der A n -
214
5. Kapitel : Marx und sein dialektischer Materialismus er kennung drängt nicht nur zur Wirklichkeit; die wirklichen Menschen drängen auch zur Anerkennung. Ich mache einen Anfang. Ich anerkenne Dich: Ich gestehe ein, daß ich mich D i r und anderen als Menschen nicht i n dem Maße aufgeschlossen habe, wie ich mich hätte aufschließen müssen, wenn m i r die Entfremdungsformen auch geläufig gewesen wären, die i m geistigen Verkehr und bei der geistigen Arbeit des Menschen am Menschen auftreten 465 * 1 . Indem ich diese Anerkennung aufrichtig ausspreche, bröckeln die unsichtbaren Mauern zwischen uns ab. Sie halten der Anerkennung des Menschen durch den Menschen nicht stand. Außerdem treten neben und hinter D i r aus dem H i n tergrunde der Geschichte, den ich die Vorgeschichte der Menschheit genannt habe, viele andere Menschen hervor und bezeugen m i r spontan ihre Solidarität bei der Arbeit an dem großen Werk des Menschen an dem Menschen. Indem ich anerkenne, sprechen sie durch die Bresche, die die Anerkennung zu ihnen schlägt, m i r ihre Anerkennung aus.
4«5a Diese Worte M a r x i n den M u n d zu legen, dürfte heutigen M a r x i s t e n gegen i h r Empfinden verstoßen, stimmt aber m i t seinem „inneren wesentlichen Bewußtsein" (vgl. oben bei A n m . 411) zusammen, welches zum Ausdruck k o m m t z . B . oben bei Anm.409 („Gesetzt, w i r hätten als Menschen p r o d u z i e r t . . . " ) u n d unten bei A n m . 534 ( „ . . . So sehr sind w i r wechselseitig dem menschlichen Wesen e n t f r e m d e t . . . " ) .
Dritter
Teil
Elemente einer dialektischen Verfassungstheorie A m Beginn dieser Untersuchung hatte die Frage gestanden, ob sich eine verfassungstheoretische Sprache organisieren läßt, m i t der i m heutigen Deutschland eine ergiebige Verfassungstheorie betrieben werden kann. Diese Aufgabe hatte auf dem Wege über einige Ausgangsüberlegungen dazu angeregt, zu Hegel und zu M a r x zurückzuspringen: Hegel und Marx waren nicht nur Zeugen, sondern haben m i t Hand angelegt bzw. Geist zugeschossen, als die weltanschaulichen Weichen für die letzten hundertfünfzig Jahre deutscher und nicht nur deutscher Geschichte gestellt wurden. Jetzt ist es an der Zeit, den Ertrag der bisherigen Bemühungen hereinzuholen. Zu diesem Zwecke führt der Weg dieser Untersuchung zurück i n die Gegenwart. Dabei werden die geschichtlichen Entwicklungen, die seitdem stattgefunden haben, übersprungen. A n sich gehörte es noch m i t i n diese Arbeit hinein, den Spuren des Hegeischen und Marxschen Geistes bis i n die Gegenwart genauer nachzugehen,— und zwar i m Hinblick auf die Vorstellungen, die Hegel und M a r x sich darüber gemacht haben. Doch überstiege eine solche geschichtliche Analyse weit den Rahmen des Möglichen. U m trotzdem i n die Gegenwart zurückzukommen, muß i n sie zurückgesprungen werden. Springt man i n die Gegenwart, t r i f f t man nicht nur auf viele Spielarten der Dialektik, sondern auch auf heftigen, positivistischen und k r i tisch-rationalen Widerspruch gegen sämtliche ihrer Erscheinungsformen. Dieser Widerspruch richtet sich gegen die Dialektik von Hegel ebenso wie gegen die von M a r x und gegen die neodialektischen Theorien. Bevor man demnach i n der Gegenwart m i t der Dialektik etwas anfangen kann, muß man sich m i t der gegenwärtigen K r i t i k an der Dialektik auseinandersetzen. Erweist sich die Dialektik dabei als das, was ihre entschiedensten K r i t i k e r i n i h r sehen: als modernisierter Aberglauben und als logischer Unsinn, bliebe für die Verfassungstheorie die Aufgabe, Reste der Dialektik, die i n der Rechts- und Staatslehre fortwirken, zu entschärfen. Erweist sie sich jedoch als unentbehrlich, muß m i t i h r eine dialektische Verfassungstheorie entwickelt werden.
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Elemente einer dialektischen Verfassungstheorie
V o n Vulgärmaterialisten (und nicht n u r von ihnen) bekommt m a n allerdings i m m e r wieder zu hören, eine D i a l e k t i k ohne Ökonomie gebe es nicht. D i a l e k t i k sei konkret, u n d zwar ökonomisch konkret, oder sie sei nicht. Das w i r d ζ. B. so ausgedrückt: „ A l s idealistische D i a l e k t i k ist sie die philosophische Verdoppelung der realen Verkehrung; als materialistische D i a l e k t i k Methode auf Widerruf, die m i t den Bedingungen ihrer Existenz verschwinden w i r d 4 6 6 . " Das hört sich so an, als sei die D i a l e k t i k bei Hegel oder doch wenigstens bei M a r x n u r eine Methode der Erforschung u n d nicht eine Sachgesetzlichkeit, oder eine Methode der ökonomischen K r ä f t e u n d Gegenkräfte, nicht aber eine allgemeine L o g i k sowohl der gesellschaftlichen Prozesse als auch der Theorien, m i t denen diese Prozesse erfaßt werden. Handelt es sich u m eine allgemeine Sachgesetzlichkeit, so drückt der zweite Halbsatz des Zitats n u r dies aus, daß die materialistische D i a l e k t i k m i t der Materie verschwinden w i r d . Das ist freilich nicht gemeint. Wenn aber die materialistische D i a l e k t i k so dauerhaft ist w i e die Materie, i h r letzter Grund, — wieso verschwindet dann die D i a l e k t i k m i t den ökonomischen Bedingungen, w i e sie i n M a r x ' K a p i t a l analysiert werden? Soll das heißen, daß der historische Materialismus vergeht während der dialektische Materialismus im übrigen besteht? Oder w i r d die materialistische D i a l e k t i k „widerrufen", u m einer anderen Platz zu machen, die m i t der vorhergegangenen doch dies gemeinsam hätte, eine Dialektik zu sein? D a n n gäbe es die D i a l e k t i k als eine generelle Struktur, die den Widerruf ihrer historischen Erscheinungsformen überlebte. Dies aber w i r d gerade bestritten. K u r z : Ich vermag (auch m i t Hilfe des weiteren Kontextes der Stelle, der nicht v i e l klarer ist als sie selbst) nicht nachzuvollziehen, inwiefern die D i a l e k t i k i m Zusammenhang des h i storischen u n d dialektischen Materialismus eine „Methode auf W i d e r r u f " u n d als solche etwas sein könnte, das nicht einmal n u r „aufgehoben", sondern verschwinden w i r d . M a r x j e d e n f a l l s h a t t e a n d e r e B e g r i f f e i m K o p f als v i e l e seiner h e u t i g e n A n h ä n g e r . E r h a t t e sich z . B . v o r g e n o m m e n , eine Dialektik zu schreiben, s o b a l d er mit der Ökonomie fertig g e w o r d e n w ä r e . „ W e n n ich die ökonomische Last schreiben. Die rechten Gesetze der allerdings i n mystischer Form. Es g i l t offenbar nicht notwendig, i h r überzustreifen!
abgeschüttelt, werde ich eine D i a l e k t i k D i a l e k t i k sind schon i m Hegel enthalten; gilt, diese F o r m abzustreifen 4 6 7 ." U n d es i m m e r u n d n u r die ökonomische F o r m
A u c h L e n i n sah d i e A u f g a b e n nach M a r x , w a s d i e D i a l e k t i k b e t r i f f t , ganz ä h n l i c h 4 6 8 : 466 Helmut Reichelt, Z u r logischen S t r u k t u r des Kapitalbegriffs bei K a r l M a r x , 4. Aufl., F r a n k f u r t / M . 1973, S. 81, dazu auch i n I. Fetschers V o r w o r t S. 10. 467 B r i e f an Josef Dietzgen v o m 9. 5.1868, M E W 32, S. 547: E i n nicht aufgefundener Brief, der von Dietzgen w ö r t l i c h zitiert w i r d (Kleinere philosophische Schriften, Stuttgart 1903, S. 101) u n d aus dieser Quelle auch von Lenin exzerpiert w u r d e (Werke, Bd. 38 S. 416 m i t 730.) Vgl. auch Brief an Engels aus dem Januar 1958, M E W 29, 260. 468 Lenin a.a.O. S. 137, 315, 160, 242.
Elemente einer dialektischen Verfassungstheorie „Die Fortführung des Werks v o n Hegel u n d M a r x muß i n der dialektischen Bearbeitung der Geschichte des menschlichen Denkens, der Wissenschaft u n d der Technik bestehen." „ I n der L o g i k muß die Geschichte des Denkens i m großen u n d ganzen m i t den Gesetzen des Denkens zusammenfallen." „ A l l e wissenschaftlichen (richtigen, ernst zu nehmenden, nicht unsinnigen) Abstraktionen spiegeln die N a t u r tiefer, richtiger, vollständiger wieder. V o n der lebendigen Anschauung zum abstrakten Denken und von diesem zur
Praxis — das ist der dialektische Weg der Erkenntnis der Wahrheit, der Erkenntnis der objektiven Realität."
„ W e n n sich alles entwickelt, bezieht sich das auch auf die allgemeinsten Begriffe u n d Kategorien des Denkens? Wenn nicht, so heißt das, daß das Denken m i t dem Sein nicht zusammenhängt. Wenn ja, dann heißt das, daß es eine D i a l e k t i k der Begriffe u n d eine D i a l e k t i k der Erkenntnis gibt, die objektive Bedeutung hat."
Und nach der Lektüre der Logik von Hegel schreibt Lenin: „Fazit u n d Resümee, das letzte W o r t u n d der K e r n der Hegeischen L o g i k ist die dialektische Methode . . . U n d noch eines: I n diesem idealistischsten Werk Hegels ist am wenigsten Idealismus, am meisten Materialismus. »Widersprechend 4 , aber Tatsache!"
Lenin hatte ein feines Gespür für die praktische Bedeutung richtiger Abstraktionen und wünschte sich daher eine Dialektik in nuce, von der er i n jede A r t von Praxis belehrt und bereichert zurückkehren konnte. U m so eigenartiger, wenn man sich heute ausgerechnet von Gesprächspartnern, die sich für leninistisch geschult halten, immer wieder Vorhaltungen anhören muß, wenn einmal die Dialektik abgehandelt wird, ohne daß die Gebetsmühle des politökonomischen Katechismus abgespult wird. Wer freilich nur nach einer ökonomischen Dialektik sucht, w i r d schwerlich eine andere finden. Dafür sorgt der fixe Horizont seiner kognitiven Erwartungen. Damit dann aber seine allgemeine Theorie noch m i t seinen wirklichen Funden zusammenstimmt, darf es keine andere als eine ökonomische Dialektik geben. So verschwindet die Dialektik weniger m i t den Bedingungen ihrer Existenz, als vielmehr hinter dem Horizont der kognitiven Erwartungen. Ungeachtet der Einwände gegen die nachfolgenden Ausführungen zur Dialektik, die so sicher (und aus vergleichbaren Gewohnheiten heraus) kommen werden, wie das Amen i n der Kirche, kann daher getrost dazu übergegangen werden, von Dialektik zu reden, wie sie auch dann noch sein wird, wenn die Bedingungen verschwunden sind, unter denen viele Köpfe nur die Wahrnehmung ökonomischer Dialekt i k erwarten.
6. Kapitel Dialektik und kritischer Rationaliemus A n dieser Stelle könnte nun eine Wiedergabe des Standes i m „Positivismusstreit" 4 6 9 u m die richtige Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie folgen samt einem Versuch, sich über die Meinungen, die darin vertreten werden, zu erheben, um sie zu begutachten. Damit würde jedoch der Leser ohne Not gelangweilt: Kennt er den inzwischen schon fade gewordenen Streit, findet er nur Aufgewärmtes. Kennt er i h n nicht, erhält er nur verkürzte Argumente aus zweiter Hand, die ein schlechtes Fundament für seine Meinungen über meine Meinungen zu den „Meinungen" abgeben, die i m Streit miteinander sind. Stattdessen möchte ich mich m i t einem Repräsentanten der K r i t i k an der Dialektik auseinandersetzen, — und zwar i n der Form, daß dabei ein i n sich abgeschlossener Gedankengang 470 mitgeteilt und eine Methode angewendet wird, deren Schrittfolge hier oder dort auch für den Kenner des Positivismusstreites einige Informationen enthält. 6.1 Wider-Spruch gegen die Dialektik Wenn Popper „hundert verschiedene Angriffe" gegen die „falschen Propheten" führt und dabei „kein Blatt vor den M u n d " n i m m t 4 7 1 , — wenn er m i t Herz und Verstand, Temperament und Kampfeslust sowohl dem Historizismus i m allgemeinen wie auch den dialektischen Geschichtstheorien i m besonderen aus ganzer Überzeugimg kräftig widerspricht, so lacht dem echten Dialektiker das Herz i m Leibe. Denn er findet i n Popper einen wahrhaftigen und wirklichen, lebendigen 469 Der Positivismusstreit i n der deutschen Soziologie. Hrsg. v o n H. Maus / F. Fürstenberg, Neuwied u n d B e r l i n 1969. 470 Inzwischen hat Rüdiger Bubner auf einige der Verwandtschaften z w i schen dem kritischen Rationalismus u n d der D i a l e k t i k hingewiesen, die hier erörtert werden: D i a l e k t i k u n d Wissenschaft, F r a n k f u r t 1973, S. 129 ff. Vgl. unten A n m . 525. 471 Selbstzeugnisse i n einem Brief Poppers, abgedruckt bei C. Grossner, V e r f a l l der Philosophie, H a m b u r g 1971, S. 278 - 289, u n d auszugsweise unter dem T i t e l „ W i d e r die großen Worte" i n D I E Z E I T Nr. 39 v. 24. 9.1971. — „Falsche Propheten. Hegel, M a r x u n d die Folgen", ist der T i t e l des 2. Bandes der deutschen Ausgabe von Poppers ,Die offene Gesellschaft u n d ihre Feinde 4 , Bern u n d München, 2. Aufl., 1970.
6.1 Wider-Spruch gegen die Dialektik
219
u n d unerschrockenen Zeugen für die grundlegende dialektische Erkenntnis: „Das gesellschaftliche Sein ist i n sich widersprüchlich." Also muß nach wie vor auch das Modell von diesem gesellschaftlichen Sein i n sich selbst Platz haben für Wider-Sprüche; denn „die Frage nach dem dialektischen Widerspruch ist die Frage nach einem plausiblen Modell der W i r k l i c h k e i t 4 7 2 . " Das dialektische Modell der menschlichen Gesellschaft hat Platz für Wider-Sprüche. Daher begrüßt der Dialektiker vergnügt i m Wider-Spruche einen guten alten Bekannten und kann i h m Platz anbieten. Indem dieser alte Bekannte seinen Besuch ankündigt, bestätigt er: Der Wider-Spruch ist wirklich. Also hat auch Hegel w o h l immer noch recht, wenn er meint: „Es ist aber eines der Grundvorurteile der bisherigen Logik und des gewöhnlichen Vorstellens, als ob der Widerspruch nicht eine so wesenhafte Bestimmung sei als die Identität; j a wenn von Hangordnung die Rede und beide Bestimmungen als getrennte festzuhalten wären, so wäre der Widerspruch als das Tiefere und Wesenhaftere zu nehmen. Denn die Identität i h m gegenüber ist nur die Bestimmung des einfachen Unmittelbaren, des toten
Seins; er aber ist die Wurzel
aller Bewegung und Lebendigkeit; nur inso-
fern etwas i n sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit 4 7 3 ."
Und auch Lenin hatte w o h l recht, wenn er diese Sätze aus Hegels Logik herausschrieb, wenn er die oben wiedergegebenen Hervorhebungen hinzufügte und i n seinem Exzerptheft die Stelle durch fünf senkrechte Striche am Rande hervorhob 4 7 4 . Die A r t und Weise nämlich, wie die Dialektik m i t dem Wider-Spruche umgeht und sich i h m aufschließt, ist die Nagelprobe für ihre eigene Wahrhaftigkeit und W i r k lichkeit: und zwar sowohl i n der wissenschaftlichen Auseinandersetzung als auch i n der gesellschaftlichen und politischen Praxis. Der Wider-Spruch ist also wirklich; und was w i r k l i c h ist, das ist vernünftig. Richtet sich ein scharfsinniger Wider-Spruch gegen die Dialektik selbst, so offenbart dieser Wider-Spruch insbesondere, daß sie den Wider-Spruch gegen sich selbst noch nicht deutlich genug i n sich eingemeindet hat: nämlich den Wider-Spruch, der i h r selbst zur eigenen Verbesserung u n d Vervollkommnung verhelfen muß. Die Dial e k t i k erweist ihre Stärke sodann dadurch, daß sie von ihren Platzreserven für Wider-Sprüche Gebrauch macht. Es ist nicht so, daß sie die Wider-Sprüche, die gegen sie vorgebracht werden, etwa m i t einem Willkommensgruß: „ U n d w a r u m nicht?" zugleich begrüßt und neutra472
S. 11. 473
474
Gottfried
Stiehler,
Der dialektische Widerspruch, 2. Aufl., Berlin 1967,
Hegel, Logik. Glockner 4, 564 = Werke 6, 75. Lenin, Werke, Bd. 38, S. 129.
220
6. Kapitel: Dialektik und kritischer Rationalismus
lisiert 4 7 5 . I m Gegenteil: Ihre Fundamente sind fest und hart genug, auch diese Wider-Sprüche ernst zu nehmen und als das hereinzulassen, was sie sind: als wirkliche Wider-Sprüche. Solange die Dialektik nicht an Arterienverkalkung dahinsiecht und solange sie nicht auf das Gesetz verzichtet, nach dem sie angetreten ist, — solange sie also ihren Geist noch nicht aufgegeben hat, r u f t sie ihren ernsthaften K r i t i k e r n gelassen zu: „Geist von meinem Geist, — t r i t t ein und w i r k e ! " Vielleicht kann man sogar sagen, daß Hegel der erste war, der i m Gespräch m i t Goethe das Programm eines kritischen Rationalismus i n Umrissen formuliert (und daß Goethe der erste war, der die Gefahr eines dialektischen kritischen Rationalismus zur Sprache gebracht) hat. Eckermann berichtet: „Sodann wendet sich das Gespräch auf das Wesen der Dialektik. ,Es ist i m Grunde nichts weiter', sagte Hegel, ,als der geregelte, methodisch ausgebildete Widerspruchsgeist, der jedem Menschen inwohnt, u n d welche Gabe sich groß erweiset i n Unterscheidung des Wahren v o m Falschen 4 . ,Wenn nur', fiel Goethe ein, ,solche geistigen Künste u n d Gewandtheiten nicht häufig gemißbraucht u n d dazu verwendet würden, u m das Falsche w a h r u n d das Wahre falsch zu machen!' dergleichen geschieht wohl', erwiderte Hegel, ,aber n u r von Leuten, die geistig k r a n k sind'. ,Da lobe ich mir', sagte Goethe, ,das S t u d i u m der Natur, das eine solche K r a n k h e i t nicht aufkommen läßt! . . . Auch b i n ich gewiß, daß mancher dialektisch K r a n k e i m S t u d i u m der N a t u r eine wohltätige Heilung finden könnte' 4 7 6 ."
Bei der folgerichtigen Ausbildung dieses Programms eines „geregelten, methodisch ausgebildeten Widerspruchsgeistes" zu einem dialektischen System durch Hegel muß man heute bedenken, daß er es m i t den logischen und sprachwissenschaftlichen M i t t e l n bewältigen mußte, die vor 150 Jahren zur Verfügung standen, und daß er trotzdem Stufen der SeZbstreflexion durchlaufen und ins System eingearbeitet hat, die der moderne kritische Rationalismus zumindest teilweise noch vor sich hat. Popper sieht durchaus „oberflächliche" Ähnlichkeiten zwischen seinen u n d Hegels Konzepten 4 7 7 . Ich glaube, die Vergleichbarkeiten reichen tiefer, w e n n man Poppers Drei-Welten-Theorie etwas genauer ansieht u n d m i t Hegels D i a l e k t i k vergleicht. Die drei „Welten" sind: 1. objective world of
material things; 2. subjective world of minds ; 3. objektive knowledge. Sie
475 Popper , Was ist Dialektik? i n : E. Topitsch (Hrsg.), L o g i k der Sozialwissenschaften, K ö l n u n d B e r l i n 1968, S. 267. 476 Fischer, Hegels Leben I I , S. 1228; Goethes Gespräche m i t Eckermann, hrsg. v. F. Deibel, Leipzig 1921, S. 375. 477 Karl R. Popper, Objektive Knowledge. A n Evolutionary Approach, Oxford 1973, S. 126.
6.1 Wider-Spruch gegen die Dialektik
221
sind untereinander kausal so verknüpft, daß die zweite Welt m i t beiden anderen i n Beziehung steht. Die zweite Welt fungiert als Vermittler (mediator) zwischen der ersten u n d der dritten Welt. Insbesondere steht die zweite Welt (von der Popper auch i n der W i r - F o r m spricht) i n Wechselw i r k u n g m i t der dritten: „We constantly act upon i t and are acted upon by i t : i t is autonomous i n spite of the fact that i t is our product and that i t has a strong feed-back effect upon us 4 7 8 ." Popper betont (gegenüber Hegel) den Pluralismus dieser drei-Welten-Theorie. „ P l u r a l " ist diese Theorie j e doch n u r solange, wie man die drei Welten gewissermaßen nach der A r t von Momentaufnahmen betrachtet, i n denen die Wechselwirkungen sich nicht i n den Vordergrund drängen können. Denkt man sich die drei Welten h i n gegen durch eine Kamera betrachtet, die alles Ruhende unterschlägt u n d nur die Bewegungen zeigt, kann man auf die Idee verfallen, i n diesen Wechselwirkungen zwischen den drei Welten eine vierte Welt zu sehen oder doch einen Fluß von Wirkungen, durch den die drei Welten Poppers zu einer Drei-Welten-Welt zusammengeschlossen werden, wobei der Schluß vermittelt w i r d durch die zweite Welt. Das ist ein unausgesprochener Monismus i n Poppers Theorie selbst. Wenn der Zusammenhang der drei Welten zu einer Welt erst einmal bewußt geworden ist, drängen sich sofort viele weitere Parallelen zu Hegel auf, die ich i n der Terminologie (zusammengeschlossen, Schluß, Vermittlung, Wechselwirkung) bereits angedeutet habe. N i m m t man hinzu, daß Popper den Menschen als i n dem Ganzen miteinbegriffen sieht (part of nature)* 79, fehlt nicht mehr viel zum „absoluten Wissen", nämlich nur noch eine Selbstreflexion etwa folgender A r t : Popper als ein Teil der Drei-Welten-Welt, der m i t subjective mind begabt ist, beobachtet diese seine Situation i n der Welt, deren Modell er i m Kopf hat. Da kommt i h m noch einmal sein Wort „mediator " i n den Sinn und er verfällt auf folgende Erwägung: Diese Drei-Welten-Welt, der er angehört, hat in ihm Augen, durch die sie sich selbst betrachtet. Er ist i h r Vermittler, durch den sie sich selbst erkennt, — durch den sie Wissen von sich erwirbt und durch den sie sich selbst bearbeitet. B i n ich nun, fragt er sich, i h r Werkzeug oder ihre tätige Spitze? — Selbstverständlich bleiben auch neben dieser auf Poppers drei Welten aufgepfropften Reflexion noch sehr erhebliche Differenzen zwischen Hegel und Popper. 150 Jahre Entwicklung auf den Gebieten der Logik, der Erkenntnistheorie u n d der Technik hinterlassen Spuren (insbesondere Poppers eigener Beitrag zur Forschungslogik). Es verbleibt Poppers Hauptvorwurf, Hegels „objektiver Geist" lasse den Individuen keinen Spielraum, nichts Schöpferisches: „What I have called the autonomy of the t h i r d world, and its feed-back effect, becomes w i t h Hegel omnipotent 4 8 0 ." Sätze bei Hegel können zu dieser K r i t i k i n der Tat herausfordern. Ist es aber nicht doch bedenkenswert, wenn Hegel sagt, große Individuen verwirklichten, was die Zeit bereithält, u n d nicht (muß man ergänzen), wofür sie weder Zuhörer noch Gefolgschaft finden, w e i l es unzeitgemäß ist? Wie groß ist der Spielraum des einzelnen an der W e r k bank der Geschichte? U n d w i r d ihm, wenn er etwas unternimmt, nicht häufig sein Werk „verkehrt"? „Nothing ever comes off exactly as intended 4 8 1 ." Schließlich t r i f f t es auch nicht zu, daß der „objektive Geist" — wie es i n Poppers K r i t i k angenommen w i r d — eine subjektfreie u n d tote Ob478 479 480 481
S. 112. S. 184. S. 125. Karl. R. Popper, Conjectures and Refutations, London 1965, S. 124.
222
6. Kapitel : Dialektik und kritischer Rationalismus
j e k t i v a t i o n ist. Er ist vielmehr das objektive Erscheinen eines Prozesses, i n den die Menschen (einschließlich desjenigen, der darüber nachdenkt) m i t einbezogen sind: also ein Prozeß von Wechselwirkungen zwischen Poppers „Welten", entsprechend Poppers Gefügen von intensiven Rückkopplungsbeziehungen zwischen seinen Welten. Der objektive Geist Hegels ist k a u m sehr v i e l etwas anderes als das, was Popper die W i r k l i c h k e i t aller drei Welten („the objective reality of a l l three w o r l d s " 4 8 2 ) nennt. U n d solche Wechselwirkungen meint Hegel bekanntlich auch, w e n n er von der „ N o t wendigkeit" spricht u n d (im Gegensatz zur blinden Notwendigkeit geradlinig-kausaler Determinanten) die Schleifen („Schlüsse") der Wechselwirkungen ins Auge faßt. Dementsprechend schließt die Geschichte der Philosophie m i t der (selbstreferenziellen) Selbsterkenntnis des Geistes: Tantea molis
erat, se ipsam congnoscere mentem. Dieser Selbsterkenntnis
entspricht i n
der Philosophie der Geschichte die Selbstgestaltung: die fernere „ A r b e i t " , welche nach der Selbsterkenntnis noch aussteht. Festgelegt ist dabei n u r die „Notwendigkeit" als selbstreferenzielle L o g i k der Selbsterkenntnis u n d Selbstbearbeitung des Geistes, die von der Schleifenlogik der Popperschen Rückkopplungsbezüge sich vor allem dadurch unterscheidet, daß sie längst konkreter u n d geschichtsnäher erfaßt ist als die dialektischen Anfänge des späteren Popper. — Doch zurück zum eigentlichen Gedankengang dieses Abschnitts: zum Wider-Spruch.
Der Begriff „Wider-Spruch" w i r d hier zunächst i m wörtlichen Sinne verstanden. Soll ein solcher wirklicher Wider-Spruch auf sozialwisenschaftlicher Modellebene repräsentiert werden, so müssen auch auf dieser Ebene wie i n der Wirklichkeit ζ. B. Spruch und Wider-Spruch, Rede und Wider-Rede einander gegenüberstehen. Auch diese Gegenüberstellung von Rede und Wider-Rede auf symbolischer Ebene darf ohne SinnVerfälschung als ein „Wider-Spruch" oder jetzt besser als „Widerspruch" bezeichnet werden. Was gemeint ist, ergibt sich aus dem Kontext. — Dieser Widerspruch ist freilich noch nicht der Widerspruch, von dem es i n der üblichen Logik heißt, er sei ausgeschlossen. Denn hier ist zunächst nur von einem Modell die Rede, noch nicht von Logik. Nun interessiert allerdings die moderne Logik i n den Sozialwissenschaften selbst nur insoweit, wie sie i m Zusammenhang der Hypothesenbildung und bei der Ableitung von Folgerungen aus sozialwissenschaftlichen Sätzen Modellfunktionen innerhalb von Theorien erfüllt und insbesondere Ereigniszusammenhänge repräsentiert. Modelle, i n denen der Widerspruch zugelassen würde, heißt es, seien absurd und nutzlos, w e i l sich alles und nichts aus ihnen deduzieren ließe. A u f der anderen Seite braucht man aber, um eine Wirklichkeit zu modellieren, i n der Wider-Sprüche vorkommen, ein Modell, das sie als Ausgangsgegebenheiten aufnimmt. („Die Dialektik ist ein Rest altertümlichen Aberglaubens!" — „Die Dialektik ist kein Rest . . . " . ) Und man braucht eine Grammatik für dieses Modell, die es gestattet, sinnv o l l und korrekt m i t den symbolischen Repräsentanten der wirklichen 482
a.a.O. (oben A n m . 477) S. 156.
6.1 Wider-Spruch gegen die Dialektik
223
Wider-Sprüche zu operieren. Was nun diese Grammatik oder Syntax oder Logik des Modells betrifft, hat der Wider-Spruch, von dem hier die Rede ist, durchaus seine Parallele zum „ausgeschlossenen" Widerspruch der Logik, — und wahrscheinlich ist die Verwandtschaft bzw. Komplementarität der beiden noch sehr viel tiefreichender, als hier ohne formal-logischen Aufwand angedeutet werden kann. Der „ausgeschlossene" Widerspruch w i r d also mitnichten vom Tisch gewischt. Es ergeben sich vielmehr zusätzliche logische Probleme, die Modelle betreffen, die Wider-Sprüche i n sich aufnehmen müssen. Die Grammat i k dieser Modelle muß es gestatten, die A r t und Weise zu modellieren, i n der Wider-Sprüche aufkeimen und vorgetragen sowie ausgetragen oder „vermittelt" werden. Da es sich letztlich auch u m eine Sprache handelt, i n der Rede und Widerrede (also insbesondere wiederum Sprachen) besprochen werden, geht es u m eine A r t von Sprachenschachtelung, i n der verschiedenartige Wider-Sprüche auftreten und zur Wirkung kommen können (inner- und zwischensprachliche). Der Dialektiker macht sich einen ernsthaften Wider-Spruch zu eigen, indem er dem Sprecher, der i h n vorträgt, i n sich selbst ein Forum schafft und für i h n die Vermutung wirken läßt, daß er recht habe. Oder umgekehrt: Der Dialektiker muß „ i n die K r a f t des Gegners eingehen und sich i n den Umkreis seiner Stärke stellen; i h n außerhalb seiner selbst angreifen und da recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht" 4 8 3 . Spricht der K r i t i k e r : „Deine Sprache ist neblig und nichtssagend. Sie öffnet dem Mißbrauche Tür und Tor", — so hat der Dialektiker i n sich zu gehen und sich bzw. seine Sprache zu wandeln. Da die Dialektik die Logik der Veränderung selbst ist, braucht er keine Furcht davor zu haben, dabei seine Identität einzubüßen. I m Gegenteil. Er sollte jede Gelegenheit nutzen, sich i n den Jungbrunnen der Veränderung stoßen zu lassen; denn erst i n der Veränderung erfährt er, daß und inwiefern er sich i m Wandel gleichbleibt. Genügt die sprachliche Hülle, i n der die Dialektik auftritt, nach anderthalb Jahrhunderten nicht mehr den Anforderungen, muß sie sie abstreifen und i n eine andere, jüngere schlüpfen. Die Schwierigkeiten der Dialektiker m i t ihrer Sprache sind so alt wie Hegels Dialektik selbst. Schon 1803 i n Weimar sannen Goethe und Schiller 4 8 4 darauf, wie sie Hegel zu einer besseren Darstellung seiner Gedanken bringen könnten. Auch Hegel selbst wußte sehr wohl, „daß auf eine sublime A r t unverständlich zu sein leichter ist, als auf eine schlichte Weise verständlich" 4 8 5 , — besonders wenn das Alltägliche, 488 484 485
Oben A n m . 78. Fischer S. 1205; Hegel i n Berichten, S. 54. Briefe 1176.
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6. Kapitel: Dialektik und kritischer Rationalismus
zu dem jeder schon seine festen Vorstellungen hat, i n abstrakter Form vorgetragen werden soll, u m seine Grammatik erkennen zu lassen. Wenn die Philosophie sich daran macht, das „Gang und Gäbe" zu erfassen, hat sie noch die „Scheidewand zwischen der Terminologie der Philosophie und (der Terminologie) des gewöhnlichen Bewußtseins" zu durchbrechen 486 . Ist ihr das noch immer nicht gelungen, muß sie erneut versuchen, ihren Mangel zu beheben. Zur „Scheidewand" zwischen Dialektik und gewöhnlichem Bewußtsein kommt hier ganz konkret die Scheidewand zwischen i h r und dem kritischen Rationalismus hinzu. U m diese Wand zu durchbrechen, empfiehlt sich ausnahmsweise einmal eine Radikalkur, — „ausnahmsweise", w e i l terminologische Eigenwilligkeit und Eigenbrödelei normalerweise mehr schadet denn nutzt und neue Scheidewände erzeugt. Hier jedoch scheint sich angesichts der harten Sprachkritik kein anderer Ausweg mehr anzubieten als der, die dialektische Sache von anderen Ausgangspunkten als üblich und m i t anderen Begriffen, als sie sonst vorgetragen wird, zu entwickeln. Da es sich bei der Dialektik u m logische Strukturen (Syntaxfragen) handelt, kommt es auf die Vokabeln, die für die Beschreibung benutzt werden, nicht i n erster Linie an. Sie können vielmehr so gewählt werden, daß sie die Vernetzung m i t den sozialwissenschaftlichen Sprachen erleichtern. So soll i m Folgenden zwar versucht werden, ein Netzwerk dialektischer Begriffszusammenhänge zu organisieren, das auf eigenen Unterlagen ruht und die Gefahr verringert, i n den Assoziationsgeleisen der üblichen dialektischen Terminologie hängen zu bleiben. Aber die Worte werden dabei nicht eigenwillig ausgewählt, sondern aus anderen Kontexten herausgenommen, die ihrerseits dialektische Zusammenhänge aufweisen und daher mit der Terminologie zugleich Beispiele abgeben. Außerdem soll hier, u m hart am kritischen Anlaß der Sprachverbesserung zu bleiben, ein Ausgangspunkt gewählt werden, den die Dialekt i k sich von ihrem K r i t i k e r Popper vorgeben läßt. Das hat zur Folge, daß die Auseinandersetzung Sprecher-bezogen und i n diesem Sinne persönlich w i r d : Beim Ausgangspunkt eines anderen anknüpfen, heißt, teilweise bei i h m selbst anknüpfen. Das gleiche g i l t von den Maßstäben 487. Je eindringlicher und genauer bei den Ausgangspunkten und Maßstäben eines anderen angeknüpft wird, desto größer ist allerdings auch die Gefahr, daß sich i n seinen Gedanken selbst wieder Mängel finden, die zu importieren für die Dialektik nicht ratsam ist. Indem einem kritischen Sprecher innerhalb der Dialektik Plätze angeboten 486
Aphorismus. Werke 2, 558. Popper schreibt, die Neodialektiker hätten keine Maßstäbe (bei Grossner a.a.O. S. 282). Es empfiehlt sich daher, i h n an seinen eigenen zu messen. 487
6.1 Wider-Spruch gegen die Dialektik
225
werden, u m darin zu wirken, und indem er hereingeholt wird, läuft er daher Gefahr, selbst nicht ganz unberührt wieder herauszukommen. „Die Hauptaufgabe der theoretischen Sozialwissenschaften", schreibt Popper zur Kennzeichnung des Problems, das die Sozialwissenschaften beherrsche, „besteht i n der Feststellung unbeabsichtigter sozialer Rückwirkungen absichtsgeleiteter menschlicher Handlungen" 4 8 8 . Dabei darf „Handlung" jedoch nicht zu eng begriffen werden. Nicht nur, wer seine Hände gebraucht, sondern auch, wer redet und schreibt, handelt. Die Folgen solchen Handelns zu ermitteln, gehört m i t i n den von Popper umrissenen Aufgabenbereich. Wenn er sich z.B. m i t dem Reden und Schreiben der „falschen Propheten" auseinandersetzt und die Folgen diskutiert, die ihr Handeln i n der Gesellschaft zeitigt, bewegt er sich i m Rahmen dieses Aufgabenbereichs der Sozialwissenschaften. I n Auseinandersetzung m i t den „falschen Propheten" der sozialistischen Revolution formuliert Popper eine eigene bedingte Prognose, u m seinen Lesern vor Augen zu führen, welche Auswirkungen das T i m und Lassen der falschen Propheten hat: Die Revolutionäre „werden feststellen, daß die Menschheit auf das Niveau von A d a m u n d Eva zurückgefallen ist — oder u m eine weniger biblische Sprache zu verwenden, daß die Menschen wieder zu Tieren geworden sind. U n d die revolutionären Progressivisten werden dann nichts anderes ausrichten können, als den langsamen Prozeß der Evolution des Menschen von neuem zu beginnen (um auf diese Weise i n ein paar Tausend Jahren vielleicht wieder bei einer neuen kapitalistischen Periode anzulangen, die sie wiederum zu einer gründlichen Revolution veranlaßt, auf die ein w e i terer Rückfall zum Tier folgt — u n d so weiter ohne Unterlaß) 4 8 9 ."
Es kommt bei diesem Zitat noch nicht auf den näheren Inhalt der Prognose an, also nicht auf die Hypothese eines bedingten zyklischen Prozesses der Gattung Mensch, der i m Jahrtausendrhythmus über die Stationen „Zivilisation" und „Wiedervertierung" verläuft, sondern auf den Ansatz der Fragestellung und auf die soziale Technik, die dabei i m Spiel ist: Es geht u m die Auswirkungen von Prophetien. Zugleich mißt Popper offenbar der Mitteilung einer eigenen Prognose über die verhängnis-vollen Folgen der Revolution eine meinungsbildende und -beeinflussende K r a f t i n der Auseinandersetzung zu. Sowohl bei den angegriffenen Propheten wie bei dem Prognostiker, der sie angreift, sind die Wirkungen m i t i m Spiel, die Rede und Schrift samt den Vorstellungen, denen sie entspringen, auf die Gesellschaft haben. _
488 popper,
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Topitsch (oben Anm. 475), S. 120.
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489 S. 122. Dazu Popper (oben A n m . 481) S. 339: „ I do not w i s h to pose as a prophet." Soweit Popper sich allerdings n u r gegen unbedingte Prophezeihungen wendet, widerspricht er sich nicht, w e n n er bedingte Verhängnisse nach klassischem Muster verkündet.
15 Suhr
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6. Kapitel: Dialektik und kritischer Rationalismus
M a n braucht diese konkreten Ausgangspunkte bei Popper nur zu verallgemeinern, u m auf einen ganzen Komplex menschlicher Handlungen zu stoßen, deren Wirkungen und Rückwirkungen besonderer sozialwissenschaftlicher Erforschung wert sind: den Komplex der „geistigen" Handlungen. „Geistig" bedeutet dabei nicht irgendeine m y steriöse Eigenschaft der Handlungen, sondern ganz konkret: Denken, Nachdenken, Reden, Schreiben, Veröffentlichen. Wenn z.B. Popper sich entschließt, unfruchtbaren Diskussionen aus dem Wege zugehen, u m Zeit zu gewinnen, i n der er seine Ideen möglichst einfach formulieren kann 4 9 0 , so sind das „geistige" Tätigkeiten, die sich darauf auswirken, welchen Einfluß seine Arbeiten auf ihre Leser haben und ob ζ. B. vermeidbare Mißverständnisse vermieden werden.
6.2 „Definierte Situation" I n den Sozialwissenschaften sind die soeben angedeuteten Fragen nicht neu. Die Auswirkungen geistiger Handlungen sind dort beispielsweise unter dem Stichwort der „definierten Situation" (William I. Thomas) untersucht worden 4 9 1 . Der Begriff ist i n die moderne verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie integriert worden (als I n begriff der Entscheidungsprämissen) 491 *. Für die Wissenschaftslogik der Sozialwissenschaften schlägt Popper das Konzept einer „Situationslogik" oder „ L o g i k der Situation" vor, die es m i t theoretischen Rekonstruktionen derjenigen Situationen zu t u n hat, welche dem „situationsgerechten" Handeln der Menschen zugrundeliegen. Als eine solche „Situation" erscheint insbesondere die Gesellschaft selbst: „Darüber hinaus muß die Situationslogik auch eine soziale Welt annehmen, ausgestattet m i t anderen Menschen, über deren Ziele w i r etwas wissen (oft nicht sehr viel), u n d überdies m i t sozialen Institutionen ... Als die Grundprobleme der reinen theoretischen Soziologie könnten v i e l leicht vorläufig die allgemeine Situationslogik u n d die Theorie der I n s t i t u tionen u n d Traditionen angenommen werden . . .
490 491
Bei Grossner, a.a.O., S. 289.
W. I. Thomas, The Definition of the Situation, i n : L. A. C o s e r / B . Rosenberg (Hrsg.), Sociological Theory, New Y o r k — London 1964, S. 233 ff. Außerdem vgl. Karl R. Popper, Das Elend des Historismus, 2. Aufl. 1969, S. 11 ff., u n d Ernst Topitsch, Sozialphilosophie zwischen Ideologie u n d Wissenschaft, 2. A u f l . 1966, S. 151 -179. Robert K. Merton , Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen, i n : Topitsch (oben A n m . 475), S. 144 - 161. 49ia Werner Kirsch, Entscheidungsprozesse Bd. 2, Wiesbaden 1971, S. 136 bis 162, 214, u n d Bd. 3 S. 94 - 98 (hier als Brücke zwischen Individualentscheidung u n d Organisationstheorie, also i n gewissem Sinne auch zwischen Bewußtsein u n d Gesellschaft). Insbesondere sind Probleme (schlecht- oder wohldefinierte) u n d Problemlösungsverfahren Situationen i n diesem Sinne.
6.2 „Definierte Situation"
227
Es wäre eine Theorie der gewollten u n d ungewollten institutionellen F o l gen von Zweckhandlungen aufzubauen. Das könnte auch zu einer Theorie der Entstehung u n d der Entwicklung von Institutionen f ü h r e n 4 9 2 . "
Dieser Vorschlag deckt sich zwar nicht restlos m i t dem Ansatz bei der „definierten Situation", stimmt aber weitgehend damit zusammen. U m Poppers Vorschlag auszuführen und eine allgemeine „ L o g i k der Situation" zu entwickeln, braucht man aber wiederum eine abstrakte Logik für die theoretische Modellierung der sozialen Welt, die „ m i t anderen Menschen ausgestattet" ist. Diese Menschen widersprechen einander häufig. Also setzt das Modell eine Logik voraus, die Wider-Sprüche zuläßt. Man darf daher vermuten, daß Popper die von i h m erstrebte „allgemeine Situationslogik" nirgends anders finden dürfte als bei den Dialektikern, — oder, wenn auch nicht schon die gesuchte Situationslogik i m strengen Sinne, dann doch wenigstens die reifsten Problemsichten und die fortgeschrittensten sprachlichen Annäherungsversuche an den abstrakten, logischen K e r n dessen, was Popper als Logik der Situationen vorschwebt. — Von den typischen und beispielhaften Erscheinungsformen der „definierten Situation" sind zwei auch über die Sozialwissenschaften h i n aus bekannt geworden: self-fulfilling und suicidal prophecy (die sich selbst erfüllende bzw. sich selbst vereitelnde Prophezeiung). Hierher gehört auch das bekannte Schulbeispiel der self-fulfilling prophecy : E i n K u n d e schließt aus irgendwelchen Beobachtungen beim Besuch seiner Bank zu Unrecht darauf, sie könne demnächst i n Liquidationsschwierigkeiten geraten. Er berichtet davon einigen Bekannten. Sie alle ziehen n u n Gelder vorsichtshalber von der B a n k ab. Die B a n k muß n u n ihrerseits reagieren u n d erregt das Mißtrauen weiterer Geschäftspartner. I h r Spielraum w i r d enger u n d der Tag ihrer Zahlungsunfähigkeit k o m m t heran. Dabei hat der Kunde, der die verhängnisvolle Nachricht i n die Welt gesetzt hat u n d Schaden von sich selbst abwenden wollte, noch das Pech, daß er die Aktien, die er von der B a n k besaß, zur Zeit der Ereignisse n u r unter großen Verlusten verkaufen konnte, die den Betrag übersteigen, den er durch Abziehen v o m Konto retten konnte. — Der Zusammenhang der Ereignisse dieses Beispiels weist eine charakteristische S t r u k t u r auf ( „ S t r u k t u r " i m Sinne etwa der Verknüpfungssyntax von Flußdiagrammen oder Netzplänen): Die Lage der Bank. Falsche Einschätzung dieser Lage. Handeln auf G r u n d dieser Einschätzung. A u s w i r k u n g e n der Handlungen auf die Ausgangslage, die der ersten Einschätzung (der „Definition der Situation" der Bank) zugrundelag. Veränderung der Ausgangslage derart, daß die zunächst falsche 492 Popper i n : Der Positivismusstreit (oben A n m . 469), S. 120- 122. Siehe auch Hans Albert, Erkenntnis u n d Recht, i n : Jahrbuch f ü r Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie 2 (1972), S. 89 ff. — Poppers Anregung ist namentlich aufgegriffen worden von Hans-Joachim Knebel, Ansätze zu einer soziologischen Metatheorie subjektiver u n d sozialer Systeme, Stuttgart 1970, u n d nunmehr auch I . C. Jarvie, Concepts and Society, London 1972 (dt. Die L o g i k der Gesellschaft, München 1974).
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6. Kapitel: Dialektik und kritischer Rationalismus
Definition der Lage sich „bewahrheitet". Insoweit handelt es sich u m eine sich-selbst-erfüllende Einschätzung der Lage. Zugleich steckt i n dem Beispiel noch eine sich-selbst-vereitelnde Einschätzung: Der Kunde, der Schaden von sich abwenden wollte, fügte sich Schaden zu.
E i n anderes Beispiel ist wahrscheinlich noch aufschlußreicher: Glaubt ein Mensch an Gespenster, so hat er w i r k l i c h Angst, wenn er sich ζ. B. mitternachts auf einem Friedhof bewegt. Sein Glaube hat i h m dann zur Angst verholfen. Anders ausgedrückt: Wenn ein Mensch für sich (bewußt oder unbewußt) unter bestimmten Randbedingungen („Friedhof" plus „ M i t ternacht") Gespenster als real „definiert", dann sind diese Gespenster eine interne Wirklichkeit, die bei E i n t r i t t der auslösenden Bedingungen wachgerufen w i r d und dem Betroffenen definitionsgemäß gespenstische Schauer über den Rücken laufen läßt.
L u d w i g Feuerbach — M a r t i n L u t h e r zitierend — hat den gleichen Effekt i m Auge: „,Wie d u dich kehrest u n d wendest, also kehret und wendet sich Gott. Denkst du, er zürne m i t dir, so zürnet er. Denkst du, er sei dir unbarmherzig und wolle dich i n die Hölle stoßen, so ist er also. Wie du von Gott gläubest, also hast du i h n / ,Gläubst du es, so hast d u es, gläubst du es nicht, so hast du nichts davon.* ,Darum wie w i r glauben, so geschieht uns. Halten w i r i h n für unseren Gott, so w i r d er freilich nicht unser Teufel sein. Halten w i r i h n aber nicht für unseren Gott, so w i r d er freilich auch nicht unser Gott, sondern muß ein verzehrend Feuer sein/ . . . A n einer anderen Stelle nennt Luther geradezu den Glauben den ,Schöpf er der Gottheitfreilich setzt er, auf seinem Standpunkt notwendig, sogleich die Einschränkimg hinzu: ,nicht daß er an dem göttlichen ewigen Wesen etwas schaffe, sondern i n uns schaffet er e s 4 9 3 / "
U n d auch M a r x w a r m i t dem Phänomen vertraut: „Der ontologische (Gottes-) Beweis heißt nichts als: ,Was ich m i r w i r k l i c h (realiter) vorstelle, ist eine wirkliche Vorstellung für mich', das w i r k t auf mich, und i n diesem Sinne haben alle Götter . . . eine reelle Existenz besessen." „Wenn jemand sich vorstellt, hundert Taler zu besitzen..., wenn er an diese Vorstellung glaubt, so haben i h m die hundert eingebildeten Taler denselben Wert wie hundert wirkliche. Er w i r d z.B. Schulden auf seine Einbildung machen, sie w i r d wirken, wie die ganze Menschheit Schulden auf ihre Götter gemacht h a t . . , 4 9 4 . "
Handfestere u n d anschaulichere Beispiele liefert das Strafrecht: „Wer i n der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, 493
Martin Luther, zitiert bei und nach Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Reclamausg. 1971, S. 205 f. Ähnlich i n L. Feuerbach, Das Wesen des Glaubens i m Sinne Luthers, Leipzig 1844 (Nachdruck Darmstadt 1970), S. 69, und i n den Vorlesungen über das Wesen der Religion (Sämtl. Werke, Bd. 8), Leipzig 1851, S. 231 f. — 494 M E W EB I S. 371.
6.2 „Definierte Situation"
229
daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, w i r d wegen Betruges . . . bestraft." (§ 263 Abs. 1 StGB)
Oder U r t e i l und Zwangsvollstreckung: „Ganz gleich, ob das Gericht die Wirklichkeit richtig oder falsch einschätzt, was es sagt, w i r d Wirklichkeit und bei nächster Gelegenheit werden andere diesen neuen Fakten weitere anpassen 495 ."
Wer zum Tode verurteilt ist und m i t Gnade nicht mehr rechnen kann, für den ist der Spruch schon, was er verkündet und b e w i r k t : der bevorstehende Tod. — Das Recht steckt auch sonst voller Beispiele für die Erscheinung, u m die es hier geht. Es besteht geradezu aus Beispielen dafür: „Wer einem anderen die Schließung eines Vertrages anträgt, Antrag gebunden." (§ 145 BGB)
ist an den
„Die Ehe w i r d dadurch geschlossen, daß die Verlobten vor dem Standesbeamten persönlich und bei gleichzeitiger Anwesenheit erklären, die Ehe miteinander eingehen zu wollen." (§ 13 Abs. 1 EheG) 4 9 8
I m Vertrag, sagt Hegel, sei „das W o r t . . . Tat und Sache" 4 9 7 . Und schließlich soll noch ein letztes Beispiel angeführt werden, w e i l es sowohl eine anschauliche gedankliche Brücke zur „sinnlichen Gewißheit" i n Hegels Phänomenologie des Geistes liefert, als auch eine nachgereichte Auslegungshilfe zu Hegels Bemerkung 4 9 8 über den Eulenspiegel, bei dem „das Ding-an-sich mehr schalkhaft als wissenschaftlich verauktioniert" werde: „Hier trug sich nun die . . . I r r u n g und Verwechslung zu, daß Hegel, welcher nach Tisch etwas geschlafen hatte, plötzlich erwachte und die U h r schlagen hörte und da er es für 3 Uhr hielt, ins Kollegium forteilte und hier vor Augustis Zuhörern seine Vorlesung begann, bis endlich einer derselben, aber nicht ohne Mühe, es i h m beibrachte, daß erst 2 U h r sei. Inzwischen w a r aber auch Augusti gekommen, hörte an der T ü r i m A u d i t o r i u m sprechen, horchte und erkannte Hegels Stimme und zog n u n wieder ab, indem er glaubte, daß er sich geirrt und u m eine Stunde zu spät gekommen sei. Die Sache wurde unter den Studenten sogleich bekannt, und als u m 3 U h r Hegels Zuhörer sich einfanden, w a r alles begierig, ob und wie etwa er sich selbst über den Vorfall äußern würde. Dies geschah auch, ungefähr so: ,M. H., von den Erfahrungen des Bewußtseins über sich selbst ist die erste Wahrheit oder vielmehr Unwahrheit (die) der sinnlichen Gewißheit. Bei
495 Gerhard Struck, Topische Jurisprudenz, Frankfurt/M. 1971, S. 112. Hervorhebung von mir. 496 Vgl. J. L. Austin, H o w to do things w i t h words, Oxford 1963, S. 7 f. 497 § 493 der Enzyklopädie. 498 Oben bei Anm. 43.
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6. Kapitel: Dialektik und kritischer Rationalismus
dieser sind w i r stehen geblieben, u n d ich habe selbst vor einer Stunde eine besondere Erfahrung davon gemacht 4 9 9 . 4 " (Hervorhebung von mir.)
Allgemeiner: Wenn Menschen eine Situation als wirklich definieren (und wenn diese Definition angenommen wird), dann ist die i n der Definition beschriebene Situation eine interne Wirklichkeit, die weitreichende Auswirkungen nach innen und außen haben kann 5 0 0 . Diese Wirkungen sind unabhängig davon, ob die Situation so, wie sie i n der Definition dargestellt wird, „ w i r k l i c h " vorhanden ist oder nicht. Die i n der Definition beschriebene Situation vertritt die wirkliche Lage und verdeckt sie zugleich. I n diesem Sinne sind Gespenster machbar. Machbar sind auf diese Weise allerdings nicht nur Gespenster, sondern auch „Ganzheiten" und Götter, Feinde und Freunde, verwirrte Zustände und verfaßte Gesellschaften. Der Ausdruck: „Definition der Situation" ist jedoch denkbar ungünstig. Er erweckt den Eindruck, als müsse es sich u m systematisch definierte Situationen handeln. Aber die wirksamsten „Gespenster" unseres Bewußtseins sind i n der Regel gerade nicht nüchtern definiert, sondern irgendwie urwüchsig und unbewußt ins Bewußtsein hineingewachsen. Man muß sich daher hüten, gedanklich an der Terminologie kleben zu bleiben. Die „definierte Situation", die self-fulfilling und die suicidal prophecy sind nur bestimmte Erscheinungsformen eines sehr verbreiteten und vielschichtigen Phänomens von höchst allgemeiner Struktur. Hierzu sei noch ein Beispiel angeführt, w e i l es zeigt, wie alt der philosophische Stoff ist (vom mythologischen ganz zu schweigen), auf den die Sozialwissenschaften m i t der „definierten Situation" gestoßen sind: I m „Streit der Fakultäten" legt Kant sich die altwürdige Frage vor, „ob das menschliche Geschlecht i m beständigen Fortschreiten zum Besseren" begriffen sei. Hierzu stellt sich i h m die Vorfrage: „Was w i l l ich m i t jener Frage wissen?" A n t w o r t : E i n Stück vorhersagender Menschengeschichte. U n d wie k a n n man es wissen? A n t w o r t : „ A l s wahrsagende Geschichtserzählung des Bevorstehenden i n der zukünftigen Zeit: m i t h i n als eine a p r i o r i mögliche Darstellung der Begebenheiten, die da kommen sollen. — Wie aber ist eine Geschichte a p r i o r i möglich? A n t w o r t : Wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht u n d veranstaltet, die er zum voraus verkündigt." Das w i r d sogleich an einem Beispiel erläutert: „Jüdische Propheten hatten gut weissagen, daß über kurz oder lang nicht bloß Verfall, sondern gänzliche Auflösung i h r e m Staate bevorstehe; denn sie waren selbst Urheber dieses Schicksals. — Sie hatten, als Volksleiter, ihre Verfassung m i t so v i e l kirchlichen u n d daraus abfließenden bürgerlichen Lasten beschwert, daß i h r Staat v ö l l i g untauglich wurde, für sich selbst, vornehmlich m i t benachbarten V ö l k e r n zusammen, zu bestehen, u n d die Jeremiaden ihrer Priester mußten daher natürlicher Weise vergeblich i n der L u f t verhallen; w e i l diese h a r t 499
Hegel i n Berichten, S. 66. „Thomassches Theorem", präzisiert, — Merton , a.a.O., S. 144. „ ö d i p u s effekt", — Popper, a.a.O. 500
6.2 „Definierte Situation"
231
näckicht auf ihrem Vorsatz einer unhaltbaren, von ihnen selbst gemachten, Verfassung beharreten, und so von ihnen selbst der Ausgang m i t Unfehlbarkeit vorausgesehen werden konnte 5 0 1 ." — Wenn Kants U r t e i l zutrifft, ist es wiederum aufschlußreich, daß die Volksleiter durch i h r eigenes V e r halten das Verhängnis herbeiführten, das sie eigentlich selbst gar nicht w o l l ten: ein wider Willen selbstverhängtes Verhängnis. Sie wollten etwas bewahren und bereiteten i h m ebendadurch den u m so gründlicheren Untergang. Dem liegt eine mangelhafte interne Definition der Situation zugrunde. Aus i h r geht das widersprüchliche Verhalten hervor, ohne daß es bewußt wird. Aber der Priester, der seine Wehe-Rufe ertönen läßt, ahnt seine innere Widersprüchlichkeit und diese Ahnung drückt er i n der Verheißung aus, daß den anderen w i r k l i c h das Schicksal bevorstehe, das er i n seinem Inneren bereits als zerstörte Einheit seiner selbst vorfindet. Innerlich widersprüchlich, vermag er als Volksführer auch seinem Land nur Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit zu bringen.
Es liegt auf der Hand, daß sich die „Definition der Situation" als ein sozialtechnisches Instrument anbietet. I n unübersichtlichen und krisenhaften Zeiten etwa, i n denen die Menschen nicht recht wissen wohin, besteht ein Bedürfnis nach Definition der Lage. Wer dieses Bedürfnis befriedigt, hat die Chance, daß seine Definition angenommen und i h r gemäß gehandelt wird. Er ist der „große Mann" der Zeit. „Die Verbindung des ,großen Mannes 4 m i t der Krise ist i n der Tat eines der wesentlichsten Probleme des menschlichen Fortschritts. Männer wie Moses, Mohammed, Konfuzius, Christus, haben den gesamten Charakter einer Zivilisation geprägt 502 . 44
Auch Hegel wußte sich i n einer Zeit der Ungewißheit u n d Umbildung. Schon i n jungen Jahren w a r er auf die „definierte Situation" gestoßen, die freilich erst später unter diesem Namen wissenschaftlich wiederentdeckt wurde. Seine Formel lautete: „Das Dasein einer Sache aussprechen 503 ." Hegels Geschichtsphilosophie ist nicht zuletzt eine großangelegte Definition der deutschen Situation m i t dem Ziel, sie durch eine dialektische List zu überwinden. Nicht jede Definition der Situation hat die Chance, vom Bewußtsein der Menschen als Führungsgröße angenommen zu werden. I n einem V o l k etwa w i r d v i e l über die allgemeine Lage und über das, was angeblich nottut, geschwätzt. Die Kunst der „Definition der Situation" besteht u. a. darin, bedürfnisgerecht zu definieren. „Die Geistreichen sind n u r die, die von dem Geist 501 I. Kant, Werke i n 6 Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Bd. 6, S. 351. I n diesem Zusammenhang muß auf die gesamte praktische Philosophie Kants hingewiesen werden, sowie auf die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte i n weltbürgerlicher Absicht", a.a.O. S. 31 - 50. Siehe auch H. Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit, Berlin 1911, S. 612 ff. 502 W. I. Thomas, Person und Sozialverhalten, Neuwied und Berlin 1965, S. 27 ( = Einleitung zu: Source Book for Social Origins, hrsg. v. W. Γ. Thomas, 5. Aufl., Boston 1909, S. 19). 508 Hegel bei Nohl S. 397 = Werke 1, 312.
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6. Kapitel: Dialektik und kritischer Rationalismus
des Volkes wissen und sich danach zu richten wissen. Diese sind die Großen eines Volkes, sie lenken das Volk dem allgemeinen Geiste gemäß 5 0 4 ." Die Definition benennt dann etwas, das ersehnt w i r d oder ungewußt schon halb vorhanden ist. Sie flicht i n ein Netzwerk von inneren Tendenzen und Neigungen die fehlenden Verbindungsfäden ein. Oder sie organisiert i m Inneren Wege, auf denen man sich zunächst theoretisch und dann praktisch an heißen Problemen vorbeidrücken kann, u m später doppelt hart wieder damit konfrontiert zu werden. Entscheidend ist mithin: Situationen können nicht wirksam ins Blaue hinein definiert und angenommen werden. Es muß vielmehr irgendetwas dasein, — ein Bedürfnis, das nach Definition der Situation verlangt: Eine äußerliche Lage. Oder eine innere, etwa aus Sozialißationsvorgängen hervorgehende, aber noch nicht benannte Lage. Man kann sich den Bedarf nach Situationsdefinitionen als eine A r t Sog vorstellen. Dieser w i r d von Menschen auch als Sog erfahren und ruft seinerseits danach, „definiert" zu werden. Wer diesen Sog erfährt und i h m nachgibt, kann daher leicht auf die Definition verfallen, er sei „gerufen" oder „berufen" worden, etwas zu sagen, und er sage es nicht für sich, sondern i m Namen des Soges, — d. h. dessen, der i h n „gerufen" hat. — Andererseits w i r d von den Definitionen, die den Menschen i n einer Lage angeboten werden, oft nur das angenommen, was für die Betroffenen „brauchbar" ist, während anderes abgewiesen w i r d : Es ist ähnlich wie beim Leser eines Buches, der vieles überliest und sich an anderem wohlwollend oder kritisch festbeißt, — je nach dem, wie es ihm i n seine Erwartungen und Vorverständnisse und i n seine Pläne paßt. So wie der Schriftsteller nicht davor sicher ist, daß i h m das Wort i m Munde verdreht wird, und so wie er sich -zigfach gegen bestimmte Mißverständnisse verwahren kann, ohne sie abzuwenden, so sind auch diejenigen, welche die Lage definieren, nie davor sicher, daß ihnen ihr Werk verkehrt w i r d 5 0 5 , mögen sie noch so viel Sorgfalt darauf verwenden, es i n der gemeinten Richtung zu befestigen. Ist die innere oder äußere Lage erst einmal benannt und definiert, gewinnt die Benennung und Definition ein Eigenleben gegenüber der Lage, die nach Definition und Benennung gerufen hat. Ungeachtet ihrer Verselbständigung fungiert die einmal gefundene und eingelernte Definition der Situation als Führungsmuster für das Bewußtsein, auch wenn sie die tatsächlichen Lagen inzwischen eher verdeckt als definiert. Beides, die Definition der Lage und die Lage selbst, verändern sich, und zwar insbesondere durch die Handlungen, die aus dem Bewußtsein hervorquellen, das von der Definition der Situation beherrscht wird, w e i l es an sie glaubt. 604 605
Hegel, Die V e r n u n f t . . . (oben A n m . 58), S. 60. Vgl. Hegel, Phänomenologie, Glockner 2, 242 = Werke 3, 235.
6.2 „Definierte Situation"
233
Versucht man, die Ereigniszusammenhänge i n ein gedankliches Flußdiagramm zu bringen, muß zweierlei erfaßt werden: Erstens die Wirklichkeit, die nach „Definition" r u f t und die sich später unter dem Einfluß der Handlungen verändert, die an der „Definition" orientiert sind. Zweitens die Definition samt ihren Veränderungen und Adaptionen, denen auch sie unterworfen ist, insbesondere, wenn sie sich i n der Praxis als allzu falsch oder hinderlich erweist. U m beides einschließlich der Veränderungen i n einem Diagramm darzustellen, müssen die Veränderungen kenntlich gemacht werden, die innerhalb der beiden Stationen „Wirklichkeit" und „Definition der Situation" vor sich gehen, während die Stationen als solche die gleichen bleiben, nämlich „Definition" auf der einen und die übrige „Wirklichkeit" auf der anderen Seite. Dies darzustellen, bräuchte man ζ. B. spiralförmiges oder (korrekter) wendeiförmiges Zeichenpapier, auf dem die Veränderungen, die sich innerhalb der „Definition" oder der „Wirklichkeit" ereignen, von Umlauf zu Umlauf protokolliert werden können, während dem anderen Umstand, daß es sich u m die gleichbleibenden Stationen m i t den Namen „Definition" und „Wirklichkeit" handelt, dadurch i n Erscheinung tritt, daß sie übereinander eingezeichnet werden. Schaut man von oben oder unten auf diese Wendel, so ist nur ein Kreis sichtbar. Schaut man von der Seite, sieht man ein Hin-und-Her. Läuft man i n Gedanken auf der Wendel selbst entlang, bemerkt man allenfalls die Veränderungen von Station zu Station. Begibt man sich gedanklich in eine der Stationen hinein, sieht man vielleicht gerade noch bis zur nächsten. Je nach dem, ob ein Sozialwissenschaftler nun eine Begabung und Vorliebe für die Beobachtung dessen hat, was sich wiederholt, oder für die je einmaligen Veränderungen von Station zu Station, w i r d er dazu neigen, einen der soeben angedeuteten Blickwinkel zu bevorzugen. Entweder er sieht sofort die Kreisstruktur der Ereigniszusammenhänge. Das setzt voraus, daß er den Inhalt der Stationen als das begreift, was er ist: als veränderlich. Er begreift diesen Inhalt als variable Gestalten, die durch die Stationen gewissermaßen hindurchgeschleust werden. Oder er findet die Kreisstruktur wenig aufschlußreich und w i r d stattdessen von den Veränderungen gefesselt, die sich von Station zu Station oder von der derzeitigen Station zur nächsten abspielen. U m diese Veränderung richtig erfassen zu können, muß er den Inhalt der Station zunächst einmal festhalten, damit sich vor diesem festen Hintergrund die konkrete Veränderung abzeichnen kann. Ist der Blick erst einmal geschärft für Wirkungszusammenhänge, die i n die Lage zurückführen, aus der Definitionen von Situationen hervorgegangen sind, werden sie überall sichtbar: Eine Examensangst führt oft den Fall erst herbei, dem sie gilt. Die Überzeugung, ein Krieg sei
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6. Kapitel: Dialektik und kritischer Rationalismus
unvermeidlich, w i r k t sich auf die Wahrscheinlichkeit aus, m i t der er w i r k l i c h ausbricht. Traue ich jemandem etwas nicht zu, verunsichere ich i h n womöglich und er schafft es deshalb nicht, — oder er reißt sich daraufhin erst zusammen und bringt es zustande. Vertrete ich eine Theorie oder Weltanschauung, die i m Laufe der Zeit m i t der Wirklichkeit nicht mehr zusammenstimmt, komme ich i n Versuchung, die Wirklichkeit zu machen, die meine Theorie verlangt (self-executing prophet) ... usw. 6.3 Wiedereinspeisungszusammenhänge Sollen alle diese Erscheinungsformen der „definierten Situation" m i t einem aufschlußreichen Stichwort gekennzeichnet werden, das keine hinderlichen w o h l aber fördernde Assoziationen auslöst, bietet sich eine Analogie an zur Unterscheidung von hardware und software 506 i n der Computertechnik: Die „definierten Situationen" sind Informationen „über" die Wirklichkeit, die „ i n " die Wirklichkeit wieder eingespeist werden. Sie verhalten sich zu den leiblichen Menschen und den Dingen der Welt wie die software eines Rechners zur hardware . So betrachtet, waren die „großen Männer" i n den Krisenzeiten der Geschichte, die die Situationen i n umwälzenden Definitionen erfaßt haben, nichts anderes als Spezialisten für die menschlich-gesellschaftliche software . Das Stichwort „software" ist offen genug, u m einen weiten Kreis von problematischen Erscheinungsformen von definierten Situationen unter einen begrifflichen H u t zu bringen. Es spielt nämlich zunächst einm a l keine Rolle, ob es sich u m Mythologie, u m klassische Prophetie oder u m wissenschaftliche Texte handelt, u m ausdrückliche oder stillschweigende, u m bewußte oder unbewußte Situationsbilder; u m Klischees oder u m minutiöse Beschreibungen; u m Sätze i m Präsens oder i m Futurum, i m Indikativ oder i m K o n j u n k t i v ; u m Gesetze, Befehle, Wertungen oder Beschreibungen; u m atomistische oder ganzheitliche Definitionen. Denn i n jedem der Fälle tauchen Widereinspeisungsprobleme auf, die ein unerschöpfliches Feld für die theoretische und für die empirische Sozialwissenschaft bilden. U m noch einmal ganz deutlich zu machen, welcher Unterschied besteht zwischen dem Etappenbewußtsein (Blick von Station zu Station des FJuß606
I n der maschinellen Rechentechnik w i r d unterschieden zwischen dem gerätetechnischen A u f w a n d (hardware) und dem programmtechnischen A u f wand (software). Diese Unterscheidung w i r d hierher übertragen. Vgl. auch John P. van Gigch, Applied General Systems Theory. New York u. a. 1974, S. 325: „ I n q u i r i n g systems can be considered the »software 4 of Applied General Systems Theory. I n the years to come this field promises to rewrite the epistemology of the social science.44
6.3 Wiedereinspeisungszusammenhänge
235
diagramms) u n d dem Wiedereinspeisungsbewußtsein (Blick auf die ganze Wendel), k a n n die Sache verglichen werden m i t dem Rennen zwischen dem Hasen u n d dem Igel i m Märchen: Dem Igel geht es bekanntlich auf die Nerven, daß der Hase damit aufschneidet, w i e schnell er laufen könne. E r verabredet sich daher m i t dem Hasen zu einem Wettrennen. Der I g e l schickt seine Frau ans andere Ende des Ackers, dessen Furchen die Rennbahnen sind, damit sie dem Hasen, wenn dieser dort ankommt, zurufen kann: „ I c h b i n schon da!" Er selbst bleibt am Startpunkt i n seiner Furche zurück u n d r u f t dem Hasen, w e n n er zurückkommt, ebenfalls zu: „ I c h b i n schon da!" — Das Rennen beginnt. Der Hase läuft, was er kann, i n seiner Furche h i n u n d her, bis er zusammenbricht. I n dieser Fabel steht der Hase für den sozialwissenschaftlichen Prognostiker, der das Rennen m i t der Wirklichkeit a u f n i m m t ; u m i h r m i t Prognosen zuvorzukommen. Seinen Prognosen ergeht es w i e Wünschen: K a u m e r f ü l l t oder ausgesprochen, bekommen sie Junge. Jede Prognose gehört als Information zur Wirklichkeit u n d k a n n andere provozieren, sie zu durchkreuzen. Der Igel hingegen hat das Rennen theoretisch i m K o p f durchgespielt, ehe er sich darauf einläßt. Es grämt i h n nicht, daß er langsam ist, sondern er findet sich damit ab. Das macht i h n frei dazu, die Rennsituation f ü r sich anders zu definieren. Z u diesem Zweck spaltet er sich gedanklich i n zwei Igel auf u n d verteilt sich an die Enden der Rennstrecke. Bei der Ausführung seines Planes k a n n er sich nicht spalten, sondern muß darauf vertrauen, daß seine Frau die Rolle des anderen Igels richtig spielt. Sie beide speisen dem Hasen jeweils einige f ü r i h n wegbestimmende Informationen ein. Sie definieren i h m jeweils von neuem seine Rennsituation. So erhält der Hase von Etappe zu Etappe frustrierende Lageberichte. Der I g e l hingegen hatte das Rennen aufgegeben, ehe es begann, indem er sich entschloß, es nicht zu rennen, sondern zu organisieren, u n d zwar m i t einer durchaus dialektischen List dabei. Seine Definition der Rennsituation ist i m m u n gegen die Enttäuschungen, die der Hase erlebt. Der Igel sieht sich sogar m i t jedem vergeblichen Bemühen des Hasen i n seiner eigenen Anschauung bestätigt. Des Hasen Frustrationen sind des Igel Selbstbestätigung. M i t d e n B e g r i f f e n d e r „ d e f i n i e r t e n S i t u a t i o n " u n d des „ W i e d e r e i n speisungszusammenhanges" s i n d auch e i n i g e d e r w i c h t i g s t e n Vernetzungspunkte zwischen der Rechtswissenschaft und den Sozialwissenschaften bezeichnet. D e n n auch das Recht besteht aus I n f o r m a t i o n e n , d i e i n d e n gesellschaftlichen Prozeß eingespeist w e r d e n u n d d a r i n W i r k u n g e n h e r v o r b r i n g e n . Insbesondere Verfassungsrechtssätze gehör e n z u d e n I n f o r m a t i o n e n , d i e i n d i e W i r k l i c h k e i t w i e d e r eingespeist w e r d e n , aus d e r sie h e r v o r g e g a n g e n sind. So t r i t t das P r o b l e m d e r „ u n b e a b s i c h t i g t e n sozialen R ü c k w i r k u n g e n absichtsgeleiteter menschl i c h e r H a n d l u n g e n " i m S i n n e v o n Poppers A u f g a b e n b e s c h r e i b u n g i m B e r e i c h d e r Verfassungstheorie a u f als das P r o b l e m e i n e r V e r f a s s u n g u n d e i n e r V e r f a s s u n g s p r a x i s , d i e n i c h t z u e i n e r suicidal constitution f ü h r e n d ü r f e n . V e r f a s s u n g g e b u n g i s t d e r Versuch, d i e prozeßhafte p o l i t i s c h e u n d gesellschaftliche S i t u a t i o n eines G e m e i n w e s e n s i n e i n e r m ö g l i c h s t d a u e r h a f t e n u n d s i c h - s e l b s t - e r f ü l l e n d e n (self-fulfilling) Weise z u d e f i n i e r e n . Es m u ß eine D e f i n i t i o n d e r S i t u a t i o n g e f u n d e n w e r -
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6. Kapitel: Dialektik und kritischer Rationalismus
den, die nicht n u r kurzfristig angenommen, sondern auch beibehalten wird. Es ist i n der Regel nicht möglich, i m voraus abzuschätzen, ob eine „Definition der Situation" sich selbst erfüllen, sich selbst vereiteln oder etwa überhaupt wirkungslos bleiben oder i n eine verwirrte Wirklichkeit noch mehr V e r w i r r u n g hineintragen w i r d . Die Form der Rückwirkung ist relativ gewiß (wahrscheinlich), Richtung und Inhalt aber sind offen. Die „Definition der Situation" ist i n ihren Wirkungen mehrdeutig wie Orakel es ihrem Texte nach sind. Was sie w i r k l i c h ist, zeigt sich erst. Gerade die Tatsache, daß eine Prophezeiung — einmal ausgesprochen — m i t von der Partie ist, erschwert bekanntlich die wirkliche Prognose. Durch die Vorhersage w i r d ein zukünftiger Zustand auf Symbolebene i n die Gegenwart geholt: m i t der ebenfalls bekannten Folge, daß Gegner dieses Zustands ebenfalls schon jetzt m i t ihrem Kampf beginnen können. Vortreffliche Prognosen, die sich nach menschlichem Ermessen bewahrheitet haben würden, können gerade deshalb scheitern, w e i l man sie nicht für sich behält. — Seit Menschengedenken schätzen die Menschen ihre äußeren und — vor allem — ihre inneren Lagen und Erfahrungen ein u n d „definieren" ihre Situationen nach Maßgabe dieser Einschätzungen. Seitdem handeln Menschen unter Orientierung an den Definitionen, die sie sich — mehr oder weniger bewußt — zu ihren inneren u n d äußeren, näheren und ferneren, natürlichen und gesellschaftlichen Lagen geschaffen haben. Seitdem gehören „definierte Situationen" als interne Wirklichkeiten zur menschlich-sozialen Wirklichkeit. Immer wieder sind Situationen definiert und immer wieder sind definierte Situationen zur Grundlage von Handlungen gemacht worden. So ist der Boden der Gesellschaft heute gründlich durchwachsen m i t jüngsten, älteren und ältesten Situationsdefinitionen. Die menschlich-gesellschaftliche software erscheint so als das Ergebnis eines langwierigen Entwicklungsprozesses, dessen Geschichte als das Protokoll angesehen werden kann, i n dem die Versuche und Fehlschläge festgehalten sind, die sich bei der Programmierung dieser software ereignet haben. Die Beziehungen zwischen den vorstehenden Gedanken und Hegels Phänomenologie des Geistes und Hegels Geschichtsphilosophie liegen auf der Hand. So wie hier angedeutet wird, daß sich das software-Repertoire der Menschen entwickelt und selbst wieder das Leben mitgeprägt habe, so kann man sagen, der Geist habe sich entwickelt und sein Material „metamorphosiert" 5 0 7 . — Dieser Hinweis auf Hegel soll allerdings nicht besagen, daß Hegels Geschichtsphilosophie i m einzelnen „richtig" gewesen sei. Aber er zeigt die Modernität von Hegels Denken u n d erschließt vielleicht einigen 507
Hegel, Einleitung . . . (oben Anm. 34), S. 13 = Werke 18, 22.
6.3 Wiedereinspeisungszusammenhänge
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Lesern, die sich zur dialektischen Sprache bislang nichts oder nichts A u f schlußreiches haben vorstellen können, einen Weg zu Hegels Arbeiten.
Die Unterscheidung zwischen menschlich-organischer hardware und menschlich-sozialer software macht deutlich, daß das Problem der „sozialen Kontrolle" und des „sozialen Wandels" als software-Problem aufgefaßt werden muß. Der Sozialreformer — sei er nun Evolutionär oder Revolutionär — gleicht einem Programmierer, der die Programme für eine riesige Batterie von selbständigen Automaten umschreiben soll und dabei selbst ein Automat der Batterie ist. Die vorhandene software kann er nicht einfach sich ausdrucken lassen, u m sie zu studieren, oder löschen bzw. überspeichern. Er muß bei dem vorgegebenen Material ansetzen. Dabei führt es zu nichts, wenn er nur die Namen der Variablen und Routinen verändert. Es muß echte Programmierarbeit an hochkomplexen software-Systemen geleistet werden, ohne daß die Verwirrung i m System der überlieferten software von M a l zu M a l noch größer wird, als sie ohnehin wegen der von Vätern und Vatersvätern vererbten „Definitionen" ist. Große Hilfe beim Umgang m i t der widerspenstigen software liefern vermutlich die Protokolle und Erfahrungsberichte früherer Spezialisten der menschlich-sozialen software. Sie geben Hinweise dafür, welches Material i n den sozialen Prozeß bereits eingespeist worden ist und welche Reaktionen sich daraufhin gezeigt haben. Außerdem steht der „Programmierer" stets vor der Frage: Gibt es vorgegebene Basisstrukturen der menschlich-sozialen software, die etwa m i t dem Problem I n d i v i duum-Gesellschaft (Einzelner - Allgemeinheit) zusammenhängen und die nicht „straflos" übergangen werden dürfen? Eine andere Frage ist die nach der Rolle, welche die Syntax der eingespeisten Programme oder Programmteile spielt. Die meisten dieser und ähnlicher Fragen führen — zur Dialektik. Der Sozialwissenschaftler m i t dem software-Bewußtsein kann sich nun für ganz bestimmte innere Realitäten interessieren (z.B. für das Bild, das i n einer Gesellschaft von „dem Neger" besteht, und für die Wirkungen dieses Bildes auf die Wirklichkeit). Er kann aber auch sehr weit von solchen konkreten „Definitionen" abstrahieren, u m ihre Erscheinungsformen zu klassifizieren und u m allgemeine Gesetzmäßigkeiten von Einspeisungs- und Wiedereinspeisungsprozessen zu entdecken. Die wirkliche Geschichte liefert eine Fülle empirischen Materials, das i m Hinblick auf Wiedereinspeisungsgesetzmäßigkeiten h i n untersucht werden könnte. A u f rein induktivem Wege jedoch w i r d man nur schwer dem logischen K e r n der etwaigen allgemeinen Gesetze auf die Spur kommen. Da die Fragestellung aber schon die halbe A n t w o r t ist,
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6. Kapitel : Dialektik und kritischer Rationalismus
müßte eigentlich der Weg weiterführen, den der kritische Rationalismus (im Gegensatz zum „reinen Positivismus") empfiehlt: auf spekulativem Wege Hypothesen zu formulieren, die dann am geschichtlichen u n d an experimentellem Material geprüft werden können. Dieser kritisch-rationale Ansatz deckt sich fast vollständig m i t Hegels erkenntnistheoretischer Haltung. Auch er geht an seine Gegenstände wie ein kritisch-rationaler Wissenschaftler: i n der Erwartung, Gesetzmäßigkeiten darin zu finden, und m i t einer Vorstellung von den Gesetzmäßigkeiten, i m Hinblick auf welche das geschichtliche Material rein empirisch untersucht werden muß. Diese Gesetzmäßigkeiten faßt er zusammen unter dem Begriff „Vernunft"; beschrieben sind sie i n ihrer abstraktesten Form i n der Logik. „Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht auch sie vernünftig an." Aber „die Geschichte haben w i r zu nehmen, wie sie ist; w i r haben historisch, empirisch zu verfahren". Zwar gehe die Philosophie m i t der Überzeugung an die Geschichte heran, den Begriff der Vernunft darin zu finden, u n d i n der Erwartung, „daß das Geschehen sich dem Begriffe einfügen werde", aber dabei dürfe gerade nicht wie bei den Philologen „ m i t sogenanntem Scharfsinn lauter Apriorisches" eingetragen werden 5 0 8 . Auch i n dem Widerwillen gegen Prophetie findet der kritische Rationalismus i n Hegel einen V o r kämpfer: „Der Philosoph hat es nicht m i t dem Prophezeien zu tun. W i r haben es nach der Seite der Geschichte vielmehr m i t dem zu tun, was gewesen ist und m i t dem was ist, — i n der Philosophie aber m i t dem, was weder nur gewesen ist, noch erst sein wird, sondern m i t dem, was ist und ewig ist, — m i t der Vernunft, und damit haben w i r zur Genüge zu t u n 5 0 9 . "
Es gibt tatsächlich Wege, die zu ersten, allerdings noch wenig konkreten Hypothesen über Wiedereinspeisungsgesetzmäßigkeiten hinführen. Einer dieser Wege führt über ein Gedankenspiel, dessen Pointe auf einen vergleichbaren Pfiff hinausläuft wie die List des Igels gegenüber dem Hasen: Die Situation w i r d gewechselt, indem eine neue Sprachebene eröffnet wird. — A m Anfang des Gedankenspiels steht ein Satz, der eine Aussage über (sozialwissenschaftliche) Aussagen und deren Gegenstände enthält. Dieser Satz heiße der Kürze halber „Wiedereinspeisungssatz". Er lautet: „Sozialwissenschaftliche
Aussagen
können ihre eigene Richtigkeit dadurch untergraben, daß sie in den sozialen Prozeß wieder eingespeist werden, über den sie formuliert worden sind." Das Wort „können" stellt klar, dereinspeisungssatz sagt, und Dieser Wiedereinspeisungssatz Aussage. Man kann daher auf anzuwenden. Er lautet dann: 508 509
daß daß ist die
es nicht so sein muß, w i e der WieAusnahmen denkbar bleiben. — selbst eine sozialwissenschaftliche Idee verfallen, i h n auf sich selbst
Hegel, Die Vernunft . . . (oben Anm. 58), S. 30 ff. a.a.O. S. 210.
6.3 Wiederenspeisungszusammenhnge
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„Der Wiedereinspeisung ssatz kann seine eigene Richtigkeit dadurch untergraben, daß er in den sozialen Prozeß wieder eingespeist wird, über den er formuliert worden ist." Es ist eine klëine Denksportaufgabe für sich, die Plausibilität und die Richtigkeit dieses auf sich selbst angewendeten Satzes nachzuvollziehen bzw. zu prüfen. Logiker freilich werden kaum überrascht sein, daß dieses sprachliche In-sich-Geschäft zu einem falschen oder zu einem Satz führt, der Probleme aufwirft. Angenommn nämlich, der Wiedereinspeisungssatz werde einem Sozialwissenschaftler mitgeteilt (eingespeist), der ihn bislang noch nicht kannte. Dann ist denkbar, daß dieser Wissenschaftler i n Zukunft diesen Satz zu berücksichtigen versucht, — etwa, indem er sich bei Veröffentlichung seiner Erkenntnisse u m eine gewisse Gegensteuerung bemüht, oder, indem er überhaupt erst seine Aufmerksamkeit auf Wiedereinspeisungszusammenhänge richtet. Dann hat der Wiedereinspeisungssatz die sozialwissenschaftliche Wirklichkeit, über die er formuliert und i n die er wieder eingespeist worden ist, verändert. Aber seine eigene Richtigkeit hat er dadurch nicht untergraben, jedenfalls nicht i n dem Sinne, wie es bei der Formulierung des Satzes gemeint war. Es zeigt sich vielmehr, daß der Wiedereinspeisungssatz seinen Aussagegehalt einbüßt, wenn er auf sich als einen Satz angewendet wird, der selbst von der Wiedereinspeisung und ihren Wirkungen handelt. Man könnte sogar (von einer irrealen Ausnahme abgesehen) jetzt formulieren: „Der Wiedereinspeisungssatz kann seine eigene Richtigkeit nicht dadurch untergraben, daß er in den Prozeß wieder eingespeist wird, über den er formuliert worden ist." Bei dem Gedankenspiel wurde soeben i n dem Augenblick eine neue Sprachebene eröffnet, i n welchem der Wiedereinspeisungssatz zum Gegenstand einer Aussage gemacht wurde. Daß diese Aussage, die etwas über den Wiedereinspeisungssatz aussagt, ihrerseits dem Satz entspricht, auf den sie angewendet wird, ändert nichts daran, daß eine zusätzliche Sprachebene betreten w i r d : und zwar eine Ebene, auf welcher der Wiedereinspeisungssatz nicht mehr ohne weiteres gilt. Das sprachliche In-sich-Geschäft zeigte zugleich, daß die Einsicht i n die Schwäche sozialwissenschaftlicher Sätze dem Betrachter eine stärkere Aussage i n die Hand spielt, die gegen die besprochenen Schwächen resistent ist. Verglichen m i t den Aussagen, auf die er selbst gemünzt ist, erscheint der Wiedereinspeisungssatz als eine A r t Aussage „vom Typ Phönix".
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6. Kapitel : Dialektik und kritischer Rationalismus
Diese Aussage hat den Wiedereinspeisungszusammenhang an sich selbst i n ihrer Syntax. Daher w i r d sie nicht mehr überrascht und überwältigt, wenn sie i n der Wirklichkeit damit zu t u n bekommt. Der Wiedereinspeisungssatz ist schon an sich, was die Wirklichkeit für ihn ist. Sein grammatischer „Geist" ist schon „Geist" von ihrem grammatischen „Geist". So vertragen sie sich miteinander. Sie stehen i n syntaktischer Konsonanz 510 miteinander. Der Wiedereinspeisungssatz ist selbstverständlich noch kein Felsen, auf den sozialwissenschaftliche so/tware-Spezialisten ihre Theorie und ihre Praxis bauen können. Aber es drängt sich die Frage auf, ob es nicht i n der sozialen Wirklichkeit Erscheinungen gibt, die sich m i t dem obigen Gedankenspiel und den dabei angestellten Erwägungen vergleichen lassen. Und diese Frage führt zu einer ersten Hypothese, die m i t sozialwissenschaftlicher Phantasie auszufüllen und an Hand empirischen Materials zu prüfen wäre: „Es gibt unter den Wiedereinspeisungszusammenhängen der sozialen W i r k lichkeit definierte Situationen, die gegen Selbstentkräftung i n vergleichbarer Weise resistent sind wie der Wiedereinspeisungssatz i m Gedankenspiel. Diese vergleichbare Resistanz beruht auf einer Verwandtschaft i n der S y n tax zwischen der definierten Situation u n d dem Wiedereinspeisungssatz."
Da ζ. B. Verfassungssätze bzw. -systeme ihre Einspeisung i n die soziale Wirklichkeit u n d ihre Verwirklichung überdauern sollen, ohne sich selbst zu widerlegen, müßten i n diesem Bereiche normative Aussagen oder Aussagenkomplexe zu finden sein, deren Eigenschaften m i t den Eigenschaften des Wiedereinspeisungssatzes vergleichbar sind. — Hegel macht, wo er wie andere zweifelt, m i t dem Zweifel ernst und n i m m t das übliche Wissen i n sein Modell auf als das, was es wegen der Zweifel ist: als unzuverlässig und variabel. Es ist ähnlich wie beim Igel: Indem der Igel sich damit uneingeschränkt abfindet, daß er langsamer läuft als der Hase, macht er sich dafür frei, wenigstens schneller und beweglicher zu denken. Während der Hase noch auf den Sieg i m Rennen fixiert ist, beschäftigt sich der Igel längst m i t der Grammatik der Wettkampfregeln. Erst wenn das Rennen m i t der Wirklichkeit u m Erkenntnis i n Gedanken vorübergehend einmal aufgegeben wird, w i r d das Bewegte als flüssig behandelt. Dann erst zeichnen sich die Umrisse des Flusses ab. Was eben noch unbewußte Form war, die die Zusam510 Es besteht weitgehende Ähnlichkeit zwischen der Konsonanz, v o n der hier die Rede ist, u n d derjenigen, welche i n Leo Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz eine Rolle spielt: A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford 1968. Es ist eine Aufgabe f ü r sich, die K o m p a t i b i l i t ä t der Theorien i m einzelnen zu untersuchen, — insbesondere auch hinsichtlich der weiter unten folgenden verfassungstheoretischen Konkretisierungen (Kapitel 8. 32).
6.3 Wiedereinspeisungszusammenhänge
241
menhänge (als „latente Struktur") bestimmte, w i r d alsbald zum Inhalt einer Sprache, die von einem anderen Platz aus gesprochen wird. Das Entstehen und Vergehen, das selbst nicht entsteht und vergeht, w i r d sichtbar. Die Syntax des Werdens w i r d zum Problem. Sie w i r d erkennbar als eine A r t Flußdiagramm. Dabei verhält sich die dialektische Logik i n einem ihrer entscheidenden Punkte zur üblichen Logik wie ein Netzplan, i n dem Schleifen zulässig sind, zu einem Netzplan, i n dem Schleifen nicht zulässig sind. Spreche ich meine Muttersprache, so benutze ich ihre Vokabeln und ihre Grammatik. Die grammatischen Formen kehren wieder, die Vokabeln und die damit ausgesagten Inhalte werden ausgewechselt. Der Grammatik bin ich m i r dabei i n der Regel nicht bewußt. Sie ist die bestimmende Form meiner Sätze. Wäre ich nicht grammatisch geschult, ich hätte größte Mühe, das grammatische „Gang und Gäbe" als solches zu durchschauen, das meine Sprache beherrscht. Vielleicht würde ich sogar heftig bestreiten, einer bloßen Grammatik als dem Herrn meiner Sprache ausgeliefert zu sein. So ist es auch m i t der Dialektik. Auch sie hat es m i t einem syntaktischen Gerüst zu tun, das bleibt, während reichhaltige „Vokabeln" hindurchgeschleust werden. Das Gerüst w i r d erst sichtbar, wenn die „Vokabeln" als variabel auf gefaßt werden: i n der Wirklichkeit wie i n dem Modell, das parallel zu ihr konstruiert wird. — Und wiederum verhält sich die Dialektik i n einem ihrer entscheidenden Punkte zur üblichen Logik wie eine Sprache, deren Grammatik reflexive Aussageformen zuläßt, zu einer Sprache, die keine reflexiven Aussageformen zuläßt, — das heißt, wie eine Sprache, i n der man sagen kann: „Ich kratze mich hinter dem Ohr" oder „ E r tötet sich", zu einer Sprache, i n der es nicht zulässig und daher auch nicht möglich ist zu sagen: „Ich kratze mich hinter dem Ohr" oder „Er tötet sich". Ganz zu schweigen von Sätzen wie: „ D u bist für dich ein Ich. Ich bin für Dich, was auch er für Dich und was w i r jeweils füreinander sind: ein Du." Diese Sätze zeigen, daß unsere Alltagssprache i n ihren grammatischen Strukturen noch Formen birgt, zu denen die nichtdialektische Logik so gut wie gar nicht und die dialektische noch nicht weitgehend genug vorgestoßen sind. Hegel wußte von solchen Formen, auf die die neuere Sprachtheorie jetzt — da der vom Positivismusstreit autgewirbelte Staub sich zu legen beginnt — wieder zusteuert 5 1 1 . A n verschiedenen Stellen hat Hegel darauf hingewiesen, daß die Denkbestimmungen (wörtlich: was unser Denken bestimmt) als Formen i n der Sprache enthalten sind: 511 Eike von Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, F r a n k f u r t / M . 1969. Vgl. speziell wegen der reflexiven Strukturen der D i a l e k t i k : Karl R. Popper, Self-reference and meaning i n ordinary language, i n : Conjectures and Refutations, London 1965, S. 304 - 311.
16 Suhr
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6. Kapitel: Dialektik und kritischer Rationalismus
„Die Logik ist somit der allbelebende Geist aller Wissenschaften, die Denkbestimmungen der Logik sind die reinen Geister; sie sind das Innerste, aber zugleich sind sie es, die w i r immer i m Munde führen und deshalb etwas durchaus Bekanntes zu sein scheinen. Aber solch Bekanntes ist gewöhnlich das Unbekannteste . . . M a n meint gewöhnlich, das Absolute müsse weit jenseits liegen; aber es ist gerade das ganz Gegenwärtige, das w i r als Denkendes, wenn auch ohne ausdrückliches Bewußtsein darum, immer m i t uns führen und gebrauchen. I n der Sprache vornehmlich sind solche Denkbestimmungen niedergelegt, und so hat der Unterricht i n der Grammatik, welcher den Kindern erteilt wird, das Nützliche, daß man sie unbewußt auf Unterschiede des Denkens aufmerksam macht 5 1 2 ."
„Die Grenzen meiner Sprache", schrieb Wittgenstein bereits i m Logisch-Philosophischen Traktat (5.6), „bedeuten die Grenzen meiner Welt". Er hat später daran gearbeitet, die Grenzen der Sprache, die i h m i m Traktat vorschwebte, zu verlassen und sich einen freieren Zugang zur Welt des Erkennens zu verschaffen: „Es ist interessant, die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihrer Verwendungsweisen, die Mannigfaltigkeit der W o r t - und Satzarten, m i t dem zu vergleichen, was Logiker über den Bau der Sprache gesagt haben. (Und auch der Verfasser der Logisch-Philosophischen Abhandlung 518.)"
Daher liegt es nahe, Wittgensteins tiefsinnigen Spruch: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt", hier einmal frei abzuwandeln u n d zu erweitern: Die Grenzen meiner Grammatik bedeuten die Grenzen meiner Sprache. Das gilt für meine erkenntnistheoretische w i e für meine wissenschaftstheoretische Sprache. Also bedeuten die Grenzen meiner erkenntnistheoretischen Grammatik die Grenzen meiner Erkenntnis, und die Grenzen meiner wissenschaftstheoretischen Grammatik bedeuten die Grenzen meiner Wissenschaft. Verbietet die Grammatik meiner Erkenntnistheorie Wider-Sprüche, so duldet meine Erkenntnis nur eine wider-spruchs-freie Welt. Dann ist die wirkliche Welt nicht die erkannte Welt. Da meine Sprache aber den Zweck hat, die Welt zu erkennen, — da also wirkliche Welt und erkannte Welt zusammenstimmen sollen, muß einer von uns beiden nachgeben: Ich oder die Welt. Gibt keiner f r e i w i l l i g nach, kommt es zum Streit. Ich widerspreche der Welt und bekämpfe ihre Wider-Sprüche, w e i l sie die Geradheit meiner 512 Hegel, Zusatz 2 zu § 24 der Enzyklopädie. Glockner 8, 88 = Werke 8, 85. Auch i n der Logik selbst (Glockner 4 S. 21, 55 = Werke 5 S. 20, 53) und andernorts (ζ. B. Glockner 3, 241 f. = Werke 4, 322) setzt er seine Logik m i t der Grammatik der Sprache gleich oder i n Parallele. Es ist bekannt, daß er dabei sogar Mehrdeutigkeiten i n bestimmten Begriffen („aufheben", „aufgeben", letzteren i n Werke 11, 574) Spuren logischer Zusammenhänge sieht, die sich i n der Mehrdeutigkeit von Vokabeln niedergeschlagen haben. 513 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Bemerkung 23 (Ausgabe Frankfurt 1967, S. 25).
6.4 Platz- und Sprachenwechséfèi
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Logik stören. Doch indem ich widerspreche, desertiere ich aus meiner Logik und laufe i n die offenen Arme der Welt über. Die Grenzen meiner Grammatik bedeuten nur künstliche Grenzen meiner Erkenntnis, sie waren nicht auch die Grenzen meiner wirklichen Welt. Während die Welt mich wiederhat, bleibt m i r nur übrig, die Grammatik meiner erkenntnistheoretischen Sprache zu erweitern, damit nicht auch i n Zukunft meine Wirklichkeit die Grammatik meiner Erkenntnis transzendiert. — 6.4 Platz- und Sprachenwechselei I m Punkte „Resistenz gegen selbstmörderische Rückwirkungen" unterscheidet sich der Wiedereinspeisungssatz von anderen — nicht unbedingt von allen — sozialwissenschaftlichen Aussagen. Das zeigte sich erst richtig, nachdem eine Sprachebene eröffnet worden war, von der aus dieser Unterschied i m wahrsten Sinne des Wortes „zur Sprache gebracht" werden konnte. M i t Eröffnung der neuen Sprachebene wurde sozusagen ein neuer Platz betreten, von dem aus sich neue ein-Sichten ergaben. Man kann sich den Wechsel der Sprachen also auch als Platzwechsel vorstellen: so viele Plätze, so viele Sprachen. Der Unterschied zwischen „schlichten sozialwissenschaftlichen Aussagen" und „Aussagen vom Typ des Wiedereinspeisungszusammenhanges und vom Typ Phönix" entspricht ungefähr dem Unterschied zwischen schlicht-sozialwissenschaftlicher Forschung und dialektischer Sozialwissenschaft. Vom Platz der Sprache, i n der der Unterschied „zur Sprache gebracht" wurde, ist dieser Unterschied allerdings „aufgehoben" bzw. „vermittelt": 1. „aufgehoben" i m Sinne von „beseitigt", nämlich innerhalb einer Sprache eingeebnet; 2. „aufgehoben" i m Sinne von „bewahrt", nämlich als Unterschied der besprochenen Sprachen erkannt und dargestellt; 3. „aufgehoben" i m Sinne von „hinaufgehoben", nämlich auf die neue Sprachebene. — Wer die Platz- und Sprachenwechselei sich noch einmal veranschaulichen w i l l , sollte sie für sich einmal an den Sätzen durchspielen: „Schaut m a n von oben auf diese Wendel, ist n u r ein Kreis sichtbar. Schaut man von der Seite, sieht m a n ein H i n - u n d - H e r . L ä u f t man i n Gedanken auf der Wendel selbst entlang, bemerkt m a n allenfalls die Veränderungen von Station zu Station. Begibt m a n sich i n eine der Stationen hinein, sieht m a n vielleicht gerade noch bis zur nächsten."
Wenn der Betrachter dabei m i t seiner Sprache von dem jeweiligen Platz aus i n kognitive Konsonanz mit seinem Gegenstand treten w i l l , braucht er interne Modelle, deren Logik diese Resonanz ermöglicht: wie am B i l d „Wendel", so auch i n der Wirklichkeit. 16»
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. Kapitel: Dialektik und kritischer Rationalismus
Die Dialektik entspricht den Sätzen vom Typ des Wiedereinspeisungszusammenhanges; denn sie hat es selbst m i t solchen zu tun. Die Erkenntnis über soziale Wirklichkeiten bleibt für den Dialektiker ihrem Gegenstande gegenüber kein äußerliches und abgeschiedenes System, sondern kehrt i n i h r „Anderes" zurück, aus dem sie hervorgegangen ist: i n das soziale Sein, das insbesondere und vor allem die übrige menschliche-soziale software umfaßt. So zeigt sich bei der Dialektik wie bei den Wiedereinspeisungszusammenhängen der Kreis: Sein-Erkenntnis-Sein. Dialektische Sätze schmiegen sich m i t ihrer Syntax diesem Kreise an. Sie machen sich diesen Zusammenhang zu eigen, nehmen i h n i n sich auf. So bekommen sie etwas mit von dem in-sich-zurückführenden Zusammenhang, der „ist und ewig ist". Der Dialektiker blickt sozusagen auf die Zusammenhänge, bis sie i n ihm abstrakt nachklingen, u m sie sodann i n seiner Sprache sich wieder durch Symbole zu vergegenständlichen und u m sie sodann auch draußen i n der Wirklichkeit vorzufinden: aber jetzt m i t dem Bewußtsein, daß es Kreise sind. Dieses Plus an Bewußtsein, das ein Plus an kognitiver Resonanz ist, scheint zunächst nur von theoretischem Interesse zu sein. Dieser Schein trügt aber: Wenn der Hase erst einmal theoretisch durchschaut hat, welches Spiel der Igel m i t i h m treibt, w i r d er sich auch praktisch nicht länger zum Narren halten lassen. („Plus an Bewußtsein" — das heißt nicht, daß die Zusammenhänge immer und jedem bewußt sein müßten. Sie müssen nur einmal durchschaut worden und für die, die ihnen aus praktisch-kritischem Interesse auf den Grund gehen wollen, zugänglich sein, damit sie nicht vergeblich gegen gesellschaftliche Strukturen anrennen, so wie Fliegen gelegentlich vergeblich gegen Fensterscheiben fliegen, w e i l i h r Verstand nicht fassen kann, daß etwas durchsichtig ist und doch undurchdringlich.) Die dialektischen Gesetze, nach denen die Erkenntnis ihrem Gegenstande kein Fremdes bleibt, sondern auf i h n zurückwirkt, macht auch Popper sich zunutze. Er greift die Dialektiker insbesondere als „falsche Propheten" an, denen es nicht so sehr u m die Wahrheit, sondern u m die Wirkung ihrer Worte gehe, — und er greift sie an m i t Worten, die ihrerseits auf den Leser wirken sollen. I n diesem Turnier w i r d m i t Worten, die w i r k e n sollen, u m die Wirkung von Worten gestritten, und zwar m i t Erfolg 5 1 4 .
514 Bryan Magee, Popper, Fontana 1973, S. 9 ff., f ü h r t Selbstzeugnisse bekannter Wissenschaftler an dafür, daß Poppers Einfluß die A r t , i n der sie ihre A r b e i t verrichten, verändert habe.
6.4 Platz- und Sprachenwechselei
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Das läßt sich empirisch belegen (und es ist Sache der betroffenen kritischen Rationalisten, diese Hypothese zu falsifizieren): Popper, der unermüdliche Kämpfer, läßt sich i m publizistischen K a m p f m i t seinen Gegnern zu einer Sprache hinreißen, die von weniger wohlwollenden K r i t i k e r n k a u m noch als hypothetisch-prognostisch anerkannt, sondern als superprophetisch bespöttelt werden könnte, nämlich zur Verkündigung eines Jahrtausendzyklus von Zivilisation u n d Wiedervertierung f ü r den Fall, daß die M e n schen nicht auf die richtigen Wissenschaftler zu hören lernen 5 1 5 , ganz nach der Syntax des klassischen Vorbildes: „ W e n n d u aber nicht gehorchen w i r s t der Stimme des Herrn, deines Gottes, daß d u haltest u n d tust alle seine Gebote u n d Rechte, die ich d i r heute gebiete, so werden alle diese Flüche über dich kommen u n d dich treffen."
Der Sache nach begibt Popper sich i m Kontext einer jedenfalls nicht unwissenschaftlichen Abhandlung unter die Programmierer der menschlich-sozialen software und spielt kraft seiner Rede und seiner Widerrede m i t i n dem großen Beeinflussungsspiel. I n diesem Spiel gilt für Popper, wovon er auch sonst überzeugt ist: „ T h e power of ideas, and especial of moral and religious ideas, is at least as important as that of physical resources 516 ."
Dieses Sprachspiel 517 freilich ist ernst. Hier wirkt die Rede und wirkt der Widerspruch. Es kommt gerade nicht auf die intellektuelle Bescheidenheit und Vorsicht i n der Sprache an, wie Popper sie vom Platz des Sprachkritikers aus verlangt, sondern auf den Effekt Danach werden die Worte gewählt und mitgeteilt (ohne daß dabei irgendwelche böswilligen „Kochrezepte" 5 1 8 i m Spiel sind, sondern einfach situationsgerecht 519): Hegels Philosophie ist die „übelste all jener absurden und unglaublichen Theorien". Die Dialektik ist ein „Überbleibsel altertümlichen Aberglaubens". „ N a i v " ; „ p r i m i t i v " ; „Träume"; „Falschmünzerei". „Anmaßung der dreiviertel Gebildeten"; „neuzeitlicher linker Kohl", der „noch anrüchiger ist als der neuzeitliche rechte K o h l " ; „Sünde wider den heiligen Geist" und last not least ein Vergleich m i t der „Hexenwissenschaft" 520 . Diese und ähnliche Buchstabenkombinationen dienen nicht mehr der Mitteilung von hypothetischen Erkenntnis515
Oben bei A n m . 489. Oben A n m . 481 S. 373. Die Macht der Ideen ist auch eine Macht der Sprache, i n der sie v e r m i t t e l t werden. Die Macht der Ideen und ihrer sprachlichen Codierungen ist eine „geistige" Macht. 517 Wittgenstein, a.a.O., Bemerkung 7: „ I c h werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, m i t denen sie verwoben ist, das ,Sprachspiel· nennen." (Hervorhebung v o n mir). 518 Wie Popper sie seinen neodialektischen Gegnern unterstellt, — bei 516
Grossner (oben Anm. 471) S. 281. 619
Ganz i m Sinne v o n Poppers „Situationslogik", — vgl. oben A n m . 492.
520
Popper bei Grossner, a.a.O., S. 278-289; bei Topitsch (oben Anm. 475)
S. 281; u n d i n : Der Positivismusstreit (oben A n m . 469), S. 113.
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6. Kapitel : Dialektik und kritischer Rationalismus
sen, die nie wahr, sondern allenfalls noch-nicht-falsifiziert sind. Diese symbolischen Salven sind vielmehr geeignet, den Empfänger, wenn er ein Gegner ist, zu treffen und zu reizen, oder, wenn er ein Gleichgesinnter ist bzw. zum Publikum gehört, in die richtige Stimmung zu bringen. Niemand w i r d die emotionale Redundanz der urigen Bilder und der religiösen Vergleiche sowie die damit intendierte und verbundene Wirkung besser abschätzen können als die Sprachkritiker unter den kritischen Rationalisten selbst. So ist die dialektische Wirklichkeit: Voller Wider-Sprüche i m buchstäblichen Sinne des Wortes. Wollte Popper einmal vollständig erkenntnistheoretisch überdenken und beschreiben, was er i n der Wirklichkeit ist und tut, müßte er die dialektische Grammatik zulassen und anwenden, die er bekämpft. I n dem er der Dialektik u m ihrer Einstellung zum Wider-Spruche w i l l e n widerspricht, w i r d er zu einem Widerspruche i n sich. Diese unbewußte Verlagerung des Widerspruches aus der Theorie ins Subjekt war bereits den Altmeistern der Dialektik vertraut: „Die gewöhnliche Zärtlichkeit f ü r die Dinge aber, die n u r dafür sorgt, daß diese sich nicht widersprechen, vergißt hier w i e sonst, daß damit der Widerspruch nicht aufgelöst, sondern n u r anderswohin, i n die subjektive oder äußere Reflexion überhaupt geschoben w i r d . " (Hegel 5 2 1 ) „Diese Ironie ist köstlich! die »Zärtlichkeit 4 f ü r N a t u r u n d Geschichte (bei den Philistern) — das Bestreben, sie v o m Widerspruch u n d K a m p f zu befreien." (Lenins Kommentar zum Hegelzitat 5 2 2 .)
U m die Widersprüche von Sprechern sozialwissenschaftlich zu modellieren, braucht man ein wissenschaftliches Modell, i n dem es Plätze gibt für die Sprecher und für ihre Wider-Sprüche. Rede und Widerrede müssen i n Sprache des Modells hineingeschachtelt werden wie wörtliche Rede durch Anführungszeichen i n einen Text. Und die Logik der Modellsprache muß eine Meta-Logik für den Umgang m i t ineinander geschachtelten Sprachen, für die Entwicklung dieser Sprachen, für die Genese von Wider-Sprüchen i n den Sprechern sowie für die Wechselwirkungen zwischen den Sprachen sein. Diese Meta-Logik ist insbesondere eine Logik der Platz- und Sprachenwechselei, die die Voraussetzung dafür ist, die Wirklichkeit einigermaßen umfassend zu begreifen. Das Gleichnis v o m Hasen u n d Igel könnte den Eindruck erweckt haben, als müsse es das Ziel sein, Wissenschaft n u r noch aus der Perspektive des Igels zu betreiben, — ein unrichtiger Eindruck. Viele berechtigte sozialwissenschaftliche Fragestellungen sind Fragen der „Etappe", bei deren B e antwortung m a n sich auch i n die Etappe hineinbegeben muß. U m aber die Rolle des Sozialwissenschaftlers i n der Etappe als solche zu begreifen u n d 521 522
Hegel, Logik. Glockner 4, 525 = Werke 6, 55. Lenin, Werke, Bd. 38 S. 129.
6.4 Platz- und Sprachenwechselei
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zu modulieren, muß m a n sich i n die Holle des Igels begeben. Diese Platzwechselei könnte als die Kunst des Dialektikers überhaupt angesehen w e r den. Große Dialektiker sind stets routinierte Platzwechseler gewesen. Wer nicht die Plätze wechseln kann, w i r d nie dialektisch denken lernen, sondern allenfalls vorstellungsarme Abstraktionen über die Lippen bringen w i e „These-Antithese-Synthese". Daß jedoch diese Platzwechselei, von der hier die Rede ist, nichts m i t Opportunismus zu t u n hat, versteht sich von selbst. Sie gleicht eher dem Verhalten eines Wanderers, der auf einen Berg steigt, u m sich zu orientieren, bevor er weiterwandert. — Die Platzwechselei ist i m sozialen Bereich nicht zuletzt notwendig (und zwar i n einer zerstrittenen Welt buchstäblich Not-wendig), damit man sich möglichst unbefangen auf die Plätze anderer Menschen begeben u n d versuchen kann, ihre Sprache von ihrem Platz aus ernst zu nehmen u n d zu verstehen. Verstehe ich jemanden, dann ver-stelle ich mich auf seinen Platz u n d spreche i n m i r seine Gedanken m i t . Es empfiehlt sich daher, die Platzwechselei hier noch einmal an einem altehrwürdigen Modell (Welttheater 5 2 2 *) beispielhaft durchzuspielen, — an einem Modell, das der W i r k l i c h k e i t v i e l näher ist als das B i l d von der Spirale bzw. Wendel, m i t dem oben gearbeitet w u r d e : Zunächst findet sich der einzelne Mensch als Spieler auf der Bühne des Lebens. E r spielt m i t , solange er keinen Anlaß hat, sich gegen das Spiel oder seine Spielregeln aufzulehnen. Leidet er unter den Spielbedingungen, k o m m t es wohl, daß er sich nach einem anderen, besseren Leben sehnt u n d beginnt, sich dieses andere Leben auszumalen. I n seinem I n n e r n konstruiert er eine Kontrastwelt, — einen theoretischen Widerspruch zur realen Welt. Denkt er darüber nach, daß er i n sich geht u n d die Idee von einem anderen Leben erarbeitet, erkennt er auch, daß er sich i n Gedanken schon aus dem Spiel des Lebens zurückgezogen hat: auf einen Platz, auf dem er sich w e nigstens theoretisch dazu entfalten kann, wozu es i h n treibt. Anschließend kehrt er vielleicht zurück ins wirkliche Spiel, u m es nach seinen Regeln umzugestalten. Aber nachdem er erst einmal erfahren hat, w i e er sich selbst beobachten kann, treibt er das Beobachtungsspiel womöglich noch weiter: T r i t t er gerade nicht auf der Bühne auf u n d spielt m i t , setzt er sich gedanklich ins Parkett. D o r t läßt er sich als Zuschauer hinreißen u n d abstoßen oder bleibt kühl. E i n andermal hockt er i n der M i t t e des Proszeniums unter dem gewölbten Kasten des Souffleurs. Oder er i r r t durch die R ä u m lichkeiten u n d sucht nach dem Verfasser des Stückes oder nach dem Regisseur, u m i h m über die Schulter u n d ins Drehbuch zu schauen. — Plötzlich mag er auch auf den Gedanken kommen, auf das ganze Gebäude zu klettern u n d durchs Glasdach hinabzublicken. V o n dort aus sieht er alles, was geschieht. Er bemerkt auch, w i e er selbst die Plätze wechselt. I h m w i r d das ganze Spiel bewußt. Dabei ist er selbst ein Glied des Ensembles u n d i m nächsten Augenblick, w e n n seine gedankliche Platzwechselei vorbei ist, ist er wieder m i t t e n darinnen. Jetzt aber, da er alle Spieler sieht u n d sich v e r gegenwärtigt, spielen sie i n seiner Vorstellung noch einmal, — u n d zwar spielt auch er selbst i n seiner eigenen Vorstellung „noch einmal", was er i m Spiel spielt. Der Mensch erkennt das Spiel. U n d w e i l er selbst ein Glied des Spiels ist, k a n n er sich als ein Organ des Spiels betrachten, i n dem das Spiel zum Wissen von sich selbst kommt. Das Wissen des Menschen v o m Spiel ist 522a Nicht zuletzt das Rollenkonzept der Soziologie gehört i n die Tradition der Benutzung des Theaters als einer Modellwelt. Vgl. Ralf Darendorf, Homo Soziologicus, 12. Aufl., Opladen 1973, S. 20 ff. Siehe auch J. Habermas, Theorie u n d Praxis, F r a n k f u r t 1972 (1963), S. 173.
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6. Kapitel: Dialektik und kritischer Rationalismus
Selbst-Wissen des Spiels von sich. Das Spiel k l i n g t i n einem seiner Spieler m i t . Diese Resonanz des Spiels i m Spieler ist das Bewußtsein des Spielers i m Spiel. Sein Bewußtsein i n diesem Augenblick ist diese Resonanz seiner internen Sprache m i t dem w i r k l i c h e n Spiel. Es spielt i n ihm, w i e es i n der W i r k l i c h k e i t spielt, — nicht i n allen Einzelheiten, aber i m Großen u n d Ganzen. Spricht er v o m Spiel, so spricht zugleich das Spiel durch i h n von sich. Denn er hat sich auf einen Platz begeben, auf dem seine Sprache Widerh a l l des ganzen Spiels ist. Steigt er anschließend v o m Dach hinab u n d blickt i n Gedanken noch einmal zurück, sieht er, daß er es war, der sich des Spiels u n d i n dem das Spiel sich seiner selbst bewußt geworden ist, — „bewußt" i m Sinne von Resonanz u n d Widerhall. Doch bleibt i h m keine Zeit, diesen Vorstellungen nachzuträumen; denn auf der Bühne wartet man auf seinen nächsten A u f t r i t t . Verfaßt der Mensch anschließend ein Protokoll seiner Beobachtungen, Erlebnisse u n d Handlungen, muß er m i t den Plätzen die Sprachen wechseln oder wenigstens bewußt oder unbewußt auseinanderhalten. Sonst werden aus den Unterschieden i n den Beobachtungen Widersprüchlichkeiten i m Gesamttext der Texte. Da es sich u m einen Text aus Texten handelt, taucht die Frage des Widerspruches i n zweierlei F o r m auf: Erstens k a n n einer der Texte, die die Beobachtungen von einem Platz aus wiedergeben, in sich widersprüchlich sein (intra-Sprachen-Widerspruch). Zweitens können W i d e r Sprüche zwischen Texten auftreten, die von verschiedenen Plätzen aus v e r faßt worden sind (inter-Sprachen-Wider-Sprüche). Stammt der Gesamttext von einer Person, taucht die Frage auf, ob die Person m i t den Plätzen ihre Maßstäbe wechselt oder woher die Wider-Sprüche sonst rühren.
6.5 Theoretische und praktische Widersprüche Wider-Sprüche sind Wider stände i m Zustande der Mobilmachung. Der theoretische Umgang m i t Wider-Sprüchen hat daher erheblichen Einfluß darauf, ob und i n welchem Umfang Wider-Sprüche zu Widerständen werden müssen, ehe sie zur Wirkung kommen oder zum Schweigen gebracht werden. Die inneren Barrikaden gegen gesprochene Wider-Sprüche sind das harmlose Frühstadium der Barrikaden, an denen geschossen wird. Gäbe es eine Kunst, die Barrikaden i m Bewußtsein wirksam abzubauen, bestünde Hoffnung, das es seltener zu Barrikaden i n den Straßen kommt. Ob und wie ein menschliches Bewußtsein fähig ist, Wider-Sprüche herein- und zur Wirkung kommen zu lassen bzw. überzeugend zu entschärfen, hängt davon ab, ob es entsprechend organisiert ist. U m die blutige „Vermittlung" von Widersprüchen zu vermeiden, muß ihre theoretisch-wirksame Vermittlung organisiert werden. Widerum setzt diese Aufgabe, wenn sie wissenschaftlich angegangen werden soll (wie insbesondere i n der Friedens- und Konfliktforschung), eine Haltung und ein sozialwissenschaftliches Modell voraus, die Wider-Sprüche schon i m Stadium ihrer symbolischen Inkubation zulassen. Und das Modell muß über eine Logik verfügen, die es gestattet, m i t den sym-
6.5 Theoretische und praktische Widersprüche
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bolischen Repräsentanten der wirklichen Wider-Sprüche nach plausiblen Regeln zu operieren. Wider-Sprüche, die ich nicht korrekt besprechen und sprachlich zur W i r k i m g kommen lassen oder entschärfen kann, m i t denen muß ich auf andere Weise fertig werden. So können die Freiheitsgrade meiner Sprache zu Freiheitsgraden meiner Praxis werden und die Befangenheiten meiner Sprache zu Ausweglosigkeiten meiner Praxis. So hängt die Frage nach der richtigen Logik für die Sozialwissenschaften i n direkter Linie zusammen m i t dem Problem, Gewalt i n der gesellschaftlichen Entwicklung zu vermeiden. Das Gewaltproblem an der Wurzel anpacken, heißt auch, es als das Problem der zugelassenen Wider-Sprüche auf erkenntnistheoretischer und auf wissenschaftstheoretischer Ebene anpacken. M i t dem Widerspruche auf erkenntnistheoretischer und wissenschaftstheoretischer Ebene nicht fertig zu werden, bedeutet hingegen, i n Kauf zu nehmen, daß eine der Quellen, über die vielleicht embryonale Gewalt i n den sozialen Prozeß eingespeist wird, womöglich weitersprudelt. Der „Positivismusstreit" betrifft daher einen Stoff, der m i t gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zusammenhängt. Eine harmlose Ungereimtheit i m Umgang m i t dem Widerspruche auf theoretischer Ebene, motiviert etwa aus Gründen logischer Reinheit und Sauberkeit, ist vielleicht ein möglicher, ungewußter und gänzlich ungewollter K e i m von späterer Gewalt und Brutalität: ein K e i m für ungewollte praktische Fern Wirkungen erkenntnistheoretischer Arbeit. Und damit schließt sich der Kreis: Wenn es zur Aufgabe der Sozialwissenschaften gehört, solche unbeabsichtigten Fernwirkungen absichtsgeleiteten Handelns bewußt zu machen und zu vermeiden, dann gehört es zu den dringendsten Aufgaben der sozialwissenschaftlichen Logiker, das Problem des zugelassenen WiderSpruches und des ausgeschlossenen Widerspruches plausibel zu lösen. Der kritische Rationalismus läßt den Wider-Spruch zu: Er braucht als den Agenten seiner Erkenntnispraxis den K r i t i k e r , der kritischrational denkt und aus dieser Haltung kritische Wider-Sprüche gegen theoretische Modelle geltend macht: Popper sagt, es sei „das Herausstellen (!) von Widersprüchen", das zur Änderung der Theorien führe (sofern man in den Theorien keinen Widerspruch zu dulden sich entschließeO 523. Er beschreibt also ein operatives erkenntnistheoretisches Modell, i n dem zwischen Wider-Sprüchen gegen und Widersprüchen in Theoriesystemen unterschieden wird. M i t Popper kann man das erkenntnistheoretische Modell auch „Theorie der Theorien" nennen 0 2 4 . I n dieser kritisch-rationalen Meta-Theorie der Erkenntnis w i r d besprochen, daß und wie kritische Wider-Sprüche Fortschritte der Erkenntnis «3 Popper bei Topitsch (oben Anm. 475) S. 267. «4 popper, L o g i k der Forschung, 4. Aufl., Tübingen 1971, S. 31.
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6. Kapitel: Dialektik und kritischer Rationalismus
bewirken. Der kritische Rationalismus ist also, könnte man schließen, m i t dem Problem fertig geworden, den Umgang mit Wider-Sprüchen zu organisieren, oder er ist zumindest auf dem richtigen Weg. Und das stimmt. Es kommt aber noch etwas hinzu, durch das sich die Beurteilung verschiebt. Der kritische Wider-Spruch, den die kritisch-rationale Erkenntnistheorie braucht, damit er zur Wirkung komme und Fortschritt zeuge, betritt die Stube der kritisch-rationalen Erkenntnis von außen. Er erscheint durch eine Tür, welche die kritisch-rationale Erkenntnistheorie für i h n logisch offen stehen läßt. Er spricht sein „Nein" gegen eine Hypothese, läßt es auf die Anwesenden w i r k e n und hat seine Schuldigkeit getan. — Versucht man, diesen wirkungsvollen Besuch i n einer Meta-Sprache zu besprechen, u m die logischen Regeln zur Sprache zu bringen, nach denen er sich abspielt, muß man eine Sprache sprechen, i n der der Widerspruch zwischen der (alten) Hypothese und der (sie zersetzenden) K r i t i k i n grammatisch zulässiger Weise formuliert werden kann. A u f dieser Ebene ist der Widerspruch zwischen WiderSpruch und Hypothese zuzulassen. Dieser Widerspruch ist nichts anderes als die symbolisch festgehaltene Form des tatsächlichen WiderSpruches, durch den er i n die Sprache eingeführt wurde. Eine kritisch-rationale Meta-Sprache der Erkenntnis, die den k r i t i schen Wider-Spruch zwar braucht, für i h n aber keinen logisch legitimen Platz vorsieht, w e i l ihre Logik den Widerspruch ausschließt, erinnert an eine gehemmte Verliebte: A n eine Jungfrau 5 2 5 , die sich von ihrem geliebten kritischen Wider-Spruch zwar fortschrittliche Kinder wünscht, die i h n aber logisch nicht ins Haus läßt, w e i l sie unbescholten bleiben w i l l , — die es sich aber nicht nehmen läßt, über den angeblich unlogischen Lebenswandel ihrer dialektischen Nachbarinnen herzuziehen, bei denen die Wider-Sprüche ganz offen ein- und ausgehen. So kommt der Wider-Spruch ins Haus wie ein Engel vom Himmel, läßt sich als logisch nicht wahrgenommener Widerspruch nieder und verhilft so dem kritischen Rationalismus stets dort zu Fruchtbarkeit, wo er wegen seiner logischen Moral längst ausgestorben wäre. Und so kommt der kritische Rationalismus zur scheinbar vom Widerspruche unbefleckten Erkenntnis. Es ziemt daher dem kritischen Rationalismus nicht, die Dialektik als Aberglauben zu bekritteln, solange er selbst m i t Geistern arbeiten muß, die es für i h n logisch gar nicht geben dürfte. Mögen auch die 525 Vgl. R. Bubner (oben A n m . 470, S. 143): „ I n der Behandlung des W i d e r spruches ist die hegelsche L o g i k m i t Popper ganz einig. Dialektische L o g i k verhält sich nicht jungfräulich gegenüber Widersprüchen, nachdem sie deren Fruchtbarkeit erkannt hat."
6.5 Theoretische und praktische Widersprüche
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sprachlichen Schwächen und m i t ihnen die Ähnlichkeiten 5 2 6 zu m y thologischen Vorformen auf Seiten der Dialektik sein, — das spiritualistische Bewußtsein als solches ist eher auf Seiten des kritischen Rationalismus selbst, mag er es sprachlich auch noch so rational verpacken. Auch die kritisch-rationale Sprache bleibt häufig hinter den Anforderungen zurück, die sie an andere stellt. Zwar hält der kritische Rationalismus der Dialektik vor, sie arbeite m i t Leerformeln. Aber gerade diese Eigenschaft, ein syntaktisches Gerüst m i t Leerstellen für Variable zu sein, hat die Dialektik m i t nichts anderem gemeinsam als m i t — der formalen Logik aristotelischer Abkunft. Denn der Dialektiker teilt m i t dem Logiker die Liebe zum Allgemeingültigen u n d Abstrakten, — die Liebe zur Grammatik des Denkens i m Gegensatz zu den Vokabeln des Denkens. Insoweit besteht kein Grund, einander zu w i dersprechen und Vorwürfe zu machen. Doch geht es den Gegnern der Dialektik weniger u m die Leerformelstruktur als solche, als vielmehr u m den Mißbrauch, der m i t dem logischen Schein der Formeln getrieben werde. Aber auch i n diesem Punkte steht die Dialektik nicht allein. Ebenso häufig wie die dialektischen Formeln von Dialektikern werden die sonstigen logischen Formeln von anderen i n der wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Umgangssprache mißbraucht. Insbesondere Popper bevorzugt bei seiner K r i t i k an der D i a l e k t i k pseudologische Vokabeln, die stringente Einzel- oder All-Aussagen u n d volle Schlüssigkeit vorspiegeln, w o i n der Regel sehr v i e l vorsichtigere F o r m u lierungen angebracht wären. M a n unterstreiche etwa i n seinen Arbeiten, insbesondere i n seinem Aufsatz über Prognose u n d Prophetie i n den Sozialwissenschaften, alle Wörtchen w i e : v ö l l i g ; vollständig; m u ß ; notwendig; stets; alle; n u r ; n u r dann; rein; kein; jedwede; nicht; nichts usw. D a n n zähle m a n sie, prüfe, i n w i e vielen Fällen sie so streng gemeint sind, w i e der Wortlaut scheinen läßt, u n d berechne den Strengequotienten der Popperschen Sprache. Dabei darf m a n w o h l denjenigen Maßstab anlegen, den Popper selbst aufstellt: „Die These, daß w i r nichts (!) wissen, ist ernst gemeint. Es ist wichtig, unsere Unwissenheit nie (!) zu vergessen. W i r dürfen daher nie (!) vorgeben, zu wissen, u n d w i r dürfen nie (!) große Worte gebrauchen 5 2 7 ." E i n evidenteres Beispiel f ü r Mangel an Selbstreflexion (Unfähigkeit, einen Satz, den m a n schreibt, an dem Maßstab zu messen, der darin beschrieben wird), ist w o h l k a u m zu finden. So stellt sich heraus, daß weder die übliche noch die dialektische L o g i k i n der normalen u n d i n der politisierten Wissenschaftssprache so asketisch bzw. sprachkritisch angewendet w i r d oder auch n u r angewendet werden könnte, w i e es f ü r empfehlensw e r t gehalten w i r d . 526 I n Wahrheit ist diese Ähnlichkeit eine Stärke der D i a l e k t i k , — so w i e man es als Stärke der Weltmodelle von Einstein, Newton u n d Kepler ansehen kann, daß sie die jeweils früheren Vorstellungen als plausible Annäherungen an die genaueren Modelle „rechtfertigen" können. — Vgl. Hegel, Enzyklopädie, Zusatz zu § 82, zum Verhältnis der spekulativen V e r n u n f t zur Mystik. 527 Bei Grossner, a.a.O., S. 281.
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6. Kapitel: Dialektik und kritischer Rationalismus 6.6 Der menschlich-gesellschaftliche Prozeß als Polylog
Die soziale Wirklichkeit hatte sich oben als Sprachspiel erwiesen, i n dem es ernst zugeht: ein vielstimmiges Gespräch oder Polylog. I n diesem Gespräch kommen freilich nicht nur Worte vor, sondern auch handfestere Ereignisse, die nicht nur als symbolische Repräsentanten fungieren: Ein Wortgeplänkel ζ. B. geht über i n einen Faustkampf, — an die Stelle des Symbolabtauchs t r i t t der Schlagabtausch. Diese Unterschiede bereiten auf Modellebene insofern keine Schwierigkeiten, als beide Formen der Kommunikation, die sprachliche wie auch die vorund nachsprachlichen Formen, ohnehin i m Modell bloß repräsentiert und dabei gewissermaßen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. I m folgenden w i r d also nicht n u r an sprachliche Ereignisse gedacht, w e n n v o m Polylog die Rede ist. M i t der Modellsprache w i r d die nichtsprachliche Welt miterfaßt: Das ist möglich nicht etwa, w e i l die nichtsprachliche Welt sprachen-gleich oder geist-gleich ist, sondern w e i l die sprachliche Welt der nichtsprachlichen darin gleicht, daß sie aus Ereignissen besteht. Nicht w e i l die Welt geist-gleich ist, k a n n der Geist sie begreifen, sondern w e i l der Geist weit-gleich ist: E r besteht aus weltlichem Material, verarbeitet w e l t liche Ereignisse u n d k a n n sich daher weltähnlich organisieren. Wenn allerdings der Geist i n diesem Sinne weltgleich ist, dann ist die Welt auch geistgleich, — oder nicht 5 2 8 ?
Das Polylog-Modell 5 2 9 der sozialen Welt hat Platz insbesondere auch für den Sprecher i m Polylog, der ich selbst bin. Dabei w i r d jetzt, i m Blick aufs Ganze, etwas bewußt, das bislang stillschweigend vorausgesetzt wurde: Ich bin, wie die anderen, nicht nur Sprecher, sondern auch Hörer, und zwar i m wörtlichen Sinne (hinsichtlich der sprachlichen Ereignisse) und i m übertragenen Sinne (hinsichtlich der handfesteren, vor- u n d nachsprachlichen Ereignisse). Bevor ich meine ersten Worte spreche, habe ich meine ersten Worte gehört. Ehe ich spreche, lerne ich sprechen. Ehe ich über den Polylog sprechen kann, lehren mich einige Sprecher des Polylogs, denen ich zuhöre, zu sprechen. Sie organisieren i n m i r meine menschlich-soziale software. So macht „der Polylog" durch diese seine Sprecher aus m i r 528 529
Dies zu Popper bei Topitsch (oben Anm. 475) S. 276 f., 281 f.
Beim „Polylog" sind drei Begriffe zu unterscheiden: Erstens der wirkliche Polylog, der alles i n sich umfaßt, z.B. auch diese Zeilen u n d das, was hier über i h n geschrieben w i r d . Insofern ist „Polylog" ein Name f ü r die Wirklichkeit, zu welcher selbst noch dieser Name hinzugehört. Zweitens w i r d v o m „ M o d e l l Polylog" gesprochen: Hierbei handelt es sich u m eine symbolische Modellierung des w i r k l i c h e n Polylogs (welche ihrerseits hineingeschachtelt ist i n den w i r k l i c h e n Polylog). Drittens das jeweilige dialektische Verhältnis zwischen Polylog-Modell u n d w i r k l i c h e m Polylog, w i e es z.B. als ein Verhältnis eines Kopfes, der die Welt als Polylog anschaut, zu dieser Welt erscheint.
6.6 Der menschlich-gesellschaftliche Prozeß als Polylog
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ebenfalls einen Sprecher, indem er durch sie auf mich einwirkt und an m i r i m Zuge meines Sozialisationsprozesses Programmierarbeit leistet. Diese Einwirkungen auf mich sind von m i r aus gesehen eine Metasprache, die wirklich (mit Wirkung) zu m i r gesprochen wird. Ziehe ich eine gedanklich-terminologische Trennungslinie zwischen m i r hier und dem übrigen Polylog dort, dann w i r d die polylektische Situation durch das Einziehen oder auch nur Bewußtmachen von Systemgrenzen i n eine dialektische Situation zerlegt: i n die Ich-Umwelt-Situation. Der übrige Polylog hat mich zum Sprecher gemacht (sozialisiert). Aber er empfängt auch all mein Verhalten und w i r d dabei selbst wieder geprägt (wie etwa meine Kinder durch mich). Der übrige Polylog, der durch seine wirklich-wirksame Metasprache zu m i r gesprochen hat, zu dem spreche ich dann selbst eine solche Sprache, mag ihre Wirkung nun verschwindend sein oder nicht. Die gleiche A b wechslung von Sprechen und Besprochenwerden, von Handeln und Behandeltwerden, von Senden und Empfangen, von A k t i v i t ä t und Passivität, von Herr und Knecht, beobachte ich bei den anderen. Es scheint, als sei jede Sprache zugleich mehr oder weniger organisierte und organisierende Sprache, also wirkliche Sprache und wirkliche Meta-Sprache, und zwar i n einem Netzwerk von Sprachbeziehungen, das nicht hierarchisch organisiert ist, sondern von Schleifen durchsetzt ist. I m Gesamtpolylog erscheinen die (spezialisierten) Wissenschaftssprachen als Sprachen über Wirklichkeiten, wie sie sich von ganz bestimmten Plätzen („Systemreferenzen") aus darbieten. Rein empirische Wissenschaften sind bemüht, sich ihrem Gegenstand gewissermaßen nur anzuschmiegen. Das heißt: Sie unterwerfen sich der „Sprache" ihrer Ereignisse, „befragen" diese durch Experimente und korrigieren ihre Sprache nach Maßgabe der „Antworten", die sie erhalten. Anders bei technischen Sprachen, i n denen es auch darum geht, den Gegenständen unter Ausnutzung ihrer physikalischen und chemischen Zusammenhänge beizubringen, eine auf menschliche Zwecke h i n ausgerichtete „wirkliche Sprache" zu „sprechen". Auch soweit es darum geht, die menschlich-soziale software und die Widereinspeisungszusammenhänge zu erforschen, kann der Gegenstand i m Zuge seiner Erforschung und bei Mitteilung der Ergebnisse sowie überhaupt durch Einspeisung von Sätzen sozialtechnisch umgestaltet werden. Hier muß also dieser Vorgang selbst zum Gegenstand der Forschung werden, wenn man i h n i n den Griff bekommen w i l l . Spreche ich schließlich vom Polylog i n einer Sprache über den Polylog, so scheint es zunächst, als hätte ich endlich eine dem Polylog nicht mehr untergeordnete Sprache gefunden: die Meta-Sprache, die keine andere über sich dulden muß. Der Schein trügt jedoch, w e i l das ge-
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6 Kapitel: Dialektik und kritischer Rationalismus
schichtliche Moment fehlt: die Zeit. Ich lernte ja selbst nur sprechen kraft der Einflüsse des Polylogs auf mich. So sehr ich versuche, mich gedanklich auf Plätze außerhalb des Polylogs zu begeben, — stets sehe ich mich von dort aus auch noch im Polylog selbst. Mein Platz dort verwaist nicht. Vielmehr b i n ich nur vorübergehend und nur gedanklich i n eine Enklave emigriert, während ich i m nächsten Augenblick schon wieder am polylektischen Gespräch persönlich teilnehme. Und selbst i n meinen hypothetischen Sprach-Exklaven bleibe ich ein Sprecher des Polylogs. Aus i h m hinaus kann ich nicht. Als der wirkliche, leibliche Sprecher, der zwar die Plätze, aber sich dabei nicht selbst auswechseln kann, bin ich es, der selbst die Verbindung zwischen meinen Sprachen und meinen Plätzen ist und bleibt. 6.7 Entstehung des Polylogs U m die Aufgabe abzuschließen, i n großen Umrissen ein dialektisches Begriffsnetz zu organisieren, i n dem nach Möglichkeit auf dialektische Termini verzichtet wird, fehlt nun noch ein Schlußstein: Das Modell muß wie das dialektische seine eigene Entstehung und Entwicklung nachkonstruieren können, — nicht i m historischen Detail, w o h l aber prinzipiell. Das heißt: A m Polylog-Modell muß die Genese des Polylogs rekonstruiert werden können. Zum sozialen Polylog gehören zunächst die Sprecher („organische hardware"). Soweit es um deren Entstehung geht, muß das Modell gestatten, auch die biologische Entwicklung prinzipiell nachzukonstruieren. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich i m Bereich des organischen Werdens als leistungsfähiger und anschaulicher erweist als die bekannten Evolutionstheorien, sondern darauf, daß das allgemeine Modell prinzipiell seine organischen Vorstufen als Durchgangsstadien und Spezialfälle konstruieren kann. Durch diesen Anspruch w i r d das Polylogmodell zugleich der strengen naturwissenschaftlichen K r i t i k und Präzisierung zugänglich gemacht. Wenn es dieser K r i t i k nicht standhält, — wenn es also i m Bereich des organischen Werdens falsifiziert werden kann, ist auch i m gesellschaftlichen Bereich nicht viel Verlaß darauf. Hier freilich können nur Andeutungen gegeben werden, die von Berufeneren als einem Juristen ausgearbeitet werden müßten, bevor man allzu streng m i t ihnen ins Gericht geht. Der wirkliche Polylog hat als Monolog begonnen: Die toten Stoffe und Massen der unorganischen Welt reagierten miteinander und w i r k ten aufeinander ein nach den physikalischen und chemischen Gesetzen, die für diese Welt gelten. Die unorganische Welt prallte in den Ereignissen, die sich i n ihr ereignen, immer wieder nur m i t sich selbst zu-
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sammen. Sie führte ein ereignisreiches Selbstgespräch. Dabei wurde freilich nicht über irgendetwas gesprochen. Es gab keine Sprecher oder Zuhörer. Die Wirklichkeit hatte selbst das „Wort". Die Ereignise repräsentierten keine anderen Ereignisse, sondern stellten nur sich selbst dar: Ein kosmisches Rauschen von „unendlicher Langeweile" ohne Sinn und Ordnung (vom Platz des Biologen und Gesellschaftswissenschaftlers aus betrachtet), — oder ein prächtiges, erhabenes kosmisches Spiel von Notwendigkeiten und Zufällen (vom Platz des Physikers aus). Irgendwann ging aus dem monologischen Rauschen der unorganischen Welt ein erster Wiedereinspeisungszusammenhang von der Art hervor, daß eine Ereignisverkettung sich deshalb wiederholte, weil sie ihrem Produkt das Gesetz ihrer Bildung vererbt und i n reaktivierbarer Weise mitgeteilt hatte. Es entstanden die ersten Moleküle, die durch Reaktion m i t ihrer Umgebung Moleküle nach ihrem Bilde reproduzieren konnten. Diese Moleküle gaben ihren Bauplan, den sie an sich selbst trugen, weiter, indem sie sich selbst reproduzierten. Die Struktur wurde tradiert, indem der Struktur träger kopiert wurde. Der Strukturträger wurde tradiert, indem er „sich" und damit auch seine Struktur i n seine Umgebung einspeiste und nach dem Gesetz zu w i r k e n begann, das er an sich hatte. Die Molekularstruktur dieser ersten Moleküle, die sich selbst reproduzierten, kann als „ W o r t " oder „Satz" aufgefaßt werden, — und zwar als ein Satz, der die Wiedereinspeisung in die übrige Wirklichkeit unversehrt überstand. A m Anfang des Polylogs entstand also ein molekularer Satz vom Typ des Wiedereinspeisungszusammenhanges, — und zwar insbesondere ein Satz „vom Typ Phönix". Dieser Satz ertrug es, daß immer wieder neue Molekularbausteine unter seine Struktur subsumiert wurden. Er bestätigte sich bei jeder Reproduktion von neuem i m Durchschnitt als sowohl reproduktionsfähig als auch „resistent" gegen Auflösung bei der Wiedereinspeisung i n die übrige Wirklichkeit. So erzeugte die unorganische Welt aus sich selbst heraus und unter Verwendung ihres eigenen Materials und ihrer eigenen Gesetze einen Unterschied zu sich. Sie „negierte" ihr bloßes Rauschen und schuf sich einen ersten Satz vom Typ „Phönix": einen Strukturpartner, der sich selbst reproduzierte. Damit kam eine neue oder überhaupt erst eine Melodie i n das Rauschen der Welt. Die Welt hatte ihren ersten Satz gefunden, den sie nicht alsbald wieder verlor; denn er kopierte sich selbst. Die Welt entwickelte i h r erstes „Gedächtnis". Dieses „Gedächtnis" hatte seine Stärke darin, daß es die Sätze aufbewahrte, indem es sie immer wieder aus dem Material der Welt rekonstruierte. Es war ein aktives „Gedächtnis". Die unorganische Welt hatte einen strukturierten
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6· Kapitel : Dialektik und kritischer Rationalismus
Dialogpartner hervorgebracht, m i t dem sie Ereignisse austauschte. Dieser Partner war nicht das Material der Moleküle, sondern ihre Struktur, — eine Struktur freilich, die nichts war ohne ihr Material und sofern sie sich nicht „verwirklichte". Verwirklichen konnte sie sich nur, w e i l sie den Stempel ihrer Umwelt an sich trug, aus der sie hervorgegangen war und i n die sie wieder eingespeist wurde: Die Bausteine zu ihrer „Verwirklichung" waren Bausteine aus ihrer Welt. Das Gesetz ihrer Verwirklichung und Reproduktion war ein Gesetz, das sich i n genau dieser Welt als reproduktionsfähig bewährte und bestätigte. Der „Satz" und seine ökologische Nische paßten zusammen. I n diesem Sinne war die Struktur des ersten Satzes ein Abdruck und Zeugnis seiner Welt, — aber kein Abdruck i m Sinne eines bloßen Abbildes. Es gab noch kein Speichermedium, i n dem die Welt ein zur Wirklichkeit parallel laufendes Protokoll hätte führen können. Was sie sich „merken" wollte, mußte sie noch als molekulare Selbstreproduktion organisieren. Zwischen der unorganischen Welt u n d i h r e m ersten Strukturpartner bestand kein Abbild-Verhältnis, sondern eher eine A r t KomplementaritätsVerhältnis. Sie paßten zueinander w i e Stecker u n d Steckdose. Der ganze Witz des ersten Satzes bestand darin, daß er zurückwirkte i n die unorganische Welt u n d Sätze nach seinem V o r b i l d herstellte. Die S t r u k t u r u n t e r schied sich von den anderen molekularen Worten u n d Sätzen gerade u n d n u r dadurch, daß sie das molekulare Organisationsprogramm, das sie an sich trug, i m m e r wieder von vorn durchspielte. A m Schluß dieses molekularen Programmes stand gewissermaßen der Befehl: „Springe zu Befehl Nr. 1!" Dort ging es wieder los, sobald die Bedingungen, unter denen dieser Befehl ausgeführt werden konnte, e r f ü l l t waren. — (Setzt m a n die unorganische Welt als das unentwickelte „ A n sich" des Werdens, so erscheint der erste molekulare Satz v o m T y p „ P h ö n i x " als Manifestation einer Möglichkeit Die Möglichkeit manifestierte sich, indem ein Unterschied hervortrat u n d das Rauschen einen Gegensatz zu sich, eine Melodie, hervorbrachte. I n dieser Richtung läßt sich eine L o g i k der organischen Evolution beginnen, die zu Hegels dialektischer L o g i k isomorph ist.)
Es blieb nicht bei dem Dialog der Materie m i t ihrem ersten molekularen Partner, der sich selbst reproduzierte. So wie ursprünglich aus dem Monolog „zufällig" ein Programm vom Typ „Phönix" i n molekularem Code entstand, das zugleich eine reflexive Konstruktionsanweisung für die Reproduktion seiner selbst war, so blieb auch die Dialogsituation nicht unverändert. Sei es, daß bei der Vervielfältigung des Programmes Kopierfehler unterliefen, sei es, daß sonstige Ereignisse es verfälschten: jedenfalls w i r k t e n die „Partner" des Dialoges aufeinander ein und veränderten bzw. mutierten sich gegenseitig. Es entstanden Varianten des ersten Satzes, von denen einige sich ebenfalls als „Phönixe" bewährten. Damit erweiterte sich das aktive „Gedächtnis" der Wirklichkeit. Es wurde reichhaltiger. Das Gespräch wurde
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komplexer. Aus dem Dialog wurde ein immer vielfältigerer Polylog m i t immer komplexer organisierten Partnern. Wie das „erste Wort" tragen auch die weiteren Partner des Polylogs die Spuren ihrer Umwelt an sich. Sie „sprechen" die „Sprachen" ihrer ökologischen Nischen. A n den Formen und Organen der Fische haben die Strömungsgesetze und chemischen Eigenschaften des Wassers ihre Spuren hinterlassen, an denen der Vögel die der Luft. Die Organismen „verstehen" sich m i t ihren ökologischen Situationen, aus denen sie hervorgegangen sind und die ihre strukturbestimmende (wirklich-metasprachliche) Rolle an ihnen gespielt haben. Beim Aufbau ihres organischen „Gedächtnisses" verwendete die Welt zunächst eine Technik, bei der Struktur und Strukturträger Baustein für Baustein einander entsprachen. Die Struktur bestand darin, daß der Strukturträger sie an sich hatte. Der Satz bzw. das Programm konnte nicht auf Papier oder Magnetband kopiert werden, sondern existierte nur i n selbst reproduktionsfähigen Originalen. Darin hatte sich die Umgebung abgedrückt, — und u m den Abdruck zu ändern, mußte das Original verändert (also womöglich aufs Spiel gesetzt) werden. Die „Sätze" und die organischen Wesen, die sie darstellten, waren noch Wort für Wort und Buchstaben für Buchstaben aneinander gebunden. Die Wesen stellten die „Sätze" dar und die „Sätze" existierten nur insofern, als sie Organisationsprinzip von Organismen waren. I m Laufe der weiteren Entwicklung des Polylogs aber bildete sich ein Speichermedium i n den Organismen, i n dem Sätze unabhängig von dem „Satz" gespeichert werden konnten, das das Organisationsprinzip des Organismus selbst ist: Es bildete sich ein neuronaler Apparat. Die Speichermöglichkeiten für Abdrücke der Umwelt i n diesem adaptiveren Medium reichen vom primitivsten bedingten Reflex bis h i n etwa zum Auswendiglernen von Gedichten und zur Selbstorganisation und Einspeicherung eines Modells vom Typ „Polylog". N u n konnte die Umwelt auf dem Weg über die Sensoren des Organismus sich schneller, aktueller und beweglicher abdrücken als i n der feinen und relativ langsam mutierbaren Schrift der genetischen Baupläne. Beim Menschen schließlich sieht es so aus, als interveniere die Umwelt bei der Organisation des zu früh geborenen Organismus noch während der Ausführung der genetischen Baupläne und als rede sie über die Sinnesorgane schon ein formendes Wort mit, u m den Organismus dafür tauglich zu machen, aktuellste Modelle seiner jeweiligen Umwelt i n sich organisieren (abdrücken) zu können. Der Organismus ist ein langfristig-komplementärer Abdruck der Umwelt, der sich aktiv m i t i h r auseinandersetzt. Beim Menschen hat 17 Suhr
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dieser Organismus i n sich ein Organ ausgebildet, das seinerseits A b drücke der Umwelt empfangen, speichern und das Empfangen und Speichern beobachten und protokollieren kann, — und zwar nunmehr Abdrücke, die zur Umwelt nicht mehr nur komplementär sind, sondern ihr auch gewissermaßen parallel laufen. Diese Abdrücke stehen zur Wirklichkeit außerhalb des Organismus nicht mehr nur i m Verhältnis der Auseinandersetzung, sondern einer Ähnlichkeit, die einer Simulation nahe kommt. Wirklichkeit und Abdruck passen nicht mehr zusammen wie Stecker und Steckdose, sondern verhalten sich eher wie Original und Abbild. So hat die Welt mit dem Menschen einen Strukturträger hervorgebracht, i n dem sie sich zweifach abdrückt. I n dem menschlichen Organismus, der ein organischer Komplementärpartner zu seiner Umwelt ist (Abdruck der Wirklichkeit „erster Ordnung"), entstehen Modelle, die zur Wirklichkeit parallel verlaufen (Abdruck der Wirklichkeit „zweiter Ordnung" i n einem Speichermedium, das vom Abdruck „erster Ordnung" bereitgestellt wird). Die Abdrücke zweiter Ordnung sind keine toten Bilder, sondern dynamische Simulationen von Umweltvorgängen, m i t denen diese Umweltvorgänge modellartig durchgespielt werden können, — u n d zwar schneller durchgespielt werden können als sie i n der Umwelt sich abspielen. So kann die simulierte Wirklichkeit die übrige Wirklichkeit überholen. Die simulierte Wirklichkeit vermag m i t h i n von der Umwelt gewissermaßen abgekoppelt zu werden und kann i h r vorauseilen, u m die Zukunft i n groben Zügen durchzuspielen. Oder sie kann m i t der wirklichen Welt in Resonanz treten, wenn sie i h r hinreichend ähnlich ist. Ein anderes Bild: Der neuronale Apparat des menschlichen Organismus liefert eine A r t Exklave, die die Wirklichkeit hervorgebracht, oder eine Enklave, die sie i n sich selbst hineingestülpt hat, „ u m " sich darin ein Modell von sich selbst zu organisieren, i n dem sie sich selbst überholen kann, — ein Territorium für eine kleine aber beschleunigte Welt innerhalb der großen Welt, — ein Welttheater i m kleinen m i t Zeitraffer. So w i r d das Material beschafft für Vorhersagungen und Prophezeiungen. U m der Wirklichkeit vorauszueilen, muß ihr Modell vom Original abgekoppelt werden. Die Gefahren solcher Selbständigkeit liegen auf der Hand: Ohne Schritt für Schritt auf den Widerstand der Wirklichkeit zu stoßen und zur Resonanz mit ihr gezwungen zu sein, entfaltet sich die „kleine Welt" in ihrer gedanklichen Exklave schnell und leicht zu bestrickenden oder fürchterlichen Visionen, die den Verstand schließlich mehr oder weniger untauglich machen können dafür, sich i n die Wirklichkeit der Welt zurück- und darin noch zurechtzufinden. Unge-
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achtet der Gefahren jedoch liefert die „Exklave" mit ihrer ZeitrafferWelt i m kleinen die Möglichkeit, i n eine modellartige Zukunft vorzustoßen, u m sodann vom Platz i n dieser Zukunft zurückzukehren i n die Gegenwart, hier von der Zukunft zu berichten und die so ermittelten Erkenntnisse zu verwerten. So entstehen i m Polylog die Partner, die vom Platz der Zukunft sprechen und sich m i t ihren Stimmen schon heute ins Gespräch mischen: Propheten und Prognostiker. Kehrt jemand vom Platz i n der Zukunft, den er gedanklich eingenommen hatte, i n die Gegenwart zurück, — sagt er sodann, was er gesehen hatte, und macht dann jemand wahr, was jener gesehen hatte, dann gibt es Vorgänge, die dadurch verwirklicht werden, daß sie beschrieben werden. Dabei geschieht es, daß man zunächst ein Modell von der Wirklichkeit abkoppelt, m i t i h m die Wirklichkeit überholt, dann zurückkehrt und unter Verwendung der Beobachtungen auf der Exkursion i n die Zukunft wieder i n die Wirklichkeit eingreift, also eine Wiederverkoppelung m i t der Wirklichkeit herstellt. Bei dieser Wiederverkoppelung von Modell und Wirklichkeit zeigt sich, ob das Modell wirklichkeitskonform ist oder nicht. Je weiter gedanklich i n die Zukunft vorgegriffen wird, desto schwieriger w i r d es, die Gegenwart nach Maßgabe der Modelle zu gestalten. Meist muß das Modell dabei korrigiert werden. Dort, wo echt langfristige wahr-Sagungen angestrebt werden, verspricht nur eine Methode Hoffnung auf Erfolg: Das Modell, das verwirklicht werden soll, muß ein „Phönix" sein.
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7. Kapitel Von der Dialektik zur Verfassungstheorie Es ist ein Stück harter Arbeit für das Vorstellungsvermögen, den Ubergang von der Dialektik zur Verfassungstheorie als plausibel nachzuvollziehen und zu begreifen: den Übergang von der dialektischen Entwicklung der Verfassungen zur dialektisch verfaßten Entwicklung 5 3 0 . Vor diesem Übergang hat das dialektische Moment der Entwicklung gewissermaßen von draußen her sein Wesen oder Unwesen getrieben und gesellschaftliche Verhältnisse hervorgebracht, die einander ablösten, — „draußen" i n dem Sinne, daß es noch nicht ins Bewußtsein gedrungen war. Nun dringt es ins Bewußtsein und auf diesem Wege auch wieder i n die übrige Welt ein, und zwar i n denjenigen Teil der Welt, der begriffen und als solcher bewußt beeinflußt werden kann. Die Dialektik holt sich i m Bewußtsein selber ein und dringt über es wieder i n die gesellschaftlichen Verhältnisse hinein, auf die sie vorher nur von außen einwirkte. Dem geschichtlichen Prozeß abgeschaut und i n eine allgemeine Dialektik übersetzt, w i r d sie nun i n die Verfassung des gesellschaftlichen Prozesses, der auch ein geschichtlicher Prozeß ist, hineingearbeitet. Das ist ein langwieriger Vorgang, bei dem die Praxis oft klüger ist als die sie begleitende Theorie. Von diesem Vorgang w i r d hier nicht wie sonst von Dialektikern behauptet, er sei „notwendig", sondern i m Gegenteil angenommen, daß er nur stattfindet, wenn er gewollt und durch langwierige und selbstbeherrschte Arbeit an der Organisation des Bewußtseins und an der Organisation der Gesellschaft immer wieder zustandegebracht wird.
7.1 Gesetze hinter den Gesetzen I n dem geschichtlichen Prozeß, der von den Menschen ins Werk gesetzt wird, gibt es offenbar Einflüsse und Kräfte, die Verfassungen kommen und gehen machen. Hegel und Marx haben versucht, Gesetzmäßigkeiten i n diesen Einflüssen und Kräften zu entdecken. Beiden ging es um den Puls des Lebens, der unter der Oberfläche w i r k t und 530 Dieser Absatz greift Gedanken wieder auf, die oben i m Text vor und nach Anm. 286 bereits angedeutet worden sind.
7.1. Gesetze hinter den Gesetzen
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der die rechtlichen und ideologischen Kulissen hervortreibt, bestimmt und beseitigt. Beide wollten die Gesetze hinter den Gesetzen nicht nur i n philosophisch-spekulativer Abgeschiedenheit begreifen. Sie wollten sie erkennen, u m sich strategisch und taktisch nach ihnen auszurichten. Beide waren Politiker von unbeugsamer Energie, die die Gesetze hinter den Gesetzen studierten, w e i l sie Geschichte machen wollten. U m den Strom auf ihre weltgeschichtlichen Mühlen zu lenken, mußten sie ihre Mühlen am Strom bauen. Verfassungen sind von unterschiedlicher Lebensdauer und Biegsamkeit. Sie sind Einflüssen und Kräften ausgesetzt, die stärker sind als sie selbst. Wenn es, wie Hegel und Marx meinten, w i r k l i c h Gesetzmäßigkeiten in diesen Einflüssen und Kräften gibt, dann ist eine Verfassungstheorie so zuverlässig oder unzuverlässig, wie sie diesen Gesetzmäßigkeiten (bewußt oder ungewußt) Rechnung trägt oder nicht. Verfassungstheoretische Modelle von Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie, die ohne Rücksicht auf die wirkliche soziale Dialektik oder gar i m Gegensatz dazu entworfen, gelehrt und praktiziert würden, müßten die Dialektik von außen erfahren, sobald die Wirklichkeit ihnen Dialektik „einpaukt", sie verbiegt, entkräftet und beiseite schiebt. Gibt es dialektische Gesetze des gesellschaftlichen Prozesses, so hieße es gegen Windmühlen kämpfen, wollte man der Gesellschaft ihre dialektischen Gesetze m i t Hilfe einer Verfassung und der hinzugehörigen Verfassungspraxis auszureden versuchen. Solche Reden würden sich über kurz oder lang, auch wenn sie i n einer Verfassung stehen, als leere schöne Worte erweisen oder — wie Hegel, Marx und Lenin sagen würden — als Geschwätz. T r i f f t es zu, daß die menschlich-soziale W i r k lichkeit dialektisch war, ist und sein wird, dürfen verfassungstheoretische Modellkonstruktionen von vornherein nur als die jeweiligen Formen begriffen werden, i n denen sich die dialektische Wirklichkeit fortsetzt. Der Weg könnte allenfalls aus der bisherigen Entwicklung, bei der verhältnismäßig undialektische Formen einander dialektisch verdrängten, i n eine weitere Entwicklung führen, die schon selbst als dialektische begriffen und verfaßt wird, so daß die Wahrscheinlichkeit verringert wird, daß die Dialektik sich gegen die Verfassung von außen bemerkbar macht. Was eine Verfassung nicht in sich selbst an Dialekt i k vorsieht und was von der Gesellschaft nicht i n ihr selbst an Dialekt i k w i r k t , bekommt sie als Revolution oder Krise „von außen" zu spüren, — freilich nicht i m Sinne einer Heimsuchung aus dem Jenseits, sondern i m Sinne von Kräften, die aus dem Bewußtsein verdrängt wurden und sich den Weg in diese bewußte Welt erzwingen, und zwar meist aus dem Schoß der Gesellschaft selbst, u m die es geht, und daher letztlich doch von innen. Diese Dialektik läßt sich zwar verdrängen, aber nicht tilgen.
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7. Kapitel : Von der Dialektik zur Verfassungstheorie
Hier w i r d also davon ausgegangen, daß die Wirkungszusammenhänge i n der Gesellschaft von dialektischer Struktur sind. Dieser Grammatik hat sich die Verfassungstheorie und hat sich eine Verfassung anzuschmiegen und zu fügen. Sonst werden sie gefügig gemacht. Sie müssen an sich selbst haben, was die Wirklichkeit für sie ist. Haben sie den dialektischen „Geist" an sich oder i n sich, werden sie weniger überrascht, wenn sie i n der Wirklichkeit damit zu t u n bekommen. Dann vertragen sie sich eher m i t der Wirklichkeit und können in kontrollierter Konsonanz m i t ihr bleiben. M i t der Forderung, die Verfassungstheorie habe sich Wirkungszusammenhängen anzuschmiegen, die mächtiger sind als sie selbst, w i r d der Verfassungstheorie und Verfassungsgebung durchaus nicht der Spielraum genommen, innerhalb dessen sie sich bewegen kann. Es w i r d ihnen allenfalls klargemacht, daß es Richtungen gibt, i n denen sie nicht m i t dem Kopf durch die Wand können. Bringt ein Lehrer z.B. seinen Schülern bei, ihre Muttersprache grammatisch richtig zu sprechen, so beraubt er sie nicht ihrer Redefreiheit, sondern lehrt sie, richtig auszudrücken, was sie sagen wollen. Bringt ein Lehrer seinen Schülern bei, logisch richtig zu denken, so beraubt er sie nicht ihrer Denkfreiheit, sondern lehrt sie, folgerichtig zu theoretisieren. Ebensowenig beraubt man einen Verfassungstheoretiker oder Verfassungsgeber seiner theoretischen bzw. verfassungspolitischen Freiheiten, wenn man i h m die dialektischen Wirkungszusammenhänge bewußt macht, die für den politischen Prozeß gelten. I m Gegenteil: Wie die Grammatik zur Sprache und wie die Logik zum abstrakten Denken, so gehört die Dialektik zum Erkennen und zur verfassenden Arbeit an der menschlich-sozialen Wirklichkeit. Wie verträgt sich das, w i r d der eine oder andere Leser hier fragen, m i t der Tatsache, daß viele bisherige Politiker, Verfassungsgeber und Verfassungstheoretiker keine Dialektiker waren? — Es verträgt sich damit, weil sie i n der Regel mehr Dialektik an sich hatten und praktizierten, als ihnen selbst bewußt war. Wenn jemand noch nie etwas von der Grammatik seiner Sprache gehört hat oder sie nicht begreift, so heißt das noch lange nicht, daß er sie beim Sprechen entbehren könnte. So wie auch ein grammatisch ungeschulter Sprecher seine Sprache beherrschen kann, ohne zu wissen, wie es grammatisch dabei zugeht, so beherrscht die Dialektik auch die Praxis dialektisch ungeschulter Politiker und Denker, ohne daß sie wissen, wie ihnen dabei geschieht. Es kann sogar sehr hinderlich sein, während eines Gesprächs an die Grammatik oder während einer politischen A k t i o n an die Dialektik zu denken. Aber der Verfassungstheoretiker muß über sie nachdenken, Er ist ein Grammatiker unter den Theoretikern der Politik.
7.1. Gesetze hinter den Gesetzen
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Aus den gleichen Erwägungen wie i m vorigen Absatz ergibt sich noch eine schon konkretere Vermutung oder Erwartung: Die bekannten verfassungstheoretischen Modelle haben wahrscheinlich ebenfalls mehr Dialektik an sich oder i n sich, als man ihnen zunächst ansieht, — vor allem, wenn man das nimmt, was von ihnen in der Wirklichkeit übrig bleibt. Auch der dialektische Charakter dieser Modelle ist wahrscheinlich stärker ausgebildet als das Bewußtsein davon. Fügt man nun noch das Bewußtsein ihres „wahren" Charakters hinzu, erscheinen die Modelle i n einem anderen Licht. I n diesem Licht werden vielleicht Seiten sichtbar, die bislang mehr oder weniger verborgen waren. Eine Gestalt anders sehen, heißt, sie anders begreifen. Sie anders begreifen, heißt, sie „ i n einem anderen Geiste" dem Handeln zugrundelegen. So w i r d unter Umständen aus dem, was zunächst nur eine Veränderung i m Bewußtsein ist, eine Veränderung i n der Wirklichkeit. Den dialektischen Charakter verfassungstheoretischer Modelle nicht zu wissen bzw. ihn zu leugnen, ist eine Unwissenheit, die sich auf die Modelle selbst auswirkt bzw. sich an ihnen zeigen wird. Er w i r d sich vor allem dort zeigen, wo auch beim besten Willen die Wirklichkeiten nicht mit den Modellen und die Modelle nicht m i t den Wirklichkeiten zusammenzubringen sind und w o diese „Spannung zwischen Norm und Wirklichkeit" zum unerschöpflichen Quell verfassungsrechtlicher, verfassungspolitischer und allgemein-politischer Frustrationen oder Verwirrungen und so auch zum Quell von Unzufriedenheiten und politischen Kämpfen wird. Der Mangel offenbart sich daran, wie sehr die Idealtypen der Modelle durch Abstriche und Hilfskonstruktionen zurechtgeschustert oder gefügig gemacht und dabei womöglich bis ins Gegenteil verkehrt werden. Die Klagelieder von der Wirklichkeit, die hinter der Norm, und von der Norm, die hinter der Wirklichkeit hinterherhinke, sind Indikatoren solcher Frustration und weisen den Weg zu den Modellelementen, deren abstrakte undialektische Ecken und Kanten noch nicht abgearbeitet sind. Zu den verfassungstheoretischen Begriffen, die einem solchen Verschleiß ausgeliefert sind, könnte, wenn die Mahnrufe nicht gänzlich grundlos sind, vor allem auch der Staatsbegriff selbst gehören samt den Modellen, die an dieser vielleicht wankenden Säule festgebunden werden. Aber trotz dieser Mängel ist zu erwarten, daß sich die Modelle der klassischen Staats- und Staatsuerfassungslehre auch i m Lichte einer dialektischen Verfassungstheorie gerade nicht nur als reiner Unsinn und als vernichtenswerte ideologische Ausgeburten einer ebenso vernichtenswerten negativen gesellschaftlichen Wirklichkeit erweisen, sondern als konstitutionelle software- Pakete, die schon eine ganze Reihe von Härte- und Überlebenstests i m Zuge von Wiederein-
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7. Kapitel : Von der Dialektik zur Verfassungstheorie
speisungsprozessen hinter sich gebracht haben und noch hinter sich bringen. Das spricht dafür, daß die überlieferten verfassungstheoretischen Modelle viele bewahrenswerte Modellelemente enthalten, die auch i n einer transstaatlichen und dialektischen Verfassungstheorie unentbehrlich sind, w e i l sie bei ihrer Bewährung schon etwas von der dialektischen Grammatik der Wirklichkeit mitbekommen haben. 7.2 Zum Vorwurf „Idealismus !" „Verfassungsgebung ist wahr-Sagung." M i t diesem Satz beginnt der nächste Abschnitt (7.3). Der Gedanke, den dieser Satz ausdrückt, bringt wahrscheinlich bei einigen Anhängern des dialektischen und historischen Materialismus das Maß ihrer Geduld endgültig zum Überlaufen. Wie kann man nach Marx — werden sie m i r vorhalten — noch einem solchen infantilen Idealismus anhängen? — Dieser Frage läßt sich viel entgegenhalten. Was i m Nachstehenden vorgebracht wird, bet r i f f t nicht gründliche und besonnene Marxisten, die u m das Verhältnis von Ideal und W i r k l i c h k e i t 6 8 1 wissen. Es zielt eher darauf, für weniger dialektisch geschulte Marxisten, wie sie m i r i n Streitgesprächen, aber auch durchaus i n der L i t e r a t u r immer wieder begegnen, einige I m p l i kationen ihrer Parolen nach den Regeln der marxistischen Ideologiek r i t i k durchzuexerzieren. Daß zu diesen Regeln ein Schuß Polemik gehört, versteht sich von selbst. — „ D u Idealist!" — Dieser wohlfeile V o r w u r f eines Menschen gegen einen anderen Menschen ist f l i n k ausgesprochen. Er besitzt für die, welche ihn erheben, sowie für die, welche ihn für richtig halten, die Kräfte eines Zauberspruches: Erst einmal gedacht und zwischen sich und den anderen hingestellt, erzeugt er eine begriffliche Trennwand, hinter welcher der m i t dem W o r t „Idealist" be-sprochene wahre Mensch verschwindet und nur noch der be-Sprochene als ein ideologisches Gespenst des Menschen zurückbleibt. Diesem Gespenst schuldet der andere nicht mehr wie dem Menschen, der da vorher stand, Geduld beim Zuhören und Anerkennung als Mensch. Daher leisten Begriffsfetische wie der wohlfeile „Idealist" stets dann außerordentlich nützliche Dienste, wenn die fürchterliche Gefahr auftaucht, daß Menschen sich m i t einander als Menschen auseinandersetzen müßten. Gegen die unverschämte Zumutung, die Worte des anderen hereinzulassen und sie zu 531 „Alles, was die Menschen i n Bewegung setzt, muß durch ihren Kopf hindurch; aber welche Gestalt es i n diesem K o p f annimmt, hängt von den
Umständen ab." F. Engels, MEW 21 S. 298. — Vgl. Gottfried
Stiehler, Der
dialektische Widerspruch, 2. A u f l . B e r l i n 1967, S. 275; ders., Geschichte u n d Verantwortung, B e r l i n 1972, S. 29; Frank Rupprecht, Ideal u n d Wirklichkeit — Das revolutionäre Gesellschaftsideal der Arbeiterklasse i n historischmaterialistischer Sicht, B e r l i n 1968.
7.2 Zum Vorwurf „Idealismus!"
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verstehen, gibt es zwei wirksame Mittel: die physische oder die geistige Exekution des anderen. Die geistige Exekution geschieht am unauffälligsten, indem man ein paar Begriffsfetische vor sich hermurmelt. Das lenkt nicht nur von den lästigen Reden des anderen Menschen ab. Es beruhigt auch die eigenen Zweifel und vermittelt einen geistigen Halt, wie ihn Gebete den Gläubigen vermittelten. Und ist der andere erst durch geeignete be-Sprechung ideologisch entmenscht, entleibt und entwürdigt, kann man auch i m übrigen leichter m i t i h m fertig werden. Begriffsfetische sind Sprachprodukte des Menschen. Sie dienen nicht mehr dazu, eine Erkenntnis m i t einem anderen Menschen zu teilen. Sie haben nicht mehr die Funktion, sich mit-zu-teilen. Sie sind nicht dazu da, Erkenntnisse zu vergesellschaften und gemeinsamen geistigen Besitz zu schaffen. Sie haben nicht den Zweck der geistigen Kommunikation. Es handelt sich vielmehr u m Worte, die zu ideologischen Waffen verdinglicht sind, — oder auch zu ideologischen Waren, die i m rücksichtslosen Konkurrenzkampf der Ideologien auf den Welt-Markt geworfen werden, u m den Konkurrenten damit zu ersticken 532 . Durch „Definition der Situation", hieß es oben, ließen sich aus Situationen Gespenster machen. Ebenso lassen sich wahre, weil w i r k liche Menschen i n die ideologischen Gespenster verzaubern, als die man sie braucht, u m sie besser fertigmachen zu können: einzeln, zu vielen oder auch massenhaft. So gleicht die „Definition" eines Menschen zum „Idealisten" i n ihrem polemischen Sinne einer signalfarbenen Tarnkappe, die dem Gegner für den Eigengebrauch übergeworfen wird. Sie bewirkt, daß der Mensch von Fleisch und B l u t unter der Kappe verschwindet. A u f das so verhüllte und entmenschte Ziel kann dann um so treffsicherer und hemmungsloser m i t ideologischer Muniton geschossen werden. Dabei kommt den ideologischen Schützen nicht in den Sinn, daß sie nicht nur den anderen wirklichen Menschen durch die Verhüllungen dem Menschsein entfremden, sondern vor allem selbst auf ihren ideologischen Zauber hereinfallen. Es gehört zum Fetischismus, daß seine Anhänger oft gutgläubig und sich seiner nicht bewußt sind. Das ist bekannt vom Warenfetischismus her. Außerdem muß das ideell-ideologische Zaubermittel, das man selbst anwendet, i n der Hand des Gegners entkräftet werden: und zwar indem die eigenen ideell-ideologischen Waffen zu legitimen „materialistischen" definiert, die anderen, ebenso ideologischen Waffen aber als das diffamiert werden, was sie i n 532 Allgemein zur Sprache i m Materialismus: Ferruccio Rossi-Landi, Sprache als Arbeit u n d als M a r k t , München 1972 (S. 45 ff.); Ulrich Erckenbrecht, Marx* materialistische Sprachtheorie, Kronberg Ts. 1973.
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7. Kapitel : Von der Dialektik zur Verfassungstheorie
beiden Fällen sind: als idealistische Produkte des Bewußtseins. Das ist ideologische Absicherung ideonomischer Herrschaft. Es gibt keine bessere Tarnung ideonomischer Herrschaftsansprüche als ihre materialistische Etikettierung. Der Begriffsfetischismus erweist sich als folgerichtige Fortsetzung des Warenfetischismus m i t neuen (und zugleich uralten) Mitteln: M i t Produkten der Sprache und der Schrift auf dem Felde der geistigen und politischen Auseinandersetzung. Was bei dem Kapitalisten i m Bereiche der Ökonomie der ökonomische Egoismus, Monopolismus und Imperialismus, das ist bei dem Ideologen i m Bereiche der Ideonomie der geistige Egoismus, Monopolismus und Imperialismus. Waren- und Begriffsfetischismus sind zwei Inkarnationen ein und desselben Bewußtseins: des Einzigen und seines Eigentums, — der individualistischen, egozentrischen, entzweienden und vereinzelnden Illusionen der Epoche. Manche Ideologen des (un)dialektischen Materialismus springen m i t ihren Mitmenschen ideologisch nicht weniger zimperlich u m wie ihre bürgerlichen Zunftgenossen ökonomisch m i t ihren Mitmenschen umspringen. Sie haben allerdings kraft ihrer K r i t i k der politischen Ökonomie ein soziales Alibi, das sie selbst und andere davon überzeugt, sie seien schon sozial. So kommt es, daß Menschen, die sich als materialistisch und sozial begreifen, nicht selten m i t ideellen, nämlich ideologischen Waffen, höchst unsoziale Techniken anwenden i m Kampf um die richtige Ideologie: ein eigenartiger doppelter Widerspruch, der verbürgt, daß die Argumente nicht ausgehen, m i t denen dem jeweils anderen widersprochen werden kann nach der alten lustigen Regel: I h r „Gerede ist i n der Tat ein Gezänk eigensinniger Jungen, deren einer A sagt, wenn der andere Β (ruft), und wieder Β (behauptet), wenn der andere A (erklärt), und die sich durch den Widerspruch mit sich selbst die Freude erkaufen, miteinander i m Widerspruche zu bleiben" 5 3 3 .
Wie nahe beieinander der Waren- und der Begriffsfetischismus liegen, kann man schon bei M a r x lernen, der ein Beispiel aus der Sprache wählt, um den Warenfetischismus zu veranschaulichen: „Die einzig verständliche Sprache, die w i r zueinander reden, sind unsre Gegenstände i n ihrer Beziehung aufeinander. Eine menschliche Sprache verständen w i r nicht, und sie bliebe effektlos; sie würde von der einen Seite als Bitte, als Flehen und darum als Demütigung gewußt empfunden und daher m i t Scham, m i t dem Gefühl der Wegwerfung vorgebracht, von der anderen Seite als Unverschämtheit oder Wahnwitz aufgenommen und zurückgewiesen werden. So sehr sind w i r wechselseitig dem menschlichen Wesen entfremdet, daß die unmittelbare Sprache dieses Wesens uns als eine
Verletzung der menschlichen Würde, 533
dagegen die entfremdete Sprache . . .
Hegel, Phänomenologie. Glockner 2, 166 = Werke 3, 162/3.
7.2 Zum Vorwurf „Idealismus!"
267
als die gerechtfertigte, selbstvertrauende und sichselbstanerkennende menschliche Würde erscheint 5 3 4 ."
Wie man die Entfremdung der Beteiligten durch die K r i t i k der politischen Ökonomie an den Wirkungen der Warenzirkulation enthüllen kann, so kann man die Entfremdung der Beteiligten durch die K r i t i k der Ideonomie an den Wirkungen des Wortabtauschs enthüllen. Was der eine mittels der Waren und mittels Kapital fertig bringt, schafft der andere schon mit Worten: Die massenhafte Verachtung des Menschen durch den Menschen, aus welcher der verachtete Mensch hervorgeht. Beide sorgen für die Reproduktion des verachteten Menschen durch den verachtenden Menschen. Beide aber glauben, das Beste für den Menschen zu tun. So fahren sie beide fort, die Menschen zu verachten, während sie dem Menschen zu dienen meinen. Die Verkehrtheiten, die sie einander vorwerfen, sind nur verschiedene Seiten der epochalen Verkehrtheit, die ihnen gemeinsam ist. Der Mensch, der mit dem Vorwurf: „ D u Idealist" so schnell zur Hand und m i t dem anderen wirklichen Menschen so schnell fertig ist, vergißt daß gerade für ihn als eingeschworenen Materialisten die Behausung der Ideen, das „Bewußtsein", wie der Name sagt und wie schon Marx und Engels betonten, selbst nichts anderes ist als bewußtes Sein, — also nichts anders als ein besonderer Aggregatzustand des materiellen Seins: Das bewußt-Sein ist ein Sein, das in Resonanz mit sich selbst tritt. Die angeblich „idealistischen" Gestalten sind demnach selbst Gestalten des bewußten Seins. Wer also heute Ideen und alles, was danach aussieht, als idealistischen Dunst verspottet, der verspottet nichts anders als höchstwirksame Gestalten des materiellen Seins, das er gestern verehrte, dem er morgen wieder huldigen w i r d und aus dessen Zeughaus er sich täglich tüchtig selbst bedient. Aber wo sollten auch zwei dialektische Gedanken vom Typ des dialektischen Materialismus dialektisch zusammenstimmen, wo nicht einer ist. — „Ideen können nie über einen alten Weltzustand, sondern i m m e r n u r über die Ideen des alten Weltzustandes hinausführen. Ideen können überhaupt nichts ausführen. Z u m Ausführen der Ideen bedarf es der Menschen, welche eine praktische Gewalt aufbieten 5 3 5 ."
Freilich: Zum Ausführen der Ideen bedarf es tatkräftiger Menschen. Das war und ist nicht neu. Aber die Nürnberger henketen keinen, sie hätten ihn denn zuvor: Bevor der tatkräftige Mensch sie ausführen kann, muß er Ideen haben. Und diese Ideen müssen überzeugend genug 534
M E W EB I S. 461. M E W 2 S. 126. Vgl. aber auch M E W 18, 161: „ T r i u m p h der sozialen Ideen (!), die einst . . . die Weltherrschaft des Proletariats herbeiführen werden", u n d dazu wiederum das Z i t a t oben bei A n m . 362. 535
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7. Kapitel : Von der Dialektik zur Verfassungstheorie
sein, um nicht nur die Bedürfnisse nach K r i t i k und Vernichtung, sondern auch das Bedürfnis nach Aufbau und Leben zunächst theoretisch und dann langfristig praktisch zu befriedigen. Sie müssen jeweils lebensnah und genau genug ausgebildet sein, u m auch wirklich „ausgeführt" werden zu können. Und sie müssen von solcher Struktur sein, daß sie sich als ausgeführte Ideen nicht auf die Hinterfüße stellen und als ungerufene negative Macht auf den Menschen zurückschlagen. Zur Ausführung der Ideen gehört zweierlei: Überwindung des alten und Herbeiführen des neuen „Weltzustandes". Mag des Weges erster Teil auch kritische Theorie und kritische Praxis sein. Des Weges zweiter Teil ist konstruktive Theorie und konstruktive Praxis. Und erst wenn der zweite Teil theoretisch wenigstens i n großen Zügen abgeschlossen ist, läßt sich beurteilen, welches der kürzeste und unaufwendigste, aber doch noch praktisch begehbare erste Teil des Weges aus dem alten i n den neuen Weltzustand ist. Die konstruktiven Elemente der marxistischen Theorie · stehen nicht wie die kritischen Systemteile abrufbereit da für die Umsetzung i n revolutionäre Praxis. Marx hatte sich seit der Einleitung „ Z u r K r i t i k der Hegeischen Rechtsphilosophie" i n die kritische Analyse der ökonomischen Verhältnisse und i n die kritische Praxis vertieft, so daß die andere nicht mehr nur ökonomische Aufgabe, das „Wohin" der Revolution genau zum Bewußtsein zu bringen, zurückgestellt blieb. Wenn Marx den utopischen Kommunismus bissig zerfetzt und wenn er sich für den Kommunismus nicht als einen zukünftigen Zustand entscheidet, sondern für den Kommunismus als einen Weg, heißt das durchaus nicht, daß er das Ziel des Weges damit unter ein dogmatisches Tabu stellen wollte. Und selbst wenn er es getan hätte, etwa u m die theoretischen Kräfte ganz auf die allernächste Praxis zu konzentrieren, kommt der Tag, an dem man sich über das Tabu hinwegsetzen muß. Denn es würde den Denkern der revolutionären Bewegung die denkende, ideelle Bewußtseinsarbeit genau für die Station des eigenen Weges verbieten, die an der Grenze der Vorgeschichte der Menschheit und der Menschheitsgeschichte liegt, — für die Station also, i n der die bewußte Arbeit des Menschen an der menschlichen Gesellschaft einsetzt. Hat man sich vorher nicht einmal i n der Theorie geeinigt, so w i r d man erst recht i n der Praxis entzweit bleiben. Man macht einander das Leben ebenso schwer, wie man es den dankbaren Gegnern erleichtert. „Sich in der Theorie einigen", — das heißt unausweichlich: ein Werk geistiger Vergesellschaftung zustandezubringen. „Sich i n der Theorie nicht einigen", — das heißt ebenso unmißverständlich: die eigene Fähigkeit zur Vergesellschaftung selbst durch ein Gegenbeispiel öffent-
7.2 Zum Vorwurf „Idealismus!"
269
lieh zu wiederlegen. Zur Vergesellschaftung aber unfähig sein, bedeutet: noch zu viel von dem individualistischen, egozentrischen Bewußtsein des gleichen Einzigen und seines Eigentums an sich zu haben, den man bekämpft. Nur das Gewand, i n dem der Einzige auftritt, ist von anderer Farbe: Der Einzige streift die ökonomische Hülle ab, um sogleich i n ideonomischer Hülle wieder auf die Bühne des gesellschaftlichen Kampfes der Einzelnen zurückzukehren. Man muß also genau fragen, wie der Mensch den Menschen produziert und wie er sich aus den vereinzelnden Illusionen der Epoche herausarbeiten kann. Es fragt sich vor allem, wie diese Produktion des Menschen durch den Menschen nicht bloß i m nominell materialistischen, tatsächlich aber esoterischen Dunstkreis ideologischer Abstraktionen sich abspielt, sondern i n der wirklichen Gesellschaft mit wirklichen Menschen organisiert werden kann. Dabei gehen die Darstellung des Menschen und die Darstellung der Gesellschaft ineinander über: der Mensch ist gesellschaftlicher Mensch; und die Gesellschaft ist menschliche Gesellschaft, — „Ich, das W i r ; und Wir, das Ich ist" (Hegel) 536 . Der konkrete und zur Gesellschaftsverfassung taugliche Entwurf des gesellschaftlichen Menschen gelingt freilich nicht auf Anhieb. Aber wie in Hegels Philosophie schon seit Aufdämmern des Bewußtseins vor Tausenden von Jahren, so t r i t t i m Marxismus spätestens m i t der proletarischen Umwälzung an die Stelle des Phasenvorsprungs, den das soziale Sein vor dem sozialen Bewußtsein hatte, jetzt (auch) ein Phasenvorsprung, den das Bewußtsein vor dem Sein hat. Diesen Phasenvorsprung muß sich das Bewußtsein allerdings selbst herausarbeiten, indem es an seiner inneren oder „idealen" Welt arbeitet. Dabei bekommt das Bewußtsein nichts geschenkt. U m i h m die Mühe zu erleichtern, muß ihm die ideelle Arbeit wenigstens ideologisch und theoretisch freigegeben werden. Es darf nicht immer wieder dogmatisch zurückgepfiffen werden, wenn es t u n w i l l , was an der Zeit ist („an der Zeit" gegen Ende der Vorgeschichte der Menschheit). Solange sich das Bewußtsein des einen oder anderen Marxisten selbst die emanzipierende Einsicht dogmatisch verbietet, jetzt bestimme auch das menschliche Bewußtsein das gesellschaftliche Sein, solange bleibt für ihn der gesellschaftliche Mensch i n einer menschlichen Gesellschaft i n der Tat ein schlecht-idealistischer Traum: ein leeres Ideal, das verdrängt ist in eine transzendente Zukunft und das wie eine Schaumblase auf den Strudeln eines Materialismus treibt, dessen Selbstverständnis nur dem Namen nach dialektisch ist. Die allgemeine, objektive philosophisch-wissenschaftliche Verurteil lung und Diffamierung des „Idealismus" mutet allerdings häufig bloß 536
Oben Anm. 341.
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7. Kapitel : Von der Dialektik zur Verfassungstheorie
an wie eine ideologische Verhüllung und Beschirmung der eigenen Unfähigkeit, die Anstrengung des dialektischen Erkennens auf sich zu nehmen. Hinzu k o m m t die Sorge, der eigene, heimliche Idealismus könne sich zeigen. Es ist dieser eigene, uneingestandene Idealismus, — diese eigene, zum Schweigen verurteilte Stimme, die so lästig und provozierend ist, wenn ein anderer sie zur Sprache kommen läßt; denn sie mahnt an die Gefangenen i m eigenen Kopfe. A l l e diese undialektischen Beschränktheiten des Subjekts werden sodann, damit sie nicht als solche hervortreten können, instinktiv zur objektiven materialistischen Theorie verallgemeinert. Der Projektionsmechanismus, kraft dessen der einzelne Mensch seinen subjektiven Horizont zum Horizont der objektiven Theorie erklärt, w a r sowohl Hegel als auch Marx, die beide noch über sich selbst nachdenken konnten, wohlbekannt: „ I n dem allgemeinen Verhältnis, das der Philosoph der Welt und dem Gedanken gibt, verobjektiviert er sich nur, wie sein besonderes Bewußtsein sich zur realen Welt v e r h ä l t 5 3 7 . " Die „ideelle", theoretisch-konstruktive Arbeit an der Gesellschaftsverfassung hat m i t weltfremdem Idealismus, der als Utopismus oder als sonstiger -ismus diffamiert werden müßte, so wenig zu tun, wie etwa die Vorarbeit zur Umprogrammierung eines Prozeßrechners, der ein Stahlwalzwerk steuert, als idealistische Spinnerei abgetan werden kann. Ein Rechner läßt sich nicht m i t Maschinengewehren u n d Dynamit, sondern n u r m i t Lochkarten oder anderen Datenträgern programmieren. U n d wie ohne gediegene software keine vernünftigen Profile gewalzt werden, so w i r d die Gesellschaft ohne gediegene menschlichsoziale Software keine gesellschaftlichen Menschen produzieren. Die vielberufenen „Verhältnisse", die es umzustürzen gelten soll, sind vor allem auch software-Verhältnisse. Das gesellschaftliche Sein schließt die Software ein. A r b e i t an der software ist daher stets auch Arbeit an der Basis. Ist erst die software verändert, halten die übrigen Verhältnisse nicht aus. Der „kritische Rationalist" — hieß es oben — kommt zum Fortschritt i n der Erkenntnis wie die Jungfrau zum K i n d , nämlich durch scheinbar logisch unbefleckte Empfängnis des fruchtbaren kritischen WiderSpruches aus der wirklichen Welt, die die Logik seines erkenntnistheoretischen Modells transzendiert. Das gleiche Schema paßt auf diejenigen Anhänger des historischen Materialismus, die aufbrausen, wenn an die ideelle Komponente des materiellen Seins erinnert und m i t dem dialektischen Materialismus ernst gemacht wird. Was für den „ k r i t i schen Rationalisten" der verbotene (und doch notwendige) Widerspruch ist, ist für den historischen Vulgärmaterialismus die verbotene (und doch notwendige) Idee. Wie der kritische Rationalismus seine 537
Oben A n m . 332.
7.2 Zum Vorwurf „Idealismus!"
271
Erkenntnistheorie vom Widerspruche, so muß der undialektische Materialismus seinen Materialismus von der Idee rein erhalten. Vor den idealistischen Sirenengesängen muß er sich und anderen die Ohren m i t materialistischen Begriffspfropfen verstopfen, — als seien nicht schon seine eigene Sprache und seine eigenen Begriffe und Ohrenpfropfen Stoff von dem Stoff, nämlich vom ideellen Stoff, den er am „Idealismus" bekämpft. Sehr frei nach Hegel und Lenin könnte man also sagen: „Die gewöhnliche Zärtlichkeit f ü r die Dinge, die n u r dafür sorgt, sie von den Ideen rein zu erhalten, vergißt hier wie sonst, daß damit der ideelle Stoff nicht aufgelöst, sondern n u r anderswohin, i n einen unbewußt-subj e k t i v e n Idealismus verschoben w i r d . " — „Diese Ironie ist köstlich! Die »Zärtlichkeit* f ü r die N a t u r u n d Geschichte bei den Philistern — das Bestreben, sie von dem Einfluß des Bewußtseins u n d von der Verwandlung des Ideellen ins Materielle freizuhalten 5 3 8 ."
Der Mensch, der sich gegenüber dem „Idealisten" auf die materielle Basis beruft, um ihn Realität zu lehren, hat freilich unbedingt recht, soweit es darum geht, die geschichtliche Bedingtheit der ideellen Bewußtseinsgestalten bewußt zu machen und Träumer auf die Erde zurückzuholen. Wer aber nicht träumt, sondern mit vollem Bewußtsein der „materialistischen" Determinationen auf den verschiedenen Bewußtseinsebenen an Gestalten des bewußten Seins arbeitet und sich genau überlegt hat, warum er daran arbeitet, — bei dem rennt der materialistische Mahner nur offene Türen ein und verschwendet seine Energien. Es w i r d m i t keiner Silbe bestritten, daß die „materiellen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse" kritisch analysiert werden müssen, u m der Wahrheit des Bewußtseins näher zu kommen. Es geht hier aber darum, daß über die K r i t i k nicht die Arbeit vernachlässigt werden darf, welche von den Ergebnissen jener kritischen Analyse ausgeht, soweit sie vorliegen, und welche die zweite Hälfte der Gesamtaufgabenstellung in Angriff nimmt. „Daß von den jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt w i r d , als i h r zukommt, haben M a r x u n d ich teilweise selbst verschulden müssen. W i r hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen u n d da w a r nicht immer Zeit, Ort u n d Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen." (Engels 539 )
Marx sehnte sich schon 1851 nach anderen Forschungsgebieten: „Ich b i n so weit, daß ich i n fünf Wochen m i t der ganzen ökonomischen Scheiße fertig bin. Et cela fait, werde ich zu Haus die Ökonomie ausarbeiten u n d i m Museum mich auf eine andere Wissenschaft werfen 5 4 0 ." 538 539 540
Oben Anm. 521 u n d 522. M E W 37 S. 465. A n Engels, M E W 27 S. 228.
272
7. Kapitel : Von der Dialektik zur Verfassungstheorie
Aber es zog sich i n die Länge, und 1857 stand i h m immer noch bevor die „Ausarbeitung der Grundzüge der Ökonomie." Und er fügt hinzu: „Es ist durchaus nötig, für das P u b l i k u m au fond der Sache zu gehen, u n d für mich
individually , to get rid of this nightmare ", — den ökonomischen Alptraum
loszuwerden 541 .
Es wurde auch schon bemerkt, daß M a r x insbesondere eine „ D i a l e k t i k " schreiben wollte, sobald er „die ökonomische Last abgeschüttelt" haben würde542. M a r x ist diesen Alptraum der Ökonomie Zeit seines Lebens nicht mehr losgeworden. Bis zum Tode lasteten die unvollendeten Bände 2 und 3 des K a p i t a l auf ihm, und Scharen seiner Schüler lassen sich noch heute w i l l i g von der Ökonomie bedrücken. Es ist Zeit, daß größere Kräfte dialektisch geschulter Aufmerksamkeit auf Fragen gerichtet werden, die über die Ökonomie hinausführen: Nicht, w e i l sich die wirklichen Probleme erledigt hätten, sondern w e i l die politökonomische Perspektive nicht i m entferntesten hinreicht, m i t ihnen fertig zu werden. Es ist Zeit, die „übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente" ausgewogener zu studieren als üblich. Doch das ist nicht alles. Es geht nicht nur u m die einzelnen Momente der Wechselwirkung, sondern u m die Verfassung des Prozesses selbst: Kraft Verfassung werden urwüchsige Wechselwirkungen i n bewußt vorgesehene überführt. Kraft Verfassung w i r d auch ein anderer Übergang vollzogen: der Übergang von der „bewußten und planmäßigen" Lenkung der Gesellschaft, die eher linear, hierarchisch und diktatorisch, also gerade nicht dialektisch strukturiert ist, zur bewußten und planmäßigen Gestaltung der Gesellschaft als eines dialektisch aufgefaßten und dialektisch verfaßten Lebens aller m i t allen. „Bewußte Gestaltung" — das ist keine trüb-dumpfe Knetarbeit an einer wachsweichen Masse, sondern eine Formgebung, die sich i n das Ausdrucksmedium des Bewußtseins fassen läßt: in die Sprache. Weiter handelt es sich nicht n u r u m die Gestaltung eines theoretischen A b b i l des, das hinter der Wirklichkeit herhinkt, sondern u m eine werdende Gestalt, die der Wirklichkeit bei der bewußten und planmäßigen Gestaltung aus technischen Gründen vorausgehen muß. Darum hat man es hier nicht nur m i t einer bloß theoretischen Gestalt zu tun, die sich in Sprache fassen, sondern auch m i t einer praktischen Gestalt, die sich durch Sprache verfassen läßt. Sprechen ist Arbeit, und Sprache (vor allem i n der Form der Schrift) ist vergegenständlichter Bewußtseinsinhalt, der, wenn die Sprache gehört (die Schrift gelesen) wird, wieder ins Subjektive zurückübersetzt wird, sei es, u m bloß zur Kenntnis ge541 542
A n Engels, M E W 29 S. 232. Oben Anm. 467.
7.2 Zum Vorwurf „Idealismus!"
273
nommen zu werden, sei es, u m durch Taten ins Werk gesetzt zu werden. M a r x schreibt von der Sprache wie von den anderen Arbeitsprodukten, daß sie ein gesellschaftliches Produkt sei: „Die Sprache selbst ist ebenso Produkt eines Gemeinwesens, wie sie i n anderer Hinsicht selbst das Dasein des Gemeinwesens, und das selbstredende Dasein desselben (ist) 5 4 8 ."
Es muß hinzugefügt werden: Nicht nur die Sprache ist Produkt des Gemeinwesens, sondern das Gemeinwesen ist auch das Produkt der Sprache, — freilich nicht i h r physisch-organisches Substrat, sondern die Gestalt des Gemeinwesens. Denn die Sprache geht nicht n u r zum M u n d hinaus, wenn sie produziert wird, sondern auch zum Ohr wieder herein, wenn sie aufgenommen wird. Bei der Wiederaufnahme „bearbeitet" die Sprache den Empfänger. Das ist ihre praktische Seite. Wenn ich zuhöre oder lese, fließt die Sprache i n mich ein: sie hat ein-Fluß auf mich. „Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein — die Sprache ist das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis, (aus) der Notdurft des Verkehrs m i t anderen Menschen 544 ."
Soll dieser Verkehr m i t dem Nächsten nicht dem Zufall überlassen bleiben oder sich dumpf-urwüchsig abspielen, so muß er selbst durch die Sprache gestaltet werden. Menschlicher Verkehr w i r d durch Sprache gestaltet, wenn er durch Sprache verfaßt wird. A l l e Gedankengänge laufen auf diesen Punkt hinaus. I n dem Gedanken „Verfassen durch Sprache" w i r d der Sprache eine Macht zugetraut und für sie i n Anspruch genommen, w i e sie jüngst auch wieder vom Standpunkt eines kybernetisch geschulten dialektischen Materialismus Aufmerksamkeit gefunden hat. Georg Klaus 545 erinnert seine Leser an Formulierungen Ludwig Feuerbachs, die er zwar für korrektur- und ergänzungsbedürftig hält, w e i l sie auf den religiösen Bereich eingeschränkt seien, die aber Beachtung verdienten. Der K e r n dieser Gedanken Feuerbachs ist: Woran es dem Menschen gebricht und wonach er sich sehnt, das schreibt er der Gottheit zu, — so auch die Macht des Wortes. W i r d diese religiöse Projektion nach den Regeln der linkshegelianischen Religionskritik dechiffriert, so verbleibt die Erkenntnis: Die Allmacht von Gottes Wort w i r d nur solange 543 Grundrisse der politischen Ökonomie (Neudruck Moskau 1939/1941), Frankfurt und Wien o. J., S. 390. 544 M E W 3 S. 30. 545
der Ausgabe
Georg Klaus, Die Macht des Wortes, 6. Aufl., B e r l i n 1972, S. 192 f.
18 Suhr
von
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7. Kapitel : Von der Dialektik zur Verfassungstheorie
geglaubt, wie Gottes Wort nicht als Menschenwort erkannt wird. M i t dieser Erkenntnis w i r d aber nicht auch schon die Erfahrung widerlegt, daß Macht i m Wort steckt (oder stecken kann, wenn es ein „göttliches" Wort des Menschen ist). Diese wirkliche Erfahrung wurde vielmehr i n der religiösen Projektion nur verfremdet ausgedrückt, nämlich einem fremden Wesen zudefiniert. W i r d dieser definitorische Schleier weggenommen, handelt der Satz, der Gottes Wort Macht zuspricht, von der Macht des menschlichen Wortes. „Woher dieser Glaube an eingebildete K r ä f t e des Wortes? n u r daher, w e i l das W o r t selbst ein Wesen der Einbildungskraft ist, aber deswegen narkotische Wirkungen auf den Menschen äußert, i h n unter die Herrschaft der Phantasie gefangennimmt. Worte besitzen Revolutionskräfte, Worte beherrschen die M e n s c h h e i t . . . Die Bejahung oder Vergegenständlichimg des Wesens der Phantasie ist daher zugleich verbunden m i t der Bejahung u n d Vergegenständlichung des Wesens der Sprache, des Wortes. Der Mensch hat nicht n u r einen Trieb, eine Notwendigkeit zu denken, zu sinnen, zu phantasieren; er hat auch den Trieb zu sprechen, seine Gedanken zu äußern, mitzuteilen. Göttlich ist dieser Trieb, göttlich die Macht des Wortes . . . Die Menschen vergehen, das Wort besteht . . . Das W o r t w i r k t Wunder u n d zwar die allein vernünftigen W u n der . . .
Das Wort Gottes ist die Göttlichkeit
des Wortes, wie sie innerhalb der
Religion dem Menschen Gegenstand w i r d — das wahre Wesen des menschlichen Wortes. Das W o r t Gottes soll sich dadurch v o m menschlichen unterscheiden, daß es kein vorübergehender Hauch, sondern mitgeteiltes Wesen selber ist. Aber enthält dann nicht auch das Wort des Menschen das Wesen des Menschen, sein mitgeteiltes Selbst, w e n n es wenigstens ein wahres Wort (ist) 6 4 9 ?"
Hat die Religionskritik zum Punkt „Macht von Gottes Wort" ihre Schuldigkeit getan, verbleibt die Aufgabe, die Macht und Ohnmacht des menschlichen Wortes i n der sozialwissenschaftlichen Theorie ebenso wie i n der Sozialtechnik zu erforschen und anzuwenden, und zwar nicht nur zu erforschen und anzuwenden unter dem Gesichtspunkt der w i r t schaftlichen Werbung und der ideologischen Propaganda. M i t der Macht des menschlichen Wortes hat es neben anderen Disziplinen die Rechtsund Verfassungstheorie zu tun. 7.3 Verfassunggebung als wahr-Sagung Verfassungsgebung ist wahr-Sagung. Die Form, die das Gemeinwesen annehmen soll, w i r d i n der Verfassungsur künde beschrieben und als Verfassungsgesetz verkündet. Dann muß es sich zeigen, ob K r a f t in den Worten steckt. Steckt K r a f t i n ihnen, so richtet sich die Wirklich546 Ludwig S. 141 ff.
Feuerbach,
Das
Wesen
des
Christentums,
Stuttgart
1971,
7.3 Verfassunggebung als wahr-Sagung
275
keit danach und sie werden m i t jedem neuen A k t als wahr und als „ i n K r a f t " befindlich bezeugt. Die These: „Verfassungsgebung ist wahr-Sagung", zielt selbstverständlich auf eine idealtypische Kennzeichnung und erschöpft nicht alles, was zum Stichwort „Verfassungsgebung" und „Verfassungsverwirklichung" zu sagen wäre. Dem dialektischen und historischen Materialismus ist ohne weiteres zuzugestehen, daß die Basis als Grundlage des Ganzen hinzugenommen werden muß: Konstitutionelle wahr-Sagung ist das Werk von Sprechern 4 . Die Sprecher ihrerseits sind das Sozialisationsprodukt der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse. Durch diese ,Sprecher* hindurch spricht ,nur' eine gesellschaftliche Basis' aus, wie sie ihre Situation konstitutionell definiert . . . Aber diese zusätzlichen Kennzeichnungen ändern nichts daran, daß die folgenden Erwägungen erst angestellt werden können, wenn i n einer Gesellschaft »Sprecher 4 anfangen, die gesellschaftlichen Situationen „bewußt und planmäßig" zu definieren: d. h. wahrsagend zu gestalten und zu befestigen. Die Probleme werden erst richtig sichtbar, wenn der allgemeine Prozeß der Verwandlung des Realen ins Ideelle und des Ideellen ins Reale gründlich beobachtet und die Realität des Ideellen ebenso begriffen w i r d wie Idealität des Realen 5 4 7 . Kant fragt, wie Geschichtsschreibung α priori möglich sei. Er antwortet: „Wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündigt 5 4 8 ." So ist es auch m i t der Verfassungsgebung. Sie ist der Versuch einer politischen oder gesellschaftlichen Geschichtsschreibung α priori. Die „vorweggenommene Geschichtsschreibung" soll das Gemeinwesen selber verwirklichen, das die Verfassung für sich verkündet. Verfassungsgebung ist allerdings eine besondere A r t von Geschichtsschreibung des Zukünftigen: Sie konzentriert sich i m idealtypischen Fall auf die Grammatik des politischen bzw. gesellschaftlichen Prozesses und nicht auf die jeweiligen konkreten Vokabeln und Handlungen innerhalb des Prozesses. (Sie bestimmt ζ. B., i n welchen Abständen Wahlen stattfinden, aber sie bestimmt nicht, welche Partei zu einem bestimmten Termin die Regierung stellen wird.) I n dieser Beschränkung liegt die Stärke: Erst wenn eine Verfassung weitgehend aufs Prophezeien verzichtet — nämlich aufs Prophezeien bestimmter Handlungen und Ereignisse — wächst ihre Chance, mit ihren Prophezeiungen recht zu behalten — nämlich m i t ihrer wahr-Sagung und Befestigung der Grammatik des politischen bzw. gesellschaftlichen Prozesses. 647
Ich." 548
18*
Vgl. z.B. unten K a p i t e l 8. 27: „ I c h als ideelles Wir, W i r als ideelles Oben A n m . 501.
276
7. Kapitel : Von der Dialektik zur Verfassungstheorie
Wie der Igel gibt der Verfassungsgeber das Rennen i n Gedanken auf, damit er es um so besser organisieren kann. I m Zuge der konstitutionellen wahr-Sagung haben sich die Worte der Verfassung durchzusetzen i n der Wirklichkeit Eine Verfassung ist, was sie bewirkt. Sie ist nichts, wenn sie nichts bewirkt. Das schwächste Glied, das verfassende Wort, hat sich als das stärkste und härteste Glied zu erweisen. Das g i l t entgegen dem ersten oberflächlichen Anschein auch i n den Fällen, i n denen eine Verfassung durch Zwang und Gewalt geschützt oder aufrechterhalten wird. Denn auch in diesen Fällen w i r d sie nur erfüllt und setzt sie sich nur durch, wenn und solange es den Menschen, die den Zwang und die Gewalt ausüben, beliebt, die Worte der Verfassung für sich gelten zu lassen. Genau an dieser Stelle ist auch die A n t w o r t auf die Frage zu suchen, ob und i n welchem Umfang die Verfassung der zukünftigen Gesellschaftsordnungen, insbesondere die Verfassung der klassenlosen Gesellschaft i m Sinne des Marxismus, noch eine „Rechts"-Verfassung i m üblichen Sinne sein wird. Die Verfassung der zukünftigen Gesellschaft w i r d genau i n dem Umfang das Recht i m Sinne von Zwangsrecht überwinden, wie es gelingt, die gesellschaftliche Ordnung auf allen Ebenen auch ohne Zwang schlicht durch gesetzgebende oder streitschlichtende wahr-Sagung hervorzubringen. Eine wahrgesagte Ordnung w i r d nur dann gewaltlos angenommen, wenn sie auf den Spuren der menschlichen Bedürfnisse vorher oder zugleich ins Bewußtsein dringt und das Bewußtsein beherrscht: als Fessel und Führerin des Bewußtseins. Und sie kann nur beibehalten werden, wenn keine Prozesse in sie hineinprogrammiert sind, die die Bedürfnisse und ihnen folgend das Bewußtsein der Menschen wieder gegen sie aufbringen. Recht als bloß wahrgesagtes und doch wirksames Recht ist so w i r k lich oder so utopisch wie das heutige Vertrauen darauf, daß eine einmal erlassene Verfassung irgendeines Staates — z.B. das Grundgesetz — auch von denen geachtet wird, die die Macht haben, die Verfassung zu brechen. Man kann dieses Vertrauen oder diese Hoffnung, daß sich schon heute und für unsere geltende Verfassung letztlich die Macht dem Worte fügen wird, als den Angelpunkt begreifen, an dem die Verfassung schon heute hängt. Es ist dies der gleiche Angelpunkt, an dem die Verfassung einer jeden zukünftigen Gesellschaft hängen wird, i n der der A n t e i l des Zwangsrechtes auf allen Ebenen des menschlichsozialen Zusammenleben abnehmen und einem spontaneren Recht Platz machen soll. — Die Kunst der verfassungsgebenden wahr-Sagung besteht darin, die prozeßhafte Situation des Gemeinwesens i m konstitutionellen A k t zu
7.3 Verfassunggebung als wahr-Sagung
277
begreifen, darzustellen und zu gestalten. Es muß gewissermaßen i n einem Atemzuge begriffen werden, was ist, u m es zu übersetzen i n die Form, die es annehmen soll. Die verfassungsgebende wahr-Sagung liefert damit geradezu ein Paradebeispiel f ü r eine A r t des Erkennens, das von vornherein darauf angelegt ist, zu gestalten. Die erkenntnistheoretische Not des Sozialwissenschaftlers: die Beeinflussung des Erkenntnisobjektes durch die Erkenntnis, — hier kann sie zur verfassenden Tugend werden. Indem die prozeßhafte Situation eines Gemeinwesens erkennend begriffen u n d verfassend i n den Begriff genommen w i r d , w i r d zugleich diese prozeßhafte Situation geformt u n d geklärt. So k a n n sie anschließend womöglich ihrerseits auch wieder einfacher erforscht, begriffen u n d k r i t i s i e r t werden. I n diesem Sinne ist verfassunggebende wahr-Sagung zugleich (versuchte) menschlich-soziale klar-Sagung. Es handelt sich also u m erkennendes Gestalten u n d u m gestaltendes Erkennen. Dem entspricht es, daß „wahr-Sagung" verschiedene Bedeutungskomponenten hat: Erstens w i r d m i t dem W o r t „wahr-Sagung" angedeutet, daß etwas dadurch wahr werden soll, daß es gesagt w i r d . I n diesem ursächlichen Sinne ist es soeben betrachtet worden. — Z w e i tens hat das Gesagte n u r dann eine Chance, w a h r zu werden, w e n n etwas an i h m praktisch w a h r ist, ehe es gesagt w i r d : Das Gesagte w i r d n u r wahr, wenn es auf ein entsprechendes Bedürfnis oder eine gewisse Bereitschaft bei den „ H ö r e r n " stößt. I n diesem Falle spricht die w a h r Sagung das gegenwärtige Bedürfnis dadurch an, daß sie es direkt oder i n d i r e k t m i t geeigneten Worten wahr und richtig ausspricht. — D r i t tens bewahrheitet sich die wahr-Sagung n u r dann dauerhaft, wenn sie die wirkliche gesellschaftliche Situation w a h r u n d richtig so definiert, daß die Definition bei ihrer Realisierung nicht die Bedingungen ihrer eigenen Gültigkeit u n d Wirksamkeit untergräbt. Auch i n diesem Sinne muß die wahr-Sagung schon i m voraus i n ihrer Grammatik etwas Wahres an sich haben, u m sich nachhaltig zu bewahrheiten. Dieses grammatisch „Wahre", das sie vorher an sich haben muß, entspricht dem, was oben i m Zusammenhang m i t den Wiedereinspeisungsproblemen schon behandelt worden ist: Das ganze Geflecht oder System der konstitutionellen wahr-Sagungen muß ein Geflecht oder System „ v o m Typ P h ö n i x " sein, das die Einspeisung seiner selbst i n die menschlichsoziale W i r k l i c h k e i t u n d die damit einhergehende V e r w i r k l i c h u n g seiner Sätze übersteht, ohne sich dabei i m Laufe der Zeit notwendig selbst zu entkräften. — Wenn Verfassunggebung wahr-Sagung ist, dann ist Verfassungsauslegimg wahr-Sagungs-Hilfe und dann ist Verfassungsanwendung wahr-SagungsErfüllung. Verfassungstreusten sind wahr-Sage-Experten oder sollten es zumindest sein. Die Methode der Verfassungsauslegung ist eine Methode für
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7. Kapitel: Von der Dialektik zur Verfassungstheorie
wahr-Sage-Hilfe. U n d was von der Verfassung gilt, gilt m i t geringeren oder größeren Einschränkungen für das Recht überhaupt; Rechtsgeschichtler könnten wahrscheinlich ganze Reihen von Belegen anführen, die zeigen, daß die wahr-Sagerei u n d das rechtliche wahr-sage-Bewußtsein gar nicht so neu ist, wie es hier den Anschein haben mag 5 4 9 .
Da hier allen Ernstes von Theorie und Praxis der wahr-Sagung gehandelt wird, fühlt sich wahrscheinlich wiederum der eine oder andere Leser dazu herausgefordert, einen längst gehegten Verdacht nun ganz offen auszusprechen: Hier höre die Verfassungstheorie auf und beginne bestenfalls die Theologie und schlimmstenfalls das Tischerücken oder Handlesen. Man brauche nur die Bibel aufzuschlagen und bei „Prophet" an den Verfassungskonvent, bei „Herr" an den Souverän oder ans Volk und beim Betroffenen an das Widerstandsrecht zu denken, dann Werde offenbar, welch alter Wein i n neuen Schläuchen verzapft werde: „ W e n n der Prophet redet i m Namen des Herrn, u n d w i r d nichts draus, u n d es k o m m t nicht, das ist das Wort, das der Herr nicht geredet hat; der Prophet hat's aus Vermessenheit geredet, d a r u m scheue Dich nicht vor ihm." „Also soll das Wort, das aus meinem Munde gehet, . . . nicht leer zu m i r zurückkommen, sondern tun, was m i r gefällt, u n d es soll i h m gelingen, wozu ich's sende." I n w i e w e i t diese Parallelen berechtigt sind, mag f ü r die Theologie von i h r e m Platz aus die Theologie selbst authentisch beurteilen. Wer jedoch glaubt, er stehe außerhalb der Theologie, u n d wer trotzdem gegenüber allem, was an Theologie erinnert, so allergisch ist, daß er aufbraust oder davor zusammenzuckt u n d Augen u n d Ohren schließt, — der offenbart durch seine Aufregung bekanntlich nur, welche Macht der Stoff der Theologie über i h n hat. Denn er läßt sich von i h r zum A f f e k t reizen. Er läßt sich dadurch diktieren, was er gelassen anhören, w o m i t er sich beschäftigen u n d was er nicht gelassen anhören u n d w o m i t er sich nicht beschäftigen darf.
Die Verfassungstheorie t r i t t beiden, der Theologie und dem Atheismus, und zwar gerade sofern sie empfindlich und auf-regbar sind, gleichermaßen unbefangen und gelassen gegenüber. Sie nimmt nicht i n Anspruch, den Gegenstand zu behandeln, m i t dem die Theologie sich abgibt, und sie behauptet erst recht nicht, diesen Gegenstand allein richtig und erschöpfend zu behandeln. Sie fürchtet sich aber auch nicht davor, bei der Arbeit an ihrem Gegenstande auf Ähnlichkeiten und 549 Auch i n der neueren Rechtstheorie erscheint die Rechtswissenschaft als „Zukunftswissenschaft": Werner Maihof er, Realistische Jurisprudenz, i n : G. Jahr/W. Maihof er (Hrsg.), Rechtstheorie, F r a n k f u r t 1971, S. 430 ff. Vgl.
auch Peter Noll, Gesetzgebungslehre, Hamburg 1973, S. 103; Niklas
Luhmann,
Rechtssoziologie 2, Reinbeck bei H a m b u r g 1972, S. 343, 346. — Z u m Vergleich von juristischer V e r k ü n d u n g u n d theologischer Verkündigung siehe Ernst Forsthoff, Recht u n d Sprache (1940/41), Neudruck Darmstadt 1964, S. 3 ff., u n d Hartmut Hätz, Rechtssprache u n d juristischer Begriff, Stuttgart 1963,
S. 16.
7.3 Verfassunggebung als wahr-Sagung
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Parallelen zu verweisen oder verwiesen zu werden. Solche Furcht wäre nur ein Anzeichen ihrer Schwäche und Brüchigkeit. Sie hat aber eher Grund, i n den Ähnlichkeiten und Parallelen sich bestätigt und bekräftigt zu sehen. Denn so, w i e die Verfassungstheorie hier eingeführt worden ist und aufgefaßt wird, muß sie offen und griffig genug sein, u m die kommenden und gehenden Gestalten der menschlich-sozialen Organisation begreifen zu können. Müßte sie vor der Theokratie auf Grund irgendwelcher theologischer oder antitheologischer Affekte kapitulieren, würde sie ihrem eigenen Ansatz nicht gerecht. Braucht m i t h i n die moderne Verfassungstheorie den Begriff der „wahr-Sagung" u n d w i r d sodann festgestellt, daß auch schon i n der älteren Verfassungspraxis m i t etwas Vergleichbarem, nämlich m i t Prophetie, sozialtechnisch gearbeitet worden ist, so heißt das nur, daß die Verfassungstheorie wahrscheinlich m i t ihren Begriffen auf dem richtigen Wege ist: Ihre „wahr-Sagung" ist ein Begriff, der den B r ü k kenschlag über Jahrtausende von Verfassungspraxis hinweg bis hinein in die modernen Sozialwissenschaf ten zu der Kategorie der „definierten Situation" gestattet. Dabei können Einwände und Vorbehalte, die theologischer oder antitheologischer Empfindlichkeit entspringen, getrost als Bestätigung zur Kenntnis genommen werden. Wenn es stimmt, daß viele politische Begriffe säkularisierte theologische Begriffe sind 5 5 0 , dann läßt sich diese Einsicht umkehren: Viele theologische Begriffe sind verklärte. politische bzw. gesellschaftliche Begriffe. Diese Erkenntnis freilich ist nicht neu. Wahrscheinlich ist es so, daß die Menschen ihre soziale Situation (Miteinander, Gegeneinander, Abhängigkeiten, Notwendigkeiten) „definieren" müssen. Die Definition der sozialen Situation ist die Definition des gesellschaftlichen Menschen. Der gesellschaftliche Mensch ist nicht der bloß biologisch-organische Mensch, sondern das soziale Gespinst der zwischenmenschlichen Vorgänge. Dieses Gespinst ist ein notwendiges Gespinst. Fehlt es, so fehlt der gesellschaftliche Mensch. — Spitzt man diese Gedanken zu, u m ihren K e r n zu verdeutlichen, i n dem man sie karikiert, so kann man feststellen: Die Menschen kommen ohne Gespenster nicht aus. Sie müssen an Gespenster glauben. Aber das Gespenst, an das sie glauben, muß subjektiv die Gestalt des gesellschaftlichen Menschen haben und objektiv als menschliche Gesellschaft erscheinen. So w i r d das Gespenst zur menschlichen Wirklichkeit und die Wirklichkeit zum menschlichen Gespinst. U m diese Versöhnung zwischen beiden zustandezubringen, darf man keine Furcht vor Gespenstern haben. Man muß sie rufen können und beherrschen lernen. 550
S. 49.
Carl Schmitt, Politische Theologie, 2. Ausg., München und Berlin 1934,
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7. Kapitel : Von der Dialektik zur Verfassungstheorie
Vor allem aber muß man wissen, womit man es — ob man w i l l oder nicht — zu t u n hat. Sonst beschwört man Geister und weiß es nicht einmal. Oder man glaubt, es gebe keine Geister, keine Wirksamkeit der Geistesprodukte, und i r r t sich ebenfalls 550 * 1 . 7.4 Verfassung als Grammatik des gesellschaftlichen Prozesses Unterhalten oder streiten sich zwei Menschen, so braucht jeder von ihnen eine Grammatik für die Sprache, die er spricht. Beobachtet sie ein Dritter und beschreibt ihre Gespräch, so braucht er zusätzliche Regeln für die Wiedergabe von direkter oder indirekter Rede. Diesen Regeln, die der Dritte benötigt, u m seine Beschreibung grammatisch korrekt zu organisieren, entsprechen mehr oder weniger auch die faktischen Regeln, nach denen die Sprecher i n ihrem Gespräch oder Streit einander abwechseln, auch wenn diese Regeln keinem der Beteiligten bewußt und von niemandem besprochen, sondern von beiden nur befolgt werden. Die Regeln, die jeder Sprecher für sich bei seinen monologischen Beiträgen zu dem Gespräch anwendet, sind Regeln für die Organisation je einer Sprache. Die Regeln, die beide während ihres Dialoges außerdem befolgen, sowie die zusätzlichen Regeln, die der Dritte braucht, u m das Gespräch grammatisch korrekt zu beschreiben, sind Regeln für die Organisation eines Gespräches. I m sechsten Kapitel hatte sich schon gezeigt, daß ein Gespräch eine A r t von Sprachenschachtelung ist, i n der innersprachliche und zwischensprachliche Logik unterschieden werden müssen. Der Unterschied zwischen inner- und zwischensprachlicher Logik t r i t t hervor, sobald nicht mehr nur über eine monologische, sondern über eine dialogische oder polylogische Sprechsituation nachgedacht wird. Dann bedarf es einer polylektischen Grammatik, — ζ. B. u m die gesellschaftlichen Gewirke zu erfassen, die sich aus den sprachlichen und nichtsprachlichen Verkehrsereignissen zwischen den Menschen zusammensetzen. Die Logik, mit der die Gesellschaft erfaßt werden kann, ist m i t h i n die polylektische bzw. dialektische Logik. Die Logik, nach der die Gesellschaft verfaßt werden muß, ist die gleiche 551 . 650a Auch diese Gedanken sind freilich nicht „neu", — siehe H. Vaihinger (oben A n m . 501) u n d das Material, das er anführt von K a n t (objektive Realität der Idee) u n d von Nietzsche (Wille zum Schein). Diese Sache muß offenbar immer wieder neu entdeckt werden, w e i l der Geist es nicht recht fassen kann oder wahrhaben w i l l , daß er auf geistigen Gebilden aufruht, sobald er die ersten selbständigen Schritte macht. — Neu entdeckt oder vielmehr erst gefordert w i r d ζ. B. von der Systemanalyse eine „Täuschungstheorie", u m die Systeme besser zu begreifen, i n denen w i r leben: C. West Churchman , Einf ührung i n die Systemanalyse, 2. Aufl., München 1971, 231 - 235. 551 Es ist eine weitere Aufgabe, die Verwandtschaften i m einzelnen aufzuklären, die zwischen dem hier vorgetragenen verfassungstheoretischen u n d
7.4 Verfassung als Grammatik des gesellschaftlichen Prozesses
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Hier u n d i m Folgenden w i r d der eingebürgerte Begriff „dialektisch" verwendet, auch wo es sich u m polylektische Situationen handelt. Dies rechtfertigt sich daraus, daß der Begriff „dialektisch" heute längst nicht mehr wörtlich verstanden w i r d , sondern i m Sinne einer L o g i k der Sozialwissenschaften. Es besteht daher k e i n Bedürfnis, den Terminus „polylektisch" zu propagieren, nachdem er hier seine Schuldigkeit getan hat. Etwas anderes mag gelten für den Begriff „Polylog" sowie für die Möglichkeit, die dialektischen Situationen „ I c h - W e l t " oder „ I c h - D u " von den pol^lektischen Situationen „ W e l t " oder „ W i r " auch terminologisch scharf zu unterscheiden, wenn es auf diesen Unterschied einmal ankommt.
Das Polylog-Modell, das oben i n erkenntnistheoretischem Zusammenhang organisiert wurde, dient also jetzt als allgemeines ν erf assungstheoretisches Rahmenmodell. Das braucht niemanden zu überraschen; denn dieses Modell wurde schon i m erkenntnistheoretischen Zusammenhange der menschlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit als möglichst getreue Definition der sozialen Situation auf den Leib geschneidert. Daher braucht das Schnittmuster des Modells jetzt nicht mehr grundlegend verändert zu werden, wenn es nicht mehr nur darum geht, die gesellschaftliche Situation erfassend i n den theoretischen Kopf hereinzuholen, sondern darum, sie verfassend wieder herauszulassen. Die Erkenntnistheorie verhält sich zur Gesellschaftstheorie wie Erfassen zu Verfassen: zwei Seiten ein und derselben Sache. Dem wirklichen menschlich-gesellschaftlichen Prozeß abgeschaut und so gut wie einstweilen möglich i n den K l a r t e x t einer Modell-Logik übersetzt, soll der Begriff des Polylogs nun seinerseits Klarheit stiften bei dem Versuch, die Gesellschaft zu erkennen und über ihre Verfassung zu theoretisieren. Diese Klarheit kann zunächst der Theorie zugute kommen. Gelingt das, so kommt sie auch dem menschlichen Bewußtsein zugute, das sich die Theorie einverleibt. Dringt die Klarheit auf diesem Wege durch bis ins Bewußtsein, so kann sie von dort aus sich auch auf die Gesellschaft auswirken. Sind die Vorstellungen i n den Köpfen noch w i r r , kommt auch die Gesellschaft nicht zur Befriedung. Denn die faktische GeseUschaftsverfassung ist nur die andere, objekverfassungstechnischen Konzept u n d den dialogischen Konzepten der Theo-
logie insbesondere Martin
Bub er s bestehen. Rolf Peter Callies hat diese
dialogischen Kategorien schon f ü r die Hechtstheorie zum T e i l erschlossen (insbesondere: Eigentum als Institution, München 1962) u n d bis i n systemtheoretische Vorstellungen hinein transferiert (Rechtstheorie als Systemtheorie, i n : G. Jahr/W. Maihof er (Hrsg.), Rechtstheorie, F r a n k f u r t 1971, S. 142 - 172, 162 ff.). — Z u m Übergang v o m logischen Schlußfolgern zur dialogischen Situation siehe auch Jürgen Habermas, Erkenntnis u n d I n t e r esse, F r a n k f u r t 1968, S. 176 ff. Ich stimme Habermas darin zu, daß die dialogische I n t e r s u b j e k t i v i t ä t nicht mehr n u r als zirkulär zu begreifen ist, sondern m i t einer zusätzlichen Kategorie. Diese muß kompatibel sein m i t Hermeneutik u n d dürfte i n dem Resonanz/Dissonanz/Konsonanz-Komplex zu finden sein, m i t dem hier gearbeitet w i r d (oben bei A n m . 510 u n d unten bei A n m . 574).
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7. Kapitel : Von der Dialektik zur Verfassungstheorie
tive Seite der Bewußtseinsveriassung ihrer Menschen. Beide sind mehr oder weniger dialektisch organisiert. Je weniger sie Dialektik i n sich haben, desto mehr muß sich davon i n Form von wirklichen WiderSprüchen zwischen ihnen abspielen. Je weniger Dialektik i n die „Sprache" des Bewußtseins und i n die bewußt gewordene Verfassung der Gesellschaft hereingeholt wird, desto mehr davon verbleibt als unbewußte grammatische Bestimmung der Prozesse, die zwischen der Sprache des Bewußtseins und der „Sprache" der handfesteren Ereignisse auftreten. Nur eine Form von Verfassungen hat die Chance, auf lange Sicht i n keine Widersprüche mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu geraten: diejenige, welche die Wider-Sprüche selbst begrüßt, erfaßt und organisiert, die i n der Gesellschaft gegen die Gesellschaft emporkommen. Verfassungen, die diese Form i n sich haben, vermeiden ihren Widerspruch zur Wirklichkeit, indem sie die Wider-Sprüche sich zu eigen machen, die die Wirklichkeit aus sich gegen sich selbst hervorbringt. Die Wirklichkeit ist i n sich wider-sprüchlich. Das kann ihr die Verfassung nicht ausreden; also muß sie es institutionalisieren. Weil sie die Wider-Sprüche vorsieht und wirken läßt, w i r d sie nicht mehr überrascht, wenn sie i n der Wirklichkeit damit zu t u n bekommt. Sie ist schon an sich, was die Wirklichkeit für sie ist. I h r grammatischer „Geist" ist schon „Geist" vom grammatischen „Geist" der Wirklichkeit. Sie können syntaktisch konsonant sein. So wächst die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich miteinander vertragen. Die geschichtliche Verfassung eines Gemeinwesens ist die geschichtliche Form, i n der der dialektische Stoff sich ausgeformt hat. Z u der geschichtlichen Verfassung gehören die politischen Modellvorstellungen, die i h r zugrundeliegen und die zu i h r entwickelt werden. Diese Modellvorstellungen ergänzen die knappen Verfassungstexte. I n diesen Vorstellungen haust „der Geist" der Verfassung zu einem großen Teil: „Demokratie", „parlamentarische Demokratie", „Volksdemokratie", „Rechtsstaat", „Grundrechte", „demokratischer Zentralismus" usw. — A n diesen Modellen müßte sich, wenn die oben ausgesprochene Vermutung zutrifft, mehr Dialektik nachweisen lassen, als bislang bewußt ist. Das heißt jedoch nicht, daß, w e i l die Modelle schon Dialekt i k an sich haben, kein Grund mehr besteht, über ihre Veränderung oder Ersetzung durch andere nachzudenken. Denn die Spuren der Dialektik können sich an einer Verfassung und an ihren verfassungstheoretischen Traum- und Modellvorstellungen gerade daran offenbaren, daß es sich um bloße Worte handelt, die zwar vielleicht auf aller Lippen aber fast i n niemandes Taten sind, — daß also die betreffenden Verfassungen und Modelle ζ. B. stückweise nachgeben mußten, —
7.4 Verfassung als Grammatik des gesellschaftlichen Prozesses
283
daß sie sich i m Laufe der Zeit i n kirchliche Weltexklaven zurückgezogen haben, — oder daran, daß sie ganz verschwunden sind. Denkt der heutige (Staats-)Verfassungstheoretiker an „Verfassung", so meint er nicht sämtliche, sondern nur die wichtigsten Regeln des gesellschaftlichen Prozesses: etwa diejenigen, die i n der Verfassungsurkunde festgehalten sind, samt den hinzugehörigen Modellvorstellungen. Es ist klar, daß die allgemeine Verfassungstheorie sich hüten muß, diese etwaige Beschränkung auch für sich gelten zu lassen. Das heißt nicht, den Begriff der Staatsverfassung für falsch zu erklären, sondern nur, ihn i n einem notfalls weiteren theoretischen Zusammenhang zu verstehen. Noch wichtiger aber ist eine andere Einschränkung, die die idealtypische Kennzeichnung der Verfassung als FundamentalpraramatiJc des menschlich-sozialen Polylogs erfahren muß: Nicht schon immer wurde gedanklich und praktisch unterschieden zwischen der „Grammat i k " des politischen Prozesses und seinen „Vokabeln" (also zwischen den Regeln auf der einen Seite und den konkreten Worten und Taten auf der anderen, die nach den Regeln der Grammatik produziert und hingenommen oder nicht hingenommen werden). Diese Unterscheidung setzt voraus, daß i n der Wirklichkeit Regelmäßigkeiten i m politischen Prozeß auftreten, die trotz wechselnder Lagen und Handlungen beibehalten werden. Soweit diese Unterschiede noch nicht klar hervorgetreten sind, vielmehr etwa Etappenziele zu Verfassungsrang erhoben werden, enthält die Verfassung nicht nur grammatische Regeln, sondern auch zeitlich bedingte „Vokabeln" der Politik. Diese sollen hier nicht etwa ausgeschieden werden aus dem Verfassungsbegriff. Damit brächte man die Verfassungstheorie u m ihre unbedingte Offenheit. Aber je mehr „vokabelhaftes" eine Verfassung enthält, desto mehr Variables und Vergängliches enthält sie wahrscheinlich, das i m Laufe der Zeit entkräftet w i r d und an dem idealtypischen „Phönix"-Charakter der Verfassung nicht teilhat. Bei den vorstehenden Erwägungen wurde bewußt darauf verzichtet, den Unterschied zwischen Grammatik und Vokabeln m i t Hilfe der Begriffe von „Form" und „ I n h a l t " zu beschreiben. Denn diese Begriffe sind nur relativ bestimmt, ohne an ihre Relativität von sich aus durch ihr assoziatives Feld zu erinnern. Sie hängen von der Sprachebene ab, von der aus über die Gegenstände gesprochen wird. Hier etwa w i r d eine verfassungstheoretische Sprache gesprochen, bei der die politische Grammatik des sozialen Prozesses zum Inhalt der theoretischen Betrachtung und Bewertung gemacht wird. Eine Form oder ein Verfahren, die besprochen und bewertet werden, zeigen ihren Inhalt. Und dieser Inhalt, praktisch in den besprochenen Bereich zurückgebracht,
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7. Kapitel: Von der Dialektik zur Verfassungstheorie
zeigt seine Form. Werden stattdessen Namen wie „Grammatik" und „Vokabeln" verwendet, u m die einschlägigen Vorstellungen mitzuteilen, kommt deutlicher zum Ausdruck, daß sprachtheoretische Sprünge zwischen Sprache und Meta-Sprache mit i m Spiel sind oder sein können, — Sprünge, die nicht nur von theoretischer, sondern, wie alle ernsthaften geistigen Prozesse, auch von praktischer Bedeutung sind, — Sprünge, die von einer Wirk-Ebene auf eine meta-Wirk-Ebene und umgekehrt führen (wirkliche ,Sprachen'). Es wäre daher auch einseitig und unrichtig zu behaupten, eine Verfassung, als Grammatik begriffen, sei ein bloß formales Gerüst, das „bloß" die logische S t r u k t u r der gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge betreffe. Denn diese Struktur kann sich bei genauerer Besprechung als tauglich oder untauglich, als menschlich oder weniger menschlich, als urwüchsig oder bewußt gestaltet erweisen. Dabei erweist sich das Formale als ein Inhalt, der nach irgendwelchen Gesichtspunkten bewertet wird. Auch dies zeigt, daß es nicht sinnvoll ist, an dem Begriffspaar „Form-Inhalt" zu sehr hängen zu bleiben und es etwa i n Parallele zu setzen m i t „wertfrei-werthaltig". Solche Parallelen können i m Einzelfall sinnvoll sein, können aber bei Verallgemeinerung erhebliche Verwirrung stiften, von der man dann nicht einmal weiß, woher sie kommt. — Einen Dialektiker wiederum überrascht alles dies nicht: Er weiß ohnehin, daß Form und Inhalt i n dem hier angedeuteten, präzisen dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Die Menschen leben nicht einsiedlerisch. Sie müssen millionen- und milliardenfach miteinander auskommen. Sie sind aufeinander angewiesen und voneinander abhängig. I h r Menschsein spielt sich i n täglichen und alltäglichen Handlungen zwischen ihnen ab. So haben sie aneinander und an der Gesellschaft teil, die sie bilden. Ihre Teilhabe aneinander und an der Gesellschaft ist ein Stück ihrer menschlichen Natur. W i r d die Teilnahme am Polylog durch eine bewußt gesetzte Verfassung i n bestimmte Formen gelenkt, so w i r d ein Stück menschlicher Natur, ein Stück gesellschaftlicher Mensch verfaßt und organisiert. Da Verfassunggebung wahr-Sagung ist, ist sie m i t h i n auch wahrSagung der menschlichen Natur. Was „formal" als „bloße" Grammatik des Polylogs erschien, ist demnach „inhaltlich" ein Stück der Natur des Menschen. Bei der Verfassung geht es nach allem um wahr-sagende Gestaltung sowohl der menschlichen Gesellschaft als auch des gesellschaftlichen Menschen. Verfassungen machen und den gesellschaftlichen Menschen machen — das ist ein und dasselbe. Der Mensch ist gesellschaftlicher Mensch. Die Gesellschaft ist menschliche Gesellschaft. Ich bin ein Punkt i n dem Prozeß, i n dem Wir erscheinen. Wir sind vielfaches Ich,
7.4 Verfassung als Grammatik des gesellschaftlichen Prozesses
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das i n Zeit und Raum verteilt aber auch zusammengefaßt und organisiert ist. Die Verfassung formt den Prozeß, der die Vermittlung und Einheit dieser unserer Gegensätze ist. Ihre Logik ist die Logik der Vermittelungen zwischen jedem Ich und Uns allen sowie zwischen Uns allen und jedem Ich. Der gesellschaftliche Mensch ist dabei die Art und Weise seines Umganges mit den anderen Menschen. Die Menschen und die soziale Wirklichkeit, die sie miteinander und gegeneinander bilden, lassen sich zwar manche, aber nicht jede beliebige „Natur des Menschen" durch verfassende wahr-Sagung auf den sozialen Leib schwatzen. Wie die Natur i m übrigen macht auch die Entwicklung der menschlich-sozialen software keine Sprünge. Sie kann nur mühsam und m i t gehöriger Rücksichtnahme sowohl auf die tief eingespeicherten Systemkomponenten als auch auf die jeweiligen Bedürfnisse der Menschen umprogrammiert werden. Verfassungsprobleme etwa, die die moderne Sozialwissenschaft heute am Beispiel der Entwicklungsländer studieren kann, welche i n unsere Zivilisation hineinkatapultiert werden, hatte Hegel schon i n seinen zeitgenössischen Beispielen erkannt und ausgewertet: „Was Napoleon den Spaniern gab, w a r vernünftiger, als was sie früher hatten, u n d doch stießen sie es zurück als ein ihnen Fremdes, da sie noch nicht bis dahin gebildet w a r e n 5 5 1 * . "
Verfassungen können abgeschüttelt werden wie lästige Kleidungsstücke, wenn sie zu dem vorgefundenen inneren, sozial- und politpsychologischen Material nicht i n einem günstigen Verhältnis stehen, — und zwar unabhängig davon, ob sie an sich so aufgebaut sind, daß sie von einer menschlich-sozialen Wirklichkeit langfristig angenommen werden könnten. Man kann daher menschlich-zeitbedingte und logischunbedingte Immunität der menschlich-sozialen Wirklichkeit gegen die dauerhafte Annahme bestimmter verfassender wahr-Sagungen unterscheiden. Hegel etwa hielt die deutsche Situation gegen Anfang des vorigen Jahrhunderts f ü r i m m u n gegen kosmopolitische wahr-sage-Bemühungen. Er konzentrierte sich daher sehr bewußt darauf, eine Definition der deutschen Situation zu organisieren, die für Deutschland eine weltgeschichtliche A u f gabe bereithielt u n d auf den „Geist der Zeit" zugeschnitten war. Diese Def i n i t i o n verband deutsche Besonderheit m i t weltgeschichtlicher Allgemeinheit. Die revolutionären Definitionen der Situation, die M a r x i n den geschichtlichen Prozeß einspeiste, waren ebenfalls auf die Bedürfnisse der Zeit, w i e M a r x sie sah, zugeschnitten. Sie drangen jedoch n u r i n relativ wenige deutsche Gemüter ein. Sie perlten an religiösen, deutschnationalen u n d ökonomischen Gesinnungen ab w i e Wasser v o m Gefieder der Enten. Heute würde Hegel den eingeschworenen dialektischen Materialisten v i e l 551a
Zusatz zu § 274 der Rechtsphilosophie. Glockner 7, 376 = Werke 7, 440.
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7. Kapitel : Von der Dialektik zur Verfassungstheorie
leicht schmunzelnd, aber m i t einem leisen Hauch von Wehmut zu bedenken (und zum Nach- u n d Weiterdenken) geben: ungeachtet der theoretischen Einbahnstraße v o m Sein zum Bewußtsein i n der materialistischen Theorie seien M a r x ' Ideen u n d m i t ihnen Hegeische Ideen aus Deutschland nach Leningrad u n d Moskau ausgewandert w i e einst das Christentum von Palästina nach Rom, u n d zwar insbesondere deshalb, w e i l L e n i n sich u m die angeblichen Verkehrsregeln auf der Einbahnstraße i n entscheidenden H i n sichten gerade nicht gekümmert habe. A u f deutschem Boden, der diese Ideen hervorgetrieben habe, seien sie nicht recht angewachsen, w e i l dort die versteinerten Strünke verstorbener Gewächse es verhinderten. Aber i n einem anderen L a n d 5 5 2 . . . —
Die dialektische Verfassungstheorie hat auch das uralte gesellschaftliche Problem theoretisch und praktisch zu lösen (das die wirklichen Gesellschaften schon immer auf die eine oder andere A r t praktisch gelöst haben): Wie der Wille vieler ein Wille w i r d und wie der eine Wille dann von vielen wieder ausgeführt wird. Dieses Problem taucht auf allen Ebenen der Gesellschaft auf und es ist das Problem der Staatswillensbildung, solange Gesellschaftsverfassung vor allem als Staatsverfassung begriffen w i r d (so wie es ein Problem der prophetischen Legitimation war, solange Gesellschaftsverfassung als Ordnung von Gott her begriffen wurde). Wie also läßt es sich theoretisch exakt und anschaulich konstruieren, daß sich vielfacher Wille i n einen Willen verdichtet und der so punktualisierte Wille wieder als vielfache Wirkung zerstreut? — und zwar auf eine solche Weise verdichtet und zerstreut, daß jeder dabei zunächst theoretisch und dann auch i n der Wirklichkeit zu seinem Recht kommt? Auch diese Fragen zielen auf die Logik bzw. Grammatik des gesellschaftlichen Prozesses (wobei diese Grammatik der Verfassungstheorie den Verfahren etwa des Staats rechts entspricht). Da hier dialektisch gedacht wird, mag Hegel die einschlägigen Fragen konkretisieren: „Welcher W i l l e soll der W i l l e sein, der da entscheidet? Dem Monarchen k o m m t die letzte Entscheidung zu; ist aber der Staat auf Freiheit gegründet, so wollen die vielen W i l l e n der I n d i v i d u e n auch A n t e i l an den Beschlüssen 652 Vgl. oben bei A n m . 234. — Außerdem: „Sie sind glücklich, ein Vaterland zu haben, das einen so großen Platz i n dem Gebiet der Weltgeschichte einn i m m t u n d das ohne Zweifel eine noch v i e l höhere Bestimmung hat. Die anderen modernen Staaten, (so) könnte es den Anschein haben, hätten bereits mehr oder weniger das Ziel ihrer E n t w i c k l u n g erreicht; vielleicht hätten mehrere derselben den K u l m i n a t i o n s p u n k t derselben schon hinter sich, u n d i h r Zustand sei statarisch geworden, (—) Rußland dagegen . . . trage i n seinem Schoß eine ungeheure Möglichkeit von E n t w i c k l u n g seiner intensiven Natur. Sie haben das persönliche Glück . . . , die nähere Anwartschaft zu haben, i n diesem kollossalen Gebäude eine nicht bloß untergeordnete Stellung einzunehmen." (Ergänzungen i n K l a m m e r n von mir) — Briefe I I S. 297 f.; ähnlich i n den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (oben A n m . 112) S. 907.
7.4 Verfassung als Grammatik des gesellschaftlichen Prozesse
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haben. Die Vielen sind aber Alle, und es scheint ein leeres Auskunftsmittel und eine ungeheure Inkonsequenz, nur Wenige am Beschließen teilnehmen zu lassen, da doch jeder m i t seinem Willen bei dem dabei sein w i l l , was i h m Gesetz sein soll. Die Wenigen sollen die Vielen vertreten, aber oft zertreten sie sie nur. Nicht minder ist die Herrschaft der Majorität über die Minorität eine große Inkonsequenz 653 ." „ . . . besteht die Haupteinseitigkeit noch, daß der allgemeine Wille auch der empirisch allgemeine sein soll, d. h. daß die Einzelnen als solche regieren oder am Regimente teilnehmen sollen. Die subjektiven Willen der vielen sollen gelten: diese Abstraktion w i r d festgehalten und befindet sich immer i m Gegensatz gegen das Vorhandene. Nicht zufrieden, daß vernünftige Rechte, Freiheit der Person und des Eigentums gelten . . . , setzt der Liberalismus allem diesen das Prinzip der Atome, der Einzelw i l l e n entgegen: alles soll durch ihre ausdrückliche Macht und ausdrückliche Einwilligung geschehen. M i t diesem Formellen der Freiheit, m i t dieser Abstraktion lassen sie nichts festes von Organisation aufkommen. Den besonderen Verfügungen der Regierung stellt sich sogleich die Freiheit entgegen; denn sie sind besonderer Wille, also W i l l k ü r . Der Wille der Vielen stürzt das Ministerium, und die bisherige Opposition t r i t t nunmehr ein; aber diese, insofern sie jetzt die Regierung ist, hat wieder die vielen gegen sich. So geht die Bewegung und Unruhe fort. Diese Kollision, dieser Knoten, dieses Problem ist es, an dem die Geschichte steht und das sie i n künftigen Zeiten zu lösen hat 5 5 4 ." Diese K o l l i s i o n , dieser K n o t e n , dieses P r o b l e m ist n u r lösbar, w e n n theoretische K o n s t r u k t i o n e n angegeben w e r d e n können, nach denen E i n z e l w i l l e u n d A l l g e m e i n w i l l e i n eine plausible u n d realisierbare E i n h e i t gebracht w e r d e n können, die der E m p i r i e n i c h t w i d e r s p r i c h t , sondern i m Gegenteil, sich v o n i h r m e h r oder w e n i g e r ablesen läßt. D i e Wahrscheinlichkeit d a f ü r , daß E i n z e l w i l l e u n d A l l g e m e i n w i l l e m i t e i n a n d e r z u s a m m e n s t i m m e n (oder wenigstens n i c h t so w e i t auseinanderlaufen, daß die Verfassung der Gesellschaft dabei i m m e r w i e der l e i d v o l l e n t k r ä f t e t w i r d ) , ist a m größten, w e n n der Prozeß der W i l l e n s b i l d u n g sich i n d e m empirischen einzelnen B e w u ß t s e i n ähnlich abspielt w i e i n der Gesellschaft. Das ist n u r d a n n möglich, w e n n Bewußtseins^erfassung u n d Gesellschaftsverfassung einander entsprechen.
553 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, a.a.O., S. 927 f. = Glockner 11, 559 = Werke 12, 530/1. 554 S. 932 f. (soweit ersichtlich nur i n dieser Ausgabe). Vgl. zur Lösung dieses gordischen Knotens der Verfassungstheorie und -technik insbesondere das, was unten i m Zusammenhang m i t den Begriffen „Zyklokratie" und „Dialaktokratie" bei den Anm. 618 - 620 ausgeführt ist.
. Kapitel Bewußtseinsverfassung, Gesellschafts Verfassung und geschriebene Verfassung 8.1 Zum theoretischen Ansatz Die Verfassung des Bewußtseins ist etwas anderes als eine Stimmung des Gemüts oder eine Gestimmtheit des Menschen. Stimmungen und Gestimmtheiten sind abhängig von der Organisationsform des Bewußtseins. Wie das Innere des Menschen organisiert ist, — damit ist auch festgelegt, welche Empfindungen beim Empfang bestimmter Eindrücke und beim Denken bestimmter Gedanken ausgelöst werden: Was den einen jubeln läßt über einen Sieg, bedrückt den anderen als Niederlage und läßt einen Dritten ungerührt, weil es i h m gleichgültig ist. Welche Stimmungen durch äußere und innere Ereignisse i m Menschen ausgelöst werden, hängt ab von der Verfassung seines Bewußtseins. Zwar spricht man auch von einer „Gemütsverfassung", wenn ein augenblicklicher, vorübergehender Zustand bezeichnet wird. Aber i n diesem Sinne ist der Begriff „Bewußtseinsverfassung" nicht gemeint. Die beiden Begriffe „Bewußtseinsverfassung" und „Gesellschaftsverfassung" werden m i t Absicht einander sowohl gegenüber- als auch in Parallele gestellt, damit sich zweierlei aufdrängt: Erstens der Unterschied von Innen und Außen. Zweitens aber die Entsprechung i m Hinblick auf Organisiertheit und Verfaßtheit. Wenn es draußen ganz anders zugeht, als es nach der inneren Verfaßtheit des Bewußtseins für den Betreffenden zu erwarten ist, kommt es zu Schwierigkeiten: Er zieht sich zurück oder er lehnt sich auf oder sucht andere Wege, mit sich und seiner Umwelt zurechtzukommen. Das gilt für engere, private, wie für weitere, gesellschaftliche und politische Felder, die innerhalb des Erlebens- und Wirkenshorizonts liegen. Sollen Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung zusammenstimmen, müssen sie annähernd von gleicher Struktur, von gleicher Feinheit, von gleicher Gangart und von vergleichbarer Vielstimmigkeit sein. Damit w i r d sehr viel mehr gefordert als bloß gleiche oder gleichartige „Komplexität". Vor allem kommt es auf gleiche Struktur und Gangart an: Sie muß in-sich-reflektiert sein i m Bewußtsein, wie sie in-sich-reflektiert ist in der Außenwelt.
8.1 Zum theoretischen Ansatz
289
Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist ein Polylog. Soll diesem Außen ein innen entsprechen, das m i t i h m zusammenstimmen kann, so muß auch das Innen prinzipiell als ein Polylog aufgefaßt werden. Daß es dabei zu Vereinfachungen und Verzerrungen, zu Verformungen und Verkehrungen kommen kann und kommt, versteht sich von selbst; aber angesichts der Vielgestaltigkeit und Nachgiebigkeit des Gegenstandes, von dem hier die Rede ist, muß an irgendeiner Stelle m i t allgemeineren und abstrakteren Begriffen begonnen werden, die den Rahmen (das Modell) liefern, innerhalb dessen die konkreteren Erscheinungsformen erörtert werden können. Zunächst mag es trotz der bisherigen Ausführungen den einen oder anderen verwundern, daß i n einer verfassungstheoretischen Arbeit eine Fragestellung aufgerollt wird, die viel eher i n einen psychologischen Zusammenhang gehört, und zwar i n einen sozial-, polit- und religionspsychologischen Zusammenhang. Die Erklärung ist jedoch einfach: Nicht nur entspringen die (geschriebenen) Verfassungen einem Formulierungsprozeß, der innere Vorstellungen i n die Sätze des Verfassungstextes übersetzt, sondern auch der gesamte gesellschaftliche Prozeß, der sich nach der Verfassung oder auch neben und trotz der Verfassung entfaltet, ist ein soziales Handlungsgefüge, dessen Richtung und Rhythmus weitgehend davon bestimmt wird, wie es in den Köpfen der Menschen aussieht und zugeht. Also kommt es auf dieses Innen ganz entscheidend an. Daher läge es auch nahe, an dieser Stelle psychologische Exkurse einzufügen, u m von den zuständigen Spezialfächern her zu den Problemen der Verfassungstheorie vorzustoßen. Gleichwohl w i r d hier anders verfahren: Von dem verfassungstheoretischen Gedankengang her stellen sich Fragen an die Gegenstandsbereiche, m i t denen die psychologischen Disziplinen es zu t u n haben. Und von den Kategorien der Verfassungstheorie her werden i m Folgenden Modellvorstellungen entwickelt, von denen i n einer späteren zwischenfachlichen Diskussion geprüft werden muß, wie w e i t sie sich m i t den fachpsychologischen Vorstellungen decken, wie weit sie selbst und wie weit die fachpsychologischen Begriffe ergänzt werden müssen. Nur eines wurde versucht: Durch Parallellektüre einiger einschlägiger Arbeiten habe ich mich bemüht, die potentielle Kompatibilität der hier vorgetragenen Entwürfe m i t fachpsychologischen Begriffen einigermaßen aufrechtzuerhalten. Nach verschiedenen Versuchen, meine Vermutungen zur Deckungsgleichheit einiger der hier entworfenen Vorstellungen m i t denen der Sozial- und Politpsychologie i n die Darsellung m i t aufzunehmen, beließ ich es dabei, hier auf den Brückenbau i n die anderen betroffenen Fachsprachen weitgehend zu verzichten. Ganz ähnlich steht es m i t den Bezügen zur Soziologie und mit der Kompatibilität der Begriffe i n dieser Richtung. Offenkundige Ver19 Suhr
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8. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
wandtschaften haben sich bereits oben gezeigt, als das Modell „Theater" zur Veranschaulichung des Polylogs diente, — ein Modell, das bekanntlich auch bei den rollentheoretischen Konzepten der Soziologie Pate gestanden hat 5 5 5 . Der Hauptunterschied dürfte i m Folgenden liegen: Hier w i r d ganz bewußt mitbedacht und reflektiert, daß die Erkenntnis sich nicht nur nach dem sozialen Gegenstande fügen und bequemen muß, — daß vielmehr der Gegenstand selbst durch frühere und gegenwärtige Prozesse des Erfassens und Verfassens immer wieder verformt und geformt worden ist und geformt wird. Es ist nicht nur wie i m klassischen naturwissenschaftlichen Erkennen, daß die Erkenntnis sich dem Gegenstand immer vollkommener anschmiegt. Vielmehr kommt der Gegenstand der Erkenntnis auch entgegen. Oder er schlägt i h r ein Schnippchen, wenn sie m i t i h m noch nicht hinreichend vertraut ist. So paradox sich das anhören mag, für einen Rechtswissenschaftler gehört es zum täglich Brot, daß geistige A k t e zu Tatsachen erwachsen, die weiteres Handeln drastisch motivieren und steuern: Eingehen einer Ehe; Abschluß eines Kaufvertrages; Kündigung meiner Wohnung usw. 5 6 6 . Skeptiker der empirischen Sozialwissenschaften, die die motivierende K r a f t „geistiger" Objektivationen noch i n Frage stellen, können leicht die Probe aufs Exempel machen: Sie sollten vor Gericht versuchen, von einem Gebrauchtwagenhändler ein Fahrzeug einzuklagen, das sie sich auf seinem Gelände ausgesucht haben, — aber einzuklagen, ohne einen Kaufvertrag abgeschlossen zu haben u n d vorzulegen u n d ohne den Abschluß eines solchen Vertrages vorzutragen. Gegenprobe: Kauf eines Wagens: dann braucht das Gericht i n aller Regel gar nicht erst bemüht zu werden. Oder: M a n denke sich das Grundgesetz ersatzlos f ü r kraftlos erklärt u n d male sich den verfassungslosen Zustand aus. Gegenprobe: W a r u m kann m i t einer für sozialwissenschaftliche Verhältnisse relativ guten Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden, i n welchem Jahr die nächsten Wahlen zum Bundestag stattfinden werden u n d unter welchen bedingenden Ereignissen sich dieser T e r m i n verschieben kann? W e i l es geschrieben steht! Der Sozialwissenschaftler braucht n u r den Verfassungstext zu lesen (und zu verstehen), u m sich ein sehr wahrscheinliches B i l d zu machen. — W i r stecken so tief i n der Motiviertheit auch durch Worte u n d dergleichen, daß w i r oft die Bäume vor lauter W a l d nicht sehen, u n d daß w i r i n diesem W a l d sogar auf Ästen sitzen, deren Existenz w i r erkenntnis- u n d wissenschaftstheoretisch i n Frage stellen.
Für den Juristen ist es (bei voller Rücksicht auf die Wirkung vieler anderer Faktoren, die sein „Vorverständnis" machen) ganz einfach evident, daß der Stoff, mit dem er es zu t u n hat, auch „geistiger" Stoff ist, i n dem sich die Erfahrungen, Interessen und Erkenntnisse vorhergegangener sozialer Ereignisse niedergeschlagen haben. Die Spuren der Praxis und Erkenntnis von gestern sind Gegenstand der Praxis 555 558
Oben K a p i t e l 6.4, A n m . 522 a. Oben bei A n m . 493 - 496.
8.1 Zum theoretischen Ansatz
291
und Erkenntnis von heute, — und die von heute sind Gegenstand von morgen. Hier bewegt sich nicht nur die Erkenntnis auf den Gegenstand zu, sondern die Spuren des Geistes formen auch den Gegenstand, so daß er der Erkenntnis auch entgegenkommen oder sich wieder von i h r entfernen kann. Langfristige Wahrheit ist i n diesem Bereich, i n dem das Geistige reell w i r d und das Reelle geistig, auch denkbar als wechselseitiges, rückschlagreiches Aufeinanderzuarbeiten: Der Erkenntnis, die ihren Gegenstand erfassen w i l l , und des Gegenstandes, der dabei nolens volens definiert und verfaßt wird. Diese Dimension des Problems b i l det den Hintergrund zu jedem Satz, der i n dieser Arbeit steht. Insofern hören die Verwandtschaften m i t einer i m konventionellen Sinne „bloß empirischen" Sozialwissenschaft auf (was nicht heißt, daß nicht die beiderseitigen Konvergenz-Divergenz-Phänomene i m sozialwissenschaftlichen und sozialtechnischen Bereich ihrerseits empirisch erforscht werden könnten). Wenn ein sozialwissenschaftliches Modell die empirische Wirklichkeit nicht recht erfassen kann, führt der idealtypische Empirist i n der Regel ein paar zusätzliche Parameter ein, u m der Komplexität der Wirklichkeit noch besser beizukommen. Da aber — wissenschaftlich genau genommen — das Modell oft dem Prozeß mitangehört, der erforscht wird, kompliziert jede Komplizierung des Modells auch schon wieder den Prozeß, u m den es geht: Ein selbstreferenzielles Schneeballsystem von Parametern. Aber m i t diesem Schritt der Hereinnahme des Modells i n den Prozeß, der modelliert wird, und damit auch i n das Modell selbst, eröffnen sich ganz andere Möglichkeiten: Warum soll sich immer nur das Modell nach der Wirklichkeit fügen und bequemen? — warum nicht auch einmal die Wirklichkeit nach dem Modell? Oder läßt sich dieser ganze Vorgang von wechselseitigem Aufeinanderzu und Voneinanderweg, — läßt sich diese Resonanz, die Dissonanzen und Konsonanzen erzeugt, selbst erfassen und verfassen? — So wenig wie die psychologischen, sozial- und politpsychologischen und die soziologischen Forschungen hier direkt zu Worte kommen, so wenig kommen auch die Stimmen aus der Staatstheorie und Politikwissenschaft, aus der Staatsrechts- und aus der bisherigen Verfassungslehre zur Frage der Repräsentation direkt zu Wort, und zwar nicht nur, w e i l ein Modell geschlossen u n d überschaubar dargestellt werden soll, sondern w e i l dieses Modell mit den anderen i m Schrifttum entwickelten Vorstellungen so wenig ausdrückliche und so viel undeutlichere Ähnlichkeiten hat, daß nur sehr sorgfältige und exakte Exkurse der Sache und den Schriftstellern gerecht werden könnten, — also weitere Monographien. 19*
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8. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung 8.2 Verfassung des Bewußtseins Oder: Theorie der internen Repräsentanten
Wenn dem äußeren Polylog ein modellierter, innerer entsprechen soll, so müssen die körperlichen Menschen, die „Sprecher und Hörer" des Polylogs, i m Innern repräsentiert sein. Wer i n m i r repräsentiert ist, hat Sitz und Stimme i n mir. Draußen ist er gegenwärtiger, körperlicher Mensch: reell und leibhaftig. Drinnen i n m i r hat er nur einen symbolischen Repräsentanten: unkörperlich und von eher „ideeller" Natur. Wer nicht i n m i r repräsentiert ist, hat weder Sitz noch Stimme in mir. Es mag zwar sein, daß ich i h n wahrnehme, wenn er vor m i r steht. Aber i m übrigen existiert er für mich nicht. Wen es gar nicht gibt, dessen Existenz kann ich m i r gleichwohl einbilden und i n m i r zwar nicht repräsentieren, wohl aber zur ideellen Existenz bringen. L u d w i g Feuerbach 557 gebraucht eine Metapher, die das Modell, das hier und i m Folgenden skizziert wird, recht gut veranschaulicht: „Der K o p f ist das Repräsentantenhaus des Weltalls, der Gattungsbegriff der Repräsentant, der Stellvertreter der Individuen, die i n ihrer unendlichen W i r k l i c h k e i t keinen Platz i m K o p f finden."
Darin freilich, daß der Gattungsb egriff zum Repräsentanten der Gattung erklärt wird, liegt eine Abstraktion, — und Feuerbach verwendet die Metapher, u m diese Abstraktion zu verdeutlichen: „Wenn w i r bereits den Kopf v o l l von Gattungsb egriff en und der Anschauung der Wirklichkeit uns (dadurch) entfremdet haben . . . " — Diese Abstraktion samt ihrem Entfremdungseffekt w i r d vermieden, wenn i m Kopf weniger Begriffe vom Menschen herumspuken und dafür mehr Raum verbleibt für die leibhaftigen Menschen. Das läuft auf einen Kopf als Repräsentantenhaus hinaus, i n dem die wirklichen Menschen repräsentiert sind, soweit sie sich i n ihrer Vielfalt i n einem Kopf überhaupt repräsentieren lassen. Den Weg, über den sich die Umwelt i n uns hineinstülpt (über den w i r sie i n uns hereinholen, „internalisieren"), liefern die Sinne, über die w i r die Welt und die Mitmenschen erfahren. Die Sinne sind die Fenster der Monade, durch die die Welt hineinstrahlt und - w i r k t (so wie unsere Arme und unsere Sprache die Medien sind, durch die unser Inneres i n die übrige Welt zurückwirkt). I n M a r x ' 5 5 8 Worten sind es 657 Vorlesungen über das Wesen der Religion. Sämtl. Werke, Bd. 8, Leipzig 1851 S. 435. 558 M E W 1 S. 69.
8.2 Verfassung des Bewußtseins
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„ A u g ' und Ohr, diese Organe, die den Menschen von seiner I n d i v i d u a l i t ä t losreißen u n d i h n zum Spiegel u n d Echo des Universums machen."
Aber wie dieses Echo i m einzelnen ausfällt, ob als Weltbejahung oder Weltverneinung oder als sonstige Haltung: das hängt von der Binnenverfassung des Bewußtseins ab, die darüber bestimmt, wie der einzelne Mensch sein Eingebettetsein i n seine physische und soziale Welt erlebt. Die Bewußtseinsverfassung regelt insbesondere, welche Emotionen vermittels der internalisierten Außenweltvorgänge i n dem betroffenen Menschen ausgelöst werden. Wie diese Regelung sich vollzieht, soll hier am Modell der internen Repräsentanten durchgespielt werden, welches besonders geeignet erscheint, eine Brücke zwischen Bewußtseinstheorie und Verfassungstheorie abzugeben. Wie sich nun derjenige, der i n m i r repräsentiert ist, i n m i r bemerkbar macht, — wie er meine Empfindungen beeinflußt und meine Stimmungen mitbestimmt (und über diese Stimmungen meine Handlungen), — das hängt ab davon, wie der interne Repräsentant des anderen i n mein Bewußtsein eingebettet ist: ob er sich laut oder leise in m i r zu Worte meldet und nach welcher Logik seine Stimme meine Stimmungen und Entscheidungen mit-be-stimmt. Es sind viele Formen solcher interner Kommunikation zwischen den Repräsentanten der anderen Menschen und m i r selbst denkbar. Diese Formen lassen sich am ehesten an Hand von einigen idealtypischen Organisationsmodellen darstellen. Die Auswahl und Beschreibung dieser Idealtypen ist bedingt durch den verfassungstheoretischen Ansatz, und die Bezeichnung als „Idealtypen" stellt klar, daß die Modelle, selbst wenn sie zutreffen sollten, i n so reiner, ungetrübter und ungemischter Form keiner Realität entsprechen. Annäherung an bekannte Wirklichkeiten sind jedoch offensichtlich und werden durch die Wahl der Bezeichnungen angedeutet. 8.21 Aufrechte innere Repräsentation „Aufrechte Repräsentation des einen i m anderen", — so sei diejenige innere Vergegenwärtigung des anderen bezeichnet, bei welcher folgender Zusammenhang zwischen den Eindrücken von außen und den eigenen Empfindungen besteht: Fremde Freude bereitet eigene Freude: Mitfreude. Fremdes Leid w i r d als eigenes Leid erlebt: Mitleid. Die Nachrichten über Freud und Leid des anderen werden mit der Wirkung auf die eigenen Empfindungszentren „gemeldet" oder „durchgeschaltet", daß sie zwar nicht dieselben, wohl aber entsprechende
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8 Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
Empfindungen „ i n der eigenen Brust" auslösen. Ein idealtypisches Beispiel: Eine Mutter erlebt, wie ihr K i n d überfahren wird, und es t r i f f t sie, als sei sie es selbst. (Die Ähnlichkeit m i t psychologischen Begriffen wie denen der „Identifikation" und „libidinösen Besetzimg" liegt auf der Hand.) Es ist wichtig, daß diese zunächst zwar nur symbolische bzw. ideelle Repräsentation des anderen i n den eigenen Sinnen keine bloß theoretisch-intellektuelle Reproduktion darstellt, — kein bloßes Modell des anderen. Vielmehr ist der innere Repräsentant des anderen an die eigenen inneren Sinne derart „angeschlossen", daß höchst reelle eigene Empfindungen vermittels des inneren Repräsentanten des anderen ausgelöst und gesteuert werden. Es vollzieht sich eine Mitbestimmung meiner Stimmungen durch die „Stimme" des inneren Repräsentanten, mittelbar also eine Mitbestimmung durch den anderen selbst. Freud und Leid des anderen schlagen durch aufs eigene Gemüt als das, als was sie i m anderen auftreten. Sind viele andere i n m i r aufrecht repräsentiert, so w i r d ein Fest, das sie feiern, i n m i r reproduziert u n d löst i n m i r Feststimmung aus, auch w e n n ich selbst nicht mitfeiere. Meine Freude geht dabei nicht auf Kosten der anderen. Sie werden nicht entreichert. I m Gegenteil: Wenn sie mich i n sich repräsentieren wie ich sie i n m i r , u n d wenn sie von meiner Mitfreude erfahren, schlägt sie auf sie zurück. Dieser Empfindungsreichtum entspringt einer Quelle, die u m so kräftiger sprudelt, je mehr daraus getrunken w i r d . Dieser Reichtum entsteht und vermehrt sich, indem er genossen w i r d : E i n Zauberwerk, das so paradox u n d logisch zugleich ist wie die dialektische Logik, nach welcher es sich abspielt. K e i n Naturgesetz w i r d übersprungen, aber durch den Schein des anderen i n m i r ist es, als sei es so. E i n unabsehbarer Reichtum i m „Geisterreich" der absehbaren Welt.
Da die Stimmungen meines Bewußtseins von allen den anderen mitbestimmt werden, die i n m i r repräsentiert sind, — da also meine Gestimmtheit zu einem großen Teil vom Zustand anderer abhängt, verringert sich entsprechend der Einfluß, den mein eigener körperlicher Zustand auf mein Bewußtsein hat. Das unmittelbare körperliche Ich, wie es ohne die internen Repräsentanten der anderen gedacht werden kann, ist nur eines unter den vielen, deren Zustände mein Bewußtsein mitbestimmen. Dieses durch die anderen mitbestimmte Bewußtsein ist ein vermitteltes Bewußtsein. Aber es ist mein Bewußtsein: Es konstituiert mich. Es gehört zu dem, was ich meine, wenn ich sage: „Ich". Dieses Ich hängt nur noch auf zweierlei A r t m i t dem unmittelbaren Ich zusammen, von dem vorher die Rede war: Erstens ist das körperliche, unmittelbare Ich das Gefäß, i n dem sich alle Repräsentanz der Umwelt überhaupt vollzieht. Zweitens hängt das vermittelte Bewußtsein auf dem Wege über die Repräsentanten und die Logik, nach der sie es mitbestimmen, m i t der Umwelt und dem eigenen Körper zusammen, A u f dieser Ebene ist auch mein körperliches, unmittelbares Ich
8.2 Verfassung des Bewußtseins
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nur als repräsentiertes Ich unter den Repräsentanten vertreten: Es t r i t t i m Innern zurück i n ihre Gemeinschaft, wie das körperliche Ich draußen i n ihrer Gemeinschaft lebt. Was ich i n meinem vermittelten Bewußtsein bin, w i r d dann von einem Stimmkörper bestimmt, i n dem ich nur einer unter vielen bin. Dann aber w i r d auch die Frage möglich, wie ich i n m i r selbst, d. h. wie mein körperliches Ich i n meinem vermittelten Ich repräsentiert ist: Ob also Freude und Leid des unmittelbaren Ich aufrecht als Freude und Leid des vermittelten Ichs zu Buche schlagen, oder ob z. B. körperliches Leid dem psychisch vermittelten Ich Lust bringt und körperliche Lust Qual. Doch diese Erwägung führt zum nächsten Typ der Repräsentation des einen i m anderen: der verkehrten Repräsentation. 8.22 Verkehrte
innere Repräsentation
„Verkehrte Repräsentation des einen i m anderen", — so sei die andere innere Vergegenwärtigung des anderen bezeichnet, bei der sich die Eindrücke von außen nach folgender Logik i n eigene Empfindungen verwandeln: Fremde Freude bereitet eigenen Verdruß: Neid, Haß, Mißgunst. Fremdes Leiden bereitet eigenes Vergnügen und eigene Lust: Sadismus, Schadenfreude. Die Nachrichten über Freud und Leid des anderen werden hierbei m i t der Wirkung auf die eigenen Empfindungszentren gemeldet, daß Stimmungen entstehen, die das Gegenteil der Stimmungen des anderen sind. Die Vorzeichen der Empfindungen werden dabei umgedreht: „ver-kehrt". Als Beispiel mag man sich vorstellen, wie der Sieger eines Kampfes jubelt und die Arme vor Freude hochwirft angesichts des Gegners, der sich i m Todeskrampf windet. Die Nichtigkeit des anderen w i r d zum Sockel der eigenen Lust und Größe. „Der Feind" w i r d regelmäßig invers repräsentiert, der Freund aufrecht. Es gibt interne Plätze, die so organisiert sind, daß der andere, der einen solchen Platz i m Zuge der internen Repräsentation besetzt, ver-kehrt an die eigenen Empfindungen angeschlossen wird. Dieser ver-kehrte Repräsentant bestimmt zwar die inneren Stimmungen ebenso wirksam m i t wie der aufrechte Repräsentant. Aber die Logik, nach der seine Stimme ausgewertet wird, ist gegenüber der Logik der aufrechten Repräsentation ver-kehrt: die interne Programmlogik der Brutalität. 8.23 Theozentrische innere Repräsentation I m Zuge der Repräsentation des sozialen Polylogs i n die einzelnen Menschen, die ihn konstituieren, kann es zu Vereinfachungen und
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8. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
Verzerrungen kommen. Einen solchen Fall stellt die theozentrische Repräsentation des Polylogs i m Menschen dar: Wie leuchtende Riesensterne zu einem kleinen, dunklen B a l l überschwerer Materie in sich zusammenfallen und schrumpfen können, so schrumpft der Polylog i m Zuge der theozentrischen Repräsentation i n eine übermächtige Stimme, i n einen übermächtigen Repräsentanten zusammen, der Alles ist. Da es diesen Einen nicht i n der greifbaren Form wie den Nächsten gibt, taucht die Frage auf, wer draußen, i n der äußeren Welt, die Stimme des Einen spricht oder verdolmetscht, und das Problem, woran die Legitimation zu solcher Rede i m Namen des Einen zu erkennen sei. 8.24 Egozentrische innere Repräsentation Auch bei dieser Form der internen Repräsentation der Welt w i r d die Vielfalt des äußerlichen Polylogs vernachlässigt und gestutzt wie bei der theozentrischen Repräsentation. Aber nicht ein draußen gedachter Gott ist Alles, sondern ich repräsentiere in m i r immer nur mich selbst, den Einzigen: Meine Stimme bestimmt laut und einsam alle Stimmungen und Entscheidungen meines Bewußtseins. Was an anderen nicht ist wie Ich, existiert i n meinem Innern nicht (ich stoße höchstens draußen u m so härter darauf, wenn ich versuche, m i t meinen Vorstellungen in der Welt zurechtzukommen). Wenn mein Bewußtsein als egozentrische Repräsentation verfaßt ist, hat das ganz bestimmten Einfluß darauf, wie ich mich selbst, die anderen und die Welt sehe und behandeln w i l l . Meine Erfahrung mit mir läßt mich darauf schließen, wie die anderen sind: ebenso. Ich kann m i r nicht vorstellen, daß ich i m anderen repräsentiert bin; denn er ist auch nicht i n m i r repräsentiert. Innerlich b i n ich einsam und meine, daß auch der andere innerlich m i t sich selbst allein sei wie ich. Also muß alles, was sich an Gemeinschaft und Vergesellschaftung vollziehen soll, draußen ablaufen: Insbesondere kann ich m i r „Mitbestimmung" einer Entscheidung nur als einen Prozeß vorstellen, bei dem ich körperlich dabeisitze und mitreden kann. Und wenn ich mich einmal nicht körperlich hinzusetzen kann, w e i l ich nicht überall zugleich sein kann, muß ich doch sicherstellen, daß mein Vertreter nach meiner imperativen Pfeife tanzt und meine Stimme (oder eine andere, durch körperliche Abstimmung aller festgelegte Stimme) körperlich weiterträgt: Ich muß Sorge dafür tragen, daß ich meinen Vertreter abberufen kann wie der Herrgott seinen Knecht oder wie ein idealtypischer Kapitalist seine Arbeitnehmer feuert. Je egozentrischer die Verfassung meines Bewußtseins, desto geringer mein Vertrauen, daß ein selbständig handelnder anderer auch Sachen richtig macht, die mich betreffen, — desto größer mein Mißtrauen, daß der andere nur seinen eigenen Vorteil
8.2 Verfassung des Bewußtseins
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verfolgt, — und desto dringender mein Bedürfnis, überall selbst (unmittelbar oder imperativ vermittelt) dabei zu sein. Umgekehrt kann von solchen Bedürfnissen und Verhaltensweisen auf die Bewußtseinsverfassung zurückgeschlossen werden. Ebenso wenig, wie ich m i r eine Mitbestimmung vorstellen und Vertrauen zu i h r haben kann, welche sich nicht durch körperliche M i t w i r kung, sondern i m Innern vollzieht, vermag ich m i r vorzustellen, daß ein innerer Kampf, der durch widerprüchliche Stimmen i m Bewußtsein ausgetragen wird, einen Menschen ändern und auf diesem Wege auch draußen zu anderen Verhaltensweisen führen kann. Denn ich kenne i n meinem Inneren nur eine Stimme: meine Stimme, — wie sollte ich aus Erfahrung wissen, daß eine zunächst unterdrückte oder schwache innere andere Stimme sich i n m i r langsam durchsetzt und Oberhand gewinnt, so daß sie schließlich meine neue eigene Stimme wird? Also kann ich m i r Auseinandersetzungen und Kämpfe, kann ich m i r Veränderungen nur als körperlich-praktische Kampftätigkeit vorstellen, bei der die Stimmen, die meiner widersprechen, draußen stillgelegt werden: indem ich die Körper stillege, aus denen sie hervorkommen, oder indem sie ideologisch oder medizinisch für irrelevant erklärt werden. Auch hier wieder kann ein Beobachter von meiner praktisch-überpraktischen Theorie und meinem praktisch-überpraktischen Verhalten auf die Verfassung meines Bewußtseins zurückschließen: Mein Drang nach äußerlichen Formen der Gemeinschaft und Solidarität ebenso wie mein Drang nach äußeren Formen der Veränderung und des Kampfes drückt jeweils die Erfahrungen meines individualistischen, mit sich einsamen und sich selbst ins Zentrum setzenden Bewußtseins aus. Daraus folgt nicht, alles solle sich in inneren Bewegungen erschöpfen, sondern nur eine Skepsis gegenüber Methoden, deren Verfechter sich selbst nicht darüber klar sind, warum sie gerade diese Methoden verfechten. Die egozentrische Repräsentation der wirklichen Welt in m i r ist eine kurzgeschlossene Repräsentation: die Inzucht der Repräsentation. Sie bewirkt keine Vergesellschaftung und Verallgemeinerung meines einzelnen Bewußtseins, sondern das Gegenteil: meine innere Isolierung als einzelnen, die mich nach äußerlicher Vergesellschaftung schmachten läßt. Sie gebiert das Mißtrauen, daß niemand anders als nur ich die Sachen richtig machen kann, die mich betreffen. Und sie gebiert es nicht nur, sondern sie ist die Erscheinungsform dieses bodenlosen Mißtrauens des Menschen i n den Menschen, das immer von neuem den mißtrauischen Menschen produziert. Durch den Kurzschluß i m Bewußtsein kann es leicht zum folgenschweren Selbstbetrug kommen: Angenommen, ich habe durchschaut, w i e die M e n -
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8. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
sehen einander entfremden. Dann liegt es nahe, daß ich von m i r glaube, ich hätte diese Untugend bereits hinter mir. Ich definiere mich also zu einem Menschen, der schon ein vergesellschaftetes Bewußtsein hat u n d der — i m Gegensatz zu den anderen — schon ein gesellschaftlicher Mensch ist Also glaube ich, daß es nicht mehr darauf ankommt, daß ich an mir, sondern n u r noch darauf, daß ich an den anderen arbeite, u m ihnen nachdrücklich beizubringen, was ich schon habe. Was ich habe, ist aber mitnichten ein v e r gesellschaftetes Bewußtsein, sondern n u r die Erkenntnis, daß die Menschen es brauchen. M e i n Bewußtsein verhält sich zu einem vergesellschafteten wie ein Mensch, der einmal i n die Pilotenkanzel geschaut hat, sich zu dem K a p i t ä n verhält, der das Flugzeug fliegt, — oder w i e jemand, der von Liebe spricht, zu jemandem, der liebt. I n m i r sind noch nicht die anderen, wirklichen Menschen repräsentiert, die meine Nächsten sind, sondern mein Bewußtsein ist v o l l von der Idee eines gesellschaftlichen Menschen, der noch nicht w i r k l i c h , u n d das heißt, der noch ein abstraktes Wesen ist. Weil dieses A b s t r a k t u m aber wenigstens schon dem Namen nach „der Mensch" ist, lasse ich mich durch diesen Namen täuschen und bemerke nicht, daß das beherrschende Wesen meines Bewußtseins k a u m menschlicher ist, als es der abstrakte Gott war. Der Gott w a r i m m e r h i n per Definition ein transzendentes Wesen, t r u g also seine Abstraktheit auf der S t i r n geschrieben, während der abstrakte Mensch alle Züge des Menschen perfekt an sich haben kann, so daß es fast unmöglich w i r d , i h n als das zu enttarnen, was er ist: als eine A r t Diapositiv i n der Guckröhre meines Bewußtseins, m i t der ich über die wirklichen Menschen von gestern u n d heute u n d r u n d h e r u m als Menschen hinwegsehe u n d sie allenfalls als Werkzeuge wahrnehme oder als Material, das beseitigt oder bearbeitet werden muß, bis es vor den Raster meiner B r i l l e paßt. Es ist verhältnismäßig leicht, das B i l d v o m gesellschaftlichen Menschen ins Fernglas des eigenen Bewußtseins zu schieben. Es ist schwer, dann noch zu erkennen, daß v i e l von diesem Menschen unter den Menschen bereits W i r k l i c h k e i t ist. Es ist am schwersten, bei dem Fernblick auf den noch u n w i r k l i c h e n Menschen den nahen u n d leibhaftigen Menschen noch als solchen zu sehen u n d f ü r i h n ein Mensch zu sein: ein Mensch, der den anderen als Menschen n i m m t u n d als gegenwärtigen Menschen i n sein Bewußtsein hereinläßt. Der Kurzschluß i m Bewußtsein hat noch weitere Folgen: Der Einzige, der i n sich n u r m i t sich spricht, der aber überzeugt ist, ζ. B. m i t seinem B i l d des gesellschaftlichen Menschen den Stein des Weisen gefunden zu haben, möchte dieses sein Menschenbild verwirklichen. Denn auch er möchte damit nicht einsam u n d allein sein, sondern zur Übereinstimmung zwischen dem I n h a l t seines Bewußtseins u n d dem I n h a l t der W e l t kommen. Aber diesem einzigen I C H u n d seinen Werken ergeht es schlecht, w e n n W I R uns über seine monologischen Anmaßungen u n d Aufspreizungen hermachen u n d wenn SEINE Werke zwischen die Malsteine UNSERES gesellschaftlichen Prozesses geraten, — u n d zwar gerade dann, w e n n W I R (wie der Geist aus der Flasche seinen H e r r n oder wie der Besen den Zauberlehrling) jenes großartige I C H beim Wort nehmen u n d i h m massenhaft zu W i l l e n sind: seinem Vorbilde folgend als viele Einzige, von denen n u r EINER w i r k l i c h der Einzige sein kann, der seine Monologe wirksam spricht. So halten W I R I H M einen lebendigen Spiegel vor, aus dem die stärksten Einzigen hervortreten u n d auf SEINE schwache Stimme pfeifen (so w i e Eulenspiegel die Opfer seiner Schalkereien meist zum Narren hielt, indem er sie beim W o r t nahm). Viele von UNS freilich, die dieses Spiel mitspielen — gutgläubig oder w e i l sie sich i h m nicht entziehen können, — zahlen m i t Gut, Leib u n d Leben
8.2 Verfassung des Bewußtseins
299
dabei. — Nur, wer UNS schon i n sich aufgenommen hatte, als er seine Werke schuf, und darin für UNS angemessenen Platz vorgesehen hat, — wer sich also selbst aus seinen Werken herausgemacht 559 hat bis auf den m i n i malen Anteil, der I H M als einem von UNS darin zusteht, hat die geringe Chance, daß W I R m i t einigem Wohlwollen zur langfristigen Annahme begutachten, was UNSERE Repräsentanten i n I H M und durch IHN, was W I R also mittelbar selbst geschaffen haben.
8.25 Verdingliche
innere Repräsentation
W i r d i m Zuge der internen Repräsentation des anderen i n m i r ausgeblendet, daß der andere ein Mensch m i t mitmenschlichen Empfindungen ist, und w i r d er lediglich als Sache, Maschine oder Organismus i n m i r vertreten, so w i r d dabei seine Subjektivität unterschlagen. Die anderen erscheinen vielleicht als meine Werkzeuge, die nach meinem Willen tanzen sollen, als Rekruten 560 für die eigene Sache, als Material, das bearbeitet und dabei erst noch zu Menschen gemacht werden soll, oder einfach als Menschenkehricht 5β1. Die Nichtigkeit des anderen gereicht m i r dann zu der Genugtuung, etwas, und zwar Subjekt zu sein. Diese Genugtuung steht aber auf schwachen Füßen: Es ist nicht die Achtung und Anerkennung, bezeugt von selbständigen Menschen, die m i r die Gewißheit verschafft, auch einer zu sein. Es ist vielmehr der Abstand, den i d i zu ihrer Nichtigkeit halte und der, soll er sich sozial i n Ansehen auszahlen, äußerlich zur Schau getragen werden muß: als Verachtung oder vor allem durch Sachen, die u m so wichtiger für mich werden, je unwichtiger es die Menschen sind. Nicht die anderen Menschen sind m i r ein Bedürfnis, sondern alle diejenigen meiner Triebe, die sich auf anderes richten als auf freie, selbständige Menschen i n meiner Umgebung. So b i n ich an einseitige Bedürfnisse gebunden und kann auch den anderen nur nach meinem V o r b i l d begreifen und behandeln. So suchen w i r aneinander nicht den Menschen, sondern die ungehemmte Befriedigung der unvermittelten Triebe. U n d diese Befriedigung geht — anders als der Reichtum, von dem bei der aufrechten Repräsentation die Rede war — stets auf Kosten des anderen, und jeder muß geizen, ja keine Freude zu spenden, die i h m nicht äußerlich durch materielle Gegenleistung oder Dienste vergolten wird. Der Mensch w i r d des Menschen Trieb: Der getriebene, hastige, verschlissene Mensch i m treib-Haus der Reklame- und Verschleißgesellschaft, der sich auch Mitbestimmung nur vorstellen kann als Geltendmachen 559
580 561
Vgl. oben Anm. 400.
Engels, oben Anm. 393.
Ein Wort, m i t dem M a r x gern seine Mitmenschen bezeichnete. M E W 1, 359; 34, 89. Dazu Arnold Künzli, K a r l Marx. Eine Psychographie, Wien u. a. 1966, S. 304 ff., und die Zeugnisse über M a r x bei E. E. W. Kux (oben Anm. 352) S. 111 f., sowie Ernst Topitsch, Gottwerdung und Revolution, Pullach 1973, 177 ff.
300
8 Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
seiner unmittelbaren Interessen. Es gibt dafür eine zwar einseitige und überspitzte, aber unübertroffene und unüberholte Beschreibung: „Jeder Mensch spekuliert darauf, dem anderen ein neues Bedürfnis zu schaffen, u m i h n zu einem neuen Opfer zu zwingen, u m i h n i n eine neue Abhängigkeit zu versetzen u n d i h n zu einer neuen Weise des Genusses u n d damit des ökonomischen Ruins zu verleiten. Jeder sucht eine fremde Wesenskraft über den anderen zu schaffen, u m darin die Befriedigung seines eigenen eigennützigen Bedürfnisses zu finden. M i t der Masse der Gegenstände wächst daher das Reich der fremden Wesen, denen der Mensch unterjocht ist, u n d jedes neue Produkt ist eine neue Potenz des wechselseitigen Betruges u n d der wechselseitigen Ausplünderung. Der Mensch w i r d u m so ärmer als Mensch, er bedarf u m so mehr des Geldes, u m sich des feindlichen Wesens zu bemächtigen . . . Die Quantität des Geldes w i r d i m m e r mehr seine einzige mächtige Eigenschaft . . . Die Maßlosigkeit und Unmäßigkeit w i r d sein wahres Maß. — Subjektiv erscheint dies so, teils daß die Ausdehnung der Produkte u n d der Bedürfnisse zum erfinderischen und stets kalkulierenden Sklaven unmenschlicher, raffinierter, unnatürlicher u n d eingebildeter Gelüste w i r d — das Privateigentum weiß das rohe Bedürfnis (Ruhebedürfnis?) nicht zum menschlichen Bedürfnis zu machen . . . ein Eunuche schmeichelt nicht niederträchtiger seinem Despoten u n d sucht durch keine infameren M i t t e l seine abgestumpfte Genußfähigkeit zu irritieren, u m sich selbst eine Gunst zu erschleichen, wie der Industrieeunuche, der Produzent, u m sich Silberpfennige zu erschleichen, aus der Tasche des christlich geliebten Nachbarn die Goldvögel herauszulocken . . . , — sich seinen verworfensten Einfällen fügt, den K u p p l e r zwischen i h m u n d seinem Bedürfnis spielt, krankhafte Gelüste i n i h m erregt, jede Schwachheit i h m ablauert, u m dann das Handgeld für diesen Liebesdienst zu verlangen 5 ® 2 ." —
8.26 Mischformen
der inneren
Repräsentation
Die bislang angeführten Typen der Repräsentation des Außen i m Innen und insbesondere des einen i m anderen treten nur in vermischter Form auf. Dabei gehen aufrechte und verkehrte Repräsentation einerseits und die theozentrische andererseits häufig miteinander her: Die Neigung, die gesellschaftliche Situation theozentrisch zu repräsentieren, besteht i n ganz bestimmten geschichtlichen Situationen, für die die Lage des Volkes Israel i n Ägypten ein fast idealtypisches Beispiel abgibt. I n einer Situation der Not und der Unterdrückung ist der Boden reif für eine allgemeine Stimmung, i n der viele Stimmen davon reden, daß sich etwas ändern müsse. Diese allgemeine Stimmung vieler Stimmen wartet nur darauf, angesprochen und richtig ausgesprochen zu werden. Dann w i r d die einheitliche Stimmung auf einen Nenner gebracht und i n eine Stimme übersetzt: Diese Stimme spricht aus, wie es ist, und formuliert eine Antwort, die auf eine gemeinsame Tat zielt. I n welchen sprachlichen Figuren das Ganze erlebt w i r d und wie diese Stimme ihre Botschaft formuliert, damit sie ankommt, hängt davon 562
MEW EB I S. 546 - 548 = Landshut S. 254 - 256.
8.2 Verfassung des Bewußtseins
301
ab, welche Sprache von den Betroffenen verstanden wird. Die Worte, die verwendet werden, sind nach Ort und Zeit verschieden. Aber die Logik der Bewußtseinsverfassung, die nun organisiert wird, w i r d durch die Situation weitgehend provoziert und bestimmt; denn das Sein bestimmt das Bewußtsein: Die gemeinsame Tat verlangt Solidarität, und diese verlangt nach einem Nenner der Gemeinschaftlichkeit, des Zusammenhaltens. Die Tat richtet sich gegen die Unterdrücker, die damit zu Feinden werden. Sie werden verkehrt repräsentiert, u m die Menschen für den Kampf zu enthemmen und die Lust an der Niederlage des anderen als Ansporn für die Praxis zu entfesseln. I m Ergebnis werden die Menschen kraft Bewußtseinsverfassung i n zwei Gruppen geteilt, die auf die unterschiedlichen Plätze i m Bewußtsein passen. Unter dieser inneren Verfassung w i r d zum Kampf aufgebrochen und gekämpft. Eben diese Bewußtseinsverfassung aber sitzt auch dann noch tief und fest i n den Köpfen, wenn der Kampf beendet ist. Jetzt kehren sich die Zusammenhänge um: Zunächst hatte es eine Weile gedauert, bis die Notlage erkannt und bewußt und bis sie auf einen ideologisch-praktischen Nenner für den Aufbruch gebracht war. Dann aber h i n k t die Verfassung des Bewußtseins hinter der wirklichen Lage her: Der w i r k liche Feind ist überwunden, aber die Plätze, auf denen er intern repräsentiert war, sind nun frei und harren neuer Besetzung. Denn einen wirklichen, äußerlichen Kampf kann man über Nacht beenden. Aber eine tiefsitzende innere Struktur des Bewußtseins tilgt man kaum i n Kindern und Kindeskindern. Die Verfassung des Bewußtseins war auf Grund der Lage, zu der sie entstand, von solcher A r t , daß die Welt in Ordnung, nämlich i n Übereinstimmung m i t der inneren Verfassung war, wenn sie i n Freund und Feind zerrissen war. Nun, da der Feind fehlt, stimmt die Welt nicht mehr; denn die Feind-Plätze i m Bewußtsein stehen leer. Die invertierten Umgangsformen, i n denen die Menschen eingeübt waren, passen nicht mehr. Dies ist die fruchtbare Ausgangssituation für eine weitere listige Stimme, die die allgemeine Stimmung spürt und anzusprechen weiß: eine Stimme, die einen neuen Feind benennen und die Übereinstimmung zwischen Innenwelt und Außenwelt wieder herstellen kann. Solange der Feind nicht wieder benannt ist, existieren nur die Leerstellen für ihn i m Bewußtsein, die subjektiv als Gespenst des Feindes erlebt werden, das i n irgendwelche leibhaftigen Menschen zu fahren bereit ist. So erhält sich die Notstandsverfassung des Bewußtseins über den Zustand hinaus, dem sie galt, und erschwert durch ihr latentes Dasein die Lösung der Aufgabe, sich innerlich und äußerlich mit dem Normalzustand zurechtzufinden. Denn normal ist für dieses Bewußtsein der Ausnahmezustand: die Freund-Feind-Situation.
302
8. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
Aufschlußreich ist es auch, den folgenden zugespitzten Fall durchzuspielen: Ein Mensch, der alle anderen Menschen, die i n seinem Horizont leben, aufrecht i n sich repräsentiert, beobachtet, daß diese anderen Menschen untereinander verfeindet sind und sich auf den Tod bekämpfen. Die anderen leben unter einer gespaltenen Bewußtseinsverfassung, kraft derer ein Teil der Menschen aufrecht, der andere verkehrt repräsentiert wird. Für die verfeindeten Parteien also ist die Welt „ i n Ordnung". Ihre innere Verfassung paßt haargenau zum Freund-Feind-Zustand draußen, und sie können trotz der körperlichen Leiden seelische Lust aus ihrem Kampf saugen. Für den Beobachter aber, der sie alle aufrecht i n sich repräsentiert, ist das, was er mitansehen und kraft seiner Bewußtseinsverfassung miterleben muß, nichts als Wahnsinn. Der Riß, der die Parteien draußen entzweit, zerreißt ihn innerlich. Was sie einander antun, bricht ihm womöglich den Lebenswillen. Es konstituiert eine Welt i n ihm, die er nicht mehr ertragen kann. Diese menschliche Stärke und dieser menschliche Reichtum seines Inneren w i r d i h m dann von jedem der anderen Parteien als Schwäche ausgelegt: als Feigheit; als Unmännlichkeit; als Verrat; als Sabotage usw. nach der Logik der Verkehrungen. Und der Wahnsinn, den sie treiben, w i r d i h m als Zustand seines Gemüts nachgesagt. 8.27 Ich als ideelles Wir, Wir als ideelles Ich Die oben skizzierte Theorie der internen Repräsentanten liefert ein Bewußtseinsmodell, das Bewußtseinsleistungen durchzuspielen gestattet, welche M a r x von dem Menschen erwartet, der sich von der Last der Verdinglichungen befreit hat und sich selbst nicht mehr entfremdet ist. Bevor jedoch gezeigt wird, daß hier exakte Erklärungen zu undeutlichen und scheinbar paradoxen Formulierungen des jungen Marx über den Menschen geliefert werden können, soll vorgeführt werden, wie ergiebig die Theorie der internen Repräsentanten auch für die Erklärung vormarxistischer Aussagen über den Menschen ist. Das gilt insbesondere hinsichtlich Hegel. So w i r d zugleich bewiesen, daß es sich bei der Theorie der internen Repräsentanten u m dialektikkonforme Modellvorstellungen handelt. I n einem Zusammenhang, der hier uninteressant ist, beschäftigt sich Hegel m i t der Frage, wie die Umwelt ins Bewußtsein hereingeholt w i r d und darin als Inneres die Empfindungen und die Handlungen des Menschen bis h i n zum Selbstmord bestimmt: „Dabei hat diese Welt, die außer i h m ist, ihre Fäden so i n ihm, daß, was er für sich w i r k l i c h ist, aus denselben besteht; so daß er auch i n sich so abstürbe, wie diese Äußerlichkeiten verschwinden, wenn er nicht ausdrücklicher i n sich durch Religion, subjektive Vernunft u n d Charakter selbständig
8.2 Verfassung des Bewußtseins
303
u n d davon unabhängig ist . . . F ü r die Erscheinung jener Identität (zwischen der Außenwelt u n d deren Fäden im Menschen) k a n n an die W i r k u n g erinnert werden, die der Tod von geliebten Verwandten, Freunden usf. auf Hinterbliebene haben kann, daß m i t dem einen das andere stirbt oder abstirbt (so konnte auch Cato nach dem Untergange der römischen Republik nicht mehr leben, seine innere W i r k l i c h k e i t w a r nicht weiter noch höher als sie), — Heimweh u. dgl. 6 8 3 ." (Erster Einschub i n K l a m m e r n von mir.)
Noch deutlicher zeigt sich die Kompatibilität der Theorie der internen Repräsentanten m i t Hegels Begriffen, wenn man sie an einer Formulierung erprobt, die bereits an früherer Stelle angesprochen wurde. Gemeint ist jene „Einheit verschiedener, für sich seiender Selbstbewußtseine" nach der Formel: „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist 6 6 4 ." Wörtlich genommen, ist die Formel Unsinn. Man muß, u m sie nachvollziehen zu können, einige Unterschiede und dialektische Hintergrundstrukturen hinzudenken, etwa so: „Reales Ich, das ideelles Wir, und reales Wir, das ideelles Ich ist." Die „Erklärung" dieser Identitäten am Modell bereitet keine Schwierigkeiten: Die realen anderen, hieß es, sind ideell i n m i r repräsentiert. Die Versammlung der Repräsentanten i n m i r bildet den Stimmkörper, der mein vermitteltes Bewußtsein ausmacht. Darin b i n ich selbst nur als einer unter den vielen repräsentiert. Was ich draußen m i t den anderen zusammen bin: nämlich ein Wir, das bin ich auch i n m i r als einer der Repräsentanten der Versammlung zusammen m i t den übrigen, — hier aber nicht mehr realiter, sondern idealiter: auf der internen Symbolebene oder Modellebene. Aber dieses interne W i r ist zugleich das ideelle System, das mein vermitteltes Bewußtsein darstellt und für mich als mein jeweiliger psychischer Zustand erscheint. Diese meine Zustände sind nichts anderes als ich selbst es bin. Also ist die interne Versammlung der Repräsentanten, das ideelle Wir, zugleich mein reales Ich. Weiter: Die Gruppe, die ich draußen realiter m i t den anderen bilde, ist nicht schon als solche ein Wir, sondern erst, wenn alle i n einem Kopf zusammen vorgestellt und dort, i m Ideellen, als ein W i r erschienen sind. Was aus den Einzelnen erst ein Wir macht, ist das Ich, i n dem sie zunächst ideell zusammengeführt wurden und das als ideelles Dach über sie hinweggespannt bleibt m i t dem Erfolg, daß sie nun reales W i r sind. Man könnte sagen: Nachdem der zusammenhanglose Haufen sich i n ein Bewußtsein hineingestülpt hat, geht er daraus als etwas anderes hervor, — zunächst freilich nur für mich, unter des683 584
A n m . zu § 406 der Enzyklopädie. Glockner 10, 170 = Werke 10, 134 f. Oben A n m . 341.
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8. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
sen Ich-Scheitel der Zusammenhang hergestellt wurde, und nur dann für die anderen, wenn auch sie einmal „ w i r " gedacht haben. Da aber von m i r schon einmal „ w i r " gedacht worden ist, kann ich dadurch nachhelfen, daß ich den Gedanken verbreite. Dann w i r d das Wir, das zunächst nur meine „einsame Sache" war, „als Allgemeines" erfahren und gelebt: Das Ideelle W i r erscheint jetzt auch als reelles Wir, — vorausgesetzt freilich, daß die anderen sich nicht gerade gegen den Gedanken der Gemeinsamkeit auflehnen. Was der äußerliche Haufen reell ist, kann daher als Funktion dargestellt werden, deren Parameter zum größten Teil interner (ideeller, symbolischer) Natur sind. Das ist dann i n der klassischen Terminologie handfest und konkret die „Idealität des Realen". Der Zustand einer Gemeinschaft hängt von dem Begriff ab, den sie von sich hat, — aber nicht von dem Buchstabenbegriff, den sie sich vordergründig macht und beredet, sondern von dem, der i n den Köpfen als Verfassung des Bewußtseins verankert ist und von dort (durch die ideologischen Buchst abenfassaden hindurch) die Praxis bestimmt Vor den anderen ausgezeichnet ist dann derjenige Zustand, i n dem der praktizierte Begriff mit dem formulierten Begriff übereinstimmt: Nur i n diesem Fall lügt die Gemeinschaft sich nicht ständig selbst etwas vor. Wenn die internen Repräsentanten der anderen Menschen i n m i r den Stimmkörper meines Bewußtseins ausmachen, dann kann ich auch sagen: „Das gesellschaftliche Sein bestimmt mein Bewußtsein", — und dieser Satz erhält nun einen ganz anderen Sinn als bei seiner kritischen Anwendung i n der politischen Ökonomie: Da sich das reale gesellschaftliche Sein intern wiederholt und dort mein Bewußtsein konstituiert, sind es wirklich Stimmen von draußen, die über meine Gestimmtheiten mitbestimmen. Wie sie sie mitbestimmen, hängt allerdings von der Logik ab, nach der mein Bewußtsein verfaßt (neuronal „verdrahtet" oder „programmiert") ist, und von den Nachrichten über die anderen Menschen, die mich erreichen. — Es müßte nun für den Leser ein Leichtes sein, bei den folgenden Zitaten herauszufinden, nach welcher Logik das Bewußtsein verfaßt ist f das sie als Erfahrungen mit sich selbst formuliert hat: „ . . . also liegt m i r daran, Glückseligkeit u m mich her zu verbreiten. Welche Schönheit, welche Vortrefflichkeit, welchen Genuß ich außer m i r hervorbringe, bringe ich m i r hervor; welchen ich vernachlässige, zerstöre, zerstöre ich m i r , vernachlässige ich m i r — Ich begehre fremde Glückseligkeit, w e i l ich meine eigene begehre, Begierde nach fremder Glückseligkeit nennen w i r Wohlwollen, Liebe . . . Wenn ich hasse, so nehme ich m i r etwas; wenn ich liebe, so werde ich u m das reicher, was ich liebe. Verzeihung ist das Widerfinden eines veräußerten Eigentums — Menschenhaß ein verlängerter Selbstmord . . . 5 β 5 . "
8.2 Verfassung des Bewußtseins
305
„ W i e sich mich binden u n d packen! Z u m B l u t s t u h l b i n ich schon entrückt. Schon zuckt nach jedem Nacken die Schärfe, die nach meinem zückt 58 ®." „Was i h r dem geringsten meiner Brüder angetan, das habt i h r m i r angetan."
8.28 Bewußtseinsverfassung
in der Anthropologie
des jungen Marx
I n den Jugendschriften, vor allem i n den Pariser Manuskripten von Marx finden sich zahlreiche Aussagen über den Menschen, wie er ist, wenn er den Zustand der Entfremdung überwunden und sich selbst wiedergefunden hat: Aussagen von scheinbar paradoxer Logik, die der Verstand als unsinnig zurückweisen möchte, während das soziale Gespür dazu treibt, doch etwas Wahres i n ihnen zu suchen: Bejahung eines Gegenstandes durch den anderen als eigene Bejahung; fremder Genuß als eigener; Ausbildung von (inneren) „gesellschaftlichen Organen i n der Form der Gesellschaft" neben den anderen Sinnesorganen; die Sinne „werden Theoretiker"; . . . usw. Es handelt sich bei diesen Sätzen von M a r x u m Anforderungen an das menschliche Bewußtsein oder u m Beschreibungen von Eingabe-Ausgabe-Zusammenhängen, die dunkel bleiben, solange nicht an einem Modell des Bewußtseins durchgespielt werden kann, wie sie (wenigstens theoretisch) dargestellt werden können. Wiederum müßte es dem Leser eine Kleinigkeit sein, unter den oben beschriebenen Typen von Bewußtseinsverfassungen diejenige herauszufinden, die die „Rätsel" zu lösen vermag, die i n den folgenden Zitaten stecken, und durchzuexerzieren, wie sich die Lösung jeweils abspielt. Marx also schreibt z. B.: „Insofern der Mensch menschlich, also auch seine Empfindung etc. menschlich ist, ist die Bejahung des Gegenstandes durch einen anderen ebenfalls sein eigener Genuß 5 8 7 ." Lösung: Der andere sei i m Menschen aufrecht repräsentiert. Dann w i r d der fremde Genuß als eigener registriert u n d empfunden, u n d zwar, w e i l der Mensch nicht n u r unmittelbar genießt, sondern durch Hereinnahme des anderen Menschen auch mittelbar, also k r a f t zwischenmenschlicher V e r m i t t lung: „menschlich". „Die Sinne sind daher unmittelbar i n ihrer Praxis Theoretiker
geworden 5 8 8 ."
Lösung: Repräsentation des einen i m anderen w i e i m vorigen Beispiel. D a n n sieht der Mensch nicht nur, was sein eigenes Auge sieht, sondern er sieht es auch durch die Augen u n d Empfindungen des anderen. Dafür sorgt die V e r 585 588
587 588
Friedrich Schiller, Philosophische Briefe, Säkularausgabe Bd. 11 S. 119 ff. Goethe, Faust (Gretchen i m Kerker).
MEW EB I S. 563 = Landshut S. 296. MEW EB I S. 540 = Landshut S. 241.
20 Suhr
306
8. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaf tsverfassung
fassung seines Bewußtseins, die zu den bloß äußerlichen Eindrücken m i t menschliche Eindrücke hinzufügt. Dieses Hinzufügen aber vollzieht sich i m Inneren, nicht durch äußerlich-physische Praxis, sondern k r a f t symbolischer Prozesse, die sonst das Kennzeichen bloßer Theorie sind. Hier aber werden die Sinne erweitert, die dadurch zu „Theoretikern" werden. „Das Bedürfnis u n d der Genuß haben darum ihre egoistische N a t u r u n d die N a t u r ihre bloße Nützlichkeit verloren, indem der Nutzen zum menschlichen Nutzen geworden ist 5 ® 9 ." Lösung: Vorausgesetzt wiederum aufrechte Repräsentation. D a n n ist der Genuß, den ich habe, w e n n der andere genießt, k e i n egoistischer mehr, sondern altruistisch. Der genossene Gegenstand ist nicht mehr n u r nützlich als physische Nahrung beim unmittelbaren Verzehr, sondern gibt Anlaß zu menschlichem, psychisch vermittelten Mitgenuß, so daß sein Nutzen selbst menschlich geworden ist. „Außer den unmittelbaren Organen bilden sich daher gesellschaftliche Organe, i n der Form der Gesellschaft . . . darum sind die Sinne des gesellschaftlichen Menschen andere Sinne, w i e die des ungesellschaftlichen 5 7 0 ." Lösung: Aufrechte Repräsentation. Dann bilden die internen Repräsentanten eine ideelle Wiederholung der Gesellschaft, deren Gesamt mein Bewußtsein ausmacht: ein i n der Tat gesellschaftliches Organ, das, w e n n I n n e n u n d A u ßen einander einigermaßen entsprechen, auch die Form der Gesellschaft hat. — O b w o h l auf die aufrechte Repräsentation zugeschnitten, gilt diese Erläuterung auch f ü r andere Fälle. Auch bei Freund-Feind-Verfassung draußen u n d drinnen bestehen diese „gesellschaftlichen Organe" „ i n der F o r m der Gesellschaft", n u r daß die Empfindungen, die i n diesen Organen ausgelöst werden, ζ. T. „ v e r k e h r t " sind. „ A l s Gattungsbewußtsein bestätigt der Mensch sein reelles Gesellschaftsleben u n d wiederholt n u r sein wirkliches Dasein i m Denken, w i e umgekehrt das Gattungssein i m Gattungsbewußtsein bestätigt u n d i n seiner Allgemeinheit, als denkendes Wesen, f ü r sich i s t 5 7 1 . " Lösung: Ergibt sich ohne weiteres aus der inneren Reproduktion des Äußeren. Sich selbst als ideelles W i r i m Bewußtsein erkennen u n d darin das eigene denkende Wesen zu erblicken, spielt sich ebenfalls i m Bewußtsein ab, welches Gattungsbewußtsein produziert.
Alles i n allem: „Die Tätigkeit u n d der Genuß, w i e ihrem Inhalt, (so) sind (sie) auch der Existenzweise nach gesellschaftlich . . . Das menschliche Wesen der N a t u r ist erst da f ü r den gesellschaftlichen Menschen; denn erst hier ist sie f ü r i h n da als Band m i t dem Menschen, als Dasein seiner f ü r den anderen u n d des anderen f ü r i h n . . . Erst hier ist i h m sein natürliches Dasein sein menschliches Dasein u n d die N a t u r f ü r i h n zum Menschen geworden. Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen m i t der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen u n d der durchgeführte Humanismus der N a t u r 5 7 2 . " 5
®e a.a.O. a.a.O.
570
571 572
MEW EB I S. 539 = Landshut S. 239. MEW EB I S. 537 f. = Landshut S. 237.
8.2 Verfassung des Bewußtseins
307
Die angeführten Stellen von M a r x betreffen das Bewußtsein und die Empfindungen des nachrevolutionären Menschen. Dabei w i r d die Frage, w i e der Übergang von vorrevolutionären Menschen zum nachrevolutionären vollzogen werden soll, nicht i m gleichen Zusammenhang erörtert. Aber auch dazu finden sich bei M a r x aus etwa der gleichen Zeit Formulierungen, die aus noch einem weiteren Grund besonders aufschlußreich sind: Sie zeigen, wie ein Phasenvorgang der Bewußtseinsverfassung vor der Gesellschaftsverfassung erstrebt wird. Es w i r d definiert, als was Teile der Gesellschaft zu gelten haben, damit die revolutionäre Situation perfekt sei, und es w i r d angestrebt, daß die gesellschaftliche Wirklichkeit sich i n Richtung auf die vorangeschickte Definition der Situation entwickelt. Das Ziel w i r d i m Auge behalten: die völlige Emanzipation und Wiedergewinnung des Menschen: also Menschen, deren Bewußtsein die Mitmenschen i n sich aufrecht repräsentiert. Über den Weg heißt es dann: „ D a m i t die Revolution eines Volkes u n d die Emanzipation einer besonderen Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfallen, damit ein Stand für den Stand der ganzen Gesellschaft gelte, dazu . . . müssen umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft i n einer anderen Klasse konzentriert, dazu muß . . . eine besondere soziale Sphäre f ü r das notorische Verbrechen der ganzen Sozietät gelten, so daß die Befreiung von dieser Sphäre als die allgemeine Selbstbefreiung e r s c h e i n t . . . Wo also die positive Möglichkeit der . . . Emanzipation? A n t w o r t : I n der Bildung einer Klasse m i t radikalen K e t t e n . . . , welche m i t einem W o r t der völlige Verlust des Menschen ist, also n u r durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen k a n n 5 7 3 . "
M i t anderen Worten: Damit der Mensch werde, muß er erst verschwinden. Ein Teil der Menschheit muß für Verbrecher gelten (invers repräsentiert werden). Aus dieser Situation heraus kommt es dann zur völligen Wiedergewinnung des Menschen: Wie allerdings später die ideologisch herbeibeschworene und eingedrillte Freund-Feind-Verfassung des Bewußtseins wieder abgelegt und die Feind-Leerstellen der Ideologie i m Bewußtsein neutralisiert werden können, taucht als Problem nicht auf; denn Marx war für die negative Seite dieser seiner Arbeit an revolutionärer Ideologie blind. Es könnte sein, daß es mindestens ebenso schwierig ist, die Bewußtseinsverfassung des proletarischen Notstandes wieder loszuwerden, wie diejenigen Bewußtseinsverfassungen zu überwinden, die M a r x vorfand und bei der nach Marx' eigenem Zeugnis der Mensch noch nicht völlig verloren war. Das Problem bei Notstandsverfassungen ist immer das gleiche: Zunächst verlangt der äußere Notstand nach einer A n t w o r t in Form eines ent573
20*
Oben A n m . 389.
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8. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaf tserfassung
sprechenden rigorosen Überbaues, der hierarchisch-diktatorische Züge trägt. I n dem gleichen Maße aber, wie der äußere Notstand schwindet, werden der innere Zustand des Bewußtseins und das hinzugehörige ideologische Buchstabenkorsett selbst zur Ursache eines Notstandes: Sie liefern eine intakte Herrschaftsideologie und das hinzugehörige, entsprechend gedrillte Bewußtsein i n den Menschen, — ein innerlicher und äußerlicher Apparat, der der Bedienung harrt und einen Sog entwickelt, i h n entsprechend zu usurpieren. Was zum Aufbau revolutionärer Macht gut war, ist für die Erhaltung reaktionärer Macht nicht schlecht. Der Geist der Revolution ist stets latenter Geist der Reaktion. Das ist die negative Seite der Arbeit an konventionellen Revolutionsideologien. Nichts beweist das besser als die Einstufung dessen, was M a r x von der Religion zu fassen bekam, als O p i u m für das Volk. M a r x scheint keine Augen dafür gehabt zu haben, daß der Gott dieser Religion einmal ein Gott des Aufbruchs w a r : So w i e fernsichtige Menschen die Brille, durch die sie hindurchsehen, oft gerade deshalb nicht sehen, w e i l sie sie auf der Nase tragen. Zunächst hatte die Notlage des Volkes nach einem Gott gerufen. Dann hatte es ihn. U n d schließlich fehlten dem Gott die Notlagen, so daß er es sich i n ruhigeren Zeiten gefallen lassen mußte, f ü r Buchstaben- und für andere Dienste den Heiligenschein der Rechtfertigung abzugeben.
Der Weg der Revolution sollte also führen: Aus einer Welt der Verdinglichungen und der Entfremdung über eine Welt der Feindschaft i n das Reich der Menschlichkeit und Freiheit. I n den Begriffen des Bewußtseinsmodells sind das folgende Stationen: Die verdinglichende innere Verfassung muß durch Verschärfung der wirklichen Verhältnisse und durch Vermittlung der „geltenden" Definition der Situation verändert werden, so daß die Menschen i m Menschen nicht mehr nur verdinglicht, sondern systematisch verkehrt repräsentiert werden.
8.3 Verfassung der Gesellschaft Oder: Theorie der externen Repräsentanten 8.31 Gesellschaftsverfassung als fleischgewordene Bewußtseinsverfassung Der Weg, auf dem die Menschen i m Menschen repräsentiert werden, führt von draußen nach drinnen: Der Weg der Verinnerlichung. Im Ergebnis bewirkt dieser Prozeß, daß die eigenen Bewußtseinsstimmungen eine Funktion auch der wahrgenommenen anderen Empfindungen sind.
8.3 Verfassung der Gesellschaft
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Wenn aber die Bewußtseinszustände eine Funktion sind, i n die als Parameter die Informationen über das Wohl und Wehe anderer miteingehen, dann werden auch die Reden und Handlungen des Menschen mittelbar durch den anderen mitbestimmt. Diese Reden und Handlungen dringen als Verhaltensweisen des Menschen wieder von drinnen nach draußen: Der Weg der Entäußerung. I m Ergebnis bewirkt dieser Prozeß, daß nicht nur das Bewußtsein der Menschen, sondern auch ihre Verhaltensweisen vergesellschaftet sind. So dringt die Wirklichkeit i n den Menschen hinein; so geht sie wieder aus i h m hervor: So durchdringt sie ihn. Oder: I m Menschen geht die Wirklichkeit i n sich und durch seine Taten kommt sie wieder aus sich heraus. Oder: Was durch die Verinnerlichungen an Geist organisiert wird, das setzt das Fleisch der Muskeln i n Bewegung, so daß die Taten wortwörtlich fleischgewordener Geist sind. Die Verfassung der Gesellschaft ist dann die fleischgewordene Verfassung des Bewußtseins. Die wirksame Repräsentation der Menschen durch den Menschen setzt voraus, daß die Menschen i n i h m repräsentiert sind: Keine Repräsentation „durch" ohne Repräsentation „ i n " . Aber selbst, wenn die Menschen schon i m Menschen repräsentiert sind, kommt es immer noch auf das „Wie" an. Denn so, wie die Gesellschaft verinnerlicht wird, kommt sie auch wieder hervor: W i r d ein Teil bei der Verinnerlichung unterschlagen, dann w i r d eine einseitige Wirklichkeit hervorgebracht. Diese einseitige Wirklichkeit w i r d womöglich noch einseitiger wieder hereingeholt und kommt noch verzerrter zum zweitenmal hervor: Bis diejenigen, die i m Innern als Menschen nichts galten, sich geltend machen und Eingang ins Bewußtsein erzwingen. Die Versuche, sich interne Repräsentanz i m anderen zu verschaffen, werden m i t jedem Fehlschlag härter und führen geradenwegs dazu, daß die Feindschaft erklärt und zur verkehrten Repräsentation des schwerhörigen Gegners übergegangen wird. Wer diese Folgen vermeiden und. nicht plötzlich zum Feind definiert werden w i l l , für den muß es nicht heißen: „Wehret den Anfängen!", sondern: „Hört auf die Anfänge!" — nämlich auf die Stimmen, die interne Repräsentanz erheischen, damit sie auch externe erlangen. Ist erst der Punkt der verkehrten Repräsentation erreicht, so geht aus den Verhaltensweisen, die der teils aufrechten, teils verkehrten Verinnerlichung der Situation entsprechen, womöglich eine noch unmenschlichere Wirklichkeit hervor als vorher war. Diese neue unmenschliche Wirklichkeit w i r d selbst wieder hereingeholt und als Bestätigung der Definition verbucht, so daß das Verhalten noch unerbittlicher w i r d : Bis —, bis es gelingt, diesen Kreis zu dämpfen und beides abzubauen: die realen Gegensätze und die innere Fertigkeit, sie als Feindschaften zu definieren. —
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8. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverf assung
Verfassungsfragen werden gern vom Boden eines Gemeinwesens aus diskutiert. Auch sofern es sich u m den Kampf für eine neue Verfassung handelt, w i r d es so angesehen, als ginge es u m die Auswechslung zweier Verfassungen. Das ist richtig, wenn man die Urkunden i m Blick hat, von denen die eine die andere ersetzen soll. I m Blick auf die faktische Verfassung und i m Blick auf die Verfassungsgeschichte ist jedoch der Kampf zweier Gemeinwesen miteinander und erst recht der Bürgerkrieg selbst ein Verfassungszustand der betreffenden Gesellschaft. I m Kriegszustand herrscht i n der Regel die teils aufrechte, teils verkehrte Repräsentation der Menschen i m Menschen: Was i m Inneren die verkehrte Repräsentation von Menschen ist, ist i m Äußeren die Verfaßtheit der Gesellschaft als kalter und heißer Krieg. Ist der Krieg erklärt, stimmen Bewußtseinsverfassung, Gesellschaftsvertassung und formulierte Verfassung zusammen, wenn nicht, lügt sich die Gesellschaft etwas vor oder sie scheut es, auch noch das Wort auszusprechen, das die Situation definiert und dadurch womöglich die letzten Zügel löst. Unter der Kriegsverfassung des Bewußtseins w i r d der Feind nicht nur i m Bewußtsein, sondern auch durch den Menschen verkehrt repräsentiert: Er w i r d dadurch repräsentiert, daß er negiert und seine Vernichtung als Lust erlebt wird, und zwar wechselseitig. Die Kriegsverfassung des Bewußtseins ist so die ideelle, geistige, der Krieg die materielle, fleischgewordene Negation des Menschen durch den Menschen auf Gegenseitigkeit. Wie es ins Bewußtsein hineinruft, so quillt es aus i h m hervor. U n d was aus dem Bewußtsein verdrängt wird, so daß auch i n den Taten darauf keine Rücksicht genommen wird, sucht die wundesten Stellen, u m sich bemerkbar zu machen. 8.32 Das System von Gesellschaf tsverf assung, BewußtseinsVerfassung
und geschriebener Verfassung
I m Blick aufs Ganze sind die Verfassung des Bewußtseins und die geschriebene Verfassung Teile oder Momente der Gesellschaftsververfassung. Erst wenn man den ganzen Komplex auflöst i n die wichtigsten Systemkomponenten, kann i n einem engeren Sinne von einer faktischen, äußerlichen Gesellschaftsverfassung i m Unterschied zur geschriebenen und zur inneren Verfassung gesprochen werden, wie es hier bisher der Fall w a r und auch weiterhin sein w i r d : vor allem jetzt, da die Unterschiede und wechselseitigen Einflüsse etwas näher betrachtet werden sollen. Das Wesentliche ist i n der einen oder anderen Form schon gesagt worden. Es muß nur noch unter dem entscheidenden Problemblickwinkel zusammengefaßt und ergänzt werden. Das Verhältnis zwischen Bewußtseinsverfassung und (faktischer, äußerlich erscheinender) Gesellschaftsverfassung läßt sich am ehesten i n
8.3 Verfassung der Gesellschaft
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grober Annäherung an Resonanzphänomene i n Physik und Technik verbildlichen: Einmal kann i n fast buchstäblichem Sinne davon gesprochen werden, die Gesellschaft resoniere (klinge wieder) i m Bewußtsein. Umgekehrt „schwingt" die Gesellschaft nach Maßgabe der Anregungen, die sie aus dem Bewußtsein erhält. Und schließlich ist das System, i n dem beide — Bewußtsein und Gesellschaft — einander anregen und einander von ihren „Schwingungen" mitteilen, als Ganzes eine i n sich „schwingende" Kopplung der beiden Subsysteme, i n dem konsonante, dissonante und resonante „Schwingungen" auftreten können. Von „Schwingungen" w i r d dabei nur i n Anführungszeichen geschrieben, w e i l es sich nicht u m ein technisches Modell, sondern gerade eben u m hinreichende Vergleichbarkeiten handelt, die rechtfertigen, sich m i t der Terminologie an das B i l d anzulehnen: Zwischen den verschiedenen Verfassungen (des Bewußtseins, der Gesellschaft und der Verfassungsurkunde) gibt es Resonierungserscheinungen und Probleme der Resonanz, der Dissonanz und der Konsonanz. (Die Resonanzprobleme ähneln — wenn man noch einmal das technische B i l d zuhilfenehmen w i l l — denjenigen, die auftreten, wenn ein Regiment i m Gleichschritt über eine Brücke schreitet und die Schrittfrequenz mit der Eigenschwingung der Brücke korreliert: Es genügen geringe Anstöße, um die Zerreißgrenze des Schwingkörpers zu überschreiten.) Diese Terminologie empfiehlt sich u m so mehr, als damit die K o m patibilität m i t der Theorie der kognitiven Dissonanz (Leo Festinger) 5 7 4 bis hin zur Namensgebung hergestellt w i r d : zu einer Theorie, die ihrerseits eine ähnliche Stellung zwischen Psychologie und Soziologie einnimmt wie die Verfassungstheorie und über die weitere Verbindungen zu einer jeden dieser beiden anderen Disziplinen geknüpft werden können. Auch das soziologische Rollenschema und die Mechanismen der wechselseitigen Erwartungen und Erwartungserwartungen überlappen sich m i t dem Modell der kognitiven Dissonanz zumindest insofern, als befriedigte Erwartungen nichts anderes als Konsonanzerlebnisse und unbefriedigte nichts anderes als Dissonanzerlebnisse sind. — Wenn die Hegelinterpretation i m 2. Teil dieser Arbeit stimmt, liefert sie ein Beispiel für einen Techniker der kognitiv-praktischen Konsonanz-Dissonanz-Bezüge: M i t seiner Philosophie wollte er eine WeltAnschauung vermitteln, die ihren Anhängern auch und gerade dann zur kognitiven Konsonanz zwischen sich und der Welt verhelfen sollte, wenn sie i n dieser Welt auf Widersprüche stießen oder selbst konkrete Widersprüche anmelden wollten. Dieser Teil der dialektischen Philoso574 Oben A n m . 510, sowie ders., Conflict, Decision and Dissonance, Stanford, Cal., 1964. — Z u r Theorie der kognitiven Dissonanz vgl. Werner Kirsch, Entscheidungsprozesse, Bd. 1, Wiesbaden 1970. Die neuere Forschung ist v o r züglich aufgearbeitet bei Peter Knieciak, A u f dem Wege zu einer generellen Theorie sozialen Verhaltens, Meisenheim 1974,
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8. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaf tsverf assung
phie zielte auf Versöhnung des Menschen m i t seiner Welt im allgemeinen. Diese Konsonanz sollte das Selbstvertrauen und die Selbstgewißheit stärken. Gleichzeitig aber zielte Hegels konkrete Philosophie, nämlich als Philosophie ihrer Zeit, darauf, ein Dissonanze rlebnis durch geistige Maulwurfsarbeit vorzubereiten: Preußen ein Staat ohne Volk, die Deutschen ein Volk ohne Staat. Hegels K a l k ü l richtete sich darauf, daß aus dieser Dissonanzsituation Taten hervorgehen würden, die aus der deutschen Misere hinausführen sollten. Er operierte schon nach den Gesetzen, die die Theorie der kognitiven Dissonanz zu formulieren versucht. Sehr grob zusammengefaßt läuft diese Theorie auf folgende Punkte hinaus: 1. Inkonsistenzen oder Dissonanzen innerhalb der Person werden als psychisch unbequem und lästig erfahren. Daher motivieren sie dazu, Dissonanz zu mindern und Konsonanz zu erstreben. Man könnte wohl auch sagen: Bei der Befriedigung seiner anderen Bedürfnisse oder Triebe orientiert sich der Mensch an einem internen Modell der Welt wie ein Autofahrer an der Landkarte. Stimmt das Modell nicht mit der Wirklichkeit überein, dann t r i t t der Mensch ins Leere, stößt mit dem Kopf gegen die Wand und t r i f f t auf Gegner, wo er Freunde erwartete usw., — so wie eine falsche Landkarte den größten Verdruß bereiten kann. Daraus entspringt das Motiv, Umwelt und internes Modell kongruent zu machen. 2. I m Zustande der Dissonanz versucht die Person insbesondere, Situationen und Informationen aus dem Wege zu gehen, die die Dissonanz vergrößern könnten. Hinzu kommen Verfahren der Selbstrecht^ fertigung und Verdrängung, die eher die Symptome als die Ursachen der Dissonanz erfassen. Der Mensch erstrebt also, seine innere Welt m i t seiner äußeren Welt i n Zusammenklang zu bringen: Er sucht Konsonanz zwischen Idee und Wirklichkeit; zwischen Theorie und Praxis; zwischen Innen Verfassung und Außenverfassung. Es scheint sogar, als sei dieses Bedürfnis nach Kongruenz zwischen Innen und Außen so wichtig, daß i m Zustand der Konsonanz Veränderungswünsche selbst dann kaum noch aufsteigen, wenn die Außenwelt das Jammertal ist, als welches sie i m Inneren z. B. religiös definiert ist. („Nicht das, was ist, macht uns ungestüm und leidend, sondern daß es nicht ist, wie es sein soll 5 7 5 .") Erst wenn i m Innern die Idee auftaucht, es könne anders sein oder es müsse sogar anders sein, stellen sich Risse zwischen Innen und Außen ein: Dissonanz zwischen Idee und Wirklichkeit. („Man muß den wirklichen Druck 57 5
Hegel, Verfassungsschrift. Werke 1, 463.
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noch drückender machen, indem man i h m das Bewußtsein des Druckes hinzufügt 5 7 6 .") Und hat ein Mensch erst einmal die Einbildung, es ließe sich das Paradies auf Erden verwirklichen, so kommt er nie mehr zur Ruhe, es sei denn, er definiert das Paradies als Konsonanz zwischen dem Entwurf und der Wirklichkeit eines auf Erden noch möglichen Lebens. Einer ganzen Gesellschaft ergeht es nicht anders, — allerdings komplizieren sich die Probleme, weil es darin viele Menschen und Gruppierungen m i t unterschiedlichen Innenwelten gibt, die darum kämpfen, jeweils ihre Innenwelt ins Werk zu setzen, u m i n den Genuß der Konsonanz zwischen Innen und Außen zu kommen. Alle haben das Bedürfnis, „ins Leben aus ihrer Idee überzugehen, . . . das Negative der bestehenden Welt aufzuheben, u m sich i n ihr finden und genießen, um leben zu können" 5 7 7 . Das gilt für die jeweiligen sozialen Umgebungen, i n die die Ideen und der Realisierungswille der betreffenden Menschen hineinreichen, und es gilt insbesondere für politische Konzepte, mit denen einzelne oder Gruppen die ganze Gesellschaft oder gar die Menschheit ihrer Innenwelt entsprechend gestalten wollen. Dabei tauchen insbesondere drei Fragen auf: Erstens: Wenn die soziale Welt den Menschen auf dem Wege der Verinnerlichung und der Entäußerung durch-dringt: Kann er ihr bei dieser Gelegenheit einen Stoß geben, um ihre Richtung zu ändern, oder ihr einen anderen D r a l l mitteilen, — und was treibt ihn dazu? Diese Frage läuft auf die Widerstände hinaus, die sich i m Innern gegen die bestehenden Zustände organisieren und den Menschen zu „Negation" einzelner Erscheinungen, ganzer Felder von Erscheinungen oder der ganzen Welt überhaupt treiben. Solche „Negationen", Widerstände, Wider-Sprüche, theoretische und praktische „refutations" usw. richten sich gegen die Realität selbst und oft auch gegen die theoretischën Modelle und Ideologien, die bestimmen, wie die Welt angeschaut wird. I n diesen Kontext gehören vor allem auch Fragen der Politpsychologie: Fragen nach dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Zuständen und der Geneigtheit zu privaten Neurosen sowie umgekehrt nach dem Zusammenhang privater Neurosen einflußreicher Menschen und der kollektiven Bereitschaft, Ideologien aufzusaugen, die die Spuren privater Neurosen an sich tragen und verbreiten 5 7 8 . Dem und vielem Anderen soll hier jedoch nicht weiter nachgegangen werden.
δ7 β 57 7
Κ. Marx. MEW 1, 381 = Landshut S. 211. Hegel a.a.O. S. 457.
878 Ich denke hier vor allem an die Arbeiten von Klaus Horn, insbesondere: Notizen über „Sprachzerstörung" u n d Aggressives Verhalten, i n : derselbe, Psychoanalyse — Kritische Theorie des Subjekts, F r a n k f u r t / M . 1972, S. 156.
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8. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
Zweitens fragt sich, ob sich die Verkehrung und ent-Täuschung vermeiden lassen, die sich einstellen, wenn eine Innenwelt, als Entwurf ins Werk gesetzt, draußen als etwas ganz anderes erscheint, als zuvor i m weichen Medium der subjektiven Einbildungen des einzelnen. Dieses Problem hängt aufs Engste m i t der ersten Frage zusammen, hat aber eine formellere Seite, die für sich behandelt werden kann: Es geht darum, ob es theoretische (ideelle, symbolische) Modelle (Vorstellungen, Beschreibungen, Sätze) gibt, die „verwirklicht" werden können, ohne daß sie notwendig über kurz oder lang ein ganz anderes Draußen zeigen, als m i t ihnen drinnen geplant war. Genau dieses Problem ist oben bereits abstrakt unter dem Stichwort „Aussagen vom Typ Phön i x " behandelt und i m Abschnitt „Die Verfassung als Grammatik des gesellschaftlichen Prozesses" i m Hinblick auf die Verfassungstheorie abstrakt erörtert worden 5 7 9 . Hier stehen die logischen Bedingungen für das Zusammenstimmen von Gesellschaftsverfassung, Bewußtseinsverfassung und geschriebener Verfassung zur Diskussion: Kriterien der kognitiv-praktischen Konsonanz i m Gegenstandsbereich der Verfassungstheorie, — oder mit einem Wort: gesellschaftliche Konsonanzbedingungen. Drittens: Der ganze Prozeß, i n dem es zwischen Innen und Außen mehr oder weniger dissonant hin- und herwogt, — wie läßt er sich aus der tausendfachen Zerstreuung i n subjektive Beliebigkeit hinausführen und i n objektivere Formen fassen: i n Formen, die Reibung vermindern, ohne die Vielfalt zu erdrücken, und die von den Menschen dauerhaft angenommen werden. — Auch diese Frage hängt aufs engste m i t den beiden anderen zusammen, zielt aber i m K e r n darauf, welche Möglichkeiten für die bewußte Formgebung und Gestaltung der Gesellschaft durch das Wort bestehen. Dabei spielt die geschriebene Verfassung die Rolle eines Katalysators i m gesellschaftlichen Prozeß, der i n jedem Fall nach seiner Dialektik abläuft, dem aber aus den verschiedenen möglichen Formen dialektischer Entwicklung eine Form konstitutionell angeboten wird, bei der die Realdialektik bewußt inszeniert wird. Damit w i r d an Gedanken wieder angeknüpft, die schon an verschiedenen Stellen i m Verlaufe dieser Arbeit angeklungen sind: insbesondere i m Zusammenhang m i t Hegels Staats- und Geschichtsphilosophie ( „ . . . aus der ungewußten über die angewendete zur verfaßten Dialektik . . ," 5 8 0 ) und beim Übergang von der Dialektik zur Verfassungstheorie ( „ . . . von der dialektischen Entwicklung der Verfassungen zur dialektisch verfaßten Entwicklung . . ," 5 8 1 ). " · Oben K a p i t e l 6.3 u n d 7.4. 680 Oben K a p i t e l 4.4 am Ende. 581 Oben bei A n m . 530.
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Auch für die sozialistische Gesellschaft w i r d von Vertretern des dialektischen Materialismus nicht behauptet, daß die Widersprüche aufhörten und daß die Dialektik plötzlich aus der Geschichte verschwinden würde; i m Gegenteil: Es gebe weiterwirkende Widerspruchsverhältnisse (insbesondere zwischen dem gesellschaftlichen Menschen auf der einen und der physischen übrigen Natur auf der anderen Seite), aber kennzeichnend für die sozialistische Gesellschaft sei die „bewußte Form ihrer Lösung" 5 8 2 . Der Widerspruch werde dabei als „Stachel zur Entfaltung menschlicher Tätigkeit" begrüßt, der das Handeln „stimuliert" 5 8 3 . Erst wenn die hemmenden Einflüsse der Klassenantagonismen beseitigt seien, also i n der sozialistischen Gesellschaft, werde die Bahn frei für „Entfaltung der Widersprüche": „Sie werden auf der Grundlage dessen wirksam, daß das gesellschaftliche System des Sozialismus, wie alle sozialen Systeme, eine dialektisch-widersprüchliche Struktur besitzt, vermöge derer entgegengesetzte Erscheinungen, die zugleich eine Einheit bilden, miteinander wechselwirken und sich gegenseitig voranbringen 5 8 4 ." I m Sozialismus sind demnach ebenfalls von System wegen „Strukturen" oder „bewußte Formen" vorgesehen, die der Entfaltung von Widersprüchen freie Bahn bieten. Das dient der möglichst frühen Beachtung von Widersprüchen, die gewissermaßen schon wirksam werden sollen, solange sie noch „flüstern", und nicht erst, wenn sie gefährliche Ausmaße annehmen, w e i l sie zu lange überhört und unterdrückt worden sind 5 8 5 . Das heißt, „ . . . daß es i m Sozialismus darauf ankommt, die Widersprüche sich nicht unnötig verschärfen zu lassen, sie so f r ü h w i e möglich zu lösen, wenn sie noch gar keine eigentlichen Widersprüche, sondern bloße Unterschiede darstellen, w e n n also die Wechselwirkung der Partner n o d i überwiegend h a r monisch verläuft u n d Störungen erst ansatzweise auftreten . . . " 5 8 e .
Nun gibt es zwei Arten, Widersprüche ins Auge zu fassen: Erstens die an den Augenblick gebundene Art, die auf den jeweiligen konkreten Widerspruch zugeschnitten ist. Zweitens die generalisierte A r t , bei der auch auf die Menge der zukünftigen Widersprüche geschaut wird, um generell sicherzustellen, daß sie alle frühzeitig bemerkt, beachtet und von den Wurzeln her gelöst werden. 582 Gottfried Stiehler, Der dialektische Widerspruch, 2. Aufl., B e r l i n 1967, S. 246. Oers., D i a l e k t i k u n d Praxis, B e r l i n 1968, S. 281 ff. 583 a.a.O. (1967) S. 195; derselbe, System u n d Widerspruch, B e r l i n 1971, S. 25. 584 a.a.O. (1971) S. 107. 685 Vgl. oben K a p i t e l 6.5. 586 G. Stiehler, a.a.O. (1967) S. 248.
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8. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
Die zweite A r t , m i t der Masse auch der zukünftigen Widersprüche fertig zu werden, läuft auf die abstrakte Vorwegnahme und bewußte Inszenierung von Verfahren hinaus, die das gesellschaftliche System befähigen, auch auf leise Widersprüche mit Hilfe von empfindsamen „Sensoren" zu reagieren: Sie als Stimulans für das Handeln zu begrüßen und ihren Ursachen abzuhelfen. Das ist dann die „bewußte Form", nach der nicht nur m i t einem, sondern prinzipiell m i t Widersprüchen umgegangen w i r d : Die Gesellschaft als dialektisch verfaßter Prozeß und die Verfassung als geschriebene Objektivation der dialektischen Grammatik, die die Wirklichkeit durchwirkt. Die Gesellschaft als dialektisch verfaßter Prozeß, das heißt: den konkreten, leibhaftigen, — den „wahren weil wirklichen" Menschen dieser Gesellschaft kraft Verfassung freie Bahn zu bauen, ihre WiderSprüche geltend zu machen. Man darf diese Widersprüche, u m die es dabei geht, nicht als irgend etwas Geheimnisvolles suchen, das als Entzweitheit einer idealistischen Gottheit i n sich oder als Antagonismus, der tief i n der Materie brodelt, sich nur der Spekulation oder nur der höheren Wissenschaft und dem Schriftgelehrtentum erschließt: Das liefe nur auf Mystifizierungsversuche hinaus, deren bewußte oder unbewußte Motive autgedeckt werden müßten. Diese gesellschaftlichen Widersprüche erscheinen vielmehr i n ganz kreatürlicher Form i m A l l tag der Menschen als das, was sie als Mitglied der Gesellschaft gegen die Verhältnisse und gegen die Verhaltensweisen anderer vorbringen. Diese wirklichen Wider-Sprüche sind freilich lästig, denn sie sind nichts anderes als das widerspenstige Verhalten des Menschen selbst, während jene entleibten oder stummen Widersprüche, die i n den Tiefen der Gesellschaft sich entwickeln, nicht als leibhaftige Quälgeister erscheinen, die das Handeln stimulieren wollen, sondern i m Gegenteil als Vorwand dienen können, den lebendigen Wider-Spruch zu übergehen, weil die abstrakteren Widersprüche, die sich nur der Wissenschaft erschließen, für wesentlicher und für die Hauptwidersprüche erklärt werden. Niemand anders als M a r x hat vor derartigen A b strahierungs- und damit Verhüllungstendenzen gewarnt: „Es ist vor allem zu vermeiden, die Gesellschaft' wieder als A b s t r a k t i o n dem I n d i v i d u u m gegenüber zu fixieren. Das I n d i v i d u u m ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung — erscheine sie auch nicht i n der unmittelbaren F o r m einer gemeinschaftlichen, m i t anderen zugleich v o l l brachten Lebensäußerung — ist daher eine Äußerung u n d Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens587."
Nun ist freilich die Dialektik „als Grammatik" des gesellschaftlichen Prozesses ein Abstraktum reinsten Wassers. Nicht minder ist 587
M E W EB I S. 538.
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„der Polylog" ein abstraktes Modell für den wirklichen Polylog der leibhaftigen Menschen und für den symbolischen Polylog, als welcher das Bewußtsein der Menschen nach dem Konzept der internen Repräsentanten aufgefaßt wird. Doch der wirkliche hohe Abstraktionsgrad sorgt dafür, daß die Spuren konkreter geschichtlicher Situationen so weit getilgt sind, daß sie nicht als Fetische weitergeschleppt und zur Verhüllung der Realität benutzt werden können. Die hüllenlose Logik hat den Vorteil, daß sie keine vorübergehenden Ideologien liefert, mit denen sich das A l t e verschanzen kann, sondern das Prinzip, nach welchem eben solche Ideologien immer wieder und unabhängig von der Gestalt, i n der sie wiederkehren, enttarnt oder vielmehr als Tarnung bloßgestellt werden. Z u diesem Zweck weist die Dialektik, als verfassende Dialektik, den Menschen bewußt die Aufgabe zu, ihre WiderSprüche anzumelden, und den übrigen, sie sich anzuhören und darauf einzugehen. Nicht anders ist es m i t dem Polylog-Begriff: indem das Bleibende als Abstraktes klar abgehoben wird, w i r d der Blick geschärft für das Vergängliche, das als ideologische Fassade zur Verhüllung taugt. Beide: die Dialektik und das Modell „Polylog", die ohnehin nur zwei Formen sind, die gleiche Sache zu erfassen, verweisen daher unmittelbar auf den lebendigen Inhalt, ohne den sie nichts sind: auf die lebendigen Menschen. Sie für „abstrakt" i m abwertenden Sinne zu erklären, hieße also eine Lanze zu brechen für den Fortbestand ideologischer Fassaden, m i t denen der wahre, w e i l wirkliche Mensch sich selbst entfremdet werden kann. Dieser V o r w u r f w i r d denn auch gegen diese Thesen erhoben werden vor allem von solchen Menschen, die die dialektische Zersetzung undialektischer Ideologien deshalb zu fürchten haben, weil sie sich darin eingerichtet haben. I m übrigen sei auf das verwiesen, was Lenin über die K r a f t der Abstraktion gewußt hat und oben schon angeführt wurde 5 8 8 . Abstraktion und Abstraktion können das genaue Gegenteil voneinander sein: Die eine Abstraktionsform besteht darin, daß irgendwelche gewohnten Begriffe oder Sichtweisen festgehalten werden, obwohl die Realitäten, von denen sie handeln, inzwischen ganz andere geworden sind. Hierher gehören auch fixe Vorstellungen anderer A r t , die W i r k lichkeit eher verstellen als daß sie sie vorstellen, sei es, daß sie der Realität vorauseilen, sei es, daß sie von sonstigen Vorurteilen bestimmt sind, die das Erkenntnisvermögen beeinflussen. Dies alles sind A b straktionen i m Sinne von Fixierungen, an die man sich festklammert, w e i l man sonst keinen Halt hat. Eine ganz andere A r t , mit der Realität umzugehen, liefert die zweite Form der Abstraktion: Dabei werden die Abstraktionen, woran sich die Menschen sonst gerne festhalten, als 588
Oben bei A n m . 468.
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8. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaf tsverf assung
veränderlich gesetzt, u m die Gesetze zu erkennen, die die Veränderung bewirken. Diese Form der Abstraktion macht die Fixierungen und die Oberfläche dessen, was jeweils existent ist, durchsichtig: Sie zeigt Wirkungszusammenhänge, die ohne die durchdringende K r a f t der A b straktion verborgen bleiben, und sie eröffnet den Weg zur Theorie und Technik derjenigen Prozesse, denen die fixierenden Abstraktionen über kurz oder lang weichen müssen. Wer also die fixen Vorstellungen und Verdinglichungen, die den Blick auf die Wirklichkeit und auf den Menschen verstellen, bekämpft, — wer also die eine Form der A b straktion überwinden und i h r dabei nicht unbewußt und ungewollt selbst anheimfallen w i l l , braucht die andere Form der Abstraktion, die i h m die dialektischen Zusammenhänge offenbart, sobald er die Angst überwunden hat, m i t der er sich an den fixen Vorstellungen klammert. Es ist wichtig, beide Formen der Abstraktion auseinanderzuhalten, wenn man sich nicht die Blöße geben w i l l , ζ. B. als ein Gegner von fixierenden Ideologien das schärfste und wirksamste Instrument als „Abstraktion" zu diffamieren, das zur Unterwanderung und Auflösung dieser Ideologien zur Verfügung steht. Eben diese abstrakte Struktur der Dialektik, jetzt aber als psychische Realverfassung des Bewußtseins, bestimmt, ob eine Gesellschaft nur dem Namen und Buchstaben nach oder w i r k l i c h als dialektischer Prozeß verfaßt ist: Ob nämlich die konkreten menschlichen Stimmen gehört und beachtet werden, wie es nach dem ideologischen Konzept und gegebenenfalls nach der geschriebenen Verfassung vorgesehen ist. Die geschriebene Verfassung und erst recht das geschriebene und geredete Gebäude der Ideologie können zwar allerhand bewirken, aber nicht, daß i n den Menschen, an die sie sich wenden, der Nächste wirklich schon repräsentiert ist. Fehlt es aber daran, h i l f t die beste Verfassung nur als Krücke, als Gehgestell. Oder es besteht die Gefahr, daß sie die Funktion der gefeierten Illusionen übernimmt, deren die beklagenswerten Zustände bedürfen. Darauf w i r d alsbald zurückzukommen sein. Hier kommt es nur noch darauf an, die ganze Spannweite des Problems der Konsonanz zwischen Bewußteinsverfassung und geschriebener Verfassung, das zugleich mittelbar ein Problem der Konsonanz zwischen geschriebener Verfassung und gesellschaftlicher Wirklichkeit ist, wenigstens anzudeuten. Denn es können unmöglich alle denkbaren Varianten innerhalb des Konsonanz-Dissonanz-Tripols von Bewußtseinsverfassung, Gesellschaftsverfassung und geschriebener Verfassung durchgespielt werden. N u r zum Konsonanzfall sind noch einige Bemerkungen angebracht: I n einer dialektisch verfaßten Gesellschaft braucht m a n seine Empörung nicht gegen die Verfassung (nicht gegen „das ganze System") zu richten, w e i l die geschriebene Verfassung Wege vorsieht, auf denen Übelständen w i r k s a m
8.3 Verfassung der Gesellschaft
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widersprochen werden kann, und w e i l die Bewußtseinsverfassung der betroffenen Menschen dafür sorgt, daß die Stimmen, die auf die Übelstände hinweisen, begrüßt und nicht verdrängt werden. So bringt die Gesellschaft konkrete, partielle Selbstnegationen 589 zustande. Das entspricht der H a l tung eines Dialektikers, wenn sein Bewußtsein i m wesentlichen schon durch aufrechte Repräsentation der Welt i n i h m konstituiert ist: Er kann die Welt theoretisch bejahen und er n i m m t sie wirklich hin, w e i l er schon das „Nein" erwartet, bejaht und für notwendig hält, das die Menschen hier oder dort gegen Erscheinungen vorbringen, die ihnen nicht recht sind. Weil er diese Wider-Sprüche schon kraft seines Inneren erwartet, v e r w i r r t und enttäuscht es i h n nicht, wenn sie aufkeimen, i m Gegenteil: Er braucht sie, damit seine innere Verfassung m i t der Wirklichkeit zusammenklingt. Diese Konsonanz w i r d gestört, wenn die freien Wider-Sprüche ausbleiben, so daß er die Wirklichkeit darauf verdächtigen muß, von der bewußten, freien Dialektik zur verdrängten, unfreien Dialektik übergegangen zu sein. So ist die dialektisch verfaßte Gesellschaft diejenige, welche die Ketzerei zur Pflicht erhebt, — nur die Ketzerei nicht, die sich gegen das Ketzertum richtet. Aber selbst gegen den Widerspruch, der gegen die Dialektik insgesamt und nicht nur gegen Unvollkommenheiten richtet, ist der Dialektiker nicht empfindlich, denn er kann erklären, aus welcher Bewußtseinsverfassung der Widerspruch entspringt: Auch dieser Angriff auf ihn selbst vermag daher nicht seinen Zustand der kognitiven Konsonanz zu stören, denn er paßt i n die Anschauung der Welt. Selbst dann, wenn Gegner der Dialektik m i t physischer Macht den Schein herstellen, sie hätten recht, weiß der Dialektiker doch, daß auch diesem Versuch, der Welt ihre Dialektik auszutreiben, der Wider-Spruch der lebendigen Menschen i n Theorie und Praxis so sicher u n d so wirksam ins Haus steht wie der nächste Tag, H a r m o n i e u n d V e r s ö h n u n g , m a g der eine oder andere einwenden, seien n i c h t n u r l a n g w e i l i g u n d n i c h t erstrebenswert, sondern o h n e h i n n u r unerreichbare T r ä u m e eines ermüdenden Geistes, der seine R u h e h a b e n w i l l u n d der diesen seinen s u b j e k t i v e n D r a n g z u r T h e o r i e v e r a l l g e m e i n e r t . — W e r so zu sprechen geneigt ist, h a t noch n i c h t b e g r i f fen, was es heißt, Gesellschafts- u n d Bewußtseinsverfassung als einen dialektischen Prozeß zu erfassen, z u verfassen und hinzunehmen. Mit der dialektischen Verfassung w i r d der w i r k l i c h e W i d e r - S p r u c h n i c h t e t w a n u r f r e i Haus m i t g e l i e f e r t (denn er ist schon i m m e r da), sondern seine A u s ü b u n g i n menschlichen F o r m e n w i r d v e r f a ß t u n d g a r a n t i e r t . M a n d a r f sich den Z u s a m m e n k l a n g zwischen B e w u ß t s e i n u n d Gesellschaft n i c h t als m o n o t o n e n Gesang vorstellen, den die Gesellschaft u n d i h r inneres D o u b l e m i t e i n a n d e r a n s t i m m e n . Z u s a m m e n s t i m m e n m u ß n u r — u m i m B i l d e z u b l e i b e n — der dialektische Rhythmus. U n d dies ist e i n R h y t h m u s , der d e n Menschen (den w i r k l i c h e n Sprechern u n d H ö r e r n des Polylogs) t a k t w e i s e Gelegenheit g i b t , i h r „ J a " oder eben auch i h r „ N e i n " z u i m p r o v i s i e r e n . D e r Mensch m u ß sein W e l t b i l d m i t den dialektischen N o t w e n d i g k e i t e n abstimmen. V e r d r ä n g t er, was u n u m g ä n g l i c h ist, so d a u e r t es n u r 589 Vgl. G. Stiehler, (1973) S. 21 - 43.
a.a.O. S. 191 ff.; Niklas Luhmann,
Ztschr. f. Soziologie 2
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8. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
eine Weile, bis die Dämme i m Bewußtsein brechen, hinter denen es sich ansammelt und aufstaut. Es bricht hervor und macht sich buchstäblich selber geltend. Nicht tilgbare Härten des Lebens verleugnen, ist daher schon der Anfang des Prozesses, der sie i n aufgestauter Form untilgbarer und härter freisetzt. Die Widerkehr des Verdrängten ist gewiß. Der Mensch erstrebt freilich nicht nur, seine innere Welt m i t seiner äußeren i n Zusammenklang zu bringen. Er erstrebt vor allem, daß diese seine (zur Innen- und Außenwelt) verdoppelte Situation i h m auch gefällt. Es genügt i h m auf die Dauer nicht, daß sein Bewußtsein und seine Wirklichkeit sich formal decken (wie etwa die Definition der irdischen Situation als Jammertal samt der damit übereinstimmenden Wirklichkeit). Er möchte sich vielmehr i n der verdoppelten Welt auch genießen können. Es ist ein schlechter Frieden m i t der Welt, den m i r die Konsonanz meines Bewußtseins m i t der Welt gewährt, wenn die Welt, die i n m i r m i t sich selbst konsoniert, als solche keinen Grund zur Freude bietet. Der Zusammenklang befriedet mich nicht, wenn das, was i n m i r zusammenklingt, m i r keinen Frieden läßt. Dann aber fragt sich: Wenn bei der Organisation des Bewußtseins und bei der Organisation der Gesellschaft die logischen Konsonanzbedingungen beachtet werden, bleibt dann überhaupt noch so viel von der menschlichen Welt übrig, daß sie dem Menschen gefallen und er sich i n ihr genießen kann? Verbleibt keine solche Welt, dann ergibt sich die bedrückende Aussicht, daß die Menschen immer wieder aufstehen gegen ihre Welt, die ihnen nicht zusagt, und daß sie dies notwendig vergeblich tun, weil es keine Welt gibt, die zugleich den Konsonanzbedingungen genügt und noch gefällt. Jedes Aufbäumen verschlimmerte nur die Situation, w e i l es zusätzliches Leid verursacht. Allenfalls i n dem Aufbäumen selbst, vor der ent-Täuschung, könnte der Mensch die Illusion genießen, das Ziel sei erreichbar: B l i n d für seine wirkliche Lage genösse der faustische Mensch allenfalls i m bloßen Vorgefühle seines Glücks die tatvolle Leere seines Augenblicks 5 9 0 . Das Weltbild muß der Wirklichkeit entgegenkommen, wenn die Wirklichkeit dem Menschen, der das Weltbild hat, nicht i n den Rücken fallen soll. Doch diese Einsicht nutzt nicht viel, wenn man nicht weiß, i n welcher Form, auf welchen Wegen und wie weit der Mensch m i t seinem Bewußtsein der Welt entgegenkommen muß, damit sie i h m ebenfalls entgegenkommt und beide sich auf dem Punkte des Zusammenstimmens treffen. 590 Goethes Faust genießt bekanntlich i n der Illusion einer schönen Z u k u n f t das G e k l i r r der Spaten, die nicht dieser Zukunft dienen, sondern benutzt werden, sein Grab auszuheben.
8.4 Produktion des Menschen durch den Menschen
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Das Weltbild, u m das es dabei geht, ist ein Menschenbild, das zugleich Gesellschaftsbild ist, und ein Gesellschaftsbild, das zugleich Menschenbild ist: also ein Bild, das der Mensch sich i n sich von sich selbst macht, das aber nicht nur sein einsamer innerer Gesellschafter, sondern auch lebendige gesellschaftliche Wirklichkeit sein soll. Die Frage nach diesem B i l d stellt sich auch für die Menschen, die sich i m Rahmen ihrer marxistischen Weltauffassung die Aufgabe gestellt haben, „das Ziel der menschlichen Entwicklung, die Gestalt der menschlichen Gesellschaft" 591 , bewußt herbeizuführen. So vermessen diese Frage i n welchem weltanschaulichen Gewand auch immer erscheinen mag, sie steht nun einmal auf der Tagesordnung der Geschichte (freilich nicht zum erstenmal). Wer sie beantworten w i l l , kommt an der harten Kernfrage, die darin eingeschlossen ist, nicht vorbei: an der Frage nach den logischen Konsonanzbedingungen. „Ins Marxistische übersetzt", lautet die Problemstellung: Wie läßt sich die Produktion des Menschen durch den Menschen auf lange Sicht so organisieren, daß aus dem Produktionsprozeß auch wirklich Menschen hervorgehen und nicht andere Produkte, m i t denen man nicht gerechnet hat? 8.4 Die Produktion des Menschen durch den Menschen 8.41 Arbeit an der Natur und Arbeit am Menschen M a r x hat die bewußte physische Arbeit des Menschen an den Gegenständen der äußeren Natur samt ihren Produkten und Fernwirkungen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse systematisch erforscht. Es mußte daher für i h n irgendwann sich die zweite Aufgabe stellen, auch die andere A r t der Arbeit systematisch zu erforschen: die bewußte Arbeit des Menschen an den gesellschaftlichen Verhältnissen als solchen, die — nach den Vorstellungen des dialektischen Materialismus — nichts anderes ist als die Arbeit des Menschen am Menschen. Diese zweite Aufgabe drängte u m so mehr, als es M a r x letzten Endes um die Produktion des Menschen durch den Menschen ging. Er hat i n der Tat dazu angesetzt, auch sie zu lösen. I n seinem Manuskript zur Deutschen Ideologie kündigt M a r x einen entsprechenden gedanklichen Übergang an, der deshalb aufschlußreich ist, w e i l der Begriff der Arbeit erweitert w i r d und die bisher noch nicht näher berücksichtigte „andere Seite" der Arbeit untersucht werden soll: „Bisher haben w i r hauptsächlich n u r die eine Seite der menschlichen T ä t i g keit, die Bearbeitung der Natur durch den Menschen betrachtet. Die andere Seite, die Bearbeitung der Menschen durch die Menschen .. .S92." 591 592
Oben A n m . 18. M E W 3 S. 36 = Landshut
2 Suhr
S. 364.
322
. Kapitel : Bewußtseinsverassung und Gesellschaf tsverf assung
Dieser gedankliche Übergang und Ansatz bricht jedoch m i t den drei Punkten wie hier i m Zitat ab und wurde i m Manuskript — gestrichen. Als Marx die bewußte Bearbeitung der Natur durch den Menschen analysierte, hatte er die geschichtliche Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse vor sich und konnte auf sie zurückblicken wie i n ein „aufgeschlagenes Buch der menschlichen Wesenskräfte". Als M a r x die bewußte Bearbeitung des Menschen durch die Menschen i n Betracht zog, konnte er auf kein geschichtliches Material zurückgreifen: Für den historischen Materialismus beginnt nämlich diese Form der Arbeit per Definition der geschichtlichen Situation erst m i t Marx, der das Ende der Vorgeschichte der Menschheit verkündet. Was soeben erst als Zukunftsperspektive i n den Blick kam, konnte noch nicht Gegenstand einer kritischen Analyse von empirischen geschichtlichen Fakten sein. Die Frage nach der bewußten Bearbeitung des Menschen durch den Menschen stellte sich für die Vergangenheit nicht, w e i l die gesellschaftlichen Verhältnisse während der Vorgeschichte nur das naturwüchsig-mittelbare Werk der physischen Naturbearbeitung waren und daher bei dieser Form der Arbeit als eine A r t Abfallprodukt mitbetrachtet werden mußten. Sie stellte sich auch für die Zukunft nicht, w e i l ihre Beantwortung anscheinend nicht so problematisch zu sein schien, daß sie vorrangig vor der K r i t i k der politischen Ökonomie hätte beantwortet werden müssen. Innerhalb des wissenschaftlichen Horizontes, den der historische Materialismus absteckt, war es daher durchaus folgerichtig, wenn der Ansatz, der Bearbeitung des Menschen durch den Menschen i n entsprechender Weise nachzugehen wie der Bearbeitung der Natur, gestrichen wurde. Streicht man diesen Ansatz jedoch nicht und verfolgt man ihn stattdessen weiter auch auf Wegen, die für den historischen Materialismus weltanschaulich gesperrt sind, führt er direkt zu Hegel. Denn für Hegel beginnt die Geschichte der Menschheit schon etwas früher als für Marx. Für den historischen Materialismus erscheint Hegel als der letzte große Vorgeschichtler, i n dem die Entfremdungsformen der noch-nicht-Menschheitsgeschichte auf die philosophische Spitze getrieben wurden. Aber eben dieser vorgeschichtliche Hegel wußte, daß er Menschen bearbeitete, wenn er versuchte, ihre festen Gedanken i n Flüssigkeit zu bringen. U n d er bearbeitete den Menschen nicht nur m i t Bedacht, sondern wußte obendrein sehr wohl, daß seine Arbeit am Menschen zugleich Arbeit an der Gesellschaftsverfassung war. Schließlich wußte Hegel auch, daß er nicht der erste Mensch war, der sich über den Menschen und über die Bearbeitung des Menschen Gedanken machte. Weil er dies wußte, gab es für ihn auch reiches geschichtliches Material, an dem er die Wirkungen und Fernwirkungen
8.4 Produktion des Menschen durch den Menschen
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der Arbeit des Menschen am Menschen studieren konnte: ein anderes aufgeschlagenes Buch der menschlichen Wesenskräfte, das dem historischen Materialismus bislang verschlossen geblieben ist. — Die Natur zu bearbeiten, hat der Mensch begonnen, als er erstmals (eher unbewußt als bewußt) so i n die Natur eingriff, daß sie seinen Zwecken i n einer Weise dienstbar wurde, welche über die bloß tierische Bedürfnisbefriedigung hinausführte. Den Menschen zu bearbeiten, hat der Mensch begonnen, als er erstmals (eher unbewußt als bewußt) i n das menschliche Zusammenleben dadurch eingriff, daß er es verbildlichte und „definierte". Das Produkt dieser Arbeit des Menschen am Menschen waren Definitionen seiner Situation, — waren interne Repräsentationen seiner Lagen, welche i n Form von Bildnissen und Beschreibungen aus dem Inneren auch schon wieder herausgeholt und vergegenständlicht wurden. Seitdem der Mensch solche Werke produziert, arbeitet er nicht nur an der „natürlichen" Natur, sondern auch an der menschlichen. Seitdem gibt es beide Formen der bewußten Arbeit. Ihre Wirkungen und Fernwirkungen sind miteinander verschlungen. Seitdem kann der geschichtliche Prozeß der Gattung Mensch nicht auch nur annähernd richtig begriffen werden, wenn nicht den Produkten der bewußten menschlichen Arbeit am gesellschaftlichen Menschen mindestens ebensoviel Aufmerksamkeit und kritisches Durchdringungsvermögen gewidmet w i r d wie der Bearbeitung der Natur durch den Menschen. „Falls dies ein V o r w u r f gegen uns sein soll", dürfte hier von Vertretern des historischen Materialismus eingewendet werden, „ t r i f f t er uns nicht: Wir waren es vielmehr, die endlich die Zusammenhänge enthüllt haben, die zwischen beiden Formen der Arbeit und ihren Arbeitsprodukten bestehen. Wir haben überhaupt erst die Impulse und die richtunggebenden Einflüsse bewußt gemacht, die von der Sphäre der materiellen Produktion herkommen und die Arbeit des Menschen an der Gesellschaft maßgebend bestimmen". Das ist richtig, — und gegen einen historischen Materialismus, der seine i h m selbst hinderlichen Vorstellungen so beweglich erweitert und präzisiert wie i n dem obigen Einwand, gibt es keine durchschlagenden Vorbehalte mehr. Versucht er jedoch, seine Position unnachgiebig zu verteidigen, schwächt er sich auf lange Sicht. Er könnte ζ. B. noch behaupten: „Erst wenn die Bestimmungen bekannt und bewußt sind, die vom Sein aufs Bewußtsein wirken, beginnt die bewußte Arbeit des Menschen am Menschen." Aber i n dieser Behauptung werden bewußtes Handeln einerseits und bewußt beobachtetes bewußtes Handeln andererseits nicht auseinandergehalten; — als ob w i r unser Urteil, daß ein Faustkeil ein Werkzeug ist, davon abhängig machten, daß sich der Urmensch 2*
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8. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaf tsverf assung
bei der Herstellung des Faustkeils und bei seiner Benutzung zugleich schon selbst über die Schulter geschaut und über sich nachgegrübelt hat: über sich als einen tierisch-übertierischen Werkzeugmacher und Werkzeugbenutzer, der weiß, daß er die „Natur bearbeitet". So wie dieser Urmensch die Natur bewußt bearbeitet hat, auch wenn er darüber noch nicht philosophisch oder anthropologisch nachgedacht hat, so haben die Menschen schon seit Jahrtausenden den Menschen bewußt bearbeitet, auch wenn sie noch nicht das gehörige historisch-materialistische Bewußtsein davon hatten. Zum Hunger des Urmenschen mußte ein produktives Mehr an Bearbeitung hinzukommen, ehe daraus ein Werkzeug hervorging, m i t dem er sodann „materielle Produktion" betrieben hat. So mußte auch zu der „materiellen Produktion" ein produktives Mehr des Menschen an Organisation hinzukommen, ehe aus der „materiellen Produktion" „gesellschaftliche Verhältnisse" hervorgingen. Wie i n die Werke der Hand das produktive Mehr einfließt, das ihre Herstellung von der bloß tierischen Selbsterhaltung unterscheidet, so geht i n die von Menschen hervorgebrachten Definitionen seiner Situationen das produktive Mehr ein, das über die bloß materielle Produktion hinausführt, auch wenn den Arbeitern an der Gesellschaf tsverf assung dieses jeweilige „Mehr" nicht als solches bewußt war. (Davon abgesehen: Es war ihnen regelmäßig i n dieser oder jener Übersetzung bewußt, und ihre k u l t u rellen Leistungen zeigen, welche Werke geschaffen wurden, die über die bloß materielle Produktion hinausführten). Das produktive Mehr, durch welches die Naturbearbeitung über die Natur und durch welches die Arbeit am Menschen über die Naturbearbeitung hinausführt, war jeweils i m Bewußtsein, ehe es ins Werk gesetzt wurde. (War es ausnahmsweise i m Werk, ehe es i m Bewußtsein war, so war es noch ein Produkt des Zufalls und als solches kein Werk, das durch Arbeit hervorgebracht war.) Ins Werk gesetzt aber gewann das „produktive Mehr" der jeweiligen Arbeit des Menschen jene Selbständigkeit, die von Hegel und M a r x als die negative Seite der Arbeit begriffen worden ist: eine Seite, die ihrerseits vorher nicht i m Bewußtsein w a r und daher blind („urwüchsig") produziert wurde. I m übrigen deckt sich die Unterscheidung zwischen (physischer) Handarbeit und (geistiger) Kopfarbeit gerade nicht m i t der Unterscheidung zwischen der Arbeit an der Natur und der Arbeit am Menschen. Denn auch der Handarbeit geht regelmäßig Kopfarbeit voraus. Das hat M a r x am Vergleich zwischen der Biene und dem Baumeister veranschaulicht. Danach ist Handarbeit nur verlängerte oder ausgeführte Kopfarbeit. Die Hand ist insoweit nur der Handlanger des Kopfes. A u f der anderen Seite aber bearbeiten die Menschen einander
8.4 Produktion des Menschen durch den Menschen
325
nicht nur m i t Produkten ihres Kopfes, nicht nur m i t Sprache und Schrift, sondern auch m i t den Händen: sei es liebevoll, sei es weniger liebevoll. Denn der Mensch ist selbst ein Stück physischer Natur und bietet als solche die vielfältigsten Angriffsflächen für die physische Bearbeitung mit Händen, m i t Werkzeugen und m i t Waffen. Es gibt demnach „Kopfarbeit" an Sachen und „Handarbeit" an Mensehen. Die „großartigste" Erscheinungsform der „Handarbeit" des Menschen am Menschen ist der Krieg: Krieg, Bürgerkrieg und gewalttätige Revolution bieten den Handwerkern unter den Bearbeitern des Menschen die unbeschränktesten Entfaltungsmöglichkeiten. Marx kannte die Trennungslinie, an welcher die Kopfarbeit i n Handarbeit umschlägt, sehr gut: Sie verläuft genau dort, wo z.B. die Waffe der K r i t i k i n die K r i t i k der Waffen umschlägt und die Leidenschaft des Kopfes sich verwandelt i n den berühmten Kopf der Leidenschaft. Das ist der Kopf, der Leiden schafft. 8.42 Die Abhängigkeit
der Menschen von der übrigen
Natur und ihre Abhängigkeit
voneinander
„Die Menschheit", schreibt Marx, „ w i r d Herr i n der Natur, aber der Mensch w i r d Sklave des Menschen oder Sklave seiner eigenen Niedertracht" 5 9 3 . Es lohnt sich, diesem Gedanken weiter nachzugehen. I n dem Maße, wie die Menschen miteinander durch gesellschaftliche Arbeit die unmittelbare Abhängigkeit von der Natur mildern, vergrößern sie ihre Abhängigkeit voneinander. Die Abhängigkeit von der Natur schwindet dabei selbstverständlich nicht ganz, sondern besteht fort, und inzwischen haben w i r die „negative Seite" des unbeherrschten Dranges, uns die übrige Natur Untertan zu machen, kennengelernt: W i r zerstören sie, wenn w i r sie nicht als Teil unserer eigenen W i r k lichkeit anerkennen und ihr insofern selbst wieder m i t Bewußtsein Untertan sind. Doch unabhängig von dieser Dialektik zwischen dem Menschen und der übrigen Natur bestand von jeher die Dialektik zwischen den Menschen untereinander, und die Eindringlichkeit dieser Dialektik n i m m t zu umgekehrt proportional m i t der Unabhängigkeit von der Natur, die die Menschen sich zusammen erarbeiten. Verschiebt sich das Schwergewicht der Abhängigkeit, so verschiebt und erweitert sich damit das Feld der Probleme und Aufgaben, die gelöst werden müssen. Z u den Schwierigkeiten des Menschen m i t der 593
M E W 12 S. 3/4. Zugleich Motto bei Alfred Schmidt, Der Begriff der N a t u r i n der Lehre von M a r x , F r a n k f u r t 1972. Vgl. auch Carl Schmitt, E x Capti vitate Salus, K ö l n 1950, S. 8: „Die Naturschranke f ä l l t ; dafür erfaßt uns die Sozialschranke."
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8. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaf tsverf assung
übrigen Natur türmen sich diejenigen, die er m i t sich selbst bekommt: m i t dem Stück der Natur, das i h m i n seiner eigenen Gestalt und mit je eigenem Willen begabt entgegentritt, — als Mutter und Vater; als Angehöriger und Bekannter; als er selbst, wenn er i n den Spiegel schaut; als Kollege und Genösse; als milliardenfacher Mitmensch auf dieser Erde. K a u m hat der Mensch seine Abhängigkeit von der willenlosen Natur überwunden (oder kaum stellt er fest, daß seine Herrschsucht über die Natur sich als Wahn und Bumerang zu erweisen droht), da t u t sich die nächste Abhängigkeit auf und fordert seinen Geist und seine Güte heraus: die Abhängigkeit von der Natur, die kraft eigener Willen aus der Untertanenrolle i n die des ebenbürtigen, milliardenfachen Herrschers drängt. Die Formel: „Macht Euch die Erde Untertan!" zu befolgen, war sehr viel verlockender und w o h l auch einfacher, als die Formel: „Seid einander Untertan!" „ E i n Widerspruch, der jeder gesellschaftlichen Formation eigen ist", heißt es i n den Kategorien des dialektischen Materialismus, „ist der Widerspruch zwischen Natur und Gesellschaft". Dieser Widerspruch w i r k e selbstverständlich auch i m Sozialismus fort; denn i n jedem Fall müsse der Natur das Notwendige abgerungen werden. Erst auf dieser Grundlage könne sich das Reich der Freiheit entfalten 5 9 4 . Sollen aber alle frei sein, müssen alle einander Untertan sein. Das ist unbequem und treibt dazu, Positionen zu erstreben und zu behalten, die frei sind von der Unterwerfung unter fremden Willen. Daher ist es zwar richtig aber etwas einseitig, wenn gesagt w i r d : „Das grundlegende Verhältnis, das die gesellschaftliche Entwicklung vorantreibt, ist das Verhältnis zwischen Mensch und Wirklichkeit (Subjekt und Objekt) 5 9 5 ." I n diesem Satz kommt nicht deutlich genug zum Ausdruck, was sonst i m dialektischen Materialismus eine Selbstverständlichkeit ist: Objekt ist auch der andere Mensch und ist jeder sich selbst. Und diese Objekte, die als Subjekte organisiert sind, oder diese Subjekte, die als Objekte sich hart i m Räume aneinander stoßen wie Sachen: Sie machen den schwierigsten Sonderfall jenes allgemeinen grundlegenden Verhältnisses zwischen Mensch und Wirklichkeit aus. Klassengegensätze, wie sie sich bei Gelegenheit der gemeinsamen Arbeit an der übrigen Natur eingestellt haben, sind solche Gegensätze zwischen Objekten, die Subjekte sind, und Subjekten, die Objekte sind. M i r gegenüber steht nicht mehr nur das willenlose Ding, sondern ein Ding mit Willen. Damit fängt die Dialektik erst richtig an!
694 Gottfried Stiehler, Hegel u n d der Marxismus über den Widerspruch, B e r l i n 1960, S. 132 f. 595 Stiehler a.a.O. (1967) S. 223.
8.4 Produktion des Menschen durch den Menschen
327
Die Abhängigkeit der Menschen voneinander hat zwei Seiten: War vorher (falls es ein solches „Vorher" i m strengen Sinne überhaupt gibt) das menschliche Bedürfnis auf Sachen gerichtet, die der Mensch brauchte, u m seinen Hunger zu stillen, so richtet es sich jetzt mehr denn je auf Menschen, die i h m dabei helfen und zu Willen sind. Seine Hilflosigkeit als einzelner erzeugt das Bedürfnis nach Diensten, die i h m andere Menschen erweisen. Er bekommt „Hunger" darauf, daß i h m wie vorher die übrige Natur nun auch der Mensch Untertan sei, und er neigt dazu, die Kehrseite dieser Dienste von anderen durch welcherlei Religion oder Ideologie, Weltanschauung oder Theorie auch immer sich selbst und anderen zu verschleiern: nämlich die eigene faktische Abhängigkeit, i n die er sich begibt, sobald er sich auf Dienste anderer stützt. So arbeitet der Herr, indem er die Herrschaft über seine Knechte organisiert, organisatorisch an seiner Abhängigkeit. Es fehlt nur, daß die Knechte sich dessen bewußt werden, u m i h n seine Abhängigkeit auch spüren zu lassen. Danach ist der Weg frei dafür, daß man einander dient, und das heißt, daß man einander zu Willen ist. Einander so zu Willen zu sein, daß sich der jeweils andere darauf verlassen kann, bedeutet, daß es sich u m exakte und genaue Verhältnisse der UnterOrdnung des einen Willens unter den anderen und umgekehrt handeln muß. Diese zweite Seite der mitmenschlichen Abhängigkeit darf nicht unterschlagen werden. Wer trotzdem von einer Zukunft träumt, i n der die Unterordnung unter anderen Willen nicht nur wechselseitig ausbalanciert, sondern abgeschafft wird, träumt von einer Zukunft willenloser Schwächlinge, oder eben davon, selbst der Herr izu sein, dem sich alles fügt. Von solcher dunstigen Freiheit zu reden, ohne die Abhängigkeit der Menschen untereinander und ihre notwendigen Folgen scharf ins Auge zu fassen und m i t ihnen fertig zu werden, läuft auf die altbekannten Strukturen der Ideologien hinaus, i n denen immer von der Freiheit aller die Rede ist und nur die eigene gemeint und praktiziert wird. Noch einmal: Ist ein Mensch von einem anderen abhängig, so ist er von dessen Willen abhängig, auch wenn der andere nicht auf die Idee kommt, einen Willen zu haben und geltend zu machen. Die Abhängigkeit braucht nicht bewußt zu sein, jedenfalls nicht auch als Abhängigkeit vom Willen des anderen. Sind beide sich der faktischen und w i l lensmäßigen Abhängigkeit bewußt, müssen sie sich zusammenraufen und zusehen, wie sie den Prozeß organisieren, i n dem jeder zu seiner Zeit den Willen des anderen für sich gelten lassen und den eigenen zurückstellen muß. Das ist ein Stück Arbeit, und zwar organisatorische Arbeit, deren Produkt ein geistiges Werk ist: ein Protokoll der Spielregeln für die wechselseitige Willensdurchdringung, — eine Satzung, — eine Verfassung des Prozesses dieser beiden, die nur dann beide frei
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8. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaf tsverf assung
sind, wenn sie einander Untertan sind. Sind sie sich der Abhängigkeit nicht bewußt, braucht diese Arbeit nicht geleistet zu werden. Meist hat dann einer das Sagen und der andere nur das Folgen, und die geistige Arbeit konzentriert sich darauf, den Glauben zu erhalten, dieses Willensgefälle sei notwendig. Zu diesem Zweck bedarf die entsprechende einseitige Definition der Situation der sorgfältigen Pflege. Dabei zählt das alte, geschriebene Wort mehr als die Stimme des gegenwärtigen, lebendigen Menschen. I m Hinblick auf die soeben angestellten Erwägungen ist es aufschlußreich, zwei ganz bestimmte Definitionen von sozialen Situationen miteinander zu vergleichen: Erstens: Produktionsvorgänge, i n denen Menschen m i t anderen Menschen zusammen arbeiten, werden kraft Definition der Situation als Privateigentumsverhältnisse ausgegeben. Dementsprechend werden die Vorstellungen über Willensgefälle i m Unternehmen dem Modell entnommen, das für den Umgang des Menschen m i t Eigentum an Sachen entwickelt wurde. Eine Sache hat keinen Willen. Daher ist es nicht sonderlich verdächtig, wenn dem Sacheigentümer aller Wille über die Sache zugeordnet wird. Wenn aber dieses Modell für eine Willensverteilung übertragen w i r d auf Verhältnisse, i n denen nicht nur ein einsamer Sacheigentümer m i t seiner Sache, sondern viele Menschen gelegentlich der Sachbearbeitung zusammenleben, werden falsche Zusammenhänge vorgespiegelt und die wirklichen werden entstellt. Dabei w i r d ein I r r t u m erregt, der die Freiheit des Eigentümers auf Kosten der anderen Beteiligten erweitert. Durch die Definition der Situation i m Unternehmen als ein Verhältnis von Privateigentum erscheint der zwischenmenschliche, gesellschaftliche Prozeß unterschwellig als bloße Verwaltung von Sachen. Diesem Schein w i r d rechtstechnisch Rechnung getragen; auf diesen Schein berufen sich die „Eigentümer", wenn der Prozeß i m Unternehmen entgegen ihren Wünschen so verfaßt werden soll, daß es kein einseitiges Willensgefälle mehr gibt. Zweitens: Man kann auf der anderen Seite gegen solcherlei ideologischen Betrug zu Felde ziehen und dafür kämpfen, daß die Herrschaft von Menschen über Menschen, die als Sachherrschaft verhüllt und i m Namen eines Sachherrschaftstitels ausgeübt wird, ein Ende haben und an ihre Stelle etwas ganz anderes treten möge: ein gesellschaftlicher Produktionsprozeß, der von vornherein definiert w i r d als „Verwaltung von Sachen", — jawohl, als Verwaltung von Sachen. Denn es steht geschrieben: „ A n die Stelle der Regierung über Personen t r i t t Sachen u n d die L e i t u n g des Produktionsprozesses 596 ." m
Engels, M E W 20, 262.
die V e r w a l t u n g
von
8.4 Produktion des Menschen durch den Menschen
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Die angeführten Sätze sind von Engels nicht etwa ironisch oder als Schulbeispiel für partielle Ahnungslosigkeit in Sachen Dialektik, sondern ernst gemeint. Sie zeigen, daß die Problematik immer noch als bloßer Subjekt-Objekt-Widerspruch interpretiert wird. Innerhalb dieses Denkrahmens sind auch die Lösungen und Fernziele nur als Vorrang des Subjekts vor dem Objekt erträumbar. Es ist so schön und daher auch so beibehaltenswert (für den Privateigentümer) oder so ersehnenswert (für Zukunftsvisionäre), die eigene Tätigkeit als Verwaltung von Sachen und als Leitung von Prozessen anzusehen und angesehen zu wissen, w e i l der Mensch dabei nur i n der Rolle des Herrn gedacht wird, der keinem anderen Willen Untertan ist. Den anderen Willen los sein, heißt, endlich von i h m frei und von i h m unabhängig sein. Das ist der nicht gerade sehr soziale innere Drang, der sich i n der Vision von der Sachverwaltung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses nur ideelle und reelle Ausdrucksformen gesucht hat. U m diesen wenig sozialen Drang des Menschen wahrzunehmen, braucht man nur von den ideellen Produkten des Bewußtseins zurückzuschließen auf den inneren Drang, der dahintergestanden haben muß: also von der rechtstechnischen oder ideologischen Vision „Verwaltung von Sachen" (die als „Privateigentum" verschleiert oder ganz offen beim materialistischen Namen genannt wird), zurück auf die Bedürfnisse des Menschen, der die Visionen produziert, — getreu der Regel, nach welcher es das Sein ist, das das Bewußtsein bestimmt. Diese Deutung ihrer Träume dürfte allerdings von den betroffenen Träumern heftig bestritten werden. Die Deutung einzusehen ist für sie so schwer, wie es für einen „bürgerlichen Wissenschaftler" schwer ist, die marxistische Deutung seiner ideellen Produktionen einzusehen. Denn die Deutung des Traumes, der von der sachherrschaftlichen Verwaltung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses handelt, brächte einen Widerspruch des betroffenen Bewußtseins m i t sich selbst zum Bewußtsein: nämlich einen unsozialen Traum i n einem Kopf, der seine Denkweisen als soziale Denkweisen definiert. Solch ein Widerspruch m i t sich selbst hat an sich die Kraft, das Bewußtsein, dem er bewußt wird, zu verändern und zu erneuern. N u r muß er erst einmal als Widerspruch nicht nur verdrängt, sondern bewußt erkannt und anerkannt werden (getreu der dialektischen Erkenntnis, daß die Widersprüche, die etwas i n sich selbst hat, die Quelle der Veränderung und der Erneuerung sind). Veränderung und Erneuerung freilich hat ein Bewußtsein, das nur der Definition aber noch nicht der Wirklichkeit nach ein dialektisches Bewußtsein ist, zu fürchten wie ein schiffbrüchiger Nichtschwimmer den Verlust der letzten Planke seines Schiffes, an der er sich festklammert. So schwer es ist, diesem Nichtschwimmer seine Planke durch gutes Zureden abzunehmen, so schwer ist es, einem
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. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
materialistischen Nichtdialektiker die Überzeugung zu vermitteln, daß er seinen Traum von der Sachverwaltung fahren lassen und sich m i t der Abhängigkeit des Menschen vom Menschen i n der Gesellschaft abfinden muß, die den Prozeß der Gesellschaft notwendig zu einem Prozeß der Herrschaft des Menschen über den Menschen macht. Wenn es noch eines Ausdruckes bedurfte für die Verwandtschaft zwischen dem bürgerlichen Bewußtsein, das sich die Gesellschaftsordnung vorwiegend aus der individualistisch-sachherrschaftlichen Froschperspektive des Privateigentümer vorstellt, und dem anderen Bewußtsein, das sich die sozialistische oder kommunistische Überwindung des Privateigentums ausgerechnet als eine Verwaltung nur noch von Sachen erträumt: Dieser Traum spricht für sich. Der Unterschied zwischen den beiden Bewußtseinsverfassungen besteht vor allem darin, daß der Privateigentümer seinen (kleineren oder größeren) „Eigentümer"bereich wie ein kleiner Herrgott verwalten möchte, und zwar i n rechtlich und ideologisch legitimierter Weise, während der Mensch mit dem anderen, sozialen Bewußtsein gleich die ganze produzierende Gesellschaft vor sich sieht, wenn er daran denkt, sie wie Sachen zu verwalten oder verwalten zu lassen. Die Abhängigkeit des Menschen vom Menschen läßt sich nicht aus der Gesellschaft herauskürzen, — auch nicht durch Überfluß, und schon gar nicht i n einer Welt, die sich der „Beschränktheit ihrer Ressourcen" langsam bewußt wird. Die wechselseitige Abhängigkeit des einen vom anderen erscheint vielmehr notwendig i n der wirklichen Gesellschaft i n einer von zwei Gestalten: entweder als Verbindlichkeit von Gesetzen und Anordnungen oder, falls man diese Gestalt nicht mag, als Gewalt, durch die die Abhängigkeit geltend gemacht wird. Die Abhängigkeit des Menschen vom Menschen, die als verbindliche oder als gewalttätige Herrschaft erscheint, vermag vielmehr nur „aufgehoben" zu werden, indem sie bejaht w i r d : Als wechselseitiger gesellschaftlicher Prozeß, i n dem die Menschen verbindlich den Willen des einen i n den Kopf des anderen hereinlassen und umgekehrt: kraft der Verfassung ihres Bewußtseins und der Gesellschaft und, wie es die geschriebenen Gesetze vorsehen. Als ein solcher Vorgang muß der gesellschaftliche Prozeß bejaht, erkannt und anerkannt werden, — und er muß nicht nur erfaßt, sondern verfaßt und ganz ins Bewußtsein hereingeholt werden. Erst wenn die menschliche Gesellschaft als verbindlich verfaßter gesellschaftlicher Prozeß i m Bewußtsein repräsentiert ist und wenn sie als solcher darin die Herrschaft angetreten hat, kommt diese Herrschaft für den Menschen nicht mehr von außen, sondern von innen. Dann ist die Herrschaft „autgehoben": Erstens ist sie als äußere Härte gegen andere verschwunden. Zweitens ist sie als
8.4 Produktion des Menschen durch den Menschen
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innere Härte gegen sich selbst erhalten. Drittens ist sie als Härte nicht mehr des äußeren Seins, sondern des Bewußtseins, eine Härte auf höherer Ebene des Seins. Die „aufgehobene" Herrschaft gleich der „verschleierten" Herrschaft allerdings vollkommen bis auf den Punkt, daß diese regelmäßig einseitig, jene aber wechselseitig ist und w i r k t . Auch die „aufgehobene" Herrschaft ist eine verinnerlichte und insofern selbst eine verschleierte Herrschaft. Als solche ist sie freundlicher als die von außen kommende und die gewalttätige. Wenn schon die Formen einseitiger Herrschaft durch ihre Verhüllung und Versenkung i m Bewußtsein überhaupt erst annehmbar waren und sich so lange erhalten konnten, besteht kein Grund, der verfaßten Gesellschaft nur deshalb zu verbieten, das Bewußtsein zu erobern, w e i l die wechselseitige Abhängigkeit zwar etwas von ihrer subjektiv empfundenen Härte verliert, sobald sie als verfaßte Gesellschaft zum Herrn des Bewußtseins und zur zweiten Natur des Menschen i n die Menschen hereingeholt wird, aber eine Härte bleibt. 8.43 Anerkennung
der Menschen durch die Menschen
„Was ist die Gesellschaft, welches immer auch ihre Form sei? Das Produkt des wechselseitigen Handelns der Menschen 597 ." Der Mensch als gesellschaftliches Wesen setzt sich tagtäglich i m tatsächlichen U m gang des Menschen m i t dem Menschen ins Werk. Der gesellschaftliche Mensch ist also der allgemeine, gegenwärtige Umgang der Menschen m i t den Menschen i n der Gesellschaft. Jedes anerkennende Wort und jede verächtliche Bemerkung, jede Geste und jede Tat ist ein Ton i n dem Konzert der Töne, deren Gesamtklang die allgemeine Melodie des gesellschaftlichen Menschen ausmacht. Durch meine Verachtung, die ich auch nur einem einzigen Menschen entgegenbringe, mache ich i h n zu einem verachteten Menschen und mich zu einem Verächter. Nicht anders ist es, wenn ich einen Menschen schlage oder töte, wenn ich i h n achte oder anerkenne: Durch diese meine Arbeit am Menschen mache ich mich zum Schläger oder Totschläger und produziere den geschlagenen Menschen oder Leichen, — oder ich bringe wahrhaftig den geachteten und anerkannten Menschen hervor. Der gesellschaftliche Mensch „lebt" m i t h i n i n den unzähligen zwischenmenschlichen Ereignissen, die ihn stündlich und täglich neu hervorbringen. Je nach dem, ob dabei die Ereignisse überwiegen, i n denen die Menschen einander als Menschen achten, oder diejenigen, i n denen sie einander mißachten, produzieren sie den geachteten oder den miß597
Marx an Annenkow
1846, M E W 27 S. 452.
332
8. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaf tsverf assung
achteten Menschen. Kein zwischenmenschliches Ereignis geht i n der großen gesellschaftlichen Bilanz verloren. Und wie für die Gesellschaft insgesamt, so kann auch der einzelne Mensch für sich eine Bilanz seiner Alltäglichkeiten aufmachen, u m zu prüfen, ob er die Gesellschaft per Saldo u m Ereignisse bereichert, die den Menschen als Menschen achten, oder ob er sie entreichert durch Ereignisse, i n denen er die wirklichen Menschen ζ. B. eher als Sachen denn als Menschen behandelt und mißachtet. Dabei zählt auch mit, ob der einzelne sich selbst als einen Menschen achtet und sich selbst entsprechend führt und beherrscht, oder ob er sich selbst schon so sehr verachtet, daß er sich der Pflicht, gar den anderen zu achten, ganz enthoben meint. M i t der Produktion des anerkannten Menschen i n der Gesellschaft verhält es sich ähnlich wie m i t Kettenreaktionen i n einem Kernreaktor: I n millionenfachen lokalen Ereignissen zwischen den Menschen w i r d der Mensch geliebt oder gehaßt, geachtet oder verachtet, anerkannt oder gedemütigt: I n der Familie; i n der Schule; i n Behörden; i m Berufsleben; i n dem öffentlichen Verkehr und i n privaten Briefen. Überwiegt die Verachtung, bleibt es i n der Gesellschaft i m Durchschnitt eisig. Die Menschenverächter i n der Gesellschaft w i r k e n wie bodenlose Löcher, die alle Anerkennung, die zu ihnen vielleicht noch aus Freigiebigkeit der anderen durchdringt, absorbieren und m i t Verachtung vergelten. Zwar dürstet es sie innerlich nach einem Tropfen echter A n erkennung wie einen Menschen i n der Wüste nach Wasser, aber sie dürfen es sich und anderen nicht eingestehen, daß sie sich selbst nicht schon genug sind. So beantworten sie menschliche Gesten m i t Verachtung und sehen auch andernorts i n ihnen nichts besseres. Sie würden sonst i h r heroisch-verachtendes Gesicht verlieren. Der Menschenverächter braucht die Nichtigkeit der anderen. Denn er baut seine Wirklichkeit auf ihre Nichtigkeit. Und er braucht u m so mehr von dieser Unterlage, je deutlicher er unbewußt spürt, worauf er baut. Denn er kann sich zwar selbst wirksam betrügen, aber das reicht nicht, ihn innerlich zu befrieden. I n diesen bodenlosen Bewußtseinsstrudeln unglücklicher Menschen brechen die Ketten von Anerkennungsereignissen ab. So w i r d verhindert, daß sie sich fortsetzen und zu breiten Strömen ausweiten, die massenhaft den anerkannten Menschen produzieren. Der Menschenverächter sieht, wenn überhaupt, i n sich selbst den einzigen Menschen. Aber die Formel der Anerkennung lautet anders, und zwar: „ D u bist ein Mensch. Das meine ich ernst. Wenn D u m i r nun das gleiche sagst und es ernst meinst, dann zeugst D u — ein von m i r anerkannter Mensch! — für mich. So er-zeugst D u i n m i r den Menschen. Ebenso sei es m i t unseren Taten und dem, was sich i n unseren Taten ausdrückt." Die Formel lautet nicht: „Ich b i n ein Mensch.
8.4 Produktion des Menschen durch den Menschen
333
Und wenn D u mich erst einmal an Dich 'ranläßt, werde ich es Dir auch schon noch beibringen." Jene erste Formel auch dort noch anzuwenden und den Menschen i m anderen auch dort noch entdecken und anzuerkennen, wo es schwerfällt, — das ist das ABC der Anerkennung des Menschen durch den Menschen, die die Produktion des anerkannten Menschen ist. Bei der Bilanzierung der sozialen Ereignisse, deren Gesamtstrom den gesellschaftlichen Menschen i n jedem Augenblicke neu ins Werk setzt, müssen die Taten von der Begleitmusik, muß die Praxis von Theorie geschieden werden. Seit der Religionskritik des jungen M a r x (und der des jungen Hegel) ist unsere Aufmerksamkeit dafür geschärft, die jeweils wirklichen Zustände und Taten von den Illusionen zu unterscheiden, deren die Zustände bedürfen 5 9 8 . So muß unterschieden werden zwischen den gegenwärtigen Rücksichtslosigkeiten einer Revolution und der menschlich-rücksichtsvollen Gesellschaft, der sie dient. „ W i e m a n i m Privatleben unterscheidet zwischen dem, was ein Mensch v o n sich meint u n d sagt, u n d dem, was er w i r k l i c h ist u n d tut, so muß man noch mehr i n geschichtlichen Kämpfen die Phrasen u n d Einbildungen der Parteien von i h r e m w i r k l i c h e n Organismus u n d ihren w i r k l i c h e n Interessen, ihre Vorstellungen von ihrer Realität unterscheiden 5 9 9 ."
I n der Gesamtbilanz des gesellschaftlichen Menschen gehen die gegenwärtigen Zustände und Taten als das ein, was sie sind. Alles andere und zwar auch zukünftige Menschlichkeit, geht i n diese Bilanz nur ein als blasse, ideelle Schönheit, die — vielleicht — einmal sein wird. Je weniger i n den gegenwärtigen reaktionären oder revolutionären Taten der lebendigen und leibhaftigen Subjekte der Mensch als Subjekt, als der wirkliche, gegenwärtige Mensch geachtet und anerkannt wird, desto geachteter und anerkannter muß der abstrakte Mensch, der nicht von dieser Zeit oder nicht von diesem Ort ist, i n der objektiven Theorie sein. N u r so kann i n der großen Bilanz und i n den vielen kleinen Bilanzen eines jeden der Schein gewahrt werden. Und nur so gelingt es dem religiösen oder profanen Ideologen, das Antlitz des lebendigen Menschen, das von den gegenwärtigen Taten entstellt wird, i n die objektiven „Notwendigkeiten" der Theorie zu verhüllen. „Er muß durch die Theorie rechtfertigen, was er i n der Praxis ist 6 0 0 ." „Die O b j e k t i v i t ä t des a b s t r a k t e n M e n s c h e n ist m i t der Verdorbenheit u n d Sklaverei der Menschen i n gleichem Schritte gegangen, u n d jene ist eigentlich n u r eine Offenbarung, n u r eine Erscheinung dieses Geistes der Zeiten . . . I n einer solchen Periode mußte der a b s t r a k t e Mensch 598
M E W 1 S. 379 = Landshut S. 208. M E W 8 S. 139. eoo Marx an Annenkow a.a.O. S. 462.
599
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8. K a p i t e l : Bewußtseinsverfassung u n d Gesellschaftsverfassung
v ö l l i g aufgehört haben, etwas Subjektives zu sein, sondern ganz zum Objekt geworden sein; u n d jede Verkehrtheit der moralischen M a x i m e n w a r d dann ganz leicht u n d konsequent durch die Theorie gerechtfertigt . . . Dies ist das System jeder Kirche, u n d n u r darüber verfolgen sie verschiedene Maximen, w e r der Richter, Strafer des Verbrechens sein soll." (Hegel 6 0 1 . Wo i m Original „ G o t t h e i t " steht, w u r d e hier „abstrakter Mensch" gesetzt u n d durch Sperr u n g gekennzeichnet.) „ U n d zwar ist der a b s t r a k t e M e n s c h das Selbstverständnis des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. A b e r der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der W e l t o d e r i n e i n e r f e r n e n Z u k u n f t hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die W e l t a n s c h a u u n g , ein verkehrtes Weltbewußtsein, w e i l sie eine verkehrte Welt sind. Die W e l t a n s c h a u u n g ist die allgemeine Theorie der Welt, i h r enzyklopädisches Kompendium, ihre L o g i k i n populärer Form, i h r spiritualistischer Point-d'honneur, i h r Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, i h r allgemeiner Trostu n d Rechtfertigungsgrund." ( M a r x 6 0 2 . Wo i m Original „Religion" steht, w u r d e auch hier der allgemeinere Ausdruck eingesetzt u n d eine weitere H i n z u f ü gung durch Sperrung gekennzeichnet.) M a r x h i e l t seine Z e i t f ü r eine v e r k e h r t e W e l t . D a r i n g e d i e h e n f ü r i h n R e l i g i o n u n d S t a a t so p r ä c h t i g , w e i l eine v e r k e h r t e W e l t e i n v e r k e h r t e s W e l t b e w u ß t s e i n u n d eine v e r k e h r t e A n s c h a u u n g d e r W e l t h e r v o r b r i n g e n . — M a r x w a r a b e r selbst e i n K i n d dieser v e r k e h r t e n W e l t , d i e V e r k e h r t h e i t e n p r o d u z i e r t e . W e n n M a r x m i t seinem M a t e r i a l i s m u s recht hat, — m ü s s e n d a n n n i c h t das W e l t b e w u ß t s e i n u n d d i e W e l t a n schauung v o n M a r x verkehrt sein? O d e r w i e e r k l ä r t es sich, daß d i e v e r k e h r t e W e l t a u f e i n m a l i n M a r x kein v e r k e h r t e s B e w u ß t s e i n m e h r p r o d u z i e r t , s o n d e r n das richtige? E i n K r i t i k e r z.B., der viele einzelne Gedanken dieser Schrift zusammenfaßte, könnte versuchen, mit M a r x die Verkehrtheit der Weltanschauung von M a r x w i e folgt plausibel zu machen: M a r x sieht („definiert") die Situation seiner Zeit i m Großen so, daß einem „völligen Verlust des M e n schen" i n der Gegenwart die Aussicht auf die ebenso „völlige Wiedergewinnung des Menschen i n der Z u k u n f t " gegenübergestellt w i r d 6 0 3 . Diese Definit i o n der Situation leistet zweierlei: Erstens die E r k l ä r u n g des religiösen Überbaues. Zweitens die Produktion eines revolutionären Überbaues. I m Zuge der K r i t i k am religiösen Überbau w i r d der Mensch aus dem H i m m e l auf die Erde heruntergeholt. Dort ist jedoch theoretisch kein Platz f ü r i h n ; denn die Gegenwart ist schon als menschenleer, nämlich als eine Welt definiert, i n der n u r noch der völlige Verlust des Menschen wahrgenommen w i r d . Also muß der Mensch, eben erst auf die Erde herunter repatriiert, 601
Hegel bei Nohl S. 227 f. = Werke 1, 211 f. M E W 1 S. 378 = Landshut S. 208. Vgl. zum Fernblick auf die abstrakte Gesamtgesellschaft u n d ihre Z u k u n f t die Beobachtungen des psychologischen Diagnostikers Horst E. Richter, Lernziel Solidarität, Reinbek bei H a m b u r g 1974, S. 251 - 253, 267. 603 S. 389 f. ( = S. 223). 602
8.4 Produktion des Menschen durch den M e n s e n
335
sogleich wieder i n die Z u k u n f t evakuiert werden. Der Gott der Religion rechtfertigt die Leiden u n d Opfer der w i r k l i c h e n Menschen vor der Revolution. Der Mensch der Z u k u n f t rechtfertigt die zusätzlichen Leiden u n d zusätzlichen Opfer der w i r k l i c h e n Menschen während u n d nach der Revolution. Dabei w i r d nicht einmal bedacht, daß der alte Gott selbst einmal ein Gott der Revolution w a r : eine Notstandsverfassung des Bewußtseins, die als Gespenst noch nach Tausenden von Jahren durch die Hirnzellen spukt u n d nach Notlagen dürstet, u m i n einer modernisierten u n d säkularisierten Gestalt i n sie hineinzufahren. Doch mag die A b k u n f t des alten Gottes u n d seine Sehnsucht nach W i r k l i c h k e i t dahingestellt bleiben, denn die Gegenwart steht auf dem Plan. Wenn es richtig ist, daß der Gott der Religion einschläferndes Opium w a r f ü r das Volk, dann ist der Zukunftsmensch der Revolut i o n das aufpeitschende Doping f ü r das Volk. Beides sind ideologische Rauschmittel, welche die Menschen süchtig machen danach, weniger ein konkreter Mensch f ü r konkrete Menschen u n d mehr ein menschliches W e r k zeug zum abstrakten Menschen zu sein. Das O p i u m b e w i r k t , daß die M e n schen m i t einem Menschengespenst von gestern, das Doping, daß die M e n schen m i t einem Menschgespenst von morgen i m Kopfe die lebendigen Menschen von heute nicht als solche erkennen. A u f den Namen des Gespenstes k o m m t es nicht an, sondern auf die Wirkung. Beide sind, was eine rücksichtslose Praxis braucht: Die allgemeine Theorie dieser Revolution ist n u r die unheilige Wiedergeburt der heiligen Theorie u n d Praxis der Religion. Also ist es „die Aufgabe der Philosophie, die i m Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung i n i h r e n unheiligen Gestalten zu entlarven"® 04 . Auch verwandelt sich nicht nur die K r i t i k des Himmels i n die der Erde, die der Religion i n die des Rechts u n d die der Theologie i n die der Politik, sondern es verwandelt sich auch die K r i t i k des Gottes der Religion i n die K r i t i k des Ich-werde-sein-Menschen der Revolution. M a r x u n d andere „haben den Menschen herstellen w o l l e n u n d den wirklichen ignoriert . . . Sie alle glaubten noch w i e die Pfaffen der Französischen Revol u t i o n an die Wahrheit des Menschen u n d handelten daher nach dem Grundsatz, den Menschen die Köpfe abzuscheiden, u m dem Menschen zu dien e n " 6 0 5 . Solche K r i t i k aber übersieht, daß M a r x sehr w o h l die gegenwärtigen Menschen gesehen u n d m i t ihnen gelitten hat. Die weltanschauliche E x t r a polation u n d Verallgemeinerung der Marxschen Religionskritik zur Ideolog i e k r i t i k u n d ihre U m k e h r u n g gegen M a r x selbst f ü h r t wiederum als bloße K r i t i k der K r i t i k (in Druckerschwärze oder Blei) nicht v o m Fleck. N u r so v i e l ist sicher (und letztlich banal): Weder die Welt w a r ganz verkehrt, noch w a r es die heilige Situationsdefinition der Religion noch w a r es die u n heilige Situationsdefinition der Revolution. Die Wahrheit f ü r Theorie u n d Praxis residiert nicht i n solcherlei Radikalen u n d Extremen. Sie w i r d durch Definition der Situation als einer extremen Situation nicht konkretisiert, sondern verabstrahiert; nicht bewußt gemacht, sondern verdrängt; nicht enthüllt, sondern v e r h ü l l t ; nicht entideologisiert, sondern verideologisiert. Die extreme Situation, die durch zugespitzte Definition der Situation überwunden werden soll, w i r d womöglich auf dem Wege über die auf sie zugeschnittene Praxis i n unerwarteter Gestalt erst richtig erzeugt: Die r a d i kale Definition radikalisiert die A n t w o r t auf die Situation. Die radikalisierte A n t w o r t auf die Situation erzeugt eine neue radikale Situation. Diese neue 604 605
a.a.O. Löwith,
V o n Hegel zu Nietzsche, 2. A u f l . 1950/1964, S. 344.
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8 K a p i t e l : Bewußtseinsverfassung u n d Gesellschaftsverfassung
radikale Situation ist das K i n d aus der Vergewaltigung der ursprünglichen, selbst schon „verkehrten" Situation durch den Radikalismus. Bei dieser seiner sozialen A b k u n f t hat das K i n d es nicht leicht, zu der Ausgeglichenheit zu finden, die schon seinen E l t e r n fehlte. Was gegenüber einer radikalisierenden Definition der Situation, die i n die Abstraktion führt, eine menschlichere Betrachtung ist, die zum wahren, w e i l w i r k l i c h e n Menschen hinführt, hat Hegel i n seinem Aufsatz „Wer denkt abstrakt?" m i t prächtigen u n d von Lebenserfahrungen strotzenden Beispielen zu erläutern versucht, von denen hier das aufschlußreichste als Modell auch f ü r Hegels philosophische H a l t u n g gegenüber „dem Menschen" angef ü h r t sei: „Es w i r d also ein Mörder zur Richtstätte geführt. Dem gemeinen Volke ist er nichts weiter als ein Mörder. Damen machen vielleicht die Bemerkung, daß er ein kräftiger, schöner, interessanter M a n n ist. Jenes V o l k findet die Bemerkung entsetzlich: was, ein Mörder schön? w i e k a n n m a n so schlecht denkend sein u n d einen Mörder schön nennen; i h r seid auch w o h l etwas nicht v i e l Besseres! Dies ist die Sitten Verderbnis, die unter vornehmen Leuten herrscht, setzt vielleicht der Priester hinzu, der den G r u n d der Dinge u n d die Herzen kennt. E i n Menschenkenner (jedoch) sucht den Gang auf, den die B i l d u n g des Verbrechens genommen, findet i n seiner Geschichte, i n seiner Erziehung schlechte Familienverhältnisse des Vaters u n d der Mutter, irgend eine u n geheure Härte bei einem leichteren Vergehen dieses Menschen, die i h n gegen die bürgerliche Ordnung erbitterte, eine erste R ü c k w i r k u n g dagegen, die i h n daraus vertrieb u n d es i h m jetzt n u r durch Verbrechen sich zu erhalten möglich machte. — Es k a n n w o h l Leute geben, die, w e n n sie solches hören, sagen werden: der w i l l diesen Mörder entschuldigen!... Das heißt abstrakt gedacht, i n dem Mörder nichts als dies Abstrakte, daß er ein Mörder ist, zu sehen u n d durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an i h m (zu) vertilgen 6 0 8 ." (Hervorhebung v o n mir.) W i r d die L a g e e x t r e m e r d e f i n i e r t , als sie ist, so b e g i n n t alles, w a s sich a n dieser D e f i n i t i o n o r i e n t i e r t u n d w a s a n P r a x i s d a r a u f a u f b a u t , m i t ideologischem B e t r u g u n d m i t d e r G e w ö h n u n g d e r Gefolgschaft a n d e r l e i falsch-Sagerei. Solche M e t h o d e n d e r s o z i a l - p o l i t i s c h e n E x t r e m b e t u n g s i n d alles a n d e r e als r a d i k a l . D e n n r a d i k a l ist, w a s a n d i e W u r z e l geht. A b e r v o n D e f i n i t i o n e n , d i e e x t r e m e r s i n d als d i e S i t u a t i o nen, k a n n m a n n u r sagen, i h r e Radikalität erschöpfe sich i n i h r e r extremen Oberflächlichkeit. D i e W e l t i s t noch n i e so v e r k e h r t gewesen, daß n i c h t noch t a u s e n d fach soziale Ereignisse i n i h r v o r g e k o m m e n w ä r e n , i n d e n e n M e n s c h e n e i n a n d e r als M e n s c h e n a n e r k a n n t h ä t t e n . Es s i n d auch diese n i e ganz v e r s i e g e n d e n menschlichen Ereignisse, aus d e n e n M e n s c h e n w i e M a r x das B i l d a b s t r a h i e r e n , das i h n e n v o r s c h w e b t , w e n n sie i m V e r g l e i c h e d a m i t d i e bestehende W e l t als v e r k e h r t begreifen. W e n n a b e r d i e W e l t v o r b e h a l t l o s als v e r k e h r t e W e l t definiert w i r d , w e r d e n diese k l e i n e r e n 608
Glockner 20, 553 = Werke 20, 331.
8.4 Produktion des Menschen durch den Menschen
337
oder größeren Oasen der anerkennenden und anerkannten Menschlichkeit aus ihr hinwegdetiniert. Was so i n der Theorie wegdefiniert wird, darauf kann die Praxis dann auch nicht mehr allzu viel Rücksicht nehmen; es ist für sie ja wegdefiniert. Wo nichts mehr zu verlieren und nur noch alles zu gewinnen ist, spielt es keine Rolle, wie viel von dem „Nichts" geopfert wird. So schleicht sich schon auf dem Wege über die Definition der Situation, m i t der die Theoriebildung beginnt, unbemerkt der abstrakte Mensch ein, den die Theorie selbst bekämpft. Weil sie i h n von Anfang an an sich hat, bekommt sie i h n allerdings nur zu sehen, wenn sie wagt, i n den Spiegel zu schauen: — wenn sie also ihre ideologiekritischen Waffen an sich selbst erprobt, indem sie i n den einschlägigen Sätzen die Vokabeln austauscht und aktualisiert. Sie kommt vom abstrakten Menschen so lange nicht los, wie sie nicht den definitorischen Grund verläßt, auf dem sie steht. Dieser Grund trägt nur abstrakte Gebäude, denn er hat selbst etwas von einem fliegenden Teppich, der aus leuchtfarbigen ideologischen Abstraktionen gewebt ist und über der Wirklichkeit schwebt, die er verdeckt. Wer solche A r t Ideologie nicht aufgibt, der gibt die Theologie nicht auf. Was auf dem Wege über die Definition der Situation an Abstraktionen i n die Theorie einfließt, das kommt an Abstraktionen i n der Praxis wieder aus i h r heraus: „Abstraktionen i n der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören 607 ." Abstraktionen gegenüber Menschen geltend machen, heißt Menschen zerstören. Das „Nichts" also, das durch den „völligen Verlust des Menschen" gekennzeichnet wird, das sind — die wahren, w e i l leiblichen und w i r k lichen Menschen: Menschen, die Menschen auch dann bleiben, wenn sie einander entfremdet sein mögen und wenn sie dem Menschenideal nicht entsprechen, das dem prometheischen Menschenmacher vorschwebt. Die Wahrheit des Diesseits sind diese gegenwärtigen Menschen, die Anspruch darauf haben, nicht wegdefiniert, sondern anerkannt und geachtet zu werden. „Der häßlichste Mensch, der Verbrecher, ein Kranker und Krüppel ist immer noch ein lebender Mensch; das A f f i r mative, das Leben, besteht trotz des Mangels, und u m dies Affirmative ist es hier zu tun." Das sagt Hegel 6 0 8 , den M a r x Diesseitigkeit lehren zu müssen glaubte. „Es ist" — schrieb M a r x — „die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren" 6 0 0 . Das Jenseits der Wahrheit war ein phantasie807 808
403 f. 809
Hegel, Glockner 19, 553 = Werke 20, 231. Zusatz zu § 258 der Rechtsphilosophie. Glockner M E W 1 S. 379 = Landshut
22 Suhr
S. 208.
7, 336 = Werke 7,
Kapitel ewutseinsverfassng und Gesellschaftsverfassung f i c h e s Jenseits des Ortes und der Zeit. Also ist das Diesseits der Wahrheit ein Diesseits des Ortes und der Zeit: das Hier und Jetzt des Menschen. — Das Hier und Jetzt des Menschen b i n zu allererst ich selbst m i t meinem Nächsten: Meine Anerkennung oder meine Mißachtung des anderen konkreten Menschen als eines Menschen. Es stünde m i r daher schlecht ins Gesicht, für die Wahrheit des Diesseits zu streiten und sogleich einen weltanschaulichen Wechsel auszustellen, der auf einen Menschen lautet, welcher nicht von dieser Zeit ist: Einen Wechsel, den ich nicht etwa unterschriebe, u m selbst zu leisten, worauf ich i h n ausstellte, sondern ein Wechsel, dessen Schuld an wechselseitiger Menschlichkeit erst die anderen eines Tages begleichen mögen, indem sie einander als Menschen anerkennen. Ich hingegen gäbe meinen Wechsel schon heute i n Zahlung, u m m i t dem gegenwärtigen Erlös mich noch einmal freizukaufen von der Lästigkeit, beim Menschenmachen schon heute meine Mitindividuen als mehr einzuplanen denn als Material und Werkzeug. Ich drückte mich vor der Wahrheit des Hier und Jetzt, das ich m i t meiner Theorie doch etablieren möchte, und ich stiftete andere zur gleichen Drückebergerei an: nämlich meinem Beispiel massenhaft zu folgen, Wechsel auf die Zukunft zu verkaufen und sich so den Spielraum zu erkaufen für ihre Bequemlichkeit oder Lust, die gegenwärtigen Menschen noch eine Weile verachten zu dürfen. Dabei betriebe ich eine famose Wechselreiterei zu Lasten der gegenwärtigen Menschlichkeit, — ich, der ich scheinheilig genug wäre, meine Konkurrenz von der Religion zu denunzieren, die das gleiche Geschäft seit vielen Jahren und nach wie vor m i t Schecks betriebe, welche i m Jenseits eingelöst werden. Für uns beide würde gelten, was M a r x gesagt hat: „ E r w i r d ζ. B. Schulden auf seine Einbildung machen, sie w i r d wirken, wie die ganze Menschheit Schulden auf ihre Götter gemacht h a t . . .®10."
Es ist ein einfaches Verfahren, wie hier die Marxsche Religionsk r i t i k nochmals als Weltanschauungskritik gegen Teilaspekte des Marxismus zu kehren. Und es bereitet einige Lust, wie eben noch einmal i m Zuge einer hypothetischen Selbstbezichtigung und Selbstkritik für den Leser i n einer Rolle zu erscheinen, i n der die Religion scheinbar endgültig, nämlich bis i n ihre modernste unheilige Gestalt als Revolutionstheorie „entlarvt" wird. Und doch führt jeder dieser ideologiekritischen Schritte immer nur einen Schritt weiter auf dem gleichen verfänglichen Weg i n den Selbstbetrug. Rein äußerlich verrät sich dieser Mangel schon an der Lust, die die K r i t i k bereitet, an der Eitelkeit, die aus i h r spricht, und an der Überheblichkeit des strafrichterlichen • 1 0 M E W E B I S. 371 (Vgl. dazu oben als kognitiv-praktischen Theoriekontext K a p i t e l 6.2, insbesondere bei A n m . 494.)
8.4 Produktion des Menschen durch den Menschen
339
Tonfalls, der die Bilder („religiöser Scheckbetrug") und den Ausdruck bestimmt: So, als hätte M a r x und als hätten viele andere Menschen vor und nach i h m es nicht ernsthaft und aufrichtig gemeint m i t alledem, wofür sie gekämpft haben, und als sei I C H der erste . . . Was bei dieser K r i t i k und bei meiner scheinheiligen (oder scheinmenschlichen) Selbstentlarvung nicht einmal bis an die Schwelle des Bewußtseins kommt, sondern durch sie verdrängt wird, ist — die Wahrheit des Hier und Jetzt. Die Wahrheit des Hier und Jetzt ist, daß jedes bewußte und etwas langfristigere soziale Handeln auf „Wechseln" beruht, die auf die Zukunft gezogen werden, und i n der Gegenwart die gegenwärtigen Menschen auch als Objekte trifft. Der Mensch war, ist und bleibt für den Menschen Subjekt und Objekt, Bewußtsein und Körper, Wille und Sache. Der Wille greift über die Gegenwart hinaus. Auch Marx wußte, daß der Mensch auch des Menschen Gegenstand ist und bleiben wird. Alle Seiten der gegenwärtigen und zukünftigen Menschen wollen theoretisch und praktisch erkannt und anerkannt werden. Was theoretisch verdrängt wird, darauf t r i f f t die Praxis unvorbereitet; oder sie hat es an sich, ohne sich dessen richtig bewußt zu sein, wie man die schon erwähnte Brille nicht sieht, durch die man hindurchsieht, w e i l man sie aufhat. Die Menschen, die theoretisch die objektive oder die subjektive Seite des Menschen wegdefinieren oder sonst verdrängen, können i n der Praxis der von ihnen verhüllten Seite des Lebens nicht zu ihrem Recht verhelfen, bevor das Leben sich sein Recht holt. Noch weniger können die äußeren Härten, die damit verbunden sind, subjektiv und inwendig gemildert werden, indem sie als erkannte Notwendigkeit schon i n die zweite Natur des Menschen, i n sein Bewußtsein, hineinorganisiert werden. Die Religionskritik hat erst dann ihr Ziel erreicht, wenn die Religion nicht nur als verkehrtes Produkt einer verkehrten Welt „entlarvt" wird, sondern wenn die Religionskritik auch das Wahre und Harte zu erfassen vermag, das in der Religion enthalten ist, wie es i n der Wirklichkeit enthalten ist. Dabei müssen beide, die Religion und die Religionskritik, über ihren eigenen Schatten springen, indem sie sich die Stärke des jeweils anderen zur eigenen Stärke machen. Die Religion läßt sich nur aufheben, indem sie i m dreifachen dialektischen Sinne dieses Wortes autgehoben wird. Dabei geschieht es, daß Religion und Religionskritik einander näher kommen, indem sie von ihrem entgegengesetzten Dasein ablassen. I h r Kampf gegen den anderen verwandelt sich i n eine Arbeit mit dem anderen an sich selbst. Dabei kann es schließlich geschehen, daß sie einander nicht nur theoretisch näher kommen, sondern auch i m Leben, — daß m i t den Scheide22*
340
. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
wänden i m Bewußtsein auch die Scheidewände i m Leben sich zurückbilden, — daß die Menschen sich etwas häufiger füreinander auf- und etwas seltener u m irgendwelcher Abstraktionen willen gegeneinander verschließen. Und was für die Weltanschauungen gilt, die der Religion den Platz streitig machen, g i l t auch für die Weltanschauungen, die einander den Platz streitig machen.
8.5 Traditionelle Begriffe im Lichte der dialektischen Verfassungstheorie 8.51 Allgemeinwille Das siebte Kapitel endete m i t der Frage, wie Einzelwille und A l l gemeinwille i n eine plausible Einheit gebracht werden könnten. Auch schon sehr viel früher, beim jungen Hegel, war diese Frage aufgetaucht 6 1 1 , als es hieß: „Hat der Mensch selbst Willen, so steht er i n einem ganz anderen Verhältnis zu Gott als der bloß passive; zwei unabhängige Willen, zwei Substanzen gibt es nicht; Gott und der Mensch müssen also eins sein." A n diese Feststellung schloß sich sogleich die Frage an: Wie kann dieser Wille Gottes, nachdem er i n die Welt zurückdefiniert und als Wille des Menschen enthüllt worden ist, nunmehr theoretisch und praktisch unter die vielen Menschen verteilt werden? Das Modell der internen und externen Repräsentanten hat es inzwischen ermöglicht, Zusammenhänge zwischen Einzelnem und Gesellschaft zu modellieren, die als A n t w o r t auf die Frage nach der Einheit von Einzelwille und Allgemeinwille interpretiert werden können: I n diesem Modell ist das Einzelbewußtsein nichts anderes als intern repräsentierte Gesellschaft, — wobei allerdings Vereinfachungen, Verzerrungen, Phasenverschiebungen und Verkehrungen auftreten, die die Kongruenz bzw. Konsonanz zwischen realer Gesellschaft draußen und ideeller Gesellschaft i m Innern verhindern. I m Hinblick auf den „Allgemeinwillen" sind zwar sämtliche Varianten des Modells aufschlußreich, nämlich insofern, wie sie ζ. B. auch eine „allgemeine" Freund-Feind-Situation intern als einen „Allgemeinw i l l e n " zu simulieren gestatten, welcher i n seiner Verkehrtheit der verkehrten Situation entspricht. Eine unter den verschiedenen Formen der Repräsentation jedoch, nämlich die aufrechte, gestattete es, Leistungen des Bewußtseins zu modellieren, die bevorzugt als „Allgemeinbewußtsein" oder „Allgemeinwille" angesprochen werden können. Denn bei der aufrechten Repräsentation w i r d die Welt i m Innern re611
Oben bei A n m . 65.
8.51 Allgemeinwille
341
p r ä s e n t i e r t , w i e sie d r a u ß e n i s t : Ohne V e r k e h r u n g e n , also w a h r h e i t s g e t r e u ( s o w e i t v o n „ w a h r h e i t s g e t r e u " d i e Rede sein k a n n , w e n n i n einem K o p f eine W e l t r e p r ä s e n t i e r t w i r d , d i e u n t e r a n d e r e m m e h r e r e M i l l i a r d e n K ö p f e e n t h ä l t ) . U n d z w a r w u r d e d i e A u ß e n w e l t so i m Menschen r e p r ä s e n t i e r t , daß sie als I n n e n w e l t subjektiv als I c h e r f a h r e n u n d e r l e b t w i r d : Das reale I c h als i d e e l l i n k u b i e r t e A l l g e m e i n h e i t , — also d e r w i r k l i c h e W i l l e dieses I c h als w i r k l i c h e r A l l g e m e i n w i l l e , w i e er aus d e r i d e e l l e n I n k u b a t i o n h e r v o r g e h t . Z w a r k o m m t es (gerade auch i m Z u g e e i n e r aufrechten Repräsent a t i o n ) v o r , daß i m I n n e r e n S t i m m u n g e n e r z e u g t w e r d e n , d i e v o n d e n e n i n d e n a n d e r e n Menschen abweichen. A b e r gerade d a r i n l i e g t eine S t ä r k e des M o d e l l s , w e i l es solche P h a s e n v e r s c h i e b u n g e n u n d V e r ä n d e r u n g e n z u e r k l ä r e n v e r m a g , — ζ. B . die P r o d u k t i o n eines „besseren I c h s " 6 1 2 d e r Gemeinschaft i m K o p f eines i h r e r M i t g l i e d e r : M a n erinnere sich ζ. B. an den Fall, von dem schon die Rede w a r : M i t t e n i n einer i n Freund u n d Feind gespaltenen Gesellschaft t r i t t einer auf, der beide Parteien i n sich aufrecht repräsentiert (oben 8.26). Während die Parteien, die einander invers repräsentieren, psychische Lust aus i h r e m K a m p f beziehen, auch w e n n er körperliche Leiden produziert, vermag der Dritte, der sie aufrecht i n sich repräsentiert, i n ihrem T u n nichts als einen Leerlauf des W a h n sinns zu sehen, der unsägliches Leiden bei denen produziert, bei welchen die Bewußtseinsverfassung nicht f ü r die Kompensation der seelischen u n d k ö r perlichen Schmerzen durch psychische Lust sorgt. Dieser D r i t t e „verkörpert" insofern das „bessere Ich" der Gesellschaft, als er unter der Zerrissenheit der Situation leidet u n d am ehesten trachtet, sie zu überwinden. Da er j e doch ein Außenseiter unter seinen Mitmenschen ist, obwohl oder gerade w e i l er i h r „besseres Ich" verkörpert, sind die Chancen gering, daß seine Bewußtseinsverfassung zum Kristallisationspunkt w i r d , dessen innere S t r u k t u r entsprechende Formen i n anderen anspricht u n d fördert. V i e l einfacher dürfte es sein, Freund-Feind-Einstellungen wachzukitzeln, als i n einer Freund-Feind-Situation Verbundenheit innerlich zu verfassen, die nicht bloß aus Solidarität i n der Feindschaft besteht. Ganz ähnlich k a n n es i n einer Gesellschaft, die innerlich w i e äußerlich von verdinglichten Repräsentanten beherrscht w i r d (oben 8.25), einzelne geben, die unter der entfesselten Herrschaft der Sachen über die Menschen leiden, während die übrigen, die nicht neben, sondern i n dieser Sucht stehen, nicht begreifen können, w o v o n jene einzelnen reden, u n d sich gegen Veränderungen m i t der Hartnäckigkeit eines Süchtigen zur Wehr setzen, dem m a n seine Zigaretten oder sein M o r p h i u m vorenthält. I n diesem B e i spiel ist das Empfinden u n d der empirische W i l l e der meisten k e i n A l l g e meinempfinden u n d k e i n Allgemeinwillen, sondern eher ein allgemeiner Starrsinn, während der außenseiterische einzelne ein Allgemeinempfinden u n d einen wahrhaftigeren A l l g e m e i n w i l l e n verkörpert, den er freilich n u r i n sich, nicht aber draußen „als einen lebendigen" W i l l e n vorfindet. I m m e r h i n k a n n solches Einzelbewußtsein sich vielleicht als ein Brückenkopf der Allgemeinheit i m Reiche der Verdinglichungen erweisen oder als Orientie812
Herbert
Krüger,
Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964, § 18, S. 240 ff.
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8. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
rungspunkt, w e n n die Erfahrung u m sich greift, w i e leer u n d ausgelaugt die Sucht nach Sachen die Menschen zurückläßt, — die Menschen, die Befriedigung suchen und, statt Befriedigung zu finden, der Friedlosigkeit anheimfallen. —
Schließlich fordert das Modell der internen und externen Repräsentanten dazu heraus, Stellung zu beziehen und Farbe zu bekennen: Welche der verschiedenen Bewußtseinsverfassungen wünsche ich m i r als diejenige, die nach Möglichkeit angenähert werden soll? Diese Frage und Entscheidung hat freilich nur dann Sinn, wenn es psychound sozialtechnische Möglichkeiten gibt, an der Verfassung des Bewußtseins zu arbeiten, u m dem Bewußtsein eine der verschiedenen Repräsentationsformen als vorherrschende Logik der internen Mitbestimmung aufzuerlegen. Die Erfahrungen m i t der politischen Propaganda und m i t der w i r t schaftlichen Werbung sprechen für sich. Die internen Verfassungen selbst bei erwachsenen Menschen sind noch zu einem guten Teil organisierbar: sei es i m Sinne einer Freund-Feind-Inversion, sei es i m Sinne einer Programmierung auf Konsumneurosen und Waschweißerzwänge. A u f die sonstigen Möglichkeiten der Psychologie und einschlägiger Disziplinen und auf die Grenzen, die durch vererbte Verhaltensmuster vorgegeben sind, braucht daher nicht eingegangen zu werden, u m klarzustellen: Die Frage nach der Option für eine der Repräsentationsformen ist jedenfalls nicht unpraktisch. Sie ist vielmehr technische Voraussetzung für weitere praktische Entscheidungen und Strategien. Wenn daher hier für die aufrechte Repräsentation optiert und diesem Fall i m Folgenden besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, so steht dahinter kein optimistisches Menschenbild, sondern die Erfahrung der teilweisen Manipulierbarkeit und Dressierbarkeit des Denk- und Erkenntnisapparates ebenso wie des Haushalts der Empfindungen und Antriebe. I n dem Modell der Repräsentanten kann die feinfühligste Mitmenschlichkeit m i t der gleichen modelltheoretischen Unterkühlung durchgespielt und erklärt werden wie die größten menschlichen Brutalitäten, wie man sie i m Tierreich vergeblich sucht. Diese modelltheoretische Distanz zu den verschiedenen Situationen und zu der politpsychologischen Logik dieser Situationen ist eher zynisch als optimistisch. I n der Option für die aufrechte Repräsentation steckt daher kein naiver Glaube an den guten Menschen, sondern allenfalls genug Lebenswillen, u m sich zum Trotzdem zu entschließen, sowie das Vertrauen, daß die Arbeit nicht notwendig nutzlos sein wird. Dieses Vertrauen ist selbst eine Kraft, welche die weitere Entwicklung mitbestimmt. Das zeigt sich, wenn es massenhaft fehlt oder wenn
8.52 Repräsentative Demokratie
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es massenhaft in Erscheinung tritt. Es ist daher nicht gleichgültig, ob jemand über ein solches Vertrauen lächelt und sich kraft seiner angeblich besseren Menschenkenntnis darüber erhaben dünkt, oder ob er sich selbst u m solches Vertrauen bemüht. Lächelt er nämlich darüber, so w i r b t er zugleich für Stimmungen, i n denen es fehlt, und diese Stimmungen sorgen dafür, daß es dann auch i n der Praxis ohne es zugeht. Bemüht er sich aber, so ist das so mühevoll, wie jenes herablassende Lächeln bequem ist. Bevor ein Mensch daher Menschenbilder erzeugt und verkündet oder belächelt und herabsetzt, sollte er sehr lange darüber nachdenken, wieviel Richtiges — bei allen Vorbehalten und Einschränkungen — i n dem schon zitierten Satz steckt: Wie w i r glauben, so geschieht uns 6 1 3 . 8.52 Repräsentative
Demokratie
Es liegt auf der Hand und braucht daher hier nicht weiter ausgeführt zu werden, daß die Theorie der Repräsentanten zusammen m i t der Option für die aufrechte Repräsentation Rechtfertigungsgründe für repräsentative Regierungsformen liefert und kritische Argumente gegen Formen, bei denen der gemeinsame Wille regelmäßig durch körperlich-gemeinsame Abstimmungen über Einzelfragen oder durch imperative Mandate produziert werden soll. Denn der Drang nach letzteren Formen ist Ausdruck dafür, daß die Vergesellschaftung der Handlungen noch nicht (oder nicht mehr) vermittels eines vergesellschafteten Bewußtseins vor sich gehen soll, sondern unmittelbar (vgl. oben 8.24). Andererseits setzt die Repräsentation von Menschen durch einen Repräsentanten voraus, daß diese Menschen i n i h m aufrecht repräsentiert sind. Fehlt es an dieser Voraussetzung, ist der Wunsch der Betroffenen nur zu verständlich und für den Augenblick sogar berechtigt, sich unmittelbar selbst zu präsentieren, u m ihren Willen unmittelbar geltend zu machen. Diese Erwägung zeigt, wie der Drang zum imperativen Mandat aus Mißachtung und Mißtrauen geboren w i r d . Dementsprechend ist die Ideologie des imperativen Mandats eine Objektivation dieser Mißachtung und dieses Mißtrauens. Sie trägt, wie oben schon angedeutet 614 , außerdem meist die Züge einer egozentrischen Bewußtseinsverfassung auf der Stirn. Als Verfassungsprinzip auf Dauer ist eine solche Konstitutionalisierung von Mißtrauen zu Verfahrensregeln kein guter Ansatz. W i l l man sie trotzdem für Übergangsperioden, hat man sie am Hals, und man übt m i t jeder Anwendung dieser politischen Kandare das Mißtrauen, das man überwinden möchte.
613 814
Oben A n m . 493. Oben K a p i t e l 8.24.
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8. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverf assung
Mißtraue ich den Menschen (traue ich also nur m i r selbst), so mißtraue ich selbstverständlich auch der freien Repräsentation. Denn die aufrechte Repräsentation i m und durch den Menschen ist organisiert nach der Logik des Vertrauens i n den anderen, das ich nicht habe. Herrscht i m Bewußtsein nicht die interne und herrscht i n der Gesellschaft nicht externe Repräsentation, so herrscht das Mißtrauen. Herrscht hingegen drinnen und draußen die aufrechte Repräsentation, so herrscht die soziale Logik oder Gramatik des Vertrauens (— freilich keines bedingungslosen und unrealistischen Vertrauens, sondern eines vorgeschossenen und kontrollierten, wie sich noch zeigen wird). Von dem Zusammenhang zwischen Vertrauen und Repräsentation wußten auch Hegel und Marx: Hegel: „Repräsentation gründet sich auf Zutrauen. Zutrauen aber ist etwas anderes, als ob ich als dieser meine Stimme abgebe . . . M a n hat Zutrauen zu einem Menschen, indem m a n seine Einsicht dafür ansieht, daß er meine Sache als seine Sache, nach bestem Wissen u n d Gewissen, behandeln w i r d 8 1 5 . "
Marx: „Bezeichnend ist, daß Hegel hier das Zutrauen als die Substanz der A b o r d nung bezeichnet, als das substantielle Verhältnis zwischen Abordnenden und Abgeordneten. Zutrauen ist ein persönliches Verhältnis 8 1 8 ." „Setze den Menschen als Menschen u n d sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so . . . kannst d u Vertrauen n u r gegen Vertrauen austauschen 6 1 7 ."
Man w i r d nicht annehmen können, daß M a r x i n der menschlichen Gesellschaft, i n die die Revolution hineinführt, das Mißtrauen institutionalisiert wissen w i l l , wenn er das Vertrauen als den Boden des m i t menschlichen Verkehrs ansieht. Die Verfassungsmaxime für die Bewußtseins· und Gesellschaftsverfassung auch i n der klassenlosen Gesellschaft wäre demnach die innere und äußere aufrechte Repräsentation. Wer sich nun die dialektischen Thesen dieser Arbeit gemerkt hat, möchte hier vielleicht einwenden: Diese Vertrauensseligkeit, welche aus dem Vertrauen i n die Repräsentation spreche und i h r zugrunde liege, sei ebenso unrealistisch wie undialektisch. Vor allem sei sie undialektisch, w e i l vom Wider-Spruch keine Rede mehr sei. Derjenige Mandatsträger dagegen, der sich imperativen Weisungen fügen und andernfalls gehen müsse, erfahre den Wider-Spruch, wie es die Dialekt i k vorschreibe. 615 β1β 617
Zusatz zu § 309 der Rechtsphilosophie. Glockner M E W 1 S. 329 = Landshut S. 146. M E W E B I S. 567 = Landshut S. 301.
7, 419 = Werke 7, 478.
8.52 Repräsentative Demokratie
345
Dieser Einwand t r i f f t zu, denn noch ist die Beschreibung der Repräsentation i n der Tat unvollkommen: Es fehlt genau dies, daß der Repräsentant wie die Repräsentierten zu seiner Zeit den Willen der anderen i n sich hereinlassen und für sich gelten lassen muß, und zwar nicht nur ideell, wie es bei der aufrechten Repräsentation ohnehin vorausgesetzt wird, sondern reell: indem sie einander wechselseitig verbindlich und wirklich-äußerlich Untertan sind. Dieser Zwang, sich dem wirklichen Willen der gegenwärtigen Menschen zu stellen, sichert, daß die innere Welt sich nicht zu weit von der wirklichen entfernt, sei es, w e i l i h r Träger sich i n eine Aufgabe verrennt, sei es aus Bequemlichkeit und Angst vor dem Verlust der Position, i n welcher der eigene Wille für die anderen, der W i l l e der anderen aber nie für den eigenen verbindlich ist. Der Repräsentierte muß das Tun des Repräsentanten hinnehmen, auch wenn es i h m einmal zuwiderläuft. Er hat den Willen des anderen, der seinen Aufgaben nachgeht, hereinzulassen und sich zu fügen. Ebenso hat sich der Repräsentant zu fügen, wenn er sich zur Wahl stellt und i h m verbindlich gesagt wird, daß er noch weiterhin oder eben nicht länger Repräsentant sein soll. Beim freien Mandat w i r d ein Vorschuß an Vertrauen gegeben, und es folgt die Rechenschaft über eigenverantwortliches Tun. Beim imperativen Mandat w i r d nur der Eigenwille oder Eigensinn verlängert (sei es auch der Eigenwille mehrerer, die ein imperatives Mandat erteilen). Das imperative Mandat ist die Übertragung des Prinzips „hire and fire" aus der ökonomischen Praxis des Privateigentums auf die politische Praxis der Repräsentation. Anstatt die Mängel, an denen man sich stößt, nach Möglichkeit an Ort und Stelle zu beheben, werden sie nachgeahmt, — so, als wolle man i n der Politik nachholen, wozu man als verhinderter Eigentümer keine Gelegenheit hatte: .mit seinen Vertretern umspringen wie ein Eigentümer. Da jedoch das Eigentum als legitimierende Verhüllung seine Überzeugungskraft einbüßt, braucht man den Schein einer fortschrittlicheren Legitimation für die nächste Zukunft: die Ideologie des imperativen Mandats. Dahinter steckt durchaus kein böser Wille, sondern nur die List des egozentrischen Bewußtseins, das seine Verhaltensweisen über die Zeit hinaus retten w i l l , i n der eine alte legitimierende Ideologie ihre K r a f t einbüßt. A u f diese List fällt das Bewußtsein selbst herein, ohne daß es bemerkt, was i n i h m vorgeht: Welcher Verfechter des imperativen Mandats erkennt schon an sich selbst die neue, verjüngte Inkarnation des Privateigentümers? Und welcher von ihnen w i r d zugeben, sich als solchen zu erkennen, wenn i h m der Spiegel der Ideologiekritik vorgehalten wird? Er w i r d sich selbst und den anderen viele Gründe angeben, die i n der
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8. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
Regel auf das Argument hinauslaufen, man müsse den Teufel m i t Beelzebub austreiben. Gut, — und wie w i r d man Beelzebub wieder los? Nicht nur die Ideologie des imperativen Mandats verdiente hier dialektische K r i t i k , sondern auch die gängigen Modellvorstellungen von Demokratie überhaupt. Sätze wie: „ A l l e Staatsgewalt geht vom Volke aus", schmeicheln dem Volk. Es w i r d i h m eingeredet, es herrsche selbst. Demokratie und Selbstherrschaft des Volkes werden leicht als gleichbedeutend gedacht. I n der Wirklichkeit erscheint die Selbstherrschaft aber ganz überwiegend als Fremdherrschaft von Menschen, die nur i m Namen des Volkes Herrschaft über die Menschen des Volkes ausüben. U m die Gewichte wieder ins Lot zu bringen, müßte es also auch heißen: Alle Staatsgewalt kehrt sich gegen das Volk zurück. Dies w i r d nicht i m Sinne einer K r i t i k angeführt, so als könne man eine Demokratie versprechen, i n der es anders zugeht, sondern u m die ganze Wirklichkeit richtiger zu erfassen. Erfaßt man sie nämlich falsch, — t r i t t man also m i t einem Demokratiemodell an die W i r k lichkeit heran, das mehr verspricht, als realisierbar ist, wächst die Wahrscheinlichkeit, daß am Ende weniger herauskommt, als möglich ist: einfach, w e i l dann bei der Einrichtung, beim Betrieb und bei der Entstörung des demokratischen Prozesses Leitvorstellungen mitwirken, die wirken können wie eine fälschlicherweise für richtig gehaltene Medizin auf den menschlichen Körper. Demokratie, als Selbstherrschaft gedacht, ist ohnehin eine undialektische Vorstellung. „Selbstherrschaft" setzt sich aus den gleichen Begriffselementen zusammen wie „Selbstbeherrschung", und doch ist der erste Begriff so unreflexiv wie der zweite reflexiv. Wieder ist die undialektische Vorstellung die schmeichelhaftere, w e i l sie nur die aktive Seite zeigt und die passive zurückdrängt. Die dialektische Vorstellung dagegen zeigt die unbequemere Wirklichkeit: den Zusammenhang zwischen A k t i v i t ä t und Passivität, zwischen Herrschaft und Selbstbeherrschung. Jeder möchte gerne herrschen, — wer aber drängt sich dazu, sich selbst zu beherrschen? Die Demokratie krankt m i t der Sucht zur Selbstherrschaft und geht an i h r zugrunde; m i t der Selbstbeherrschung aber gesundet sie. Wer Selbstbeherrschung als zweite Natur i n sich trägt, findet sich auch ohne große Widerstände damit ab, daß die Selbstbeherrschung einer Gemeinschaft als Fremdherrschaft erscheint und vermittelt wird. Denn wenn ein soziales Gebilde seine Selbstbeherrschung organisiert, werden draußen die Institutionen verfaßt, die i m Inneren eines selbstbeherrschten Menschen ohnehin schon angelegt und wirksam sind. So kommt es zum Zusammenklang von Innen und Außen (zur kognitiv-
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347
praktischen Konsonanz), und die Herrschaft, die von draußen kommt, w i r k t nur als koordinierender Katalysator für die Herrschaft, die von innen kommt. Sie w i r d nicht mehr als äußerliche Härte erfahren, w e i l ihr schon durch innere Härte des einzelnen gegen sich selbst der Weg gebahnt ist. Die Wahlgänge haben dann zwar immer noch die Funktion, die Repräsentanten reell erfahren zu lassen, daß der Wille derer, die sie sonst unter sich haben, auch über ihnen steht, wirken aiber nicht eigentlich als Herrschaft des Volkes über sich, sondern als Konsonanzkontrolle zwischen Repräsentierten und Repräsentanten. Demokratie ist demnach wechselseitiges Unterordnen der Repräsentanten unter die Repräsentierten und der Repräsentierten unter die Repräsentanten (in der Terminologie, die Bezug nimmt auf die Theorie der internen und externen Repräsentanten). Der K o n f l i k t u m die Macht w i r d i n einem zyklischen Nacheinander zeitlich gelöst. Die Macht, die nicht zur gleichen Zeit auf beiden Seiten sein kann, w i r d i n der Zeit verteilt, — eine Methode der Problemlösung, deren allgemeine Strukturen die Systemtheorie heute untersucht und k l ä r t 6 1 8 . Man könnte i m Gegensatz zu den Bezeichnungen, welche den jeweiligen Herrscher kennzeichnen (Aristokratie, Monarchie, Demokratie), daher von einer Zyklokratie 6 1 9 sprechen, u m die Struktur des Prozesses zu verdeutlichen. So gesehen, wären z.B. Revolutionen als Momente i n geschichtlichen Prozessen beschreibbar, die ihrerseits zyklokratische Züge tragen (unverfaßte Phase eines zyklokratischen Prozesses). Noch treffender, aber weniger vertraut und einprägsam wäre die Bezeichnung des dialektisch verfaßten gesellschaftlichen Prozesses als Dialaktokratie 6 2 0 . Dabei w i r d angeknüpft an das Verb διαλάττω (dialètto) bzw. διαλάςςω (dialâsso) m i t den Bedeutungen „verändern", „eintauschen für etwas anderes", „durchwandern", „jemandes Gesinnung ändern", „verschieden sein" und „unter sich eintauschen", „unter sich versöhnt werden", „sich versöhnen". Als terminus technicus i m militärischen 618
ζ. B. Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, B e r l i n 1965, S. 91 f. — Vgl. zu diesen Vorstellungen schon Hegel i m Naturrechtsaufsatz (Kreis von Wirkungen, perpetuum mobile, das freilich f ü r ein perpetuum quietum gehalten w i r d , Werke 2 S. 472 f.) u n d Carl Schmitt (oben A n m . 550), S. 14 f., wo unter Bezugnahme auf Bodin der Gedanke behandelt w i r d , daß bald das V o l k u n d bald der Fürst H e r r werden könne. eis Vorgeschlagen v o n Wilhelm Opfermann gelegentlich einer Teerunde. Seit Plato u n d vor allem Polybios gehören Zyklusvorstellungen zum p o l i t i schen Denken, — Zusammenstellung bei Eberhard Lang, Z u einer kybernetischen Staatslehre, Salzburg u. a., 1970, S. 109 -147. Hier geht es darum, den „Kreislauf der Verfassungen" theoretisch u n d technisch i n „verfaßten K r e i s läufen" einzufangen, — die urwüchsigen Istformen zu übersetzen i n verfaßte Sollformen. Z u r Kreisform als Sollform siehe meine Ansätze zur kybernetischen Betrachtung v o n Recht u n d Staat, i n : Der Staat 6 (1967) S. 197-219. 620 Vorgeschlagen von Michael Martinek, Teilnehmer eines Seminars.
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8. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
Bereich steht διαλάςςω insbesondere für „untereinander die Stellungen austauschen". — Bei einem solchen Übergang von der Kennzeichnung des Herrschaftssubjekts zum Herrschaftsverfahren kommt jedenfalls auch sehr gut der Übergang zum Ausdruck, der stattfindet, wenn von der Staatstheorie zur Verfassungstheorie, von Ganzheiten zu ihrer Organisation, von der Substanz zur Ontologik fortgeschritten wird. Demokratie (als Dialaktokratie) ist auch Anerkennung der Regierung durch das Volk und des Volkes durch die Regierung, als zyklisch verfaßter dialektischer Prozeß des Miteinander und Gegeneinander. Sie ist schließlich die Verfassungsform, bei der der Wider-Spruch des Volkes gegen die Regierung und der der Regierung gegen das Volk kraft Verfassung nicht ausgeschlossen, sondern vorgesehen ist. Denn Anerkennung zählt und zeugt nur, wenn die Verneinung reell werden kann. So ist die Demokratie ein Stück verfaßter Dialektik. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, wenn eine demokratische geschriebene Verfassung versagt, w e i l das Bewußtsein der Menschen noch unter anderen Verfassungen steht. Und dabei spielt es auch nur eine zweitrangige Rolle, daß die Demokratie als Staatsform und als verfaßte Dialektik eines Volkes und seiner Regierung nur einen Teil des gesellschaftlichen Ganzen erfaßt, der vervollständigt werden muß (und, wie alsbald noch angedeutet wird, auch als bloßer Sonderfall i n einem allgemeineren Modell untergebracht werden kann). W i r d m i t der These von der Unmöglichkeit einer unvermittelten Selbstherrschaft des Volkes aber nicht das, was wirklich ist, zum Maßstab dessen, was als Demokratie gesollt wird? W i r d nicht allen vorhergegangenen Ausführungen zum Trotz auf die Macht des Wortes verzichtet: auf die K r a f t der demokratischen Ideologie, die dem Volk zur unmittelbaren Selbstherrschaft verhilft, wenn es nur kräftig genug daran glaubt? — Allerdings w i r d das Wirkliche als Grenze dessen genommen, was möglich ist! Eine dialektische Wand bleibt eine Wand, und wer meint, sein Glaube helfe ihm, wenn er m i t dem Kopf hindurchw i l l , anstatt eine der vermittelnden Türen zu nehmen, w i r d es immer wieder schmerzhaft erfahren. — Allerdings kann auch auf die Ideologie von der Volksherrschaft, wenn sie inbrünstig genug geglaubt wird, Herrschaft gegründet werden! Diese Herrschaft ruht denn auch auf — der Ideologie. A u f Ideologie ruht es sich bequemer als auf der unsicheren Zustimmung der wahren, w e i l wirklichen, gegenwärtigen Menschen. Diese Zustimmung w i r d i n der Ideologie durch die Definition der herrschaftlichen Situation als Volksherrschaft ersetzt und fingiert. Dann freilich genügt der Glaube an die Definition, wonach die Herrschaft, welche ist, die gesollte Herrschaft, nämlich die des Volkes ist.
8.52 Repräsentative Demokratie
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Diese Fiktion der Volksherrschaft schließt natürlich nicht aus, daß jemand, der seine Herrschaft nicht auf die lebendige Zustimmung des Volkes, sondern auf das ideologische System und die Partei stützt, die das fortgeschrittene Bewußtsein hat und verwaltet, trotzdem die wahren Interessen der Menschen verfolgt. Nur t r i t t damit genau das ein, wovor Marx gewarnt hat: Die wahren Interessen der Gesellschaft werden wieder als Abstraktion den wirklichen Individuen gegenüber fixiert und zwischen die Individuen und diejenigen, die für sie gesellschaftlich handeln, schiebt sich der Schirm der Ideologie und der Partei: und zwar einer Ideologie, die gerade nicht befiehlt, auf die WiderSprüche der lebendigen Menschen zu hören, sondern die andere, welche die Zustimmung kraft Definition der Volksherrschaft fingiert und die diesen Schein sorgfältig pflegen muß. Nicht gelöst ist bei alledem insbesondere das Problem, daß auch eine als Konsonanzverfahren interpretierte und praktizierte Demokratie die Tendenz i n sich hat, daß sich der Prozeß auf einem mäßigen Niveau einpendelt, w e i l Außerordentliches als dissonant erlebt und herabnivelliert w i r d : Es besteht ein politpsychologisch wirkender Sog dahin, daß i n einer Gesellschaft mit bestimmten Verformungen i n den Bewußtseinsverfassungen der Mitglieder entsprechende Repräsentanten „nach oben" kommen, die i m Innern ebenso verformt sind wie ihre Wähler, die sich mit ihnen identifizieren. Denn so w i r d (jedenfalls auf kurze Sicht) der Bedarf nach Konsonanz zwischen Repräsentant und Repräsentierten am schnellsten befriedigt. Diese „Mängel" sind aber nicht Mängel der Demokratie oder gar des Modells, m i t dessen Hilfe sie hier diskutiert wird, sondern Schwierigkeiten, die i m sozial- und polit-psychologischen Gegenstand selbst begründet sind. Sie können nicht nur an der Demokratie, sondern noch besser an den anderen Erscheinungsformen von Macht und Herrschaft studiert und am Modell der Repräsentanten durchgespielt werden. Noch etwas zeichnet das allgemeine Modell der internen und externen Repräsentanten vor dem engeren Demokratiemodell aus: Es ist nicht zugeschnitten auf Volfcs-Herrschaft, auch nicht auf den Staat oder auf die repräsentative Demokratie, sondern auf den sozialen Prozeß der Gesellschaft überhaupt. Transformationsschwierigkeiten oder -hindernisse, wie sie bei Demokratisierung der Gesellschaft auftreten, entfallen. Jede zwischenmenschliche Situation, sei sie nun eine monolaterale Beziehung des Menschen zu sich selbst (Selbstbeherrschung), eine bilaterale zu jemanden anders (Ehe, Vertrag, usw.) oder eine der vielen verschiedenen multilateralen gesellschaftlichen Situationen (Familie, Betrieb, Gewerkschaft, Partei, Verein usw.): — jede kann unmittelbar i m Rahmen des Modells theoretisch und (im Sinne
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8. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
einer Option für die aufrechte tiert werden.
Repräsentation) sozialtechnisch disku-
Die Kategorien, welche das Modell der internen und externen Repräsentanten liefert, sind von vornherein so allgemein, daß rechtliche und außerrechtliche soziale Situationen erfaßt werden können, und sie sind so anpassungsfähig, daß m i t ihnen Situationen des ganzen Bereichs erörtert werden können, welcher (nach heutiger Definition der Fachgrenzen) vom Privatrecht über das Sozialrecht und das öffentliche Recht bis ins Völkerrecht und ins Recht der supranationalen Organisationen sich erstreckt. Auch für die Rechts- und Verfassungsgeschichte dürfte das Modell fruchtbare Hintergrundvorstellungen liefern. Diese Offenheit der Begriffe auch für Erscheinungen, die nicht innerhalb des Rasters der heutigen Staatsverfassungslehre liegen, verdient hervorgehoben zu werden, w e i l am Anfang dieser Untersuchung die Aufgabe gestellt wurde, ein verfassungstheoretisches Instrumentarium zu erarbeiten, das sich auch dann noch bewähren soll, wenn die Gesellschaft hier oder dort aus dem Alter hinauswachsen sollte, i n dem sie ihre Identität als Staat suchte und fand. 8.53 Gemeinschaft als soziales Subjekt Wenn oben davon die Rede war, daß „Ich" als ideelles W i r und „ W i r " als ideelles Ich aufgefaßt werden könne (8.27), so liegt es nun nahe, eine rechtliche Erscheinungsform dieses Ich-Wir-Zusammenhanges ins Auge zu fassen: die juristische Person. Der Gedanke an ein „ W i r " , hieß es oben, ist der ideelle (interne, symbolische) Kristallisationspunkt oder Katalysator, der aus einem zusammenhanglosen realen Haufen eine Gemeinschaft stiften kann. Bleibt es nicht nur bei dem flüchtigen Gedanken und seiner etwaigen Verwirklichung als Handlungszusammenhang, sondern w i r d der innere bzw. äußere Befund auch noch beschrieben, so führt das ebenfalls in die Äußerlichkeit, nun aber nicht i m Sinne der Umsetzung i n die Tat, sondern i m Sinne einer Objektivation des Gedankens selbst i m Medium des Bewußtseins: i n der Sprache. Die Betroffenen haben ihr W i r dann nicht nur i m Innern und nicht nur als Handlungszusammenhang zwischen sich, sondern sie haben es auch „schwarz auf weiß". Was sie sind, sind sie nun nicht nur i m Geiste und i m Fleische, sondern auch noch dem Buchstaben nach. Das geschriebene Wort ist dauerhafter und beweiskräftiger als das gesprochene Wort. Diese Festigkeit und Dauerhaftigkeit kann der Gemeinschaft zugutekommen: Das Geschriebene kann wiederholt gelesen und so immer wieder ins Subjektive zurückübertragen werden, u m
8.53 Gemeinschaft als soziales Subjekt
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dort den Zustand zu beleben oder wiederherzustellen, der bestand oder hervorgerufen werden sollte, als der Text geschrieben wurde. So ζ. B. gelangt eine gewachsene, eine Zweck- oder eine Zufallsgemeinschaft zu dem Wort, m i t dem sie ihren Zustand erfaßt. U n d durch den Entschluß, daß der Zustand i n der Form, wie er beschrieben ist, i n die Zukunft hinein andauern soll, w i r d dieser Zustand schriftlich ν erfaßt. Was die Gemeinschaft sich selbst erst als solche hat bewußt werden (oder überhaupt erst hat entstehen) lassen, war die ideelle Zusammenführung der Betroffenen unter dem Scheitel eines oder mehrerer von ihnen. Dort konstituierte diese ideelle Versammlung das Ich-Bewußtsein. Wenn man jetzt einmal den Unterschied zwischen „ideell" und „real" vernachlässigt und gleichzeitig die Strukturgleichheit zwischen „Innen" und „Außen" hervorhebt, läßt sich feststellen: Logisch betrachtet gibt es — bei aller Verschiedenheit der ontologischen Aggregatzustände — eine Strukturgleichheit von Innen und Außen, mögen dabei auch Phasenverschiebungen und Verkehrungen vorkommen. Wenn es aber richtig ist, daß die internen Repräsentanten der äußeren Welt ein „Subjekt" konstituieren, — dann scheint es nicht abwegig, auch von den Repräsentierten zu sagen, sie konstituierten ein Subjekt; denn es handelt sich u m Gebilde vom gleichen logischen Typus. Freilich unterscheiden sich die ontologischen Aggregatzustände der beiden „Subjekte": 1. I m leiblichen Subjekt ist die Vielheit nur ideell, die Einheit dieser Vielheit unter einem Scheitel jedoch ist real. 2. Draußen hingegen ist die Vielheit der Personen und Aktionen real, während die Einheit nur als ideelles Gemeinsames i n den Köpfen steckt. So verschieden diese „Aggregatzustände", so verwandt sind die logischen Strukturen. Beschreibt man die äußerlichen Handlungszusammenhänge, so beschreibt man mittelbar die internen, und umgekehrt. Indem sie beschrieben werden, kommt jedoch zur Innenverfassung und zur Außenverfassung noch etwas hinzu: Das geschriebene Protokoll. Man kann diese geschriebene Erscheinungsform des Innen und/oder Außen als dritten Aggregatzustand betrachten: als den der Sprache. Der ideelle interne Stoff, der die Einheit konstituiert, w i r d nun i n die äußerlich-objektive Form der Sprache gefaßt. Die Vielheit w i r d nun i n der Einzahl gedacht und geschrieben. I n dem Wort „ W i r " ist die Einheit der Vielheit nun auch äußerlich: Das ideelle „ W i r " ist an sich selbst real, — aber jetzt fehlt i h m als realem aber totem Buchstaben das Leben. U m zu leben, muß dieses Wort erst
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8. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
wieder wahrgenomen werden, — es muß übers Auge oder Ohr „ins Fleisch fahren", u m darinnen wieder ganz ins Subjektive umgesetzt zu werden, aus dem es durch Taten wieder i n den anderen, äußeren Aggregatzustand verwandelt werden kann. Vielleicht empfiehlt es sich, das Gesagte noch i n eine weitere sprachliche Form zu bringen: Der Kopf als Repräsentantenhaus der Gesellschaft, — das kann auch so beschrieben werden, daß das Bewußtsein des Menschen als reales Subjekt dargestellt wird, i n das ideelle Subjekte hineingeschachtelt sind. Diese internen ideellen Subjekte können nur unter verschiedenen Gesichtspunkten zu jeweils verschiedenen „Wir"-Gruppen zusammengefaßt werden, die ihrerseits ideelle Teilsubjekte konstituieren, welche ebenfalls i n das reale Subjekt, u m dessen Bewußtsein es sich handelt, hineingeschachtelt und ineinandergeschachtelt sind. So ist das reale einzelne Subjekt eine „Subjektschachtelung". Wenn aus dieser Schachtelung nun Taten hervorgehen und Worte, so w i r d das innere gewissermaßen nach außen gestülpt, und auch draußen gibt es dann die verschiedenen Wir-Formationen, die ineinander, übereinander und nebeneinander i n die gesamte Wirklichkeit hineingeschachtelt sind. Dabei erhält sich die jeweilige innere Zusammenfassung als äußere Zusammenfassung, und äußere Zusammenfassungen werden als innere repräsentiert. Sucht man nun nach empirischen Belegen für diese Behauptungen, so spricht die geschichtliche und die gegenwärtige Wirklichkeit tausendfach die Richtigkeit der Beobachtung aus. Die Situation einer Gemeinschaft hat die gleiche logische Struktur wie das einzelne Subjekt. Daher war und ist es wahrscheinlich, daß bei den Versuchen, gemeinschaftliche Situationen zu definieren, Hüllen gewählt wurden, zu denen die Eigenschaften eines Subjektes paßten. „Gott" ist eine dieser Hüllen. Die „juristische Person" ist eine andere, modernere. Die j u r i stische Person ist auf die vielfältigen Gemeinschaftsformen zugeschnitten, welche sich i n der heutigen Gesellschaft ergeben, i n der man mehreren Gemeinschaften dient (eine A r t Polysubjektivismus als säkularisierter Polytheismus). Dabei ist „Gott" als eine nicht stofflich greifbare Hülle der juristischen Person näher verwandt als Versuchen, die Einheit einer Gemeinschaft nur durch ein leibhaftiges Individuum darzustellen. Es ist wohl kein Zufall, daß ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Ende der absoluten Monarchie und der rechtstechnischen Schöpfung der juristischen Person für den Staat festgestellt werden konnte: „Der Monarch, i n dessen Person sich bisher der Staat darstellte, w u r d e zum Organ der juristischen Person Staat, m i t der er sich nicht mehr identifizieren konnte. Seine Herrschaftsrechte verwandelten sich i n organschaftliche Be-
8.53 Gemeinschaft als soziales Subjekt
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fugnisse, welche durch die Verfassung definiert u n d damit auch begrenzt wurden® 21 ."
Die gleiche Entwicklung zeigt sich beim Eigentum. Der Eigentümer, i n dessen Person die Einheit des Unternehmens verkörpert war, hat sich längst i n viele Funktionsträger 6 2 2 gespalten: i n Organe und A n hängsel künstlicher Eigentümer 6 2 3 (seien diese nun als juristische Personen anerkannt oder noch nicht). Seine Herrschaftsrechte haben sich aufgespalten i n organschaftliche Befugnisse. — Noch spukt allerdings i n den Köpfen und folglich auch i n der Rechtstechnik und i n der W i r k lichkeit das herum, was man das monarchische Prinzip des Eigentums nennen kann; denn w i r stecken beim großen Eigentum noch bis zum Hals i n dem Entwicklungsprozeß, den w i r beim Staat m i t der Überwindung der absoluten Monarchie längst hinter uns haben. I n einigen beherrscht das Prinzip noch das Bewußtsein. Sie können daher noch nicht anders denken und erkennen. Andere sind über das monarchische Prinzip des Eigentums hinaus. Es ist ihnen entrückt: wie heidnische Tempel einem Christen oder wie christliche Kirchen einem Atheisten, — ein museumsreifes herrschaftliches Kleidungsstück, das nur dort noch v o l l i n Ehren gehalten wird, wo der Staat selbst unter dem Vorwand, es abzuschaffen, i n es hineingeschlüpft ist. — Es ist eine A r t unfreiwilliger List der juristischen Dogmatik, daß ihre „juristische Person", die als künstlich-subjektives Vehikel für Privateigentum eingeführt wurde und sich als solches bewährt hat, zugleich das Vehikel ist, mit dessen Hilfe das klassische Privateigentum an Produktionsmitteln zu Grabe gefahren w i r d und m i t dem schon erste Strukturelemente eines — freilich noch sehr entstellten und verzerrten — Gemeinschaftseigentums ins gesellschaftliche Leben hineintransportiert wurden. Noch trägt die Organisation der Willensausübungen innerhalb der künstlichen Subjekte die vorsozialen Züge des Sacheigentums. Der alte (sach-)herrschaftliche Eigentümerrock imponiert noch i n unserer Gesellschaft. Aber i n mindestens einem Punkt hat die Form, von der wirtschaftlichen Realität verlangt und i n ihrem Dienste entwickelt, das Privateigentum längst gesprengt: Das reelle Wir als ideelles Ich ist rechtstechnisch i n Gestalt der juristischen Person längst da. N u r für seine jeweilige Binnenverfassung werden vorsoziale, einseitige Willkürrechte i n einem hartnäckigen Rückzugsgefecht verteidigt. Wenn die Verteidiger nicht ohnehin schon oft die gleichen A r gumente benutzten, wie sie einst zur Verteidigung der Monarchie be821
S. 13.
Ernst
Forsthoff,
622 Dieter Suhr, S. 85 m i t S. 19 - 54. 628 S. 141 ff.
23 Suhr
Der Staat der Industriegesellschaft,
München 1971,
Eigentumsinstitut u n d Aktieneigentum, H a m b u r g 1966,
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8. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
nutzt wurden, könnte man ihnen den Rat geben, sich i n dem alten Zeughause zu bedienen. Dem Eigentümer ergeht es wie dem Monarchen. So wie der Monarch nur für eine gewisse Zeit lang einigermaßen glaubhaft erklären konnte: „Der Staat, das bin ich", so kann auch der Eigentümer nur für eine vorübergehende Zeit glaubhaft erklären: „Das Unternehmen, das b i n ich." So wie es inzwischen für den Staat jedenfalls dem Anspruch nach heißt: „Der Staat, das sind w i r " , so w i r d sich auch die Vorstellung durchsetzen, daß diejenigen, die wirtschaftlich etwas miteinander unternehmen, ganz selbstverständlich von ihrem lebendigen Werk sagen: „Das Unternehmen, das sind wir." Und i n dem Maße, wie sich diese Vorstellungen durchsetzen, muß auch die Rechtstechnik ihnen bei der Binnenverfassung der sozialen Subjekte Rechnung tragen, indem sie die Hierarchien der Willensausübung zu Kreisen schließt 624 . Wie wichtig der „wirtschaftliche" Eigentümer etwa bei einer Aktiengesellschaft ist, zeigt sich, w e n n m a n folgenden Vorschlag für eine schmerzlose Sozialisierung einmal gedanklich durchspielt: Den Körperschaften w i r d eine steuerliche Vergünstigung gewährt, w e n n sie eigene A k t i e n oder eigene Kapitalanteile aufkaufen. (Dabei w i r d Vorkehr getroffen gegen Gläubigergefährdung, indem entsprechende Reserven angelegt oder Sicherheiten deponiert werden müssen.) Restminderheiten können durch Abfindungen ausgebootet werden. Es bleiben freilich viele Einwände u n d Schwierigkeiten (ζ. B. das Problem der zukünftigen Kapitalbeschaffung). Trotzdem mache das Verfahren Schule: Die Körperschaften versuchen, sich von ihren Anteilseignern freizukaufen, w i e einst die Sklaven von ihren Herren. D a n n zeigt sich, daß der Anteilseigner jedenfalls als Eigentümer überflüssig ist, w e i l schon ein Eigentümer da ist: der künstliche, soziale Eigentümer „juristische Person", dem sogar der Schutz der Grundrechte zuteil w i r d (Art. 19 Abs. 3 GG).
8.54 Freiheit vom Menschen und Freiheit durch Menschen Wenn jemand i m erdrückenden Getriebe der dichtgeflochtenen Industriegesellschaft sich nach Ruhe und Besinnung sehnt und eine Enklave der Zurückgezogenheit sucht, i n der ihn die anderen i n Frieden lassen, damit er i n sich gehen und sich entspannen kann: dann erstrebt er eine ganz andere Freiheit als der andere, den es aus seinem Alleinsein m i t sich heraustreibt, um i m Verkehr mit anderen aus sich herauszukommen. Diesen anderen dürstet es geradezu nach anderen Menschen, die i h m zuhören und i h m antworten, — die auf i h n eingehen und auf die er eingeht, — die i h m zu Willen sind und denen er zu Willen ist. Die erste der beschriebenen Freiheiten ist die Freiheit der Besinnung, der Zurückgezogenheit und Ungestörtheit. Die zweite ist die Freiheit nach draußen, die i n den anderen eindringt und des ande824
S. 127 ff. m i t S. 46 ff. —Vgl. dazu oben bei A n m . 618.
8.54 Freiheit v o m Menschen u n d Freiheit durch Menschen
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ren bedarf. So stehen sich gegenüber die Freiheit eines Menschen von den Menschen und die Freiheit eines Menschen durch die Menschen: I n der Freiheit-vom-anderen bin ich m i t m i r allein. Ich wünsche, nicht gestört zu werden. Das heißt nicht, daß ich untätig sei. Ich kann mich besinnen, kann an mir arbeiten. Ich kann bei dieser Arbeit an m i r eine äußerliche Sache i n den Kreis meines Handelns hereinnehmen und sie bearbeiten. Auch dann bin ich noch m i t m i r allein. Hierher gehört also i m idealtypischen F a l l die Freiheit des Eigentümers, der m i t seiner Sache allein ist und auch allein bleiben w i l l . Der beste Name für diesen Typ von Freiheit wäre: „Freiheit als Einsamkeit", wenn das Wort „einsam" k ü h l das Alleinsein ausdrückte, das i n i h m steckt, und nicht m i t irritierenden romantischen Vorstellungen i n assoziativem Zusammenhang stünde. I m Hinblick auf die Rechtstechnik, die beim Schutz solcher Freiheit gebraucht wird, empfiehlt sich als Bezeichnung noch am besten die schon verwendete Formel: „Freiheit vom M i t menschen." Diese Formel bringt das Wichtigste zur Vorstellung: Die anderen Menschen treten nur negativ i n Erscheinung. Entweder sie bleiben i n weiter Ferne oder, wenn sie zu nahe kommen, werden sie als störend empfunden. Das gilt auch umgekehrt: Dehne ich mich i n meiner Enklave der Freiheit-vom-anderen oder bei meinen sonstigen Bewegungen zu weit aus, empfinden es die anderen als Störung ihrer Freiheit-vom-anderen. I n diesem Bereich gilt: Der Mensch ist des Menschen Störer und Beschränker. Bei der Freiheit-durch-andere ist es genau umgekehrt. B i n ich. allein, so gibt es diese Freiheit nicht; denn m i t anderen reden und ihnen zuhören, das kann ich nur, wenn sie u m mich sind, und auch i n meine „Entfaltung" vermag ich sie nur miteinzubeziehen, wenn ich m i t meinen Meinungen und m i t meinem Willen in sie eindringen kann. Umgekehrt setzt die Freiheit des anderen, die er durch mich entfaltet, voraus, daß er m i t seinen Meinungen und m i t seinem Willen in mich eindringt. Die Freiheit-durch-andere ist nicht vorstellbar ohne andere. Ihr Begriff setzt immer schon den anderen voraus. Bei dieser Freiheit sind stets und immer mindestens zwei miteinbegriffen, wenn von ihr die Rede ist. Der andere taucht nicht auf als Störer. Er taucht auch nicht auf als Beschränker oder als sonst ein „Dritter", auf den sich die Wirkung meines Freiheitsgrundrechts erst noch irgendwie erstrecken müßte. Der andere ist vielmehr aus der Freiheit selbst gar nicht wegzudenken; denn er macht sie aus. Hier gilt: Der Mensch ist des Menschen Freiheit. Gehört m i r ζ. B. eine Sache, die so groß ist, daß ich sie nicht allein nutzen kann, u n d die Eigenschaften hat, m i t denen ich allein nicht fertig werde, w e i l ich sie nicht bedienen kann, so ist die Sache nutzlos, w e n n ich nicht 23*
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8. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
andere hinzuziehe. Dann aber ändert das Sacheigentum seine Qualität. Wor u m es m i r geht, ist nicht mehr die Freiheit-vom-anderen, sondern die Freiheit-durch-andere. So gehört das Eigentum i n beide Bereiche.
Man sollte nun erwarten, daß i n einer geschriebenen Verfassung, in der Freiheitsgrundrechte verbürgt werden, auf den Unterschied zwischen der Freiheit-von-anderen und der Freiheit-durch-andere Rücksicht genommen wird. Denn es ist nicht dasselbe, ob jemandem garantiert wird, mit sich allein sein zu dürfen, sofern er andere nicht belästigt, oder ob i h m garantiert wird, durch den anderen frei zu sein und sich zu entfalten. Dieser Unterschied ist auch sonst i m Bereich des Rechts eine durchaus vertraute Erscheinung: I m Privatrecht w i r d z.B. rechtstechnisch unterschieden zwischen dem Rundumschutz bei „absoluten Rechten", die der Freiheit-von-anderen verwandt sind, und den Rechten aus Verträgen zwischen mehreren Teilnehmern des Rechtsverkehrs, die i n den Bereich der Freiheit-durch-andere hineingehören. Auch i n der Verfassungslehre kennt man verwandte Differenzierungen zwischen Freiheitsrechten des einzelnen einerseits und des einzelnen i n Verbindung m i t anderen einzelnen andererseits 625 . Doch i m Staatsrecht werden kaum Unterschiede gemacht, — weder bei dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, noch beim Eigentum. Doch das w i r d sich ändern. Ansätze finden sich i m Zusammenhang m i t den Fragen der Privatsphäre. Welches Freiheitsmodell den Grundrechten zugrundeliegt und welcher Freiheitstyp daher die Betrachtungsweisen bestimmt und beherrscht, zeigt sich geradezu klassisch an der Formulierung des A r t . 2 Abs. 1 GG: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt u n d nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."
Hierin ist die Schablone deutlich sichtbar, nach der die Freiheit eine Freiheit des Individuums ist. Des anderen w i r d auf keine andere Weise gedacht als auf die, daß seine Rechte die eigene Entfaltung beschränken, indem sie i h r entgegenstehen. Und soweit der Wortlaut i n diesem Punkte noch offen ist und genauer entwickelt werden könnte, wie sich „freie Entfaltung" abspielt (nämlich ohne oder durch andere) und was die „Rechte des anderen" sind, wenn man sich durch ihn entfaltet, — soweit also ein Spielraum für die Grundrechtsdogmatik bleibt, innerhalb dessen Differenzierung denkbar ist, w i r d es nicht etwa konkreter, sondern abstrakter: „Freiheit des Individuums" einerseits, „Nichtstörungsschranken" andererseits. 825 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, 4. Aufl. 1965, S. 165, 170; Dieter Suhr, Rechtsstaatlichkeit u n d Sozialstaatlichkeit, i n : Der Staat 9 (1970) S. 82 ff.
8.54 Freiheit vom Menschen und Freiheit durch Menschen
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Das monadologische Freiheitsmodell, das die heutige Grundrechtsdogmatik i m Staatsrecht der Bundesrepublik noch beherrscht 626 , w i r d schon seit mindestens hundertdreißig Jahren kritisiert. I h m wurden auch durch Gemeinschaftsvorbehalte und „materielle Gehalte des Rechtsstaats" einige Spitzen genommen. Aber als fixe Vorstellung von Freiheit, die das Denken beherrscht, sitzt das Modell noch immer als Vorverständnis bzw. als Vormißverständnis i n den Köpfen. Es w i r k t bei der Betrachtung und juristischen Verarbeitung der Wirklichkeit wie eine Brille, die die Freiheit-durch-andere als Freiheit-ohne-andere erscheinen läßt. Und da die Freiheit-durch-andere so erscheint, w i r d sie auch grundrechtstechnisch nicht anders behandelt; denn wie man sie glaubt, so hat man sie. So kommt es, daß eine Freiheit, bei der ich den anderen brauche, u m mich durch ihn zu entfalten, nach der gleichen Schablone betrachtet und behandelt wird, wie die Freiheit, bei der sich die Frage stellt, ob und wie sehr der andere mich belästigt. Beim jungen M a r x 6 2 7 liest sich die K r i t i k dieses FreiheitsmißVerständnisses so: „Die Freiheit ist also das Recht, alles zu t u n u n d zu treiben, was keinem anderen schadet. Die Grenze, i n welcher sich jeder dem anderen unschädlich bewegen kann, ist durch das Gesetz bestimmt, w i e die Grenze zweier Felder durch den Zaunpfahl bestimmt ist. Es handelt sich u m die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade . . . " Dieses „ M e n schenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen m i t dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen. Es ist das Recht dieser Absonderung, das Recht des beschränkten, auf sich beschränkten Individuums. Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechts der Freiheit ist das Privateigentum . . . Sie läßt jeden Menschen i m anderen Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden."
Diese Sätze von Marx sprechen offen aus, was auch heute noch an Hintergrundstrukturen i n der Grundrechtsdogmatik weiterlebt, ohne daß es so deutlich ins Bewußtsein hereingelassen würde. Hinzuzufügen bleibt wiederum, daß die individualisierende und absondernde Definition der Grundrechtssituation nichts an der Wirklichkeit ändert, i n der zwischenmenschlich gehandelt, gemeinschaftlich etwas unternommen und kollektive bzw. organisierte Macht ausgeübt wird. Wenn man i n β2β Auch dort, w o Grundrechte nicht mehr n u r als Abwehrrechte aufgefaßt werden, sondern auch als Teilhaberechte, erhalten sich i n der StaatBürger-Polarisierung die monadologischen Strukturen, die die Freiheitdurch-andere verdecken. — Arbeiten, die das monadologische Paradigma der Freiheit prinzipiell i n Frage stellen u n d ersetzen, w i e etwa Niklas Lühmann, Grundrechte als Institution, B e r l i n 1965; Erhard Denninger, Rechtsperson u n d Solidarität, F r a n k f u r t 1967; Rupert Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, München 1971, sind selten u n d haben es schwer, sich i n diesem Punkte durchzusetzen. 827 M E W 1, 364 f. = Landshut S. 192 f.
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8. K a p i t e l : Bewußtseinsverfassung u n d Gesellschaftsverfassung
diesem N e t z w e r k sozialer u n d u n s o z i a l e r zwischenmenschlicher B e z i e h u n g e n d i e F r e i h e i t e r h a l t e n oder w i e d e r h e r s t e l l e n w i l l , i n d e m m a n das i n d i v i d u a l i s t i s c h e F r e i h e i t s m o d e l l d e r G r u n d r e c h t e u m so h a r t n ä c k i g e r v e r t e i d i g t , so i s t das e i n g l a t t e r S c h i l d b ü r g e r s t r e i c h : So, als w o l l e m a n V e r k e h r s p r o b l e m e lösen, i n d e m m a n d e n V e r k e h r i n seiner Erscheinungsweise ü b e r s i e h t u n d sich d a f ü r u m so i n t e n s i v e r d a m i t beschäftigt, bessere M a u e r n u m d i e G r u n d s t ü c k e z u bauen. Eine Frage, die hier unter dem konstruktiven Gesichtspunkt weniger interessiert, ist die nach den Ursachen für das hartnäckige Überleben des unzeitgemäßen Freiheitsmodells i n den Köpfen. Dazu findet sich sehr v i e l Richtiges i n der K r i t i k der politischen Ökonomie seit M a r x , das hier n u r i n die Sprache dieser Untersuchung übersetzt werden muß: Welche Vorteile bietet es, eine soziale Situation individualistisch zu definieren (ein monadologisches Freiheitsmodell i n sozialen Wirklichkeiten f ü r noch gültig zu erklären u n d zu verteidigen)? Nun, — w e m es gelingt, eine an sich zwei- oder mehrseitige Freiheitssituation als einseitige zu definieren u n d die Definition publizistisch so gut zu pflegen u n d gegen K r i t i k abzuschirmen, daß sie nach w i e vor geglaubt w i r d , der kann i m Z e n t r u m der sozialen Situation einseitige Rechte beanspruchen wie sonst n u r i m Zentrum einer Situation-ohneandere. Obwohl es sich u m eine Freiheit-durch-andere handelt, werden die anderen unter dem Gesichtspunkt des Grundrechts so behandelt, als befänden sie sich am Rande einer Situation-ohne-andere. Das heißt schlicht, daß sie i m Lichte des Grundrechts nicht als Freiheitsbegründer aufgefaßt u n d behandelt werden, sondern w i e Freiheits stör er u n d Freiheits beschränker. Solange die monadologische Definition der sozialen Freiheitssituation noch geglaubt w i r d , verschafft sie dem, der sich auf sie berufen kann, einen Freiheitsvorsprung. Seinem W i l l e n steht eine ideologisch vorgefertigte Einbahnstraße f ü r seine „ungestörte" Entfaltung durch andere zur Verfügung. Er k a n n seine W i l l k ü r für andere gültig machen, u n d w e n n sie aufbegehren, so w i r d es i h m geglaubt, w e n n er pathetisch lamentiert, seine Freiheit würde verletzt. I n Wahrheit jedoch spielen sie n u r für einen Augenblick das Spiel nicht mit, bei welchem durch definitorische Vorspiegelung einer falschen u n d Entstellung der w i r k l i c h e n sozialen Situation der eine auf Kosten der anderen einen ungerechtfertigten Freiheitsvorteil erlangt. G e n a u i n d e m U m f a n g , w i e eine S i t u a t i o n v o m T y p F r e i h e i t - d u r c h andere u n t e r das Grundrechtsschema v o m T y p F r e i h e i t - o h n e - a n d e r e s u b s u m i e r t w i r d , w i r d m i t d e m Schutz d e r F r e i h e i t des e i n e n d i e F r e i heitslosigkeit des a n d e r e n garantiert. So g e w ä h r t u n d g e w ä h r l e i s t e t jeweils die grundrechtliche D e f i n i t i o n der Situation bzw. der h i n t e r i h r stehende S t a a t d i e F r e i h e i t des Geschützten über d e n j e w e i l s D r i t ten. Dieser G r u n d r e c h t s s c h u t z ist i m m e r e i n Schutz m i t D r i t t w i r k u n g ; d i e D r i t t w i r k u n g i s t g e r a d e z u der P f i f f d e r Sache, w e i l sie n ä m l i c h n u r i n d e r einen R i c h t u n g funktioniert u n d i n d e r anderen — w a s d e n grundrechtlichen Freiheitsschutz b e t r i f f t — v o n der herrschenden M e i n u n g wegdefiniert w i r d . I n einem monadologischen Freiheitsmodell m i t E i n b a h n s t r a ß e n d e r W i l l e n s a u s ü b u n g v e r s t ö ß t es eben gegen d i e V e r k e h r s r e g e l n des M o d e l l s , w e n n e i n m a l j e m a n d u n t e r d e m N a m e n
8.54 Freiheit vom Menschen und Freiheit durch Menschen
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„ D r i t t w i r k u n g " etwas beansprucht, was dem anderen unter dem Namen „Freiheit" längst und immer schon zudefiniert ist. Man kann geradezu sagen: Der Schutz von Freiheitsgrundrechten ist stets Schutz ihrer Drittwirkung. N u r ausnahmsweise i n dem pathologischen Fall, daß der Staat sich erlauben sollte, daran etwas zu ändern, zeigt sich, daß das Grundrecht nicht nur Rechte über den anderen gewährt, sondern auch gegen den Staat, der diese Position entziehen oder gar das Verhältnis zu den anderen institutionell umgestalten w i l l . Man braucht nur die Augen zu öffnen und die Ohren zu spitzen: Dann erfährt man, wer sich am häufigsten und zum Schutze wem gegenüber er sich auf die Grundrechte beruft. Je länger desto häufiger heißt es nicht mehr gegenüber dem Staat: „Bleibe m i r vom Leibe!", sondern vielmehr: „Halte m i r die Dritten vom Leibe!". Solange man D r i t t wirkung schon kraft staatlich gewährleisteter Freiheit auskosten konnte, ohne daß die Sache bewußt wurde, fiel es nicht weiter auf, welchen Widerspruch man vertrat, wenn man die D r i t t w i r k u n g (die gegen die eigene geltend gemacht wurde) bekämpfte. I n dem Moment aber, i n dem es ins Bewußtsein springt, daß die dem Staate gegenüber gewährleistete Freiheit zugleich eine vom Staat gewährte Freiheit über Dritte ist, deren Legitimität angezweifelt wird, gerät man i n die Schwierigkeit, nun plötzlich selbst Schutz nicht gegen den Staat, sondern vom Staat gegen Dritte dogmatisch herbeidefinieren zu müssen. Dann zeigt sich die Gespaltenheit und Widersprüchlichkeit der gängigen Modellvorstellungen von Freiheit i n aller Offenheit. Es gibt allerdings Grundrechtsbestimmungen, von deren Kerngedanken her das monadologische Denken i m Bereich der Grundrechts- und Grundrechtsschrankendogmatik geöffnet und sozial verjüngt werden kann: Vorschriften, i n denen mehrseitige grundrechtliche Situationen erfaßt werden, nämlich die A r t . 9 (Vereinigungsfreiheit), 8 (Versammlungsfreiheit), 6 (Ehe und Familie) und 15 (vergemeinschaftetes Eigentum). Der Mangel liegt darin, daß durch die getrennt angeführten Schutzbestimmungen für solche mehrseitigen Vorgänge leicht der Eindruck aufrechterhalten wird, als handele es sich u m Ausnahmen. V i e l eher aber kann man darin die Spitzen sozialer Strukturen erkennen, die in jeder (nicht spezifisch „einsamen") grundrechtlichen Situation stecken. Die aufgezählten A r t i k e l fordern daher dazu heraus, dieser sozialen Tiefenstruktur der zwischenmenschlichen Situationen i m grundrechtlichen Bereich sehr viel eindringlicher nachzugehen. Sie reichen vom gelegentlich gemeinsamen Willen i n einem flüchtigen Vertrag bis zum gemeinsamen Wollen von Gemeinwohl etwa i n A r t . 14 Abs. 2 Satz 2.
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8. Kapitel : Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
Wenn vom Modell der unilateralen Freiheit zum Modell der bi- und multilateralen 6 2 8 Freiheit übergegangen wird, dann erscheint jede dieser Freiheiten nicht mehr als Freiheit des Individuums, sondern als Freiheit zwischen den Individuen: also als das, was sie wirklich ist, wenn sie nicht künstlich als einseitige Freiheit, also als Willensgefälle zwischen den Menschen und damit als Herrschaft definiert und sanktioniert wird. Der Übergang vom Freiheitsmodell „Einsamkeit mit Nichtstörungsschranken" zum Freiheitsmodell „Mehrseitigkeit mit Wechselseitigkeitssicherung" führt dazu, daß eine ganze Reihe von Vorstellungen umgekrempelt werden muß. Die politische Praxis ist übrigens längst auf dem Wege dieses Überganges, während die Grundrechtsvorstellungen, anstatt den Vorreiter zu stellen, eher die Nachhut oder den Bremser machen i n dem Prozeß, der zur Anerkennung der Mehr- und Wechselseitigkeit von Freiheit führt. Dieser Prozeß der Umbildung und des Umdenkens führt von der Freiheit des Eigentümers zur Freiheit auch innerhalb von Eigentum, — von der Freiheit der Presse zur Freiheit auch innerhalb der Pressen, — von der Freiheit, die nur nach außen gerichtet ist, zu der Freiheit, die auch in sich gekehrt ist, — von der linearen Freiheit, die als individuelle Selbstherrschaft vorgestellt und praktiziert wird, zu der kreisförmigen Freiheit, die i n den verschiedenen Formen der Selbstbeherrschung erscheint. 8.55 Geschriebene Verfassung I n dem Dreipol „Bewußtseinsverfassung-Gesellschaftsverfassung-geschriebene Verfassung" spielt das geschriebene Wort eine ähnliche Rolle wie etwa ein Katalysator i n chemischen Prozessen oder wie ein akzeptierter Entschluß zum Aufbruch für einen formlosen und bis dahin geschwätzig-unentschlossenen Haufen oder wie die genetischen Informationen i n den Zellen. Man kann die Gene geradezu als molekulare Verfassung der Zelle und die geschriebene Verfassung als genetische Struktur der Gesellschaft 629 ansehen. Eine geschriebene und i m großen und ganzen angenommene (ins Werk gesetzte) Verfassung schafft institutionelle und zeitliche Orientierungspunkte: ein Gerüst von Erwartungszusammenhängen, i n dem mitmenschliches Handeln unter Bedingungen möglich ist, wie man sie nicht i m Traume zu erhoffen wagte, wenn man seine Erwartungen nur nach empirisch-sozial® 28 Suhr (1970) S. 84. ®29 Z u r strukturell-funktionalen Vergleichbarkeit von Genen u n d Symbolen i m Bereich der organischen u n d menschlichen Anpassungswelt vgl. Alfred Emerson, Homeostasis and Comparison of Systems, i n : Roy R. Grinker (Hrsg.), T o w a r d an Unified Theory of Behavior, New Y o r k 1964, sowie Enno Schwanenberg, Soziales Handeln. Stuttgart - Bern - Wien 1970, S. 67 m i t Bezug auf Talcott Parsons.
8.55 Geschriebene Verfassung
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wissenschaftlichen Prognosen ausrichten würde. Nicht weil die Verfassung hypothetische Prognosen formuliert, auf deren Falsifizierung sich der theoretische und praktische Eifer kritisch-rationaler Naturen konzentriert, sondern w e i l die Verfassung zwischenmenschliche Verfahrensweisen prophezeit und Bewahrheitung erheischt, gibt die Verfassung einen wirksamen Horizont für Handlungszusammenhänge ab 8 3 0 . So erweist sich die Verfassung als sprachlich-normativer Katalysator, der durch seine informative Gegenwart den politisch-sozialen Prozeß anregt und i n seinem Verlaufe beeinflußt. Diese eigenartige Wirkung kann man auch so ausdrücken: „Die Kraft, die i m Wesen der Dinge liegt, zur Tätigkeit zu reizen und sie zu lenken, darüber hinaus selbst tätige K r a f t zu sein, darin besteht das Wesen und die Wirkung der normativen K r a f t der Verfassung 631 ." Dabei kommt das normative Gebilde der übrigen Wirklichkeit ebenso entgegen wie die übrige Wirklichkeit dem normativen Gebilde, und das Problem heißt nunmehr weniger Integration als vielmehr Konsonanz. Obwohl es zunächst so scheint, als sprenge das Konzept von der Sozialtechnik des wahr-Sagens den Rahmen einer hypothetisch-empirischen Wissenschaft, muß hier nochmals betont werden, daß diese Technik selbst eine empirische Erscheinung ist, bei der nicht zuletzt die Sprache und ihre Wirkungen empirisch-positiv sind, und die, wie es i n dieser Studie geschehen ist, zum Gegenstand einer auch empirischen Metasprache gemacht werden kann. Dabei braucht auf keine kritischrationalen Maßstäbe verzichtet zu werden. Es kommt nur noch etwas hinzu: nämlich die bewußte, systematische und folgerichtige Selbstreferenzialität i n Theorie und Technik: Man kann nicht i n aller Öffentlichkeit von Verfassungen reden, ohne miteinzubeziehen, daß dieses Reden schon immer unter überlieferten Innen- und Außenverfassungen sich vollzieht und gleichzeitig versuchte Arbeit an den Verfassungen des Innen und des Außen ist. — Wenn aber Worte das Gerüst liefern, dem sich die Wirklichkeit fügt, hat die Kunst des verständigen Sprechens und die Kunst des Ver stehens einen ganz anderen Rang als in einer bloß wortlos-empirischen Welt. Was die Gesellschaft verfassen soll, muß verständlich sein. Es muß verstanden werden. Verständlich sprechen heißt, Inneres i n Ä u ßeres übersetzen. Es verstehen heißt, das Äußerliche ins Innere zurückzuübersetzen. Verstehe ich jemanden, so habe ich ein Konsonanzerlebnis, verstehe ich ihn nicht, bleibt es bei einer bloß physisch-optischen oder -akkustischen Resonanz i n mir, deren Reize m i r „nichts 830 631
S. 13.
Oben K a p i t e l 6.2 u n d 7.3. Konrad Hesse, Die normative K r a f t der Verfassung, Tübingen 1959,
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8. Kapitel: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung
sagen". W i r d ein Satz mißverstanden, schlägt der Versuch, sich verständlich zu machen, ins Gegenteil um, — und wenn es sich u m Verfassungssätze handelt, i n ein wirkliches Gegenteil. Je gründlicher Sozialwissenschaftler, die sich m i t der wahr-Sagung und falsch-Sagung bislang wenig beschäftigt haben, i n diesen Bereich eindringen, desto häufiger werden sie feststellen, wieviel sie lernen können von der Theologie und der Jurisprudenz sowie von den anderen säkularisierten Kindern und Enkeln der Theologie. Das verfassende Wort hebt den Vorgang der „bewußten und planmäßigen Gestaltung der Gesellschaft" aus dem Bereich der ständig neuen subjektiven Beliebigkeit heraus: So wie ich mich selbst binde, wenn ich m i r etwas vornehme, so bindet sich ein Gemeinwesen selbst, wenn es sich eine Verfassung gibt. Wie bei der Demokratie steht auch bei der Verfassung am Anfang der Schritt i n die Selbstbeherrschung, der zugleich ein Schritt i n die Objektivität des Buchstabens ist. Aber so wie i n den Worten „Ich" und „ W i r " subjektive Struktur i m objektiven Medium der Sprache festgehalten ist, freilich nur als abstraktes, unverfaßtes und totes „Ich" oder „ W i r " , so kann in der schriftlichen Objektivation von verfassenden Texten subjektive Struktur als vermitteltes Kreisen-in-sich objektiv gemacht werden. Die Subjektivität geht also nicht notwendig dadurch verloren, daß sie „ i n tote Buchstaben gepreßt" wird, sondern sie w i r d nur verfaßt als konkretes, lebendiges Werk einer Vielheit, die eine Einheit ist. U n d nur dann ist dieses Werk vollendet, wenn es i n seinen drei Aggregatzuständen i m Bewußtsein, i n der Gesellschaft und i m Text der verfassenden Sätze in sich zusammenklingt (kognitiv-praktisch konsonant ist). Dazu gehört als entäußertes Werk und als befestigendes Gerüst die geschriebene Verfassung als die bewußte und formulierte Ordnung der Gesellschaft, auf die sich die Menschen verlassen können. Ob man diese Ordnung traditionellerweise „Rechtsordnung nennen w i l l oder ob man ihr durch eine andere Buchstabenkombination den Schein des geschichtlich noch nicht Dagewesenen und die Signatur des höchsteigenen Schöpfertums an die Stirn heftet, spielt für die Sache selbst nur eine buchstäblich oberflächliche Rolle. I n der heutigen, weitgehend staatlich verfaßten Gesellschaft erscheint die Bindung an das sprachliche Werk, das als Verfassung und Recht veräußerlicht ist und den gesellschaftlichen Prozeß befestigt, als Rechtsstaatlichkeit und als sozialistische Gesetzlichkeit. Zwar w i r d durch die gegenwärtige rechtsstaatliche Doktrin insbesondere noch das monadologische Freiheitsmodell als eine irreführende Objektivation verfassungsrechtlich geschützt, so daß i n vielen Fällen nicht die Freiheit gewährleistet wird, sondern nur die falsche Definition der Freiheit
8.55 Geschriebene Verfassung
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samt deren Folgen. Doch diese i h m unangemessene Wirklichkeit kann der Rechtsstaat abstreifen. Dem Ansprüche nach läuft das Rechtsstaatsprinzip darauf hinaus, die Selbstbindung an das eigene sprachliche Werk sozialtechnisch zu verwirklichen: Als wirkliche Achtung der Menschen vor ihrem Werk, das ihre Selbstachtung durch wechselseitige Anerkennung freiheitlich organisiert. Ebenso w i r d bei der sozialistischen Gesetzlichkeit erstrebt, die Rolle der Verfassung und der Gesetze zu verbessern 632 , m i t dem mehr oder weniger klar bewußten Ziel einer Gesellschaft, i n der die Menschen sich so, wie sie sich drinnen subjektiv erleben, auch draußen wiederfinden: sowohl i n der lebendigen Gesellschaft als auch i n der geschriebenen Verfassung als der bewußt gewordenen und bewußt gestalteten Gemeinschaft. Diese dreifache Verfassung des Drinnen, des Draußen und des Wortes ist das Werk der Menschen. Als ihr Werk verdient und erhält es verbindlichen Schutz, aber noch mehr verdient und erhält es diesen Schutz als gefundene Form der wechselseitigen Achtung und Anerkennung der jeweils gegenwärtigen Menschen, die sich dieser Form als ihrem Werk und ihrer sozialen Daseinsweise unterwerfen. Dabei werden sich die Prozesse, i n denen das Werk lebt, weiterentwickelt und geschützt wird, u m so gewaltfreier abspielen, je tiefer die Strukturen, die für das langfristige, dreifache Zusammenstimmen zwischen Drinnen, Draußen und Wort notwendig sind, als ihre soziale Natur ins Bewußtsein der Menschen eingeprägt sind.
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Oben A n m . 19.
Namenregister Albert, H. 227 Alexander d. Gr. 77 f., 85, 122,138 Alexis, W. 81 Altenstein, K . S. F. Frh. zum 77 Ancillon, J. P. F. 103 Aristoteles 77, 81 f., 85, 122, 137 f. Asverus, G. 66 Austin, J. L. 299
Garaudy, R. 14, 20 Gigh, J. P. van 234 Goethe, J . W . v. 18, 79, 88, 135, 220, 223, 305, 320 Grossner, C. 218, 226 Großheim (E. L.?) 99 Guggenberg, B. 173 Gutzkow, K . 79
Bachmann, K . F. 66 Bauer, Bruno 83, 100, 155 ff. Bodin, J. 14, 347 Buber, M. 281 Bubner, R. 21, 30, 218, 250
Habermas, J. 12, 30, 247, 281 Harris, H. S. 13, 30 Hätz, H. 278 Haym, R. 16, 80 Hegel, K . 97 Heine, H. 20, 64 f., 71, 82 ff., 97, 100, 102 f., 117, 138, 144 ff., 157 Heller, H. 14, 129 Hennis, W. 25, 32 Hesse, K . 361 Heß, M. 140 Hobbes, Th. 14 Hölderlin, F. 43 Horn, K . 313 Humboldt, W. v. 80, 103
Callies, R. P. 281 Carové, F. W. 100 Christus: s. Jesus Churchman, C. W. 280 Cortes, D. 44, 106 Cousin, V. 68 Creuzer, G. F. 86 Darendorf, R. 247 Denninger, E. 357 D'Hondt, J. 92, 101 Diderot, D. 87 Dietzgen, J. 136, 216 Dilthey, W. 42 Eckermann, J. P. 220 Emerson, A. 360 Engels, F. 82, 136, 146, 153, 264, 328 f. Erkenbrecht, U. 265 Festinger, L. 240, 311 Fetscher, I. 118, 216 Feuerbach, L. 19, 71, 79 f., 136 ff., 176, 207, 228, 273, 292 Fichte, J. G. 39, 85, 101 Fischer, K . 59, 68, 71, 135 Förster, E. 41 Förster, K . 99 Forsthoff, E. 278, 353 Fries, J. F. 86, 98 ff.
I l t i n g , K . - H . 13, 86, 100 Jahr, G. 278, 280 Jarvie, I. C. 227 Jesus 40, 41 ff., 74, 125, 131, — s.a. Sachregister: „Messias" Kant, I. 41, 43, 85, 230 f., 275 Kirsch, W. 226, 311 Klaus, G. 273 Kmieciak, P. 311 Knebel, H.-J. 227 Kobbe, Th. v. 79 Kojève, Α. 14 Kotzebue, Α. F. F. v. 67 Krüger, Herbert 6, 612 Künzli, A. 299 K u x , E. E. W. 145, 299
366
Namenregister
Lang, E. 347 Lassalle, F. 83 Lasson, G. 92 Leibniz, G. W. 85 Lenin 17, 69, 71, 112, 144 f., 181, 202, 216 f., 219, 249, 271, 317 Lenz, M. 68 Löwith, K . 13, 14, 92, 335 Luhmann, N. 23, 278, 319, 347, 357 Lukâcs, G. 42 Luther, M. 40, 146, 228 Machiavell 32, 60 f., 106 Maier, H. 29 f. Magee, B. 244 Maihofer, W. 278, 281 Mao Tse-Tung 17, 71, 179, 202 f. Martinek, M 347 Mead, G. H. 14 Meineke, F. 106 Merton, R. Κ . 226, 230 Michelet, K . L. 117 Mollat, G. 15 Moses 61, 74, 208, 231 Napoleon 65, 94 f., 97, 285 Negt, Ο. 17 Niebuhr, B. G. 97 Niethammer, F. I. 63, 65, 67 f., 94, 99, 133 Nietzsche, F. 20 f. Nippold, F. 100 Noll, P. 278 Nusser, K . - H . 13 Opfermann, W. 347 Parsons, T. 360 Pascal, Β. 20 Paulus, Η . E. G. 79 Platon 77, 82, 89 f. Pörnbacher, Κ . 10, 103 Popitz, Η . 14, 29, 38, 109 Popper, Κ . R 218 ff. Quaritsch, H. 14, 23
Reichelt, H. 216 Richelieu 32, 60 Ritter, J. 39, 99, 135 Rosenkranz, K . 15, 79, 88 Rosenzweig, F. 103 Rossi-Landi, F. 265 Rothe, R. 82, 100 Rousseau, J.-J. 14 Rüge, A. 83, 155 ff. Rupprecht, F. 197, 164 Saphir, M. G. 81 Savigny, E. von 241 Sieburg, F. 95 Smend, R. 14 Sokrates 74 Solger, K . W. F. 86 Spinoza 52 Suhr, D. 353, 356, 360 Schelling, F. W. J. 43, 82, 85 Sdieuner, O. F. 100 Schiller, F. 126, 152, 157, 211, 233, 304/5 Schmidt, Alfred 325 Schmidt-Japing, J. W. 42 Schmitt, C. 14, 17, 279, 325, 347, 356 Scholz, R. 357 Schwanenberg, E. 360 Sternberger, D. 82 Stiehler, G. 173, 219, 264, 315, 319, 326 Struck, G. 229 Stuke, H. 71 Thaden, N. von 99 Theseus 33, 40, 61 Thomas, W. I. 226, 230 f. Topitsch, E. 109, 226, 299 Tucker, R. 14 Vaihinger, H. 231, 280 Varnhagen v. Ense, K . A. 102 f. Victor, W. 145 Voltaire 83, 156 Weil, E. 39 Wirth, J. G. A. 74 Wittgenstein, L. 242, 245 Zellmann, C. G. 40, 64
Sachregister Dieses Buch zielt auf V e r m i t t l u n g u n d A n w e n d u n g der dialektischen Techn i k des Erfassens u n d Verfassens; es ist kein Nachschlagewerk, sondern v e r langt, gelesen zu werden. Führer dafür ist das Inhaltsverzeichnis. Das Register ist eher dem von Nutzen, der etwas wiederfinden oder quer durch die K a p i t e l verfolgen w i l l . — Die Namen u n d Begriffe des Titels (Hegel, M a r x , Bewußtseins- und Gesellschaftsverfassung) fehlen i n den Registern m i t A b sicht. Die Stichworte verweisen auch auf den Text der abgedruckten Zitate. Sie kommen aber i m Text nicht immer wörtlich vor, da auch auf Kontexte verwiesen w i r d , die das Stichwort als solches nicht enthalten. Abenddämmerung, philosophische 15, 41, 115, 121 ff., 124 Abhängigkeit der Menschen voneinander 49 f., 325 ff. abstrakte (dialektische) Logik 316 ff. abstrakte Negation 96 f., 110/1 abstrakter Hegel bei M a r x 160 ff., 190, 210 abstraktes Denken 94, 133 f., 262 Abstraktion 111, 173, 176, 287; — als Fixierung 317 f.; — i m Gattungsbegriff 292; — der Gesellschaft gegenüber 316; — als Gleichgültigkeit gegenüber Menschlichem 130 f.; 171; — i n der Vorstellung v o m „ M e n schen" 298, 333 f.; — i n der revolutionären Ideologie 333 ff. ; — i n der Volksherrschaftsideologie 349; Hegel an Goethe über — 88 affirmativ 105; Hegels Philosophie — 20, 39, 88, 93, 337; kritisch-affirmat i v 36, 268 Akrobat, Dynamisierung der K o p f Fuß-Metapher 190, 204 Allgemeinheit, Allgemeines 36, 38, 45, 50, 66, 70, 99, 105, 108, 142, 198, 341 Allgemeinheit i n der Zeit 59, 126, 285 Allgemeinwille 287, 340 ff. Altes/Neues, Logik des Überganges 132 f.; — Sprachprobleme 180 Altdeutsche; Deutschtümelei 73, 97 ff., 124, 148 an-sich u n d für-sich 111 f., 201 Anarchie 31
Anerkennung 348; — der Menschen durch die Menschen 299; verfaßte D i a l e k t i k d e r — 331 ff., 363 anthropologisch 130, 305 ff. A r b e i t 193 ff., 321 ff.; s.a. negative Seite Arbeit, erkennende, organisatorische an der Gesellschaft 168 f., 193 ff., 207 f., 269 f., 321 ff., 327, 361 ff.; — geistige, theoretische 67, 78, 226; — mittelbar-praktische der Philosophie 119, 122; —, geschichtliche nach Hegel 112, 127 Arbeiter, Gesamtarbeiter 181 Atheismus 20, 67, 155 f. Auferstehung i m Geiste 50, 71; s.a. Fleischwerdung Aufhebung der D i a l e k t i k 124; — der Herrschaft 3301; des Ich-Bewußtseins 187; des Proletariats 139; der Religion 19, 158, 339; des U n t e r schiedes zwischen empirischer u n d dialektischer Sozialwissenschaft 243 A u f k l ä r u n g 87, 96 Barrikaden (im Bewußtsein) 135, 248 Basis-Überbau 174, 190, 334 f. Baumeister als Paradigma für den Vorsprung der Idee vor dem Werk 207, 324 Bedürfnisse 35, 37, 45 f., 98, 132, 151, 192, 199, 208, 213, 231 f., 277, 285, 297, 299 f., 312, 327, 329
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aregister
Begriff, affirmativer — u n d nichtige Existenz 105, 108, 110, 120; Rechtfertigung durch den — 1 2 1 Begriffsfetisch 264 ff. B e r l i n 18, 39, 75 f., 82, 86, 119, 136, 140 f., 155 f. Bestimmung, Sendung Hegels 61, 75 f., 123, 136 bewußt, s. planmäßig Bewußtsein, s. Organisation, Sein Bewußtseinsarbeit 12, 36, 65, 72 ff., 81, 94, 96, 106 f., 118, 128, 144 f., 148, 172, 311, 342 f. Bewußtwerdung 173, 177 Biene u n d Baumeister, s. Baumeister Bundesrepublik Deutschland 16, 17, 19 Burschenschaften 67 f., 100 Damaskuswunder, umgekehrtes 79, 141 Definition, s. Situation Deismus 155 Demokratie 147, 261, 282, 343 ff., 346, 362; — als Konsonanzkontroll verfahren 347; — als verfaßte Dialekt i k 348; repräsentative — 343 ff. Demokratisierung 349 Deutsche Demokratische Republik 16, 19, 24 Deutschland, geteiltes, zerstückeltes 15 f., 19, 22, 30 f., 40, 55, 93 Deutschtümelei, s. Altdeutsche Dialaktokratie 287, 347 f. D i a l e k t i k 179, 217 ff., 244, 325 ff.; — und Ökonomie 216, 271 f.; — p r a k tische, angewendete 11, 124, 132, 144, 314ff.; „Schluß" der — 71, 221; verfaßte — 11, 124, 211/12, 260 ff., 272, 277, 314 ff., 344 ff., 348 Dialog 143, 172 ff., 256, 280; s. a. Polylog D i k t a t u r 205, 207 f. Ding-an-sich 41, 115, 229 Dissonanz 12, 281, 291, 311 ff. Dritter, D r i t t w i r k u n g , -richtung 47, 355, 358 D u 142, 281 egozentrisch 269, 343 Eigentum 328 ff., 345, 353 ff., 355/6 Einziger 266, 269, 298
Emigration von Hegels Philosophie 17, 113, 286; von Jesu Lehren 53; methodologische — 22 Entäußerung 12, 33 ff., 71, 162, 164 f., 281, 308 ff. Entfaltung der Persönlichkeit 356 Entfremdung 12, 131, 141, 161 ff., 171, 207, 214, 265, 298, 300, 305 ff., 335; — durch Sprache 264 ff. Entscheidungstheorie 226 Entstehen u n d Vergehen 1231, 200, 227 Entwicklung 260 f., 314 Entzweiung 53, 58, 120 f. Erkenntnis u n d Erkenntnisgegenstand 57, 115 ff., 145, 276/7, 290 f. Erkenntnistechnik, dialektische 172, 262 Erkenntnistheorie 115 ff., 218 ff., 249 Erneuerung 44 f., 55, 73, 82, 117, 132 Erwartungen 311, 360 Eule der Minerva 15, 115 f., 117, 122 f. Eulenspiegel 41, 107, 229 falsch-Sagung 362 Faust 135, 320 Feind, Feindschaft 130, 150, 170, 204, 295, 301 f., 307 f., 309 f. Fetischismus 264 ff., 317 Fisch i m Wasser 12, 135, s. a. M a u l wurf Fleischwerdung 71, 138, 153 ff., 308 ff., 350; s. a. Verwirklichung, Tat F o r m 172, 212, 240 f., 272, 274, 314, 353, 363; — u n d I n h a l t 283 f. Freiheit 30 f., 49, 261, 354ff.; abstrakte — 87; b i - u n d multilaterale — 360; — des Menschen durch den Menschen 355 ff. ; — des Menschen v o m Menschen 355 ff. Freiheitsmodell, monadologisches, i n dividualistisches 357 f., 362 f.; — i n teraktionistisches 359 Freude 189, 293 ff. Freund/Feind 301 f., 307, 340 f. Frieden 39, 130 f., 320 für-sich s. an-sich Gattung, —sbewußtsein bei M a r x 185; —sbegriff bei Feuerbach 292 Geist 46, 50, 54, 56, 72, 110, 119, 201 f., 231/2; objektiver — 221 f.; — u n d Tat, Praxis 66 ff., 71 f., 84, 290
Sachregister Geld 31, 140 Gemeinschaft 142, 350ff.; — durch gemeinsamen Geist 49 f. Gemeinschaftseigentum 353 Gesellschaft, klassenlose 24; V e r t r a u en, Repräsentation i n der — 344 Gesetz 99, 260 ff. Gesetzlichkeit, sozialistische 362 f. Gesetzmäßigkeit 260 ff. Gewalt 32 f., 34 ff., 54, 66, 70, 111, 127 ff., 204 ff., 208 f., 249, 276 Glauben 228, 232, 343, 348, 357; Rechtfertigung i m — 121 Gott der Not 48, 170, 207; — tot 20, 83 Gottes Wort, göttliches W o r t des Menschen 67, 273 ff. Gottlosigkeit 47 Grammatik 12, 134, 181, 192, 222 ff., 240 ff., 246, 262 ff., 280; — der V e r fassung u n d gesellschaftlicher Prozesse 262, 275, 277, 280 ff., 286, 314, 316; — des Vertrauens u n d der Repräsentation 344; — der W i r k lichkeit 264, 282 Greisenalter des Geistes 108 ff. Grundrechte 282, 354 ff., 359 Handarbeit s. Kopfarbeit Hase u n d Igel als Metapher f ü r dialektisch-praktische Metaperspektiven 235, 238, 240, 244, 246, 276 Herr u n d Knecht, Knechtschaft 47 f., 49, 51, 170, 176/7, 208, 325 ff., 354 Herrschaft, innere/äußerliche 330 f., 346 ff., 360 Hierarchie 30, 354 Hörer i m Sprachspiel, i m Polylog 252 ff., 292 Ich, besseres 341 Ich/wir 142, 186, 269, 281, 284 f., 294 f., 298 f., 302 ff., 350 ff. Idealismus 26, 137, 142, 151, 217, 264 ff. Idee u n d Wirklichkeit 54, 71, 98, 112, 264 ff., 312 Ideelles/Materielles, Reales 183, 191, 202, 264 ff., 275, 292, 302 ff., 310, 351 ff. Ideen 209, 264 ff. ideologisch, Ideologie 265 ff., 345 ff., 348 f. 24 Suhr
369
ideonomisch, Ideonomie 266 ff. Igel s. Hase I m m u n i t ä t gegenüber Verfassungsstrukturen 285 in-sich-Phänomene 239, 244, 261, 282, 288, 362 Innen/Außen 71, 118, 130, 189, 230 ff., 261, 281, 288 ff., 297, 301 ff., 309 f., 312 ff., 330, 346, 350 ff., 361 f., 363 I n s t i t u t i o n 346, 360 Integration 361 Israel 42 ff., 53, 73, 300 Juden, jüdisch 40, 72, 100, 125, 230 juristische Person 350 ff. K a p i t a l 20; Das — von K . M a r x 17, 149 Karfreitag, spekulativer 20, 187 Katalysator, sprachlicher i m sozialen Prozeß 314, 347, 350, 360 f. Kirche, unsichtbare 43 klar-Sagung 277 Klasse 158, 166, 195 Knecht s. H e r r kognitiv-praktische Konsonanz 314, 347, 362 s. a. Zusammenstimmen Kognitive Dissonanz 311 ff. Kommunismus, utopischer 268 Konsonanz 12, 240, 243, 281 f., 291, 311 ff., 318, 347, 349, 361 f.; s. a. Z u sammenstimmen Konsonanzverfahren, demokratisches 347, 349 K o p f als Metapher f ü r Ideelles, f ü r Bewußtsein usw. 84, 96, 107, 132 f., 139 f., 144, 150, 175 f., 178, 183, 189 f., 197, 203, 206 f., 281, 289, 292, 324 f., 341 Kopfarbeit/Handarbeit 56 f., 190, 324 f. Kreis, Kreisform 233, 347, 354, 355, 362; s. a. zyklisch, Zyklokratie K r i e g 129 ff., 204, 310, 325 kritischer Rationalismus 218 ff., 361 kybernetisch 11, 273 Lage 231 ff., 301 Leiden 34 f., 37, 184, 189, 205, 293 ff. Liebe 47 f. List 12, 86 ff., 104 ff., 119, 353; — der Vernunft 58
370
aregister
Logik, dialektische 37, 57, 93, 132 ff., 216 f., 280; — Hegels 17, 90, 93, 115, 132 ff., 145; inner- u n d zwischensprachliche — 223, 248, 280; — der internen Repräsentation 294 ff., 342; — der Veränderung 36 f. L u x u s 73,170
Macht 35 f., 38, 45, 93, 94, 104, 347; — des Geistes 75, 94/5; der Sprache, des Wortes 12, 209 f., 264 ff., 273 ff., 348; — staat, nationaler 16 Mandat, imperatives vgl. 296 ff., 343 ff. Marxismus-Leninismus 17 Masse, massenhaft 32, 38, 157 ff., 176, 208 f., 212 Materialismus 154, 217 Materialismus, dialektischer 17, 29, 173, 196, 216, 264, 275, 315, 322; —, historischer 17, 216, 264, 275, 322 M a u l w u r f als Metapher f ü r untergründige geistige A r b e i t 12, 87, 110, 136 Mehrwert 194 Meinung, öffentliche 66 Mensch, gesellschaftlicher 25 f., 185, 212, 269, 284 ff., 297 ff., 305 ff., 316, 326 ff., 331, 344, 363; N a t u r des — 34, 37, 53, 126 f., 130, 213, 282 ff., 363; objektivierter — 212 f., 284 ff., 362f.; —, Verlust u n d Wiedergew i n n u n g 158 f., 307 f., 334 ff., 337; -enbild 48, 269, 297 f., 321, 342; -enkehricht 299; - w e r d u n g des göttlichen Wesens 51 Messias, Messianismus 41 f., 45, 54, 73, 93, 140 Metamorphose von Innerem i n Äußeres u n d umgekehrt 37, 326, 309; s. a. Innen/Außen Metasprache 239 ff., 253, 284 Mißtrauen 297, 343 ff. Mitbestimmung 299; — interne 293 ff., 309, 342 M i t t e l p u n k t 68, 74 ff., 79, 136, 156 Monarchie 94, 97, 106, 347, 352 Monolog 143, 254 f., 280 Morgenröte, weltanschauliche 15, 41, 76, 101, 117, 124
Nachwelt 70, 79, 110, 128 N a t u r 46 f., 321 ff.; zweite — 112, 346, 363; -philosophie 68, 84, 164; -zustand 127 ff.; s. a. Mensch Negation, Negativität, Verneinung 54, 71, 137, 177 ff., 197, 310, 313, 348; — der Negation 88 f., 173, 182; — i n Gott selbst 20 negative Seite der A r b e i t 193 ff., 268, 308, 324 f. Negatives 34, 36, 129 Neodialektik 215, 224 Netzplan 227, 241 Neues s. Altes N o r m und Wirklichkeit 11, 263 Not 73, 170, 300 Notstand 48, 170, 207, 301, 3071; -sverfassung 48, 301, 307 Notwendigkeit, dialektische 71, 191, 319 Objektivierung, Objektivation 57,314, 350, 362; — des Mißtrauens 343 Ökonomie, ökonomisch 175, 191, 195, 215 ff., 266, 2711, 345 Offenbarung 48 Offenheit der Verfassungstheorie 283 Oktoberrevolution 17 Ontologik 172, 348 ontologischer Aggregatzustand 351, 362 O p i u m für das V o l k 308, 335 Organ der Gesellschaft, des Sprachspiels 177, 183, 191, 305 f. Organisation des Bewußtseins 111, 148, 188 ff., 293 ff., 342 Pantheismus 82, 103 paradox 294, 305 Partisan 12, 135; s.a. M a u l w u r f ; Fisch Phänomenologie des Geistes 20, 51, 160, 168, 171, 193, 197, 212, 229, 236 Phönix 110, 239, 243, 2551, 259, 277, 283, 314 planmäßig und bewußt 192 ff., 203, 208, 272, 275, 362 Platzwechselei 243 ff. Polylog, polylektisch 252 f l , 2801, 283, 289, 292, 295, 317 Positivismusstreit 218
Sachregister praktisch, Praxis 12, 26, 39, 45, 57, 63, 66 ff., 133 ff., 136, 151, 173, 188 ff., 204, 217, 262, 267 f., 273, 304, 342; s. a. Theorie und Praxis Preußen 17, 31, 39, 75 f., 80, 91, 97, 106 ff., 312 Privatperson 21, 99 Produktion der Menschen durch die Menschen 167, 213, 297, 321 ff., 332 f. Produktionskräfte u n d -Verhältnisse 174, 180, 193 f., 204, 271 Prognose 225, 236, 361 Proletariat 136, 139, 151, 158 f., 195 ff., 207 f. Prometheus 137, 337 prophecy, self-fulfilling/suicidal 227 ff., 234, 275, 361 Prophet, Prophezeiung 225, 236, 238, 258 f., 275, 278, 361 psychologischer Zusammenhang 289, 294, 311, 349 Radikal 157 f., 335 ff. Reaktion 63, 98, 120, 308 Realdialektik 314 Realisierung 66, 113; s.a. V e r w i r k l i chung Recht 276 Rechtsstaat 261, 282, 362 f. Reflexion-in-sich 288; — bei der Herrschaft 346 Reformation 84, 94 ff. Reich, Deutsches, germanisches 15 f., 38 f., 56, 101, 108, 113, 139, 169 Reich, Reich Gottes, Reich der V e r nunft 42 f., 46 ff., 53, 56, 80, 89, 119 ff., 125, 151, 170, 204 Religion, religiös 19, 40 ff., 64, 73, 81, 91, 125, 130, 132, 177, 210, 273, 334 ff. Religionskritik 19 f., 29, 44, 53, 136 ff., 156 f., 177, 273 ff., 334 ff. Repräsentation, externe 308 ff., 342ff.; — interne 292ff., 342ff.; — aufrechte 293 ff., 302, 305 f., 310, 340 f., 344 ff.; — egozentrische 296 f.; — theozentrische 295 f., 300; — v e r dinglichende 299 ff.; — verkehrte 295 ff., 300, 302, 310 Resonanz, kognitive 12, 244, 267, 281, 291, 311 ff., 361 Resozialisierung der Gedanken 206 24*
371
Revolution, — Französische 17, 31, 63 f., 94, 96, 103, 111, 146, 152; — ohne Reformation 91, 84, 94 f.; nicht n u r politische — 84, 91, 94 f., 103, 135, 146, 157 ff. revolutionär 131, 145, 156, 179, 308, 334 ff. Revolutionskritik 44, 51 f., 334 ff. Ringparabel 210 Rolle 290, 311 Rose i m Kreuz 92, 117 Rückkopplung 221 f. R ü c k w i r k u n g 225, 235 f. Rußland 103, 286 Schranke des Lebens 34 f., 37 Sein/Bewußtsein 33, 127 f., 144, 172 ff., 199 f., 203, 269, 301, 304, 329 selbst- 180/1 Selbstbeherrschung 346, 362 Selbstbestimmung 47, 126 Selbstbewegung 141, 180 f., 188 Selbstbewußtsein 41, 92, 127, 141, 183 ff., 205 f.; — Gottes 141,155 Selbsterkenntnis, Selbstwissen 184, 206, 222, 247 Selbstherrschaft 346 ff. Selbstnegation 120, 319; s.a. W i d e r Spruch mit/in/gegen sich selbst Selbstorganisation 48 Selbstreferenzialität 241, 291 Selbstreflexion 220 f. Selbst Verständnis dieser A r b e i t 11, 291; Hegels — 58 f., 270; M a r x ' — 136 f., 139, 270 Situation, definierte 12, 226 ff., 265, 277, 279, 281, 285, 291, 307, 309 f., 323, 328, 334 ff., 348, 357 Situation, repräsentierte 300 Situationslogik 226 ff., 342 software, menschlich-soziale 234, 236 f., 240, 245, 263, 270, 285 Sozialisation 142, 252 ff. Sozialpsychologie 48 f. ; s. a. psychologischer Zusammenhang Sozialtechnik 225, 231, 253, 274, 311, 342, 350, 361 soziologischer Zusammenhang 289 f., 311 spekulativ 78, 133 f., 238 Spirale, s. Wendel Sprache, dialektische 132, 223 ff.
372
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Sprache, verfassen durch — 272 f., 276, 314, 248 f., 350 ff., 362 Sprachenschachtelung 223, 248, 280; s. a. Subjektschachtelung Sprachenwechselei 243 ff. Sprachprodukte 265 ff., 273 Sprachspiel 12, 242 ff., 247 f. Sprecher (im Sprachspiel, i m Polylog) 224, 252, 275, 292 Staat, — als Mechanisches, Maschine 21, 30; — u n d Religion bzw. Kirche 44, 49, 52/3, 55 f., 60, 91, 112 ff., 120 ff., 136 ff.; Spaltung des -es 40; alter, sterbender, toter — 21, 23 f., 114 ff., 124 ff., 147 ff., 263; vernünftiger — 97 ff. ; — u n d Weltanschauung 60 f., 98, 120 ff.; -sbegriff 30 ff.; -sgewalt 346 Stimmen i m Bewußtsein 189, 292 ff., 300 Strategie u n d T a k t i k 43, 52, 63 ff., 72, 81, 144, 342; s.a. M a u l w u r f ; Fisch Subjekt 141, 184 ff., 201 f., 299, 326, 339, 350 ff. subjektiver Faktor 172 Subjektivierung 272 f., 350 ff. Subjektschachtelung 352; s.a. Sprachenschachtelung Syntax 223f., 227, 237, 240; s.a. L o gik; Grammatik Systemprogramm, ältestes des deutschen Idealismus 20, 29 Systemtheorie, Systemanalyse 11, 23, 280 f., 347 Tat/Gedanke 154 ff., 179, 189/90, 191, 204 f., 267, 290 Tausch 194 Theologie u n d Philosophie 141 ; — und Verfassungstheorie 48, 278, 362 Theorie u n d Praxis 69 f., 78, 134, 156 f., 176 ff., 189 ff., 208 f., 211, 244, 248 ff., 268, 281, 305, 333 ff. Tod 50, 124 ff., 204 f. Transsubstantiation des I n n e r n i n Äußeres u n d umgekehrt 71, 138; s. a. Innen/Außen Überbau, s. übersetzen, hältnisse 300; von
Basis — gesellschaftlicher V e r i n Sprache 192, 208, 289, Ideellem ins Materielle
183; Inneres i n Sprache 289, 361; unverfaßter i n verfaßte Formen 372 Untertan, einander 326, 328 Vaterland 59, 66, 97 Veränderung 36 ff., 41, 87 f., 123, 132 ff., 145, 179, 223, 233, 263, 329 Verantwortung des Repräsentanten 345 Verdinglichung 299 ff. Verdrängung 261 f., 310, 312, 319 Verfahren 286, 316, 348 Verfassung, — Begriff 23 f.; geschriebene — 360 ff.; — als Katalysator 314; — als Einrichtung von Selbstnegationen 318; eine — machen 119, 168 f., 284; -gebung 235, 274 ff.; -sauslegung 22, 277; -sgeschichte 23, 310, 350; -sschrift, Hegels 29 ff., 53 ff., 125; -stext 282, 274, 310; -szustände 25, 32 Vergesellschaftung des Bewußtseins 297; — geistige 265, 268 f.; Vergesellschaftung Jesu, des göttlichen Bewußtseins 51 ff., 143; -des V e r haltens 309 Verinnerlichung 12, 33 ff., 71, 172, 281,292 ff., 302 f., 308 f. V e r j ü n g u n g 56, 73, 110, 117, 123 Verkehrung, verkehrt 71, 221, 232, 289, 295 ff., 314, 334 Verklärung 51, 53, 89, 108 f., 204 Verkündung 274 Vermittler, Vermittlung, mittelbare W i r k u n g 221, 223, 243, 285, 294, 305, 343 f. Vernunft 88 ff., 89, 92, 99, 238 v e r n ü n f t i g / w i r k l i c h 83, 86 ff., 89, 91 f., 108, 117, 128, 146 f., 150, 209 Versöhnung 111 f., 120 ff., 125, 127, 143, 312, 319, 347 Verstehen, Verständnis, — dialektischer Praxis 173; — der Gesetzessprache 361 f., der Hegeischen Sprache 185, 237 Verteilung der Herrschaft 48, 340 Vertrauen 73, 75, 118, 206, 342 ff., 344 Verweltlichung 20, 80, 89, 98, 112, 136 ff., 141, 279, 210, 334 ff., 352 V e r w i r k l i c h u n g 256; s. a. Tat/Gedanke; Transsubstantiaktion; p r a k tisch
Sachregister Verwirklichung der Ideen 34, 150 f., 153, 167; — der Philosophie bzw. Theorie 29, 56 ff., 67, 69, 71, 80, 84, 94, 137 ff., 140, 150 ff., 157 ff., 171, 197, 240, 314 V o l k 106, 113 f., 118, 125 ff., 169, 348 f.; -sdemokratie, -sherrschaft 282, 346 ff.; -sreligion 40 volonté general s. Allgemeinwille Vorgeschichte des Menschen 167, 202, 196, 214, 322 ff. Vulgärmaterialismus 202, 270 wahr-Sagung 227 ff., 264 f., 274 ff., 284, 361 Ware 162, 164, 194, 265 Wartburgfest 86, 99 f. Wechselwirkung 180, 221 f., 271 f. Welt, innere, ideale 33, 35, 37, 289 ff., 302, 312 ff., 363 Weltanschauung 18 ff., 25, 29, 60 f., 136 ff., 210, 311, 334 ff. Weltbild, Weltmodell 175, 186, 320 f. Weltgeist 56, 61, 63, 72, 80 f., 125, 127 ff., 180 f., 193, 210 Weltgericht 127, 160, 193, 204 Weltgeschichte 15, 55 f., 59, 72, 80, 84, 101, 103, 286 Weltlichkeit 20, 60; s.a. V e r w e l t l i chung Welttheater 247 f. Wendel 233, 243, 247 Werden s. Entstehen u n d Vergehen Werkmeister 48, 181
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Widerspruch 71, 92, 104 ff., 119 ff., 124, 135, 173, 178 ff., 218 ff., 222, 246, 248 ff., 266, 311, 315 ff., 326; zwischen Idee oder Begriff u n d Existenz 34, 37 f., 105; innersprachlich u n d zwischensprachlich 223, 248 Wider-Spruch 218 ff., 242 ff., 248 ff., 266, 313; — mit/in/gegen sich selbst 219, 266, 282, 329, 344ff., 348; s.a. Selbstnegation Widerstandsrecht 278 Wiedereinspeisung 234 ff., 244, 255, 277 Wille 47 f., 126, 191 f., 212, 286 f., 326 ff., 339, 340 ff., 345, 353, 354 ff. W i r s. Ich Wirklichkeit 90f., 92, 97; s.a. v e r nünftig Wort s. Sprache, Wort Gottes Wunder 51, 54, 274 Zeit 338, 347; Allgemeinheit i n der -dimension 59; — für den „großen M a n n " 93, 231; Langsamkeit des Weltgeistes 56; — für die Philosophie 77, 104, 121 ff., 128, 139, 285, 312 Zensur 22, 84, 86, 91, 98, 118, 161 Z i r k e l 211 Z u k u n f t 119, 152, 230 f., 259, 275 ff., 335, 351; s. a. wahr-Sagung Zusammenstimmen 186, 188, 288 ff., 314 ff., 346 f.; s. a. Konsonanz Zutrauen 30, 344 zyklisch, Zyklus 197, 225, 287, 347 Zyklokratie 287, 347; s.a. Kreisform