Verfassung und Krieg in der Verfassungsgeschichte: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hegne vom 19. bis 21. Februar 2018 [1 ed.] 9783428583225, 9783428183227

Die Beziehungen zwischen Verfassungsordnungen und Krieg sind eine historische Konstante. Die phänomenologische Vielfalt

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Verfassung und Krieg in der Verfassungsgeschichte: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hegne vom 19. bis 21. Februar 2018 [1 ed.]
 9783428583225, 9783428183227

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DER STAAT ZEITSCHRIFT FÜR STAATSLEHRE UND VERFASSUNGSGESCHICHTE, DEUTSCHES UND EUROPÄISCHES ÖFFENTLICHES RECHT

Herausgegeben von Lothar Schilling Christoph Schönberger Andreas Thier

Beiheft 26

Verfassung und Krieg in der Verfassungsgeschichte

Duncker & Humblot

Verfassung und Krieg in der Verfassungsgeschichte

BEIHEFTE ZU „DER STAAT“ Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht Herausgegeben von Armin von Bogdandy, Rolf Grawert, Oliver Lepsius, Christoph Möllers, Fritz Ossenbühl, Walter Pauly, Barbara Stollberg-Rilinger, Uwe Volkmann, Andreas Voßkuhle, Rainer Wahl

Heft 26

Verfassung und Krieg in der Verfassungsgeschichte Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hegne vom 19. bis 21. Februar 2018

Herausgegeben von Lothar Schilling, Christoph Schönberger, Andreas Thier Unter Mitwirkung von Hanno Menges

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: Meta Systems Publishing- und Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0720-6828 ISBN 978-3-428-18322-7 (Print) ISBN 978-3-428-58322-5 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bernd Kannowski Krieg und Herrschaftsverfassung im Hoch- und Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . .

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Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Horst Carl Militärische Organisation und bündische Verfassungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . .

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Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ronald G. Asch Krieg und Staat in Spanien und England im späten 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Neugebauer Verstaatung der politischen Gewalt. Brandenburg/Preussen von der Mitte des 17. zur Mitte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Günther Kronenbitter „Das letzte Bollwerk des Thrones und der Dynastie“? Die Streitkräfte der Habsburgermonarchie im österreichisch-ungarischen Dualismus . . . . . . . . . . . . 143 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Jakob Tanner Die Krise des Verfassungsstaates in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts – Das Beispiel der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Heinhard Steiger † „Neue Kriege“ und Verfassung. Vom Wandel des „Kriegsrechts“ seit 1990 . . . . 207 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Verzeichnis der Redner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Vereinigung für Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Verzeichnis der Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Vorbemerkung Die Begriffe „Krieg“ und „Verfassung“ bezeichnen in historischer Perspektive hochgradig veränderliche und zugleich in vielfältiger Weise aufeinander bezogene Phänomene. Für viele Epochen und Konstellationen dürfte es sogar schwierig sein, die Semantik des einen Begriffs näher zu bestimmen, ohne den jeweils anderen einzubeziehen. Dies gilt zumal, wenn als „Verfassungen“ nicht nur die seit 1787 entstandenen urkundlich fixierten rechtlichen Grundordnungen staatlicher Herrschaft und als „Kriege“ nicht lediglich die symmetrischen Staatenkriege der Neuzeit in den Blick genommen werden. Wie eng beide Phänomene aufeinander bezogen sind, zeigt etwa der Blick auf das mittelalterliche Verständnis des „Krieges“, dem die Vorstellung einer Störung der Rechtsordnung zugrunde lag. „Krieg“ – das Wort selbst wurde fast ausschließlich in Hendiadyoin-Formeln wie ,krieg und urloige‘ gebraucht, der Sachverhalt in der deutschen Sprache ansonsten meist als ,guerra‘ bezeichnet – wurde demnach als (gewaltsam ausgetragener) Streit um das Recht in seiner Gesamtheit verstanden. Im Rahmen von Forschungen zur „Staatsbildung“ wiederum ist vielfach auf den engen Zusammenhang zwischen den Kosten und den organisatorischen Herausforderungen der seit dem Spätmittelalter zunehmend aufwendigen Kriegführung und der Herausbildung ständischer Repräsentativversammlungen in den meisten europäischen Gemeinwesen hingewiesen worden – Versammlungen, die ihrerseits entscheidenden Anteil an der Entstehung von Herrschaftsverträgen, Wahlkapitulationen und anderen Fundamentalgesetzen hatten. Die Reihe der Belege für die enge Verflechtung von „Krieg“ und „Verfassung“ ließe sich unschwer verlängern – mit den religiösen Bürgerkriegen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, die zugleich „Staatsbildungskriege“ und gewaltsame Auseinandersetzungen um die Verfassung der betreffenden Gemeinwesen waren, über das Konzept der „Souveränität“ als Grundlage „legitimer“ Kriegführung, die Debatten des Aufklärungszeitalters über den Zusammenhang von innerer Verfassung und Bellizität bis hin zu den Heeres- und Verfassungskonflikten des 19. Jahrhunderts und den globalen Kriegen des 20. Jahrhunderts. So sehr aber „Verfassung“ und „Krieg“ in der Geschichte vielfach miteinander verknüpfte Phänomene waren, so problematisch ist es, sie als Faktoren eines Prozesses zu deuten, der auf die Entstehung moderner Verfassungs- und Machtstaaten hinführt. Solche Perspektiven einer verfassungsgerichteten Entelechie, seien sie als Ursprungsgeschichte oder als Modernisierungsnarrativ konzipiert, sind unhaltbar geworden. Die ihnen zugrundeliegenden Konzepte – etwa die Annahme einer zielgerichteten Entwicklung von den Söldnerheeren des 16. und 17. Jahrhundert über die stehenden Heere des „Absolutismus“ zu den Wehrpflichtigen-Armeen der Moder-

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Vorbemerkung

ne – sind mittlerweile geradezu irreparabel dekonstruiert oder durch Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit widerlegt. Tatsächlich sehen wir uns heute einer gesteigerten Vielfalt von Formen militärischer Gewaltübung gegenüber, die jegliche Versuche der verfassungs- wie der völkerrechtlichen Hegung von „Krieg“ vor größte Herausforderungen stellt. Umso ertragreicher erscheint es, das komplexe Verhältnis von „Krieg“ und „Verfassung“ in historischer Perspektive zu beleuchten und zu durchdenken. Diesem Ziel sind die nachfolgenden Beiträge gewidmet. Sie gehen zurück auf Vorträge anlässlich der Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte, die vom 19. bis 21. Februar 2018 in Hegne am Bodensee stattfand. Für vielfältige Unterstützung bei der Durchführung der Tagung und der Publikation der Beiträge danken wir unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, insbesondere Sabine Gerber (Konstanz). Die Verantwortung für Irrtümer und Unzulänglichkeiten liegt des ungeachtet allein bei uns. Augsburg/Düsseldorf/Zürich

Die Herausgeber

Krieg und Herrschaftsverfassung im Hoch- und Spätmittelalter* Von Bernd Kannowski, Bayreuth

I. Aufriss des Problems Hat Krieg überhaupt irgendetwas mit Recht zu tun? Ist Krieg nicht das Gegenteil von Recht? Entweder man unterwirft sich einem gerichtlichen Verfahren oder eben nicht. Dann – aber nur dann – steht der Weg zur Kriegführung offen. Die mittelalterliche Sichtweise ist anders.1 Dass es Raum für legitime und gewaltsame Selbsthilfe gab, ist bekannt.2 Dass Recht und Fehde sich nicht ausschlossen, ist ebenfalls nichts Neues. Arbeiten über Widerstandsrecht und Gottesgnadentum oder das mittelalterliche Fehderecht haben eine gewisse Berühmtheit erlangt.3 Nicht zu* Es handelt sich in weiten Teilen um eine Kurzfassung meines Vortrages „Das Recht des Eroberers im Mittelalter“, den ich am 5. Oktober 2016 auf der Herbsttagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte auf der Reichenau gehalten habe. Die von Hermann Kamp ausgerichtete Tagung hatte das Thema „Herrschaft über fremde Völker und Reiche. Formen, Ziele und Probleme der Eroberungspolitik im Mittelalter“. Mein besagter Vortrag wird in dem dazugehörigen Tagungsband erscheinen: Hermann Kamp (Hrsg.), Herrschaft über fremde Völker und Reiche. Formen, Ziele und Probleme der Eroberungspolitik im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 93), Ostfildern 2021, S. 63 – 91. 1 Bernd Kannowski, Rechtsbegriffe im Mittelalter. Stand der Diskussion, in: Albrecht Cordes/Bernd Kannowski (Hrsg.), Rechtsbegriffe im Mittelalter, Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 1 – 27 (9 – 11). 2 Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1: Bis 1250, Opladen 1999, S. 39 – 41; Heinrich Mitteis/Heinz Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, München 1992, S. 39 f., 155; Adolf Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, Berlin/New York 1996, S. 25, 88, 93; S. auch Ekkehard Kaufmann, Art. „Fehde“, in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 1. Aufl., Berlin 1971, Sp. 1083 – 1094, mit Nachweisen der älteren Literatur. Eine zusammenfassende Darstellung zur Frage des Widerstandsrechts ist zu finden bei Gerhard Dilcher, Art. „Widerstandsrecht“, in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann/Dieter Werkmüller (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5, 1. Aufl., Berlin 1998, Sp. 1351 – 1364. 3 Klassisch Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, 2. Aufl., Darmstadt 1954 (Erstauflage: Leipzig 1914). Nach Franz Beyerle, Das Entwicklungsproblem im germanischen Rechtsgang, Bd. 1: Sühne, Rache und Preisgabe in ihrer Beziehung zum Strafprozeß der Volksrechte, Heidelberg 1915, S. 235 – 262, geht die herrschende Meinung (des Jahres 1915) dahin, „eine rechtliche

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Bernd Kannowski

letzt gilt das für Otto Brunners bedeutendes Werk „Land und Herrschaft“ von 1939.4 Brunner kommt allerdings zu dem Ergebnis, Durchsetzung einer Rechtsposition durch Gewalt sei im Spätmittelalter ein Privileg des adeligen Rittertums gewesen.5 In meiner nun schon einige Jahre zurückliegenden Dissertation6 habe ich versucht zu zeigen, dass dies keineswegs nur ein Vorrecht des Adels war.7 Anders als Brunner meint, lässt es sich auch in dem frühesten geschlossenen Friedensraum der mittelalterlichen Welt beobachten. Ich beziehe mich auf die mittelalterliche Stadt. Auch hier herrschte die Auffassung, es sei in extremen Situationen legitim, seine Rechtsposition mit Waffengewalt durchzusetzen.8 Von der viel beschworenen städtischen Friedensordnung kann für diese Episoden deshalb keine Rede sein. Vielmehr setzten sich höchst unzufriedene Bürger, oftmals Handwerker, mit Gewalt gegen ein von ihnen als ungerecht empfundenes Regime zur Wehr. Dabei konnte es Verletzte und Tote geben. So etwa in der thüringischen Stadt Nordhausen. Hier waren die Handwerker am Vorabend des St. Valentinstages 1375 siegreich und konnten sich auch in der Folgezeit behaupten. Sie machten den Hochmut der Ratsherren, also einen Verstoß gegen die christliche Weltordnung, zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Vorwürfe.9 Unbezahlbar hohe Steuern hätten die alten Räte verlangt und gesagt, wer sie nicht zahlen könne, der solle eben einfach auswandern. Zudem hätten die Herren die Bürger mit Waffengewalt eingeschüchtert. Die Rechtfertigung für die ihrerseits geübte Gewalt stützten die Bürger auf das Fehderecht: Das Verhalten der Ratsherren sei ein Anerkennung i. S. eines subjektiven Rechtes, gewisse Unrechtstaten mit Fehde zu beantworten“, anzunehmen (S. 237 m. w. N.), was er allerdings ablehnt. 4 Ich verwende folgende Fassung: Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 5. Aufl., Wien 1965. Vgl. die Rezension der Erstauflage von Heinrich Mitteis, Land und Herrschaft: Bemerkungen zu dem gleichnamigen Buch Otto Brunners, Historische Zeitschrift 163 (1941), S. 255 – 281. Entschieden gegen Brunner Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter, Frankfurt a. M./New York 1996, S. 35, 196 f. und passim. In der Tat bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Bestimmungen zum Fehderecht im Mühlhäuser Rechtsbuch, Herbert Meyer, Das Mühlhäuser Reichsrechtsbuch aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts, 3. Aufl. Weimar 1936, S. 172 – 176. 5 Brunner (Fn. 4), S. 19, 62 f., 67, 72. 6 Bernd Kannowski, Bürgerkämpfe und Friedebriefe. Rechtliche Streitbeilegung in spätmittelalterlichen Städten, Köln/Weimar/Wien 2001. 7 So auch schon in Bernd Kannowski, Widerstand de facto und de jure. Die Grenzen kommunaler Herrschaft im Spätmittelalter, in: Martin F. Polaschek/Anita Ziegerhofer (Hrsg.), Recht ohne Grenzen – Grenzen des Rechts. Europäisches Forum Junger Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker Graz 1997, Frankfurt a. M. 1998, S. 65 – 72. 8 Kannowski, Bürgerkämpfe und Friedebriefe (Fn. 6), S. 63 – 68, 194 f. und passim. 9 Institut für deutsche Landes- und Volksgeschichte an der Universität Leipzig (Hrsg.), Quellen zur älteren Geschichte des Städtewesens in Deutschland, 1. Teil, Weimar 1949, S. 181 – 187 (Nordhausen 1375); Historische Kommission der Provinz Sachsen (Hrsg.), Urkundenbuch der Stadt Magdeburg, Bd. 1, bearb. v. Gustav Hertel, Halle 1892 (ND Aalen 1975), Nr. 334, S. 201 (1330. Mai 8).

Krieg und Herrschaftsverfassung im Hoch- und Spätmittelalter

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Angriff gewesen, gegen den die Bürger „eine rechtmäßige Notwehr“ geübt hätten. Diese habe dann, wie es weiter in dem Schriftstück heißt, mit Gottes Hilfe zum Erfolg geführt.10 Die mit der Fehde verbundenen Rechtsformen wurden demnach auch in der Stadt beachtet. Einen Sieg betrachtete man als ein Gottesurteil,11 welches die gewaltsam erlangte Herrschaftsposition legitimierte. Auf dieser Grundlage konnte altes Unrecht aus dem Weg geräumt und durch neues Recht ersetzt werden. Dass also das Recht zu gewaltsamem Widerstand in einem heute kaum noch vorstellbaren Rahmen anerkannt war, ist klar. Dem werde ich nichts mehr hinzufügen. Ich will mich vielmehr der Frage zuwenden, inwiefern Krieg bzw. Erwerb durch Krieg nach mittelalterlicher Auffassung Herrschaft legitimieren konnte. Das ist die Frage danach, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen ein Eroberungsrecht anerkannt war und welche Rechte der Eroberer hatte.12 Dafür halte ich es nicht für zweckdienlich, mich ausschließlich der Verfassung eines bestimmten Reiches oder einer sonstigen Herrschaft zuzuwenden. Es geht mir vielmehr – soweit eine solche Darstellung überhaupt möglich ist – um mittelalterliches Rechtsdenken an sich.

II. Die rechtliche Etymologie des Eroberers Als Ausgangspunkt werfe ich einen Blick auf das antike römische Recht.13 Dieses unterschied für rechtmäßigen Erwerb einerseits zwischen den Rechtsobjekten, an welchen ein Recht erworben werden kann, also Land, Sklaven und beweglichen Sachen. Andererseits unterschied das römische Recht noch in Bezug auf den Kontext des Erwerbes zwischen Krieg und Frieden. So konnte Land in Friedenszeiten nur dann originär erworben werden, wenn es herrenlos war. Dies konnte z. B. für eine Insel im Meer gelten.14 Man sprach dann von Okkupation (occupatio).15 Das mag wie ein bizarrer Einzelfall erscheinen, doch wird sich die Bedeutung für unser 10 Kannowski, Bürgerkämpfe und Friedebriefe (Fn. 6), S. 43 – 49, dort auf S. 45 f. der Originaltext der Nordhäuser Urkunde nebst einer neuhochdeutschen Übersetzung. 11 Ebd., S. 48. 12 Dazu im Einzelnen mein in Fn. * erwähnter Vortrag vom 5. Oktober 2016. 13 Dazu auch Donald Sutherland, Conquest and Law, Studia Gratiana 15 (1972), S. 35 – 51 (39 – 43). 14 D. 41.2.1.1: „Dominiumque rerum ex naturali possessione coepisse nerva filius ait eiusque rei vestigium remanere in his, quae terra mari caeloque capiuntur: nam haec protinus eorum fiunt, qui primi possessionem eorum adprehenderint. item bello capta et insula in mari enata et gemmae lapilli margaritae in litoribus inventae eius fiunt, qui primus eorum possessionem nanctus est.“ 15 Adolf Berger, Encyclopedic Dictionary of Roman Law, Philadelphia 1953 (ND Philadelphia 1992), sub voce Occupatio (S. 606).

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Thema noch erschließen. Im Krieg erobertes Land gehörte stets dem römischen Staat.16 Im Krieg dem Feind entrissene bewegliche Gegenstände aber wurden nach dem ius gentium zu Privateigentum.17 Auf der gleichen Rechtsgrundlage wurde jeder, der als Kriegsgefangener seine Freiheit verlor, zum Sklaven. Daran anknüpfend kannte das mittelalterliche Kriegsrecht (ius militare) ebenfalls ein Recht des Beutemachens, trennte dabei aber nicht so deutlich wie die Römer zwischen verschiedenen Vermögensgegenständen. So besagt ein Traktat über den Heidenkampf des Deutschen Ordens aus dem 15. Jahrhundert, alles im Krieg Erworbene stehe den im Dienste des Glaubens Kriegführenden zu, die Gefangenen ebenso wie die Beute und auch das Land.18 Eine Ablehnung des Eroberungskrieges ist hier mitnichten erkennbar. Und dieser Standpunkt ist auch konform mit der Lehre vom gerechten Krieg des Thomas von Aquin. Danach bedürfe es für einen solchen dreier Voraussetzungen: der Vollmacht eines Fürsten, eines gerechten Grundes und der rechten Absicht.19 Noch klarer bringt es Dante in seiner Monarchia auf den Punkt: Das römische Volk habe bei der Unterwerfung des Erdkreises im Dienste des Gemeinwohls gehandelt.20 Die in Alesia eingeschlossenen, verhungernden Gallier unter Vercingetorix hätten das vermutlich anders gesehen. Aber wie dem auch sei: Nach Dantes Auffassung muss am Kriegführen zum Zweck der Eroberung nichts Verwerfliches sein, vielmehr gilt für ihn wohl sogar das Gegenteil. Diese Auffassung kommt auch darin zum Ausdruck, dass sich bei dem lateinischen Wort conquisitor, wie es seit dem Mittelalter für Eroberer Verwendung findet, gegenüber der Antike eine Bedeutungsverschiebung ergeben hat. In der Antike war ein conquisitor jemand, der im Dienste des Gemeinwesens etwas sorgfältig sucht oder nachprüft. Das konnte ein Steuereinnehmer oder auch Rekrutierungsoffizier sein.21 Eine notwendig militärische Bedeutungsebene hatte das Wort conquisitor aber nicht. Ein Eroberer in diesem Sinne war in der Antike ein expugnator. 16

D. 49.15.20.1 a. E.: „publicatur enim ille ager qui ab hostibus captus sit.“ D. 41.1.5.7. Zu dieser Unterscheidung Berger (Fn. 15), sub voce Occupatio rerum hostilium (S. 606 f.). 18 Erich Weise (Bearb.), Die Staatsschriften des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert, Bd. 1: Die Traktate vor dem Konstanzer Konzil (1414 – 1418) über das Recht des Deutschen Ordens am Lande Preußen, Göttingen 1970, S. 385 (Traktat über den Heidenkampf des Deutschen Ordens des Augsburger Domherrn Rudolfus Medici). 19 Thomas v. Aquin, Summa Theologica II – II, hrsg. v. Petrus Caramello, Turin/Rom 1952, quaestio XL (De bello), art. 1 (S. 206 f.). Auch Vertreter der spanischen Spätscholastik hielten die Einverleibung eroberter Gebiete als Ausgleich für Schäden ausdrücklich für zulässig, Hans Wehberg, Krieg und Eroberung im Wandel des Völkerrechts, Frankfurt a. M./Berlin 1953, S. 15. 20 Dante Alighieri, Monarchia, hrsg. v. Prue Shaw, Cambridge 1996, Lib. 2, V.5, V.18, VII.11. 21 Karl E. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Hannover 1959 (ND der v. Heinrich Georges besorgten 8. Aufl. v. 1913), sub vocibus conquisitor, conquisitio, conquiro, Sp. 1497 f. 17

Krieg und Herrschaftsverfassung im Hoch- und Spätmittelalter

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Im Mittelalter konnte das Wort expugnator zwar ebenfalls die Bedeutung „Eroberer“ haben. Der Bedeutungsschwerpunkt scheint hier jedoch auf dem Bezwingen mit roher Gewalt und dem Verbreiten von Angst und Schrecken gelegen zu haben. So heißt es von dem polnischen Fürsten Skarbimir, es sei zu Beginn des 12. Jahrhunderts sein Wunsch gewesen, expugnator genannt zu werden. Aus diesem Grund habe er mit kühner Gewalt eine Festung erstürmt, viele Gefangene und Beute gemacht und sodann alles mit Stumpf und Stiel niedergebrannt.22 Bei einem conquisitor hingegen stand das Unterwerfen von Reichen und Völkern im Vordergrund, was der hier betrachteten rechtlichen Bedeutungsebene sehr viel näher kommt. Als conquisitor bezeichnen die Quellen bedeutende Könige wie Karl Martell23 und natürlich den sprichwörtlichen Eroberer Wilhelm,24 auf den ich noch näher zu sprechen kommen werde. Als legitim angesehene Eroberungen waren häufig mit der Ausbreitung des Christentums verbunden. Häufig, aber nicht immer. Schon anhand des soeben erwähnten sprichwörtlichsten aller Eroberer Wilhelm wird dies deutlich. Ebenso deutlich wird es anhand einer Geschichte von Friedrich Barbarossa, die uns sein Chronist Otto von Freising überlieferte. Die Bürger von Rom hätten von Barbarossa im Gegenzug für seine Krönung die Zahlung von 5.000 Pfund gefordert. Das habe ihn sehr verärgert, immerhin sei er davon ausgegangen, er oder seine Vorgänger hätten Italien durch Tapferkeit erobert. Aus diesem Grund sei er, Barbarossa, Italiens rechtmäßiger Besitzer gewesen. Legitimus possessor sum, so sprach der Kaiser. Viele Römer habe er mit den Seinen daraufhin erschlagen. Als habe er sagen wollen: „Empfange jetzt, Rom, statt arabischen Goldes deutsches Eisen. Das ist das Geld, das dir dein Kaiser für deine Krone zahlt.“25 Dieser Spott macht deutlich, wie abwegig Barbarossa die Geldforderung fand: Kraft Eroberung sei er der rechtmäßige Herr gewesen.

22 Jan Szlachtowski/Rudolf Köpke (Hrsg.), Chronicon Polonorum, in: Georg Heinrich Pertz (Hrsg.), Chronica et annales aevi Salici (MGH SS IX), Hannover 1851, S. 418 – 478 (cap. 30, 456). 23 Hugo Flaviniacensis, Chronicon Virdunense, in: Georg Heinrich Pertz (Hrsg.), Chronica et gesta aevi Salici (MGH SS VIII), Hannover 1848, S. 288 – 502 (343, Z. 20); auf den ersten Blick könnte man auf den Gedanken kommen, mit dem als conquisitor regnorum bezeichneten Karolus sei hier Karl der Große gemeint. Dem steht jedoch entgegen, dass der besagte Karolus einen König Pippin zum Sohne gehabt haben soll (Z. 31 f.), was nicht auf Karl den Großen, wohl aber auf Karl Martell zutrifft. Ferner wird Karl der Große in der Chronik im Folgenden als Karolus Magnus (nicht lediglich als Karolus) bezeichnet. 24 Ludwig C. Bethmann (Hrsg.), Genealogia comitum Flandriae, in: Pertz (Hrsg.), MGH SS IX (Fn. 22), S. 302 – 336 (VI.7, 318): „Haec [Mathilda] autem nupsit Guillelmo comiti Normannie et conquisitori Anglie, peperitque ei Guillelmum, post patrem regem Anglie.“ 25 Otto v. Freising/Rahewin, Gesta Frederici seu rectius Cronica/Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica, hrsg. v. Franz-Josef Schmale, übers. v. Adolf Schmidt, Darmstadt 1974, 2. Buch, Kap. 35, S. 357, Z. 4 – 6.

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III. Die Rechtssetzungsbefugnis des Eroberers Was ein Eroberer regelmäßig macht und zumindest nach zeitgenössischer Auffassung auch machen darf, ist eine vollständige Erneuerung des Rechts. Nach einer Eroberung ist rechtlich gesehen Tabula rasa.26 Sämtliche vorherigen rechtlichen Strukturen verschwinden und werden vom Eroberer durch neue ersetzt.27 Die alten bleiben nur dann bestehen, wenn der Eroberer das ausdrücklich will. Eines der bekannteren Zeugnisse dieser Rechtsauffassung ist der Sachsenspiegel Eikes von Repgow (um 1230).28 Eike ging davon aus, das von ihm in seinem Rechtsbuch wiedergegebene Recht basiere auf einem Gesetzgebungsakt Karls des Großen nach seiner Eroberung, mit der gleichzeitig auch die Christianisierung der Sachsen einhergegangen war.29 Nur an einer einzigen Stelle seiner Rechtssammlung sagt Eike, es sei den Sachsen gelungen, drei Bestimmungen ihres alten vorchristlichen Rechts gegen den Willen Karls des Großen zu behalten.30 Als hingegen der Glossator des Sachsenspiegels Johann von Buch um das Jahr 1325 sein Werk erstellte, regte er sich über diese Stelle des Sachsenspiegels so sehr auf wie über wohl keine andere. Was Eike da geschrieben habe, sei Unsinn. Es sei nicht möglich, dass ein Volk sein altes Recht gegen den Willen Karls des Großen behalte.31 Die Tabula-rasa-Situation eines Eroberers – ob nun de facto oder de jure oder beides – stand dem studierten, im römischen Recht geschulten Juristen also noch viel deutlicher vor Augen als einem in der alten Rechtsgewohnheit versierten Gerichtspraktiker des hohen Mittelalters, wie Eike von Repgow einer war. 26 Robert Bartlett, Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel von 950 bis 1350, München 1996, S. 121 (Original: The Making of Europe. Conquest, Colonization and Cultural Change, 950 – 1350, London 1993). 27 So hatte Wilhelm der Eroberer „the unlimited rights of a conqueror“ – mit der Konsequenz, dass „in no case […] could any Englishman found a claim on right from before the conquest“, Sutherland (Fn. 13), S. 45 f. 28 Hier verwendete Ausg.: Carl Gustav Homeyer (Hrsg.), Des Sachsenspiegels erster Theil oder das Sächsische Landrecht. Nach der Berliner Handschrift v. J. 1369, 3. Aufl., Berlin 1861. 29 Ebd., Textus Prologi (S. 138): „Nu aver we bekart sin unde uns got weder geladet hevet, nu halde we sine e unde sin gebot, dat sine wiessagen uns geleret hebbet unde geistlike gude lüde, unde ok kerstene konige gesat hebbet: Constantin unde karl, an den sassen land noch sines rechten tiüt.“ 30 Ebd., Ldr. I.18 (S. 174): „Drierhande recht behelden de sassen wider karles willen […]“. Eike geht grundsätzlich davon aus, dass nach der Eroberung durch Karl den Großen seine neue Rechtssetzung das alte sächsische Recht komplett ersetzte. 31 Frank-Michael Kaufmann (Hrsg.), Glossen zum Sachsenspiegel – Landrecht, I. Buch’sche Glosse, Teil 1 (MGH Fontes Iuris Germanici Antiqui. Nova Series 7/1), Hannover 2002, S. 226 – 229. Dazu Bernd Kannowski, Der Sachsenspiegel und die Buch’sche Glosse – Begegnung deutschrechtlichen und romanistischen Denkens?, in: Gerhard Dilcher/Eva-Marie Distler (Hrsg.), Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur, Berlin 2006, S. 503 – 524 (511 – 521).

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IV. Normannische Eroberungen in England und im Heiligen Land Ich will nun, wie angekündigt, auf den sprichwörtlichen Eroberer Wilhelm zu sprechen kommen und in diesem Zusammenhang noch ein weiteres Beispiel normannischer Eroberung behandeln. Dieses wird mich zurück in die Zeit des ersten Kreuzzuges führen. Zunächst aber zu Wilhelm. Vorausschicken möchte ich, dass sich in diesem Zusammenhang nicht so vorbehaltlos von „Recht“ sprechen lässt, wie das vornehmlich in der älteren verfassungsgeschichtlichen Literatur zuweilen anzutreffen ist. So ist es m. E. verfehlt davon auszugehen, normannische Fürsten hätten bei Eroberungen von Städten im Vorderen Orient eine Form von „Rechtstheorie“ vertreten.32 Mit einem weiteren Rechtsbegriff, wie Dietmar Willoweit ihn in seiner Arbeit über die Herrschaftsverfassung vertritt,33 lässt sich eine Betrachtung unter rechtlichen Gesichtspunkten allerdings sinnvollerweise durchführen. Rechtliche Aspekte spielen eine Rolle, wenn sie für die Legitimation von Herrschaft oder in vielschichtigen Debatten auftauchen. So war das Recht als Legitimation von Herrschaft für Wilhelm den Eroberer durchaus von zentraler Bedeutung. Die Rechtsposition eines Eroberers war eine wackelige, und vermutlich war das auch Wilhelm klar. So führte er gleich mehrere Rechtfertigungsstrategien ins Feld. Zum einen interpretierte er den Halley’schen Kometen als ein himmlisches Zeichen für ein Gottesurteil, kraft dessen ihm der Sieg über seinen Gegner Harold zugefallen sei. Eine entsprechende Darstellung findet sich auf dem berühmten Teppich von Bayeux.34 Weiterhin versicherte sich Wilhelm des Rechts zur Eroberung Englands, indem er sich von Papst Alexander II. eine gesegnete Fahne des heiligen Petrus zuschicken ließ. Dazu fand der Papst sich bereit, weil England geschuldete Abgaben nicht geleistet hatte.35 Auch schon vor knapp tausend Jahren konnte es also fatale Folgen haben, seine Steuern nicht zu zahlen. 32 So Ludwig Buisson, Erobererrecht, Vasallität und byzantinisches Staatsrecht auf dem ersten Kreuzzug, Hamburg 1985, S. 4 f. 33 Dietmar Willoweit, Landesstaatsrecht als Herrschaftsverfassung des 18. Jahrhunderts, Rechtsgeschichte 19 (2011), S. 333 – 352 (350); Dietmar Willoweit/Steffen Schlinker, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 8. Aufl., München 2019, S. 2. 34 Wolfgang Grape, Der Teppich von Bayeux. Triumphdenkmal der Normannen, Frankfurt a. M./Wien 1994, S. 124: „Regum terror cometa, post initium altitudinis tuae coruscans, exitium tibi uaticinatus fuit“; Marjorie Chibnall/Ralph H. C. Davis (Hrsg. und Übers.), The Gesta Gvillelmi of William of Poitiers, Oxford 1998, II.25, S. 140 – 143: „The comet, terror of kings, which burned soon after your elevation, foretold your doom“; s. auch Elisabeth van Houts, The Norman Conquest through European Eyes, English Historical Review 110 (1995), S. 832 – 853. 35 Jacques-Paul Migne, Patrologia latina, Bd. 188, Paris 1855, Sp. 285; dazu Michel Zimmermann, La crise de l’organisation internationale à la fin du moyen âge, Paris 1934, S. 46; eine weitere Rechtfertigungsstrategie für Wilhelm ist zu finden bei Richard FitzNeal, Dialogus de Scaccario, zusammengefasst dargestellt bei Sutherland (Fn. 13), S. 45 f.

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Ich will nun zu meinem Kreuzzugsbeispiel kommen und mache dafür einen Zeitsprung um etwa 70 Jahre rückwärts. Wir befinden uns auf einem öffentlichen Platz in Clermont, wo Papst Urban II. im Jahr 1095 eine berühmt gewordene flammende Rede hielt.36 Er hatte durchschlagenden Erfolg, denn Tausende nahmen daraufhin das Kreuz, d. h., sie zogen bereitwillig aus auf einen Kreuzzug nach Jerusalem, um die Stadt von den Moslems zurückzuerobern. Dabei ließ der Heilige Vater die biblische Geschichte von der Eroberung Kanaans durch die Israeliten unter Führung Josuas anklingen, die auf göttliche Weisung hin geschehen sein soll.37 Parallel dazu sah der Papst einen göttlichen Auftrag für die Befreiung Jerusalems. Bei einem späteren Konzil wurde dann festgelegt, wie genau es um die Besitzverhältnisse an dem eroberten Land bestellt sein sollte. Danach sollte eine Stadt jeweils demjenigen gehören, der sie als Erster in Besitz nimmt.38 Möglicherweise knüpfte das an alte skandinavische Vorstellungen von einem Erobererrecht an, die nach der Berührung mit den Franken mit Herrschaftsformen des Lehnswesens verschmolzen waren.39 Das ließ sich bereits bei der Belehnung Rollos mit der Normandie im Jahre 911 greifen und kam auch bei der bereits erwähnten normannischen Eroberung Englands im Jahre 1066 zum Tragen.40 Für die Kreuzzugsunternehmung kam jedoch für die normannische Position erschwerend hinzu, dass die Vorstellungen des byzantinischen Kaisers Alexios I. mitzuberücksichtigen waren. Der wusste nämlich nichts von einem normannischen Erobererrecht. Vielmehr ging er auf Grundlage des zuvor beschriebenen römischen Rechts davon aus, dass sämtliche eroberten Gebiete an den Staat, für den Kaiser hieß das an ihn, zu übergeben waren. Der Eid, den die auf dem ehemals von ihm kontrollierten Territorium tätigen Kreuzfahrer leisteten, enthielt allerdings auch eine Verpflichtung zu Treue und Schutz. Das war – und so etwas ist einem byzantinischen

36 Heinrich Hagenmeyer (Hrsg.), Fulcheri Carnotensis Historia Hierosolymitana (1095 – 1127). Mit Erläuterungen und einem Anhange, Heidelberg 1913, S. 130 – 138; deutsche Übersetzung in Régine Pernoud, Die Kreuzzüge in Augenzeugenberichten, übers. v. Hagen Thürnau, München 1971, S. 21 – 22; eine kritische Würdigung der unterschiedlichen Übersetzungen mit offenbar eigener, jedenfalls von der Hagenmeyer’schen abweichender Übersetzung des Berichts des Fulcher von Chartres findet sich bei Karl-Friedrich Krieger, Papst Urban II: Aufruf zum Kreuzzug am 27. November 1095, in: Kai Brodersen (Hrsg.), Große Reden. Von der Antike bis heute, Darmstadt 2002, S. 28 – 44 (40 f.); abweichende Überlieferung der berühmten Papstrede durch Robertus Monachus, Historia Iherosolomitana, in: Recueil des Historiens des Croisades. Historiens occidentaux III, Paris 1866, S. 727 – 729, deutsche Übersetzung bei Krieger (Fn. 36), S. 42 – 44, sowie Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt a. M./Berlin 1987, S. 318 – 320. 37 4. Mose 21,3; Richter 1,17. 38 Buisson, Erobererrecht (Fn. 32), S. 18. 39 Ebd., S. 5; Ludwig Buisson, Formen normannischer Staatsbildung (9. bis 11. Jahrhundert), in: Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte (Hrsg.), Studien zum mittelalterlichen Lehenswesen. Vorträge gehalten in Lindau am 10.–13. Oktober 1956, Lindau/ Konstanz 1960, S. 95 – 184 (125). 40 Buisson, Erobererrecht (Fn. 32), S. 5.

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Imperator gänzlich unbekannt – eine Verpflichtung für ihn.41 Es handelte sich also um einen wechselseitigen Vertrag, aus dessen Verletzung durch beide Seiten sich jeweils rechtliche Konsequenzen ergeben konnten. So sahen das offenbar die Kreuzfahrer, nicht aber Alexios. Bei der Belagerung von Antiochia kam es dann zum Schwur. Die Kreuzfahrer waren der Meinung, Alexios habe wegen mangelnder Unterstützung seinen Eid gebrochen.42 Daraus folgte für sie nach dem abendländischen Vasallenrecht, dass sie an den beeideten Vertrag nicht mehr gebunden seien und dem Kaiser folglich die Stadt im Falle ihrer Eroberung auch nicht übergeben müssten. So beanspruchte dann in der Folge der Normannenfürst Bohemund nach gelungener Eroberung die Herrschaft für sich. Das sah der byzantinische Kaiser natürlich vollkommen anders. Die Kreuzfahrer waren sich wegen des geleisteten Eides ihrer Sache nicht sicher und legten sie deshalb dem Papst zur Entscheidung vor.43 Nach langem Ringen einigten sich Alexios und Bohemund im Jahre 1108 schließlich auf einen Kompromiss,44 kraft dessen Bohemund für die Zeit seines Lebens die Herrschaft über Antiochia übertragen bekam. Nach seinem Tod sollte diese allerdings an Byzanz fallen. Ein wesentliches Merkmal eines Lehens im abendländischen Sinne wurde hier also gerade nicht anerkannt. Zwar wurde Bohemund selbst aufgrund eines Eides eine Art Vasall des byzantinischen Kaisers. Erblich sollte das Ganze – und das ist entscheidend – allerdings nicht sein. Das Erobererrecht und ein damit korrespondierendes Lehen waren ersichtlich für das europäische Mittelalter typische verfassungsrechtliche Vorstellungen, die sich nicht in eine etablierte fremde Welt und deren Herrschaftsvorstellungen importieren oder gar integrieren ließen.45 Hier ging es um wirklich Grundsätzliches.

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Ebd., S. 30. Ernst-Dieter Hehl, Eroberung und Herrschaft im Denken des hohen Mittelalters, in: Markus Meumann/Jörg Rogge (Hrsg.), Die besetzte res publica. Zum Verhältnis von ziviler Obrigkeit und militärischer Herrschaft in besetzten Gebieten vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Münster/Berlin 2006, S. 27 – 49 (48), stellt für das 12. Jh. fest, dass eidliche Gehorsams- und Treuepflichten nicht mehr auf die konkrete Person des aus dem Eid Berechtigten, sondern auf einen politischen Verband im weiteren Sinne bezogen wurden. Damit entfiel die Eidespflicht gegenüber einem Herrscher, der sich schwerer Verfehlungen schuldig machte. Jedenfalls im Ergebnis ist das auch hier zu beobachten. 43 Buisson, Erobererrecht (Fn. 32), S. 60. 44 Inhalt des Vertrages bei Anna Komnene, Alexias, hrsg. und übers. v. Diether Roderich Reinsch, Berlin/New York 2001, S. 461 – 474; dazu Buisson, Erobererrecht (Fn. 32), S. 71 – 81. 45 Buisson, Erobererrecht (Fn. 32), S. 80, geht davon aus, dass es grundsätzlich im Vertrag von Deabolis „kein Recht [gibt], das vom Untertanen gegenüber dem Basileus etwa im Sinne einer Herrentreue des Vasallenrechts geltend gemacht werden könnte: Die ligische Treue ist einseitig auf den Willen des Basileus, des von Gott Erwählten, seine staatsrechtliche Gewalt und die Einheit ,Romania‘ ausgerichtet“. 42

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V. Christliche Eroberungen im Heidenland – die Goldene Bulle von Rimini Für meinen nächsten Schritt möchte ich beim Thema Kreuzzüge bleiben, mich dabei allerdings sowohl zeitlich als auch räumlich in andere Gefilde begeben. Auf die Bitte eines christlichen polnischen Fürsten hin leisteten die Ritter des Deutschen Ordens Waffenhilfe gegen die heidnischen Pruzzen. Die rechtlichen Verhältnisse, die in den neu eroberten Gebieten gelten sollten, bestimmte kein Geringerer als Friedrich II. von Hohenstaufen in der viel beachteten Goldenen Bulle von Rimini.46 Ein Schwerpunktthema des zwischen 1226 und 1235 entstandenen Dokuments ist fraglos das der Eroberung.47 Viermal ist von conquisitio die Rede, was ein Autor unserer Tage mit „kriegerische Erwerbung“ übersetzt.48 Die Urkunde ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil dem Orden für die neu zu erwerbenden Gebiete Aufgaben des Königs übertragen wurden.49 So war nach Niederwerfung der Feinde der Frieden zu erhalten und damit der Weg zu einem rechten Glauben und Leben zu bereiten. Dabei erhielt nicht etwa eine bestimmte Person wie beispielsweise der Hochmeister das Recht zugebilligt, das eroberte Land zu behalten. Dieses stand hier vielmehr dem Orden an sich zu. Symbolisiert durch das Haus St. Marien in Jerusalem tritt er als rechtlich eigenständige Körperschaft auf. Aus Sicht eines heutigen Juristen spricht einiges dafür, den Deutschen Orden als eine juristische Person zu bezeichnen.50 In dieser Rechtsform erhielt der Orden ausdrücklich ein allein dem König zustehendes Recht zugebilligt, das in einer Reihe mit anderen Regalien genannt wurde.51 Es war als Aneignungsrecht an herrenlosen Grundstücken konstruiert, das von jeher dem König zustand.52 46 Von den vielen Editionen sei hier allein verwiesen auf jene in: Walther Hubatsch (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Deutschen Ordens, Göttingen 1954, Nr. 5, S. 46 – 53, mit deutscher Übersetzung. 47 Carl August Lückerath, Art. „Goldene Bulle“, in: Robert-Henri Bautier/Robert Auty (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. IV, München/Zürich 1989, Sp. 1541 f. (1541). 48 Erich Weise, Interpretation der Goldenen Bulle von Rimini (März 1226) nach dem kanonischen Recht, in: Klemens Wieser (Hrsg.), Acht Jahrhunderte Deutscher Orden in Einzeldarstellungen. Festschrift für Marian Tumler anläßlich seines 80. Geburtstages überreicht von den Mitgliedern und Freunden des Ordens, Bad Godesberg 1967, S. 15 – 48 (34), übersetzt conquisitio mit „kriegerische Erwerbung“. 49 Hartmut Boockmann, Art. „Deutscher Orden“, in: Robert-Henri Bautier/Robert Auty (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters, Bd. III, München/Zürich 1986, Sp. 768 – 777 (772); Weise, Interpretation (Fn. 48), S. 39, 47. 50 Dazu im Einzelnen Hans-Jürgen Becker, Die Steinerne Brücke zu Regensburg als „juristische Person“, in: Diethelm Klippel (Hrsg.), Colloquia für Dieter Schwab zum 65. Geburtstag, Bielefeld 2000, S. 105 – 116 (116). 51 Dazu Bernd Kannowski, Der roncalische Regalienbegriff und seine Vorgeschichte, in: Gerhard Dilcher/Diego Quaglioni (Hrsg.), Die Anfänge des öffentlichen Rechts, Bd. 1: Gesetzgebung im Zeitalter Friedrich Barbarossas und das Gelehrte Recht, Bologna/Berlin 2007, S. 157 – 177.

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Die Auffassung, dass eine Eroberung ein legitimer Herrschaftstitel sein kann, entsprach auch dem zeitgenössischen kanonischen Recht.53 Das ergibt sich aus einer Stelle des Decretum Gratiani (um 1145),54 die der Papst damals mehrfach bestätigt hat.55 In Anknüpfung an eine Geschichte von einem erfolgreichen Kriegszug Abrahams aus dem Alten Testament vertritt Gratian den Standpunkt, alles im Rahmen eines Kriegszuges Erworbene stehe dessen Anführer zu. Die Glosse zu der Stelle56 hält fest, dass es in diesem Punkt eine Abweichung vom gemeinsamen Recht aller Völker, dem ius gentium, gebe. Im Krieg erworbene Dinge fielen nicht direkt den erfolgreichen Kämpfern zu. Diese seien vielmehr gehalten, alles dem Anführer zu übertragen, auf dass er es gemäß den Verdiensten auf die Einzelnen verteile. Das individuelle Ergreifungsrecht, wie es das zuvor zitierte römische Recht zubilligte, wird damit bedeutungslos. Eine knappe Zusammenfassung am Rand gibt den wesentlichen Inhalt des Glossentextes wieder: Die öffentliche Beute (Praeda publica) gehöre dem Herrn, der den Kriegszug leitet.57 Die Goldene Bulle von Rimini erhob nun den deutschen Orden als Körperschaft in die Position ebendieses Kriegsherrn. Selbst wenn also der Ausgangspunkt gewesen sein mag, dass der Orden im Auftrag von Kaiser oder Papst eroberte: Das eroberte Land mit allen Hoheitsrechten stand dem Orden selbst zu. Es bekamen also nicht nur die Soldaten als Lohn für ihren Einsatz irgendeinen Anteil der Kriegsbeute zugesprochen. Das wäre auch nichts Neues gewesen. Vielmehr wurde einer Körperschaft eine dauerhafte autonome Herrschaft zuerkannt, die mit der Verantwortung für Frieden im Dienste der Christenheit verbunden war. Dabei hat sich Friedrich II. von Hohenstaufen die in der Urkunde niedergelegten Bestimmungen wohl kaum selbst und ohne Beteiligung des Ordens ausgedacht. Es liegt nahe, dass er lediglich etwas zuvor Ausgehandeltes bestätigte.58 Es wurde also der Rechtsstatus des Eroberers und seiner Eroberung in Vertragsform zwischen mindestens zwei Parteien für die Zukunft festgeschrieben. Auch wenn es regelmäßig problematisch ist, für das Mittelalter von Staatsbildung zu sprechen: Es liegt nah,

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So nennt die Urkunde das Recht an dem, was der Orden mit dem Zutun Gottes erwerben sollte in einer Reihe mit dem „alten und gebührenden Recht des Reiches an Bergen und Ebenen, Flüssen, Wäldern und dem Meer“ („vetus et debitum ius imperii in montibus, planitie, fluminibus, nemoribus et in mari“). Dazu Weise, Interpretation (Fn. 48), S. 37. 53 Weise, Interpretation (Fn. 48), S. 21, 34. 54 Emil Friedberg (Hrsg.), Corpus iuris canonici, Bd. I: Decretum Magistri Gratiani, Leipzig 1879 (ND 1955), C. 23 qu. 5 c. 25. 55 Weise, Interpretation (Fn. 48), S. 33. 56 Hier zitiert nach der Ausg. Lyon (Ausultus) 1559, abrufbar unter: https://reader.digitalesammlungen.de/resolve/display/bsb10162366.html (abgerufen am 4. 6. 2020). 57 Glossa sub voce omnia (Fn. 56, S. 881): „Praeda public[a] est domini sub quo militatur“ (Die öffentliche Beute gehört dem Herrn, unter welchem in den Krieg gezogen wird). 58 Weise, Interpretation (Fn. 48), S. 31; ein solches Vorgehen war in der mittelalterlichen Beurkundungspraxis kein Einzelfall, Bernd Kannowski, Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die Buch’sche Glosse (MGH Schriften 56), Hannover 2007, S. 87.

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dass wir es hier mit Anfängen von Staatlichkeit und Völkerrecht im modernen Sinne zu tun haben.59

VI. Das Recht des Eroberers im Inseltraktat des Bartolus de Saxoferrato Als letzte Station will ich mich noch der spätmittelalterlichen Rechtswissenschaft zuwenden, genauer ihrem vielleicht berühmtesten Vertreter. Bartolus de Saxoferrato60 verfasste im Laufe seines mit nur 43 Jahren kurzen Lebens eine ganze Reihe bedeutender Traktate. Darunter ist ein kleinerer Text, der nicht gerade zu seinen bekanntesten zählt, dennoch aber in der Geschichte des modernen Völkerrechts eine Rolle spielt.61 Ich meine Bartolus’ Traktat über Inseln (De insula).62 Bartolus gibt diesem Werk zusätzliches Gewicht, indem er sagt, ein Engel sei ihm im Traum erschienen, um ihn zu beauftragen, das kleine Werk zu verfassen. Den für die Zeichnungen notwendigen Zirkel habe der Engel gleich mitgebracht und ihm höchstpersönlich überreicht.63 Was haben nun Inseln mit Eroberungen zu tun? Solange diese unbewohnt sind, gar nichts. Dieses Thema behandelt Bartolus zunächst auch und hält sich damit im Rahmen des Privatrechts. Es geht darum, unter welchen Voraussetzungen sich durch Besitzergreifung (occupatio) Eigentum begründen lässt. Das funktioniert freilich per definitionem nur bei herrenlosen Sachen. Das wirft dann natürlich die Frage auf, was genau „herrenlos“ bedeutet. Damit wiederum korrespondiert, ob es nicht vielleicht Beherrschungsarten gibt, die nicht anzuerkennen sind, womit die entsprechenden Güter mit herrenlosen auf einer Stufe stünden. Außerdem muss man sich fragen,

59 Von Anfängen des Völkerrechts im heutigen Sinne im 13. Jh. geht aus Heinhard Steiger, Die Ordnung der Welt. Eine Völkerrechtsgeschichte des karolingischen Zeitalters (741 – 840), Köln/Weimar/Wien 2010, S. 16. 60 Susanne Lepsius, Art. „Bartolus de Saxoferrato“, in: Albrecht Cordes u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 2008, Sp. 450 – 453. 61 Wilhelm Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 154. 62 Hier verwendete Ausg.: Bartoli interpretum iuris civilis coryphaei, in Institutiones et Authenticas, commentaria. Eiusdem tractatus XXXIX, Basel (Froben) 1562 (Bartolus de Saxoferrato, Opera omnia 5, ND Frankfurt a. M. 2007), S. 637 – 648 (Inseltraktat). Überaus hilfreich für mich war eine zweisprachige Ausg. der Traktate des Bartolus zur politischen Theorie, die meine Kollegin Susanne Lepsius gemeinsam mit Oliver Bach (beide München) derzeit vorbereitet und die mir ihre Urheber freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben. Dies hat mir die Arbeit sehr erleichtert. Den beiden gilt mein herzlicher Dank. 63 „Cumque nocte illa dormirem, prope diem, visum est mihi quod ad me quidam homo veniret, cuius aspectus mihi placidus erat, dixitque: haec quae cogitare coepisti, scribe. & quia oculorum aspectione indigent, per figuras signa, ecce aportavi tibi calamum, quo mensuras & figuras facies circulares, & lineam qua lineas ducas figurasque formes.“ Bartoli interpretum iuris civilis (Fn. 62), S. 625 (linke Spalte).

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was genau eine Insel ist. Mit Wasser umgeben ist ja nun vieles, letztlich sogar alles, auch wenn Bartolus das in seiner ganzen Dimension noch nicht klar war. Damit allerdings befasst sich Bartolus gar nicht und hebt seinen Inseltraktat sogleich auf eine generellere Ebene. Er sagt, zuweilen sei auch die Inbesitznahme von Orten erlaubt, die sich bereits in der Sachherrschaft eines Volkes befinden. Bei dieser Rechtsfrage sei nicht danach zu differenzieren, ob es sich um eine Insel oder einen anderen Ort handele. Was Bartolus hier vor Augen hat, sind von Ungläubigen besiedelte Gebiete. Dass er diese Frage im Rahmen von Inseln anspricht, steht in einer Linie damit, dass nach der Konstantinischen Schenkung dem Papst die Herrschaft über alle „Inseln“ zustehen sollte. Was Bartolus hier als „Insel“ bezeichnet ist also ein Generalbegriff für alle unbewohnten, neu entdeckten oder auch von Heiden bewohnten Gebiete.64 Ein Recht zur Ergreifung solcher Gebiete könnten abstrakt nur diejenigen zubilligen, die nicht an Gesetze gebunden sind. Das seien einerseits der Kaiser, andererseits der Papst. Alle anderen Fürsten seien davon ausgeschlossen. Sie könnten nur das weiterverleihen, was sie selbst bereits kontrollierten. Den kriegerischen Akt der Ergreifung selbst sieht Bartolus dabei durchaus als etwas Rechtliches an. Jedenfalls benutzt er als Kriterium für den Beginn eines Krieges genau die gleichen prozessualen Formen, mit denen ein Streit vor Gericht unumgehbar beginnt. In beiden Fällen – so Bartolus – sei von einer Litis contestatio65 auszugehen.66 Darüber hinaus befasst er sich noch mit der Frage, wie es um die Gesetze der in den besetzten Gebieten lebenden Völker bestellt ist. Hier vertritt Bartolus nicht die Tabula-rasa-Auffassung, wie sie in früheren Jahrhunderten zu erkennen war. Er meint, der Eroberer könne das Recht des eroberten Volkes nur dann ändern, wenn seine Eroberung zur Bestrafung eines Rechtsbruches erfolgt sei. Weiter sei danach zu unterscheiden, ob der Herrscher oder die Untertanen den Rechtsbruch begangen hätten. Je nachdem, wie die Rechtssetzungsbefugnis aufgeteilt sei, rücke der Eroberer allein in die Rechtsposition des Bestraften ein. Die legislative Gewalt gehe demnach nur dann komplett auf den Eroberer über, wenn sich beide – also Herrscher und Untertanen – eines Rechtsbruches schuldig gemacht hätten.67 In diesem Fall sei es auch legitim, sich der Güter als Beute zu bemächtigen. Mit alledem kann nur ein christliches Volk gemeint sein, denn die Beibehaltung heidnischer Lebensweisen kam für einen christlichen Gelehrten wie Bartolus gewiss nicht in Betracht. Insofern kommt zu den legitimen Eroberungen ein weiterer Fall hinzu. Nicht nur von Heiden 64

Grewe (Fn. 61), S. 154. Dazu Steffen Schlinker, Litis Contestatio. Eine Untersuchung über die Grundlagen des gelehrten Zivilprozesses in der Zeit vom 12. bis zum 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2008. 66 „nunc in proposito, sicut in bello civili quod fit in iudincio, illud, quod fit ante litem contestatam, dicitur praeparatorium, per litem contestatam. incipiunt tractari merita causae […] ita in bello navali omnia praeparatoria sunt ante bellum inchoatum. Postquam vero quis cum exercitu iverit super illum cuius terram quis vult occupare, dicitur res inchoata.“, Bartoli interpretum iuris civilis (Fn. 62), S. 639, Rn. 5. Bartolus allegiert in diesem Zusammenhang D. 50.16.12. 67 Bartoli interpretum iuris civilis (Fn. 62), S. 639 (rechte Spalte, Rn. 10 f.). 65

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bewohnte Gebiete, sondern auch von Christen besiedelte konnten demnach offenbar von Rechts wegen erobert werden. Das ist nach Bartolus allerdings nur als Bestrafung für einen Rechtsbruch welcher Art auch immer legitim.68 Auch wenn es aus unserer Perspektive im Wesentlichen um hoheitliche Befugnisse geht, denkt Bartolus in den privatrechtlichen Kategorien des römischen Rechts.69 Die Trennung, wie wir sie heute vollziehen, kennt er nicht.70 Diese Ideen verbindet er mit lehnsrechtlichen Vorstellungen seiner Zeit.71 Danach sei eine Person, die in einem Lehensverhältnis zu einem Herrn steht, allein aus diesem Grund in ihrer Befugnis beschränkt, Rechte an andere weiterzugeben. Die Trennung des römischen Rechts zwischen kriegerischer Eroberung und originärem Eigentumserwerb verschwimmt bei Bartolus. Seine Auffassung sollte bei der rechtlichen Behandlung großer Entdeckungen in den folgenden Jahrhunderten wegweisend sein. Das aber geht über das Mittelalter weit hinaus, und deshalb höre ich hier auf.

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Dazu mein in Fn. * erwähnter Vortrag vom 5. Oktober 2016. Susanne Lepsius, Iurisdictio und districtus bei Jacques de Révigny. Die Auseinandersetzung der französischen Legistik des 13. Jahrhunderts mit einem staufischen Herrschaftskonzept, in: Gerhard Dilcher/Diego Quaglioni (Hrsg.), Die Anfänge des öffentlichen Rechts, Bd. 2: Von Friedrich Barbarossa zu Friedrich II., Bologna/Berlin 2008, S. 247 – 276 (250), verweist auf die „feudalen Konnotationen“ eines umfassenden Verständnisses des römischrechtlichen Begriffs dominium im Mittelalter. 70 Dieter Schwab, Art. „Eigentum“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 65 – 115 (69, Fn. 20), weist zu Recht darauf hin, dass der Begriff Eigentum im Mittelalter „weder institutionell öffentlichrechtlich, noch institutionell privatrechtlich [war]“. 71 Grewe (Fn. 61), S. 156. 69

Diskussion Thier: Vielen herzlichen Dank für einen, wie ich finde, sehr anregenden und vor allem auch sehr materialreichen Vortrag, der vielleicht, wenn ich das als eigene kleine Beobachtung sagen darf, doch sehr deutlich macht, dass das Phänomen Krieg jedenfalls im Hoch- und Spätmittelalter immer auch etwas zu tun hat, soweit es normativ beurteilt wird, mit der Existenz oder der Wahrnehmung von universalen Rechtsordnungen. Das ist ja sehr deutlich geworden in Deinem Vortrag. Wir bewegen uns im Horizont eines als universal verstandenen kanonischen Rechts und im Horizont eines universal gedeuteten römischen Rechts. Hier ist der Krieg plastischer Indikator auch für erste Ansätze von universalen Rechtsdiskursen. Wir würden vielleicht heute sogar sagen, von globalisiertem Recht. Aber das greift schon sehr weit vor. Meine Damen und Herren, the floor is open. Wir steigen in die Diskussion ein. Ich bin gespannt auf Ihre Rückmeldungen. Oestmann: Vielen Dank. Ich habe eigentlich zwei Punkte. Der erste knüpft gleich an den Anfang Deines Vortrags an. Da hattest Du ein paar Beispiele gebracht für legitime Gewalt und hast ein bisschen über die Fehde gesprochen. Das würde mich interessieren, nach Deiner Wahrnehmung, wo der Unterschied zwischen Fehde und Krieg verläuft. Also ich würde sagen, wahrscheinlich der Bezug zu dem jeweiligen Herrschaftsträger. Aber das würde mich interessieren, wo Du die Grenze ziehst. Und das zweite knüpft an die Bemerkung von Andreas Thier an mit diesem universalen Recht. Mir ist aufgefallen, dass mehrere Beispiele, die Du gebracht hast, sich in irgendeiner Weise auf das gelehrte Recht bezogen haben. Da würde mich interessieren: Gibt es in dieser rechtsgewohnheitlichen Tradition, also im ungelehrten Recht, irgendwelche Hinweise auf Recht, das mit Krieg zu tun hat? Das würde ich mir methodisch schwierig vorstellen. Das ungelehrte Recht baut ja auf Gewohnheit auf. Wenn man sagt, Krieg ist die Ausnahme von der Gewohnheit, gibt es da vielleicht keine Gewohnheit? Aber ich weiß das nicht, das würde mich interessieren, ob es dort Quellen gibt. Wo man sagt „Kriegsrecht“, sich also eindeutig außerhalb des gelehrten Rechts bewegt. Kannowski: Nach diesem mittelalterlichen Sprachgebrauch, also zeitgenössisch, gibt es zwischen Fehde und Krieg meiner Meinung nach überhaupt keinen Unterschied. Das ist einfach eine spätere, wissenschaftliche Betrachtungsweise, die die Fehde als irgendetwas Formalisierteres auffasst. In diesem ritterlichen Kontext bedeutet das also, dass ich dafür einen bestimmten Grund brauche oder ich muss mein Vorgehen mit einem bestimmten zeitlichen Abstand ankündigen. Hinzu kommt der adelige Kontext der Fehde und die durch Brunner beschriebenen Rechts-

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formen, denen sie unterworfen ist. Aber dass ich eine mittelalterliche Quelle kennen würde, die Krieg und Fehde unterscheidet, das könnte ich nicht sagen. Oestmann: Das reicht ja als Forschungsbegriff. Man könnte doch sagen, eine Fehde gibt es zwischen Privatpersonen. Hat es auch einen Krieg zwischen Privatpersonen gegeben? Das ist doch schwierig. Kannowski: Nicht für diese Zeit. Wenn ein Krieg nach unserer Auffassung eine Auseinandersetzung zwischen anerkannten Völkerrechtssubjekten ist, dann ist die Frage, wie man das fasst. Mit dieser kategorialen Trennung zwischen einerseits Krieg zwischen Privatpersonen und andererseits zwischen so etwas wie Staaten komme ich für diese Zeit überhaupt nicht weiter. Das ist das Problem mit dem ungelehrten Recht, nachdem das Rechtsgewohnheit ist, muss man dieses entweder aus den wenigen Quellen, die wir haben ableiten oder man muss dieses aus Chroniken und dem Verhalten von Personen herausinterpretieren. Und das habe ich an einer Stelle kurz mit dem normannischen Erobererrecht behandelt. Der Autor, der diese Abhandlung über den ersten Kreuzzug schreibt, nimmt darauf Bezug und vermeint im Verhalten, im Diskutieren, in den Forderungen, die die Normannen aufstellen etwas zu erkennen, das sie aus ihrer alten skandinavischen Welt mitgebracht haben. Eines seiner Argumente ist die Belehnung Rollos im Jahr 911. Es könne nicht möglich sein, sich auch nur irgendwie formal einem Herrn im Rahmen dieses Lehensverhältnisses zu unterwerfen und dass deswegen so eine Eigenkonstruktion aufgebaut wird, die etwas mit originärem Erwerb durch eine Eroberung zu tun hat. Das wäre ein Beispiel, was ich dazu anführen könnte. Der Sachsenspiegel, den ich ganz gut kenne, beschäftigt sich meines Wissens an keiner Stelle mit dieser Frage. Zwar gibt es dort Regeln für den Zweikampf vor Gericht und für die Fairness im Kampf an sich. Zu der Frage aber, unter welchen Zuständen ein gewaltsamer Erwerb legitim sein soll, findet sich nichts. Solche Vorschriften, die ich im kanonischen und römischen Recht finde, vermag ich im nichtgelehrten Recht nicht zu finden. Thier: Das ist vielleicht auch vom normativen Status der consuetudo her erklärbar, die ja immer einer ganz bestimmten Gruppe zugerechnet wird. Und vielleicht jetzt jeweils des jus gentium, das wird ja schon eine Gelehrtenkategorie, die möglichweise nicht diese universalen Qualitäten zu entfalten vermag. Das ist aber nur ein Verdacht, und ich wollte nicht in Deine Überlegungen hineinfahren. Westphal: Ganz herzlichen Dank. Ich habe eine Frage mit Bezug auf die Legitimation von eroberten Gebieten. Spielt da die Diskussion über Entschädigungen eine Rolle? Denn dass man Herrschaftsansprüche legitimiert mit Entschädigungen für die Kriegsführung, ist typisch für die Frühe Neuzeit. Ist das überhaupt ein Argument? Das wäre die eine Frage. Und noch eine Verständnisfrage, bitte. Einmal haben Sie von Eigentum gesprochen. Dann stellt sich für mich die Frage, was ist mit der Unterscheidung zwischen Besitz und Eigentum. Was geschieht eigentlich, wenn ich Gebiete erobere und der Eigentümer ist nicht die Partei, mit der ich Krieg geführt habe, sondern nur der Besitzende ist jemand, mit dem ich Kriege führe. Was geschieht dann mit dem Eigentum bzw. Eigentumsrecht? Die dritte Frage, die sich mir noch gestellt

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hat: Erlöschen die Rechte des ehemaligen Eigentümers vollständig oder gibt es so etwas wie eine Kontinuität von Rechtsansprüchen? Dies könnte der Fall sein in der Rechtspraxis, etwa, dass ein Herrscher aus dieser Eroberung wieder die Legitimität für weitere Kriege der Rückeroberung zieht. Kannowski: Zu der Entschädigungsfrage kann ich aus meinen Forschungen und Erkenntnissen, die ich daraus gezogen habe, nichts sagen. Zu den beiden anderen Fragen hingegen kann ich vielleicht etwas sagen. Also zu Besitz und Eigentum. Da habe ich einen zeitlichen Bruch oder Unterschied erkannt. Einerseits Wilhelm der Eroberer, 11. Jahrhundert. Und andererseits das, was Bartolus sagt. Zur Zeit Wilhelms des Eroberers im 11. Jahrhundert gibt es natürlich kein Eigentum in unserem Sinne. Da waren die vorherigen Fürsten, die Gebiete innehatten, die sie vom vorherigen König erhalten hatten. Diese ganzen Beziehungen erlöschen. Die Ordnung wird komplett neu begründet. Nachdem Wilhelm der Eroberer 1066 England einnimmt, werden Lehensregister aufgeschrieben, die man bis heute hat. Von Privateigentum in unserem heutigen Sinn kann für diese Zeit keine Rede sein. Wir haben hier eine Lehenspyramide von Adligen. Nachdem die komplette Herrschaft ausradiert wird, wird auch diese ausradiert und zum Teil erneuert, aber nur soweit Wilhelm das will, und soweit er das nicht will, wird es eben nicht gemacht. Bartolus hingegen spricht einerseits von dominium, andererseits von jurisdictio. Dominium bedeutet Eigentum, also das Privateigentum in unserem Sinne, jurisdictio beschreibt hingegen herrschaftliche Gewalt. Er sagt, durch eine Eroberung erlangt man nur eine jurisdictio. Das dominium bleibt unberührt, solange das nicht eine Bestrafung für einen Rechtsbruch ist. Dann sind Enteignungen schon legitim, aber eben nur in diesem Ausnahmefall. Das scheint eine durchaus andere Auffassung zu sein, als 300 Jahre vorher im angelsächsischen England bei der normannischen Eroberung. Carl: Vielen Dank, auch ich habe viel gelernt. Ich möchte anknüpfen an das, was Frau Westphal gefragt hat und an den sehr interessanten Traktat von Bartolus. Sie haben es gerade mit den Erläuterungen zu jurisdictio angesprochen, dass auch ein Eroberer durchaus restringiert ist. In bestimmten Kontexten kann er nicht machen, was er will. Das scheint dann doch bei Wilhelm dem Eroberer anders zu sein. Meine Frage: Steckt dahinter vielleicht schon das Konzept, dass Eroberung nicht unbedingt legitime Herrschaft verleihen kann, weil dies erst im Friedensvertrag oder in einer Friedensvereinbarung geschehen kann? Gab es also in diesem Kontext schon so etwas wie eine „militärische Okkupation“ als eine Art Zwischenstatus, der noch keine legitime Herrschaft verleiht? Man könnte Bartolus entsprechend auslegen, und spätere Völkerrechtler beziehen sich ja auch auf diesen Traktat. Die Frage ist, wie ist man im Mittelalter in der Praxis damit umgegangen? Kannowski: Von einem Friedensvertrag schreibt Bartolus nichts. Dieser Inseltraktat ist nicht sonderlich lang. Das meiste behandelt Fragen, die mit dem, womit ich mich beschäftige, nichts zu tun haben. Da geht es wirklich um Inseln. Also Fragen wie: Wenn eine Insel im Meer liegt, wie weit darf sie vom Festland entfernt sein,

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damit noch Herrschaft begründet wird? Wie nah darf sie an anderen Inseln liegen? Was er über Eroberung sagt, ist kurz. Das ist nur ein kleines Anhängsel am Ende. Eine Stelle, an der Bartolus auf die Bestrafung für den Rechtsbruch eingeht und diese Differenzierung, welche Teile von Ständen, welche Körperschaften für die Gesetzgebung zuständig sind und wen man davon bestrafen kann, darlegt. Und das ist alles. Da ist nicht die Rede von einem Friedensvertrag, der auf diesen Grundlagen Herrschaft legitimieren würde. Thier: Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass diese Unterscheidung zwischen dominium und jurisdictio schon in die Richtung eines solchen Besetzungsrechts weist. Die kategoriale Unterscheidung ist ja greifbar. Ich denke mir, das ist eines der Sprungbretter, die in der Frühen Neuzeit die entsprechenden Traktionen entfalten. Das nur als eine Fußnote, wenn ich das sagen darf. Kannowski: Ja gerne. Ich bin auch daran interessiert, weiterzulernen. Thier: Das ist auch ein faszinierendes Thema. Das sehe ich auch an der Rednerliste, die sich ein wenig füllt und auf der ich als nächstes Susanne Lepsius habe, dann Herrn Hillgruber und dann Herrn Schmidt. S. Lepsius: Vielen Dank, wir haben ja im Vorfeld über den Inseltraktat korrespondiert, so dass mir nun der Kontext Deines Untersuchungsinteresses viel deutlicher wird. Ich wollte anknüpfen an die Bemerkung von Andreas Thier über die universale Rechtsordnung und ich möchte das in der Richtung zuspitzen, dass es nicht ums römische Recht geht, sondern aus meiner Sicht sehr stark um die Kaiseridee als normativer Anker, von dem hergedacht wird, um eine neue Ordnung legitimerweise abzuleiten. Und das kann man mit den Inseln insofern verknüpfen, weil es im römischen Recht die schöne Aussage gibt, dass über das Wasser, also das offene Meer, der Kaiser die jurisdictio, also die Rechtsprechungsbefugnis, hat. Wobei es im Inseltraktat, wie Du richtig gesagt hast, nicht primär um die Fragen des Krieges und des Eroberungsrechts geht, sondern um die Inselfrage als Eigentums- und Herrschaftsproblem. Ganz wichtig ist die Frage, um welche Art von Inseln es sich handelt, also in einem Flusslauf, der sich plötzlich ändert, also Süßwasserinseln, die dann privatrechtlich weiterverarbeitet werden, weil es natürlich dann Flussanrainer gibt, die dann mit diesen Figuren Zuteilungen zu diesen Inseln bekommen, oder ob es sich um eine Insel im offenen Meer handelt. Nur bei einer Insel im offenen Meer, die also vollkommen weit weg von jeglichen anderen Herrschaftsgebieten liegt, stellen sich die uns interessierenden öffentlich-rechtlichen Fragen, nämlich, wie rechtfertigen wir Eroberung oder wie rechtfertigen wir eine neue Ordnung. Allerdings muss man sich vor Augen halten, dass Bartolus mitten in Italien schrieb. Das war zu seiner Zeit bereits ein vollkommen durchherrschter Raum, die Jurisdiktionsverhältnisse waren völlig klar. Daher hat Bartolus wahrscheinlich so sehr vor Augen gehabt, was in der Frühen Neuzeit und rezeptionsgeschichtlich an seinem Text interessant wurde, nämlich die Entdeckung eines ganzen Kontinents, der dann rechtlich als Insel verarbeitet wurde, z. B. im Kolumbus-Prozess und Ähnliches. Bartolus von Sassoferrato scheint da seiner Zeit voraus gewesen zu sein: vielleicht ging es ihm auch nur darum, das Phänomen

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von Natur und Naturereignissen und die daraus abzuleitenden, rechtlichen Folgerungen zu reflektieren und dabei insbesondere Jurisdiktionsverhältnisse bis hin zu merum ed mixtum imperium abzuklären. Er ist ja auch am Tiber entlanggelaufen und entwickelte diese Gedanken. Also insofern kann man von ihm auch nicht verlangen, die hier aufgeworfenen Anschlussfragen zu erörtern, inwieweit es eines Friedensvertrages bedarf oder inwieweit man, wenn man auf Eingeborene trifft, sich konkrete Gedanken machen muss um deren Rechte. Aber es ist natürlich interessant, dass er die Inseln zum Gedankenexperiment benutzt. Das nur zum Abrunden Deiner Ausführungen. Eine konkrete Rückfrage habe ich aber allerdings zum ersten Punkt, was das Beispiel angeht mit dem Lehensrecht und Eroberungsrecht, wo Du einen Unterschied herausgearbeitet hast zwischen dem Alexius und dem Eroberer, der nur auf Lebenszeit diese Lehen bekommen sollte. Mir wird nicht ganz deutlich, inwieweit da ein wirklich harter Kontrast ist, weil das ursprüngliche Lehensrecht ja auch nicht von der Erblichkeit der Lehen ausgeht, sondern von der Notwendigkeit, Lehen zu erneuern. Insoweit ist mir das nicht wirklich deutlich geworden bei Deinem Beispiel, ob man so einen harten Gegensatz aufmachen sollte zwischen der römischrechtlichen Vorstellung, die natürlich nur das Eroberungsrecht auf Zeit und damit nur den Übergang wieder zu rechtlich geordneten, auf einen Kaiser zugeführten Rechtszuständen markieren möchte, und diesen lehensrechtlichen. Kannowski: Vielen Dank für die erweiterten Bemerkungen zu Bartolus und vielen Dank an Susanne Lepsius, die mit einem Co-Autor eine Übersetzung dieses Traktats angefertigt hat und mir diese im Vorfeld für die Vorbereitung zu diesem Vortrag überlassen hat. Das war eine große Hilfe. Was das Lehensrecht anbelangt, welches Du angesprochen hast und meinst, dass seine Erblichkeit dafür nichts so Wichtiges oder Kennzeichnendes oder jedenfalls in der ursprünglichen Auffassung nicht so verstanden worden sei: Ich habe gedacht, dass es anders wäre. Ich dachte, im politischen Testament Karls des Kahlen, einer Urkunde aus dem Jahr 877, sei die Erblichkeit von Lehen anerkannt. Auch im Sachsenspiegel sind gerade die Erblichkeit von Lehen und was passiert, wenn der Lehensherr verstirbt, und ob der Lehensherr verpflichtet ist, das Lehen weiterzugeben, entscheidende Punkte. Das war auch bei dieser Diskussion, die zwischen Alexius und Bohemund abgelaufen ist und die zu diesem Kompromiss mit dem Papst geführt hat, ein Gesichtspunkt, der immer wieder aufgeworfen wurde, weil der eine genau das erreichen wollte, dass es nämlich etwas Erbliches werden sollte, und der andere genau das nicht zugestehen wollte. Deshalb habe ich die Einigung als einen Kompromiss bezeichnet. Zwar bekommt Bohemund schließlich, was er will, aber eben nur auf Lebenszeit. Ich bin schon der Meinung, dass jedenfalls seit dem hohen Mittelalter die Erblichkeit von Lehen ein wichtiger Charakterzug davon ist, was sich allgemein reichsrechtlich beobachten lässt. Hillgruber: Vielen Dank für Ihren interessanten und anregenden Beitrag. Im Anschluss auch an die Diskussion und Ihre Reaktion darauf drängt sich mir die Frage auf, ob die im Ansatz sicherlich vorhandene Unterscheidung von privat und öffentlich, die ja an sich alt ist, hier schon wirklich konsequent durchdacht und durchgeführt ist. Da habe ich doch ganz große Zweifel. Wir reden immer von Privatfehde. Sie

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haben eben gesagt, Fehde und Krieg kann man nicht genau unterscheiden anhand dieser Quelle. Bei Bartolus finden wir zwei Begriffe, dominium auf der einen, imperium jurisdictio auf der anderen Seite, die in eine wie die andere Richtung deuten. Wir würden vielleicht heute sagen, dass die privaten Rechtsverhältnisse der Untertanen nicht unmittelbar tangiert vom Übergang des Herrschaftsrechts werden. Aber das ist in keiner Weise zwingend. Und ob hier ein Rechtsbruch vorliegt, darauf kommt es nicht an. Hier geht im Verhältnis zwischen „privat“ und „öffentlich“ noch einiges durcheinander. Auch ein anderer Punkt macht das deutlich. Sie haben das selbst „ungewöhnlich“ genannt. Es gibt Fälle von Dritten, die wir nicht unter die Kategorie von Herrschaftsträgern subsumieren würden, jedenfalls nicht unmittelbar zur Herrschaft Berufene. Denen wird ein Herrschaftsrecht ad personam zu Lebzeiten vergeben. Es gibt aber auch den Fall des Deutschen Ordens, dem ein Eroberungsrecht zugesprochen wird. Für mich ergibt sich aus alledem, dass wir uns in einer Zwischenphase befinden, in der Vieles in der Zuordnung von „privat“ und „öffentlich“ noch nicht geklärt ist. Und wir können es auch ex post nicht klarer machen, als es zu dieser Zeit ist, und wir sollten auch gar nicht den Versuch machen. Teilen Sie diese Einschätzung? Kannowski: Ich teile gewiss diese Einschätzung. Und ja, dass das Öffentliche und das Private nicht unterschieden werden können, das habe ich in diesen abschließenden Bemerkungen zu Bartolus versucht zum Thema zu machen. Dieses Phänomen der Rezeption des römischen und des gelehrten Rechts macht die Verwirrung vielleicht noch ein bisschen größer. Ich glaube, den Römern ist schon klar, was ein Krieg ist. Und ebenso, was ein Völkerrechtssubjekt ist. Die haben das nur natürlich nicht so genannt. Aber natürlich gibt es verschiedene Rechtssubjekte nebeneinander. Da gibt es das Römische Reich, das hat ab und zu Probleme mit seinen Nachbarn. Und wenn wir diese Situation haben, dann ist das ein Krieg. Und wenn die Nachbarn besetzt werden, gehört ihr Land eben zum Römischen Reich. Ich glaube, dass für die Zeit der Antike Kriegführung als Rechtsfrage – was ist ein legitimer Krieg und was nicht – keine Rolle spielt oder genau gesagt nicht gestellt wird und damit letztlich nicht existiert. Und dann wird das Recht aus dieser Zeit übernommen und versucht zu übertragen in eine Zeit, in der diese Unterscheidung durchaus gemacht wird. Und das macht das Durcheinander noch fataler. Überhaupt diese Konzeption des gelehrten Rechts. Also dass man versucht, etwas aus einem total anderen kulturellen, geschichtlichen Kontext herauszunehmen und daraus Honig zu saugen, für Fragen einer Zeit, die nicht dazu passt. Das funktioniert manchmal ganz gut, und manchmal überhaupt nicht. Wenn es einem passt, irgendetwas so herauszunehmen, was für den eigenen Standpunkt gut ist, dann wird das getan. Ein anderer macht das eben anders. Bei dieser Art der Handhabung gibt es einen Punkt, eine gängige Praxis, und das ist dann das gelehrte Recht. Krieg und Kriegsführung sind dabei allerdings keine zentralen Materien. Nur am Rand kommen sie vor, so das ius militare im Decretum Gratiani. Dieses regelt unter anderem das Recht des Beutemachens. Eine Frage dabei ist, was genau das heißt und wie weit man das ziehen will.

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Thier: Man muss vielleicht auch einen Punkt sehen, wenn ich das als Fußnote sagen darf, das fand ich sehr eindrücklich in dem Vortrag. Ich meine den Befund, dass Gewaltverbote oder immer weiterreichende Gewaltverbote entstehen: Derjenige, der Krieg führt, wird als Gewalttäter gedeutet und verstößt, wenn ich das aus der Perspektive der Landfriedensordnung betrachte, prima vista unter Umständen gegen solche Gewaltverbote; oder ich bin im kanonischen Recht, jemand tötet jemand anderes und begeht damit eine Sünde und wäre zu büßen und zu bestrafen. Von dem Moment an fangen sich Probleme an zu stellen. Wenn man sagt, Fehde ist erlaubte Selbsthilfe auf gewalttätigem Wege, da ist auch ein normatives Element drin. Ich meine ein Erlaubtsein, was ja auch schon in der führen Zeit sehr intensiv reflektiert wird. Schmidt: Vielen Dank, Herr Kannowski. Sie haben diese Herrschaftslegitimierung durch Eroberung sehr scharfsinnig herausgearbeitet. Es spielt im 30-jährigen Krieg im Übrigen auch eine Rolle, dass Gustav Adolf sehr unterschiedlich die Besetzungen in Deutschland übernimmt. Wenn er Katholiken erobert, dann übernimmt er sie per Kriegsrecht und meint damit, die gehören jetzt mir. „Ihr seid meins“, sagt er. Wenn er evangelische Gebiete erobert, dann ist das sozusagen eine andere Ebene. Dort werden mit denen Verträge eingegangen, die zwar von Gustav Adolf nicht ratifiziert werden, aber das ist eine andere Ebene. Diese Dinge spielen eine wichtige Rolle. Ich glaube aber auch, dass wir mit dieser Unterscheidung zwischen privat und öffentlich und der Frage, wer darf hier überhaupt Krieg führen oder nicht, nicht wirklich weiterkommen. Denn die Frage ist, wer ist denn eigentlich Untertan. Was ist denn mit den oberitalienischen Städten? Sind die Untertanen des Kaisers? Gerade weil Bartolus das herausarbeitet. Oder sind diese es nicht? Und was bedeutet das für die Kriegsführung? Und kriegen nicht genau diese Kommunen, die eigentlich gegen den Kaiser nicht Krieg führen dürfen, kriegen die nicht Unterstützung von anderen europäischen Königen, um gegen den Kaiser Krieg zu führen? Da sind wir relativ schnell bei Themen, wo uns die Praxis zeigt, dass uns die Theorie und das Römische Recht nicht wirklich viel weiterhelfen. Meine Frage ist eine andere. Wir sind ja hier die Vereinigung für Verfassungsgeschichte, wenn ich mal so anfangen darf. Was ist jetzt eigentlich Verfassung? Wenn der Herrscher Recht setzt, ist das Verfassung? Ist er dazu berufen, wenn er das Herrschaftsrecht hat? Ist Verfassung, bei der Goldenen Bulle von Rimini, wenn sich irgendjemand darüber einigt, dass zu erobernde Gebiete dann zu denen gehören? Dann wird er zum Herrscher und dann kann er die Verfassung bestimmen. Das machen die Römer, wenn sie was erobert haben, wie Sie völlig richtig gesagt haben. Dann gehört das zu uns und wir setzen unser Verfassungsrecht durch. Wie ist das bei den Kriegen, bei Kreuzzügen usw.? Da treffen ja unterschiedliche Rechtskreise aufeinander. Was ist jetzt eigentlich Verfassung? Oder welche Verfassung gilt in dem Fall? So könnte man das vielleicht näher spezifizieren. Oder sind das nicht unterschiedliche Rechte, die dann einfach durch Gewalt und Eroberung und damit durch Besitzergreifung dahin führen, dass die, die jetzt die Macht haben, auch die Verfassung setzen und fertig.

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Kannowksi: Wenn eine Verfassung im weiteren Sinne die rechtliche Ordnung eines Gemeinwesens ist, dann lässt sich bei den verschiedenen Stationen, die ich gemacht habe, vielleicht am besten bei der Goldenen Bulle von Rimini erkennen, dass sie etwas mit einer Verfassung zu tun hat. Da wird ein Abkommen, ein Vertrag geschlossen, und zwar in der äußeren Form eines Privilegs. Aber ich gehe davon aus, das hat der Deutsche Orden mit Friedrich II. ausgehandelt. Dieser bekommt darin hoheitliche Aufgaben übertragen. Es geht nicht nur darum, mit roher Gewalt ein Gebiet zu unterwerfen, es geht auch darum, wie das Gemeinwesen, das darauf errichtet wird, wenn das Unterfangen erfolgreich war, aussehen soll. Das wird aus dieser vertraglichen Sicht zwischen diesen beiden geregelt – die Pruzzen werden hingegen nicht gefragt. Ich betrachte nur die beiden, die rechtlich miteinander in Kontakt treten. Das ist ja oftmals das Problem mit der Verfassungsgeschichte, gerade wenn wir das Thema Krieg betrachten. Wie Sie richtig gesagt haben, sind verschiedene Rechtskreise betroffen, wenn einer mit Gewalt überfahren wird. Aber ich habe jedenfalls Parteien, die in einem Vertrag miteinander in Kontakt treten und vorausschauend das Gemeinwesen ordnen, das da einmal entstehen soll und Bezug nehmen auf etablierte rechtliche Vorstellungen. Und das ist in meinen Augen genug, um zu sagen, das hat etwas mit einer Verfassung zu tun und ist im verfassungsgeschichtlichen Kontext einer Betrachtung wert. Schmidt: Ist das nicht ein Vertrag zu Gunsten Dritter? Was Friedensverträge zumindest ausmacht ist, dass die Unterlegenen auch unterzeichnen, dass die dabei sind. Wenn es keinen Sieger gibt, wird es ausgehandelt. Kannowksi: Wenn Sie das so sehen, ist das keine Verfassung. Thier: Nun habe ich gleich zwei Interventionen; das ist der Alptraum eines jeden Moderators. Ich würde die Intervention gleich reinnehmen unter der Auflage und der dringenden Bitte, erstens laut zu sprechen und zweitens es kurz zu machen. Susanne Lepsius hatte sich zuerst gemeldet, ich nehme das als follow-up zur Frage von Herrn Schmidt. Susanne und dann Peter. Ich schlage vor, wir verknüpfen beide Beiträge und Du würdest dann darauf antworten, wenn das in Ordnung ist. Christoph auch noch? Gut, Christoph Schönberger dann auch. S. Lepsius: Vielen Dank, ich wollte direkt bei Ihnen anknüpfen als Mediävistin und dabei vielleicht noch einen Punkt stärker machen als Bernd Kannowksi es getan hat. Ich sehe insoweit durchaus schon Verfassungsvorstellungen als gegeben. Was Verfassung ist, ist ja immer noch eine Frage der Deutungshoheit und das mag aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich ausfallen. Damit muss man im Mittelalter rechnen. Aber gerade im Fall der Pruzzen würde ich es nicht für ausgeschlossen halten, dass das auch wieder mit der Kaiseridee zu tun hat. Denn warum ist das eine Goldbulle? Weil er Kaiser ist und weil er als Kaiser in dem Moment für sich das Verfügungsrecht zum Beispiel über die Gebiete von Aufständischen in Anspruch nimmt, die er dann kraft seiner Amtsvollkommenheit und seiner Vorstellung, dass ihm diese zustehen, weitergeben kann.

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Thier: Die Goldene Bulle sozusagen als ein klassisches Dokument für die universale Weltherrschaft oder Weltverfassungsidee. Oder, das sage ich in Richtung Frankfurt, als ein Ausdruck einer globalisierten Rechtsordnung. Oestmann: Ich möchte auf ein methodisches Problem aufmerksam machen. Auf die Frage von Herrn Schmidt antwortest Du ja mit einer modernen Definition, obwohl es ein zeitgenössisches Privileg ist. Auf meine Frage nach der Unterscheidung zwischen Fehde und Krieg sagst Du nein, und hast keine moderne Definition. Also man muss überlegen, ob man nach Begriffen der Quelle vorgeht oder nach Forschungsfragen. Und ich glaube, dass das beide Methoden gegeneinander ausspielt. Kannowski: Das glaube ich nicht, weil Verfassung ist offensichtlich ein heutiger Begriff. Oestmann: Krieg ja vielleicht auch. Kannowski: Das Wort Krieg gibt es in mittelalterlichen Quellen, das Wort Fehde gibt es in mittelalterlichen Quellen. Das Wort Verfassung gibt es jedenfalls in der heutigen Bedeutung nicht in mittelalterlichen Quellen. Thier: Weil wir keinen Verfassungsstaat haben. Schönberger: Wir haben bis jetzt viel über die Unterscheidung von privat und öffentlich geredet, während es hier nun um das schwierige Verhältnis von „Innen“ und „Außen“ geht. Hinsichtlich der Eroberung neuer Gebiete, stellt sich natürlich die Frage nach der rechtlichen Rechtfertigung. Aber im Hinblick auf das Verfassungsthema schiene es mir bedeutsamer, Rückwirkungen zwischen der inneren Verfassung des bisherigen Gebildes und den Eroberungsformen in den Blick zu nehmen. Ist das jeweilige Gebilde vielleicht sogar geradezu dadurch definiert, dass es solche Eroberungen vornehmen kann? Wie wirkt dieses Außen auf das Innen zurück? Das ist eine Frage, über die wir jetzt gar nicht besonders viel gesprochen haben, das scheint mir aber im Grunde die eigentliche Verfassungsfrage zu sein. Thier: Dazu eine Antwort oder Zustimmung? Kannowski: Erstens Zustimmung und zweitens, in der Tat habe ich dazu nichts gesagt. Schönberger: Wie wäre denn Ihre These dazu? Gibt es da Rückwirkungen oder sagen Sie, das habe ich nicht behandelt, und das wäre ein eigenes großes Thema? Kannowski: Das wäre ein eigenes großes Thema. Das habe ich nicht behandelt. Ich könnte dazu spekulieren. Meine Spekulation würde wohl dahingehen, dass es ganz gewiss Rückwirkungen gibt. Bei dem von Wilhelm eroberten England weiß ich, dass dieses Verfassungsgebilde nachher einfach aufhört zu existieren. Aber wenn wir einen Fall haben, wo das anders und differenzierter abläuft, wird das nicht so sein. Aber das würde es in einem weiteren Schritt zu ergründen gelten, da kann ich im Moment fundiert nichts dazu sagen. Aber das ist ein Punkt für mich, nochmal weiter an dieser Stelle darüber nachzudenken.

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Thier: Ich danke erst einmal denjenigen, die auf der Liste vor den Dreien, Susanne Lepsius, Oestmann und Schönberger standen, für ihre Geduld. Wir springen zurück und der Nächste auf der Liste ist dann Herr Schilling. Schilling: Vielen Dank für diesen Vortrag, der uns vor Augen führt, wo wir an die Grenzen unserer Kategorien stoßen. In vielen der hier behandelten Fälle wird Geschehenes nachträglich legitimiert. Das Recht hat sehr oft diese Funktion. Die begrifflichen Instrumente, die zur Deutung herangezogen werden, stammen oft aus Traditionen, die mit dem gedeuteten Geschehen wenig zu tun haben. Das sieht man am Recht, das oft im Wege der Überblendung zur Deutung genutzt wird. Es verwendet Begriffe, deren Semantik schwer zu ermitteln ist. Dieses Grundproblem haben wir hier. Christoph Schönberger hat es angedeutet. Wenn ich eine Eroberung als mehr verstehe als einen Herrscherwechsel an der Spitze, wenn durch sie weitergehende Elemente der Rechtsordnung betroffen sind und diese in Frage stellen, stellt sich die Frage, inwieweit sich daraus Rückschlüsse für das Gemeinwesen der Eroberer ergeben, wenn sie auf Seiten der Eroberten Rechte suspendieren oder für nichtig erklären. Welche Rechte werden suspendiert und mit welcher Begründung? Die Aufhebung von Rechten ist einfacher zu begründen, wenn man die Unterworfenen zu Heiden erklärt, die ihre Rechtsordnung auf völlig illegitimen Grundlagen gegründet haben. Wenn die Unterworfenen Christen sind, ist das schon wesentlich schwieriger. Das Lehensrecht vereinfacht andererseits die Argumentation, weil es von einem obersten Lehensherrn her konstruiert werden kann. Der ist suspendiert. Dann kann die Lehensordnung nicht mehr so fortbestehen. Wenn es um autochthone Herrschaftsrechte, Gefälle oder Gerichtsrechte geht, ist die Argumentation wiederum schwieriger. Meine Frage: Inwieweit wird denn in der Theorie der Zeit, bei Bartolus scheint mir das der Fall zu sein, das abstrakte Problem, dass durch eine Eroberung eine Grundfrage des Rechts aufgeworfen wird, die die Stabilität von Rechtsordnungen als solche betrifft, thematisiert? Oder wird unterstellt, dass immer nur „die anderen“ erobert werden, weshalb sich kein Problem ergibt, das die eigene Rechtsordnung in Frage stellt? Ich kann das für das Mittelalter schwer beurteilen. Für die Frühe Neuzeit würde ich sagen, das Problem wird auf jeden Fall thematisiert. Kannowski: Ich glaube nicht, dass das thematisiert wird. Thier: An einer Stelle schon. Bei der Frage, was dürfen die Untertanen in den neuen Territorien an Recht behalten und was nicht. Ich sage mal das Stichwort „tabula rasa“, das hast Du uns ja vorgeführt. Härter: Die rechtliche tabula rasa gilt freilich bestenfalls für neue Gebiete, nicht für alte. Im mittelalterlichen Rechtsdenken mit einer als eher statisch gedachten kaiserlichen Verfassungsordnung und einer auf dem Christentum beruhenden, christlichen Weltordnung, muss es doch als völlig fremd erscheinen, nach der Eroberung fremder Gebiete die eigene Verfassungsordnung zu ändern. Ein solches Konzept scheint mir dem mittelalterlichen Rechtsdenken eher fremd zu sein. Thier: Aber sie ändern die andere Verfassung.

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Härter: Ja, das habe ich ja zugestanden. Thier: Ich habe als nächsten Fragenden Herrn Kempny auf meiner Liste. Kempny: Vielen Dank; ich freue mich, dass die Diskussion schon in die Richtung geht, die mir auch als Frage in den Sinn kam. Und zwar: Ist Ihnen für Ihren Betrachtungszeitraum etwas an Quellen untergekommen, woraus man schließen könnte, dass die Idee von Eroberungsrechten ausschließlich einseitig gedacht war, als Herrenrechte, also von Römern/Christen ausgehend? Oder werden die auch anderen, wer auch immer diese anderen jetzt sind, zuerkannt, den Heiden oder wem auch immer? Akademisch zugespitzt: ein Ausländer ist Gläubiger eines Inländers. Dann erobert der inländische Fürst das Wohngebiet des Ausländers und sagt: So, das hier ist jetzt alles meins, die sind alle unfrei, keine Rechtssubjekte. Ist dann der Inländer seiner Verbindlichkeit ledig geworden? Das klingt jetzt theoretisierend. Aber es könnte ja mal irgendwo die Frage angesprochen worden sein, zum Beispiel bei den Kreuzzügen. Da gingen die Städte ja auch hin und her. Es gab vielleicht einmal eine muslimische Zwischeneroberung irgendeiner Stadt, die vorher kraft christlicherseits in Anspruch genommenen Eroberungsrechts irgendjemandem zugeschrieben wurde. Jetzt wurde die zurückerobert. Fiel sie dann an den vorigen zurück, oder an den neuen? Macht man sich hierzu Gedanken? Greifen diese angenommenen Eroberungsrechtschaffungstitel auch zu Gunsten der Gegenseite? Kannowski: Ich bin in dieser byzantinischen Kreuzzugthematik einfach nicht firm genug, um dazu etwas wirklich Fundiertes sagen zu können. Verhandlungen mit Muslimen fanden allerdings in der Tat statt. Thier: Ja klar, Friedrich II., Jerusalem. Kannowski: Ich bin leider nicht genug informiert, um darauf zu antworten. Thier: Ich denke mir aber vielleicht in einem Punkt, den ich in Deinem Vortrag finde. Das ist für mich eine sehr faszinierende Geschichte, die auch ein bisschen in die Richtung Ihrer Frage geht, Herr Schmidt: Dieses Recht der Eroberten, ihr Recht behalten zu dürfen. Dass da nur eingegriffen wird, wenn ein Rechtsbruch passiert ist. Das sagt Bartolus. Das Interessante ist, dass wir da eine Entwicklung sehen. Das ist ein bisschen meine eigene Frage vorweg. Mir scheint schon, dass es da Material gibt. Das ist aber nur eine Vermutung. Ich habe als Nächsten auf der Liste Herrn Steiger. Steiger: Herzlichen Dank. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich zu spät kam. Das waren natürlich wieder die Züge. Ich möchte daran anknüpfen, was Sie gesagt haben. Es ist natürlich für das Mittelalter grundsätzlich zu unterscheiden zwischen der christlichen Welt und der außerchristlichen Welt. Die außerchristliche Welt ist, soweit ich es begriffen habe, auch für die christliche Welt offen zur Eroberung. Aber, wenn ich das richtig gehört habe, davon war noch nicht die Rede, immer unter Mission, Bekehrung zum Christentum, Einbeziehung in die christliche Welt. Und es war ja vom Deutschen Orden die Rede. Da war Mission natürlich das Ziel. Bernhard von Clairvaux hat natürlich den Kreuzzug gepredigt zur Einbezie-

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hung. Mein zweiter Punkt ist folgender: Die christliche Welt war wenigstens ab dem Jahre 1000 mehr oder weniger im Prinzip geordnet, rechtlich geordnet. Die Herrschaft war verteilt. Und jetzt ging es darum, die Herrschaft zu korrigieren oder auf Grund altem Recht wieder durchzusetzen. Und dann ist da der Zentralkonflikt, der mit Herrschaft grundsätzlich zu tun hat, der zwischen Kaiser und Papst. Hier ist ein Herrschaftskonflikt, der natürlich die Verfassung nicht nur des Heiligen Deutschen Reiches, sondern ganz Europas betrifft. Und dann nachher der große Konflikt, das ist ein weltlicher Konflikt, der 100-jährige Krieg. Der 100-jährige Krieg ist ja kein Eroberungskrieg, das ist ein Krieg um die Herrschaft in Frankreich. Das ist ein Thronfolgekrieg. Die Franzosen beharren auf dem salischen Gesetz, und zwar in seiner strengsten Form, was sie ja auch durchsetzen am Ende. Und dann kommt ein weiteres hinzu: der Friedensvertrag. Welche Funktion spielt in Kriegen um das Herrschaftsrecht die Huldigung? Das sind so Einzelfragen, die mir so auffielen während der Diskussion und während Ihres Vortrags, die ich jetzt mal in die Debatte werfe. Kannowski: Die Frage war, welche Rolle die Huldigung spielt? Steiger: Das war die Dritte. Es war ja ein Bündel von verschiedenen Fragen. Man kann sich auf die Huldigung natürlich konzentrieren, an Stelle eines Friedensvertrages. Ich weiß, dass die einzelnen Dinge mit dem Eroberer nicht abgestimmt wurden, aber es ging jetzt auch um Herrschaftsrechte, die er für sich in Anspruch nahm. Und dann kam Huldigung am Ende. Kannowski: Also jedenfalls für die normannische Eroberung kann man das bestätigen. Wilhelm stützt seine Herrschaft, nachdem er England eingenommen hat, darauf, dass seine neuen Untertanen ihm Huldigung leisten. Und wenn sie das nicht taten, konnten sie in sein neues Lehensgefüge nicht eintreten. Von daher ist die Huldigung im Lehensverhältnis ein Ritual zur Begründung von Herrschaft. Thier: Aber das ist ja nicht nur beim Lehensverhältnis der Fall. Meine Wahrnehmung ist immer die gewesen, dass die Huldigung so eine Art Universalcode zur Anerkennung von Herrschaft ist. Sie spielt sich ab im Lehensverhältnis, aber sie spielt sich auch ab in anderen Kontexten. Möglicherweise ist das dem lehensrechtlichen Kontext entnommen. Aber das ist ja von der Performanz her an sich das Gleiche, wenn ich zu einem Herrscher gehe und sage: Ich huldige dir, Herrscher, Anerkennung von Herrschaft. Und deswegen ist dieses Element Huldigung so universal verwendbar in klassischen Situationen des Krieges. Man sieht das bei William sehr deutlich. Lehensrecht auf der einen Seite, und diese generelle Funktion von Huldigung auf der anderen Seite. Zwei Elemente, die sehr plastisch ineinandergreifen. Das ist freilich nur eine Vermutung. Steiger: Aber deshalb bedarf es keines Friedensvertrags. Thier: Ja, das ist der Punkt. Die Huldigung setzt sozusagen ein Ende. S. Lepsius: Zu dem Friedensvertrag wollte ich noch bemerken: In der Idealvorstellung des Mittelalters samt der Kaiseridee, mag sie jetzt römisch-rechtlich oder

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nicht legitimiert sein, braucht es schon deswegen keinen Friedensvertrag, weil ein Alternativkonzept ist: der Kaiser legt einen Waffenstillstand von oben den streitenden Parteien auf. Und das wird in der Tat in der politischen Theorie diskutiert. Ob nämlich zum Beispiel der nicht zum Kaiser gekrönte rex Romanorum eine treuga verkünden kann. Aber eine treuga ist natürlich top down, während ein Friedensvertrag im Grunde als Kategorie des Völkerrechtes erst denkbar wird, wenn man nicht mehr die universale mittelalterliche Kaiseridee als Anker hat, sondern von prinzipiell gleichermaßen für sich selbst Rechte in Anspruch nehmenden Königen und Fürsten ausgeht, die sich als Völkerrechtssubjekte verstehen. Und damit kommt die Idee des Friedensvertrags als Vertrag zwischen Gleichen auf. Steiger: Die Frage ist, wenn ich das nachschieben darf, was für Verabredungen, was für Vereinbarungen liegen vor der Huldigung. Also ganz einfach ist das nicht. Wenn ein gewählter römischer König rumreisen muss und sich allmählich so durchsetzt wie Heinrich I., wird natürlich gehuldigt. Aber vorher gibt es Verabredungen. Thier: Wenn Herr Althoff jetzt hier wäre… Steiger: Ich habe ihn im Hinterkopf gehabt. Thier: Herr Althoff würde Ihnen jetzt vermutlich begeistert sekundieren, um nicht zu sagen, huldigen. Ich würde das auch tun. Ich muss allmählich die Liste schließen. Ich habe noch Herrn Arlinghaus und Herrn Gosewinkel. Und ich habe mich mal stillschweigend von der Liste genommen. Herr Arlinghaus, bitteschön. Arlinghaus: Erst mal vielen Dank für diesen schönen breiten Vortrag, der sehr tief gebohrt hat an einigen Stellen. Die Diskussion zeigt ja schon, wie anregend dieser Vortrag war. Ich würde anknüpfen wollen an das Tabula-rasa-Argument, das Sie gebracht haben und das aufgegriffen wurde. Kann man nicht vielleicht an den Traktatus von Bartolus anknüpfen und sagen, klar, kann man Nichtgläubige bedenkenlos erobern, weil sie keine Rechte haben. Die gläubigen Christen wiederum – aber das wäre dann zu fragen – verwirken ihre Rechte, wenn sie einen Rechtsbruch begangen haben. Das ist quasi die Voraussetzung bei jedem Krieg, wobei sich ein Rechtsbruch leicht finden lässt, und dadurch dann der Gegner auch auf theoretischer Ebene kein wirkliches Rechtssubjekt mehr ist, quasi auch zur Unperson wird. Das könnte man fast parallel zu Rechtsverletzungen durch Individuen in den Städten des Spätmittelalters sehen, wo am Ende des Tages derjenige, der einen Rechtsbruch begeht und sich nicht gehorsam zeigt, zur Unperson erklärt, also als nicht dazugehörig betrachtet wird. Natürlich sind das in der Praxis auch immer Machtfragen, aber es geht erst mal um die Theorie. In der Praxis wird natürlich vorverhandelt und ausgelotet. Da kann man nicht auf Bartolus verweisen. Aber wenn man sich anschaut, was passiert, wenn Städte erobert werden. Wenn die Bürger ausziehen, barfuß, in entsprechendem Gewand, mit Strick um den Hals, ist das doch eine deutliche Markierung von Leuten, die – zeitweilig – keine Rechte mehr haben. Dargestellt wird das vollkommene Ausgeliefertsein, was mit Rechtlosigkeit und dem Nicht-Dazugehören sehr eng verbunden ist. Natürlich werden nicht alle umgebracht; das wäre ja auch unklug. Aber wenn man zunächst auf der Vorstellungsebene bleibt, und das wäre meine Frage an Sie:

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Kann man bei dem, was Sie gesagt haben, sowohl theoretisch als auch praktisch davon ausgehen, dass derjenige, der erobert, es mit Leuten zu tun hat, die zunächst einmal keine Rechte haben? Wäre das der Ausgangspunkt in einer Eroberungssituation, und dann muss man schauen, was passiert und wer wann welche Rechtsstellung gewinnt? Zum Teil sind ja Demutsgesten wie das Niederwerfen vor dem Sieger, sich der unbedingten Gnade ausliefern, also selbst für rechtlos erklären, Teil des Aushandlungsprozesses. Der Eroberer ist dann ggf. in der Pflicht, Gnade walten zu lassen. Aber erst einmal hat der, der erobert worden ist, nicht nur schlechte Karten, sondern öfter gar keine. Kannowski: Also bei dem Bartolus-Beispiel, das ich behandelt habe, da kann man dieses „the winner takes it all“-Prinzip so nicht stehen lassen. Bartolus sagt, wie Sie richtig nachgezeichnet haben, wenn das keine Christen sind, ist das kein Problem. Wenn das aber welche sind, dann haben wir ein Problem, und wie machen wir das dann? Und da sagt Bartolus: Das geht nur als Bestrafung für einen Rechtsbruch. Nun halten Sie dagegen: Bei einer Kriegssituation wird es das immer geben. Da wird dann behauptet, das Recht sei gebrochen worden und daher legitim, was ich tue. Aber Bartolus‘ Behauptung differenziert ja nach der Verteilung der Gesetzgebungsmacht in diesem angegriffenen und zu erobernden Gebilde und sagt, je nachdem, wer, welcher Funktionsträger das Recht gebrochen hat, sind meine Positionen, als Eroberer irgendetwas aufzudrängen, jeweils andere. Und das ist ja etwas anderes als zu sagen, dass jemand überhaupt keine Chancen hat und dass der Sieger einfach machen kann, was er will. Da ist natürlich nur ein theoretischer Ansatz, wie all das, was Bartolus schreibt. Aber ein Alles-oder-nichts-Prinzip kann man aus seiner Denkweise so nicht stehen lassen. Das ist schon eine differenzierte Denkweise, die er da anstellt. Thier: Vielen Dank. Ich habe noch Herrn Gosewinkel auf der Liste und würde jetzt, wenn sich niemand mehr meldet, damit die Liste auch schließen. Herr Gosewinkel, bitte. Gosewinkel: Vielen Dank, Herr Kannowski, für diesen Vortrag, der einen sehr langen Zeitraum abdeckt. Für jemanden, der moderne Geschichte behandelt, ist das ein Riesenzeitraum. Meine Frage ist im Grunde etwas abstrakter, aber dieselbe Frage wie die von Herrn Arlinghaus. Was verändert sich in diesem langen Zeitraum im Hinblick auf das Verhältnis von Krieg und Recht? Gibt es eine stärkere Verrechtlichung des Krieges im Sinne einer rechtlichen Bindung der an Kriegen beteiligten Herrschaftsträger? Oder Verrechtlichung im Hinblick auf Entschädigungen, auf die Berücksichtigung der Interessen der eroberten Untertanen? Gibt es insgesamt eine stärkere Ächtung von Grausamkeiten? All das kommt ja vor in Ihrem Vortrag. Kann man da eine Gesamtlinie erkennen? Kannowski: Eine Ächtung von Grausamkeiten gibt es da überhaupt nicht. Nicht dass ich das jemals gesehen hätte. Gosewinkel: Aber es gibt die Unterscheidung zwischen expugnator und conquisitor, also die Unterscheidung von roher Gewalt und nicht roher Gewalt.

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Kannowski: Genau, aber nur begrifflich. Die These ist: Der Begriff Eroberer hat im Mittelalter eine rechtliche Konnotation. Die Durchsetzung von Recht, dass etwas Rechtliches dahintersteht. Dass mache ich daran fest, dass ein Begriff aus der Antike dafür genommen wird, der ursprünglich etwas ganz anderes bedeutete. In der Antike nämlich war ein Eroberer ein expugnator, also im heutigen Sinne. Und dieses Wort expugnator das wird in mittelalterlichen Quellen für rohe Gewalteskalationen verwendet. Damit will ich nicht sagen, dass es für den conquisitor verboten war, aber das steht, wenn davon gesprochen wird, nicht im Vordergrund. Der expugnator will verängstigen und beeindrucken durch Brutalität. Er schlägt alles kaputt und dann sagen alle: Du bist ein großer Mann, wir haben alle Angst vor dir. Das ist ein expugnator. Aber ein conquisitor, das ist Karl der Große, Karl Martell, oder Wilhelm der Eroberer. Der heißt in einer Quelle Guillelmus conquisitor. Ich will damit sagen, dass von der Antike aus gesehen diese rechtliche Schiene, die mit einem Gottesurteil der Durchsetzung einer legitimen Person in Position in Verbindung steht, stärker zum Tragen kommt. Und ich sehe auch eine Wechselwirkung einerseits zwischen dem, was in der Goldenen Bulle von Rimini formuliert wird, wo eine Art juristische Person als Völkerrechtssubjekt mit hoheitlichen Rechten ausgestattet wird, um ein neues, hoheitliches, staatliches Gebilde zu begründen und der Aufnahme von genau dieser Situation in der Wissenschaft, diesem Inseltraktat Bartolus andererseits. Also diese komplette Tabula-rasa-Situation, die am Anfang stand, die war jedenfalls 300 Jahre später, als Bartolus schrieb, so ganz bestimmt nicht mehr da. Thier: Vielleicht als eine Vermutung aus der Sicht eines Kanonisten: Wir haben seit Gratian, seit dem 12. Jahrhundert, seit etwa 1140 ein immer schneller wachsendes Recht der Kriege. Das bellum justum, Herr Kannowski hat auf das jus militare hingewiesen. Und ich kann mir vorstellen, dass es da sicherlich Begrenzungen gegeben hat, z. B. für Gewalttaten. Dass man möglicherweise, ich würde vermuten, nicht ohne weiteres Frauen und Kinder hinschlachtet, wenn man sich nicht gerade in einer kriegerischen Situation befindet. Das ist ein Problem für die Kirche, das ist ein Issue für die Kirche, weil es ja zunächst ein Verstoß gegen das ganz elementare Tötungsverbot ist, was da passiert im Krieg. Und deshalb interessiert sich auch die Kanonistik dafür. Kannowski: Auch die Missionsabsicht. Thier: Eben, die Missionsabsicht legitimiert es. Der Kreuzzug ist gerecht, bezeichnenderweise geht er ja vom Papst aus. Aber die Frage ist, wie viel geht beim Kreuzzug. Und es ist ja kein Zufall, dass der erste große Kreuzzug regelmäßig auch legitimiert ist, eingebettet ist in einen Gottesfrieden. Aber das führt jetzt schon sehr weit. Ich möchte allen Diskutantinnen und Diskutanten sehr herzlich danken. Aber ich möchte vor allem, und ich glaube, da spreche ich für uns alle, Bernd Kannowski danken, der es uns mit seinem schönen reichen Vortrag möglich gemacht hat, so intensiv zu diskutieren. Ich glaube, ich darf für den Vorstand sprechen. Wir hatten das ein bisschen vermutet, dass die Diskussion doch intensiver werden würde, und insofern sind wir sehr glücklich über den Beginn der Tagung. Ich schließe

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diese Session, aber nicht ohne Sie zu bitten, Bernd Kannowski mit einem kräftigen herzlichen Applaus zu danken.

Militärische Organisation und bündische Verfassungsstruktur Von Horst Carl, Gießen

I. Einungen und Bünde: Ein klassisches Thema der Verfassungsgeschichte Wenn bündische Organisationen auf ihre militärische Funktionsweise befragt werden, lassen sich damit verfassungsgeschichtliche Brücken von Hoch- und Spätmittelalter zur Neuzeit schlagen, denn diese zeitliche Dimension ist dem Thema „Einungen und Bünde“ in der deutschen Geschichte eingeschrieben. Für die verfassungsgeschichtliche Forschung kommt zudem hinzu, dass die Analyse bündischer Organisationen von einem der Gründungsväter der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung, Otto von Gierke, gleichsam geadelt worden ist, als er die Einung in seinem berühmten ersten Band des deutschen Genossenschaftsrechts zum „herrschenden Prinzip“ der Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters stilisiert hat.1 In dieser – durchaus nicht unumstrittenen – Hochschätzung hat er jedenfalls einen langen Traditionsschatten geworfen, in den sich explizit auch Reinhart Koselleck gestellt hat, wenn er die zentrale Bedeutung von genossenschaftlichen Zusammenschlüssen für die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches herausgestellt hat. Das spannungsreiche und ambivalente Verhältnis, in dem Bünde und Einungen zum Reich standen, hat er dabei keineswegs negiert: „Die geschichtlichen Etappen, die das Heilige Römische Reich […] durchlaufen hat, können nur verstanden werden, wenn die Bundes- und Einungsformen der Stände mit einbezogen werden. In gewisser Hinsicht lässt sich die Geschichte des Reiches nur erklären, wenn berücksichtigt wird, wie sehr Einungen, Föderationen und Allianzen das Reich zugleich ausgezehrt und erhalten haben.“2

1 Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde., Berlin 1868 – 1913. Zum politischen und historiographischen Kontext vgl. Otto Gerhard Oexle, Otto von Gierkes „Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft“. Ein Versuch wissenschaftsgeschichtlicher Rekapitulation, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 193 – 217. 2 Reinhart Koselleck, Art. „Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat“, in: Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 582 – 671 (583).

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Wenn hier Parallelen zu gegenwärtigen Föderalismusdebatten augenfällig sind, so ist dies kein Zufall. Der aus dem lateinischen Begriff foedus (Bund) abgeleitet Begriff des „Föderalismus“ verweist darauf, dass mit dieser „genossenschaftlichen“ Tradition bis auf den heutigen Tag zentrale Fragen des staatlichen Zusammenlebens in Deutschland und Europa verknüpft sind. Der historische Bogen lässt sich schon deshalb weit zurückschlagen, weil „föderale“ Traditionen auch im frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation manifest geblieben sind,3 doch reichen die Wurzeln dieser spezifischen politischen Kultur weiter zurück: Das vormoderne Gesellschaftsgefüge fußte ganz wesentlich auf genossenschaftlichen Sozialbeziehungen, die den Mitgliedern der jeweiligen Gruppen grundsätzliche Parität zugestanden. Am folgenreichsten war im städtereichen Mitteleuropa die Herausbildung der neuzeitlichen Stadtkommune als Schwureinung ihrer Bürger (coniuratio), doch von den städtischen Gilden und Zünften bis hin zu kirchlichen Korporationen oder Zusammenschlüssen von Adeligen in „Gesellschaften“ oder selbst bäuerlichen Hintersassen auf Gemeindeebene oder darüber hinaus in „Eidgenossenschaften“ blieb die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaft von solch horizontal strukturierten Personenverbänden durchdrungen.4 Bei aller Spannweite in der Realität waren starke Verpflichtungsformen wie feierliche Gelübde oder Eidschwur häufig die Grundlage des Zusammenschlusses. Als prinzipielle Alternative5 zu einer hierarchisch gegliederten ständischen Gesellschaft, die als ein System sozialer Abstufung und rechtlicher Ungleichheit funktionierte, haben Zusammenschlüsse nur in besonderen Konstellationen gewirkt. In der Regel konnten sich beide Formen gesellschaftlicher Organisation durchaus miteinander vertragen und funktional ergänzen.6 Da es dem Königtum nicht gelang, einen allgemeinen Landfrieden7 durch Mandat oder abstrakte Gesetzgebung durchzusetzen, bot sich die ausdrückliche Selbstverpflichtung der Betroffenen und vor allem der potentiellen Friedensbrecher als effiziente Alternative an. Dies machte Einungen und Bünde gerade im Spätmittelalter 3 Horst Carl, Einungen und Bünde, in: Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Lesebuch Altes Reich, München 2006, S. 101 – 106; ders., (Dés)ordres Fédéraux. Réflexions modernistes sur un concept controversé, Francia 44 (2017), S. 123 – 135; ders., Landfrieden und föderative Ordnung, in: Dietmar Willoweit (Hrsg.), Föderalismus in Deutschland. Zu einer wechselvollen Geschichte vom ostfränkischen Königtum bis zur Bundesrepublik, Wien/ Köln 2019, S. 131 – 146. 4 Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution, München 1997. 5 In der Tradition Gierkes stehen trotz kritischer Distanz noch Peter Blickles Kommunalismusforschungen: Peter Blickle, Kommunalismus – Begriffsbildung in heuristischer Absicht, in: ders. (Hrsg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa. Ein struktureller Vergleich, München 1991, S. 5 – 38; ders., Kommunalismus, 2 Bde., München 2000; vgl. auch Thomas Maissen, Geschichte der Schweiz, 2. Aufl. Baden 2010, S. 22 – 33. 6 Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Paul-Joachim Heinig et al. (Hrsg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. FS Peter Moraw, Berlin 2000, S. 53 – 87. 7 Hendrik Baumbach/Horst Carl (Hrsg.), Landfrieden – epochenübergreifend. Neue Perspektiven der Landfriedensforschung auf Verfassung, Recht, Konflikt, Berlin 2018.

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zu einem attraktiven Modell, um auf regionaler Basis Sicherheit und Ordnung im Reich zu etablieren. Als Systeme kollektiver Sicherheit8 wirkten Zusammenschlüsse von Herrschaftsträgern wie Fürsten, Adel und Städten darauf hin, zunächst einmal Frieden unter den Einungsgenossen zu organisieren, um auf diese Weise öffentliche Sicherheit zumindest ansatzweise zu gewährleisten.9 Selbst als die Goldene Bulle von 1356 Schwureinungen von Reichsständen nur noch unter der Prämisse der Landfriedenswahrung als reichsrechtlich legitim anerkannte, änderte dies nichts an der außerordentlichen Vielfalt von Vereinbarungen zwischen Reichsständen in Gestalt von Fürstenbündnissen, Rittergesellschaften oder Städtebünden,10 bei denen der Landfriedensgedanke gelegentlich nicht mehr als deklaratorischen Charakter besaß. Politisch dienten sie ohnehin häufig Zielen, die dem Anspruch der Friedenswahrung diametral entgegenlaufen konnten. Es war neben der relativen Effizienz der Selbstverpflichtung der Genossen auch die größere Flexibilität bei der Ausgestaltung der Vereinbarungen, die zu einer Konjunktur von Einungen jeglicher Couleur führten. Das Lehnsrecht, auf dessen hierarchischer Ordnung das Reich beruhte, bot wenig Handhabe, differenzierte ordnungspolitische Vorgaben zu formulieren und auszugestalten. Spätmittelalterliche Landfriedenseinungen eröffneten schon deshalb verfassungspolitische Spielräume, weil die Mitglieder sich auf organisatorische Regelungen verständigen mussten, um die künftigen Aufgaben zu bewältigen. Dies implizierte Institutionalisierungsvorgänge, wenn etwa Leitungskollegien in Gestalt von Hauptleuten und Räten, Schiedsgerichtsbarkeit für den internen Konfliktaustrag oder Abgabenerhebung bei den Mitgliedern vorgesehen waren. Festgehalten wurde dies in einer gemeinsam entworfenen schriftlichen Ordnung, auf deren Einhaltung die Mitglieder sich in der Regel eidlich verpflichteten. Die Autonomie der Mitglieder blieb allerdings gewahrt, da solche Einungen befristet waren und es den Mitgliedern freistand, einer möglichen Verlängerung fernzubleiben. Dies eröffnete einerseits zwar die Möglichkeit einer Fortentwicklung der Bundesordnungen, doch erwies sich andererseits die Befristung auch 8 Horst Carl, Landfrieden als Konzept und Realität kollektiver Sicherheit im Heiligen Römischen Reich, in: Gisela Naegle (Hrsg.), Frieden schaffen und sich verteidigen im Spätmittelalter/Faire la paix et se défendre à la fin du Moyen Âge, Göttingen 2011, S. 121 – 138; ders., Kollektive Sicherheit und föderative Ordnung – die Eidgenossenschaft und die Niederlande in der Frühen Neuzeit, in: Irene Dingel et al. (Hrsg.), Theatrum Belli – Theatrum Pacis. Konflikte und Konfliktregelungen im frühneuzeitlichen Europa. FS Heinz Duchhardt, Göttingen 2018, S. 25 – 37; ähnlich argumentiert auch Maximilian Lanzinner, Ein Sicherheitssystem zwischen Mittelalter und Neuzeit: die Landfriedens- und Sonderbünde im Heiligen Römischen Reich, in: Christoph Kampmann/Ulrich Niggemann (Hrsg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm – Praxis – Repräsentation, Köln 2013, S. 99 – 119. 9 Otto G. Oexle, Friede durch Verschwörung, in: Johannes Fried (Hrsg.), Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter, Sigmaringen 1996, S. 115 – 150. 10 Dazu nunmehr Duncan Hardy, Associative Political Culture in the Holy Roman Empire. Upper Germany, 1346 – 1521, Oxford 2018; vgl. auch ders., Between Regional Alliances and Imperial Assemblies: „Landfrieden“ as a Political Concept and Discursive Strategy in the Holy Roman Empire, c. 1350 – 1520, in: Baumbach/Carl (Hrsg.) (Fn. 7), S. 85 – 120.

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als einer der entscheidenden Nachteile gegenüber einem per definitionem dauerhaften, weil prinzipiell nicht auflösbaren Heiligen Römischen Reich. Wenn diese Zusammenschlüsse somit häufig das Problem variieren, wie angesichts einer Vielzahl von mehr oder minder autonomen Herrschaftsgewalten politische Ordnung gestaltet werden kann, ist es nicht überraschend, dass die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bünde im Reich ein klassisches Terrain verfassungsgeschichtlicher Forschung geworden sind. Genannt seien nur – ohne Anspruch auf Vollzähligkeit – Heinz Angermeier,11 Herbert Obenaus,12 Adolf Laufs,13 Volker Press,14 Peter Moraw,15 Gabriele Haug-Moritz16 oder Guido Komatsu,17 die mit ihren Forschungen eine ungebrochene verfassungsgeschichtliche Relevanz des Themas „Einungen und Bünde“ dokumentieren. Für Reinhart Koselleck war dieses Thema immerhin so wichtig, dass er sich nicht nur den einschlägigen Artikel „Bund“ in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ reserviert hat, sondern auch in seinen Forschungen zur historischen Semantik darauf zurückgekommen ist. Am Beispiel des Begriffs „Bund“ und seiner Geschichte exemplifizierte er sein Konzept der zunehmenden Diskrepanz von historischen Erfahrungen und fortschrittsorientierten Erwartungen, um den Wandel historischer Zeit in der Neuzeit zu erfassen. Aus dem Begriff „Bund“ als einem erfahrungsgesättigten Begriff der Reichsgeschichte wird in der Sattelzeit ein Erwartungsbegriff, der im kantischen „Völkerbund“ sogar utopisches Potential erhält.18

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Heinz Angermeier, Die Funktion der Einung im 14. Jahrhundert, Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 20 (1957), S. 475 – 508; ders., Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter, München 1966. 12 Herbert Obenaus, Recht und Verfassung der Gesellschaften mit St. Jörgenschild in Schwaben. Untersuchungen über Adel, Einung, Schiedsgericht und Fehde im fünfzehnten Jahrhundert, Göttingen 1961. 13 Adolf Laufs, Der Schwäbische Kreis. Studien über Einungswesen und Reichsverfassung im deutschen Südwesten zu Beginn der Neuzeit, Aalen 1968. 14 Volker Press, Die Bundespläne Karls V. und die Reichsverfassung, in: ders., Das Alte Reich. Gesammelte Aufsätze, hrsg. v. Johannes Kunisch, Berlin 1997, S. 67 – 127. 15 Peter Moraw, Die Funktion von Einungen und Bünden im spätmittelalterlichen Reich, in: Volker Press/Dieter Stievermann (Hrsg.), Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit, München 1995, S. 1 – 21. 16 Gabriele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund 1530 – 1541/42. Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Leinfelden-Echterdingen 2002. 17 Guido Komatsu, Landfriedensbünde im 16. Jahrhundert. Ein typologischer Vergleich, Diss. Universität Göttingen 2001. 18 Reinhart Koselleck, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik historischer Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 349 – 375 (369 – 375).

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II. Zur historischen Semantik des Verfassungsbegriffs Wenn damit der Bogen zur historischen Semantik geschlagen ist, dann lässt sich gerade auf diesem Feld die These untermauern, dass das Thema „Einungen und Bünde“ eine spezifische verfassungsgeschichtliche Dimension besitzt. Heinz Mohnhaupt hat in seinen Studien zur historischen Semantik des Verfassungsbegriffs nachgewiesen, dass der Verfassungsbegriff seine semantische Karriere in engstem Zusammenhang mit den frühneuzeitlichen Einungen und Bünden im Alten Reich gestartet hat.19 Frühe Belege des deutschen Begriffs „Verfassung“ finden sich aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, allerdings noch nicht im abstrakten Sinn eines Dokuments mit rechtlicher Bindewirkung, sondern als Akt der Verschriftlichung, der „Textabfassung“ und „Textzusammenfassung“.20 Die schriftlichen Grundlagen der Einungen wurden eher als „Verschreibung“, Bundesbrief oder „Ordnung“ apostrophiert. Noch bei den entsprechenden schriftlichen Grundlagen des Schwäbischen Bundes wurde zwischen „Verfassung“ als Verschriftlichung und inhaltlichem Regelungsgehalt unterschieden. Dass der zeitgenössische Verfassungsbegriff beides umfasste, findet sich nach Mohnhaupt erstmals im Schmalkaldischen Bund in der „Verfassung zu eilender Rettung und zur Gegenwehr“ von 1531. Hier wächst dem Begriff „Verfassung“ ein abstrakter, zugleich multipler Sinn zu: als rechtliche Einungsgrundlage, als deren schriftliche Fixierung sowie den daraus resultierenden organisatorischen Maßnahmen. Diese dienen dem wichtigsten Einungszweck, der Verteidigung des Glaubens gegen altgläubige Angreifer.21 Von dort wanderte der abstrakte Verfassungsbegriff zunächst in die Reichskreise, wo er etwa 1563 im grundlegenden Schwäbischen Kreisabschied auftaucht, um alle seit 1555 ergangenen Kreisordnungen sowie die einschlägigen Vorgaben der Reichsverfassung zusammenzufassen – als „einhellige und schließliche Vergleichung und Verfassung, welcher maßen […] auff den hievor auffgerichteten und hochverpeenten Religion- und Landtfriden, auch Reichsconstitutiones, Handhabungsordnung und Kreißabschiede, sich under ihnen selbs in gottseligem fridlichem Wesen zu erhalten, auch vor außländischem Gewalt zu schützen, zu schirmen und demselbigen Widerstand zu thun […]“.22 Der Verfassungsbegriff zielt hier einerseits auf die Grundordnung und dabei speziell den militärischen Zustand des Kreises, umschreibt aber andererseits auch die militärische Gefahrenabwehr als Zweck der Kreiseinrichtung. Diese Begriffsverwendung strahlt auch auf das Reich aus, wo 1570 in der Diskussion um eine Reichsdefensionsordnung die Erwartung ausgesprochen wurde, die Reichs19 Heinz Mohnhaupt, Verfassung, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.) (Fn. 2), Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 831 – 862; eine separate Fassung hat Mohnhaupt 1995 vorgelegt: Heinz Mohnhaupt, A. Verfassung I. Konstitution, Status, Leges fundamentales von der Antike bis zur Aufklärung, in: ders./Dieter Grimm, Verfassung. Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart. Zwei Studien, Berlin 1995, S. 1 – 99. 20 Mohnhaupt, Verfassung (Fn. 19), S. 839 f. 21 Ebd., S. 849. 22 Zitiert nach Laufs (Fn. 13), S. 325.

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abschiede mögen „in ain solche bestendige gewisse und schleunige verfassung und würckhliche beraitschaft gestellet […], daran man […] zu jedem Notfall […] gesichert sein möge“.23 Diese parallele Verwendung des Verfassungsbegriffs als Abfassung eines Textes, als militärischer Verteidigungszustand und als auf den Reichsgesetzen beruhende Ordnung findet sich bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Für unseren Kontext – bündische Ordnung und Krieg – ist zweierlei bedeutsam: Zum einen existierte verfassungsgeschichtlich schon früh eine semantische Affinität zwischen Bünden bzw. Einungen und dem Begriff „Verfassung“. Und zum Zweiten war es gerade die Frage der militärischen Verteidigung – der Gegenwehr – und der Vorbereitung und Organisation von Krieg, die diesen Zusammenhang konstituierte.24 Anders gesagt: Für die historische Semantik des Verfassungsbegriffs ist es auch die spezifische Frage nach der militärischen Organisation, die den engen Nexus von bündischer und militärischer Organisation begründet. Und deshalb hat – so das Fazit dieser Eingangsbemerkungen – es seine Berechtigung, wenn der Zusammenhang von Militärorganisation und Verfassung gerade anhand bündischer Organisationen thematisiert wird.

III. Landfriedensbünde als Systeme kollektiver Sicherheit Die Entwicklung der Landfriedensbünde im spätmittelalterlichen Reich hängt aufs Engste mit der Ausgestaltung der Reichsverfassung zusammen, nachdem die „Goldene Bulle“ 1356 ständische Zusammenschlüsse nur zur Wahrung des Landfriedens legitimierte – als „Verschwörung zum Frieden“.25 Die ursprüngliche Intention, dies auf die Einung der Kurfürsten zu beschränken, ließ sich nicht durchsetzen. Kaiser Sigismund erlaubte 1422 ausdrücklich auch dem reichsunmittelbaren Adel im Reich den Zusammenschluss zur Wahrung des Landfriedens. Bezeichnenderweise steht dieses Privileg Sigismunds in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der ersten Reichsmatrikel, die auf der Nürnberger Reichsversammlung 1422 erstellt wurde. Mit der Auflistung der gegen die Hussiten zu stellenden Truppenkontingente fixierte diese Reichsmatrikel erstmals eine rudimentäre Kriegsorganisation des Reiches.26

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Mohnhaupt, Verfassung (Fn. 19), S. 839 f. Dies hat am Beispiel des Schmalkaldischen Bundes Gabriele Haug-Moritz besonders eindrücklich herausgearbeitet: Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund (Fn. 16); dies., Widerstand als „Gegenwehr“. Die schmalkaldische Konzeption der „Gegenwehr“ und der „gegenwehrliche Krieg“ des Jahres 1542, in: Robert von Friedeburg (Hrsg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich, Berlin 2001, S. 141 – 161. 25 Oexle, Friede (Fn. 9). 26 Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe, Bd. 8, hrsg. v. Julius Weizsäcker, Gotha 1883, S. 156 – 165. 24

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Die Notwendigkeit, sich zumindest deklaratorisch auf den Schutz des Landfriedens zu beziehen, führte natürlich dazu, dass man unter diesen Zusammenschlüssen im Spätmittelalter beispielsweise ausgesprochene Fehdegesellschaften findet oder politische Allianzen, deren Friedensbereitschaft nicht sehr ausgeprägt war. Noch die Konfessionsbünde Union und Liga reklamierten im Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges in den Arengen ihrer Bundesordnungen den Schutz des Landfriedens für sich.27 In dem breiten Spektrum der bündischen Zusammenschlüsse im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit kristallisierten sich schließlich die ständeübergreifenden Zusammenschlüsse im Reich als die für die Verfassungsgeschichte bedeutendsten heraus – vom Schwäbischen Bund (1488 – 1534) und dem Schmalkaldischen Bund (1531 – 1546) über den Landsberger Bund (1556 – 1599) bis hin zu den schon genannten Konfessionsbünden im Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges.28 Nur in solch ständeübergreifender Breite konnten sie das Programm der Landfriedenswahrung in einem räumlich annähernd geschlossenen Bereich realisieren. Wenn dies in weitausgreifender überregionaler Ausdehnung wie beim Schwäbischen Bund oder dem Schmalkaldischen Bund geschah, konnte die Friedenswahrung durchaus in ernsthafte Konkurrenz zu jener des Reichs treten. Charakteristisch für die Struktur dieser Landfriedensbünde und die Art und Weise, wie für Frieden gesorgt werden sollte, war ihre Doppelpoligkeit: Intern sorgte der Bund für Frieden unter seinen Mitgliedern dadurch, dass er für Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern Austragsmöglichkeiten schuf, sei es in gütlicher Form oder durch Organisation eines Schiedsgerichts. Zugleich aber sorgte der Zusammenschluss auch für Sicherheit der Mitglieder gegen äußere Angriffe. In solchen Fällen reagierte der Bund als Konfliktgemeinschaft: Es war Pflicht der anderen Bundesmitglieder, dem bedrängten Genossen gegen seine Widersacher Hilfe zu leisten, womit aus dem Feind eines einzelnen Bundesstandes ein solcher aller Bundesstände wurde.29 Der Landfriedensbund funktionierte also einerseits als „Austragseinung“ der Bundesgenossen untereinander, andererseits als „Hilfseinung“ im Falle eines Angriffs.30 In den Bundesbriefen oder Ordnungen wird dies in der Regel auch deutlich markiert: Der erste Teil enthält die Bestimmungen zum Austrag der Mitglieder un-

27 Michael Kaiser, Ständebund und Verfahrensordnung. Das Beispiel der Katholischen Liga (1619 – 1631), in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2001, S. 351 – 415; Albrecht Ernst/Anton Schindling (Hrsg.), Union und Liga 1608/ 1609. Konfessionelle Bündnisse im Reich – Weichenstellung zum Religionskrieg? Stuttgart 2010. 28 Horst Carl, Der Schwäbische Bund 1488 – 1534. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation, Leinfelden 2000; Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund (Fn. 16); Maximilian Lanzinner, Der Landsberger Bund und seine Vorläufer, in: Press/Stievermann (Fn. 15), S. 65 – 74. 29 Dabei haben die Bünde sich in der Regel ein Prüfungsrecht vorbehalten, ob es sich um eine „rechte Fehde“ handelt oder das Bundesmitglied ein entsprechendes Eingreifen bewusst provoziert hat: Obenaus (Fn. 12), S. 72 – 78. 30 Carl, Der Schwäbische Bund (Fn. 28), S. 72.

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tereinander, der zweite die Modalitäten der „Nacheile“ und militärischen Hilfeleistungen im Falle eines Konflikts. Vier allgemeine Beobachtungen lassen sich an diese basalen Unterscheidungen knüpfen: 1. Die Bundesordnungen bzw. Bundesbriefe, die die Verhaltensanforderungen an die Mitglieder formulierten, eignen sich schon deshalb in hohem Maße für eine verfassungsgeschichtliche Herangehensweise, weil sie die Textinterpretation grundlegender Dokumente ins Zentrum stellt, um damit Vergleiche zu ziehen oder die Frage nach Einflüssen anderer Textdokumente aufzuwerfen.31 Diese klassische verfassungsgeschichtliche Methode lässt Kontinuität und Verfassungswandel nachvollziehen, wie sich dies etwa bei der südwestdeutschen Adelsgesellschaft mit Sankt Georgenschild über nahezu das gesamte 15. Jahrhundert32 oder beim Schwäbischen Bund durch eine dichte Abfolge aufeinander bezogener Verfassungsdokumente über mehrere Jahrzehnte von 1488 bis 1523 verfolgen lässt.33 Die Verhandlungen um die Übernahme von Formulierungen der Bundesbriefe oder auch Änderungen lassen den Prozess der Adaption dieser Verfassungen an sich ändernde Rahmenbedingungen und damit Verfassungswandel im Wortsinn „lesbar“ werden. 2. In diesem Rahmen lässt sich eine Entwicklung vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit nachzeichnen, in der die Ausgestaltung der Austragsmodalitäten immer stärker hinter die der Gewährleistung militärischer Sicherheit zurücktrat. Die langfristigen Gründe für diese Entwicklung sind in der Forschung weitgehend unstrittig: Zum einen führte die Etablierung der Reichsinstitutionen nach 1495 – namentlich des Kammergerichts – dazu, dass die Reichsstände für den rechtlichen Austrag ihrer Konflikte auf Reichsgerichte zurückgreifen konnten und diese sich schon im Verlauf der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erfolgreich etablierten.34 Zum anderen wurden nach dem Ende des Schwäbischen Bundes 1534 zwischenständische Einungen immer öfter unter konfessionellen Vorzeichen gegründet. Prominenteste Beispiele dafür sind der Schmalkaldische Bund (1531 – 1546) und der katholische Bund zu Nürnberg (1539). Wenn aber Schutz der gemeinsamen Konfession den wesentlichen Bundeszweck ausmachte, be31 Heinz Duchhardt hat in seine Auswahl von Dokumenten der frühneuzeitlichen Reichsverfassungsgeschichte auch Dokumente zu den diversen Bünden aufgenommen, weil „an einer methodisch und didaktisch derart fruchtbaren Quellengruppe […] nicht vorbeigegangen werden [konnte].“ Quellen zur Verfassungsentwicklung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (1495 – 1806), bearb. v. Heinz Duchhardt, Darmstadt 1983, S. XII. 32 Obenaus (Fn. 12), 228 – 231. Vgl. dazu auch die umfassende Zusammenstellung von Holger Kruse/Werner Paravicini/Andreas Ranft (Hrsg.), Ritterorden und Adelsgesellschaften im spätmittelalterlichen Deutschland, Frankfurt a. M. 1991. 33 Ernst Bock, Der Schwäbische Bund und seine Verfassungen 1488 – 1534. Ein Beitrag zur Geschichte der Reichsreform, Breslau 1927; Laufs (Fn. 13), S. 91 – 155; Carl, Der Schwäbische Bund (Fn. 28), S. 192 – 199. 34 Lanzinner, Ein Sicherheitssystem (Fn. 8), S. 117.

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durfte es für den Austrag der internen Konflikte keiner separaten rechtlichen Schiedsinstitutionen,35 sondern in erster Linie des Appells an die gemeinsamen Werte – in Gestalt der bedrohten gemeinsamen Konfession. 3. Die traditionelle Zwecksetzung eines Landfriedensbundes, die Mitglieder auch gegen Angriffe von außen zu schützen, sorgte nicht nur für die Konfliktfähigkeit des Bundes, sondern ließ ihn auch durchaus als „politisch“ erscheinen. Vor allem im Spätmittelalter waren Landfrieden und Fehde häufig zwei Seiten einer Medaille.36 Allerdings machte sich gerade im Übergang zur Frühen Neuzeit immer deutlicher bemerkbar, dass die defensive Grundorientierung eines Landfriedensbundes es erschwerte, ihn zu einem offensiv agierenden Instrument umzufunktionieren. Entweder waren die prozeduralen Maßnahmen für offensive Aktionen dann doch zu schwerfällig, oder es kam zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten mit anderen Bundesmitgliedern, weil offensive Aktionen vom vereinbarten Einungszweck nicht gedeckt waren. Selbst den Kriegszügen des Schwäbischen Bundes gegen adelige Fehdeführer 1512 und 1523, gegen den Herzog von Württemberg 1519 und erst recht gegen die Bauern 1525 gingen langwierige und äußerst mühsame Verhandlungen voraus.37 Der Schmalkaldische Bund musste vergleichbare Erfahrungen 1542 bei seinem Kriegszug gegen Herzog Heinrich von Braunschweig machen, als die kriegerische Aktion nur durch eine konzertierte Aktion der fürstlichen Führer des Bundes zustande kam. Viele Bundesmitglieder verweigerten sich der Beteiligung jedoch, weil sie dieses offensive Vorgehen nicht durch die Bundesstatuten gerechtfertigt sahen.38 4. Will man die Struktur und Zielsetzung dieser Bünde in einen größeren, abstrakten Zusammenhang stellen, dann lassen sie sich durchaus als Systeme „kollektiver Sicherheit“ apostrophieren.39 Die Kernbestandteile „kollektiver Sicherheit“ kön35

Komatsu (Fn. 17), S. 228. Obenaus (Fn. 12), S. 46 f.; Martina Stercken, Königtum und Territorialgewalten in den rhein-maasländischen Landfrieden des 14. Jahrhunderts, Köln 1989, S. 94; Julia Eulenstein, Landfriedenspolitik versus Fehdepolitik? Die Schmidtburger Fehden des Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg und der Kaiserslauterer Landfriede, in: Iris Kwiatkowski/Michael Oberweis (Hrsg.), Recht, Religion, Gesellschaft und Kultur im Wandel der Geschichte. Ferculum de cibis spiritualibus. FS Dieter Scheler, Hamburg 2008, S. 241 – 264; Christine Reinle, Fehden und Fehdebekämpfung am Ende des Mittelalters. Überlegungen zum Auseinandertreten von „Frieden“ und „Recht“ in der politischen Praxis zu Beginn des 16. Jahrhunderts am Beispiel der Absberg-Fehde, Zeitschrift für Historische Forschung 30 (2003), S. 355 – 388 (367 f.); Hendrik Baumbach/Horst Carl, Was ist Landfrieden? Und was ist Gegenstand der Landfriedensforschung?, in: dies. (Hrsg.) (Fn. 7), S. 1 – 49 (27 – 33). 37 Carl, Der Schwäbische Bund (Fn. 28), S. 469 – 495. 38 Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund (Fn. 16), S. 67 – 69, wertet dies als für den Zerfall des Bundes entscheidende Aufkündigung seiner Grundlagen. 39 Vgl. Fn. 8. Erstmals ist offenbar die Schweizer Eidgenossenschaft als bedeutendste Landfriedenseinung des Spätmittelalters mithilfe dieser Kategorie beschrieben worden. Der Begriff „kollektive Sicherheit“ ist erst im Kontext des Völkerbunds der 1930er-Jahre geprägt worden, so dass es kein Zufall ist, wenn mit William Rappard einer der intellektuellen Vordenker des Völkerbundes und Schweizer Delegierter beim Völkerbund diesen Begriff ver36

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nen unschwer auch in spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Einungen identifiziert werden, wenn etwa dadurch ein Verzicht auf Anwendung militärischer Gewalt erreicht wird, dass potentielle Angreifer selbst der gemeinsamen Organisation angehören40. Die Mittel, mit denen Gewaltverzicht gegen äußere oder innere Friedensstörer durchgesetzt wird, können durchaus auch gewaltsam sein. Es ist aber die Organisation selbst und nicht das einzelne Mitglied, das über den casus foederis und damit gegebenenfalls über die entsprechenden gewaltsamen Mittel entscheidet.41 Gewaltverzicht durch Anwendung von Gewalt zu erzwingen ist allerdings gegenüber den rechtlichen Mitteln nur ultima ratio. Es könnte nun der Einwand erhoben werden, dass der vor allem für die internationale Staatenordnung nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg geprägte Begriff der „kollektiven Sicherheit“ für Phänomene des 20. Jahrhunderts reserviert bleiben sollte, weil entsprechende „Systeme kollektiver Sicherheit“ an spezifische Kontexte gebunden sind, die souveräne Staatlichkeit oder universalistische Konzepte einer Weltfriedensordnung wie bei den Vereinten Nationen voraussetzen oder umfassen.42 Dies ist problematisch, weil der Begriff des „Systems“ auf Generalisierbarkeit zielt und dabei keineswegs die Notwendigkeit besteht, den Begriff des souveränen Staates zur Voraussetzung solcher Generalisierung zu machen – dem Verfassungshistoriker vormoderner Phänomene würde dies jedenfalls nicht einleuchten. Wenn zudem der Begriff der kollektiven Sicherheit auf Systeme beschränkt bliebe, die wie die Vereinten Nationen mit ihrem universellen Anspruch per definitionem keine Außenwelt kennen, dann dient hier eine historisch ziemlich singuläre Konstellation als Grundlage des Vergleichs. Infolgedessen würden lediglich die Mechanismen eines internen Gewaltverzichts in den Blick genommen, nicht aber die Frage, wie gegen äußere Angreifer Sicherheit gewährleistet wurde – es bliebe also beispielsweise wenig Raum für die Frage nach dem Zusammenhang von bündischer Ordnung und militärischer Organisation. In historischer Perspektive ließe sich auch dies nicht begründen. Der Terminus „kollektive Sicherheit“ transportiert stattdessen ein Angebot der vergleiwendet hat: William E. Rappard, Cinq siècles de sécurité collective (1291 – 1798), Paris/Genf 1945. Volker Press wiederum hat den Schwäbischen Bund als bedeutendste Landfriedenseinung in der Geschichte des Reiches mit dieser Kategorie beschrieben: Press, Die Bundespläne (Fn. 14), S. 70, 111; generalisiert für Landfriedensbünde als Verfassungstyp Carl, Landfrieden und föderative Ordnung (Fn. 3); ders., Landfrieden als Konzept (Fn. 8). Als „Sicherheitssysteme“ bezeichnet auch Lanzinner, Ein Sicherheitssystem (Fn. 8), die frühneuzeitlichen Bünde im Reich. 40 So etwa Ernst Forsthoff in einem grundlegenden Gutachten zum Begriff der kollektiven Sicherheit, das er 1953 anlässlich der Debatten um einen deutschen Wehrbeitrag für die SPD erstellte, zitiert nach Thomas Michael Menk, Gewalt für den Frieden. Die Idee der kollektiven Sicherheit und die Pathognomie des Krieges im 20. Jahrhundert, Berlin 1992, S. 39 f. Menks Studie ist grundlegend für die politikwissenschaftliche Diskussion um die historische Entwicklung wie auch die systematische und analytische Tragweite der Kategorie „kollektive Sicherheit“. 41 Ebd. S. 40 f. 42 Ebd., S. 263 – 278, 411 – 445.

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chenden Analyse jenseits der Fixierung auf den souveränen Staat oder eine internationale Staatenorganisation: Es handelt sich bei Systemen kollektiver Sicherheit eben nicht notwendigerweise um Friedenswahrung und Sicherheitsstiftung unter den Auspizien eines etablierten oder sich etablierenden staatlichen Gewaltmonopols, sondern eines Gewaltoligopols mehrerer oder gar vieler zur Gewaltanwendung berechtigter bzw. befähigter Akteure. Reflektiert man diese Ausgangslage, dann wird auch deutlicher, weshalb gerade hier schriftlich fixierten Vereinbarungen eine grundlegende verfassungsgeschichtliche Bedeutung zuwuchs.

IV. Militärische Organisation als Movens von Verfassungsentwicklung Um die verfassungsgeschichtliche Bedeutung der spezifisch militärischen Regelungen, in denen der Charakter von Bünden als militärischer „Hilfseinung“ zum Ausdruck kam, zu thematisieren, bietet sich ein exemplarischer Blick auf den bekanntesten und bedeutendsten Landfriedensbund an, die Eidgenossenschaft.43 Hier dokumentieren vor allem zwei spätmittelalterliche Schlüsseldokumente die für die Verfassungsentwicklung essentielle Bedeutung militärischer Organisation, der Sempacherbrief von 1393 und das Stanser Verkommnis von 1481.44 Die Eidgenossenschaft der acht Orte, die sich erst in den 1350er-Jahren konstituiert hatte, blieb ein loses Geflecht von einzelnen Bünden und Burgrechten45, das gleichwohl mit der Schlacht bei Sempach 1386 seine Schlagkräftigkeit unter Beweis gestellt hatte. Gerade im militärischen Bereich aber machten sich Defizite bemerkbar, und es ist bezeichnend, wo Regelungsbedarf bestand und auf welche Probleme man 1393 mit einer Kriegsordnung avant la lettre reagierte.46 Die Vertragschließenden einigten sich auf minimale Regelungen zur Eröffnung von Kriegen und zur Kriegführung selbst. Die wilden Freischarenzüge vor allem der Innerschweizer sollten zumindest delegitimiert werden, indem allein den Orten die auctoritas zur legitimen Kriegführung zugeschrieben wurde. Das Ersuchen um Hilfe durch die Bundesgenossen durfte nur über die Landgemeinden oder die städtischen Räte als Obrigkeiten erfolgen, womit einer Unterstützung der jeweiligen Freischarenzüge durch die eigenen Obrig43

Zur Charakterisierung der Eidgenossenschaft als Landfriedensbund v. a. Peter Blickle, Friede und Verfassung. Voraussetzungen und Folgen der Eidgenossenschaft von 1291, in: Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft. Jubiläumsschrift 700 Jahre Eidgenossenschaft, Bd. 1, Olten 1991, S. 5 – 202. 44 Hans Conrad Peyer, Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Zürich 1978, S. 21 – 31. 45 Zu diesem Spezifikum der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft jetzt Heinrich Speich, Burgrecht. Von der Einbürgerung zum politischen Bündnis, Ostfildern 2019. 46 Bernhard Stettler, Der Sempacher Brief von 1393 – ein verkanntes Dokument aus der älteren Schweizergeschichte, Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 35 (1985), S. 1 – 20; ders., Art. „Sempacherbrief“, in: Historisches Lexikon der Schweiz, https://hls-dhs-dss.ch/de/ articles/009804/2011 – 11 – 22/.

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keiten ein Riegel vorgeschoben werden sollte. Und es gehörte zum Repertoire solcher Abmachungen, dass die Brutalitäten dieser Kriegführung durch Schutzbestimmungen für die Zivilbevölkerung eingedämmt werden sollten. Die Wahrung des Landfriedens bestand hier also in der Regulierung der Berechtigung zum Krieg und der Regulierung des Kriegsgeschehens selbst. Konfliktträchtig war daneben aber auch das, was Resultat des Krieges bzw. der Schlacht war, nämlich die Verteilung der Beute:47 Geplündert werden durfte erst nach der Schlacht, und die Verteilung der Beute hatten die Hauptleute vorzunehmen. Auch das Stanser Verkommnis von 148148 fixierte Vereinbarungen zur gemeinsamen Kriegführung, resultierend aus der bis dato schwersten inneren Krise der Eidgenossenschaft. Voraufgegangen war 1477 einmal mehr einer jener chaotischen Freischarenzüge der Innerschweizer, der sogenannte „Saubannerzug“ gegen Genf, sowie erbitterte Auseinandersetzungen um die sogenannte Burgunderbeute, die die Eidgenossen bei ihrem Sieg über Karl den Kühnen 1476 gemacht hatten. Nur mit mehr oder minder göttlichem Beistand in Gestalt der Vermittlung durch den allseits geachteten Ordensbruder Nikolaus von Flüe gelang eine Einigung: Sie bekräftigte den inneren Landfrieden durch das erneute Verbot, dass einzelne Orte gewaltsam gegen andere Bundesmitglieder vorgingen, sowie den Schutz eines überfallenen Ortes durch die anderen Orte; durch ein Verbot von Gemeindeversammlungen oder Zusammenrottung ohne Erlaubnis der Obrigkeit; durch ein Verbot, die Untertanen eines anderen Ortes aufzuwiegeln, sowie die Bestimmung, dass die Kriegsbeute künftig unter die Orte nach Kopfzahl verteilt werden sollte. Dieses Dokument hat für die weitere Entwicklung von der zehn- zur dreizehnörtigen Eidgenossenschaft schon deshalb gleichsam Verfassungsrang erhalten, weil es darüber hinaus keine gemeinsamen, schriftlich fixierten Vereinbarungen aller Orte mehr gegeben hat. Ein Zusammenwachsen der Eidgenossenschaft durch stärkere Ausformulierung der Modalitäten einer Austragseinung ist beispielsweise nicht erfolgt. Eine gemeinsame verbindliche Schiedsgerichtsbarkeit, die eine stärkere Verrechtlichung interner Konflikte in der Eidgenossenschaft mit sich gebracht hätte, scheiterte spektakulär. Entsprechende Vorstöße in den 1650er-Jahren schürten eben jene inneren Konflikte, die 1656 in den ersten Villmerger Krieg führten, einen der seltenen, im Übrigen aber kurzen inneren kriegerischen Konflikte der Eidgenossenschaft.49

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Michael Jucker, Vom Chaos zur Ordnung. Beuteökonomie und deren Repräsentation als methodische und pluridisziplinäre Herausforderung, in: Hans-Jürgen Bömelburg/Horst Carl (Hrsg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis in die Neuzeit, Paderborn 2011, S. 33 – 54. 48 Ernst Walder, Zur Entstehungsgeschichte des Stanser Verkommnisses und des Bundes der VIII Orte mit Freiburg und Solothurn von 1481, Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 32 (1982), S. 232 – 292; ders., Art. „Stanser Verkommnis“, in: Historisches Lexikon der Schweiz, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009805/2013 – 01 – 24/. 49 Thomas Lau, „Stiefbrüder“. Nation und Konfession in der Schweiz und in Europa (1656 – 1712), Köln u. a. 2008, S. 88 – 97.

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Wenn über solch grundlegende Beziehungen zwischen Verfassung und Militärwesen hinaus spezifischer analysiert werden soll, welche organisatorischen Bereiche sich durch besonderen Regelungsbedarf auszeichneten, sei hierfür als Beispiel der Schwäbische Bund (1488 – 1534) gewählt. Begründet werden kann dies damit, dass er als derjenige der bündischen Zusammenschlüsse im Reich gilt, dessen Militärorganisation Vorbildcharakter sowohl für das Reich als auch für spätere Bundesorganisationen zumindest des 16. Jahrhunderts gewonnen hat.50 Außerdem lässt sich die Entwicklung des bündischen Militärwesens über einen längeren Zeitraum von den 1490er-Jahren bis in die 1530er-Jahre anhand der fünf Bundbriefe sowie eigener Exekutions- und Feldordnungen differenziert nachzeichnen.51 Die „Lernfähigkeit“ der verantwortlichen Akteure schlug sich in immer differenzierteren Regelungen nieder, in die sowohl die Erfahrungen aus dem militärischen Debakel gegen die Eidgenossen 1499 wie auch aus den beiden siegreichen, aber kostspieligen Württemberg-Feldzügen von 1519 oder dem Zug gegen fränkische Fehdeführer 1523 einflossen.52 Demonstriert sei dies an der Rolle, die Bundesrat und Bundeshauptleute als verfassungsmäßige Leitungsorgane des Bundes für die Militärorganisation spielten. Als eigentliches Leitungsgremium des Bundes etablierte sich der paritätisch aus den drei ständischen „Bänken“ der Bundesstände rekrutierte Bundesrat, der sich ab 1500 aus 21 Räten zusammensetzte. Er entschied darüber, ob einem angegriffenen Bundesstand Bundeshilfe zustand, und er legte auch deren Umfang fest.53 Entsprechend den Gepflogenheiten in früheren Landfriedenseinungen wie dem oberschwäbischen Georgenschild war er auch verantwortlich für den Abschluss der Feindseligkeiten – sei es in Form eines Waffenstillstandes oder eines Friedensschlusses –, womit seine Rolle als politische Schaltzentrale des Bundes gegenüber den einzelnen Mitgliedern aufgewertet wurde. Dem angegriffenen oder geschädigten Bundesmitglied wurde allenfalls zugestanden, dass dies mit seiner Einwilligung zu geschehen habe.54 Entsprechende Lernprozesse und deren Auf-Dauer-Stellen kann man vor allem an den immer differenzierteren Vorgaben für die Rolle des Bundesrates in bewaffneten Auseinandersetzungen nachverfolgen. Als politisches Leitungsgremium des Bundes sollte er gerade in Konfliktsituationen seine Handlungsfähigkeit dadurch unter Be50

Carl, Der Schwäbische Bund (Fn. 28), S. 430. Die entsprechenden Materialien finden sich schon bei Johann Philipp Datt, Volumen rerum germanicarum novum, sive de pace imperii publica libri V, Ulm 1698, S. 281 – 285, 326 – 331, 349 – 375, 382 – 400, 405 – 426, zur Militärorganisation v. a. 467 – 492. Laufs (Fn. 13), S. 142 – 155; Carl, Der Schwäbische Bund (Fn. 28), S. 425 – 431. Zur Organisation des Bundesheeres im Bauernkrieg detailliert Peter Blickle, Der Bauernjörg – Feldherr im Bauernkrieg. Georg Truchsess von Waldburg 1488 – 1531, München 2015, S. 140 – 157. 52 Laufs (Fn. 13), S. 144 – 155 (Bundesabschied vom 30. November 1519 mit detaillierten Angaben zur künftigen Kriegsorganisation); Blickle, Der Bauernjörg (Fn. 51), S. 140 – 157 (Feldordnungen des Bundes). 53 Zum Folgenden Carl, Der Schwäbische Bund (Fn. 28), S. 427 – 430. 54 Datt (Fn. 51), S. 371. 51

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weis stellen, dass er für die Dauer des Konfliktes in Permanenz tagte – so formulierte es explizit erstmals die Bundesordnung von 1500. Auch inhaltlich wurde die Zuständigkeit des Bundesrates immer umfassender: Ab 1519 erhielten die Bundesräte vor dem Hintergrund der zweimaligen Feldzüge gegen Herzog Ulrich von Württemberg nicht nur das Recht, die militärische Bundeshilfe über das in der Bundesmatrikel festgelegte Maß zu erhöhen, sie konnten dazu auch eigenständig Kriegssteuern oder Anleihen ausschreiben, ohne dass dazu erst mit den einzelnen Bundesständen Rücksprache gehalten werden musste. Ab 1522 konnte eine Bundeshilfe auch prophylaktisch, ohne dass bereits ein Angriff erfolgt war, ausgeschrieben werden. Voraussetzung war, dass ein „stattlich gewerb oder Empörung/so über einen bundsverwandten gehen soll/kuntbar und wahrlich vor augen wäre […]“55 Dahinter steckte noch nicht die Furcht vor drohenden bäuerlichen Unruhen, sondern vor den Umtrieben des vom Bund vertriebenen Herzogs Ulrich von Württemberg. Diese Furcht motivierte auch ein eigenes Verfahren der „Eilenden Hilfe“, das ein Drittel der „gantzen hilff“ betragen sollte. Damit sollte der Bund in die Lage versetzt werden, unmittelbar militärisch auf Angriffe oder Bedrohungen zu reagieren, ohne dass erst langwierige Verhandlungen auf Bundestagen nötig waren. Der Augsburger Bundesabschied vom 30. November 1519 verwies auf die Erfahrungen, die der Bund beim Rückeroberungsversuch des Herzogs im Herbst gemacht hatte: Ulrich sei nur deshalb bis Stuttgart gelangt, weil der Bund mit seiner „ordentlichen Hilfe“ so schwerfällig reagiert habe. Da der Herzog und seine Helfer weiterhin eine Gefahr darstellten, weil sie „gegen allen Pundsstenden/[…] in offen vehden […]“56 lägen, müsse der Bund in Zukunft besser gewappnet sein. Dazu wurde ein Ausschuss von sechs Räten den drei Bundeshauptleuten beigeordnet, der als eine Art schlankerer Bundesrat eine „schnelle Eingreiftruppe“ des Bundes mobilisieren konnte. Als die ersten Bauernunruhen sich im Herbst 1524 im Schwarzwald in unmittelbarer Nähe habsburgischer Territorien ausbreiteten, weitete der Schwäbische Bund diese „Eilende Hilfe“ dann auch explizit auf Untertanenunruhen aus. Die „Eilende Hilfe“ bei größeren Militäraktionen war jedoch nur eine Variante der Differenzierungen, die der Bund innerhalb seiner Militärorganisation kannte. Schon die Vorläufer des Bundes hatten auf kleinere Übergriffe, die bei zahlenmäßig begrenzten Fehden zwischen Mindermächtigen erfolgten, keineswegs mit der gesamten Militärmacht der Einung reagieren müssen. Es gehörte vielmehr zum etablierten Handlungsrepertoire auch des Schwäbischen Bundes, dass in solchen Fällen ein sogenannter „Zusatz“ aus vergleichsweise wenigen vom Bund gestellten Bewaffneten ausreichte, um den angegriffenen Bundesstand in die Lage zu setzen, sich gegen Fehdehandlungen zur Wehr zu setzen oder den Fehdegegner hinreichend zu schädigen, um ihn zur Annahme seines Rechtsgebotes zu zwingen. Aus dieser Wurzel entwickelte der Schwäbische Bund im Rahmen einer prophylaktischen Wahrung des Landfriedens mit den „Streifenden Rotten“ eine Art permanente Polizeitruppe. 55 56

Art. 62 der Bundesordnung von 1522. Laufs (Fn. 13), S. 144.

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Nach ersten Ansätzen 1502 kam es im Gefolge des Bauernkriegs 1525 zu einer Institutionalisierung solcher streifender Rotten, deren Zweck darin bestand, neue Bauernaufstände schon im Keim zu ersticken, aber auch nach notorischen adeligen Bundesfeinden in Gestalt des Hans Thomas von Absberg und seiner Konsorten zu fahnden.57 Die 800 Reiter, die der Bund schließlich über das gesamte Bundesgebiet verteilt in vier Quartieren unterhielt, wurden zunächst befristet angestellt, dann jedoch trotz der hohen Kosten über mehrere Jahre im Dienst behalten.58 Am anderen Ende des Spektrums der militärischen Organisation des Bundes stand die „ganze Hilfe“, die der Bund im Falle großer kriegerischer Auseinandersetzungen sogar noch verdoppeln konnte. Nur auf dem Papier blieb allerdings die Generalklausel, im Falle äußerster kriegerischer Not sei jeder Bundesstand verpflichtet, mit allen verfügbaren Kräften ins Feld zu ziehen. Stattdessen wurde mit der „ganzen Hilfe“ eine Matrikel aufgestellt, auf deren Grundlage die Beteiligung der einzelnen Bundesstände an den verschiedenen Graden der Bundeshilfe veranschlagt wurde. War diese Matrikel in den Anfangszeiten des Bundes noch jeweils im Bedarfsfall aufgestellt worden, so wurde sie ab 1500 Bestandteil der Bundesordnung, um Streitigkeiten über die Höhe der Bundeshilfe von vornherein zu entschärfen.59 Die Tendenz des Schwäbischen Bundes zu einer immer ausgeprägteren und detaillierteren Institutionalisierung seiner Militärorganisation lässt sich anhand der Bundbriefe auch auf der Ebene der bündischen Ämter nachvollziehen. Für die eigentlich militärischen Belange waren nicht die Bundesräte oder die Bundeshauptleute, sondern eigens verordnete Feldhauptleute samt einigen Kriegsräten zuständig. Wurden sie anfangs noch ad hoc für die Dauer des anstehenden Feldzuges gewählt, so gestanden die Stände Kaiser Maximilian als ranghöchstem Bundesmitglied 1512 die Nominierung des Feldhauptmanns zu. Er hatte damit allerdings auch die Kosten für dieses Amt zu tragen, während die Stände die Kriegsräte nominierten, womit sie über ein Kontrollinstrument verfügten.60 Auch hier wurde jedoch noch weiter differenziert, weil in „großen“ Kriegen ein Fürst nominiert werden sollte, während für kleinere Feldzüge ein Graf oder Freiherr für dieses Amt ausreichte. Der „große Krieg“ kam schließlich mit dem Württemberger-Krieg 1519, in dem der bayerische Herzog Wilhelm als Feldhauptmann agierte. Bei den Kriegsanstrengungen der Bundesmitglieder übertraf dieser „große Krieg“ auch den späteren Bauernkrieg. Dies machte die Einrichtung weiterer Ämter im bündischen Militärwesen notwendig, dar57 Reinle (Fn. 36); Peter Ritzmann, „Plackerey in teutschen Landen“. Untersuchungen zur Fehdetätigkeit des fränkischen Adels im frühen 16. Jahrhundert und ihrer Bekämpfung durch den Schwäbischen Bund und die Reichsstadt Nürnberg, insbesondere am Beispiel des Hans Thomas von Absberg und seiner Auseinandersetzungen mit den Grafen von Oettingen (1520 – 1531), Diss. München 1995, S. 468 – 470. 58 Thomas F. Sea, Schwäbischer Bund und Bauernkrieg. Bestrafung und Pazifikation, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Der deutsche Bauernkrieg 1524 – 1526, Göttingen 1975, S. 129 – 167 (133 – 136). 59 Carl, Der Schwäbische Bund (Fn. 28), S. 429. 60 Laufs (Fn. 13), S. 131.

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unter das Amt eines eigenen Pfennigmeisters für Mustergelder und Besoldung sowie bündischer „Brandmeister“, die mithilfe von Brandschatzungen dafür zu sorgen hatten, dass der Bund seine Kriegskosten auf Kosten seiner Kriegsgegner begleichen konnte.61 Daneben dienten Bundesräte als „Musterherren“, amtierte mit Michel Ott von Echterdingen Kaiser Maximilians vormaliger oberster Feldzeugmeister nun in gleicher Funktion im Bundesheer, und machte sich schließlich der „Bundesprofos“ Berthold Aichelin nach dem Bauernkrieg mit der Vollstreckung der Todesurteile an Rädelsführern einen gefürchteten Namen in Oberdeutschland. In der letzten Phase der Geschichte des Schwäbischen Bundes war dessen bündische Heeresorganisation damit in jeder Hinsicht führend im Reich, und es war nur folgerichtig, wenn die Reichsstände sich 1522 und 1530 bei den Planungen zur Aufstellung eines Reichsheeres gegen die Türken an den jüngst aufgestellten Ordnungen des Bundesheeres orientierten.62 Mit der Organisation eigener streifender Rotten wiederum knüpften die Reichskreise, namentlich der Schwäbische, nahtlos an Vorbilder des Bundes an.63 Der Schwäbische Bund markierte allerdings mit seiner starken Tendenz zur Institutionalisierung auch eine Grenze, geriet diese Entwicklung doch immer stärker in Spannung zu einem sich gleichfalls immer stärker ausbildenden Autonomiestreben seiner Mitglieder. Eine konsequente Fortsetzung hätte wohl unweigerlich zur Staatsbildung führen müssen. So weit aber ist es bei keinem dieser Bünde gekommen, auch nicht beim Schwäbischen. Allein schon die Befristung stand dem entgegen. Sie war einer der Gründe dafür, dass gerade im Kontext von Krieg und Militär diese Bünde eine bemerkenswert geringe Resilienz in militärischen Krisen oder bei Niederlagen zeigten. Die bedeutende Adelsgesellschaft mit Sankt Georgenschild zerbrach 1499 nach dem verlorenen „Schweizerkrieg“, das Ende des Schwäbischen Bundes 1534 stand in engem Zusammenhang mit der Wiedereroberung Württembergs durch Landgraf Philipp und Herzog Ulrich, und auch der Schmalkaldische Bund überlebte 1547 seine Niederlage nicht. Schließlich fügen sich auch bedeutende spätere Bünde wie die evangelische Union mit ihrer Selbstauflösung 1620 oder der Heilbronner Bund nach der Schlacht bei Nördlingen 1634 in dieses Tableau nahtlos ein. Letztlich bestätigt auch die Eidgenossenschaft dieses Muster: Als „Ewiger“ Bund überstanden die Eidgenossen ihre inneren kriegerischen Konflikte in der Frühen Neuzeit, ohne dass sich die Vereinigung auflöste.64 Die Erfahrung der Niederlage gegen äußere 61 Laufs (Fn. 13), S. 132 f.; Blickle, Der Bauernjörg (Fn. 51), S. 59 – 62. Im Bauernkrieg findet sich das System der Brandschatzung dann schon weitgehend etabliert und wurde vom Bund mit großer Härte praktiziert: Sea (Fn. 58), S. 152 – 167. 62 Laufs (Fn. 13), S. 157 – 159; Carl, Der Schwäbische Bund (Fn. 28), S. 430; Blickle, Der Bauernjörg (Fn. 51), S. 317. 63 Laufs (Fn. 13), S. 247 – 249; Sascha Weber, Landfriedenspolitik im Schwäbischen Kreis. Vom Ende des Schwäbischen Bundes bis zum Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, in: Carl/ Baumbach (Fn. 7), S. 192 – 207. 64 Andreas Würgler, „The League of Discordant Members“ or how the old Swiss Confederation operated and how it managed to survive for so long, in: André Holenstein/Thomas

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Feinde blieb ihnen zudem erspart – bis 1798. Die Niederlage gegen die Französische Revolution besiegelte dann auch das Ende der „alten“ Eidgenossenschaft.65

V. Befunde Mit dem Verweis auf mangelnde Resilienz gegenüber militärischen Niederlagen als einem offenbar strukturellen Defizit solcher Bünde ist bereits der abschließende Teil erreicht, den ich nach dem Vorgesagten noch um einige allgemeinere Befunde ergänzen möchte – ich beschränke mich dabei auf fünf Kontexte bzw. allgemeine Beobachtungen in strukturgeschichtlich vergleichender Absicht. 1. Mit den Bestimmungen zur „Eilenden Hilfe“, aber auch zum Verfahren des Bundesrates reagierten die Bundesordnungen des Schwäbischen Bundes auf das Kernproblem, dass ein vielköpfiges Leitungsgremium im Falle einer militärischen Auseinandersetzung rasch handeln musste und sich weder zeitraubende Entscheidungsverfahren noch inhaltlich unklare Anordnungen leisten konnte. Wenn das Gremium der Bundesräte über die Leistung der Hilfe zu bestimmen hatte, sollte dies nach Mehrheit und ohne jegliches „Hintersichbringen“, wie dies sonst vor allem Praxis reichsstädtischer Vertreter war,66 geschehen. Im Unterschied zu den Reichsversammlungen, wo dies umstritten war,67 etablierte sich diese Pragmatik für Landfriedensbünde auch deshalb als Standard, weil die Entscheidungen der bündischen Schiedsgerichtsbarkeit gleichfalls mit Mehrheit der Richter bzw. Urteiler erfolgte.68 Während die Mehrheitsentscheidung und insbesondere die Verpflichtung auch der Minderheit, die Konsequenzen mitzutragen, in anderen zeitgenössischen ständischen Versammlungen wie dem Reichstag bis

Maissen/Maarten Prak (Hrsg.), The Republican Alternative. The Netherlands and Switzerland compared, Amsterdam 2008, S. 29 – 50. 65 Maissen (Fn. 5), S. 156 – 162. 66 Mit dem zeitgenössischen Begriff des „Hintersichbringens“ ist die Praxis der reichsstädtischen Delegierten angesprochen, sich aufgrund ihres lediglich imperativen Mandats das Placet der heimischen Räte für Entscheidungen zu holen bzw. auf mangelnde Instruktion zu berufen, um Entscheidungen aufzuschieben. Dazu grundlegend Christoph Müller, Das imperative und freie Mandat. Überlegungen zur Lehre von der Repräsentation des Volkes, Leiden 1966, S. 108 – 124; die Diskussion über dieses Verfahren auf den Reichsversammlungen z. B. bei Eberhard Isenmann, Die Reichsstädte auf den Reichstagen im ausgehenden Mittelalter, in: Peter Moraw (Hrsg.), Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späten Mittelalter, Stuttgart 2002, S. 547 – 577; dafür, dass dies vor allem in Landfriedensangelegenheiten als problematisch angesehen wurde, ebd., S. 567. Vgl. auch Georg Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung. Eine Untersuchung zur korporativen Politik der freien und Reichsstädte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 1984. 67 Klaus Schlaich, Die Mehrheitsabstimmung im Reichstag zwischen 1495 und 1613, Zeitschrift für Historische Forschung 10 (1983), S. 299 – 340. 68 Carl, Der Schwäbische Bund (Fn. 28), S. 376.

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tief ins 16. Jahrhundert strittig blieb, dienten Landfriedenseinungen geradezu der praktischen Einübung von Mehrheitsentscheidungen.69 2. Wie oben dargestellt bedeutete die zunehmende institutionelle Differenzierung der Kriegsorganisation auch, dass die Funktionen der politisch verantwortlichen Bundeshauptleute von denen der Feldhauptleute unterschieden wurden. Damit aber stellte sich auch die grundsätzliche Frage der politischen Kontrolle der Feldhauptleute auf etwaigen Kriegszügen und damit eine frühe Variation desjenigen Problems, das Gerhard Ritter mit der idealtypischen Unterscheidung von „Staatskunst und Kriegshandwerk“ in seinen späteren historischen Ausformungen untersucht hat.70 Auch in der bündischen Praxis ist die Kooperation zwischen „zivilen“ und „militärischen“ Funktionsträgern nicht reibungslos verlaufen, weil die ins Feld delegierten Bundesräte den Feldhauptleuten als wenig hilfreiche Aufpasser und damit Sand im militärischen Getriebe erschienen. Wir kennen aber auch Fälle, in denen der Feldhauptmann ausdrücklich darauf drängte, dass ihm Kriegsräte aus dem Bundesrat zugeordnet wurden: Georg Truchsess von Waldburg agierte im Bauernkrieg entsprechend, weil er die politische Verantwortung für die Ausschreibung von Brandschatzungen und Kriegssteuern in Territorien von Bundesmitgliedern nicht übernehmen wollte.71 Soweit man dies vergleichend beurteilen kann, haben die Bünde bei der Sicherstellung der finanziellen Grundlagen der Kriegführung hinreichend funktioniert. Allerdings wandelten sich mit den militärischen auch die finanziellen Anforderungen: Der Schwäbische Bund bedurfte zunächst noch keiner ausdifferenzierten Finanzorganisation, solange lokal begrenzte Fehden, denen man durch lokale Aufgebote in Form der „Nacheile“ Herr werden konnte, das Anforderungsprofil an Landfriedenswahrung bestimmten. Die großen Kriegszüge, die dann die zweite Hälfte der Bundesgeschichte prägten, waren jedoch nur noch durch die Finanziers der großen oberdeutschen Kommunen sowie extraordinäre Finanzierung durch den Verkauf Württembergs oder die Strafsteuern der Bauern 1525 zu bezahlen. Die Kriegsfinanzierung blieb allerdings beim Schwäbischen Bund immer noch nachgelagert. Erst der Schmalkaldische Bund stellte hier um, indem er einen beträchtlichen Kriegsschatz im Voraus anlegte, dessen Höhe die einzelnen Mitglieder dann auch spürbar belastete.72 Die Dimensionen der militärischen Konflikte waren binnen zweier Generationen in jeder Hinsicht gewachsen, sie waren nur noch durch 69 Horst Carl, Identische Akteure – unterschiedliche Kommunikationsprofile. Schwäbische Bundestage und Reichstage in der Epoche Maximilians I. im Vergleich, in: Maximilian Lanzinner/Arno Strohmeyer (Hrsg.), Der Reichstag 1486 – 1613: Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeiten, München 2006, S. 29 – 54 (34 f.). 70 Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Zum Problem des „Militarismus“ in Deutschland, 4 Bde., München 1954 – 1968. 71 Blickle, Der Bauernjörg (Fn. 51), S. 184. 72 Diethelm Heuschen, Reformation, Schmalkaldischer Bund und Österreich und ihre Bedeutung für die Finanzen der Stadt Konstanz 1499 – 1648, Tübingen/Basel 1969, S. 124 – 158; Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund (Fn. 16), S. 460 – 484.

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die teure Anwerbung von Söldnern und entsprechende Wartgelder zu bewältigen. Militärisch also haben sich die Bünde den Anfängen einer „militärischen Revolution“ durchaus noch gewachsen gezeigt. 3. Das führt schließlich zum heiklen Punkt der Beute und Beuteverteilung, der in allen Einungsbriefen und Bundesordnungen präsent ist; die eidgenössischen Vereinbarungen des Sempacherbriefs von 1393 und des Stanser Verkommnisses von 1481 stellten in dieser Hinsicht die Regel und nicht die Ausnahme dar. Dahinter stand zweifellos die konkrete Erfahrung, dass Beutemachen eine zentrale Motivation für kriegerisches Handeln gewesen ist und dass gerade Streitigkeiten um Beute fatale Folgen für den Zusammenhalt militärischer Formationen haben konnten. Die nach siegreichen Feldzügen ausgebrochenen Verteilungsstreitigkeiten um die eidgenössische Burgunderbeute nach 1476 oder um württembergisches Plündergut 1519 illustrieren dies. Die Prominenz dieser Verteilungsproblematik in den entsprechenden Ordnungen resultierte jedoch auch daraus, dass sich am Umgang mit immobiler Beute in Gestalt eroberter Territorien oder Städte das verfassungsmäßige Selbstverständnis eines solchen Bundes entschied. In den Kategorien des spätmittelalterlichen Korporationsrechts ausgedrückt, stellte sich die Frage danach, ob ein Bund als societas und damit letztlich nur Sachwalter der Einzelinteressen agierte, oder als universitas und damit eigenständiges Korpus handlungsfähig war.73 Letzteres hätte bedeutet, dass ein solcher Bund eroberten Besitz zu gemeinsamer Hand hätte behalten können, woraus sich wohl ebenfalls Ausgangspositionen für Staatsbildungsprozesse ergeben hätten. Die Generalstaaten als Verbund der sieben niederländischen Provinzen etwa haben die eroberten Generalitätslande gemeinsam verwaltet, während dies der Eidgenossenschaft mit ihren gleichfalls auf Eroberung beruhenden „Gemeinen Herrschaften“ bekanntlich nicht geglückt ist: Die Gemeinen Herrschaften wurden von einer je unterschiedlichen Anzahl von Orten verwaltet, doch in keinem Fall von allen Orten und damit der gesamten Eidgenossenschaft gemeinsam. Die gemeinsame Verwaltung durch konfessionsverschiedene Orte erwies sich als besonders konfliktanfällig und blieb eine konstante Belastung des innereidgenössischen Friedens.74 Im Reich selbst ist es erst gar nicht so weit gekommen, da keiner der in Frage stehenden Bünde seine Eroberungen langfristig behalten hat: Der Schwäbische Bund etwa verkaufte 1520 das Herzogtum Württemberg so rasch wie möglich

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Bekanntlich hat Gierke diese Unterscheidung in Gestalt seiner Kategorien „Personengesamtheit“ und „Gesamtperson“ wiederaufgenommen und zu zentralen Analysekategorien der eigenen Korporationstheorie gemacht. Gierke (Fn. 1), Bd. 2, S. 25 – 42. Die zeitgenössischen Juristen haben allerdings durchaus Probleme gehabt, eindeutige korporationsrechtliche Unterscheidungen etwa beim Schwäbischen oder Schmalkaldischen Bund zu treffen, vgl. Gierke (Fn. 1), Bd. 3, S. 721 – 725; Carl, Der Schwäbische Bund (Fn. 28), S. 182 f.; HaugMoritz, Der Schmalkaldische Bund (Fn. 16), S. 171 f. 74 Daniela Hacke, Konfession und Kommunikation. Religiöse Koexistenz und Politik in der Alten Eidgenossenschaft. Die Grafschaft Baden 1531 – 1712, Köln u. a. 2017.

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an Habsburg, damit die einzelnen Bundesmitglieder mit dem Ertrag ihre Kriegskosten begleichen konnten.75 4. Wenn man nach den verfassungsgeschichtlichen Auswirkungen dieser Zusammenschlüsse, die nach dem Modell zeitlich befristeter Landfriedensbünde organisiert wurden, für die deutsche Verfassungsgeschichte fragt, wird man spätestens im 17. Jahrhundert ein Auslaufen dieser Form von Militärbünden konstatieren müssen. Allenfalls in hegemonial instrumentalisierten Ausformungen wie katholischer Liga, Heilbronner Bund oder Erstem Rheinbund ist ihnen noch ein gewisses Nachleben beschieden gewesen.76 Die verfassungsgeschichtliche Kontinuität geht hingegen in der Reichsverfassungsgeschichte auf, wo sie nicht unterschätzt werden sollte: Die Kreisverfassung und speziell die Militärorganisation der einzelnen Kreise funktionierten dort am besten, wo sie an Erfahrungen ständischer Selbstorganisation in den Bünden anknüpfen konnte; so bediente sich gerade der Schwäbische Reichskreis, der neben dem fränkischen Reichskreis wohl das intensivste politische Eigenleben entfaltete, bei den organisatorischen Details insbesondere im Bereich der Militärorganisation der Bundesordnungen des Schwäbischen Bundes.77 Diese Kontinuitätslinien lassen sich über die Reichskreise und über die Reichsexekutionsordnung von 1555 bis zur sogenannten „Reichskriegsverfassung“78 von 1681 ziehen. In Struktur und Funktionsweise ließen sich auch Kreise und ständisches Reich durchaus als Systeme kollektiver Sicherheit apostrophieren.79 5. Es sei abschließend darauf verwiesen, dass für die Konjunktur dieser Bünde und ihre durchaus prominente Rolle in der Entwicklung der Militärorganisation – zumindest im späten 15. und 16. Jahrhundert – auch spezifisch militärgeschichtliche Gründe angeführt werden können. Hierfür sind weniger verfassungsgeschichtliche Kontexte als vielmehr strukturelle Rahmenbedingungen der militärischen Entwicklung in Mitteleuropa namhaft zu machen: Das Aufkommen der Söldnerheere war mit der Notwendigkeit verbunden, Vereinbarungen zu Kriegsorganisation und Kriegsführung vertraglich und damit schriftlich zu fixieren, seien es nun die sogenannten Artikelbriefe, Kriegsordnungen oder insbesondere die vertraglichen Regelungen zwischen Kriegsunternehmern und Kriegsherren.

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Hans Puchta, Die habsburgische Herrschaft in Württemberg 1520 – 1534, München 1969. 76 Koselleck, Bund (Fn. 2), S. 611 – 617; Carl, Einungen und Bünde (Fn. 3), S. 105 f. 77 Dazu grundlegend Laufs (Fn. 13). „Weitreichende Wechselwirkungen“ zwischen konfessionellen Bünden und der Kreisorganisation des Reiches konstatiert Fabian Schulze, Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg. Kriegsfinanzierung und Bündnispolitik im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, Berlin/Boston 2018, S. 289 – 450 (Zitat 334). 78 Zum Terminus (analog zu Reichsexekutionsordnung bzw. Reichskriegsordnung) vgl. Volker Press, Kriege und Krisen: Deutschland 1600 – 1715, München 1991, S. 423. 79 Carl, Einungen und Bünde (Fn. 3).

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Diese „Kontraktualisierung“ des Krieges80 kam den Bünden mit ihrer Organisationskultur, die auf elaborierten schriftlichen Vereinbarungen gründete, entgegen. Militärisch standen sie damit auf der Höhe ihrer Zeit.

80 Andrew Parrott, The Business of War. Military Enterprise and Military Revolution in Early Modern Europe, Cambridge 2012, S. 46 – 100.

Diskussion Schilling: Ganz herzlichen Dank für diesen Vortrag, der enorm viel Differenzierung in die abstrakten Überlegungen, die dieser Tagung zugrunde liegen, hineingebracht hat. Es ist deutlich geworden, auf wie vielen Feldern und auf wie vielfältige Weise Fragen der Verfassung mit Kriegsstrukturen verknüpft sind – bis hin zur Kontraktualisierung des Krieges. Und es ist auch deutlich geworden, in welch großem Maße bündische Strukturen gerade am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit als Einfallstor von Verfahren wie beispielsweise der Mehrheitsentscheidung als Grundlage legitimer politischer Weichenstellung gewirkt haben. Dafür herzlichen Dank. Ich denke, es gibt viele Fragen. Spontan würde ich keinen Diskussionspunkt vorgeben – es sei denn die Frage, wie sich beim Schwäbischen Bund die fast an den Delisch-Attischen Seebund erinnernde Asymmetrie zwischen einem mehr oder minder hegemonialen Habsburger Maximilian und den übrigen Bundesgliedern auswirkt. Das ist ja mehrmals angesprochen worden. Die Rückwirkungen im Hinblick auf die Reichsverfassung sind hochinteressant. Aber ich muss hier keine Anregungen geben, was man diskutieren kann. Die Themen sind vielfältig. Arlinghaus: Ja, von meiner Seite auch vielen herzlichen Dank für diesen wirklich sehr anregenden Vortrag. Ich hätte zwei Fragen. Die eine betrifft das, was Sie nebenbei erwähnt haben, nämlich dass diese Bündnisse ständeübergreifend geschlossen wurden. Das kombiniert mit der schon angesprochenen Frage des Stimmrechts, also Mehrheitsentscheidung. Mit der Ständegesellschaft ist das Prinzip „Ein Mann, eine Stimme“ ja schlecht kompatibel. Kann man sich da so entspannt geben und dann sozusagen gemeinsam in der Trinkstube vom Kleinadligen bis zum Kaiser diskutieren und entscheiden? Kommt da nicht doch durch die Hintertür das Ständische wieder herein? Und die zweite Frage: Sie haben sehr deutlich darauf hingewiesen, dass in der Vormoderne Assoziationen oder Verbände, genossenschaftliche Verbände waren. Hier auch wieder das Stichwort „Mehrheitsentscheidung“, und die Frage, inwieweit das auf die Moderne vorausweist. Müsste man nicht konsequent eine Historisierung vornehmen und sagen, wenn es eine Mehrheitsentscheidung gibt, weist das nicht so sehr auf die Bundesrepublik oder die EU voraus, sondern es sind eigentlich Lösungsvorschläge, die im Rahmen des 15. und 16. Jahrhunderts erarbeitet wurden, und die haben ihren ganz besonderen „Sitz im Leben“ in eben diesen Jahrhunderten bzw. in dieser Zeit? Sie haben Ihre Argumentation ja nicht unmittelbar an die Moderne angeschlossen, aber zwischen den Zeilen, wenn ich das richtig verstanden habe, leuchtete das – jedenfalls bei mir – immer mal wieder auf. Carl: Ja, besten Dank für die Fragen und Hinweise. Bei möglichen Traditionslinien in die Gegenwart muss man natürlich aufpassen, auch wenn ich diese nicht an-

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gesprochen habe. Aber das Angebot liegt natürlich immer nahe. Deshalb werden diese Bünde ja zum Teil auch durchaus kritisch diskutiert, weil Gierke eine Tradition in die Welt gesetzt hat, die diesen Weg in die Moderne so ausweist. Meine Argumentation bezieht sich aber auf das Reich. Im Reich gibt es eben, wie Sie aus der Reformationsgeschichte wissen, ein großes Problem mit Mehrheitsentscheidungen, wie auch in anderen Ständeversammlungen. Ein Kriterium ist beispielsweise, ob eine Protestation möglich ist. Es gibt also Verfahrenswege, bei denen man sagen kann, eine Mehrheitsentscheidung ist als solche in bestimmen Fragen nicht legitim. Beim Reichstag ist das nun dezidiert der Fall, bei den genannten Landfriedensbünden aber dezidiert nicht. In den mir bekannten Fällen – aber da bitte ich um Korrektur – ist mir nicht bewusst oder bekannt, dass es Protestationen gegeben hat. Meine Vermutung ist, dass dies auch wenig Sinn gemacht hätte für einen Landfriedensbund, denn der muss in bestimmten Kontexten schnell und auch ohne Mehrheit entscheiden. Da darf es kein Hinter-sich-bringen geben, was ansonsten gängige Praxis war, oder andere Möglichkeiten, die verhindern, dass es zu einer raschen Entscheidung kommt. Das ist ein funktionales Argument, ohne schon den Blick auf irgendwelche Entwicklungen in eine Moderne hinein zu benötigen. Und damit wäre ich beim ersten Punkt Ihrer Frage. Ja, natürlich ist es für eine ständische Gesellschaft schwierig, ständeübergreifend solche Entscheidungen zu treffen. Und bei dem, wo ich mich zugegebenermaßen am besten auskenne, beim Schwäbischen Bund, funktioniert das nur über entsprechende Geheimhaltungsregelungen. Die Entscheidungen dürfen nicht nachvollziehbar sein, dass also beispielsweise sich die Fürsten von den anderen mindermächtigen Mitgliedern haben überstimmen lassen. Es gibt kein imperatives Mandat bei diesen Entscheidungen, was aber nur funktioniert, wenn es eine klare Geheimhaltung gibt. Sie haben also unter bestimmten Bedingungen auch in einer Ständegesellschaft Möglichkeiten, ständeübergreifende Mehrheitsentscheidungen zu organisieren. Das ist allerdings mit erheblichem Aufwand und auf Seiten der Fürsten auch mit erheblichen Bauchschmerzen verknüpft. Beim Schmalkaldischen Bund kennt sich Gaby Haug-Moritz besser aus. Aber auch da hat man versucht, solche ständeübergreifenden Entscheidungen in den Bundesräten einigermaßen praktikabel zu machen. Schilling: Verstehe ich das richtig, dass diese Geheimhaltung praktisch Präjudizierlichkeit unterbindet? Carl: Sie sollte u. a. die entsprechenden Bundesräte vor ihren eigenen Herren schützen, die ihnen ja vorwerfen konnten, nicht konsequent oder gar falsch entschieden zu haben. Schilling: Ich habe eine sehr lange Liste, das spricht für die Diskussion. Acht Personen, das könnte den Rahmen fast sprengen. Also schon jetzt die Bitte, knapp zu formulieren. Härter: Vielen Dank, Herr Carl, für diesen luziden Einblick. Sie haben uns auch die langfristige verfassungsrechtliche Bedeutung von Bündnissen als Systeme, die kollektive Sicherheit und Verfassung prägen oder doch zumindest zentrale Verfas-

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sungszwecke vorgeben, gezeigt. Das zeigt sich z. B. auch beim Deutschen Bund und dem Wiener Kongress. In der Bundesakte ist der zentrale Zweck des Bundes die Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und die Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten oder Bundesmitglieder. Daraus lässt sich aber auch die Frage von äußerer und innerer Sicherheit für das 15. und 16. Jahrhundert ableiten. Sie haben von äußeren Bedrohungen gesprochen, aber es gibt auch innere Bedrohungen der Sicherheit: Revolten von Bauern z. B. Eine Verfassungsordnung kann zwischen inneren und äußeren Bedrohungen gerade im Hinblick auf Kriege und militärische Auseinandersetzungen unterscheiden und so wie 1815 zwischen innerer und äußerer Sicherheit. Gibt es bereits ansatzweise solche Unterscheidungen in den Systemen kollektiver Sicherheit, die Sie behandeln? Ein zweiter Problemkomplex betrifft den Zusammenhang zur Reichsverfassung und das zentrale Grundproblem der bündischen Strukturen in ihrem Verhältnis zur kaiserlichen Zentralgewalt, auch im Hinblick auf zentrale Verfassungsnormen, insbesondere in den kaiserlichen Wahlkapitulationen und den leges fundamentales. Sie hatten ja die Reichsexekutionsordnung erwähnt oder die Organisation des Reichsmilitärs. Das Problem besteht aber gerade darin, dass das bündische Erbe keine verfassungsrechtliche Weiterentwicklung erlaubt, weil dieser Konflikt zwischen bündischem Erbe und kaiserlicher Zentralgewalt nicht in die Wahlkapitulationen und die verfassungsrechtlichen Grundnormen rechtlich integriert werden kann. Die Bündnisse als Systeme kollektiver Sicherheit können folglich nicht in die Reichsverfassung mittels Verfassungsnormen integriert werden, würde ich als zugespitzte Frage an Sie formulieren. Carl: Ja, besten Dank für diese wirklich zentrale Frage. Der terminologische Gegensatz von „innen“ und „außen“ ist natürlich kein zeitgenössischer Sprachgebrauch, aber die Problematik liegt in der Struktur eines Bundes. Das können Sie sehr schön zeigen bei dem Problem, das Sie angesprochen haben: Wo sind denn Untertanen einzuordnen? Ist das eine innere Bedrohung oder eine äußere? Wie geht man damit um? Wie behandelt ein Landfriedensbund aufrührerische Untertanen? Diese Diskussion können Sie auch in den Bundesordnungen nachvollziehen. Denn, um das jetzt an dem Fall Untertanenunruhen nachzuzeichnen, diese sind ja ein neues Phänomen, mit dem man sich auseinandersetzen muss. 1495 spielen sie für den Ewigen Landfrieden eigentlich noch keine Rolle, da tauchen die Untertanen nicht auf. Aber ab 1500 finden Sie die in den Bundesordnungen, denn seitdem gibt es lokale Unruhen im Südwesten des Reiches. Die Frage ist, wie geht man damit um, ist das Landfriedensbruch? Oder werden die Untertanen auf der gleichen Ebene behandelt wie zum Beispiel „landschädliche Leute“, die kriminalisiert werden. Das ist eine zentrale Frage für den Schwäbischen Bund. 1525 werden sie als Landfriedensbrecher behandelt, das können Sie bei Peter Blickle nachlesen. Das aber heißt, sie werden parallelisiert mit Fedeführern innerhalb wie außerhalb des Bundes. Und dann kann der Bund seine Unterscheidung innen-außen auch auf die Untertanen ausdehnen, denn sie werden dann mit äußeren Bedrohungen parallelisiert. Nach einem solchen Schema kann ein Landfriedensbund also durchaus in solchen zunächst unklaren

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Fällen vorgehen, und damit das entsprechende Handlungsrepertoire aufrufen: eilende Hilfe, ganze Hilfe, und was es da alles gibt, also die militärischen Sanktionsmechanismen und Hilfsmechanismen. Dann funktioniert der Bund wie eine Hilfseinung. Härter: Das hieße dann, Kriege im Namen der inneren Sicherheit gegen die innere Bedrohung? Carl: Führen Sie mich nicht in anachronistische Versuchung! Das zweite war die Frage nach der Reichsverfassung. Sie haben natürlich mit Recht auf die Wahlkapitulation verwiesen, denn da ist der Kaiser als Bezugspunkt des reichsständischen Handelns besonders präsent. Aber das Argument ist schon, dass 1555 der Kaiser bei der Landfriedensexekution aus dem System herausgedrängt wird. In diesem Fall kann man die Kontinuitätslinie zu den Bünden, die ich gezogen habe, am Detail auch nachvollziehen. Das hat Adolf Laufs vorgeführt. Die Stände selber haben eine Kompetenz erworben, Frieden in ihren Kreisen, also in ihren „Friedensbezirken“ herzustellen. 1555 wird das in die Reichsverfassung eingebaut. Da würde ich schon sagen: Ja, wenn das ständische Reich – um das geht es hier – in irgendeiner Weise selber Handlungskompetenz, und zwar dann im Wesentlichen ohne den Kaiser, herstellen muss, dann spielen die Kreise diese Rolle und die Kreise wiederum greifen durchaus auf diese bündischen Elemente zurück. Dass aber immer der Kaiser im Reich im Spiel bleibt, das macht das Reich ja kompliziert. Schmidt: Vielen Dank Horst, für die wichtigen Einsichten in die bündischen Strukturen. Ich habe zwei Punkte. Der eine ist die Frage der Mehrheitsentscheidungen in den Bünden, die ja im Prinzip erst einmal freiwillige Zusammenschlüsse sind. Wer da zwangsweise rein muss, ist eine andere Frage. Man kann austreten. Und das ist im Schwäbischen Bund ja passiert, da braucht man nicht protestieren. Das ist auf Reichsebene etwas anders. Da kann man nicht austreten. Und deswegen braucht man dort das Instrument der Protestation und andere Regelungen, und deswegen ist das auch mit den Mehrheitsentscheidungen etwas anderes als im Bund. Der Schwäbische Bund hat ja genau in der Zeit wichtige Mitglieder verloren und ist nicht zu dieser großen Reichseinung geworden. Das wäre Punkt eins. Punkt zwei wäre das Verhältnis zwischen Bünden und Reich, das eben schon Herr Härter angesprochen hat. Ich glaube schon, dass die bündische Entwicklung eine große Rolle für die Reichsentwicklung bedeutet hat, nämlich genau an dem Punkt, wenn man das ein bisschen parallel setzt. Beim Schwäbischen Bund geht man zunächst davon aus, dass er eine Übergangserscheinung ist, dann fangen wir 1495 an mit Ordnungen, die im Zusammenwirken zwischen Kaiser und den Reichsstädten erlassen werden. Der Ewige Landfrieden, da steht nur „im Beisein der Reichsstädte“, aber schon bei der Kammergerichtsordnung, dem Gemeinen Pfennig usw. ist bereits aufgelistet, wer von den Reichsstädten zugestimmt hat, so dass das schon eine vertragliche Form oder Einigung zwischen Kaiser und Reichsstädten hat. Und von daher gewinnt dieses Modell Reich so eine ähnliche vertragliche Form wie im Bund, aber eben eine Gemeinschaft, die nicht freiwillig ist insofern, als man nicht austreten kann. Das heißt, sie arbeitet

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sehr zielgerichtet und setzt sich durch gegenüber dem bündischen Wesen. Meines Erachtens hätte man den kaiserlichen Bund noch stärker berücksichtigen müssen. Denn da versucht Karl V. noch einmal mit einem Bund, die Reichsordnung zu seinen Gunsten vollständig zu verändern. Das scheitert, weil dann etwa die bayerischen Herzöge sagen: Nein, da machen wir nicht mit. Da kommt dann auch der Begriff der Freiheit ins Spiel. Also ich glaube schon, dass diese bündischen Strukturen Vertragscharakter haben. Das ist der entscheidende Eintritt des Bundes in diese Reichsordnung. Und nehmen wir mal Möser im 18. Jahrhundert, der sagt, wir müssen die Reichsgeschichte ab 1495 neu schreiben, weil es eben eine Reichsgeschichte auf vertraglicher Grundlage ist. Im Gegensatz zu dem, was vorher war. Und wir dürfen nicht bei Karl Martell oder Karl dem Großen anfangen. Carl: Vielleicht ganz kurz noch dazu. Was an der Reichsgeschichte, wie ich finde, wenn man sie in den europäischen Kontext stellt, begründungsbedürftig ist, ist, dass es den Ständen gelungen ist, eine Ebene zu finden, in der sie selber Handlungsfähigkeit auf Dauer stellen können. Das kann man etwa sehen an der Reichsexekutionsordnung unter weitgehender Absehung vom Kaiser. Das ist im europäischen Kontext ungewöhnlich. Und da spielen diese bündischen Traditionen eine wesentliche Rolle, im Unterschied etwa zu westeuropäischen Konstellationen. Die Frage ist nun, ob eine hegemoniale Instrumentalisierung von Bünden möglich und vielleicht das eigentliche Erfolgsmodell gewesen ist, etwa im Sinne eines Kaiserlichen Bundes. Auch der Schwäbische Bund ist ja häufig als ein Annex der kaiserlichen Politik gesehen worden. Diese Sicht teile ich nur bedingt, denn sie führt nur dazu, dass man kaiserliche Frustrationen reproduziert. Eine hegemoniale Instrumentalisierung von Bünden beobachtet man dann im 17. Jahrhundert, darauf habe ich angespielt: das ist bei der katholischen Liga der Fall, das ist dann vor allem beim Heilbronner Bund und beim Rheinbund der Fall, und auch das hat eigentlich nicht richtig gut funktioniert. Denn irgendwann sind diese ganzen stimmfähigen Mitglieder Ballast für eine klare politische Entscheidungslinie des Hegemons und werden dann Sand im Getriebe. Beim Schwäbischen Bund ist dies schon im Ansatz gescheitert, weil die schwäbischen Stände sich nicht untergeordnet und auf dieses Modell überhaupt nicht eingelassen haben. Auch einem Friedrich III. haben sie deutlich gemacht, dass er sie in einem gemeinsamen Bund nicht beherrschen kann. Das funktioniert in diesem Modell nicht. Westphal: Herzlichen Dank für den Vortrag. Das ist ja fast eine Fortsetzung der Gießener Tagung, wo wir uns intensiv über das Thema Landfrieden unterhalten haben. Ich würde nochmals die These stark machen, das Reich als Landfriedensordnung zu begreifen. Es gibt eine klare Kontinuitätslinie der bündischen Entwicklung in die Reichsverfassung. Das wird am Ewigen Landfrieden von 1495 deutlich. Dazu möchte ich gleich die erste Frage stellen. Wie stark ist für Sie der Aspekt der Befristung? Für mich ist ein ganz entscheidender Punkt, dass 1495 ein ewiger Landfrieden beschlossen wird und damit die Grundidee der Landfriedensbewegung des Mittelalters ein Ende findet, nämlich die Befristung der Einung. Dadurch kommt es zu entscheidenden Veränderungen der Reichsverfassung. Ein zweiter Punkt hängt damit

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zusammen: Es ist ganz wichtig, dass die Frage, was ein Landfriedensbruch ist, nicht dauerhaft definiert wird, sondern das „Erfolgsmodell des Reiches“ besteht darin, dass die Definition des Landfriedensbruchs immer wieder aktualisiert und angepasst wird an aktuelle Konfliktkonstellationen. Wie sieht das bei den Einungen aus? Was versteht man dort unter Landfriedensbruch? Sehen Sie hier Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zu dem, was sich dann in der Reichsverfassung ab dem 16. Jahrhundert entwickelt? Und der letzte Punkt betrifft die Rolle des Kaisers und die doch etwas einseitige Perspektive des Vortrags auf den militärischen Bereich. Für mich ist die 1495 vorgenommene Entscheidung für „Frieden durch Recht“ zentral. Dadurch bleibt der Kaiser bei Entscheidungsfindungsprozessen darüber, was als Landfrieden zu definieren ist, und in der Rechtsprechung präsent. Auch auf Reichstagen ist er präsent, wenn es im Grunde darum geht, über Krieg und Frieden zu entscheiden. Er wird in der Reichsexekutionsordnung zwar herausgenommen, aber in der politischen Entscheidungsfindung sind natürlich der Kaiser und die kaiserliche Seite immer noch zu berücksichtigen. Und deswegen dürfen wir nicht davon sprechen, dass der Kaiser keine Rolle mehr spielt. Carl: Vielen Dank – ja, Kaiser und Reich. Auf das unbefristete Reich zielte ja auch die Frage von Georg Schmidt. Dies ist ja Voraussetzung für die Transgression der bündischen Verfahrenselemente in Aspekte der Reichsverfassung hinein, denn das funktioniert, weil das Reich als Korporation nicht aufgelöst werden kann. Die Bünde etwa haben ein strukturelles Problem mit militärischen Niederlagen. Sie haben selten militärische Niederlagen überlebt. Das ist beim Reich kein Thema. Das ist ein großer Vorteil des Reichs. Zum zweiten Punkt, der Rolle des Kaisers. Der Vortrag hat sich ja auf den genuin militärischen Bereich konzentriert, das war auch Auftrag des Vortrags. Mir ist völlig klar, wenn ich hier argumentiere, dass der Kaiser relativ wenig prominent ist, dass dies nur ein spezifischer Aspekt ist, weil es um die militärische Gestaltung des Reichs geht. Auch 1681 funktioniert die Reichskriegsordnung natürlich nur mit dem Kaiser, der aus den Erfahrungen des 30-jährigen Krieges immer noch bestimmte Mandatierungen und Ernennungen vornimmt und letztlich auch für die Alimentierungen dieser Reichsarmee eine ganz zentrale Rolle spielt. Das hat dann auch etwas mit der neuen politischen Gewichtung des Kaisers und des Kaiserhofes in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu tun. Was für mich aber erklärungsbedürftig ist, ist, dass es dem Reich gelungen ist, gerade was die Militärorganisation angeht, Regelungen zu finden, in denen es ein hohes Maß an eigener Interaktionsfähigkeit und Organisationsfähigkeit der Stände selbst gegeben hat. Das ist, um das dann in Kontext zu stellen, im europäischen Maßstab schon etwas Besonderes. Die Stände selbst haben so etwas auf eine sehr technische Art und Weise, also Entscheidungsfindung, Organisation, doch regeln können. Und das ist für das Reich, auch das Überleben des Reiches wesentlich gewesen. Denn die zentrale Frage ist immer gewesen: wo kriegt der Kaiser oder wer auch immer die Stände dazu, dass sie Leistungen erbringen. Im militärischen Bereich ist das der Fall gewesen. Schilling: Ich bitte um Verständnis für eine kleine Rechnung. Wir haben vier Fragen in etwas über 20 Minuten abgearbeitet. Es stehen noch sechs Personen auf mei-

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ner Liste. Wenn wir in diesem Rhythmus weitermachen, geht die Diskussion noch über die Pause hinaus. Das Essen gibt eine relativ feste Grenze vor. Von daher meine Bitte, dass Fragen und Antworten möglichst knapp ausfallen mögen. Tanner: Vielen Dank für den hervorragenden Vortrag. Der kurze Abstecher in die Schweizerische Eidgenossenschaft hat sich unter vergleichenden Gesichtspunkten gelohnt, und ich möchte nochmals auf das Solddienstwesen und die Militärkapitulationen zurückkommen, die ja auch zu verflechtungsgeschichtlichen Fragestellungen Anlass geben. Im Sinne einer entangled history. In der Umbruchsituation des ausgehenden 15./16. Jahrhunderts baut die Schweizerische Eidgenossenschaft die fremden Kriegsdienste intensiv aus. Das ist ein Outsourcing innerer Probleme. All die jungen Leute, die auch Störkonfliktpotential sind, werden da mal in Fläche geschickt, in die Armeen von Großmächten und auf europäische Schlachtfelder. Umgekehrt passiert etwas mit der Beute. Diese wird teilsubstituiert durch neue Einnahmequellen der stehenden Schweizerregimenter. Das ist für die Stabilisierung der Herrschaftsstruktur in diesen eidgenössischen Orten sehr wichtig, weil die lokalen Honoratioren reich werden. Zwingli sagt dann: Wir schaffen das Reislaufen ab, aber wir verwandeln alle diese Kontakte in eine Art kommerzielles Netzwerk. Aus Solddienst wird Handel, das fördert die Protoindustrialisierung und die Heimindustrie. Und auf diese Außenposten kann man auch noch Diplomatie draufpfropfen, was bis ins 19./20. Jahrhundert wichtig bleibt. Das ist eine Tradition von langer Dauer. Die Frage wäre: Haben diese Solddienstkapitulationen etwas zu tun mit dem schwachen Souveränitätsbewusstsein in der Schweiz? Ist das eine Verrechtlichungsbremse? Auf jeden Fall hat dieses System einen Dezentrierungsdruck freigesetzt und die zentrifugalen Kräfte, den Föderalismus gestärkt. Von außen wird das als prekär beurteilt. Frankreich verzweifelt beinahe, wie wenig die Schweizer fähig sind, souverän aufzutreten als Staatswesen, weil sie sich dauernd nach außen einmischen. Das Solddienstwesen stellt aus dieser Sicht eine Art Inversion der staatlichen Sicherheit dar. Die militärische Abwehr nach außen und politische Ordnung nach innen werden durch eine Ressourcen-Verschiebung an äußere Mächte gewährleistet. Carl: Tolle Frage, aber für eine umfassende Antwort müsste ich mich anheischig machen, die Schweizer Verfassungsgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts als Inversionsgeschichte neu zu erzählen. Das würde jetzt den Rahmen sprengen. Die Pointe wäre wohl, dass das eigentliche Verfassungsdokument 1521 das Soldbündnis mit Frankreich ist, weil hier die Eidgenössischen Orte endgültig die Kontrolle über das Soldwesen und die Kriegsführung erlangen. Es beendet die Auseinandersetzungen darüber, ob es die eidgenössischen Orte schaffen, die auctoritas über die Kriegsführung zu wahren und damit auch über das Soldwesen. Es kann sein, dass ab diesem Zeitpunkt alles, was zu einem noch engeren Zusammenschluss der Eidgenossen geführt hätte, doch nur die auctoritas der Orte über ihre Pensionen und über die Beziehungen zu den Franzosen oder Habsburgern als Geldgebern einschränken würde. Das wäre dann kontraproduktiv gewesen. Man müsste sich die Argumentation im Detail natürlich sehr genau anschauen, aber die Perspektive finde ich für die Schweiz faszinierend.

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Oestmann: Ich möchte ganz kurz nach den Reichskreisen fragen, die haben Sie vorher kurz erwähnt. Ich habe das Gefühl, dass die Entwicklung der Reichskreise nicht auf einer Einung beruht, sondern auf einem Reichsgesetz. Das knüpft an die Frage der Freiwilligkeit an. Da würde ich sagen, das spricht für mich gegen Kontinuität, wenn man sagt, zuerst waren es Bünde, danach waren es Reichskreise. Die Frage der Mehrheitsentscheidungen knüpft daran an. Bei Reichskreisen ist man gezwungen, Mitglied zu bleiben. Carl: Das Argument ist zunächst wahrscheinlich einfacher. Das Argument ist, dass die Reichskreise, die in der Tat keine Einungen gewesen sind, sondern Reichskorpora, ab einem gewissen Zeitpunkt für die Landfriedenswahrung, für die sie ursprünglich nicht vorgesehen gewesen sind, in Anspruch genommen worden sind. Und das funktioniert am besten dann, wenn alle dabei sind, weil niemand außen vor ist, der Friedensstörer sein kann. Auf dieser Ebene funktioniert die Transgression von Bünden in die Reichskreise, weil es um die gleiche Funktion geht, die Landfriedenswahrung. Es steckt immer noch die Idee dahinter, dass es flächendeckende ständeübergreifende Zusammenschlüsse braucht, um Frieden in einem Bezirk, in einer Region oder in einem Land wahren zu können. Deshalb müssen immer alle dabei sein. In den Kreisen ist das per definitionem gegeben, und dies ist von mir als eine folgerichtige Entwicklung dargestellt worden. Man kann die Übergänge zwischen Einungen und Kreisen in den meisten Reichskreisen, wo es vorher Einungen gegeben hat, ja auch daran festmachen, dass an deren Organisationen angeknüpft wird. Schönberger: Ich würde gerne nochmals auf die Strukturfragen zu sprechen kommen, die Ihr Vortrag aufwirft. Es ist ja faszinierend, dass es Dauerthemen gibt, die alle föderalen Systeme immer wieder begleiten. Also z. B. die Stellung des Bundesrates als ein kollektives Subjekt, das versucht Entscheidungen herbeizuführen. Oder die Finanzierungsfragen, das Problem der Matrikularbeiträge, das ist ja etwas, was die ganze deutsche Verfassungsgeschichte begleitet und noch das Bismarck’sche Reich prägt. Die Frage, die sich aufdrängt ist: Gibt es einige invariable Strukturmerkmale, die wir immer wieder in bündischen Einungen finden können, unter bewusster Ausklammerung der Tatsache, dass natürlich diese Bünde teilweise ständisch geprägt sind, was in späteren Epochen in dieser Form nicht mehr der Fall ist? Und erklären diese typischen föderativen Strukturen sich aus wiederkehrenden Strukturproblemen, die in der föderalen Einung schon der Anlage nach drinstecken? Es könnte ja sein, dass das Repertoire an Techniken, wie man diese Probleme bearbeiten kann, nun einmal begrenzt ist, und man dann, sei es aufgrund eines historischen Lernprozesses oder aufgrund der Sachprobleme, die nun einmal bewältigt werden müssen, immer wieder neu auf diese Techniken zurückgreift. Carl: Ich würde denken, dass sich der Vortrag als Antwort auf Ihre Frage lesen lässt, denn ich habe zum Teil auf einer sehr allgemeinen Ebene argumentiert. Ich glaube in der Tat, dass man dies nicht schon im Sinne von Modernisierungsentwick-

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lung interpretieren muss, sondern von Strukturproblemen, die man bei föderalen Strukturen generell miteinander vergleichen kann. Haug-Moritz: Es wird Dich wenig erstaunen, dass ich aus einer konfessionsbündischen Perspektive frage. Ich bestreite mal und führe das nicht aus, dass gemeinsame konfessionelle Werte den Zusammenhalt gewährleistet haben. Aber das weißt Du. Meine Frage zielt eher auf die Einordnung dessen, was Du uns luzide dargestellt hast, Stichwort Krieg. Ich frage aus einer Perspektive, die das Reich auch vor der Folie Frankreichs betrachtet. Und wir haben in Frankreich das Phänomen, dass mit zunehmender militärischer, organisierter Gewalt Assoziationen an Bedeutung gewinnen. Zudem kann man beobachten, dass selbst das Eingreifen Englands in diesen Frankreichkonflikt in einer Form legitimiert wird, die mit den Begründungen des opponierenden französischen Hochadels identisch ist. In diesem Zusammenhang, und jetzt sind wir in der Semantik bei einem methodischen Problem, das gestern schon aufgetaucht ist, aber finden wir das Wort Krieg zeitgenössisch nicht bzw. nur sehr, sehr selten. Der alles entscheidende Begriff ist der der défense. Damit ist ein Diskussionszusammenhang aufgerufen, der sich rechtlich in dem auch sehr komplexen Bereich des Widerstandsrechts bewegt. Jetzt die Frage an Dich: ist nicht die verfassungsbildende Kraft die des Bürgerkriegs? Können wir es uns leisten, wenn wir es auch entwicklungsgeschichtlich verstehen wollen, diese Differenz zu verwischen oder berauben wir uns nicht einer ganz entscheidenden, heuristisch fruchtbaren Differenzierung? Carl: Ja, die Konfessionsproblematik und die internationale Dimension zusammen sind eine Riesenfrage. Ich habe schon von vornherein betont, dass ich das Thema im Kontext einer deutschen Verfassungsgeschichte platziere. Es wäre natürlich notwendig und interessant, wenn man die Frage nach dem Zusammenhang von Bünden und Militärorganisation auf der europäischen Ebene von ständischen Vereinbarungen und ständischen Regelungen traktiert und mit der französischen Ligue oder beispielsweise der Confoederatio Bohemica von 1619 vergleicht. Wie organisieren diese Bünde vor dem Aspekt des religiösen Bürgerkriegs ihre militärische défense. Das habe ich mir nicht angeschaut, aber das wäre die Vergleichsebene, auf die man schauen müsste. Auch dort geht es um strukturelle Grundprobleme von föderalen Organisationen, was etwa die Kontrolle des Militärs durch politische Repräsentation in Form von Kriegsräten angeht. Gibt es das auch bei diesen konfessionellen Ligen? Wie wird Hilfe organisiert? Wie wird die Finanzierung organisiert? Damit man die Vergleichsebenen – in unserem Kontext Kriegsorganisation – wahren kann, würde ich sie auf einer technischen Ebene belassen. Ich bin mir nicht sicher, ob dafür der konfessionelle Bürgerkrieg ein zusätzliches, notwendiges, systematisches Argument beibringen würde. S. Lepsius: Das gibt mir die Möglichkeit, anzuknüpfen an meine Vorgängerin. Ich möchte auch nochmal auf der semantischen wie auf der konzeptionellen Ebene nachfragen und zwar deswegen, weil ich den Eindruck hatte und auch über eine Antwort verwundert war, wonach Sie ausführten, wenn man die Untertanen unter den Tatbe-

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stand des Landfriedensbruchs subsumiere, sei man bei der Bekämpfung des äußeren Feindes, während wenn man sie als landschädliche Leute bekämpfen würde, sei man beim Internum. Das will mir nicht so recht einleuchten. Auch die Verarbeitung als Landfriedensproblem ist letztlich eine Frage der öffentlich-rechtlichen versus der strafrechtlichen Behandlung des Problems, aber letztlich bleibt es bei einer internen Verarbeitung des Problems. Und Krieg jedenfalls in unserer Vorstellung noch heute ist nach außen gerichtet. Und jetzt komme ich zu der semantischen Beobachtung, die ich gemacht habe: dass im 16. Jahrhundert mit der Übersetzung vieler lateinischer Begriffe ins Frühneuhochdeutsche durch die gelehrten Räte, die wir uns als inzwischen universitätsgelehrte Juristen vorzustellen haben, plötzlich allenthalben Krieg verwendet wird, obwohl dies nichts mit unserer heutigen Vorstellung von Krieg zu tun haben muss. Berühmtestes Beispiel ist die litis contestatio als eine wichtige prozessuale Etappe, die dann als „Kriegserklärung“ von frühneuzeitlichen Prozessualisten übersetzt wird. Deswegen wollte ich nochmal fragen, ob diese zweifellos verfassungsrechtlich höchst interessanten Phänomene, die Sie uns vorgeführt haben, eigentlich Probleme wären, die wir heute als Fragen von Bundeszwang, Bundesexekution, und damit als interne Konfliktbewältigungen auffassen würden, und damit eigentlich keine Kriegsprobleme, weil wir ja eigentlich den Krieg als nach außen gerichtet sehen, wie wir es gestern bei den Beispielen von Kannowski vorgeführt bekommen haben. Bei der terminologischen Übersetzungsfrage anknüpfend hätte ich eine konkrete Rückfrage, weil mich da auch noch der Aspekt der Mehrheitswahl interessiert. Die wird im Spätmittelalter häufig mit ut collegium oder ut universi gefasst, und dann reicht eben die Mehrheitswahl innerhalb der Körperschaft. Während wenn man ut singuli abstimmt, müssen eben jeder Einzelne und damit alle dafür sein. Haben Sie den Eindruck, dass bei einer parallel stattfindenden lateinischen Reflexion über die Dinge, die da in den Bundesbriefen festgelegt werden mit diesen Mehrheitswahlprinzipien, diese Differenzierung eine Rolle spielt, oder machen Sie es fest an Kriterien wie der Tatsache, dass man eben geheim wählt oder dass man die Wahl eben nicht mehr anfechten kann? Soll damit diese Mehrheitswahl als etwas Besonderes, Frühneuzeitliches hervorgehoben werden? Carl: Bei den Bundesbriefen kann man ja nachvollziehen, wie argumentiert wird. Ich habe es zum Teil mit Juristen zu tun, die diese ganze Theorie, die Sie aufgerufen haben, kennen. Man kann davon ausgehen, dass dies in die Diskussion eingeht, aber die entsprechenden Termini werden nicht explizit aufgerufen. Ich gehe also davon aus, dass diejenigen, die über die Bundesbriefe diskutieren, sehr genau diese Diskussion im Hinterkopf haben, nur sie explizieren sie nicht. Die entsprechenden Ergebnisse, auf die man sich einigt, sind folglich im Horizont des elaborierten Kooperationsrechts diskutiert worden, aber mehr nicht. Beim zweiten Punkt haben Sie mich insofern ein wenig auf dem falschen Bein erwischt, als ich mich bei der Semantik darauf beschränkt habe, den Verfassungsbegriff semantisch abzusichern, nicht aber den Kriegsbegriff. Nun zu Ihrem Punkt: Für die Organisation des Vorgehens gegen die Bauern benötigen die Schwäbischen Bundesgenossen den Kriegsbegriff

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nicht explizit. Für die Hilfsmechanismen reicht es, zu begründen, dass man ein großes Heer aufstellt wie gegen einen äußeren Feind. Und deshalb muss man begründen, dass die aufrührerischen Untertanen wie Fehdegegner behandelt werden. Der Übergang zu einem „Krieg“ ist deshalb kein qualitativer, sondern ein quantitativer: Eine große Fehde mit einem großen Heer wie gegen den Herzog von Württemberg wird dann auch semantisch zu einem „Krieg“ oder gar „Hauptkrieg“. Aber für die Hilfeleistungen ist der Begriff „Krieg“ nicht entscheidend. Schilling: Ich bedanke mich bei Andreas Thier, der zurückgezogen hat. Und Herr Brauneder hat versprochen, dass er es ganz kurz macht. Das ist jetzt auch die letzte Frage. Brauneder: Zur Semantik: Krieg, das ist völlig richtig: Wenn man die Privatrechtsgeschichte sieht – Krieg hat hier eine ganze andere Bedeutung als Streitverhandlung, Prozess. Was den Begriff Verfassung betrifft, ist das genauso. Wir wissen das doch. Wenn man den Ausdruck Verfassung in einem zeitgenössischen Lexikon des 17. Jahrhundert sieht, wird unterschieden zwischen Kriegsverfassung, Militärverfassung, Finanzverfassung. Ein ganz anderer Begriff. Die letzte Feststellung: Spannend fand ich die Nebenbemerkung über die Beuteverteilung und insbesondere im Hinblick auf die Immobilien. Ich glaube, bei der Beute kommt vielleicht doch der konfessionelle Gedanke zum Vorschein. Sieg der Katholiken in Böhmen. Was geschieht mit den protestantischen Gütern? Sieg der Christen in Ungarn. Was geschieht mit den muslimischen Gütern? Schilling: Das wäre ein Anschluss an die Diskussion von gestern. Die können wir in der Pause fortsetzen. Ich schlage vor, dass wir die Kaffeepause deutlich verkürzen.

Krieg und Staat in Spanien und England im späten 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts Von Ronald G. Asch, Freiburg

I. Krieg und Staatsbildung Der Krieg gilt gemeinhin als ein Motor der Staatsbildung, vor allem in der Frühen Neuzeit. Diese Ansicht kann man schon bei Otto Hintze finden.1 Für diese These spricht, dass die Kriegführung mehr Ressourcen verschlang als jede andere staatliche Aktivität, und kriegerische Auseinandersetzung in der Tat administrative Rationalisierungen und Effizienzsteigerungen erzwingen konnten, die sonst unterblieben wären. Die Forschung der letzten 20 Jahre ist allerdings gegenüber jedweder Modernisierungsthese skeptisch geworden. So wie man heute die Konfessionalisierung oder Konfessionsbildung nicht mehr ohne weiteres mit Wolfgang Reinhard oder Heinz Schilling als Modernisierungsvorgang sehen würde,2 so gilt Ähnliches für den Ausbau der Armeen der frühen Neuzeit. Die Belastungen durch die fast permanenten Kriege, die etwa die französische Monarchie im 17. Jahrhundert führte, bedingten nicht nur eine Zunahme der Staatsverschuldung, sondern zwangen die Monarchen auch dazu, auf problematische Finanzierungsmittel wie den Verkauf von Ämtern oder (z. B. in Süditalien) die Refeudalisierung von Besteuerungsrechten zurück-

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Otto Hintze, Staatsverfassung und Heeresverfassung, in: ders., Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preussens, hrsg. von Gerhard Oestreich, 1967, S. 52 – 83; vgl. auch Ronald G. Asch, Kriegsfinanzierung, Staatsbildung und ständische Ordnung in Westeuropa im 17. und 18. Jahrhundert, Historische Zeitschrift 268 (1999), S. 636 – 671; Bartolomé Yun-Casalilla/Patrick O’Brien (Hrsg.), The Rise of Fiscal States. A Global History, 1500 – 1914, Cambridge 2012; Andrew Monson/Walter Scheidel (Hrsg.), Fiscal Regimes and the Political Economy of Premodern States, Cambridge 2015; und zum englischen Fall jüngst Aaron Graham/Patrick Walsh (Hrsg.), The British Fiscal-Military States, 1660 – c.1783, London 2016. 2 Einen Zugang zur Problematik bietet Richard J. Ninness, Chasing Zeeden’s Ghost: The Past and Future Interpretations of the Formation of Confessions in North America, in: Markus Gerstmeier/Anton Schindling (Hrsg.), Ernst Walter Zeeden (1916 – 2011) als Historiker der Reformation, Konfessionsbildung und „deutschen Kultur“. Relektüren eines geschichtswissenschaftlichen Vordenkers, Münster 2016, S. 111 – 134; vgl. auch Thomas Brockmann/Dieter J. Weiß (Hrsg.): Das Konfessionalisierungsparadigma. Leistungen, Probleme, Grenzen, Münster 2013.

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zugreifen.3 Auch der Aufbau stehender Heere, der lange Zeit als Triumph des frühmodernen Staates gefeiert wurde, sowohl in der borussischen Tradition als auch in der französischen Geschichtsschreibung – die zum Teil noch heute an dieser Perspektive festhält –, erscheint heute als ein sehr viel ambivalenteres Phänomen. Vor wenigen Jahren hat der englische Militärhistoriker David Parrott eine Studie mit dem Titel The Business of War vorgelegt, in der er versucht, den frühneuzeitlichen Militärunternehmer zu rehabilitieren. Parrott zeigt, dass ein System, das darauf beruhte, einzelne Obristen Regimenter auf eigene Kosten anwerben zu lassen und einem Kriegsherren zur Verfügung zu stellen, insgesamt erstaunlich gut funktionierte und den staatlichen Verwaltungsaufwand erheblich reduzieren konnte.4 In verminderter Form überlebte dieses System im Übrigen etwa in Gestalt der preußischen Kompaniewirtschaft bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Sein endgültiges Verschwinden sieht Parrott eher durch ideologische Erwägungen bestimmt, nicht durch das Streben nach Effizienz und im Übrigen als ein vorübergehendes Phänomen, denn nach dem Ende der Wehrpflichtigen-Armeen der klassischen Nationalstaaten ist auch das Söldnertum zurückgekehrt. Auch Großmächte wie die USA setzen bekanntlich heute in Kriegsgebieten Sicherheitsfirmen ein, die eigentlich nichts anderes sind als Militärunternehmer. Ungeachtet dieses Wandels in den Perspektiven kann man nicht leugnen, dass die Auswirkung namentlich längerer kriegerischer Auseinandersetzungen auf das Herrschaftsgefüge von Staaten, aber auch auf ihre Verfassungsstrukturen massiv war. Besonders auffällig ist dies bei den beiden, allerdings recht ungleichen, Herrschaftsgebilden – vielleicht wäre das Wort Staat hier nicht unproblematisch –, die im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen sollen: die spanische Monarchie im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert und die Monarchie der Tudors und Stuarts. Es handelt sich um zwei auf den ersten Blick eher ungleiche Fälle. Auf der einen Seite stehen die spanischen Habsburger, deren Reich zwischen ca. 1560 und ca. 1640 die europäische Hegemonialmacht war, der kein rivalisierender Staat wirklich ebenbürtig war. Auf der anderen Seite steht England: ein Land am Rande des europäischen Staatensystems, dem militärisch, zumindest was die Landstreitkräfte betraf, eigentlich erst in den 1640er- und 1650er-Jahren, wenn nicht sogar erst nach 1688 der Anschluss an die viel stärker professionalisierten Armeen des Kontinents gelang. Dennoch gibt es durchaus auch Parallelen. Das Kernland der spanischen Monarchie, Kastilien, war im 16. Jahrhundert ein Land des Friedens. Zwar waren die Küsten immer wieder feindlichen Angriffen ausgesetzt, sowohl am Mittelmeer als auch, zumindest ab den 1580er-Jahren, im Norden und Westen, aber das Landesinnere blieb von militärischen Operationen weitgehend verschont, und das galt eigentlich auch für die Länder der Krone Aragon und die anderen iberischen Herrschaftsgebie3 Katia Béguin, Financer la guerre au XVIIe siècle. La dette publique et les rentiers de l’absolutisme, Seyssel 2012; vgl. Guy Rowlands, The Financial Decline of a Great Power. War, Influence, and Money in Louis XIV’s France, Oxford 2012. 4 David Parrott, The Business of War. Military Enterprise and Military Revolution in Early Modern Europe, Cambridge 2012.

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te, mit geringen Einschränkungen für die unmittelbaren Grenzregionen zu Frankreich etwa in Navarra oder im Roussillon. Erst ab 1635 und erst recht ab 1640 sollte sich das mit dem Krieg gegen Frankreich und dem Katalanischen Aufstand, aber auch mit dem Krieg gegen das ebenfalls revoltierende Portugal ändern. Auch in England fanden von der Niederwerfung vereinzelter Aufstände zwischen den 1490erJahren und 1640 keine größeren militärischen Operationen auf dem eigenen Territorium statt, mit der zeitweiligen Ausnahme der Grenze zu Schottland; dies ist ein wichtiger Faktor, der die beiden Länder durchaus verband. Ein zweiter Faktor trat hinzu: England war zwar um 1600 weit davon entfernt, über ein Weltreich zu gebieten wie das Haus Österreich in Spanien, aber dem Typus der composite monarchy, der zusammengesetzten Monarchie, entsprach auch das Reich der Tudors und erst recht das der Stuarts, da von Whitehall aus eben nicht nur England regiert wurde, sondern auch Irland und seit 1603, seit Beginn der Personalunion, auch Schottland.5 Ähnlich wie die niederländischen Nebenlande der spanischen Monarchie war Irland ein Land, in dem im 16. Jahrhundert intensiv Krieg geführt wurde, vor allem gegen Ende des Jahrhunderts mit gravierenden Konsequenzen für die politischen und sozialen Strukturen. Sowohl im spanischen wie im englischen Fall warf der Aufbau des dynastischen Großreiches spezifische Probleme auf: Zum einen die Frage, wie die periphereren Provinzen dauerhaft zu kontrollieren seien; zum anderen die Frage, wie man Eliten und Bevölkerung im Kerngebiet der Monarchie dazu motivieren konnte, die zum Teil erheblichen Ressourcen zu mobilisieren, die notwendig waren, um die Kriegführung an der Peripherie nachhaltig zu finanzieren. Schließlich gibt es noch einen weiteren gemeinsamen Nenner. Die Belastung durch die europaweite Kriegführung führte im spanischen Fall sowohl in Portugal wie auch in Katalonien zu regionalen Revolten, die im katalanischen Fall nur mühsam und im portugiesischen Fall gar nicht mehr niedergeworfen werden konnten; Krieg und Herrschaftskrise hingen hier also eng zusammen.6 In England hatte 5 Zum Thema der composite monarchy siehe Stephan Wendehorst (Hrsg.), Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien. Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation, Berlin/ München/Boston 2015; John H. Elliott, A Europe of Composite Monarchies, Past & Present 137 (1992), S. 48 – 71; Mark Greengrass (Hrsg.), Conquest and Coalescence. The Shaping of the State in Early Modern Europe, London 1991; Robert Frost, The Limits of Dynastic Power. Poland-Lithuania, Sweden and the Problem of the Composite Monarchy in the Age of the Vasas, 1562 – 1668, in: Tonio Andrade/William Reger (Hrsg.), The Limits of Empire. European Imperial Formations in Early Modern World History. Essays in Honor of Geoffrey Parker, Farnham 2012, S. 137 – 154; Antonio Álvarez-Ossorio Alvariño/Bernardo J. García García (Hrsg.), La Monarquía de las naciones, Madrid 2004; jüngst John Morrill, Dynasties, Realms, Peoples and State Formation, 1500 – 1720, in: Robert v. Friedeburg/ders. (Hrsg.), Monarchy Transformed. Princes and their Elites in Early Modern Europe, Cambridge 2017, S. 17 – 43; vgl. auch Jon Arrieta/John H. Elliott (Hrsg.), Forms of Union. The British and Spanish Monarchies in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, Donostia 2009. 6 Zu diesen Revolten siehe: John H. Elliott, The Revolt of the Catalans. A Study in the Decline of Spain (1598 – 1640), Cambridge 1963, und Xavier Torres, A vueltas con el patriotismo. La revuelta catalana contra la Monarquía Hispánica (1640 – 1659), in: Álvarez-Ossorio

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schon das vorübergehende Eingreifen des Landes in den Dreißigjährigen Krieg in den 1620er-Jahren zu erhöhten Spannungen zwischen der Krone und dem Parlament geführt; ein massiver Verfassungskonflikt deutete sich an, bei dem es ähnlich wie in Katalonien in den späten 1630er-Jahren um die Einquartierung von undisziplinierten Soldaten, aber auch um die Erhebung von Kontributionen ohne ausreichende Rechtsgrundlage ging.7 Als dann um 1640 der schottische Aufstand in Gestalt der ersten und zweiten Bischofskriege auf England übergriff, führte das mittelbar zum Zusammenbruch der Stuartmonarchie und zum Bürgerkrieg.8 Kriege konnten somit auf Grund der enormen Belastungen, mit denen sie verbunden waren, auch scheinbar stabile politische Ordnungen zusammenbrechen lassen.

II. Spanien als militärische Hegemonialmacht Europas Spanien war zwischen der Mitte des 16. Jahrhunderts und der Mitte des 17. Jahrhunderts die größte Militärmacht in Europa. Der Niederländische Aufstand seit den späten 1560er-Jahren nötigte Spanien, in den Niederlanden ein stehendes Heer zu unterhalten, das in der Regel 60.000 bis 70.000 Mann umfasste, gelegentlich auch mehr; nur nach 1609 fand für rund 10 Jahre eine zeitweilige und partielle Demobilisierung statt.9 Versorgt wurde es über die berühmte Spanische Straße, eine mit Magazinen ausgestattete Verbindungsroute, die über Genua und (vor 1600) das damals noch savoyische Gebiet westlich von Genf sowie über die Freigrafschaft Burgund und Lothringen nach Norden führte.10 Die ständige Kriegführung in Flandern stellte Alvariño/García García (Hrsg.) (Fn. 5), S. 811 – 844. Zur Sezession Portugals und ihrer Vorgeschichte siehe Jean-Frédéric Schaub, Le Portugal au temps du Comte-duc d’Olivares (1621 – 1640). Le conflit de juridictions comme exercice de politique, Madrid 2001; vgl. auch María de los Ángeles Pérez Samper, Catalunya i Portugal el 1640. Dos pobles en una cruïlla, Barcelona 1992. 7 David Cressy, Charles I and the People of England, Oxford 2015, S. 125 – 150; Richard Cust, The Forced Loan and English Politics, 1626 – 1628, Oxford 1987; ders., Charles I. A Political Life, Harlow 2005, S. 44. Siehe auch Thomas Garden Barnes, Deputies not Principals, Lieutenants not Captains. The Institutional Failure of the Lieutenancy in the 1620 s, in: Mark Charles Fissel (Hrsg.), War and Government in Britain, 1598 – 1650, Manchester 1991, S. 58 – 86. 8 Mark Charles Fissel, The Bishops’ Wars. Charles I’s Campaigns against Scotland 1638 – 1640, Cambridge 1994. 9 Enrique Martinez Ruiz, Los Soldados del Rey. Los ejércitos de la Monarquía Hispánica (1480 – 1700), Madrid 2008, S. 877; Alicia Esteban Estríngana, Paréntesis bélico y reformacíon militar en el período de los Archiduques. Fundamentos de la acometida reformista de 1609, in: Bernardo J. García García (Hrsg.), El Arte de la Prudencia. La Tregua de los Doce Años en la Europa de los Pacificadores, Madrid 2012, S. 425 – 486; Luis A. Ribot García, Las naciones en el ejército de los Austrias, in: Álvarez-Ossorio Alvariño/García García (Hrsg.) (Fn. 5), S. 653 – 678. 10 Geoffrey Parker, The Army of Flanders and the Spanish Road, 1567 – 1659. The Logistics of Spanish Victory and Defeat in the Low Countries’ Wars, 2. Aufl., Cambridge 2004.

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einerseits für die spanische Monarchie eine enorme Belastung dar, aber dass man nun an der französischen Nordgrenze permanent ein großes Heer zur Verfügung hatte, erlaubte es Philipp II. andererseits auch, in die Französischen Religionskriege einzugreifen und potentielle Gegner in Nordwesteuropa einzuschüchtern. Der Kern der spanischen Armee bestand aus den berühmten tercios – Soldaten, die in Kastilien von Offizieren angeworben wurden, die ein königliches Patent besaßen. Diese Offiziere waren besoldete Amtsträger, keine Militärunternehmer, sie mussten also eigentlich bei der Anwerbung von Freiwilligen nicht finanziell in Vorlage treten. Mit der Zeit wurde es allerdings immer schwieriger, die Reihen der tercios zu füllen, zumal die Neigung des in Kastilien zahlreichen niederen Adels, sich den tercios anzuschließen, im Laufe des 16. Jahrhunderts allmählich abnahm, soweit das zu beurteilen ist. Eine Karriere als Jurist war oft attraktiver, auch wenn es schwer ist, verlässliche Zahlen für den Adelsanteil bei den Regimentern der spanischen Infanterie zu finden.11 Während in der Zeit der Herzogs von Alba (gest. 1582) auch Adlige hohen Ranges als einfache Soldaten oder in unteren Offiziersrängen in den tercios gedient hatten, kam das seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts kaum noch vor. Zum Teil lag das daran, dass die Krone zunehmend genötigt war, in Spanien Personen für den Kriegsdienst anzuwerben – wenn nicht gar im Einzelfall mehr oder weniger zwangszurekrutieren –, die sozial und wirtschaftlich abkömmlich waren, also eher am Rande der Gesellschaft standen. Neben diesen sozialen Außenseitern wollten Adlige nicht mehr als Gemeine dienen, wie es scheint. Die demographische Krise Kastiliens und der ständige Bedarf an neuen Truppen erzwangen solche Maßnahmen aber.12 Allerdings darf man nicht vergessen, dass der Anteil von Adligen, wenn wir damit den niederen Adel, die einfachen hidalgos, meinen, an der Gesamtbevölkerung Kastiliens um 1600 bei ca. 10 % lag. Auch wenn die Neigung zum Kriegsdienst bei den hidalgos nur ein wenig höher war als bei der übrigen Bevölkerung, kommen wir damit auf einen Adelsanteil im Heer (unter den Soldaten und Offizieren insgesamt) von möglicherweise bis zu 15 %, wobei die Zahlen für die in Flandern kämpfenden Truppen vielleicht sogar höher waren als für die in Kastilien stationierten Miliz-Einheiten, in denen der Dienst weniger prestigeträchtig war.13 Das erklärt die immer noch große Schlagkraft der tercios zumindest zum Teil. Es gibt freilich Indizien dafür, dass namentlich der höhere Adel, also die caballeros und die Träger eines Titels, gegenüber der militärischen Karriere nach 1560/80 eine gewisse Distanz ent11 I. A. A. Thompson hat allerdings davon gewarnt, den Rückgang des Adelsanteils unter den gemeinen Soldaten oder auch in den unteren Offiziersrängen zu überschätzen; siehe Irving A. A. Thompson, La guerra y el soldado, in: Antonio Feros/Juan Gelabert (Hrsg.), España en tiempos de Quijote, Madrid 2004, S. 159 – 195 (181 f.). 12 Irving A. A. Thompson, Consideraciones sobre el papel de la nobleza come recurso militar en la España moderna, in: Antonio Jiménez Estrella/Francisco Andújar Castillo (Hrsg.), Los nervios de la guerra. Estudios sociales sobre el ejército de la monarquía hispánica (siglos XVI–XVIII): nuevas perspectivas, Granada 2007, S. 15 – 36 (20 – 23). 13 Ebd., S. 19 – 20.

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wickelten, zumindest, wenn sie im Militär nicht automatisch einen Rang erhielten, der ihrer Position in der Adelshierarchie entsprach. Nach 1620 und noch stärker in den 1630er-Jahren versuchte der leitende Minister, der Herzog von Olivares, dem entgegenzuwirken, indem er bewusst Hochadlige in der Armee beförderte, was aber offenbar auch zu einer gewissen Deprofessionalisierung führte, die sich als Belastung erwies.14 In Spanien selbst griff die Krone überdies zunehmend auf die Unterstützung lokaler Aristokraten, aber auch städtischer Magistrate zurück, um überhaupt noch Soldaten rekrutieren zu können. Das System, das sich daraus im 17. Jahrhundert entwickelte, war vom Militärunternehmertum, wie man es in anderen Teilen Europas findet, zum Teil nicht mehr klar zu unterscheiden, auch wenn es in Spanien immer noch Adlige gab, die Soldaten anwarben, einfach um ein Offizierspatent zu erhalten und um eventuell in einen Ritterorden aufgenommen zu werden. Der soziale Status war wichtiger als der finanzielle Gewinn, und das war für die Krone ein Vorteil.15 Die tercios stellten allerdings ohnehin normalerweise nur 10 bis 15 % der in Flandern kämpfenden Truppen, der Rest bestand teilweise aus lokal angeworbenen Soldaten, vor allem aber aus Söldnern, die aus Deutschland und aus Italien kamen. Bei einer Truppenstärke der Infanterie zwischen 1570 und 1607, die mit Ausnahme des Jahres 1574 zwischen 50.000 und knapp 70.000 Mann schwankte, stellten Spanier in Flandern eigentlich nie mehr als 10.000 Infanteristen. Nur in späteren Jahren, etwa 1640, waren es ausnahmsweise 17.000 Mann bei allerdings damals 88.000 Infanteristen Gesamtstärke, wozu noch rund 11.000 Kavalleristen kamen. Das Gros der Truppen in Flandern stammte, wie bereits betont, entweder aus den Niederlanden selbst oder aus dem Reich, aber auch Soldaten aus Italien kam zeitweilig eine nicht unerhebliche Bedeutung zu.16 Die Möglichkeit, in großem Umfang Soldaten 14

Fernando González de León, The Road to Rocroi: Class, Culture and Command in the Spanish Army of Flanders, 1567 – 1659, Leiden 2009, S. 80 – 88; vgl. Cristina Borreguero Beltrán, De la erosión a la extinción de los Tercios españoles, in: Enrique García Hernán/ Davide Maffi (Hrsg.), Guerra y Sociedad en la Monarquía Hispánica. Politica, estrategia y cultura en la Europa moderna (1500 – 1700), 2 Bde., 1. Bd., Madrid 2006, S. 445 – 484 (457 f.). 15 Francisco Andújar Castillo, Empresarios de la guerra y asentistas de soldados en el siglo XVII, in: García Hernán/Maffi (Hrsg.) (Fn. 14), S. 375 – 394; vgl. ders., La privatización del reclutamiento en el siglo XVII: el sistema de asientos, Studia Histórica. Historia Moderna 25 (2003), S. 123 – 147. Siehe auch Antonio José Rodriguez Hernándes, Los hombres y la guerra. El reclutamiento, in: Hugo O’Donnell y Duque d’Estrada (Hrsg.), Historia Militar de España, Bd. III: Edad Moderna, Teil 2: Escanario Europeo, hrsg. von Luis A. Ribot García, Madrid 2013, S. 188 – 222 (190 – 199). 16 Ribot García (Fn. 9), S. 661. Nach 1609 wurden die tercios allerdings im Gegensatz zu den anderen Einheiten nicht demobilisiert, mit der spanischen Kavallerie stellten sie bis zu 50 % der Truppen. Siehe dazu auch Esteban Estríngana (Fn. 9), S. 425; Esteban Estríngana hebt hervor, dass die Truppenstärke 1609 auf 16.000 Mann reduziert werden sollte, von denen die knappe Hälfte spanische oder burgundische (aus der Franche-Comté stammende) Truppen gewesen seien, während die deutschen Truppen und das Gros der wallonischen demobilisiert wurden.

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außerhalb Kastiliens zu rekrutieren, entlastete das Kernland der spanischen Monarchie; vor 1635 dürften jedenfalls kaum je mehr als 50.000 spanische Soldaten jedes Jahr im Dienste der Krone gestanden haben, verteilt auf das gesamte Reich. Die Zahl der männlichen Geistlichen und Mönche lag in derselben Zeit in Kastilien und Aragon etwa drei Mal so hoch, bei ca. 150.000; allerdings war die Lebenserwartung als Mönch höher denn als Soldat.17 Ohne den Beitrag nicht-spanischer Militärunternehmer und Offiziere hätte sich der Krieg in Flandern gar nicht führen lassen. Hier kam italienischen Kommandeuren immer wieder eine Schlüsselrolle zu. Einer der berühmtesten war der Marchese Spinola, der von 1603 bis 1628 in einer Person Kommandeur der Armee in Flandern und ihr wichtigster Gläubiger sowie ihr Schatzmeister war – im Grunde genommen eine ähnliche Figur wie Wallenstein, nur mit einer stärkeren Position, weil er bis 1621 den Regenten der Niederlande, den Erzherzog Albrecht, immer auf seiner Seite hatte. Spinola war auch politisch ein selbständiger Akteur: Der Waffenstillstand von 1609, der den Krieg in den Niederlanden vorläufig beendete, ging auch auf sein Drängen zurück, d. h. wir bewegen uns in einer Zeit, in der das, was wir normalerweise Außenpolitik nennen würden, nicht nur in der Hand der Staaten respektive der Höfe und Dynastien lag, sondern es eine Reihe von halb unabhängigen Akteuren gab, etwa hohe Adlige oder Militärunternehmer, die auch eigene Ziele verfolgten.18

III. Die Kriegsfinanzierung und die Probleme eines heterogenen dynastischen Großreiches Italien, das Heimatland Spinolas, war generell für die Finanzierung des Krieges wichtig: Zum einen war Neapel wohl fast die einzige europäische Provinz des gesamten Reiches außerhalb Kastiliens, die regelmäßig erhebliche finanzielle Überschüsse 17

Martinez Ruiz (Fn. 9), S. 887. Manuel Rivero Rodríguez, La España de Don Quijote. Un viaje al siglo de oro, Madrid 2005, S. 354; Alicia Esteban Estríngana, Guerra y finanzas en los Países Bajos católicos de Farnesio a Spínola (1592 – 1630), Madrid 2002, S. 107; Manuel Herrero Sánchez, La red genovesa Spínola y el entramado transnacional de los marqueses de los Balbases al servicio de la Monarquía Hispánica, in: Bartolomé Yun-Casalilla (Hrsg.), Las Redes del Imperió, Madrid 2009, S. 97 – 134; Antonio Rodríguez Villa, Ambrosio Spínola, primer marqués de los Balbases. Ensayo biográfico, Madrid 1905. Zur europäischen Politik als einer Bühne, auf der eben nicht nur Staaten, sondern auch hohe Adlige, Militärunternehmer oder die Nebenlinien der großen Fürstendynastien als eigene Akteure auftraten, siehe etwa Hillard von Thiessen, Außenbeziehungen als Sozialbeziehungen: Die Savoyenkrise 1610, in: Tilman Haug/Nadir Weber/Christian Windler (Hrsg.), Protegierte und Protektoren. Asymmetrische politische Beziehungen zwischen Partnerschaft und Dominanz (16. bis frühes 20. Jahrhundert), Köln/Weimar/Wien 2016, S. 65 – 79. Zu solchen halb eigenständigen Akteuren gehörten auch die spanischen Vizekönige oder Gouverneure und die Gouverneure der französischen Provinzen. Erst nach der Fronde sollte sich dies in Frankreich ändern. 18

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erwirtschaftete. Einkünfte aus Neapel wurden nicht zuletzt dazu verwandt, um die Kredite der wichtigsten Bankiers der Krone, der Genuesen, zu bedienen; an sie und andere Gläubiger gingen um 1600 wohl an die 2,5 Millionen Dukaten jährlich an Zinseinnahmen aus Neapel.19 Die Genuesen waren für rund 70 % der Darlehen der Krone verantwortlich. Bankiersfamilien wie die Spinola kontrollierten den oberitalienischen Kapitalmarkt und standen an der Spitze großer Konsortien, die dem spanischen König gewaltige Summen liehen. Trotz gelegentlicher Staatsbankrotte war das übrigens zumindest bis in die 1620er-Jahre und vielleicht sogar noch darüber hinaus kein schlechtes Geschäft, wie eine jüngere Studie mit dem Titel Borrowing to the Lender from Hell nachgewiesen hat. Staatsbankrotte waren damals im Wesentlichen Umschuldungen; hochverzinste, kurzfristige Darlehen wurden in langfristige Anleihen mit niedrigeren Zinsen, sogenannte Juros, umgewandelt. Traten dabei wirklich Kapitalverluste auf, was selten der Fall war, wurden diese auf viele Schultern verteilt, aber im langfristigen Mittel konnte eben doch meist ein Profit erzielt werden. Die Autoren der einschlägigen Studie, Mauricio Drelichmann und Hans-Joachim Voth, kommen zu dem Schluss, dass die Gläubiger Philipps II. auch nach Abzug der Transaktionskosten und der Inflation über mehrere Jahrzehnte gerechnet eine reale Verzinsung von mindestens 3 % pro Jahr erreichten. Das ist jedenfalls mehr, als man heutzutage nach Abzug der Inflation als Besitzer italienischer Staatsanleihen bekommt, deren Realverzinsung eher negativ ist, bei vermutlich insgesamt deutlich höherem Risiko.20 Drelichman und Voth betonen überdies: „Remarkably, the Genoese system of repackaging and reshuffling risk worked better than securitization did after 2000.“21 Die spanische Krone erreichte dabei bis 1600 doch immer einen Primärüberschuss im Haushalt, und vor allem verfügte Spanien, oder vielmehr Kastilien, über die größten Pro-Kopf-Einnahmen des Fiskus in Europa mit der einzigen Ausnahme der Niederlande. Erst 1660 erreichte Frankreich ein entsprechend hohes Niveau an Einnahmen.22 Allerdings konnten die Staatseinnahmen nach 1610 auch nicht mehr gesteigert werden, was dann die Krise mitbedingte, in die die spanische Monarchie vor allem von den 1630er-Jahren an zunehmend geriet. Dafür war natürlich auch die Stagnation der Erträge der Silberbergwerke in Südamerika, aber auch der durch die feindliche Seekriegführung sowie Schmuggel mitbedingte Schwund an Einnahmen aus dieser Quelle im 17. Jahrhundert mitverantwortlich. Drelichman und Voth sehen allerdings die Gründe für den Niedergang Spaniens nach 1620 noch in anderen Faktoren. Im Kern argumentieren sie, dass gerade die Tatsache, 19 Luis M. Linde, Don Pedro Girón, duque de Osuna. La hegemonia española en Europa a comienzos del siglo XVII, Madrid 2005, S. 127. Vgl. Antonia Calabria, The Finances of the Kingdom of Naples in the Time of Spanish Rule, Cambridge 1991, S. 19 f., 85 – 88, 119. 20 Mauricio Drelichman/Hans-Joachim Voth, Lending to the Borrower from Hell. Debt, Taxes, and Default in the Age of Philip II, Princeton, NJ 2014, S. 194 – 203, und S. 275 zur realen Verzinsung der Darlehen. 21 Ebd., S. 209. 22 Ebd., S. 254 – 257, 273.

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dass Spanien lange auf immer weiter steigende Einnahmen aus Peru zurückgreifen konnte, dazu führte, dass die eigentlich notwendigen strukturellen Reformen in der Monarchie so lange verschoben wurden, bis es zu spät war, nämlich bis in die 1620erund 1630er-Jahre. Man kam eben lang auch ohne diese Reformen ganz gut aus.23 Daher unterblieb eine stärkere Zentralisierung der unterschiedlichen Territorien der Monarchie, in erster Linie der verschiedenen Königreiche und Fürstentümer auf der iberischen Halbinsel, aber darüber hinaus auch in ganz Europa. Eine lange Tradition regionaler Sonderrechte und eine Kultur des Legalismus habe dazu geführt, dass nie wirklich ein Versuch gemacht worden sei, etwa die katalanischen fueros zu beseitigen. Das blieb den bourbonischen Nachfolgern der Habsburger nach 1714 vorbehalten.24 Tatsache ist, dass es schwierig war, aus dem heterogenen Konglomerat der Besitzungen der Casa d’Austria eine Einheit zu formen. Ein solcher Versuch scheiterte auch nicht nur an den zahlreichen Privilegien der peripheren Provinzen. Die einzelnen Reichsteile hatten ganz unterschiedliche sicherheitspolitische Interessen. Den Portugiesen ging es vor allem darum, ihr Kolonialreich in Asien und Brasilien gegen die Niederländer zu verteidigen, während z. B. für die Neapolitaner und Sizilianer, aber auch die Kaufleute des aragonesischen Reichsteils der Kampf gegen nordafrikanische Korsaren und die Flotten des Osmanischen Reiches Priorität hatte. Der Kampf in Flandern oder gar gegen England besaß für diese Reichsteile eher eine untergeordnete Bedeutung. Aber auch in Kastilien selber gab es durchaus Vorbehalte gegen eine stärkere Unterordnung der eigenen Interessen unter die des Gesamtreiches. Folgt man dem englischen Historiker I. A. A. Thompson, einem der besten Kenner der Materie, dann zogen die kastilischen Eliten ein Reich vor, in dem die einzelnen Königreiche nur locker verbunden nebeneinander standen und sich jeweils auf ihre eigenen Ressourcen verließen, um sich zu verteidigen; man wollte also nicht für das Gesamtreich in Haftung genommen werden.25 Genau dies war aber in der Praxis kaum möglich, da dazu die Bedrohung des Reiches durch äußere Feinde einfach zu groß war. Der Druck der ständigen Kriege machte es daher notwendig, einen gemeinsamen Nenner für die Politik der einzelnen Königreiche und Provinzen zu finden, etwa indem man auf die besondere, geradezu providentielle Mission der Gesamtmonarchie im Kampf gegen Ketzer und Ungläubige respektive den Islam verwies. Allerdings gab es schon unter Philipp III., erst recht aber unter seinem Nachfolger Philipp IV. in den 1620er- und 1630er-Jahren Bemühungen, die peripheren Reichsteile in ihren Verwaltungs- und Regierungsstrukturen Kastilien anzugleichen, da sich nur so, wie man meinte, ausreichend Ressourcen für den Kampf gegen die Gegner der Monarchie mobilisieren ließen. Ihre eigenen Insti23

Ebd., S. 268 – 272. Ebd., S. 270. 25 Irving A. A. Thompson, Castile, Spain and the Monarchy. The Political Community from patria natural to patria nacional, in: Richard L. Kagan/Geoffrey Parker (Hrsg.), Spain, Europe and the Atlantic World. Essays in Honour of John H. Elliott, Cambridge 1995, S. 125 – 159. 24

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tutionen in Form von Ständeversammlungen oder Ratsgremien sollten die Provinzen wie z. B. Portugal oder Katalonien aber behalten, und eine echte gemeinsame Identität – im Sinne etwa einer nationalen Idee – zu formen, war nicht das eigentliche Ziel der Reformpolitik, auch nicht für die iberischen Reichsteile, für die das noch am ehesten denkbar gewesen wäre.26 Klar war aber, dass man den Interessen Kastiliens entgegenkommen musste, denn seit der Stagnation der Edelmetall-Einnahmen aus den Bergwerken Südamerikas war man vor allem seit den 1590er-Jahren zunehmend auf Steuern angewiesen, die die Stände Kastiliens, die cortes, bewilligten.27 Wir können in Kastilien eine Aufwertung der Stellung der cortes konstatieren, weil deren Steuerbewilligungen immer wichtiger wurden – die cortes bestanden übrigens nur aus Vertretern der großen Städte, Adel und Geistlichkeit waren nicht vertreten. Während 1590 die cortes eine neue Abgabe, die sogenannten millones, noch relativ rasch bewilligt hatten, wurde die Perpetuierung dieser Steuer ab 1596 zunehmend zum Problem; die Bereitschaft in Kastilien, für die Gesamtmonarchie Opfer zu bringen, nahm ab.28 Daher musste man es den kastilischen Ständen plausibel machen, dass es sich lohnte, für die Gesamtmonarchie einzustehen. Die Krone stand vor der Aufgabe, ein neues Vokabular und eine neue Rhetorik für die Einheit des Reiches zu entwickeln, die die Eliten und Untertanen in Kastilien ebenso überzeugte wie jene in den peripheren Provinzen. Lange Zeit hatte man, um das Reich als Ganzes zu bezeichnen, nur von todos los reinos de vuestra majestad oder – aus der Sicht des Königs – von todos mis reinos gesprochen. Stattdessen wurde jetzt zunehmend von der monarquía de España oder nur der monarquía respektive der monarquía católica gesprochen. Damit war ein Oberbegriff für die Gesamtheit der Reiche gefunden.29 Der Begriff der Monarchie nahm 26

Ebd., S. 130 – 148; vgl. John H. Elliott, The Count-Duke of Olivares. The Statesman in an Age of Decline, New Haven, CT 1986, S. 244 – 277, und Bernardo J. García García, Precedentes de la Unión de Reinos. La unión de las Españas en tiempos de Felipe III, in: Álvarez-Ossorio Alvariño /García García (Hrsg.) (Fn. 5), S. 385 – 419. 27 Juan Gelabert, La bolsa del rey. Rey, reino y fisco en Castilla, 1598 – 1648, Barcelona 1997, S. 58, vgl. Carlos Javier de Carlos Marales, Política y finanzas, in: José Martínez Millán/Maria Antonietta Visceglia (Hrsg.), La Monarquía de Felipe III., 3. Bd.: La Corte, Madrid 2008, S. 749 – 866. Zur Stellung Kastiliens im Reich, Rivero Rodríguez (Fn. 18), S. 225 – 245. 28 Irving A. A. Thompson, Crown and Cortes in Castile, 1590 – 1665, in: ders., Crown and Cortes. Governement, Institutions and Representation in Early-Modern Castile, Aldershot 1993, Kapitel 6; vgl. José Ignacio Fortea Pérez, Monarquía y cortes en la corona de Castilla. Las ciudades ante la política fiscal de Felipe II., Salamanca 1990, S. 271 – 312, 324 – 342; vgl. ders., Las cortes de Castilla y León bajo Las Austrias. Una interpretación, Valladolid 2008, sowie Irving A. A. Thompson, Castile: Polity, Fiscality and Fiscal Crisis, in: Philip T. Hoffman/ Kathryn Norberg (Hrsg.), Fiscal Crises, Liberty and Representative Government, 1450 – 1789, Stanford, CA 1994, S. 140 – 180, hier bes. S. 170 – 173. 29 Irving A. A. Thompson, La monarquía de España: la invención de un concepto, in: Francisco Javier Guillamón Álvarez/Julio David Muñoz Rodríguez/Domingo Centenero de Arce (Hrsg.), Entre Clío y Casandra. Poder y sociedad en la monarquía hispánica durante la Edad Moderna, Murcia 2005, S. 31 – 58.

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Bezug auf eine Einheit, die durch das Prestige der regierenden Dynastie, das Charisma des Herrschers und affektive Bindungen ihre Kraft erhielt und nicht durch rechtlich verfestigte Institutionen.30 Man kann in solchen Versuchen, die Einheit des Reiches zu betonen, auch das Bemühen erkennen, Kastilien, das Kernland der Monarchie, stärker in einem größeren Ganzen aufgehen zu lassen, es zumindest zum Teil zu „hispanisieren“.31 Zugleich gab es Versuche, die spezifische politische Kultur Kastiliens auf die anderen Ländern zu übertragen. Kastilien wurde keineswegs „absolutistisch“ regiert, wie zeitgenössische und spätere Kritiken an der vermeintlichen „viehischen spanischen Servitut“ dies suggerierten.32 Geprägt waren Verwaltung und Politik vielmehr durch ein Denken und Handeln in Kategorien des Rechts – das grundsätzlich auch als Begrenzung der Autorität des Monarchen gesehen wurde – und die dominante Position der letrados, der juristisch gebildeten Amtsträger, die in den Ratsgremien Kastiliens den Ton angaben. Kastilien war durch die sacralización de justicia, die Sakralisierung der Justiz, gekennzeichnet,33 aber auch durch eine enge Symbiose zwischen der Krone und der Hocharistokratie sowie dem höheren Klerus. Beide Gruppen identifizierten sich mit der Monarchie und mit dem Dienst für die Krone, beanspruchten allerdings am Hof und in den Ratsgremien auch einen maßgeblichen Einfluss, während sie in den Ständeversammlungen, den cortes, die nur noch die Vertreter der größeren Städte umfassten, nicht mehr unmittelbar präsent waren. Eine ähnliche soziale Struktur und politische Kultur wie in Kastilien fand sich in der Gesamtmonarchie am ehesten noch in Portugal, sehr viel weniger hingegen in Katalonien. Dies schien einerseits gute Voraussetzungen für die Integration des lusitanischen Königreiches in die Gesamtmonarchie zu bieten, auf der anderen Seite wurden die Portugiesen von den kastilischen Eliten aber auch als potenzielle Rivalen gesehen. Die Spannungen zwischen Kastiliern und Portugiesen waren unübersehbar. So hielt der spanische König seine schützende Hand über die portugiesischen Neuchristen (Nachkommen zwangsbekehrter Juden), die für ihn als Finanziers immer wichtiger wurden, auch wenn sie erst ab 1626/27 die Monopolstellung der Genuesen als Bankiers der Krone wirklich zum Einsturz brachten, während man in Portugal eher für eine harte Verfolgung von vermeintlich weiter zum Judentum neigenden Gläubigen durch die portugiesische Inquisition eintrat.34 In Madrid sahen es umge-

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Pedro Cardim, Los Portugueses frente a la monarquía hispánica, in: Álvarez-Ossorio Alvariño/García García (Hrsg.) (Fn. 5), S. 355 – 384 (362). 31 Thompson, Castile (Fn. 25), S. 125; vgl. Antonio-Miguel Bernal, España proyecto inacabado. Los costes/beneficios del imperio, Madrid 2005, S. 91. 32 Yolanda Rodríguez Pérez/Antonio Sánchez Jiménez/Harm den Boer (Hrsg.), España ante sus críticos. Las claves de la Leyenda Negra, Madrid 2015. 33 Rivero Rodríguez (Fn. 18), S. 243 f. 34 Fernanda Olival, La Corona de Portugal: Gobierno, crisis de período filipino, in: Martínez Millán/Visceglia (Hrsg.) (Fn. 27), S. 787 – 808 (798 f.); Rivero Rodríguez (Fn. 18), S. 273 – 278; Pedro Cardim, Portugal unido y separado. Felipe II., la unión de territorios y el

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kehrt viele Kastilier mit Bedenken, dass der finanzielle Beitrag Portugals zu den Ausgaben der Monarchie sehr bescheiden blieb, ja dass die Verteidigung des portugiesischen Kolonialreiches eher noch ein Zuschussgeschäft war. In dem Maße, wie die Eliten Portugals ihre Rechte durch die Forderungen aus Madrid, bei denen es im Kern vor allem um größere finanzielle Leistungen des Königreiches ging, gefährdet sahen, besannen sie sich auf die Geschichte ihres Landes und suchten aus dieser Geschichte nachzuweisen, dass die Autorität des Königs letztlich auf einem Pakt mit seinen Untertanen und auf deren freiwilliger Unterwerfung beruhte.35 In solchen Versuchen, die Autonomie Portugals innerhalb der Gesamtmonarchie zu verteidigen, darf man jedoch nicht ohne weiteres den Ausdruck eines spezifischen Nationalgefühls oder gar eines frühneuzeitlichen Nationalismus sehen, obwohl es auch dafür gewisse Anhaltspunkte gibt. Entscheidend war zunächst eher, dass ein Teil des Adels, der dem Hof in Madrid eher fern stand, aber auch die höheren Amtsträger und Juristen in Lissabon ihre korporativen Interessen am besten zu verteidigen glaubten, indem sie sich auf die Sonderrechte Portugals beriefen. Es ging also um ständische und korporative Privilegien, die allerdings von der Verfassung und dem Rechtssystem des Landes, das sie verbürgten, schwer zu trennen waren.36 Wie auch sonst im Europa dieser Epoche definierte sich eine Patria vor allem über ihre Rechte und Freiheiten, und Patriotismus war zunächst einmal die Identifikation mit einer solchen Verfassungstradition.37 Es war jedenfalls die durch die Kriegführung und ihre Kosten bedingte Notwendigkeit, auch den peripheren Provinzen immer mehr abzuverlangen bei gleichzeitig namentlich ab den späten 1630er-Jahren ausbleibenden militärischen Erfolgen, die dann zu einer Serie von Aufständen führte, hauptsächlich in Portugal und Katalonien, später auch in Süditalien.38 Hier spielte auch eine Rolle, dass in einer Gesellschaft, die sich an eine lange Friedensperiode gewöhnt hatte, die Einquartierung von Soldaten und die Erhebung von Kontributionen die Stabilität des sozialen und politischen Gefüges untergrub. Das galt jedenfalls für Katalonien nach 1635, wobei sich hier auch gewisse Parallelen zu England in den 1620er-Jahren zeigen. Denn auch England war im 16. Jahrhundert ein Land des Friedens gewesen, da die Kriegshandlungen, in die man verwickelt war, nicht auf dem eigenen Territorium stattfanden – mit ganz wenigen Ausnahmen, etwa an der Grenze zu Schottland.

debate sobra la condición politica del Reino de Portugal, Valladolid 2014, S. 109 – 115, 120 – 125, 153. 35 Ders., Portugal’s Elites and the Status of the Kingdom of Portugal within the Spanish Monarchy, in: v. Friedeburg/Morrill (Hrsg.) (Fn. 5), S. 212 – 243. 36 Ebd., S. 227 – 240. 37 Robert v. Friedeburg (Hrsg.), „Patria“ und „Patrioten“ vor dem Patriotismus. Pflichten, Rechte, Glauben und Rekonfigurierung europäischer Gemeinwesen im 17. Jahrhundert, Wiesbaden 2005. 38 Siehe Fn. 6 und Rafael Valladares, La rebelión de Portugal. Guerra, conflicto y poderes en la monarquía hispánica (1640 – 1680), Valladolid 1998.

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IV. England: Kriegführung und Kriegsfinanzierung als Politik der Notbehelfe England hatte noch unter Heinrich VIII. mehr als einmal versucht, wieder auf dem Kontinent Fuß zu fassen, um einen Teil des früheren Besitzes dort zurückzugewinnen. Unter Edward VI. folgten dann militärische Expeditionen nach Schottland, die aber keinen bleibenden Erfolg hatten. All das war nach 1553 vorbei. 1558 wurde Calais endgültig aufgegeben und unter Elisabeth I. gab es keine Versuche mehr, sich Besitz auf dem Kontinent zu sichern. Allerdings wurde England schrittweise in die Konflikte um den Niederländischen Aufstand hineingezogen.39 Elisabeth erlaubte es den Aufständischen, Soldaten in England anzuwerben und engagierte sich seit den 1580er-Jahren auch offener militärisch in den Niederlanden; große Teile der niederländischen Armee bestanden aus englischen Truppen. Rechnet man die Schotten hinzu, dann kamen zeitweilig bis zu 50 % der eigentlichen Kampfeinheiten (also das Feldheer ohne die Garnisonstruppen) von den britischen Inseln – zumindest galt das für die Infanterie. Weniger als 30 % waren es vor dem Waffenstillstand von 1609 selten.40 Dieses Engagement in den Niederlanden führte dann wiederum fast zwangsläufig zur offenen Auseinandersetzung mit Spanien. England ging aus diesem Konflikt am Ende siegreich hervor, jedenfalls scheiterte der Versuch einer Invasion in England genauso wie die Entsendung eines Expeditionskorps nach Kinsale in Irland 1601, das die irischen Aufständischen unterstützen sollte.41 Allerdings verdankte England seinen Erfolg auch einer Reihe von günstigen Umständen, von den schlechten Wetterbedingungen beim Angriff der Armada bis hin zur Belastung der spanischen Streitkräfte durch das Engagement in Frankreich in den 1590er-Jahren, das es unmöglich machte, alle Kräfte auf England zu konzentrieren. Auch darf man nicht vergessen, dass der 1604 mit Spanien geschlossene Frieden ein Erschöpfungsfrieden war. Auch England hätte den Kampf kaum fortführen können, oder nur um den Preis enormer politischer und sozialer Konflikte im eigenen Land. Elisabeth I. kam vor 1604 zugute, dass der spanische Angriff auf England als existentielle Bedrohung empfunden wurde. Damit hielt sich der offene Widerstand gegen die Aushebung von Soldaten oder gegen höhere fiskalische Belastungen meist in Grenzen. Relevant allerdings ist, dass die wichtigste englische Steuer, genannt sub39 Einen Überblick bietet Hugh Dunthorne, Britain and the Dutch Revolt, 1560 – 1700, Cambridge 2013. 40 Roger B. Manning, An Apprenticeship in Arms. The Origins of the British Army, 1585 – 1702, Oxford 2006, S. 41 – 43, 52 – 56; vgl. Mark Charles Fissel, English Warfare, 1511 – 1642, London 2001, S. 137 – 153; vgl. unten Fn. 59. 41 Hiram Morgan (Hrsg.), The Battle of Kinsale, Bray 2004; Garcia Hernán (Hrsg.), The Battle of Kinsale. Study and Documents from the Spanish Archives, Valencia 2013; zu den spanischen Niederlagen im Kampf gegen England siehe auch Antonio Luis Gómez Beltrán, La Invencible y su leyenda negra. Del fracaso inglés en la „derrota“ de la Armada Española, Malaga 2013. Zu den Nachwirkungen auch Porfirio Sanz Camañes, Los ecos de la Armada. España, Inglaterra y la estabilidad del Norte (1585 – 1660), Madrid 2012, und David Goodman, Spanish Naval Power, 1589 – 1665. Reconstruction and Defeat, London 1997.

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sidy, in ihrem Ertrag deutlich sank. Das lag nicht primär an den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, sondern eher daran, dass die Steuererhebung im Wesentlichen auf einer Selbsteinschätzung der Steuerpflichtigen beruhte. Die Werte, die vor allem die Mitglieder der landbesitzenden Elite, der gentry und der peerage, hier angaben, sanken aber immer weiter. Da für die Erhebung der Steuern lokale Kommissionen zuständig waren, die ihrerseits aus Landbesitzern bestanden, war es recht einfach, mit solchen manipulierten Zahlen durchzukommen.42 Man muss dabei freilich auch berücksichtigen – darauf hat die Forschung aufmerksam gemacht –, dass die Grafschaften auch für die Aufstellung der lokalen Miliz, für die Rekrutierung und Ausrüstung von Soldaten für größere militärische Unternehmungen und generell für lokale Verteidigungsanstrengungen zuständig waren. Die Lasten, die sich daraus ergaben, waren erheblich, und je mehr Geld vor Ort ausgegeben wurde, desto weniger war man offenbar bereit, zusätzliche Beträge in Form direkter Steuern an die Krone zu zahlen.43 Erstaunlich bleibt dennoch, dass England den Krieg gegen Spanien zwischen 1584 und 1604 durchstand, ohne in wirklich großem Umfang Schulden zu machen; jedenfalls lieh Elisabeth sich wohl weniger als 500.000 Pfund, davon einen großen Teil unverzinst, da Londoner Kaufleute und andere Geldgeber genötigt werden konnten, der Krone auch so Geld zur Verfügung zu stellen.44 Die Kehrseite dieser Tatsache ist freilich, dass England auch gar nicht über die Mechanismen verfügte, um Kriege in wirklich großem Umfang über Kredite zu finanzieren wie die spanische Krone. Das ganze Kreditwesen befand sich in England eigentlich in den Kinderschuhen, sodass bei größerer Geldnot, wie bereits im Mittelalter geschehen, die Kronjuwelen verpfändet werden mussten. Der Verzicht auf eine Modernisierung des Finanzund Steuerwesens sollte sich dann vor allem unter Jakob I. und seinem Nachfolger rächen. Zusätzlich zu den Schulden, die Jakob I. von seiner Vorgängerin erbte, machte er bald neue, da er nicht mehr nur für die eigene Hofhaltung, sondern auch für die seiner Frau und seiner Kinder aufzukommen hatte; von den Kosten, die Pensionen und Geschenke für seine schottischen Höflinge verursachten, ganz abgesehen. Vier Jahre, nachdem er den englischen Thron bestiegen hatte, war Jakob I. schon mit Schulden von £ 734.000 konfrontiert.45 Nicht nur mit Blick auf das Kreditwesen blieb man unter Elisabeth I. auf unterschiedliche Notbehelfe angewiesen. Bei der Seekriegführung griff man z. B. in gro42 Michael J. Braddick, Parliamentary Taxation in 17th-Century England, Woodbridge 1994, S. 64 – 125; ders., State Formation in Early Modern England, c. 1550 – 1700, Cambridge 2000, S. 234 – 240. 43 Neil Younger, War and Politics in the Elizabethan Counties, Manchester 2012, S. 200 – 231. 44 Michael J. Braddick, The nerves of state. Taxation and the financing of the English state, 1558 – 1714, Manchester 1996, S. 2; Paul E. J. Hammer, Elizabeth’s Wars. War, Government and Society in Tudor England, 1544 – 1604, Basingstoke 2003, S. 205 f. 45 Zu den Entwicklungen unter Jakob I.: John Cramsie, Kingship and Crown Finance under James VI. and I., 1603 – 1625, Woodbridge 2002, S. 78, 67 – 75.

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ßem Umfang auf Handelsschiffe zurück, die kurzfristig für den Kampf zur See umgerüstet wurden, soweit das notwendig war. Der Bau gefechtsfähiger Handelsschiffe wurde von der Königin seit den 1590er-Jahren allerdings subventioniert.46 Die Beteiligung an Kaperfahrten in die Karibik, aber auch an Angriffen auf spanische Häfen war grundsätzlich auch für Kaufleute reizvoll, weil reiche Beute in Aussicht stand. Da die spanische Atlantik-Flotte seit Beginn der 1590er-Jahre auf Grund eines großangelegten Bauprogramms der englischen an sich zumindest gewachsen, wenn nicht sogar deutlich überlegen war – eine Tatsache, die man oft vergisst –, überließ man die Kaperfahrten nun freilich auch fast ausschließlich Schiffen, die nicht zur königlichen Marine gehörten. Es gab spektakuläre Erfolge, namentlich wenn die großen portugiesischen Schiffe aus Indien abgefangen wurden, die Waren und Juwelen in einem Wert von bis zu 500.000 Pfund geladen hatten, aber auch zahlreiche Rückschläge.47 Die private Finanzierung eines großen Teils der Seekriegführung war aber insgesamt erfolgreich. Problematischer war es schon, dass sich führende Adlige an den Kosten der Kriegführung zu Lande bei einzelnen Feldzügen beteiligten, wie etwa der zweite Earl von Essex beim Angriff auf Cadiz 1596, und in Vorlage für die Kosten der Ausrüstung der Truppen traten. Hochadlige, die das taten, erwarteten natürlich eine Gegenleistung, sei es in finanzieller Form oder dadurch, dass ihnen die Gelegenheit gegeben wurde, ihre Klienten auch in Zukunft über Offiziersstellen und die damit gegebene Möglichkeit, Beute zu machen, zu versorgen. Nichts wäre in diesem Kontext schlimmer gewesen als die zeitweilige oder dauerhafte Einstellung der militärischen Operationen.48 Robert Devereux, der zweite Earl von Essex (1565 – 1601) wurde auch deshalb in den späten 1590er-Jahren zum unerbittlichen Anwalt einer Fortsetzung des Krieges gegen Spanien, und dies auch noch zu einem Zeitpunkt, als Frankreich aus diesem Krieg 1598 bereits ausgeschieden war und Hoffnungen für einen allgemeinen Frieden aufkamen. Er war wohl wirklich davon überzeugt, dass mit Spanien ein dauerhafter Frieden unmöglich sei, weil die Habsburger in Madrid immer nach der Universalmonarchie strebten, aber zugleich vertrat er die Interessen und die Werte einer spezifischen Klientel; eben jener Soldaten und Offiziere, für die der Krieg zur Lebensform geworden war und die zum Teil auch persönlich darauf angewiesen 46 Hammer, Elizabeth’s Wars (Fn. 44), S. 162; vgl. David Loades, The Making of the Elizabethan Navy 1540 – 1590: from the Solent to the Armada, Woodbridge 2009. 47 Hammer, Elizabeth’s Wars (Fn. 44), S. 163 – 168; vgl. zum Kontext auch R. B. Wernham, The Return of the Armadas. The Last Years of the Elizabethan War against Spain, 1595 – 1603, Oxford 1994. 48 Dies zeigt am Beispiel des zweiten Earl of Essex: Paul E. J. Hammer, The Polarisation of Elizabethan Politics. The Political Career of Robert Devereux, 2nd Earl of Essex, 1585 – 1597, Cambridge 1999, S. 226 – 228. Generell zum Engagement des Adels im Krieg siehe auch Rory Rapple, Martial Power and Elizabethan Political Culture. Military Men in England and Ireland, 1558 – 1594, Cambridge 2009; sowie Brendan Kane, The Politics and Culture of Honour in Britain and Ireland, 1541 – 1641, Cambridge 2014, S. 112 – 116. Ferner Roger B. Manning, Swordsmen. The Martial Ethos in the Three Kingdoms, Oxford 2003.

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waren, in dieser oder jener Form vom Geschäft des Krieges zu leben.49 Es gab in England im Heer – für die Seestreitkräfte stellte sich die Lage anders dar – eigentlich kein explizites Militärunternehmertum wie in vielen anderen Armeen Europas, aber faktisch waren die Führung von Truppen und der Krieg selber eben doch immer auch ein Geschäft mit allen Implikationen, die das hatte. Das war mit ein Grund, dass es in den letzten Lebensjahren Elisabeths zu einer immer stärkeren Konfrontation zwischen den Soldaten in der Umgebung der Königin und denjenigen kam, die sich eher als Zivilisten, als gentlemen of the long robe, definierten. Die Königin stellte sich am Ende gegen Essex, nachdem dieser politisch und militärisch gescheitert war, und als dieser eine Art Palastcoup versuchte, führte ihn das auf den Hügel des Tower, wo er 1601 vom Henker hingerichtet wurde.50

V. Strukturelle Folgen der Unterfinanzierung der Kriegführung Die Revolte des Earl of Essex war auch eine Folge der Tatsache, dass Elisabeth von ihren Adligen ein hohes persönliches und finanzielles Engagement im Krieg erwartete, aber nur unzureichende Gegenleistungen bieten konnte oder wollte. In einem größeren Maßstab kann man das auch über ihre Kriegführung in Irland sagen, deren finale Bilanz eigentlich katastrophal war. Für die englischen Landtruppen war Irland in den 1590er-Jahren der wichtigste Kriegsschauplatz, wichtiger noch als die Niederlande. Zwischen 1585 und 1602 wurden in England rund 70.000 Mann ausgehoben, davon wurde etwa die Hälfte nach Irland geschickt, mit einem Schwerpunkt auf der Zeit nach 1595; der Rest in die Niederlande oder nach Frankreich, wobei auf dem Kontinent auch nicht wenige Freiwillige kämpften, die man in Irland eher selten fand. Auf dem Höhepunkt der Kämpfe in Irland, zwischen 1598 und 1601, standen in Irland 20.000 Mann englische Truppen unter Waffen, während in den Niederlanden eigentlich nie mehr als 8.000 bis 9.000 Engländer kämpften; oft auch weniger, wenn auch über einen deutlich längeren Zeitraum.51 Die Kosten des Krieges in Irland waren am Ende auch prohibitiv hoch, an die 200.000 Pfund pro Jahr und zeitweilig auch deutlich mehr, bis zu 300.000 um 1600, bei einem Einkommen der Krone pro Jahr von um die 500.000 Pfund, eine Summe, aus der aber auch noch andere Mi49

Alexandra Gajda, The Earl of Essex and Late Elizabethan Political Culture, Oxford 2012, S. 27 – 107; dies., War and Peace in Late Elizabethan England, Historical Journal 52 (2009), S. 851 – 878; sowie Paul E. J. Hammer, The Crucible of War: English Foreign Policy, 1589 – 1603, in: Susan Doran/Glenn Richardson (Hrsg.), Tudor England and its Neighbours, Basingstoke 2005, S. 235 – 266. Vgl. aber Janet Dickinson, Court Politics and the Earl of Essex, 1589 – 1601, London 2012, S. 43 – 78, mit anderer Bewertung der politischen Konfrontation am Hof. 50 John Guy, Elizabeth. The Forgotten Years, New York 2016, S. 319 – 346. 51 Fissel, English Warfare (Fn. 40), S. 87 f.; John McGurk, The Elizabethan Conquest of Ireland. The 1590s Crisis, Manchester 1997, S. 193 – 220.

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litärausgaben bestritten werden mussten.52 Insgesamt dürfte Elisabeth für die unterschiedlichen Kampagnen in Irland an die 2,3 Millionen Pfund ausgegeben haben, während die Intervention in den Niederlanden sie „nur“ 1,4 Millionen kostete – wobei den Ausgaben für die Truppen in den Niederlanden zum Teil noch finanzielle Forderungen an die Generalstaaten gegenüberstanden.53 Die Kostenexplosion in Irland war aber eine Entwicklung der letzten Regierungsjahre Elisabeths. Bis zu Beginn der 90er-Jahre des 16. Jahrhunderts unterhielt sie zwar auch eine kleine stehende Armee in Irland, zunächst wohl nicht mehr als ca. 2.500 Mann, dann seit den 1580er-Jahren an die 8.000 Soldaten, diese war aber ständig unterbezahlt und musste daher aus dem Lande selber leben: durch die Erhebung von Kontributionen und durch die Requirierung von Lebensmitteln.54 Im Prinzip war seit den 1570er-Jahren geplant, für den Unterhalt der Garnisonen spezielle compositions zu erheben, diese sollten zugleich an die Stelle der Pflicht der bäuerlichen Bevölkerung treten, die Truppen der irischen Magnaten und Lords durch Naturalabgaben aller Art zu unterhalten. Da in Irland fast immer in Form von kleineren Raubzügen, sogenannten cattle raids, Krieg geführt wurde, waren diese Abgaben recht hoch. Sie sollten jetzt wegfallen und die irischen Chefs der größeren und kleineren Verwandtschaftsverbände ebenfalls durch begrenzte, aber permanente Abgaben entschädigt werden.55 Die Kommandeure der lokalen Garnisonen, die an sich unterbezahlt waren, trieben aber ihrerseits die Höhe der Kontributionen nach oben, so dass bei der irischen Bevölkerung der Eindruck entstand, man sei mit dem bisherigen System von coign and livery, der Verpflegung und Behausung der Söldner der lokalen Warlords, immer noch besser bedient als mit dem englischen System der compositions. Dies war mit ein Grund, warum es nicht gelang, das Land dauerhaft zu befrieden, wenn auch nicht der einzige: 1594 brach in Ulster eine große Revolte, Tyrone’s Rebellion, aus, die bald das ganze Land erfasste und nur sehr mühsam und nach einer Reihe schmerzhafter Niederlagen niedergeworfen werden konnte. Die Mittel, die man hierfür anwandte, entsprachen einer Taktik der verbrannten Erde. In den Gebie52

Fissel, English Warfare (Fn. 40), S. 223 f.; Hammer, Elizabeth’s Wars (Fn. 44), S. 217 f. Cramsie (Fn. 45) S. 68. 54 Ciaran Brady, The Captains’ Games: Army and Society in Elizabethan England, in: Thomas Bartlett/Keith Jeffery (Hrsg.), A Military History of Ireland, Cambridge 1996, S. 136 – 159 (136); Nicholas Canny, Making Ireland British, 1580 – 1650, Oxford 2001, S. 66 – 78. 55 Steven G. Ellis, Tudor Ireland. Crown, Community and the Conflict of Cultures, 1470 – 1603, Harlow 1985, S. 268 – 274, 284 – 288; Brady, Captains’ Games (Fn. 54), S. 146 f.; vgl. auch David Edwards, The Escalation of Violence in Sixteenth-Century Ireland, in: ders. u. a. (Hrsg.), Age of Atrocity. Violence and Political Conflict in Early Modern Ireland, Dublin 2007, S. 34 – 78. Vgl. zum Kontext jetzt auch Ciaran Brady, Politics, Policy and Power, 1550 – 1603, in: Jane Ohlmeyer (Hrsg.), The Cambridge History of Ireland, Bd. II, 1550 – 1730, Cambridge 2018, S. 23 – 47, sowie ders., Coming into the Weigh-House: Elizabeth I and the Government of Ireland, in: Brandon Kane/Valerie McGowan-Doyle (Hrsg.), Elizabeth I and Ireland, Cambridge 2014, S. 113 – 141. 53

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ten, die die Rebellion unterstützten, versuchte man die Bevölkerung buchstäblich auszuhungern, um den Aufständischen ihren Rückhalt zu nehmen; auch Massaker an Zivilisten einschließlich Frauen und Kindern waren nicht selten.56 Zwar endete der Krieg 1603 mit dem Frieden von Mellifont und die in Irland stationierte Armee wurde in den folgenden Jahren auf unter 2.000 Mann reduziert, aber, und das ist entscheidend, die lokalen Kommandeure hatten weiterhin das Recht, mit den Mitteln des Kriegsrechtes gegen vermeintlich gefährliche Personen, die sie des Landfriedensbruches verdächtigen, vorzugehen; willkürliche Strafmaßnahmen und Hinrichtungen waren daher nicht ungewöhnlich.57 Irland blieb somit ein Land, das zumindest zum Teil unter militärischer Herrschaft verblieb, auch nach 1603, und in dem daher auch keine wirkliche Rechtssicherheit herrschte. An sich waren die Kriege in Irland geführt worden, um Irland zu anglisieren, aber gerade diese partielle Militarisierung des Alltags in Verbindung mit den langfristigen Folgen eines Krieges, der zeitweilig Züge einer ethnischen Säuberung angenommen hatte, wirkte dieser Anglisierung entgegen. Mit seinem eigenartigen Status als einer gewissermaßen innereuropäischen Kolonie stellte Irland in der Tat einen Sonderfall dar. Das Erbe der elisabethanischen Eroberung war letzten Endes eine misslungene Integration in den britischen Staatsverband, die wesentlich auch durch die Art der Kriegführung in Irland unter Elisabeth I. und später dann in den 1640er- und 1650er-Jahren bedingt war. Aber das Erbe der elisabethanischen Zeit war auch noch aus einem anderen Grunde ambivalent. Elisabeth war, wenn man so will, eine große Meisterin in der Kunst, strukturelle Probleme vor sich herzuschieben; eigentlich war das englische Steuerund Finanzsystem der Herausforderung eines längeren Krieges schon nicht mehr gewachsen, aber der Zusammenbruch blieb aus. Ähnliches galt für die Milizeinheiten, die man im späten 16. Jahrhundert in den Grafschaften geschaffen hatte. Sie sollten nicht nur im Fall einer feindlichen Invasion die Aufgabe der lokalen Verteidigung übernehmen, sondern aus ihren Reihen wurden auch die Soldaten für Heereseinheiten rekrutiert, die im Ausland eingesetzt wurden. Meist wurden dafür jene jungen Männer ausgesucht, die als „abkömmlich“ galten, weil sie ohnehin zu den Dorfarmen gehörten oder gar kein Einkommen hatten; zum Teil handelte es sich auch um Per-

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John McGurk, The Pacification of Ulster 1600 – 1603, in: Edwards u. a. (Hrsg.) (Fn. 55), S. 118 – 129; vgl. auch McGurk, Elizabethan Conquest (Fn. 51) und Hiram Morgan, Tyrone’s Rebellion. The Outbreak of the Nine Years War in Tudor Ireland, Woodbridge 1993. Siehe jetzt auch ders., „Tempt not God too long, O Queen“: Elizabeth and the Irish crisis of the 1590 s, in: Kane/McGowan-Doyle (Fn. 55), S. 209 – 238. 57 David Edwards, Legacy of Defeat. The Reduction of Gaelic Ireland after Kinsale, in: Morgan (Hrsg.) (Fn. 41), S. 280 – 299, bes. S. 290 über die Lage nach 1603, unter Jakob I.: „The advice ran thus: given the parlous state of royal finances in England, it was plainly necessary to demobilise as much of the enormous Elizabethan army as possible; luckily however, the reduction of the army need not weaken the state’s power over the native lordships, provided that martial law continued to be used.“

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sonen, die als Unruhestifter oder gar als Kriminelle galten.58 Dass solche Truppen nicht unbedingt eine militärische Elite darstellten, liegt auf der Hand, auch wenn die Söldnerarmeen auf dem Kontinent oft in einem ähnlichen Milieu rekrutiert wurden. Zusätzlich konnte man natürlich bis zu einem gewissen Grade auf kampferprobte Soldaten und Offiziere zurückgreifen, die auf dem Kontinent Erfahrungen gesammelt hatten. Noch Mitte der 1630er-Jahre dienten ca. 13.000 Engländer und Schotten im Heer der niederländischen Republik, 1605 hatten die Engländer 55 und die Schotten 27 der insgesamt 235 Infanterie-Kompanien des niederländischen Heeres gestellt.59 Nur, solche Veteranen anzuwerben und zu besolden, war kostspielig, und das englische Steuersystem litt, wie schon bemerkt, zunehmend darunter, dass die Oberschicht durch eine zu geringe Selbsteinschätzung der eigenen Einkünfte einer Besteuerung in realistischer Höhe zu entgehen versuchte, und zwar durchaus mit Erfolg. Unter Elisabeth hatte man wenig getan, um dem entgegenzutreten und in der Friedenszeit zwischen 1604 und 1625, als kaum parlamentarische Steuern bewilligt wurden, bestand auf den ersten Blick kein Anlass für eine Reform. Der Versuch, stattdessen durch den Verzicht auf fiskalisch nutzbare Regalien der Krone vom Parlament die Bewilligung permanenter Steuern in beträchtlicher Höhe zu erreichen, scheiterte endgültig 1610.60 Als England dann versuchte, in den Jahren zwischen 1625 und 1629 in die kriegerischen Wirren auf dem Kontinent direkt einzugreifen, erwiesen sich die existierenden Strukturen als wenig belastbar, ließen sich aber auch nur schwer reformieren, weil ein Konsens mit dem Parlament nicht erzielt werden konnte. Das Parlament weigerte sich, die Kriegführung angemessen zu finanzieren, teils weil man der politischen Führung misstraute, aber auch weil man glaubte, reiche Kriegsbeute durch Kaperfahrten würden ausreichen, um das Defizit wettzumachen, jedenfalls wenn man in erster Linie auf die Seekriegführung setzte. Die Einquartierungen von schlecht oder gar nicht bezahlten Truppen in englischen Hafenstädten führten dann zu zahlreichen Konflikten auch rechtlicher Art mit der Zivilbevölkerung.61 Eine Modernisierung des englischen Steuersystems gelang ansatzweise erst während des Bürgerkrieges, der zeitweilig dann allerdings sogar zu einer Art Militärherrschaft unter Cromwell und den Major Generals führte.62

58 Michael J. Braddick, State Formation in Early Modern England, c. 1550 – 1700, Cambridge 2000, S. 181 – 194. 59 Olaf van Nimwegen, The Dutch Army and the Military Revolutions, 1588 – 1688, Woodbridge 2010, S. 33; Younger (Fn. 43), S. 200 – 231; vgl. Fissel, English Warfare (Fn. 40), S. 179 f. 60 Cramsie (Fn. 45), S. 89 – 116. 61 Siehe dazu Fn. 7 und Fissel, English Warfare (Fn. 40), S. 269 – 272. 62 Christopher Durston, Cromwell’s Major Generals. Godly Rule during the English Revolution, Manchester 2001.

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VI. Resümee In England ebenso wie in Kastilien führte die Belastung durch die Kriegführung zunächst zu einer Aufwertung der Ständeversammlungen, auf deren Unterstützung man angewiesen war. In Spanien verloren diese ihren Einfluss jedoch wieder, als eine Finanzierung der Staatsausgaben auf regulärem Weg durch Steuern ohnehin nicht mehr möglich war, und man auf direkte Abmachungen mit hohen Adligen und den städtischen Magistraten zurückgriff, verstärkt ab der Mitte des 17. Jahrhunderts. Die Zurückdrängung des Einflusses der cortes von Kastilien ab Beginn der 1640er-Jahre und die Entscheidung, sie ab 1664 gar nicht mehr einzuberufen, implizierte freilich den Verzicht auf weitere Steuererhöhungen. Im Prinzip wurde das Steuersystem auf dem Stand des Jahres 1664 eingefroren und die Aufbringung der Steuern selber musste relativ mühsam mit den einzelnen Städten, die nun keine gemeinsame Vertretung mehr besaßen, auf lokaler Ebene ausgehandelt werden.63 Ganz anders verlief die Entwicklung in England. Hier kämpfte das Parlament erfolgreich um sein Überleben und beanspruchte bereits in den 1620er-Jahren eine Mitsprache auch in Fragen der Außenpolitik, was unweigerlich zu Konflikten mit der Krone führte. Sowohl in der spanischen Monarchie wie unter Elisabeth I. in England war die Kriegführung an sich unterfinanziert – nur die Folgen waren andere. In Kastilien wurden die Defizite einerseits über Kredite, andererseits über die Silberimporte aus Südamerika ausgeglichen; als das nicht mehr funktionierte, unternahm man den Versuch, die peripheren Provinzen stärker zur Finanzierung heranzuzuziehen, von denen bis dahin nur Neapel wirklich große Beiträge geleistet hatte. Das führte um 1640 zu einer Reihe gefährlicher regionaler Revolten, von denen freilich nur die portugiesische dauerhaft erfolgreich war. In England machte sich die Unterfinanzierung auf andere Weise bemerkbar, vor allem durch die Art der Kriegführung in Irland. Schon in Friedenszeiten versuchte man die Garnisonen durch Kontributionen, die vor Ort erhoben wurden, zu unterhalten. In Kriegszeiten war das wegen der erhöhten Truppenstärken zwar nicht mehr möglich, aber faktisch waren die Feldzüge der englischen Armee in Irland immer auch Beutezüge und der Versuch, das Land wie eine Kolonie zu behandeln, sollte die Krone auch für die Kosten der Kriegführung entschädigen. Das galt zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Ulster und noch viel stärker dann natürlich in den 1650er Jahren, als die meisten Katholiken ihr Land verloren und viele von ihnen deportiert wurden.64 Zu schwerwiegenden Herrschaftskrisen kam es sowohl in der spanischen Monarchie wie in der Monarchie der Stuarts im 17. Jahrhundert, wenn man versuchte, auf das eigene Land Methoden der Kriegführung zu übertragen, wie wir sie aus dem 63

Irving A. A. Thompson, Castile: Absolutism, Constitutionalism and Liberty, in: Philip T. Hoffman/Kathryn Norberg (Hrsg.) (Fn. 28), S. 181 – 225 (197 – 201). 64 John Cunningham, Conquest and Land in Ireland: The Transplantation to Connacht, 1649 – 1680, Woodbridge 2011.

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Dreißigjährigen Krieg kennen: Einquartierungen, Brandschatzungen, Kontributionen, Zwangsrequirierung von Nahrungsmitteln. In Spanien führte dies 1640 zur Revolte der katalanischen Segadors, der Mäher;65 in England in den späten 1620er-Jahren zu schweren Konflikten zwischen Parlament und Krone, die langfristige Spuren hinterließen. Wichtig in beiden Monarchien war die Legitimation des Krieges gegenüber der eigenen Bevölkerung. Hier stand in beiden Fällen das Konfessionelle im Vordergrund, denn damit ließ sich am leichtesten eine größere Zahl von Menschen für den Krieg begeistern. In Spanien blieb diese Art von Legitimation bis weit in das 17. Jahrhundert hinein intakt, erwies sich allerdings als relativ nutzlos im Kampf gegen katholische Mächte wie Frankreich. In England war das Problem eher, dass die Stuarts etwa seit 1620 ihre Glaubwürdigkeit als Verteidiger des wahren Glaubens zunehmend verloren und damit andere Akteure diese Rolle übernehmen konnten, was endgültig im Bürgerkrieg und in den 1650er-Jahren geschah, als Cromwell Krieg gegen Spanien führte, obwohl dieses damals gar keine Bedrohung mehr darstellte. Aber Cromwell hatte erkannt, dass sich der Kampf gegen den alten Feind der 1580er- und 1590er-Jahre am ehesten dazu eignete, die Steuern, die für den Unterhalt eines stehenden Heeres benötigt wurden, zu legitimieren.66

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Siehe Fn. 6. Dazu jetzt Ronald A. Asch, Lord Protector von Gottes Gnaden: Die Herrschaft Oliver Cromwells 1653 – 1658 als Beispiel defizitärer Souveränität, in: Lena Oetzel/Kerstin Weiand (Hrsg.), Defizitäre Souveräne. Herrschaftslegitimation im Konflikt, Frankfurt/New York 2018, S. 191 – 216. 66

Diskussion Schilling: Herr Asch, ganz herzlichen Dank. Das war ein Spektrum an Befunden zumal zu Fragen der Kriegsfinanzierung, das sich in vieler Hinsicht deutlich abhob von dem, was wir mit Blick auf das 15. und 16. Jahrhundert im Reich und in den Bünden gesehen haben. Ein Punkt würde mich jetzt fast in Versuchung führen, ein Koreferat zu Frankreich zu halten, nämlich Krieg als Reformhindernis. Das haben wir in Frankreich analog in der Situation der zwanziger und dreißiger Jahre des 17. Jahrhunderts, in der die Debatte, inwieweit eine innere Reform notwendig ist, mit der Frage des Eingreifens in den 30-jährigen Krieg sehr eng verknüpft ist. Doch ich kenne die zeitlichen Zwänge und werde dies jetzt nicht tun, sondern eröffne die Diskussion. Kronenbitter: Vielen herzlichen Dank. Ich habe zwei kurze Fragen, die sich auf das britische Beispiel beziehen. Zum einen beziehe ich mich auf Ihre Bemerkung zur Dauerpräsenz von Militär in Irland und darauf, dass diese wie ein kolonialer Betrieb läuft. Dass diese kleine Dauerpräsenz oder vielmehr ihre neue Finanzierungsform maßgeblich dazu beigetragen habe, das Ganze am Köcheln zu halten und eine Beruhigung der Lage und eine Integration eher unmöglich zu machen. Ich frage mich nun bei 2.500 Personen, von denen Sie gesprochen haben: Kann es wirklich sein, dass die Bauern jetzt finden, die Finanzierung würde zu teuer? Oder sind es nicht vielmehr deren Oberherren, die fürchten, dass ihnen ihr traditioneller Spielraum genommen wird. Das wäre aus meiner Sicht die plausiblere Erklärung. Dann die zweite Frage, anschließend an das britische Beispiel: Sie haben das Thema „Konfession“ als Legitimationsgrundlage für die Extrahierung von Leistungen ins Spiel gebracht und dies gerade auf die Cromwell-Zeit bezogen. Für den Krieg gegen Spanien stimmt das natürlich wunderbar. Aber war nicht vielmehr der viel wichtigere Krieg, der gegen die konfessionsverwandten Niederländer? Und wie sah es dann mit der eher ökonomisch-imperialistischen Legitimation aus? Asch: Vielen Dank. Vielleicht zunächst zur zweiten Frage. Der Krieg gegen die Niederländer hat sicher diesen ökonomischen Interessenkonflikt als Hintergrund. Auch koloniale Interessenkonflikte in Süd-Ost-Asien. Aber die Kriegspropaganda stellt trotzdem die Niederländer dar als Verräter an der gemeinsamen protestantischen Sache. In den 1650er Jahren ist eigentlich der Einfluss des Hauses Oranien relativ gering, aber trotzdem wird die Verwandtschaft mit den Stewarts herangezogen. Die Niederländer hätten sich der Einheitsfront republikanisch-protestantischer Mächte entzogen, und das wird eben durchaus als Verrat in der Propaganda dargestellt. Bei dem Krieg gegen Spanien ist auffällig, dass Spanien in den 1650er Jahren keine Bedrohung ist, aber dieses alte Argument wird hervorgeholt und die Rechnung,

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die Cromwell und die englischen Staatsräte dabei aufmachen, ist, wenn Karl II. sich mit Spanien verbündet, dann ist er diskreditiert. Wenn aber Frankreich ihn unterstützt, dann ist das nicht so klar. Weil das Bild von Frankreich nicht so negativ ist, obwohl es auch katholisch ist. In Irland spielt natürlich auch eine Rolle, wie die Kontributionen und Steuern für das Militär eingezogen werden. Also wie willkürlich diese Abgaben erhoben werden. Es ist natürlich schon richtig, dass die gälische Oberschicht ganz besonders davon betroffen ist. Aber die englische Herrschaft hat sich in Irland damit legitimiert, oder versuchte sich damit zu legitimieren, dass ihre Vertreter sagen, wir haben die Willkürherrschaft der irischen Lords, der irischen Herren beendet und wir emanzipieren die bäuerliche Bevölkerung, wir geben ihnen Rechtssicherheit. Aber das war nicht wirklich der Fall. Das ist zumindest ein Element in diesem komplexen Prozess, warum die Anglisierung des Landes nicht gelungen ist. Das zweite Element ist natürlich, die Reformation ist nicht vorgedrungen. Die Bevölkerung bleibt durchweg katholisch. Darüber gibt es eine lange Diskussion, warum das so ist. Da spielen Dinge eine Rolle wie das Fehlen einer Mission in gälischer Sprache oder die geringen materiellen Ressourcen der protestantischen Church of Ireland. Aber dass in Irland Personen, die gegen die englische Herrschaft opponieren, nach Militärrecht abgeurteilt werden können, hat den Widerstand gegen diese Herrschaft, der sich dann auch konfessionell artikulierte, sicher verfestigt. Thier: Vielen herzlichen Dank für den spannenden, instruktiven und reichen Vortrag. Mir ist eine Sache aufgefallen, die wir auch in anderen Vorträgen beobachten konnten, auch bei Herrn Carl zuletzt. Das ist der Übergang zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, wenn es um die Finanzierung geht. Sie hatten darauf hingewiesen in England, auf diese private Kriegsfinanzierung, die dann auch ein Stück weit in die Kolonisierung hineingeht und mit der dann natürlich auch die Hoffnung auf ein return of investment verbunden ist. Wir haben ja, glaube ich, Ähnliches auf dem Kontinent gesehen. Sie haben das für Spanien betont. Mich würde interessieren, ob Sie dieser Beobachtung zustimmen können. Das heißt aus dieser Kategoriendebatte, die wir geführt haben, innen und außen, vielleicht mal etwas weg zu hoheitlich, vielleicht nicht hoheitlich. Da verschwimmen Strukturen, die wir von heute kennen. Und noch eine konkrete Wissensfrage: Mich hat dieses Finanzierungsmodell, heute würden wir wohl von einer public private partnership sprechen, mich hat das deswegen besonders interessiert, weil wir ja dann später im 17. Jahrhundert bei den großen Kolonialgesellschaften ein ähnliches Modell sehen. Können Sie dazu etwas sagen, ob diese Kriegsfinanzierung Pate gestanden hat, weil das ja ein Modell ist, was wir europaweit sehen. Ich persönlich habe mich immer gefragt, bei den ganzen Charters, die da kommen, wo haben deren Verfasserinnen und Verfasser das hergehabt. Daher war ich so glücklich, als ich Ihren Vortrag gehört habe, insbesondere deswegen, weil ich dachte: Ah, da gibt es vielleicht ein Vorbild. Zumal, wenn ich diese Bemerkung noch machen darf: Bei den Kolonialgesellschaften wird ja auch Militärgewalt outgesourct, um einen Ausdruck von Jakob Tanner aufzunehmen. Das sind ja dann Private – modern gesprochen – die mit militärischen Hoheitsbefugnissen beliehen werden.

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Asch: Es gibt für England die These, dass Irland das Experimentierfeld für spätere Kolonien ist. Und es gibt gewisse personelle Überschneidungen. Sir Walter Raleigh war einige Jahre in Irland Bürgermeister von Youghal, das ist eine Stadt an der Südküste von Irland, und ist dann in Virginia tätig. Es gibt schon solche Überschneidungen. Wir haben dann in Irland den Fall, als 1641 der irische Aufstand ausbricht, wird in England eine Gesellschaft gegründet, die Adventurers for Ireland, die sollen den Krieg zur Niederwerfung des Aufstandes finanzieren. Die Summen, die die Gesellschaft aufbringt, reichen nicht, leisten aber doch einen Beitrag zur Kriegsfinanzierung. Und den Teilhabern wird irisches Land versprochen. Also ehe man weiß, wer überhaupt an diesem Aufstand beteiligt ist, wird gesagt: Wir nehmen denen ihr Land weg und das wird an die Anteilseigner verteilt. Das zeigt gewisse Parallelen zu den Enteignungen in Böhmen und Mähren nach 1620. Die Adventurers for Ireland haben als Konsortium aber auch eine ähnliche Struktur wie die großen Kolonialgesellschaften. Die ersten, die das erfolgreich durchgeführt haben, sind die Niederländer mit der Vereinigten Ostindischen Kompanie, die die föderale Staatsstruktur der Niederlande widerspiegelt. Begriffe wie privat und öffentlich zu verwenden, ist schon für den europäischen Bereich schwierig, für den kolonialen Bereich noch viel schwieriger. Aber Grotius hat sich dann mit der Frage beschäftigt, was eine Gesellschaft wie die VOC für Rechte habe, und Grotius’ Ausführungen zum europäischen Expansionsrecht sind viel radikaler als die der spanischen Denker. Eine Handelsgesellschaft macht eben das, was für den Handel notwendig ist und führt dafür auch Kriege, wenn es irgendwie notwendig ist. Die Spanier haben viel stärker in der Kategorie universeller Menschenrechte gedacht, auch wenn die koloniale Praxis eine recht unerfreuliche war. Schmidt: Roland, vielen Dank. Wenn ich Deinen Vortrag so verstanden hätte, dass man sagt, durch den Krieg gibt es einen Reformstau, der durch den Krieg nicht abgebaut werden kann. Aber in Spanien setzt sich das fort, und die spanische Monarchie ist seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf dem absteigenden Ast. In England gewinnt das Parlament an Einfluss und in England muss man doch sagen, seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts setzt das ein, was man imperiale Welteroberung nennt, oder wie immer man das nennen will. Da hätte man doch durch den Krieg eine positive Entwicklung in England festzustellen und eine negative in Spanien. Und jetzt müsste man fragen, wo liegt eigentlich der systematische Unterschied zwischen diesen beiden Ländern, der zu dieser Entwicklung führt? Asch: Entscheidend ist, glaube ich, dass in England zweimal Kriege geführt werden im 17. Jahrhundert, in denen es für das Parlament auch um die Verteidigung des politischen Systems geht. Für die Mehrheit der Abgeordneten war klar: Wir müssen diesen Krieg gewinnen. Und wenn wir ihn verlieren, dann heißt das nicht nur, dass sich politisch hier viel zu unseren Ungunsten verändert, sondern dann landen wir auf Tower Hill und werden hingerichtet. Das ist im Bürgerkrieg so. Man muss den Krieg gewinnen gegen den König, sonst wird man eben auch politisch bestraft. Und es ist erneut so, in den 1690er Jahren in dem 9-jährigen Krieg 1689 – 1697. Wenn man den verloren hätte gegen Frankreich, wäre Jakob II. zurückgekehrt mit vielen unangeneh-

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men Konsequenzen für diejenigen, die Wilhelm III. unterstützt hatten. Es geht um die Existenz. Und in dieser Situation folgen Modernisierungsschritte. Man muss zusätzlich sagen, die englische composite monarchy unterscheidet sich von der spanischen wesentlich dadurch, dass England klar dominiert, wirtschaftlich und auch demographisch. Schottland und Irland haben bei weitem nicht das Gewicht wie die Nebenländer in der spanischen Monarchie um 1600, zu denen Portugal, Neapel, Sizilien, Mailand usw. gehören. Die peripheren Länder brauchen gar keinen großen Beitrag zu leisten. Dieses Geld kann man in England und Wales generieren, sie dürfen nur nicht in Rebellion verfallen. Das ist ein Problem. Was dann zur Überlegenheit Englands im 18. Jahrhundert beiträgt, ist ein modernes Kreditsystem, wo die Gläubiger im Parlament selbst sitzen und schon deshalb ein Interesse daran haben, ausreichend Steuern zu bewilligen, denn sonst bleiben sie auf ihren Anleihen sitzen. Die Gründung der Bank of England gehört natürlich zu diesem Modernisierungsprozess. Carl: Eine kurze Nachfrage noch zu Spinola als Kriegsunternehmer par excellence. Die Frage ist, wie kann man ihn mit Wallenstein parallelisieren. Du hast ja ein Angebot gemacht. Drei Punkte dazu: Das ist ja niemand wie Essex, der den Krieg als Lebensformat hat. Spinola ist 1609 für den Waffenstillstand. Er zeigt konfessionell durchaus ja eine ökonomische Variabilität, jedenfalls lässt er auch Amsterdamer Kapital in die eigene Kriegsführung einfließen. Und letztlich auch die Parallele eines dezidiert ökonomischen Zugangs zur Profession des „Kriegsunternehmers“, weniger aber eines speziell adligen Zugangs. Das zeigt sich ja auch am jeweiligen Habitus. Beide, Spinola und Wallenstein, scheitern doch auch. Spinola wird in den 1620er ja in einer Art und Weise am Madrider Hof kaltgestellt, dass ihm gerade mal eine Hinrichtung erspart wird. Die Frage ist: Haben wir es da nicht mit einem sehr spezifischen Typ von Kriegsunternehmer zu tun, der eigentlich weniger in einem adeligen Kontext verankert ist, als vielmehr in einem genuin ökonomischen Zugang zum Krieg. Dies wäre dann die grundlegende Parallele zu Wallenstein. Asch: Spinola wird vorgeworfen, sowohl 1609 als auch in den 1620er Jahren, er würde nicht auf einen Sieg-Frieden setzen, weil er sonst seine Investments gefährdet sieht. Das wird ihm vorgeworfen. Ob das stimmt, ist eine zweite Frage. Er sei deshalb zu zögerlich. Ob man den adligen Habitus so klar trennen kann von dem des Finanziers, ist die Frage. Er kommt ja aus Norditalien, wo die städtischen Eliten adlig sind und trotzdem Finanzgeschäfte betreiben. Die Medici haben so auch angefangen. Von Wallenstein unterscheidet er sich dadurch, dass er in den südlichen Niederlanden eine starke Position besitzt, auch am Hof Albrechts und Isabellas. Die burgundischen Lande sind ja nach dem Tod Philipps II. nominell unabhängig von Madrid unter Erzherzog Albrecht und dessen Gattin. Und Erzherzog Albrecht ist daran interessiert, die Abhängigkeit von Mailand, die militärisch ja weiterbesteht, zu lockern und deshalb unterstützt er Spinola. Nach Albrechts Tod 1621 wird die Lage natürlich schwieriger, trotz der großen Erfolge, die er erringt. Und es gibt die Rivalität zu Olivares. Aber die Spinola haben Netzwerke im ganzen spanischen Reich. Er ist dadurch natürlich abgesichert. Die Änderung tritt ein Ende 1620er Jahre, auch weil die genuesischen Bankiers ersetzt werden durch die portugiesischen Neuchristen. Sie übernehmen die

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Rolle der genuesischen Bankiers, zumindest teilweise. Und damit entfällt Spinolas Machtbasis ein Stück weit auch in der Finanzierung der Kriege. Westphal: Auch von meiner Seite aus, herzlichen Dank. Es ist schon vieles gefragt worden. Ich würde gern nochmals einen Blick auf die europäische Perspektive richten wollen. Sie haben die beiden Beispiele losgelöst von den europäischen Verflechtungen der Zeit skizziert. Mich würde interessieren, inwiefern sich an dem Beispiel das Streben nach europäischer Hegemonie schon abbildet, ob das nicht wie ein großes Panorama darüber zu sehen ist. Die zweite Frage ist: Sie haben immer wieder gesprochen von der Professionalisierung der Geldwirtschaft. Geht diese Professionalisierung bei der Militarisierung oder bei diesen Einsätzen des Militärs oder den spezifischen Einsätzen voraus? Also, ermöglicht erst diese Professionalisierung der Geldwirtschaft diese Art der Kriegsführung? Asch: Auf der europäischen Ebene stellt sich die Lage so dar: In Spanien war in den 1590er Jahren, also noch unter Philipp II., klar: Wir können unsere Gegner nicht besiegen. Es geht um einen ehrenhaften Frieden, sicherlich mit einer gewissen Vorrangstellung in Europa, aber die Ziele werden doch begrenzter. Es gibt allerdings in Spanien unter Lerma den Streit darüber, wie viel Zugeständnisse man machen darf. Und der Waffenstillstand von 1609 ist umstritten. Man fragt sich, ob man sich darauf hätte einlassen dürfen oder besser nicht. Diejenigen, die dagegen argumentieren, sagen nicht: Wir müssen ganz Europa beherrschen. Sie verweisen aber auf die Reputation der Monarchie. Das Ansehen der Monarchie sei das Entscheidende und wenn man zu viele demütigende Konzessionen mache, dann werde dieses Ansehen untergraben und das werde dann auch nicht honoriert. Aber was unbestritten ist, und das bestätigen auch die Beichtväter der Krone, das hat die neue Arbeit von Nicole Reinhardt gezeigt: es gibt keine Pflicht, Ketzer mit Gewalt zu bekehren. Wenn Häretiker unbedingt in die Hölle fahren wollen, Pech für sie. Aber wir haben keine Pflicht, dafür Millionen von Dukaten auszugeben, um ihre Seele mit Gewalt zu retten. Aber was man immer wieder wollte, war offizielle Toleranz für die Katholiken in den nördlichen Niederlanden. Das hat man schon gewollt, aber nicht erreicht. Aber es ist nicht so, dass man eine Pflicht zum heiligen Krieg sieht. Aber die Militärs im Staatsrat sagen immer: Was haben wir denn von den Zugeständnissen? Unsere Gegner führen im kolonialen Bereich weiter Krieg gegen uns, sie werden immer stärker. So viele Einsparungen haben wir auch nicht. Das Geld, was wir in den Niederlanden einsparen, müssen wir in Norditalien im Kampf gegen Savoyen wieder ausgeben. Deshalb setzt sich am Ende um 1618 – 20 auch die Richtung mit dem Sturz von Lerma durch, die sagt: Auch wenn wir uns den Krieg nicht leisten können, den wir jetzt führen, besser als der status quo ist es immer noch. Aber es ist nicht das Ziel, ganz Europa zu dominieren. Man weiß das, das ist eine Illusion. Härter: Vielen Dank Herr Asch, dass Sie uns eindrucksvoll am Beispiel Spaniens und Englands einen weiteren wichtigen Wirkungszusammenhang zwischen Krieg und Verfassung aufgezeigt haben. Kriegsführung produziert auch politische Konflikte und Revolten im inneren eines Herrschaftssystems, z. B. bezüglich solcher Pro-

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blemfelder wie der Autonomie von Provinzen oder der Stellung des Adels. Insofern möchte ich Sie fragen, welche Auswirkungen auf die Verfassungsentwicklung dieser Wirkungszusammenhang hat, insbesondere auch im Hinblick auf juridisch-politische oder staatsrechtliche Diskurse, über die wir noch kaum gesprochen haben. Stichwort für den spanischen Diskurs wäre das Widerstandsrecht und die Frage der Autonomie. Asch: Das ist jetzt eine sehr weit angelegte Frage. In England ist es so, dass in den 1620er Jahren, als Truppen einquartiert werden in den Hafenstädten, Matrosen aber auch Landtruppen, wo es Übergriffe gibt, die Rechtssicherheit für die Zivilbevölkerung zur entscheidenden Frage wird, die im Parlament und von den Juristen thematisiert wird. Es darf kein Kriegsrecht geben, also im eigenen Land darf kein Kriegsrecht herrschen. Die Privilegien, die man hat, Unverletzlichkeit des Eigentums, der persönlichen Freiheit, die dürfen auch in Kriegszeiten nicht in Frage gestellt werden. Daraus geht die Petition of Rights hervor 1628, die der König unter Vorbehalten annimmt. Das führt zu einer Grundsatzdiskussion, genauso wie die Finanzierung, auf die ich nicht eingegangen bin, der Flotte über ship money, wo der König einen Notbehelf, den Elisabeth auch verwandt hatte, nutzt, in einer Situation, in der eine äußere Gefahr angeblich erkennbar ist. Im Case of Ship Money entscheiden die Richter mit knapper Mehrheit: The king is the sole judge of the danger. Wir sehen zwar keine feindliche Flotte, aber wenn der König sie sieht, reicht das ja. Man könnte das mit dem EuGH vergleichen, der bei Anleihekäufen auch stets sagt: Draghi (oder Lagarde) is the sole judge of the danger. In England führten die Notmaßnahmen zu schweren Konflikten. Anders in Spanien. Hier gibt es eine ausgeprägte Widerstandstheorie, die auch von Katholiken in anderen europäischen Ländern rezipiert wird, die sich aber an sich nicht gegen den eigenen König richtet. Die traditionelle Steuerverfassung kommt dennoch an ihre Grenzen. Der Krieg lässt sich auf diese Weise nicht mehr finanzieren. Vielmehr verpflichten sich jetzt Adlige, Soldaten zu rekrutieren oder die Truppen mit Lebensmitteln zu beliefern, und dafür erhalten sie Besteuerungsrechte. Der König überlässt ihnen nutzbare Hoheitsrechte oder stellt ihre eigenen Besitzungen von Besteuerung frei. Es ist der Prozess, den man Refeudalisierung genannt hat und der in Spanien selbst nicht so starke dauerhafte Wirkungen gehabt hat wie in Süditalien. Denn in Sizilien und Neapel sind immer wieder Gläubiger der Krone, oft auch Genuesen, abgefunden worden, indem man gesagt hat, dieses Dorf oder diese Gruppe von Dörfern gehört jetzt dir, da übst du jetzt die Jurisdiktion aus, du nimmst die Steuern ein, wir mischen uns da nicht ein. Aber damit sind wir unsere Schulden los. Das hat dort schon Wirkungen gehabt, die dann bis ins 19. Jahrhundert reichten. Gosewinkel: Ich würde Herrn Härters Frage nochmals zuspitzen. Was den Zusammenhang zwischen Verfassung und Krieg angeht, folgen ja aus dem, was Sie eindrucksvoll gegenübergestellt haben, zwei verschiedene Ergebnisse. Während in Spanien zeitweilig die Cortes wiederbelebt werden, dann aber wohl wieder in eine relative Bedeutungslosigkeit verfallen…

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Asch: Die treten irgendwann nicht mehr zusammen. Gosewinkel: …erlebt in England der Parlamentarismus doch einen starken Aufschwung. Kann man daraus, ausgehend davon, dass es zwei unterschiedliche Wege sind, etwas Systematisches ableiten? Asch: Das hängt jedenfalls nicht nur an diesen Kriegsereignissen, sondern in England ist das Gefühl stärker, dass der High Court of Parliament das entscheidende Palladium der Freiheit überhaupt ist. Es sind zwei Dinge, die im Parlament so viel Rückhalt verschaffen. Das eine ist der Glaube, dass es keine Rechtssicherheit mehr gäbe, wenn das Parlament verschwindet. Das ist in Spanien nicht so, denn die ganze königliche Verwaltung ist geprägt durch die Sakralisierung des Rechtes, die auch unzählige lokale Privilegien absichert. Und das zweite ist, wenn das Parlament verschwindet, ist auch der protestantische Glaube nicht mehr sicher. Zu Beginn des Bürgerkriegs ist das auf parlamentarischer Seite ein ganz entscheidendes Argument. Wenn der König sich durchsetzt, wenn wir ein autoritäres Regiment bekommen, müssen wir damit rechnen, dass die Reformation, so wie in den 1550er Jahren, rückabgewickelt wird. Es gibt Theologen auf der Seite des Parlamentes, die sagen, dieser Krieg ist ein heiliger Krieg. Zwar sagen Prediger auf Seiten des Parlaments: Nein, man darf Katholiken nicht deshalb töten, weil sie Katholiken sind. Aber man darf sie umbringen und alle die mit ihnen sympathisieren, weil sie gegen die Verfassung, gegen das Rechtssystem Englands sind. Wir kämpfen für dieses Rechtssystem, und weil sie Katholiken sind, lehnen sie dieses Recht ab. Der Krieg für die Verfassung ist auch ein heiliger Krieg. Weil die, die den falschen Glauben haben, das ja praktisch notwendigerweise ablehnen. Diese Identifikation von Protestantismus und freiheitlicher Verfassung, wurde im 18. Jahrhundert auf den Nenner gebracht: Man kämpfe gegen popery and wooden shoes. Schilling: Spielt womöglich eine Rolle, dass jene Eliten, die in Spanien in den Cortes vertreten sind, und jene, die im englischen Parlament vertreten sind, von ihrer sozialen Herkunft und ihren Verbindungen zum Kapitalmarkt her sich unterscheiden? Asch: In Kastilien gibt es seit dem späten 16. Jahrhundert auch eine demographische und ökonomische Krise. In den Cortes gibt es ja nur noch 18 Städte. Der Adel ist ein eigener Stand, der Klerus ist auch nicht mehr vertreten. Für die Finanzierung der Krone ist er sehr wichtig. Allerdings da der Adel zum Teil in den Städten ansässig ist, ist er über die Stadt doch vertreten. Aber zunächst sind es nur die Städter, und der hohe Adel geht direkt zum König. Er antichambriert am Hof, die Cortes sind für ihn nicht entscheidende. Es gibt kein Oberhaus, keinen Herrenstand in den Cortes. Insoweit ist das englische Parlament repräsentativer in der Art, wie es das Land vertritt. Brauneder: Sie haben es kurz erwähnt bei England: Kampf um das eigene Rechtssystem. Das fragte ich mich schon vorher. Spielte das eine Rolle, die Überzeugung: wir haben das common law, das case law, unsere Gerichte usw. Beim absoluten Recht

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am Kontinent würden wir befürchten, da kommt das römische gemeine Recht über uns herein. War das präsent? Asch: Ja, das war sehr präsent. Es gibt ja den Juristen Sir Edward Coke im frühen 17. Jahrhundert, der als einer der Helden des englischen Rechts gilt neben Blackstone. Coke trat auch auf als Kritiker königlicher Maßnahmen, nachdem er sich mit dem König endgültig zerstritten hatte, und der sehr stark den Mythos des common law geschaffen hat. Erstens: dieses common law hat es immer schon gegeben, schon bei den Angelsachsen, wenn nicht schon vor den Römern. Das römische Recht, das er durchaus kannte, ist eine Gefährdung dieses Freiheitsrechts. Es ist absolutistisch. Es gibt in England ja Legisten, es gibt Römisch-Rechtler, die arbeiten für die kirchlichen Gerichtshöfe und für die Admiralität. Es ist eine relativ kleine Schar, aber die gibt es. Und an den Universitäten wird das römische Recht unterrichtet, nicht das common law. Das wird an den Inns of Court unterrichtet. Es gibt einzelne Interpretationen, ein Rechtswörterbuch, Cowell’s Interpreter, wo die These vertreten wird: Niemand außer dem König hat volles Eigentum. Letztlich ist der König für alles Land Obereigentümer. Die anderen haben nur ein dominium utile. Das war in einer Situation, in der man sich über das Besteuerungsrecht des Königs streitet eine brisante These. Es gibt diese Konfrontation zwischen Common Lawyers und Legisten, wobei faktisch, das hat zum Beispiel Hans Pawlish gezeigt in seiner Arbeit über den Juristen Sir John Davies, die Common Lawyers ja das römische Recht viel besser kannten, als sie je zugegeben haben. Die unvollständige Systematisierung des common law, die man auch bei Coke findet, ist auch von den Institutionen des corpus iuris beeinflusst. Auch wenn die Common Lawyers das nicht zugegeben haben. Aber das spielte eine Rolle. Das römische Recht, so argumentieren Juristen wie Coke, sei absolutistisch. Es gab in der Tat kirchliche Gerichtshöfe mit Inquisitionsverfahren, also nicht mit Folter, aber der Angeklagte musste Fragen beantworten und die Richter haben selbst die Wahrheitssuche übernommen, was ja im englischen Prozessrecht nicht der Fall ist. Das traf vor allem Puritaner und wurde von ihren juristischen Verbündeten unter den Common Lawyers als willkürlich dargestellt, als Vorgeschmack auf eine Welt der Willkürherrschaft. Schilling: Eine letzte Frage von Andreas Thier. Thier: Keine Frage, sondern mehr eine Intervention. So hatten wir das gestern genannt. Diese mögliche rechtliche Interpretation, also dominus mundi und dominium utile, ist, wenn sie so wollen, eine absolutistische Auslegung eines Gesetzes, die wir im Mittelalter haben. Also die Frage, ob der Kaiser der Eigentümer der Welt ist, also der domimus mundi. Es ist ganz interessant, dass die Legistik im späten Mittelalter sagt: Nein, das kann man nicht so sagen. Es ist interessant, dass das jetzt absolutistisch gewendet wird. Das wissen Sie besser als ich, dass wir im England des 17. Jahrhunderts auch mit Filmer in der politischen Theorie das Pendant dazu haben. Ich vermute, da würden Sie zustimmen. Schilling: Ich danke ganz herzlich für den sehr interessanten Vortrag und die ebenso interessante Diskussion.

Verstaatung der politischen Gewalt Brandenburg/Preussen von der Mitte des 17. zur Mitte des 19. Jahrhunderts Von Wolfgang Neugebauer, Berlin Die Frage nach „Verfassung und Krieg in der Verfassungsgeschichte“ wird in je verschiedener Weise beantwortet werden, je nachdem, welche Begriffe von Verfassung und Krieg der Untersuchung zugrunde gelegt werden. Wird nach politischen Institutionen, zunehmend auf der Basis spezifischer Verfassungsgesetze konstituiert, gefragt,1 so werden kriegerische Belastungsphasen oder -krisen sehr viel eindeutiger mit strukturellen Wandlungen in Beziehung stehen, als wenn ein weiterer Verfassungsbegriff dominiert. Im Falle der brandenburg-preußischen Geschichte – aber nicht nur hier2 – haben der Dreißigjährige Krieg und sodann der Nordische Krieg der 1650er-Jahre eine Amtsträgerschicht erwachsen lassen, die als Kriegskommissare oder „Intendanten“ bis zum Ende des Ancien Régime bedeutsam war3 und in der 1

Vgl. schon Hans Boldt, Einführung in die Verfassungsgeschichte. Zwei Abhandlungen zu ihrer Methodik und Geschichte, Düsseldorf 1984, S. 18 f., S. 21 – 23 (Institutionen); zuletzt Hans-Christof Kraus, Carl Schmitts „Verfassungslehre“: Systementwurf und Zeitdiagnose, in: Detlef Lehnert (Hrsg.), Verfassungsdenker. Deutschland und Österreich 1870 – 1970, Berlin 2017, S. 263 – 288 (266 – 268); Carl Schmitt, Verfassungslehre, 5. Aufl., Berlin 1970, S. 3, 20 – 22; Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30./31. März 1981, Berlin 1983, S. 7 – 21 (8); jüngste knappe Skizze: Michael Stolleis, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Materialien, Methodik, Fragestellungen, Berlin/Boston 2017, S. 20 f. Das Ms. abgeschlossen im Mai 2018 (W. N.). 2 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Staat – Krieg – Kooperation. Zur Genese politischer Strukturen im 17. und 18. Jahrhundert, Historisches Jahrbuch 123 (2003), S. 197 – 237 (208 – 216); Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg als Staatsbildungskrieg, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994), S. 487 – 499, bes. S. 490; ders., Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt a. M. 1992, S. 24, 26 – 63; siehe auch Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 59 – 68; für West- und Südeuropa: Ronald G. Asch, Kriegsfinanzierung, Staatsbildung und ständische Ordnung in Westeuropa im 17. und 18. Jahrhundert, Historische Zeitschrift 268 (1999), S. 635 – 671, bes. S. 642 – 644, 647 f., 655 – 663 und passim. 3 Otto Hintze, Der Commissarius und seine Bedeutung in der allgemeinen Verwaltungsgeschichte. Eine vergleichende Studie, zuerst 1910, wieder in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. von Gerhard Oestreich, 3. Aufl., Göttingen 1970, S. 242 – 274; Klaus Malettke, „Trésoriers Généraux de France“ und Intendanten unter Ludwig XIV. Studien zur Frage der Beziehungen zwischen „Officiers“ und „Commissaires“ im 17. Jahrhundert, Historische Zeitschrift 220 (1975),

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preußischen Staatsgeschichte diejenigen Institutionen prägte, die im 18. Jahrhundert als „Kriegs“-Kammern oder -direktorien bezeichnet wurden, auch wenn sie mit der eigentlichen Kriegsführung gar nichts zu tun hatten.4 In der Zeit der napoleonischen Kriege übernahm Preußen – im europäischen Vergleich mit einiger Verspätung – die Strukturen moderner Ministerialorganisation. Dies ist so bekannt,5 dass es hier nicht weiter auszuführen ist. Der Siebenjährige Weltkrieg zeitigte nicht annähernd ähnliche Auswirkungen auf die politischen Organe, die Kommissariatshierarchie mit dem Generaldirektorium in der Zentrale und auf das „Kabinett“ des Königs an der Spitze.6 Die Forschung hat – mit dem Interpretationsmodell der Staatsbildung7 – diese Zusammenhänge eingehend und in komparatistischer Perspektive offengelegt, und das durchaus nicht nur für die monarchische Seite des Prozesses.8 Ganz anders würde das Ergebnis aussehen, wenn mit einem weiten, an Carl Schmitt und Otto Brunner oder dem späten Ernst-Rudolf Huber9 angelehnten Verfassungsbegriff gearbeitet würde, wenn er einen „Gesamtzustand politischer Einheit und Ordnung“10 meinte und in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, ja bis in die historische Soziologie ausgriffe und zu einer Analyse „konkrete[r] Ordnungen“ erweitert würde.11 Gerade am Beispiel S. 298 – 323 (304 – 306), auch zu älteren Vorläufern; Richard Bonney, Political Change in France under Richelieu and Mazarin 1624 – 1661, Oxford 1978, S. 30 – 33, 50 (Schaubild), 134 – 159 u. ö.; Annette Smedley-Weill, Les Intendants de Louis XIV, Paris 1995, S. 28 – 37. 4 Mit dem Nachweis der klassischen verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichen Literatur Wolfgang Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit: Politik und Staatsbildung im 17. und 18. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 1, Berlin/New York 2009, S. 113 – 407 (266 – 270, 274); zu Wirkungen der Nordischen Kriege: ders., Staat – Krieg – Korporation (Fn. 2), S. 216 f. (u. a.: Generalkriegskommissariat 1650/60 ff.). 5 Otto Hintze, Die Entstehung der modernen Staatsministerien. Eine vergleichende Studie, zuerst 1908, wieder in: ders., Staat und Verfassung (Fn. 3), S. 275 – 320 (Preußen um 1800: 313 – 315; Westeuropa seit 1783: 307 – 312); Hans Haussherr, Verwaltungseinheit und Ressorttrennung vom Ende des 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Berlin 1953, S. 189 – 204 (Preußen und die Rheinbundstaaten); Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, Nachdruck der 2. Aufl., Stuttgart u. a. 1975, S. 145 – 152. 6 Vgl. nur Wolfgang Neugebauer, Zur neueren Deutung der preußischen Verwaltung im 17. und 18. Jahrhundert in vergleichender Sicht, zuerst 1977, überarbeitet in: Otto Büsch/ Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Moderne Preußische Geschichte 1648 – 1947. Eine Anthologie, Bd. 2, Berlin/New York 1981, S. 541 – 597 (554 – 557). 7 Vgl. nur Wolfgang Neugebauer, Otto Hintze. Denkräume und Sozialwelten eines Historikers in der Globalisierung 1861 – 1940, Paderborn 2015, S. 106 – 116, auch zu den Traditionen seit Ranke. 8 Vgl. Neugebauer, Staat – Krieg – Korporation (Fn. 2), passim. 9 Vgl. Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme (Fn. 1), S. 10 f.; Stolleis, Verfassungsund Verwaltungsgeschichte (Fn. 1), S. 22 f., auch zu Brunner. 10 Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 1), S. 3. 11 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, 3. Aufl., Brünn 1943, Zitat S. 140, vgl. weiter 131, 133 („Soziologie“) und wichtig 147 – 150 („konkrete(s) Verfassungsgefüge“); ders., Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, zuerst 1939, Neufassung in:

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Brandenburg-Preußens wurde gezeigt, dass die ländlichen Herrschaftswelten lange vor den politischen und den Kriegszäsuren um 1800 in Bewegung geraten waren und dass dies Wirkungen auf Verfassungsdiskussionen in den Landschaften des preußischen Staates zeitigte, lange vor den Jahren Steins und Hardenbergs.12 Verfassungsfrage und Bildungsreformen13 waren in Preußen durchaus nicht erst Themen der Humboldt-Zeit. Die Frage nach dem Verhältnis von Verfassung und Krieg, das sei nun nur noch angedeutet, wird ebenso ganz verschieden beantwortet werden, wenn die Veränderungen des Kriegsbegriffs ins Kalkül gezogen werden. Eine Betrachtung, die von der Frühen Neuzeit bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts geführt wird, berührt ja jene modernen Epochen, in denen schon systematische, klassische Staatenkriege neben asymmetrische Formen politischer Gewalt, solche von Partisanen- und Bürgerkrieg treten, d. h. zwischen „Wir“ und „Nichtwir“ nicht mehr an politischen Grenzen entschieden wird, dafür aber das Freund-Feind-Verhältnis nach innen, in den Staat hinein, verlagert wird, mit der (längerfristigen) Konsequenz von Bürgerkriegen.14 Die Diskussion darüber berührte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Hellmut Kämpf (Hrsg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter, Darmstadt 1974, S. 1 – 19 (5 f.), eine Studie, die Schmitt und Huber intensiv diskutiert; Boldt, Einführung (Fn. 1), S. 25 („Soziologisierung des Verfassungsbegriffs“). 12 Vgl. das Resümee bei Wolfgang Neugebauer, Das alte Preußen. Aspekte der neuesten Forschung, Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 463 – 482 (478 – 481); Pilotstudie: Lieselott Enders, Emanzipation der Agrargesellschaft im 18. Jahrhundert. Trends und Gegentrends in der Mark Brandenburg, in: Jan Peters (Hrsg.), Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Über Resistenz- und Herrschaftsverhalten in ländlichen Sozialgebilden der Frühen Neuzeit, Göttingen 1995, S. 404 – 433 (408 – 410, 414 – 417: „Verbürgerlichung der Agrargesellschaft“ im 18. Jh., 430 – 433); politisch: Wolfgang Neugebauer, Standschaft als Verfassungsproblem. Die historischen Grundlagen ständischer Partizipation in ostmitteleuropäischen Regionen, Goldbach 1995, für Preußen S. 62 – 67; zur Diskussion um „Verfassung“ in Preußen seit den 1780er-Jahren ders., Verfassungswandel und Verfassungsdiskussion in Preußen um 1800, in: Alois Schmid (Hrsg.), Die bayerische Konstitution von 1808. Entstehung – Zielsetzung – Europäisches Umfeld, München 2008, S. 147 – 177, passim, 154: „ständische Verfassung“, 1786/87. 13 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Bildungsreformen vor Wilhelm von Humboldt. Am Beispiel der Mark Brandenburg, Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 41 (1990), S. 226 – 249; Jens Bruning, Das pädagogische Jahrhundert in der Praxis. Schulwandel in Stadt und Land in den preußischen Westprovinzen Minden und Ravensberg 1648 – 1816, Berlin 1998, bes. S. 265 – 275, 308 f., 328 – 334 u. ö.; Wolfgang Neugebauer, Preußen als Kulturstaat, Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte [im Folgenden: FBPG] Neue Folge [NF] 17 (2007), S. 161 – 179, bes. S. 168 – 171, und ders., Die Schulreform des Junkers Marwitz. Reformbestrebungen im brandenburg-preußischen Landadel vor 1806, in: Peter Albrecht/Ernst Hinrichs (Hrsg.), Das niedere Bildungswesen im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, Tübingen 1995, S. 259 – 288. 14 Sehr lehrreich (und aktuell) Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, S. 32 f.; vgl. damit (und ohne Bezug auf Carl Schmitt) Wolfram Siemann, Heere, Freischaren, Barrikaden. Die bewaffnete Macht als Instrument der Innenpolitik in Europa 1815 – 1847, in: Dieter Langewiesche (Hrsg.), Revolution und Krieg. Zur Dynamik historischen Wandels seit dem 18. Jahrhundert, Paderborn

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den innerpreußischen Kampf um die staatliche Organisation der politischen Gewalt, also um die Wehrverfassung.15 Damit haben wir jenes Thema erreicht, das im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen soll, die Organisation kriegerischer Potentiale in Brandenburg bzw. Preußen von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Nicht im traditionellen Sinne um das Verhältnis von „Staatsverfassung und Heeresverfassung“16 soll es hier gehen, eher um die Stellung und Organisation „staatlicher“ Gewalt im konkreten Ordnungsgefüge dieser Epochen, da der Begriff des Staates in seiner Bedeutung für diese Materie nicht vorausgesetzt werden soll, sondern im Zuge der Forschungen erst zu überprüfen ist. Was ist damit gemeint? Bis vor kurzem schien es keiner Nachfrage zu bedürfen, ob die Ordnung militärischer Potentiale im Preußen der Frühen Neuzeit, der Epoche der „Verstaatlichung des Krieges“,17 ein Reservat der monarchischen Gewalt gewesen sei. Bei allen, stets wachsenden Zweifeln an der Tragfähigkeit des traditionellen Absolutismus-Begriffs18 galten doch Außenpolitik und Militär als Bereiche, aus denen die Landstände – jedenfalls im Preußen des 18. Jahrhunderts – verdrängt worden seien, und zwar „vollständig“.19 Da hätten die Könige doch „absolut“ regiert. Aber selbst diese Weisheit gehört nicht zu den unanfechtbaren, wie überhaupt die Forschung – trotz schwerster Quellenverluste in der militärgeschichtlichen Überlie-

1989, S. 87 – 102 (93 f.); vgl. grundsätzlich Carl Schmitt, Theorie der Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, 3. Aufl., Berlin 1992, in unserem Kontext bes. S. 45 – 53; mit weitem Blick Münkler, Die neuen Kriege (Fn. 2), S. 190 f., und ders., Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2006, etwa S. 139 – 144. 15 Friedrich Meinecke, Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, 2. Bd., Stuttgart 1899, S. 356 – 389; Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland, 1. Bd., 4. Aufl., München 1970, S. 138 f.; Heinz Stübig, Die Wehrverfassung Preußens in der Reformzeit. Wehrpflicht im Spannungsfeld von Restauration und Revolution 1815 – 1860, in: Roland G. Foerster (Hrsg.), Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung, München 1994, S. 39 – 53 (50 f.). 16 Klassiker: Otto Hintze, Staatsverfassung und Heeresverfassung, zuerst 1906, wieder in: ders., Staat und Verfassung (Fn. 3), S. 52 – 83 (69 – 78). 17 Münkler, Die neuen Kriege (Fn. 2), S. 67, 91. 18 Statt der breiten Diskussion als Klassiker: Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, zuerst 1969, wieder in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 179 – 197, bes. S. 182 – 187. 19 So z. B. Otto Hintze, Der österreichische und der preußische Beamtenstaat im 17. und 18. Jahrhundert, zuerst 1901, wieder in: ders., Staat und Verfassung (Fn. 3), S. 321 – 358 (326): Stände im Preußen des 18. Jahrhunderts „vollständig […] aus der Militär- und Steuerverwaltung verdrängt.“ Ähnlich noch Lieselott Enders, Brandenburgische Regionen um 1750 und danach im Vergleich. Beitrag zum Tagungsmotto „Verfassung und Lebenswirklichkeit“, in: Matthias Manke (Hrsg.), Verfassung und Lebenswirklichkeit. Der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich von 1755 in seiner Zeit, Lübeck 2006, S. 385 – 411 (386).

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ferung 194520 – auch auf dem Arbeitsgebiet der militärischen Geschichte Preußens zu erheblichen Revisionen vorgestoßen ist. Die Einzigartigkeit des preußischen Militär- und Gesellschaftssystems,21 der quasi preußische Sonderweg, ist ausgerechnet in der englischen Forschung nachhaltig bestritten worden, und zwar auf der Basis von Forschungen zu Krieg und Kriegsfinanzierung im alten England.22 Dabei war die frühere Sonderwegsthese eng verflochten mit der Behauptung eines preußischen Militarismus schon im 18. Jahrhundert, verbunden mit der Vorstellung einer verhängnisvollen Verbindung von Militär- und Sozialleben unter den spezifischen Verhältnissen der ostelbischen Gutsherrschaft – eine These, die der Nachprüfung an dem seit dem 1990er-Jahren neu erschlossenen Archivmaterial nicht standgehalten hat.23 Jüngst wurde argumentiert, dass die archivalisch gestützte Forschung zum altpreußischen Militärsystem keine „nachhaltige Durchdringung der Gesamt-Gesellschaft mit militärischen Verhaltensformen und Wertvorstellungen“ aufgezeigt habe, vielmehr aber eine je besondere „Regimentskultur [als] Basis einer spezifisch preußischen Militärsozialisation im 18. Jahrhundert“.24 Zudem müsste, wenn ein sozialer „Militarismus“ vom 18. bis in das 20. Jahrhundert gewirkt haben sollte, dessen Kontinuität über die Reformperiode des frühen 19. Jahrhunderts hinaus bewiesen werden.25 Aber es ist höchst fraglich, ob für Preußen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts überhaupt von „Militarismus“ gesprochen werden kann.26 Das Konzept des „Militarismus“ ist für unser Objekt also fraglich geworden und auch der Ansatz, der die Entwicklung kriegerischer Staatspotentiale aus dem preußischen „Absolutismus“ herleiten will. Das Verhältnis von Monarch und (adligem) Offizier war im 18. Jahrhundert ein hochkomplexes, eines, das durchaus nicht aus 20

Zur Forschungs- und Archivlage seit 1945 mit weiteren Literaturangaben Wolfgang Neugebauer, Preußen in der Historiographie. Epochen und Forschungsprobleme der Preußischen Geschichte, in: ders. (Hrsg.), Handbuch (Fn. 4), Bd. 1, S. 3 – 109 (75 f.). 21 Beispiel: Geoffrey Best, War and Society in Revolutionary Europe, 1770 – 1870, Fontana 1982, S. 36 f., 150 (37: Militarisierung des Adels). 22 John Brewer, The Sinews of Power. War, Money and the English State, 1688 – 1783, Cambridge, MA 1990, S. 40 – 42 (61 f.). 23 Siehe grundsätzlich Carmen Winkel, Im Netz des Königs. Netzwerke und Patronage in der preußischen Armee 1713 – 1786, Paderborn u. a. 2013, S. 20; Jürgen Kloosterhuis, Kantonsystem und Regimentskultur. Katalysatoren des preußischen Militärsozialisationsprozesses im 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Oppenheim-Vorlesungen zur Geschichte Preußens, Berlin 2014, S. 77 – 139 (77 f., 83 f.: Frage der „Kongruenz zwischen Gutsherrn und Kompaniechef“). 24 So Kloosterhuis, Kantonsystem und Regimentskultur (Fn. 23), S. 100 f. 25 Nur im Buchtitel, nicht im Buch selbst suggeriert oder gar bewiesen von Otto Büsch, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713 – 1807. Die Anfänge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft, Berlin 1962. 26 Vergleiche jetzt Bernhard R. Kroener, Integrationsmilitarismus – Zur Rolle des Militärs als Instrument bürgerlicher Partizipationsbemühungen im Deutschen Reich und in Preußen im 19. Jahrhundert bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges, in: ders., Kriegerische Gewalt und militärische Präsenz in der Neuzeit. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Ralf Pröve/Bruno Thoß, Paderborn u. a. 2008, S. 83 – 107 (89); vgl. unten bei Fn. 206.

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bloßer Unterordnung und blindem Gehorsam erklärt werden kann, vielmehr als „Aushandlungsprozess“ in Relation zu teil-autonomen sozialen Netzwerken zu verstehen ist. Dies heißt, dass vor der Vorstellung einer frühen „Verstaatlichung des Militärs“ zu warnen ist,27 dass die Rolle des Adels und seiner Eigendynamik stärker beachtet werden sollte im konkreten Ordnungsgefüge der aristokratischen Welt von Spät-Alteuropa. Dazu passt, dass seit einigen Jahren sogar fraglich geworden ist, ob die Sicht zutrifft, nach der die organisierten Eliten der territorialen Landstände im preußischen „Absolutismus“ mit dem Militär schlechterdings nichts mehr zu tun gehabt hätten. Es wird sich zeigen, dass das Verhältnis von (adligen) Ständen und preußischem Militär auch noch im 18. Jahrhundert auf vormoderne Traditionen verweist.28 So gesehen – und das ist die zentrale These – ist die Verstaatung politischer Gewalt in Gestalt des preußischen Militärsystems ein langwährender Prozess, der nicht im „Absolutismus“, sondern erst am Ende der Reformzeit um 1819 zum Abschluss gelangte. Auch damit wird das Bild vom „Alten Preußen“ alteuropäischer, traditionaler – und vielleicht auch normaler. Im 17. Jahrhundert waren die brandenburgischen Kurfürsten zunächst bestrebt, erstens einen rudimentären Miles perpetuus aufzubauen und zweitens – und das war ein Problem für sich – tatsächlich die Regimenter – sagen wir vage – in die Hand zu bekommen. Streit herrschte unter den Spezialisten der älteren preußischen Militärgeschichte, was eigentlich das Geburtsjahr der preußischen Armee gewesen ist. Vielfach täuscht aber die Interpretation ex post, die eine lineare, quasi notwendige Entwicklung suggeriert. Brandenburg-Preußen war seit 1626/27 im Osten und in den Gebieten an Elbe und Oder in die großen europäischen Konflikte verstrickt29 ohne irgend ausreichende auch nur zeitübliche Defension. Kurfürst Friedrich Wilhelm, später „der Große“ und oft beschrieben als Begründer eines preußischen „Absolutismus“, hat tatsächlich gleich nach Regierungsantritt Ende 1640 im Folgejahr das, was da war, abgerüstet, auf 2.000 Mann. Die brandenburgischen Stände hatten das gefor-

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Winkel, Im Netz des Königs (Fn. 23), S. 28, Kritik am Absolutismus-Modell: S. 21 f. Auf die Verhandlungen mit den ostbrandenburgischen Landständen im Vorfeld des Kantonreglements von 1792 ist der Verf. bei Arbeiten im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam [im Folgenden BLHA] Ende der neunziger Jahre gestoßen, Wolfgang Neugebauer, Die neumärkischen Stände im Lichte ihrer Tätigkeit, in: Margot Beck (Bearb.), Neumärkische Stände (Rep. 23 B), Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. XVII–LXXVI (LXIII f.); Frank Göse, Landstände und Militär. Die Haltung der kur- und neumärkischen Ständerepräsentanten zum brandenburg-preußischen Militärsystem im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert, in: Stefan Kroll/Kersten Krüger (Hrsg.), Militär und ländliche Gesellschaft in der frühen Neuzeit, Münster/Hamburg/London 2000, S. 191 – 222 (197 f., um 1700: 200 – 203, 206 – 213); zu den 1690er-Jahren nach brandenburgischen Ständeakten Wolfgang Neugebauer, Brandenburg im absolutistischen Staat. Das 17. und 18. Jahrhundert, in: Ingo Materna/Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Brandenburgische Geschichte, Berlin 1995, S. 291 – 394 (322). 29 Vgl. mit Lit. Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit (Fn. 4), S. 152 f.; Klaus-Richard Böhme, Die schwedische Besetzung des Weichseldeltas 1626 – 1629, Würzburg 1963, S. 17 – 69. 28

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dert.30 An dieser Stelle kann die alte Frage auf sich beruhen, ob die Werbungen seit 1644 oder erst diejenigen in der zweiten Hälfte der 1650er-Jahre, also im Umfeld der Spannungen des Nordischen Krieges als Anfänge des stehenden Heeres anzusehen sind.31 Im einen wie im anderen Falle waren es die mächtepolitischen Belastungen der europäischen Großkonflikte, die Brandenburg-Preußen zu strukturellen Anpassungsleistungen an das Niveau entstehender frühmoderner Staatlichkeit zwangen. In dieser Zeit waren es denn auch Muster aus Schweden, mit dem Brandenburg-Preußen seit dem Dreißigjährigen Krieg im Konflikt lag, die auf die militärischen Einrichtungen des ressourcenschwachen Kurstaates vorbildhaft wirkten. Die Kriegsartikel der 1650er-Jahre sind dem schwedischen Muster verpflichtet.32 Zunächst dominierte die Anwerbung von Soldtruppen; nur wenige Regimenter wurden durch Aushebungen oder, so 1675, durch Aufgebot des „Landvolks“ für einige Zeit zusammengebracht. Kavallerie und Artillerie blieben auf „freiwillige Werbung“ angewiesen.33 Noch gab es starke Schwankungen der Zahlen, je nach den Kriegskonjunkturen im Europa der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In den Kämpfen der späten 1670er-Jahre sind es einmal 45.000 Mann gewesen, die unter brandenburgischen und preußischen Fahnen standen, bald reduziert auf etwa die

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Otto Meinardus, Neue Beiträge zur Geschichte des Großen Kurfürsten, FBPG 17 (1904), S. 21 – 67 (27 f., 50); Curt Jany, Geschichte der Königlich Preußischen Armee, 4 Bde., Berlin 1928 – 1933, Bd. 1, S. 98 – 101, auch zu den neuen Rüstungen 1644. 31 Vgl. Curt Jany, Der Anfang des stehenden Heeres in Brandenburg, FBPG 51 (1939), S. 178 – 180, bes. S. 179 (Kontroverse mit Gerhard Oestreich); Otto Meinardus, Protokolle und Relationen des Brandenburgischen Geheimen Rathes aus der Zeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm, 2. Bd., Leipzig 1893 (auch Neudruck Osnabrück 1965), in der Einleitung S. XCII–XCV, auch zur älteren landschaftlichen Wehrverfassung in Brandenburg und in Preußen, im Quellenteil S. 500 – 503, Nr. 172 (15./25. Juni 1647); C[urt] Jany, Die Anfänge der alten Armee, 1. Teil, Berlin 1901, S. 84 – 89 (1655/60); Max Lehmann, Werbung, Wehrpflicht und Beurlaubung im Heere Friedrich Wilhelms I., zuerst 1891, wieder in: ders., Historische Aufsätze und Reden, Leipzig 1911, S. 135 – 152, 355 – 367, meinte gar, erst seit Friedrich Wilhelm I. könne von einem stehenden Heere die Rede sein, da unter den Kurfürsten des 17. Jahrhunderts auf Rüstungen immer wieder starke Reduktionen erfolgt seien und erst seit 1713 auch in Friedenszeiten Heeresvermehrungen stattgefunden hätten (152); anders Jany, Geschichte (Fn. 30), Bd. 1, S. 192 – 195. 32 Johann Friedrich Schulze, Corpus Juris Militaris, Das ist: Ein vollkommenes Krieges=Recht/Und Artickels=Brieffe Verschiedener Hohen Potentaten […] Insonderheit Das Churfürstl. Brandenburgische […], Berlin 1693; in Teil 1 finden sich neben den kaiserlichen Kriegsartikeln Ordnungen aus Frankreich, Schweden, Dänemark, Polen, in Teil 2 das „Churfl. Brandenburgische Krieges=Recht/mit Eberhard Hoyers Anmerkungen“, hier Teil 2, S. 2; Martin Philippson, Der Grosse Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 1. Tl., Berlin 1897, S. 436; Hans Schmidt, Militärverwaltung in Deutschland und Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert, in: Bernhard R. Kroener/Ralf Pröve (Hrsg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn u. a. 1996, S. 25 – 45 (42), auch zum später stärker wirkenden französischen Vorbild. 33 Jany, Geschichte (Fn. 30), Bd. 1, S. 315 f., 318 f.; wichtig auch für diese Frühzeit: ders., Die Kantonverfassung Friedrich Wilhelms I., FBPG 38 (1926), S. 225 – 272 (225 f.), auch zu Unterschieden zwischen den verschiedenen Waffengattungen.

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Hälfte. Beim Regierungsantritt Friedrichs III. (1688) sind es knapp 30.000 Soldaten gewesen.34 Für unsere Fragestellung, diejenige nach der Stellung politischer Gewalt im Ordnungsgefüge Brandenburg-Preußens zunächst vor 1700, kommt es nicht primär auf die Quantitäten, sondern auf Qualitäten an: auf Verschiebungen im Kräfteverhältnis zwischen Landesherrn und Militäraristokratie, ein Grundproblem der WallensteinZeit und noch lange danach.35 Schon im 17. Jahrhundert waren die Offiziersstellen in der brandenburg-preußischen Armee eine bevorzugte Adelsdomäne; die Obersten als „Inhaber“ ihrer Regimenter hatten mit dem Landesherrn „Kapitulationen“, also Verträge abgeschlossen, die sie als Palladium ihrer Autonomie zu nutzen wussten, wenn sie etwa mit Hinweis auf diese Rechtspositionen eingreifende landesherrliche Befehle nicht ausführten, sondern ablehnten, wenn diese z. B. in ihre Disziplinarrechte über das Regimentspersonal einzugreifen schienen. Falls ein Offizier gar als Gläubiger dem Kurfürsten entgegentreten konnte, war seine Position um so stärker.36 Schon im 17. Jahrhundert lässt sich beobachten, dass sich höhere Offiziere eigene adlige Klientelnetze schufen und Truppenteile lebenslang quasi im Besitz hatten, Positionen der Autonomie, die der Landesherr allenfalls reduzieren konnte. Die Obristen hatten bis in die sechziger Jahre des 17. Jahrhunderts das Recht, in ihren Regimentern die Offiziere selbständig anzustellen; erst 1673 war der Kurfürst darüber im Einzelfall zu informieren. Friedrich III. reservierte sich allerdings bei denjenigen Truppenteilen, die er neu aufstellte, nun die Ernennung der Offiziere selbst, und dieser – in der Forschung lange unterschätzte – Monarch ist es auch gewesen, der für Beförderungen das Prinzip der Anciennität einführte und so die Spielräume von Obristen und Generälen, sich in der Armee eigene Netzwerke zu schaffen, graduell begrenzte. Aus Kapitulationen wurden nun Patente, die Handlungsspielräume der Offiziere damit reduziert und das Recht zur formellen Offiziersernennung in die Hand des Kurfürsten-Königs gelegt. Er vergab nun Regimenter und es hörte auf,

34 Dazu, u. a. zu den Hintergründen, etwa der Abhängigkeit von Subsidienzahlungen fremder Mächte, vgl. Robert Frhr. von Schrötter, Die Ergänzung des preußischen Heeres unter dem ersten Könige, FBPG 21 (1910), S. 403 – 467 (412 f., 419, 452: Gestellung durch Provinzen); Jany, Geschichte (Fn. 30), Bd. 1, S. 274, 301; Francis L. Carsten, Die Entstehung Preußens, Köln/Berlin 1968, S. 217 f. 35 Vgl. Fritz Redlich, The German Military Enterpriser and his Work Force. A Study in European Economic and Social History, 2 Bde., Wiesbaden 1964/65, hier Bd. 1, etwa S. 171 – 176. 36 Nach wie vor nützlich die aus Aktenstudien geschöpfte Studie von Gustav Schmoller, Die Entstehung des preußischen Heeres von 1640 bis 1740, zuerst 1877, wieder in: ders., Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898, Nachdruck Hildesheim/New York 1974, S. 247 – 288 (261 – 263); Peter-Michael Hahn, Aristokratisierung und Professionalisierung. Der Aufstieg der Obristen zu einer militärischen und höfischen Elite in Brandenburg-Preußen von 1650 – 1725, FBPG NF 1 (1991), S. 161 – 208, (172 – 176, auch zum Folgenden).

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dass die Offiziere ihre Truppen dem Monarchen „zuführten“. Das Recht der Regimentsinhaber, untergebene Offiziere zu entlassen, wurde beschränkt.37 Otto Hintze hat davon gesprochen, dass die den Obersten unterstehenden Offiziere noch lange Zeit wie deren „Privatangestellte“ gehalten wurden. Die „Verstaatlichung der Soldateska“38 war ein sehr langsamer, alles andere als vollständiger Prozess. Auch wenn seit 1695 vom Kurfürsten nach Verdienst befördert werden sollte, was freilich nur im Kriege praktiziert worden ist, unterlagen militärische Karrieren vielfältigen Einflüssen konkurrierender Parteiungen von Freunden und Kreaturen, auch solcher etwa von Hofkreisen,39 und immer ging es um Macht und ökonomische Chancen, um Aufstiegskanäle mancherlei Art.40 Dies galt für die meist adligen Offiziere der Infanterie und für die aus dem Bürgertum, die in der Artillerie dienten, zumal die Chancen auf Nobilitierung in der Militärkarriere lockten.41 Gleichwohl: Der Monarch tat auch in Zukunft gut daran, auf die eigenen Gesetze der adligen Offiziersgesellschaft, ihre Interessen und Verflechtungen zu achten, die also auch Einfluss auf seine Entscheidungen besaßen.42 In den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts haben die Landstände wieder eine stärkere Position besessen, wenn es um die Aushebung der „Mannschaft“ für das Militär ging; sie haben gleich bei Regierungsantritt Friedrichs III. im Herbst 1688 darauf gedrungen, die „Werbung“ in ihren Landschaften selbst in die Hand zu bekommen, d. h. die (Zwangs-)Rekrutierung im Inland, neben die schon damals die Ausländerwerbung getreten ist. Die Stände wollten mit den landesherrlichen Kriegs- und Steuerkommissaren direkt zusammenarbeiten, ohne dass brandenburgische Offiziere auf eigene Faust Aushebungen durchführen sollten.43 Es waren ja kriegerische Zeiten, 37

Robert Frhr. v. Schrötter, Das preußische Offizierskorps unter dem ersten Könige von Preußen. Erste Hälfte, FBPG 26 (1913), S. 429 – 495, Zweite Hälfte, FBPG 27 (1914), S. 97 – 167 (I, 430 f.); Winkel, Im Netz des Königs (Fn. 23), S. 35 – 37, 229; wichtig schon Schmoller, Entstehung des preußischen Heeres (Fn. 36), S. 265 f.; Christian Otto Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum […], Teil III, Berlin/Halle [1737], 1. Abt., Nr. 55, Sp. 173 – 176 (1684); R. de l’Homme de Courbière, Geschichte der Brandenburg-Preußischen Heeres-Verfassung, Berlin 1852, S. 57 – 60, 76; nützlich nach wie vor Felix Priebatsch, Geschichte des Preußischen Offizierskorps, Breslau 1919, S. 9. 38 Otto Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte, 4. Aufl., Berlin 1915, S. 220 f. 39 v. Schrötter, Offizierskorps (Fn. 37), II, S. 146 f. (um 1700); obige Ausführungen unter Berücksichtigung der Anregungen von Wolfgang Reinhard. 40 Beispiele: W. von Unger, Feldmarschall Derfflinger. Dem Dragonerregiment Freiherr von Derfflinger gewidmet, Berlin 1897, S. 14, 120; [George Adelbert von] Mülverstedt, Vom General Christoph von Kannenberg, in: 21. Jahresbericht des Altmärkischen Vereins für vaterländische Geschichte und Industrie zu Salzwedel, 1. Heft, Magdeburg 1886, S. 33 – 56 (43 – 45: Einnahmen als Regimentschef und Güterkauf). 41 Vgl. v. Schrötter, Offizierskorps (Fn. 37), II, S. 98 – 100, 104 (Nobilitierungen), 133. 42 Vgl. in diesem Sinne jetzt Winkel, Im Netz des Königs (Fn. 23), S. 35. 43 In den Akten der kurmärkischen Stände: BLHA, Rep. 23 A, Akte B 60, mit Stücken der 1690er-Jahre; zu 1688: v. Schrötter, Ergänzung (Fn. 34), S. 408, parallele Ausländerwerbung: 411 f.

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kurbrandenburgische Regimenter kämpften am Niederrhein,44 und die Landstände hatten ein lebendiges Interesse daran, wachsende militärische Lasten mit den Bedürfnissen der Landschaften, zumal denen des Adels, kompatibel zu halten. Das bedingte Abstimmungen zwischen den Landständen und den landesherrlichen Kriegskommissaren, etwa bei Einquartierungen und, damit zusammenhängend, wenn es um die Versorgung der Truppen ging.45 Gleich in den Anfangsjahren von Spanischem Erbfolgekrieg und Großem Nordischen Krieg haben die brandenburgischen Landstände wiederholt Klage geführt, wenn der militärische Druck im Lande unerträglich wurde und die Rüstungen – ganz offenbar – ohne Abstimmung und zureichenden Interessenausgleich mit Ritterschaft und Städten durchgeführt wurden.46 Nicht nur um die Lasten an sich ging es, sondern auch darum, die Interessen des Landesherrn beim Aufbau und Ausbau seiner Armee mit der ländlichen Herrschaftswelt kompatibel zu halten. Alles spricht dafür, dass es schon vor und um 1700 kein prinzipieller Widerspruch war, der von den organisierten Landeseliten gegen den Aufbau eines Miles perpetuus gerichtet wurde. Wenn im Osten, im alten Herzogtum (und künftigen „Königreich“) Preußen seit 1705 keine regelmäßigen Landtage mehr stattfanden, so war dies nicht Ergebnis brachialer Konfrontation des Hohenzollern mit Adel und Städten zwischen Weichsel und Memel. Vielmehr zeigen rückläufige Teilnehmerzahlen an den Landtagsberatungen bis 1704, dass nicht von einer prinzipiellen Opposition gegen Militärlasten ausgegangen werden darf.47 Aber die Stabilität der lokalen Herrschaftsordnung blieb auf der Agenda, mit der das Verhältnis von Monarch und landschaftlichen Eliten ausgehandelt wurde. Diesen war es vor allem darum zu tun, trotz landesherrlichen Zugriffs auf die militärdienstfähigen Leute die lokalen Herrschaftsverhältnisse intakt zu halten. Die ostbrandenburgischen Stände haben vor und nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. (1713) dagegen Einspruch erhoben, dass angesessene Untertanen zum Militär gelassen würden, in dem Bestreben, von ihrer Obrigkeit loszukommen. Beim Ausscheiden aus dem aktiven Militärdienst sollten die Männer zu ihren Erbherren zurückgeschickt werden.48 Das Thema hat, in den Verhandlungen mit dem König, das Jahrhundert überdauert und erst nach Jahrzehnten eine kodifikatorische Lösung gefunden, die auf die Inter-

44 Für die Zeit um 1690: G. W. Hennert, Beyträge zur Brandenburgischen Kriegesgeschichte unter Kurfürst Friedrich dem Dritten, nachherigem ersten Könige von Preußen. Hauptsächlich aus Nachrichten im Königlichen Archive und andern noch nicht bekannten Handschriften geschöpft, Berlin/Stettin 1790, S. 71 – 104. 45 BLHA, Rep. 23 A, Nr. 60. 46 BLHA, Rep. 23 A, Nr. 62, mit den Ständebeschwerden der Jahre 1701 – 1704, auch zu Verhandlungen zwischen Deputierten der Stände und dem Generalkriegskommissar über die Frage, wie den Gravamina abzuhelfen sei. 47 Mit einer Statistik über die Teilnehmerzahlen der (ost-)preußischen Landtage 1688 – 1704: Wolfgang Neugebauer, Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreußen von den alten Ständen zum Konstitutionalismus, Stuttgart 1992, S. 58 – 60. 48 Schreiben der neumärkischen Landstände vom 9. April 1712 und am 18. März 1718, BLHA, Rep. 23 B, Nr. 440.

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vention der Landstände aus Ostpreußen, Brandenburg und im Westen des Staates zurückging.49 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts blieb auch die moderne preußische Kommissariats-Administration auf die Kooperation mit Landräten und Landständen angewiesen, wenn Rekruten auf dem Lande ausgehoben werden sollten,50 wie denn auch – und zwar noch im ganzen 18. Jahrhundert – für die finanzielle Ressourcenextraktion die ja in ihren Quantitäten sehr kleine preußische Amtsträgerschicht immer auf die Kooperation mit Ständen bzw. den lokalen Obrigkeiten angewiesen blieb, wenn es darum ging, von den (ganz überwiegend ländlichen) Untertanen die „Abgift“ einzuziehen.51 Um 1700 waren die Offiziere in den verschiedenen Regionen des neuen Königreichs daran gegangen, potentiell geeignete junge Männer, schon bevor sie tatsächlich zu ihren Regimentern eingezogen wurden, in Listen zu erfassen und sich zu reservieren, d. h. zu „enrollieren“,52 auf die Gefahr hin, mit den jeweiligen Landständen in Konflikt zu geraten, die auch nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. fortfuhren, lieber Rekruten selbst auszuheben, als sich militärischer „Werbung“ auszusetzen. Die Aussicht, dass die Untertanen angesichts naher Grenzen von den Gütern des Adels „desertierten“, wurde durch den militärischen Aushebungsdruck erheblich gesteigert.53 Allerdings entstand zur gleichen Zeit eine Praxis, die im weiteren 18. Jahrhundert das altpreußische Militärsystem charakterisieren sollte: die Praxis der Beurlaubung von Eingestellten, um sie so als Arbeitskräfte auf den Rittergütern verfügbar zu halten und gleichzeitig ihren Sold zu sparen; dieser verblieb dann den (adligen) Kompanieinhabern. Um 1720 war diese Praxis ausgebildet. Der König ließ es geschehen.54 Auch wenn die Monarchen seit einem halben Jahrhundert daran gearbeitet hatten, die Autonomie der Kompanie- und Regimentsinhaber zu reduzieren und das Subor49 In den Verhandlungen um das Kantonregiment von 1792, Stücke aus den Jahren 1789 bis 1792, BLHA, Rep. 23 B, Nr. 1425, darauf ist unten zurückzukommen. 50 Aktenstücke aus den Jahren 1710 bis Ende 1713: BLHA, Rep. 23 B, Nr. 69, zur Rekrutengestellung für den Krieg gegen Frankreich; ebd. zur Funktion der Steuerräte in den Städten. 51 Dazu alle Details und Nachweise aus verschiedenen Regionen Brandenburg-Preußens: Wolfgang Neugebauer, Staatsverfassung und Heeresverfassung in Preußen während des 18. Jahrhunderts, FBPG NF 13 (2003), S. 83 – 102 (95 – 99); Brandenburg: Klaus Vetter, Zusammensetzung, Funktion und politische Bedeutung der kurmärkischen Kreistage im 18. Jahrhundert, Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 3 (1979), S. 393 – 415 (396). 52 v. Schrötter, Ergänzung (Fn. 34), S. 429; l’Homme de Courbière, Geschichte (Fn. 37), S. 72; Ständebeschwerden gegen Enrollierungen in der Neumark: BLHA, Rep. 23 B, Nr. 166 (um 1700, 1705); siehe Stücke aus dem Jahre 1717 in der Registratur des königlichen Kabinetts: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz [im Folgenden: GStA PK], I. Hauptabteilung [HA], Rep. 96, 520 A. 53 BLHA, Rep. 23 B, Nr. 69 (bis 1720). 54 L’Homme de Courbière, Geschichte (Fn. 37), S. 87 f.; v. Schrötter, Ergänzung (Fn. 34), S. 420; Jany, Kantonverfassung (Fn. 33), S. 232.

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dinationsverhältnis zu steigern, behielten diese doch eine starke ökonomische Position in ihrem Truppenteil. Die „Kompaniewirtschaft“ hat gleichfalls eine Wurzel schon in der Zeit um 1700,55 ja eigentlich lebte in ihr ein Stück Militärunternehmertums älterer Zeiten56 fort. Die Inhaber erhielten Gelder für Sold, Bewaffnung, Kleider- und Monturgelder usw., und wenn sie geschickt wirtschafteten, so war z. B. die Kompanie eine lukrative Einnahmequelle, wenn der Kapitän nicht ins Minus geriet. Kompanien bzw. Regimenter wurden damit zu „Wertobjekten, die auch unter Umständen käuflich erworben und weitergegeben werden konnten“.57 Und schließlich war es eine schon unter dem ersten König bekannte Praxis, dass Regimentern „bestimmte Ersatzbezirke“58 zugewiesen wurden, aus denen sie ihre Mannschaft zu nehmen hatten, wenn auch daraus noch nicht ein festes, den ganzen Staat abdeckendes System gemacht wurde. Das hatte allerdings zur Folge, dass die Regimenter miteinander um die Rekruten konkurrierten. Der Werbedruck trieb die Untertanen außer Landes, Saat und Ernte wurden gefährdet, es drohte der Ruin des Landes.59 Vor allem junge Männer von stattlicher Körpergröße wurden, aus Gründen, die in der Waffentechnik der Vorderladergewehre lagen, gesucht. Friedrich Wilhelm I. hat schließlich in einer Reihe von Ordern im Jahre 1733 die bisherige Praxis gleichsam kodifiziert und – gestützt auf die landesherrliche Administration – das Land in Kantone, in Quartiers- und Aushebungsbezirke eingeteilt,60 in denen die Regimenter künftig alleine zu enrollieren hatten. Nach Regionen unterschiedlich, wurde damit die Zahl der Feuerstellen pro Regiment festgelegt. Was damit erreicht war: Die Rationalisierung der militärischen Ressourcenextraktion bei einer Staatsbevölkerung von (1740) gerade einmal 2,25 Millionen Einwohnern – 55 Näheres bei v. Schrötter, Offizierskorps (Fn. 37), I, S. 456 – 458, 466 f., 477 – 495; auch zum folgenden; Lehmann, Werbung (Fn. 31), S. 151. 56 Vgl. Redlich, The German Military Enterpriser (Fn. 35). 57 v. Schrötter, Offizierskorps (Fn. 37), I, S. 494. 58 So jedenfalls l’Homme de Courbière, Geschichte (Fn. 37), S. 79; Details bei H. von Gansauge, Das brandenburgisch=preußische Kriegswesen um die Jahre 1440, 1640 und 1740, Berlin/Posen/Bromberg 1839, S. 97 – 100; v. Schrötter, Ergänzung (Fn. 34), S. 406. 59 Aus den Handakten des Königs: Immediatsupplik von Direktor und Landräten der Uckermark, datiert Prenzlau, 10. September 1718, GStA PK, I. HA, Rep. 96, Nr. 520 B, dasselbe aus der Altmark, 24. Juli 1717; BLHA, Rep. 23 B, Nr. 211 („Landesversammlungen“ der Neumark 1713 – 40); zum Folgenden Jany, Kantonverfassung (Fn. 33), S. 229, 234 f., 238 – 243, 253, 255. 60 Quellen zur Einführung der Kantone und zur Erstellung des dafür notwendigen Listenmaterials jetzt im Anhang der Abhandlung von Kloosterhuis, Kantonsystem und Regimentskultur (Fn. 23), zu Ostpreußen 1733: S. 106 f. (Korrespondenzen zwischen Kabinett und Generaldirektorium bzw. einzelnen Regimentern); die Ordern (1. Mai, 18. Mai, 15. September 1733) bei Gansauge, Kriegswesen (Fn. 58), S. 232 – 239, und bei Eugen von Frauenholz, Das Heerwesen in der Zeit des Absolutismus, München 1940, S. 243 – 249; dazu Jany, Kantonverfassung (Fn. 33), S. 243 – 245 (in den Westprovinzen 1735), auch zum folgenden; Lehmann, Werbung (Fn. 31), S. 138 f., S. 144 (Kompaniewirtschaft); wichtig Hartmut Harnisch, Preußisches Kantonsystem und ländliche Gesellschaft. Das Beispiel der mittleren Kammerdepartements, in: Kroener/Pröve (Hrsg.), Krieg und Frieden (Fn. 32), S. 137 – 165 (142 f.).

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vom Niederrhein bis östlich Memel, Berlin und Potsdam inklusive61 – schuf für die Untertanen eine Reduktion von Werbeexzessen und eine gewisse Vorhersehbarkeit der Lasten. Bei körperlicher Eignung waren ein bis zwei Rekrutenjahre zu absolvieren, ansonsten hatten sie, in Friedenszeiten, nur zur „Frühjahrsexerzierzeit“62 oder nach der Ernte für einige Wochen einzurücken. Die Pflichtigkeit dauerte bis zum Stadium der Invalidität, nur dass die Beurlaubung das für den Soldaten erträglich und für den Offizier einträglich machte, konnte der Kompaniechef doch weiterhin die Löhnung einbehalten und – mit dem Effekt der Schonung einheimischer Ökonomie – dafür außerhalb Preußens „werben“ lassen. Nicht für die Artillerie, aber für die anderen Waffengattungen schwärmten preußische Werbeoffiziere aus, etwa in die Territorien armierter und nichtarmierter Landesherren im Heiligen Römischen Reich, wo bisweilen mit guten Werbetalern, hohen Promillegraden und auch mit brutaler Gewalt gutgewachsene junge Männer dazu gebracht wurden, die (in der Regel blaue) preußische Uniform anzulegen.63 Nicht nur in mittleren und kleinen Reichsgebieten, auch in Polen, in Holland und der Schweiz, in Kurland, in Ungarn und bis in die Ukraine hin schwärmten die Werber aus;64 im Jahre 1740 zählte die preußische Armee 76.000 Mann, davon ein Drittel, 26.000, „Ausländer“.65 Die Kantonisten blieben stets das Rückgrat der Armee, zumal in Kriegszeiten, wenn die bevorzugten Werbegebiete nur schwer oder gar nicht zur Verfügung standen. Aber die heterogene Zusammensetzung der Truppe bedingte ein Militärstrafsystem von erheblicher Härte.66 Neu war an dem, was Friedrich Wilhelm I. 1733 zum System umformte, die systematische Einteilung des Staatsgebietes in Kantone, und sein Nachfolger hat gleich nach der Eroberung, im August 1742, dann auch Schlesien in Werbebezirke geglie61 Otto Behre, Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preußen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen Bureaus, Berlin 1905, S. 198. 62 Jany, Kantonverfassung (Fn. 33), S. 249, 251 (Beurlaubung), 261; Gansauge, Kriegswesen (Fn. 58), S. 96 f.; Büsch, Militärsystem (Fn. 25), S. 34, 68. 63 Rudolf Gugger, Preußische Werbungen in der Eidgenossenschaft im 18. Jahrhundert, Berlin 1997, S. 28 – 34; W. von Schultz, Die preußischen Werbungen unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen bis zum Beginn des 7jährigen Krieges mit besonderer Berücksichtigung Mecklenburg-Schwerins. Dargestellt nach den Acten des Großherzoglichen Geh. und Haupt-Archivs zu Schwerin, Schwerin 1887, nach 1733: S. 36 – 121; Bernhard Sicken, Die preußische Werbung in Franken, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Friedrich der Große, Franken und das Reich, Köln/Wien 1986, S. 121 – 156 (127: Ausländeranteil, 129: Anteil aus dem Reich, 137 – 140: in Reichsstädten). 64 Jany, Kantonverfassung (Fn. 33), S. 253 – 258; ders., Geschichte (Fn. 30), Bd. 1, S. 681, 686, 700 – 707. 65 Curt Jany, Der Siebenjährige Krieg. Ein Schlußwort zum Generalstabswerk, FBPG 35 (1923), S. 161 – 192 (187 f.); in den frühen 1750er-Jahren dominierten nach wie vor die Kantonisten; um 1800: [Friedrich Wilhelm Christian] Ribbentrop, Verfassung des Preußischen Canton-Wesens, historisch bearbeitet und mit einigen Bemerkungen versehen, Minden 1798, S. 100 – 102. 66 Z. B. Jany, Geschichte (Fn. 30), Bd. 1, S. 712 – 714.

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dert.67 Von einer allgemeinen Wehrpflicht war die altpreußische Kantonverfassung aber noch weit entfernt. Denn nicht alle jungen Männer Preußens wurden nach der Konfirmation, d. h. im sechzehnten Lebensjahr, enrolliert und dann Jahr für Jahr bei der Kantonsrevision nachgemessen. Söhne von Adel, von Offizieren und wer 10.000 Taler „Vermögen“ besaß, sollten „von der Enrollirung befreyet seyn“.68 Sehr bald kamen örtliche, dann Exemtionen ganzer Städte und Landschaften hinzu. Nach 1740/43 waren die textilproduzierenden Gebiete Schlesiens ganz eximiert, „angesessene“ Bauern und Bürger wurden generell befreit, ganze Städte wie Berlin, Potsdam, Brandenburg a. d. H., dann auch Kandidaten der Theologie.69 Die Westgebiete, Kleve, Teile der Grafschaft Mark und Moers waren seit 1748 bzw. 1769 von der Kantonpflicht befreit, aber die Forschung ging lange Zeit irre, wenn sie aus diesem Faktum schloss, dass da, wo keine gutsherrschaftlichen Strukturen existierten, die Kantonverfassung unmöglich gewesen wäre. Dass die Gebiete am Niederrhein und im Fabrikenbezirk Westfalens vom Kantonsystem wieder ausgenommen wurden, hatte tatsächlich ganz andere Gründe – die Verlegung der dortigen Regimenter nach Schlesien.70 Überhaupt hat sich die – weit in das 19. Jahrhun-

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[Colmar] Grünhagen, Die Einrichtung des Militärwesens in Schlesien bei dem Beginne der preußischen Herrschaft, Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 23 (1889), S. 1 – 28 (13 f.); Kantonreglement 1743 für Schlesien: Otto Hintze, Sitzungsberichte des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg vom 10. Oktober 1900 bis 12. Juni 1901, FBPG 14 (1901), Anhang, S. 1 – 29 (14 – 16); Angaben zu den Kantonen schon in der Schrift: Zustand der königlichen Preußischen Armee im Jahr 1788 und kurzgefaßte Geschichte dieses Heeres von seiner Stiftung an bis auf die jetzigen Zeiten, Breslau 1788, passim; vgl. Anton Friedrich Büsching, Zuverlässige Beyträge zu der Regierungs-Geschichte Königs Friedrich II von Preußen, vornehmlich in Ansehung der Volksmenge, des Handels, der Finanzen und des Kriegsheers. Mit einem historischen Anhange, Hamburg 1790, S. 395 – 410, 411 – 414 (kantonfreie Städte), und die Angaben bei Alexander von Lyncker (Bearb.), Die Altpreußische Armee 1714 – 1806 und ihre Militärkirchenbücher, Berlin 1937, passim. 68 So in der Resolution vom 15. September 1733 bei Frauenholz, Heerwesen (Fn. 60), Nr. 51, S. 249; grundsätzlich Kloosterhuis, Kantonsystem und Regimentskultur (Fn. 23), S. 78 f.; anders Harnisch, Kantonsystem (Fn. 60), S. 143, der schon für 1714 von der „Verkündung des Prinzips der allgemeinen Wehrpflicht“ spricht. 69 Kloosterhuis, Kantonsystem und Regimentskultur (Fn. 23), S. 117 – 139 (Einrichtung der Kantonverfassung in Schlesien), 134 (Exemtionen); Ribbentrop, Verfassung (Fn. 65), S. 30, 33 f. (Besitzgrenze nun 6.000 Taler); [Magnus Wilhelm von] Bassewitz, Die Kurmark Brandenburg, ihr Zustand und ihre Verwaltung unmittelbar vor dem Ausbruche des französischen Krieges im Oktober 1806. Von einem ehemaligen höheren Staatsbeamten, Leipzig 1847, S. 287 f. 70 Jürgen Kloosterhuis, Zwischen Aufruhr und Akzeptanz. Zur Ausformung und Einbettung des Kantonsystems in die Wirtschafts- und Sozialstrukturen des preußischen Westfalen, in: Kroener/Pröve (Hrsg.), Krieg und Frieden (Fn. 32), S. 167 – 190 (180), gegen Büsch, Militärsystem (Fn. 25), S. 48; Jürgen Kloosterhuis (Bearb.), Bauern, Bürger und Soldaten. Quellen zur Sozialisation des Militärsystems im preußischen Westfalen 1713 – 1803. Regesten, Münster 1992, S. 153, Nr. 99; Details (Westen der Grafschaft Mark 1769) Nr. 79 – 81, S. 122 – 127, vgl. auch 158.

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dert zurückreichende – These71 von einem engen Konnex von Agrarverfassung und Heeresverfassung im Preußen des 18. Jahrhunderts im Lichte jüngerer Quellenforschungen nicht halten lassen: Das Kantonsystem war auch auf grundherrschaftlichem Boden durchaus möglich. Die Vermutung, dass gerade Offiziere, die als Gutsherren ihre Herrschaftspraxis auf Militär und Militärdisziplin übertrugen, das altpreußische Heeres- und Gesellschaftsmodell geprägt hätten, hat sich als postumes Konstrukt erwiesen; die große Mehrheit der Offiziere stammte aber, wie wir heute wissen, nicht aus den Regionen, in denen die Kantone lagen, aus denen die Rekruten ausgehoben wurden. Damit ist der alte Erklärungsansatz falsifiziert worden, mit dem die soziale Militarisierung, der Militarismus im Preußen des 18. Jahrhunderts, bewiesen werden sollte.72 Vielleicht waren unsere Ansichten von der Stellung der Armee im altpreußischen Ordnungsgefüge bislang überhaupt zu „systemisch“ und zu „staatlich“. Das Offizierskorps war im 18. Jahrhundert durchaus nicht eine dem preußischen König schlechterdings subordinierte Dienstelite. „Wann waren die Bammes bei Hofe? Nie […]. Man geht zusammen, so lang’ es paßt. Legitimität, Loyalität! Bah. Alles ist Akkord und Pakt und gegenseitiger Vorteil“, lässt Fontane den alten Husaren-General Bamme mit Blick auf das 18. Jahrhundert und die Tradition seines Hauses in der Mark Brandenburg sagen.73 Es war nicht der Adel, der im Heere diente, will sagen: Es gab Präferenzen z. B. im Regionalen, und der König war bemüht, mit Methoden spezifischer „Mikropolitik“, durch Gnadenerweise, durch die Verleihung von Ämtern und Chargen als „Patronagemittel“, Bindungen zum Offizier zu schaffen, der 71 Otto Büsch hat in Gesprächen wiederholt bezeugt, wie stark er den Forschungen von Max Lehmann verpflichtet war, die seit den 1880er-Jahren schon seine Thesen formuliert hatten (vgl. vor allem Max Lehmann, Scharnhorst, 2. Teil, Leipzig 1887). Bisher wurde übersehen, dass schon Lehmanns langjähriger Mentor Heinrich von Sybel, und zwar in den linksliberalen Kampfjahren des Heeres- und Verfassungskonflikts, als Bonner Professor die Thesen von Lehmann und dann von Büsch formuliert hatte, in einer (später nur verändert wieder gedruckten) Broschüre: Heinrich von Sybel, Über die Entwicklung der absoluten Monarchie in Preußen. Rede, gehalten am 3. August 1863 in der Aula der Friedrich-WilhelmsUniversität in Bonn, Bonn 1863, bes. S. 13 – 15; vgl. Wolfgang Neugebauer, Preußische Geschichte als gesellschaftliche Veranstaltung. Historiographie von Mittelalter bis zum Jahr 2000, Paderborn 2018, S. 554 f. 72 Vgl. Harnisch, Kantonsystem (Fn. 60), S. 146 f., 164; Frank Göse, Zwischen Garnison und Rittergut. Aspekte der Verknüpfung von Adelsforschung und Militärgeschichte am Beispiel Brandenburg-Preußens, in: Ralf Pröve (Hrsg.), Klio in Uniform? Probleme und Perspektiven einer modernen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1997, S. 109 – 142 (121 – 127, 141); ders., Zum Verhältnis von landadliger Sozialisation zu adliger Militärkarriere. Das Beispiel Preußen und Österreich im ausgehenden 18. Jahrhundert, Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 109 (2000), S. 118 – 153 (135 – 149); Kloosterhuis, Kantonsystem und Regimentskultur (Fn. 23), S. 83 f.; Zweifel schon bei Hans Bleckwenn, Bauernfreiheit durch Wehrpflicht – ein neues Bild der altpreußischen Armee, zuerst 1986, wieder in: ders., Zum Militärwesen des Ancien Régime. Drei grundlegende Aufsätze […], hrsg. von Joachim Niemeyer, Osnabrück 1987, S. 43 – 72 (57). 73 Zitiert nach der Erstausgabe: Theodor Fontane, Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13, 4. Bd., Berlin 1878, S. 81.

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seinerseits in der „autonomen Gruppenehre“ des (meist niederen) Militäradels lebte.74 Im Siebenjährigen Krieg, so wurde unlängst festgestellt, „war es zu einer schrittweisen Distanzierung zwischen Monarch und Offizieren gekommen“.75 Der König vergab Gnaden, und dem Offizier blieb immer, bei aller formeller Unterordnung der Weg, aus Protest um Demission nachzusuchen, auf die Gefahr hin, dass der König mit unehrenhafter Entlassung reagierte. Aber auch dann, wenn es nicht zum förmlichen Bruch zwischen preußischem Offizier und preußischem König gekommen war, ja wenn etwa Friedrich II. sogar einmal mit einer honorigen Geste reagiert hatte, sind erstaunliche Loyalitätswechsel, selbst bei Offizieren im Generalsrang, zu beobachten, etwa unter dem Führungspersonal desjenigen Adels in Ostpreußen, der mit seinem Land im Siebenjährigen Krieg unter russischer Besetzung zu den Herrschern des Doppeladlers überging. Dieses Beispiel eines eklatanten Seitenwechsels steht durchaus nicht einzigartig da76 und lässt weitere Forschungen sinnvoll erscheinen. Auch ein „absolutistischer“ Monarch tat also gut daran, die Moralwelt und den Eigen-Sinn der Dienstaristokratie in Uniform zu beachten, zumal diejenige der „Militärdynastien“,77 die manche Funktionen in der Armee quasi erblich innezuhaben schienen. Regimentskommandeure verfügten über netzwerkähnliche Beziehungen, Beförderungen gehörten ganz wesentlich dazu diese Konnexionen zu pflegen, und Eingriffe des Königs provozierten Klagen. Die ältere Forschungsperspektive, dass die absolutistischen preußischen Könige nicht über den Hof, sondern über die Armee eine „Domestizierung des Adels“78 erreicht hätten, verkürzt allzu sehr die Perspektive. Allerdings war Friedrich Wilhelm I. bemüht, den Adel nicht mehr in fremde, auswärtige Dienste gehen zu lassen.79 Gleichwohl nahm der Anteil der Adligen

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Winkel, Im Netz des Königs (Fn. 23), S. 163 – 165, 190, 285, 288. Winkel, Im Netz des Königs (Fn. 23), S. 288; Demission als Handlungsoption von Offizieren: S. 242 f. 76 Vgl. das Beispiel bei Wolfgang Neugebauer, Zwischen Preußen und Rußland. Rußland, Ostpreußen und die Stände im Siebenjährigen Krieg, in: Eckhart Hellmuth/Immo Meenken/ Michael Trauth (Hrsg.), Zeitenwende? Preußen um 1800, Stuttgart – Bad Cannstatt 1999, S. 43 – 76, hier S. 53 f. (Graf Truchseß zu Waldburg), und passim mit weiteren Fällen; L. Clericus, Geschichte des Geschlechts der Herren, Freiherrn und Grafen von Puttkamer. Herausgegeben von der Familien-Genossenschaft. Auf Grund der Sammlungen und Vorarbeiten der Freiherrn Constantin und Emil von Puttkamer redigiert, Berlin 1878/80, S. 291 f.; Ellinor von Puttkamer, Geschichte des Geschlechts von Puttkamer, 2. Aufl., Neustadt a. d. Aisch 1984, S. 297, 299. 77 Winkel, Im Netz des Königs (Fn. 23), S. 44, das Folgende: S. 155 – 158, 231, 238. 78 So der an sich vorzügliche, aus süddeutscher bzw. reichsgeschichtlicher Perspektive schöpfende Überblick von Rudolf Endres, Adel in der Frühen Neuzeit, München 1993, S. 27; vgl. auch Hahn, Aristokratisierung, S. 178 f. 79 Z. B. Dekret Friedrich Wilhelms I. an das Generaldirektorium, 12. Januar 1731, GStA PK, Rep. 96 B, Nr. 4 (Minüten), betr. den Adel in Brandenburg und Pommern: Adel soll Söhne in das Kadettenkorps schicken und nicht außer Landes dienen lassen; ebd.: Kabinettsorder an den Landrat v. d. Osten, 9. Februar 1731; regionale Präferenzen: Winkel, Im Netz 75

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der Kurmark, die ein Rittergut besaßen und gleichzeitig dienten, ab, während der Anteil der Adelssöhne in der Armee zunahm. Aber dann, wenn sie das väterliche Gut übernahmen, pflegten sie die Demission zu betreiben.80 Die Neigung zum Offiziersdienst war in adligen Familien ganz unterschiedlich ausgeprägt. Den ostpreußischen Adel, dem Friedrich II. nach 1763 überhaupt misstraute, hatte er im Verdacht, seine Söhne nicht dienen zu lassen.81 Alles deutet darauf hin, dass das Verhältnis der Könige zum preußischen Militäradel durchaus nicht spannungsfrei gewesen ist. Friedrich Wilhelm I., derjenige Monarch, der noch am weitgehendsten dem Adel gegenüber die monarchische Prärogative betonte und der nach 1733 die Kantoneinrichtung ganz auf die von ihm reorganisierte Kommissariatsverwaltung stützte,82 hat freilich die neue Rekrutierungseinrichtung durchaus auf ständische Beschwerden hin, etwa aus Pommern, angepasst.83 Die kur- und die neumärkischen Stände reagierten 1733 „aufgeschlossen“, schließlich hatten sie selbst in den Jahren zuvor mit ihren Klagen und Vorschlägen in Richtung einer solchen Lösung hingearbeitet.84 Die ständischen Gravamina beim Regierungswechsel 1740 zielten vor allem darauf ab, dass die Aushebungen nicht, wie bisher, vom Militär alleine durchgeführt werden sollten. Das war das zentrale Anliegen auch der Ostpreußen. Das Thema sollte in den folgenden Jahrzehnten ebenso wiederkehren wie die Klage darüber, dass entlassene Soldaten nicht auf ihren Hof zurückgingen, sondern sich ihrer Herrschaft entzögen.85 Nicht die Abschaffung des Kantonsystems wurde in Ostpreußen verlangt, wohl aber die Beteiligung von Gutsherrn und regionalen Ämtern bei seiner Praktizierung.86 Die kurmärkischen Stände zielten auf des Königs (Fn. 23), S. 136, 138 f.; vgl. auch Göse, Zwischen Garnison und Rittergut (Fn. 72), S. 120 (geringere Gütergröße lässt zu Offiziersdienst neigen). 80 Frank Göse, Die Struktur des kur- und neumärkischen Adels im Spiegel der Vasallentabellen des 18. Jahrhunderts, FBPG NF 2 (1992), S. 25 – 46, hier 40 f., das Folgende 34 f. 81 So die Wahrnehmung des Königs in den 1780er-Jahren, nach den Akten im GStA PK, XX. HA, bei Wolfgang Neugebauer, Der Adel in Preußen im 18. Jahrhundert, in: Ronald G. Asch (Hrsg.), Der europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (1600 – 1789), Köln/Weimar/Wien 2001, S. 49 – 76 (71); ob die Wahrnehmung des Königs am Ende seiner Regierung zutraf, bedarf weiterer Klärung, vgl. Winkel, Im Netz des Königs (Fn. 23), S. 136 f.; siehe aber auch Erich Joachim, Johann Friedrich von Domhardt. Ein Beitrag zur Geschichte von Ost- und Westpreußen unter Friedrich dem Großen, Berlin 1899, S. 80, Anm. 2. 82 Vgl. oben Fn. 60. 83 L’Homme de Courbière, Geschichte (Fn. 37), S. 89 f. 84 So Göse, Landstände und Militär (Fn. 28), S. 213 f. 85 So die aus Ostpreußen eingegangenen „Bedenken derer vom Herren-Stand, und Land Räthe vom 16ten Juli 1740“, Abschrift: GStA PK, II. HA, Generaldirektorium Ostpreußen II (Materien), Nr. 5547; sie baten darum, dass nicht „leibeigene“ Leute, Verwalter, Pächter, Bauern usw. ausgehoben werden sollten; vgl. Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, 6. Bd., 2. Hälfte, Berlin 1901 (Neudruck Frankfurt a. M. 1986/87), S. 46 – 57, Nr. 31 [im Folgenden: A. B. B.]. 86 A. B. B., Bd. 6, 2. Hälfte, Nr. 31, S. 57.

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eine Begrenzung bei der „Enrollierung der Landleute“: Wer einen Hof besitze, der solle „vom Soldatendienst gänzlich befreiet werden“.87 Die Lasten der Enrollierung seien zu mindern.88 Die Magdeburger Stände, besonders oppositionserprobt in den letzten Jahrzehnten, klagten über die Bürden des Militärs, hoben aber – ähnlich wie die Gravamina aus Ostpreußen – darauf ab, dass künftig die Enrollierung zusammen mit einem ständischen Ausschuss durchgeführt werden solle, wenn nicht diese Praxis ganz abgeschafft werde.89 Die Landstände des Fürstentums Minden beschränkten sich auf Details, ohne Fundamentalkritik an der Kantonverfassung vorzubringen. Im äußersten preußischen Westen, in Kleve und Mark, forderten die Gravamina 1740 die Abschaffung der „Werbe-Cantons“,90 und sie wiederholten ihre Forderung im Jahre 1748, in dem ja dann in der Tat in den westlichsten Regionen des Staates diese Einrichtung abgeschafft wurde.91 Auch in den folgenden Jahrzehnten war die Zusammenarbeit zwischen ziviler Administration und den Landständen, wenn es um Militärangelegenheiten ging, im preußischen Westen besonders intensiv.92 Es hat etwas gedauert bis die Forderung, Vertreter der Ritterschaft bei der praktischen Handhabung des Kanton- und Aushebungssystems zu beteiligen, erfüllt worden ist. Seit 1763 waren die Landräte in den Kreisen die „zentrale Figur“,93 also Ver87 A. B. B., Bd. 6, 2. Hälfte, S. 66 – 76, Nr. 35, Zitat: S. 69 f., 28. Juli/1. August 1740; dazu das Protokoll vom 18. Juli 1740: BLHA, Rep. 23 A, Akte B 65; siehe auch das Landschaftsprotokoll vom 4. März 1743 (in der Akte A 56) mit der Klage über zunehmende Rekrutierung, daneben die Notiz „Ist resolviret“. 88 Ebd., S. 69 f. 89 A. B. B., Bd. 6, 2. Hälfte, S. 90 – 94, Nr. 41, als Regest, bes. S. 91 f., 93: Ungehorsam der Enrollierten; keine grundsätzliche Kritik an der neuen Einrichtung aus Minden: Kloosterhuis (Bearb.), Bauern, Bürger und Soldaten (Fn. 70), S. 71 – 73, Quelle Nr. 40. 90 A. B. B., Bd. 6, 2. Hälfte, S. 133 – 138, Nr. 59 (Gravamina vom 4. September 1740), bes. S. 134. 91 Siehe oben bei und mit Fn. 70; Georg Mestwerdt, Das clevische Land seit der Vereinigung mit Brandenburg-Preußen, 2. Teil, Cleve 1910, S. 58 f.; vgl. Kloosterhuis (Bearb.), Bauern, Bürger und Soldaten (Fn. 70), S. 88, Quelle 53. 92 Kloosterhuis, Kantonsystem und Regimentskultur (Fn. 23), S. 99; ders. (Bearb.), Bauern, Bürger und Soldaten (Fn. 70), S. 170 – 175 (174), mit interessanten Details; J. J. Scotti (Hrsg.), Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem Herzogtum Cleve und der Grafschaft Mark […] ergangen sind […], 4. Tl., Düsseldorf 1826, Nr. 2406: Publikandum der Stände, 12. Mai 1789, S. 2333 – 2341: „Convention mit denen Landständen des Herzogthums Cleve über freywillige Anwerbung einer Anzahl Einländer für die Weselschen Regimenter […]“ (2333). 93 So Harnisch, Kantonsystem (Fn. 60), S. 147, dort auch folgendes Zitat; Landräte seit 1763: Neugebauer, Staatsverfassung und Heeresverfassung (Fn. 51), S. 97; Kloosterhuis, Zwischen Aufruhr und Akzeptanz (Fn. 70), S. 188; plastisch: ders. (Bearb.), Bauern, Bürger und Soldaten (Fn. 70), S. 187 – 190, Nr. 114 und 115 (1800); Georg Heinrich Borowski, Abriß des praktischen Cameral- und Finanz-Wesens nach den Grundsätzen, Landes=Verfassungen und Landes-Gesetzen in den Königlich Preußischen Staaten, 1. Bd., 2. Auflage, Berlin 1799, S. 616 f.; Messung der Körpergröße: S. 622, 625; die Instruktion vom 20. September 1763 bei Frauenholz, Heerwesen (Fn. 60), S. 281 – 287, Nr. 71, bes. S. 284.

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trauensmänner der Stände, die in der Zeit Friedrichs II. wieder von der Ritterschaft bestimmt wurden. Hartmut Harnisch hat für die zweite Hälfte seiner Regierung geradezu von einem „Kondominat von absolutistischem Herrscher und Landadel“ in der preußischen Militärverfassung gesprochen. Im selben Jahr 1763 wurde die Ausländerwerbung den Truppeneinheiten entzogen und nun auf „Staatsrechnung“ und auf höherer Ebene betrieben.94 Es kann heute kein Zweifel mehr daran bestehen, dass „das Bild eines scharfen Antagonismus zwischen Ständetum und Landesherrschaft auch im Bereich des Militärwesens einiger Einschränkungen bedarf“.95 Vieles spricht dafür, dass im späteren 18. Jahrhundert die Landstände in den Regionen Brandenburgs sogar wieder mehr Einfluss auf die Organisation militärischer Gewalt erlangten.96 Nicht visible Aktionen waren es, die das zunehmende Gewicht landständischer Leistungen und Interventionen in das altpreußische Militärsystem markierten. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts blieb die Patina des Königsheeres intakt und unverletzt, aber es wäre ein Irrtum, wenn davon ausgegangen würde, dass die „Verstaatung“ des politischen Gewaltpotentials in der Frühen Neuzeit ein linear fortschreitender Prozess gewesen wäre. Der Unterhalt der Truppe, vor allem der mobilen Einheiten der Armee, ihre Beweglichkeit im Lande, war von der landesherrlichen Verwaltung alleine nicht zu gewährleisten. Es waren erhebliche Größenordnungen, um die es etwa bei der Fourage für die Kavallerie ging, und dazu wurde nun nach 1763 die Kooperation mit „ständischen Deputierten“ umso mehr notwendig.97 Mit ihnen musste verhandelt werden, wie dies für die vor- und hinterpommerschen Landstände in den 1780er-Jahren gut dokumentiert ist.98 Um die erforderlichen Mengen von Hafer, Heu und Stroh zur Verfügung zu halten, waren die landschaftlichen Eliten und ihre Kooperation erforderlich. Allein in Pommern handelte es sich bei den Fouragelieferungen um Werte von 200.000 Talern im Jahr.99 – Für den Festungsbau in Graudenz hat die ostpreußische Ritterschaft in den Jahren 1777 bis 1786 Leistungen in der 94 Und zwar durch die neuen General-Inspekteure, vgl. Gansauge, Kriegswesen (Fn. 58), S. 117; Borowski, Abriß (Fn. 93), S. 645; Ribbentrop, Verfassung (Fn. 65), S. 37. 95 So generell zum 17. und 18. Jahrhundert Göse, Landstände und Militär (Fn. 28), S. 219. 96 Ähnlich die Beobachtung von Kloosterhuis, Kantonsystem und Regimentskultur (Fn. 23), S. 101. 97 Für die Zeit nach dem Siebenjährigen Krieg die Mitteilungen von Otto Hintze, Einleitende Darstellung der Behördenorganisation und allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrichs II. (A. B. B., Bd. 6, 1. Hälfte), Berlin 1901, S. 353; vgl. die Eingabe der „Deputierten der ostpreußischen Ritterschaft“, gez. Finckenstein, Buddenbrock, 29. November 1788, Ausfertigung, GStA PK, II. HA, Generaldirektorium, Ostpreußen II, Materien, Nr. 5548. 98 Im Besitz des Verf. (2004 im Handel erworben), das umfängliche Konvolut: „Acta Manualia betreffend Die in Anno 1787 Allerhöchst verordnete Abänderung der seit Anno 1763 von der Provinz Pommern geleisteten Fonrage Lieferung für die Cavallerie Vol. III.“ Darin in Abschrift der Bericht der pommerschen Kriegs- und Domänenkammer vom 15. Januar 1787, in der diese die Haltung der pommerschen Landstände, mit denen sie „Unterhandlung“ pflegt, in ganz auffälliger Weise unterstützt. 99 Acta Manualia (Fn. 98), zu der „Verhandlung mit denen Ständen“ (1787).

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Größenordnung von 450.000 Talern aufgebracht, und sie hat danach die Organisation von Arbeitskräften getragen.100 Die Beispiele mögen genügen. Wenn die ältere Forschung von der These ausging, dass im preußischen „Absolutismus“ monarchische Reservatbereiche entstanden seien, in denen landständische Faktoren keine Rolle mehr gespielt hätten, wofür das Militärwesen ein klassisches Beispiel sei,101 so bedarf diese Ansicht der Revision. Die Genese des preußischen „Kantonreglements“ von 1792102 gehört ganz wesentlich in diesen Kontext. Bis dahin hatte es in Preußen eine, wir hörten es, 1733 durch verschiedene (Zirkular-)Ordern kodifizierte Kantonverfassung,103 nicht aber ein einheitliches „Kantonreglement“ gegeben. Dieses ging, wie sich jetzt zeigt, auf eine Intervention der ostpreußischen Landstände zurück, gefolgt von Verhandlungen der Stände in (den) anderen Landschaften der Monarchie. Die Schlussredaktion, die Beratungen im Umfeld des 1787 neu geschaffenen Ober-Kriegskollegiums,104 wahrte nach außen hin das performative Bild monarchischer Prärogative. Bis dahin gab es keine staatseinheitliche Rechtsgrundlage für die preußische Kantonverfassung.105 Die ostpreußischen Landstände haben auf dem Landtag von 1786/ 87106 diesbezügliche Gravamina ausgearbeitet. Deputierte der Stände haben am 23. April 1787 und danach vor allem zum Kantonwesen Vorschläge eingereicht,107 100 A. von Crousaz, Die Organisation des Brandenburgischen und Preußischen Heeres seit 1640 […], 1. Tl., 2. Aufl., Berlin/Wriezen a. O. 1873, S. 112, 184; Leistungen durch die Ritterschaft: GStA PK, XX. HA, Ostpreußische Folianten, Nr. 775 und 15672; zum Zwecke des Festungsbaus fanden besondere Ständeversammlungen und Deputiertenwahlen östlich der Weichsel statt. 101 Vgl. oben Fn. 19. 102 Mit weiterer, älterer und neuerer Lit. auf der Basis neuer Aktenfunde: Wolfgang Neugebauer, Landstände und Militär im preußischen „Absolutismus“, in: Christan Th. Müller/ Matthias Rogg (Hrsg.), Das ist Militärgeschichte. Probleme – Projekte – Perspektiven. Mit Unterstützung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Paderborn u. a. 2013, S. 27 – 47, zum Folgenden ausführlicher 38 – 46. 103 Vgl. oben Fn. 60. 104 Dazu Rudolf Schmidt-Bückeburg, Das Militärkabinett der preußischen Könige und deutschen Kaiser. Seine geschichtliche Entwicklung und staatsrechtliche Stellung 1787 – 1918, Berlin 1933, S. 4 – 9; unverzichtbar: Hans Helfritz, Geschichte der Preußischen Heeresverwaltung, Berlin 1938, S. 147 f.; C[olmar] Frhr. v. d. Goltz, Von Roßbach bis Jena und Auerstedt. Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen Heeres, 2. Aufl., Berlin 1906, S. 236. 105 Vgl. Martin Winter, Untertanengeist durch Militärpflicht? Das preußische Kantonsystem in brandenburgischen Städten des 18. Jahrhunderts, Bielefeld 2005, S. 241; Winter hat in seiner Darstellung der Vorgeschichte des Kantonreglements von 1792 (S. 250 – 252) sich ganz auf die bürokratische Seite der Vorgänge konzentriert und die ständischen Impulse übersehen, jedenfalls minimiert (vgl. 252). 106 Vgl. zum Hintergrund Neugebauer, Politischer Wandel (Fn. 47), S. 92 – 108; Edith Spiro, Die Gravamina der Ostpreußischen Stände auf den Huldigungslandtagen des 18. Jahrhunderts, Phil. Diss. Breslau 1919, S. 53 – 80, hier 63 f. 107 Abschrift der Gravamina: GStA PK, II. HA, Generaldirektorium Ostpreußen II, Nr. 5548, datiert Königsberg 27. April 1787, unterzeichnet von den Ritterschaftsdeputierten von Ostau, von Auer, Dohna, Finckenstein und von Hülsen.

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die am Anfang der Genese des berühmten „Kantonreglements“ des Jahres 1792 stehen. Die Monita und die Motive, die die Deputierten der Ritterschaft in Königsberg formulierten, waren eigentlich nicht neu, es waren Themen, die im preußischen Staatsdiskurs des 18. Jahrhunderts immer wieder angesprochen worden waren: dass einige Regimenter Männer annähmen, die ihren Gutsherren entlaufen waren, dass Soldaten in den Städten ohne Konsens ihres Herren ein Handwerk erlernten und damit existierende Festsetzungen des Königs über „bereits bestimmte Militär Einrichtungen“ verletzten. Nicht um eine Abschaffung der Kantonverfassung ging es den Herren vom Adel, sondern ganz im Gegenteil um eine „nähere Bestimmung“ der „Königl. Cantons Instruction“.108 Missbräuche bei den Kantonbereisungen und den jährlichen Kantonrevisionen hatten den Landtag intensiv beschäftigt. Im Kern sollten sozial mobilisierende Effekte der Kriegsverfassung begrenzt und die Aushebungspraxis besser auf die Bedürfnisse von Landwirtschaft und Gutsherrschaften abgestimmt werden. In diesem Sinne kamen die Ritterschaftsdeputierten um eine „Abänderung der Cantons-Instruction“ ein.109 Das war der initiale Impuls für Verhandlungen innerhalb und außerhalb Berlins, die sich über mehrere Jahre erstreckten. Zu diesem Zweck reisten Deputierte der ostpreußischen Stände Anfang 1788 nach Berlin, um die „Abhelfung“ ihrer Beschwerden beim Oberkriegskollegium zu betreiben. „Die Stände erbitten sich also ein vollständiges Reglement“, und sie markierten auch gleich selbst die zentralen Punkte, die in ihm zu regeln seien.110 Die folgenden Korrespondenzen zwischen den obersten preußischen Staatsbehörden, zwischen Generaldirektorium und Oberkriegskollegium, vom Frühjahr 1788 nehmen auf die Vorstellungen der ostpreußischen Ritterschaft direkt Bezug und lassen keinen Zweifel daran, dass damit der Weg zum Kantonreglement von 1792 eröffnet worden war.111 108 Ebd. Vgl. auch den Auszug aus den Landesgravamina vom 27. April 1787: GStA PK, XX. HA, Ostpreußische Folianten, Nr. 15672. 109 Promemoria der Ritterschaft vom 6. Januar 1787: GStA PK, II. HA, Generaldirektorium, Ostpreußen II Materien, Nr. 5548; Soldaten, die eigentlich „glebae adscriptae“ seien, würden nach ihrer Verabschiedung nicht zu ihrer Herrschaft zurückkehren. Es wird auf die „Cantons-Instruction von 1764 u. 1765“ verwiesen. 110 GStA PK, II. HA, Generaldirektorium Ostpreußen II, Materien, Nr. 5548, Supplik gez. Finckenstein und Buddenbrock, datiert Berlin 10. Februar 1788; auf dem Stück eine Angabe des Ministers von Gaudi; das Zitat aus dem „Pro Memoria“ der ostpreußischen „Stände“ vom selben Tage. In einer Beilage zu dem Pro Memoria wird von einer Vermögensgrenze für die Exemtionen von 6.000 Talern gesprochen und die Frage erörtert, wie dieser Wert zu errechnen sei. 111 Siehe dazu die Aktenbände im GStA PK, II. HA, Generaldirektorium Ostpreußen II, Materien, Nr. 5548, besonders das Anschreiben des Ministers v. Gaudi an das Oberkriegskollegium vom 15. Februar 1788 zu Beschwerden der „Deputirten der Ostpreuß. Ritterschaft“ und dazu, dass sie sich bereits an das Oberkriegskollegium gewandt hätten; sodann die Akte im Bestand GStA PK, II. HA, Generaldirektorium (Abt. 3), Generaldepartement, Tit. 32, Nr. 2, Vol. 1, mit dem Anschreiben des Oberkriegskollegiums an das Generaldirektorium vom 22. März 1788, wegen der „Cantons-Beschwerden“ der „Ost-Preußischen Stände“, ferner zu einer bereits eingesetzten „Kommission“, die „über ein allgemeines und allen königlichen

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Es ist an dieser Stelle nicht erforderlich, erneut den weiteren Verhandlungsgang innerhalb der Berliner Kollegien und Kommissionen bis zum fertigen Reglement des Jahres 1792 zu verfolgen.112 Eines freilich ist für unsere Fragestellung wesentlich: Auch die folgenden weiteren Beratungen waren nicht rein „staatliche“, inneradministrative. Die brandenburgischen Landstände sind, wie ihre Aktenüberlieferung beweist, über den ersten Kommissionsentwurf des Kantonreglements zur Beratung gezogen worden.113 Im Fürstentum Minden war schon seit 1782 mit den dortigen Landständen über die Kantonspraxis beraten worden.114 Die Stände der Grafschaft Mark haben ebenso wie die von Tecklenburg und Lingen an den Diskussionen über das Kantonreglement teilgenommen. Aus dem Westen der Monarchie stammte die in das Reglement aufgenommene Bestimmung, dass künftig die Dienstzeit auf zwanzig Jahre begrenzt sein sollte.115 Im Ergebnis erschien das „Reglement, nach welchem in den Königlichen Staaten, jedoch mit Ausnahme des souveränen Herzogthums Schlesien und der Grafschaft Glatz bey Ergänzung der Regimenter mit Einländern, in Friedenszeiten verfahren werden soll“.116 Obschon darin eingangs nur von der Kommission, nicht aber von den ständischen Verhandlungen berichtet wurde, folgte es ganz den Forderungen der Landstände, die diese schriftliche Kodifikation der altpreußischen Kriegsverfassung herbeigeführt hatten.117 Nach außen hin wurde die Fassade des landesherrlichen Reservatraums Armee gewahrt; dabei wurden die Exemtionen extensiv bestimmt und die bisherigen Regelungen detailliert zusammengetragen. Berg- und Hüttenarbeiter waren generell eximiert.118 Selbst „Schafmeister“, wenn Provinzen angemessenes Canton-Reglement“ beraten solle. In dieser Akte Stücke aus dem Jahre 1790, als über die Spezialexemtionen verhandelt wurde. 112 Vgl. zuletzt Neugebauer, Landstände und Militär (Fn. 102); Winter, Untertanengeist (Fn. 105), S. 253 – 256 (Möllendorff-Kommission); auf der Basis einer noch nicht durch Kriegsverluste beeinträchtigten Überlieferung v. d. Goltz, Von Roßbach bis Jena (Fn. 104), S. 242; Mitteilungen aus dem Archiv des Königlichen Kriegsministeriums, Heft 2, Berlin 1891, S. 82 f.: Kabinettsorder vom 20. April 1788 (Einsetzung der Kommission), und weiter S. 84 – 97; Referat aus den Akten der inneradministrativen Diskussion: Jany, Geschichte (Fn. 30), Bd. 3, S. 188 – 190, freilich ganz etatistisch; l’Homme de Courbière, Geschichte (Fn. 37), S. 132 – 135. 113 Siehe die Akte: BLHA, Rep. 23 B, Nr. 1425, aus dem Archiv der neumärkischen Landstände, besonders aus dem Jahre 1789. Es ging ganz wesentlich um die Einhegung der Mobilitätsfolgen des Militärdienstes; Entlassene sollten in ihre Herrschaft zurückkehren. 114 Die Quellen bei Kloosterhuis (Bearb.), Bauern, Bürger und Soldaten (Fn. 70), S. 148, Nr. 95 a, S. 151, Nr. 101 d, Wirkungen ständischer Forderungen: S. 159, Nr. 101 c (1788). 115 Die Quellen bei Kloosterhuis (Bearb.), Bauern, Bürger und Soldaten (Fn. 70), S. 165 f., Nr. 104, S. 168 f., Nr. 106; ders., Zwischen Aufruhr und Akzeptanz (Fn. 70), S. 188 f.; Büsch, Militärsystem (Fn. 25), S. 46. 116 Druck: Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium Praecipue Marchicarum [im Folgenden: N. C. C. M.], Bd. 9, Berlin 1796, Nr. 10 zu 1792, Sp. 777 – 836. 117 Ebd., Sp. 777 f.; vgl. Ribbentrop, Verfassung (Fn. 65), S. 45, wo die Genese des neuen Kantonreglements ganz als staatliche Veranstaltung, d. h. eine der Kommissionen (unter Moellendorff), der Departements und „Provinzial-Collegien“ dargestellt wird. 118 Kantonreglement 1792, N. C. C. M., Bd. 9, Sp. 779 f.: Kantonfreiheit des Adels, zu Exemtionen weiter Sp. 779 – 781, „Schafmeister“: Sp. 795 f.

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sie nicht eine bestimmte Körpergröße erreichten, sollten bei Herden von 1.500 Tieren und mehr künftig gleichfalls nicht der Pflichtigkeit unterliegen. Eingehend wurden die Mobilitätsgrenzen Kantonpflichtiger geregelt,119 wesentliches Anliegen der landständischen Demarchen. „Unterthanen, die ihren Grundherrschaften zum Trotz, denenselben entlaufen, und bey einem Regiment eingestellt zu werden verlangen, sollen von demselben an den Landrath des Creises, wozu sie gehören, zurückgeliefert werden“.120 Von den (um 1792) rund 6,5 Millionen deutschen Untertanen im preußischen Staat gehörten 1,7 Millionen zu den von Kantonpflichtigkeit befreiten Personengruppen121 – vom Adel bis zu den Schafhirten. Von einer allgemeinen Wehrpflicht war dies weiter entfernt denn je, so dass es zweifelhaft erscheint, wenn im Kantonreglement des Jahres 1792 ein Element militärischer Vorreform erkannt werden wollte.122 Die altpreußische Armee blieb bis zur Katastrophe der Jahre 1806/07 geprägt von alteuropäischen Traditionen; 90 % der Offiziere waren vom Adel, wenngleich bedacht werden muss, dass gerade militärische Leistungen zur Nobilitierung führen konnten.123 Vielleicht wird mit all diesen Beobachtungen die altpreußische Armee um so mehr ein Teil epochentypischer Normalität. Auch der Anteil staatlicher Ausgaben für das Instrument kriegerischer Gewalt mit (um 1740) etwa 80 % des Etats war im bellizistischen Europa seiner Zeit alles andere als ein Alleinstellungsmerkmal, und ausgerechnet England steht dem sehr nahe, wenn die Flottenaufwendungen einbezogen werden.124 Zur Schlagkraft der preußischen Armee im Kriege trug lange

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N. C. C. M., Bd. 9, Sp. 801 – 804 (§§ 31 – 39). Ebd., Sp. 819 f. (§ 87); nach § 88 sollte der Landrat aber untersuchen, ob der Untertan Recht zur Klage gegen seine Herrschaft habe; falls ja, durfte er zum Regiment gehen; vgl. auch Ribbentrop, Verfassung (Fn. 65), S. 77, 49 – 75 (Exemtionen). 121 So Dierk Walter, Preußische Heeresreformen 1807 – 1870. Militärische Innovation und der Mythos der „Roonschen Reform“, Paderborn u. a. 2003, S. 247, d. h. ohne die polnische Bevölkerung; vgl. noch Heribert Händel, Der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht in der Wehrverfassung des Königreiches Preußen bis 1819, insbesondere ein Beitrag zur Frage des Einflusses der Französischen Revolution auf die Scharnhorst-Boyensche Reformgesetzgebung nach 1807, Berlin/Frankfurt a. M. 1962, S. 32 f. auch zu den gänzlich eximierten Gebieten; vgl. Winter, Untertanengeist (Fn. 105), S. 249; Borowski, Abriß (Fn. 93), S. 632 – 636. 122 In diesem Sinne aber Manfred Messerschmidt, Das preußische Militärwesen, in: Neugebauer (Hrsg.), Handbuch (Fn. 4), Bd. 3, Berlin/New York 2001, S. 319 – 546, hier S. 363. 123 Prozentzahl: Büsch, Militärsystem (Fn. 25), S. 93; Nobilitierungen: Fritz Martiny, Die Adelsfrage in Preußen vor 1806 als politisches und soziales Problem. Erläutert am Beispiele des kurmärkischen Adels, Stuttgart/Berlin 1938, S. 77. 124 Grundsätzlich Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), S. 509 – 574 (558); vgl. Brewer, Sinews (Fn. 22), S. 40, 43; Michael Mann, Geschichte der Macht. Vom Römischen Reich bis zum Vorabend der Industrialisierung, 2. Bd., Frankfurt a. M./New York 1994, S. 372 – 382 (auch zu den USA und den Niederlanden); Franz Schneider, Geschichte der formellen Staatswirtschaft von Brandenburg-Preußen, Berlin 1952, S. 95. 120

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Zeit ganz wesentlich die Kohäsion der Truppe, die durch die je spezifische „Regimentskultur“ stabilisiert wurde,125 bei. Nach Jena und Tilsit bestanden von 200 Einheiten, über die die altpreußische Armee verfügt hatte, nur 51 weiter: Zwei Drittel, d. h. 5.000 Offiziere wurden entlassen,126 freilich nur gut 200 wegen Fehlverhaltens und Bestrafung.127 Manche Änderung im bisherigen Kriegssystem ergab sich aus der Situation der Zeit. Die territoriale Revolution im Heiligen Römischen Reich hatte 1802/03 auch die Bedingungen für die Werbung im „Ausland“ verändert, und nach dem Zusammenbruch Preußens bedeutete die Kabinettsorder vom 13. Dezember 1807128, die die bisherige Rekrutierungspraxis jenseits der Grenzen beendete, nur den förmlichen Vollzug einer schon praktischen Entwicklung. Strategische Entscheidungen für die künftige Organisation militärischer Gewalt hatte die mit königlicher Order vom 25. Juli 1807 eingesetzte „Militär-Reorganisationskommission“ zu erarbeiten, der Gerhard von Scharnhorst als Vorsitzender und u. a. Neidhardt von Gneisenau als Mitglied angehörten, ein Organ, in dem freilich Reformer und Traditionalisten bisweilen heftig miteinander rangen.129 Es ist an dieser Stelle nur von Nöten, die zentralen Elemente jener Militärreform zu skizzieren, die die preußische Armee im Jahrzehnt von 1807/8 bis 1818 modernisierte und verstaatlichte. Schon vor der Niederlage hatte es im preußischen Offizierskorps freilich eine bemerkenswerte Reformdiskussion gegeben, und der Monarch hatte sich ihr durchaus nicht verschlossen.130 Im Juli 1807 gab Friedrich Wil125

Vgl. Kloosterhuis, Kantonsystem und Regimentskultur (Fn. 23), S. 100 f. Nach Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 250 f.; ders., Was blieb von den preußischen Militärreformen 1807 – 1814? in: Jürgen Kloosterhuis/Sönke Neitzel (Hrsg.), Krise, Reformen und Militär. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806, Berlin 2009, S. 107 – 127 (114). 127 Siehe die Dokumentation: 1806. Das Preußische Offizierskorps und die Untersuchung der Kriegsereignisse, hrsg. vom Großen Generalstabe, Kriegsgeschichtliche Abteilung II, Berlin 1906, S. 86, Anm. 128 Vgl. das Regest bei Rudolf Vaupel (Hrsg.), Die Reorganisation des Preussischen Staates unter Stein und Hardenberg, 2. Teil: Das Preussische Heer vom Tilsiter Frieden bis zur Befreiung 1807 – 1814, Bd. 1, Leipzig 1938, Neudruck Osnabrück 1968, S. 16, Nr. 11 (Regest); vgl. Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 257. 129 Kabinettsorder vom 25. Juli 1807 bei Vaupel (Hrsg.), Reorganisation (Fn. 128), S. 7 f., Nr. 8, auch zu weiteren, konservativen Mitgliedern; später gehörten auch Carl von Grolman und Hermann von Boyen der Kommission an, daneben Konservative; vgl. Reinhard Höhn, Verfassungskampf und Heereseid. Der Kampf des Bürgertums um das Heer (1815 – 1850), Leipzig 1938, S. 13 („Scharnhorst und Gneisenau hatten sich in der Reorganisationskommission nur mit großer Mühe durchsetzen können“); Messerschmidt, Militärwesen (Fn. 122), S. 366 – 368; Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 248 – 252; nach wie vor unverzichtbar: E[mil] v. Conrady, Leben und Wirken des Generals der Infanterie […] Carl von Grolman […], 3 Teile, Berlin 1894 – 1896, hier Bd. 1, S. 143 – 146. 130 So die bemerkenswerten Mitteilungen von Lehmann, Scharnhorst (Fn. 71), 2. Teil, S. 8 f., auch zum Widerstand des Herzogs von Braunschweig; vgl. auch ebd., S. 104, und Olaf Jessen, „Preußens Napoleon“? Ernst von Rüchel 1754 – 1823. Krieg im Zeitalter der Vernunft, Paderborn u. a. 2007, S. 246 f. 126

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helm III. von Memel aus „Richtlinien für die Reorganisation der Armee“ in einer eigenhändigen Denkschrift. Die Säuberung des Offizierskorps stand dabei obenan, ebenso die Öffnung der militärischen Führungsränge für neue Schichten. „Würde mit dem Eintritt der Unadeligen nicht eine Abänderung zu treffen sein und solche mehr zugelassen werden müssen?“,131 hieß es da. Das Rekrutierungssystem sei grundlegend zu reformieren, und die Exemtionen sollten drastisch reduziert werden. Dann aber war auch ein neues Militärstrafrecht unabdingbar, eines, das „weniger diffamierend“ sei. Ferner deutete der König das Ende der traditionalen Kompaniewirtschaft an,132 gleichsam die endgültige Verstaatlichung der Truppenteile und zugleich der Offiziersfunktionen.133 Carl von Grolman hat ganz wesentlich den Part der Militärreform bearbeitet, der die Reform des Offizierskorps betraf, mündend in dem Reglement vom 6. August 1808. „Einen Anspruch auf Offiziersstellen sollen von nun an in Friedenszeiten nur Kenntnisse und Bildung gewähren, in Kriegeszeiten ausgezeichnete Tapferkeit und Ueberblick. Aus der ganzen Nation können daher alle Individuen, die diese Eigenschaften besitzen, auf die höchsten Ehrenstellen im Militair Anspruch machen. Aller bisher Statt gehabte Vorzug des Standes hört beim Militär ganz auf, und jeder ohne Rücksicht auf seine Herkunft hat gleiche Pflichten und gleiche Rechte.“134 Friedrich Wilhelm III. hatte 1807, wie wir hörten, nur eine Verminderung der Exemtionen gewollt, und auch in den folgenden Jahren hat der Monarch starke Vorbe-

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So die Überschrift des Herausgebers Vaupel (Hrsg.), Reorganisation (Fn. 128), S. 8 – 11, Nr. 9, Zitat: S. 9; Scharnhorst selbst hat in einem Schreiben an Clausewitz aus Memel (27. November 1807) die Richtlinien des Königs sehr hoch eingeschätzt, vgl. Georg Heinrich Klippel, Das Leben des Generals von Scharnhorst. Nach größtentheils bisher unbenutzten Quellen, 3. Teil, Leipzig 1871, S. 359; Hans Delbrück, Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau. In zwei Bänden, 1. Bd., 3. Aufl., Berlin 1908, S. 125 f.; Lehmann, Scharnhorst (Fn. 71), 2. Teil, S. 8, S. 61 – 63; vgl. Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit, Berlin 1992, S. 339 f. 132 Vgl. bei Vaupel (Hrsg.), Reorganisation (Fn. 128), S. 9 f.; vgl. auch die Materialsammlung [ohne Verfasserangabe], Die Reorganisation der Preußischen Armee nach dem Tilsiter Frieden. Mit Beilagen, 2. Bd., Beihefte zum Militär-Wochenblatt für August 1865 bis einschließlich Oktober 1866. Redigirt von der historischen Abteilung des Generalstabes, Berlin 1866 (Neudruck Buchholz-Sprötze 1999), S. 95 f. 133 Vgl. Fn. 35; zur Abkehr von der Kompaniewirtschaft in Preußen seit 1807/08 vgl. Meinecke, Boyen (Fn. 15), Bd. 1, S. 184 f. 134 Reglement über die Besetzung der Stellen der Portepee-Fähnriche und über die Wahl zum Offizier bei der Infanterie, Kavallerie und Artillerie, 6. August 1808, in: Sammlung der für die Königlichen Preußischen Staaten erschienenen Gesetze und Verordnungen von 1806 bis zum 27. Oktober 1810 […]. Als Anhang zu der seit dem Jahre 1810 edierten GesetzSammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Berlin 1822, S. 275 – 277, Nr. 45 (Zitat: 275); Grolman und die Reform: Conrady, Grolman (Fn. 129), Bd. 1, S. 159 – 159 f.; Walter, Was blieb (Fn. 126), S. 114 f.; Reinhard Höhn, Scharnhorsts Vermächtnis, 2. Aufl., Frankfurt a. M./Bad Homburg 1972, S. 223 – 226; vgl. auch den Aufsatz Gneisenaus aus Königsberg, 2. Juli 1808, bei Vaupel (Hrsg.), Reorganisation (Fn. 128), S. 490, Nr. 196.

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halte gegen die allgemeine Wehrpflicht gehegt.135 In diesem zentralen Punkte bestanden erhebliche Differenzen etwa zur Position Scharnhorsts.136 Gleichwohl waren schon die Reformmaßnahmen, die in einer ersten Welle im Jahre 1808 kulminierten, von diesem Prinzip bestimmt. „Da künftig jeder Unterthan des Staats ohne Unterschied der Geburt, unter den noch näher zu bestimmenden Zeit- und sonstigen Verhältnissen, zum Kriegesdienste verpflichtet werden soll, und hiernach die Armee fast gänzlich aus Einländern bestehen wird; so erwarten Seine Königliche Majestät, überzeugt von dem Pflichtgefühl und der treuen Anhänglichkeit Höchstdero Unterthanen, daß sie als Söhne des Vaterlandes ihren hohen Beruf und ihre Pflicht, dasselbe zu beschützen, und zu vertheidigen […] zum steten Augenmerke haben“.137 Dann war ihnen künftig der Weg zu Offiziersstellen auch „bis zum höchsten Grade“ offen. Eine solche ethische Grundlage der Soldatenexistenz bedingte freilich, dass die Anreizsysteme auf das Ehrsprinzip, das also nun jedem Soldaten galt, umgestellt, das Pönalsystem humanisiert und etwa „die Strafe des Gassenlaufens“ gänzlich abgeschafft wurde. Die Militär-Reorganisationskommission hatte ganz neue Argumente vorgetragen, als sie dem König gegenüber darauf verwies, dass „die öffentliche Meinung verlang[e]“, dass fortan „weniger entehrende Bestrafungsarten“ gegenüber den Soldaten praktiziert würden.138 Wenn künftig das Heer durch „Konskription“ rekrutiert werden solle, müsse das Strafsystem ganz auf das „Ehrgefühl“ abgestellt werden. Das hieß, dass fortan Auszeichnungen und Belohnungen auch für einfache Soldaten geschaffen werden müssten. Ein Heer aus Inländern, gestützt auf das Prinzip von Ehre und die Allgemeinheit des Dienens, nicht mehr durchsetzt von „geworbenen“ Ausländern, also „Freiheit der Rücken“ (Gneisenau),139 das war das Reformideal. Dass Soldaten „im wahren Sinne 135 Vgl. Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 251, Anm. 103 (bis 1810); Lehmann, Scharnhorst (Fn. 71), 2. Teil, S. 98. 136 Delbrück, Gneisenau (Fn. 131), Bd. 1, S. 131, 167; Conrady, Grolman (Fn. 129), Bd. 1, S. 151; Beratungen über die allgemeine Wehrpflicht 1810: Gerhard von Scharnhorst, Private und dienstliche Schriften, hrsg. von Johannes Kunisch/Michael Sikora/Tilman Stieve, 8 Bde., Köln/Weimar/Wien 2002 – 2014, Bd. 6, S. 385 – 400 (391: allgemeine „Konskription“); Reorganisation der Preußischen Armee (Fn. 132), S. 107 – 110. 137 Sammlung (Fn. 134), S. 253 – 264, Nr. 42: „Kriegsartikel für die Unteroffiziere und gemeinen Soldaten“, 3. August 1808 (Zitat und folgende Quellenstelle: 253). 138 Gemeint: Gassenlaufen, Stockstrafen, vgl. Vaupel (Hrsg.), Reorganisation (Fn. 128), S. 361 – 365, Nr. 137: Immediatbericht der Kommission vom 6. April 1808 (Zitat: 361); ebd., S. 368, Nr. 141: Kabinettsorder vom 11. April 1808: Billigung durch den König; vgl. noch Lehmann, Scharnhorst (Fn. 71), 2. Teil, S. 67, 82, 96, 163 – 165; grundsätzlich Höhn, Scharnhorsts Vermächtnis (Fn. 134), S. 193, 197 – 208 (Auszeichnungen, Belohnungen). 139 Druck des berühmten Aufsatzes bei Delbrück, Gneisenau (Fn. 131), Bd. 1, S. 134 – 136; Friedrich Thimme, König Friedrich Wilhelm III., sein Anteil an der Konvention von Tauroggen und an der Reform von 1807 – 1812, FBPG 18 (1905), S. 1 – 59 (43); Stein für Körperstrafen in der Armee: Votum vom Juni 1808, bei Vaupel (Hrsg.), Reorganisation (Fn. 128), S. 473 f., Nr. 178; Heinz G. Nitschke, Die preußischen Militärreformen 1807 – 1813. Die Tätigkeit der Militärreorganisationskommission und ihre Auswirkungen auf die preußische Armee, Berlin 1983, S. 127 – 133.

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Vaterlands-Verteidiger“ wurden und „sich mehr dem Bürger“ „(an)näherten“, bezeugen Aussagen von Beobachtern der Truppenpraxis140 in den Jahren um 1813. Die Grundlagen für Kommendes waren gelegt, die ständischen Strukturen innerhalb der Armee sehr zielgerichtet transzendiert hin zur Staatlichkeit. Es waren nicht primär Vorbehalte des Königs, die schon 1808 den Durchbruch zur allgemeinen Wehrpflicht verhinderten, sondern außenpolitische, d. h. französische Restriktionen, die die Obergrenze der preußischen Armee auf 42.000 Mann beschränkten; durch ein spezifisches Ausbildungssystem von Reservisten, das „Krümpersystem“, konnte dies nur partiell unterlaufen,141 nicht aber die allgemeine Wehrpflicht selbst erreicht werden. Freilich, und dies darf nicht übergangen werden, gab es gerade aus dem Stadtbürgertum erhebliche Opposition gegen die allgemeine Wehrpflicht. Der König war da nicht allein. Die Elite der Reformmilitärs war sich vollauf bewusst, dass die Veränderung der Heeresverfassung tiefgreifende Wirkungen auf die politischen Strukturen Preußens haben müsste und haben würde. Wenn alle Preußen an einer „allgemeinen Waffenerhebung“ teilhaben sollten, müssten automatisch alle Bauern frei sein. „Für den Preußischen Staat wird eine freie Konstitution proklamiert“, heißt es in einer Denkschrift Gneisenaus aus Königsberg vom August 1808.142 Dass die moderne Heeresverfassung, die alle Preußen ohne Standesunterschied zur Grundlage kriegerischer Staatsgewalt machen würde, zu einer „Nationalberatung“ durch „Abgeordnete der Nation“ führen müsse, war für einen Grolman evident.143 Erst nach dem Bruch mit Napoleon im Frühjahr 1813 wurde das Kantonreglement, das von 1792, dessen Genese wir kennengelernt haben, außer Kraft gesetzt – erst für die Dauer des Krieges, dann 1814 definitiv.144 Allerdings: Ein letztes Mal 140

Vgl. [Karl Wilhelm] v. Tyszka, Erinnerungen aus den Jahren 1812, 13, 14 und 15, auch enthaltend: die Geschichte des 1sten (vormals litauischen) Dragonerregiments, während des Feldzuges in dieser Zeit, Gumbinnen (1829), S. 6. 141 Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 252 – 256, 322 – 324, zu den hier zu übergehenden Details; Stübig, Wehrverfassung (Fn. 15), S. 43 – 45 (Widerstand aus Bürgertum); Walther Hubatsch, Abrüstung und Heeresreform in Preußen von 1807 – 1861, in: Heinrich Bodensieck (Hrsg.), Preußen, Deutschland und der Westen. Auseinandersetzungen und Beziehungen seit 1789. Zum 70. Geburtstag von Oswald Hauser, Göttingen/Zürich 1980, S. 39 – 61 (39 f.); Delbrück, Gneisenau (Fn. 131), Bd. 1, S. 203; v. Tyszka, Erinnerungen (Fn. 140), S. 88 f. (Wirkungen des Krümpersystems). 142 Bei Vaupel (Hrsg.), Reorganisation (Fn. 128), S. 554 f., Nr. 239; vgl. Ritter, Staatskunst (Fn. 15), Bd. 1, S. 99 f., 126. 143 Vaupel (Hrsg.), Reorganisation (Fn. 128), S. 596 f., Nr. 276 (September 1808); zur „freien Verfassung“ die berühmte Denkschrift Gneisenaus vom August 1808, S. 549 – 552, Nr. 237 (Zitat: 549 f.; Vorbild: Spanien); vgl. Höhn, Verfassungskampf (Fn. 129), S. 12; Delbrück, Gneisenau (Fn. 131), Bd. 1, S. 117 f., 122 – 125. 144 Einzelheiten bei Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 263 f., 276 – 278; Meinecke, Boyen (Fn. 15), Bd. 2, S. 117 f. (Kantonreglement bis 1814 in Kraft); zur „faktische[n] Beseitigung der Regimentskantone“ um 1810: Reorganisation der Preußischen Armee (Fn. 132), S. 99; vgl. Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten [im Folgenden: G. S.]

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haben die alten Landstände einer preußischen Region ein entscheidendes Element in die Organisation militärischer Potenzen dieses Staates eingebracht. In Ostpreußen hatte es zum Jahresende 1812 eine Bewegung unter dem dortigen Landadel zur Einberufung eines Landtages respektive einer Ständeversammlung gegeben, in einer Zeit, in der noch französische Truppen östlich der Weichsel standen, russische aber an der östlichen Grenze,145 in den Tagen kurz vor und kurz nach der berühmten Konvention von Tauroggen, geschlossen vom General Yorck.146 Preußen zwischen Weichsel und Memel war nun schon zum wiederholten Male Durchmarschgebiet, und nach der Neutralisierung des preußischen Korps die Zukunft des Landes ungewiß. Unter den Ständevertretern war als Kreisstand aus dem ostpreußischen Oberland Alexander Graf Dohna, 1808 bis 1810 preußischer Staatsminister147 und aus dieser Zeit mit Landwehrplänen der Reformer, Scharnhorsts zumal, in Umrissen durchaus bekannt.148 Das Thema beschäftigte im Februar 1813 die Königsberger Ständeversammlung; Yorck hatte einen förmlichen Landwehrentwurf vorgelegt,149 und so ging aus den dortigen Beschlüssen eine Landwehrordnung für die Gebiete östlich der Weichsel hervor, in der sich zum letzten Mal ständische und staatliche Impulse verbanden;150 die Vertreter Königsbergs und der Städte überhaupt haben sich aber gegen eine Landwehr und eine Beteiligung an ihr ausgespro-

1813, S. 13 f., Nr. 153 (9. Februar 1813), freilich gab es nach wie vor einige Exemtionen: S. 14; H. G. Nitschke, Militärreformen (Fn. 139), S. 109; Messerschmidt, Militärwesen (Fn. 122), S. 364. 145 Vgl. dazu die Nachweise bei Neugebauer, Politischer Wandel (Fn. 47), S. 247, Anm. 265. 146 Näheres vgl. Walter Elze, Der Streit um Tauroggen, Breslau 1926, S. 73 f. und passim. 147 Georg Bujack, Zum Andenken an die Mitglieder des Königsberger Landtags im Februar 1813, an die Ostpreußischen Landwehr-Bataillone und das Ostpreußische National-Cavallerie-Regiment anno 1813 und 1814, Königsberg 1890, S. 109. 148 Vgl. C[hristian] Krollmann, Landwehrbriefe 1813. Ein Denkmal der Erinnerung an den Burggrafen Ludwig zu Dohna-Schlobitten, Danzig 1913, S. XIII f.; ein schriftlicher Plan Scharnhorsts hat den Ständen nicht vorgelegen, vgl. den Brief Alexander Dohnas vom 26. Februar 1820: Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg Theodor von Schön, 6. Bd., Berlin 1883, S. 443; zu Clausewitz: Neugebauer, Politischer Wandel (Fn. 47), S. 250 (mit Nachweisen). 149 Zu den Einzelheiten: Max Lehmann, Knesebeck und Schön. Beiträge zur Geschichte der Freiheitskriege, Leipzig 1875, S. 338 f.; Krollmann, Landwehrbriefe (Fn. 148), S. XVII f.; Initiative Dohnas, der einen Entwurf an Yorck sandte: August Witt, Der preußische Landtag im Februar 1813, Historisches Taschenbuch, 3. Folge, 8 (1857), S. 533 – 615 (573 – 576); [Carl Gerwien], Errichtung der Landwehr und des Landsturms in Ostpreußen, Westpreußen am rechten Weichsel-Ufer und Litthauen im Jahre 1813, Berlin [1847], S. 7 – 28. 150 Vgl. zu den Details: Adalbert Bezzenberger (Hrsg.), Urkunden des Provinzial-Archivs in Königsberg und des Gräflich Dohnaschen Majorats-Archivs in Schlobitten betreffend die Erhebung Ostpreußens im Jahre 1813 und die Errichtung der Landwehr, Königsberg 1894, S. 57 (9 – 25: Verhältnis von Alexander Dohna und dem Text von Clausewitz).

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chen.151 Getragen wurde dieser Schritt zu einer allgemeinen Wehrpflicht vom Adel des Landes. Eine ständische Generalkommission leitete die Aufstellung der ostpreußischen Landwehr,152 mit der der Weg zur Konskription als Grundlage der Rekrutierung beschritten worden ist.153 Nach den Landtagsbeschlüssen, für die nach dem Zeugnis Dohnas österreichische Vorbilder von Bedeutung waren, sollte neben der Landwehr ein Landsturm gebildet werden.154 Seitens der Regierung wurde kein Zweifel daran gelassen, dass, wie Hardenberg im März 1813 betonte, die ostpreußische Landwehr „eine rein ständische Landessache unter Leitung des Militär- und Zivilgouverneurs sei“.155 Unter der ständischen Generalkommission arbeiteten fünf von ihr ernannte Spezialkommissionen im Land, die die praktische Aufstellungsarbeit zu leisten hatten. Nur „Grund=Eigenthümer“, so die Königsberger „Festsetzungen“ vom Februar 1813, kamen für die Offiziersstellen der Brigadiers und Bataillonschefs in Frage; nur geborene Ostpreußen konnten Offiziere sein. Sie wurden auf Vorschlag der Spezialkommission von der Generalkommission ernannt. „Die Priorität der Tat gebührt den Ständen von Ostpreußen“, hat Curt Jany, sonst Vertreter einer streng etatistischen Perspektive, geurteilt.156 Die Wirkungen gingen über die Ursprungsregion weit hinaus. „Es ist plausibel gemacht worden, dass die ostpreußische Landwehr das Modell für die gesamtstaatliche Organisation abgege151

Vgl. die Eingabe der Königsberger Stadtverordneten vom 12. Februar 1813, bei Bujack, Andenken (Fn. 147), S. 37 mit Anm. 3; Rudolf Ibbeken, Preußen 1807 – 1813. Staat und Volk als Idee und in Wirklichkeit (Darstellung und Dokumentation), Köln/Berlin 1970, S. 384; August Seraphim, August Wilhelm Heidemann. Oberbürgermeister von Königsberg […], Königsberg i. Pr. 1913, S. 155 f. 152 Siehe Yorcks Immediatbericht vom 12. Februar 1813, in dem er dem König von den Königsberger Vorgängen Mitteilung machte, bei Bujack, Andenken (Fn. 147), S. 32 – 35; [Gerwien], Errichtung (Fn. 149), S. 14. 153 William O. Shanahan, Prussian Military Reform 1786 – 1813, 2. Aufl., New York 1966, S. 197 f. 154 Vgl. Aus den Papieren des Ministers […] von Schön (Fn. 148), Bd. 6, S. 56 f., mit Verweis auf die österreichischen Erfahrungen des Jahres 1809; Landwehr und Landsturm: [Bernhard Schwertfeger], Das Preußische Heer der Befreiungskriege, 2. Bd.: Das Preußische Heer im Jahre 1813, Berlin 1914, S. 237 f., 247 f.; Generalkommission: R. Braeuner, Geschichte der preußischen Landwehr. Historische Darstellung und Beleuchtung ihrer Vorgeschichte, Errichtung und späteren Organisation. Nach den besten vorhandenen Quellen, 1. Halbbd., Berlin 1863, S. 119 f. 155 Mitgeteilt bei [Schwertfeger], Heer (Fn. 154), Bd. 2, S. 242, 250, auch zum Folgenden; Druck der Königsberger „Festsetzungen“ bei Rob[ert] Müller (Hrsg.), Urkunden zur Geschichte der ständischen Versammlungen zu Königsberg im Januar und Februar 1813 betreffend die Errichtung der Landwehr […], Altpreußische Monatsschrift 13 (1876) und 14 (1877), hier Teil 2, S. 318 – 339, bes. 323 – 332 (Edition), 329 (Spezial-Kommissionen), 330 (folgende Stelle). 156 Jany, Geschichte (Fn. 30), Bd. 4, S. 72; ganz ähnlich aus gänzlich anderer Perspektive Dorothea Schmidt, Die preußische Landwehr. Ein Beitrag zur Geschichte der allgemeinen Wehrpflicht in Preußen zwischen 1813 und 1830, Berlin (Ost) 1981, S. 59.

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ben hat“,157 wenn auch mit deutlichen Modifikationen. Die wichtigste war, dass in Ostpreußen – ganz entgegen der Intentionen eines Scharnhorst – die Stellvertretung zugelassen wurde.158 Die nun für ganz Preußen vom König in Breslau am 17. März 1813 verkündete „Vollständige Verordnung über die Organisation der Landwehr“159 hielt an dem Prinzip fest, dass die jeweiligen Landstände die neuen Formationen aufstellen sollten. „Die Stände errichten gemeinschaftlich die Landwehr. Ich und alle Prinzen Meines Hauses stehen an der Spitze […]. Jeder Kreis errichtet eine, der Bevölkerung angemessene Landwehr-Abtheilung […]. Den Ständen bleibt die Errichtung der Landwehr überlassen“. Allerdings wurde nun das Prinzip der Allgemeinheit des Dienens ohne Ausnahme oder Stellvertretungsklausel postuliert. „Alle wehrbaren Männer, welche nicht zur Landwehr gezogen werden, bilden einen Landsturm, welcher den Feind im Kreise erwartet.“160 Damit waren die Voraussetzungen für eine „gewisse Gleichmäßigkeit“ bei der Einrichtung der Landwehr gegeben, und doch waren die provinziellen Verschiedenheiten ganz erheblich.161 Das hieß auch, dass die Rolle der Landstände eine recht unterschiedliche war, nirgends von demjenigen Grad von Autonomie bestimmt wie das Vorgehen in Preußen östlich der Weichsel, vor allem in Ostpreußen und dem Gebiet, das als Preußisch-Litauen bezeichnet wird. Schon dass in Pommern die Aufstellung der Landwehr auf einen Staatserlass Hardenbergs vom März 1813 zurückging, gab dem Landwehrprojekt hier eine stärker etatistische Note. Auch die Einrichtung der Kreis-Ausschüsse, die ihre Landwehrarbeit als „eine rein ständische Landessache“ betreiben sollten, erfolgte dort durch „Königliche Kommissarien“.162 In der Neumark haben die „Behörden“ die Aufstellung der Landwehr strikt nach der Verordnung vom 17. März 1813 in die Hand genommen, auch die Wahl der Kreis-Ausschüsse und die157 So Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 281 f., der auch die (alleinige) Urheberschaft Scharnhorsts – eine alte Streitfrage der Forschung – verneint, vgl. auch S. 189 f.; Nitschke, Militärreformen (Fn. 139), S. 171, 178; die Unterschiede zwischen der ostpreußischen Landwehr und derjenigen, wie sie für die anderen Staatsteile verfügt werden sollte, akzentuierte scharf Höhn, Scharnhorsts Vermächtnis (Fn. 134), S. 278 – 280, der stark Scharnhorsts Rolle herausstrich; die außerordentlich diffizile Spezialforschung kritisch referiert bei M[argarete] Baumann, Theodor von Schön. Seine Geschichtsschreibung und seine Glaubwürdigkeit, Berlin 1910, S. 121 – 157. 158 Schmidt, Landwehr (Fn. 156), S. 59; Witt, Landtag (Fn. 149), S. 607. 159 G. S. 1813, S. 109 – 119, Nr. 196. 160 Ebd., S. 109; vgl. [Schwertfeger], Heer (Fn. 154), Bd. 2, S. 243 f.; Braeuner, Landwehr (Fn. 154), Bd. 1, S. 102 – 109. 161 Siehe die aus sehr guter Überlieferung schöpfende Schrift [ohne Verfasserangabe], Geschichte der Organisation der Landwehr in Pommern und Westpreußen im Jahre 1813. Beiheft zum Militair-Wochenblatt für das 3te und 4te Quartal 1858. Redigirt von der historischen Abteilung des Generalstabs, Berlin 1858, S. IV. 162 Ebd., S. 7 – 9, 11, zur Wahl des „ständischen General-Kommissarius“ durch die „Provinzial-Stände“. Der dort zuständige General von Tauentzien war mit der Qualität der Landwehr gar nicht zufrieden, S. 61 – 65; die Stände boten (wie sie es auch in Ostpreußen getan hatten) die Bildung eines Kavallerieregiments an, [Schwertfeger], Heer (Fn. 154), S. 132, 195.

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jenige des „ständischen General-Kommissarius“;163 immerhin hatte der in der Neumark angesessene kurmärkische „Nationalrepräsentant“ C. W. von Burgsdorff auf Sandow schon im Frühjahr den König mit einem „memoire über die unverzügliche Organisation des Landsturms“ zu Aktivitäten gedrängt. – In Westpreußen links der Weichsel zeigte sich sehr deutlich, dass die polnische Bevölkerung sich an dem (napoleonischen) Herzogtum Warschau orientierte. Die ständischen Wahlen fanden in Westpreußen nur in der deutschen Bevölkerung Beachtung; ein von Schroetter stand dort an der Spitze. Hier und ähnlich in Schlesien gaben derartige nationale Widerstände dem Ganzen einen administrativen Grundton.164 Es war wie eine staatliche Auftragsmaßnahme, was da in den Landschaften, den Provinzen des Staats auf dem Wege zur allgemeinen Wehrpflicht organisiert wurde, und auch in Ostpreußen hat sich noch 1813 gezeigt, dass sich die neue, ja modernisierte und reformierte Staatsverwaltung an die altständischen Handlungsmuster, an Handeln aus tradierter Elitenautonomie, nicht (mehr) recht zu gewöhnen vermochte.165 Nur ganz im Osten gab es eine von den Landständen bestimmte, das Ganze leitende Generalkommission, und zudem trat das dort die ständische Landespolitik führende Komitee der ostpreußischen und litauischen Stände beherzt auf, wenn es um deren Rechte ging. Auch da war Alexander Dohna, erfahren in Berlin, in Königsberg und in Schlobitten, eine zentrale Figur. 1818 ging es heftig um das „Vorschlags- und Wahlrecht zu sämtlichen Offiziersstellen der Landwehr“. Zugleich erhob sich damals die signifikante Klage darüber, dass die neue Landwehrordnung – gemeint ist wohl die vom Jahre 1815166 – ohne Zuziehung der Stände erlassen worden sei.167 Die Königsberger Regierung hat noch das Komitee der ostpreußischen und litauischen Stände einbezogen, als neue Bestimmungen zur Aushebung für die Ersatzmannschaften des „Stehenden Heeres“ von den Ministerien des Innern und des Krieges erlassen worden waren.168 Damals ging es um die Durchführung der für die Ersatzkommis163 Aus dichtem, nicht erhaltenem Archivmaterial: Maximilian Schultze, Die Landwehr der Neumark von 1813 bis 1815, 1. Teil. Auf Grund archivalischer Quellen bearbeitet, Schriften des Vereins für Geschichte der Neumark, Heft 28, Landsberg a. W. 1912, S. 1 – 187 (10 – 12). 164 Dies als Quellenzitat ebd., S. 7; Landwehr in Pommern und Westpreußen (Fn. 161), S. 90 – 98, 115, 128, zu den Widerständen sehr plastisch 101 – 112 u. ö.; Schlesien: [Schwertfeger], Heer (Fn. 154), Bd. 2, S. 243 f.; Nitschke, Militärreformen (Fn. 139), S. 183. 165 Näheres bei Krollmann, Landwehrbriefe (Fn. 148), S. XXIX–XXXI. 166 Vgl. G. S. 1816, S. 77 – 91, Nr. 326, vom 21. November 1815; vgl. Braeuner, Landwehr (Fn. 154), S. 23 – 36, 51; zum Wahlverfahren für die Offiziersstellen S. 29 (§ 32). 167 Klage des Ständekomitees: Meinecke, Boyen (Fn. 15), Bd. 2, S. 261 f., und Schmidt, Landwehr (Fn. 156), S. 116; Meinecke stellt die Politik der ostpreußischen Stände in eine Tradition seit dem 17. Jahrhundert. Dem Ständekomitee hatte der Generallandtag des Jahres 1815 die „Abwickelung“ und die restlichen Arbeiten der Generallandwehr- und der Spezialkommissionen übertragen. Bericht des Komitees vom 6. Oktober 1815 (an Auerswald): (zur Zeit der Benutzung): GStA PK, XX. HA, Rep. 2 (I), Tit. 23, Nr. 16, mit Abschrift des Generallandtagsprotokolls vom 3./4. Oktober 1815. 168 Instruktion vom 30. Juni 1817, vgl. Carl Friccius (Hrsg.), Preußische Militair-GesetzSammlung enthaltend bis zum Jahre 1835 die bestehenden Gesetze, Verordnungen und all-

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sionen erforderlichen Wahlen, und die Regierung Königsberg hat noch eine Zeit lang mit den Vertretern von Ritterschaft, Städten und sonstigen (bäuerlichen) Landbesitzern kooperiert – eine Zeit lang, dann verdrängte auch in dieser alten Ständelandschaft die Reformbürokratie die Traditionen.169 Auf dem Landtag von 1829, dem dritten in Ost- und Westpreußen, wurde noch ein Antrag auf „Wider Einführung der seit dem Jahre 1822 nicht in Thätigkeit gewesenen Abgeordneten bei den Departements Ersatz Kommissionen“ gestellt. Die Mehrheit des Landtagsplenums hielt nun eine solche Teilhabe für überflüssig, „weil ihre Wirksamkeit nach den gemachten Erfahrungen nicht von Erfolge gewesen ist“.170 Die Landwehr, in den Befreiungskriegen gut geführt von erfahrenen Berufsoffizieren der alten Schule,171 hat sich ganz überwiegend im Kampf bewährt. Das Korps Bülow, das am Nachmittag von Waterloo die Schlacht entschied, bestand zum großen Teil aus Landwehr. Im April 1813 bestand die preußische Truppe aus rund 130.000 Mann, im Februar 1814 waren es unter Hinzutritt der Landwehr 300.000, 1815 kurzzeitig gar 390.000 Kämpfer.172 Das waren die Quantitäten. In der neueren Literatur wird die qualitative Pointe der Heeresreform in der „Professionalisierung“ erkannt.173 Zugleich war es eine Verstaatlichung der politischen Gewalt, durch Ausscheiden traditionaler Elemente wie der Kompaniewirtschaft und dem neuen Staatsprinzip der (stehenden) Armee. Den ständischen Elementen, wie sie vor allem in der ostpreußischen Landwehr ein letztes Mal aufblühten, wurde in der Reform- und Nachreformzeit rasch ein Ende bereitet. Die Verstaatung der Gewalt ging aber über das Organisatorische und Normative weit hinaus, sie erreichte mentale, anthropologische Dimensionen. Anfangs gab die Visualisierung des Dienens, d. h. die Uniformkultur, noch Auskunft über ältere Traditionen. Die Uniform als Medium politisch-kultureller Sprache wird jetzt entdeckt, und wir beginnen sie in einem tieferen Sinne zu lesen. Der enge Zusammenhang zwischen Militäruniform, in Preußen seit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert,174 und der spezifischen „Regimentskultur“, die Bedeutung einheitlicher und doch je gemeinen Verfügungen, welche sich auf die militärische Rechtspflege beziehen […], BerlinElbing 1836, S. 137 – 139, Nr. 108. 169 Diverse Stücke 1817/1818 und weiter bis 1821 in der Akte des Komitees der ostpreußischen und litauischen Stände (zur Zeit der Benutzung): Wojewódzkie Archiwum Pan´stwowe w Olsztynie [im Folgenden: WAPO], Staatliches Woiwodschaftsarchiv Allenstein, Akte: VI49 (neue Nr. 120); vgl. auch GStA PK, XX. HA, Rep. 2 (I), Tit. 23, Nr. 11, Vol. 1, Bericht des Komitees vom 22. Juli 1817. 170 So im Plenarprotokoll vom 9. Februar 1829: WAPO V3 – 176. 171 Berufsoffiziere und Landwehr: Jany, Geschichte (Fn. 31), Bd. 4, S. 150; Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 107, 311 (Waterloo). 172 Braeuner, Landwehr (Fn. 154), Bd. 1, S. 190; Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 299; Hubatsch, Abrüstung (Fn. 141), S. 50 f. 173 Vgl. Edgar Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 59 f. 174 Außer den von Hans Bleckwenn publizierten Materialien aus der älteren Literatur: Jany, Geschichte (Fn. 30), Bd. 1, S. 341; Lehmann, Werbung (Fn. 31), S. 137 (1702).

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Regiment auch differenter Militärkleidung, ihre Funktion als komplexes soziales „Zeichensystem“ wird zum Problem der Forschung. Als „Symbol der Loyalität“, als „Bekenntniskleidung“175, gewann um 1800/1813 die Militäruniform neue Dimensionen für einen neuen Soldaten als Trägertypus. Es ist im Sinne unserer Fragestellung bezeichnend, dass anfangs Landwehroffiziere als Zeichen die „Interimsuniform der Provinzialstände“ getragen haben, und zwar deshalb, weil die Ständeuniform im Lande ja „überall bekannt“ gewesen sei. Farben, metallene Borten, die Epauletten spielten für das Signalement eine große Rolle.176 Sehr bald wurde die Bekleidung der Landwehroffiziere aber derjenigen des stehenden Heeres angepasst, und offenbar wurde von den Betreffenden die Militäruniform in dieser Funktion auch präferiert. Im Jahre 1815 wurde dann die militärische „Montur“ neu normiert.177 Nicht mehr das Ständische, sondern das Staatliche bestimmte die Kleidungsrepräsentanz der Landwehr. Die Visualisierung des Staatlichen ging einher mit dem Bekenntnis des Preußischen, offenbar jenseits der Grenzen auch über die Militärgesellschaft hinaus, wie aus dem nichtpreußischen Mitteldeutschland für das Jahr 1813 berichtet wird. „Die schwarze und weiße Kokarde, als das Feldzeichen der Streiter für Freiheit und Recht, galt als ein Ehrenzeichen, welches unsere Anhänger in diesen Ländern trugen; sehr viele junge Leute aus denselben reiheten sich unter unsere Fahnen, und in Preußen wurde denjenigen, die den Krieg mitmachten, versprochen: vorzugsweise zu allen Stellen befördert zu werden.“178 Das Verdienstmotiv der Reformzeit verband sich mit der „Bekenntniskleidung“ im Kriege. Auch danach signalisierte sie Partizipation am Staat. Gerade Angehörige der Unterschichten bevorzugten bei entsprechender Gelegenheit die Landwehruniform, trugen sie als Zeichen dafür, dass sie teilhatten an politischer Ehre.179 Diese wurde verknüpft mit dem Verdienst-Motiv, das realisiert werden konnte bei Beförderungen im Amt oder in Form symbolischer und materialisierter Auszeichnung. Nicht erst mit der Stiftung des Eisernen Kreuzes im Jahre 1813 war die Instrumenta175 So Winkel, Im Netz des Königs (Fn. 23), S. 117 – 122, und besonders dies., Distinktion und Repräsentation: Deutung und Bedeutung von militärischen Uniformen im 18. Jahrhundert, in: Sandro Wiggerich/Steven Kensky (Hrsg.), Staat, Macht, Uniform. Uniformen als Zeichen staatlicher Macht im Wandel?, Stuttgart 2011, S. 127 – 145 (130, 138, 145); ferner Stefan Haas/Elisabeth Hackspiel-Mikosch, Ziviluniformen als Medium symbolischer Kommunikation. Geschichte und Theorie der Erforschung einer Bekleidungsform an der Schnittstelle von Politik, Gesellschaft, Geschlecht und Kultur, in: dies. (Hrsg.), Die zivile Uniform als symbolische Kommunikation. Kleidung zwischen Repräsentation, Imagination und Konsumption in Europa vom 18. bis 21. Jahrhundert, o. O. 2006, S. 13 – 46 (21: „Bekenntniskleidung“). 176 Schultze, Landwehr der Neumark (Fn. 163), S. 16, 99 f.; westpreußisches Beispiel: Landwehr in Pommern und Westpreußen (Fn. 161), S. 18, 128 f. 177 Vgl. Paul Pietsch, Die Formations- und Uniformierungs-Geschichte des preußischen Heeres 1808 – 1814, Bd. 1, 2. Aufl., Hamburg 1963, S. 229 f. 178 So die Mitteilungen des preußisch-litauischen Offiziers Tyszka, Erinnerungen (Fn. 140), S. 61 f., zu 1813. 179 Münkler, Die neuen Kriege (Fn. 2), S. 102; mit Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001, S. 85 f.

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lisierung solcher Bedürfnisse Mittel der Politik. Die Militärreformer hatten ja komplementär zu den (graduell) humanisierten Armeestrafen auf Auszeichnungen für einfache Soldaten Wert gelegt, wichtig um so mehr, wenn auch Leute von „höherm Stande“ durch die Konskription in die Uniform gebracht werden sollten. Von „Medaillen und andere(n) Belobigungen“ war 1808 intern die Rede,180 und das war neu und hochmodern. Denn im 18. Jahrhundert hatte es zunächst für den gemeinen Mann spezifische Militärorden nicht gegeben.181 Erst im Jahre 1793 ist eine Verdienstmedaille für „Unteroffiziere und Gemeine“ gestiftet worden, die – preußische Truppen standen im Westen – „unverkennbare persönliche Tapferkeit“ auszeichnen sollte.182 Zu einem Ordens-System, das über soziale Hierarchien hinaus zu greifen begann und das Verdienst-Motiv an die Stelle oder doch neben (geburts-)ständische Zuschreibungen stellen sollte, wurde für die damals vorhandenen Dekorationen mit der „Erweiterungs-Urkunde für die Königlichen Preußischen Orden und Ehrenzeichen“ vom 18. Januar 1810 geschritten.183 Die Stiftung des Eisernen Kreuzes im März 1813 steht also in einem weiteren Kontext der „Demokratisierung des Ordenswesens“.184 Es war in zwei bzw. drei Klassen gestuft und sollte „durchgängig von Höheren und Geringeren auf gleiche Weise […] getragen“ werden.185 Es ging dabei um die Bezeichnung des „Verdienstes Unserer Unterthanen um das Vaterland“ in „diese[m] Krieg“, und das Vaterland war nun der Staat, nicht mehr eine Landschaft oder Region. 180 Immediatbericht der Militär-Reorganisationskommission, 3. Mai 1808, bei Vaupel (Hrsg.), Reorganisation (Fn. 128), S. 387 – 390 (387, 389). 181 Vgl. Winkel, Im Netz des Königs (Fn. 23), S. 107; der schwarze und der rote Adlerorden sowie der Pour-le-mérite werden in Kupferstich gezeigt vor dem Band: Kurzgefaßte Stammliste aller Regimenter und Corps der Königlich=Preußischen Armee. Zweyte verbesserte Aufl., mit einem illuminirten Titelkupfer, Berlin 1793. 182 Vgl. die Kabinettorder vom 14. Juni 1793 bei F. W. Hoeftmann, Der Preußische OrdensHerold. Zusammenstellung sämtlicher Urkunden, Statuten und Verordnungen über die Preußischen Orden und Ehrenzeichen, Berlin 1866, Nachdruck Offenbach am Main 1999, S. 133 f.; die Liste der Beliehenen dieser Auszeichnungen in: Ordens-Liste von den Rittern und Besitzern der Königlich Preußischen Orden und Ehrenzeichen im Jahre 1817. Auf Grund der im Jahre 1812 gedruckten Ordensliste und der seitdem eingetretenen Veränderungen. Nebst den Ordens-Statuten und Abbildungen, Berlin 1817, S. 131 – 156. 183 Sammlung (Fn. 134), S. 632 – 635, S. 632: „Nationalverdienst jeder Art“; dafür wurde der Rote-Adler-Orden (zunächst) dreistufig gestaffelt; näheres dazu: Felix Lorenz Benjamin Lehmann, Der rote Adlerorden. Entstehung und rechtliche Grundlagen (1705 – 1918), Frankfurt a. M. 2001, S. 104 f., 128 – 131 (Version für Kriegsverdienst seit 1848); im weiteren Sinne Thomas Stamm-Kuhlmann, Der Hof Friedrich Wilhelms III. von Preußen 1797 bis 1840, in: Karl Möckl (Hrsg.), Hof und Hofgesellschaft in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1985 und 1986, Boppard am Rhein 1990, S. 275 – 319 (287 f.). 184 So Stamm-Kuhlmann, Der Hof (Fn. 183), S. 287 f. 185 G. S. 1813, S. 31 – 33, Nr. 161 (Zitat: S. 32, folgendes Zitat: S. 31); mit dem Kontext seit 1810: Louis Schneider, Die Preußischen Orden, Ehrenzeichen und Auszeichnungen, hrsg. und eingeleitet von Dr. Klietmann, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1971, S. 5 – 29, 96 f.; Theodor Freiherr von Troschke, Das Eiserne Kreuz, 3. Aufl., Berlin 1872, S. 5 f.; die namentliche Aufstellung der Träger in der Ordens-Liste (Fn. 182), 1817, S. 243 – 468.

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Die Verstaatung politischer Gewalt ging also über das Organisatorische weit hinaus. Und doch spielte nun die Frage eine große politische Rolle, ob die Landwehr künftighin und nach der Kampfsituation von 1813/14 selbständig bestehen könne oder – mehr oder weniger – in das stehende Heer integriert werde. Hermann von Boyen, auf Vorschlag des Staatskanzlers Hardenberg 1814 zum ersten preußischen Kriegsminister ernannt,186 war ein entschiedener Verfechter der allgemeinen Wehrpflicht, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland und in Europa alles andere als selbstverständlich gewesen ist.187 Unter Boyens Ägide fiel die Entscheidung, neben dem (vergleichsweise kleinen) stehenden Heer die Landwehr bestehen zu lassen. Dabei wurde auf die Erfahrungen des erfolgreichen Krieges von 1813/14 im Dienstpflichtgesetz von 1814 in bezeichnender Weise Bezug genommen. „Die Einrichtungen also, die diesen glücklichen Erfolg hervorgebracht, und deren Beibehaltung von der ganzen Nation gewünscht wird, sollen die Grundgesetze der Kriegsverfassung des Staats bilden und als Grundlage für alle Kriegseinrichtungen dienen, denn in einer gesetzmäßig geordneten Bewaffnung der Nation, liegt die sicherste Bürgschaft für einen dauernden Frieden. Die bisher, über die Ergänzung der Armee bestandenen, älteren Gesetze werden daher hiermit aufgehoben“.188 Dies meinte das definitive Ende des Kantonreglements von 1792. „Jeder Eingeborne, sobald er das 20ste Jahr vollendet hat, ist zur Vertheidigung des Vaterlandes verpflichtet.“ Neben dem „stehenden Heer“ wurden 1814 zwei „Aufgebote“ der Landwehr geschaffen, daneben ein „Landsturm“: „Die Stärke des stehenden Heeres und der Landwehr wird nach den jedesmaligen Staatsverhältnissen bestimmt.“ Nur ein „Theil der jungen Mannschaft der Nation vom 20sten bis zum 25sten Jahre“ wurde aber zur „stehende(n) Armee“ eingezogen; „bei entstehendem Kriege“ wurden die jüngeren sieben Landwehrjahrgänge, diejenigen des ersten Aufgebots, „zur Unterstützung des stehenden Heeres bestimmt.“ Der Dienst im Heer wurde 1814 auf drei Jahre festgesetzt.189 Unumstritten war die allgemeine Wehrpflicht in Preußen nicht; gerade aus den großen Städten waren ja schon gegen die Allgemeinheit der Landwehrpflicht im Jahre 1813 Einsprüche erhoben worden, und so darf die Ideologisierung der Landwehr in liberalen rheinischen, vor allem aber Intellektuellenkreisen nicht als Identi-

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Meinecke, Boyen (Fn. 15), Bd. 1, S. 385 f., 399; Ritter, Staatskunst (Fn. 15), Bd. 1, S. 216; zur Führungsstruktur in und nach der Reformzeit (1809 Kriegsministerium, dann Generalstab, Militärkabinett) kurz Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 118 f.; Scharnhorst, Schriften (Fn. 136), Bd. 5, Nr. 290, S. 447. 187 Vgl. Stübig, Wehrverfassung (Fn. 15), S. 48; Hubatsch, Abrüstung (Fn. 141), S. 50; Russland und Frankreich: Meinecke, Boyen (Fn. 15), Bd. 2, S. 107. 188 Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienste, 3. September 1814, G. S. 1814, S. 79 – 82, Nr. 245 (79: Zitat in der Präambel). 189 Ebd., S. 79 f.; zur Genese des Dienstpflichtgesetzes Meinecke, Boyen (Fn. 15), Bd. 1, S. 400 – 412; Ritter, Staatskunst (Fn. 15), Bd. 1, S. 125; Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 300 – 310.

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fikation von Landwehr und Bürgertum schlechthin missverstanden werden.190 Gerade für die „gebildeten Stände“ war eine Ausnahme von der dreijährigen (allgemeinen) Wehrpflicht konstruiert und in Boyens Dienstpflichtgesetz aufgenommen worden, das berühmte Einjährig-Freiwilligen-Institut für diejenigen „jungen Leute“ aus den Gebildeten, „die sich selbst bekleiden und bewaffnen können“ und im „Jägerund Schützenkorps“ dienen wollten. Sie durften sich schon nach einem Jahr beurlauben lassen und waren, Fähigkeit vorausgesetzt, besonders geeignet für die Besetzung der Landwehr-Offiziersstellen.191 Es handelte sich dabei um nichts anderes als um ein graduelles Exemtionsprivileg für Gebildete.192 So wurde die militärische Moderne im Preußen des 19. Jahrhunderts für höhere Schichten erträglich gemacht. Um die Nation an der Wehr-Verfassung teilhaben zu lassen, sah die neue Landwehrordnung vom November 1815 vor, dass das Offizierskorps eines Landwehrregiments bei eingetretener Vakanz (bis zum Hauptmannsrang) aus den eigenen Reihen ein Wahlrecht für den Nachrückenden ausüben konnte,193 und zwar aus dem jeweiligen Kreise, um so die Landwehrtruppe mit ihrer Herkunftsregion zu verbinden. Die „lokale Organisation“ der Landwehr194 – nun aber als Organisation des Staates und nicht mehr die der Stände – und ihre Selbständigkeit in Friedenszeiten war politisches Programm: Sie sollte „sich einwurzeln im Lande, sie sollte ein Stück bürgerlichen Lebens werden“, „ihre Organe sollten dem Volke so vertraut und heimisch werden wie der Bürgermeister, der Landrat und der Regierungspräsident.“195 Die Selbständigkeit der Landwehr kollidierte in der Praxis aber mit dem Problem, dass durch Wahl aus dem Kreis der Eingesessenen ausreichend qualifiziertes Führungspersonal nicht zu gewinnen war. Im Rheinland war die Landwehr ganz besonders unbeliebt, da sie keine Möglichkeit zum „Freikauf“ von der Dienstpflicht bot.196 In Unterschichten und Stadtbürgertum zeigten sich gleich nach 1815 starke Resistenzen. Sehr schnell wurde der idealistische Überschuss offenbar, mit dem die Reformmilitärs um Boyen das, was 1813/15 getragen hatte, nun geordnet auf Dauer stellen 190 Vgl. oben Fn. 151; Ritter, Staatskunst (Fn. 15), Bd. 1, S. 130; vgl. Höhn, Verfassungskampf (Fn. 129), S. 16 f. („Die Liberalen nahmen so die Landwehr für sich in Anspruch“); Frevert, Nation (Fn. 179), S. 72. 191 § 7 des Dienstpflichtgesetzes, G. S. 1814, S. 79 – 82, Nr. 245 (S. 80; 82: Freiwillige dürfen die Waffengattung wählen); vgl. Messerschmidt, Militärwesen (Fn. 122), S. 365 f., und Meinecke, Boyen (Fn. 15), Bd. 1, S. 406, 409. 192 Meinecke, Boyen (Fn. 15), Bd. 2, S. 136 – 139 (Norm: Tertia-Stufe höherer Schulen). 193 Landwehrordnung vom 21. November 1815, G. S. 1816, S. 77 – 91, Nr. 326, Wahl der Offiziere: 83, § 32; ebd. zum Vorschlagsrecht für den „Ausschuß eines Kreises“; vgl. Dorothea Schmidt, Zur Einordnung der Landwehr in das preußische Militärsystem zwischen 1815 und 1819, Militärgeschichte 16 (1977), S. 572 – 583 (578 f.); Friccius (Hrsg.), Militair-GesetzSammlung, S. 113 f. 194 Messerschmidt, Militärwesen (Fn. 122), S. 371. 195 Nach wie vor unverzichtbar Meinecke, Boyen (Fn. 15), Bd. 2, S. 174, dort auch das Zitat, Trennung von Linie und Landwehr im Frieden: S. 172, 178, 184 – 196. 196 Frevert, Nation (Fn. 179), S. 72, 81 f., auch zum Widerstand in Breslau, 84.

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wollten. Sehr schnell, gleich nach dem Friedensschluss, wurde die stehende, professionelle Truppe aus finanziellen Gründen stark reduziert, und der Anteil derjenigen, die mit einer guten militärischen Ausbildung in die Landwehr übergingen, nahm gegenüber Landwehrrekruten ohne jede Diensterfahrung ab. Die Folgen zeigten sich schnell197 und hinzu kamen Verdächtigungen von konservativer Seite, die der Landwehr aus politischer Perspektive misstraute. Der König wollte alle Probleme dadurch zumindest reduzieren, dass er die Landwehreinheiten fortan in Heeresdivisionen integrierte. Das war im Jahr 1819, und sowohl der Kriegsminister Hermann von Boyen als auch der Organisator des Generalstabs Carl von Grolman demissionierten in eben jenen Wochen, in denen die Reformpartei in Preußen zusammenbrach.198 Die Integration der Landwehr in das Heer bildete den Abschluss der Verstaatung der politischen Gewalt, die wir seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in groben Umrissen betrachtet haben. Die lokale Verankerung der Landwehr, Erbe der Reformzeit, wurde beseitigt; Linienoffiziere übernahmen in zunehmendem Maße die Funktion der Landwehr-Kommandeure.199 Die Traditionen der Reformzeit trugen zwar auch weiterhin; sie standen der Verstaatung des Militärs ja nicht im Wege. Da, wo wir heute noch – trotz der Quellenkatastrophe von 1945 – in den Soldatenalltag der Vormärzzeit Einblick nehmen können, zeigt sich freilich, dass selbst im prominenten Elite-Regiment wieder erstaunlich rasch zur Körperstrafe der Stockschläge gegenüber einfachen Soldaten geschritten worden ist,200 entgegen Gneisenaus Ideal von der „Freiheit der Rücken“. Wie tief ist also die Reformzäsur gewesen? Das Postulat, dass Offiziere im Frieden nur nach Maßgabe der Bildung, im Kriege nach Tapferkeit und Überblick ausgewählt werden sollten,201 hat neben anderen zeittypischen Ereignissen – Säuberun197

Conrady, Grolman (Fn. 129), Bd. 3, S. 68 – 75. Meinecke, Boyen (Fn. 15), Bd. 2, S. 380 f., 384 – 389, auch zum Rücktritt Beymes und Humboldts wenig später; Meinecke hat nach dem Zweiten Weltkrieg deshalb dem Jahre 1819 eine schicksalhafte Bedeutung für die deutsche Geschichte zugeschrieben, s. Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, 2. Aufl., Wiesbaden 1946, S. 24; [ohne Verfasserangabe], Boyens Ausscheiden aus dem Kriegsministerium 1819, Mittheilungen aus dem Archiv des Königlichen Kriegsministeriums, Heft 3, Berlin 1895, S. 60 – 72 (Edition); Abschiedsgesuch Grolmans, 13. Dezember 1819, bei Conrady, Grolman (Fn. 129), Bd. 3, S. 76, 78 („traurige Jahre […] seit 1815 […]“); Hubatsch, Abrüstung (Fn. 141), S. 49, 52; Messerschmidt, Militärwesen (Fn. 122), S. 319; Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 373 f.; Ritter, Staatskunst (Fn. 15), S. 138 f., 142. 199 Frevert, Nation (Fn. 179), S. 78, 90, 93 (abnehmendes Interesse früherer EinjährigFreiwilliger an der Funktion der Landwehr-Offiziere, bezogen auf die 1. Hälfte des 19. Jh.). 200 Im Besitz des Verfassers ein Parole-Buch des 1. Garde-Regiments zu Fuß, vom Januar 1830 bis Juni 1831 (Folio, 272 Seiten) mit zahlreichen Fällen, in denen bei kleineren Vergehen erhebliche Körperstrafen (30 Stockschläge z. B.) unter gleichzeitiger Versetzung der Delinquenten in die 2. Klasse der Soldaten verhängt worden sind: vgl. damit die Kriegsartikel vom 3. August 1808, Art. 3, Sammlung (Fn. 134), S. 253; Stockschläge wurden bis Mai 1848 praktiziert, Jany, Geschichte (Fn. 30), Bd. 4, S. 169. 201 Sammlung (Fn. 134), S. 275 (6. August 1808). 198

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gen nach 1806 und Reduzierung der Armee202 – zunächst zu einer drastischen Zunahme des Anteils Bürgerlicher von einem Zehntel (vor Jena/Tilsit) auf 46 % im Jahre 1817/19 geführt.203 Danach ging freilich der Anteil bürgerlicher Offiziere wieder auf ein Drittel zurück. Schon die schlechte Besoldung, mitbedingt durch die dramatische Finanzlage nach den napoleonischen Kriegen,204 sowie die geringen Beförderungsaussichten in der folgenden langen Friedensperiode waren für Bürgerliche wenig attraktiv. Adlige Traditionen wirkten dagegen stärker nach. Der unzureichende Nachwuchs an Landwehroffizieren hatte die Folge, dass 1841 von 416 Kompanieführern nur 240 aus der Landwehr selbst hervorgegangen waren, die anderen aber abkommandierte Linienoffiziere waren. Seit 1858 wurden die Kompanien der Landwehr durchweg von aktiven Offizieren geführt.205 Im preußischen Vormärz ging – man erinnere sich an die Militarismusdiskussion206 – das relative Gewicht der Armee im Staat zurück. Die Finanzlage erzwang schon in den zwanziger Jahren eine Reduzierung der dreijährigen Dienstzeit „de facto“ auf zweieinhalb Jahre, seit 1837 dann auf zwei bei der Infanterie.207 In konservativen Kreisen des Militärs wie beim Prinzen Wilhelm stieß dies auf grundsätzliche Kritik: Die Dienstzeit reiche nicht aus, um die Dienenden zu wirklichen Soldaten zu machen,208 man darf übersetzen: sie wirklich zu militarisieren. Tatsächlich wurden in Vormärzzeiten, ganz ähnlich wie unter dem Kantonreglement und im Gegensatz zur Intention von Boyens Dienstpflichtgesetz, vor allem junge Männer aus den Unterschichten gezogen; die „Zusammensetzung der Kreisersatzkommissionen“ hatte diesen Effekt.209 Damit war deshalb auszukommen, weil nach den Reformen und bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts das stehende Heer des 1815 stark gewachsenen Preußen weit kleiner war als das im Staat der Spät202

Vgl. oben Fn. 127. Genaue Zahlen bei Karl Demeter, Das deutsche Offizierskorps in Gesellschaft und Staat 1650 – 1945, 4. Aufl., Frankfurt a. M 1965, S. 13, und Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 196, auch zur Zeit nach 1819. 204 Diese war über die Staatsschuldenproblematik (in Preußen) mit der offenen Verfassungsfrage verknüpft, d. h. an die Einberufung einer „reichsständischen Versammlung“ gebunden, Verordnung wegen der künftigen Behandlung des gesammten Staatsschuldenwesens, 17. Januar 1820, G. S. 1820, S. 9 – 16, Nr. 577 (10, § 2); vgl. aus der Literatur Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 2. Aufl., Stuttgart 1975, S. 325 – 330. 205 Jany, Geschichte (Fn. 31), Bd. 4, S. 119, 121; Messerschmidt, Militärwesen (Fn. 122), S. 372; Walter, Was blieb (Fn. 126), S. 112. 206 Siehe oben bei Fn. 26. 207 Garde, Kavallerie und Pioniertruppe behielten Soldaten mit dreijähriger Dienstzeit, Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 353 – 356; Ritter, Staatskunst (Fn. 15), Bd. 1, S. 144. 208 Die berühmte Denkschrift Wilhelms (I.) vom April 1832: Militärische Schriften weiland Kaiser Wilhelms des Großen Majestät. Auf Befehl Seiner Majestät des Kaisers und Königs hrsg. vom Königlich Preußischen Kriegsministerium, 1. Bd., Berlin 1897, S. 156 – 161, bes. 160. 209 Nach Frevert, Nation (Fn. 179), S. 73 f., 79. 203

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zeit Friedrichs des Großen. Um 1786 hatte es rund 200.000 Mann gezählt, bei rund 5,4 Millionen Einwohnern, 1840 nur 127.451 bei knapp 15 Millionen Preußen.210 Nur die Hälfte der Tauglichen wurde tatsächlich eingezogen, und dies mit abnehmender Tendenz.211 Von fixierten Exemtionen war keine Rede mehr, aber in der Praxis auch nicht davon, dass, wie Boyen es gewollt hatte, die „ganze Nation“ diente.212 Die Präsenzzahlen schwankten; nach der revolutionären Eruption der frühen dreißiger Jahre brachte Preußen seine Armee 1831/33 für kurze Zeit einmal auf 143.500 Mann. Der Anteil der Militärausgaben am Staatshaushalt ging drastisch zurück, und um 1820 hatte die Präsenzstärke bisweilen nur gut 100.000 Mann betragen.213 Auch die Roonsche Heeresreform hat dem auf Dauer nicht abgeholfen. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges, so wurde errechnet, schöpfte das Deutsche Reich seine Rekrutenressourcen nur zu 52 – 54 % aus, im Unterschied zu Frankreich, wo „82 % der Wehrpflichtigen dienen mussten.“214 Was war erreicht in der Zeit der Reformen und des preußischen Vormärz? Manche Prozesse verliefen durchaus nicht linear, und ältere Traditionen gewannen erneut an Gewicht. Was blieb, war die Verstaatung organisierter politischer Gewalt in Preußen, eine Entwicklung, die in der Mitte des 17. Jahrhunderts begann und erst abgeschlossen wurde im frühen 19. Jahrhundert. (Der Beitrag von Wolfgang Neugebauer konnte nicht als Vortrag präsentiert werden.)

210 Die Zahlen nach Gustav Schmoller, Preußische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte, Berlin 1921, S. 112, 188; Hubatsch, Abrüstung (Fn. 141), S. 52; Einwohnerund Flächenzahlen bei W. Fix, Die Territorialgeschichte des preußischen Staates, im Anschluß an zwölf historische Karten, 3. Aufl., Berlin 1884, S. 375, 377. 211 Vgl. Kroener, Integrationsmilitarismus, S. 89; die Angaben in der Literatur variieren, Walter, Was blieb (Fn. 126), S. 126, spricht von 40 %. 212 Das Zitat bei Hubatsch, Abrüstung (Fn. 141), S. 47; zu 1831/33: Jany, Geschichte (Fn. 30), Bd. 4, S. 148 f. (Unteroffiziere und Mannschaften, ohne Offiziere, auch zu den Etatsgrößen); Walter, Heeresreformen (Fn. 121), S. 332. 213 Meinecke, Boyen (Fn. 15), Bd. 2, S. 386, Anm. 4; vgl. Messerschmidt, Militärwesen (Fn. 122), S. 366, 371. 214 Nach einer Denkschrift Ludendorffs: Stig Förster, Der doppelte Militarismus. Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-quo-Sicherung und Aggression 1890 – 1913, Wiesbaden/Stuttgart 1985, S. 267.

„Das letzte Bollwerk des Thrones und der Dynastie“? Die Streitkräfte der Habsburgermonarchie im österreichisch-ungarischen Dualismus Von Günther Kronenbitter, Augsburg

I. „Kakanien“ „Überhaupt, wie vieles Merkwürdige ließe sich über dieses versunkene Kakanien sagen! Es war zum Beispiel kaiserlich-königlich und war kaiserlich und königlich; eines der beiden Zeichen k. k. oder k. u. k. trug dort jede Sache und Person, aber es bedurfte trotzdem einer Geheimwissenschaft, um immer sicher unterscheiden zu können, welche Einrichtungen und Menschen k. k. und welche k. u. k. zu rufen waren. Es nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie und ließ sich mündlich Österreich rufen; mit einem Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten beibehielt, zum Zeichen, daß Gefühle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten.“1 Die Passage aus Robert Musils ausgesprochen berühmtem, wegen seines fragmentarischen Charakters, vor allem aber wegen seiner Überlänge wohl nur selten gelesenen Opus „Der Mann ohne Eigenschaften“ wird nicht ohne Grund gerne zitiert. Sie findet sich dort im Kapitel über „Kakanien“, das mit so leichter Hand, ironisch, aber gefühlvoll ein Bild Österreich-Ungarns entwirft. Von der literarischen Habsburg-Nostalgie der Zwischenkriegszeit, von den einschlägigen Werken Stefan Zweigs oder Joseph Roths, um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen, geht bis heute eine Sogwirkung aus, die nicht ohne Folgen für die öffentliche Erinnerung an die untergegangene Donaumonarchie war und ist.2 Dass es dieses Kakanien gewesen war, welches die von Stefan Zweig als „Welt der Sicherheit“ beschriebenen halkyonischen Tage 1914 in einem europäischen Krieg hatte enden lassen, geriet in den Konjunkturen der „Kriegsschulddebatte“, den weiter zurückliegenden wie 1

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 33. 2 Carlo Moos, Habsburg post mortem. Betrachtungen zum Weiterleben der Habsburgermonarchie, Wien/Köln/Weimar 2016, S. 309 – 348. Zu den Anfängen und den Topoi der Habsburg-Nostalgie immer noch lesenswert ist Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, Salzburg 1966.

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den jüngsten, in Vergessenheit.3 Die neuere Forschung auf dem Feld der „Habsburg Studies“, die, von der Dekonstruktion nationalistischer Geschichtserzählungen ausgehend, insbesondere lokale und regionale Aspekte der politischen Kultur Österreich-Ungarns untersucht hat, war und ist an machtpolitischen Dimensionen der Habsburgergeschichte nur in wenigen Fällen interessiert. Selbst Peter Judsons 2016 erschienene Darstellung „The Habsburg Empire: A New History“, die wohl beste derzeit verfügbare Synthese dieser Forschungsbemühungen, hat über diese Fragen wenig zu sagen, und dies, obwohl Judson die Habsburgermonarchie in ihrer Gesamtheit in den Blick nimmt und über das Zusammenspiel von Zentrale und Region bei der Gestaltung des „Habsburg Empire“ in den Jahrzehnten vor 1914 intensiv nachgedacht hat.4 Hier geht es darum, einige Überlegungen zur Rolle der Streitkräfte im österreichisch-ungarischen Dualismus vorzustellen, die mit den Militärs einen Teil jener Machtelite in den Mittelpunkt rücken, die gerade nicht zu den Zentralfiguren der bei Judson so anregend wie souverän zusammengefassten historiographischen Diskussionen zu zählen sind. Jene komplizierte verfassungspolitische Konstellation, die Österreich-Ungarn seit dem Ausgleich von 1867 kennzeichnete und auf die Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ anspielte, kann an dieser Stelle in ihren Grundzügen als bekannt vorausgesetzt werden.5 Mochte die Habsburgermonarchie von 1867 bis zu ihrem Untergang zumindest in Teilen ein Reich ohne richtigen, ohne offiziellen Namen gewesen sein, so stellte das Mit-, Neben- und Gegeneinander der im Deutschen landläufig als „Reichshälften“ titulierten politischen Entitäten das verfassungspolitische Markenzeichen Österreich-Ungarns dar. Die Länder der Ungarischen Krone ließen sich knapp und korrekt als „Ungarn“ bezeichnen, aber bis 1916 hieß der westliche Teil der Habsburgermonarchie reichlich sperrig „die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“.6 Die Leitha, ein nicht sonderlich beeindruckendes Grenzflüsschen zwischen Niederösterreich und Westungarn, diente 3 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. M. 1970, S. 15. Zur bereits traditionellen Vermeidung einer Debatte über die Rolle der Habsburgermonarchie beim Kriegsausbruch 1914 siehe Günther Kronenbitter, Keeping a Low Profile – Austrian Historiography and the Fischer Controversy, Journal of Contemporary History 48 (2013), S. 333 – 349. 4 Peter M. Judson, The Habsburg Empire: A New History, Cambridge, MA/London 2016, insbesondere S. 382 – 384. Vgl. dazu Günther Kronenbitter, Expansion – Zwangsvorstellung oder Kalkül?, in: Bernhard Bachinger/Wolfram Dornik/Stephan Lehnstaedt (Hrsg.), Österreich-Ungarns imperiale Herausforderungen. Nationalismen und Rivalitäten im Habsburgerreich um 1900, Göttingen 2020, S. 87 – 98. 5 Dazu grundlegend Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, 7. Bd.: Verfassung und Parlamentarismus, 1. Teilbd.: Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften, Wien 2000. 6 Zur Verfassungsgeschichte Österreichs ab 1867 vgl. Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 8. Aufl., Wien 2001, S. 154 – 178, sowie ders., Die Verfassungsentwicklung in Österreich von 1848 bis 1918, in: Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.) (Fn. 5), S. 69 – 237 (174 – 235). Zur Verfassungsgeschichte Ungarns ab 1867 vgl. László Péter, Die Verfassungsentwicklung in Ungarn, in: Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.) (Fn. 5), S. 239 – 540 (313 – 504).

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als Bezugspunkt für einen Spitznamen, der Wien-zentriert und doch auf den ersten Blick unverfänglich war: Cisleithanien. Für Ungarn verwendeten manche dann eben dementsprechend die Bezeichnung „Transleithanien“. Für die Zeitgenossen war es selbstverständlich, dass der Terminus „Dualismus“ sich auf diese Beziehungen von Cis- und Transleithanien bezog.7 Daneben bildeten die Fragen nach der Stellung der „Krone“, also des Monarchen als Machtzentrum des Habsburgerreichs, und nach der Regelung des Verhältnisses der „Nationalitäten“ der multiethnischen Monarchie die Dauerthemen der verfassungspolitischen Diskussionen.8 Alle drei Facetten des politischen Systems hingen in vielen konkreten Konflikten eng miteinander zusammen. Und dazu zählte nicht zuletzt auch derjenige um die Stellung des Militärs in „Kakanien“.

II. Wehrsystem im Dualismus Durch die im Budapester Reichstag Mitte und im Wiener Reichsrat Ende 1867 beschlossenen Ausgleichsgesetze behielt Franz Joseph als österreichischer Kaiser und ungarischer König auf der Grundlage der Pragmatischen Sanktion im Kern die Verfügung über das, was heute als Außen- und Sicherheitspolitik firmiert. In den § 8 und 11 des ungarischen Gesetzes XII von 18679 hieß es über Armee und Kriegswesen als „Mittel der aus der pragmatischen Sanktion fließenden gemeinsamen und simultanen Vertheidigung“ (§ 8): „In Folge der verfassungsmäßigen Herrscherrechte Sr. Majestät in Betreff des Kriegswesens wird all’ das, was auf die einheitliche Leitung, Führung und innere Organisation der gesammten Armee, und somit auch des ungarischen Heeres, als eines ergänzenden Theiles der Gesammtarmee, Bezug hat, als der Verfügung Sr. Majestät zustehend anerkannt.“ (§ 11) Der Hinweis auf ein ungarisches Heer als ergänzender Teil der Gesamtarmee barg, wie sich zeigen sollte, erhebliche Sprengkraft; er fehlte im cisleithanischen Pendant in der sogenannten Dezemberverfassung. Dieses Gesetz des Wiener Reichsrats hielt jedoch im Gleichklang mit dem ungarischen Gesetz in § 1 fest: „das Kriegswesen mit 7 József Galántai, Der österreichisch-ungarische Dualismus 1867 – 1918, Budapest/Wien 1990, S. 37 – 73. Zum gemeinsamen Ministerrat vgl. Éva Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867 – 1906, Wien/Köln/Weimar 1996. Zu den Delegationen des Reichsrats und des Reichstags vgl. Lothar Höbelt, The Delegations: Preliminary Sketch of a Semi-Parlamentary Institution, Parliaments, Estates and Representation 6 (1986), S. 149 – 154, sowie Éva Somogyi, Die Delegation als Verbindungsinstitution zwischen Cis- und Transleithanien, in: Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.) (Fn. 5), S. 1107 – 1176. 8 Gerald Stourzh, Der Dualismus 1867 bis 1918: Zur staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Problematik der Doppelmonarchie, in: Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.) (Fn. 5), S. 1177 – 1230; Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997, S. 426 – 455, 486 – 523, 551 – 560; Galántai (Fn. 7), S. 74 – 107. 9 Landesgesetz-Sammlung für 1865 – 1867, 2. Aufl., Pest 1872, https://eudocs.lib.byu.edu/ index.php/XII._Gesetzartikel.

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Inbegriff der Kriegsmarine“ sei eine gemeinsame Angelegenheit, „jedoch mit Ausschluß der Recrutenbewilligung und der Gesetzgebung über die Art und Weise der Erfüllung der Wehrpflicht, der Verfügungen hinsichtlich der Dislocirung und Verpflegung des Heeres, ferner der Regelung der bürgerlichen Verhältnisse und der sich nicht auf den Militärdienst beziehenden Rechte und Verpflichtungen der Mitglieder des Heeres“.10 Dem Ausgleich von 1867 entsprechend, wurde die Neuregelung des Wehrsystems im folgenden Jahr bereits nach den Spielregeln des Dualismus durch die Parlamente in Wien und Budapest rechtlich verankert. 11 Wie auch anderswo auf dem europäischen Kontinent, so galt es für die Habsburgermonarchie – im Schatten von Königgrätz – vom Sieger das Siegen zu lernen. Die allgemeine Wehrpflicht, kombiniert mit dem Einjährig-Freiwilligen-Privileg, sollte nach preußischem Vorbild für den Kriegsfall ein großes Reservoir ausgebildeter Soldaten garantieren, und das zu in Friedenszeiten erträglichen Kosten. Ein Milizsystem fand, aus unterschiedlichen Gründen, in Politik und Militär kaum Fürsprecher. Worüber jedoch intensiv diskutiert wurde, war die Frage, in welcher Form dem unter den Politikern Transleithaniens weit verbreiteten Wunsch nach einem erkennbar ungarischen Teil der Streitkräfte Rechnung getragen werden könnte.12 Letztlich blieb es dabei, dass der Großteil der Landstreitkräfte zur kaiserlich-königlichen Armee gehören und administrativ dem Reichskriegsministerium in Wien unterstellt sein sollte. Dieses Ministerium war auch für die Verwaltung der Kriegsmarine zuständig. Ein Teil des gesetzlich verankerten jährlichen Rekrutenkontingents trat seinen Präsenzdienst jedoch in einem der beiden gesonderten Streitkräfteteile an, der Landwehr in Cisleithanien und der Honvéd in Ungarn. Diese Neuschöpfungen, die den Landesverteidigungsministern in Wien und Budapest unterstanden, waren ein Zugeständnis an Ungarns Führung. Für die Landwehreinheiten in dem zur Stephanskrone gehörenden Königreich Kroatien-Slawonien, die Domobranzen, war die Dienstsprache Kroatisch, bei den Honvéds im übrigen Ungarn jedoch Magyarisch, im Unterschied zum gemeinsamen 10 Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Österreich. LXI. Stück. 146. Gesetz vom 21. 12. 1867, betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten und die Art ihrer Behandlung, http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=rgb&da tum=1867&page=430&size=45. 11 Grundlegend zu den Streitkräften der Habsburgermonarchie nach 1848 Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, 5. Bd.: Die bewaffnete Macht, Wien 1987. Vgl. auch Gunther E. Rothenberg, The Army of Francis Joseph, West Lafayette, IN 1976. 12 Johann Christoph Allmayer-Beck, Die bewaffnete Macht in Staat und Gesellschaft, in: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.) (Fn. 11), S. 1 – 141 (61 – 88); Christa Hämmerle, Die k. (u.) k. Armee als „Schule des Volkes“? Zur Geschichte der allgemeinen Wehrpflicht in der multinationalen Habsburgermonarchie (1866 – 1914/18), in: Christian Jansen (Hrsg.), Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert: ein internationaler Vergleich, Essen 2004, S. 175 – 213; Günther Kronenbitter, Waffenträger im Vielvölkerreich – Miliz und Volksbewaffnung in der späten Habsburgermonarchie, in: Rüdiger Bergien/Ralf Pröve (Hrsg.), Spießer, Patrioten, Revolutionäre. Militärische Mobilisierung und gesellschaftliche Ordnung in der Neuzeit, Göttingen 2010, S. 49 – 69 (50 – 60).

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Heer und der cisleithanischen Landwehr, wo im Dienstbetrieb Deutsch verwendet wurde.13 Was zunächst nach einem tragfähigen Kompromiss aussah, sollte sich in den folgenden Jahrzehnten als gefährlicher Konfliktherd erweisen. Um dies verstehen zu können, lohnt sich der Blick auf die Motive der wichtigsten Akteure in den Auseinandersetzungen um das Wehrsystem und den Ausbau der Streitkräfte, die von Mitte der 1880er-Jahre bis unmittelbar vor Ausbruch des Weltkriegs immer wieder aufflammten. Von einem kurzen, letztlich erfolglosen Versuch des österreichischen Ministerpräsidenten Koerber sich als eigenständige Größe in der Debatte zu etablieren einmal abgesehen, blieb dieser Streit geprägt von den führenden Parteipolitikern Ungarns, der Militärführung in Wien und der Krone.14 Der Kaiser – und König – war nicht nur Oberster Kriegsherr und Monarch, sondern auch Chef des Hauses Habsburg.15 Erzherzöge dienten grundsätzlich in den Streitkräften, einige an herausgehobenen Stellen. Bis zu seinem Tod 1895 der bedeutendste unter den Agnaten im Militär war Erzherzog Albrecht, der Sieger von Custozza, dem Franz Joseph, der Verlierer von Solferino, durchaus weise, den Oberbefehl über die Armee anvertraute.16 Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand wurde in den letzten eineinhalb Jahrzehnten vor Sarajevo sukzessive zum zweitmächtigsten Habsburger im Militär und führte schließlich den Titel eines Generalinspekteurs der gesamten bewaffneten Macht.17 Neben den Generalstabschefs und den Kriegsministern bildeten beide Erzherzöge die Spitzen des Militärs, standen aber durch ihre Stellung innerhalb der Dynastie auch der Krone besonders nahe.18 Albrecht wie Franz Ferdinand wurden nicht 13 Tibor Papp, Die königlich ungarische Landwehr (Honvéd) 1868 bis 1918, in: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.) (Fn. 11), S. 634 – 686 (634 – 644). 14 Péter, Die Verfassungsentwicklung (Fn. 6), S. 518 – 529. 15 Steven Beller, Franz Joseph. Eine Biographie, Wien 1997, S. 90 – 96, 135 – 163; JeanPaul Bled, Franz Joseph. „Der letzte Monarch der alten Schule“, Wien/Köln/Graz 1988, S. 474 – 487, 503 – 507; Egon Caesar Conte Corti/Hans Sokol, Der Alte Kaiser. Franz Joseph I. vom Berliner Kongress bis zu seinem Tode, 2. Aufl., Graz/Wien/Köln 1955, S. 277 – 306; Lothar Höbelt, Franz Joseph I. Der Kaiser und sein Reich. Eine politische Geschichte, Wien/Köln/Weimar 2009, S. 119 – 137; Michaela Vocelka/Karl Vocelka, Franz Joseph I. Kaiser von Österreich und König von Ungarn. 1830 – 1916. Eine Biographie, München 2015, S. 214 – 219. 16 Johann Christoph Allmayer-Beck, Der stumme Reiter. Erzherzog Albrecht. Der Feldherr „Gesamtösterreichs“, Graz/Wien/Köln 1997, S. 169 – 310; Matthias Stickler, Erzherzog Albrecht von Österreich. Selbstverständnis und Politik eines konservativen Habsburgers im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, Husum 1997, S. 250 – 500. 17 Jean-Paul Bled, Franz Ferdinand. Der eigensinnige Thronfolger, Wien/Köln/Weimar 2013, S. 47 – 56, 131 – 151; Alma Hannig, Franz Ferdinand. Die Biografie, Wien 2013, S. 23 – 29, 85 – 98; Samuel R. Williamson Jr., Influence, Power, and the Policy Process. The Case of Franz Ferdinand, 1906 – 1914, Historical Journal 17 (1974), S. 417 – 434. 18 Günther Kronenbitter, Die Akteure der Macht. Politische und militärische Kriegsvorbereitungen, in: Helmut Rumpler (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, 11. Bd.: Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg, 1. Teilbd. : Der Kampf um die Neuordnung Mitteleuropas, 1. Teil: Vom Balkankonflikt zum Weltkrieg, Wien 2016, S. 79 – 132 (80 – 87).

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müde, auf die historische Erfahrung zu verweisen, vor deren Hintergrund sie die Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung des Dualismus im Wehrsystem der Habsburgermonarchie interpretierten – ganz ähnlich wie Ungarns Politik und Publizistik.

III. Last der Erinnerung Alle Protagonisten des Konflikts teilten einen erinnerungspolitischen Fixpunkt, ganz gleich, ob sie Zeitzeugen waren oder einer Generation angehörten, die das Geschehen nur aus zweiter Hand kannte: die Revolution von 1848 und der ungarische Unabhängigkeitskrieg, der mit einem Sieg der Kaiserlichen geendet hatte. 1848/49 hatte Dynastie und Armee an den Rand einer katastrophalen Niederlage geführt. Dass es letztlich gelungen war, die Herrschaft des Hauses Habsburg wiederherzustellen, galt in Wien fortan als das große historische Verdienst loyaler Streitkräfte. Die Glorifizierung der kaiserlichen Heerführer fand Ausdruck in einem noch Jahrzehnte später immer wieder gerne zitierten Gedicht Franz Grillparzers auf Feldmarschall Josef Wenzel Graf Radetzky von Radetz: „Glück auf, mein Feldherr, führe den Streich! Nicht bloß um des Ruhmes Schimmer, In deinem Lager ist Österreich, Wir Andern sind einzelne Trümmer. Aus Torheit und aus Eitelkeit Sind wir in uns zerfallen, In denen, die du führst zum Streit, Lebt noch Ein Geist in Allen. […] Die Gott als Slav’ und Magyaren schuf, Sie streiten um Worte nicht hämisch, Sie folgen, ob deutsch auch der Feldherrnruf, Denn: Vorwärts! ist ung’risch und böhmisch.“19

Die Armee als Schule des Übernationalen wurde auch und gerade nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1868 als entscheidende Stütze der Habsburgermonarchie beschworen.20 Dabei schwang immer die Erinnerung an 1848/49 mit.21 Der im Kampf gegen die Truppen der ungarischen Regierung 1849 gefallene Heinrich Hentzi von Arthurm wurde zu einer Symbolfigur für die heroische Selbstbehauptung gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Magyaren und seines Opfers wurde von der Budapester Garnison der k. u. k. Armee regelmäßig gedacht. 19

Franz Grillparzer, Feldmarschall Radetzky. Anfang Juni 1848, in: Franz Grillparzer, Gedichte, Erster Teil, Wien 1932, S. 230 f. 20 Allmayer-Beck, Die bewaffnete Macht (Fn. 12), S. 88 – 90. 21 Günther Kronenbitter, „Krieg im Frieden“. Die Führung der k. u. k. Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906 – 1914, München 2003, S. 206 – 208.

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1886 löste eine Kranzniederlegung an seinem Denkmal durch den Garnisonskommandanten einen Eklat aus und wurde zum Anstoß für heftig vorgetragene Forderungen nach einer Neugestaltung der Streitkräfte.22 Für die politische Elite Ungarns war 1848/49 eben mit ganz anderen, schmerzlichen Erinnerungen verbunden. Honvéd, das war der Name für die Vaterlandsverteidiger von 1848/49, die freiwillig für die Unabhängigkeit Ungarns in den Kampf gezogen waren. Die Schaffung einer neuen Honvéd als Teil der Streitkräfte Österreich-Ungarns war ein symbolischer Erfolg für Ungarns Politiker gewesen und auch die nach und nach durchgesetzte Umbenennung der gemeinsamen Armee – von kaiserlich-königlich zu kaiserlich und königlich – sowie des Reichskriegsministeriums in Kriegsministerium spiegelten die Budapester Lesart des Ausgleichs. Das änderte jedoch nichts daran, dass die Regimenter der gemeinsamen Armee in Ungarn eine sichtbare Erinnerung an die Niederlage 1849 waren und zumindest potentiell auch ein Drohmittel gegen allzu renitente Politiker. Der Honvéd führte letztlich doch nur ein Schattendasein als Verstärkung der gemeinsamen Armee, in deren Kommandostrukturen und Großverbände die Honvéd-Einheiten im Kriegsfall eingebaut werden sollten. Nur relativ wenige Ungarn ergriffen die Offizierslaufbahn in der k. u. k. Armee und das Gros unter ihnen waren keine Magyaren, sondern stammten aus den übrigen ethnischen Gruppen, die rund die Hälfte der Bevölkerung Ungarns ausmachten.23 Kurzum: Die Armee erschien aus magyarischer Sicht zumindest als Fremdkörper, wenn nicht gar als Besatzer. Obwohl auch die Presse Ungarns, die Reformierte Kirche und Vereine bei der Formulierung der ungarischen Lesart des Dualismus eine wichtige Rolle spielten, und wenn auch auf der Ebene der Komitate Politik gemacht wurde – die wichtigste Bühne der Willensbildung war der Reichstag. Mit einigem Recht ließe sich behaupten, dass die gesetzlichen Regeln des Wahlprozesses einen Kernbereich der Realverfassung moderner Demokratien ausmachen. Von Primaries über Gerrymandering haben sie beispielsweise dem politischen System der heutigen USA ihren Stempel aufgedrückt. Für die Doppelmonarchie, konstitutionell, aber nicht demokratisch regiert, traf dies in geringerem Ausmaß zu, aber der Einfluss des Wahlrechts auf die politische Entwicklung des Dualismus war dennoch massiv. Nicht zufällig errichtete sich der ungarische Reichstag seit 1885 ein Gebäude, das sich augenfällig am Parlament in London orientierte. Auch die Selbstbezeichnung des ungarischen Kleinadels als Gentry – mit ungarischer Schreibweise: dzsentri – signalisierte die Ausrichtung am britischen Vorbild. Die gewählte Kammer der Abgeordneten war von nationaler wie sozialer Exklusivität geprägt: Das restriktive Wahlrecht sorgte dafür, dass magyarische dzsentri und magyarisches Bürgertum dominierten. Diese weitreichende Homogenität ermöglichte und beförderte die Bildung politischer Lager entlang verfassungsgeschichtlicher und staatsrechtlicher Bruchlinien. Die 1848er, auch Un22

Michael Laurence Miller, A Monumental Debate in Budapest: The Hentzi Statue and the Limits of Austro-Hungarian Reconciliation, 1852 – 1918, Austrian History Yearbook 40 (2009), S. 215 – 237. 23 Papp (Fn. 13), S. 648 – 654; Allmayer-Beck, Die bewaffnete Macht (Fn. 12), S. 90 – 99.

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abhängigkeitspartei genannt, sahen in den Beschlüssen der Revolutionszeit die Grundlage einer legitimen politischen Ordnung Ungarns. Die 1867er stellten sich auf den Boden der Ausgleichsgesetze und akzeptierten damit den Status quo in seinen Grundzügen. Die Verteidigung der Errungenschaften von 1867 und die möglichst weitgehende Ausgestaltung der Selbstbestimmung Ungarns wurde als Ziel – bei einigen eben als Minimalziel – von der großen Mehrheit der Abgeordneten geteilt.24

IV. Armeefrage und Rüstung Die besondere Bedeutung staatsrechtlicher Argumentationsmuster für Ungarns politische Elite brachte es zwangsläufig mit sich, dass Machtfragen zwischen der Krone und Ungarn in juristischen, zeittypisch auch in verfassungsgeschichtlichen Formen verhandelt wurden. Solange die Befürworter des Ausgleichs unter Führung von Kálmán Tisza das Abgeordnetenhaus dominierten, war es möglich, die notwendigen Bewilligungen des Rekrutenkontingents durchzusetzen. Eine – relativ geringfügige – Erhöhung des Kontingents auf 103.000 Mann für die gemeinsame Armee, 10.000 Mann für die österreichische Landwehr und 12.500 Mann für den Honvéd (einschließlich der kroatischen Landwehr) gelang unter diesen Umständen im Jahr 1889 noch; weitere Verstärkungen, die mit Blick auf die Rüstungsfortschritte anderer Mächte vom Militär gefordert wurden, ließen sich aber unter wechselnden Regierungen seit 1890 nicht mehr realisieren.25 Von finanziellen Erwägungen beidseits der Leitha abgesehen, stellte die Verfassungsdebatte im Reichstag den entscheidenden Grund dafür dar, dass mehr als zwei Jahrzehnte eine nennenswerte Erhöhung der Truppenzahl ausbleiben sollte. László Péter hat die parteipolitische Logik und die verfassungsrechtliche Argumentation analysiert, die aus der Armeefrage ein zentrales Thema der ungarischen Politik werden ließ. Er sieht in der Debatte um das Wehrgesetz von 1889 eine Zäsur in der Entwicklung der Interpretation des Dualismus im Reichstag. Die Auffassung, Ungarn sei ein souveräner Staat, wurde zunächst von den 1848ern und der moderaten Opposition geteilt, dann aber auch immer stärker von den Liberalen – der Gruppierung Kálmán Tiszas – übernommen. Nun kam es einer großen Mehrheit der Parlamentarier in Budapest darauf an, ihren Anspruch darauf geltend zu machen, dass das ungarische Heer – als ergänzender Teil der dem König und Kaiser unterstellten Streitkräfte – einen deutlich erkennbaren ungarischen Charakter haben sollte.26 Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Verwicklungen der un-

24

Péter, Die Verfassungsentwicklung (Fn. 6), S. 451 – 467. Walter Wagner, Die k.(u.)k. Armee – Gliederung und Aufgabenstellung, in: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.) (Fn. 11), S. 142 – 633 (485 – 493, 587 – 591). 26 László Péter, The Army Question in Hungarian Politics 1867 – 1918, Central Europe 4 (2006), S. 83 – 110. 25

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garischen Innenpolitik zwischen 1902 und 1912 im Detail nachzuzeichnen.27 Inhaltlich drehte es immer wieder darum, die einzige Staatssprache Ungarns – abgesehen von Kroatien – als Symbol der nationalen Einheit auch in der gemeinsamen Armee zur Geltung zu bringen. Die von den Regierungen Ungarns verfolgte Politik einer Magyarisierung des Landes sollte nicht von einer Institution unterlaufen werden, die durch einen dreijährigen Präsenzdienst massiver in das Leben der – männlichen – Bevölkerung eingriff als viele andere Einrichtungen des Staates. Auf der Seite der Armeeführung war aber die angemessene Berücksichtigung der Muttersprache der Rekruten sowohl ein Erfordernis moderner militärischer Ausbildung als auch ein Ausdruck dafür, dass es sich um die Truppen eines Vielvölkerreiches handelte, gleich ob sie östlich oder westlich der Leitha ausgehoben wurden. Vor allem Erzherzog Franz Ferdinand stellte mit der für ihn typischen rabiaten Deutlichkeit heraus, dass die deutsche Dienst- und Kommandosprache nicht zuletzt für die Tradition der alten, kaiserlichen Armee stand. 1904 schrieb er an Generalstabschef Friedrich Graf Beck: „Mit dem tiefsten Bedauern und der höchsten Sorge für mein Vaterland muss ich zusehen, wie nun auch die Armee, das letzte Bollwerk des Thrones und der Dynastie, magyarisiert werden soll und der herrliche ,ungarische Geist‘ in die Armee gebracht werden soll. […] Ich glaube, dass es die Kriegsgeschichte aller Zeiten und in letzter Zeit die Jahre 1848, 1859 und 1866 am besten gezeigt haben, was für ein Verlass auf ungarische Truppen ist, wenn sie der ,ungarische Geist‘ durchweht, dieser Geist der stets revolutionär war, ist und sein wird.“28 Acht Jahre zuvor hatte Franz Ferdinand bereits geunkt: „in den schweren Zeiten, die der Monarchie bevorstehen, fragt es sich, wer und was erhält den Thron, die Dynastie? Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: die Armee; denn die Armee ist nicht allein zur Verteidigung des Vaterlandes gegen den äußeren Feind bestimmt, ihre Hauptaufgabe ist der Schutz und die Erhaltung des Thrones zur Bekämpfung jedweden inneren Feindes. Nun haben wir aber nicht mehr die Armee, von der des Dichters Mund sang: ,In Deinem Lager ist Österreich!‘“29 Nun war der Erzherzog ein dezidierter Gegner der politischen Elite Ungarns – überhaupt gehörte Franz Ferdinand zu denjenigen, die gerne und auch lauthals hassten, aber die Magyarophobie stach unter seinen zahlreichen Ressentiments durch ihre Heftigkeit hervor. Weder Sozialisten noch Protestanten, weder Juden noch Liberale betrachtete er als eine so tödliche Gefahr für die Existenz der Habsburgermonarchie wie Ungarns Führungsschicht. Jedes Zugeständnis an die Budapester Forderungen lehnte er dementsprechend strikt ab, auch wenn sich dadurch die Blockade der Rüstungspolitik Österreich-Ungarns jahrelang hinzog. Kriegsminister, die nach Kom27

Vgl. dazu Kronenbitter, „Krieg im Frieden“ (Fn. 21), S. 153 – 177. Erzherzog Franz Ferdinand an Friedrich Graf Beck sine dato [Sommer 1904], zitiert nach Edmund von Glaise-Horstenau, Franz Josephs Weggefährte. Das Leben des Generalstabschefs Grafen Beck. Nach seinen Aufzeichnungen und hinterlassenen Dokumenten, Zürich/Leipzig/Wien 1930, S. 405. 29 Erzherzog Franz Ferdinand an Friedrich Graf Beck, 6. 5. 1896, zitiert nach GlaiseHorstenau (Fn. 28), S. 474 f. 28

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promissen suchten, verloren deshalb auf Betreiben des Thronfolgers ihre Posten; auch Außenminister Alois Lexa von Aehrenthal geriet ins Visier Franz Ferdinands.30 Franz Joseph, der sich selten zu grundsätzlichen Stellungnahmen hinreißen ließ und dessen Intentionen daher oft nur indirekt erschlossen werden können, hielt an den Grundstrukturen des Ausgleichs von 1867 beharrlich fest, verlangte aber seinerseits von den ungarischen Ministerpräsidenten, die er als konstitutioneller Monarch ernannte und entließ, dass auch sie das Arrangement von 1867 in seinem Kern nicht in Frage stellten. Sehr deutlich positionierte sich Franz Joseph in der Öffentlichkeit nur bei einer Gelegenheit, als er nach einem Manöver in Galizien im dafür üblichen Armeebefehl ungewöhnlich scharfe Worte fand: „Je sicherer begründet Mein günstiges Urteil über den militärischen Wert, die hingebungsvolle Dienstesfreudigkeit und das einmütige Zusammenwirken aller Teile Meiner gesamten Wehrmacht ist, desto mehr muß und will Ich an deren bestehenden und bewährten Einrichtungen festhalten. Mein Heer insbesondere – dessen gediegenes Gefüge einseitige Bestrebungen, in Verkennung der hohen Aufgaben, welche dasselbe zum Wohle beider Staatsgebiete der Monarchie zu erfüllen hat, zu lockern geeignet wären – möge wissen, daß Ich nie der Rechte und Befugnisse Mich begebe, welche seinem Obersten Kriegsherrn verbürgt sind. Gemeinsam und einheitlich, wie es ist, soll Mein Heer bleiben, die starke Macht zur Verteidigung der österreichischungarischen Monarchie gegen jeden Feind. Getreu ihrem Eide wird Meine gesamte Wehrmacht fortschreiten auf dem Wege ernster Pflichterfüllung, durchdrungen von jenem Geiste der Einigkeit und Harmonie, welcher jede nationale Eigenart achtet und alle Gegensätze löst, indem er die besonderen Vorzüge jedes Volksstammes zum Wohle des großen Ganzen verwertet.“31 Die heftigen Proteste ließen Franz Joseph gleich darauf versöhnliche Töne anschlagen, aber er hatte klargemacht, wo für ihn – wie man heute gerne sagt – die rote Linie in der Wehrpolitik verlief. Der Ausgleich hatte den Konstitutionalismus fest etabliert und dem Monarchen viel an Entscheidungsfreiheit genommen. Zentrale Felder der Großmachtpolitik waren jedoch weiterhin dem Herrscher vorbehalten und die komplizierte Verfassungsstruktur der Doppelmonarchie begrenzte die Kontrollmöglichkeiten der Berufspolitiker zusätzlich. Zum Verdruss des Thronfolgers hielt Franz Joseph daher am Dualismus als Gestaltungsprinzip fest. Die ungarischen Politiker, die sich in der Wehrfrage gegen die Wünsche des Königs stellten, sahen die Rekrutenbewilligung ihrerseits als das perfekte Instrument, um Druck auf den Monarchen ausüben zu können, ohne den zivilen Verwaltungsapparat oder die Wirtschaft zu schädigen. Was sie vor einer weiteren Eskalation zurückscheuen ließ, waren die Drohungen des Königs, zugunsten seines Neffen Franz Ferdinand zurückzutreten 30

Robert A. Kann, Erzherzog Franz Ferdinand Studien, Wien 1976, S. 100 – 126; Kronenbitter, „Krieg im Frieden“ (Fn. 21), S. 161 – 167. 31 Armeebefehl von Chłopy vom 16. September 1903, zitiert nach Wiener Zeitung vom 18. September 1903, http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=wrz&datum=19030918&sei te=1. Vgl. auch Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, 8. Bd.: 1900 – 1904, Wien 1914, S. 494 f.

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oder eine Demokratisierung des Wahlrechts in Ungarn zu oktroyieren – beides aus nachvollziehbaren Gründen Horrorvorstellungen für die meisten von ihnen. Sicherheitshalber hatte die Armee die militärische Besetzung Ungarns durchgeplant. Mit der Neuformierung der 1867er in der Nationalen Arbeitspartei unter Führung von István Tisza, des Sohnes Kálmán Tiszas, wurde der Dualismus wieder im Sinne Franz Josephs funktionsfähig gemacht: Tisza nutzte den Wahlsieg seiner Partei 1910 dazu, im Reichstag durch eine Änderung der Geschäftsordnung die Opposition an der Blockade der Gesetzgebung zu hindern – und so machte er den Weg frei, um 1912 auch die Blockade der Wehrgesetzgebung zu durchbrechen.32 Österreich-Ungarn begann sich nun, mit Verspätung, am Rüstungswettlauf, der Europa erfasst hatte, zu beteiligen.33 Jahrelang hatten wechselnde Kriegsminister und der 1906 ins Amt gekommene Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf sich mit kleinen Rüstungsmaßnahmen behelfen müssen. So war es ihnen gelungen, sich Ungarns Wunsch nach einer Stärkung der Honvéd zunutze zu machen und dadurch Ausbildungsstand und Ausrüstung der Landstreitkräfte wenigstens ein wenig zu verbessern.34 Vor allem aber hatten sie den Ausbau der Kriegsmarine unterstützt, die nicht nur ein Lieblingsprojekt Franz Ferdinands war – er eiferte hier ganz unverhohlen Kaiser Wilhelm II. nach –, sondern die auch in Ungarn viele Befürworter besaß. Verfassungspolitisch war die Kriegsmarine unverfänglich und sie hatte auch nicht, wie die Armee, an der Last der Erinnerung an „1849“ zu tragen. Der Bau von Schlachtschiffen erschien zudem als wirksames Mittel zur Förderung der ungarischen Industrie und fügte sich daher perfekt in die Budapester Wirtschaftspolitik ein, der es darum ging, ökonomisch zu Cisleithanien aufzuschließen. An der Armee zu verdienen, war dagegen viel schwieriger und als Mittel des Technologietransfers erschien selbst der Geschützbau weniger attraktiv. So leistete sich die Habsburgermonarchie im letzten Jahrzehnt vor dem Kriegsausbruch eine teure Schlachtflotte, deren Zweck im Ernstfall eigentlich nur sein konnte, den potenziell unzuverlässigen Verbündeten Italien zu bekriegen oder zumindest wirksam zu bedrohen, um ihn gefügig zu machen.35 32

Péter, Die Verfassungsentwicklung (Fn. 6), S. 472 – 476. Rudolf Kiszling, Die Entwicklung der österreichisch-ungarischen Wehrmacht seit der Annexionskrise, Berliner Monatshefte 12 (1934), S. 735 – 749; Manfred Reinschedl, Die Aufrüstung der Habsburgermonarchie von 1880 bis 1914 im internationalen Vergleich. Der Anteil Österreich-Ungarns am Wettrüsten vor dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M./Berlin/ Bern 2001; Alfred von Wittich, Die Rüstungen Österreich-Ungarns von 1866 bis 1914, Berliner Monatshefte 10 (1932). Vgl. zum Rüstungswettlauf vor dem Ersten Weltkrieg David G. Herrmann, The Arming of Europe and the Making of the First World War, Princeton, NJ 1996, und David Stevenson, Armaments and the Coming of War. Europe 1904 – 1914, Oxford 1996. 34 Kronenbitter, „Krieg im Frieden“ (Fn. 21), S. 167 – 169. 35 Dazu grundlegend Lawrence Sondhaus, The Naval Policy of Austria-Hungary, 1867 – 1918. Navalism, Industrial Development, and the Politics of Dualism, West Lafayette, IN 1994, und Milan N. Vego, Austro-Hungarian Naval Policy, 1904 – 14, London/Portland, OR 1996. Vgl. auch Lothar Höbelt, Die Marine, in: Wandruszka/Urbanitsch (Hrsg.) (Fn. 11), S. 687 – 763 (711 – 730, 749 – 755), und Kronenbitter, „Krieg im Frieden“ (Fn. 21), S. 179 – 186. 33

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V. Resignation und Risiko Otto Hintze hat 1906 in seinem Vortrag über Staatsverfassung und Heeresverfassung unter dem Eindruck der Krise in Ungarn geurteilt: „Wie in Frankreich das Fehlen des Monarchen, so bedeutet in Österreich-Ungarn die mangelnde Staatseinheit ein Moment des Gegensatzes zwischen Staats- und Heeresverfassung. Die moderne Armee ist für den monarchischen Einheitsstaat geschaffen worden. Dass in der habsburgischen Monarchie die Durchführung einer wirklichen Staatseinheit nicht gelungen war, konnte ertragen werden, so lange das Heer nach alter Weise bloß dem Monarchen und nicht dem Lande angehörte; aber seit der Ära der Konstitution und der allgemeinen Wehrpflicht haben sich die nationalen Absonderungstendenzen im Heer wie im Staate in steigendem Maße geregt, und es fragt sich heut [!], ob die deutsche Armeesprache und damit die Einheit der Armee sich wird behaupten lassen. Ohnehin steht ja schon in Ungarn die Honvédarmee neben dem stehenden Heer etwa wie in England die Miliz neben den mobilen Truppen oder wie in Preußen früher die Landwehr neben der Linie nach der Absicht ihrer Begründer, nur in noch stärkerer Absonderung: es ist die ungarische Landmiliz neben dem stehenden Heer des Kaisers.“36 Abgesehen von seinem übergroßen Bemühen, das preußisch-deutsche Wehrsystem zum Maßstab der Großmachtarmeen auf dem europäischen Kontinent zu machen, hatte Hintze vom Wehrsystem des Zweibundpartners falsche Vorstellungen. Weder Honvéd noch Landwehr standen im Hinblick auf Rekrutierung, Ausbildung, Manöverbetrieb und Ordre de bataille außerhalb des militärischen Rahmens, den die k. u. k. Armee vorgab. Und er erkannte zudem nicht, dass „nationale Absonderungstendenzen“ und die Strukturen des Dualismus nicht deckungsgleich waren. Aber Hintzes Kommentar zeigt, dass die inneren Zustände in den Streitkräften Österreich-Ungarns auch außerhalb der Habsburgermonarchie als instabil gewertet wurden. Und dies erschien zunehmend als Problem nicht nur für den inneren Frieden Österreich-Ungarns, sondern auch und gerade für die Sicherheit der Doppelmonarchie nach außen. Mit der Wiederaufrüstung Russlands nach 1905, mit der diplomatischen Konfrontation in der Bosnienkrise 1908/09, mit der Beschleunigung des Wettrüstens seit der Zweiten Marokkokrise 1911 und mit der Machtverschiebung in Südosteuropa in den Balkankriegen 1912/13 zeichnete sich für viele zeitgenössischen Beobachter ab, dass die Streitkräfte der Habsburgermonarchie in einen Großmachtkrieg verwickelt werden könnten. Während Franz Ferdinand weiter die Aufgaben der Armee im Innern vor Augen hatte, passten sich Franz Joseph und Tisza der vom Generalstabschef in den Vordergrund gerückten Auffassung an, dass die Vorbereitung auf einen Krieg den Dreh- und Angelpunkt der Militärpolitik bilden müsse. Früh genug, um die Hoffnung auf eine siegreiche Kriegführung zu nähren, 36 Otto Hintze, Staatsverfassung und Heeresverfassung. Vortrag gehalten in der GeheStiftung zu Dresden am 17. Februar 1906, Dresden 1906, S. 40 f.; erneut in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. von Gerhard Oestreich, 3. Aufl., Göttingen 1970, S. 52 – 83 (80).

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zu spät, um kurzfristig bereits ausreichende Ressourcen für einen Großmachtkrieg zu gewährleisten, trat Österreich-Ungarn in den Rüstungswettlauf ein. Es blieb dabei, dass, wie Musil formulierte, zwar viel Geld für das Heer ausgegeben wurde, aber „doch nur gerade so viel, dass man sicher die zweitschwächste der Großmächte blieb.“37 Zugleich hatte die österreichisch-ungarische Variante eines Heeres- und Verfassungskonflikts dazu beigetragen, dass die Skepsis dem eigenen Staatsgefüge und seinen Entwicklungschancen gegenüber in Teilen der machtpolitischen Eliten zunahm. Durch die komplexe verfassungspolitische Struktur und die nachlassende Durchschlagskraft des Monarchen nur in geringem Maße politischer Kontrolle unterworfen, blieb diesem Zirkel erheblicher Spielraum bei Entscheidungen über wesentliche Fragen der Sicherheitspolitik nach außen. Was die Chancen zu einer durchgreifenden Änderung der innenpolitischen Verhältnisse betraf, breitete sich dagegen tiefer Pessimismus aus. Mit Franz Ferdinand trugen 1914 auch die bis dahin relativ optimistischen Anhänger des ermordeten Thronfolgers ihre Hoffnungen auf eine Stärkung von Krone und Armee in Friedenszeiten zu Grabe. Die Machteliten des Ancien Régime standen gewiss nicht für das innovative Potential der Habsburgermonarchie, das beispielsweise in Judsons Bild des Reiches so deutlich sichtbar wird. Wichtige Entscheidungsträger waren sie dennoch. Resignation und Kreativität hatten beide ihren Platz und insofern liegt Musil vielleicht nicht so falsch, wenn er „Kakanien“ zusprach, es sei in gewisser Weise „der fortgeschrittenste Staat“ gewesen, denn „es war“, so Musil, „der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte“38.

37 Musil (Fn. 1), S. 33. Vgl. zum Stand der Rüstung Österreich-Ungarns im Vergleich der Großmächte Herrmann (Fn. 33), S. 234 – 237, und Stevenson (Fn. 33), S. 6 f. 38 Musil (Fn. 1), S. 35. Zur angeblichen Vorbildfunktion der Habsburgermonarchie und zu deren Grenzen vgl. Jana Osterkamp, Vielfalt ordnen. Das föderale Europa der Habsburgermonarchie (Vormärz bis 1918), Göttingen 2020, S. 1 – 3, 413 – 416.

Diskussion Schönberger: Vielen Dank, Herr Kronenbitter, für diesen ernüchternden Blick auf die Habsburger. Wenn man Josef Roth gelesen hat, wird man von Ihnen vor jeder Verklärung bewahrt. Sie haben uns sehr eindrucksvoll vorgeführt, wie sich in der Habsburgermonarchie im Grunde mehrere Konflikte überlagern, die wir aus anderen Zusammenhängen kennen. Besonders wird der klassische institutionelle Konflikt zwischen Monarch und Parlament überlagert durch potentielle nationale Sezessionskonflikte. Diese Gleichzeitigkeit haben Sie uns äußert faszinierend vorgeführt. Ich darf um Wortmeldungen bitten. Brauneder: Eine Frage zur Regimentsstruktur: Waren die Regimente ethnisch relativ homogen, was die Mannschaftskader betraf und wurden sie dann fernab des Rekrutierungsgebietes stationiert? Das hätte man ja machen können, aus Loyalitätsgründen. Oder wurden diese einzelnen ethnischen Gruppen auch durchmischt? Beim Offizierskorps deuteten Sie an, dass die Ungarn wenig in der Armee gedient haben. In der Folge muss es ein bisschen anders gewesen sein. Immerhin wurde Horthy ja General während des Krieges. Aber wie sieht es zum Beispiel mit dem polnischen Adel aus? Hat der in der Armee gedient? Gut, der böhmische Adel ist natürlich eher deutsch-mährisch geprägt. Aber wie sieht das mit den anderen ethnischen Gruppen aus? Kronenbitter: Vielen Dank, ich gehe zunächst auf die Offiziere, die höheren Offiziersränge ein. Die haben Sie ja wohl hauptsächlich gemeint, wenn Sie vom Adel sprechen. Ein deutscher Aristokrat in der Habsburger Monarchie will nicht Leutnant bleiben bis zum Ende seines Lebens. Das war ein Problem, da ganz generell die Aristokratie weitgehend desinteressiert war. In der Spätphase der Habsburger Monarchie wurde das immer prononcierter und auch als Problem erkannt und benannt, da man davon ausging, dass sich die zivilgesellschaftlichen Differenzstrukturen am besten eins zu eins im Militär wiederfinden sollten. Wer einen höheren Status hatte im zivilen Leben, sollte auch der Höhergestellte gegenüber den Rekruten sein. Nur so wären Akzeptanz und Autorität gesichert. Den tatsächlich unter den Offizieren dominierenden Mittelschichten, zum Teil auch aufgestiegenes Kleinbürgertum, diesen Bevölkerungsgruppen wurde diese natürliche Autorität abgesprochen. Sie haben nicht den Habitus, der auch nicht gelernt werden kann, den man als militärischer Führer braucht. Warum war das so, dass der Adel, und zwar nicht nur der ungarische, einen Bogen um das Militär machte? Es war nicht attraktiv genug. Es gab genug Positionen in der zivilen Verwaltung, die interessanter waren. Und je größer der Anteil des aufgestiegenen bürgerlichen Elements, zum Teil Dienstadel, aber von der Herkunft her aus

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bürgerlichen Kreisen stammend, wurde, umso unattraktiver wurde das Militär für die Aristokratie. Bei allen Überlegungen, wie dieser Kreislauf durchbrochen werden könnte, hatte man immer Deutschland als Maßstab im Blick. Neidvoll wurde konstatiert, dass es dort ganz anders und das Prestige des Militärs so groß sei, dass auch gehobene Schichten der Gesellschaft gerne dienstfreudig die Offizierslaufbahn ergreifen. Spezifikum bei den Ungarn war, dass sie mit der Honvéd eine Variante hatten, in der sie dominieren konnten. Allerdings führten die Honvéd-Karrieren im Gesamtkontext der Armee nicht wirklich weiter und blieben dadurch eine Art Abstellgleis, was ihre Attraktivität nicht grundsätzlich steigern konnte. Zu den Truppen selbst: Das Aushebungsprinzip ist ein territoriales, das heißt in ethnisch gemischten Räumen gab es selbstverständlich auch ethnisch-gemischte Rekrutenkontingente. Die Regelung in der k. u. k. Armee war, dass eine Sprache dann eine offizielle Regimentssprache wurde, sobald sie von 20 % der Soldaten in einem Regiment gesprochen wurde. Diese Reglung war wichtig für Instruktion und Ausbildung, aber auch generell für jede Form der Kommunikation. Von Offizieren wurde erwartet, dass sie die Sprache ihrer Regimenter „zum Dienstgebrauch genügend“, wie es in den Akten bezeichnet wurde, innerhalb von zwei Jahren lernen würden. Häufig blieben die Kenntnisse rudimentär, aber als Symbol war die Regelung wichtig. Man hatte sich auf diese Vielsprachigkeit festgelegt. Sehr viele der 104 Regimenter waren tatsächlich sprachlich gemischt, manchmal mit drei Sprachen, in Einzelfällen, je nach Rekrutierungsgebiet, sogar vier Sprachen. Die Dislozierung der so ausgehobenen Truppen war aber ein anderes Thema. Selbstverständlich gab es die Vorstellung, dass die Soldaten möglichst weit weg von ihrer Heimat eingesetzt werden sollten, um Fraternisierungstendenzen zu erschweren, sie von ungewollten politischen Einflüssen fernzuhalten und so zu einem treuen Instrument der Heerführung zu machen. Franz Ferdinand hat sich immer in dieser Richtung ausgesprochen. Dass man dennoch die Umstellung auf ein territoriales System der Dislozierung vollzogen hatte, war der Erkenntnis geschuldet, dass das andere System im Ernstfall, bei einem Krieg mit anderen Staaten, ungeeignet wäre, da eine Mobilisierung zu lange dauern würde. Österreich-Ungarns strategische Lage machte es unabdingbar, dass im Zweifelsfall schneller mobilisiert werden könnte als in Russland. Geschwindigkeit war wichtig. Aus diesem Grund wurde eine andere Form der Dislozierung nie wirklich ernsthaft ins Auge gefasst. Hillgruber: Vielen Dank für den sehr interessanten Vortrag. Was ich mich frage ist, hätte es eine Alternative gegeben zu der Lösung? Eines ungarischen Verbandes, aber innerhalb der k. u. k. Armee? Aber ich sehe es eigentlich nicht. Irgendwie musste man ja den ungarischen Selbstständigkeitsbestrebungen in begrenztem Umfang Rechnung tragen. Das hat man damit getan. Mehr aber war nicht möglich, weil man ja die Einheit bewahren wollte. Das wäre die Frage in dem Zusammenhang. Franz Ferdinand ist ja bei Ihnen ganz schlecht weggekommen. Ich wollte nachfragen, hat der jetzt einfach nur die Position eingenommen, es muss alles so bleiben wie es ist, oder liege ich falsch mit meiner Erinnerung, dass er Anhänger der Vorstellung

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war, es darf nicht nur den bilateralen Ausgleich mit Ungarn geben, sondern wir müssen auch die anderen Volksstämme, von denen die Rede war, einbeziehen. Damit hat er die Feindschaft der Ungarn auf sich gezogen, die die Exklusivität in dieser Sonderrolle haben und nicht mit den anderen teilen wollten. Kronenbitter: Zu Franz Ferdinand: Seine alternativen Verfassungspläne, der sogenannte Trialismus, haben in der älteren Forschung eine große Rolle gespielt, weil sich in den Unterlagen der Militärkanzlei von Franz Ferdinand tatsächlich ausgesprochen viele Vorschläge finden, die in diese Richtung deuten. Wenn man allerdings das Gesamtbild der Akten berücksichtigt, relativiert sich der Anteil. Sehr viele Menschen sandten zahlreiche Schreiben mit Ideen, Vorschlägen, an den zukünftigen Herrscher. Je älter und hinfälliger Franz Joseph, umso mehr Hoffnungen wurden auf den Thronfolger gesetzt und versucht, durch Memoranden Einfluss auf ihn zu nehmen. Es ist allerdings durchaus richtig, dass eine Zeit lang stark daraufgesetzt wurde, in Richtung Trialismus umzubauen. Es gab Verbindungen der Militärkanzlei Franz Ferdinands in die kroatische Politik, ins Königreich Kroatien, was eine Zeit lang vielversprechend schien. Allerdings setzte sehr bald Ernüchterung ein, da sich zeigte, dass die kroatischen Politiker das Problem nicht lösen würden, sondern dass ein neues Problem geschaffen werden würde. Kroatischer Nationalismus würde zwar den Ungarn schaden, was Franz Ferdinand eher begrüßte, aber er sorgte sich um einen möglichen Kontrollverlust der Krone. Franz Ferdinands eigentliches Ziel war eine stärkere Position der Krone, um so das Vielvölkergebilde in einer möglichst für alle Teile erträglichen Weise zukunftsfähig zu machen. Entscheidend war für ihn, dass die Krone dafür stärker werden muss und alles, was die Einflussmöglichkeiten der Krone begrenzt, muss letzten Endes geschwächt werden, so Ungarn und der Dualismus. Aber er bezog auch anderes ein, wie den Parlamentarismus. Hätte man das Problem auch anders lösen können? Nun, in der Tat. Für die Zeit bis 1914 war nicht vorstellbar, dass man Ungarn politisch so weit entgegenkommt, dass man eine eigene ungarische Armee zulässt in dem Sinne, dass man die in Ungarn ausgehobenen Regimente der gemeinsamen Armee als Sonderbereiche anders behandelt als den Rest der gemeinsamen Armee. Die militärische Führung argumentierte, dass die Ausbildung der Soldaten nicht adäquat erfolgen könne, wenn die Rekruten nicht in der eigenen Sprache gedrillt und trainiert werden würden für den kommenden Krieg. Und für einen kommenden Krieg erwartete man aus guten Gründen nach den Erfahrungen des Burenkrieges und des Krieges in der Mandschurei, dass er sehr viel mehr Selbstständigkeit der unteren Truppenführer und der Mannschaften erfordern würde. Blinder Gehorsam wäre nicht mehr genug. Dieses fachliche Argument wog schwer, aber entscheidend war das politische. Die deutsche Sichtweise war eine andere, bei Wilhelm II. selbst, aber zum Teil auch in der Militärführung. Die Bündnispartner wollten sich auf den zuverlässigen Tisza verlassen, der Ungarn stärken sollte. Auch dann, wenn das bedeuten sollte, dass die Ungarn eine eigene Armee innerhalb der österreichisch-ungarischen Streitkräfte und unter Leitung des gemeinsamen Generalstabs haben würden. Während des Krie-

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ges gab es denn auch Überlegungen, in diese Richtung zu gehen und das Heer aufzuspalten. Aus deutscher Sicht immer mit Hintergedanken: Wenn wir den Krieg gewonnen haben, wird Deutschland die Neuaufstellung des Militärapparates der Habsburger Monarchie sowieso insgesamt anleiten müssen. Es gibt im Ersten Weltkrieg von Verbindungsoffizieren der Deutschen bei den Österreichern an der Ostfront Briefe, in denen sinngemäß steht: Wir erinnern uns noch an 1866; die Bayern haben damals militärisch nichts zusammengebracht und jetzt sind die eigentlich richtig stramm. Man kann sie richtig brauchen. So ein Programm müssen wir auch für die Habsburgermonarchie aufstellen… Diese deutsche Hybris hat dafür gesprochen, gegenüber den Ungarn entgegenkommend zu sein. Aus der Überzeugung heraus, dass Berlin schlussendlich die koordinierende Kraft sein kann und muss. Simon: Vielen Dank auch für diesen wunderbaren Vortrag. Welche Rolle spielt dieser Streit um die Kommandosprachen, ein Streit, der ja den Kompromiss, wie er im sog. „Ausgleich“ gefunden worden war, ganz enorm belastet hat? Die Vorstellung dahinter war, dass man in bestimmten Einheiten, die als spezifisch „ungarisch“ definiert werden, das Ungarische als ausschließliche Kommandosprache einführt. Oder wie genau war die Vorstellung dieser Kommandosprachen? Das sollte ein Schritt sein in einen erkennbar ungarischen Teil der Gesamtstreitkräfte, wenn ich das richtig sehe. Kronenbitter: So würde ich das auch sehen. Simon: Ich nehme an, die politische Führung war in einem gewissen Dilemma. Denn ich denke, den Konflikt mit dem Kaiser wollte man nur so weit treiben, als dadurch nicht die Großmachtstellung von Österreich als Ganzem in Frage gestellt war. Denn auch in der politischen Elite Ungarns gab es doch ein Bewusstsein davon, dass Ungarn ohne die Einbettung in die österreichische Monarchie politisch bedeutungslos würde. Wenn man die Funktionsfähigkeit des Machtgebildes „Österreich-Ungarische Monarchie“ in Frage stellt, indem man diese Forderung nach ungarischer Eigenstaatlichkeit, die dann ausgemünzt wird in organisatorische Selbstständigkeit der Armee, überzieht, dann sägt man am eigenen Ast der Ungarn, weil man damit die ungarische Großmachtstellung untergräbt. Denn diese hängt von einem Minimum an Gemeinsamkeiten ab. Es gab das Bewusstsein, man soll den Konflikt nicht über diese Linie hinaustreiben, sonst stürzt man Ungarn in die politische Bedeutungslosigkeit. Kronenbitter: Viele der Eingaben des sogenannten Neuner-Komitees, das eingesetzt war, um konkrete ungarische Forderungen zu formulieren, zielten sehr stark auf prestigeträchtige, wählerfreundliche Symbolik, die keinen allzu großen Schaden anrichten sollte. Das hat nicht nur mit den Persönlichkeiten und deren Einstellung zu tun, sondern es ist sicher auch vom Zeitgeist beeinflusst. Die Zeit rund um die Jahrhundertwende ist das aus österreich-ungarischer Sicht außenpolitisch keine ganz hochgefährliche. Ende der 1880er Jahre, seit Beginn der Doppelkrise, herrschte zunächst Hochspannung in Europa. Nicht zufällig wird eine Heervorlage in diesem Kontext auch

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akzeptiert und durchgesetzt. Dann folgt eine gewisse Entspannung, die in die Zeit dieses Heeres- und Verfassungskonflikts hineinreicht, in einer Phase, in der der nächste Krieg ziemlich weit weg schien. Es besteht demnach keine immanente Gefahrenlage. Hier berühren sich interessanterweise die Positionen einiger ungarischer Politiker mit denen Franz Ferdinands. Sie wollen das Militär in erster Linie dazu nutzen, die eigene Position nach innen zu stärken, also innenpolitische Programme durchzusetzen. Die Verwendung nach außen spielt eine relativ geringe Rolle. Es wird also, zugespitzt formuliert, eher in internen Bürgerkriegs-, als in Kriegskategorien gedacht. Für István Tisza wird man das ganz gewiss sagen können, was Sie angedeutet haben. Er sieht recht klar den Ernst der außenpolitischen Lage im Gefolge der Bosnien-Krise. Während der Balkankriege arbeitet er sich, für ungarische Politiker nach Andrássy eigentlich ungewöhnlich, intensiv in Außenpolitik ein und ist dann tatsächlich auch 1914 und in den Kriegsjahren noch jemand, der sehr aktiv Außenpolitik nicht nur zu verfolgen, sondern auch mitzugestalten versucht. Er zeigt sehr viel Gespür für diese Dimension des Politischen. Er erkennt den Ernst der Lage. Er peitscht die Gesetzgebung durch, die vom König verlangt wird – unter Bruch der Konventionen im Reichstag. Er provoziert damit einen ziemlichen Eklat. Es wird versucht, ihn auszuschalten. Er muss Duelle bestehen. Er hat viele Feinde. Er ist aber auch bereit, viele Feinde in Kauf zu nehmen, wenn er von der Richtigkeit seines Denkens und Handelns überzeugt ist. 1912, 1913 hält er für richtig, dass man schleunigst auch die Landrüstung voranbringen muss. Das passt ganz gut zu Ihrem Argument. Kempny: Die Ernüchterung könnte man ja so zuspitzen, dass man sagte: Das ist eine Armee, die aus der militärischen Niederlage für die militärische Niederlage in die militärische Niederlage plant und entsteht. Wenn wir den Blick stärker auf die Verfassung richten wollten, wäre meine Frage: Ist ein Vereinheitlichungsdruck feststellbar, weil sich die Militärtechnik verändert, Marine aufkommt, woran man 1866 in dem Maße noch nicht gedacht hat, am Ende auch die Luftstreitkräfte? Gibt es Zentralisierungstendenzen, die vielleicht in Bezug auf die verschiedenen Teilstreitkräfte unterschiedlich stark sind? In Kleindeutschland war es ganz klar so: Die Marine war ein zentralstaatliches, kaiserliches Instrument. Im Heer hatte man noch ein bayerisches Kontingent. Gibt es unterschiedliche Regionalisierungs- oder Zentralisierungsgrade? Dergleichen muss sich ja nicht in einem Gesetzestext niederschlagen – die reale, die technische Entwicklung kann sich Bahn brechen. Wir haben im Ersten Weltkrieg bis zum Schluss ein Kontingentheer, aber seit 1915 das Fabo in Potsdam eingerichtet, weil man gesehen hat, wenn, sagen wir, die württembergischen Granaten nicht in die bayerischen Rohre passen, ist das an der Front schlecht. Da haben wir die Vereinheitlichung, da haben wir zum Beispiel das 08/15 (von dem heute im Alltag kaum noch jemand weiß, was das ist). Militärische Zweckmäßigkeitserwägungen zentralisieren faktisch viel mehr als irgendein gesetzgeberischer Federstrich. Finden wir ähnliche Entwicklungen auch in Österreich-Ungarn? Kronenbitter: Im Prinzip ist der Prozess der Technisierung des Krieges und damit einer potentiellen Aufwertung von Logistik und Produktion in dieser Zeit zwar im Gange, aber noch nicht vergleichbar mit der Zeit des Krieges selbst. Die Veränderung

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wird im Weltkrieg erst radikal. Für die Zeit davor wird man über die Flottenrüstung sagen können: Natürlich war nach dem Krieg 1866 die Grundlage der kaiserlichen Marine zunächst einmal auch weg, weil sie traditionell ein Erbteil aus den italienischen Besitzungen der Habsburger Monarchie war. Sie hatte sich bei Lissa nochmals prestigeträchtig bewährt, aber spielte zunächst keine vergleichbare Rolle für die Sicherheitslage Österreich-Ungarns nach dem Ausgleich. Die Bedeutung ändert sich durch die Technik alleine nicht, sondern die Veränderung entspringt der Vorstellung davon, was militärisch wichtig ist. Die Schlachtschiffe erweisen sich im Ersten Weltkrieg als problematisches Instrument der Kriegführung, wenn man überlegt, wie viel Geld und wie viel politisches Kapital investiert wurde, um den prestigeträchtigen Bereich durchzubringen. Das gilt in Deutschland genauso wie in Österreich-Ungarn. Die Ernüchterung ist dann im Krieg umso größer. Aber es gehörte zum allgemein geteilten Verständnis von Streitkräften, dass die Marine zur Projektion von Macht unerlässlich sei. Und in der Habsburgermonarchie wurde die Seerüstung dann auch zentral organisiert und nicht durch den Dualismus gebremst. Wer sind die Kommandanten und was ist die Befehlssprache, war hier weniger relevant. Weil es sich um teure Sonderprojekte industrieller Fertigung handelte, war vielmehr die Frage, wer erhält die Aufträge. Und da sind die Ungarn sehr konsequent darauf aus, dass die ihren Teil vom Kuchen kriegen. Und der Franz Ferdinand muss dann ertragen, dass eines der Schiffe „Szent István“ heißt und in Ungarn gebaut wird. Diese „Szent István“ ist die Kröte, die Franz Ferdinand schlucken muss. Aber es ist nicht das Gerät per se. Ich denke, dass Ihre Ausgangsbeobachtung zutrifft. Entscheidend bei der Rüstung ist etwas anderes, es sind die Maschinengewehre und es ist die schnellfeuernde Feldartillerie. Darum geht es eigentlich bei der Aufrüstung vor dem Ersten Weltkrieg in viel höherem Maße. Luftrüstung ist erst am Horizont sichtbar, um im Bild zu bleiben, und ist erst in Ansätzen überhaupt ein Thema. Bei der Artillerie wird systematisch überlegt, wie bauen wir die Feldartillerie in unsere Kriegsordrede-Bataille ein, also in unsere Aufstellungen für den Ernstfall. Das fördert selbstverständlich das Denken und Planen in größeren Zusammenhängen. Die politische Umsetzung der Rüstungsvorhaben erfolgt auf unterschiedlichen Wegen. Der kreative Kniff, den Ungarn ihre Honvéd-Artillerie zuzugestehen, damit sie die Kosten tragen, zeigt, dass man in der Militärführung ganz beweglich sein kann. Ich denke, es ist ein bisschen ambivalent. Aber Sie haben sicherlich Recht. Es gibt Tendenzen der Zeit im Bereich der Rüstung, die auf Vereinheitlichung zielen. Und ich glaube noch mehr würde es gelten, wenn wir finanziell auf den damals noch wichtigsten, größten Posten bei Rüstung rekurrieren, nämlich auf das Personal. Die Planung des Einsatzes der Streitkräfte muss systematisiert und zentralisiert werden. Es ist der Generalstab, der letzten Endes über allen diesen militärischen Strukturen thront, wenn es um die Kriegsvorbereitung geht. Der Generalstab hat eine umfassende Zuständigkeit. Er organisiert die Manöver, entscheidet über die Karrieren. Also da wird eine Zentralinstitution wichtig. Wegen Innovation. Aber es ist nicht nur eine rein materielle Innovation, sondern eine logistische, eine planerische Innovation.

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Brauneder: Wenn der gute Robert Musil bei mir zur Staatsprüfung gekommen wäre und mit diesem Zitat eine Frage beantwortet hätte, wäre er durchgefallen. Denn man kann sehr wohl die Habsburger Monarchie präzise beschreiben. Sie war eine Realunion zweier Staaten, weitgehend unabhängig. Sie sagten, in der Regel sagt man Österreich zu ihr. Das dürften Sie in Budapest aber so nicht sagen. Wenn Sie hier sagen „wie Ungarn österreichisch war“, werden Sie sofort unterbrochen: „Wir haben nie zu Österreich gehört, wir hatten bloß einen habsburgischen König.“ Wenn wir bei der Literatur bleiben, ich würde nicht nur Joseph Roth zitieren, sondern vor allem Alexander Lernet-Holenia. Instabilität trifft auf die Doppelmonarchie seit ’67 insgesamt zu. Das darf man überhaupt nicht vergessen. Es gab ja nicht nur den Ausgleich ’67, es gab alle 10 Jahre Ausgleichsverhandlungen, den sogenannten wirtschaftlichen Ausgleich. Das war immer ein Bangen und Hangen, werden wir das über die Bühne bringen. Es hing also immer, naja, an einem starken Seil. Das Zweite: Hätte der Thronfolger überlebt, hätten seine Kinder auch überlebt, auf deren Thronfolge er ja verzichtet hatte, wäre vielleicht die Frage entstanden, wer wird Nachfolger Franz Ferdinands. Wenn die Ungarn den Verzicht auf den Thron für seine Kinder nicht anerkannt hätten. Die Ungarn hätten vielleicht auf andere Habsburger zurückgegriffen. Das Ganze war ja instabil. Zur Instabilität gehört nicht unbedingt die Armee, es gab als vierten Armeeteil noch die bosnischen Truppen. Das deutsche Heer war ja auch ein Kontingentheer. Die Probleme insgesamt rührten ja her vom Ursprung der Ausgleichsgesetze. Die ungarischen Ausgleichsgesetze waren natürlich in ungarischer Sprache. Und nachher kommt das österreichische Ausgleichsgesetz. Das ist aber in keiner Weise eine Übersetzung des ungarischen. Das heißt, die beiden Ausgleichsgesetze stimmten sprachlich natürlich aber auch inhaltlich nicht überein. Allein egységes kann man übersetzen mit einheitlich, gemeinsam, aber auch im lockeren Sinne mit gemeinschaftlich. Und das war der Knackpunkt. Schönberger: Herr Brauneder, es gibt noch ein paar Leute auf der Liste… ganz kurz bitte. Brauneder: Es ist ganz kurz: 1903 dieser Armeebefehl parallel zu den Thronreden des Kaisers, wer hat den verfasst? Kronenbitter: Soweit ich weiß, kommt er aus seiner Militärkanzlei. Das müsste man nachschauen. Brauneder: Das hat er vorgelesen. Kronenbitter: Er hätte es nicht vorgelesen, wenn es nicht seine Überzeugung gewesen wäre. Aber Sie kennen das wahrscheinlich selber aus den Akten. Es ist von Franz Joseph bekannt, dass er sehr schmallippig ist. Das ist anders bei Franz Ferdinand, der ja gewissermaßen übersprudelt. Wenn bei Franz Joseph mal ein Ja steht mit feiner Handschrift oder eine Unterstreichung, ist das bei ihm oft schon alles. Von daher ist es grundsätzlich die sicherste Vermutung, dass er das, was er verlautbart hat, schon mit Überlegung veröffentlicht hat, auch aus eigener Überzeugung. Der Kaiser war kein push-over.

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Brauneder: Haben Sie rausbekommen, wo der Ausdruck Cisleithanien zum ersten aufscheint? Kronenbitter: Er ist früh da, aber wann genau er zum ersten Mal aufscheint, kann ich im Augenblick nicht mit Bestimmtheit sagen. Schon in den 70er Jahren ist der Begriff sehr präsent. Wahrscheinlich aus dem Problem heraus, dass man nicht so ganz wusste, was man sagen soll. Musil wollte vermutlich dies als Botschaft vermitteln. Aber man muss auch sagen, Musil war Ingenieur … Schönberger: Jetzt habe ich noch Herrn Tanner, Herrn Grothe und Herrn Arlinghaus auf der Liste mit der Bitte um relativ prägnante Fragen und kurze Antworten. Tanner: Ich habe eine knappe Frage. Sie haben einleitend sehr spannend von dieser Selbstwahrnehmung als Großmacht als Quelle für die Legitimation der inneren Ordnung gesprochen und dann diese strukturelle Affinität erwähnt, die auch über Austausch- und Imitationsprozesse zustande gekommen ist: Vom Sieger siegen lernen. Das ist zunächst eine Außenwahrnehmung. Sie ist wichtig für die Iwakura-Mission aus Japan. Die kommen 1871 nach Europa, blicken sich um und da schneidet die Donaumonarchie nicht gut ab. Die japanischen Reisenden sehen weit mehr die Vorteile von Kleinstaaten und versuchen, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen für ihr eigenes Land. Wurde das zeitgenössisch zur Kenntnis genommen? Dass diese Iwakura-Mission und mit ihr die Meiji-Restauration alles imitieren wollen, was sie voranbringen könnte auf dem Pfad der Moderne? Kronenbitter: Mir ist nicht bekannt, dass dieser Umstand beim österreichisch-ungarischen Militär diskutiert worden wäre. Die Wertung der Streitkräfte der Habsburgermonarchie im europäischen Ausland ist in den Quellen gut zu greifen und sie war im Schnitt eher skeptisch. Solange es keine großen Verwerfungen gibt, solange die Rekrutenkontingente bewilligt werden und solange es noch genug Geld gibt usw., ist die militärische Schwäche Österreich-Ungarns kein wichtiges Thema. Aber im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg wird vielerorts erkannt, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt. Man hat gegenseitig die einschlägigen Veröffentlichungen zur Kenntnis genommen und gerade, was die deutsche Militärpublizistik angeht, ist das Offizierskorps Österreich-Ungarns zu großen Teilen mitbeteiligt. Es gibt Beiträge von österreich-ungarischen Offizieren in deutschen Zeitungen bzw. Zeitschriften und umgekehrt, insgesamt also einen sehr intensiven Austausch. Man konnte außerdem auf die Hilfsmittel zurückgreifen. Es gibt gut gemachte Almanache über Wehrstrukturen und Rüstungsetats usw. Zumeist findet sich darin auch eine Skizze des Systems, eine knappe Schilderung der Wehrverfassung und ihrer Besonderheiten. Man kennt einander und bezieht sich aufeinander, was sehr charakteristisch ist. Auch die Grundstrukturen sind sehr ähnlich. Die Grundidee, wie Militär strukturiert ist, wird grosso modo quer durch Europa von allen geteilt. Diese Isomorphie ist ganz auffallend – selbstverständlich ist sie nicht. Das wird dann auch nachgeahmt in der ganzen Welt, auch dort, wo es unter Umständen wenig sinnvoll erscheint. Ein gut erforschtes Beispiel ist Chile, dessen Elite gedacht hat, das Land müsste unbedingt eine Armee haben, die wie eine europäische Groß-

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machtarmee strukturiert ist. Plötzlich wurde ein Generalstab installiert, Artillerie und vieles mehr angeschafft, was wenig Sinn hatte, überhaupt nicht benötigt wurde und hohe Kosten verursachte. Aber Chile hat sich dabei ganz bewusst an dem deutschen Vorbild orientiert. Von Holger Herwig und William Sater gibt es eine Monographie, die sich mit dieser Selbsttäuschung auseinandersetzt. Man kann sich das Militär der damaligen Zeit als eine Art von transnationaler epistemischer Gemeinschaft vorstellen. Grothe: Ein grundlegendes Strukturproblem bei der Debatte über Militär und Verfassung ist ja immer wieder die Finanzierung. Das kam bei Ihnen auch am Rande vor. Sie haben ja gesagt, dass man das preußische Beispiel genommen hat. Gibt es auch Diskussionen, in denen das so eine zentrale Rolle spielt, dass man dies als Hebel benutzt, um parlamentarisch Druck auszuüben und etwas zu bewirken, in Wien oder in Budapest? Kronenbitter: Es gibt schon das Bemühen, die Position als Parlament zu stärken. Auf der ungarischen Seite sehr dezidiert; in Österreich geht es immer auch um das Kriterium der Sparsamkeit. Aber Sparsamkeit als Hebel zu nutzen, funktioniert relativ schlecht. Das hat grundsätzlich damit zu tun, dass das Budget für das gemeinsame Militär auf der Ebene der Delegation verhandelt wird. Das Geld wird von den beiden „Reichshälften“ bereitgestellt und dann wiederum von den jeweiligen Parlamenten beschlossen. Was die Parlamente machen können ist, sich um Detailfragen zu kümmern, wie z. B. Misshandlungen von Soldaten usw. Eine echte Einflussnahme auf das Militär ist ihnen in dieser Struktur nicht möglich. Lothar Höbelt, der bei Ihnen Mitglied ist, betont gerne, dass Franz Joseph sich dieses „Teile und Herrsche“ perfekt bediente und es ihm also oft gelang, die Interessen und Gruppierungen gegeneinander auszuspielen. Für ein solches Vorgehen war die komplexe Struktur ideal geeignet. Den Parlamenten blieben dabei immer nur begrenzte Möglichkeiten, die Militärpolitik zu beeinflussen. Der Widerstand gegen eine Erhöhung des Rekrutenkontingents, also die Begrenzung der Personalrüstung, diente bis zu Tiszas Kurswechsel 1912 als Hebel ungarischer Politik. Erst dann, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, zeigt sich, dass bei steigendem Personalstand die Finanzen, der Umfang des Budgets, ein gravierendes Problem ist. Ein echter Durchbruch in der Aufrüstung kann erst jetzt stattfinden, und dann gibt es auch die ersten Stimmen in Ungarn und Österreich, die unter Hinweis auf die ungünstige Entwicklung der Staatseinnahmen für Sparsamkeit eintreten. Aber dass die Parlamente dies als Hebel zur Gestaltung der Streitkräfte herangezogen hätten, sehe ich nicht. Arlinghaus: Ich hoffe, man darf auch Fragen stellen in diesem Kreis, die nicht von großer Informiertheit durchdrungen sind. Mein Eindruck nach Ihrem Vortrag war, dass da zwei grundsätzliche Prinzipien zugange waren. Nämlich zum einen die Monarchie des 19. Jahrhunderts, die versucht, Vorstellungen des Nationalstaates in die zweite Reihe zu drängen, und zum zweiten das Problem des Nationalstaates selbst. Und der „test ground“ für beide Prinzipien war die Armee, und da klappert es an allen

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Enden. Obwohl man ähnliche Strukturen hätte schaffen können wie in Deutschland, wo Bayern und Baden-Württemberg auch eigene Kontingente hatten, tat man das offenbar nicht. Dies vielleicht deshalb, weil Monarchie und Nationalstaat viel enger aufeinander bezogen waren? Das wäre meine Frage. Ist das das Grundprinzip, und letztlich gewinnt dann doch der Nationalstaat? Oder liegt es daran, dass das zwar eine Monarchie ist, aber die Monarchie eben sehr dicht an einem Teil des Staates klebt? Eben an Österreich. Ist das also das Grundproblem? Kronenbitter: Ich würde sagen, es ist tatsächlich nicht nur ein Zusammenstoß von Nationalbewegungen auf der einen Seite und monarchischen Prinzipien auf der anderen. Das wäre zu simpel. Die Variante, die Sie am Schluss genannt haben, finde ich plausibler. Es geht darum, dass die nationale Frage im Konflikt zwischen der Krone und der politischen Führung Ungarns, also Regierung und Parlamentsmehrheit, ausgehandelt wird. Das ist das Spezifikum in der Habsburgermonarchie. Die nationale Frage finden Sie ja anderswo auch. Aber wo haben Sie doppelstaatliche Strukturen im weitesten Sinne in der damaligen Zeit? Ein Beispiel wäre Norwegen-Schweden, das Anfang des 20. Jahrhunderts auseinandergeht. Das geht friedlich ab, und man kann sich relativ leicht voneinander trennen, ohne dass es zu großen Verwerfungen führt. Warum? Das ist ein relativ kurzlebiger Zusammenschluss gewesen und es fehlt der großmachtpolitische Anspruch, mit den sicherheitspolitischen Fragen, die sich daraus ergeben könnten. Das heißt, kann man mit der Tatsache, dass es dort zwei Armeen gibt, besser umgehen als im Fall Österreich-Ungarns. In der Habsburgermonarchie spielt doch immer im Hintergrund eine Rolle, dass es möglich sein muss, die Großmachtposition zu verteidigen. Die ultima ratio ist die Führung von Kriegen, dafür wird ein adäquates Militär gebraucht, mit den Strukturen, die damals üblich gewesen sind. Mit der Ausrüstung, die damals Standard ist. Und das bedingt tatsächlich einen gewissen Grad an Einheitlichkeit. Dazu kommt die komplizierte nationalitätenpolitische Situation, und das gibt die Gemengelage, aus der heraus es schwierig wird, eine gute Lösung von Strukturproblemen zu finden. Schönberger: Ganz herzlichen Dank für Ihren Vortrag und die anregende Diskussion.

Die Krise des Verfassungsstaates in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts – Das Beispiel der Schweiz Von Jakob Tanner, Zürich

I. Historiker haben sich lange Zeit schwer getan mit dem Untersuchungsfeld „Recht“. Sie betrachteten Rechtsnormen als etwas Abgeleitetes und erklärten Funktion und Wandel von Recht aus der gesellschaftlichen Dynamik heraus. Aus der Perspektive der Gesellschaftsgeschichte wurde Recht stark auf Macht bezogen, und zwar in doppelter Blickrichtung: zum einen mit der These, dass Macht ohne Recht willkürlich sei – was auch hieß, dass eine Demokratie ohne rechtsstaatliches Fundament zur Diktatur einer Mehrheit mutieren kann. Zum andern hieß das, dass Recht ohne Macht hilflos ist, was direkt zur Leviathan-Problematik, wie sie Hobbes schon im 17. Jahrhundert geschildert hatte, führt: Wie kann die Macht, welche dem Recht überhaupt erst Geltung verschafft, selbst wiederum rechtsförmig domestiziert werden? Die Wahrnehmung einer Ohnmacht von Verfechtern des Rechts und einer Rechtsverhöhnung durch Mächtige war für mich wichtig, als ich zu Beginn der 1970er-Jahre im anhaltenden Attraktionsfeld der 1968er Bewegung an der Universität Zürich Geschichte zu studieren begann. Im vergangenen halben Jahrhundert, im Verlaufe dessen ich eine Vielzahl von Forschungslandschaften durchquert habe, bin ich als Historiker zu drei Schlussfolgerungen gelangt: Erstens bleibt die Verklammerung von Recht und Macht durch alle juristischen und juridischen Reflexionen hindurch grundlegend für die Geschichtsschreibung. Für einen Historiker macht es wenig Sinn, Recht als isoliertes Feld zu betrachten und sich exklusiv auf rechtsförmige Institutionen und Mechanismen zu konzentrieren. Zweitens ist Recht dennoch keine „abgeleitete Variable“, die einfach unter einer Geschichte gesellschaftlicher Strukturbildungen und Machtbeziehungen subsumiert werden kann. Recht hat in jeder Gesellschaft einen Eigenwert, es entfaltet eine Eigenlogik, die sich auch dann noch nachvollziehen lässt, wenn die Rule of Law zusammengebrochen und das, was vom Recht übrigblieb, zum Erfüllungsgehilfen von diktatorialen Herrschaftsträgern geworden ist. Wenn ein Gewaltregime sich das Recht einverleibt und in ein „Un-Recht“ verkehrt, wie lässt sich dann ein Recht auf Widerstand begründen? Und drittens gilt es, Binnendifferenzierungen im Recht zu beachten und insbesondere ein wa-

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ches Sensorium für die Differenz, oft auch das Auseinanderklaffen von Rechtsnormen und Rechtspraktiken zu entwickeln. Rechtssysteme sind in aller Regel in sich widersprüchlich, sie bieten Raum für eigensinnige Praktiken und perfide Strategien. Dies nicht nur auf der Ebene des Verfassungsstaates, sondern auch in den vielfältigen Machträumen der Gerichtsbarkeit, wo die Rechtsprechung einem großen Ermessens-, oft auch Willkürspielraum unterliegt und schwierige Güterabwägungen vorzunehmen hat.

II. Eine einschneidende Erfahrung war für mich die Mitarbeit in der „Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“. Diese UEK (nach dem Namen ihres Präsidenten Jean-François Bergier auch bekannt als „Bergier-Kommission“) hat zwischen 1996 und 2002 insgesamt 25 Teilstudien (darunter zwei Berichte zur Rechtsentwicklung) und eine 600-seitige Synopsis zu Wirtschaft und Politik und generell zur Haltung der Schweiz in der Zeit des Nationalsozialismus erarbeitet und publiziert.1 Der die Untersuchung begründende Bundesbeschluss vom 13. Dezember 1996 hielt fest, die verschiedenen Aspekte dieser Problematik seien „historisch und rechtlich“ zu untersuchen. Es war klar, dass eine Kooperation historischer und rechtlicher Ansätze über den Grundsatz da mihi facta, dabo tibi ius (gib mir die Fakten, ich kläre die Rechtslage) hinausgehen muss. Recht lässt sich als „geronnene Politik“ dechiffrieren und zugleich wird die Politik durch rechtliche Normenkomplexe moderiert und erscheint so als „praktiziertes Recht“. Jede Analyse muss diese beiden Aspekte gleichermaßen berücksichtigen.2 Für die Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert ist eine strukturelle Asymmetrie im Rechtssystem von besonderem Interesse:3 Das öffentliche Recht war ausgeprägt von politischen Umbrüchen und transnationalen ideologischen Megatrends beeinflusst.4 Obwohl das damals noch immer schwach entwickelte Völkerrecht immerhin für eine gewisse Kontinuität sorgte, war „die schweizerische 1 Die Rechtsgrundlagen, die Berichte (inkl. Schlussbericht) und die Medienberichterstattung der „Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ sind zu finden unter: https://www.uek.ch. 2 Die UEK publizierte zwei spezifisch juristische Studien – die eine zum öffentlichen, die andere zum privaten Recht –, welche diese nicht hintergehbare Zirkularität zwischen Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Recht herausarbeiten. Vgl. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hrsg.), Die Schweiz, der Nationalsozialismus und das Recht. Band 1: Öffentliches Recht; Band 2: Privatrecht, Zürich 2001. 3 Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hrsg.), Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht, Zürich 2002, Kapitel 5 „Recht und Rechtspraxis“, S. 407 – 439. 4 Ebd., S. 408.

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Staats- und Verfassungsordnung in der NS-Zeit durch tiefgreifende Veränderungen gekennzeichnet“.5 Im privatrechtlichen Bereich, insbesondere im internationalen Privatrecht, lässt sich nun genau das Gegenteil feststellen. Hier kam es zu „keinen gravierenden Strukturveränderungen“.6 Der Völkerrechtler Daniel Thürer, der von 2000 bis 2002 Mitglied der „Bergier-Kommission“ war, stellte unlängst fest, die Schweiz habe dem internationalen Privat- und Zivilprozessrecht vor allem durch ein systematisches Insistieren auf der ,ordre public‘-Klausel Nachachtung verschaffen können, dergestalt, „dass sich die schweizerische (Privat-)Rechtsordnung dem nationalsozialistischen Un-Rechtsregime gegenüber weitgehend immun und resistent verhielt.“7 Doch gerade diese Rechtskontinuität verursachte nach 1945 Probleme. Denn in dem Maße, in dem die Schweiz während der Kriegsjahre zum Umschlagplatz und zur Verkaufsdestination für Raub- und Fluchtgüter geworden war, vermochte die ,business as usual’-Behauptung nicht zu überzeugen. So geriet der neutrale Kleinstaat nach Kriegsende unter starken Druck der westlichen Alliierten, vor allem der USA, und musste die schon seit 1943 in verschiedenen Warnings angekündigten Maßnahmen zur Restitution von Vermögenswerten ergreifen. Diese Veränderungen und Ausnahmeregelungen betrafen die privatrechtliche Sphäre und wurden deshalb erbittert bekämpft. So erklärte Max Oetterli, der Sekretär der Schweizerischen Bankiervereinigung, im Februar 1952 im Kontext der Londoner Schuldenverhandlungen: „Die Behörden müssen sich vergegenwärtigen, dass die Stabilität – gerade auch in der Rechtssetzung, d. h. also die Rechtsicherheit – für die Entwicklung des schweizerischen Bankwesens von eminenter Bedeutung ist. Sondergesetze wie das Washingtoner-Abkommen [vom Mai 1946], die Raubgutgesetzgebung, die Meldepflicht und Sperre deutscher Vermögenswerte usw. gefährden aber diese Stabilität.“8 Zwei Monate später ließ der Präsident der Rechtskommission der Schweizerischen Bankiervereinigung, Jakob Diggelmann, verlauten (das Protokoll ist in indirekter Rede gehalten): „Es gehe nicht an, dass die öffentliche Hand in diese privatrechtlichen Verträge eingreife. Mit Spezialgesetzen, wie sie in der Nachkriegszeit verschiedentlich ergangen seien und die jedesmal unsere Rechtsordnung verletzt hätten, müsse jetzt endlich aufgehört werden. Die Wirtschaft würde sonst nie die notwendige 5

Ebd., S. 421. Ebd., S. 421. Zu den Problemen des Völkerrechts im Ersten Weltkrieg vgl.: Oliver Diggelmann, Völkerrecht und Erster Weltkrieg, in: Andreas Thier/Lea Schwab (Hrsg.), 1914, Zürich 2018, S. 103 – 130. 7 Daniel Thürer, Erfahrungen eines Juristen als Mitglied der schweizerischen HistorikerKommission, in: Christoph Cornelißen/Paolo Pezzino (Hrsg.), Historikerkommissionen und historische Konfliktbewältigung, Berlin/Boston 2018, S.135 – 151 (146 f.); vgl. auch: Andreas Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz, Zürich/St. Gallen 2011; Alfred Kölz, Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848, Bern 2004. 8 Zitiert nach: Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hrsg.), Schlussbericht (Fn. 3), S. 460. 6

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Rechtssicherheit erhalten.“9 Die damit verbundene Abwehrhaltung hatte zur Folge, dass die sogenannten „nachrichtenlosen Vermögen“ auf Schweizer Banken liegenblieben und dass auch andere Restitutionsprobleme während der ganzen Nachkriegszeit nie ernsthaft angegangen, geschweige denn gelöst wurden; dass es Ende 1996 überhaupt zu jener gravierenden außenpolitischen Krise kam, unter deren Druck Parlament und Regierung die „Bergier-Kommission“ einsetzten, hängt mit diesem sozusagen sturen Verständnis von Privatrecht direkt zusammen – das soll und kann hier nicht weiter ausgeführt werden.

III. Zu Beginn der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts – das erste Mal am 3. August 1914, das zweite Mal ein Vierteljahrhundert später am 30. August 1939 – hat die schweizerische Bundesversammlung der Regierung (dem siebenköpfigen Bundesrat) außerordentliche Vollmachten erteilt und damit das errichtet, was seit den ausgehenden 1930erJahren mit dem rechtlichen Terminus technicus „Vollmachtenregime“ bezeichnet wurde.10 Dieses Dokument (Abb. 1) ist die Rechtsgrundlage für die außerordentlichen Vollmachten der Regierung in der Kriegszeit, die offiziell den Titel trugen: „betreffend Massnahmen zum Schutze des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität“. An der Sitzung der Vereinigten Bundesversammlung vom 3. August 1914 wurde der Bundesbeschluss vom Nationalrat mit 171:0 Stimmen (allerdings mit zwei sozialdemokratischen Enthaltungen) angenommen; der Ständerat hieß ihn „diskussionslos“ gut. Es war also nicht die Exekutive, die sich – wie von einzelnen Regierungsmitgliedern im Vorfeld noch vorgesehen – selbst ermächtigte, sondern es handelte sich um eine Selbstentmachtung des Parlaments. Der Beschluss selbst ist rechtlich nicht Teil des mit ihm herbeigeführten Vollmachtenregimes.11 Er erteilte jedoch der Regierung „unbeschränkte Vollmacht“ und „unbegrenzten Kredit“. Interessant sind die handschriftlich eingetragenen Änderungen, die aus der Parlamentsdebatte resultierten. So wurde in Artikel 1 „Kriege“ durch „kriegerische Ereignisse“ ersetzt. Das erhöhte den Interpretationsspielraum bezüglich der zeitlichen Dauer der „Massnahmen“. Bei Artikel 2 kam unter „genehmigende Kenntnisnahme“ noch die „Verfügung betr. den gesetzlichen Kurs der Banknoten“ hinzu, die vom Bundesrat bereits Ende Juli erlassen worden war und gleichsam einen Vorgriff auf das Notrecht dargestellt hatte. In Artikel 3 wurde die Zweckbestimmung 9

Ebd. Der Begriff „Vollmachtenregime“ wurde erstmals in den frühen 1920er-Jahren von den Grütlianern verwendet. Erst 1939 wurde er wieder aufgegriffen. Vgl. Oliver Schneider, Die Schweiz im Ausnahmezustand. Expansion und Grenzen von Staatlichkeit im Vollmachtenregime des Ersten Weltkriegs, 1914 – 1919, Zürich 2019, S. 304 (Anm. 33). 11 Vgl. O. Schneider (Fn. 10), S. 62, 78, 93. 10

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Abb. 1: Vollmachtenbeschluss des Nationalrats vom 3. August 191412 12 Schweizerisches Bundesarchiv, E22#1000/134#810*, Az. 2.4, BB vom 3. 8. 1914 betr. Massnahmen zum Schutze des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität, sowie Re-

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um einen symptomatischen Passus erweitert. Die Linke vermochte sich mit ihrer Forderung, die „unbeschränkten Vollmachten“ seien „im Interesse des Landes“ und – nun neu – „insbesondere auch zur Sicherung des Lebensmittelunterhaltes des Volkes“ zu nutzen, durchzusetzen.13 Am 6. August 1914 wurde die „Kriegszustandsverordnung“ erlassen. Obwohl die Schweiz nicht in kriegerische Auseinandersetzungen involviert war, herrschte fortan auch im neutralen Kleinstaat Kriegsrecht.14 Der Plan, mit der Schaffung neuer Straftatbestände faktisch die ganze Zivilbevölkerung der Militärgerichtsbarkeit zu unterstellen, lag schon vor dem Krieg vor, dessen Umsetzung war jedoch „in Umgehung des demokratischen Rechtsetzungsprozesses […] bewusst auf den Moment des Kriegsausbruchs verschoben“ worden. Nun stieg „die Militärjustiz zur zentralen eidgenössischen Disziplinierungsinstanz während der Kriegszeit“ auf.15 Mitte September 1914 wurde auf der Grundlage der „Kriegszustandsverordnung“ auch die Todesstrafe eingeführt und auf die der Militärgerichtsbarkeit unterstellte Zivilbevölkerung ausgedehnt; im Unterschied zum Zweiten Weltkrieg wurden zwischen 1914 und 1918 allerdings keine entsprechenden Urteile gefällt.16 Der Vollmachtenbeschluss stellte ein umfassendes gouvernementales Eingriffsdispositiv nach dem Motto „Not kennt kein Gebot“ dar.17 Der Rechtshistoriker Andreas Kley spricht von einer „Implosion des Verfassungsrechts“, begleitet von einer „Explosion des sekundären Vollmachtenrechts“.18 Oliver Schneider schildert in seiner Dissertation zur „Schweiz im Ausnahmezustand“, wie Politiker, Staatsrechtler und später auch Historiker diesen Zustand begrifflich zu fassen versuchten.19 Interessant ist, dass die Übernahme der alleinigen Staatsleitung durch die Exekutivgewalt auch in Analogie zur Verwaltung von Kolonien gesehen wurde, in der eine Form demokratisch nicht legitimierten Durchregierens von oben erkannt wurde.20 Ein Staatsrechtler ließ visionsbestrebungen, 1914 – 1918. Zur Entwicklung der Schweiz während der Kriegsjahre vgl. Roman Rossfeld/Thomas Buomberger/Patrick Kury (Hrsg.): 14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg, Baden 2014; Georg Kreis, Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914 – 1918, Zürich 2014; Jakob Tanner, Art. „Switzerland“, in: Ute Daniel et al. (Hrsg.), 1914 – 1918-online. International Encyclopedia of the First World War, https://en cyclopedia.1914 – 1918-online.net/article/switzerland. 13 Im Text, wie er in der Amtlichen Sammlung veröffentlicht wurde, fehlten dann allerdings die Worte „des Volkes“ (AS 1914, S. 347 f.). 14 Sebastian Steiner, Unter Kriegsrecht. Die schweizerische Militärjustiz 1914 – 1921, Zürich 2018, S. 99 f. 15 Ebd., S. 99, 336. Zwischen August 1914 und Ende 1921 kam es zu gegen 17.000 militärischen Strafverfahren und über 11.000 Verurteilungen. Vgl. ebd., S. 342. 16 Ebd., S. 103. 17 Edgar Bonjour, Geschichte der schweizerischen Neutralität, Bd. 2, Basel/Stuttgart 1965, S. 568 f. Vgl. auch: Herbert Tingsten, Les pleins pouvoirs. L’expansion des pouvoirs gouvernementaux pendant et après la Grande Guerre, Paris 1934. 18 Kley, Geschichte (Fn. 7), S. 117. 19 O. Schneider (Fn. 10), passim. 20 So Walther Burckhardt 1916, vgl. O. Schneider (Fn. 10), S. 257, 380 (Anm. 202).

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kurz nach Kriegsausbruch verlauten: „Keine Verfassung, auch die der reinsten Demokratie, kann der Diktatur ganz entbehren“.21 Ein Bundesrichter konstatierte Ende 1914 ein „diktatorische[s] Regiment“.22 Der freisinnige Bundesrat Ludwig Forrer sprach an einer Tagung im Mai 1915 von „diktatorialen“ Vollmachten.23 Ein weiter entwickeltes Problembewusstsein bestand anfänglich kaum und da die Schweiz kein Verfassungsgericht kennt, kam auch keine Widerrede von der dritten Gewalt im Staate. Auch im Nachhinein entwickelten Historiker Verständnis für die Vollmachten. Mitte der 1960er-Jahre verortete der Historiker Edgar Bonjour das extrakonstitutionelle Notrecht in einer durch kleinräumige Kraftfeldervielfalt geprägten Schweiz, die in Notlagen auf eine „starke Zentralgewalt“ angewiesen sei, „die ungehindert und rasch entscheiden konnte. Eine Zusammenfassung und Straffung der Kräfte schien in einem föderalistisch so aufgelockerten Gebilde wie der Eidgenossenschaft besonders nötig.“24 Schon früh kam hingegen Kritik aus juristischen Fakultäten. Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti beklagte in seiner Dissertation von 1919 die „Hypertrophie autoritärer Rechtssetzung“;25 die Basler Juristin Lili Zoller sprach 1928 unumwunden von einer „Revolution“, welche sich Anfang August 1914 in der Schweiz abgespielt habe.26 Diese Kritik am Notrecht sollte nicht mehr verstummen. Im Rückblick dominiert die Deutung von Giacometti, der in den 1930er-Jahren zu einem der schärfsten Kontrahenten des Vollmachtenregimes geworden war und dieses als illegale, verfassungswidrige Rechtspraxis einstufte. In einer zusammenfassenden Abhandlung aus dem Jahre 1945 brachte er das Problem für den Ersten und den Zweiten Weltkrieg gleichermaßen auf den Punkt: „Dementsprechend kann eine Notrechtskompetenz, die nicht irgendwie auf der Bundesverfassung beruht, kein Recht sein. Extra constitutionem nulla salus.“27

IV. Der Vollmachtenbeschluss vom August 1914 war eingebettet in eine alte Diskussion um die Notwendigkeit und Legitimität von Staatsnotrecht. In der Geschichte des 1848 gegründeten schweizerischen Bundesstaates herrschte immer die Meinung vor, dass im Falle „zwingender Not“ von der Verfassung abgewichen werden kann. Mit 21

Walther Burckhardt, zitiert nach: O. Schneider (Fn. 10), S. 257. So der Bundesrichter Carl Jaeger Ende 1914, zitiert nach: ebd., S. 89. 23 Zitiert nach: Jakob Tanner, Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München 2015, S. 118. 24 Bonjour (Fn. 17), S. 568. 25 Zitiert nach: O. Schneider (Fn. 10), S. 255. 26 Lili Zoller, Die Notverordnung und ihre Grundlagen im schweizerischen Staatsrecht insbesondere, Affoltern a. A. 1928, S. 121. 27 Zaccaria Giacometti, Das Vollmachtenregime der Eidgenossenschaft, Zürich 1945, S. 41. 22

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der Totalrevision von 1874 wurde gleichzeitig mit dem Referendum gegen Gesetzesvorlagen die Möglichkeit „dringlicher Bundesbeschlüsse“ geschaffen. Während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 führten der „Aktivdienst“ (Grenzbesetzung) und die damit zusammenhängende Wahl eines Generals, d. h. eines Oberbefehlshabers der Schweizer Armee zu einer Häufung notrechtlicher Beschlüsse. Am 16. Juli 1870 erhielt der Bundesrat weitreichende Vollmachten, die er indessen aufgrund der kurzen Dauer des Krieges nicht nutzte.28 Im Zeitraum 1848 bis 1909 kam es insgesamt zu 50 Beschlüssen, deren gemeinsames Kriterium ihre durch eine Notsituation legitimierte Dringlichkeit war.29 Die Definition einer Notlage veränderte sich vom 19. bis ins 21. Jahrhundert und auch die rechtliche Reaktion darauf unterlag einem ausgeprägten Wandel. Die Auffassung, dass es außerordentliche Situationen gibt, die außerordentliche Maßnahmen erheischen, stellt hingegen das kontinuierliche Element dieser Entwicklung dar. Für einen großen historischen Überblick hat Andreas Kley eine Typologie vorgeschlagen, die klärende Differenzierungen ermöglicht.30 Er unterscheidet drei Formen von Notrecht: Extrakonstitutionelles Staatsnotrecht („Vollmachtenregime“ genannt), das Dringlichkeitsrecht (Art. 165 BV) und die Polizeinotverfügung oder -verordnung (normiert in Art. 173 bzw. 185 BV).31 Kley spricht von einem „Notrechtpluralismus“.32 Er stellt fest, dass in der Schweiz die in der Zwischenkriegszeit in Deutschland populäre „theologische“ Argumentation von Carl Schmitt („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“) wenig Resonanz fand. Zum einen wurde Notrecht, bei aller Radikalität seiner juridischen Form, meist pragmatisch begründet und auch wenn gegen Ende des Ersten Weltkrieges eine starke Repressionstendenz aufkam, die in der Zwischenkriegszeit nochmals aufbrach, wurde der demokratische Aushandlungsprozess zu keinem Zeitpunkt vollständig unterbrochen. Zum andern standen sich Normal- und Ausnahmezustand nicht dichotomisch gegenüber. Es handelte sich nicht um einen abrupten Übergang, sondern um eine schrittweise Transformation nach Maßgabe des faktischen Gebrauchs des Notrechts. Für die Schweiz lässt sich geradezu exemplarisch zeigen, dass im Fin de siècle die Zuspitzung der sog. „sozialen Frage“ und die Verschärfung der klassenkämpferischen Konfrontation zwischen der organisierten Arbeiterbewegung und dem von Ordnungskräften unterstützten Bürgertum heftige politische Debatten um die Verantwortung des Staates – vom Bund über die Kantone bis hin zu den Kommunen und Städten – für die Lebensbedingungen der Menschen und für die sozialen Verhältnisse auslösten. Je mehr Ressourcen dem Bundesstaat zur Verfügung standen, desto mehr vermochte er sich 28

O. Schneider (Fn. 10), S. 39 f. Ebd., S. 57. 30 Andreas Kley, Die UBS-Rettung im historischen Kontext des Notrechts, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 130/I (2011), S. 123 – 138. 31 Ebd., S. 125; die erwähnten Verfassungsartikel stammen aus der neuen Verfassung von 1999; entsprechende Artikel gab es auch schon in den beiden vorangehenden Verfassungen von 1848 und 1874. 32 Kley, UBS-Rettung (Fn. 30), S. 129 (Anm. 33). 29

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über einen „vertikalen Finanzausgleich“ in die Politik der Kantone einzumischen und regionale Entwicklungen in verschiedenen Gesellschaftsbereichen (Wirtschaftsstruktur, Bildung, Verkehrs- und Transportwesen, Migration, Geldwesen etc.) zu prägen. Diese Zentralisierungs- und Steuerungstendenzen vergrößerten das Gewicht der Administration und ihrer Expertise, was wiederum die rasche Handlungsfähigkeit der Exekutive aufwertete und dringliche Maßnahmen plausibilisierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten verschiedene Autoren, diese temporären Ausnahmezustände strukturell zu erklären. Der historisch orientierte Politologe Clinton Rossiter entwickelte in seiner 1948 erschienen Studie über „Constitutional Dictatorship. Crisis Government in the Modern Democracies“ ein Verständnis für notrechtliche Maßnahmen. Er wies darauf hin, dass Demokratien in der Lage sind, mit dem Ende der Notsituation zur konstitutionellen Normalität zurückzukehren, stellte aber gleichzeitig fest, die Zeit zwischen 1914 und 1945 sei alarmierend gewesen.33 In diesen drei Jahrzehnten rückten die meisten demokratischen Länder stärker als vorher und nachher von Verfassungsgrundlagen ab und delegierten legislative Kompetenzen an die Exekutive. Dies habe, so Rossiter, die Akzeptanz und Attraktivität einer autoritären, scheinbar effizienten Politik erhöht. Eine funktionalistische Rechtfertigung von Notrecht, welche die Präferenz für dringliche Maßnahmen in historischen Megatrends wie die gesellschaftliche Komplexitätssteigerung, die Erhöhung der Staats- und Fiskalquote oder den zunehmenden wirtschafts- und sozialpolitischen Interventionismus einschreibt, greift allerdings zu kurz. Auch wenn diese transnationale Entwicklung einen massiven Einfluss auf nationalstaatliche Verfassungen und die Handhabung von Notrecht ausüben, gibt es immer politische Gestaltungsspielräume. Die Geschichtsschreibung muss deshalb neben den strukturellen Ermöglichungsbedingungen auch immer die konkreten historischen Kräftekonstellationen analysieren, die darüber entscheiden, ob und in welchem Maße ein Staatswesen mit Notrecht regiert wird.

V. Als die Heere der europäischen Mächte Anfang August 1914 nach einer Kaskade von Kriegserklärungen die militärischen Auseinandersetzungen auslösten, gingen auch die hiesigen Entscheidungsträger in Politik, Militär und Wirtschaft von einem kurzen Krieg aus; im Zeithorizont zählten sie Monate. „Over by christmas“ war die vorherrschende Erwartungshaltung. Nur wenige aufmerksame Beobachter wiesen darauf hin, dass man sich vielleicht doch auf eine jahrelange Auseinandersetzung einstellen müsse. Soweit solche längeren Zeiträume in Betracht gezogen wurden, schien eine Neupositionierung der neutralen Schweiz unumgänglich. Der Bundesrat teilte 1914 die Meinung, die General Ulrich Wille noch länger vertrat, dass die 33 Clinton Rossiter, Constitutional Dictatorship. Crisis Government in the Modern Democracies, Princeton 1948.

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Neutralität in einem solchen Fall aus wirtschaftlichen und militärischen Gründen obsolet würde. Im Moment des Kriegsausbruchs dominierte der Eindruck einer außerordentlichen Bedrohungslage, d. h. einer Gefahrensituation, in der sich Notrecht aufdrängte.34 Was das politische System der Schweiz betrifft, so sind drei Punkte festzuhalten. Erstens wurde die geltende Verfassung nicht suspendiert. Der entscheidende Vorgang war das Fluten der bestehenden Rechtsordnung durch eine Unmenge notrechtlicher Erlasse. Dadurch wurde die geltende Verfassung verdrängt, überlagert und ausgehebelt. Das in seinen Kompetenzen weiter eingeschränkte Bundesgericht zog sich auf eine pragmatische Position zurück. Bereits 1915 dehnte es seine Rechtsprechung auch auf Notrechtserlasse aus, ohne deren fehlende Verfassungsgrundlage zu bemängeln. Damit stützte es faktisch das Vollmachtenregime und verlieh ihm eine Aura der Legitimität. Zweitens tagte die Legislative weiter, verlor aber entscheidend an Einfluss. Die im Sommer 1914 vom Bundesrat eingesetzten parlamentarischen Neutralitätskommissionen erwiesen sich als zahnlos (und hinterließen keine Aufzeichnungen).35 Auf die immer härtere Kritik an der neuen Rechtssetzungspraxis reagierte das Parlament im Frühjahr 1916 mit der Einführung minimaler Kontrollmechanismen und einer Berichterstattungspflicht der Regierung. Diese Maßnahmen vermochten allerdings die in allen Bereichen der Gesellschaft stark zunehmende Bedeutung des Notrechts kaum zu kompensieren. Drittens wurde die direkte Demokratie zurückgestutzt, aber nicht vollständig ausgeschaltet. Während der Kriegszeit kam es zu fünf Urnengängen. Insbesondere im Bereich der Fiskalpolitik setzte die Regierung auf plebiszitäre Legitimationsbeschaffung. Zunächst wurde dreimal über eine dem ordentlichen Referendum unterstehende Vorlage abgestimmt. Im Oktober 1914 sanktionierte der „Volkssouverän“ die Errichtung eines Eidgenössischen Verwaltungsgerichts. Im Juni 1915 stimmten Volk und Stände mit einem historischen Rekord an Ja-Stimmen (über 94 Prozent) der Erhebung einer außerordentlichen Kriegssteuer zu. Im Mai 1917 nahm die (heute wieder umstrittene) Stempelabgabe den Sprung über die Abstimmungshürde. 1918 galt es über zwei Volksinitiativen zu entscheiden. Im Juni 1918 wurde der sozialdemokratische Vorschlag, die Kriegssteuer als „direkte Bundessteuer“ zu verstetigen und zu einer Dauereinnahmequelle des Bundesstaates zu machen, mit 54 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Während der Ausbau des Steuersystems scheiterte, glückte ein Umbau des Wahlsystems. Im Oktober 1918, also noch vor dem Landesstreik vom November, wurde der Übergang vom Majorzprinzip, das die FDP begünstigte, zur Proporzwahl gutgeheißen. Mit diesen fünf Abstimmungen lief das plebiszitäre Feedback zwischen Regierung und Männervolk auch während der Kriegsjahre auf geringer Intensitätsstufe weiter. Gestört wurde dieser direktdemokratische Prozess allerdings durch gezielte Verzögerungen. So kam die 1916 von der Sozial34 35

O. Schneider (Fn. 10), S. 76. Ebd., S. 75.

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demokratischen Partei eingereichte Initiative zur Abschaffung der Militärjustiz erst 1921 zur Abstimmung (und wurde zu diesem Zeitpunkt verworfen).36 Beabsichtigte, aber auch unbeabsichtigte Auswirkungen des Vollmachtenregimes sorgten dafür, dass der 1914 geschlossene „Burgfrieden“ bzw. die „union sacrée“ nicht lange hielten. Die Kritik am Vollmachtenregime nahm rasch zu, zunächst – in der Phase des sich weitenden Grabens zwischen der Deutsch- und der Westschweiz – aus der Romandie, ab 1916 verstärkt entlang sozialer Konfliktlinien. Der Erste Weltkrieg verschärfte in kriegführenden wie nicht kriegführenden Ländern die wirtschaftlich-soziale Ungleichheit. Verarmungstendenzen in weiten Bevölkerungskreisen koexistierten mit Unternehmenswachstum und Kriegsgewinnen. Die Militärdienstleistenden erhielten in der Schweiz eine nur geringe finanzielle Kompensation für ihre Vaterlandsverteidigung, während die Exportkonjunktur die Kassen der Fabrikbesitzer füllte. Das Gefühl, solche Verhältnisse seien unrecht, wurde zum Treiber politischer Mobilisierung. In der öffentlichen Wahrnehmung und im sich intensivierenden Klassenkampf herrschten bald komplexitätsreduzierte, allerdings empirisch nachvollziehbare Stereotype von den „profitierenden Herrschenden“ und den „hungernden Arbeiterfamilien“ vor. Die bürgerlich dominierte Regierung reagierte auf die erstarkende Arbeiter- und Frauenbewegung weniger mit umsichtigen Reformen als mit Repression. Es gab zwar zielführende Aktionen, um soziale Not zu lindern und Versorgungsengpässe zu beheben. Doch viele dieser Maßnahmen (und insbesondere das erst 1918 eingeführte Rationierungssystem) erwiesen sich als verspätete Improvisationen, welche die Probleme nicht lösen konnten. Umso mehr verbreiteten Freisinnige und Katholisch-Konservative das Schreckbild „bolschewistischer Umtriebe“ und eines „revolutionären Umsturzes“. In diesem antagonistischen Wahrnehmungsraum entbrannte ein heftiger Deutungskampf, in dem sich Vorwürfe verschärften und Erwartungen wechselseitig hochschaukelten. Auf Seiten der Linken wurden Forderungen nach materieller Besserstellung und politischer Mitbeteiligung erhoben, Bundesrat und Armeeführung heizten phantasmatische Revolutions- und Besitzstandsverlustängste an. Die mit Vollmachten ausgestattete Regierung wurde Partei. Mit großen Militäraufgeboten bekundete sie ihre Bereitschaft zum Gewalteinsatz und setzte damit im Landesstreik vom 12. bis 14. November 1918 ultimativ den bedingungslosen Streikabbruch durch – was sich als ein Pyrrhussieg erweisen sollte, weil der Moment äußerster Zuspitzung auch den Funken der Erkenntnis freisetzte, dass ein solch repressiver Gebrauch der Vollmachten nicht der staatspolitischen Weisheit letzter Schluss sein konnte.37

36

Steiner (Fn. 14), S. 309 – 314. Die Verarbeitung des „Generalstreik-Traumas“ und die Integration der Arbeiterbewegung in den schweizerischen Bundesstaat verlief, wie auch die folgenden Ausführungen zeigten, keineswegs linear, doch aus der Konstellation des Jahres 1918 resultierten wichtige Impulse dafür. Vgl. dazu: Tanner (Fn. 23), Geschichte der Schweiz (Fn. 23). 37

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VI. Der Vollmachtenbeschluss vom 3. August 1914 hatte nachhaltige Auswirkungen. Der Bundesrat regierte in der Folge mittels einer großen Zahl von Beschlüssen, Verordnungen, Verfügungen, Ausführungsbestimmungen und Erlassen. Generell herrschte der Eindruck eines „Wirrwarrs“ des Notrechts vor.38 Selbst versierte Rechtsexperten verloren im Wildwuchs der Maßnahmen den Überblick. Bald konnte niemand mehr sagen, wie viele Erlasse die Regierung seit Kriegsbeginn überhaupt in Kraft gesetzt hatte. Kurz nach Kriegsende klagte der FDP-Nationalrat (und spätere Bundesrat) Albert Meyer: „Kein Mensch in der Eidgenossenschaft kennt diese Noterlasse alle“.39 Dieser prekäre Zustand wurde auch in zeitgenössischen Karikaturen festgehalten (vgl. Abb. 2).

Abb. 2: Die Flut der Verordnungen, Karikatur von Fritz Boscovits, Nebelspalter 191740

An Versuchen, „die auf den Vollmachtenbeschluss gestützten Erlasse zu erfassen und in Sammlungen oder Verzeichnissen zugänglich zu machen“ fehlte es nicht.41 Im Februar 1915 legte der Berner Jurist Friedrich Volmar eine Statistik und einen Kommentar der „wirtschaftlichen Notgesetze“ vor. Damit wurde der erste und dann auch 38

Vgl. O. Schneider (Fn. 10), S. 285. Zitiert nach: ebd., S. 24. 40 Nebelspalter, Nr. 46 v. 17. November 1917, S. 9; vgl. O. Schneider (Fn. 10), S. 125. 41 Ebd., S. 90 f. Die folgenden Ausführungen zur Statistik der Notrechtserlasse stützen sich auf O. Schneider (Fn. 10), S. 89 – 96. 39

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letzte Versuch unternommen, die Auswirkungen des Vollmachtenregimes auf die Kantone und insbesondere deren nachgelagerte Implementierung durch weitere Erlasse zu erfassen. Volmar thematisierte auch die Bedeutung der Notrechtsgesetzgebung auf die schweizerische Volkswirtschaft und schrieb: „So machten die Kriegsereignisse auch für unsere Volkswirtschaft eine teilweise Neuordnung der rechtlichen Verhältnisse notwendig. […] Viele dieser Erlasse tragen daher den Charakter von Notbehelfen. Sie sind Provisorien, greifen aber trotzdem so sehr in die Verhältnisse des Einzelnen ein, dass deren Kenntnis für jeden notwendig ist.“42 Nachdem sich die Illusion eines kurzen Krieges verflüchtigt und „die Dauerhaftigkeit des Ausnahmezustandes“ herausgestellt hatte, schien es den juristischen Experten kaum mehr möglich, eine exakte Statistik über den notrechtlichen Output des Vollmachtenregimes anzufertigen. Die Machtfülle der Exekutive und der Mangel an Übersicht waren Kehrseiten des staatsrechtlichen Ausnahmezustandes, dessen Modus Operandi durch den föderalistischen Staatsaufbau verkompliziert wurde. Lückenhafte Zusammenstellungen klammerten die Implementierungsbeschlüsse auf Kantonsebene aus oder beschränkten sich auf bestimmte Kategorien bzw. auf einzelne Politikfelder. Werden alle diese Verzeichnisse und schließlich auch noch die von Bundesstellen auf der Grundlage seiner „Neutralitätsberichte“ selbst vorgelegten Verzeichnisse ausgewertet, ergibt sich die Zahl von insgesamt 1612 zwischen August 1914 und Frühjahr 1919 in Kraft gesetzten Noterlassen.43 Oliver Schneider behandelt ausführlich die Quellenprobleme, mit der sich retrospektive Rekonstruktionen auseinanderzusetzen haben. Er zeichnet das Bild eines Behördenapparates, der noch gar kein funktionierendes Aufschreibesystem für eine solche Noterlass-Flut entwickelt hatte. Er weist darauf hin, „dass sich Hunderte weitere Erlasse direkt oder indirekt der Gesetzgebung mittels Vollmachten zuordnen liessen oder in einem weiteren Sinn mit der Kriegssituation zusammenhingen.“44 Zudem wurden Notrechtserlasse zwar verzeichnet, jedoch nicht in den amtlichen Veröffentlichungen publiziert. Heute nicht mehr auffindbar sind insbesondere 149 Erlasse mit zumeist militärischem Inhalt.45

42

Ebd., S. 91. Ebd., S. 91 f. Schneider weist auf die Bedeutung der über 5.000 Seiten starken Abhandlung zum „Schweizerischen Bundesrecht“ zwischen 1903 und 1928 von Walther Burckhardt hin. Vgl. Walther Burckhardt, Schweizerisches Bundesrecht. Staats- und verwaltungsrechtliche Praxis des Bundesrates und der Bundesversammlung seit 1903, 5 Bde., Frauenfeld 1930 – 1931. 44 O. Schneider (Fn. 10), S. 92. 45 Ebd., S. 93. 43

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Graphik 1: Neue Noterlasse zwischen dem 30. Juli 1914 und dem 23. Mai 1919 nach Jahren und eidgenössischen Departementen46

Diese Zusammenstellung der Erlasse nach Departementen und Ämtern macht zweierlei deutlich: erstens den raschen Anstieg der Erlasse, vor allem in den Jahren 1916 und 1917, und zweitens die administrativ-funktionale Schwerpunktverlagerung. Militärische Erlasse, hier dem Schweizerischen Militärdepartement (SMD) zugeordnet, spielten zwar über die ganze Zeit hinweg eine Rolle, ihre Bedeutung nahm allerdings seit 1916 ab. Schon ab 1916, vor allem aber in den beiden letzten Kriegsjahren 1917 und 1918 dominierten klar wirtschaftliche und soziale Belange. Der dunkelrote Bereich bezieht sich auf das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement, der gelbe auf das 1918 errichtete Eidgenössische Ernährungsamt, der hellblaue auf das Finanz- und Zolldepartement. Gegenläufig dazu schrumpft die Bedeutung des Eidgenössischen Politischen Departements (EPD), wie das Außenministerium genannt wurde. Diese Verschiebung zeugt von einer veränderten Perzeption der Notlage. Ging es anfänglich, im August 1914 und in im darauffolgenden Jahr, um eine notrechtliche Auseinandersetzung mit einer Bedrohung von außen, so rückten ab 1916 klar eine innere soziale Notlage und verschiedene volkswirtschaftliche Engpässe oder Schwierigkeiten ins Zentrum.

46

Vgl. O. Schneider (Fn. 10), S. 272.

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Graphik 2: Neue Noterlasse zwischen dem 30. Juli 1914 und dem 23. Mai 1919 nach Jahren, aufgehobene Noterlasse bis 194647

Diese Statistik zeigt nochmals die rasche Zunahme der Noterlasse über die Kriegsjahre hinweg (blaue Säulen). Die roten Säulen zeigen, dass bereits während des Krieges versucht wurde, unnötige, ausgeführte, überholte oder kontraproduktive Erlasse wieder aufzuheben. Der quantitative Höhepunkt wurde 1919 erreicht. Im Hintergrund entbrannte eine Grundsatzauseinandersetzung um das Fortdauern und die künftige Handhabung des Notrechts. Schon im Frühjahr 1918 forderten bürgerliche Parlamentarier, die schwergewichtig aus der Romandie kamen, dessen strikte Beschränkung und baldige Aufhebung. Der Bundesrat verteidigte seine Kompetenzen und ging davon aus, dass demokratische Entscheidungsmechanismen auch in der Zeit nach dem Krieg zu wenig elastisch seien, um die zunehmend schwierigeren Probleme zu lösen.48 In dieser Meinung wurde der Bundesrat von General Wille unterstützt, der vor dem „Sozialismus-Communismus“ und der „Gefahr des Feindes im Innern, der nur durch eine starke Regierung niedergehalten werden kann“, warnte.49 In der Bevölkerung wurde allerdings darauf vertraut, dass die Schweiz nach Kriegs47 Vgl. ebd., S. 273. Die Graphik bezieht sich nur auf die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges. Die Notrechtserlasse ab 1939 sind nicht erfasst. 48 O. Schneider (Fn. 10), S. 278 f., unterscheidet vier bundesrätliche Begründungen: (1) die Erfahrungen der Kriegsjahre, (2) die gespaltene Meinung im Parlament, (3) die Unsicherheit bei Verzicht auf Vollmachten und (4) die Unfähigkeit des politischen Systems, wie es vor 1914 funktionierte, die Probleme nach 1918 zu lösen. 49 General Wille an den Bundespräsidenten Calonder, 15. April 1918, zitiert nach: O. Schneider (Fn. 10), S. 262.

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ende wieder zum konstitutionellen Status quo ante, d. h. zu einer auf Gewaltentrennung beruhenden, durch Volksrechte geprägten parlamentarischen Demokratie zurückfinden könne. Zugleich war weithin und über Parteiengrenzen hinweg ein Bewusstsein vorhanden, dass sich die Rolle des Staates in der Gesellschaft und die Erwartungen der Bevölkerung an die Regierung nachhaltig verändert hatten. Ab 1919 kam es zu einer „schrittweise[n] Demontage des kriegswirtschaftlichen Kontroll- und Regulierungsapparats“.50 Das Parlament unterstützte zwar im März 1919 nochmals einen Vollmachtenbeschluss, der nun aber auf Ausnahmen beschränkt und durch ein Vetorecht der Legislative kontrolliert wurde. Doch viele der bisher geltenden Erlasse blieben in Kraft. Erst im Herbst 1921 wurde das Notverordnungsrecht der Exekutive nach mehr als sieben Jahren effektiv und formell abgeschafft, wobei die noch nicht aufgehobenen Noterlasse (immerhin 164 an der Zahl) weiterhin galten; noch 1933 stützte sich ein Bundesratsbeschluss auf die Vollmachten aus dem Ersten Weltkrieg.51

VII. Der „neue administrative Konsens in der Kriegszeit“52 überdauerte das Vollmachtenregime. Schon vor der Krisenzeit der 1930er-Jahre fungierte das Not- und Dringlichkeitsrecht als integrales Element im Kalkül wirtschaftlich-politischer Stabilisierung. Der schweizerische Bauernsekretär Ernst Laur, der ein vehementer Verfechter von notrechtlichen Eingriffen in die Wirtschaft war, schrieb 1938 in der Festgabe für Edmund Schulthess: „Die Maßnahmen und Erfahrungen der Kriegsjahre haben bei uns und im Auslande einen tiefgehenden Einfluß auf die Gestaltung des Wirtschaftslebens ausgeübt. Wohl rief man nach Friedensschluß überall nach raschem Abbau der Kriegsvorschriften und verlangte die Rückkehr zur wirtschaftlichen Freiheit. Bald aber erkannte man, daß sich die Struktur der Wirtschaft geändert hatte und die Rückkehr zu den Verhältnissen der Vorkriegszeit nicht mehr möglich war.“53 So entwickelte die Schweiz in der Zwischenkriegszeit neue Formen eines autoritären Regierungsstils, wie Zaccaria Giacometti 1937 in der Festgabe für Fritz Fleiner in einem Aufsatz unter dem bezeichnenden Untertitel „Das autoritäre Bundesstaatsrecht“ bemerkte: „Die Spannung zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspraxis hat nun aber in der letzten Zeit einen ungeahnt hohen Grad erreicht. Die staatsrechtliche Praxis entspricht je länger je weniger der Bundesverfassung. Eingeleitet wurde 50

Ebd., S. 272. Ebd., S. 283, 287 f. 52 Ebd., S. 215. 53 Ernst Laur, Die Mitarbeit der landwirtschaftlichen Verbände bei den staatlichen Maßnahmen zur Erhaltung des schweizerischen Bauernstandes, in: Festgabe für Bundesrat Dr. h. c. Edmund Schulthess zum siebzigsten Geburtstag am 2. März 1938. Dargebracht von Freunden und Mitarbeitern, Zürich 1938, S. 251 – 273 (264). 51

Die Krise des Verfassungsstaates in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts 183

diese verfassungswidrige Aera durch den Vollmachtenbeschluß vom 3. August 1914. […] In der Nachkriegszeit fand dann eine teilweise Rückkehr zu den demokratischen Rechtssetzungsformen der Bundesverfassung statt. Mit der einsetzenden Weltwirtschaftskrise anfangs der dreißiger Jahre verschärfte sich die Diskrepanz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspraxis wiederum von neuem. […] Die Entwicklung geht in der Richtung einer neuen […] autoritären Staatsform“, bzw. einige Seiten weiter hinten, „zu einem verfassungswidrigen, autoritären Bundesstaatsrecht“.54 Dies zeigte sich vor allem darin, dass National- und Ständerat zwischen 1920 und 1939 insgesamt 147 ihrer Beschlüsse für dringlich erklärten und sie so einer Volksabstimmung entzogen. Im Vergleich dazu geschah dies zwischen 1874 und 1919 nur bei 44 Vorlagen. So entstand ein Dringlichkeitsregime, das sozusagen „eine Fortsetzung des Vollmachtenregimes mit anderen Mitteln“ war.55 Das Dringlichkeitsmotiv wurde seit den beginnenden 1930er-Jahren zum Refrain von Regierungserklärungen. Im Herbst 1933 erhielt der Bundesrat vom Parlament die Erlaubnis, alle „zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, zum Schutze der nationalen Produktion […] und zur Förderung des Exportes“ notwendigen Maßnahmen zu treffen. Die außerordentliche Notlage legitimierte erneut die Umgehung der Volksrechte und die Machtausdehnung der Bundesexekutive. In der Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die wirtschaftlichen Notmaßnahmen vom 12. November 1935 wird argumentiert: „Es geht um Sein oder Nichtsein unserer Wirtschaft und damit auch um unsere Unabhängigkeit. Das zu erreichende Ziel ist so eminent wichtig, dass das Parlament und das Schweizervolk vorübergehend von der Ausübung gewisser, auf normale Verhältnisse zugeschnittener Rechte notgedrungen absehen müssen. Dies liegt im Interesse aller. Eine vorübergehende, unter der Kontrolle der Bundesversammlung und der öffentlichen Meinung stehende Einschränkung einiger demokratischer Grundsätze und Rechtssphären dürfte geradezu berufen sein, unserer Demokratie die Rettung zu gewährleisten.“56 Für einen mit protokollarisch vermerkter „Heiterkeit“ quittierten rhetorischen Höhepunkt sorgte der BGB-Nationalrat Roman Abt am 20. September 1938, als er im Nationalrat erklärte: „Das Institut der Dringlichkeit ist die Perle unserer Bundesverfassung, die ich nicht der Opposition vor die Füsse werfen möchte.“57 Und im Ständerat ließ der Industrielle Iwan Bally eine Woche später verlauten: „Unsere Bundesverfassung räumt in Art. 89 dem Parlament die Kompetenz ein, wenn es nottut, ohne Volksbefragung dringliche Bundesbeschlüsse zu fassen. Diese Kompetenz – die den Räten rasche 54

Zaccaria Giacometti, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in der schweizerischen Eidgenossenschaft. Das autoritäre Bundesstaatsrecht, in: Festgabe Fritz Fleiner zum 70. Geburtstag. Dargebracht von der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich, Zürich 1937, S. 45 – 84 (45 f., 77). 55 O. Schneider (Fn. 10), S. 300. 56 Botschaft vom 12. November 1935 über die wirtschaftlichen Notmassnahmen, Bundesblatt 1935 II, S. 533 – 564 (561). 57 Amtliches stenographisches Bulletin der Bundesversammlung, Nationalrat, 1938, S. 668 (https://www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc/20032595.pdf?ID=20032595).

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Handlungsfreiheit gibt – ist eine Perle in unserer Verfassung, deren Wert uns ganz besonders zum Bewusstsein kommt in Zeiten weltpolitischer Spannungen, wie wir sie eben durchleben.“58 Giacometti hingegen sah in dieser „Perle“ den Kristallisationskern eines problematischen Rechtszerfalls mit all seinen Auswirkungen auf die politische Kultur der Schweiz: „Mit dieser immer mehr chronisch werdenden Abkehr von der Bundesverfassung wird ja das Rechtsbewußtsein im Lande allmählich untergraben. […] Diese verfassungswidrige Praxis unterhöhlt weiter den Rechtsstaat und damit aber zugleich auch den Kulturstaat. […] Diese Zersetzung der politischen Lebensform der Eidgenossenschaft bedeutet dann naturgemäß nach außen eine Diskreditierung der Demokratie und dieses gerade in einem Zeitpunkte, wo die Demokratie überall zum Problem geworden ist und daher seitens des Landes, für das sie Lebenselement ist, mit besonderer Sorgfalt gehegt und gepflegt werden sollte.“59

VIII. Ende August 1939 wiederholte sich das, was sich Anfang August 1914 ereignet hatte. Wiederum erteilte die Bundesversammlung dem Bundesrat außerordentliche Vollmachten. Doch dieses Mal wurden von Anfang an drei Kontrollen eingeführt. Erstens unterstand die Regierung einem weit strengeren Reporting, zweitens behielt sich die Legislative den Entscheid über die Geltungsdauer getroffener Maßnahmen vor und drittens wurde die Regierungstätigkeit nun durch sog. „parlamentarische Vollmachtenkommissionen“ begleitet, in der alle wichtigen Parteien vertreten waren. Und auch in der Kriegszeit zwischen 1939 und 1945 fanden Volksabstimmungen statt, insgesamt sieben, von denen die ersten fünf negativ ausgingen. Zaccaria Giacometti blieb trotz dieser Aufbesserungen bei seinem harten Urteil über das Vollmachtenregime. Er sprach von einer verfassungswidrigen „kommissarischen Diktatur der Bundesbürokratie“ mit „autoritären und totalitären Tendenzen“.60 In seinen Vorlesungen soll er, mit dem Fingerring auf ein Buch klopfend, deklamiert haben: „Wenn Sie nach Bern kommen, da zeigt man Ihnen die schweizerische Bundesverfassung. Und was sehen Sie? Ein Loch sehen Sie“.61 Anhand von Giacometti lässt sich allerdings die Kluft zwischen einer juristischen und einer politischen Beurteilung der Vollmachten erkennen. Der Staatsrechtler wandte sich auch persönlich strikt gegen eine Vermengung des „Problem[s] der 58 Amtliches stenographisches Bulletin der Bundesversammlung, Ständerat, 1938, S. 315 (https://www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc/20032623.pdf?ID=20032623). 59 Giacometti, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis (Fn. 54), S. 83 f. 60 Zaccaria Giacometti, Die gegenwärtige Verfassungslage der Eidgenossenschaft, Schweizerische Hochschulzeitung 16 (1942), S. 139 – 154 (148). 61 Zitiert nach: Peter Schneider, Zur Rechts- und Staatslehre von Dietrich Schindler (sen.), Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N. F. 40 (1991/92), S. 179 – 189 (180).

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rechtlichen Rechtfertigung der Vollmachten mit der Frage der politischen Notwendigkeit dieser Vollmachten“.62 Er sprach von einem „an sich […] politisch gerechtfertigte[n], aber illegale[n] Ausnahmezustand“. Aufgrund dieser Haltung kritisierte er eine „unechte Lücke“ in der Bundesverfassung und forderte deren Schließung.63 Dies brachte ihn in ein Kontroverse mit seinem Zürcher Kollegen Dieter Schindler sen., der umgekehrt davor warnte, für solche Ausnahmezustände einen neuen Artikel zu schaffen. Dies mit dem Argument, dass ein solches Regime weit häufiger angewandt werden würde, wenn sich die Möglichkeit böte, es auf die Verfassung zu stützen. Schindler wollte verhindern, dass der Ausnahmezustand normalisiert und legalisiert würde. Er sollte – als gleichsam erratisches Ereignis in Gefahrenmomenten – das absolut Andere eines demokratischen Rechtsstaates bleiben, womit am ehesten die Chance bestünde, dass er nicht auf Dauer gestellt werde.64 Schindler sprach ein ernst zu nehmendes Problem an. Denn nach dem Kriegsende waren die staatstragenden Parteien – zu denen seit 1943 auch die erstmals in ihrer Geschichte im Bundesrat vertretene Sozialdemokratie gehörte – kaum gewillt, das Vollmachtenregime wieder abzuschaffen. Es gab zwar einen Grundsatzbeschluss, der den Abbau der außerordentlichen Vollmachten vorsah, doch es passierte sehr wenig. Der Ausnahmezustand der Kriegszeit hatte dermaßen weitreichende Veränderungen induziert, dass Behörden, Parteien und Verbände an den gesetzlichen Grundlagen, auf die sie sich stützten, festhalten wollten. Dies ohne Rücksicht auf die Tatsache, dass es sich größtenteils um Notrecht handelte. Diese unerhörte Episode war in ein langes Entwicklungsszenario der Staatlichkeit eingebettet. Die sich formierende Konkordanzdemokratie hatte sich gleichsam an die Droge der „Dringlichkeit“ gewöhnt und fürchtete sich vor Entzugserscheinungen. Es bedurfte einer von der ultrarechten Ligue Vaudoise lancierten Initiative „für die Rückkehr zur direkten Demokratie“, um dem Dringlichkeitssyndrom in Regierung und Parlament wirksame Schranken zu setzen und die „zivile Demobilmachung“ (so die Forderung der Notrechtskritiker) zu erzwingen. Das 1946 eingereichte Volksbegehren wurde zunächst schubladisiert und erst zwei Jahre darauf durch eine parlamentarische Intervention auf die Traktandenliste zurückgeholt. Auf einer „Grundwelle des Unmutes im Volke über die […] reichlich unbekümmerte Dringlichkeitsund Notrechtspraxis der ,Messieurs de Berne‘“ setzten sich die vorerst völlig marginalisierten Initianten in der Volksabstimmung vom September 1949 gegen alle Landesparteien und viele große Verbände durch.65

62

Giacometti, Vollmachtenregime (Fn. 27), S. 58. Ebd., S. 60 f. 64 P. Schneider (Fn. 61), S. 180 f. 65 Wolf Linder/Christian Bolliger/Yvan Rielle (Hrsg.), Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848 bis 2007, Bern u. a. 2010, zur Initiative: S. 217 – 219; Zitat aus dem Tages-Anzeiger v. 9. September 1949, zitiert nach ebd., S. 219. 63

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IX. Wenn wir die beiden Vollmachtenregimes des Ersten und des Zweiten Weltkrieges vergleichend evaluieren, so fallen drei Sachverhalte auf. Erstens handelte es sich um ein transnationales Phänomen. In der Katastrophenphase des „Zeitalters der Extreme“ zwischen 1914 und 1945 wurden die legislatorischen Entscheidungswege in allen Staaten notrechtlich verkürzt. Diese Tendenz zu einer autoritären Staatlichkeit war Ausdruck einer Krise der Demokratie. Es fällt auf, dass die Schweiz in rechtlicher Hinsicht weiter ging als wichtige kriegführende Staaten. In Großbritannien und in Frankreich hatte das Parlament mehr zu sagen als im neutralen Kleinstaat. Die Schweizerische Eidgenossenschaft, die sich häufig als „Urgestein der Demokratie“ darstellt, suspendierte eben diese Demokratie weit rigoroser als dies anderswo der Fall war. Dies lässt sich auf unterschiedliche Weise erklären: durch das Gefühl einer besonderen Verletzlichkeit, wozu ein kleines Staatswesen im Herzen Europas inmitten kriegführender Länder in besonderem Maße disponiert war; durch ein im Krisenschock besonders ausgeprägtes Vertrauen in die eigene Regierung; durch eine schwach ausgeprägtes Grundrechtsbewusstsein, wie es in der damaligen Verfassung seinen Niederschlag fand; durch ein ausgeprägt föderalistisches, auf Machtteilung angelegtes Staatsverständnis, das der Zentralregierung auch dann nichts Böses zutraut, wenn diese effektiv besonders mächtig ist. Über all diesen Erklärungen wölbt sich die mythologische Erzählung des Rütlischwurs, die in der „Geistigen Landesverteidigung“ des Zweiten Weltkriegs besonders virulent war. Sie wurde 1945 gegen das Frauenstimmrecht in Anschlag gebracht, nach dem Motto: „Auf dem Rütli waren auch keine Frauen dabei!“ Es äußert sich in diesem mittelalterlichen Verschwörungsmythos eine eminent politischpraktische Auffassung von Staatlichkeit, die universalistische Ansprüche als „fremdes Recht“ wahrnimmt, einen „Richterstaat“ zurückweist und eine Verfassung schön und gut findet, aber eben angesichts der Unbill der Zeit als nicht wirklich zwingend. Aus dieser Sicht lässt sich schon die Gründungsszene der Schweiz als eine Art Ausnahmezustand, nämlich als urchiger Kampf gegen Besatzungsmächte von außen, imaginieren. In diesem Sinne verband sich im 20. Jahrhundert die ideologische Rechtfertigung des Notrechts mit mystifizierenden Narrativen des eigenen Herkommens, die sich wiederum gegen die liberalen Errungenschaften des schweizerischen Bundesstaates von 1848 richteten. Zweitens hat sich das Vollmachtenregime innenpolitisch als eine polyvalente, multifunktionale Einrichtung erwiesen. Es hatte im Ersten Weltkrieg einen diametral anderen Effekt als im Zweiten Weltkrieg. Zwischen 1914 und 1918 fungierte es als Katalysator der innenpolitischen Polarisierung entlang unterschiedlicher Konfliktachsen. Es förderte die staatspolitische Marginalisierung der Linken und akzentuierte ein Klima der Konfrontation, das im Landesstreik vom November 1918 kulminierte.

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Im Zweiten Weltkrieg war die Konstellation ganz anders. Linke, bürgerliche Freisinnige und die Katholisch-Konservativen hatten sich auf die „Geistige Landesverteidigung“ und auf die Verteidigung der schweizerischen Demokratie (oder was davon noch übriggeblieben war) gegen die faschistische und nationalsozialistische Bedrohung geeinigt. Das Vollmachtenregime wurde so zum heißen Brüter der Konkordanz- und Verbandsdemokratie. Die Partei- und Verbandsspitzen konnten ohne Rücksicht auf gehässige Abstimmungskämpfe im vertrauensbildenden Gespräch Kompromisse schmieden.66 Drittens wurden die Langzeitwirkungen der Vollmachtenregimes aus juristischer Sicht kritisch beurteilt. Der Zürcher Staats- und Völkerrechtler Daniel Thürer weist darauf hin, dass in der Schweiz der 1930er-Jahre nicht „Hohn und Verachtung für [die] Verfassung“ dominiert haben wie im Deutschland nach 1933, „sondern ein allgemeines, allmähliches Vergessen des Verfassungsgedankens und eine schleichende Erosion der in der Verfassung niedergelegten rechtstaatlich-demokratischen Prinzipien und Strukturen“.67 Es gab unter Staatsrechtlern eine gewisse Einhelligkeit darüber, dass diese konstitutionelle Formschwäche und das Notrecht negative Auswirkungen auf das Rechtsempfinden haben. Giacometti stellte bereits 1937 die Gefahr einer „gewisse[n] moralische[n] Schwächung der völkerrechtlichen Stellung der Schweiz“ fest. Das sei deswegen prekär, weil es „im vitalen Interesse der Kleinstaaten [liegt], daß im zwischenstaatlichen Leben nicht Macht vor Recht gehe. Der Staat, der für die Befolgung des Rechtes im Völkerleben eintritt, muß aber das Recht auch im staatlichen Leben befolgen.“68 1953 brachte der Staats- und Völkerrechtler Hans Huber (Professor an der Universität Bern) die Notrechtspraxis mit dem „Problem der Ausnahmen von den Grundrechten“ in Zusammenhang, das in der Schweiz „ziemlich im Argen“ liege.69 „Ohne Zweifel ist dem Menschen der Sinn für Legalität teilweise verloren gegangen. In Volk und Behörden kommt immer mehr jene Gesinnung abhanden, die selbst dem unvollkommenen Gesetz Achtung zollt, auch wenn es ein Opfer kostet. Verstöße und Umgehungen nehmen zu. Der Erfolgreiche triumphiert sogar. Gewagte Auslegungen werden unbedenklich in Gutachten und Entscheidungen vorgetragen. Private Macht wird eingesetzt, um Behörden oder andere Privatpersonen vom Weg des Rechts abzudrängen; das Rechtsleben wird vermachtet.“70 Schon 1919 war völlig klar, dass der Umbau des Rechtssystems durch eine Vielzahl kriegsnotrechtlicher Erlasse eine Totalrevision der Bundesverfassung notwen66 Vgl. dazu: Jakob Tanner, Bundeshaushalt, Währung und Kriegswirtschaft. Eine finanzsoziologische Analyse der Schweiz zwischen 1938 und 1953, Zürich 1986. 67 Thürer (Fn. 7), S. 138. 68 Giacometti, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis (Fn. 54), S. 84. 69 Hans Huber, Niedergang des Rechts und Krise des Rechtsstaates, in: Demokratie und Rechtsstaat. Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 59 – 88 (64). 70 Ebd., S. 71 f.

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dig mache. In den 1930er-Jahren gerieten diese Bestrebungen ins Gravitationsfeld der rechtsextremen Frontenbewegung, die gemeinsam mit konservativen Kräften ein Verfassungsprojekt lancierte, das die Geschichte des schweizerischen Bundesstaates beendet hätte; in einer hart umkämpften Volksabstimmung wurde es im September 1935 deutlich abgelehnt. In den 1960er-Jahren wurde die Diskussion wieder aufgegriffen. Es sollte rund 80 Jahre dauern, bis die neue Verfassung am 18. April 1999 an der Urne beschlossen wurde und auf Beginn 2000 in Kraft trat. Anders als vorher waren die notrechtliche Rettung der UBS im Herbst 2008 und die durch das Corona-Virus provozierte Verhängung einer „ausserordentlichen Lage“ im Frühjahr 2020 verfassungskonform. Angesichts dieser neuen – wirtschaftlichen, sozialen, pandemischen etc. – Herausforderungen wird die Notrechtsproblematik auch künftig virulent bleiben.

X. Nach diesen Ausführungen zum schweizerischen Verfassungsstaat zwischen 1914 und den ausgehenden 1940er-Jahren möchte ich nochmals auf die einleitend erwähnten Unterschiede zwischen einem sich stark wandelnden öffentlichen und einem vergleichsweise stabilen und stetigen privaten Recht zurückkommen.71 Diese frappante Asymmetrie in der Rechtsentwicklung kann korreliert werden mit der Komplementarität zwischen dem Bild eines sich abschottenden neutralen Kleinstaates, welcher permanent an einem Souveränitätssyndrom zu leiden scheint und dementsprechend seine nationale Unabhängigkeit wie einen Augapfel hütet, und dem kontrastierenden Bild eines offenen, in den Welthandel, die Finanzmärkte und Wirtschaftsbeziehungen aller Art integrierten und deshalb äußerst abhängigen Wirtschaftsstandorts, der die Steuerkonkurrenz antreibt, Geschäftschancen und rentable Nischen nutzt und sich generell flexibel an neue Umweltbedingungen anpasst. Abbildung 3 und 4 zeigen ikonographische Repräsentationen dieser kontrastierenden Schweiz-Stereotype aus der Zeit vor und während dem Ersten Weltkrieg. Es ist interessant zu sehen, dass die dynamische Vorstellung der Schweiz sich auf Interaktionszusammenhänge konzentriert, in denen ein stabiles Privatrecht von entscheidender Bedeutung ist, während die statische Idee einer Insel-, Igel- und später auch Reduit-Schweiz den Sachverhalt ausblendet, wie instabil, wie wandelbar das öffentliche Recht im vergangenen Jahrhundert war. Pointiert lässt sich feststellen, dass die außengerichtete agile Adaptations-Schweiz sich auf vergleichsweise robustes und deshalb stabiles Recht abstützt, während die innenfixierte, eigensinnige Stabilitäts-Schweiz auf einer beweglichen, von starken Brüchen geprägten Rechtsstruktur ruht.

71 Siehe dazu: Quinn Slobodian, Globalists. The End of Empire and the Birth of Neoliberalism, Cambridge, MA/London 2018.

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Abb. 3 und 4: Europäische Eisenbahn-Helvetia 1902 versus Insel-Bundeshaus-Schweiz (Darstellung aus dem Ersten Weltkrieg)72 72

Vgl. ebd., S. 273.

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Paradoxerweise setzen sich prominente nationalistische Wagenburg-Anhänger fulminant für ein starkes internationales Privatrecht ein und mobilisieren gleichzeitig gegen das Feindbild „Völkerrecht“. Die Promotoren einer weltoffenen Schweiz betonen hingegen, dass sich in der säkularen „longue durée“ gerade das Völkerrecht als relativ stabiler Teil des öffentlichen Rechts erwiesen hat und dass „[d]ie Schweiz […] auf eine verlässliche Völkerrechtsordnung angewiesen“ ist, wie dies ein FDP-Politiker formuliert hat.73 Da die Schweiz sowohl in ihrem Selbstverständnis wie in ihren Außenbeziehungen die Dichotomie zwischen Offenheit und Abschließung immerzu unterläuft und rekonfiguriert, wird auch künftig auf Notrechtskonstrukte zurückgegriffen werden. Dass diese nun nicht mehr gegen oder neben der Verfassung existieren, ist zentral für die politische Kultur des 21. Jahrhunderts.

73

Andrea Caroni, FDP. Die Liberalen, 25. September 2013, in der Begründung des Postulats „Für ein klares Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht“, https://www.parla ment.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20133805. Vgl. auch: Oliver Diggelmann, Völkerrecht. Geschichte und Grundlagen mit Seitenblicken auf die Schweiz, Baden 2018.

Diskussion Thier: Lieber Jakob, ganz herzlichen Dank für diesen eindrucksvollen Vortrag. Der Jurist in mir fängt schon teilweise an, Dir sehr ausdrücklich zuzustimmen, teilweise auch ein bisschen einige Sachen anders zu sehen. Aber ich glaube, das ist nicht meine Aufgabe, ein Co-Referat zu halten. Das wäre, glaube ich, der typische Fehler des Moderators. Das Schweizer Beispiel, dazu möchte ich als Überleitung zur Diskussion etwas sagen. Wir haben uns etwas dabei gedacht, die Schweiz dazuzunehmen: Weil die Schweiz gerade nicht Teil im Krieg ist. Das Faszinierende ist, das hast Du sehr eindrücklich vorgeführt: die Schweiz ist ein Land, das nicht selber im Krieg, aber im Weltkrieg befangen ist. Man sieht hier, was für unglaubliche Fernwirkungen durch dieses kriegerische Umfeld entstehen. Ich fange jetzt an mit der Diskussion: Christoph Schönberger war zuerst, dann Herr Hillgruber, Herr Gosewinkel und Herr Brauneder. Schönberger: Vielen Dank, Herr Tanner, für den sehr anregenden Vortrag. Meine Frage wäre zunächst, ob Sie die Schweizer Entwicklung nicht zu sehr im Modus der Klage referiert haben, obwohl die beschriebenen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemeineuropäisch waren. Zumindest wäre jedenfalls die Frage, ob es hier in der Schweiz spezifisch autoritäre Tendenzen gab, die wir bei den europäischen Nachbarn so nicht finden. Ich bin mir beispielsweise nicht sicher, ob Ihr Eindruck stimmt, dass die Einschränkungen in der Schweiz weiter gingen als etwa in Frankreich. Ich habe den Eindruck, vereinfacht gesagt, dass wir doch damals in den meisten klassischen europäischen Demokratien die gleiche Tendenz hatten, nämlich sehr umfassende Vollmachtenregime mit starker Übertragung der Rechtsetzungsgewalt auf die Exekutive, die in der Regel in den jeweiligen Ländern nicht als rechtswidrig wahrgenommen wurden. Deswegen auch die Frage: War denn die Einschätzung, das alles sei offensichtlich rechtwidrig, damals in der Schweiz so einhellig? Juristen sind ja selten einhellig überzeugt davon, dass etwas offensichtlich rechtswidrig ist. Also gab es Gegenpositionen? Die andere Frage, die ich mir gestellt habe, ist die folgende: Ich finde, dass im Fall der Schweiz offenbar ganz unterschiedliche Sachprobleme zusammenkamen: Natürlich gab es ein besonderes Problem der Schweiz im Hinblick auf die dort sehr ausgebauten Volksrechte und deren Suspendierung. Das föderale Problem des Verhältnisses von Bund und Kantonen würden wir entsprechend auch in der deutschen Diskussion wiedererkennen. Das Problem der Stärkung der Exekutive gegenüber dem Parlament, in der Schweiz also Bundesrat versus Bundesversammlung, finden wir damals in allen europäischen Ländern. Ähnliches gilt für das Problem der Entwicklung zum Interventionsstaat und dessen Spannungsverhältnis zu älteren liberalen Gesellschaftsmodellen. Vielleicht wäre das spezifisch Schweizerische die Überlagerung dieser vier Problemlagen. Da wäre ich aus

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der Außenperspektive vorsichtig, gerade die Schweizer Entwicklung als besonders problematisch zu analysieren. Jedenfalls scheint mir die Schweiz damals nicht so sehr ein Sonderfall gewesen zu sein, wie es bei Ihnen erscheinen konnte. Tanner: Diese Reaktion ist jetzt tatsächlich spannend für mich, weil ich die Schweiz immer als Teil einer gemeineuropäischen Entwicklung sehe und natürlich einige Präferenz für Giacometti habe. Schönberger: Die kam schon durch. Tanner: Zur Schärfe und Tiefe des Eingriffs: Das hat Edgar Bonjour in seiner Geschichte der Neutralität festgehalten. Als 1962 der Meldebeschluss wegen der nachrichtenlosen Vermögen auf Schweizer Banken nötig wurde, hat Bonjour gleichzeitig von der Regierung den Auftrag erhalten, die Neutralität zu untersuchen. 1965 kam der Band zum Ersten Weltkrieg heraus und hier steht, dass die Schweiz staatsrechtlich weiter ging mit der notrechtlichen Konzentration der Entscheidungskompetenzen als England und Frankeich. In diesen beiden Ländern haben die Parlamente nach einem Einbruch bei Kriegsbeginn ihre Gesetzgebungsrechte stärker zurückgewonnen. Ich habe einige Erklärungen gebracht, wie man das erklären könnte. Jetzt gibt es in der Schweiz auch noch die Zusatzproblematik mit der direkten Demokratie. Auch während der Kriegsjahre finden einige Volksabstimmungen statt und es werden auch Volksinitiativen lanciert, aber die Volksrechte erfahren eine Einschränkung. Man kann nicht das Parlament ausschalten und gleichzeitig die Volksrechte weiter so kultivieren, so wie das in der Verfassung mit dem Referendum von 1874 und dem Initiativrecht von 1891 vorgesehen ist. Also haben wir eigentlich dauernd diese doppelte Auseinandersetzung da drin. Ich würde Ihre These, dass mit der Entwicklung von Interventionsstaaten, in denen die Administration und die Exekutive in einem spannenden Wechselverhältnis zu Gunsten des Parlaments an Macht gewinnen, völlig unterstützen. Aber das wäre dann ein anderer Vortrag. Es gibt noch den Punkt der Veränderung des Rechtsbewusstseins. Also wann beginnt das eigentlich, dass der Eindruck entsteht in der Rechtswissenschaft, die vielen Rechtsnormen werden einfach nur noch so ausgelegt, wie es sich gerade machen lässt. Das sind nicht die Historiker, sondern die Juristen … Schönberger: Darf ich einen Satz noch sagen. Also die Klage, es gäbe zu viele Normen, ist uralt. Und ich kenne sie aus der neueren rechtswissenschaftlichen Literatur schon ubiquitär. Also die Tatsache, dass die Leute sich beklagen, es gäbe zu viele Normen, sie würden willkürlich ausgelegt, sie würden den Mächtigen ausgeliefert, ist so alt wie das Recht selbst. Tanner: Das ist eine klassische Rechtfertigung. Im Sommer 1914 wird das Vollmachtregime mit der These eingeführt, dass sich in einem Krieg das Legalitätsproblem anders stellt als sonst. Da habe ich schon den Unterschied markiert zwischen Verfassungsstaat und einer verfassungswidrigen Praxis. Giacometti hat diesen Diskurs in der Zwischenkriegszeit dominiert und ich habe das ausgezählt, wie häufig er das Argument der Verfassungswidrigkeit verwendet. Und das kommt in einer Häufung vor, dass man sagen muss, das ist nicht irgendeine Nebenformulierung, sondern

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das ist eine seiner zentralen Thesen. Trotzdem steht Giacometti dann im Zweiten Weltkrieg politisch hinter dem Vollmachtenregime. Er sagt, unter politischen Gesichtspunkten müssen wir das jetzt machen. Als Staatsrechtler hält er aber fest, dass da ein Problem ist. Er konstatiert eine unechte Lücke in der Verfassung und meint damit, dass die Verfassungsgeber das nicht vorwegnehmen konnten und jetzt muss man eben diese Lücke füllen mit einem extrakonstitutionellen Notstandsartikel. Das war etwas anderes als die UBS-Rettung vom Herbst 2008. Damals stützte sich die Regierung auf zwei Verfassungsartikel, 184 und 185. Sie behandelte systemische Finanzrisiken wie Seuchen, Naturkatastrophen und Kriege. Es wurde gesagt, der Bankrott dieser größten Bank der Schweiz hätte Auswirkungen, die vergleichbar sind mit einer großen Naturkatastrophe, mit einer großen Pandemie. Und da muss jetzt einfach ein Weg gewählt werden, der die zuständigen Instanzen umgeht. Und das hat funktioniert. Das war sachlich eine Superlösung. Am Schluss haben Bund und Nationalbank noch Geld verdient damit. Aber im Moment des Entscheidens standen da 66 Milliarden Schweizer Franken ungeschützt im Raum. Also 60 Mrd. von der Schweizer Nationalbank und 6 Mrd. Wandel-Anleihen vom Bund. Das Risiko war enorm, die Sache lief aber rund und so gab es einen Gewinn. Thier: Ich habe auf der Liste, damit ich sicher bin, dass ich alle wiederfinde, die sich gemeldet haben, als nächsten Herrn Hillgruber, Herrn Gosewinkel, Herrn Brauneder, Frau Manca, Herrn Kronenbitter, Herrn Asch, Herrn Arlinghaus, Herrn Oestmann. Habe ich irgendjemanden vergessen? Dann nehme ich noch auf die Liste Herrn Steiger. Vorsichtig setze ich mich selber auf die Liste, mit dem Vorbehalt mich sogleich wieder zu streichen. Herr Hillgruber, bitte schön. Hillgruber: Herr Tanner, ich finde, zunächst ist der Schweizer Fall dieses Vollmachtregimes von 1914 für mich nur ein schlagendes Beispiel für die Argumentation von Giacometti. Man kann den Notstand nicht ausblenden, und wenn man ihn doch ausblendet, dann landet man eben im Notrecht, das mobilisiert wird. Und dieses Notrecht ist dann notwendig plein pouvoir. Es gibt also nur eine Lösung, da würde ich Giacometti Recht geben, den Notstand zu regeln. Der Notstand bleibt ja nicht aus, wenn ich ihn nicht regle, also muss ich ihn regeln. Das ist die einzige Möglichkeit ihn noch irgendwie rechtsstaatlich einzufangen und an Voraussetzungen zu knüpfen. So wie etwa jetzt in Art. 165 der aktuell geltenden Schweizer Bundesverfassung im Fall der Gesetzgebung bei Dringlichkeit, die auch in der Dauer begrenzt ist. Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt, aber da habe ich schon Zweifel, betrifft die Auswirkungen des von Ihnen sehr dramatisch geschilderten Vollmachtregimes. In der Tat gibt es viele Vollmachten, auf deren Basis unzählige Erlasse erfolgt sind. Aber wenn man sich die Kurve vergegenwärtigt, die Sie uns gezeigt haben, ist doch zu konstatieren, dass die allergrößte Zahl dieser Erlasse bis 1919 wieder zurückgenommen wurden. Gut, es bleiben Restbestände, deren Abbau im Wesentlichen, wenn ich es richtig gesehen habe, bis Mitte der 20er Jahre erledigt ist. Und dann gibt es einzelne Fälle, die sich länger hinziehen. Aber man kann doch grosso modo konstatieren, dass man zwar nicht sofort, aber doch in einem vertretbaren zeitlichen Rahmen zum Normalregime zurückgekehrt ist. Das würde sich jedenfalls für mich aus den Zahlen er-

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geben. Deshalb muss doch neben dem Quantitativen noch etwas Qualitatives hinzukommen. Wenn Sie das so dramatisch schildern, würde ich gerne wissen, was ist denn der Inhalt auch nur einiger dieser Erlasse jenseits der Sicherstellung der Lebensmittelsicherheit, jenseits militärischer Vorbereitungen auf eine potentielle Bedrohung der Neutralität gewesen. Das Genannte hielte ich für völlig unbedenklich. Gab es Möglichkeiten, Menschen zu internieren, ohne dass sie sich an einen Richter wenden konnten, um ihre sofortige Freilassung zu erreichen? Gab es tiefgreifende Eingriffe in Grundrechte? Sind Wohnungsdurchsuchungen ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl erfolgt? Ohne dass der rein quantitative Befund qualitativ substantiell angereichert wird, kann ich allein aus der Vielzahl der Erlasse noch kein bedenkliches autoritäres oder gar totalitäres Regime oder auch nur ein Abdriften in diese Richtung konstatieren. Können Sie in dieser Hinsicht vielleicht noch etwas ergänzen? Und ein Drittes: Sie haben es zu einem Widerspruch erklärt, einerseits die Souveränität der Schweiz so stark zu betonen und andererseits für den Freihandel einzutreten. Aber kann man wirklich nicht für den Freihandel, für die freie Marktwirtschaft und gleichzeitig für den souveränen Nationalstaat sein, der die Eigenständigkeit betont und Grenzen sichert? Wieso soll das einen Widerspruch darstellen. Man kann über beide Positionen diskutieren. Man muss nicht für die liberale Marktwirtschaft sein, man muss auch nicht für den souveränen Nationalstaat sein. Aber dass das notwendig ein Widerspruch sein soll, vermag ich nicht zu sehen und anzuerkennen. Tanner: Das ist ein Problem, das Sie ansprechen. Natürlich kann man Notrecht materiell, vom Ergebnis her betrachten und einfach fragen, ob die Regierung etwas Gutes daraus gemacht hat oder nicht. Wir nähern uns dann dem benevolenten Diktator, der seine Machtfülle gut nützt im Interesse des Volkes. Die Schweizer Staatsrechtler dachten vom andern Pol her. Die sagten, wenn das rechtlich falsch ist, ist das falsch, unabhängig vom Inhalt. Wenn Giacometti schreibt, das sei eine kommissarische Diktatur der Bundesbehörden, das sei eine Tendenz zum Totalitären, so kümmert er sich überhaupt nicht darum, wie die Regierung ihre Kompetenzen nutzt, sondern ihn interessiert der Einbruch, die Aushebelung, die Verdrängung der Verfassung. Das genügte ihm. Die historische Forschung fragt hingegen auch nach den Inhalten. So entsteht im Ersten Weltkrieg eine Fremdenpolizei. Das gibt es vor 1917 nicht. Diese neue Behörde erstellt Listen, Listen, Listen. Die wollen wissen, wer bewegt sich da auf dem nationalen Territorium. Da haben wir die Foyer turc am Genfer See, politische Aktivisten aus Indien und Ägypten und anderswo, die auch Zeitungen herausbringen. Die Schweiz ist ein richtiger Hotspot für Propaganda und Geheimdiplomatie. 1919 kommt es zu „Bombenprozessen“. Die Polizei hat in der Limmat Waffenarsenale gefunden und ist daraufgekommen, dass eine bakteriologische Kriegsführung gegen die Kavallerie der italienischen Armee von der Schweiz aus geplant war. In einem Bundesratsbericht ist wörtlich von der terroristischen Abteilung des deutschen Generalstabs die Rede. Man kann Anarchisten und Agent Provocateurs gar nicht mehr unterscheiden. Nichtsdestotrotz werden durch die neuen fremdenpolizeilichen Maßnahmen und Listenerstellungspraktiken auch Grundrechte verletzt.

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Hillgruber: Darf ich ganz kurz intervenieren? Die Feststellung, welche Ausländer sich im Land aufhalten, mag ein Grundrechtseingriff sein. Eine Grundrechtsverletzung ist das wohl kaum. Tanner: Nein, ich will nur sagen, wenn der Bundesrat solche notrechtlichen Erlasse in Kraft setzt, dann entsteht ein neues Politikfeld, in dem Grundrechte nicht mehr gesichert sind. Im Zweiten Weltkrieg wurde das in der Flüchtlingspolitik des Bundes, die wiederum auf einem Vollmachtenregime basierte, besonders deutlich. Vor zwei Wochen war ich in Paris an einer Konferenz des Mémorial de la Shoah, es wurde heftig gestritten über das Ausmaß der Zurückweisungen an der Schweizer Grenze. Damit verbunden sind immer auch grundrechtliche Fragen. In anderen Bereichen wie bei der Steuerpolitik hat man im Zweiten Weltkrieg noch stärker auf die Vollmachten zurückgegriffen als nach 1914. Es wurden eine Warenumsatzsteuer und eine indirekte Bundessteuer eingeführt. Man hat es aber nicht geschafft, das Steuersystem fest in der Verfassung zu verankern, so dass die Schweiz „le provisoire qui dure“ ist, das immer noch keine definitive Bundesfinanzordnung hat. Noch zur letzten Frage: Ich würde gar nicht behaupten, dass internationaler Marktzugang und Nationalstaatlichkeit ein Gegensatz ist. Die Schweiz hat immer beides kombiniert. Doch seit einiger Zeit gibt es mehr Spannungen. Demnächst steht eine Volksinitiative zur Abstimmung, die „Landesrecht vor Völkerrecht“ fordert. Mir fällt auf, dass die Leute, die diese Initiative mit einer Spitze gegen die europäische Menschenrechtskonvention propagieren, gleichzeitig extrem engagiert sind für die Stärkung des internationalen Privatrechts. Thier: Und im internationalen Wirtschaftsrecht. Tanner: Im Wirtschaftsrecht, da weißt Du mehr als ich. Ich habe auch gesagt, das ist eine provokante These. Man macht die nationale Wagenburg, aber gleichzeitig ist man wirtschaftlich in China präsenter denn je. Diese Idee, man könnte eine Weltmarktschweiz auf der Basis eines im Fremdenrecht chauvinistischen Nationalismus aufbauen, kann durchaus funktionieren, das passt leider sehr gut zusammen. Gosewinkel: Zunächst Jakob, ganz herzlichen Dank, das war ganz faszinierend auch in der Zuspitzung der These. Dass Giacometti als Kronzeuge für die Kritik am Schweizer Ausnahmezustand berufen wird, ist die eine Frage. Aber ob Giacometti zentral war im Hinblick auf die gesamte Schweizerische Staatslehre ist die andere Frage. Aber ich wollte auf etwas anderes hinaus. Christoph Schönberger hat eben den vergleichenden Aspekt stark gemacht. Und Du hast gesagt, der Ausnahmezustand im Ersten und Zweiten Weltkrieg, vor allem auch im Ersten Weltkrieg, sei einschneidend, die Abkehr von verfassungsstaatlichen Prinzipien stärker gewesen als in Frankreich und Großbritannien. Unterstellt mal, das stimmt, dann ist die Schweiz ein sehr gutes Beispiel, um zu untersuchen, dass auch ein traditionsreicher Verfassungsstaat, die eidgenössische Ordnung, eine föderativ-republikanische Ordnung, ganz sensibel und empfindlich ist für die Außerkraftsetzung verfassungsstaatlicher Prinzipien. Insofern ist das ein sehr guter Untersuchungsfall. Aber ich frage mich, ob das auch für den Zweiten Weltkrieg gilt. Wenn es stimmt, dass die Schweiz be-

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sonders sensibel in Bezug auf Restriktionen reagiert hat, so fragt sich, was das für den Zweiten Weltkrieg heißt, denn ist die Schweiz nicht ein ziemlich lernendes System? Mir scheint, dass die drei Kontrollmechanismen im Zweiten Weltkrieg möglicherweise unter dem Einfluss einer kritischen Staatsrechtslehre oder anderen Einflüssen, die ich nicht kenne, eingeführt worden sind. Mir scheint, es hat sich etwas verändert. Kann man dann die These aufrechterhalten, dass Erster und Zweiter Weltkrieg eine Linie ergeben? Mir scheint dies nicht der Fall. Das wäre die erste Bemerkung. Die zweite betrifft das angeblich instabile Privatrecht und das so fasernde und fragmentarische öffentliche Recht. Also ich wünschte mir eine so glänzend quantifizierende Studie wie jene von Oliver Schneider über das deutsche Recht im Ersten Weltkrieg. Das kenne ich nicht. Aber wer versucht hat, so etwas zu systematisieren, ist Ernst Rudolf Huber. Er hat mit dem von ihm geprägten Begriff des Wirtschaftsverwaltungsrechts etwas auf den Punkt gebracht, was, glaube ich, für den Interventionsstaat seit dem Ersten Weltkrieg insgesamt gilt, nämlich die Vermischung von öffentlichem und privatem Recht, die Verwischung der Grenzen. Man würde vielleicht sagen, aus privatrechtlicher Sicht, das ist jetzt gleich, eine Intervention des öffentlichen Rechts in genuin privatrechtliche, insbesondere eigentumsrechtliche Gebiete. Und das ist das eigentliche Signum dieser Zeit. Jedenfalls nach meiner Lesart. Müsste man nicht auch für die Schweiz sagen, dass die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Recht vom Interventionsstaat bestimmt wird, dessen Instrumentarium vom Ersten Weltkrieg bis weit in die 70er Jahre genutzt wird? Da macht die Schweiz keine Ausnahme, und insofern kann man auch nicht von einem stabilen Privatrecht reden. Sondern hier versuchen die Verteidiger des Eigentumsrechts gegenüber den Öffentlichrechtlern zu sagen, das Eigentum ist nicht mehr kalkulierbar, staatssozialistische Erwägungen legen sich darüber. Alles bei Huber wunderbar gezeigt. Letzter Punkt: Hat das Ganze, hat dieses Ausnahmeregime, nicht doch eine tendenziell zentralisierende Wirkung gegenüber föderativen Staatsgedanken in der Schweiz? Kommt nicht ein Teil des Widerstands gegen dieses Ausnahmeregime auch von föderativer Seite? Du hast es kurz angedeutet. Tanner: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg, obwohl man diese beiden Kriege sehr klar auseinanderhalten muss, was Verursachung, Verlauf und Veränderungen betrifft. Wenn ich einfach auf das Rechtsinstitut des Vollmachtenregimes blicke, stelle ich fest, es passiert in der Schweiz zweimal etwas sehr Ähnliches. Nach 1939 gibt es allerdings gewisse Kontrollmechanismen, die man als Lernprozess beschreiben könnte. Das erklärt zum Teil die völlig andere Funktion der beiden Vollmachtregimes. Im Ersten Weltkrieg war dieses ein Katalysator der innenpolitischen Konfrontation, im Zweiten Weltkrieg hingegen ein Treiber der nationalen Integration. Kein Wunder, wollten die großen Parteien und Verbände am Schluss des Krieges das Notrecht nicht mehr so ohne Weiteres aus der Hand geben. Da würde ich auch eine Brücke schlagen zur Referendumsdemokratie. Abstimmungskämpfe haben eine polarisierende Wirkung. Da müssen die Spitzen, die politische Lösungen aushandeln, immer Rücksicht nehmen auf die Verbands- oder Parteibasis, die in der öffentlichen Auseinandersetzung aktiv wird. Gibt es keine Ple-

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biszite mehr, so nimmt die Kompromissneigung zu. Das treibt die Konkordanz voran. Was den Unterschied und die Vermischung zwischen privatem und öffentlichem Recht betrifft, da muss ich vorausschicken, dass ich als Historiker das private Recht nicht überblicke, da habe ich mich nicht darauf spezialisiert. Ich kann aber etwas sagen zu Fällen, bei denen die Differenz ausgehandelt wird. In der Schweiz haben Akteure meist eine klare Vorstellung davon, dass es ein öffentliches Recht gibt, das sich zunehmend auswirkt auf die privatrechtlichen Belange. Die ganze Restitutionsgesetzgebung der Jahre nach 1945 wird als eine permanente Bedrohung des Privatrechts durch den Staat gesehen. Das ist damals auch antisemitisch unterlegt. Man sagt, die Juden, die nach Bankkonten von Opfern des Holocaust forschen, wollen einen Fischzug machen auf schweizerische Vermögenswerte, da könnte man viel zitieren. Die Schweiz liegt durchaus im Trend, denn auch bei der Londoner Schuldenkonferenz von 1952 werden Vorkriegsschulden privilegiert gegenüber Wiedergutmachungen für Opfer des Krieges und der nationalsozialistischen Verfolgung. Die privatrechtliche Kontinuität ist also sehr stark. Schon bei den Washingtoner Verhandlungen von 1946 hat die Schweiz auf Zeit gespielt. Zwar werden die deutschen Guthaben in der Schweiz erfasst, doch sie werden einbehalten und nach 1952 an die deutschen Gläubiger zurückbezahlt. Um eine Personenidentifikation zu umgehen, wird die Quellensteuer erfunden. So kann die Schweiz dann den deutschen Kontoinhabern das Angebot machen, wenn wir als Schweizer Bank 30 % Steuern abziehen für den deutschen Staat, so wird das ganze Geld, das nach der Währungsreform in Westdeutschland sehr viel wert war, anonym überwiesen. Die USA erhielten zwar 100 Mio. Franken als Abfindung, aber das war ein kleiner Bruchteil der Gesamtsumme dieser Vermögen. Thier: Vielleicht darf ich zur Ergänzung noch ein paar Punkte sagen zum Privatrecht auch jenseits des Restitutionsrechts: In Teilen wäre ich bei Dir was die relative Stabilität des Privatrechts betrifft, auch jenseits des Restitutionsrechts. Das kann man in zwei Bereichen deutlich sehen. Ein Teil ist der Bereich, den wir als Finanzmarktrecht bezeichnen würden. Was man sieht in der Schweiz, ist, wenn man das mit anderen Staaten vergleicht, z. B. mit der deutschen Tradition, dass es bis heute im Schweizer Finanzmarkt-, im Börsenrecht, eine relativ starke Tradition der Selbstregulierung gibt, die sehr ausgeprägt ist, bis in die Gegenwart hinein mit dem Finanzmarktinfrastrukturgesetz. Es gibt Ansätze in den 30er Jahren. Es kommt zur Bankenkrise, es crashen Banken, erst dann wohlgemerkt gibt es ein eidgenössisches Bankengesetz, Ansätze einer Bankenaufsicht, die lange Zeit zahnlos bleibt und das ändert sich erst relativ spät, und auch das jüngste Finanzmarktinfrastrukturgesetz, das das jetzt stärker machen soll, wäre nicht ergangen ohne die Erfahrung von 2008, und der Bundesrat hat betont in der sogenannten Botschaft zu den Gesetzesmaterialien zum Finanzmarktinfrastrukturgesetz, ja, wir machen das aus den Erfahrungen der Krise heraus, und trotzdem stehen wir weiter zum Prinzip der regulierten Selbstregulierung. Das ist eine andere Tendenz, die wir streckenweise in den Vereinigten Staaten haben oder erst recht in Deutschland. Erster Referenzbereich. Zweiter Referenzbereich ist der Verbraucherschutz – der in Deutschland, das wissen wir ja, über

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das Abzahlungsgesetz teilweise über eine knackige Rechtsprechung, relativ stark ist. Der mündet dann in den 70er Jahren in das AGB-Gesetz und wird schließlich reingeholt in die Kodifikation, in das BGB. Wir haben lange Zeit die Situation in der Schweiz, dass die Kontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen im Wesentlichen erfolgt qua Richterrecht. Wir haben die Situation, dass es eine Art AGB-Schutz gibt im Rahmen des Lauterkeitsrechts, im Rahmen des Art. 8 UWG. Ein eigenes Recht über die Vertragsbedingungen gibt es nicht. Das ist aus dem allgemeinen Privatrecht heraus entwickelt worden und dann ein bisschen versteckt worden, im allgemeinen Lauterkeitsrecht, also im wettbewerbsrechtlichen Teil, das ließe sich jetzt nachlesen. Es gibt auch harte Verbraucherschutznormen, die wir auch aus dem europäischen Privatrecht kennen, also beim Konsumentenschutzrecht, Verbraucherschutzrecht. Aber das passiert trotzdem relativ langsam. Freunde von mir würden sagen, mit helvetischer Verzögerung. Ich meine das nicht abwertend, aber das ist ein geflügeltes Wort, wenn ich das so gebrauchen darf. In dem Punkt wäre ich sehr bei Jakob Tanner. Ich habe Herrn Brauneder als Nächsten auf der Liste. Brauneder: Vielen Dank. Mich würde interessieren wie und wieso man im Verfassungsrecht immer mit der privatrechtlichen Vollmacht operiert. Um eine Lücke zu schließen. Man kann auch sagen, das ist so allgemeines Rechtsdenken. Schönberger: Ermächtigungen heißt das, das sind ja Ermächtigungsgesetze. Brauneder: Zum Privatrecht, das ist schon sehr flexibel, gerade um den Ersten Weltkrieg herum. Das Reichsgericht ist inspiriert von der freien Rechtsschule, um zu sagen: Mark ist nicht Mark. Das will ich jetzt nicht ausführen. Oder ein älteres Beispiel: Man kann doch wohl sagen, das Privatrecht ist doch immer vom öffentlichen eingeengt, begrenzt. Im noch immer geltenden Bürgerlichen Gesetzbuch bei uns aus dem Jahr 1811 gibt es eine Fülle von Regelungen, wo es heißt, das Nähere regeln die politischen Gesetze, und das ist im Prinzip Verwaltungsrecht. Dazu noch im Sinne von Herrn Schönberger: Die Parallele zu Österreich Cisleithanien. Ich finde das ganz auffallend. Zumindest mir kommt es so vor. 1914 bekommt die Regierung ein neues Notverordnungsrecht, wonach die Regierung gesetzesvertretende Verordnungen erlassen kann, bedingt durch den Krieg für wirtschaftliche Maßnahmen. Eingeschränkt. 1917 wird das Parlament einberufen und aus dieser Notverordnung ein Gesetz. Die zweite Parallele, die Sie erwähnt haben. Die Wirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg wird nicht so sein wie vor dem Krieg. Ich glaube, 1917 gibt es bei uns vom Handelsministerium zwei lange Gutachten genau zu dieser Frage, die Wirtschaft wird nach Kriegsbeendigung nicht sein können wie vor dem Krieg. Und das Dritte: Dieses autoritäre Regime im Anschluss an die Wirtschaftskrise – etwa zu dieser Zeit schlittert Österreich 1933/34 in seine autoritäre Phase hinein! Wie haben Sie das formuliert? Ich würde sagen, europäischer Zeitgeist, oder einfach Bedingungen, die sich in der Politik stellen und die je nach Verfassungslage mit anderen Mitteln, vielleicht mit nicht immer ganz verfassungskonformen hier und da gemeistert werden. Tanner: Ich habe im Vortrag immer auch die Schweizer Spezifika herausgehoben, gleichzeitig aber betont, dass sich die Schweiz im öffentlichen Recht in diese trans-

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nationalen Megatrends einfügt und viel europäischer ist, als sie sich das einbildet. Mir geht es nicht darum, eine Schweizer Sonderfallthese zu begründen. Ich finde es fast paradox, dass ich das hier sagen muss. In der Schweiz werde ich immer dafür kritisiert, dass ich den Sonderfall zerpflücke und wenn ich dann vor einer Rechtshistorikerkonferenz rede, entsteht der gegenteilige Eindruck. Das nehme ich sehr ernst, weil es offenbar so hinüberkam. Wenn man die Entwicklung des Privatrechts fallbezogen untersucht, so ergibt sich ein widersprüchliches Bild. Man sieht einerseits, dass tatsächlich eine erstaunliche Kontinuität da ist, andererseits lässt sich auch eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit konstatieren. Diese Asymmetrie führt von der Diskussion des Vollmachtregimes weg und stärkt das Sensorium für eine vergleichende Sicht auf die Rechtsentwicklung. Thier: Vielen herzlichen Dank. Ich erlaube mir den Hinweis, wir haben jetzt noch 6 Personen auf der Liste. Ich hätte vorgeschlagen, wir bündeln immer zwei Meldungen. Manca: Ich hätte auch einige Überlegungen und etliche damit zusammenhängende Fragen. Ich schicke voraus, dass ich ganz einverstanden mit dem bin, was Herr Schönberger gesagt hat, und zwar, dass fast alle damaligen konstitutionellen Monarchien – so wenigstens Italien, Österreich, England sogar – einfach das Parlament geschlossen und die Vollmachten an die Regierung übermittelt haben. Ich frage mich aber jetzt, wie ist von der Geschichtsschreibung die Tatsache interpretiert worden, dass hier, in der Schweiz, diese Vollmachten dem Bundesrat und nicht der Regierung übergeben wurden. Kann das vielleicht als ein Indiz dafür gelten, dass die Schweiz damals einem parlamentarischen System, wenn auch von ganz besonderer Art, ähnelte? Es ist meines Erachtens nämlich die Lage eines Staates ganz anders zu beurteilen, wenn eine Regierung wegen eines kriegerischen Notstandes innerhalb eines parlamentarischen Systems die Vollmachten bekommt, als wenn hingegen das Parlament von einer Regierung, die vom König oder vom Kaiser gestellt worden ist, wie es in einer konstitutionellen Monarchie üblich ist, geschlossen und nach Hause geschickt wird. Und nun noch eine Überlegung: Aus Ihrem Referat habe ich den Eindruck bekommen, dass Sie vorschlagen, die ganze Zeit von 1914 bis 1945 mit einem ununterbrochenen kontinuierlichen roten Faden zusammenzubinden und zu untersuchen. War das wirklich so? Wann wurde z. B. die Bundesversammlung wieder versammelt? Wurde dieses System von Vollmachten ab 1918, als das Proporzsystem durch eine Volksinitiative eingeführt wurde, nicht eingestellt? Kronenbitter: Ganz herzlichen Dank. Ich habe eine Bemerkung und dann noch eine Frage. Die Bemerkung schließt an etwas an, das ich vorhin in Ihrem Vortrag und aus einer Antwort herausgehört habe. Beim vergleichenden Blicke auf die Justierung von parlamentarischen Rechten bei der Normengestaltung während des Ersten Weltkriegs in Frankreich, England und Schweiz war die Eidgenossenschaft, wenn ich es richtig verstanden habe, massiv betroffen, vielleicht sogar quantitativ massiver als die beiden anderen Staaten. Ich würde allerdings zu bedenken geben, dass es

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schon einen Unterschied macht, ob die Exekutive dann auch ein kriegführendes Militär beinhaltet, das noch in ganz anderer Weise über Material, Lebenschancen, Geld verfügt. Da würde ich sagen, mit der quantitativen Betrachtung dieser Anpassungen kommt man nur ein Stück weit, obwohl es völlig überzeugend ist, dass Sie aufgezeigt haben, wieviel von europäischen Tendenzen aufgenommen wurde. Das Zweite zur Links-Rechts-Problematik, die Sie uns in Ihrer Schlussfolie nochmals vor Augen gestellt haben. Wo sich, wie es scheint, weder die Rechten noch die Linken darüber im Klaren sind, worauf ihre Konzeptionen der Schweiz beruhen. Das bringt mich zu meiner Frage: Vor dem Ersten Weltkrieg sind in einigen europäischen Staaten Vorkehrungen getroffen worden für die Gesetzgebung im Kriegsfall. Da gab es Kriegsleistungsgesetze. Als in Österreich so etwas debattiert wurde, kam von der sozialdemokratischen Seite die spitze Bemerkung, das ist ja wunderbar, was ihr da macht. Wenn es reicht, dass man einen Obersten irgendwo hinschickt und der kann dann das Kommando über einen Konzern übernehmen, dann ist das für die Revolution eine gute Voraussetzung. Man braucht nur noch das Personal an der Spitze auszutauschen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist im Ersten Weltkrieg in der Schweiz dieses Vorgehen von der Arbeiterbewegung nur als belastend empfunden worden und nicht auch als Chance in der longue durée. Oder gab es auch auf der Seite der Linken im Ersten Weltkrieg in der Schweiz einige, die gesagt haben, eigentlich ist das ganz gut, was sich hier abzeichnet, wir haben jetzt diese Interventionsmöglichkeiten und der Geist wird nicht wieder so schnell in die Flasche gesteckt? Tanner: Es gab eine Diskussion über Entwicklungsperspektiven des Kapitalismus, es kam zu Generalstreiks, 1902 in Genf, 1912 in Zürich. Man hat Konzentrationstendenzen am Werk gesehen und einige haben im klassischen deutschen Sinne an ein Generalkartell geglaubt, das die Sozialdemokraten übernehmen könnten, nachdem es durch den Kapitalismus selbst generiert worden sei. Dass man in einem organisierten Kapitalismus drinsteckt und dass diese gewerkschaftliche Organisation und der Aufstieg linker Parteien die Zukunft darstellen, das war in der Arbeiterbewegung präsent. Auch, dass der Krieg die Durchsetzung einer Wirtschaftsplanungsmethodik beschleunigten könnte. Also eine Hoffnung auf eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft, das war schon in den Köpfen vorhanden. Umso mehr war die schweizerische Sozialdemokratie erzürnt, dass sie institutionell draußen gehalten wurden. Dies im Unterschied zu Schweden, wo aufgrund innerer Spannungen 1917 eine Koalitionsregierung zustande kam. Es gab dann zwar auch einen schwedischen Generalstreik, der immerhin eine Verfassungsreform zustande brachte. In der Schweiz traten in den Generalstreiktagen um die 250.000 Arbeiter in den Ausstand. Als der Bundesrat die Streikleitung mit einem Ultimatum konfrontierte, brach die ganze Streikfront zusammen. Aber es kam zu einem Reformschub. Da ist etwas passiert. Es ist sehr wichtig auseinanderzuhalten, ob ein Land militärisch in den Krieg involviert ist oder nicht. Das macht einen Riesenunterschied. Wenn die These vertreten wird, die Schweiz sei einfach kriegsführend gewesen, so greift das zu kurz. Propaganda, Nachrichtendienst, alle diese Sachen, die so wichtig sind in einem totalen Krieg, da ist die Schweiz voll dabei gewesen, aber ihre Armee

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hat nicht gekämpft. Die wirtschaftlichen Auswirkungen hingegen waren vergleichbar, die Inflation ist lange Zeit ähnlich wie in Deutschland verlaufen. Diese Preissteigerungsraten waren auf Folge einer Ressourcenanspannung über die Exporte. Man hatte bei der Munitionskrise, die schon im Herbst ’14 eintrat, zu liefern begonnen was das Zeug hielt. Es gab eine glänzende Kriegskonjunktur. Ich habe darauf hingewiesen, dass die soziale Lage schlecht war. Das wirkte sich auf die Wahrnehmungskategorien aus, und diese haben sich sehr eingeschliffen. Da gab es Leute, die profitieren vom Krieg und da haben wir andere, die werden von Kriegslieferanten ausgebeutet. Die Arbeiterbewegung fühlte sich ausgeschlossen, sie kämpfte dafür, sich wieder ins politische Spiel reinzubringen. Vergleichend lässt sich sagen, dass die Schweiz gerade deswegen zur Propagandaplattform wurde, weil sie neutral, das heißt militärisch nicht kriegsführend war. Kriegsführende Länder konnten solche Dienste nicht anbieten. In einer neuen Dissertation mit dem Titel „Le shrapnel du mensonge“ (Schrapnell der Lüge) wird gezeigt, was da in der Schweiz abging. Auch als Informationsdrehscheibe war sie voll in den Krieg integriert, wirtschaftlich auch. – Nochmal zu Ihrer Frage. Das Parlament wurde natürlich nicht geschlossen, sondern es hat während des ganzen Krieges regelmäßig getagt und weiter Diskussionen geführt. Die Verfassung wurde auch nicht suspendiert. Sie blieb in Kraft, wurde aber zunehmend verdrängt, weil es daneben eine neue Quelle der Rechtssetzung gab, nämlich die mit weitreichenden Vollmachten ausgestattete Regierung, die zuerst ohne Rechenschaftsberichte ihre Kompetenzen ausbaute, indem sie hunderte, zu guter Letzt um die 1.600 Erlasse generierte, die dann noch multipliziert wurden in den Kantonen, wo die Übersicht vollends verloren ging. Es handelte sich um eine Verdrängung der Verfassung durch einen Rechtsetzungsprozess, der durch die Verfassung nicht abgestützt wurde und von daher verfassungswidrig war. Das lief also anders wie in England und Frankreich. Obwohl diese beiden Länder im Krieg waren und alle Mittel mobilisierten für den Fronteinsatz, hatten hier die Parlamente am Schluss doch mehr zu sagen als in der Schweiz, die kein Sonderfall war, aber eine Extremvariante eines allgemeinen Trends. Thier: Weil der Bundesrat eben das Recht erhielt, gesetzesvertretende Verordnungen zu erlassen. Also damit parlamentarische Gesetzgebungsbefugnisse einzunehmen. Tanner: Und noch eine Überlegung: War die Schweiz eine parlamentarische Demokratie? Ich würde sie als halbdirekte Demokratie beschreiben. Bei der Einführung der Volksinitiative im ausgehenden 19. Jahrhundert hatten die führenden Freisinnigen Angst, es könnte zu hyperdemokratischen Kurzschlüssen zwischen dem Volk und demagogischen Führern kommen. Bei der ersten Volksinitiative gab es solche Anzeichen. Das war die Schächtverbotsinitiative, für die mit einer antisemitischen Kampagne geworben und die an der Urne angenommen wurde. Da musste man überlegen, ja was bedeutet das jetzt, das direkte demokratische Volksrecht. Aber dann haben die Verbände die direkte Demokratie für sich zu nutzen begonnen. Wer referendumsfähig war, konnte massiv auf die Kompromissbildung, auch im Parlament, in vorparlamentarischen Kommissionen, in den Vernehmlassungsverfahren, die dem

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parlamentarischen Prozess vorgeschaltet waren, Einfluss nehmen. Und es war klar, dass Resultate von Volksabstimmungen nicht den Initianten gehören. Es waren nicht sie, die diktieren konnten, wie der neue Verfassungstext ausgelegt wird, sondern das wurde im Parlament aushandelt und durch die parlamentarische Gesetzgebung implementiert. Da gab es in der Schweiz sehr kreative Lösungen, zum Beispiel bei der sogenannten „Masseneinwanderungsinitiative“, die im Februar 2014 überraschend angenommen wurde. Das Parlament machte daraus fast einen Null-Beschluss, so dass die Initianten von Verfassungsbruch sprachen. Andere Juristen sagten, dass diese Umsetzung an der Schmerzgrenze, aber gerade noch vertretbar sei. Das ist eine typische halbdirekte Demokratie, in der das Parlament nicht dauernd ausgehebelt wird durch Volksrechte, sondern mit diesen kooperiert. Volksrechte führen dann nicht zu einer Kritik am Parlamentarismus, sondern beeinflussen und korrigieren diesen. Asch: Drei kurze Punkte: Ist es nicht vielleicht ein Charakteristikum selbstbewusster und stabiler Demokratien oder parlamentarischer Systeme, dass sie in Kriegszeiten viele Regeln außer Kraft setzen und trotzdem kein Übergang zu einer dauerhaften Diktatur erfolgt? Man könnte ja auch auf England im Ersten und Zweiten Weltkrieg blicken, da gibt es keine gesicherte Verfassung, da gibt es kein Verfassungsgericht, vage Grundrechte, es gibt die königliche Prärogative, da geschieht sehr Vieles. Trotzdem ist das nicht das Ende der parlamentarischen Monarchie, allerdings mit dunklen Nebenwirkungen in Irland zwischen 1916 und 1922 oder in Ulster in den 70er und 80er Jahren, wo ja auch ein Ausnahmeregime im Kampf gegen die IRA bestand. Ein zweiter Punkt: Etwas, was bei Ihnen nur am Rande anklang im Kontext der Amtszeit von General Wille. Es muss ja enorme Spannungen gegeben haben im Ersten Weltkrieg zwischen Deutschschweizern und Welschschweizern, wie man erzählt. Es haben sogar einmal Deutschschweizer auf Welschschweizer geschossen, weil die Sympathien so unterschiedlich waren. Die Welschschweizer auf der französischen Seite, die Deutschschweizer auf der deutschen. Also die Schweiz hätte auch zerfallen können. Der letzte Punkt: Wenn ich auf Ihre Bilder blicke, naja, da muss ich Widerspruch einlegen, denn Sie erwecken den Eindruck, als seien alle Leute, die glaubten, die Demokratie wäre durch internationale Vereinbarungen gefährdet, große Panikmacher, wenn nicht gar schlimme Populisten. Das sehe ich dezidiert anders. Denn diese Prozesse auf internationaler Ebene sind postdemokratisch. Sie sind nicht wirklich demokratisch. Sie finden auch außerhalb des Blickwinkels der Öffentlichkeit statt und es werden dadurch Entscheidungen, die man ansonsten demokratisch auf nationaler Ebene treffen würde, diesem Entscheidungsprozess entzogen. Man muss sich nur in Deutschland die Debatte über Inklusion ansehen. „Können wir nicht anders machen, internationale Vereinbarungen“, die dann sehr einseitig ausgelegt werden. Also da muss man nicht immer die Position der Kritiker der EU teilen, aber dass es in diesen Fragen gar keine offene Diskussion mehr gibt und die demokratische Verfassung erodiert, ist schon ein enormes Problem, wie das Verfassungsgericht in alter Besetzung ja auch oft hervorgehoben hat.

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Arlinghaus: Da kann ich gleich anschließen. Ich will nochmal den Punkt starkmachen, bei dem ich noch Diskussionsbedarf sehe. Einerseits, dass der Nationalstaat glaubt, er könne hier selbst öffentliches Recht setzen (und als Nicht-Jurist bin ich nicht sicher, ob das die richtige Begrifflichkeit ist). Und andererseits, dass man sagt, private Wirtschaft kann man internationalisieren. Bei dem starken Einfluss, den Wirtschaft auf Politik hat, und Politik natürlich auch auf Wirtschaft (Besteuerung, Zölle, Normierungs- und Standardisierungsfragen etc.). Da kann ich mir Wirtschaften im nationalstaatlichen Rahmen gar nicht mehr vorstellen, wenn man nicht lediglich für den eigenen Markt produzieren will, wie das Albanien gemacht hat mit drei Traktoren pro Jahr, sondern für den internationalen Markt. Aber wie soll man da als Nationalstaat ohne internationale Verträge und Absprachen mit anderen Einflussund Gestaltungsmöglichkeiten entwickeln? China und die USA mögen das vielleicht können, weil sie mächtig genug sind, weil deren nationale Wirtschaften den internationalen Handel prägen. Aber alle anderen, und dazu würde auch Deutschland gehören, können kaum souverän agieren auf dem Feld der Politik wie auch der Wirtschaft, was Steuereinnahmen, Zölle, Standardisierungen usw. angeht. Meine Frage: Gab oder gibt es dazu eine Debatte in der Schweiz? Und die zweite Frage (und vielleicht kann man die Diskussionspunkte hier ein bisschen auseinanderziehen): Es ist völlig naheliegend, dass in Krisensituationen, seien es Kriege oder Inflation, dass man da bei der Gestaltung des Regierungs- und Verwaltungshandeln Überlegungen anstellt und vielleicht anstrebt, bestimmte Abläufe straffer zu organisieren. Aber was Sie geschildert haben, ist ja mehr. Die generelle These scheint ja gewesen zu sein, Schweizer Sonderweg hin oder her: Es gab in den 1930er Jahren einige Wellen, wo relativ viele Leute, ob links oder rechts, es für besser gehalten haben, ein zentrales, autoritäres Regime ohne demokratische Kontrolle zu haben, was sozusagen durchregieren kann. Und das Parlament segnet nicht aus Einsicht in Notwendigkeiten ab, sondern weil es selbst nicht mehr an parlamentarische Kontrolle glaubt. Das scheint, anders als in den 1910er und 1920er Jahren, in den 30er Jahren eine Welle gewesen zu sein. Und das offensichtlich auf breiter Front und international und unabhängig davon, ob man in den Krieg unmittelbar verwickelt ist oder nicht. Wenn man diese beiden Debatten auseinanderhält, ist doch die Frage, wie man mit Verfassung umgeht oder mit Recht, wenn sie derartig von Formen des Zeitgeistes beeinflusst werden können? Und was hieße denn dann Zeitgeist? Wenn man sagt, wir machen das jetzt alles ein bisschen autoritär. Tanner: Ich kann zustimmen, dass robuste Demokratien da einiges aushalten müssen. Eine vorgelagerte Überlegung könnte mit einer Typologie von Demokratien argumentieren. Unter welchen Bedingungen kippen diese wie etwa die Weimarer Demokratie? Oder was läuft heute in den USA? Wieweit kommt es darauf an, wer Präsident ist, wieweit vermag das System von checks und balances Angriffe auf den Rechtsstaat einfach auszutarieren? Das sind Überlegungen, die hochaktuell sind. Ich würde aber der These zustimmen, dass in der Schweiz, immer mit Blick auch auf England, was in dieser Beziehung das Vorbild war, darauf vertraut wurde, dass das Land das schon hinkriegt und den Weg wieder zurückfindet. Der „Graben“,

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das war ganz wichtig, auch noch beim Landesstreik. Da wollten viele Romands gar nicht mitmachen, weil sie den Verdacht hatten, das helfe der falschen Seite, weil ja deutsch-schweizer Sozialdemokraten einen Separatfrieden vermitteln wollten zwischen Deutschland und Russland, welcher der Entente geschadet hätte. Da gab es riesiges Misstrauen auch in der Arbeiterbewegung. Dass der Streik trotzdem stattfand, zeigt, dass es tatsächlich eine soziale Bewegung gab, welche die Landesteile verband. Vorher kam es aber zu heftigen Auseinandersetzungen und der Schriftsteller Carl Spittler sagte schon im Dezember 1914 in „Unser Schweizer Standpunkt“, dass das neutrale Land eine eigenständige nationale Position aufbauen müsse, wenn es nicht auseinanderfliegen wolle. Man muss allerding sehen, dass als Reaktion auf den Landesstreik das Bürgertum ziemlich geschlossen von Genf aus agierte, und dass dieser „Fossé“ manchmal auch zu stark betont wurde. Aber es gab den Sprachenstreit und die Gefahr der Majorisierung war ein innenpolitisches Thema. Jetzt die Frage: Ich würde nicht von Zeitgeist sprechen. Ich finde aber, es gibt aber so etwas wie Megatrends. Oder wie immer man das nennt. Diese transnationalen Rechtsverflechtungen wurden durchaus gesehen in sensitiven Bereichen wie zum Beispiel dem Finanzplatz. Um die Kapitalmobilität zu erleichtern, wurden seit den 1920er Jahren zunehmend Doppelbesteuerungsabkommen ausgehandelt. Man hat versucht, in verschiedensten Bereichen eine die Nationalstaatsgrenzen übergreifende Normierung so zu gestalten, dass sie auf die Höhe der wirtschaftlichen Verflechtungen kommt. Und das ist eine Bemerkung zu Herrn Aschs Frage zur Demokratie. Ich würde sagen, dass dies eine der interessantesten Kontroversen der Gegenwart ist. So fordert der französische Theoretiker Pierre Rosanvallon eine Renationalisierung der Demokratie. Er argumentiert, Demokratie sei in einem nationalstaatlichen Rahmen entstanden, außerhalb könne es sie nicht geben. Deshalb müssen wir Demokratie renationalisieren, sonst verlieren wir sie. Transnationale Prozesse sind aus dieser Sicht impacts von außen, die mit Demokratie nichts zu tun haben, weil nicht demokratisch legitimiert. Ich würde eine dezidiert andere Position einnehmen und sagen, „nein, so kommen wir nicht weiter“. Das ist eine Verklärung einer Demokratie, die es so gar nie gegeben hat. Es ist notwendig, demokratische Prozesse auf eine supranationale Ebene, vielleicht in einem Mehrebenensystem, zu ziehen, wo tatsächlich länderübergreifende Normierungen und Regulierungen nötig sind. Ich finde es problematisch, wie die Schweiz im sogenannten „autonomen Nachvollzug“ den ganzen acquis communautaire der EU integriert. Das tut sie natürlich mit guten Gründen, denn das ist das Recht, das die Schweiz braucht, um wirtschaftlich zu prosperieren. Gleichzeitig regt man sich dann darüber auf, dass man nicht selbst entscheiden kann, will aber nicht in den Gremien anwesend sein, wo diese Rechtsnormen ausgehandelt werden. Die Schweiz verzichtet auf Souveränität bei der Mitgestaltung dieser Normen zu Gunsten einer Unabhängigkeitsfiktion. Diese Diskussion wird in der Schweiz ziemlich heiß geführt. Wenn ich das vor einem SVP-Gremium sage, muss ich schon fast aufpassen, dass ich gut aus dem Saal komme. Ich werde aber immer argumentieren, dass man Demokratie je länger je weniger nationalstaatlich rahmen kann, und dass dieses Bild eines nationalen Staatsvolks gegen den Rest der Welt nicht weiterhilft. Ich halte das für einen sehr bedrohlichen Trend und wenn es da nicht gelingt, Rechtsnormen auf jenen Ebenen demokratisch zu gestalten, wo sie tatsächlich

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spielen, dann hat die Demokratie es schwer. Ich habe meine Abschiedsvorlesung diesem Thema und dem ganzen Gerede von der Postdemokratie gewidmet. Es stimmt, dass wir da ein eminentes Problem haben und dass die nationale Demokratie viele große Herausforderungen nicht mehr stemmen kann. Aber was machen wir jetzt. Reden wir die Probleme weg? Oder sagen wir, wir können sie national formatieren, dann ist das Problem gelöst. Funktioniert das bei Umweltproblemen? Wenn alle Nationen in ihrem Rahmen das Richtige tun und auch steuerpolitisch kooperieren, dann wäre das schon eine Perspektive. Aber wir erleben doch immer wieder eine Dynamik, in der diese Probleme einsumpfen in nationale Kontexte. Dann unterbieten die einen die andern und dann läuft gar nichts mehr. So geschehen bei der Steuerkonkurrenz. Das geht einfach in die falsche Richtung. Nach meiner wertenden Meinung müssen wir über Demokratie auch in neuen räumlichen und staatlichen Kontexten nachdenken. Steiger: Ich hatte eigentlich zwei Punkte. Einmal wollte ich auf das Völkerrecht zurückkommen. Mir ist noch nicht ganz klar, was die Vollmachtregimes in den beiden Weltkriegen für die völkerrechtliche und insbesondere für die Neutralitätsposition der Schweiz bedeutet hat. Der zweite Punkt ist der Notstand. Wir haben ja diese Diskussion bei uns in den sechziger Jahren gehabt mit der Notstandsverfassung. Da ging es genau um das Problem, das den Streit zwischen Giacometti und Schindler behandelte. Soll man das in die Verfassung schreiben oder nicht? Wir haben ja in Deutschland versucht, die beiden Formen des Notstands in der Verfassung, im Grundgesetz, einmal im Notstandsartikel und dann im Verteidigungszustandsartikel zu regeln. Diese lassen sich natürlich dadurch, dass sie in der Verfassung stehen, immer vom Bundesverfassungsgericht kontrollieren, etwa die Frage, ob die Voraussetzungen des Verteidigungsfalles wirklich vorliegen. Ich weiß nicht, ob die Herren und Damen in Karlsruhe das beurteilen können, aber sie haben das Recht dazu. Meine Frage an Sie ist: Wie ist das in der Schweiz? Sie haben gesagt, es gibt kein Verfassungsgericht, jedenfalls gab es das nicht damals. Gab es überhaupt keine rechtliche Kontrolle in diesen beiden Zeiträumen? Ich beschränke mich auf die beiden Kriege, nicht die Zwischenkriegszeit. Lief das alles ohne rechtliche Kontrolle? Tanner: Das ist so. In der Schweiz bei der Bundesratsgründung ist argumentiert worden, in politischen Prozessen muss alles möglich sein. Wir wollen keinen Richterstaat, kein Verfassungsgericht, das uns sagt, das könnt ihr politisch nicht, weil… Steiger: Auch nicht nach der Supreme-Court-Lösung? Tanner: Nein, es gibt kein Verfassungsgericht, das über die Einhaltung der Verfassung wacht. Das Bundesgericht hat weit geringere Kompetenzen und hieß Vollmachtenentscheide gut, weil sie deren Verfassungskonformität nicht zu beurteilen hatte. Es ist aber so, dass seit der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch die Schweiz im Jahre 1974 ein Teil der Rechtsprechung des Bundesgerichts Richtung Verfassungsgerichtsbarkeit geht, weil dieses in Antizipation eines Entscheids aus Straßburg schon auf nationaler Ebene so argumentiert wie das ein Verfassungsgericht tun würde. Da passiert eine Umfunktionierung gewisser

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Bereiche des Bundesgerichts hin zum faktischen Verfassungsgericht. Die erwähnte neue Volksinitiative will genau das stoppen. Steiger: Aber die Supreme-Court-Lösung beruht ja auf Richterrecht in der berühmten Entscheidung Marbury v. Madison, das Gericht hatte ja keine geschriebene Verfassungsgerichtsbarkeitskompetenz. Sondern Chief Justice Marshall hat gesagt, das ist geltendes Recht und wir kontrollieren geltendes Recht. Diese Lösung hat man sich in der Schweiz nie vorgenommen? Thier: Also, wenn ich dazu etwas sagen darf: Das Bundesgericht hat keine kassatorische Kompetenz. Also es kassiert keine Gesetze. Schönberger: Keine Bundesgesetze. Thier: Kantonale schon. Ich spreche von Bundesgesetzen, weil das der Einstieg war. Aber es gibt Konstellationen, wo das Bundesgericht sagt, wenn es um die EMRK geht, dass ein bestimmtes Gesetz zum Beispiel wegen Verstoßes gegen die EMRK in casu nicht anwendbar ist. Da haben Sie den Ansatzpunkt einer Überprüfung. Wenn ich noch eine Bemerkung machen darf. Ich würde gerne einen Punkt stark machen, den Jakob Tanner in seinem Vortrag angesprochen hat, weil Sie gefragt haben, ja hat das Gericht das einfach so hingenommen. Es gibt eine Entscheidung, etwa im 20. Band, also sehr früh, wo das Bundesgericht ausdrücklich die Vollmachten, die im Ersten Weltkrieg erteilt worden sind, bestätigt. Tanner: Es gab in der Schweiz die sehr starke Meinung, dass das kleine Land vom Völkerecht profitiert hat. Die Schweiz als Artikel des Völkerrechts: das war ein Thema populärer Vorträge. Tatsächlich gäbe es ohne Völkerrecht gar keine Schweiz. Diese wurde 1815 durch Großmächte neutralisiert und diese äußeren Kräfte verhalfen dem eidgenössischen Staatswesen zur Selbstfindung. Angesichts der Hochschätzung des Völkerrechts ist es frappant, dass dieses jetzt durch rechtsnationale Kräfte dermaßen in Frage gestellt wird. Das sind neue Töne. Thier: Das wäre ein eigener Vortrag, wäre mein Eindruck. Wenn Sie einverstanden sind, würde ich an dieser Stelle die Diskussion schließen. Ich bedanke mich bei allen Diskutantinnen und Diskutanten, aber wir schulden vor allem Jakob Tanner sehr herzlichen Dank für einen ganz spannenden Vortrag. Das hat die Diskussion gezeigt, dass er sehr zu intensivem Nachdenken angeregt hat. Vielen Dank, lieber Jakob.

„Neue Kriege“ und Verfassung Vom Wandel des „Kriegsrechts“ seit 1990* Von Heinhard Steiger †, Gießen

I. Grundlegungen 1. Die Ausgangslage Alle reden vom Krieg, wir nicht. Die Welt ist erfüllt von Krieg und Kriegsgeschrei. Hingegen kennen unser Verfassungsrecht und das ihm insoweit vorausliegende universelle Völkerrecht den Begriff des „Krieges“ als Rechtskategorie nicht, oder nicht mehr. Nun sind beide Rechtsordnungen nicht so realitätsblind, dass, nach dem Motto von Christian Morgenstern, „nicht sein kann, was nicht sein darf“. Wie also fassen sie rechtlich die fortdauernde, wenn nicht sogar steigende Realität der tatsächlichen internationalen gewalttätigen, militärischen Gewaltanwendung? Krieg kann rein tatsächlich verstanden und beschrieben werden als bewaffnete Auseinandersetzung mit militärischen Mitteln zwischen zwei oder mehreren Parteien in Konflikten. Der ältere rechtliche Kriegsbegriff unterschied sich von dieser tatsächlichen Bestimmung dadurch, dass er den Krieg als eine bewaffnete zwischenstaatliche Auseinandersetzung definierte. Die neuere empirische Kriegslehre der Politologie, der Internationalen Beziehungen etc. hat nun in tatsächlicher Hinsicht eine zentrale Unterscheidung zwischen den „alten Kriegen“ und den sog. „neuen Kriegen“ oder „asymmetrischen Kriege“ entwickelt.1 Die „alten Kriege“, die es aber heute auch noch gibt, sind die zwischenstaatlichen Kriege, die nach bestimmten rechtlichen Formen geführt werden. Die „neuen Kriege“ unterscheiden sich von diesen nach Akteuren, die nichtstaatlicher Art sind, die den Staaten in gemischten staatlich-nichtstaatlichen bewaffneten Konflikten gegenüber stehen, aber auch untereinander Krieg führen; nach Zielen, die häufig nicht nur politischer, sondern auch pri* Überarbeitete und durch Anmerkungen ergänzte Fassung meines Vortrages auf der Tagung der „Vereinigung für Verfassungsgeschichte“ in Allensbach-Hegne vom 19. bis 21. Februar 2018, gehalten am 21. Februar 2018 – Wiederholung: 24. April 2018 auf Einladung der Fakultät Rechtswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unter dem Titel „Neues Recht für neue Kriege? – Vom Wandel des Kriegsrechts seit 1990“. Der Aufsatz ist auf dem Stand Mitte 2018, auch wenn einzelne Quellenangaben neueren Datums sind. Ich danke Prof. Dr. Dominik Steiger für Hinweise und Anregungen. 1 Herfried Münkler, Die neuen Kriege, 6. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2015.

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vater ökonomischer Art sind; nach ökonomischen, insbesondere finanziellen Ressourcen der nichtstaatlichen Akteure, die sich häufig aus der Gewaltanwendung selbst finanzieren; nach Waffen und vor allem auch nach Formen der Gewaltanwendung oder Kriegführung, insbesondere bei den nichtstaatlichen Akteuren. Die nichtstaatlichen Akteure fühlen sich häufig nicht an das Kriegsrecht gebunden, was die rechtliche Ordnung dieser „neuen Kriege“ sehr schwierig macht. Ihre Beendigung ist oft nicht oder nur auf sehr komplizierte Weise zu erreichen, da die maßgebenden Interessen der staatlichen wie der nichtstaatlichen Akteure auf sehr verschiedenen Ebenen liegen. Es sind dies jedoch zunächst empirische Befunde. Zwar haben sich das Völkerrecht und das Verfassungsrecht des Krieges seit 1945 fundamental geändert. Aber auch das moderne Gewaltvölkerrecht und das Gewaltverfassungsrecht des Grundgesetzes gehen dem Grunde nach noch von dem Krieg als zwischenstaatliche militärische Gewaltanwendung aus. Das alte förmliche Kriegsrecht, das ist das Kriegsrecht bis zum Zweiten Weltkrieg, war im Lauf der Zeit zu einem nur auf den Krieg ausgerichteten Recht ohne Blick auf den Frieden geworden.2 Der Krieg war „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“.3 Da das alte Kriegsrecht allein auf den zwischenstaatlichen Krieg der – zivilisierten – Staaten ausgerichtet war,4 wurde militärische Gewalt gegen halbzivilisierte Völker oder unzivilisierte Barbaren ebenso wenig erfasst wie militärische Gewalt gegen nichtstaatliche Gegner bei der Niederschlagung von Aufständen gerade auch in den Kolonien, in Bürgerkriegen, Freiheits- oder Unabhängigkeitskriegen, Guerilla- oder Partisanenkriegen und anderen bewaffneten Konflikten. Aber auch diese Konflikte gefährdeten oder zerstörten Frieden. Diese Engführung wirkte sich vor allem auf die Frage aus, ob das Kriegsrecht, das ius in bello, auf diese Auseinandersetzungen anzuwenden sei.5 Zudem hatte sich schon im Ersten Weltkrieg gezeigt, dass das klassische Kriegsrecht von den Staaten unter anderem in Bezug auf die Neutralität oder die Verwendung von Gas tiefgreifend missachtet wurde. In den Vernichtungskriegen des Zweiten Weltkrieges, dem totalen Krieg und den Luftbombardements von Zivilbevölkerungen von Coventry und London über Dresden bis Hiroshima und Nagasaki war es völlig 2 Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, spricht von einem „freien Kriegsführungsrecht“, S. 623 – 628. 3 Harald Kleinschmidt, Geschichte des Völkerrechts in Krieg und Frieden, Tübingen 2013, S. 291 f. unter Bezug auf Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Er bezeichnet diese Formel als einen „Paradigmenwechsel“ gegenüber der Formel des Heiligen Augustinus, der den Krieg als Mittel zum Frieden begriffen habe, ebd., S. 40 – 42. 4 Zum klassischen Kriegsrecht: Lassa Oppenheim, International Law. A Treatise, Bd. II: Disputes, War and Neutrality, 6. Aufl., hrsg. v. Hersh Lauterpacht, London u. a. 1940, S. 166 – 174. In völkerrechtshistorischer Sicht: Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 123 – 143; Münkler (Fn. 1), S. 91 – 129. 5 Franz von Liszt, Das Völkerrecht systematisch dargestellt, 9. Aufl., Berlin 1913, S. 3 – 7, unterschied noch in der Völkerrechtsgemeinschaft die „Kulturstaaten“ und die „halbzivilisierten Staaten“. Im Verkehr mit diesen und den „nichtzivilisierten Völkerschaften“ sollten nur die „tatsächliche Macht“ und die „Grundsätze des Christentums und der Menschlichkeit“ gelten (S. 6), also nicht das Haager Kriegsvölkerrecht.

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zusammengebrochen.6 Der alte völkerrechtliche Kriegsbegriff und das alte Kriegsrecht erwiesen sich also als zu eng und unfähig, um friedensgefährdende oder -brechende internationale Gewalt zu erfassen. So wurde mit der Satzung der Vereinten Nationen ein neues, umfassenderes „Gewaltvölkerrecht“ begründet, das nicht mehr den Begriff „Krieg“, sondern „bewaffnete Gewalt“ zum zentralen Ansatz der internationalen Friedenssicherung machte. Denn im Zentrum des modernen Gewaltvölkerrechts wie des Gewaltverfassungsrechts stehen Bewahrung, Sicherung und Entwicklung des internationalen Friedens und der Sicherheit.7 Sie bilden den rechtlichen Bezugspunkt ihrer Regelungen zum Gebrauch bewaffneter militärischer Gewalt in internationalen Konflikten. Für die Bundesrepublik war ein Krieg nach 1945 zunächst unvorstellbar. Nur unter den Bedrohungen des Kalten Krieges wuchs unter erheblichen innenpolitischen Auseinandersetzungen die Einsicht in die Notwendigkeit, in einem „Gewaltverfassungsrecht“ für die „Verteidigung“ vorsorgen, rechtliche Grundlagen für die Aufstellung von Streitkräften legen und deren Einsatz jedenfalls in den Grundzügen regeln zu müssen.8 Beide Rechtsordnungen konstituieren eine rechtliche Offenheit für die Abwendung und Bekämpfung vielfältiger internationaler Friedensgefährdungen, die über die alten zwischenstaatlichen Kriege hinausreichen, durch Anwendung bewaffneter Gewalt. Diese rechtliche Offenheit führt aber auch zu einer gewissen rechtlichen Konturschwäche und damit zu rechtlichen Grauzonen in der internationalen wie in der deutschen Praxis.

2. Gewaltvölkerrecht Für das Völkerrecht erwachsen diese „rechtliche Grauzonen“ aus einer inhaltlichen Unbestimmtheit seiner materiellen Regelungen und aus der Spannung zu ihrer institutionellen Sicherung in der Satzung der Vereinten Nationen.9 Zwar werden 6 Abriss zur Geschichte des Kriegsrechts: Heinhard Steiger, „Bellum iustum“ versus Gewaltverbot? Humanitäre Intervention und „just war“ gegen Schurkenstaaten, in: Cornelius Mayer (Hrsg.), Augustinus – Recht und Gewalt. Beiträge des V. Würzburger AugustinusStudientages am 15./16. Juni 2007, Würzburg 2010, S. 97 – 146; wieder abgedruckt in: Heinhard Steiger, Universalität und Partikularität des Völkerrechts in geschichtlicher Perspektive. Aufsätze zur Völkerrechtsgeschichte 2008 – 2015, Baden-Baden 2015, S. 207 – 247 (208 – 229). 7 Art. 2 i. V. m. Art. 1 sowie Art. 39 SVN; Präambel Abs. 2, Art. 24 Abs. 2 GG, dazu unter anderen Frank Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen, München 2017, S. 350 – 358. 8 Zur Entwicklung der deutschen Wehrverfassung unter anderem Schorkopf (Fn. 7), S. 359 – 363. 9 Gesamtdarstellungen des Gewaltvölkerrechts in den Lehrbüchern des Völkerrechts, unter anderem Alfred Verdross/Bruno Simma, Universelles Völkerrecht. Theorie und Praxis, 3. Aufl., Berlin 1984 (ND 2010), S. 133 – 139; Knut Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl., München

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in Art. 2 Abs. 4 SVN die „Androhung und Anwendung von Gewalt“ (threat or use of force) gegen „die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit“ eines anderen Staates ganz allgemein und grundsätzlich verboten und nur in Art. 51 SVN gegen einen „bewaffneten Angriff“ ein „naturgegebenes“ individuelles und kollektives Verteidigungsrecht eingeräumt.10 Aber keine Bestimmung sagt, von wem die Gewalt bzw. der bewaffnete Angriff auszugehen haben.11 Art. 39 SVN knüpft für die Friedenssicherung durch den Sicherheitsrat, dem gemäß dem in Kapitel VI und VII der Satzung der Vereinten Nationen niedergelegten institutionellen Sicherheitssystem die Friedenssicherung vor allem obliegt, an die „Bedrohung oder den Bruch des internationalen Friedens und der Sicherheit“ an. Aber auch er sagt nicht, durch wen.12 Die Maßnahmen nichtmilitärischer Art nach Art. 41 SVN – auch solche sieht das Gewaltvölkerrecht also vor – und militärischer Art nach Art. 42 SVN richten sich zwar an die Mitglieder, also Staaten. Vor allem ist die Satzung ein Vertrag zwischen Staaten und gilt daher subjektiv zunächst für diese und die Beziehungen zwischen ihnen. Aber eine allgemeine objektive Geltung auch für andere Akteure und in anderen Konflikten ist durch diese Formulierungen nicht ausgeschlossen, wenn durch ihre Gewaltanwendung der internationale Frieden und die Sicherheit gefährdet werden.13 So hat der Sicherheitsrat es schon recht früh, wenn auch nur gelegentlich, für geboten erachtet, das moderne Gewaltvölkerrecht für Konflikte 2014, S. 1175 – 1258; Michael Bothe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: Wolfgang Graf Vitzthum/Alexander Proelß (Hrsg.) Völkerrecht, 7. Aufl., Berlin 2016, S. 591 – 682. 10 Zu Art. 2 SVN Andreas Paulus, Article 2, in: Bruno Simma u. a. (Hrsg.), The Charter of the United Nations. A Commentary, 2 Bde., 3. Aufl., Oxford 2012, Bd. I, S. 121 – 132, und zu Art. 2 Abs. 4 SVN Albert Randelzhofer/Oliver Dörr, Article 2(4), ebd., S. 200 – 234; zu Art. 51 SVN Albert Randelzhofer/Georg Nolte, Article 51, ebd., Bd. II, S. 1397 – 1428. 11 Die h. M. geht davon aus, dass sich Art. 2 Abs. 4 SVN nur an Staaten wendet und private Gruppen nicht erfasst, Randelzhofer/Dörr (Fn. 10), Art. 2 Abs. 4 SVN, Rdnr. 29 – 31. Sie verweisen auf die Entscheidung des IGH in Armed Activities on the Territory of the Congo (Democratic Republic of the Congo v. Uganda). Merits. Judgment, I.C.J. Reports 2005, S. 168, §§ 160 – 165, S. 226 f. Die Definition des bewaffneten Angriffs durch die Resolution der Generalversammlung, A/RES/3314 (XXIX) v. 14. Dezember 1974, bezeichnet in Art. 3 lit. g als einen staatlichen bewaffneten Angriff auch „das Entsenden bewaffneter Banden, Gruppen, Freischärler oder Söldner durch einen Staat oder in seinem Namen, wenn diese mit Waffengewalt Handlungen gegen einen anderen Staat ausführen, die auf Grund ihrer Schwere den oben aufgeführten Handlungen gleichkommen, oder die wesentliche Beteiligung daran“. Es muss also eine direkte Zurechnung möglich sein. Selbständig handelnde Gruppen, z. B. international agierende Terroristengruppen, zählen daher zunächst nicht dazu. Dazu Thomas Bruha, Die Definition der Aggression. Faktizität und Normativität des UN-Konsensbildungsprozesses der Jahre 1968 bis 1974, zugleich ein Beitrag zur Strukturanalyse des Völkerrechts, Berlin 1980, S. 228 – 239. 12 Die Literatur zu Kapitel VII allgemein und Art. 39 bis 42 SVN ist umfangreich; statt vieler: Nico Krisch, Introduction to Chapter VII: The General Framework, Article 39, Article 40, Article 41, Article 42, in: Simma u. a. (Hrsg.) (Fn. 10), Bd. II., S. 1237 – 1350, zur Interpretation der „Gefährdung des Friedens“ Article 39, Rdnr. 12 – 39. 13 Das zeigt sich insbesondere im „Krieg“ gegen den internationalen Terrorismus, unter anderem gegen den Islamischen Staat, unten II.4., S. 231 – 232.

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mit nichtstaatlichen Akteuren zu öffnen, um den internationalen Frieden zu sichern.14 Dem Sicherheitsrat wird ein weites Ermessen bei der Qualifikation einer Konfliktsituation als Gefährdung des Friedens, Bruch des Friedens oder Aggression zuerkannt.15 Als politisches Organ entscheidet er dabei eher politisch und nicht rechtlich, wie er dieses Ermessen ausübt. Während des „Kalten Krieges“ war er zudem durch die gegenseitigen Blockaden der beiden Vetomächte USA und Sowjetunion politisch weitgehend gehindert, nach Kapitel VII tätig zu werden. Erst seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat er die politischen Fundamentaldissense überwinden und aktiv in friedensgefährdende Konflikte eingreifen können. Gegenwärtig drohen wieder gegenseitige Blockaden der Vetomächte. Aus alldem erwächst im Gewaltvölkerrecht eine weite rechtliche Grauzone und Konturschwäche, die zwar weites politisches Handeln ermöglichen, aber andererseits eine Unkalkulierbarkeit der Friedenssicherung durch den Sicherheitsrat bedingen. Das wiederum beschädigt seine Glaubwürdigkeit in der Weltöffentlichkeit.

3. Gewaltverfassungsrecht Diese Offenheit des Gewaltvölkerrechts überträgt sich auf das Verfassungsrecht der Bundesrepublik, das zudem nicht in einem Guss, sondern in drei Phasen 1949, 1956 und 1968 entstanden ist und daher in jeder Phase stets von den jeweiligen Anforderungen, aber auch von den öffentlichen politischen wie gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig war. Daraus entstehen Inkohärenzen für die Praxis. Zwar verbietet Art. 26 GG auch verfassungsrechtlich den Angriffskrieg. Aber damit ist nicht jeder Einsatz militärischer Gewalt ausgeschlossen.16 Die inhaltliche Offenheit der deutschen Wehrverfassung erwächst aus der Spannung zwischen der bereits 1949 vorgesehenen Mitgliedschaft in „Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ gem. Art. 24 Abs. 2 GG einerseits und seiner später in den beiden Verfassungsergänzungen von 1956 und 1968 nachdrücklich betonten inhaltlichen wie institutionellen Ausrichtung der Wehrverfassung insgesamt auf „Verteidigung“ in Art. 87a und Art. 115a ff. GG andererseits. So werden gem. Art. 87a Abs. 1 GG die Streitkräfte ausdrücklich „zur Verteidigung“ aufgestellt. Sie dürfen gem. Abs. 2 „außer zur Verteidigung“ nur eingesetzt werden, „soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt“. Alte Kommentierungen vor 1990 zu Art. 87a Abs. 2 nennen Art. 35 Abs. 2

14 So verhängte der Sicherheitsrat unter Berufung auf Kapitel VII. nichtmilitärische Sanktionen gem. Art. 41 SVN gegen Südrhodesien, S/RES/232 (1966). S. dazu auch Dominik Steiger, Nicht-staatliche Gewaltakteure im Fokus des Sicherheitsrats, in: Heike Krieger/Dieter Weingärtner (Hrsg.), Streitkräfte und nicht-staatliche Akteure, Baden-Baden 2013, S. 55 – 82. 15 Krisch (Fn. 12), Art. 39 SVN, Rdnr. 4 – 6. 16 Aus der umfangreichen Literatur unter anderem Volker Röben, Der Einsatz der Streitkräfte nach dem Grundgesetz, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63 (2003), S. 585 – 603.

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und 3 GG und Art. 87a Abs. 3 und 4 GG, aber nicht Art. 24 Abs. 2 GG.17 Auch die älteren Kommentierungen zu Art. 24 Abs. 2 GG erörtern die Frage des Einsatzes der Bundeswehr nicht. Da inzwischen in der Praxis der Bundesrepublik dieser Artikel als Grundlage der Einsätze der Bundeswehr im Ausland in den Vordergrund gerückt ist, hat sich das in den Kommentierungen beider Artikel geändert und wird das Verhältnis von Art. 24 Abs. 2 und Art. 87a Abs. 2 GG näher erörtert.18 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die herrschende Meinung der Literatur haben das gebilligt.19 Sie haben der Bundesrepublik die verfassungsrechtliche Möglichkeit eröffnet, im Rahmen der Vereinten Nationen, der NATO und der EU20 auf Gefährdungen des internationalen Friedens durch „neue Kriege“ außerhalb Deutschlands unter sehr verschiedenen Umständen reagieren zu können, diese Praxis aber andererseits ebenfalls in eine rechtliche Grauzone ihres Handelns geführt. Keiner der „neuen Kriege“, in die die Bundesrepublik seit 1992 einbezogen wurde bzw. sich eingeschaltet hat, betreffen jedoch diese selbst unmittelbar als Angriffsziel. Das macht die besonderen verfassungsrechtlichen Fragestellungen aus. Denn der theoretisch vorgesehene verfassungsrechtliche Hauptfall des Einsatzes der Streitkräfte richtet sich auf die Verteidigung, die im „Verteidigungsfall“ gem. Art. 115a GG konkretisiert wird. Da die Feststellung des Verteidigungsfalls, die vom Bundestag zu treffen ist, an die Voraussetzung gebunden ist, dass „das Bundesgebiet mit 17 Günter Dürig, in: Theodor Maunz/Günter Dürig u. a. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Stand: August 1971, Art. 87a, „Grundfunktion unserer Streitkräfte ist Verteidigung“, ebd., Rdnr. 22; Friedrich Klein, Art. 87a, Anm. V, 3, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., Bd. III, München 1974, S. 2321, mit weiteren Verweisen. 18 Albrecht Randelzhofer, in: Maunz/Dürig (Hrsg.) (Fn. 17), Stand: Dezember 1992, Art. 24 Abs. 2, Rdnr. 43 – 70; Werner Heuer, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. III, 3. Aufl., Tübingen 2018, Art. 87a, Rdnr. 18, S. 225; Juliane Kokott, in: Michael Sachs (Hrsg.). Grundgesetz. Kommentar, 8. Aufl., München 2018, Art. 87a, Rdnr. 16: „Art. 24 II überlagert Art. 87a II“. Aber nicht zutreffend die Ansicht von Röben (Fn. 16), S. 587, die Bundesrepublik dürfe Streitkräfte „nur nach Art. 24 Abs. 2 GG“ einsetzen. Gegen eine Äußerung des BVerfG im Urteil zum Lissabon-Vertrag, BVerfGE 123, 267 (360), Auslandseinsätze der Bundeswehr im Ausland seien „außer im Verteidigungsfall nur in Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit erlaubt“, bereits Rudolf Streinz, in: Sachs (Hrsg.) (Fn. 18), Art. 24, Rdnr. 63 f. Inzwischen ist vom Gericht in einem späteren Urteil eine Klarstellung erfolgt, BVerfGE 140, 160 (188): „Das Erfordernis parlamentarischer Mitwirkung gilt sowohl für bewaffnete Außeneinsätze deutscher Soldaten innerhalb von Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Art. 24 Abs. 2 GG, […] als auch allgemein für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte […], unabhängig von dessen materiell-rechtlicher Grundlage […].“; Ferdinand Wollenschläger, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. II, 3. Aufl., Tübingen 2015, Art. 24, Rdnr. 74. 19 Urteil des 2. Senates v. 12. Juli 1994 (2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93), Adria-, AWACSund Somalia-Einsatz der Bundeswehr, BVerfGE 90, 286; unter anderem Schorkopf (Fn. 7), S. 369 – 373; unten II.1.b, S. 217 – 219 m. w. N. 20 Nach Auflösung der Westeuropäischen Union 2010/2011 und dem Übergang ihrer Aufgaben im Bereich der Sicherheitspolitik auf die Europäische Union wird auch diese als ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit qualifiziert, Heuer (Fn. 18), Art. 87a, Rdnr. 18, S. 225.

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Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht“,21 haben im Hinblick auf die „neuen Kriege“ zwei Fragen besondere Bedeutung. Ist „Verteidigung“ auch ohne vorhergehende Feststellung des Verteidigungsfalles rechtlich zulässig? Das dürfte zu bejahen sein.22 „Verteidigung“ in Art. 87a GG wurde als „Abwehr eines Gegners, der von außen mit Waffengewalt angreift, mit militärischen Mitteln“ bestimmt.23 Diese Definition gilt dem Grunde nach auch heute noch. Aber, so die zweite Frage, wer ist ein solcher „Gegner“ in den „neuen Kriegen“ mit den sehr unterschiedlichen Angreifern? Sind Art. 115a ff. GG nur bei bewaffneten Angriffen durch staatliche Truppen und eventuell durch von einem Staat unterstützte Milizen etc. gem. Art. 3 lit. g der Aggressionsresolution anwendbar, oder auch bei Angriffen von privaten Gruppen, vor allem Terroristen oder Cyber-Hackern?24 Für die Verwicklung der Bundesrepublik in einen „neuen Krieg“ können weiterhin die Einsatzmöglichkeiten nach Art. 87a Abs. 3 GG zum Schutz ziviler Objekte im Verteidigungsfall und im Spannungsfall nach Art. 80a GG und Art. 87a Abs. 4 i. V. m. Art. 91 Abs. 2 GG Bedeutung erlangen.25 Beides könnte bei terroristischen Angriffen, aber auch bei gewissen Cyber-Attacken akut werden.26

II. Fünf „neue Kriege“ Ich möchte nunmehr rechtliche Offenheiten wie Grauzonen an vier „neuen Kriegen“ der letzten sechsundzwanzig Jahre, an denen die Bundesrepublik beteiligt war, und einem Kriegsszenario, von dem wir nicht genau wissen, ob es schon stattfindet oder noch nicht, exemplifizieren. Kein Fall betrifft einen klassischen zwischenstaatlichen Krieg oder verfassungsrechtlich einen formellen Verteidigungsfall.

21 Die inhaltlichen Regelungen der nachfolgenden Artikel betreffen nur die inneren Rechtsfolgen. Die äußeren Rechtsfolgen bleiben offen. Der Bundespräsident gibt die völkerrechtlichen Erklärungen mit Zustimmung des Bundestages ab, aber erst wenn der Angriff erfolgt ist, Art. 115a Abs. 5 GG. Welcher Art diese sind, ist ebenfalls offen. Eine Kriegserklärung ist weder hier noch an anderer Stelle des Grundgesetzes vorgesehen, scheint aber nicht ausgeschlossen. 22 So auch Schorkopf, Staatsrecht, (Fn. 7), S. 365, entgegen anderen Auffassungen. 23 Dürig (Fn. 17), Art. 87a, Rdnr. 22; ähnlich Klein (Fn. 17), Art. 87a, Anm. III, 3b, aa, S. 2308, der die Angriffe von außen ausdrücklich „auf die BRD“, also deren Gebiet gerichtet, bestimmt. Dem entspricht zwar die Definition des Verteidigungsfalles in Art. 115a GG. Daraus folgt aber nicht, dass diese Autoren der Auffassung waren, „Verteidigung“ nach Art. 87a Abs. 2 GG sei nur im Verteidigungsfall gegeben und zulässig. 24 Dazu unten II.5.c., S. 247 – 254. 25 Tobias Linke, Innere Sicherheit durch die Bundeswehr? Zu Möglichkeiten und Grenzen der Inlandsverwendung der Streitkräfte, Archiv des Öffentlichen Rechts 129 (2004), S. 489 – 541 (538). 26 Unten II.5.c., S. 247 – 254.

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1. Sicherung der territorialen Integrität und humanitäre Intervention: Jugoslawien/Bosnien-Herzegowina 1992 – 1995 a) Der Fall Anders als der Zerfall der Sowjetunion nach 1990, der sich weitgehend ohne Gewaltanwendung vollzog, führte der Zerfall der Föderation Jugoslawien zwischen 1991 und 1999 zu mehreren Kriegen zwischen Jugoslawien und den sich verselbständigenden Teilrepubliken Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und anderen.27 In jedem Falle gefährdeten sie den internationalen Frieden auf dem Balkan, wenn nicht in ganz Südosteuropa. Der Sicherheitsrat verhängte 1991 und 1992 unter Kapitel VII SVN ein Waffenembargo gegen Jugoslawien, um die Unabhängigkeitskriege auf dem Balkan, die er als „Gefährdung des internationalen Friedens und der Sicherheit“ nach Art. 39 SVN qualifizierte, zu beherrschen.28 Zudem setzte er eine Vereinte Nationen-Friedenstruppe UNPROFOR ohne Kampfmandat ein.29 Die NATO beschloss im Juli 1992, die Einhaltung der Embargos gemäß den Resolutionen des Sicherheitsrates von der See her zu überwachen.30 Ebenfalls 1992 eskalierte der innerstaatliche bewaffnete Konflikt zwischen den drei ethnisch wie religiös verschiedenen Volksgruppen der Bosnier, Serben und Kroaten in Bosnien-Herzegowina.31 Dieses war seit dem 22. Mai 1992 ein unabhängiger Staat und Mitglied der Vereinten Nationen, also spätestens seitdem ein allgemein anerkannter souveräner Staat und nicht mehr Teilrepublik Jugoslawiens und stand somit unter dem Schutz des allgemeinen Gewaltvölkerrechts. Da es jedoch ein multiethnischer und multireligiöser Staat aus Kroaten, Serben und Bosnier ist, versuchten Serben und Kroaten ihre je eigenen Staaten oder staatsähnlichen Gebilde zu errichten bzw. sich Kroatien oder Serbien anzuschließen. Der Staat war somit keineswegs gefestigt und in sich befriedet. Die Auseinandersetzungen waren ab 1992 27 Dazu allgemein: Renéo Lukic, La désintégration de la Yougoslavie et l’émergence de sept États successeurs (1986 – 2013), Québec 2013. 28 S/RES/713 (1991), wiederholt in S/RES/721 (1991) und S/RES/724 (1991). 29 S/RES/743 v. 11. Februar 1992. 30 Beschluss des Außenministerrates der NATO v. 10. Juli 1992, Statement on NATOMaritime Operations, NATO/OTAN e-library, https://www.nato.int/cps/en/natolive/official_ texts_23980.htm; Gustav E. Gustenau, Die Rolle der NATO im südosteuropäischen Krisenraum. Möglichkeiten und Grenzen von Friedensoperationen, in: Die Konfliktentwicklung im südslawisch-albanischen Raum (8), Grenzen und Optionen der Staatengemeinschaft zur Konfliktsteuerung, https://www.bundesheer.at/wissen-forschung/publikationen/publikation. php?id=126. 31 Lukic (Fn. 27), S. 219 – 280; Marie-Janine Calic, Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina. Ursachen – Konfliktstrukturen – Internationale Lösungsversuche, erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 2008. Die Serben riefen im Januar 1992, also noch vor der Unabhängigkeit, die Srpska Republika Bosna i Hercegovina aus, die Kroaten die Hrvatska Republika HercegBosna. Es entstanden drei innere Armeen, die sich gegenseitig bekämpften.

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zunächst innerstaatlicher Art. Die Truppen der Kroaten und Serben bekamen jedoch Unterstützung ihrer Patronatsstaaten Kroatien und vor allem Jugoslawien/Serbien. Die Truppen der Regierung erhielten unter anderem amerikanische Hilfestellungen nichtmilitärischer Art. Die Kämpfe zwischen den drei Armeen und ihren beiden Unterstützerstaaten führten zu ethnischen Säuberungen und anderen schwerwiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch alle Seiten. Um diese Gewaltanwendungen zu beenden, vor allem die Volksgruppen voreinander zu schützen und die humanitäre Situation zu verbessern, beschloss der Sicherheitsrat in mehreren Resolutionen ab 1992 Maßnahmen zur Bändigung des Konflikts. Er stellte fest, dass die Situation in Bosnien-Herzegowina eine Gefährdung des internationalen Friedens darstelle, und handelte fortan unter Kapitel VII.32 Er hatte im Wesentlichen zwei Anliegen: die Sicherung der Souveränität und territorialen Integrität des jungen Staates einerseits und die Sicherung des Schutzes der Zivilbevölkerung gegen die zum Teil massiven Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts andererseits. Beides musste gegen die innerstaatlichen Streitparteien, insbesondere die serbischen Milizen, wie gegen die beiden Unterstützermächte durchgesetzt werden.33 Der Sicherheitsrat verhängte ein Verbot militärischer Flüge über Bosnien-Herzegowina.34 Außerdem erklärte er zum Schutz der Zivilbevölkerung gewisse Städte zu Sicherheitszonen (safe areas), in denen keine Kampfhandlungen stattfinden durften.35 Zudem wurden die Kompetenzen der Vereinte Nationen-Truppe UNPROFOR erweitert.36 Einen Kampfauftrag erhielt sie aber nicht. Darüber hinaus rief er die Mitgliedstaaten unter Nr. 8 auf to contribute forces, including logistic support, to facilitate the implementation of the provisions regarding the safe areas. Vor allem aber ermächtigte er unter Nr. 10 Member States, acting nationally or through regional organizations or arrangements, may take, under the authority of the Security Council and subject to close coordination with the Secretary-General and UNPROFOR, all necessary measures, through the use of air power, in and around the safe areas […] to support UNPROFOR.37 Mit diesen Resolutionen des Sicherheitsrates war ein neuer Typ der Anwendung bewaffneter Gewalt geboren, die gewaltsame Schutzintervention zugunsten der Zivilbevölkerung in einem bewaffneten Konflikt. Um diese Maßnahmen zu sichern und zu gewährleisten, beschloss der NATO-Rat zunächst im Oktober 1992 die Operation Sky Monitor.38 Nachdem der Sicherheitsrat die Flugverbotszonen ausgedehnt hatte, folgte die Operation Deny Flight.39 Innerhalb dieser beiden Operationen wurden in einer ersten Phase Überwachungsflüge 32

S/RES/816 v. 31. März 1993. S/RES/819 (1993). 34 S/RES/781 (1992). 35 S/RES/824 (1993). 36 S/RES/836 (1993). 37 In S/RES/844 (1993) wurde diese Ermächtigung wiederholt. 38 Beschluss des NATO-Rates v. 16. Oktober 1992. 39 Beschluss des NATO-Rates v. 8. April 1993, weitere Beschlüsse vom 2. August 1993, 9. Februar 1994. 33

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über Jugoslawien und Bosnien-Herzegowina durchgeführt. In einer zweiten enforcement-Phase ab März 1993 wurde gegen jugoslawische Flugzeuge vorgegangen.40 In einer dritten Phase ab April 1994 wurden auch Luftschläge gegen Stellungen der serbischen/jugoslawischen Armee um Sarajewo herum geflogen. Diese Aktion wurde ab August 1994 noch einmal verstärkt. Die NATO flog zudem ab April 1994 auch Luftangriffe zum Schutz der safe areas gegen serbische Einheiten.41 Außerdem wurde auch Luftnahunterstützung für die Blauhelme der Vereinten Nationen geleistet, wenn diese in Bedrängnis gerieten, und weitere Luftangriffe bis zum Ende des Jahres 1995. Es handelte sich also um eine mandatierte Intervention der NATO während eines komplexen innerstaatlich-zwischenstaatlichen gewaltsamen Konflikts mit sehr unterschiedlichen Akteuren auf der Grundlage von Resolutionen des Sicherheitsrates unter Kapitel VII. Die NATO erklärte sich gewissermaßen zum Vollzugsorgan des Sicherheitsrates in der Sicherung bzw. Wiederherstellung des Friedens in Bosnien-Herzegowina.42 Die Gefährdungen der safe areas gingen tatsächlich weitgehend von den innerbosnischen Serben aus. Die Einstufung als Gefährdung des Friedens und der Sicherheit durch den Sicherheitsrat bezog sich gerade auch auf die erheblichen Menschenrechtsverletzungen und Brüche des humanitären Völkerrechts. Sie waren die Gründe für die gewaltsamen Interventionen durch die NATO. Diese richteten sich damit nicht gegen den Staat Bosnien-Herzegowina selbst, sondern gegen bestimmte Akteure auf seinem Territorium zum Schutz seiner Bevölkerung. Es war im Kern eine vom Sicherheitsrat getragene humanitäre Intervention. Keiner der betroffenen Staaten war seinerseits Mitglied der NATO, auch waren weder die NATO noch ein Mitglied derselben angegriffen worden. Es handelte sich also weder bei der Meeresüberwachung durch die NATO noch bei ihren militärischen Aktionen in Bosnien-Herzegowina um ein Vorgehen nach der ursprünglichen Zielsetzung der NATO gem. Art. 1 und Art. 5 NATO-Vertrag. Jedoch hatte die NATO bereits seit Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts unter Beibehaltung ihrer Kernaufgaben eine gewisse Neuausrichtung diskutiert und beschlossen.43 So verabschiedete der NATO-Rat am 8. November 1991 in Rom das neue strategische Konzept.44 Am 10. und 11. Januar 1994 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der 40

Es kam auch zu Abschüssen von vier Flugzeugen durch NATO-Flugzeuge am 28. Februar 1994. 41 Entsprechende Beschlüsse des NATO-Rates v. 22. April 1994. 42 NATO und WEU bzw. heute die EU sind als „Regionalorganisationen zur Wahrung des Friedens“ i. S. des Kapitels VIII SVN anzusehen, Georg Nolte, Die „neuen Aufgaben“ von NATO und WEU: Völker- und verfassungsrechtliche Fragen, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 54 (1994), S. 95 – 123 (111 – 114). 43 Eine ausführliche Darstellung mit entsprechenden Nachweisen BVerfGE 90, 286 (298 – 303); Nolte (Fn. 42), S. 95 – 110. 44 NATO-Bulletin v. 13. November 1991. Dazu: Heiko Sauer, Die NATO und das Verfassungsrecht: neues Konzept – alte Fragen, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 62 (2002), S. 317 – 346.

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NATO-Mitgliedsstaaten in Brüssel, gegebenenfalls Truppen auf Beschluss der Vereinten Nationen bereitzustellen.45 Auf dieser Grundlage wurden die genannten Beschlüsse zum Einsatz in Jugoslawien gefasst. Das System kollektiver Sicherheit NATO wurde damit inhaltlich verändert. Eine Vertragsänderung, der auch der Bundestag hätte im Ratifizierungsverfahren zustimmen müssen, fand jedoch nicht statt. Das warf hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Beteiligung der Bundesrepublik an beiden Einsätzen erhebliche Fragen auf. b) Die Beteiligung der Bundesrepublik Denn die Bundesrepublik beteiligte sich zunächst ab 15. Juli 1992 an der Überwachung der Seegrenzen Jugoslawiens durch die NATO mit Marineeinheiten. Dafür beschloss die Bundesregierung zur Umsetzung der Beschlüsse des NATO-Außenministerrates und des WEU-Ministerrates46 am 15. Juli 1992, sich an den Überwachungsmaßnahmen im Mittelmeer zu beteiligen.47 Sie berief sich auf die Resolutionen des Sicherheitsrates und die Beschlüsse des NATO-Rates. Ab April 1993 nahmen gemäß dem Beschluss der Bundesregierung vom 2. April 1993 auch deutsche Soldaten im Rahmen des multinationalen NATO-AWACS-Verbandes an der Luftüberwachung und später durch Aufklärungsflüge an der Durchführung der Luftschläge in Bosnien-Herzegowina teil.48 An Kampfhandlungen waren deutsche Soldaten nicht beteiligt. Auf die Rechtmäßigkeit der Beschlüsse der NATO-Gremien ging die Bundesregierung in beiden Beschlüssen nicht ein. Auch eine nähere verfassungsrechtliche Begründung wurde zunächst nicht gegeben. Im anschließenden Prozess vor dem Bundesverfassungsgericht machte die Bundesregierung als verfassungsrechtliche Grundlage Art. 24 Abs. 2 GG geltend.49 Durch den Beitritt zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit nehme die Bundesrepublik auch an deren Rechten und Pflichten teil. Art. 87a Abs. 2 GG stehe dem nicht entgegen. Die Vereinten Nationen seien ein solches System. Ein Beschluss desselben liege vor.

45 So heißt es in Ziffer 7, die NATO werde „von Fall zu Fall in Übereinstimmung mit unseren eigenen Verfahren friedenswahrende und andere Operationen unter der Autorität des VN-Sicherheitsrates oder der Verantwortung der KSZE unterstützen […].“, Bulletin der Bundesregierung 03 – 94, Nato-Gipfelkonferenz in Brüssel Tagung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikpakts am 10. und 11. Januar 1994, https://www.bundesregierung. de/breg-de/service/bulletin/bulletin-1990-bis-1999/nato-gipfelkonferenz-in-bruessel-tagungder-staats-und-regierungschefs-des-nordatlantikpakts-am-10-und-11-januar-1994 - 800868. 46 Auch die WEU hatte durch Beschluss v. 19. Juni 1992 ihre Bereitschaft beschlossen, „Konfliktverhütungs- und Krisenbewältigungsmaßnahmen“ der KSZE und der Vereinten Nationen zu unterstützen, Bulletin der Bundesregierung Nr. 68, v. 23 Juni 1992. 47 BVerfGE 90, 286 (307). 48 BVerfGE 88, 173 (175). 49 BVerfGE 90, 286 (328 f.).

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Da der Bundestag an den Entscheidungen über diesen wie über einen weiteren Einsatz in Somalia nicht beteiligt war, erhob die SPD-Fraktion Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Dessen zweiter Senat entschied in seinem Urteil vom 12. Juli 1994 zwar zum einen, dass das Grundgesetz die Bundesregierung verpflichte, für einen Einsatz der Bundeswehr die – grundsätzlich vorherige – Zustimmung des Bundestages einzuholen.50 Zum anderen aber billigte er Art. 24 Abs. 2 GG als verfassungsrechtliche Grundlage des Einsatzes der Bundeswehr gegen Jugoslawien in Bosnien-Herzegowina und in dem zweiten streitgegenständlichen Fall Somalia.51 Die Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit schließe notwendigerweise auch den Einsatz von Streitkräften ein. Der Senat ordnete sowohl die Vereinten Nationen als auch die NATO als derartige Systeme ein.52 Art. 87a GG sei im Rahmen der Notstandsregelungen 1968 geschaffen worden, um den Einsatz der Streitkräfte im Innern zu regeln, damit habe man aber den älteren Art. 24 Abs. 2 GG und die durch diesen begründete rechtliche Zulässigkeit von Einsätzen nicht ändern wollen.53 Da der Senat über die Frage, ob die Erweiterung des Aufgabenfeldes der NATO eine Vertragsänderung darstelle, die der Zustimmung des Bundestages bedurft hätte, gespalten war, wurde diese Frage in dem Verfahren nicht endgültig entschieden.54 Die tragende Meinung hielt aber eine Zustimmung des Bundestages nicht für notwendig.55 In einem eigens für diese Problematik von der PDS angestrengten Organstreitverfahren wurde die Frage vom zweiten Senat endgültig dahin entschieden, dass das Vorgehen als Fortentwicklung der NATO anzusehen und daher eine förmliche Vertragsänderung mit Zustimmung des Bundestages zur Ratifikation gem. Art. 59 Abs. 2 GG nicht erforderlich sei.56 Wurde die Büchse der Pandora geöffnet? Die Bundeswehr war in der Folge an den verschiedenen Militäroperationen in Bosnien-Herzegowina zwischen 1992 und bis 2012 mit eigenen Truppen beteiligt. Nach dem Urteil des zweiten Senates wurde der Bundestag zum ersten Mal bei einer Verlängerung der Einsätze im Juni 1995 beteiligt.57 Die Beteiligung der deutschen Streitkräfte im Rahmen der NATO bedingt auch die Unterstellung unter deren Befehls- und Kommandogewalt. Ob und inwieweit es sich dabei auch um eine Übertragung von Hoheitsrechten gem. Art. 24 Abs. 1

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BVerfGE 90, 286 (383 – 387). BVerfGE 90, 286 (345 f. allgemein, für Somalia 351 – 353, für Jugoslawien und BosnienHerzegowina 353 – 355). 52 BVerfGE 90, 286 (347 – 351). 53 BVerfGE 90, 286 (355 – 357). 54 BVerfGE 90, 286 (357 – 378). 55 BVerfGE 90, 286 (359 – 372). 56 BVerfGE 104, 151 (199 – 214); dagegen: Sauer (Fn. 44), S. 320 – 330, 341. 57 Antrag der Bundesregierung, BT-Drs. 13/1802; Beschluss des Bundestages v. 30 Juni 1995, Grundlage: 386 ja, 258 nein, 11 Enthaltungen, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 30. Juni 1998 (13/48), S. 4017 A. 51

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GG und nicht nur um eine „Beschränkung von Hoheitsrechten“ gem. Abs. 2 handelt, muss hier offenbleiben.58 c) Frieden? Der bewaffnete Konflikt in Bosnien-Herzegowina endete 1995 mit dem Abkommen von Dayton/Paris. Dieses Abkommen wurde von den Präsidenten von Kroatien, Jugoslawien und Bosnien-Herzegowina unterzeichnet. Sie waren die Vertragspartner. Außerdem unterzeichneten als „Zeugen“ und wohl auch als Garanten, wenn sie auch nicht als solche erscheinen, die Vertreter der Interventionsmächte sowie Russlands als Partner der Kontaktgruppe. Der Sicherheitsrat begrüßte das Abkommen im Dezember 1995 und nahm es an.59 Der Vertrag enthält keine ausdrückliche Wiederherstellung des Friedens zwischen den drei Staaten, sondern verweist für ihr künftiges Verhältnis nur auf the principles set forth in the United Nations Charter, as well as the Helsinki Final Act and other documents of the Organization for Security and Cooperation in Europe. Verträge über einen Friedensschluss oder ähnliches zwischen Jugoslawien/Serbien, gegen dessen Truppen sich die militärischen Maßnahmen der NATO und auch der Bundesrepublik direkt richteten, und den Interventionsmächten gab es nicht. Inhaltlich wurde die innere rechtliche Ordnung Bosnien-Herzegowinas als einem föderalen Staatswesen mit einer starken Dezentralisierung festgelegt. So gehört in der folgenden Phase bis heute die innere „Staatsbildung“ zwischen den Volkgruppen und den Landesteilen zu den wesentlichen Herausforderungen. Dazu wurden verschiedene Maßnahmen vereinbart, unter anderem die Errichtung eines Peace Implementation Council, der bis in die Gegenwart die Umsetzung des Abkommens begleitet. Als Anhänge zu dem Vertrag wurden weitere Vereinbarungen geschlossen, einerseits zwischen den Teileinheiten innerhalb Bosnien-Herzegowinas sowie andererseits zwischen der NATO und Bosnien-Herzegowina sowie Jugoslawien. Sie regeln Rechte der Truppen der NATO, die weiterhin unter der Überwachung durch die Vereinten Nationen in den beiden Staaten stationiert sein sollen, um die Durchführung der Abreden und den Frieden zu sichern. Obwohl es sich um internationale Verträge handelt, an denen die Bundesrepublik als NATO–Mitglied indirekt beteiligt ist, haben eine Zustimmung des Bundestages und eine Ratifikation durch den Bundespräsidenten nicht stattgefunden. Wohl aber beteiligte sich die Bundesrepublik an ihrem Vollzug, unter anderem durch weitere Gestellung von Truppen. Der Sicherheitsrat unterstützte in der Resolution vom Dezember 1995 die in den Verabredungen von Dayton getroffenen Vereinbarungen auch zur inneren Ordnung Bosnien-Herzegowinas. Er beschloss eigene Maßnahmen für die innere Befriedung, insbesondere Aufträge an den Generalsekretär zur Umsetzung des Abkommens. Er entschied aber auch, die Entwicklung weiter zu beobachten und zu begleiten. Er hält 58 59

Nolte (Fn. 42), S. 114 – 117. S/RES/1031 (1995).

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bis heute daran fest, die Situation um das frühere Jugoslawien und insbesondere in Bosnien-Herzegowina als eine „Bedrohung des Friedens und der Sicherheit“ zu qualifizieren und Beschlüsse nach Kapitel VII der Satzung zu fassen.60 Er erachtet das wohl als notwendig, um die weitere Implementierung und Befolgung der Abkommen durch die Parteien zu gewährleisten. So ist auch bis heute eine internationale Truppe gemäß den Abkommen und Vereinbarungen von Dayton und den Mandatierungen des Sicherheitsrates dort stationiert. Allerdings handelt es sich seit 2004 nicht mehr um eine NATO-Truppe (SFOR), sondern um eine EU-Truppe (EUFOR ALTHEA). Auch diese Einheiten waren und sind wie die NATO-Truppe mandatiert, das Abkommen gemäß den Vereinbarungen von Dayton und deren Bestätigungen durch den Sicherheitsrat mit allen Mitteln (all necessary means) zu sichern, also notfalls auch mit dem Einsatz von Gewalt.61 Dies wurde in der genannten Resolution vom November 2017 bestätigt. Die Bundeswehr nahm bis 2012 an dieser Truppe teil. Wir haben also Vereinbarungen zur Beendigung der Gewalt und einer rechtlichen Ordnung für Bosnien-Herzegowina, aber trotzdem die weitere Anwendung des Gewaltvölkerrechts.

2. Humanitäre Intervention/Staatsbildung: Kosovo a) Der Fall Da auch die albanische Mehrheit der jugoslawischen Provinz Kosovo nach Unabhängigkeit von Jugoslawien/Serbien strebte, die serbische Minderheit aber bei Serbien bleiben wollte, kam es ab 1997 zu gewaltsamen militärischen Auseinandersetzungen zwischen Kosovo-Albanern und der serbischen Regierung sowie den Kosovo-Serben.62 Es handelte sich also um einen innerstaatlichen Krieg, der als Bürgerkrieg oder präziser als Unabhängigkeitskrieg qualifiziert werden kann. Auf der Seite der Kosovo-Albaner kämpften die UCK, die zunächst auch im Westen als Terrorgruppe eingestuft wurde, dann aber zum legitimen Partner avancierte. Diese Kämpfe führten zu schweren Verletzungen der Menschenrechte der Zivilbevölkerung, Verletzungen des humanitären Völkerrechts und auch wieder zu ethnischen Säuberungen durch beide Seiten. Im Jahr 1998 begann die Internationalisierung des Konfliktes. Der Sicherheitsrat beschloss ab März 1998 mehrere Resolutionen.63 Er verurteilte die Anwendung von Gewalt vor allem gegen die Zivilbevölkerung durch beide Sei60

Zuletzt S/RES/2384 v. 7. November 2017. S/RES/1551 v. 9. Juli 2004; weitere Resolutionen: S/RES/1575 (2004); S/RES/1639 (2005); S/RES/1785 (2007), S/RES/1869 (2009), S/RES/1895 (2009), S/RES/1948 (2010), S/ RES/2019 (2011), S/RES/2074 (2012), S/RES/2123 (2013), S/RES/2183 (2014). 62 Darstellung des Kosovo-Konfliktes bei Erich Rathfelder, Kosovo. Geschichte eines Konflikts, Berlin 2011; Kurt Gritsch, Krieg um Kosovo. Geschichte, Hintergründe, Folgen, Innsbruck 2016, mit kritischer Position gegenüber den Interventionsmächten. 63 S/RES/1160 v. 31. März 1998. 61

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ten, rief alle Beteiligten auf, eine friedliche Lösung zu suchen, verhängte ein Waffenembargo gegen Jugoslawien und den Kosovo, setzte ein Beobachtungskomitee ein und erteilte dem Generalsekretär verschiedene Aufträge. Ebenfalls 1998 wurde die OSZE tätig und versuchte, Vereinbarungen mit der jugoslawischen Regierung über Luftüberwachungen etc. zu treffen. Es wurde eine aus westlichen Mächten der NATO und Russland bestehende Kosovo-Kontaktgruppe gebildet, zu der auch die Bundesrepublik gehörte. In der Folge stufte der Sicherheitsrat die gewaltsamen Auseinandersetzungen als Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit ein und beschloss, unter Kapitel VII SVN tätig zu werden.64 Es folgten weitere Resolutionen, die eigentlich immer nur dasselbe mit wachsendem Nachdruck wiederholten: insbesondere die Verurteilung der Gewalt gegen Zivilisten, die Forderung nach einer Einstellung aller Gewalt von beiden Seiten und einen Waffenstillstand, die Aufnahme von Verhandlungen zwischen den Parteien für eine friedliche Lösung, die Unterstützung für die Kontaktgruppe in ihren Bemühungen um eine Befriedung und Lösung des Konflikts und schließlich die Begrüßung und Unterstützung der Bemühungen der OSZE. Er gab auch Richtlinien für die Konfliktlösung auf der Grundlage einer weitgehenden Autonomie des Kosovo innerhalb der Republik Jugoslawien. Aber er verhängte weder Sanktionen nach Art. 41 SVN noch ermächtigte er zu einem militärischen Eingreifen zum Schutz der Bevölkerung nach Art. 42 SVN.65 Jedoch begann die NATO 1998, unter anderem durch Drohungen mit militärischen Mitteln, mehr und mehr Druck auf Belgrad auszuüben, auch um der Sicherheitsratsresolution 1199 (1998) Folge zu leisten. Verhandlungen der Kontaktgruppe mit Jugoslawien/Serbien und den Kosovo-Albanern über einen Frieden auf Schloss Rambouillet und in Paris scheiterten. Die NATO dominierte auch das weitere Geschehen. Am 13. Oktober beschloss der NATO-Rat, gegebenenfalls begrenzte Luftschläge auf serbische Stellungen im Kosovo, aber auch auf serbische Städte, unter anderem auf Belgrad, auszuführen.66 Am 24. März 1999 begannen die von der NATO in ihrem Ultimatum angedrohten Luftangriffe, da die jugoslawische Regierung sich weiterhin weigerte, der Resolution 1199 (1998) Folge zu leisten. Es handelte sich also um eine gewaltsame Intervention in, wenn nicht um einen bewaffneten Angriff auf Jugoslawien, einen Mitgliedstaat der Vereinten Nationen. Begründet wurden diese Luftschläge mit dem Schutz der albanischen Zivilbevölkerung, unter anderem vor ethnischen Säuberungen. Aus der Sicht der NATO stellten die Luftschläge eine humanitäre Intervention dar, die aber anders als in Bosnien-Herzegowina nicht vom Sicherheitsrat mandatiert war. Der NATO-Rat begründete das Vorgehen trotz Fehlens des Mandats der Vereinten 64

S/RES/1199 v. 23. September 1998; S/RES/1203 v. 24. Oktober 1998. Philipp A. Zygojannis, Die Staatengemeinschaft und das Kosovo. Humanitäre Intervention und internationale Übergangsverwaltung unter Berücksichtigung einer Verpflichtung des Intervenienten zur Nachsorge, Berlin 2003, S. 43 – 51. 66 Regierungserklärung Außenminister Kinkel, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 16. Oktober 1998 (13/248), S. 23128 A. 65

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Nationen damit, dass der Sicherheitsrat nicht handeln werde. Er nahm also gewissermaßen ein humanitäres Not-Ersatzrecht in Anspruch. Der Sicherheitsrat befasste sich zwar weiterhin auch nach der militärischen Intervention der NATO mit der Kosovofrage und versuchte, vor allem für die katastrophale humanitäre Situation im Kosovo Abhilfe bereit zu stellen.67 Aber auf die NATOBombardements ging er mit keinem Wort ein. Er unterstützte allerdings die von der Kontaktgruppe am 6. Mai verabschiedeten Prinzipien für eine Konfliktlösung, begrüßte deren Annahme durch die jugoslawische/serbische Regierung und verlangte deren Umsetzung.68 Völkerrechtlich war und ist das Vorgehen der NATO bis heute stark umstritten.69 Es hielt sich nicht im Rahmen des Gewaltvölkerrechts. Denn das Gewaltverbot des Art. 2 Abs. 4 SVN gilt nicht nur für die einzelnen Staaten, sondern durch sie auch für ihre regionalen Zusammenschlüsse. Ein Angriff auf das Gebiet der NATO, ja auch nur eine Gefährdung eines NATO-Staates und damit ein Fall des Selbstverteidigungsrechtes lagen nicht vor.70 Der Konflikt spielte sich allein im Kosovo ab. Aber gibt es für die humanitäre Intervention, als welche die NATO ihr Vorgehen im Kosovo und gegen Jugoslawien verstand, allgemein ein Sonderrecht?71 Es hat sich ein solcher Fall nicht wiederholt. Aber gerade diese Frage spielte in der Diskussion um die Beteiligung der Bundesrepublik eine erhebliche Rolle.

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S/RES/1239 v. 14. Mai 1999. S/RES/1244 v. 10. Juni 1999. 69 Unter anderem Michael Bothe, Die NATO und die Vereinten Nationen nach dem Kosovo-Konflikt. Eine völkerrechtliche Standortbestimmung, Vereinte Nationen 1999, S. 125 – 132; Knut Ipsen, Der Kosovo-Einsatz – Illegal? Gerechtfertigt? Entschuldbar?, Die FriedensWarte 74 (1999), S. 19 – 23; Volker Rittberger, Die NATO in den Fallstricken des KosovoKonflikts, ebd., S. 24 – 32; Christian Tomuschat, Völkerrechtliche Aspekte des Kosovo-Konflikts, ebd., S. 33 – 37; Daniel Thürer, Der Kosovo-Konflikt im Lichte des Völkerrechts: Von drei – echten und scheinbaren – Dilemmata. Grundsätze des Rechts der Gewaltanwendung und des humanitären Völkerrechts, Archiv des Völkerrechts 38 (2000), S. 1 – 22, dort Fn. 10 eine umfassende Literaturliste; Dieter S. Lutz (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg. Rechtliche und rechtsethische Aspekte, Baden-Baden 1999, eine Sammlung deutschsprachiger Beiträge, die während des Konfliktes an verschiedenen Stellen erschienen sind; Christian Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community. A Legal Assessment, Den Haag u. a. 2002, französisch- und englischsprachige Referate eines Symposions der Société française pour le droit international und der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht im Jahre 2000; Zygojannis (Fn. 65), S. 21 – 30; Nasimi Aghayev, Humanitäre Intervention und Völkerrecht. Der NATOEinsatz im Kosovo, Berlin 2007. 70 Zygojannis (Fn. 65), S. 51 f. 71 Befürwortend unter engen Voraussetzungen Thürer (Fn. 69), S. 6 – 9; ebenso Tomuschat (Fn. 69), S. 34; Zygojannis (Fn. 65), S. 52 – 63, es bestehe ein „Nothilferecht“; ablehnend H. Steiger, „Bellum iustum“ (Fn. 6), S. 130/236 f. 68

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b) Die Beteiligung der Bundesrepublik Diese befand sich im Oktober 1998 in einer innenpolitischen Schwebelage. In den Bundestagswahlen vom 27. September hatten die alten Regierungsparteien CDU, CSU und FDP ihre Mehrheit verloren und eine neue Regierungsmehrheit aus SPD und Grünen zeichnete sich ab. Aber der neue Bundestag hatte sich noch nicht konstituiert. Die amtierende Bundesregierung hatte dem NATO-Beschluss zum militärischen Eingreifen im Kosovo zugestimmt.72 Sie stellte auch den Antrag an den Bundestag, sich an dem Kosovo-Einsatz zu beteiligen.73 Darüber musste der alte Bundestag entscheiden. Es bestand Übereinstimmung zwischen der noch amtierenden Regierung und der sich abzeichnenden neuen Regierung und den sie tragenden Parteien, sich an dem Einsatz zu beteiligen. Der Antrag der amtierenden Bundesregierung wurde am 16. Oktober 1998 im alten Bundestag diskutiert und mit großer Mehrheit aus den diese und die zukünftige Regierung tragenden Fraktionen angenommen.74 Verfassungsrechtliche Grundlage des Antrags der Bundesregierung bildete wiederum Art. 24 Abs. 2 GG zur Umsetzung des genannten Beschlusses des NATORates. Die Sicherheitsratsresolution 1199 (1998) wurde als indirekte völkerrechtliche Begründung herangezogen. Im Übrigen stützte sich die Bundesregierung für die völkerrechtliche Zulässigkeit trotz fehlenden Sicherheitsratsmandates auf Ausführungen des NATO-Generalsekretärs Solana.75 Sie betrachtete die Gewaltanwendung als ultima ratio nach dem Scheitern aller Verhandlungsbemühungen. Die völkerrechtliche Zulässigkeit der Intervention wurde trotz ihrer Zweifelhaftigkeit76 von den vier Fraktionen der alten wie der neuen Koalition im Hinblick auf ihren humanitären Charakter bejaht. Anders als im Konflikt in Bosnien-Herzegowina beteiligten sich deutsche Kampfjets nicht nur an der Aufklärung, sondern führten auch selbst Luftangriffe auf jugoslawische militärische Ziele durch. Nachdrückliche verfassungsrechtliche Diskussionen zur deutschen Beteiligung hat es nicht gegeben. Im Vordergrund der Debatten stand die völkerrechtliche Zulässigkeit, von der auch die verfassungsrechtliche Zulässigkeit maßgeblich abhing. Mehrere Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte erstatteten allerdings Strafanzeige gegen Bundeskanzler Gerhard Schröder und Verteidigungsminister Rudolf Scharping, unter anderem wegen Verstoßes gegen Art. 26 GG i. V. m. § 80 StGB durch 72

Regierungserklärung Außenminister Kinkel, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 16. Oktober 1998 (13/248), S. 23128 A. 73 BT-Drs. 13/11469. 74 Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 16. Oktober 1998 (13/248), S. 23161 B. 75 Außenminister Kinkel, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 16. Oktober 1998 (13/248), S. 23129 B. Der Außenminister der neuen Regierung, Joschka Fischer, erklärte später in einer Rede am 7. April 1999: „Ich habe gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz“, zit. „Süddeutsche Zeitung“ v. 19. März 2010. Kritisch Gritsch, Krieg um Kosovo, (Fn. 62), S. 126 ff. 76 So hielt unter anderem der amtierende Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig den Einsatz für völkerrechtswidrig.

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die Führung eines verbotenen Angriffskrieges. Der Generalbundesanwalt lehnte die Einleitung eines Strafverfahrens jedoch ab, da er einen Verstoß nicht erkennen konnte.77 c) Frieden? Das Ende des gewaltsamen Konflikts im Kosovo kam durch das Abkommen von Kumanovo zwischen der NATO und der jugoslawischen Armee vom 9. Juni 1999 zustande. Es beruhte auf einem Friedensplan der Kontaktgruppe, die auch Russland einschloss, den der Sicherheitsrat begrüßte und unterstützte.78 Das Abkommen von Kumanovo wurde auf kosovarischer und jugoslawischer Seite von einem General sowie für die NATO von einem britischen General unterzeichnet, war also ein Militärabkommen, kein förmliches Friedensabkommen. Darin wurden die Einstellung der Kampfhandlungen, der Rückzug der jugoslawischen Truppen aus dem Kosovo und der Einzug der KFOR-Truppen unter Führung der NATO sowie die Entwaffnung der albanischen UCK vereinbart. Es wurden aber auch Regelungen für die Zukunft des Kosovo getroffen. Das Kosovo sollte ein mit großer Autonomie ausgestatteter Teil Jugoslawiens bleiben. Den kosovarischen Serben wurde eine Sonderstellung im Kosovo zugebilligt. Zudem sollte ein Übergangsprozess zur Entwicklung der Autonomie des Kosovo, also eine Art Staatsbildungsprozess alsbald eingeleitet werden. Über einen Friedensvertrag zwischen Jugoslawien/Serbien und den NATO-Staaten wurde nie verhandelt. Man ordnete das Geschehen vom März bis zum Juni 1999 offenbar nicht als Krieg ein. Die Bundesrepublik ist seit Juni 1999 in wechselnder Stärke an der KFOR-Truppe beteiligt.79 Die Beteiligung wurde auf die Resolution des Sicherheitsrates 1244 (1999) gestützt und soll deren Implementierung dienen. Zuletzt wurde die Beteiligung bis Juni 2019 beschlossen.80 Der Sicherheitsrat erteilte in der Resolution 1244 (1999) die notwendigen Ermächtigungen an die Staaten und internationalen Organisationen, das heißt vor allem die NATO, die Bestimmungen des Friedensplanes durchzuführen, also vor allem die KFOR-Truppe zu errichten, ohne zum Vorgehen der NATO Stellung zu nehmen. Er beschloss aber zugleich, die KFOR-Truppe unter die Aufsicht der Vereinten Nationen zu stellen. Der Generalsekretär wurde beauftragt, die internationale Zivilverwaltung UNMIK aufzubauen.81 Die Vereinten Nationen übernahmen gewissermaßen im Nachhinein, was die Interventionsmächte ohne sie seit März getan und als Ergebnis festgeschrieben hatten. 77

Strafanzeige abgedruckt in: Lutz (Hrsg.) (Fn. 69), S. 315 – 321. S/RES/1244 v. 10. Juni 1999, Text im Annex A der Resolution. 79 Antrag der Bundesregierung, BT-Drs. 14/1133; Beschluss des Bundestages, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 11. Juni 1999 (14/43), S. 3584 B. 80 Antrag der Bundesregierung, BT-Drs. 19/2384, Beschluss des Bundestages Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 14. Juni 2018 (19/39), S. 3850 B. 81 I. e. Zygojannis (Fn. 65), S. 125 – 139 und insbesondere 140 – 172. Er vertritt die These, dass die Intervenienten eine „Verpflichtung zur Nachsorge“ haben. 78

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Die Staatsbildung des Kosovo rückte also ins Zentrum weiterer internationaler „Nachsorge“ in der post bellum-Phase. Zwar hat die Entwicklung 2008 zur Unabhängigkeit des Kosovo geführt. Diese ist jedoch nicht allgemein anerkannt.

3. „Krieg gegen den Terror“ 1: Afghanistan a) Internationaler Terrorismus Schon vor dem 11. September 2001 war der internationale Terrorismus zu einer globalen Erscheinung und Gefährdung geworden.82 Die Vereinten Nationen beschäftigen sich daher seit den siebziger Jahren mit diesem Phänomen.83 Unter anderem wurden Anti-Terrorismus-Konventionen ausgearbeitet.84 Konkret hat der Sicherheitsrat die Situation in Afghanistan unter den Taliban bereits vor den Anschlägen vom 11. September 2001 unter anderem wegen der Unterstützung Osama bin Ladens als „Gefährdung des internationalen Friedens und der Sicherheit“ nach Art. 39 SVN eingestuft und Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII verhängt.85 Er forderte die Taliban auf, ihren Schutz für al-Qaida aufzugeben und Osama bin Laden auszuliefern.86 Außerdem verpflichtete er die Mitgliedstaaten zu bestimmten Sanktionsmaßnahmen gegen die Taliban gem. Art. 41 SVN.87 Inzwischen richten sich die Resolutionen des Sicherheitsrates gegen den internationalen Terrorismus allgemein. Er qualifiziert ihn bis heute als „Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit“ und beschließt Maßnahmen zu seiner Bekämpfung unter Kapitel VII gem. Art. 41 SVN. Er verpflichtet alle Mitgliedstaaten, von ihm bestimmte, wenngleich nicht-militärische Maßnahmen gegen sogenannte „gelistete“ terroristische Gruppen, Einrichtungen und Einzelpersonen zu ergreifen. Allgemeine militärische Gewaltmaßnahmen hat der Sicherheitsrat bisher nicht mandatiert. Da diese Maßnahmen unter Kapitel VII SVN erlassen werden, ordnet er den Kampf gegen den internationalen Terrorismus in das Gewaltvölkerrecht ein, obwohl die Angriffe nicht von Staaten, sondern von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Er erweitert somit die Anwendung des Ge82 Zum Begriff des internationalen Terrorismus: Dominik Steiger, Das Ringen um eine rechtliche Definition des Begriffs „Terrorismus“ auf internationaler Ebene, in: Kerstin Odendahl (Hrsg.), Die Bekämpfung des Terrorismus mit Mitteln des Völker- und Europarechts, Berlin 2016, S. 45 – 86. 83 Stefanie Schmahl, Maßnahmen der UNO zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus: Die Rolle des Sicherheitsrats und der Generalversammlung, in: Odendahl (Hrsg.) (Fn. 82), S. 109 – 148. 84 Die Vereinten Nationen haben inzwischen 13 Konventionen ausgearbeitet, https://frie den-sichern.dgvn.de/terrorismus/konventionen/. 85 S/RES/1267 v. 15. Oktober 1999, Ziff. 4, die ihrerseits auf eine Reihe vorhergehender Resolutionen Bezug nimmt; S/RES/1333 v. 19. Dezember 2000. 86 S/RES/1267 (1999). 87 Ebd. Ziff. 4. Es handelte sich vor allem um Flugverbote und um die Austrocknung der Finanzquellen.

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waltvölkerrechts hinsichtlich der Akteure. Zudem entgrenzt er es, indem die Welt als solche Bezugsraum der Friedensgefährdung wird. b) Der Fall Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erklärte der damalige amerikanische Präsident George W. Bush den weltweiten „Krieg gegen den Terrorismus“.88 Bundeskanzler Schröder sagte: „Dies ist nicht nur ein Krieg gegen die USA, dies ist ein Krieg gegen die zivilisierte Welt.“89 Die NATO erklärte bereits am 12. September den Bündnisfall nach Art. 5 NATO-Vertrag für den Fall, dass es sich um einen Angriff von außen gehandelt habe.90 Am 4. Oktober stellte sie den Verteidigungsfall nach Art. 5 NATO-Vertrag formell fest, ebenfalls obwohl der Angriff von nichtstaatlichen Akteuren ausgegangen war.91 Der Sicherheitsrat verurteilte in einer Resolution vom 12. September die Anschläge scharf und qualifizierte sie als „Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit“, nicht aber ausdrücklich als armed attack nach Art. 51 SVN. Trotzdem erkannte er das Selbstverteidigungsrecht der USA an. Militärische Maßnahmen ergriff oder mandatierte er jedoch nicht, überließ die Reaktion also den Staaten.92 Im Übrigen verschärfte der Sicherheitsrat die von ihm bereits früher beschlossenen Sanktionen gegen die terroristischen Gruppen und Personen al-Qaidas und verpflichtete die Staaten zu deren Durchführung. Er setzte zudem ein Komitee ein, das die Einhaltung seiner Anordnungen durch die Staaten überwachen sollte, das Counter Terrorism Commmittee.93 Es wurde sehr schnell klar, dass die Täter der Terrorgruppe al-Qaida angehörten, also Privatpersonen waren, die auch nicht im staatlichen Auftrag gehandelt hatten. Aber die USA und ihre Verbündeten richteten mit der sog. Operation Enduring Freedom (OEF) militärische Maßnahmen der Selbstverteidigung gegen Staaten, die den Terroristen und ihren Gruppen Schutz und auch Unterstützung gaben, vor allem ab 88

Dominik Steiger, Das völkerrechtliche Folterverbot und der „Krieg gegen den Terror“, Heidelberg u. a. 2013, S. 7, Fn. 8; zu den weiteren Reaktionen ebd., S. 28 mit Nachweisen; zentral die Rede Bushs vor dem Kongress vom 20. September 2001, dt. unter: https://usa. usembassy.de/etexts/docs/ga1 – 092001d.htm. 89 Regierungserklärung v. 12. September 2001, wiederholt in der Sitzung des Bundestages v. 19. September 2001, Stenographisches Protokoll (14/187), S. 18301 B. 90 Beschluss v. 12. September 2001. Text in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2001, S. 1262. 91 George Robertson, Generalsekretär der NATO, Statement to the Press, 4. Oktober 2001, NATO/OTAN online library, https://www.nato.int/docu/speech/2001/s011004b.htm. Es war die erste Inanspruchnahme dieser Beistandsverpflichtung seit Bestehen der NATO. 92 S/RES/1368 v. 12. September 2001, S/RES/1373 v. 28. September 2001. Aber diese letztere Resolution richtete sich im operativen Teil aus Anlass der Terrorakte vom 11. September gegen den Terrorismus allgemein. 93 S/RES/1373 (2001). In der Literatur werden diese Beschlüsse als „quasi-legislatorische Maßnahmen“ qualifiziert und als solche kritisiert, Schmahl (Fn. 83), S. 128 f. mit Verweisen.

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Oktober 2001 gegen Afghanistan.94 Denn dieses stand weitgehend unter der – wenn auch von anderen Gruppen wie der sog. Nordallianz bekämpften – De-facto-Herrschaft der Taliban, die al-Qaida und ihrem Anführer Osama bin Laden Unterkunft, Schutz und Unterstützung gewährten. Durch die früheren Resolutionen des Sicherheitsrates war die Verantwortlichkeit Afghanistans unter dem De-facto-Regime der Taliban für al-Qaida international bereits festgestellt.95 Ultimaten der USA, Osama bin Laden auszuliefern und gegen al-Qaida vorzugehen, lehnten die Taliban ab. Daraufhin begannen die USA am 7. Oktober zunächst mit Luftangriffen. Am Boden standen sie im Bündnis mit der Nordallianz. Es wurden dann aber auch Bodentruppen der USA und ihrer Verbündeten eingesetzt. Ziel des Einsatzes war es, die Terrorgruppe zu zerschlagen, bin Laden zu fassen und allgemein das De-facto-Regime der Taliban zugunsten einer demokratisch legitimierten Regierung zu beenden. Der Sicherheitsrat nahm zu den militärischen Eingriffen im Rahmen der OEF zunächst keine Stellung. Die NATO war als Gesamtorganisation trotz des Beschlusses vom 4. Oktober 2001 nicht formeller Bündnispartner. Wohl aber waren NATO-Staaten an der Operation beteiligt. Nach der Vertreibung der Taliban-Regierung aus Kabul bereits im November 2001 wurde auf einer internationalen Konferenz vom 27. November bis 5. Dezember 2001 auf dem Petersberg bei Bonn zwischen mehreren westlichen Staaten und afghanischen Gruppen ein Regierungsbildungsprozess eingeleitet, der zu einer durch Wahlen legitimierten Regierung führen sollte. Diese sollte durch internationale Hilfe stabilisiert, unterstützt und gegen weitere Angriffe der Taliban gestärkt werden.96 So sollte ein Prozess des inneren Wiederaufbaus der afghanischen Staatlichkeit in Gang gesetzt werden. Dieser sog. Petersberg-Prozess wurde in den folgenden Jahren mit unregelmäßig stattfindenden Konferenzen fortgesetzt und dauert bis heute an.97 Zur Absicherung dieses Staatsbildungsprozesses wurde mit Zustimmung der neuen afghanischen Regierung die International Security Assistance Force (ISAF) gebildet. Sie trat neben die Interventionstruppen der OEF, die weiterhin gegen die Taliban und ihre Verbündeten in Afghanistan vorging. Es handelte sich also bei OEF und ISAF um zwei verschiedene, aber miteinander verknüpfte internationale Missionen gegen terroristische Gruppen und Personen in Afghanistan, eine zur Selbstverteidigung der Interventionsmächte nach Art. 51 SVN, die andere zur internen Friedenssicherung und Staatsbildung Afghanistans und damit indirekt auch zur Verteidigung gegen den internationalen Terrorismus. Sie beruhten auf Zustimmungen und Vereinbarungen zwischen den am Petersberg-Prozess beteiligten Mächten bzw. der NATO und Afghanistan. Es handelte sich von Anfang an, spätestens aber seit den Petersberg94

31. 95

Kurze Zusammenfassung mit Nachweisen bei D. Steiger, Folterverbot (Fn. 88), S. 28 –

S/RES/1267 (1999), oben Fn. 85. Abkommen v. 5. Dezember 2001, Text und Bericht des Generalsekretärs, S/2001/1154. Es beruhte auf einem vom Sicherheitsrat gebilligten Fünf-Punkte-Plan des Beauftragten der Vereinten Nationen, S/RES/1378 (2001). Der Sicherheitsrat war also stets mit eingebunden. 97 Unten II.3.c. (S. 229). 96

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Vereinbarungen und der Etablierung einer neuen afghanischen Regierung, nicht um ein Vorgehen der ausländischen Truppen gegen Afghanistan als Staat, sondern zunächst gegen ein De-facto-Regime und eine auf dem Gebiet dieses Staates etablierte, von dem Regime geschützte und von dort aus weltweit agierende Terrororganisation. So dauerte der „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan auch nach der Bildung einer legitimen Regierung an, intensivierte sich sogar mehr und mehr und ist auch gegenwärtig nicht abgeschlossen. Die ISAF hatte keinen Kampfauftrag, sondern war grundsätzlich auf Selbstschutz und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte in deren Kampf gegen die Taliban beschränkt. Sie wurde jedoch vom Sicherheitsrat unter Anwendung des Kapitels VII SVN ermächtigt, unter Umständen auch die Waffe zu gebrauchen, um ihren Sicherheitsauftrag zu erfüllen.98 Die ISAF wurde 2003 der Führung der NATO unterstellt. Diese war damit, anders als bei der OEF, als Organisation an dieser Truppe beteiligt, aber eben nicht im Rahmen ihrer Verteidigungsaufgabe, sondern ihrer erweiterten Aufgabenstellungen, wie sie in den Strategiebeschlüssen von 1991 und 1999 angelegt waren.99 Zudem wurden während des andauernden ISAF-Einsatzes Beschlüsse zur inneren Stabilisierung, zum inneren Wiederaufbau und zur Staatsbildung im Rahmen des Petersberg-Prozesses gegeben. Sie fanden die Unterstützung des Sicherheitsrates, der seinerseits weitere Maßnahmen zur Einbindung der Vereinten Nationen in diesen Prozess, unter anderem die Errichtung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und deren Koordinierung mit der ISAF, beschloss.100 Er wollte die Führung bei den staatsbildenden Maßnahmen in der Hand behalten. c) Die Beteiligung der Bundesrepublik In einem ersten Beschluss vom 19. September 2001 begrüßte der Bundestag die Resolutionen des Sicherheitsrates und konstatierte einen Fall des kollektiven Verteidigungsrechts. Da ein Angriff auf das Gebiet der Bundesrepublik nicht vorlag, wenn auch die Attentäter von Deutschland aus gehandelt hatten, stellte er aber nicht den „Verteidigungsfall“ fest.101 In einem weiteren Beschluss stimmte der Bundestag am 16. November der Beteiligung an der internationalen Truppe Operation Enduring Freedom in verschiedenen Einsatzgebieten mit 800 Soldaten, darunter 100 in Afghanistan, zu.102 Völkerrechtliche Grundlagen waren das kollektive Verteidigungsrecht 98

S/RES/1386 (2001). NATO/OTAN-Gipfel, Pressemitteilung v. 24. April 1999, https://www.nato.int/docu/pr/ 1999/p99-065d.htm. 100 S/RES/1401 (2002), zuletzt verlängert durch S/RES/2405 v. 8. März 2018. 101 Entschließungsantrag, BT-Drs. 14/6920; Beschluss des Bundestages, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 19. September 2001 (14/187), S. 18337 C. 102 BT-Drs. 14/7296; Beschluss des Bundestages v. 16. November 2001, mit 336 ja- und 326 nein-Stimmen, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 16. November 2001 (14/202), S. 19893 A. Da Bundeskanzler Schröder mit der Abstimmung über den Einsatz-Antrag die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG verbunden hatte, stimmten die Abgeordne99

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gem. Art. 51 SVN und die Resolutionen des Sicherheitsrates sowie die Beschlüsse des NATO-Rates vom 4. Oktober 2001. Daher wird als verfassungsrechtliche Grundlage wiederum Art. 24 Abs. 2 GG herangezogen, der in diesem Falle durch die Beistandspflicht nach Art. 5 NATO-Vertrag ausgefüllt oder konkretisiert wird. Die deutschen Streitkräfte handelten somit bei der Beteiligung an der Bekämpfung des internationalen Terrorismus im Rahmen der OEF in Wahrnehmung des Rechts zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung. Da diese Zustimmung zeitlich auf 12 Monate befristet war, stimmte der Bundestag regelmäßig dieser Beteiligung auf denselben Rechtsgrundlagen zu, zuletzt 2008.103 Nachdem in der Folge der Bonner Konferenz eine neue afghanische Übergangsregierung installiert war, stimmte der Bundestag am 22. Dezember 2001 auf Antrag der Bundesregierung dem Einsatz deutscher Soldaten als Teil der ISAF im Raum Kabul zu.104 Ihre Aufgabenstellung richtete sich auf Aufbauhilfe, Sicherung des Neuaufbaus und Ausbildung. Kampfeinsätze sollten sekundäre Aufgabe sein. Verfassungsrechtlich berief sich der Bundestag auch insofern auf Art. 24 Abs. 2 GG und damit auf die Beschlüsse des Sicherheitsrates, insbesondere die Resolution 1386 (2001), und des NATO-Rates, die diese völkerrechtlich ausfüllten. Das Recht der kollektiven Verteidigung wurde nicht geltend gemacht, hatte auch keine Grundlage. Auch diesem Einsatz stimmte der Bundestag immer erneut zu, um die in internationalen Konferenzen im Verlauf des sog. Petersberg-Prozesses oder vom Sicherheitsrat beschlossenen Maßnahmen zum Aufbau und zur Sicherung des Landes umzusetzen.105 Er endete mit dem allgemeinen Ende des ISAF-Einsatzes 2014. Zwar stützten sich die beiden voneinander getrennten deutschen Beteiligungen an der OEF und an der ISAF auf dieselbe verfassungsrechtliche Grundlage des Art. 24 Abs. 2 GG. Für die Teilnahme an der OEF ist die Berufung auf Art. 24 Abs. 2 GG zu differenzieren. Die OEF ist kein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne dieser Norm.106 Zwar hat die NATO nicht als Organisation an der Operation teilgenommen, wohl aber den Verteidigungsfall erklärt und so den Bündnisbeistand für die Mitglieder ausgelöst. Insofern liegt ein Beistand der Bundesrepublik für das angegriffene Mitglied USA im System gegenseitiger kollektiver Sicherheit NATO ten der CDU/CSU-Fraktion dagegen, obwohl sie den Antrag auf Teilnahme an der OEF unterstützten. 103 BT-Drs. 16/10720; Beschluss des Bundestages, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 19. September 2001 (16/187), S. 20044 A. 104 BT-Drs. 14/7930; Beschluss des Bundestages, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 22. Dezember 2001 (14/210), S. 20850 A. In der Debatte wurde von mehreren Rednern auch der Bundesregierung mehrfach die Trennung der beiden Missionen OEF und ISAF hervorgehoben. 105 Z. B. Antrag der Bundesregierung v. 13. Januar 2011, BT-Drs. 17/4402; Beschluss des Bundestages, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 28. Januar 2011 (17/ 88), S. 9902 B. 106 So für die OEF Wollenschläger (Fn. 18), Art. 24, Rdnr. 68; ebenso Röben (Fn. 16), S. 591 für OEF und ISAF.

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vor. Da die NATO als Organisation die ISAF ab 2003 führte, deckt die Berufung auf Art. 24 Abs. 2 GG jedenfalls ab dieser Zeit die Teilnahme. Aber sie diente nicht der Verteidigungsaufgabe nach Art. 1 und 5 NATO-Vertrag, sondern der Umsetzung innerer Staatsbildungs- und Unterstützungsmaßnahmen in und für Afghanistan gemäß Beschlüssen des Sicherheitsrates und des NATO-Rates. d) Frieden? Die ISAF-Mission endete 2014. Friedensverträge oder auch nur Verträge über eine Waffenruhe mit den Taliban waren nicht geschlossen worden. Im Gegenteil, der Kampf gegen die Taliban als terroristische Vereinigung ging weiter und dauert gegenwärtig mit wechselnden Erfolgen an. Bereits während des ISAF-Einsatzes wurden auf mehreren Regierungskonferenzen des genannten Petersberg-Prozesses Beschlüsse zur inneren Stabilisierung, zum inneren Wiederaufbau und zur Staatsbildung gefasst. Grundlage der Beendigung des ISAF-Einsatzes war eine bis 2024 reichende Strategie zur inneren Stabilisierung und Staatsbildung Afghanistans. Zur Unterstützung der afghanischen Regierung wurde in Absprache und Vereinbarung mit dieser auf der Grundlage von Beschlüssen der NATO mit der Mission Resolute Support (MRS), wiederum unter Führung der NATO, eine neue internationale Truppe in Afghanistan gebildet.107 Ihre Aufgabenstellung beschränkt sich aber auf die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte und gegebenenfalls deren Unterstützung bei Angriffen durch die Taliban oder Terroristengruppen. Die militärische Seite des Einsatzes scheint aber wieder eine verstärkte Bedeutung zu gewinnen. Es handelt sich also, wie bei der ISAF, um eine mit Afghanistan vertraglich vereinbarte internationale Truppenstellung. Der Sicherheitsrat ist an dieser neuen Entwicklung nicht mehr unmittelbar beteiligt. Er begrüßt jedoch die neue Strategie und fordert die Staaten zu deren Umsetzung und zur weiteren Unterstützung auf. Er verurteilt zwar wiederum die Terrorakte der Taliban, al-Qaidas und des IS, der eine immer stärkere Rolle in Afghanistan spielt, qualifiziert die prekäre Sicherheitslage in Afghanistan aber seit 2014 nicht mehr ausdrücklich als Bedrohung des internationalen Friedens. Allerdings stehen die allgemeinen Resolutionen gegen den internationalen Terrorismus, die diesen generell als eine solche Bedrohung qualifizieren, nach wie vor daneben. Die Bundesrepublik beteiligt sich an der MRS wiederum auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 2 GG.108 Der letzte Beschluss vom 22. März 2018 nimmt zwar nicht mehr ausdrücklich Bezug auf den „Krieg gegen den Terror“ bzw. gegen die Terro107

Grundlagen: Beschlüsse der NATO-Gipfel in Chicago am 20. und 21. Mai 2012 und in Newport am 5. und 6. September 2014, Zustimmung der afghanischen Regierung zum Truppenstatut zwischen der NATO und Afghanistan v. 30. September 2014, Einsatzbeschluss des NATO-Rates vom 2. Dezember 2014. 108 Antrag der Bundesregierung, BT-Drs. 18/3246; Beschluss des Bundestages, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v.18. Dezember 2014 (18/76), S. 7282 B.

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risten.109 Aber man kann auch diese dritte Mission angesichts der Lage in Afghanistan noch dem „Krieg gegen den Terror“ zurechnen und damit unter die „gegenseitige kollektive Sicherheit“ subsumieren. Der „Krieg gegen den Terror“ findet also auch im „Frieden“ statt. Die Grenze zwischen beiden verschwimmt.

4. „Krieg gegen den Terror“ 2: Syrien/Irak a) Der Fall Die Lage in Syrien ist heute mehr denn je unübersichtlich.110 Was als Demonstrationen gegen die bestehende Regierung des Präsidenten Assad begann, die von diesem blutig niedergeschlagen wurden, ging nach und nach in eine Vielzahl innerstaatlicher bewaffneter Konflikte zwischen den Regierungstruppen und bewaffneten Milizen und diesen Milizen untereinander über. Inzwischen nimmt eine Vielzahl bewaffneter staatlicher und nichtstaatlicher Akteure daran teil. Bei den staatlichen Akteuren handelt es sich um die Unterstützer der Regierung, vor allem Russland und Iran, einerseits, und die Unterstützer ihrer Gegner, die Türkei sowie Saudi-Arabien und andere arabische Staaten, andererseits. Die Türkei kämpft gleichzeitig auf syrischem Territorium gegen die syrischen Kurden, um eine kurdische Erstarkung auch in der Türkei zu verhindern. Die nichtstaatlichen Kampfgruppen, Milizen etc. sind höchst unterschiedlicher Art. Auch ihre Ziele sind sehr verschieden. Ein Teil ist mit den Regierungstruppen verbündet. Ein Teil will das Regime stürzen. Kurdische Milizen wollen größere Autonomie, wenn nicht die staatliche Unabhängigkeit für die Kurdengebiete erreichen. Von der Regierung und ihren Verbündeten werden alle oppositionellen Gruppen als „Terroristen“ eingestuft. Die USA und andere Mächte unterstützen hingegen einige dieser oppositionellen Gruppen direkt oder indirekt mit Waffen, Ausbildung etc. Zudem haben sie deren politische Forderung nach Rücktritt des Präsidenten Assad übernommen. Innerhalb des Bürgerkrieges, aber doch mit einer eigenen Struktur, gewissermaßen auf dem Rücken desselben, erlangte ab Anfang 2014 das Vorgehen des sog. „Islamischen Staat“ oder „Daesh“ sowie von al-Qaida-Gruppen besondere Bedeutung.111 Der „Islamische Staat“ entstand und besteht aus Angehörigen der früheren irakischen Armee und aus im Ausland, auch in Deutschland, angeworbenen Söld109

Antrag der Bundesregierung, BT-Drs. 19/1094; Beschluss des Bundestages, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 22. März 2018 (19/23), S. 2075 A. 110 Eine relativ vollständige Darstellung des Syrienkonfliktes bis März 2018 findet sich unter https://www.securitycouncilreport.org/chronology/syria.php. Siehe außerdem den Artikel „Syrian Civil War“ in der Encyclopedia Britannica, https://www.britannica.com/event/Syri an-Civil-War/Civil-war. 111 Zum Islamischen Staat vgl. Rolf Tophoven/H.-Daniel Holz, Der „Islamische Staat“: Geschlagen – nicht besiegt, Bonn 2020; Wilson Center, Timeline: the Rise, Spread, and Fall of the Islamic State, 28. Oktober 2019, https://www.wilsoncenter.org/article/timeline-the-risespread-and-fall-the-islamic-state.

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nern. Er kämpft einerseits gegen die irakischen und syrischen Regierungstruppen, ist also Bürgerkriegspartei, andererseits gegen die Kurden im Irak und in Syrien sowie gegen andere Rebellengruppen. Diese Gruppen streben nach der Errichtung einer radikal-islamistischen Herrschaft in der Region und darüber hinaus. Sie gelten international als terroristische Vereinigungen, da sie, insbesondere Daesh, in verschiedenen Gegenden der Welt immer wieder schwere terroristische Attentate gegen Zivilisten wie gegen öffentliche Einrichtungen durch Zellen oder einzelne Attentäter steuern, veranlassen und verüben. Der „Islamische Staat“ eroberte ab Anfang 2014 erhebliche Territorien in Ostsyrien und im Nordirak und rief dort ein „Kalifat“ aus. Inzwischen ist er territorial wieder weitgehend zurückgedrängt. In dem innersyrischen Konflikt wurden und werden von allen Seiten schwere Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, Verletzungen des humanitären Völkerrechts und andere schwere Verstöße gegen das Völkerrecht begangen. Traurige Höhepunkte waren mehrfache Einsätze chemischer Waffen gegen die Zivilbevölkerung, die nach weitverbreiteter Überzeugung durch Regierungstruppen verübt wurden. Der „Islamische Staat“ beging innerhalb der von ihm eroberten Gebiete schwere Menschenrechtsverletzungen, Verletzungen des humanitären Völkerrechts und schwere Kriegsverbrechen an den dortigen Bevölkerungen, vor allem an der Volksgruppe der Jesiden.112 b) Vereinte Nationen Der Sicherheitsrat hat sich seit 2012 in vielen Resolutionen mit der Situation in Syrien befasst.113 Parallel zum Sicherheitsrat wurde die Generalversammlung tätig. Unter anderem setzte sie einen Sondergesandten ein, der einen Friedensprozess zwischen der Regierung und den Aufständischen vermitteln soll.114 Der Sicherheitsrat verurteilte von Anfang an vor allem die Verletzung der Menschenrechte sowohl durch die syrischen Regierungstruppen wie durch andere bewaffnete Gruppen.115 Er rief zur Waffenruhe und zum Frieden auf, unterstützte im Hinblick darauf die Bemühungen des von der Generalversammlung eingesetzten special envoy und seine Vorschläge für einen Frieden. Aber weder stellte er anfangs eine Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit nach Art. 39 SVN fest, noch sah er sich zu einem Eingreifen mit Zwangsmitteln nach Kapitel VII, sei es nach Art. 41, sei es nach Art. 42 SVN, in der Lage. Resolutionsentwürfe, die dahin zielten, kamen entweder gar nicht erst zur Abstimmung oder scheiterten an dem Veto eines der fünf 112 Siehe hierzu auch Alexander Schwarz, Geschlechtsbezogene Verfolgung an Jesid*innen durch Mitglieder des „Islamischen Staates“ – Ein Fall für die internationale Strafjustiz?, in: Katrin Kappler/Vinzent Vogt (Hrsg.), Gender im Völkerrecht. Konfliktlagen und Errungenschaften, Baden-Baden 2019, S. 157 – 192. 113 Nach mehreren Resolutionen zur Lage im Nahen Osten insgesamt befasste sich als erste Resolution S/RES/2042 v. 14. April 2012 ausdrücklich mit den Vorgängen in Syrien. 114 A/RES/66/253 v. 16. Februar 1992 und A/RES/66/253 B v. 3. August 2012. 115 S/RES/2254 (2015).

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ständigen Mitglieder. Später stufte der Sicherheitsrat die schweren Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts, die er immer wieder auf das Schärfste verurteilt hatte, aber nicht die gewaltsamen Kämpfe als solche, als Gefährdung des Friedens und der Sicherheit ein.116 Er berief sich auch weiterhin für seine Resolutionen nicht auf Kapitel VII, so auch in Resolution 2249, in der er die Mitgliedstaaten aufforderte, „unter Einhaltung des Völkerrechts, insbesondere der Charta der Vereinten Nationen sowie der internationalen Menschenrechtsnormen, des Flüchtlingsvölkerrechts und des humanitären Völkerrechts, in dem unter der Kontrolle des ISIL, auch bekannt als Daesh, stehenden Gebiet in Syrien und Irak alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen und ihre Anstrengungen zu verstärken und zu koordinieren, um terroristische Handlungen zu verhüten und zu unterbinden“.117 Stattdessen begnügte sich der Sicherheitsrat in seinen Resolutionen zumeist mit dem Verweis auf Art. 25 SVN, wonach die Mitgliedstaaten sich verpflichten, die Beschlüsse des Sicherheitsrates in Einklang mit der Satzung anzunehmen und umzusetzen.118 Der Sicherheitsrat begnügt sich mehr oder weniger damit, die Situation der Zivilbevölkerung immer wieder zu bedauern, die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und die Beachtung der Menschenrechte von allen Seiten einzufordern, die Parteien zu deren Schutz aufzurufen, humanitäre Verbesserungen anzumahnen, ein Ende der Kämpfe und die Vereinbarung und Einhaltung von Waffenruhen und Waffenstillständen einzufordern, entsprechende Initiativen der verschiedenen Seiten, insbesondere auch des Beauftragten der Generalversammlung zu unterstützen, die Terroristen – insbesondere den „Islamischen Staat“ und al-Qaida – zu verurteilen und ihre Bekämpfung einzufordern.119 Er wendet sich dabei nicht nur an die staatlichen Akteure, sondern auch an die nichtstaatlichen Milizen und sonstigen kämpfenden Gruppen. Eine besondere Situation entstand durch den wiederholten Einsatz von Chemiewaffen bzw. Giftgas in diesem Krieg, die durch das Genfer Protokoll und die Chemiewaffenkonvention strikt verboten sind.120 Syrien ist an beide Verträge völker116 S/RES/2165 (2014): „Determining that the deteriorating humanitarian situation in Syria constitutes a threat to peace and security in the region, […].“ 117 S/RES/2249 (2015). Für eine Diskussion, ob die Resolution zur Anwendung von Gewalt ermächtigt, was eher abzulehnen ist, siehe Dapo Akande/Marko Milanovic, The Constructive Ambiguity of the Security Council’s ISIS Resolution, in: EJIL:Talk!, 21. November 2015, https://www.ejiltalk.org/the-constructive-ambiguity-of-the-security-councils-isis-resoluti on/. 118 So auch die bisher (18. April 2018) letzte Resolution zu Syrien S/RES/2401 v. 24. Februar 2018. In Resolution 2249 verzichtete der Sicherheitsrat allerdings auf einen entsprechenden Verweis. 119 Z. B. S/RES/2254 (2015), S/RES/2336 (2016). 120 Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege v. 17. Juni 1925, RGBl. II, 1929, S. 174; Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen v. 13. Januar 1993, in Kraft seit dem 29. April 1997, BGBl 1994 II, S. 807.

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rechtlich durch Beitritt und Ratifikation gebunden.121 Diese Einsätze werden den Regierungstruppen zugerechnet. Der Sicherheitsrat verurteilte zwar die erste Verwendung von Giftgas ganz allgemein, ohne einen Verursacher zu nennen, und setzte eine Untersuchungskommission ein, deren Mandat allerdings inzwischen beendet ist.122 Er ergriff aber keine weiteren Maßnahmen. Auch nach dem Giftgasangriff Anfang April 2018 konnten sich die Mitglieder des Sicherheitsrates nicht auf eine eindeutige Verurteilung und auf Maßnahmen nach Kapitel VII zur Ahndung dieses Bruches des Chemiewaffenverbotes oder auch gegen zukünftige weitere derartige Vorgänge einigen. Der Sicherheitsrat verurteilt immer erneut in besonderer Weise das Vorgehen des „Islamischen Staates“ in seinen Resolutionen gegen den Terrorismus und verhängt Maßnahmen nach Art. 41, aber nicht nach Art. 42 SVN. Ein wesentlicher oder prägender Einfluss des Sicherheitsrates auf die Vorgänge in Syrien zur Wiederherstellung des Friedens oder auch nur zur Milderung der Lage ist nicht zu erkennen. c) Staatenwelt Militärische Interventionen von Staaten außerhalb der Region fanden zunächst nicht statt, auch nicht als die erste Verwendung von Giftgas festgestellt wurde. Erst als der „Islamische Staat“ sich im Irak und in Syrien ausbreitete und dort gegen Jesiden und andere Volksgruppen mit schweren Verletzungen der Menschenrechte und Kriegsverbrechen vorging, die Gefahr des Völkermordes an den Jesiden bestand und die terroristischen Attentate des „Islamischen Staates“ außerhalb Syriens auch in westlichen Staaten zunahmen, bildete sich eine überregionale Koalition gegen diese sich auf irakischem und syrischem Gebiet ausbreitende terroristische Gruppe, die Operation Inherent Resolve (OIR). Sie wurde am 5. September 2014 zwar anlässlich eines NATO-Gipfels in Newport (GB) auf Initiative der USA zunächst zwischen westlichen Mächten gegründet, ist aber keine Einrichtung oder Aktion der NATO.123 Erst auf der Gipfelkonferenz der NATO in Warschau im Juli 2016 beschloss diese, als solche die Aktionen des allgemeinen Bündnisses zu unterstützen.124 Damit wurde die Teilnahme an der OIR wohl auch eine Sache der NATO als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Die Allianz richtet sich nicht gegen die Staaten Syrien und Irak. Wie die OEF in Afghanistan ist auch die OIR in Syrien ein informelles Bündnis der beteiligten Staaten, das weit über die NATO-Mitglieder hinausreicht. Die rechtlichen Grundlagen der OIR sind unklar. Formelle Verträge scheint es nicht zu geben. Es fehlt wie bei der OEF jede von 121

Beitritt zur Konvention 2013. S/RES/2319 (2016); insgesamt soll es 50 Giftgaseinsätze gegeben haben, mit z. T. Dutzenden Toten. 123 Das Schlusskommuniqué erwähnt die OIR nicht. NATO, Wales Summit Declaration, 5. September 2014, https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_112964.htm, § 33 [online Zählung der Paragraphen falsch, zitierte Stelle hier unter § 23]. 124 NATO, Warsaw Summit Communiqué, 9. Juli 2016, https://www.nato.int/cps/en/natohq/ official_texts_133169.htm, §§ 7, 8. 122

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außen erkennbare rechtliche Form. Rechte und Pflichten sind ungewiss. Es scheinen jeweils Beschlüsse der Regierungen zugrunde zu liegen, dem informellen Bündnis beizutreten. Aber auch für das Vorgehen der Allianz in Syrien, wo sie Luftschläge gegen die Stellungen des „Islamischen Staates“ fliegt, ist die rechtliche Lage umstritten. Zwar richten sich diese weder gegen Syrien als Staat noch gegen dessen Einrichtungen und Truppen, sie finden aber auf syrischem Territorium statt. Syrien hat mehrfach in Schreiben an den Generalsekretär der Vereinten Nationen gegen die Luftangriffe auf seinem Territorium protestiert.125 Eine Mandatierung durch den Sicherheitsrat ist zumindest zweifelhaft. Hierfür kommen nicht dessen Syrien-Resolutionen, sondern allenfalls seine Terrorismus-Resolutionen in Betracht. Diese fordern zwar die Staaten auf, gegen den internationalen Terrorismus vorzugehen, haben aber bisher keine Maßnahmen nach Art. 42 SVN ausdrücklich mandatiert. Es könnte sich um Akte der kollektiven Selbstverteidigung nach Art. 51 SVN handeln, weil der „Islamische Staat“ von seiner territorialen Basis in Irak und Syrien aus, wo er staatsähnliche Strukturen errichtet hatte, internationale Terrorakte durch Zellen oder Einzelpersonen beging, und Syrien nicht willens oder in der Lage ist, dagegen effektiv vorzugehen.126 Die sogenannte „unwilling or unable“ Doktrin, die wohl (noch) keine lex lata ist,127 rechnet den bewaffneten Angriff eines nichtstaatlichen Akteurs einem Staat im Rahmen des Art. 51 SVN zu, wenn dieser nicht fähig oder nicht willens ist, das Verhalten des nichtstaatlichen Akteurs zu verhindern.128 Auf einen solchen Fall der kollektiven Selbstverteidigung berief sich Frankreich ausdrücklich nach den Attentaten im November 2015 in Paris und späteren Anschlägen.129 Es hat in die125

Briefe vom 16. und 21. September 2015, UN Doc. S/2015/718 und UN Doc. S/2015/ 727; Kriangsak Kittichaisaree, Public International Law of Cyberspace, Cham 2017, S. 181. 126 Zum Selbstverteidigungsrecht gegen nichtstaatliche Akteure allgemein Kittichaisaree (Fn. 125), S. 175 – 180, 184, 186 – 191, und gegen den Islamischen Staat in Syrien ebd., S. 177 – 185. 127 Jutta Brunnée/Stephen J. Toope, Self-Defence Against Non-State Actors: Are Powerful States Willing But Unable To Change International Law?, International & Comparative Law Quarterly 67 (2018), S. 263 – 286 (282); Donette Murray, Flawed and Unnecessary: the „Unwilling or Unable“ Doctrine Pertaining to States’ Use of Force in Self-Defence against NonState Actors, Hague Yearbook of International Law 30 (2017), S. 59 – 118. Siehe aber die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 17. September 2019, – 2 BvE 2/16 –, Rn. 1 – 55, die als Billigung der „unwilling or unable“ Doktrin gelesen werden kann. So jedenfalls Carl-Philipp Sassenrath, Einsätze zur Selbstverteidigung im Rahmen und nach den Regeln kollektiver Sicherheitssysteme. Die Entscheidung zum „Anti-IS-Einsatz“, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (2020), S. 442 – 446 (445). 128 Siehe für eine sorgfältige Diskussion der „unable or unwilling“ Doktrin Paulina Starski, Right to Self-Defense, Attribution and the Non-State Actor. Birth of the „Unable or Unwilling“ Standard?, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 75 (2015), S. 455 – 501. 129 Auch Belgien hat sich in einem Brief an den Präsidenten des Sicherheitsrates v. 7. Juni 2016 im Anschluss an die Attentate in Brüssel v. 22. März 2016 darauf berufen, UN Doc. S/ 2016/523; Kittichaisaree (Fn. 125), S. 184.

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sem Sinne zwar nicht Art. 51 SVN oder Art. 5 NATO-Vertrag, wohl aber Art. 42 Abs. 7 EUV geltend gemacht, der eine Beistandspflicht der EU-Mitglieder im Falle eines bewaffneten Angriffes auf eines von ihnen vorsieht.130 Der Rat der Außenminister hat zwar volle Unterstützung durch die Mitgliedstaaten zugesichert, aber kein Engagement der EU als solcher beschlossen.131 Der Beistand der EU-Mitglieder findet daher auf bilateraler Basis statt. Zumindest zwei Mal griffen westliche Staaten jedoch syrische Einrichtungen an, also den Staat Syrien selbst. In beiden Fällen ging es um einzelne, gezielte, begrenzte, nicht wiederholte Luftschläge nach Giftgaseinsätzen, die syrischen Regierungstruppen zugerechnet wurden, auf syrische Labors, Forschungs- und Aufbewahrungseinrichtungen. Da, wie dargelegt, der Sicherheitsrat keine entsprechenden Maßnahmen beschlossen oder mandatiert hat, stellt sich die Frage nach den Rechtsgrundlagen dieser bewaffneten Angriffe auf die territoriale Integrität Syriens. Selbstverteidigung scheidet aus, da die drei Westmächte USA, Großbritannien und Frankreich, nicht angegriffen worden waren, ebenso wenig Verbündete. Auch Gegenmaßnahmen scheiden wohl aus dem gleichen Grunde aus, zumal sie auch nicht gegen ius cogens verstoßen dürfen.132 In den Begründungen wurde geltend gemacht, dass Syrien die Fähigkeit zu weiteren Giftgaseinsätzen genommen, es vor weiteren Verstößen gewarnt und die Einhaltung des Völkerrechts auch durch Dritte gesichert werden sollte.133 Ob das rechtlich trägt, erscheint zweifelhaft. Syrien darf nach den von ihm ratifizierten Abkommen von 1925 und 1994 solche chemischen Waffen weder herstellen noch besitzen noch gar einsetzen. Insoweit liegen eindeutige Völkerrechtsverstöße vor, wenn die syrische Regierung diese Waffen herstellt, in Besitz hat und erst recht, wenn sie sie einsetzt. Es gibt aber keine ausdrücklich vorgesehenen Sanktionsregelungen bei Verstößen. Dafür ist letzten Endes der Sicherheitsrat zuständig. Handelt er nicht, stellt sich die Frage nach einer Notfallkompetenz für die übrigen Staaten. Blei130

Art. 42 Abs. 7 EUV: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. […]“ Die Formulierung stammt aus dem Verfassungsvertrag, Art. I-41 Abs. 7; auf dieser Grundlage Sebastian Graf von Kielmansegg, Die Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Eine rechtliche Analyse, Stuttgart u. a. 2005, S. 145 – 147, 209 – 213, 401 – 403; zu Art. 42 Abs. 7 EUV: Daniel Thym, GASP und äußere Sicherheit, in: Andreas von Arnauld (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 10: Europäische Außenbeziehungen, Baden-Baden 2014, S. 947 – 979. 131 Sitzung des Rates der Außen- und Verteidigungsminister v. 17. November 2015. 132 Art. 50 Abs. 1 lit. d Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, annex to General Assembly resolution A/RES/56/83 (2001). 133 So die Vertreter der drei Interventionsmächte USA, Frankreich und Großbritannien in der 8233. Sitzung des Sicherheitsrates am 14. April 2018, der auf Ersuchen Russlands zusammengetreten war. Russland verurteilte das Vorgehen als Völkerrechtsbruch. Sein Resolutionsentwurf erhielt jedoch nur drei Stimmen, Protokoll: S/PV.8233, S. 3 – 9, 22 f.

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ben Herstellung, Besitz und vor allem der Einsatz von Chemiewaffen ungeahndet, besteht die Gefahr, dass dieses rein praktisch trotz der Verbote zu einer Art „Normalität“ gerade in der Führung „neuer Kriege“ wird. Das soll durch die Einsätze verhindert werden. So könnten derartige militärische Sanktionen durch Staaten einerseits einen Warncharakter, andererseits einen Strafcharakter gegen Verstöße haben. Beides ist zweifelhaft. Warnkompetenzen durch militärische Gewaltmaßnahmen gegen zukünftige Verletzungen sind im Völkerrecht nicht vorgesehen. Eine Kompetenz zu kollektiven Strafen gegen einen Staat, der humanitäres Völkerrecht verletzt, steht niemandem zu. Das Völkerstrafrecht bezieht sich auf Einzeltäter und ihnen in einem gerichtlichen Verfahren konkret nachgewiesene Taten. So bleiben nur nichtmilitärische, nichtgewaltsame Sanktionsmöglichkeiten gegen Staaten, die gegen die genannten Verbote verstoßen. Des Weiteren könnte eine humanitäre Intervention vorliegen. Darauf berief sich der Repräsentant Großbritanniens in der Sitzung des Sicherheitsrates.134 Aber deren völkerrechtliche Zulässigkeit ist, wie bereits früher dargetan, umstritten.135 d) Die Beteiligung der Bundesrepublik Die Bundesrepublik beteiligte sich von Anfang an an dem Bündnis OIR. Zunächst beschränkte sich die Beteiligung darauf, kurdische Peschmerga-Kämpfer im Nordirak mit Waffen zu versorgen und auszubilden, die ihrerseits gegen den „Islamischen Staat“ im Irak kämpften. Der Antrag der Bundesregierung von 2014 für diesen Einsatz beruft sich zwar auf Art. 24 Abs. 2 GG, enthält aber keinen Hinweis auf ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Der geplante Einsatz sei „Teil der internationalen Anstrengungen im Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ im Irak und in Syrien (ISIS)“.136 Die Bundesregierung machte weiterhin geltend, dass der Sicherheitsrat den Islamischen Staat als Bedrohung des Weltfriedens qualifiziert habe.137 Außerdem werden die Einladung und die Zustimmung des Irak angeführt. Verfassungsrechtlich sind die Berufungen auf Art. 24 Abs. 2 GG für den Peschmerga-Ausbildungseinsatz im Irak jedoch mangels eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit zweifelhaft. Denn die Bundesrepublik ist mit dem Irak nicht in einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit verbunden. Die OIR, die in dem Antrag der Bundesregierung schon keine Erwähnung findet, ist kein solches, sondern ein mehr oder weniger rechtlich formalisiertes ad-hoc-Bündnis. Es gibt keinen Bündnisvertrag, für den es eines Zustimmungsbeschlusses des Bundestages gem. Art. 59 134 VN Sicherheitsrat, Provisional Records (14. April 2018). UN Doc. S/PV.8233, S. 6 – 7. Diese Position vertrat Großbritannien bereits 2013, s. Prime Minister’s Office, Chemical weapon use by Syrian regime: UK government legal position (29. August 2013), https://www.gov.uk/government/publications/chemical-weapon-use-by-syrian-regime-uk-government-legal-position/chemical-weapon-use-by-syrian-regime-uk-government-legal-position-html-version. 135 Dazu auch hier die oben Fn. 69 genannte Literatur. 136 Antrag der Bundesregierung v. 17. Dezember 2014, BT-Drs. 18/3561. 137 S/RES/2170 (2014).

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Abs. 2 GG bedurft hätte. Da Beschlüsse der NATO zur Beteiligung an OIR zur Zeit des ersten Beschlusses des Bundestages 2015 noch nicht vorlagen, fand dieser Einsatz jedenfalls zu Beginn auch nicht im Rahmen der NATO als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit statt. Der konkrete Einsatz deutscher Streitkräfte im Rahmen der OIR in Syrien begann erst nach den Terroranschlägen von Paris im November 2015. Die Streitkräfte der Bundeswehr nehmen in diesem nicht unmittelbar an Kampfeinsätzen teil. Sie beteiligen sich an Aufklärungsflügen und Betankungen der Kampfflugzeuge. Der erste Antrag der Bundesregierung an den Bundestag vom Dezember 2015, dem Einsatz der Bundeswehr gegen den „Islamischen Staat“ im Irak und in Syrien zuzustimmen, stützte sich verfassungsrechtlich erneut auf Art. 24 Abs. 2 GG, also die kollektive Sicherheit, unterschied sich jedoch wesentlich von dem Beschluss zum Einsatz zur Unterstützung der Peschmerga.138 In der Begründung wurde nunmehr grundlegend das Recht der kollektiven Selbstverteidigung gem. Art. 51 SVN zugunsten Frankreichs, des Irak und der internationalen Koalition OIR herangezogen, nicht jedoch für die Bundesrepublik selbst. Der Antrag berief sich zudem auf Resolutionen des Sicherheitsrates, in denen dieser den „Islamischen Staat“ als Bedrohung des Friedens und der internationalen Sicherheit eingestuft und die Mitgliedstaaten zu seiner Bekämpfung aufgerufen hatte. Zwar hat der Sicherheitsrat keine Mandatierung eines militärischen Einsatzes beschlossen. Jedoch scheint die Bundesregierung die Antiterrorismusresolution 2249 (2015) auch für einen militärischen Einsatz für hinreichend zu halten.139 Hinzu trat die Berufung auf die Beistandsklausel des Art. 42 Abs. 7 EUV, die Frankreich nach den Anschlägen von Paris im November 2015 geltend gemacht hatte. Die Bekämpfung des „Islamischen Staates“ in Syrien sei erforderlich, weil die dortige Regierung nicht in der Lage oder nicht willens sei, diesen hinreichend zu bekämpfen. Ein Bezug auf NATO-Beschlüsse fehlte aber nach wie vor.140 In der Debatte des Bundestages wurde die rechtliche Argumentation von der Mehrheit geteilt und dem Antrag zugestimmt.141 In dem ersten Verlängerungsantrag von 2016 bezog sich die Bundesregierung sodann auch auf den NATO-Gipfelbeschluss von Warschau, wonach die NATO als solche an dem Kampf gegen den „Islamischen Staat“ teilnehme. In dem derzeit letzten Antrag der – damals geschäftsführenden – Bundesregierung auf Verlängerung des Einsatzes gegen den „Islamischen Staat“ vom 7. März 2018 wurde diese Argumentation wiederholt.142 138

BT-Drs. 18/6866 v. 1. Dezember 2015. S/RES/2249 v. 20. November 2015. 140 S. zur Begründung der Bundesregierung auch Helmut Philipp Aust/Mehrdad Payandeh, Praxis und Protest im Völkerrecht, Juristenzeitung 73 (2018), S. 633 – 643 (639 – 640). 141 Beschluss des Bundestages, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 4. Dezember 2015 (18/144), S. 14131 D. S. auch Aust/Payandeh (Fn. 140), S. 640. 142 Antrag der Bundesregierung, BT-Drs. 19/1093 v. 7. März 2018, und Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss), BT-Drs. 19/1300 v. 20. 03. 139

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Die Berufung auf Art. 24 Abs. 2 GG für den ersten Antrag zum Anti-IS-Syrieneinsatz der Bundeswehr von 2015 ist ebenso wie der Antrag von 2014 rechtlich zweifelhaft. Beschlüsse der Vereinten Nationen gibt es auch zu diesem Einsatz nicht. Es ist fraglich, ob es für Art. 24 Abs. 2 GG genügt, sich auf die allgemeine Feststellung in den Antiterrorismusresolutionen des Sicherheitsrates zu berufen, es läge eine Bedrohung des Weltfriedens durch den internationalen Terrorismus vor, verbunden mit der Aufforderung, alles zu tun, um gegen den „Islamischen Staat“ vorzugehen.143 Dann wären die Vereinten Nationen als das tragende System gegenseitiger kollektiver Sicherheit nach Art. 24 Abs. 2 GG anzusehen. Da Beschlüsse der NATO zur Beteiligung an OIR 2015 ebenfalls nicht vorlagen, fand dieser Einsatz jedenfalls zu Beginn nicht im Rahmen der NATO statt. Es bleibt die EU. Im Rahmen der Regelungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verpflichtet Art. 42 Abs. 7 EUV die Mitgliedstaaten zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung im Falle eines bewaffneten Angriffs auf einen von ihnen auf der Grundlage des kollektiven Verteidigungsrechts nach Art. 51 SVN.144 Die EU war und ist nicht als solche an der OIR beteiligt, da es an einem entsprechenden Ratsbeschluss für eine Aktion der gemeinsamen Verteidigung fehlt. Deutschlands Einsatz kann damit nicht in einem gemeinsamen Rahmen der EU-Mitgliedstaaten stattfindet, sondern in Bezug auf Frankreich nur einen bilateralen Beistand auf Grund des Art. 42 Abs. 7 EUV darstellen. Nach anscheinend unwidersprochener Ansicht der Außenbeauftragten der EU sei ein Beschluss des Rates für die Anwendung des Art. 42 Abs. 7 EUV im bilateralen Verhältnis nicht erforderlich. Es handele sich um bilaterale Vereinbarungen, nicht um einen Anwendungsfall der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.145 Allerdings steht einem Anwendungsfall des Art. 42 Abs. 7 EUV entgegen, dass die Voraussetzungen des Art. 51 VN-Satzung nicht vorliegen. Die Terroranschläge von Paris sind kein staatlicher Angriff und sie sind Syrien auch nicht zurechenbar. Wie oben dargelegt, ist die „unwilling or unable“ Doktrin wohl noch keine lex lata.146 Eine Berufung auf Art. 42 Abs. 7 EUV für Art. 24 Abs. 2 GG scheidet dann jedenfalls aus. Nur wenn man annimmt, dass hier von einem bewaffneten Angriff auszugehen ist, kann Art. 51 SVN als Grundlage für den gegenseitigen Beistand angesehen werden, wenn auch die VN selbst nicht an der OIR beteiligt sind. Da die NATO seit 2016 gemäß dem Beschluss des Gipfels von Warschau mit eigenen Aktionen an dem Vorgehen der OIR gegen den IS teil2018; Zustimmung des Bundestages, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 22. März 2018 (19/23), S 2074 D. 143 S. oben II.3.c., S. 229 – 231. 144 Es ist heute wohl einhellige Meinung, dass Art. 42 Abs. 7 EUV grundsätzlich eine Rechtspflicht zum Beistand begründet, Thym (Fn. 130), Rdnr. 40 – 44, S. 963 – 965. Eine Äußerung des BVerfG im Lissabon-Urteil, BVerfGE 123, 267 (423), die anders gedeutet werden könnte, wird allgemein zurückgewiesen. Allerdings ist diese Rechtspflicht nicht bedingungslos. 145 Sitzung des Rates der Außen- und Verteidigungsminister v. 17. November 2015. 146 S. oben unter II.4.c.

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nimmt, könnte die Teilnahme der Bundesrepublik seitdem als eine solche innerhalb auch dieses Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit nach Art. 24. Abs. 2 GG qualifiziert werden.147 e) Sanktionen Ein besonderes verfassungsrechtliches Problem für die Bundesrepublik stellen die wirtschaftlichen, finanziellen und auch persönlichen Sanktionen gegen gelistete Terrorgruppen und Personen dar, die der Sicherheitsrat im Zuge des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus gem. Art. 41 SVN verhängt hat und die von den Staaten ausgeführt werden müssen. Sie stellen „friedliche Mittel“ dar, Gefährdungen des Friedens zu begegnen und diesen zu sichern bzw. wiederherzustellen, die vom Sicherheitsrat allgemein eingesetzt werden, um Konflikte zu bewältigen. Sie sind insofern Teil des „Krieges gegen den Terror“. Denn die „neuen Kriege“ spielen sich in sehr verschiedenen Phasen ab, die nicht immer auch gewalttätig sein müssen. Der Sicherheitsrat wird hier quasi-legislatorisch tätig.148 Hat der deutsche Gesetzgeber ihm entsprechende Hoheitsrechte im Rahmen des Art. 24 Abs. 1 GG übertragen, indem er der Organisation der Vereinten Nationen beigetreten ist? Da dies jedoch eine neuere Entwicklung ist, müsste auch dafür eine Art Fortentwicklung angenommen werden. Ist der Sicherheitsrat bei derartigen Maßnahmen an die universellen Menschenrechte oder die deutschen Grundrechte gebunden? Denn diese Sanktionen greifen unter Umständen tief in Grundrechte der Bürger und Unternehmen ein. Besteht eine gerichtliche Kontrolle?149 Auf internationaler Ebene fehlt sie. Da die Sanktionen, soweit sie wirtschaftlicher und finanzieller Art sind, auf einer ersten Ebene vom Rat der EU im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik im Einzelnen durch Verordnungen beschlossen und dann auf einer zweiten Ebene von den Mitgliedstaaten durchgeführt werden, hat der EuGH bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer derartigen EU-Verordnung das Recht in Anspruch genommen, die zugrundeliegenden Listungen des Sicherheitsrates inhaltlich zu überprüfen. Der Rat der Außenminister der EU hatte zur Umsetzung von Sanktionsbeschlüssen des Sicherheitsrates 2002 zunächst einen Gemeinsamen Standpunkt und dann eine auf Art. 60, 301 und 308 EUV gestützte Verordnung erlassen, die unter anderem auch das Vermögen etc. einer in Schweden ansässigen Firma und deren saudi-arabischen Eigentümer erfasste.150 Diese erhoben Klage vor dem Gericht Erster Instanz. 147 BT-Drs. 18/9960 v. 13. Oktober 2016; Beschluss des Bundestages, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 10. November 2016 (18/199), S. 19854 B. 148 Stefan Talmon, The Security Council as World Legislature, The American Journal of International Law 99 (2005), S. 175 – 193. 149 Unter anderem Andreas Witte, Gewaltenteilung im Völkerrecht? Zur Frage der rechtlichen Bindung und richterlichen Kontrolle des Sicherheitsrates, Archiv des öffentlichen Rechts 137 (2012), S. 223 – 241. 150 Verordnung (EG) 881/2002, ABl. v. 29. Mai 2002, L 139/9.

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Sie sahen unter anderem ihre Rechte auf Eigentum und Zugang zu den Gerichten verletzt. Das Gericht wies die Klage ab.151 Es räumte dem Recht der Vereinten Nationen wegen des verpflichtenden Charakters der Maßnahmen des Sicherheitsrates den Vorrang vor dem Recht der EU ein. Es könne daher lediglich die Einhaltung des allgemeinen, auch den Sicherheitsrat bindenden Völkerrechts (ius cogens) überprüfen. Dazu gehören aber die hier möglicherweise verletzten Rechte auf Eigentum und auf Zugang zu den Gerichten nicht. Der von den Klägern angerufene Europäischen Gerichtshof hingegen vertrat in zweiter Instanz einerseits die Auffassung, dass VNRecht auch bei einem Verstoß gegen ius cogens nicht überprüft werden könne, andererseits aber ein Gemeinschaftsrichter jeden Gemeinschaftsakt auf seine Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht zu überprüfen habe. Es schade dabei nicht, dass das Gemeinschaftsrecht weitestgehend durch das VN-Recht determiniert sei. Der Europäische Gerichtshof erklärte die genannte Verordnung für nichtig, weil die Kläger in den genannten Grundrechten auf Eigentum und Zugang zu den Gerichten verletzt seien.152 Für die Überprüfung deutscher Rechtsakte zur Durchführung der Gemeinschaftsverordnung gilt das dafür allgemein Übliche. Das heißt, die deutschen Gerichte überprüfen die Rechtmäßigkeit des Aktes anhand der EU-Verordnung. Deutsches Recht mag nur im Rahmen der zu Recht überaus umstrittenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle geprüft werden,153 die hier aber keine Rolle spielen sollte.154 Es ist also auch in diesem Bereich ein Mehrebenenverhältnis und damit ein Rechtspluralismus aus dem Recht der Vereinten Nationen, EU-Recht und deutschem Recht mit den daraus folgenden Konkurrenzen und Konflikten zwischen diesen Rechtsordnungen und den zugehörigen Jurisdiktionen entstanden. Auch deren Auflösung geht nur im Wege gegenseitiger Rücksichtnahme der Jurisdiktionen.

f) Kein Frieden Zwar gibt es immer wieder Anläufe, die bewaffneten Konflikte in Syrien zu beenden und eine neue Friedensordnung herzustellen. Die Formate sind verschieden. Ein Prozess geht von dem Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen aus. Ein an151 Ahmed Ali Yusuf und Al Barakaat International Foundation gegen Rat und Kommission, T-306/01, sowie Yassin Abdullah Kadi gegen Rat und Kommission, T-315/01, Urteile v. 21. September 2005, Sammlung der Rechtsprechung 2005 II-03533, 2005 II-03649. 152 Yassin Abdullah Kadi und Al Barakaat International Foundation gegen Rat und Kommission, C-402/05 P, und Al Barakaat International Foundation gegen Rat und Kommission, C-415/05 P, Urteil v. 3. September 2008, Sammlung der Rechtsprechung 2008 I-06351. 153 S. dazu unter anderem Dominik Steiger, Entgrenzte Gerichte? Die Ausweitung des subjektiven Rechts und der richterlichen Kontrollbefugnisse. Parlament und Verwaltung im „Kooperationsverhältnis“ der deutschen Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit mit dem EuGH, Verwaltungsarchiv 117 (2016), S. 497 – 535 (524 – 535); Mattias Wendel, Paradoxes of Ultra-Vires Review: A Critical Review of the PSPP Decision and Its Initial Reception, German Law Journal 21 (2020), S. 979 – 994 (986, 988, 990 – 991). 154 So zur Frage der Anleihekäufe der EZB BVerfGE 146, 216.

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derer wird von den Verbündeten der syrischen Regierung Russland und Iran getragen. Inzwischen bemüht sich auch die EU unter aktiver Beteiligung der Bundesrepublik. Die Teilnehmer sind jeweils verschieden. Der Sicherheitsrat begrüßt alle Bemühungen, Vorschläge und Pläne und unterstützt sie. Ergebnisse haben sie aber alle nicht aufzuweisen. Frieden ist derzeit nicht in Sicht.

5. Der virtuelle „neue Krieg“: Cyber-Gewalt a) Cyber-Gewalt Die grundlegend neue Form eines Konfliktes stellt zweifellos der sog. „CyberKrieg“ bzw. der bewaffnete Cyber-Konflikt dar.155 Die Waffen sind Rechenmaschinen.156 Die Projektile, Bomben, Granaten, Raketen sind Algorithmen. Der Kampfraum ist der „virtuelle“ Raum.157 Dieser Cyber-Raum überwölbt die territorialen Grenzen der Staaten, die Meere, den Luftraum und erfasst auch den Weltraum.158 Rechenmaschinen, Algorithmen und Cyber-Raum werden aber, anders als bei der militärischen Gewalt, auch in der alltäglichen friedlichen digitalen Praxis von Milliarden zivilen Nutzern zu den verschiedensten Zwecken genutzt. Ebenso können sie zu „normalen“ kriminellen Aktionen und auch terroristischen Angriffen eingesetzt werden. Wie also sind die Unterscheidungen zwischen einer zivilen, friedlichen, gesellschaftlich, ökonomisch und persönlich fruchtbaren Nutzung eines Rechners, seiner kriminellen oder terroristischen Nutzung, unter Umständen durch ein und denselben Akteur, und Cyber-Gewalt als einer gewalttätigen „kriegerischen“ oder militärischen Nutzung zu treffen, die dem Gewaltvölkerrecht unterfällt? Das geht nur über die Feststellung der Akteure einerseits und über die Effekte der Aktionen in Verbindung mit den Zielsetzungen andererseits. Durch sog. Computernetzwerkoperationen (CNO) werden die Kommunikationssysteme staatlicher wie nichtstaatlicher Betreiber ausspioniert, gestört, lahmgelegt, umfunktioniert, zerstört, zu Fehlinformationen und damit unter Umständen zu Fehl-

155 Christian Walter macht darauf aufmerksam, dass der Begriff „Cyber War“/„Cyber Warfare“ im Hinblick auf das heutige Gewaltvölkerrecht an einen überholten Begriffsgebrauch anknüpft, Christian Walter, Cyber Security als Herausforderung für das Völkerrecht, Juristenzeitung 70 (2015), S. 685 – 693 (686). 156 Zu den Waffen: Michael N. Schmitt, Introduction, in: Tallinn Manual on the International Law Applicable to Cyber Warfare. Prepared by the International Group of Experts at the Invitation of the NATO Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence, hrsg. v. Michael N. Schmitt, Cambridge 2013, S. 1 – 11 (5). 157 Erklärung der NATO unten II.5.d. (S. 253). 158 Zum virtuellen Raum im Verhältnis zum territorialen Raum: Stephan Hobe, Cyberspace – der virtuelle Raum, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. XI: Internationale Bezüge, 3. Aufl., Heidelberg 2013, S. 249 – 273 (251 – 254).

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steuerungen genutzt etc.159 Die Folgen können im virtuellen wie im realen Raum verheerend sein.160 Obwohl es alltäglich in nicht unerheblichen Umfang derartige CNO gegen zivile und militärische Anlagen und Einrichtungen unterschiedlichster Art in Staaten in allen Teilen der Welt, einschließlich Luftraum und Seegebiete, aber auch auf und in den Weltmeeren und im Weltraum mit zum Teil gravierenden Auswirkungen und Gefährdungen für die betroffenen Staaten, deren Wirtschaft, Gesellschaft und Einrichtungen gegeben hat und gibt, ist noch keine dieser Attacken selbst als eigenständiger Verstoß gegen das Gewaltverbot des Art. 2 Abs. 4 SVN, als armed attack i. S. des Art. 51 SVN als Voraussetzung des Selbstverteidigungsrechts oder als „Bedrohung oder Bruch des Friedens“ i. S. des Art. 39 SVN eingestuft worden, die gemeinhin die Aktivität des Sicherheitsrates nach Kapitel VII auslöst. Der sog. StuxnetEinsatz von 2010, durch den iranische Nuklearanlagen zum Teil lahmgelegt oder zerstört wurden, kam dem wohl am nächsten.161 Cyber-Gewalt kann zwar nach heutiger Technologie als eine eigene, selbständige Form der Gewaltanwendung geführt werden.162 Bisher wurde sie jedoch nur ergänzend oder begleitend in „konventionellen“ oder „kinetischen“ gewaltsamen Konflikten eingesetzt, so im russisch-georgischen Krieg 2008 und wohl auch in dem ostukrainischen Konflikt. Es wird eine Art „hybride“ Kampfführung entwickelt, die konventionell-kinetische und cyber-gestützte Elemente kombiniert.163 Anders als in den bisher erörterten vier „Fällen“ kann die 159 Eine ausführliche Darstellung möglicher CNO und deren Folgen in bewaffneten Konflikten bei Juliane Thümmel, Computernetzwerkoperationen innerhalb internationaler bewaffneter Konflikte, Baden-Baden 2013, S. 17 – 78, insbesondere 59 – 72; „According to the US Joint Chiefs of Staff’s Lexicon of 2011, a cyberattack is defined as ,a hostile act using computer or related networks or systems, and intended to disrupt and/or destroy an adversary’s critical cyber systems, assets, or functions [although the] intended effects of cyberattack are not necessarily limited to the targeted computer systems or data themselves […]‘“, Kittichaisaree (Fn. 125), S. 153 f., dort in Fn. 1 und 2 weitere Definitionen; Heather Harrison Dinniss, Cyber Warfare and the Laws of War, Cambridge 2012, S. 4 – 8. 160 Harrison Dinniss (Fn. 159), S. 1 – 8. 161 Es wurde in die Programme der von Siemens entwickelten Simatic-S7-Steuerung eingegriffen. Einige Autoren qualifizierten den Stuxnet-Einsatz jedoch als „armed attack“ i. S. des Art. 51 SVN, zitiert bei Kittichaisaree (Fn. 125), S. 166. Weitere Beispiele ebd., S. 154 – 157, die aber alle nicht als kriegerische Akte qualifiziert wurden. Letzte öffentlich bekannt gewordene Beispiele in der Bundesrepublik sind ein Angriff auf das Computernetzwerk des Bundestages 2017, der dieses zum Teil unbenutzbar machte, und ein Eindringen in das System des Auswärtigen Amtes 2018, das zu Abflüssen von Informationen führte. 162 Kittichaisaree (Fn. 125), S. 161. Enger anscheinend Heike Krieger, Krieg gegen anonymous. Völkerrechtliche Regelungsmöglichkeiten bei unsicherer Zurechnung im Cyberwar, Archiv des Völkerrechts 50 (2012), S. 1 – 20 (1), die den Cyberwar an bewaffnete Konflikte bindet. 163 Es werden auch Cyber-Krieg-Manöver abgehalten, Kittichaisaree (Fn. 125), S. 159. Die NATO-Manöver Locked Shields werden alljährlich in Estland durchgeführt, so vom 24. bis 28. April 2017. Es nehmen nicht nur Staaten, sondern auch Universitäten und große Firmen teil, mit ungefähr 800 Beteiligten, Soldaten, IT-Experten, Diplomaten, Juristen und Journalisten, Quelle: NATO, World’s largest cyber defence exercise takes place in Estonia, 26. April

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verfassungsrechtliche Praxis gar nicht und die völkerrechtliche nur sehr rudimentär analysiert werden. Die Bundesregierung entwickelt Einrichtungen und Strategien, um auf einen bewaffneten Cyber-Konflikt reagieren zu können.164 Da das ein höchst komplexes Feld sowohl in organisatorischer wie in inhaltlicher und gegenständlicher Hinsicht darstellt, ergeben sich eine Reihe grundlegender Fragen zum Verhältnis dieses „neuen Krieges“ zur Verfassung. Vorher sind die grundlegenden völkerrechtlichen Vorgaben zu skizzieren. b) Völkerrechtliche Vorgaben Zwar gibt es seit Jahren Bemühungen auf internationalen Konferenzen, in den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen, eine Rechtsordnung für die Cyber-Gewalt in einem bewaffneten Cyber-Konflikt zu errichten. Aber zu einem eigenen universellen internationalen Cyber-Gewalt-Recht ist es noch nicht gekommen.165 Ein 1998 von Russland der Generalversammlung vorgelegter Resolutionsentwurf wurde nicht angenommen.166 Verhandlungen in einer von den Vereinten Nationen eingesetzten Expertengruppe über ein Cyber-Gewalt- Recht sind im Juni 2017 vorläufig gescheitert.167 Zwar besteht in der völkerrechtlichen Literatur Übereinstimmung, dass auch in bewaffneten Cyber-Konflikten das allgemeine Völkerrecht wie das Gewaltvölkerrecht und das humanitäre Völkerrecht Anwendung finden.168 Aber seine Umsetzung 2017, https://www.nato.int/cps/en/natohq/news_143301.htm?utm_source=facebook&utm_me dium=smc. 164 Bundesministerium der Verteidigung, Strategische Leitlinie Cyber-Verteidigung im Geschäftsbereich des BMVg v. 16. April 2015, veröffentlicht auf der Plattform Netzpolitik v. 30. Juli 2015, https://netzpolitik.org/2015/geheime-cyber-leitlinie-verteidigungsministerium-er laubt-bundeswehr-cyberwar-und-offensive-digitale-angriffe/; zur näheren Konkretisierung der Leitlinie die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage (BT-Drs. 18/6496), BTDrs. 18/6989 v. 10. Dezember 2015; Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr v. 13. Juli 2016, S. 36 – 38, https://www.bmvg.de/resource/blob/13708/015be272 f8c0098f1537a49167bfc31/weissbuch2016-barrierefrei-data.pdf. 165 M. N. Schmitt, Introduction (Fn. 156), S. 5. Es gebe weder Vertragsrecht, noch sei es mangels Staatspraxis oder verbindlicher Äußerungen der opinio juris möglich, Gewohnheitsrecht festzustellen. 166 Krieger (Fn. 162), S. 7 f. 167 United Nations Group of Governmental Experts on Developments in the Field of Information and Telecommunications in the Context of International Security, UN-GGE. Quelle: Geneva Internet Platform Digital Watch Newsletter, Ausgabe 22 v. 30. Juni 2017, https://dig.watch/newsletter/june2017. Das First Committee der Generalversammlung, das für Abrüstung und internationale Sicherheit zuständig ist, hat sich mehrfach mit den Gefährdungen durch Cyber Warfare befasst, z. B. 69. Sitzungsperiode, 19. Sitzung, 28. Oktober 2014, GA/DIS/3512, aber auch keine Vorschläge erarbeitet. 168 Aus der umfangreichen Literatur außer den bereits Genannten: Michael N. Schmitt, Classification of Cyber Conflict, Journal of Conflict and Security Law 17 (2012), S. 245 – 260;

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wirft erhebliche Probleme auf. Zum einen ist jeweils zu klären, ob eine gegen einen Staat oder seine Einrichtungen gerichtete CNO oder eine Serie von zusammenhängenden CNO als Gewalt-CNO unter das allgemeine Gewaltverbot nach Art. 2 Abs. 4 SVN fallen, die Qualität einer Aggressions-CNO haben, die das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 SVN auslösen oder eine Bedrohung oder einen Bruch des Friedens i. S. des Art. 39 SVN darstellen, die eine Zuständigkeit des Sicherheitsrates begründen.169 Zum anderen muss jeweils geklärt werden, ob ein Staat Autor der GewaltCNO ist oder ob diese, auch wenn sie von einem nichtstaatlichen Akteur ausgeht, einem Staat nach den Kriterien der Staatenverantwortlichkeit zugerechnet werden kann, er also ist z. B. für eine terroristische CNO verantwortlich ist, die von seinem Territorium ausgeht. Bloße Durchgangsstaaten sollen nicht verantwortlich sein.170 Dann ist zu klären, welche Gegenmaßnahmen zulässig sind und in welchem Umfang und gegen wen sie gerichtet werden dürfen. Den Fragen und den Antworten, die in der Literatur gesucht werden, ist hier nicht im Einzelnen nachzugehen. Die Literatur stellt zur Beantwortung auf die Vergleichbarkeit der Effekte der CNO mit denjenigen von Akten herkömmlicher kinetischer Gewalt durch reale Waffen bzw. Waffensysteme ab.171 Das Tallinn Manual definiert eine Cyber-Attacke als eine cyber operation, whether offensive or defensive, that is reasonably expected to cause injury or death to persons or damage or destruction to objects.172 Es muss sich um Attacken gegen zentrale, lebenswichtige Infrastrukturen und Einrichtungen des Staates handeln. Ökonomische Nachteile und Verluste allein genügen dafür nicht.173 Es wird ein gewisser Zwangscharakter des Angriffs auf den betroffenen Staat verlangt. Für die Bestimmung eines „bewaffneten Angriffs“ (armed attack), der das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 SVN auslöst, wird in der Regel auf die Aggressionsdefinition der Generalversammlung und auf die Interpretationen des IGH in der Entscheidung im Rechtsstreit Nicaragua gegen die Vereinigten Staaten von Amerika zurückgegriffen.174

Russell Buchan, Cyber Attacks: Unlawful Uses of Force or Prohibited Interventions?, Journal of Conflict and Society 17 (2012), S. 211 – 227; Jack Goldsmith, How Cyber Changes the Laws of War, The European Journal of International Law 24 (2013), S. 129 – 138; Andreas Zimmermann, International Law and ‘Cyber Space’, ESIL Reflections 3/1 (2014), 16 Seiten; David P. Fidler, Cyberspace, Terrorism and International Law, Journal of Conflict and Security Law 21 (2016), S. 475 – 493; Johann-Christoph Woltag, Art. „Cyber Warfare“, in: MaxPlanck Encyclopedia of Public International Law; Michael Bothe, Stellungnahme zu Rechtsfragen des Cyberwar für den Verteidigungsausschuss der [sic] Deutschen Bundestages, 17. Februar 2016, Ausschussdrucksache 18(12)633. 169 Ausführlich Tallinn Manual (Fn. 156), Rules 10 – 17, S. 42 – 68. 170 Tallinn Manual (Fn. 156), Rule 8, S. 36. 171 Tallinn Manual (Fn. 156), Rules 11 und 12, S. 45 – 53; Krieger (Fn. 162), S. 9 – 11. 172 Tallinn Manual (Fn. 156), Rule 30, S. 106 – 110. 173 So Kittichaisaree (Fn. 125), S. 153, 163 – 165. 174 Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen, A/RES/3314 (XXIX) v. 14. Dezember 1974; dazu Bruha (Fn. 11); IGH, Military and Paramilitary Activities in and

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Gegenmaßnahmen gegen Gewalt-CNO haben sich grundsätzlich gegen Staaten zu richten. Sie werden immer in Staaten wirksam.175 Das setzt voraus, dass der Staat, gegen den sich Gegen-CNO richten, völkerrechtlich verantwortlich für die CNO-Angriffe ist. Gehen die Cyber-Attacken von staatlichen Stellen, staatlichen Einrichtungen oder staatlich autorisierten Akteuren aus, ist die Zurechnung und Verantwortlichkeit unproblematisch. Aber die technischen Möglichkeiten sind weit offen für sehr verschiedene Akteure: Terroristen, Kriminelle, politische Gruppen unterschiedlichster Art, Hacker zu sehr verschiedenen Zwecken. Grundsätzlich gilt auch bei Gewalt-CNO, dass Staaten Souveränität und Kontrolle über ihr Hoheitsgebiet und die darauf befindliche Cyber-Infrastruktur und die von dort ausgehenden Aktivitäten ausüben. Es gelten daher auch für diese die allgemeinen Regeln über Staatenverantwortlichkeit.176 Das wird vor allem relevant für terroristische CyberGewalt, die von dem Gebiet eines Staates gegen einen anderen ausgeübt wird.177 Auch bei Cyber-Konflikten gilt bei einer „Gefährdung oder einem Bruch des Friedens“ grundsätzlich der Vorrang des Sicherheitsrates. Im Fall einer Cyber-Aggression wird das Selbstverteidigungsrecht des Angegriffenen nach Art. 51 SVN ausgelöst, das wie allgemein auch kollektiv ausgeübt werden kann.178 Aber oft werden unmittelbare Abwehr- und Gegenmaßnahmen getroffen werden müssen, um Schaden durch eine Gewalt-CNO zu verhüten. Die vorrangige Einschaltung des Sicherheitsrates, der schon in herkömmlichen bewaffneten Konflikten oft sehr spät, wenn überhaupt tätig wird, wird daher in Cyber-Konflikten häufig rein zeitlich sehr problematisch werden. Die Schwelle der Selbstverteidigung könnte daher absinken. Als Abwehr- und Gegenmaßnahmen kommen sowohl CNO, also virtuelle als auch reale, also klassische militärische Maßnahmen in Betracht. Auch für sie gelten die üblichen rechtlichen Schranken der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit. Sind nur defensive Maßnahmen zur Abwehr im eigenen Sicherheitsbereich zulässig oder dürfen auch aggressive Maßnahmen gegen das Netz oder Einrichtungen des Akteurs getroffen werden? Auch stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit von Präventivschlägen.179 Im bewaffneten Cyber-Konflikt gelten für alle Seiten die Regelungen des humanitären Völkerrechts auch für die Anwendung von CNO, nicht nur für reale

against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America). Merits, Judgment, I.C.J. Reports 1986, S. 14; Kittichaisaree (Fn. 125), S. 167 – 171. 175 Ausführlich dazu Tallinn Manual (Fn. 156), Rules 1 – 9, S. 15 – 41; Kittichaisaree (Fn. 125), 191 f. 176 Gewohnheitsrecht, Entwurf einer Konvention über Staatenverantwortlichkeit der International Law Commission, besondere Regelungen im Gewaltvölkerrecht: Tallinn Manual, (Fn. 156), Rule 6, S. 29 – 34. 177 Ausführlich zum Recht auf Selbstverteidigung gegen nichtstaatliche Akteure: Kittichaisaree (Fn. 125), S. 175 – 191. 178 Tallinn Manual (Fn. 156), Rules 13 – 17, S. 54 – 68; Kittichaisaree (Fn. 125), S. 166 – 171. 179 Kittichaisaree (Fn. 125), S. 172 – 175.

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militärische Maßnahmen.180 Das Gleiche gilt für die Anwendung des Völkerstrafrechts. Für Cyber-Attacken unterhalb der Schwelle der Cyber-Aggressionen, die als verbotene Interventionen einzustufen sind, sind Retorsionen und Repressalien zulässig, die ebenfalls virtueller, aber auch realer Art sein können.181 Letzten Endes erscheint es jedoch fraglich, ob eine „Übersetzung“ des geltenden Rechts hinreicht, um Bedrohungen des internationalen Friedens und der Sicherheit durch Cyber-Gewalt rechtlich zu ordnen. Mehr als bewaffnete Gewalt ist sie eine „schleichende“, oft zunächst unbemerkte, unsichtbare „Gewalt“, die zudem auch durch kleinere, aber kumulative Akte wirken kann, von denen jeder einzelne zunächst keine schwerwiegenden Effekte hat. Vor allem ist das Gewaltvölkerrecht strukturell territorial und damit begrenzt orientiert, Cyber-Gewalt aber ist gerade global und entgrenzt, so dass der Zugriff ins Leere laufen kann. Die Probleme der Kollateralschäden für die zivilen Nutzungen einerseits und der Neutralität auch der „Durchgangsstaaten“ im virtuellen Raum andererseits stellen eigene Themenfelder dar.182 c) Verfassungsrechtliche Aspekte Werden die völkerrechtlichen Fragen des Cyber-Krieges in der Literatur ausführlich erörtert, so fehlt es an Analysen zu den verfassungsrechtlichen Problemen fast völlig.183 Wie bei der völkerrechtlichen Einordnung der bewaffneten Cyber-Konflikte gilt auch für die verfassungsrechtliche Einordnung, dass die grundgesetzliche Wehrverfassung für die von der Bundesrepublik ausgeübte militärische Cyber-Ge180 Die Darlegungen der Regeln des ius in bello stellen den größeren Teil des Tallinn Manual dar, Tallinn Manual (Fn. 156), Rules 20 – 86, S. 75 – 238; Thümmel (Fn. 159), S. 79 – 142; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts auf Computernetzwerkoperationen und digitale Kriegsführung (Cyber Warfare), Aktenzeichen WD 2 – 3000 – 038/15, v. 24. Februar 2015; Kittichaisaree (Fn. 125), S. 201 – 231. 181 Buchan (Fn. 168), passim; Kittichaisaree (Fn. 125), S. 190 f., S. 193 – 195; Tallinn Manual (Fn. 156), Rule 9, S. 36 – 41. Sie dürfen nach überwiegender Ansicht aber nicht zu einem nach Art. 2 Abs. 4 SVN verbotenen „Gebrauch von Gewalt“ (use of force) gesteigert werden, ebd., Kommentar 5, S. 37 f., womit wohl militärische Gewalt gemeint ist. 182 Tallinn Manual (Fn. 156), Rules 8, 91 – 95, S. 36, 248 – 256; Kittichaisaree (Fn. 125), S. 196; zur Neutralität: Thümmel (Fn. 159), S. 161 – 236. 183 Christian Marxsen, Verfassungsrechtliche Regeln für Cyberoperationen der Bundeswehr. Aktuelle Herausforderungen für Einsatzbegriff und Parlamentsvorbehalt, Juristenzeitung 72 (2017), S. 543 – 552; Manuel Ladiges, Der Cyberraum – ein (wehr-)verfassungsrechtliches Niemandsland?, Neue Zeitschrift für Wehrrecht 59 (2017), S. 221 – 245; Bothe, Stellungnahme (Fn.168), S. 8 – 10; Schorkopf (Fn. 7), S. 366, Rdnr. 30, erwähnt den CyberKrieg zwar als eine neue Erscheinung, die sich nicht ohne weiteres in die bisherige Bestimmung eines „Angreifers“ einfügen lasse, ohne aber die verfassungsrechtlichen Fragen aufzugreifen.

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walt verbindlich ist. Es gilt das Verbot des Angriffskrieges des Art. 26 GG.184 Auch Cyber-Gewalt darf nur zur Verteidigung gem. Art. 87a Abs. 2 GG und in Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit gem. Art. 24 Abs. 2 GG eingesetzt werden. Die Probleme liegen in der Anpassung dieser für die herkömmlichen realen bewaffneten Konfliktaustragungen gemachten Regelungen auf die virtuellen Konfliktaustragungen. (a) Konzeption der Cyber-Sicherheit Anders als in der bisherigen realen Praxis der Auslandseinsätze der Bundeswehr, die Einsätze zur kollektiven Selbstverteidigung und für Maßnahmen der Sicherung und Wiederherstellung des Friedens im Rahmen von Systemen der gegenseitigen kollektiven Sicherheit umfasst, steht in der Diskussion um die Cyber-Gewalt zunächst die Verteidigung der Bundesrepublik gegen Cyber-Gewaltakte selbst im Vordergrund. Die Bundesregierung bestimmt die Cyber-Sicherheit in Deutschland jedoch umfassend als eine allgemeine, übergreifende staatliche Aufgabe, die alle Bereiche, innere wie äußere, zivile wie staatliche, nichtmilitärische wie militärische Cyber-Sicherheit und damit auch die Verteidigung gegen Cyber-Gewalt einschließt.185 Sie hat daher eine umfassende „Cyber-Sicherheitsstrategie für Deutschland 2016“ verabschiedet.186 Diese „bildet einen ressortübergreifenden strategischen Rahmen für die Aktivitäten der Bundesregierung mit Bezügen zur Cyber-Sicherheit“. Die Verteidigung gegen Cyber-Gewalt wird zwar als eine „originäre Aufgabe des Bundesverteidigungsministeriums und der Bundeswehr“ definiert, erscheint aber doch als ein Teilbereich der Gesamt-Cyber-Sicherheitspolitik der Bundesrepublik.187 Es geht zunächst darum, CNO im Bereich der Bundesrepublik auf zivile wie militärische, staatliche wie private Einrichtungen etc. aufzuspüren, zu erkennen, festzustellen, einzuschätzen und soweit irgend möglich zuzuordnen. Zum zweiten sind Abwehr- und gegebenenfalls Gegenmaßnahmen zu treffen. 184 Dazu eingehend: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Verfassungsmäßigkeit von sog. „Hackbacks“ im Ausland, Aktenzeichen WD 3 – 3000 – 159/18, v. 8. Juni 2018, S. 3 – 5: Bothe, Stellungnahme (Fn. 168), S. 8. 185 Weißbuch (Fn. 164), S. 36 – 38: „Innere und äußere Sicherheit fallen in wenigen Bereichen so eng zusammen wie im Cyberraum. Die Bedrohungslage im Cyberraum erfordert eine ganzheitliche Betrachtung im Rahmen der Cybersicherheitspolitik. Die Wahrung der Cybersicherheit und -verteidigung ist somit eine gesamtstaatliche Aufgabe, die gemeinsam zu bewältigen ist. Dazu gehört auch der gemeinsame Schutz der kritischen Infrastrukturen. Die Konkretisierung der Aufgabenwahrnehmung erfolgt im Rahmen der Cybersicherheitsstrategie, die unter Federführung des Bundesministeriums des Innern erarbeitet wird. Verteidigungsaspekte der gesamtstaatlichen Cybersicherheit sind originäre Aufgaben des Bundesministeriums der Verteidigung und der Bundeswehr, während die Gesamtverantwortung für die internationale Cybersicherheitspolitik beim Auswärtigen Amt liegt.“ 186 Es handelt sich um eine Fortschreibung der Cyber-Sicherheitsstrategie von 2011. Beschluss der Bundesregierung v. 9. November 2016, BT-Drs. 18/10395, https://www.bmi.bund. de/cybersicherheitsstrategie/BMI_CyberSicherheitsStrategie.pdf. 187 Cyber-Sicherheitsstrategie (Fn. 186), S. 32 – 36.

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Die Gesamtverantwortung für die Cyber-Sicherheitsstrategie liegt beim Bundesministerium des Innern.188 In seinem Geschäftsbereich sind neben den allgemeinen Sicherheitseinrichtungen wie dem Bundesnachrichtendienst und dem Bundeskriminalamt Spezialagenturen gebildet worden, so das „Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik“ (BSI). Dieses ist jedoch für die zivile Abwehr von Angriffen auf zivile staatliche und private Objekte zuständig. Die militärische Cyber-Sicherheit nimmt die Bundeswehr als originäre Aufgabe wahr. Jedoch bedarf es angesichts des breiten und mehrdimensionalen Spektrums der Formen der CNO wie ihrer Gegenstände, die sowohl im zivilen wie im militärischen Bereich liegen können, der Kooperationen und der Koordinierungen. Diese erfolgt im „Nationalen Cyber-Abwehrzentrum“ (NCAZ), das dem BSI und damit dem Bundesinnenministerium zugeordnet ist.189 Die Bundeswehr ist neben zivilen Sicherheitsbehörden in diesem Zentrum vertreten, jedoch nur als assoziiertes Mitglied. (b) Zuständigkeiten für die Cyber-Sicherheit Aus dieser allgemeinen, übergreifenden Konzeption der staatlichen Cyber-Sicherheitsstrategien ergeben sich einige neue verfassungsrechtliche Fragen, die jedoch nur skizziert werden können. Zwar ist eine allgemeine zivile und militärische und damit ressortübergreifende staatliche Cyber-Sicherheitsstrategie aus der Natur der Sache her notwendig.190 Jedoch bedarf es auch der Unterscheidungen und der Abgrenzungen in der Sache, um die verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten zwischen Ministerien und Behörden nicht zu verwischen und die rechtlichen Voraussetzungen für die jeweiligen Abwehr- und Gegenmaßnahmen nach innen wie nach außen einzuhalten. Zwar sehen Art. 87a Abs. 3 und 4 und Art. 35 GG für bestimmte Fälle einen Einsatz der Bundeswehr, also auch der Cyber-Abwehreinheiten, vor.191 Aber das sind genau umrissene Extrem- und Ausnahmefälle. Koordination und Kooperation in der Cyber-Sicherheit müssen wohl schon vorher und mit einer gewissen Normalität und Regelmäßigkeit stattfinden, da von außen kommende CNO eine Alltäglichkeit sind. Im Grunde ist jede CNO von außen, der kein Erlaubnisgrund zugrunde liegt, eine Verletzung der Souveränität und der territorialen Integrität der Bundesrepublik, auch wenn sie gegen zivile und private Netze, Einrichtungen etc. gerichtet ist. Es hängt, wie im Völkerrecht, von den Effekten der CNO in der Bundesrepublik, also dem Schweregrad ab, ob sie gegen das allgemeine Gewaltverbot des Art. 2 188

Cyber-Sicherheitsstrategie (Fn. 186) S. 28; Weißbuch (Fn. 164), S. 38. Beschluss der Bundesregierung v. 23. Februar 2011. 190 Die Bundesregierung spricht in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage BT-Drs. 18/6496 davon, dass „die Grenzen zwischen Krieg und Frieden, innerer und äußerer Sicherheit sowie kriminell und politisch motivierten Angriffen auf die Souveränität eines Staates zunehmend verschwimmen“, BT-Drs. 18/6989, S. 3. 191 Dazu auch die Kleine Anfrage BT-Drs. 18/6496, Vorbemerkung, und die Antwort der Bundesregierung, die auf diese Bedenken nicht eingeht, sondern allgemein auf „die einschlägigen Regelungen des Grundgesetzes“ verweist, BT-Drs. 18/6989, zu Frage 2, S. 4; Marxsen (Fn. 183), S. 545 – 549. 189

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Abs. 4 SVN verstoßen oder gar einen bewaffneten Angriff im Sinne des Art. 51 SVN darstellen, die politische und gegebenenfalls militärische Maßnahmen im Rahmen der „Verteidigung“, also der Zuständigkeit der Bundeswehr auslösen können.192 Zu bedenken ist, dass Eingriffe durch CNO sich auch steigern können. Wann ist die Schwelle zur Gewalt erreicht? Aber wer entscheidet über die Qualität einer CNO und damit darüber, ob nichtmilitärische Reaktionen oder militärische Verteidigungsreaktionen zu ergreifen sind? Wie steht es um den Graubereich dazwischen? Das Grundgesetz trifft bezüglich der Entscheidungen in derartigen ressortübergreifenden Materien keine Regelungen. Jeder Minister ist gem. Art. 65 Satz 2 GG nur für seinen Geschäftsbereich verantwortlich. § 15 GOBReg nennt zwar derartige ressortübergreifende Kooperationen und Entscheidungen nicht ausdrücklich als „Gegenstand der Beratung und Beschlussfassung“ der Bundesregierung. Aber da es sich bei der Cyber-Sicherheit um eine Angelegenheit von allgemeiner Bedeutung handelt, wird es dafür gewiss eine Praxis geben. So hat die Bundesregierung auch die grundlegende Cyber-Sicherheitsstrategie vom November 2016 beschlossen. Aber zu fragen ist, ob dafür nicht eindeutige Regelungen auf beiden Ebenen getroffen werden müssen. Für die originäre Verteidigungsaufgabe der Bundeswehr wurden entsprechende Konzeptionen ausgearbeitet.193 Denn sie steht allein der Bundeswehr, nicht anderen Organen bzw. Einrichtungen zu. Nur sie kann daher Abwehr- und gegebenenfalls Gegenmaßnahmen im militärischen Bereich durchführen, soweit diese von außen kommen.194 Kommen sie von innen, ist deren Abwehr und Bekämpfung Angelegenheit der Polizei und innerer Cyber-Sicherheitsbehörden. Die Bundeswehr kann aber im Rahmen der Zuständigkeiten nach Art. 35 Abs. 2 und 3 sowie Art. 87a Abs. 3 und 4 GG Hilfestellungen leisten, wenn deren inhaltliche Voraussetzungen vorliegen.195 Um die militärischen Abwehr- und Gegenmaßnahmen in einem bewaffneten CyberKonflikt wahrzunehmen, hat die Verteidigungsministerin neben dem allgemein tätigen Militärischen Abwehrdienst (MAD) aufbauend auf älteren Einrichtungen 2017 das „Kommando Cyber- und Informationsraum (KdoCIR)“ der Bundeswehr errichtet.196 Die Leitlinien der Cyber-Sicherheitsstrategie des Bundesverteidigungsminis192 Antwort der Bundesregierung zu Frage 27 der Kleinen Anfrage BT-Drs. 18/6496, BTDrs. 18/6989, S. 10. 193 Dazu die in Fn. 164 genannten Dokumente. 194 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, „Hackbacks“ (Fn. 184), S. 5 f.; Ladiges (Fn. 183), S. 228, stellt zutreffend darauf ab, wo die Wirkung der Gegenmaßnahme eintritt, nicht darauf, ob sie vom Inland oder vom Ausland aus gesteuert wird, auch S. 235 f. 195 Ladiges (Fn. 183), S. 230. 196 Bundesministerium der Verteidigung, Abschlussbericht Aufbaustab Cyber- und Informationsraum. Empfehlungen zur Neuorganisation von Verantwortlichkeiten, Kompetenzen und Aufgaben im Cyber- und Informationsraum sowie ergänzende Maßnahmen zur Umsetzung der Strategischen Leitlinie Cyber-Verteidigung, April 2016, https://www.bmvg.de/resour ce/blob/11412/868d0f8c03b84846f6bb959618a5518 f/c-26 - 04 - 16-download-auftrag-cyberverteidigung-data.pdf. In-Dienst-Stellung durch die Bundesministerin der Verteidigung am 5. April 2017.

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teriums bzw. der Bundeswehr sehen unter anderem die Verteidigung der Bundesrepublik, ihrer Einrichtungen und Bürger gegen Cyber-Angriffe, den Schutz der Bundesrepublik gegen Cyber-Bedrohungen,197 den Schutz der eigenen IT-Systeme der Bundeswehr und ihrer Waffen sowie das Zusammenwirken auf internationaler Ebene mit NATO, EU, Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen vor.198 (c) Schwierigkeiten der Anpassung an das geltende Verfassungsrecht An erster Stelle der Aufgaben der Cyber-Strategie der Bundeswehr steht, wie bereits bemerkt, die Verteidigung gegen Cyber-Attacken von außen, aber auch die Unterstützung der Abwehr konventioneller Angriffe. Hierfür stellen sich eine Reihe von Problemen der Anpassung an das geltende Recht. Die Cyber-Strategie äußert sich zu den Einzelheiten nicht. Die Cyber-Verteidigungsmaßnahmen richten sich gegen Gewalt-CNO, die von außen gegen die Bundesrepublik gerichtet sind, die Qualität einer verbotenen bewaffneten Verletzung der Souveränität oder territorialen Integrität der Bundesrepublik oder einer bewaffneten Cyber-Aggression haben und von staatlichen Akteuren ausgehen oder Staaten zugerechnet werden können. Es kommt also auch verfassungsrechtlich auf die virtuellen und/oder realen Effekte einer CNO in Deutschland an. Auch zur Bestimmung des Gegners, gegen den sich virtuelle wie reale Abwehr- und Gegenmaßnahmen zur Verteidigung richten dürfen, gelten die völkerrechtlichen Regelungen der Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit. Für virtuelle wie für reale Gegenmaßnahmen in einem bewaffneten Cyber-Konflikt ist, wie in realen bewaffneten Konflikten, die Feststellung des Verteidigungsfalles nach Art. 115a GG nicht erforderlich, bevor sie getroffen werden können.199 Aber wann ist eine Grenze der Cyber-Gewalt erreicht, die es inhaltlich geboten erscheinen lässt, dass der Bundestag diesen feststellt, um die entsprechenden innenpolitischen Maßnahmen treffen zu können? Ist es für einen Angriff mit Cyber-Waffengewalt auf das Bundesgebiet hinreichend, wenn die Gewalt-CNO zwar von außen durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur gesteuert, aber von Akteuren im Inland durchgeführt wird?200 Die Frage stellt sich in ähnlicher Weise schon für den internationalen Terrorismus. Eine zentrale Problematik liegt in der Frage, wann eine Cyber-Aktion der Streitkräfte ein Einsatz ist, der unter den verfassungsrechtlichen Genehmigungsvorbehalt des Bundestages fällt. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz unterstellt Einsätze „bewaffneter deutscher Streitkräfte außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes 197

Strategische Leitlinie Cyber-Verteidigung (Fn. 164), II. Strategischer Kontext. Strategische Leitlinie Cyber-Verteidigung (Fn. 164), IV. Handlungsfeld 2 – Internationale Rahmenbedingungen gestalten. Im Rahmen der NATO ist deren Cyber Defence Policy von 2014 und im Rahmen der EU sind deren Cyber Security Strategy (CSS EU) vom Februar 2013 und das EU Cyber Defence Policy Framework vom Dezember 2014 maßgebend. 199 BVerfGE 90, 286 (386). 200 Marxsen (Fn. 183), S. 548. 198

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der Zustimmung des Bundestages“, wenn diese „in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind oder eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu erwarten ist“.201 Verteidigungsmaßnahmen gegen bewaffnete Angriffe auf die territoriale Integrität oder die Unabhängigkeit der Bundesrepublik fallen nicht darunter, obwohl sie „bewaffnete Unternehmungen“ sind, auch wenn sie durch deutsche Truppen im Ausland vorgenommen werden. Es bleiben also bewaffnete Unternehmungen außerhalb oder unterhalb der Schwelle von Verteidigungsmaßnahmen. Zwar sollen Cyber-Abwehr- oder Gegenmaßnahmen der Verteidigung ihren Erfolg im Ausland entfalten, sie werden aber häufig, wenn nicht in der Regel, durch die Einrichtungen der Bundeswehr vom Inland her in Gang gesetzt. Liegt damit ein Auslandseinsatz der im Inland aktiven Streitkräfte vor, welcher der vorherigen Genehmigung bedarf? Wann werden die Cyber-Abwehrstreitkräfte in einem Cyber-Konflikt in „bewaffnete Unternehmungen“ einbezogen?202 Es bedarf einer genaueren Analyse des Ablaufes und der beabsichtigten Wirkungen solcher Abwehr- und Gegenmaßnahmen wie auch der Einschätzung der zu erwartenden Reaktionen der Gegenseite. Je näher die Möglichkeit einer Eskalation virtueller wie realer bewaffneter Maßnahmen liegt, desto eher wird es einer Zustimmung des Bundestages bedürfen.203 Abwehrmaßnahmen oder Gegenmaßnahmen werden aber unter Umständen unmittelbar und sofort getroffen werden müssen, nachdem eine Gewalt-CNO entdeckt worden ist. Das wird sogar eher die Regel sein, so dass die vorherige Zustimmung des Bundestages zum „Einsatz“ kaum einzuholen sein wird.204 Abwehr- und Gegenmaßnahmen vollziehen sich meist im Verborgenen und gelangen, wenn überhaupt, erst im Nachhinein an die Öffentlichkeit. Die Gründe liegen in der Sache, da oft nur unter der Voraussetzung der Geheimhaltung Wirkungsweisen der CNO festgestellt, Akteure identifiziert und wirksame Gegenmaßnahmen der Verteidigung entworfen und durchgeführt werden können. Das ParlBG sieht aber keine geheimen Verfahren der Zustimmung z. B. in einem besonderen Ausschuss vor. Was hat den Vorrang? Die Wirksamkeit der Verteidigung oder die öffentliche Parlaments-

201 Gesetz über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland (Parlamentsbeteiligungsgesetz), v. 18. März 2005, BGBl. I (2005), S. 775, §§ 1 Abs. 2 und 2 Abs. 1 ParlBG. 202 Marxsen (Fn. 183), S. 549 f.; dazu Bothe, Stellungnahme (Fn. 168) S. 8 – 10. 203 Marxsen (Fn. 183), S. 550, vermutet, „dass hier eigene Gesetzmäßigkeiten herrschen“ könnten. Er hält zudem die Eskalationsgefahr für recht hoch. Bothe, Stellungnahme (Fn. 168), S. 9, stellt auf die jeweiligen Szenarien ab. Ladiges (Fn. 183), S. 242. 204 Dazu die im Grund inhaltsleere Antwort der Bundesregierung auf Frage 18 der Kleinen Anfrage BT-Drs. 18/6496, BT-Drs. 18/6989, S. 7: „Rechtsgrundlage für die Einsätze und Verwendungen der Bundeswehr [für Eingriffe in die IT-Struktur anderer Staaten; so die Fragesteller] sind die einschlägigen Regelungen des Völkerrechts und des Grundgesetzes sowie des Parlamentsbeteiligungsgesetzes.“ Ladiges (Fn. 183), S. 241.

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beteiligung?205 Außerdem unterliegen nicht die Abwehr- und Gegenmaßnahmen dem Parlamentsvorbehalt, sondern der Einsatz als solcher. Wie die Bundeswehr dann den Einsatz durchführt, ist der militärischen Führung der Befehls- und Kommandogewalt überlassen. Wird die Ausnahmeregelung der nachträglichen Zustimmung im Cyber-Konflikt zur Regel? Oder bedarf es einer generellen Genehmigung des Bundestages für die Tätigkeit der Cyber-Truppe als solcher? Weitere verfassungsrechtliche Probleme sollen kurz benannt werden. Die Strategiepapiere des Verteidigungsministeriums betonen auch für die Cyber-Verteidigung die Zusammenarbeit in den internationalen Organisationen, vor allem NATO und EU. Auch hier können sich Probleme in Bezug auf die Parlamentsbeteiligung ergeben.206 Es stellen sich Fragen des Grundrechtsschutzes, unter anderem für die Informationsfreiheiten bei Maßnahmen zur Kontrolle oder Sperrung der Netze, sei es um von Deutschland ausgehende Cyber-Attacken, z. B. durch Terroristen, zu verhindern, sei es im Rahmen von Abwehr- oder Gegenmaßnahmen gegen von außen kommende Cyber-Attacken. Schließlich wirft die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren, Einrichtungen verschiedenster Art, spezialisierten IT-Unternehmen, nichtstaatlichen Universitäten und Forschungsinstituten etc. bei der Gewinnung von Erkenntnissen über CNO und Bedrohungen durch CNO, bei der Entwicklung von Abwehrstrategien etc. verfassungsrechtliche Fragen auf. Denn es handelt sich dabei zunächst um genuin staatliche Aufgaben der Gewährleistung der Sicherheit. Das gilt bereits für die Cyber-Sicherheit im zivilen Bereich, aber erst recht für die Cyber-Sicherheit im Bereich der Verteidigung. Private Akteure verfolgen in der Regel zumindest auch private Ziele.

d) Frieden? Die Bundesrepublik und ihre staatlichen wie privaten Einrichtungen sind täglich Opfer von CNO, die nicht selten eine erhebliche Eingriffsqualität haben. Der Kommandeur der Cyber-Abwehreinheit der Bundeswehr soll gesagt haben, Frieden gäbe es in der Cyber-Welt nicht. Die NATO hat 2016 den virtuellen Raum generell zu einem möglichen Operations- oder Kriegsgebiet erklärt. Ob noch Frieden, aber mit ungezählten Interventionen durch CNO in allen Bereichen, oder schon bewaffnete Gewalt oder gar bewaffneter Angriff, wird eine Frage der politischen Einschätzung der Betroffenen sein. Bisher hat kein Staat irgendeine gegen ihn gerichtete CNO als armed attack im Sinne des Art. 51 SVN qualifiziert und das Selbstverteidigungsrecht für Gegenmaßnahmen geltend gemacht. Auch hat kein Staat den Sicherheitsrat wegen einer solchen CNO angerufen. Dieser hat daher, trotz Stuxnet und anderen sehr gravierenden CNO mit nachhaltigen Folgen für die Betroffenen, in keinem 205

Gegen eine generelle Beschränkung Marxsen (Fn. 183), S. 551. Marxsen (Fn. 183), S. 550; Bothe, Stellungnahme (Fn. 168), S. 9 f., verweist auf die bisherige Praxis, bei geheimhaltungsbedürftigen Operationen ausgewählte Abgeordnete zu unterrichten, die aber bisher nicht eindeutig geregelt ist. 206

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Falle eine „Bedrohung oder einen Bruch des internationalen Friedens und der Sicherheit“ festgestellt und gar irgendwelche Maßnahmen beschlossen. Alle haben sich also für den Frieden mit CNO auch gravierender Art entschlossen. Aber dieser Cyber-Frieden ist ein sehr prekärer Frieden, dessen Regeln offen sind, ständigen Verletzungen ausgesetzt, die kaum oder gar nicht beherrschbar sind und sich stets an der nicht definierten und kaum definierbaren Grenze „zur Bedrohung oder zum Bruch des Friedens“ befinden.

III. Schlussfolgerungen Die Untersuchung des verfassungsrechtlichen Umgangs mit den „neuen Kriegen“ lässt fünf Schlussfolgerungen zu: Das Verfassungsgewaltrecht der Bundesrepublik stellt grundsätzlich einen tragfähigen rechtlichen Rahmen für die Beteiligung an „neuen Kriegen“ dar (a). Jedoch begründet die Mitgliedschaft in „Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ keine konturscharfe Rechtsgrundlage der Einsätze der Bundeswehr (b). Die Berufung auf die „Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ sowie die humanitäre Intervention und eine extensive Auslegung des Begriffs der „Verteidigung“ bergen vielmehr die Gefahr einer Erosion des Gewaltverfassungs- und Gewaltvölkerrechts (c). Die Beteiligung an „neuen Kriegen“ verlangt nicht nur nach ihrer verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Rechtfertigung. Sie wirft auch die Frage auf, wie „neuer Frieden“ zu erreichen ist (d). Schließlich lässt der verfassungsrechtliche Umgang mit „neuen Kriegen“ Rückschlüsse auf die Souveränität der Bundesrepublik zu (e).

1. Das Verfassungsgewaltrecht – ein tragfähiger rechtlicher Rahmen Das Verfassungsgewaltrecht der Bundesrepublik hat sich für ihre Beteiligung an den „neuen Kriegen“ zwar einerseits im Großen und Ganzen als ein tragfähiger rechtlicher Rahmen erwiesen. Aber es konnte dies andererseits nur um den Preis inhaltlichen Wandels. Voraussetzung dafür war seine rechtliche Konturschwäche. Es war das Ziel der verfassungsrechtlichen Regelungen bei der Einführung der Wiederbewaffnung 1954 und der Neufassung der Wehrverfassung im Rahmen der Notstandsgesetzgebung 1968, Einsätze der Bundeswehr durch die Fokussierung auf „Verteidigung“ möglichst einzuschränken. Die „neuen Kriege“ haben zu einer Praxis geführt, die diesen Ansatz weit überholt hat.

2. Mitgliedschaft in „Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ Nicht die „Verteidigung“, wie wohl ursprünglich gedacht, sondern die Mitgliedschaft in „Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ ist zur vorrangigen Rechts-

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grundlage der Einsätze der Bundeswehr in aller Welt geworden, auch über die Verteidigung hinaus. Das führt aber gerade nicht zu einer konturscharfen rechtlichen Regelung der Einsätze der Bundeswehr. Denn da das Gewaltvölkerrecht, wie sich in den vier ersten Fällen gezeigt hat, rechtlich sehr offen ist, wodurch Grauzonen entstehen, ist der dabei entstandene verfassungsrechtliche Spielraum der Politik ebenfalls erheblich ausgeweitet. Dieser manifestiert sich in der hier behandelten Praxis in drei Entwicklungen. Zum Ersten werden die Grenzen der Gewaltanwendung durch die humanitären Interventionen und die „unwilling or unable“ Doktrin verschoben. Zum Zweiten ist der Begriff des „Systems der gegenseitigen kollektiven Sicherheit“ durch die Einbeziehung der informellen ad-hoc-Bündnisse OEF und OIR erweitert worden. Die herkömmlichen Formen der Bündnisbildung durch einen völkerrechtlichen Vertrag, die noch die NATO tragen, haben an Bedeutung verloren. Das bedeutet verfassungsrechtlich, dass der Bundestag daran nicht mehr nach Art. 59 Abs. 2 GG mitwirkt. Es bedarf einer entsprechenden verfassungsrechtlichen Änderung. Die Zustimmung zu einem konkreten Einsatz der Bundeswehr gemäß ParlBG, wie im Syrien-Konflikt im Rahmen der OIR, kann diese grundlegende Beteiligung nicht ersetzen. Zum Dritten sind durch die Beteiligung an Einsätzen zur Wahrung und Wiederherstellung des Friedens die Aufgaben über die ursprünglichen Vorstellungen der Verteidigung und Sicherheit hinausgewachsen. Alle drei Entwicklungen der Praxis sind rechtlich fragwürdig und führen zu einer Zerfaserung des Gewaltverfassungsrechts.

3. Erosion des Gewaltverfassungs- und Gewaltvölkerrechts In den humanitären Interventionen – und auch durch die „unwilling or unable“ Doktrin – verliert das Gewaltvölkerrecht und damit auch das Gewaltverfassungsrecht seine rechtlichen Konturen als Ordnung der zwischenstaatlichen Gewaltanwendung und seiner Sicherung durch den Sicherheitsrat. Das gilt für die humanitäre Intervention bereits bei einer Mandatierung durch den Sicherheitsrat. Erst recht gilt dies, wenn eine Mandatierung nicht vorliegt und Staaten oder Staatengruppen eine Art „Nothilfe“ für sich in Anspruch nehmen. Die Ausdehnung der Gefährdung des Friedens und der Sicherheit auf gravierende Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts in zwischenstaatlichen wie innerstaatlichen bewaffneten Konflikten stellt eine fundamentale und zentrale Veränderung dieses Gewaltvölkerrechts dar. Es bekommt wieder ein Element des „gerechten Krieges“, da die daraus abgeleitete humanitäre Intervention mit oder ohne Mandatierung durch den Sicherheitsrat an eine materielle iusta causa geknüpft wird. Zwar ist diese im Unterschied zur iusta causa der alten Lehre positivrechtlich in den Menschenrechtsdokumenten, dem humanitären Völkerrecht und dem Völkerstrafrecht gefasst. Jedoch bleiben rechtliche und vor allem politische Unwägbarkeiten, da die jeweilige Einschätzung materiell wie institutionell unsicher ist. Da die Interventionen in Bosnien-Herzegowina und Kosovo sich nicht nur gegen Verletzungen der Menschen-

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rechte durch staatliche Truppen, sondern wesentlich auch gegen solche durch paramilitärische Milizen richteten, bedeutet auch diese Erweiterung des Adressatenkreises des Gewaltvölkerrechts einen Verlust an rechtlicher Kontur. Durch die Anwendung des Begriffs eines „Systems der gegenseitigen kollektiven Sicherheit“ in der Praxis auf ad-hoc-Defensivbündnisse wie die OEF oder OIR verliert die Funktionsbestimmung des Art. 24 Abs. 2 GG weiterhin an rechtlicher Kontur. Durch die Erweiterung des Begriffs der „Verteidigung“ im Sinne des Art. 51 SVN gegen nichtstaatliche Akteure und dadurch auch des Art. 87a Abs. 1 GG im „Krieg gegen den Terror“ sowie die Erweiterungen des Spektrums der Aufgaben für Einsätze im Rahmen der NATO, die unter Umgehung des Art. 59 Abs. 2 GG über Art. 24 Abs. 2 GG in das Verfassungsgewaltrecht transformiert werden, wird die grundgesetzliche Konzentration der Einsätze der deutschen Streitkräfte auf „Verteidigung“ nicht nur inhaltlich, sondern auch räumlich überholt. Das manifestiert sich in den weltweiten Einsätzen im Rahmen von Resolutionen der Vereinten Nationen zur Sicherung bzw. Wiederherstellung des Friedens, wie z. B. in den hier nicht behandelten Einsätzen in Mali, aber auch im Rahmen der GASP der EU am Horn von Afrika.207 Die verfassungsrechtliche Grauzone spitzt sich auch für den bewaffneten CyberKonflikt im virtuellen entgrenzten Raum zu. Zwar ist verständlich, dass das Gewaltverfassungsrecht von 1956/1968 dafür nicht gerüstet ist. Es gründet wie das Gewaltvölkerrecht noch immer auf der Unterscheidung von innen und außen, mögen auch die – fast – universellen und daher grenzenlosen Vereinten Nationen kein „Außen“ mehr haben. Für die Staaten gilt die Unterscheidung nach wie vor. Der virtuelle Raum als Operationsraum jedoch ist allumfassend und schließt auch den Weltraum ein. Die Grenzen verschwimmen. Da das ganz allgemein für Operationen im Cyber-Raum gilt, nicht nur für CNO in einem Cyber-Krieg, erweisen sich die „Innen“ und „Außen“ übergreifenden Kooperationen der deutschen Cyber-Sicherheitsstrategien zwar als unabweisbar, aber ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen müssen geklärt werden. Das sollte aber durch den Verfassungsgesetzgeber selbst in einem offenen

207 Mali: Beteiligung an der VN-Mission „Mission multidimensionelle intégrée des Nations Unies pour la stabilisation au Mali“ (MINUSMA), S/RES/2100 v. 25. April 2013, zur inneren Friedenssicherung und Stabilisierung, letzter Beschluss des Bundestages, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 26. April 2018 (19/29), S. 2714 B. Horn von Afrika: Beteiligung an der von der EU getragenen Mission EU NAFVOR Somalia, Operation ATALANTA, zur Überwachung der Seehandelswege und Bekämpfung der Piraterie, Erster Beschluss des Rates vom 10. November 2008, Gemeinsame Aktion 2008/851/GASP über die Militäroperation der Europäischen Union als Beitrag zur Abschreckung, Verhütung und Bekämpfung von seeräuberischen Handlungen und bewaffneten Raubüberfällen vor der Küste Somalias, ABl. L 301 v. 12. November 2008, S. 33, letzter Fortsetzungsbeschluss (GASP) 2016/2082 v. 28. November 2016, ABl. L 321 v. 29. November 2016, S. 53; letzter Verlängerungsbeschluss des Bundestages, Stenografisches Protokoll der Sitzung des Bundestages v. 26. April 2018 (19/29), S. 2736 B, Antrag der Bundesregierung vom 11. April 2018, BTDrs. 19/1596. Für diesen von der EU im Rahmen der GASP getragenen Einsatz wird die EU im Antrag als ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit eingestuft, BT-Drs. 19/1596, S. 1, Nr. 2.

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politischen Prozess geschehen, nicht, wie üblich, erst durch einen juristischen Prozess vor dem und durch das Bundesverfassungsgericht.

4. Neuer Friede Wie die „neuen Kriege“ keine formell geregelten bewaffneten Konflikte sind, sind auch die „neuen Frieden“ keine formellen Frieden mehr. Auch dafür folgt das Verfassungsrecht dem Völkerrecht. Frieden wird nicht „geschlossen“, sondern in Stufen „hergestellt“. Obwohl die Bundesrepublik zwei Mal mit ihren Verbündeten an schweren Militäraktionen gegen Jugoslawien/Serbien in einem bewaffneten Konflikt teilgenommen hat, hat sie ebenso wenig wie diese in der verfassungsrechtlichen Form eines Gesetzes gem. Art. 115 l Abs. 3 GG einen Friedensvertrag mit diesem Staat geschlossen. Der jeweilige Gesamtzustand wird immer noch für Bosnien-Herzegowina wie für Kosovo als „Gefährdung des internationalen Friedens und der Sicherheit“ qualifiziert. Beide stehen weithin unter „Aufsicht“; ihre inneren Stabilisierungs- und Staatsbildungsprozesse werden intensiv von außen international durch inhaltliche Vorgaben des Sicherheitsrates für die innere Ordnung gesteuert; sie bedürfen der massiven Hilfestellung auf allen Ebenen und in allen Bereichen; ihre innere wie äußere Sicherheit können nur durch nachdrückliche äußere Hilfe der NATO bzw. anderer Staaten einigermaßen aufrecht erhalten werden; zwar sind sie keine formellen Protektorate, aber ihre äußere Handlungsfähigkeit ist erheblich eingeschränkt. Friedensschluss mit Terroristen scheint per se ausgeschlossen, denn er setzt die Selbstaufgabe der terroristischen Partei voraus.208 So ist Frieden als rechtlich konturierter Zustand mit bestimmten Rechten und Pflichten zwischen den Partnern bewaffneter Konflikte in vielen Fällen und Hinsichten einem diffusen Zustand zwischen rechtlich geformter Ruhe, Sicherheit und Gewissheit einerseits und rechtlich offener Ungewissheit, Unzuverlässigkeit und Unstetigkeit andererseits gewichen. Ob und inwieweit im Cyber-Konflikt überhaupt geordneter und geregelter Cyber-Frieden möglich ist, erscheint offen.

5. Souveränität der Bundesrepublik Deutschland Am Ende stellt sich, wie immer, die Frage nach der Souveränität der Bundesrepublik im Hinblick auf die „neuen Kriege“. Denn das freie Kriegsführungsrecht machte einen zentralen Bestandteil dieser Souveränität aus. Es fehlt der Bundesrepublik an einer eigenen aktiven, gar offensiven Gewaltführungsbefugnis sowohl nach Gewaltvölkerrecht wie aber auch nach ihrem Verfassungsrecht. Einsätze der Bundeswehr finden – bisher – nur im Rahmen der Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit statt, die maßgebliche Vorgaben machen. Nur zur Selbstverteidigung 208 Allerdings ist das nicht auszuschließen, wie die Friedensschlüsse in Nordirland von 1998 und Kolumbien von 2017 sowie die Auflösung der ETA im Jahr 2018 zeigen.

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gegen einen bewaffneten Angriff steht ihr ein „natürliches Recht“ zu. Aber in negativer Hinsicht ist die Bundesrepublik frei. Sie kann die Beteiligung an militärischen Aktionen der Vereinten Nationen bzw. an von ihr mandatierten Aktionen etc. ablehnen, wie sich in Libyen gezeigt hat. Das gilt auch für die Bündnispflicht nach Art. 5 NATO-Vertrag. Eine solche Pflicht entsteht evtl. aus Art. 42 Abs. 7 EUV, wenn ein bindender Ratsbeschluss zur gemeinsamen Verteidigung ergeht.209 Auch verfassungsrechtlich ist die Bundesrepublik durch Art. 24 Abs. 2 GG nicht verpflichtet, an militärischen Maßnahmen teilzunehmen. Die Beteiligung der Bundesrepublik an der Sicherung des Friedens gegen seine Gefährdungen steht in einer pluralen Rechtsordnung mit verschiedenen, unter Umständen konfligierenden Jurisdiktionen. Für Deutschland nimmt zwar das Bundesverfassungsgericht für sich in Anspruch, die Letztentscheidung zu treffen, also die Souveränität der Bundesrepublik zu wahren. Das wird jedoch vom EuGH nicht ohne weiteres anerkannt. Aber bisher ist ein echter Jurisdiktionskonflikt von beiden Seiten vermieden worden. In einigen Erörterungen der sovereignty in rechtspluralistischen Ordnungen wird von layered sovereignty, divided sovereignty, partial sovereignty gesprochen.210 Mit diesen Anpassungen verliert der Begriff der Souveränität jedoch seine Trennschärfe zwischen der umfassenden, allgemeinen und letztentscheidenden staatlichen Vollgewalt, die er seit Bodin gemeint hat, und den partiellen Gewalten, die er herabstufen sollte. Er wird in sein Gegenteil verkehrt, nämlich parzelliert. Ich lasse die Frage nach der Souveränität der Bundesrepublik jedoch offen, da mehr zu bedenken ist, als hier verhandelt wurde.211 Die Entscheidung über Krieg, Neutralität und Frieden, der völkerrechtliche Kern der Souveränität, liegt jedenfalls nur noch in negativer Hinsicht in deutscher Hand.

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Oben II.4.c. (S. 236 mit Fn. 130). Z. B. Lauren Benton, A Search for Sovereignty. Law and Geography in European Empires, 1400 – 1900, Cambridge 2010, S. 280; Lauren Benton/Lisa Ford, Rage for Order. The British Empire and the Origins of International Law, 1800 – 1850, Cambridge, MA 2016, S. 88. 211 Dazu Heinhard Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende?, Der Staat 41 (2002), S. 331 – 357. 210

Diskussion Schönberger: Lieber Herr Steiger, ganz herzlichen Dank für das breite Panorama der neuen Situation. Wenn ich Sie recht verstanden habe, dann bearbeiten Sie hier Grauzonenrecht, indem Sie alle Kategorien, die eine Zeit lang noch für berechenbar gehalten wurden, als brüchig erweisen. Hillgruber: Erst mal ganz herzlichen Dank für dieses Panorama, das Sie hier aufgemacht haben, mit vielen hochinteressanten Anwendungsfällen und vielen interessanten Schlussfolgerungen. Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Sie haben mehrfach betont, das ist in Ihrer Gliederung auch mit Fragezeichen versehen, wo bleibt der Frieden, wo bleibt der formelle Friedensschluss. Nun ist der nach dem Ende zwischenstaatlicher, geradezu klassischer Gewaltkonflikte nach dem Zweiten Weltkrieg in der Regel ausgeblieben. Wir haben immerhin den 2+4-Vertrag so gedeutet, dass er die friedensvertragliche Regelung ist. Aber in den Fällen, die Sie geschildert haben, ist es auch meines Erachtens eher fernliegend, dass es zu seinem solchen Friedensschluss kommt. Immer dann, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen agiert, eine sozusagen weltpolizeiliche Gefahr für den Frieden sieht und den Friedensstörer oder Friedensbrecher in die Schranken des Gewaltvölkerrechts zurückweist, findet kein Friedensvertrag statt mit diesem Störer, der vielmehr „unschädlich“ gemacht worden ist. Das sind mandatierte gewaltsame Zwangsmaßnahmen gegen den Friedensstörer, kein durch Frieden zu beendender Krieg. Ich glaube, da passt der formelle Friedensschluss schlicht nicht. Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt, was Afghanistan angeht, haben Sie mit Recht formuliert, es ist eigentlich unklar, wer der Adressat von Zwangsmaßnahmen sein kann, wer Adressat des Gewaltverbots ist. In der Tat sind die Formulierungen an dieser Stelle offen. Immerhin hat der Internationale Gerichtshof in seiner Entscheidung über die Mauer zwischen Palästina und Israel entschieden, dass Selbstverteidigung nur gegenüber einem Angriff eines Staates geführt werden kann. Das ist allerdings auch kritisiert worden. Und mit dieser Begründung ist angenommen worden, die Mauer könne keine Selbstverteidigungsmaßnahme sein, weil die behaupteten Angriffe von diesem autonomen Gebiet Palästina aus eben kein Angriff eines Staates seien. Der Internationale Gerichtshof hat sich in dieser Frage festgelegt. Und es wird ja auch nicht ganz unberechtigt der Versuch unternommen, was die Anschläge vom 11. September angeht, einen Zurechnungszusammenhang zu konstruieren. Das ist auch die Basis für die Entscheidung des NATO-Rates, zum ersten und einzigen Mal den Bündnisfall nach Art. 5 des Washingtoner Vertrags auszurufen. Man hat die Anschläge des 11. Septembers unmittelbar dem Terrornetzwerk der al-Qaida zugerechnet. In einem zweiten Schritt hat man sie dem Regime der Taliban zugerechnet und damit dann drittens auch dem Staat Afghanistan. Zu dem Fall Bosnien-Herzegowina. Sie haben es richtig überschrieben

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mit „Sicherung der territorialen Integrität“. Aber da taucht sofort das Problem auf. Die internationale Gemeinschaft hat da etwas getan, was vielleicht doch ein Fehler war. Sie hat geglaubt, sie könne die Situation dadurch stabilisieren, dass sie dieses fragile Gebilde, vielleicht war es auch ein failed state ab initio, als souveränen Staat anerkannt hat, in die Vereinten Nationen als Mitglied aufgenommen hat und sodann das Ziel ausgegeben hat, die territoriale Integrität dieses Gebildes zu sichern. In Wahrheit war dieser Staat jedenfalls zu dem damaligen Zeitpunkt in keiner gesicherten Situation, sondern wir hatten die bosnisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska, das waren und sind die maßgeblichen Einheiten. Darüber gestülpte Organe eines Gesamtstaats sind nicht funktionsfähig. Dadurch hat man sich die Situation selbst schwer gemacht. Im Übrigen war das in Bosnien-Herzegowina eigentlich im Kern ein Bürgerkrieg. Und ein Bürgerkrieg ist kein neues, sondern ein ganz altes Phänomen. Mit dem sich aber das Völkerrecht bekanntermaßen auch immer schwergetan hat. Noch ganz kurz zur innerstaatlichen Situation im Verhältnis Verteidigung zu Art. 24 II GG. Im Grunde kann man die Dinge nicht voneinander trennen. Wenn Art. 87a Abs. 1 GG sagt, der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf, dann formuliert er den Widmungszweck dieser Streitkräfte. Sie sind dafür da, Einsätze zur Verteidigung zu führen. Wenn ich dann die Brücke zu Art. 24 II GG schlagen will, reicht 87a Abs. 2 GG aus verschiedenen Gründen nicht aus. Was heißt ausdrücklich? Wie „ausdrücklich“ muss „ausdrücklich“ sein? In Art. 24 II GG, steht, da zur Urfassung des Grundgesetzes gehörend, von einem Einsatz der Streitkräfte nichts drin; die kommen ja in der Verfassung auch erst seit der Wehrnovelle vor. Und selbst wenn wir diese Brücke noch betreten können, bleibt ja die Frage, ja mit welchen Streitkräften sollen wir denn dann im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit kooperieren? Mit Streitkräften, deren einziger Widmungszweck die Verteidigung ist? Also wenn der Einsatz im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit kein Einsatz zur Verteidigung wäre, dann haben wir zwar Streitkräfte und die verfassungsrechtliche Erlaubnis, uns in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen, wir hätten aber keine Streitkräfte, die wir im Rahmen dieses Systems einordnen können. Wir müssen also den Begriff der Verteidigung weit interpretieren, sonst bleibt das unverbunden nebeneinander. Letzter Punkt: Art. 59 II GG. Sie haben zu Recht am Ende, wenn ich Sie richtig verstanden habe, gesagt, wir haben im Grunde unsere Wehrverfassung gekoppelt an das Völkerrecht über Art. 24 II GG. Aber es ist, wie man strafrechtlich sagen würde, eine limitierte Akzessorietät, keine strikte, was sich gerade auch darin zeigt, dass das Verfassungsgericht den völkerrechtlichen Vertrag auf Rädern akzeptiert. Sie haben das ja am Beispiel der NATO sehr schön deutlich gemacht. Die war ein klassisches Verteidigungsbündnis. Mittlerweile versteht sich die NATO aufgrund des veränderten strategischen Konzepts als weltweit agierende Interventionsstreitmacht. Wir müssen uns gar nicht darüber unterhalten, ob das völkerrechtlich zulässig ist oder nicht. Innerstaatlich würde man doch sagen, das ist ein Fall des Art. 59 II S. 1 GG. Als die deutschen gesetzgebenden Organe 1955 den Washingtoner Vertrag gebilligt haben und die Bundesrepublik Deutschland der NATO beigetreten ist, war diese Entwicklung nicht absehbar und kann auch daher von der Ermächtigung des damaligen Zustimmungsge-

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setzes nicht gedeckt sein. Die Zustimmung zu dieser nachträglichen Vertragsänderung müsste eigentlich noch eingeholt werden. Das Bundesverfassungsgericht sagt aber, nein, soweit das irgendwie noch dem Frieden dient – aber was dient nicht dem Frieden in weiter Interpretation –, ist das noch in Ordnung. Also da koppelt man sich im Grunde ein Stück weit von den völkerrechtlichen Voraussetzungen auch wieder ab. Vielen Dank. Steiger: Ich fange mal hinten an mit meiner Beantwortung. Hinsichtlich Art. 59 Abs. 2 GG sind wir uns glaube ich einig. Ich habe absichtlich auf das Bundesverfassungsgericht verwiesen, und wenn man in Deutschland auf das Bundesverfassungsgericht verweist, ist die Sache erstmal ok. Aber ich würde Ihre Kritik durchaus teilen, was die innerstaatliche Verteidigung und Art. 24 I GG angeht. Da das Grundgesetz jenseits der Verteidigung eine ausdrückliche Ermächtigung für den Einsatz von Streitkräften verlangt, kann man wirklich Zweifel haben, ob Art. 24 I GG darunter fällt. Das ist ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Nun sind diese Systeme kollektiver Sicherheit auch zu unterscheiden. Herr Carl hat in seinem Vortrag nochmal darauf hingewiesen. Die UNO ist ein System kollektiver Sicherheit, indem sie die innere Sicherheit dieses Systems vor allen Dingen als Ziel hat. Und das geht ja auch ganz gut, denn die UNO hat ja kein Außen, außer der Antarktis und dem Vatikan. Alle anderen Staaten sind innerhalb der UNO. Also das ist ein umfassendes universelles System, das nur innen kennt. Die NATO ist ein regionales und kennt innen und außen. Hier geht es aber gar nicht um innen, sondern es geht von vornherein im Art. 5 des NATO-Vertrags vor allem um außen, das heißt um Verteidigung. Sodass es hinsichtlich der NATO meines Erachtens klar ist, dass das System nach Art. 24 eben Verteidigung umfasst. Sonst brauchten wir das nicht. Das war aber genau die Frage, die das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hatte und die damals heftig diskutiert wurde, ob die NATO ein System kollektiver Sicherheit sei, das eben auf Verteidigung nach außen gerichtet ist. Das waren eben die Fragen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich damit aus der Affäre gezogen, man habe 1949 natürlich gewusst – Art. 24 gehört ja zum Grundbestand des GG –, dass Deutschland auch Streitkräfte einsetzen müsste. Das hätte Carlo Schmidt im parlamentarischen Rat gesagt und auch andere. Die hätten das durchaus gewusst und infolgedessen wäre das auch im Art. 24 umfasst. So viel also dazu. Trotzdem bin ich der Meinung, dass Art. 87a Abs. 2. Alternative GG, eine erhebliche Erweiterung erfahren hat, die eigentlich nicht vorgesehen war. Und das führt zur generellen Frage, wie passt sich ein solches Wehrverfassungsrecht, überhaupt ein verfassungsrechtliches System, an neue Herausforderungen an, die ursprünglich bei uns weder 1949 noch 1956 noch 1968 vorgesehen waren. Zum Afghanistan-Konflikt: Der ist so vielschichtig und so kompliziert, dass ich darüber hinaus, was Sie auch gesagt haben, nicht viel zu sagen habe. Er ist nach der Konferenz auf dem Petersberg nicht mehr so sehr eine Intervention von außen, die mit der neuen Regierung Karzai, die von den Inventionsmächten in Gang gesetzt wurde, abgeschlossen war, und das gilt bis heute auch. Schließlich gibt es das Problem mit dem Frieden. Sie haben natürlich Recht, wenn wir ein solches System haben wie die UNO, kann es keinen Frieden geben. Aber das

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entspricht doch nicht der Wirklichkeit. Es ist doch eine merkwürdige Situation, dass wir Angriffe auf einen Staat fliegen, die BRD unterstützt das durch ihre Tätigkeit, Krieg führen gegen den, also bewaffnete Gewalt einsetzten. Das hört dann auf und der Staat wird zum Beitrittskandidat der EU. Darauf wollte ich hinaus. Dass dieses Gewaltvölkerrecht, das keinen Krieg mehr kennen will, auch dazu neigen könnte, auch keinen Frieden zu kennen. Wenn das System aber doch so ist, dass es kein hierarchisches System ist, und das ist es ja nicht, indem also eine oberste Gewalt sich durchsetzt nach unten, aber eben doch trotz UNO und Sicherheitsrat eine Wirklichkeit entsteht, in der die Betroffenen wieder einen Ausgleich finden müssen, mit Hilfe Sicherheitsrates sicherlich, oder mit Hilfe der NATO, dort wo Staatsbildung angesagt ist, dann muss doch auf der anderen Seite eine sinnvolle rechtliche Basis gefunden werden. Ich selber bin mit dem Problem nicht am Ende. Das merken Sie an meiner Antwort und dem Gestottere dabei. Sie haben schon recht. Es ist eine ganz andere Situation entstanden. Aber Frieden zu schließen, gerade wenn die Friedenssicherung das Ziel der Satzung der Vereinten Nationen ist, dann muss das meines Erachtens formalisiert werden. Rechtlich konkret umgesetzt werden. Auf die Fragen, dass früher keine Friedensverträge eingesetzt worden sind, wäre ich eingegangen, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten. Das habe ich rausstreichen müssen. Es ist keine zufriedenstellende Antwort, aber die kann ich mir auch selber nicht geben. O. Lepsius: Darf ich eine technische Zwischenbemerkung machen, Entschuldigung. Wir haben eben über Normen des Grundgesetzes geredet, die nicht allen präsent sind. Haben wir die Möglichkeit, die einzublenden? Schilling: Art. 87a Abs. 1 S. 1 lautet: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ Art. 87a Abs. 2 lautet: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“ Dann gibt es Art. 24 Abs. 2: „Der Bund kann sich […] einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen.“ O. Lepsius: Dankeschön Herr Steiger, für den eindrucksvollen Vortrag, aus dem deutlich wurde, dass völkerrechtliche Kategorien für die Bewältigung der Gegenwart nur noch bedingt tauglich sind. Und statt jetzt zu diskutieren, inwieweit man mit den Normen eine völkerrechtliche Lösung herbeiführen kann, würde ich vielleicht auf etwas anderes hinweisen. An die Stelle des Völkerrechts ist meines Erachtens ein anderes Regime getreten. Und das wird auch durch Ihre Analyse sehr deutlich. Ein System, das interveniert, das irgendwelche Aktionen, Strafen, Verfolgungen, Gefahrpräventionen verfolgt, das sind ja typischerweise auch gar nicht Aufgaben oder Ziele von Krieg. Was an die Stelle von Gewaltvölkerrecht tritt, ist doch eine Übertragung des Polizeirechts und des Sicherheitsrechts auf die internationale Ebene, also eines repressiven Rechts nach dem Muster des Strafrechts und parallel eines Präventionsrechts nach dem Muster des Polizeirechts, Gefahrenabwehr. Das zeigt sich etwa in der Strafverfolgung gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das ist im Grundsatz eine strafrechtliche Kategorienlogik. Das zeigt sich auch in der Abwehr terroristischer Gefahren, das ist im Grundsatz eine polizeirechtliche, die auf einer

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Risikoprognose basiert. Das Präventionsrecht nun hat das Problem, dass es keine Tatsachen kennt. Das heißt, es setzt Verdachtsmomente voraus, die sich gerade noch nicht verwirklicht haben. Diese einzutretenden Gefahren sollen ja vermieden werden. Es gibt noch keine Tatsachen, sondern es gibt nur prognostische Elemente, die Gefahren vorhersehbar erscheinen lassen. Aber das sind natürlich noch keine Tatsachen. In dem Moment, in dem Tatsachen vorliegen, tritt die Logik des Strafrechts in Kraft. Auf erfolgte Taten kann ich Strafverfolgung stützen. Das ist für die rechtliche Bewältigung wichtig, denn Gerichte, denen wir eine Kontrolldimension zutrauen, sind in keiner Weise institutionell geeignet, Gefahrenprognosen zu überprüfen. Denn warum soll das Gericht eine höhere prognostische Kompetenz als andere Organe haben. Gerichte sind aber besonders geeignet in der Kontrolle, wenn es um retrospektive Dinge geht. Man hat eine Tat, und an die Tat knüpfen sich Rechtsfolgen. Diese rechtliche Bewertung kann ein Gericht gut überprüfen, nicht, weil es sich um Rechtsfragen handelt, sondern weil es sich um Tatsachenfragen handelt, und die sind dem Beweis zugänglich. Wir vertrauen ja, und das war ja auch eine Quintessenz Ihres Vortrags, in vielerlei Hinsicht Institutionen, um eine rechtliche Bewältigung dieses neuen Interventionsregimes zu ermöglichen. Aber diese rechtlichen Institutionen sind in ihrer Kontrolldimension davon abhängig, dass es sich um tatsachenbasierte Interventionen handelt. Das sind typischerweise solche, die Strafverfolgung betreiben. Das sind typischerweise weniger solche, die Gefahren verhindern wollen, die sich noch nicht hinreichend manifestiert haben. Deshalb würde ich empfehlen, wenn wir danach suchen, wie wir in dieser Grauzone wieder rechtlichen Grund kriegen, stärker zu unterscheiden zwischen Maßnahmen, die sich auf repressive Ziele beziehen, denn da haben wir eine Tatsache und die ist gerichtlich überprüfbar, und solche Maßnahmen, die sich stärker auf präventive Ziele richten, denn da haben wir ein anderes Kontrollregime, das muss prognostisch arbeiten und das können wir nicht wirklich juridifizieren. Jedenfalls scheint mir deutlich, und das ist, was ich als Quintessenz aus Ihrem Vortrag entnommen habe, dass das Gewaltvölkerrecht mit seinen Kategorien von Krieg und Frieden nicht mehr geeignet ist, auf diese moderne Interventionslogik hinzuweisen und dass im Gefolge dieser Veränderung der Kategorien von Völkerrecht in ein sicherheitsrechtliches Regime natürlich auch der Begriff der Souveränität seine Tauglichkeit verliert. Souveränität zum Anknüpfungspunkt oder Hoffnungsträger einer Juridifizierung zu machen, halte ich für ganz unzweckmäßig, wie wir überhaupt beobachten, dass die Souveränität das begriffliche Opfer des modernen Verfassungsstaats der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworden ist. Souveränität ist heute eigentlich immer eine untaugliche Kategorie geworden, weil die Verfassung an die Stelle der Souveränität getreten ist. Steiger: Zum letzten brauche ich aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen. Das würde ich genauso sehen. Aber ich finde die Formulierung, dass die Souveränität zum Opfer des Verfassungsstaates geworden ist, schon ganz schön. Aber was mir nicht ganz klar geworden ist: diese fünf Fälle sind ja alles ganz konkrete Gefahren. Das sind ja Tatsachen. Also in allen fünf Fällen ging es um konkrete Gefährdung, allerdings nicht unbedingt um bewaffnete Gewalt, sondern um die Folgen von be-

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waffneter Gewalt. Im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina, in Syrien ist es ganz deutlich: Nicht die Gewaltanwendung bringt jemanden dazu zu intervenieren, sondern die Verletzung humanitärer Gründe und der Kampf gegen Terrorismus. Das sind doch, meine ich, Tatsachen, die da sind. Allerdings haben Sie recht, dass das Völkerrecht in der Tat nicht mehr das klassische Völkerrecht von Krieg und Frieden ist. Das ist 1945 aufgegeben worden, das wollte man nicht mehr. Weil dieses Recht, das habe ich kurz anzudeuten versucht in meiner Einleitung, den Problemen nicht mehr gewachsen war. Das war es schon seit dem Ersten Weltkrieg nicht, das war es vielleicht schon vorher nicht mehr. Das heißt, man versuchte auf diese Weise durch Gewaltverbot und die institutionelle Sicherung und Ausweitung der Sicherung diese Gefährdung des Friedens in Griff zu bekommen. Und nun haben Sie natürlich völlig Recht, dass damit straf- und polizeirechtliche Elemente mit ins Völkerrecht gekommen sind. In der modernen Völkerrechtsdiskussion, das wissen Sie, ich bitte die Historiker um Vergebung, wenn ich schon wieder etwas Neues einführe, nämlich die Konstitutionalisierung des Völkerrechts, wird ja bei uns heftig diskutiert. Das heißt, die Völkerrechtler diskutieren über Menschenrechte, über humanitäre Intervention, über strafrechtliche Möglichkeiten, über Kriegsverbrechertribunale, die wir ja haben, sowohl spezielle als auch den allgemeinen Strafgerichtshof. Es geht dabei darum, das Völkerrecht von einem rein zwischenstaatlichen Recht zu entwickeln hin zu einem hierarchischen Recht, will ich mal sagen, indem eben das Völkerrecht mehr auch konzentriert wird auf institutionelle Elemente, insbesondere über die UNO. Das hat aber schon im Staat seine Schwierigkeiten. Und es hat ja auch für die Verstaatlichung, die Staatsbildung, da knüpfe ich nun hoffentlich wieder an die Historiker an, lange gebraucht, bis diese Zentralisierung im Staat erreicht war. Inzwischen besteht die Gefahr, dass diese wieder zerfällt, selbst in unserem Staat. Nun kann man die Frage stellen, ob das Völkerrecht mit seinen 195 Staaten, die alle auf ihre Souveränität pochen, wirklich der geeignete Ort für diese Hierarchisierung ist. In jedem Fall muss eine Balance gefunden werden. Und genau um diese Balance ging es mir in diesen fünf Fällen, in diesen vier Fällen. Was mit dem fünften Fall wird, weiß ich nicht. Schönberger: Ich habe noch fünf Personen auf der Liste. Ich würde sagen, zehn Minuten können wir noch machen. Thier: Vielen Dank, ich würde gerne versuchen, einen Bogen zu ziehen zum Beginn unserer Tagung. Was wir hier erleben, Herr Steiger, und es würde mich interessieren, ob Sie dieser Beobachtung zustimmen können, ist letztlich das Problem, das wir bei den bündischen Organisationsstrukturen hatten. Und da möchte ich den Beitrag von Oliver Lepsius miteinbeziehen. Wenn über Souveränitätsrechte gestritten wird, wenn über die Reichweite von Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz gestritten wird, werden dabei auch unter dem Begriff von „Souveränität“, bei der Frage der Übertragung von Souveränitätsrechten letztlich Fragen der Autonomie oder NichtAutonomie mit verhandelt. So komplex das ist, einmal mehr Herr Steiger, sehr beeindruckend, sehen wir eine Konstante. Und ich teile die Position von Oliver Lepsius aus der Perspektive eines Historikers, dass wir offensichtlich einmal mehr an einem

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Punkt angekommen sind, wo ein ganz bestimmtes normatives Konzept, die Souveränität, angesichts eines sehr fortgeschrittenen Entwicklungsgrads von bündischen Verflechtungen, vielleicht können wir uns auf diesen Begriff einigen, die Kraft verloren hat, diese Dinge adäquat zu beschreiben. Was Sie angesprochen haben, die Debatte über die Konstitutionalisierung des Völkerrechts, kommt mir von der Außenperspektive her so vor, als ob hier versucht wird, diesem Dilemma dadurch zu entkommen, dass der Souveränitätsbegriff, der Staatsbegriff nicht mehr reicht, eine neue Verflechtungskategorie herzubekommen. Schmidt: Könnten wir das in die Schlussdiskussion verschieben, denn das wären ja genau diese Dinge, die wichtig sind. Der Kreis, der sich wunderbar schließt zu dem, was auch die anderen Vorträge gebracht haben. Wenn wir diese Souveränität, diese Staatlichkeit rauslassen und nach der Kaffeepause machen. S. Lepsius: Ich weiß nicht, ob mein Beitrag nicht auf später verschoben werden sollte oder nicht. Ich habe natürlich auch eine speziell vormoderne Sicht auf viele Dinge, die Sie vorgetragen haben. Deshalb versuche ich nun, meine Punkte stärker an Ihrem Vortrag anzulehnen. Was mir auffällt ist, in der Tat bei gerade diesen fünf Kriegen, dass sie sehr vormodern sind. Denn sie funktionieren doch ähnlich bündisch: Es gibt kein innen und kein außen mehr. Da wird ja ein bisschen so verhandelt wie alles was Sie uns für die UNO vorgestellt haben, es gibt kein Außen mehr. Eine Innenlogik, dann kann ich Oliver Lepsius zitieren, der meint, im Grunde kann man die Probleme völkerrechtlich oder strafrechtlich abarbeiten. Ich wollte aber rückfragen, ob nicht doch dieser Souveränitätsgedanke nicht mehr funktionieren kann auch im Hinblick auf die Friedensschlüsse, die Sie vermissen, weil Friedensschlüsse in einer Anerkennungstheorie auf einer horizontalen Ebene arbeiten, und wenn wir es in die mittelalterliche Logik übersetzen, legt der Kaiser oder die Weltregierung oder wer auch immer von oben eine treuga auf, so dass wir keinen Friedensschluss mehr benötigen, weil erstere von oben kommt und als Waffenstillstand ausreicht. Und der Souveränitätsbegriff bringt meines Erachtens das Schlamassel mit sich, dass wir dann im Grunde einerseits diese Kategorie zivilisiert/unzivilisiert mitschleppen, weil wir doch latent meinen, die Unzivilisierten sind vielleicht doch nicht wirklich souverän bzw. wir nötigen sie dazu, eine Staatlichkeit aufzubauen, damit sie auf den Level können, dass sie Verträge schließen können, und insbesondere Friedensschlüsse eingehen können. Und dann haben wir das Problem, dass in bestimmten Gegenden der Welt sich das westliche Konzept vom Aufbau einer Staatlichkeit nicht aufdrängt, Stichwort Afghanistan. Und dann operieren wir in dieser Hinsicht vielleicht mit falschen Zielen. Wie verhalten Sie sich zu diesem Problem? Steiger: Über die Treuga hatten wir ja gestern schon gesprochen. In der Tat lege ich doch noch mal Wert auf die Unterscheidung zwischen UNO und NATO, zwischen innen und außen. Das ist mir gestern noch mal ganz klar geworden bei dem Vortrag von Herrn Carl. Was nun diese Frage der Souveränität angeht, so ist die Entwicklung seit dem 19. bzw. 20. Jahrhundert mit der Frage der Entkolonialisierung schlicht und ergreifend der Kampf um Souveränität der Völker, die ihren eigenen Staat haben

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müssen und wollen. Im 19. Jahrhundert wurde das noch anders gesehen, da unterschied man noch zivilisierte, unzivilisierte und halbzivilisierte Völker und Staaten. Das akzeptiert heute niemand mehr, und das mit gutem Grund. Das Problem, das Sie bezeichnet haben, wenn ich Sie richtig verstanden habe, kann darin bestehen, dass die Völker diese Souveränität nicht aus sich heraus organisieren können. S. Lepsius: Oder die Landkarten sind falsch gezeichnet. Steiger: Ja, in Afrika gelten heute noch die Grenzen, die wir gezeichnet haben im 19. Jahrhundert nach der NATO-Konferenz von Berlin, der Kongo-Konferenz. Was hier aber vor sich geht, ist der Versuch der Staatsbildung mit ausländischer Hilfe, und das hängt mit dem Friedensproblem eng zusammen. Wenn Sie Staaten haben, die in sich zerrissen sind, müssen die erst in sich selbst Frieden finden. Ob Sie den von außen aufdrücken können, erscheint mir fraglich, sondern der muss von innen kommen. Da fällt mir der Frieden ein von 1648, wo wir ein ähnliches Problem hatten, bei aller Unterscheidung und aller Differenz. Das kann man von außen unterstützen. Insofern ist der Friedenschluss für mich ein essentielles inneres und äußeres Problem und die Möglichkeit, eine Ordnung herzustellen, die sich nicht unbedingt nur auf Intervention stützt. Ich taste da rum, aber das teile ich mit vielen. Schönberger: Ich danke Herrn Steiger nochmals für seinen schönen Vortrag und leite nun zur Schlussdiskussion über. Wir stehen vor dem Dilemma, dass wir Schlussdiskussion und Mitgliederversammlung im Zeitraum von ca. 1 Stunde abwickeln müssen. Deshalb würde ich darum bitten, das auch in den Diskussionsbeiträgen zu berücksichtigen. Damit möchte ich die Schlussdiskussion nicht abwürgen, sondern eröffnen. Gosewinkel: Ich habe mir beim Referat von Herrn Carl an den Rand geschrieben – es geht ja um die bündische Organisationsform von Kriegsführung – Art. 24 Abs. 2 GG. Das war nur so für mich, und ich dachte mir, ob das, was dort geschrieben wurde, im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, nicht bündische Formen von Kriegsführung und Verteidigung sind, die Systeme kollektiver Sicherheit heutzutage aufnehmen? Gibt es eine Kontinuitätslinie oder wo liegen die Unterschiede? Ich behaupte mal, meiner Intuition folgend, es gibt viele Gemeinsamkeiten. Und Frage an Herrn Steiger und Herrn Lepsius: Haben wir eine Rückkehr bündischer Formen von Kriegsführung und Kriegsvermeidung, die zu Lasten geschriebener verfassungsrechtlicher und klar benannter formalisierter Strukturen von Verteidigung und Kriegsführung gehen? Das heißt bündische Formen versus verfassungsstaatliche Formen. Steiger: Ich kenne Herrn Carl seit langem und wir haben auch schon diskutiert. Als ich diesen Vortrag gehört habe, habe ich ihn immer fortgeschrieben. Man muss in der Tat sehen, dass wir neue bündische Formen entwickeln. Die sind natürlich anders aber wir entwickeln neue bündische Formen, weil offenbar, so scheint es mir jedenfalls, eine Möglichkeit besteht für die Bundesmitglieder, Frieden zu schließen, ohne eine staatliche Befehlsgewalt von oben einzurichten. Das gilt heutzutage eigentlich nur noch für die UNO. Auch beim Schwäbischen Bund kam es ja vor allem

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auf die Innenstrukturen an. Die NATO hat das nicht, die ist völlig nach außen gerichtet. Aus der NATO kann kein Staat erwachsen. In der EU, wenn man sie überhaupt als System kollektiver Sicherheit ansehen will, gibt es eben den Art. 42 EUV, in dem die gegenseitige Beistandspflicht vorgesehen ist, und dort gibt es, gab es vielmehr zunächst auch die inneren Regelungen. Die Außen- und Verteidigungsdimension ist hingegen für die EU etwas Neues und entwickelt sich erst langsam. Ich denke schon, dass wir ganz vorsichtig überlegen können, was vergleichbar mit den älteren Bünden ist, der Vergleich geht ja entweder positiv oder negativ aus, ob es da nicht Parallelen oder ähnliche Strukturen gibt. Das ist aber sehr sorgfältig zu betrachten. Meines Erachtens gibt es sie. Dann kann man sich die nächste Frage stellen: Warum ist das so? Kronenbitter: Ich gehe auch aus vom Vortrag heute Vormittag. Und zwar von der Feststellung der Konturschwäche der rechtlichen Reflexion angesichts veränderter politischer Umstände. Beispiel nation building. Was für Konzepte z. B. aus der Geschichte konnten da aktiviert werden? Hat man bei den Amerikanern in den Geschichtsbüchern nachgeschaut, hat man den Völkerbund und die Mandate herangezogen oder was auch immer? Nun die generelle Frage: In solchen Übergangsphasen, welche Rolle spielt da der Rückgriff auf historische Beispiele? Das andere, was ebenso interessant wäre: Gehen eigentlich solche Phasen des Übergangs oder einer Neukonturierung einher mit einem Bedeutungsgewinn von juristischer Expertise im politischen Prozess oder auch einer Marginalisierung, weil nur die politischen Argumente zählen? Und die Juristen hätten dann nur die entsprechenden Gutachten zu schreiben? Schmidt: Ich glaube, wir müssen unseren Kopf mal ausräumen. Genau das, was Herr Steiger gesagt hat, Souveränität und internationale Beziehungskonzepte sind alle aus dem 19. und 20. Jahrhundert und passen nicht mehr in unsere Realität. Das ist auch eine Frage für das Recht, das sich an eine veränderte Wirklichkeit anpassen muss und nicht mit alten Rechtsgedanken einfangen kann, was die Realität ist. Ich denke, dass den Veranstaltern ein großes Lob gehört, weil sie genau diesen Rahmen geschaffen haben durch den Ausgang von den bündischen Strukturen, die in der Zeit wichtig wurden bis hin zum Landfrieden. Und eine Friedensregelung ist das, worüber wir heute auch wieder reden, die manchmal eher durch bündische als durch staatliche Strukturen zu erreichen war, jenseits der absoluten Souveränität. Genau das erleben wir heute in einer Rückwärtsbewegung wieder. Es geht nicht um Analogien, um Rezepte und Muster, aber um Vorstellungshorizonte, die es vor dem 19. Jahrhundert gegeben hat. Ich ertappte mich auch dabei, dass ich denke, die BRD ist souverän, aber das funktioniert einfach nicht. Wir müssen mit offenen Begriffen von Staatlichkeit argumentieren, mit aggregierter Souveränität, um dieser Dinge Herr zu werden. Die NATO ist ein Bund, und in dem Bund gibt es innen und außen. Die UNO ist eine große Gesellschaft. Ob das ein Bund ist, darüber muss man diskutieren, wie das etwa mit Einstimmigkeit und Mehrheitsentscheidung ist. Darüber haben wir hier auch diskutiert. Alle diese Fragen tauchen auf, wenn wir uns mit dieser heutigen Weltgesellschaft beschäftigen.

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Oestmann: Ich habe ein paar kleine Punkte. Es gibt ja diese Diskussion, ob der Staat als solcher eine historische Ausnahme ist. Und falls das stimmt, dann wäre der Krieg auch eine historische Ausnahme und das knüpft an den Vortrag von Bernd Kannowski an, der sagte, in seinen Quellen gebe es die Unterscheidung zwischen Gewalt, Krieg und Fehde nicht. Das verschwindet auch wieder, was man im Vortrag von Herrn Steiger gesehen hat. Bei einem Punkt habe ich ein bisschen Angst, weil ich immer das Gefühl habe, Entrechtlichung führe häufig zu einer Remoralisierung. Das sieht man auch heute, der Grund für den Krieg ist heute humanitäre Intervention. Eigentlich aus moralischen Gründen wendet man Gewalt an und kümmert sich nicht mehr ums Recht. Und hier fühlt man sich als der Gute, weil man das Recht auf seiner Seite hat. Der andere Punkt: Die Grenzen zwischen Innen und Außen lösen sich auf. Da gibt es gleich wieder das Verbot der Nichteinmischung in fremde Angelegenheiten, weil es keine fremden Angelegenheiten mehr gibt. Der Letzte ist einfach: Was ich vermisst habe, ich hatte gedacht, die Rechtsgeschichte redet manchmal auch über den Rechtsstatus von Fremden und Fremde sind vielleicht Menschen, die Kriegsbeute geworden sind in Form von Gefangenen. Ich glaube, im Mittelalter ist das Wort Sklave entstanden aus dem Wort Slaven, die als Kriegsgefangene in Mitteleuropa gelebt haben. Dieser Aspekt hat jedenfalls gefehlt. S. Lepsius: Zu Herrn Oestmann: Sklavenrechte sind natürlich älter, schon im römischen Recht ist eine zentrale Begründung für Sklaverei die Kriegsbeute. Was mir aufgefallen war, deshalb fand ich die Tagung auch sehr schön mit den großen Bögen die hier aufgemacht worden sind. Wir haben unterschiedliche Arten von Kriegsführung gesehen mit unterschiedlichen Arten der Personen, sprich des Militärs, das da operiert. Wir haben einerseits im Mittelalter eher kleine Ritterheere oder dann in Italien die ersten Söldnertruppen, die sich auch im neuen Modell von Herrn Steiger wiederfindet, insoweit als wir heute Militärexperten haben oder Eingreiftruppen, die das eigentlich Militärische samt Töten übernehmen. Und alle anderen haben wenig mit dem Krieg zu tun. Und wir haben andere Epochen, in denen existiert ein stehendes Heer und schließlich gibt es das Modell der Bürgerarmee samt Mobilmachung oder Generalmobilisierung der gesamten wehrfähigen Bevölkerung. Und derartige tatsächliche Vorstellungen, wer den Krieg führt, haben natürlich Auswirkungen auf das Recht des Krieges. Denn der Verteidigungsfall im Grundgesetz ist diese Generalmobilisierungsmachung und alles andere fällt (noch nicht) unter die Auffassung von Krieg? Während wir heute z. B. in der Diskussion zur neuen Cyber-Abteilung der Bundeswehr die Rückkehr des Experten für den Krieg sehen. Das ist die Verbindungslinie, die ich sehr lehrreich fand. Woraus sich die Frage für eine Anschlussdiskussion ergibt: Ist das überhaupt eine verfassungsrechtliche Frage, das Verhältnis des Staates und der Obrigkeit gegenüber den Militärpersonen? Schlagwort besonderes Gewaltverhältnis? Das ist ja durch das Verfassungsgericht abgeschafft worden. Aber womöglich kommt das vielleicht wieder in diesen Konzepten einer Expertenmilitärmaschine? Weshalb wir dann wieder zu einem court

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martial kommen für diese Militärs, während der Grundrechtsschutz ja ganz eng an die Vorstellung des „Bürgers in Uniform“ geknüpft und diesem vorbehalten bleibt. Tanner: Ich möchte einen sehr allgemeinen Punkt aufgreifen, in Fortsetzung der Überlegungen von Oliver Lepsius. Mit dem Cyber-War haben wir ja auch eine völlig neue mediale Situation, ein explodierendes, immer diffuser werdendes Wissen, dass sehr volatil ist, wo trusted ressources sich auflösen und wo man dann auch keine justiziable Information mehr hat. Gleichzeitig ist es so, dass repressive Maßnahmen eine präventive Zusatzbegründung erhalten. Prognosen stützten den Auftrag, frühzeitig aktiv zu werden oder zuzuschlagen, weil sonst etwas ganz Schlimmes passieren könnte. Wie lässt sich ein solches Problem juristisch angehen. Hat das Recht überhaupt noch Möglichkeiten, in diesem diffusen Raum handlungsrelevant zu werden? Oder wird es, auf staatlicher Ebene, durch die Mobilisierung der Vergangenheit ersetzt? Gegenwartsdeutungen hängen ja immer mit Interpretationen der Vergangenheit zusammen. Deutschland hat auch aus historischen und guten Gründen die USKampagne für den Irak-Krieg nicht unterstützt. Auch in der Schweiz wird mit dem mythologischen Datum 1291 Geschichtspolitik gemacht. Dadurch werden schwierige Gegenwartsprobleme nicht lösbarer. Doch zweifellos sind die historischen Erinnerungskulturen auf neue Weise relevant geworden. Der Kampf um die historische Deutungshoheit hat sich verschärft. Arlinghaus: Ich wollte fragen, welche Relevanz diese juristische Diskussion hat. Das ist keine rhetorische Frage, sondern eine echte Frage, weil ich überzeugt bin, dass die historischen juristischen Debatten Relevanz haben. Das sieht man daran, wie im Sicherheitsrat diskutiert wird, und das sieht man daran, wie sensibel Staaten darauf reagieren, wenn sie vor die internationalen Gerichtshöfe gezerrt werden. Aber ganz klar ist mir nicht, welche Relevanz das genau hat. In der Langzeitperspektive könnte man sagen, eine Diskussion um die Rechtmäßigkeit eines Krieges hat es schon immer gegeben. Mein Eindruck wäre, dass während des Mittelalters eine starke Engführung von Moral, Religion und Recht vorgelegen hat, und dass man in der Lage war, Moral und Legitimität gegeneinander auszuspielen. Das wäre die Frage, inwieweit die juristischen Kollegen eine Einschätzung geben könnten. Haug-Moritz: Für mich als Frühneuzeithistorikerin ist das interessant, weil es gezeigt hat, dass dieser neuzeitliche Staat des 19. und 20. Jahrhunderts ein Sonderfall ist. Es war sehr aufschlussreich, was Herr Steiger berichtet hat. Bei diesem bündischen System mit seiner uralten Tradition müssen wir genau analysieren, welchen Typus von Bündnis wir sehen. Das hat ja bereits Peter Blickle gemacht. Also, der Schmalkaldische-Bund ist ja eigentlich, etwas salopp formuliert, die NATO. Da steht im Zentrum die Verteidigung. Hier würde sich auch verfassungshistorisch lohnen, diese Differenziertheit im Bündnissystem genauer zu betrachten. Diese InnenAußenunterscheidung ist von ganz zentraler Bedeutung. Im 16. Jahrhundert ist noch die Christenheit Bezugspunkt. Also England interveniert in Frankreich. Wir sind Christenheit, das ist mein Bruder, ich muss intervenieren, sagt Elisabeth. Was ich höchst faszinierend finde, ist der Rechtspluralismus. Da können wir genau beobach-

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ten, dass wir nicht verschiedene Rechtsschichten haben, die abgeschottet sind. Dann folgt die Lösung des Problems in der Mitte des 17. Jahrhunderts in der Form, dass es eine juristische Systematisierung gibt. Und wieder ist der Souveränitätsbegriff ein ganz zentraler Punkt, aber das verschwindet dann in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Das kann uns natürlich für unsere eigene Gegenwart durchaus skeptisch stimmen, wenn ich die Debatte richtig verstanden habe, wenn Herr Steiger sagt, wir kriegen das rechtlich nicht mehr richtig in den Griff. Aber sehr faszinierend, danke an die Organisatoren. Thier: Erst einmal vielen herzlichen Dank. Ich knüpfe an Ihren letzten Punkt an. Was für mich deutlich geworden ist im Laufe dieser Tagung, auch aus den Schlussbeiträgen, ist der Befund, dass das Thema unserer Tagung auch anstößt an mindestens drei grundsätzliche Fragestellungen im Zusammenhang mit rechtlicher Normativität im Allgemeinen und verfassungsrechtlicher Normativität im Besonderen. Ein Element hatten Sie jetzt eben, und Sie haben es ebenfalls angesprochen, Herr Schmidt: Das Element der Vergemeinschaftung oder von bündischen, organisatorischen Vergemeinschaftungen an sich. Das ist eigentlich das Entscheidende. Es gibt einerseits die Kontinuität. Aber da muss man aufpassen, dass man nicht in die Situation kommt, dass in der Nacht alle Katzen grau sind. Aber der winner für mich war speziell Ihr Beitrag und auch die frühzeitlichen Beiträge, die sich um diese bündischen Strukturen gekümmert haben, um die Ähnlichkeiten, aber auch die Unterschiede. Wir versuchen heute, so scheint es mir, mit dem Souveränitätsbegriff dieses Autonomieproblem zu verdichten oder auch irgendwie in den Griff zu bekommen. Ein zweiter Punkt: Die Beziehung zwischen Temporalität und Verfassung oder die Beziehungen zwischen Temporalität und rechtlicher Normativität. Das ist einerseits diese Mobilisierung von Erinnerungskulturen. Deutungshoheit, das ist ein grundsätzliches Problem, was sehr spannend ist und nicht ausgeleuchtet ist, die Frage, wie genau das Recht sich hierzu verhält. Also wir wissen, dass Recht, das organisiert, solche Erinnerungskulturen, Deutungshoheiten, teilweise auch festlegt. Die andere spannende Geschichte ist etwas, was Jakob Tanner und Oliver Lepsius angesprochen haben. Cyberwar richtet sich auf eine unbestimmte Zukunft. D. h. da kommt ein Risikoerleben hinein, was typisch ist für die Moderne, dass die Zukunft, die so wahnsinnig gefährlich ist, hier eine unglaubliche, fast schon normative Kraft entwickelt, weil sie auch unglaublich viel Recht stimuliert. Und die jetzt hier auch offensichtlich ins Verfassungsrecht hineinspielt. Der dritte Punkt, auf den ich hinweisen möchte: Das ist vielleicht ein Versäumnis gewesen von uns, aber wir konnten nicht alles abdecken. Das wäre die Frage nach der Entstehung und den Strukturen von dem, was ich vielleicht die Entstehung von Verfassungswissen und Verfassungsexpertenkultur nennen würde. Also die Frage, wie entsteht ein Wissen um diese Verfassung, wie entsteht die entsprechende Konzeption. Sie haben es angesprochen, Jakob Tanner hat es angesprochen, Herr Arlinghaus hat es für das Mittelalter gemacht. Wir hatten das nicht anvisiert. Ich bemerke da nur noch in die Runde: Wir haben ja hoffentlich noch viele Tagungen vor uns.

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Schilling: Ich möchte an etwas anknüpfen, das wir am ersten Tag angesprochen haben: dass wir hier Formen der Gewaltübung haben, die oft nachträglich mit Hilfe juristischer Kategorien geordnet worden sind. Die Versuche sind interessant, sie sind aber nicht unproblematisch. Ich zitiere in diesem Zusammenhang gerne Marc Bloch, der sinngemäß gesagt hat: Nicht jedes Mal, wenn die Menschen ihre Praktiken verändern, verändern sie auch ihr Vokabular. Das gilt auch beim Phänomen des Krieges und der Souveränität. Problematisch wird es, wenn wir (was im 19. Jahrhundert systematisch geschehen ist) Herleitungsgeschichte schreiben. Wenn wir fragen, wann ist ein Begriff aufgetaucht – und wenn wir seiner habhaft werden, nutzen wir ihn, um heutige rechtliche Konstruktionen herzuleiten. Das ist, was wir nicht wollten. Wir hatten die Absicht, herauszuarbeiten, in welchem Maß über die Zeit hinweg unter neuen Konstellationen Begriffe neu bearbeitet wurden. Ich halte dies für wichtig – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der von Ihnen, Herr Steiger, angesprochenen aktuellen Verwendung des Kriegsbegriffs gegenüber Terror, gegenüber Menschen, die Anschläge verüben – ohne zu bedenken, dass dies die Anerkennung dieser Personen als zum Krieg berechtigte Partei implizieren kann. Ein Bewusstsein für die Problematik des Gebrauchs der Begriffe zu schaffen scheint mir eine Arbeit zu sein, bei der Historiker und Juristen sich unbedingt zusammentun müssen. Asch: Ich wollte noch einmal etwas Salz in die Suppe streuen. Vieles an dieser Diskussion auch im Anschluss an Ihren Vortrag, Herr Steiger, kommt mir doch sehr germanozentrisch vor. Eine so starke Selbstbindung wie die BRD sie eingegangen ist beim Einsatz von Streitkräften oder dessen, was davon in rudimentärer Form übriggeblieben ist, ist ja kaum ein anderes Land eingegangen in Europa, ganz sicher nicht England oder Frankreich. Wir haben ja über die NATO als Bündnis gesprochen, aber die NATO ist doch kein Bündnis von Gleichberechtigten. Die Nato wird geführt von einer Hegemonialmacht, und diese Hegemonialmacht gibt Schutz. Und dafür erwartet sie Unterstützung und Gefolgschaft. Nicht bedingungslos, aber Gefolgschaft wird erwartet. Es ist ein hegemoniales Bündnis, und selbst unter den normalen Mitgliedern der Allianz gibt es noch Abstufungen, denn natürlich sind England und Frankreich stärkere Akteure mit einem größeren Maß an residualer Souveränität, sowohl militärisch als auch politisch als Deutschland. Und Frankreich interveniert dann eben gelegentlich mal in den früheren Kolonien unter Umständen auch ohne Beschluss des Sicherheitsrates. Deutschland ist schon ein absoluter Spezialfall. Dafür sind verschiedene historische Gründe ausschlaggebend, der Zweite Weltkrieg, der Ost-West-Konflikt bis 1989 in Verbindung mit der deutschen Teilung, das Misstrauen des Landes sich selbst gegenüber. Das alles hat die Verfassung Deutschlands geprägt und vieles mehr. Da müsste man schon die wesentlich anderen Diskussionen analysieren in England und Frankreich, die natürlich auch nicht mehr so souverän sind wie im 19. Jahrhundert, aber wo doch die Verteidigungs- und Bündnispolitik einen ganz anderen Stellenwert hat. Hillgruber: Ich wollte beginnen mit Georg Schwarzenberger, der einmal gesagt hat: „Wer meint, Neues im Völkerrecht zu entdecken, der kennt die Völkerrechtsgeschichte nicht“. Ich glaube, da ist was dran. Auch bei den neuen Kriegen ist doch viel

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Altes. Natürlich kennt das Völkerrecht seit langem humanitäre Interventionen. Ich erinnere nur an die humanitären Interventionen im 19. Jahrhundert durch die europäischen Großmächte. Natürlich hat sich da etwas rechtlich verändert. Herr Oestmann, Sie haben ja gesagt, gefährliche Remoralisierung. Aber das ist der entscheidende Punkt: Was hat sich verändert bezogen auf die humanitären Interventionen im Verhältnis zwischen 19. Jahrhundert einerseits, dem 20., und 21. Jahrhundert andererseits. Interessanterweise haben sich zwei Dinge verändert. Es gibt im 19. Jahrhundert noch kein allgemeines Gewaltverbot. Umgekehrt gab es aber auch noch keine Menschenrechte als veritable Rechte. Jetzt haben sich die Dinge geändert. Einerseits haben wir die Aufwertung humanitärer Anliegen zu regelrechten Menschenrechten. Wir haben hier auf einmal Rechtstitel. Es geht hier also nicht mehr nur um Durchsetzung von Moral, sondern um Durchsetzung von Völkerrecht. Aber die Durchsetzung von Völkerrecht wird gebremst durch das Gewaltverbot. Aber dass wir im Völkerrecht mit unseren Begrifflichkeiten nichts mehr einfangen könnten, dass wir, wie Oliver Lepsius meint, das Völkerrecht hinter uns lassen müssen, halte ich für geradezu abwegig. Das gilt auch für die Kategorie des Bürgerkriegs. Es sei nur an den Amerikanischen Bürgerkrieg erinnert, das hat natürlich das Völkerrecht geprägt, die Reaktion darauf. Aber wir haben doch Instrumentarien, um damit umzugehen. Natürlich kann man darüber reden, was sich verändert hat, in bestimmten Situationen, vielleicht doch auch in Bürgerkriegen. Aber dass die Grundbegrifflichkeiten nicht da wären, das kann man nicht sagen. Und zum Cyber-War: Sabotage-Akte sind doch kein neues Phänomen. Jetzt kann man fragen, hat das in der Dimension eine andere Qualität gewonnen und ist das so gefährlich geworden, dass wir das mit dem Gewaltverbot erfassen müssen. Aber dass wir keine Kategorien hätten, kann ich nicht erkennen. Deswegen müssen wir meines Erachtens auch nicht die Souveränität als Begriff verabschieden. Erst mal sollten wir bestimmen, was das heißt und zwar juristisch. Nach meiner Überzeugung heißt das Letztentscheidungsrecht. Und ein Letztentscheidungsrecht wird es immer geben. Die Frage ist nur, wem wir dieses zusprechen. Innerstaatlich bedeutet die Einführung der Verfassungsgerichtbarkeit die Verlagerung des Letztentscheidungsrechts. Irgendwer muss das letzte Wort haben, hat es ja auch. Im Völkerrecht lassen sich die Träger eines Letztentscheidungsrechts identifizieren, wenn wir auf den Sicherheitsrat schauen, wenn wir einen Blick auf die Selbstverteidigung werfen. Und dann ist es auch gar nicht mehr so überraschend, warum die USA beim Selbstverteidigungsrecht ansetzt, um wieder Handlungsoptionen zu gewinnen. Wenn ein ständiges Sicherheitsratsmitglied Selbstverteidigung übt, scheidet praktisch die von Herrn Steiger geschilderte Möglichkeit, dass anschließend der Sicherheitsrat das wieder in eigener Regie übernimmt, wegen des Vetorechts aus. Hier liegt das Letztentscheidungsrecht bei dem ständigen Mitglied, das sich das Recht zur Selbstverteidigung selbst attestiert. Ende der Durchsage. Herr Lepsius hat auf die Gefahrenprognose abgestellt. Aber das ist doch wieder mit dem Souveränitätsbegriff einzufangen. Souverän ist in diesem Sinne, wer die Gefahrenprognose stellt. Punkt.

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Schönberger: Hier stehen offenkundig unterschiedliche Deutungskonzepte im Raum. Die Diskussion muss sie auch nicht zusammenführen. Wir haben eine sehr anregende Diskussion erlebt, die zeigt, was gerade in unserer Vereinigung gelingen kann: nämlich verschiedene Epochen miteinander zu konfrontieren und dadurch nicht nur die jeweiligen Epochen besser zu verstehen, sondern auch unsere Gegenwartserfahrung besser zu begreifen in dem Maß, in dem wir als Zeitgenossen überhaupt verstehen können, was uns in der Gegenwart widerfährt. Mein Dank gilt nochmals allen Teilnehmern für diese Abschlussdiskussion.

Verzeichnis der Redner Arlinghaus:

35, 61, 165, 203, 269

Asch:

95, 97 ff., 202, 271

Brauneder:

71, 101, 157, 163 f., 198

Carl:

25, 61 ff., 98

Gosewinkel:

36, 100 f., 195, 266

Grothe:

165

Härter:

32 f., 62, 64, 99

Haug-Moritz: 69, 269 Hillgruber:

27, 158, 193, 195, 259, 271

Kannowski:

23 ff., 30 ff., 36 f.

Kempny:

33, 161

Kronenbitter: 95, 157, 159 ff., 199, 267 O. Lepsius:

262

S. Lepsius:

26, 30, 34, 69, 265 f., 268

Manca:

199

Oestmann:

23 f., 31, 68, 268

Schilling:

32, 61 f., 66, 71, 95, 101 f., 262, 271

Schmidt:

29 f., 64, 97, 265, 267

Schönberger: 31, 68, 157, 163 f., 166, 191 f., 198, 206, 259, 264, 266, 273 Simon:

160

Steiger:

33 ff., 205 f., 261, 263, 265 f.

Tanner:

67, 164, 192, 194 ff., 198, 200 f., 203 ff., 269

Thier:

23 f., 26, 29 ff., 96, 102, 191, 193, 195, 197, 199, 201, 206, 264, 270

Westphal:

24, 65, 99

Vereinigung für Verfassungsgeschichte Satzung §1 1) Die Vereinigung für Verfassungsgeschichte stellt sich die Aufgabe: a) wissenschaftliche Fragen aus der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, durch Referate und Aussprache in Versammlungen ihrer Mitglieder zu klären; b) Forschungen in diesem Bereich zu fördern; c) auf die ausreichende Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte im Hochschulunterricht sowie bei staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken. 2) Sie verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung in ihrer jeweils gültigen Fassung. 3) Sitz der Vereinigung ist Frankfurt am Main.

§2 Gründungsmitglieder der Vereinigung sind diejenigen Personen, die zur Gründungsversammlung am 4. 10. 1977 in Hofgeismar eingeladen worden sind und schriftlich ihren Beitritt erklärt haben.

§3 1) Mitglied der Vereinigung kann werden, wer a) auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, seine Befähigung zu selbständiger Forschung durch entsprechende wissenschaftliche Veröffentlichungen nachgewiesen hat und b) an einer Universität bzw. gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschule oder Hochschuleinrichtung als selbständiger Forscher und Lehrer, an einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut als selbständiger Forscher oder im Archivdienst tätig ist. 2) Das Aufnahmeverfahren wird durch schriftlichen Vorschlag von drei Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Ist der Vorstand einstimmig der Auffassung, dass die Voraussetzungen für den Erwerb der Mitgliedschaft erfüllt sind, so verständigt er in einem Rundschreiben die Mitglieder von seiner Absicht, dem Vorgeschlagenen die Mitgliedschaft anzutragen. Erheben mindestens fünf Mitglieder binnen Monatsfrist gegen die Absicht des Vorstandes Einspruch oder beantragen sie mündliche Erörterung, so beschließt die Mitgliederversamm-

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lung über die Aufnahme. Die Mitgliederversammlung beschließt ferner, wenn sich im Vorstand Zweifel erheben, ob die Voraussetzungen der Mitgliedschaft erfüllt sind. 3) In besonders begründeten Ausnahmefällen kann Mitglied der Vereinigung auch werden, wer die Voraussetzungen nach Abs. 1 lit. b nicht erfüllt. In diesem Falle wird das Aufnahmeverfahren durch näher begründeten schriftlichen Vorschlag von fünf Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Über die Aufnahme entscheidet nach Stellungnahme des Vorstandes die Mitgliederversammlung mit 2/3-Mehrheit der anwesenden Mitglieder.

§4 Die ordentliche Mitgliederversammlung soll regelmäßig alle zwei Jahre an einem vom Vorstand bestimmten Ort zusammentreten. In dringenden Fällen können außerordentliche Versammlungen einberufen werden. Auf Verlangen von 1/3 der Mitglieder ist der Vorstand verpflichtet, eine außerordentliche Mitgliederversammlung unverzüglich einzuberufen. Auf jeder ordentlichen Mitgliederversammlung muss mindestens ein wissenschaftlicher Vortrag mit anschließender Aussprache gehalten werden.

§5 Der Vorstand der Vereinigung besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Stellvertretern. Die Vorstandsmitglieder teilen die Geschäfte untereinander nach eigenem Ermessen. Der Vorstand wird am Schluss jeder ordentlichen Mitgliederversammlung neu gewählt; einmalige Wiederwahl ist zulässig. Der alte Vorstand bleibt bis zur Wahl eines neuen Vorstandes im Amt. Zur Vorbereitung der Mitgliederversammlung kann sich der Vorstand durch Zuwahl anderer Mitglieder verstärken. Auch ist Selbstergänzung zulässig, wenn ein Mitglied des Vorstandes in der Zeit zwischen zwei Mitgliederversammlungen ausscheidet.

§6 Der Beirat der Vereinigung besteht aus fünf Mitgliedern; die Mitgliederzahl kann erhöht werden. Der Beirat berät den Vorstand bei der Festlegung der Tagungsthemen und der Auswahl der Referenten. Die Mitglieder des Beirats werden von der Mitgliederversammlung auf vier Jahre gewählt.

§7 Zur Vorbereitung ihrer Beratungen kann die Mitgliederversammlung, in eiligen Fällen auch der Vorstand, besondere Ausschüsse bestellen.

§8 Zu Eingaben in den Fällen des § 1 Ziff. 2 und 3 und über öffentliche Kundgebungen kann nach Vorbereitung durch den Vorstand oder einen Ausschuss auch im Wege schriftlicher Ab-

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stimmung der Mitglieder beschlossen werden. Ein solcher Beschluss bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder; die Namen der Zustimmenden müssen unter das Schriftstück gesetzt werden.

§9 Der Mitgliedsbeitrag wird von der Mitgliederversammlung festgesetzt. Der Vorstand kann den Beitrag aus Billigkeitsgründen erlassen.

Verzeichnis der Mitglieder (Stand 10. Mai 2021) Vorstand 1. Gosewinkel, Dr. Dieter, Professor, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Reichpietschufer 50, D 10785 Berlin, [email protected], [email protected] 2. Lepsius, LL. M., Dr. Oliver, Professor, Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Bispinghof 24/25, D 48143 Münster, [email protected] 3. Oestmann, Dr. Peter, Professor, Universität Münster, Institut für Rechtsgeschichte, Universitätsstrasse 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected]

Beirat 1. Arlinghaus, Dr. Franz-Josef, Professor, Große-Kurfürsten-Straße 82, D 33615 Bielefeld, [email protected] 2. Asch, Dr. Ronald G., Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Werthmannplatz, KG IV, D 79085 Freiburg, [email protected] 3. Hausmann, Dr. Jost, Oberarchivrat, Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Fasanenweg 28, D 56179 Vallendar, [email protected], [email protected] 4. Kannowski, Dr. Bernd, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Universitätsstraße 30, D 95447 Bayreuth, [email protected], [email protected] 5. Polley, Professor Dr. Rainer, Archivdirektor, Archivschule Marburg, Bismarckstraße 32, D 35037 Marburg, [email protected] 6. Simon, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected]