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German Pages 408 Year 2014
Beiheft 22
Schutz der Verfassung: Normen, Institutionen, Höchst- und Verfassungsgerichte
Schutz der Verfassung: Normen, Institutionen, Höchst- und Verfassungsgerichte
BEIHEFTE ZU „DER STAAT“ Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht Herausgegeben von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Armin von Bogdandy, Winfried Brugger (†), Rolf Grawert, Johannes Kunisch, Oliver Lepsius, Christoph Möllers, Fritz Ossenbühl, Walter Pauly, Helmut Quaritsch (†), Barbara Stollberg-Rilinger, Uwe Volkmann, Andreas Voßkuhle, Rainer Wahl
Heft 22
Schutz der Verfassung: Normen, Institutionen, Höchst- und Verfassungsgerichte Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 12. bis 14. März 2012
Für die Vereinigung herausgegeben von
Thomas Simon Johannes Kalwoda
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6828 ISBN 978-3-428-14197-5 (Print) ISBN 978-3-428-54197-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84197-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞
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Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis Thomas Simon Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Schutz der Verfassung und Höchstgerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa Siegrid Westphal Reichskammergericht, Reichshofrat und Landfrieden als Schutzinstitute der Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Lothar Schilling Der Schutz der Verfassung im vormodernen Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Kley und Goran Seferovic Joseph Emmanuel Sieyès – Verfassungsgerichtsbarkeit im System der volonté générale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
II. Vor- und Frühformen von Verfassungsgerichtsbarkeit im Konstitutionalismus in vergleichender Perspektive Karl Härter Schlichtung, Intervention und politische Polizei: Verfassungsschutz und innere Sicherheit im Deutschen Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Michael Kotulla Schutz der Verfassung in Einzelstaaten – Die Beispiele Württemberg und Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Axel Tschentscher Supreme Court und Schweizerisches Bundesgericht als Modelle integrierter Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Gerald Stourzh „Schutz der Verfassung“ in der österreichischen Dezemberverfassung von 1867 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
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Inhaltsverzeichnis III. Verfassungsgeschichte der Zwischenkriegszeit
Hinnerk Wißmann Das richterliche Prüfungsrecht in Reichskonstitutionalismus und Republik – Wegmarke der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Ewald Wiederin Der österreichische Verfassungsgerichtshof als Schöpfung Hans Kelsens und sein Modellcharakter als eigenständiges Verfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Horst Dreier Verfassungsgerichtsbarkeit in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Aussprache und Schlussdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Verzeichnis der Redner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Vereinigung für Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Verzeichnis der Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
Vorbemerkung Die folgenden Beiträge beschäftigen sich mit Institutionen und Verfahren zum „Schutz der Verfassung“. Es geht um die Frage nach der Entstehung jener Institutionen und Verfahren, die Schutz bieten sollen vor einer wie auch immer als rechtlich illegitim definierten Veränderung einer gegebenen Verfassungsordnung. Dass die Eigenart und Struktur solcher Institutionen und Verfahren zu den entscheidenden Identitätsmerkmalen einer Verfassungsordnung zählen, ist evident; dies war auch ein wesentliches Motiv für die Wahl des Themas. Im Vordergrund steht der gerichtliche Schutz der Verfassung im Wege justizförmiger Verfahren. Die Beiträge des ersten Teils gehen zurück in die Frühe Neuzeit: Ein Kontinuum, und damit in gewisser Weise ein charakteristisches Merkmal gerade der Deutschen Verfassungsgeschichte, bildet die vergleichsweise früh und stark ausgeprägte Justizförmigkeit, was den Schutz der Verfassungsordnung anbelangt. Sichtbar wird das nicht zuletzt in der Institution des Reichskammergerichts und dessen Bedeutung in der Verfassung des Alten Reiches. Das Reichskammergericht hatte eine Funktion, die sich mit derjenigen moderner Verfassungsgerichte überschnitt. Dies wird von Siegrid Westphal behandelt. Mit seiner Zuständigkeit für Konflikte über die Zuordnung von Herrschaftsrechten im Verhältnis zwischen Kaiser, Reichsständen und Untertanen war es auch eine zentrale Institution zum Schutze der Reichsverfassung, in der diese Zuordnung der Herrschafts- und Hoheitsrechte beinhaltet war. Die Verhältnisse im Reich sollen kontrastiert werden mit denjenigen in Frankreich; dem dient der Beitrag von Lothar Schilling: Wie ist der Schutz der Verfassung im frühneuzeitlichen Frankreich institutionell organisiert und inwieweit handelt es sich hier um spezifisch gerichtliche Institutionen? Auf die „Sattelzeit“ an der Schwelle zur Moderne und das revolutionäre Frankreich ist demgegenüber der Beitrag von Andreas Kley und Goran Seferovic fokussiert: Wie lässt sich in einer auf der Idee der Volkssouveränität organisierten Ordnung der Schutz der Verfassung, insbesondere vor deren Veränderungen und Deformierungen seitens des demokratisch legitimierten Parlamentes bewerkstelligen? Wie also lässt sich das Prinzip der Volkssouveränität mit demjenigen der Gewaltenteilung „versöhnen“, das auch die Idee justizieller Kontrolle des Parlamentes trägt? Der zweite Themenblock deckt das 19. Jahrhundert ab: Dabei behandelt Michael Kotulla die Institution der Ministeranklage als „ersten Ansatz“ einer Justiziabilität des Regierungshandelns – praktisch zwar bedeutungs-
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los, aber von nicht unbeträchtlichem politischem Symbolwert. Die Anfänge der Verfassungsgerichtsbarkeit im modernen Sinne begegnen dann in den Beiträgen von Axel Tschentscher und Gerald Stourzh. Ersterer berichtet über das allmähliche Hineinwachsen des US-Supreme Courts in die Rolle und Funktion eines Verfassungsgerichts – ein Vorgang, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen abgeschlossen war und gar nicht auf einer entsprechenden Verfassungsgesetzgebung, sondern vielmehr auf einer Art „Selbstermächtigung“ des Supreme Courts beruhte. Dem stellt Tschentscher das 1848 instituierte und am US-amerikanischen Vorbild orientierte schweizerische Bundesgericht gegenüber, das seit der Totalrevision der Bundesverfassung im Jahre 1874 als Verfassungsgericht fungierte, allerdings in auffallendem Gegensatz zum Supreme Court ohne Normprüfungskompetenz gegenüber Bundesgesetzen. Handelt es sich hier um Modelle integrierter Verfassungsgerichtsbarkeit, so behandelt Stourzh mit dem österreichischcisleithanischen Reichsgericht den historisch ersten Fall eines spezialisierten Verfassungsgerichts: Es ist ausschließlich zuständig für Organ- und Kompetenzstreitigkeiten sowie für Verfassungsbeschwerden von Seiten der Bürger, allerdings noch nicht mit einer Normprüfungskompetenz auf der formell gesetzlichen Ebene versehen, und seinen Urteilen fehlt generell die kassatorische Wirkung. Mit dem Beitrag von Karl Härter kommt schließlich eine Form des „Verfassungsschutzes“ im staatenbündischen Kontext in den Blick: Härter behandelt das „Austrägalverfahren“ bei Konflikten zwischen den Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes, ein Verfahren, das zunächst vor der Bundesversammlung, sodann vor einem jeweils ausgewählten obersten Landesgericht über die Bühne ging. Im dritten Themenblock zur „Verfassungsgeschichte der Zwischenkriegszeit“ rekonstruiert Ewald Wiederin den Formierungsprozess des österreichischen Verfassungsgerichtshofes als des ersten spezialisierten Verfassungsgerichts mit der Kompetenz zur Gesetzesprüfung und die verfassungspolitischen Diskussionen, die diesen Vorgang zwischen 1918 und 1920 beeinflusst und geprägt haben. Er geht dabei insbesondere der Frage nach, inwieweit hierbei einerseits die Tradition des altösterreichischen Reichsgerichtes und der Staatsrechtslehre der Monarchie, andererseits neue verfassungs- und rechtspolitische Ideen und Konzepte der österreichischen Staatsgründungsphase wirksam geworden sind und inwieweit darin die Handschrift Kelsens und nicht zuletzt Karl Renners sichtbar wird. Die beiden anderen Beiträge dieses Themenblocks haben demgegenüber die Justiz des Deutschen Reiches, vor allem des 1879 gegründeten deutschen Reichsgerichts, im Auge; sie sind beide auf die Entwicklung des richterlichen Prüfungsrechtes fokussiert. Hinnerk Wißmann untersucht dabei die Entwicklung des richterlichen Prüfungsrechts im „Reichskonstitutionalismus“ und der Weimarer Republik. Er betont dabei die Kontinuität der „Frage des
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richterlichen Prüfungsrechts“ seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wißmann schildert das allmähliche und vorsichtige Ausgreifen des Reichsgerichts auf das Terrain der Normenkontrolle und die rechtlichen Maßstäbe, die es dabei zugrunde legte; der bundesstaatlichen Struktur des Reiches kam dabei entscheidende Bedeutung zu. Der Übergang zur Weimarer Republik stellt daher für Wißmann, was die Positionierung der Justiz auf dem Funktionsareal der Normenkontrolle anbelangt, keine absolute Zäsur oder gar einen Neubeginn dar. Vielmehr spricht er von einem weiteren „Ausbau“ der justiziellen Normenkontrolle und ihrer Ausweitung auf die Reichsgesetzgebung in der Weimarer Republik, nunmehr befördert durch die „verbesserte“, normativ verstärkte „Stellung der Verfassung“, die dadurch auch stärker als normativer Maßstab bei der Kontrolle einfachen Rechts wirksam werden konnte. In engem Zusammenhang hiermit steht schließlich der Beitrag von Horst Dreier zur „Verfassungsgerichtsbarkeit in der Weimarer Republik“. In dem umfangreichen Beitrag zeichnet Dreier in detaillierter und höchst anschaulicher Weise die allmähliche Ausweitung der richterlichen Normprüfungstätigkeit auch auf die Reichsgesetzgebung nach; Letztere war im Kaiserreich noch für jede Form richterlicher Normprüfung tabu gewesen. Stärker als Wißmann betont Dreier den „Traditionsbruch“, der insbesondere in der Mitte der 20er-Jahre in der Geschichte der justiziellen Normprüfungskompetenz zu verzeichnen gewesen sei, indem das Reichsgericht nunmehr eine solche auch in Hinblick auf die förmlichen Reichsgesetze in Anspruch nahm – ohne „den leisesten Versuch“, diese „Generalakquisition einer auf Reichsgesetze erstreckten Normprüfungskompetenz“ durch „Beibringung älterer Judikatur oder durch Rezeption der wissenschaftlichen Kontroverse“ rechtlich zu begründen und zu legitimieren, wie Dreier betont. Der vorliegende Band enthält die Vorträge, die vom 12. bis 14. März 2012 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar gehalten, für den Druck überarbeitet und mit Fußnoten versehen wurden. Abgedruckt werden auch die mitgeschnittenen Aussprachen zu den einzelnen Vorträgen sowie die Schlussdiskussion. Auf besonderen Wunsch wurde die alte Rechtschreibung bei einem Beitrag dieses Bandes beibehalten. Ich danke den Autoren für die gute Zusammenarbeit bei der Drucklegung dieses Bandes. Ein besonderer Dank geht an Herrn Mag. Johannes Kalwoda, der nicht nur die „Tontechnik“ bei den Aufnahmen der Diskussionen während der Tagung in Hofgeismar, sondern im Wesentlichen auch sämtliche Redaktionsarbeiten bei der Herausgabe dieses Bandes in mustergültiger Genauigkeit besorgt hat. Wien, im September 2013
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I. Schutz der Verfassung und Höchstgerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa
Reichskammergericht, Reichshofrat und Landfrieden als Schutzinstitute der Reichsverfassung Von Siegrid Westphal, Osnabrück I. Einleitung Johann Jacob Moser schrieb 1766 in seinem Werk „Von Teutschland und dessen Staats-Verfassung“: „Das teutsche Reich hat kein eigenes geschriebenes Gesez, welches ganz allein und durchaus von lauter die heutige Staatsverfassung des teutschen Reichs betreffenden Sachen handelt.“1
Vielmehr fänden sich viele Gesetze, in denen die Staatsverfassung behandelt werde. Diejenigen, in denen diese Materie überwiege, werden Reichsgrundgesetze genannt. Dazu zählt Moser in chronologischer Reihenfolge: 1. Die Goldene Bulle (1356), 2. Den Landfrieden (1495), 3. Den Religionsfrieden (1555), 4. Die Exekutionsordnung (1555), 5. Die Reichskammergerichtsordnung (1555), 6. Die Reichshofratsordnung (1654) und 7. Die Wahlkapitulationen. Erst dann folgt eine Reihe von Verträgen, worunter auch der Westfälische Friede subsumiert wird. Auch die heutige Forschung betont immer wieder, dass am Anfang des Alten Reiches kein kohärentes Regelwerk mit einer festen Zahl von Paragraphen stand,2 sondern sich vielmehr einzelne überwiegend zwischen Kaiser und Reichsständen ausgehandelte Verträge und Gesetze im Verlauf der Frühen Neuzeit organisch zu einem lockeren Regelwerk fügten. Dadurch ergaben sich Reibungen und Friktionen, jedoch auch Handlungsspielräume und eine große Flexibilität. Im Sinne institutionentheoretischer Ansätze führte dies zu einem stetigen Wandel und einer hohen Dynamik. Insbesondere wenn sich Krisen zu einer ernsten Bedrohung des Reichs entwickelten und zu Unsicherheit und Orientierungslosigkeit führten, kam es zu Transformationsschüben des losen Regelwerks, das sich auf diese Weise immer stärker verdichtete. Institutionen dienten dabei als Stabilisierungsfaktor und Schutzinstitute.3 Sie können in diesem Kontext als „Regelsysteme der Her1 Johann Jacob Moser, Von Teutschland und dessen Staats-Verfassung überhaupt […], Stuttgart 1766, S. 204. 2 Axel Gotthard, Das Alte Reich 1495 – 1806, Darmstadt 2003, S. 8.
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stellung und Durchführung verbindlicher, gesamtgesellschaftlich relevanter Entscheidungen“4 sowie als Vermittlungsinstanzen kultureller Sinnproduktion angesehen werden, die Werte, Normen und Ideen einer Gesellschaft zum Ausdruck bringen.5 Zahlreiche Arbeiten, insbesondere zur Höchstgerichtsbarkeit, haben in der Tat gezeigt, dass Institutionen wie das Reichskammergericht und der Reichshofrat Werte und Normen der frühneuzeitlichen Gesellschaft verankerten und dadurch entscheidend zur Konfliktregulierung und Stabilität im Alten Reich beitrugen. Große Bedeutung kam dabei der Protest- und Konfliktforschung zu, die nach einer spezifisch deutschen Tradition des Widerstands und Widerstandsrechts suchte und diese im Bauernkrieg und den 3 Friedrich Hertz, Die Rechtsprechung der höchsten Reichsgerichte im römischdeutschen Reich und ihre politische Bedeutung, MIÖG 69 (1961), S. 331. Eine Zusammenfassung verschiedener politischer Aspekte der reichsgerichtlichen Tätigkeit bietet Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Die politische Funktion des Reichskammergerichts, Köln / Wien 1993 sowie der Ausstellungskatalog: Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, Mainz 1994; vgl. des Weiteren die Forschungsüberblicke bei: Bernhard Diestelkamp, Tendenzen und Perspektiven in der Erforschung der Geschichte des Reichskammergerichts, in: ders., Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich, Frankfurt a. M. 1999, S. 27; ders., Ungenutzte Quellen zur Geschichte des Reichskammergerichts. Unbearbeitete Forschungsfelder, in: Paul L. Nève (Hrsg.), Een Rijk Gerecht. Nijmegen 1998, S. 115; Karl Härter, Neue Literatur zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Ius commune 21 (1994), S. 215; Jürgen Weitzel, Ius publicum in den Prozessen vor dem Reichskammergericht, BlldtLG 131 (1995), S. 171; Leopold Auer, Das Archiv des Reichshofrats und seine Bedeutung für die historische Forschung, in: Bernhard Diestelkamp / Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, Bonn / Wetzlar 1997, S. 117; Siegrid Westphal, Zur Erforschung der Reichsgerichtsbarkeit – eine Zwischenbilanz, Jahrbuch der historischen Forschung 1999, S. 15; dies. / Stefan Ehrenpreis, Stand und Tendenzen der Reichsgerichtsforschung, in: Anette Baumann u. a. (Hrsg.), Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Köln / Weimar / Wien 2001, S. 1; Anette Baumann / Eva Ortlieb, Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit, in: Birgit Fellner u. a. (Hrsg.), Ad Fontes, Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 23; Eva Ortlieb / Siegrid Westphal, Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich – Einführung, zeitenblicke 3 (2004), dies., Die Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich: Bedeutung, Forschungsentwicklung und neue Perspektiven, ZRG GA 123 (2006), S. 291. 4 Siegrid Westphal, Does the Holy Roman Empire need a New Institutional History? in: Richard J. W. Evans / Michael Schaich / Peter H. Wilson (Hrsg.), Oxford 2011, S. 77; Gerhard Göhler, Wie verändern sich Institutionen? Revolutionärer und schleichender Institutionenwandel, in: ders. (Hrsg.), Institutionenwandel, Opladen 1997, S. 21 (29). 5 Reinhard Blänkner, Historizität, Institutionalität, Symbolizität. Grundbegriffliche Aspekte einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Berlin 2005, S. 71 (90); Karl-Siegbert Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen: Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen, in: Gerhard Göhler (Hrsg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionen, BadenBaden 1994, S. 47 (56 f.); Gerhard Göhler, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Institutionenwandel, Opladen 1997, S. 7 (10). Während Rehberg jedoch nur noch von institutionellen Mechanismen spricht, halten Blänkner und Göhler an konkreten politischen Institutionen wie Parlament oder Verfassung fest und grenzen sie von sozialen Institutionen ab.
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anschließenden Untertanenaufständen fand.6 Sie stellte fest, dass Untertanen und Korporationen ihrer Landesobrigkeit keinesfalls schutzlos ausgeliefert waren, sondern auf vielfältigen Wegen Widerstand leisteten.7 Als weiterführend erwies sich in diesem Zusammenhang das von Winfried Schulze entwickelte Konzept der Verrechtlichung sozialer Konflikte, worunter eine Verlagerung des gewaltsamen Konfliktaustrags zwischen Obrigkeit und Untertanen auf den Rechtsweg verstanden wird. Nach dem Bauernkrieg von 1525 sei den Untertanen – bei gleichzeitiger Kriminalisierung von Aufruhr und Gewalt – von Seiten der Reichsstände und des Kaisers die Möglichkeit eingeräumt worden, ihre Konflikte mit der territorialen Obrigkeit vor Gericht auszutragen, was sie zunehmend auch in Anspruch genommen haben.8 Nicht nur für bestimmte ständische Gruppen oder Korporationen, sondern auch für Individuen besaßen die höchsten Gerichte im Alten Reich in einer Reihe von weiteren Bereichen eine Rechtsschutzfunktion.9 Nicht zuletzt die6 Horst Buszello, Deutungsmuster des Bauernkriegs in historischer Perspektive, in: Peter Blickle / Horst Buszello / Rudolf Endres (Hrsg.), Der deutsche Bauernkrieg, 3. bibliographisch ergänzte Aufl., Paderborn / München / Wien / Zürich 1995, S. 11; Winfried Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stuttgart / Bad Cannstadt 1980; Robert von Friedeburg (Hrsg.), Widerstandsrecht im Europa der Frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutschbritischen Vergleich, Berlin 2001. 7 Michael Hughes, Law and Politics in Eighteenth Century Germany: the Imperial Aulic Council in the Reign of Charles VI, Woodbridge 1988; Gabriele Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus. Ein Beitrag zur Geschichte des Reichsverbands in der Mitte des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1992; vgl. den Forschungsüberblick zu Untertanenunruhen bei Werner Troßbach, Bauern 1648 – 1806, München 1993 sowie bei Karl S. Bader / Gerhard Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt. Bürger und Bauern im Alten Europa, Berlin / Heidelberg / New York 1999. Zu städtischen Verfassungskonflikten: Thomas Lau, Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in den Reichsstädten Mühlhausen und Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit, Bern 1999. 8 Winfried Schulze, Einführung in die Neuere Geschichte, Stuttgart 1987, S. 61; ders., Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Der deutsche Bauernkrieg 1524 – 1526, Göttingen 1975, S. 277; vgl. für die städtischen Unruhen nach dem Dreißigjährigen Krieg: Christopher R. Friedrichs, German Town Revolts and the Seventeenth-Century Crisis, Renaissance and Modern Studies 26 (1982), S. 27. 9 Vgl. Jessica Jacobi, Besitzschutz vor dem Reichskammergericht, Frankfurt a. M. 1998; Rita Sailer, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Köln / Weimar / Wien 1999; Bernhard Ruthmann, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht (1555 – 1648): Eine Analyse anhand ausgewählter Prozesse, Köln / Weimar / Wien 1996; Britta Gehm, Die Hexenverfolgung im Hochstift Bamberg und das Eingreifen des Reichshofrats zu ihrer Beendigung, Hildesheim / Zürich / New York 2000; Peter Oestmann, Hexenprozesse am Reichskammergericht, Köln / Weimar / Wien 1997; Ralf-Peter Fuchs, Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht 1525 – 1805, Paderborn 1999; Friedrich Battenberg, Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches. Geistliche Herrschaft und korporative Verfassung der Judenschaft in Fürth im Widerspruch, Wetzlar 1992; Stefan Ehrenpreis / Andreas Gotzmann / Stephan Wendehorst, Von den Rechtsnormen zur Rechtspraxis: Ein neuer Zugang zur Rechtsgeschichte der Juden im Heiligen Römischen Reich? Eine Projektbeschreibung, Aschkenas 11 (2001), S. 39; Siegrid Westphal (Hrsg.), In eigener
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se Forschungsergebnisse haben entscheidend dazu beigetragen, das politische System des Alten Reiches aufzuwerten.10
II. Die Verfassung des Alten Reiches: Eine gedachte Friedensordnung Wenn es weder für die Zeitgenossen noch für die heutige Forschung keine klar umrissene, schriftlich niedergelegte Verfassung des Alten Reiches gibt, sondern vielmehr der permanente Wandel betont wird, wie lässt sich dann definieren, was die eingangs genannten Gesetze und die zu ihrer Umsetzung geschaffenen Institutionen außer den Rechten von Individuen und einzelnen Gruppen schützen sollten? Es gilt die durch die Reichsgrundgesetze festgelegte gedachte Ordnung zu definieren,11 um auf diese Weise den schützenswerten Kristallisationspunkt der spezifischen Verfassung des Alten Reiches zu definieren. An welche Werte fühlten sich Kaiser und Reich gebunden, die unverändert erhalten werden sollten und zu deren Schutz Maßnahmen in Form von Gesetzen und Errichtung eigener Institutionen vorgenommen wurden? Die überwiegende Anzahl der bei Moser genannten Reichsgrundgesetze, zu denen auch der Ewige Landfrieden und die Ordnungen der beiden höchsten Gerichte gehören, verweist auf die Friedensthematik. Es ist keine neue Erkenntnis, dass es vor allem das Ringen um den inneren Frieden war, das zur politischen Verdichtung und einem forcierten Verfassungswandel im Spätmittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit beigetragen hat.12 Erst in Abhängigkeit von dieser Entwicklung wurden Institutionen geschaffen, die den Frieden als zentralen Kern und gedachte Ordnung des Reichs schützen und bewahren sollten. Und schließlich ist auch die kompleSache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches, Köln / Weimar / Wien 2005. 10 Heinz Duchhardt, Deutsche Verfassungsgeschichte 1495 – 1806, Stuttgart 1991; Karl Otmar von Aretin, Das Alte Reich, 3 Bde., Stuttgart 1993 – 1997; Helmut Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, München 1997; Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495 – 1806, München 1999. 11 Michael Hochedlinger, Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit. Vorbemerkungen zur Begriffs- und Aufgabenbestimmung, in: Michael Hochedlinger / Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit, Wien u. a. 2010, S. 21. 12 Karl Härter, Sicherheit und Frieden im frühneuzeitlichen Alten Reich. Zur Funktion der Reichsverfassung als Sicherheits- und Friedensordnung 1648 – 1806, ZHF 30 (2003), S. 413; Inken Schmidt-Voges / Siegrid Westphal, Der Immerwährende Frieden als immerwährende Herausforderung, in: Inken Schmidt-Voges / Siegrid Westphal / Volker Arnke / Tobias Bartke (Hrsg.), Pax perpetua. Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit, München 2010, S. 7.
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mentäre Struktur des Reiches in der Frühen Neuzeit selbst ein Produkt des Ringens zwischen Kaiser und Reichsständen über die Vorherrschaft im Reich, die anhand der Zuständigkeit für die Herstellung und Wahrung des Friedens ausgetragen wurde. Das Friedensproblem ist also Dreh- und Angelpunkt des politischen Geschehens, was die Frühneuzeitforschung bereits breit thematisiert hat. Insbesondere die Leistungen von Kaiser und Reich auf diesem Feld haben dazu geführt,13 dass selbst die härtesten Kritiker der Reichs-Staats-These dem Alten Reich zumindest in diesem Bereich staatliche Qualität zugestehen, indem sie es als eine „halbwegs funktionierende Friedensordnung“ bezeichnen.14 Dieser kleinste gemeinsame Nenner der Diskussion über die politische Verfasstheit des Alten Reiches soll als Ausgangspunkt des Beitrags dienen. Es wird danach gefragt, wie sich das Reich als gedachte Friedensordnung konstituierte und durch welche Maßnahmen es insoweit geschützt werden sollte, dass eine Änderung der geschaffenen Friedensordnung unmöglich gemacht werden sollte. Dabei wird zum einen an neuere Forschungen zum Thema Sicherheit in der Frühen Neuzeit angeknüpft, die zur Zeit die Diskussion über die Verfasstheit und Gesellschaft des Alten Reiches bestimmen.15 Zum anderen wird auf ein älteres Modell aus der Politikwissenschaft zurückgegriffen, das sich mit Aspekten kollektiver Sicherheit beschäftigt und jüngst in der Frühneuzeitforschung im Zusammenhang mit der Untersuchung des Schwäbischen Bundes wieder aufgegriffen wurde.16 Horst Carl definiert dabei nicht nur den Schwäbischen Bund als System kollektiver Sicherheit, sondern er behauptet auch, dass dessen Mechanismen Eingang in die Ausgestaltung der Reichsverfassung fanden. Der Ewige Landfrieden, das Reichskammergericht, die Handhabung Friedens und Rechts sowie der Gemeine Pfennig, also alle Ergebnisse des Wormser Reichstags von 1495, werden als System kollektiver Sicherheit beschrieben, die der Wiederherstellung der Friedensordnung dienen sollten. 13 Heinz Schilling, Reichs-Staat und frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem. Überlegungen zu Charakter und Aktualität des Alten Reiches, HZ 272 (2001), S. 377; Georg Schmidt, Das frühneuzeitliche Reich – komplementärer Staat und föderative Nation, HZ 273 (2001), S. 371; Wolfgang Reinhard, Frühmoderner Staat und deutsches Monstrum. Die Entstehung des modernen Staates und das Alte Reich, ZHF 29 (2002), S. 339; Matthias Schnettger (Hrsg.), Imperium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher Reichs-Staat: Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, Mainz 2002. 14 Reinhard (Fn. 13), S. 356. 15 Karl Härter, Security and „gute Policey“ in Early Modern Europe: Concepts, Laws and Instruments, Historical Social Research 35 (2010), S. 41; Werner Conze, Art. Sicherheit, Schutz, in: Geschichtliche Grundbegriffe 5 (1984), S. 831. 16 Horst Carl, Landfrieden als Konzept und Realität kollektiver Sicherheit im Heiligen Römischen Reich, in: Gisela Naegle (Hrsg.), Frieden schaffen und sich verteidigen im Spätmittelalter / Faire la paix et se défendre à la fin du Moyen Age, Göttingen 2011, S. 121.
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Diese Überlegungen sollen aufgegriffen und auf ihre Tragfähigkeit geprüft werden. Dafür soll zunächst kurz umrissen werden, was unter einem System kollektiver Sicherheit zu verstehen ist und welche Mechanismen damit verbunden werden. In einem zweiten Schritt werden die 1495 erlassenen Bestimmungen unter dem Gesichtspunkt eines kollektiven Sicherheitssystems betrachtet. Im dritten Schritt erfolgt dann ein Ausblick auf Transformationen des kollektiven Sicherheitssystems im Verlauf der Frühen Neuzeit, die aufgrund von fortbestehenden und neuen Sicherheitsdilemmata notwendig wurden.
1. Mechanismen eines kollektiven Sicherheitssystems
Konkrete Vorstellungen eines Systems kollektiver Sicherheit sind im Umfeld der Politik- und Rechtswissenschaft vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs entwickelt worden.17 Gemeinhin verbinden sich damit konkrete internationale Organisationen wie der Völkerbund oder die UNO. Entsprechende Zusammenschlüsse von Staaten sind auf das Binnenverhältnis gerichtet und basieren auf der Annahme, dass Frieden unteilbar ist und nur durch das Zusammenwirken aller am System beteiligter Mitglieder erhalten bzw. wiederhergestellt werden kann. Ausgangspunkt bildet ein Sicherheitsdilemma, das als massive Gefahrenquelle für die Friedensordnung wahrgenommen wird. Indem sich die Teilhaber des kollektiven Sicherheitssystems entlang eines kategorischen Gewaltverbots organisieren, wollen sie einen nachhaltigen Frieden befördern, also Frieden durch Sicherheit erzielen. Verstöße gegen das Gewaltverbot sollen mit kollektiven Beugemaßnahmen geahndet werden.18 Frieden im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme wird also in erster Linie von einem negativen Friedensverständnis getragen (also Abwesenheit von Gewalt), aber Systeme kollektiver Sicherheit enthalten in der Regel auch Ansätze eines positiven Friedens, beispielsweise Verfahren friedlicher Streitbeilegung. Insofern kommt dem Recht ebenfalls eine zentrale Rolle zu, denn die Mitglieder legen zum einen Rechtssätze fest, die das Verhältnis untereinander regeln sollen. Zum anderen müssen sie sich auf Rechtssätze, Institutionen und Verfahrensweisen einigen, die der friedlichen Streitbeilegung dienen. Frieden durch Sicherheit und Frieden durch Recht bilden demnach im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme eine eng aufeinander bezogene Einheit.19 17 Sabine Jaberg, Systeme kollektiver Sicherheit in und für Europa in Theorie, Praxis und Entwurf. Ein systemwisenschaftlicher Versuch, Baden-Baden 1998; dies., Kollektive Sicherheit: Mythos oder realistische Option? Hamburg 1999. 18 Sabine Jaberg, Kants Friedensschrift und die Idee kollektiver Sicherheit. Eine Rechtsfertigungsgrundlage für den Kosovo-Krieg der NATO? Hamburg 2002, S. 28. 19 Jaberg (Fn. 18), S. 33.
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Auch wenn diese Vorstellungen mit Blick auf eine konkrete Situation des frühen 20. Jahrhunderts konzipiert worden sind, so handelt es sich um ein systemtheoretisches Modell, das deutlich ältere Wurzeln hat und sich in den beschriebenen Sachverhalten bis auf das antike Griechenland zurückführen lässt. Insbesondere die im Hochmittelalter entwickelten Vorstellungen eines Gottes- und Landfriedens werden „als unmittelbare Vorboten entwickelter SKS“20 angesehen. Die sich in der Frühen Neuzeit herausbildenden historischen Systeme kollektiver Sicherheit, zu denen die Schweizer Eidgenossenschaft und das Heilige Römische Reich deutscher Nation gezählt werden, gelten in der politikwissenschaftlichen Forschung als ernsthafte Versuche, „zumindest für einen geographisch begrenzten Raum den Krieg als Instrument der Rechts- oder Interessendurchsetzung zu verbannen“.21 Nicht zuletzt deshalb finden sich erste eingehendere Untersuchungen der 1495 geschaffenen Regelungen als System kollektiver Sicherheit in diesem Umfeld, wobei allerdings als herausragender Zweck des Reiches die Sicherheitsgewährleistung selbst bezeichnet wird und die im Zentrum stehende gedachte Friedensordnung aus dem Blick gerät. Die historische Forschung hat diese Ansätze erst in jüngster Zeit aufgegriffen.22 Neben den Überlegungen von Horst Carl, die sich vor allem auf den Schwäbischen Bund fokussieren, sind hier diplomatiegeschichtliche Ansätze über Strategien der Friedenssicherung im Rahmen frühneuzeitlicher internationaler Bündnispolitik zu nennen.23 Obwohl die überragende Bedeutung des Wormser Reichstags von 1495 schon vielfach gewürdigt worden ist und er unumstritten als verfassungsgeschichtlicher Einschnitt gesehen wird,24 so hat sich erst in jüngster Zeit der Fokus stärker auf die Gesamtheit des in Worms geschaffenen Systems gerichtet.25 Von rechtshistorischer Seite wird betont, dass vor allem „die Zusammenschau des Friedenstextes mit der diesen begleitenden institutionellen Reform“ die große Bedeutung des Reichstages ausmache. Erst daJaberg, Systeme (Fn. 17), S. 306. Jaberg, Systeme (Fn. 17), S. 308. 22 Jaberg, Systeme (Fn. 17), S. 305. Vgl. Carl (Fn. 16), S. 138. 23 Guido Braun (Hrsg.), Assecuratio pacis. Französische Konzeptionen von Friedenssicherung und Friedensgarantie 1648 – 1815, Münster 2011. 24 Heinz Angermeier, Die Reichsreform. 1410 – 1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, München 1984; Claudia Helm / Jost Hausmann (Red.), 1495 – Kaiser, Reich, Reformen. Der Reichstag zu Worms, Koblenz 1995; Karl-Friedrich Krieger, König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter, 2. Aufl., München 2005. 25 Erste Überlegungen wurden von Jürgen Weitzel im Zusammenhang mit der Einordnung des Reichskammergerichts in das politische System des Alten Reiches unternommen, haben dann aber zunächst wenig Resonanz gefunden. Vgl. Jürgen Weitzel, Die Rolle des Reichskammergerichts bei der Ausformung der Rechtsordnung zur allgemeinen Friedensordnung, in: Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, Mainz 1994, S. 40. 20 21
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durch werde das gesamte Reich zu einer alle „umspannenden Rechtsgemeinschaft im Sinne einer Friedensgemeinschaft“.26 Friedens- und Rechtsordnung sollten identisch sein. Von dieser Feststellung ausgehend ist der Gedanke eines Systems kollektiver Sicherheit, das dem Schutz des Friedens als Kern der gedachten politischen Ordnung dienen sollte, nicht weit.
2. Die Friedensordnung von 1495 als System kollektiver Sicherheit
In den Quellen findet sich in der Regel der Begriff Landfrieden, unter dem „eine auf Gewaltverzicht gegründete, räumlich organisierte und ursprünglich zeitlich befristete Friedensordnung“ verstanden wurde. „Frieden sollte dabei im wesentlichen dadurch erreicht und gewahrt werden, dass an Stelle der Selbsthilfe (Faustrecht) zur Durchsetzung jeweiliger Rechtsansprüche oder zur Ahndung von Unrecht rechtliche Regelungen und entsprechende Gerichtsoder Schiedsinstanzen verbindlich gemacht wurden.“27
Obwohl die deutschen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches – im Unterschied zu anderen europäischen Monarchien – im Mittelalter trotz verschiedener Landfriedensregelungen kein umfassendes Fehdeverbot und damit den Landfrieden durchsetzen konnten, beanspruchten sie für sich weiterhin, für die Wahrung des Landfriedens zuständig zu sein.28 Angesichts dessen erschien die tatsächliche Friedlosigkeit zunehmend als „Versagen des Königtums in seiner zentralen Aufgabe“29. Die Friedenswahrung wurde im Lauf der Zeit dezentralisiert, indem sich weltliche Herrschaftsträger zu befristeten Schwureinungen zusammenschlossen, um die innerterritoriale Friedenswahrung zu gewährleisten. Der Schutz des Landfriedens wurde – so Horst Carl – in Form von Organisationen kollektiver Sicherheit realisiert. Einungen wie der Schwäbische Bund haben demnach nicht nur auf der regionalen Ebene den Landfrieden geschützt, sondern darüber hinaus auch wichtige Impulse für die Bestimmungen von 1495 gegeben. Die im 15. Jahrhundert zunehmende und reichsweit um sich greifende Gewalttätigkeit, die sich durch regional und zeitlich befristete kollektive Sicherheitsmaßnahmen nicht eindämmen ließ, führte zu einer einschneiden-
26 Matthias G. Fischer, Reichsreform und „Ewiger Landfrieden“. Über die Entwicklung des Fehderechts im 15. Jahrhundert bis zum absoluten Fehdeverbot von 1495, Aalen 2007, S. 240. 27 Horst Carl, Art. Landfriede, in: Enzyklopädie der Neuzeit 7 (2008), Sp 493 (493). Vgl. Hans-Jürgen Becker, Art. Landfrieden I (Landfriedensgesetzgebung), in: HRG 3 (1979), Sp 1451; Heinz Holzhauer, Art. Landfrieden II (Landfrieden und Landfriedensbruch), in: HRG 3, Sp 1465; Arno Buschmann, Art. Ewiger Landfriede, in: HRG I (2. Aufl. 2008), Sp 1447. 28 Heinz Angermeier, Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter, München 1966. 29 Carl (Fn. 16), S. 122.
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den Transformation, die auf unbefristete Regelungen und institutionelle Lösungen zielte. Im Zentrum stand dabei der auf dem Wormser Reichstag von 1495 beschlossene „Ewige, das heißt unbefristete Landfriede“, zu dessen Durchsetzung und Schutz das Reichskammergericht gegründet wurde.30 Der Ewige Landfriede bedurfte der Exekution, die in der „Handhabung Friedens und Rechts“ ihren Niederschlag fand.31 Zuständig sollte der Reichstag sein, der damit Eigenständigkeit gewann und als Kommunikationsforum von Kaiser und Reich konstituiert wurde. Eine Reichssteuer, der sogenannte Gemeine Pfennig, sollte nicht nur den Unterhalt des Reichskammergerichts sichern, sondern auch militärische Aktionen gegen Friedensbrecher finanziell gewährleisten.32 Es handelt sich also – ganz im Sinne der oben dargelegten politikwissenschaftlichen Ansätze – um ein System kollektiver Sicherheit, das dazu dienen sollte, einen allgemeinen und zeitlich unbefristeten Frieden durch ein unwiderruflich verstandenes Fehde- und Gewaltverbot herzustellen.33 Dafür spricht auch der eher vertragsrechtliche Charakter des „Ewigen Landfriedens“, der im Prinzip nur die Reichsstände zur Einhaltung der Regelungen verpflichtete, die ihm zugestimmt hatten.34 Die friedliche Streitbeilegung sollte vor Gericht ausgetragen werden, wozu eben eigens das Reichskammergericht gegründet wurde. Wer – trotz des dezidierten Verbots – Fehdeund Gewalthandlungen vornahm, sollte – unabhängig davon, welchen Stand oder Würde er innehatte – in die Reichsacht fallen (§ 3) und peinlichen Strafen unterzogen werden. Nicht zuletzt deshalb spricht die Forschung von einer klaren Kriminalisierung der Fehde. Das Fehdeverbot richtete sich zwar an jedermann, de facto ging es jedoch um kriegsähnliche Gewalthandlungen des Adels. Dabei stand nicht so sehr die weit verbreitete Fehde des niederen Adels im Fokus, sondern vielmehr Fehden der Reichsstände untereinander oder gegen Städte, in denen man die Hauptgefahr für den inneren Frieden des Reiches sah.35 Allerdings wurde die eigenmächtige Pfändung
30 Nr. 173, Der sog. Ewige Landfriede, 1495, Aug. 7, in: Karl Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, Tübingen 1913, S. 281; Nr. 174, Reichs-Kammergerichts-Ordnung, 1495, Aug. 7, in: Zeumer, Quellensammlung (Fn. 30), S. 284. Die Quellensammlung von Zeumer schöpft aus einem frühneuzeitlichen Standardwerk über den Landfrieden. Vgl. Johann Philipp Datt, Volumen rerum Germanicorum novum, sive de pace imperii publica libri V, Ulm 1698. 31 Nr. 175, Handhabung Friedens und Rechts, 1495, Aug. 7, in: Zeumer, Quellensammlung (Fn. 30), S. 291. 32 Nr. 176, Ordnung des gemeinen Pfennigs, 1495, Aug. 7, in: Zeumer, Quellensammlung (Fn. 30), S. 294. 33 Weitzel (Fn. 25), S. 43; vgl. Jaberg, Systeme (Fn. 17). 34 Fischer (Fn. 26), S. 223. 35 Fischer (Fn. 26), S. 230.
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nicht verboten, so dass unter dem Vorwand der zulässigen Pfändung durchaus Fehden ausgetragen werden konnten.36 Eine ganze Reihe von Verboten betraf den Umgang mit erwiesenen und notorischen Friedensbrechern. Denn nicht nur der Landfriedensbruch, sondern auch die Unterstützung von Friedensbrechern (§ 5 Hausungsverbot) sowie die Verweigerung des Purgationseides (§ 4), der dazu dienen sollte, den Verdacht des Landfriedensbruches von sich zu weisen, wurden mit der Ächtung bedroht.37 Um dem Ewigen Landfrieden als grundlegendem Schutzinstitut umfassende Geltung zu verleihen, beinhaltet das Gesetz in § 11 zudem ein Verbot bzw. die Aufhebung aller dem Landfrieden entgegenstehender oder abträglicher Vereinbarungen, Privilegien, Freiheiten oder Gnaden, unabhängig davon, von wem sie ausgegangen waren. Als Wahrer des Landfriedens verpflichtete der König zudem alle Reichsstände und Untertanen auf die Einhaltung der genannten Artikel unter Hinweis auf die ihm geleisteten Eide und unter Androhung der königlichen Ungnade und von härtesten Strafen des gemeinen Reichsrechts (§ 10). Deutlich wird die Kontinuität zu den früheren Landfriedenseinungen in der Präambel der Handhabung Friedens und Rechts, in der der König bekundet, sich mit seinen Reichsständen vereint zu haben, um einen allgemeinen Frieden im Reich und ein Reichskammergericht aufzurichten.38 Der König versteht sich zwar weiterhin als Wahrer des Landfriedens, aber unterwirft sich gleichermaßen den kollektiven Sicherheitsbestimmungen. Beispielsweise wird die vom König angeordnete Entlassung eines Geächteten aus der Acht ohne die Zustimmung des Geschädigten als ein gegen den Landfrieden gerichteter Akt definiert. In § 7 verpflichten sich der König und sein Sohn zudem, ohne Zustimmung der Reichsstände keinen Krieg, keine Fehde noch ein Bündnis mit einer anderen Nation einzugehen, „die dem Reich zu Schaden, Nachtail oder wider sein möchten“.39 Nicht zuletzt deshalb spricht die Forschung von einem wichtigen Schritt hin zur Durchsetzung des öffentlichen Gewaltmonopols.40 Hauptbestandteil der Handhabung Friedens und Rechts ist jedoch der Beschluss, jährlich in Frankfurt zusammenzukommen, um über diejenigen zu beratschlagen, die sich nicht an das Friedensgebot halten, gegen Urteile des Reichskammergerichts verstoßen oder Sonderfälle darstellen (§ 1, § 2). Fischer (Fn. 26), 2. 233. Matthias Weber, Zur Bedeutung der Reichsacht in der Frühen Neuzeit, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, Berlin 1997, S. 55 (61). 38 Handhabung (Fn. 31), S. 291. 39 Handhabung (Fn. 31), S. 292. 40 Fischer (Fn. 26), S. 245; Carl (Fn. 27), Sp 499. 36 37
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Damit wird deutlich, dass zumindest von der ursprünglichen Konzeption her auch der Reichstag Zuständigkeit bei der Verfolgung von Friedensbrechern beanspruchte. Auch die Handhabung Friedens und Rechts schärft die Einhaltung und den Vollzug des Friedensgebots ein, indem für den Fall des Friedensbruches eine Strafe von 2000 Goldmark sowie der Verlust aller von Kaiser und Reich innehabenden Freiheiten und Rechte durch Verhängung der Acht angedroht wird (§ 11, § 12). Diese Strafe sollte ohne weitere Vorladung, Erklärung oder Urteil durch Exekution vollstreckt werden, wobei in der Folge umstritten blieb, ob bei schwerwiegenden Friedensbrüchen die Ächtung schon mit der Tat (ipso facta) eintrat und der König die Acht verhängen konnte, ohne dass ein Gericht oder der Reichstag involviert worden waren.41 Auch die Frage der Vollstreckung der landfriedensgerichtlichen Entscheidung ist nur vage geregelt.42 Dem Reichstag kam dabei eine koordinierende Funktion zu, während die Reichsstände das Urteil vollstrecken sollten. Sowohl im Ewigen Landfrieden als auch in der Handhabung Friedens und Rechts finden sich darüber hinaus konkrete Vollzugspflichten, die alle Untertanen des Reichs in das System kollektiver Sicherheit einbeziehen, so zum Beispiel die sogenannte Nacheile, die jeder auf eigene Kosten leisten sollte oder das Hausungsverbot und die Aufforderung, Friedensbrecher oder herrenloses Kriegsvolk in Haft zu nehmen und über sie zu richten. Beide Regelungen enthalten zudem Anweisungen, wie gegen Friedensbrecher vorgegangen werden soll. So kann dies entweder durch den Geschädigten selbst oder von Amts wegen eingeleitet werden. Falls der Friedensbrecher Unterstützung von einflussreichen Kräften erfährt, so dass eine militärische Aktion notwendig wird, soll entweder der Geschädigte oder der Kammerrichter beim König und der jährlichen Versammlung der Reichsstände vorstellig werden. Diese sollten unverzüglich Hilfe leisten. Zur Finanzierung der militärischen Aktion war u. a. der Gemeine Pfennig vorgesehen. Falls jedoch Gefahr im Verzug war und die Reichsversammlung nicht abgewartet werden konnte, war der Kammerrichter sogar befugt, die Reichsversammlung außerturnusmäßig zusammenzurufen, um die Angelegenheit zu beratschlagen und handeln zu können. Wie groß sein Einfluss sein sollte, zeigt sich letztlich daran, dass die Reichskammergerichtsordnung von 1495 in § 23 vorsah, dass der Kammerrichter und die Beisitzer die Macht haben sollten, auf Antrag des Geschädigten gegen Friedensbrecher den Prozess zu führen. Sogar die Acht durften sie im Namen des Königs erkennen und ver-
Weber (Fn. 37), S. 60. Elmar Wadle, Der Ewige Landfriede von 1495 und das Ende der mittelalterlichen Friedensbewegung, in: ders., Landfrieden, Strafe, Recht, Berlin 2001, S. 183. 41 42
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hängen. Dies verweist letztlich darauf, wie Jürgen Weitzel festgestellt hat, dass „Kammerrichter und Kammergericht nicht nur zur Aburteilung gefaßter Landfriedensbrecher bestellt waren, sondern daß sie nach dem Verständnis der Zeit in solchen Konflikten schlechthin Anlaufstelle sein sollten, auch selbst nach Recht in die schwebenden Auseinandersetzungen hineinzuwirken befugt und verpflichtet waren.“43
Wie eng letztlich das Friedensgebot und Verfahren friedlicher Streitbeilegung aufeinander bezogen waren, zeigt sich an der Präambel der Reichskammergerichtsordnung, in der ausdrücklich betont wird, dass ein allgemeiner Landfrieden nicht ohne „redliches, ehrbares und förderliches Recht“ bestehen könne und deshalb ein Kammergericht aufgerichtet werde.44 Die erste Reichskammergerichtsordnung enthält jedoch keine ausdrückliche Festlegung der Zuständigkeit auf den Bereich des Landfriedens. Diese ergibt sich erst durch Berücksichtigung von § 6 des Ewigen Landfriedens. Das Reichskammergericht war demnach gegenüber jedermann in erster Instanz für Verstöße gegen den Landfrieden zuständig, weshalb es zum Gründungszeitpunkt als das zentrale Landfriedensgericht bezeichnet werden kann. Allerdings bestanden zeitgleich weitere Institutionen, welche die Landfriedensgerichtsbarkeit ausübten, beispielsweise der König bzw. Kaiser und seine Hofräte, wobei hier deutlich zu konstatieren ist, dass der Reichshofrat zum Zeitpunkt der Konzeption des 1495 geschaffenen Systems kollektiver Sicherheit noch nicht existierte. Auch ältere Landfriedenseinungen wie der Schwäbische Bund beanspruchten Kompetenzen im Bereich der Landfriedenswahrung und konkurrierten gewissermaßen mit dem Reichskammergericht.45 Zudem bildete sich die Praxis heraus, dass territoriale Gerichtsherren über die ihnen unmittelbar unterworfenen Untertanen entsprechend des Ewigen Landfriedens geboten. Aufgrund dessen betrafen die erstinstanzlichen Verfahren am Reichskammergericht wegen Landfriedensbruch vor allem Reichsunmittelbare.46 Die erste Reichskammergerichtsordnung bietet – abgesehen von der bemerkenswerten Kompetenz der Richter und Beisitzer, auf Antrag des Geschädigten über die Acht verhandeln und sie auch verhängen zu dürfen (§ 23) – wenig konkrete Anhaltspunkte in Bezug auf die Durchsetzung des Landfriedensgebots. In erster Linie werden in der RKG-Ordnung Regelungen in Bezug auf die personelle Zusammensetzung, den Verhandlungsort und die Finanzierung sowie Fragen der Zuständigkeit angerissen. GrundWeitzel (Fn. 25), S. 44 f. Reichs-Kammergerichts-Ordnung (Fn. 30), S. 284. 45 Horst Carl, Der schwäbische Bund 1488 – 1534. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation, Leinfelden 2000; Guido Komatsu, Landfriedensbünde im 16. Jahrhundert, Göttingen 2001. 46 Weitzel (Fn. 25), S. 45. 43 44
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sätzlich stand die Ordnung unter Vorbehalt bestehender Privilegien und Freiheiten, allerdings mit einer Ausnahme. Soweit es um die Reichsacht ging, sollten diese Freiheiten nicht gegen die Vollstreckung der Gerichtsurteile gebraucht und die Geächteten nicht dagegen geschützt werden (§ 31). Insgesamt lässt sich jedenfalls festhalten, dass seit den Regelungen von 1495 die Fehde im Sinne kriegerischer Gewalthandlungen innerhalb des Reiches grundsätzlich geächtet war. Kein Mitglied oder Angehöriger des Reiches durfte gegen einen anderen gewaltsam vorgehen, es sei denn, diese Maßnahmen dienten explizit der Landfriedenswahrung.
3. Transformationsprozesse
a) Die Weiterentwicklung der Landfriedensidee. Die Idee des Ewigen Landfriedens und des Heiligen Römischen Reichs als gedachte Friedensordnung behielt bis zum Ende des Alten Reiches ihre visionäre Kraft. Dies schlug sich unter anderem darin nieder, dass der Landfrieden bis Mitte des 17. Jahrhunderts immer wieder in den entscheidenden Reichsabschieden bestätigt und damit eingeschärft wurde. Ohne den Text des Landfriedens im Kern zu verändern, wurde er kontinuierlich erweitert und mit einer Reihe von Zusätzen versehen, in denen sich die jeweiligen Sicherheitsdilemmata im Verlauf der Frühen Neuzeit widerspiegeln. Da sich die Erforschung des Landfriedens auf die mittelalterliche und spätmittelalterliche Entwicklung konzentriert und bis heute eine Geschichte des frühneuzeitlichen Ewigen Landfriedens fehlt, muss auf die wenigen neueren Arbeiten und vor allem die reichhaltige zeitgenössische Reichspublizistik zur Landfriedensthematik zurückgegriffen werden,47 um die wesentlichen Erweiterungen nachvollziehen zu können. Als zuverlässiger Gewährsmann kann hier wieder Johann Jacob Moser genannt werden, der in kompilatorischer Manier die einzelnen an den jeweiligen Reichstagen ergänzten Paragraphen benennt, ohne jedoch näher auf sie einzugehen.48 Die ersten Erweiterungen wurden bereits 1498 auf dem Reichstag von Freiburg im Breisgau vorgenommen und bezogen sich auf das Recht zur Nacheile und das Hausungsverbot.49 Auch auf den folgenden Reichstagen kam es zu einer Reihe weiterer Zusätze des Ewigen Landfriedens, der zusammen mit den alten und weiteren neuen Ergänzungen von Kaiser Karl V. sowohl in seiner Wahlkapitulation als auch auf dem Wormser Reichstag von 1521 bestätigt und systematisch geordnet wurde.50 47 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, München 1988. 48 Moser, Teutschland (Fn. 1), S. 231. 49 Buschmann (Fn. 27), Sp.1448 f. 50 Tobias Branz, Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen am Reichskammergericht, in: Anja Amend-Traut u. a. (Hrsg), Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis, München 2012, S. 151 (161).
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Zudem wurden besondere präventive Gesetze erlassen, die den Schutz des Landfriedens erweiterten, indem sie Konflikte, welche in Landfriedensbrüchen hätten enden können, durch vorgelagerte Verfahrensmöglichkeiten verhindern sollten.51 Dazu zählt die Forschung die Konstitution des streitigen Besitzes (1512), die Diffamationsklage (1530) und die Pfändungskonstitution (1548).52 Im Zusammenhang mit der Verhinderung drohender Landfriedensbrüche wurde am Reichskammergericht selbst ein präventiv wirkendes Verfahren entwickelt. Das Gericht konnte von Amts wegen oder im Rahmen des Verfahrens bei drohendem Friedensbruch oder bei bereits vollzogenen Gewaltakten Befehle erlassen, die auf die Sicherung oder Wiederherstellung des Friedens zielten. Damit sollte einer drohenden Eskalation einer Gefahrenlage entgegengewirkt werden. Gleichzeitig war das Gericht befugt, den Aggressor unter Androhung einer Geldstrafe vorzuladen, damit dieser sich verantworten sollte. Aus diesen Pönalmandaten entwickelte das Reichskammergericht im Verlauf des 16. Jahrhunderts den Mandatsprozess, eine außerordentliche summarische Verfahrensart, die der heutigen einstweiligen Verfügung vergleichbar ist.53 Diese Verfahrensart wurde „zum spezifischen Verfahrensinstrument der Landfriedenssicherung“54 an den höchsten Gerichten des Alten Reichs und ergänzte damit wirksam die ursprünglichen Mechanismen des kollektiven Sicherheitssystems. Dieses Verfahren trug dazu bei, dass der Friedensbrecher entweder gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden oder im Verweigerungsfall über ihn die Reichsacht verhängt werden konnte. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts erging in solchen Fällen direkt ein Vollstreckungsmandat. Mit der Reformation und der Herausbildung von zwei Konfessionen innerhalb des Reiches wurde die Landfriedensidee auf eine harte Probe gestellt, die letztlich zur Erweiterung des Landfriedens auch auf den Bereich des Glaubens führte. Sogenannte Reformationsprozesse wurden am Reichskammergericht von Anfang an als Landfriedenssachen eingeführt, wobei in der frühen Reformation relativ wenige Fälle anhängig gemacht wurden.55 Im Branz (Fn. 50), S.152. Miriam Katharina Dahm, Die Pfändungskonstitution gemäß RKGO 1555, Teil 2, Tit. XXII und ihr Verhältnis zum Landfrieden, Aachen 2008, S. 72 f.; vgl. Branz (Fn. 50), S. 154. 53 Rudolf Smend, Das Reichskammergericht. Erster Teil: Geschichte und Verfassung, Weimar 1911; Adolf Laufs, Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, Köln / Wien 1976; Manfred Hinz, Der Mandatsprozeß des Reichskammergerichts, jur. Diss. Berlin 1966 (Masch.); Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 – 1555, Köln / Wien 1981; Manfred Uhlhorn, Der Mandatsprozeß sine clausula des Reichshofrats, Köln / Weimar / Wien 1990; Bernd Schildt, Die Entwicklung der Zuständigkeit des Reichskammergerichts, Wetzlar 2006. 54 Weitzel (Fn. 25), S. 45. 55 Umfangreiche Literaturangaben zu Reformations- und Religionsprozessen finden sich bei Branz (Fn. 50). 51 52
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Zentrum standen Fragen des enteigneten Kirchenguts, der Eingriffe in die geistlichen Rechte und der Abweichung vom Ritus. Seit den Beschlüssen des Augsburger Reichstags von 1530, welche die kaiserliche und altgläubige Position stärkten, war eine gewaltsame Handlung nicht mehr notwendig, um solche Vorgehensweisen der Protestanten als Landfriedensbruch zu qualifizieren.56 Alle reformatorischen Maßnahmen galten nun als rechtswidrig und landfriedensbrüchig. Zahlreiche Verfahren am Reichskammergericht drohten und wurden in der Folge auch angestrengt.57 Nicht zuletzt deshalb schlossen sich die Protestanten unter Führung von Hessen und Sachsen zum Schmalkaldischen Bund zusammen, einem alternativen konfessionell orientierten System kollektiver Sicherheit, das die Mitglieder im Bedrohungsfall zu gegenseitiger Hilfe verpflichtete.58 Größte Wirksamkeit entfaltete der Bund im Zusammenhang mit der Generalrekusation des Reichskammergerichts in Folge der zahlreichen Reformationsprozesse. Dabei wurde die Zuständigkeit des Reichskammergerichts in Prozessen mit Glaubens- und Reformationsbezug von den Bundesmitgliedern grundsätzlich abgelehnt. Letzten Endes wurde der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken nicht auf der Ebene der religiösen Wahrheitsfrage ausgetragen, sondern im Rahmen des 1495 geschaffenen Systems kollektiver Sicherheit.59 Der Schmalkaldische Krieg 1546 / 47 war offiziell kein Religionskrieg, sondern die Durchsetzung der Reichsacht gegen die Landfriedensbrecher Hessen und Kursachsen wegen ihres Einfalls in Braunschweig.60 Nicht zuletzt dieser Umstand ebnete dann für Kaiser und Reich den Weg, die Friedensordnung – trotz massiver Verwerfungen – zu bewahren, indem man auf die konsensual gefundenen Instrumentarien zurückgriff und damit eine rechtlich-politische Lösung der Glaubensauseinandersetzung herbeiführte. 1548 wurde zunächst ein erneuerter Landfrieden verkündet, der den Landfriedensbruchtatbestand deutlich erweiterte und von den Ursachen entkoppelte.61 Insbesondere wurde jetzt ein Verbot von konspirativen Bündnissen aufgenommen, womit
Weitzel (Fn. 25), S. 47; Branz (Fn. 50), S. 163. Gabriele Schlüter-Schindler, Der Schmalkaldische Bund und das Problem der causa religionis, Frankfurt a. M. 1986. 58 Gabriele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund 1530 – 1541 / 42. Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Leinfelden-Echterdingen 2002. 59 Anton Schindling, Gab es Religionskriege in Europa? Landfrieden und Völkerrecht statt Glaubenskampf und „Strafgericht Gottes“, in: Axel Gotthard / Andreas Jakob / Thomas Nicklas (Hrsg.), Studien zur politischen Kultur Alteuropas. FS Neuhaus, Berlin 2009, S. 275. 60 Siegrid Westphal, Die Entwicklung des Schmalkaldischen Bundes im Spiegel seiner Bundesabschiede, in: Verein für Schmalkaldische Geschichte (Hrsg.), Der Schmalkaldische Bund und die Stadt Schmalkalden, Schmalkalden 1996, S. 19 (mit Dokumentation); Georg Schmidt / Siegrid Westphal, Art. Schmalkaldischer Krieg, in: TRE 30 (1999), S. 227. 61 Branz (Fn. 50), S. 161. 56 57
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vor allem auf den Schmalkaldischen Bund angespielt wurde. Der Religionsfriede wurde 1555 „als Teil des vom Augsburger Reichstag erneuerten Wormser Reichslandfriedens zum Reichsgesetz erklärt“62 und unterlag damit den Rechtsgarantien des kollektiven Sicherheitssystems. Der Landfriedensbruchtatbestand von 1555 weist dabei zwei Ergänzungen zum Tatbestand von 1548 auf,63 worin sich die fundamentalen Veränderungen der Machtverhältnisse im Reich seit 1548 widerspiegeln. Kein Stand des Reiches (augsburgischer Konfession) sollte wegen reformatorischer Maßnahmen mit Gewalt überzogen werden oder durch Gewalt von der Lehre und der Einhaltung der Zeremonien und Ordnungen abgehalten werden. In strittigen Religionssachen sollten friedliche Mittel und Wege zur Lösung gesucht werden. Im Gegenzug wurden auch die Lutheraner dazu verpflichtet, die Altgläubigen bei ihren Rechten zu belassen und nichts gegen sie zu unternehmen, „sondern in alle wege nach laut und Ausweisungen des H. Reichs Rechten, Ordnungen, Abschieden, und aufgerichten Land=Frieden, jeder sich gegen dem andern an gebührenden ordentlichen Rechten begnügen lassen, alles bey Fürstl. Ehren, wahren Worten und Vermeidung der Pön, in dem uffgerichten Land=Frieden begriffen.“64
Zumindest bis Ende des 16. Jahrhunderts hat das erweiterte System kollektiver Sicherheit in verschiedenen Bereichen (Durchsetzung des Fehdeverbots, Verhinderung weiterer Untertanenaufstände nach dem Bauernkrieg von 1525, Verfolgung „landschädlicher Leute“)65 funktioniert, die auch über die konfessionellen Auseinandersetzungen hinausgingen. Dann kam es im Kontext der sich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts wieder verhärtenden konfessionellen Fronten durch die Religionsprozesse und die Ächtung Donauwörths zu einer erneuten Blockade des Systems,66 die letztlich in den Dreißigjährigen Krieg mündete. Der 1495 vorgegebene Weg, Gewalthandlungen innerhalb des Reichs nur noch im Kontext von Ahndungen des Landfriedensbruchs zuzulassen und alle inneren Bedrohungen des Reichs als Landfriedensproblem zu definieren, zeigte letztlich den verfahrensrechtlichen Weg auf, wie künftige Sicherheitsdilemmata innerhalb des Reichs auch bewältigt werden konnten. Selbst im Dreißigjährigen Krieg wurden militärische Aktionen von Seiten der katholischen Liga als Landfriedens-Exekutionen zur Wiederherstellung des Augsburger Religionsfriedens gerechtfertigt.67 Es lag daher auch in der Schindling (Fn. 59), S. 292. Branz (Fn. 50), S. 162. 64 Zitiert nach Branz (Fn. 50), S. 177; vgl. Axel Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004; Heinz Schilling / Heribert Smolinsky (Hrsg.), Der Augsburger Religionsfrieden 1555, Heidelberg 2007. 65 Carl, Landfriede, Sp.495. 66 Ruthmann (Fn. 9). 67 Weber (Fn. 37), S. 64 f. 62 63
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Logik der Sache, das Osnabrücker Friedensinstrument als Erneuerung des Augsburger Religionsfriedens unter Einschluss der Calvinisten juristisch als Landfriedensregelung fortzuschreiben und durch präzisierte Regelungen (Normaljahr) stärker abzusichern als dies 1555 geschehen war.68 Noch im 18. Jahrhundert spielten der Landfrieden und das um ihn geschaffene System kollektiver Sicherheit eine wichtige Rolle, als es galt, eine weitere Bedrohung der Friedensordnung zu bewältigen.69 Der Aufstieg Brandenburg-Preußens und der sich herausbildende preußisch-österreichische Dualismus stellten das Reich 1756 auf eine schwere Belastungsprobe, als der Einfall Brandenburg-Preußens in Kursachsen von Seiten des Kaisers als Landfriedensbruch deklariert und mit der Reichsacht geahndet werden sollte. Die am Reichstag und dem Reichshofrat 1757 / 58 ausgetragene Diskussion über diese Frage sowie das letztlich am Reichshofrat eingestellte Achtverfahren gegen Kurbrandenburg zeigen, dass das System kollektiver Sicherheit nicht mehr von allen Reichsständen getragen wurde und die Mechanismen deshalb nur noch eingeschränkt griffen.70 Gerade vor dem Hintergrund dieser Erfahrung erlebte die Auseinandersetzung über den Landfrieden in der Reichspublizistik einen neuen Höhepunkt, der sich in die generellen Bemühungen der dritten Partei um eine Erhaltung der Reichsverfassung einordnen lässt.71 Nicht zuletzt deshalb wird noch Mitte des 18. Jahrhunderts von Reichspublizisten wie Moser die Meinung vertreten, dass der Ewige Landfrieden das höchste Gesetz und „der Grund der gemeinen Sicherheit“ im Reich sei. Moser gehörte zu denjenigen Verfassern, welche im Vorgehen Brandenburg-Preußens die allerhöchste Gefahr für das Reich sahen. Er konstatierte eine öffentliche und heimliche Spaltung der ganzen Reichsverfassung, wodurch aus seiner Sicht der völlige Umsturz drohte und Deutschland zum Tummelplatz von ganz Europa gemacht werde.72 Wer sich gegen die höchsten Reichsgerichte wandte oder ihnen keine Folge leistete, der war seiner Meinung nach „ohnwiedersprechlich ein Feind der Ruhe und Sicherheit unseres Vaterlandes, ja der gesamten Grundverfassung des Deutschen Reichs“73. Gleichermaßen rief er aber auch die Reichsgerichte und den kaiserlichen Hof dazu auf, unparteiisch die Gerechtigkeit zu verwalten. Wer dies nicht tat, der gab sich aus seiner Sicht ebenfalls als Feind der Verfassung zu erkennen. Mosers Auffas-
Carl (Fn. 27), Sp 497. Weber (Fn. 37), S. 81. 70 Moser (Fn. 1), S. 236. 71 Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitution und Nation, Mainz 1998. 72 Johann Jacob Moser, Abhandlung von den Rechten ihro kaiserl. Majestät, des Reichs=Convents, derer Reichs=Gerichte, und derer Interessenten selbst in würcklichen Land=Frieden=Bruchs=Sachen. Erster Theil, Nürnberg / Leipzig 1757, S. 8. 73 Moser (Fn. 72), S. 10. 68 69
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sung blieb nicht unwidersprochen, insbesondere von preußischer Seite wurde er wegen seiner Äußerungen angefeindet.74 Wie in der Spätzeit des Alten Reiches über das Thema Ewiger Landfriede und Reichsacht gedacht wurde, darüber fehlen noch Untersuchungen. Allerdings scheint die Französische Revolution diese Instrumentarien noch einmal in Erinnerung gerufen zu haben, um Anhänger der Französischen Revolution innerhalb des Reiches als Verräter zu deklarieren und zu ächten. b) Ergänzende Institutionen. Die Lücken und Schwächen des Systems bei der Durchsetzung des Landfriedensgebots, aber vor allem immer wieder neue Gefährdungen der Friedensordnung des Reichs machten auch einen Ausbau des Systems kollektiver Sicherheit notwendig, indem weitere Institutionen in den Schutz der Friedensordnung einbezogen wurden. Erst 1555 war das dafür notwendige Instrumentarium im Wesentlichen ausgebildet, was sich auch daran zeigt, dass die Reichskammergerichtsordnung von 1555, der zeitgleiche Augsburger Religionsfrieden und die darin enthaltene Reichsexekutionsordnung von Moser zu den Reichsgrundgesetzen gezählt werden. Die in der Reichsexekutionsordnung vorgenommene Einbindung der Reichskreise in das System kollektiver Sicherheit resultierte schon sehr frühzeitig aus dem Umstand, dass sich die Reichsstände der Durchführung und Umsetzung von Reichskammergerichtsurteilen verweigerten und damit ihrer Folgepflicht nicht nachkamen.75 Im Schmalkaldischen Krieg, im Fürstenkrieg und im Markgrafenkrieg hatte sich zudem erwiesen, dass weder der Kaiser noch die Reichsstände in der Lage waren, das Landfriedensgebot allein durchzusetzen. Infolgedessen wurden den Reichskreisen die Bekämpfung von Landfriedensbrüchen nach einem gestuften Verfahren und die Umsetzung höchstgerichtlicher Urteile übertragen,76 was einer Schwächung der kaiserlichen Rolle als Wahrer des Friedens gleichkam.77 Im Gegenzug wurde die Bedeutung des Reichskammergerichts durch eine erweiterte und deutlich detailliertere Ordnung erhöht.78 Eine der ErweiteWeber (Fn. 37), S. 81. Udo Gittel, Die Aktivitäten des Niedersächsischen Reichskreises in den Sektoren „Friedenssicherung“ und „Policey“ (1555 – 1682), Hannover 1996. 76 Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Regionen in der Frühen Neuzeit. Reichskreise im deutschen Raum, Provinzen in Frankreich, Regionen unter polnischer Oberhoheit: Ein Vergleich ihrer Strukturen, Funktionen und ihrer Bedeutung, Berlin 1994; Winfried Dotzauer, Die deutschen Reichskreise (1383 – 1806). Geschichte und Aktenedition, Stuttgart 1998; Wolfgang Wüst (Hrsg.), Reichskreis und Territorium: Die Herrschaft über der Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise, Stuttgart 2000; Gabriele Haug-Moritz, Grafenvereine und Reichskreise in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Eckart Conze / Alexander Jendorff / Heide Wunder (Hrsg.), Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert, Marburg 2010; Wolfgang Wüst / Michael Müller (Hrsg.) unter Mitarbeit von Regina Hindelang, Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa – Horizonte und Grenzen im spatial turn, Frankfurt a. M. u. a. 2011. 77 Gotthard (Fn. 2), S. 4. 74 75
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rungen bestand in der Einbeziehung des sogenannten Fiskals in das System kollektiver Sicherheit, indem dessen Tätigkeit und Zuständigkeit im Rahmen der Reichskammergerichtsordnung von 1555 ausführlich erläutert und festgelegt wurde.79 Seine Funktion war die eines öffentlichen Anklägers, der bei verschiedenen Verletzungen der kaiserlichen Interessen und der öffentlichen Ordnung des Reichs einzuschreiten hatte. Dazu zählte seit Anfang des 16. Jahrhunderts die Aufsicht über den Landfrieden, aber auch Verstöße gegen die Treuepflicht gegenüber dem Kaiser, beispielsweise der Eintritt in fremde Kriegsdiente. Ein eigenes Fiskalat wurde Ende des 16. Jahrhunderts auch am kaiserlichen Reichshofrat etabliert, vermutlich, um die „fiskalischen Sachen vom geschwächten Reichskammergericht auf den Reichshofrat zu verlagern“80. Der kaiserliche Reichshofrat war – ganz im Unterschied zum Reichskammergericht – nicht als Schutzinstitut der Friedensordnung geschaffen worden, sondern aus der 1497 / 98 im Zuge von Verwaltungsreformen erfolgten Umstrukturierung des kaiserlichen Hofrats hervorgegangen.81 Die jüngste Forschung sieht darin einen Ausdruck politischen Kalküls, dem 1495 konstituierten, ständisch geprägten Reichskammergericht ein kaiserlich kontrolliertes Höchstgericht gegenüberzustellen und damit wieder die politische Initiative im Rahmen der Reichsreform zurückzuerhalten.82 Neben der rechtsprechenden Funktion war der Reichshofrat auch höchster Lehnsgerichtshof und beratendes Gremium des Kaisers.
Laufs (Fn. 53). Björn Alexander Rautenberg, Der Fiskal am Reichskammergericht. Überblick und exemplarische Untersuchungen vorwiegend zum 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2008; vgl. Laufs (Fn. 53), S. 99. 80 Gernot Peter Obersteiner, Das Reichshoffiskalat 1596 bis 1806. Bausteine zu seiner Geschichte aus Wiener Archiven, in: Anette Baumann u. a. (Hrsg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich, Köln / Weimar / Wien 2003, S. 89 (98). 81 Oswald von Gschließer, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806, Wien 1942; Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens, Aalen 1973; ders. (Hrsg.), Die Ordnungen des Reichshofrates, 2 Bde., Köln / Weimar 1980 – 1990; Peter Moraw, Art. Reichshofrat, in: HRG 4 (1990), Sp 630; Volker Press, Der Reichshofrat im System des frühneuzeitlichen Reiches, in: Friedrich Battenberg / Filippo Ranieri (Hrsg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. FS Diestelkamp, Weimar / Köln / Wien 1994, S. 349; Wolfgang Sellert, Der Reichshofrat, in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 1996, S. 15. 82 Eva Ortlieb, Vom königlichen / kaiserlichen Hofrat zum Reichshofrat. Maximilian I., Karl V., Ferdinand I., in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451 – 1527), Köln / Weimar / Wien 2003, S. 221; dies., Die Entstehung des Reichshofrats in der Regierungszeit der Kaiser Karl V. und Ferdinand I. (1519 – 1564), Frühneuzeit-Info 17 (2006), S. 11. 78 79
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Grundsätzlich hatten Reichskammergericht und Reichshofrat fast identische Kompetenzen inne, also die erstinstanzliche Zuständigkeit bei Landfriedensbruch und bei Klagen, die von oder gegen Reichsunmittelbare erhoben wurden. Ausschließliche Zuständigkeit besaß der Reichshofrat in allen Angelegenheiten, welche die kaiserlichen Reservatrechte betrafen, also die Verleihung von kaiserlichen Privilegien, Standeserhöhungen, Volljährigkeitserklärungen, Schutz- und Schirmbriefen sowie Lehenssachen. Von besonderer Bedeutung erwies sich vor allem die Funktion von Reichskammergericht und Reichshofrat als höchste Appellationsinstanzen im Reich, die nur durch Appellationsprivilegien des Kaisers eingeschränkt werden konnte. Um diese zu erhalten, mussten die Reichsstände in ihren Territorien mehrinstanzliche Gerichtssysteme einrichten, wobei die höchsten Gerichte als Vorbild fungierten. Die Überprüfung der Urteile von territorialen Gerichtsinstanzen im Zuge von Appellationen übte einen zusätzlichen starken Anpassungsdruck auf die Reichsstände aus, sich an der Durchsetzung der Friedensordnung des Reiches auf territorialer Ebene zu beteiligen. Ein zentraler Unterschied zwischen den beiden höchsten Gerichten des Alten Reiches bestand jedoch hinsichtlich des praktizierten Verfahrens im erstinstanzlichen ordentlichen Prozess.83 Während der Prozess am Reichskammergericht (Kameralprozess) durch eine immer weiter ausdifferenzierte, detaillierte Ordnung geregelt wurde, verlief das Verfahren am Reichshofrat entlang eines nicht festgeschriebenen stilus curiae. Das bezog sich auch auf den Achtprozess.84 Dadurch erwies sich der Reichshofrat als deutlich flexibler und bot den Rechtsuchenden eine Reihe von Handlungsspielräumen. Das weniger streng formalisierte Verfahren lässt sich nicht auf mangelnde Professionalisierung zurückführen, sondern wird von der neuesten Forschung in Zusammenhang mit der Funktion des Kaisers als Wahrer des Friedens gebracht. Zwar nahm er diese Aufgabe auch als oberster Richter wahr, aber – unabhängig von der Möglichkeit, Übergriffe gerichtlich zu ahnden – „bot die Anrufung des Kaisers und eine rasch, vielleicht nur allgemein formulierte kaiserliche Anordnung, die Rechte des Konfliktgegners zu beachten, eine wirksamere Möglichkeit, Übergriffe zu verhindern oder einzudämmen.“85
Vor diesem Hintergrund bestätigt sich erneut die Vermutung, dass es sich bei beiden Höchstgerichten nicht um ein Konkurrenzverhältnis handelte, sondern diese im Rahmen der Friedensordnung und des dafür geschaffenen Systems kollektiver Sicherheit unterschiedliche Funktionen innehatten.
83 Eva Ortlieb, Das Prozeßverfahren in der Formierungsphase des Reichshofrats (1519 – 1564), in: Peter Oestmann (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilsprozeß, Köln / Weimar / Wien 2009, S. 117. 84 Weber (Fn. 37), S. 81. 85 Ortlieb (Fn. 83), S. 132.
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„Während das Reichskammergericht Aufgaben des Kaisers als oberster Richter wahrnahm, war der Reichshofrat im Interesse der Wahrung des Rechtsfriedens in erster Linie für Angelegenheiten zuständig, die sich so nicht oder nicht am vorteilhaftesten regeln ließen.“86
Auf diese Weise gelang es Kaiser Karl V. und Ferdinand I., die auf anderen Feldern verlorengegangenen Kompetenzen im Bereich der Friedenswahrung und -sicherung wieder auszugleichen. „Kaiser und Reichshofrat hielten an der Acht auch dann noch fest, als das RKG auf dieses Rechtsmittel verzichtete.“87 Dadurch war es möglich, den kaiserlichen Anspruch als Wahrer des Friedens aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die kaiserliche Macht zu repräsentieren. Allerdings muss bedacht werden, dass das bis Mitte des 16. Jahrhunderts entwickelte System zur Sicherung der Friedensordnung keinesfalls als statisch zu begreifen ist, sondern sich im Verlauf der Frühen Neuzeit weiter wandelte. Dies lässt sich gerade bei den beiden höchsten Gerichten des Alten Reiches sehen. Zwar bestand ihr Zweck in erster Linie darin, für die Aufrechterhaltung des Ewigen Landfriedens zu sorgen, aber – wie in der Zwischenzeit durch quantitative Untersuchungen bekannt ist – erweiterten sich nicht nur die Zuständigkeiten sukzessive, sondern auch die Inanspruchnahme stieg bei den einzelnen Gerichten phasenverschoben an.88 Hinsichtlich der zeitlichen Inanspruchnahme lässt sich feststellen, dass das Reichskammergericht nach 1648 gegenüber dem kaiserlichen Reichshofrat allmählich an Bedeutung verlor.89 Das 18. Jahrhundert gilt aufgrund seiner hohen Inanspruchnahme als Jahrhundert des Reichshofrats. Wenn die durch die Nutzung erzielten Rückkopplungseffekte auf die Institutionen stärker in Betracht gezogen werden, kann die nach 1648 gegenüber dem Reichskammergericht angestiegene Inanspruchnahme des Reichshofrats folgendermaßen gedeutet werden: Dies geschah offenbar nicht, weil die Institution dem Kaiser als machtpolitisches Instrument gegenüber den nach Souveränität strebenden Reichsfürsten diente wie es die ältere Forschung lange Zeit behauptet hat.90 Die Gründe liegen vielmehr in der zunehmenden Aneignung des Reichshofrats als Gericht, und zwar nicht allein durch die Untertanen im Bereich von Herrschaftskonflikten mit ihren Obrigkeiten, sondern von unterschiedlichsten Personen, Gruppen und Korporationen, wobei hier auch veränderte Rahmenbedingungen zum Tragen kamen.91 Betrachtet man die
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Ortlieb (Fn. 83), S. 135. Weber (Fn. 37), S. 81. 88 Vgl. Eva Ortlieb / Gert Polster, Die Prozessfrequenz am Reichshofrat (1519 – 1806), ZNR 26 (2004), S. 189; Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, 2 Bde., Köln / Wien 1985. 89 Vgl. Anette Baumann, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 2001. 90 Vgl. Westphal (Fn. 4). 87
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Fülle der in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert am Reichshofrat anhängig gemachten Konflikte, gewinnt man den Eindruck, als ob auf dem Rechtsweg grundsätzliche dynastische, wirtschaftliche, religiöse oder gesellschaftliche Probleme gelöst werden sollten. 92 Mehr und mehr Bereiche, die zuvor keinen Regelungsbedarf hervorgerufen hatten oder ohne Einschaltung von Gerichten gütlich geschlichtet worden waren, sollten nun an höchster Stelle rechtlich geklärt werden. Dies verweist auf eine Destabilisierung der frühneuzeitlichen Gesellschaft in dieser Zeit und einem ausgeprägten Bedürfnis nach Wiederherstellung der Ordnung durch die Inanspruchnahme von Institutionen. Der stark gestiegene Regelungsbedarf heizte offenbar die Justiznachfrage an, woraus wiederum eine stärkere Inanspruchnahme des Reichshofrats resultierte. Neben dezidierten Verfahren in Landfriedensbruchsachen behandelten also die höchsten Gerichte phasenverschoben eine Reihe von weiteren Streitgegenständen, die im Verlauf der Frühen Neuzeit immer stärker die Tätigkeit der Gerichte bestimmten. Nichtsdestotrotz trugen sie auch auf diese Weise zur Befriedung der frühneuzeitlichen Gesellschaft und damit der Friedensordnung des Reiches bei. c) Vollstreckungspraxis. Aufgrund der quantitativen Analysen der Reichskammergerichtsprozesse von Filippo Ranieri ist bekannt, dass in den ersten Jahrzehnten der Tätigkeit des Reichskammergerichts erstinstanzliche Prozesse primär als Klage wegen Landfriedensbruch auftraten. Im Schnitt handelte es sich dabei um zehn bis fünfzehn Prozent aller Verfahren, 1527 bis 1529 sogar um 23 Prozent.93 In der Zwischenzeit hat die Forschung betont, dass es sich dabei vor allem um die oben genannten Reformationsprozesse handelte. Jürgen Weitzel geht sogar davon aus, dass ab Mitte des 16. Jahrhunderts mit dem Einsetzen des Mandatsverfahrens rund die Hälfte aller am Reichskammergericht anhängigen Prozesse Landfriedensbruch betrafen. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gingen jedoch nicht nur die erstinstanzlichen Verfahren, sondern der Streitgegenstand „Landfriedensbruch“ insgesamt zurück.94 Entscheidend dürfte dafür gewesen sein, dass es mit dem Augsburger Religionsfrieden eine rechtliche Klärung der Reformationsprozesse gegeben hat. Über die Behandlung von Landfriedensbrüchen am Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert existieren nur im Zusammenhang mit der Verhängung 91 Siegrid Westphal, Stabilisierung durch Recht. Reichsgerichte als Schiedsstelle territorialer Konflikte, in: Ronald Asch / Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2005, S. 235. 92 Siegrid Westphal, Der Reichshofrat – Kaiserliches Machtinstrument oder Mediator? in: Leopold Auer / Werner Ogris / Wolfgang Sellert (Hrsg.), Höchstgerichte im Europa der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2007, S. 115. 93 Ranieri (Fn. 88), S. 241. 94 Weitzel (Fn. 25), S. 48.
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der Acht neuere Erkenntnisse.95 Daraus ergibt sich, dass das Reichskammergericht in diesem Zeitraum bei Achtverfahren quantitativ am meisten frequentiert wurde, auch wenn beide Höchstgerichte für die Einhaltung des Landfriedens zuständig waren. Bis zum Jahr 1698 bzw. 1709 wurden 229 ergangene Achturteile des Reichskammergerichts ermittelt. Dem stehen 32 Achturteile von Kaiser und Reichshofrat gegenüber. Drei Viertel aller Fälle betrafen Achturteile wegen Gerichtsungehorsams, wobei der ursprüngliche Streitgegenstand nicht ein Landfriedensbruch sein musste, ein Viertel bezog sich auf Landfriedensbruch. Die meisten Ächtungen resultierten also aus Ungehorsam gegenüber einer Prozesspartei, wobei zwischen zwei Arten unterschieden werden kann: zum einen eine grundsätzliche Verweigerungshaltung gegenüber dem Gericht, zum anderen die Contumacialacht wegen Missachtung von bereits ergangenen gerichtlichen Mandaten und Urteilen. Häufig war bei diesen Prozessen der Reichsfiskal beteiligt.96 Im Verhältnis zu den anhängigen Prozessen wegen Landfriedensbruch scheint es in der Praxis demnach nur relativ selten zur Ächtung wegen dieses Tatbestandes gekommen zu sein.97 Wenn dieser Fall jedoch eintrat, dann handelte es sich häufig um große Fehden mit kriegsähnlichem Charakter, welche die Friedensordnung des Reiches massiv gefährdeten. Der Kaiser und das Reichskammergericht waren entsprechend des Systems kollektiver Sicherheit beide berechtigt, die Acht zu verhängen und haben dies bei den prominenten und bekannten Fällen auch getan, ohne dem anderen dieses Recht abzustreiten.98 Bei der Hildesheimer Stiftsfehde 1519 bis 1523, bei Götz von Berlichingen, Franz von Sickingen, Albrecht Alkibiades von Brandenburg-Kulmbach oder Wilhelm von Grumbach traten sowohl der Kaiser als auch das Reichskammergericht bei der Verhängung der Acht in Erscheinung.99 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts und vor allem im Dreißigjährigen Krieg kam es im Umfeld des böhmischen Aufstands zu einer Neuformulierung des kaiserlichen Rechtstandpunkts, der das 1495 geschaffene System kollektiver Sicherheit massiv in Frage stellte. Es ging dabei um die Mitwirkung der Reichsstände bzw. des Reichstags bei der Verhängung der Acht. Der Reichshofrat vertrat hier den kaiserlichen Standpunkt, dass bei offenkundigem Landfriedensbruch und notorischer Rebellion kein Prozess mit Vorladung und Anhörung des Beklagten notwendig sei und die Schuldigen „mit der Tat der Achtstrafe“ verfielen.100 Dabei berief sich der Reichshofrat auf die 95 Weber (Fn. 37), S. 80 f.; vgl. Dietrich Landes, Achtverfahren vor dem Reichshofrat, jur. Diss. Frankfurt a. M. 1964. 96 Weber (Fn. 37), S. 70. 97 Weber (Fn. 37), S. 73. 98 Weitzel (Fn. 25), S. 46. 99 Weber (Fn. 37), S. 69. 100 Christoph Kampmann, „Der Leib des Römischen Reichs ist der Stände Eigentum und nicht des Kaisers“: Zur Entstehung der Konkurrenz zwischen Kaiserhof und
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Landfriedensordnung des Reichstags von 1559. Der Reichshofrat legte deshalb auch großen Wert darauf, in solchen Fällen nicht als Gericht, sondern als gutachterliches Beratungsgremium des Kaisers aufzutreten. Dieser Rechtsstandpunkt des Reichshofrats kam dann bei verschiedenen kaiserlichen Achterklärungen zum Tragen (Ernst von Mansfeld, 1621 Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz sowie weitere Reichsfürsten),101 was von protestantischer Seite als radikaler Bruch des Systems kollektiver Sicherheit gesehen wurde. Die Frage, in welcher Form die Acht über Friedensbrecher verhängt werden sollte, war eine Grundsatzfrage, und wurde wohl deshalb auf dem Westfälischen Frieden zurückgestellt.102 Erst im Kontext der Diskussionen über die Wahlkapitulation von Kaiser Karl VI. 1711 kam es zu einer Klärung.103 Letztlich kehrten Kaiser und Reich hier wieder zum ursprünglichen System zurück und legten das Mitspracherecht der Reichsstände beim Achtverfahren erneut fest, wobei sich allerdings eine Verschiebung der Kompetenzen zwischen Reichstag und Höchstgerichtsbarkeit feststellen lässt. Landfriedensbruchsachen wurden nun zu reinen Justizangelegenheiten deklariert, es sei denn, die Geschädigten oder der Fiskal klagten auf die Acht. In letzterem Fall kam es zu einer deutlichen Einschränkung der höchstgerichtlichen Kompetenzen, die zugunsten des Reichstags beschnitten wurden. Wenn es sich um massive Störungen der Friedensordnung im Reich handelte, dann sollte der Kaiser die Angelegenheit parallel zum Verfahren an den Reichsgerichten an den Reichstag bringen und ein Gutachten abfordern. Eine beeidigte Reichsdeputation aus allen drei Kollegien und in paritätischer Besetzung sollte die Angelegenheit prüfen und vor dem Reichstag referieren, wo schließlich ein Beschluss darüber gefasst werden sollte, ob es sich um einen Landfriedensbruch mit der Folge der Achtverhängung handelt. Erst dann durften die höchsten Gerichte weiter verfahren.104 Mit dieser Wiederherstellung des Systems zur Sicherung der Friedensordnung scheint der Landfriedensbruch sein Bedrohungspotential verloren zu haben. Die Gefährdungen lagen nun auf einem anderen Feld, die sich nicht mehr durch juristische Schutzinstitute eindämmen ließen. Bezeichnender-
Reichstag beim Achtverfahren, in: Wolfgang Sellert, Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis, Köln / Weimar / Wien 1999, S. 169 (175). 101 Christoph Kampmann, Reichsrebellion und kaiserliche Acht. Politische Strafjustiz im Dreißigjährigen Krieg und das Verfahren gegen Wallenstein 1634, Münster 1992. 102 Anton Schindling, Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg, Mainz 1991, S. 123. 103 Kampmann (Fn. 100), S. 171. 104 Eine detaillierte Beschreibung des Verfahrens findet sich bei Johann Jacob Moser, Teutsches Staats-Recht, Bd. 1, Nürnberg 1737, S. 249.
Reichskammergericht, Reichshofrat und Landfrieden
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weise wurde das 1711 geschaffene Instrumentarium bis zum Ende des Alten Reiches niemals bis zum Ende durchgeführt.
III. Ausblick Das Alte Reich weist keine geschriebene Verfassung im heutigen Sinne auf. Vielmehr bildete sich ausgehend vom 1495 geschaffenen Ewigen Landfrieden eine Reihe von Reichsgrundgesetzen und Institutionen heraus, die als wesentlichen Kern die Aufgabe hatten, nicht nur den Frieden an sich, sondern auch die dadurch geschaffene Friedensordnung des Reichs zu bewahren und zu schützen. Zur Beschreibung dieser Entwicklung bietet sich das Modell eines Systems kollektiver Sicherheit an, das im Verlaufe der Frühen Neuzeit in Reaktion auf Bedrohungen des Friedens und diverse Sicherheitsdilemmata immer weiter ausgebaut wurde. Durch die Anwendung dieses Modells auf die spezifische Reichsverfassung und ergänzt durch neuere Institutionentheorien ist es auch möglich, die verschiedenen Untersuchungen zu einzelnen Reichsgrundgesetzen und Reichsinstitutionen aufeinander zu beziehen und Abhängigkeiten in ihrer Entwicklung aufzuzeigen. Dreh- und Angelpunkt war die Bewahrung des Friedens und der Friedensordnung, die immer als eine gedachte Ordnung zu begreifen ist. Um die Tragfähigkeit des Ansatzes zu prüfen, müsste die Landfriedensthematik im Verlauf der Frühen Neuzeit noch eingehender in den Blick genommen werden. Diese Geschichte ist jedoch noch nicht geschrieben. Möglicherweise bietet sich hier ein neuer Schlüssel zur Verfassungsgeschichte des Alten Reiches.
Aussprache Gesprächsleitung: Härter
Härter: Vielen Dank, Frau Westphal für diesen Überblick über das, was wir vielleicht Verfassungsschutz im vormodernen Alten Reich nennen könnten, das vielleicht eine Friedensordnung, ein politisches System bzw. Verfassungssystem oder ein zusammengesetzter Reichsstaat war, jedenfalls eine Art föderales Gebilde. Und im Zentrum dieses föderalen Gebildes stand als Schutzobjekt sozusagen der Frieden und damit als Verfassungsbedrohung vor allem die gewaltsamen Konflikte zwischen den sehr unterschiedlichen Mitgliedern dieser Verfassungsordnung und dieses Systems. Und sehr wichtig dabei war, dass diese Konflikte auf der Ebene des justiziellen Verfassungsschutzes gelöst werden sollten. Ob dies in der Praxis tatsächlich immer so funktioniert hat, ist eine offene Frage. Sehr interessant war auch zu sehen, dass im Grunde der exekutive Verfassungsschutz an die Reichsacht angekoppelt war, d. h. zunächst über den justiziellen Verfassungsschutz, der in diesem Sinne nicht dominant war, sondern ergänzend hinzugetreten ist. Wir haben nun die Möglichkeit, da wir noch viel Zeit haben, diesen Vortrag ausgiebig zu diskutieren. Ich darf Sie zunächst einmal darauf aufmerksam machen, dass wir die Diskussionen immer mitschneiden und in unserem Tagungsband publizieren; ich möchte sie daher bitten, immer eingangs zu Ihren Fragen Ihren Namen zu nennen und vielleicht den Ort, an dem Sie tätig sind; das erleichtert hinterher die Zuordnung der Mitschnitte. Ruppert: Frau Westphal, man kann natürlich, wenn man will, das Reich als eine kollektive Sicherheits- und Friedensordnung beschreiben, aber man muss vielleicht einmal die Frage nach der Effektivität stellen. Und da möchte ich zu Beginn eine These wagen, ich weiß nicht, ob sie stimmt, die Kollegen der Frühen Neuzeit sollen es korrigieren. Ich würde einmal behaupten, dass in dem Zeitraum, den Sie behandelt haben, es in Europa in keiner anderen Monarchie so viel Rechts- und Friedensbrüche gegeben hat wie im Alten Reich. Meine Frage an Sie: Warum war das so? Und wenn man Ihren Vortrag sich anhört, kann man auf die Idee kommen, dass genau die Instrumente, die sie vorgestellt haben, die absolut inadäquaten gewesen sind für Rechts- und Friedenssicherung im Alten Reich. Das heißt, sowohl der immer wieder erneuerte Landfriede von 1495 als Norm war völlig unbrauchbar, als auch die beiden Instrumente, das Reichskammergericht und Reichshofrat. Und
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warum waren sie wahrscheinlich inadäquat? Ich vermute einmal, sie waren es deswegen, weil die Instrumente wie die Norm geschaffen worden sind, zur Bekämpfung von Landfriedensbrechern. Das heißt, man hat dabei fehdefähige Individuen, meistens Adlige und so etwas im Auge gehabt. Und das ist nie mehr den wahren Verhältnissen angepasst worden, wie so vieles im Alten Reich, nämlich der Tatsache, dass sich natürlich die Territorien immer stärker zu Staaten entwickelten und damit die Potenz, sowohl die militärische wie die fiskalische hatten, um im ganz anderen Maßstab den Frieden zu brechen, als das die Instrumente und Normen von 1495 vorgaben. Westphal: Ja, ganz herzlichen Dank für den Kommentar. Die Frage liegt natürlich nahe, ob diese Instrumentarien wirklich effektiv waren. Das ist ja ein „Standardvorwurf“, auch gegenüber dem Alten Reich. Da haben wir Frühneuzeithistoriker uns lange genug daran abgearbeitet, um genau diesem Vorwurf zu begegnen. Das Thema Landfriedensbruch, und das ist die Problematik, die hier vielleicht etwas missverständlich herübergekommen ist, das ist ein Thema des 16. Jahrhunderts. Und da geht es um die Durchsetzung der Friedensordnung des Reiches. Wie stark der Landfrieden dann in späteren Zeiten wirklich eine Rolle gespielt hat, das wissen wir einfach nicht. Wie viele Fälle von Landfriedensbruch überhaupt an den höchsten Gerichten verhandelt worden sind, das ist eine Leerstelle. Hier müssen wir auf jeden Fall einmal genauer hinsehen. Ich meine schon, dass die Instrumentarien effektiv waren, weil man letzten Endes die Ursprungsproblematik, nämlich das Fehdewesen, in der Tat hat eindämmen können, und dann kommt mit der Reformation eine ganz neue Thematik. Diese Thematik, also die konfessionelle Auseinandersetzung, führt in anderen europäischen Ländern deutlich früher zu Glaubens- und Religionskriegen. Und vor diesem Hintergrund ist es schon eine der großen Leistungen der Friedensordnung, dass sie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts das Reich in konfessioneller Hinsicht befriedet. Zumindest einmal funktioniert die Friedensordnung. Sehen wir uns einmal andere Länder an wie Frankreich beispielsweise, da haben wir die Hugenottenkriege [Wortmeldung von hinten]. Ich gebe jetzt einfach nur die Forschung wieder. Sie sagt, zumindest einmal in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, sie funktioniert. Und man kann behaupten, dass hier dann ein Weg gefunden wird, auf den man immer wieder zurückgreifen kann. Das ist bedeutend angesichts der komplexen konfessionellen Problematik – und das ist ja einfach die Dominierende, die dann auch noch bis in das 17. Jahrhundert hinein zu massiven Verwerfungen führt. Dieser Ansatz führt letzten Endes zu einem Instrumentarium: Und wenn die Verwerfungen noch so groß sind, man hat im Grunde die Regelungen von 1495 und kann sich immer wieder darauf verständigen. Man sieht, letzten Endes existiert das Heilige Römische Reich Deutscher Nation bis 1806, über 300 Jahre lang, und geht eben nicht aufgrund mangelnder Instrumentarien unter. Also [… Wortmeldung von hinten.] Die Instrumentarien sind gewissermaßen für das Fehde-
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problem entwickelt worden, aber letzten Endes werden sie kontinuierlich weiterentwickelt. Man schafft neue Mechanismen und es gelingt dadurch eben immer wieder, den Status Quo und den Frieden im Reich wieder herzustellen. Härter: Vielen Dank. Wir sind schon mitten im Zentrum der Diskussion: „Was kann ein justizieller Verfassungsschutz überhaupt leisten?“ Die Kritik war nun eher so, dass sie im Grunde exekutiv-präventive Funktionen vom justiziellen Verfassungsschutz gefordert hat. Ob das überhaupt möglich ist, ist eine offene Frage. Und die zentrale Frage wäre, ob der justizielle Verfassungsschutz soweit Konflikte kanalisieren konnte – und nicht präventiv verhindern –, dass damit ihre verfassungssprengende Wirkung in gewisser Weise gedämpft wurde. Als nächsten Diskutanten haben wir Herrn Schmidt auf der Liste. Schmidt: Ich würde grundsätzlich Herrn Ruppert widersprechen wollen, denn dazu müsste man zwei Dinge erst einmal klären. Was ist eigentlich im Alten Reich ein Rechtsbruch? Und das heißt, was ist eigentlich Recht und was ist das Verfassungsrecht, das gebrochen werden kann? Und ich möchte betonen, dass die Ordnung im Alten Reich relativ flexibel war und insofern besser funktioniert hat als andere Ordnungen, obwohl es vielleicht weniger Rechtsbrüche, dafür aber sehr viel mehr innere Kriege gab. Das ist ja das, worauf Sie hinaus wollten, dass im Reich irgendwann der Rechtsbruch sich zum inneren Krieg entwickelt. Wenn im Siebenjährigen Krieg von kaiserlicher Seite noch argumentiert wird mit 1495 und dem Landfrieden, so zeigt dies, dass eigentlich jede innere Ordnung den inneren Frieden als höchstes Ziel postuliert. Insofern haben wir Frau Westphal dafür zu danken, dass Sie uns das noch einmal vorgeführt hat. Ich glaube, dies ist eine ganz wichtige Aussage. Ich glaube auch, dass diese Orientierung auf den Landfrieden vergleichsweise sehr gut funktioniert und den inneren Frieden im Reich relativ lange bewahrt hat. Ich habe aber noch ein anderes Problem: das System kollektiver Sicherheit. Für mich war das bisher eine Beschreibung von etwas, das genau das nicht kannte, was Frau Westphal gerade vorgeführt hat, nämlich feste Ordnungen und Institutionen, um diese Ordnung durchzusetzen, sondern eine lockere und teilweise informelle Übereinkunft über gewisse Regeln zum Vorteil aller, die sich darüber verständigt haben, um sich nicht permanent im Krieg zu finden. Wenn jetzt dieser Begriff auch für fixierte Ordnungen verwandt wird, worin liegt dann der Unterschied zum Staat? Westphal: Jetzt sind wir schon bei den grundsätzlichen Fragen (lacht). Also, zunächst einmal möchte ich noch einen Punkt aufgreifen. Es gibt natürlich Definitionsversuche, was Landfriedensbruch ist. Systematisierungsversuche, auch noch im 18. Jahrhundert von Moser, der ganz klar sagt, es müssen bestimmte Faktoren gegeben sein. Es muss im Prinzip öffentliche
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Gewalt ausgeübt werden, es muss massive Gewalt sein. Das muss mit Vorsatz geschehen, also eine böse Absicht dahinter stehen und es müssen im Grunde Truppen ausgehoben worden und militärische Aktionen sichtbar sein. Zumindest im 18. Jahrhundert hat man hier ganz klare Vorgaben, was Landfriedensbruch sein soll. Natürlich gibt es dann auch den Vorwurf des Landfriedensbruchs an den Gerichten, der erhoben wird, wo dann einzelne Faktoren fehlen, aber letzten Endes gibt es eine klare Definition. Zu den Ideen des „Systems kollektiver Sicherheit“: Wir verbinden das heutzutage automatisch mit solchen Institutionen wie beispielsweise der UNO oder anderen multilateralen Organisationen. Ich habe aber mir noch einmal intensiver die politikwissenschaftlichen Diskussionen über das System kollektiver Sicherheit angesehen. Es gibt eben eine ganze Vielfalt an Systemen kollektiver Sicherheit. Und wenn man diese aufgreift und definiert, dann kann man mit diesem Instrumentarium arbeiten. Denn die Idee – zeitgenössisch ausgedrückt – der „Einung“ drückt eigentlich nicht das aus, was dann letzten Endes 1495 geschieht. Hier wird ja wirklich ein ineinandergreifendes System von Gesetzen und Institutionen geschaffen. Wie diese Dinge exekutiert werden sollen, ist eigentlich angedacht, aber letzten Endes liegt da ja auch im Grunde nicht der Fokus darauf. Das ist wirklich erst einmal der Punkt zu sagen, wir wollen hier keine Gewalthandlungen haben. Und daher sehe ich die größte Leistung von 1495 in der Formulierung dieses kategorischen Gewaltverbotes. Dann folgt erst die Organisation entlang dieses kategorischen Gewaltverbots. Das ist für mich eigentlich schon zentral, dass man zumindest darüber nachdenken kann, dieses Modell anzuwenden und das finde ich auch eigentlich sehr spannend. Ja, Staat: Die Diskussion, was hier der Unterschied zu Staaten oder zum Begriff der Staatlichkeit ist: Ich wollte eigentlich diese Diskussion heute nicht führen. Es ist eher ein Versuch gewesen, das Alte Reich aus der Perspektive einer Friedensordnung zu betrachten und zu schauen, welche Mechanismen entwickelt worden sind, diese Friedensordnung zu schützen und das mit dem Modell des Systems kollektiver Sicherheit zu erklären. In Verfassungsgeschichten findet man natürlich immer wieder die Hinweise darauf, dass hier das staatliche Gewaltmonopol letzten Endes sichtbar wird und Ähnliches mehr, aber ich weiß nicht, ob uns das jetzt wirklich weiterführt, wenn wir diese Staatsdiskussion hier aufgreifen. Ich habe das einfach umgangen, bin dem aus dem Wege gegangen. Härter: Vielen Dank, der Nächste ist Herr Steiger. Steiger: Ich kann genau an diese Diskussion anknüpfen. Ich gehe jetzt einmal als Völkerrechtsjurist vor. Das System kollektiver Sicherheit ist ein völkerrechtliches System, vereinbart durch Verträge. Ob man sich dem anschließt oder nicht, steht jedem Staat offen. Wir sind heute gewöhnt, dass alle Staaten dieser Welt, 196 sind es glaube ich im Augenblick, der UNO
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angehören, und damit diesem System der kollektiven Sicherheit. Kann man das übertragen? Das mag für den schwäbischen Bund vielleicht gehen, ich habe das auch mit Herrn Carl diskutiert, aber ob das auf das übertragbar ist, was Sie eben gesagt haben, scheint mir zweifelhaft. Natürlich ist der Landfrieden vereinbart, aber verabschiedet ist er als Gesetz und da war kein Reichsstand, keiner, frei zu sagen, da mache ich nicht mit, sondern er machte mit, er musste mitmachen. Insofern scheint mir ein zentraler Unterschied gegeben zu sein. Das würde also für das kollektive System gelten. Das Zweite ist: Wie funktioniert das System kollektiver Sicherheit, das ja übrigens eine moderne Erfindung des 19. und 20. Jahrhunderts ist. Weil man nicht zu weltstaatlichen oder europastaatlichen Konstruktionen kommen konnte, hat man dieses System, aufbauend auf Gleichheit und Souveränität, errichtet. Auf das 16. Jahrhundert würde ich diesen Begriff oder diese Konstruktion, auch institutionell, nicht übertragen wollen. Denn das System kollektiver Sicherheit ist so angelegt, dass es eben kein Gericht kennt. Der Internationale Gerichtshof ist in dieses System überhaupt nicht involviert, nicht einbezogen. Sie haben aber gerade das Justizielle, das Rechtliche betont und das scheint mir auch wesentlich zu sein. Es wird im Sicherheitsrat – wir erleben das ja im Augenblick und wir erleben es seit Monaten – in all diesen Konflikten ja nicht rechtlich entschieden, obwohl natürlich die Mitglieder immer wieder behaupten, sie entscheiden rechtlich. Sie entscheiden politisch, dass es das Selbstverteidigungsrecht nach wie vor gibt. Ich glaube, man sollte diese strukturellen Unterschiede nicht unterbewerten. Aber danach, das haben Sie, glaube ich, sehr deutlich gemacht, ab 1711 wird das allmählich anders. Und dazu würde ich ein bisschen an das anschließen, was Sie gesagt haben. Das Achtverfahren ist nicht mehr durchzusetzen, weil es politisch nicht durchzusetzen ist. Da sitzen die alle und sagen: Nein, das machen wir nicht mit, aus welchen Gründen auch immer. Das kann ja jetzt dahingestellt sein. Also, ich glaube, dieses Modell kann verwendet werden für das 18. Jahrhundert vielleicht, das muss man noch einmal genauer überprüfen und überlegen, aber nicht für das 16. Jahrhundert. Da würde ich es gerade nicht ansetzen. Das Reichsmodell in gewisser Weise degeneriert zu einem völkerrechtlichen Modell. Dann kommen wir auf diese berühmte Diskussion: Ist das Reich eine Verfassungsordnung oder ist es eine Völkerrechtsordnung? Ich stimme Ihnen zu, es ist eine Verfassungsordnung. Ich würde da dem Kollegen Randelshofer widersprechen. Westphal: Ja, wie gut, dass man ein und dieselbe Sache auch aus verschiedenen Perspektiven betrachten kann. Also, mir ist durchaus bewusst, dass wir, wenn wir diesen Begriff „System kollektiver Sicherheit“ benutzen, sozusagen automatisch die völkerrechtliche Organisationsform vor Augen haben. Aber ich habe mich von politikwissenschaftlicher Seite dieser Thematik genähert und es gibt eben unterschiedliche Systeme kollektiver Sicherheit, zumindest einmal als Modell. Und in diesen unterschiedlichen Modellen gibt
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es zum Beispiel ein kooperatives System kollektiver Sicherheit. Es gibt ein System kollektiver Sicherheit minimaler und maximaler Ordnung, es gibt ein System kollektiver Sicherheit, in dem eine der Mächte die entscheidende Figur ist. Also, man könnte hier durchaus differenzierter mit diesem Modell umgehen. Ich habe überhaupt nicht das Anliegen oder die Vorstellung, das Alte Reich hier irgendwie als eine UNO zu konstituieren. Das liegt mir fern. Es ist einfach ein theoretisches Modell aus der Politikwissenschaft, in ganz vielen Ausdifferenzierungen. Im Grunde kann man sagen, hier bietet sich vielleicht eine Möglichkeit, das Alte Reich noch einmal anders zu betrachten und es prinzipiell in einer kontinuierlichen Entwicklung zu sehen. Es gibt schon einen Unterschied zwischen der juristischen Perspektive, der völkerrechtlichen Perspektive, und eben auch einer politischen Perspektive. Steiger: Ich habe bloß die Sorge, dass mit so einem hochabstrakten Begriff des Systems der kollektiven Sicherheit die strukturellen und institutionellen und inhaltlichen Unterschiede nicht hinreichend erfasst sind. Westphal: Das Problem sehe ich auch. Es war mir auch bewusst, wenn ich das Vokabular von Horst Carl hier weiterverwende, der ja seine Aussagen auf den Schwäbischen Bund bezogen hat, dass das eine gewisse Gefahr birgt. Das heißt für mich einfach nur, dass ich diesen Begriff deutlicher definieren muss und auch klarer machen muss, dass es mir hier eben nicht um die UNO und die völkerrechtliche Dimension geht, sondern im Grunde um eines der vielen Modelle, die unter diesem theoretischen Konstrukt einfach subsumieren. Härter: Vielen Dank. Es haben sich jetzt noch weitere Personen gemeldet. Ich habe noch fünf auf der Rednerliste. Wir haben noch fünfzehn Minuten, wir müssen jetzt also die Debatte relativ konzise führen. Herr Neuhaus ist der Nächste. Neuhaus: Vielen Dank Frau Westphal für Ihren Vortrag. Anschließend an das, was Herr Steiger zuletzt gesagt hat, würde ich auch sehr dafür plädieren, zwischen 16. und 17. und 18. Jahrhundert sehr genau zu unterscheiden, so wie Sie das auch getan haben. Wenn wir uns die Kriege Friedrichs des Großen ab 1740 ansehen, so werden sie reichsrechtlich immer noch in das System des Landfriedensbruchs gekleidet. In den 1740er Jahren greift das Reich nicht ein, 1756 dann allerdings doch, und da tun wir uns ja auch begrifflich sehr schwer, wie wir diesen Krieg einordnen sollen. Ist es eine Reichsexekution gegen Kurbrandenburg, gegen Friedrich, oder ist es ein Staatenkrieg? Mein Ansatzpunkt aber war, weswegen ich mich gemeldet habe, Ihr Anfang. Sie haben ja völlig zu Recht, ausgehend von 1495, gesagt, Friede und Recht, das seien die zentralen Begriffe zur Charakterisierung des Heiligen Römischen Reiches und es sei darum gegangen, wie Friede und Recht geschützt würden. Sie haben das nun ganz konzentriert auf den
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Schutz des Friedens und Landfriedens, und das Beispiel des Zusammenhangs von Augsburger Religionsfrieden und Osnabrücker Friedensvertrag ist ja ganz evident. Rechtsschutz im Reich findet durch Friedensschutz statt, von da her hängt das zusammen, und der Osnabrücker Friedensvertrag schützte das Recht, das im Augsburger Religionsfrieden gesetzt worden war. Meine Frage, die ich daran aber anschließen will: Haben Sie ein anderes Beispiel oder andere Beispiele, um zu zeigen, wo die Ordnung des Heiligen Römischen Reiches auch das Recht schützte? Also zum Beispiel Rechtsschutz in Bezug auf Instanzenweg beim Reichskammergericht? Beschränkt sich das auch auf die immer wieder vorgenommenen Novellierungen des Reichskammergerichtes? Oder wie sieht es etwa mit der rechtlichen Vorgabe gemäß der Wahlkapitulation Karls V. von 1519 aus, wenn etwa formuliert wurde: „Keine Ächtung ohne vorhergehender Anhörung“; deswegen lud er ja Luther vor den Reichstag 1521 nach Worms. Können Sie in diese Richtung etwas sagen? Wie sieht es mit dem Schutz des Rechtes aus? Westphal: Ganz herzlichen Dank. Das ist eine sehr umfassende Frage. Also, der Schutz des Rechtes funktioniert im Heiligen Römischen Reich durch Bestätigung. Das ist eine organische Entwicklung. Im Grunde steht am Ausgangspunkt immer die Bestätigung und der Landfrieden zieht sich sozusagen wie ein Kontinuum durch. Er wird immer wieder bestätigt. Dann wird dieses Organische ergänzt durch neue Mechanismen. Das Reich bleibt ja nicht stehen, sondern man lernt ja immer weiter dazu oder man reagiert eben auch auf neue Problemkonstellationen und dann dockt sich immer Neues an das alte System an. Also es gibt keinen fundamentalen Bruch des Rechtssystems. Es wird niemals grundsätzlich in Frage gestellt, sondern stetig weiterentwickelt. Und auch bei den Gerichten selbst, zunächst zum Reichskammergericht, wird ja die Möglichkeit zugebilligt, das Recht selbst weiterzuentwickeln. Dieser Schutz des Rechts an sich geschieht auf sehr vielen Ebenen. Hierzu gibt es mannigfaltige Beispiele – dazu könnte ich einen eigenen Vortrag halten. Aber ich hoffe, das Prinzip wurde verstanden: Schutz durch immer wieder erfolgte Bestätigung, eigentlich der älteren Gesetze, Institutionen und dadurch eben im Grunde Erneuerung. Neuhaus: Nicht nur, denke ich, immer wieder Bestätigung sondern auch fortlaufende Novellierung. Westphal: Genau das war es, was ich meinte, dass Altes und Neues Hand in Hand gehen. Aber der Ausgangspunkt ist immer, dass man die älteren Grundsätze einfach bestätigt und sagt, das ist unsere Basis. Härter: Herr Brauneder bitte. Brauneder: Danke, ja ich bin jetzt vielleicht ein bisschen ruppig, weil ich kurz sein möchte. Also Schutz der Verfassung kann man doch zumindest in
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zweierlei Weise verstehen, nicht? Den Schutz der Verfassung, die Verfassung als Schutzobjekt, der Schutz vor Revolution im juristischen Sinn, vor Umbruch und Ähnlichem. Da hat mir eigentlich ein Organ gefehlt jetzt in Ihrem Referat, obwohl Sie es dann mehrfach erwähnt haben, nämlich der Reichstag. Also wer schützt die Verfassung vor einem Verfassungsumbruch? Reichstag siehe dann Reichsdeputationshauptschluss. Aber was vielleicht interessanter wäre und diese Intention lese ich da aus dem Untertitel hervor, auch aus dem Titel mehrere Referate, ist nämlich: Wie sieht es mit dem Schutz aus, den die Verfassung gewährt? Die Verfassung kennt gewisse Schutzgüter und wie sieht es mit dem Schutz dieser Güter aus? Und da geht es jetzt nicht nur global um die Friedensordnung sondern da geht es um ganz konkrete Rechtspositionen. Und in diesem Sinn ist auch, ich darf das mit Verlaub so grob sagen, völlig egal was zur Reichsverfassung zählt oder nicht. Es geht darum, welche Rechtsgüter, welche konkreten Rechtssätze haben Reichskammergericht und Reichshofrat in bestimmten Fällen als verletzt angesehen und einen Schutz gewährt. Also, da geht es gar nicht darum, was zählt zur Verfassung des Reiches, obwohl das, jetzt bin ich ruppig, eine völlig müßige Frage ist: Denn vor dem Verfassungsstaat ab etwa der Französischen Revolution, gibt es weit und breit keinen einzigen Staat, der eine einzige geschriebene Verfassung hat, nicht? Und Großbritannien hat sie bis heute nicht. Also dieses Gejammer, verzeihen Sie diesen Ausdruck, das ist völlig müßig. Gut, und jetzt komme ich noch einmal zurück zu Reichskammergericht und Reichshofrat und eigentlich die große Bedeutung, die man dem Reichskammergericht und dem Reichshofrat als Verfassungsgericht so im modernen Sinn zuerkennt – meines Erachtens überwiegend mit Recht und der Herr Kollege Simon, glaube ich, hat ja eingangs darauf Bezug genommen [Vorbemerkung] – das ist dieser Schutz der Rechtspositionen. Das sind die Entscheidungen bei Nachfolgefragen, das sind die Entscheidungen bei Regentschaftsfragen. Es geht hin bei Fragen der Reichsterritorien der Kondominien, die verwaltet werden oder Kondominien sind, wer sind die Miteigentümer? Bis hin zu Beschwerden von Untertanen, ich darf ein konkretes Beispiel bringen: der Grundherrschaft Trauttmansdorff in Niederösterreich gegen den Grundherren. Und da muss ich eigentlich jetzt sagen, sehr verehrte Frau Kollegin, darüber haben Sie uns gar nichts gesagt. Und das ist eigentlich das Zentrum der Verfassungsgerichtsbarkeit von Reichshofrat und Reichskammergericht. Und da bedarf es auch keiner künstlichen Modelle und theoretischen Gebäude. Ich weiß, dass Historiker das sehr gerne machen, offenbar mangels einer genauen Quellenkenntnis, so einen Popanz aufzubauen und dann die Realität daran zu messen, wie das mit der allgemeinen Staatslehre der Fall ist. Nicht? Die allgemeine Staatslehre, das ist eine Staatslehre, die nie gegolten hat, und das finde ich eigentlich ein bisschen bedauerlich. Also, vielleicht ergibt sich in den anderen Referaten noch die Gelegenheit, das nachzubringen, denn genau das ist das, was der Herr Kolle-
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ge Simon auch im Vergleich mit später erwähnt hat, dass es nämlich im Deutschen Bund so etwas nicht gibt. Härter: Herr Willoweit, wollen Sie noch etwas dazu sagen, sodass die Frage gemeinsam mit Herrn Brauneders Frage beantwortet werden kann? Willoweit: Ja, ja, das kann gemeinsam beantwortet werden. Ich wollte fast dasselbe sagen wie Herr Brauneder. Herr Schmidt hat die Frage gestellt: „Was ist denn da überhaupt Recht?“ Rechte sind die individuellen Rechtspositionen. Seit dem 13. Jahrhundert haben sie sich kontinuierlich entwickelt. Diese unglaubliche Fülle von iura quaesita auf verschiedenen Ebenen bildete damals das eigentliche Verfassungssystem. Auf seiner Respektierung bestehen die Inhaber dieser Rechte. Überhaupt ist das Denken in der Frühen Neuzeit, auch bei den Juristen, überwiegend noch nicht da angekommen, wo es sich heute in der Rechtstheorie ganz selbstverständlich bewegt: Recht ist jetzt ein objektives Normensystem und wir sind die Adressaten und haben Rechte nur insofern, als uns dieses Normensystem Rechte zubilligt. Ursprünglich war es genau umgekehrt. Bei Hugo Grotius kann man lesen, „ius proprie aut stricte dictum“ sei das individuelle Recht, während das Gesetz die Regeln für die Ausübung der Rechte festlege. So haben die Leute gedacht, weil es auch noch kaum vorstellbar war, alles und jedes durch eine überschwebende Ordnung des objektiven Rechts zu regeln. Gesetze wie die Landfrieden oder der Augsburger Religionsfrieden bilden eher noch Ausnahmen. Die Masse der Streitigkeiten spielt sich auf einer anderen Ebene ab. Und dann wollte ich nicht versäumen hinzuzufügen, dass auch ich dem Begriff „System kollektiver Sicherheit“ sehr skeptisch gegenüberstehe. Was bringt er im Vergleich zum Begriff „Friedensordnung“, den wir bisher verwendet haben? Und er führt nur in die Irre, in die Gedankenwelt des Kalten Krieges, wo diese Begrifflichkeit gang und gäbe gewesen ist und ganz andere Voraussetzungen hatte. Aber dazu hat Herr Steiger schon alles gesagt. Westphal: Ja, auch kurz und knapp. Natürlich wollte ich Sie nicht langweilen und die umfassende Forschung zu den individuellen Rechtspositionen, zu Rechtsgütern, Schutzgütern etc. schlichtweg wiederholen, sondern ich möchte im Grunde einmal einen neuen Ansatz versuchen, indem ich das ganze Thema auf den Landfriedensbruch konzentriere und ich habe versucht, das mit diesem Modell zu erläutern. Mir ging es darum, die hinter den sogenannten Reichsgrundgesetzen stehende Wertordnung, und das ist eben eine Friedensordnung, und die Bedrohung dieser Friedensordnung, sichtbar zu machen und das im Prinzip über die gesamte Epoche der Frühen Neuzeit hin zu entwickeln. Zu den anderen Themen, die Sie genannt haben: Da sind wir ja in der Forschung der Höchstgerichtsbarkeit doch sehr, sehr weit fortgeschritten. Das ist sozusagen mein Alltagsgeschäft, dazu habe ich genug publiziert, dazu
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kann ich auf ein paar Aufsätze und noch auf einiges andere verweisen. Aber ich wollte hier ein Thema vorstellen, was für die Frühneuzeitforschung doch wirklich noch eine Lücke ist, nämlich der Landfrieden in der Frühen Neuzeit und eben Landfriedensbrüche. Härter: Wir hatten hier rechts noch eine Wortmeldung und dann vielleicht gleich noch einen Kommentar, aber bitte kurz, von Herrn Schmidt und damit schließen wir dann. Heun: Ich wollte auch noch einmal meine Bedenken gegenüber der Verwendung des Begriffs der kollektiven Sicherheit anmelden. Das ist jetzt nicht nur die juristische Perspektive, sondern es ist einfach ein moderner Begriff der voraussetzt, dass es sich um selbständige Einheiten handelt, die jedenfalls in gewissem Sinne Souveränität oder etwas Ähnliches haben. Diesen Begriff auf das 16. Jahrhundert zu übertragen, ist außerordentlich problematisch. In Ihrer Definition kam das auch gar nicht so richtig zum Ausdruck, die war so allgemein gehalten, im Grunde genommen, dass alles, auch selbst staatliche Strukturen, die eine Friedensordnung herstellen, beinahe darunter fallen können. Der Begriff hatte bei Ihnen auch gar keine Konturierung, während ja gerade der Sinn dieses Begriffs der kollektiven Sicherheit im Juristischen eben eine genaue Abgrenzung bedeutet und sich bezieht auf ganz bestimmte Systeme. Insbesondere die UNO ist ein solches System, und das Bundesverfassungsgericht hat auch die NATO dazu gerechnet, worüber man sich schon streiten kann, aber eben gerade z. B. die Europäische Union nicht mehr, weil das schon auch viel zu weit darüber hinaus geschritten ist. Und insofern verzeichnet, meines Erachtens, dieser Begriff die Situation auf jeden Fall des 16. Jahrhunderts. Vielleicht kann man sich in der Tat darüber streiten, ob es im 18. Jahrhundert sinnvoll ist. Zweitens ist diese Konzentration auf den Landfrieden und das, was Sie hier als System kollektiver Sicherheit bezeichnet haben, doch auch insofern irreführend, als die Strukturen innerhalb des Reiches nicht nur diesen Aspekt hatten. Und das Reichskammergericht und der Reichshofrat haben gerade nicht sich nur darauf beschränkt, was aber der Sinn eines Systems kollektiver Sicherheit wäre, sondern es gibt ja eine Vielzahl, auch Herr Brauneder und Herr Willoweit haben gerade darauf hingewiesen, eine Vielzahl von rechtlichen Streitigkeiten. Es handelt sich hier um den Versuch des Reichs, staatliche Strukturen zu schaffen, was im Ergebnis erfolglos war. Aber die Konzentration auf diese Problematik des Systems kollektiver Sicherheit schneidet all das weg und verzeichnet deswegen auch den Verfassungsschutz des Reichskammergerichts und des Reichshofrates. Schmidt: Kurzer Kommentar: Wenn ich gewusst hätte, was ich mit dieser Frage anrichte, hätte ich sie so nicht gestellt. Aber ich glaube, der hohe Rat dieser Veranstaltung sollte darüber einmal nachdenken, ob die kollektiven
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Selbstverständlichkeiten, von denen wir in diesem Kreis ausgehen, so noch gelten. Ich finde mich jedenfalls nicht so ganz richtig verstanden bei dem, was vor allen Dingen Herr Brauneder und in seinem Anschluss Herr Willoweit gesagt haben. Als Historiker würde ich das anders definieren. Und ich nehme mir als Historiker auch durchaus das Recht, einen Begriff wie System kollektiver Sicherheit zu verwenden, denn Begriffe sind dazu da, dass ich mir damit heute etwas verständlich mache und da ist es mir, gelinde gesagt, völlig egal, ob dieser Begriff nun im 16. Jahrhundert und in welcher Form auftaucht oder nicht. Wichtig ist, dass er etwas erklärt. Das war die Frage, worüber wir hier diskutiert haben. Selbstverständlich kennen wir die Akten zum Reichskammergericht und zum Reichshofrat. Frau Westphal und ich und viele andere, die hier sitzen, haben sich lange mit diesen Dingen beschäftigt. Das ist nicht bloßes Juristenwissen, das möchte ich hier einmal deutlich in den Mittelpunkt stellen. HistorikerInnen gehen mit diesen Dingen vielleicht etwas anders um. Und ich frage mich, wenn ich mir diese Einzelfallentscheidung des Reichskammergerichts und auch des Reichshofrates ansehe, auf welchen Prinzipien sie eigentlich beruhen. Und da müssten wir jetzt konkrete Fälle diskutieren – wie etwa, dass die Ausweisung von Kölner evangelischen Bürgern verboten wurde und dies mit dem Rechtsgrundsatz begründet wurde, dass sie ihr Eigentum nicht realisieren könnten. Ist dies jetzt ein althergebrachter Rechtsgrundsatz des 13. Jahrhunderts oder ist dieser im 16. Jahrhundert im Zuge dieser ganz spezifischen Diskussionen entstanden? Ich glaube, es wäre wieder einmal an der Zeit, solche Grundsatzfragen zu klären: Was ist eigentlich juristisch und was unterscheidet davon historisches Denken? Härter: Ich darf gleich überleiten zu Frau Westphal. Frau Westphal, hierzu ein Schlusswort. Westphal: Ganz herzlichen Dank noch einmal für ein Plädoyer, die historische Arbeitsweise wahrzunehmen. Was ich hier gemacht habe, ist etwas bei uns durchaus Übliches, nämlich dass man mit Modellen aus anderen Fächern arbeitet und versucht, damit im Grunde eine Systematisierung vorzunehmen. Dann ist es ein Analyseinstrumentarium. Aber letzten Endes will ich das hier auch gar nicht rechtfertigen, sondern es ist ja nur ein Versuch und ich nehme zumindest einmal einen Punkt aus der Diskussion für mich mit, in Bezug auf dieses Modell, dass man natürlich, wenn man mit so etwas arbeitet, dann im Grunde deutlicher machen muss, welchen Gewinn man in Bezug auf die Übertragung auf historische Phänomene hat. Wie gesagt, die ganze Reichsgerichtsforschung hier noch einmal wiederzugeben, das ist einfach müßig. Wir müssen auch weiterkommen und dazu dienen eben auch Versuche, solche Modelle aus anderen Fächern auf eine altbewährte Thematik zu übertragen. Auf jeden Fall danke ich allen für die Hinweise und Diskussion und vielleicht können wir das noch mal vertiefen.
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Härter: Ich darf auch noch einmal für diese Diskussion sehr herzlich danken. Ich glaube, sie hat noch einmal gezeigt, dass gerade die Reichsverfassung für die Entwicklung der Problematik des Verfassungsschutzes durchaus eine große Bedeutung besitzt. Ich bin übrigens der Auffassung, dass auch die Verfassung als Abstraktum und nicht nur individuelle Rechte immer stärker in den Mittelpunkt rückt. Das zeigte sich nach 1789, als es darum ging, die Reichsverfassung und nicht individuelle Rechte gegen einen Umsturz und die Bedrohung der Verfassung durch die einzelnen Mitglieder zu bewahren. Deutlich wurde auch, dass Verfassungsschutz nicht nur einer einzigen Gewalt zugeordnet werden kann, sondern in einem justiziellen Rahmen des Alten Reiches kollektiv vereinbart, ausgehandelt und kollektiv exekutiert wurde. Aber wir werden darüber noch weiter zu diskutieren haben. Bevor wir das tun, darf ich Sie in die Kaffeepause entlassen. Wir sehen uns wieder um 16.30 Uhr und setzen dann fort. Vielen Dank.
Der Schutz der Verfassung im vormodernen Frankreich Von Lothar Schilling, Augsburg
„Toute société dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n’a point de constitution.“1 Mit diesen Worten definiert bekanntlich Art. 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, welchen Kriterien eine Verfassung zu genügen hat. Folgt man dieser Definition, erübrigt sich die Frage nach dem Schutz der Verfassung im vormodernen Frankreich, denn rechtsstaatliche Garantien gab es in der vorrevolutionären französischen Monarchie nur ansatzweise – und Gewaltenteilung gewiss nicht. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass das Verdikt der „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ darauf abzielte, die alte, vorrevolutionäre Ordnung zu delegitimieren, um die neue in umso strahlenderem Licht erscheinen zu lassen, ist der Hinweis auf die in der Französischen Revolution erfolgte Zäsur fraglos berechtigt. Ehe die Frage des Schutzes der Verfassung behandelt werden kann, ist also zunächst zu prüfen, inwieweit das vormoderne Frankreich über eine „Verfassung“ verfügte. Im Folgenden sollen deshalb knapp die Charakteristika vormoderner „Verfassungen“ und die Begriffsgeschichte in den Blick genommen werden (I.), ehe jene politischen und rechtlichen Auseinandersetzungen vorgestellt werden, in deren Kontext in Frankreich um die „Verfassung“ gerungen wurde (II.). Im Hauptteil dieses Beitrags wird es dann um Institutionen und Verfahren gehen, die dem Schutz der „Verfassung“ dienen sollten oder dies beanspruchten (III.).
1 Druck u. a. bei Stéphane Rials, La déclaration des droits de l’homme et du citoyen, Paris 1988, S. 21 (26). Die Erklärung der Menschenrechte wurde in die französische Verfassung vom 3. September 1791 integriert; sie ist auch in der V. Republik gültiges Verfassungsrecht (vgl. http: //www.assemblee-nationale.fr/connaissance/consti tution.asp#declaration); vgl. zur Entstehungsgeschichte neben dem vorgenannten Buch von Rials Philipp Dawson, Le 6e bureau de l’Assemblée nationale et son projet de Déclaration des Droits de l’Homme, Annales historiques de la Révolution française 50 (1978), S. 161.
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Lothar Schilling
I. „Verfassung“ in der Vormoderne Heinz Mohnhaupt und andere haben dargelegt, dass es auch in den Gemeinwesen Alteuropas Fundamentalgesetze gab; sie regelten die Rechtsstellung der jeweiligen Monarchen und die Partizipationsrechte von Korporationen, die den Anspruch erhoben, den politischen Körper zu repräsentieren – meist Ständeversammlungen, gelegentlich auch hohe Gerichte oder Ratsversammlungen2. In dieser Perspektive können Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, hausvertragliche Erbfolgeregelungen und andere fundamentale Rechtsnormen als „funktionale Äquivalente“ moderner Verfassungen analysiert werden; wie moderne Verfassungen begrenzten sie die Spielräume der Träger politischer Gewalt; wie sie stellten sie gegenüber der übrigen Rechtsordnung höherrangiges Recht dar, das als unverfügbar (oder zumindest nur unter strengen Auflagen änderbar) galt.3 Die Unterschiede zwischen vormodernen und modernen Verfassungen liegen freilich auf der Hand; sie seien hier nur knapp zusammengefasst:
2 In der Forschung wird vor allem das Verhältnis des jeweiligen Fürsten zu den Ständen als Gegenstandsbereich von Fundamentalgesetzen identifiziert. Vgl. etwa Olivier Beaud, La puissance de l’État (collection Léviathan), Paris 1994, S. 182: „L’objet des lois fondamentales est […] restreint: il touche uniquement aux rapports entre le Prince et les états“; Heinz Mohnhaupt, Von den ‚leges fundamentales‘ zur modernen Verfassung in Europa. Zum begriffs- und dogmengeschichtlichen Befund (16. – 18. Jahrhundert), Ius Commune 25 (1998), S. 121 (124): „Ihr Inhalt [der ‚leges fundamentales‘] ist in den einzelnen Staaten und Ländern keineswegs einheitlich, aber er betrifft in der Regel das rechtliche Verhältnis zwischen Herrscher und Ständen, das bis zur Verabsolutierung des Monarchen über die entmachteten Stände gesteigert sein konnte“. Am hier vorzustellenden französischen Beispiel wird deutlich, dass freilich auch andere Korporationen die fundamentalrechtliche Sicherung ihrer Partizipationsansprüche beanspruchten. 3 Vgl. zur historischen Entwicklung des Verfassungs-Konzepts Heinz Mohnhaupt / Dieter Grimm, Verfassung, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, 1990, S. 831; dies., Verfassung. Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart. Zwei Studien (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 47), Stuttgart 2. Aufl. 2002; Mohnhaupt (Fn. 2); Olivier Beaud, L’histoire du concept de constitution en France. De la constitution politique à la constitution comme statut juridique de l’État, Jus Politicum. Revue de droit politique 3 (2009), S. 1; zur Frage nach funktionalen Äquivalenten moderner Verfassungen in der Frühneuzeit Johannes Kunisch / Helmut Neuhaus (Hrsg.), Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates (= Historische Forschungen, Bd. 21), 1982; Johannes Kunisch, Staatsbildung als Gesetzgebungsproblem. Zum Verfassungscharakter frühneuzeitlicher Sukzessionsordnungen, Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar 21. / 22. März 1983 (= Beihefte zu „Der Staat“, Heft 7), Berlin 1984, S. 63; ferner Gerald Stourzh, Vom aristotelischen zum liberalen Verfassungsbegriff. Staatsformenlehre und Fundamentalgesetze in England und Nordamerika im 17. und 18. Jahrhundert, zuletzt in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaats (= Studien zu Politik und Verwaltung, Bd. 29), Wien / Köln 1989, S. 1 (1 f.); Heinz Duchhardt, Das politische Testament als „Verfassungsäquivalent“, Der Staat 25 (1986), S. 600.
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– Die „leges fundamentales“ setzten sich in der Regel aus mehreren, „kumulativ“ ein mehr oder minder heterogenes Ganzes bildenden, meist zu erheblichen Teilen auf Gewohnheitsrecht, Traditionen und langjähriger Praxis beruhenden Rechtsnormen zusammen, die zumal in Krisensituationen ganz unterschiedlich gedeutet werden konnten. Sie unterscheiden sich damit erheblich von den von einer verfassungsgebenden Instanz in einem Akt erlassenen, schriftlich fixierten Verfassungsurkunden der Moderne, die zumeist an die Stelle einer abzulösenden alten Ordnung treten.4 – Sie regelten die Rechte von Herrschaftsträgern und Korporationen, statt gesamthaft eine gewaltenteilende staatliche Ordnung rechtlich grundzulegen und Individualrechte zu garantieren.5 – Zu bedenken ist generell, dass Rechtsordnung und soziale Ordnung in der Vormoderne eng miteinander verwoben und in starkem Maße transzendental und traditional legitimiert waren. So wurde etwa die Ordnung der drei Stände bis ins 18. Jahrhundert weithin als integraler Bestandteil der Rechtsordnung gedeutet. Die begrenzte Ausdifferenzierung der normativen Ordnungen brachte es unter anderem mit sich, dass auch Normen als weitgehend unverfügbar galten, die nach modernem Verständnis nicht der Verfassungsordnung zuzurechnen sind.6
Betrachtet man den begriffsgeschichtlichen Befund, so gab es bis weit ins 18. Jahrhundert keinen autonomen Verfassungsbegriff. Das Wort ‚Verfassung‘ und seine Äquivalente in anderen europäischen Sprachen existierten zwar, ihre jeweilige Bedeutung war aber vielfältig und teilweise unscharf. In Frankreich dürften in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts die meisten Zeitgenossen beim Wort ‚constitution‘ zu allererst an die Bulle ‚Unigenitus‘ gedacht haben, mit der Papst Klemens XI. 1713 in den Jansenismusstreit eingegriffen und einen langen Konflikt zwischen ‚constitutionnaires‘ (papsttreuen Anti-Jansenisten) und ‚anti-constitutionnaires‘ (jansenistischen Papstgegnern) ausgelöst hatte.7 Vgl. Mohnhaupt (Fn. 2), S. 121 f. Vgl. ebd., S. 124. 6 Vgl. zum Grundsätzlichen Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, in: Helmut Quaritsch (Red.), Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30. / 31.März 1981 (= Beihefte zu „Der Staat“, Heft 6), Berlin 1983, S. 7 (insb. 8 – 10); ferner Lothar Schilling, Normsetzung in der Krise. Zum Gesetzgebungsverständnis im Frankreich der Religionskriege (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 197), 2005, S. 455 u. ö. 7 Zu dieser Auseinandersetzung, deren verfassungspolitische Tragweite in der Forschung nicht unumstritten ist, vgl. Dale Van Kley, The Religious Origins of the French Revolution. From Calvin to the Civil Constitution, 1560 – 1791, New Haven / London 1996, S. 75 – 134; Monique Cottret, Jansénisme et Lumières. Pour un autre XVIIIe siècle, Paris 1998; Catherine Maire, De la cause de Dieu à la cause de la nation. Le jansénisme au XVIIIe siècle, Paris 1998; Wolfgang Mager, Frankreich vom Ancien Régime 4 5
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Abgesehen von dieser spezifischen Bedeutung bezeichnete das Wort ‚constitution‘ allgemein ein Gesetz,8 ferner eine Schöpfung oder das Zusammengesetztsein eines komplexen Ganzen (im Sinne von ‚composition‘9). Semantische Bezüge auf die Struktur des Gemeinwesens oder die Rechte der Träger politischer Gewalt finden sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts beim einzelnen Wort ‚constitution‘ nicht. Solche Referenzen sind nur in wenigen zusammengesetzten Wendungen (etwa ‚constitution de l’état‘) festzustellen, die seit dem späten 17. Jahrhundert vereinzelt begegnen – darauf wird noch zurückzukommen sein. Wie aber wurde bezeichnet, was wir heute ‚Verfassungsordnung‘ nennen würden? Am nächsten dürften dem bis ins 18. Jahrhundert – in Frankreich wie überall in Europa – der aristotelische Begriff der ‚politeia‘ und seine jeweiligen Übersetzungen gekommen sein – im Französischen waren dies lange vor allem die Begriffe ‚police‘ und ‚république‘, die allgemein das wohlgeordnete Gemeinwesen (bzw. dessen gute Ordnung) bezeichneten10, während seit dem späten 16. Jahrhundert der noch näher vorzustellende Begriff der ‚lois fondamentales‘11 zur Bezeichnung jener Rechtsnormen diente, zur Moderne. Wirtschafts-, Gesellschafts- und politische Institutionengeschichte, 1630 – 1830, 1980, S. 134 f., Christine Vogel, Von Voltaire zu Le Paige – Die französische Aufklärung und der Jansenismus, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Die Aufklärung und ihre Weltwirkung (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 23), 2010, S. 77; ferner Beaud (Fn. 3), S. 8 f. 8 Vgl etwa Jean Nicot, Thresor de la langue francoise, tant ancienne que moderne […], Paris 1606, S. 145: „Constitution, Edictum, Decretum, Statutum, Praescriptum, Sanctio“. 9 In diesem Sinne als eigenes Lemma im Dictionnaire de l’Académie, 4. Aufl., Bd. 1, Paris 1762, S. 378; detaillierte Angaben im „Trésor de la Langue Française informatisé“ (TLFi): http: //www.cnrtl.fr/definition/constitution. 10 Vgl. Beaud (Fn. 3), S. 12. Zum von der Forschung lange vernachlässigten Konzept der ‚police‘ liegen inzwischen zahlreiche Arbeiten vor; vgl. Paolo Napoli, ‚Police‘. La conceptualisation d’un modèle juridico-politique sous l’Ancien Régime, Droits. Revue française de théorie juridique 20 (1994), S. 183; 21 (1995), S. 151; ders., Naissance de la police moderne. Pouvoir, normes, société, Paris 2003; Albert Rigaudière, Les ordonnances de police en France à la fin du Moyen Age, in: Michael Stolleis / Karl Härter / Lothar Schilling (Hrsg.) Policey im Europa der Frühen Neuzeit (= Ius Commune, Sonderheft 83), 1996, S. 97; Bernard Durand, La notion de police en France du XVIe au XVIIIe siècle, ebd., S. 163 – 211; Andrea Iseli, ‚Bonne police‘. Frühneuzeitliches Verständnis von der guten Ordnung eines Staates in Frankreich (= Frühneuzeitforschungen, Bd. 11), Epfendorf 2003; Blaise Kropf, Der Begriff aus der politischen Theorie – das Konzept aus der administrativen Praxis. Zum Entstehen der ‚police‘ im frühneuzeitlichen Frankreich, in: Peter Blickle / Peter Kissling / Heinrich Richard Schmidt (Hrsg.), Gute Policey als Politik im 16. Jahrhundert. Die Entstehung des öffentlichen Raumes in Oberdeutschland (= Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt a. M. 2003, S. 491 – 514; zur Semantik des Republik-Begriffs vgl. etwa Wolfgang Mager, République, Archives de philosophie du droit 35 (1990), S. 257. 11 Vgl. noch immer grundlegend André Lemaire, Les lois fondamentales de la monarchie française d’après les théoriciens de l ’Ancien Régime, Paris 1907, ND Genf 1975; ferner Klaus P. Swoboda, Die Bedeutung der ‚lois fondamentales‘ im Zeitalter der Religionskriege in Frankreich, Diss. phil. (masch.) Wien 1979; Harro Höpfl, Fundamental Law and the Constitution in Sixteenth-Century France, in: Roman Schnur
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die als grundlegend für das Königreich und deshalb auch für den König unverfügbar galten. Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts (und damit im europäischen Vergleich recht spät) führte Montesquieu unter dem Einfluss der englischen politischen Philosophie und zumal Bolingbrokes den Begriff ‚constitution‘ zur Bezeichnung der grundlegenden rechtlichen Ordnung des Gemeinwesens ein.12 Diese von Montesquieu selbst nicht sonderlich herausgestellte Begriffsprägung erwies sich rasch als überaus erfolgreich. Erst jetzt wurde ‚constitution‘ in Frankreich ein im engeren Sinne politischer Begriff, dessen Bedeutungsgehalt sich in den folgenden Jahrzehnten zunehmend anreicherte. Der Begriff wurde dabei in eine seit Jahrhunderten geführte Debatte eingeführt, deren Grundzüge im Folgenden skizziert werden sollen.
II. Die frühneuzeitliche Debatte um die ‚lois fondamentales‘ In Frankreich wurde die verfassungspolitische Grundfrage nach dem Verhältnis zwischen Monarch und Repräsentativkörperschaften vor allem in der Zeit der Religionskriege, zwischen 1562 und 1629, intensiv und kontrovers diskutiert. In dieser blutigen, für die politische und juristische Theorie gleichwohl ungeheuer fruchtbaren Krisenzeit13 wurden bekanntlich für die hier vorzustellende Problematik zentrale Konzepte entwickelt, zumal das Konzept der ‚lois fondamentales‘ – aber auch Bodins Souveränitätskonzept.14 Auf das erstere Konzept und seine Wirkungsgeschichte ist naturgemäß etwas ausführlicher, auf das zweitere und seine Auswirkungen auf Verständnis und Praxis der ‚lois fondamentales‘ wenigstens knapp einzugehen. Der Terminus ‚lois fondamentales‘ tauchte 1574 in den Debatten im Gefolge der Bartholomäusnacht zum ersten Mal auf. Er bezeichnete grundlegende, für den König unverfügbare Rechtsnormen, die über das göttliche und
(Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, Berlin 1986, S. 327; Mohnhaupt (Fn. 2); Schilling (Fn. 6), S. 370 – 416. 12 Montesquieu, Esprit des Lois, XI, 9; zit. nach Œuvres complètes, hrsg. v. Roger Caillois, Paris 1951, S. 409: „L’embarras d’Aristote paraît visiblement quand il traite de la monarchie. Il en établit cinq espèces: il ne les distingue pas par la forme de la constitution, mais par des choses d’accident, comme les vertus ou les vices du prince […]“. Vgl. Edouard Tillet, La Constitution anglaise. Un modèle politique et institutionnel dans la France des Lumières, Aix-en-Provence 2001, S. 150 – 289; Elie Carcassonne, Montesquieu et le problème de la constitution française au XVIIIe siècle, Paris 1927; Beaud (Fn. 3), S. 11 – 14. 13 Vgl. als Überblick etwa Mack P. Holt, The French Wars of Religion, 1562 – 1629, Cambridge 1995; Arlette Jouanna, Le temps des Guerres de religion en France (1559 – 1598), in: dies. u. a., Histoire et dictionnaire des Guerres de religion, Paris 1998, S. 1. 14 Vgl. – den Zusammenhang zwischen beiden Entwicklungen betonend – Michael Stolleis, Condere leges et interpretari. Gesetzgebungsmacht und Staatsbildung in der frühen Neuzeit, ZRG GA 101 (1984), S. 89 (103 – 109).
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natürliche Recht hinaus als unverrückbarer Maßstab legitimen Regierungshandelns dienen sollten. Die Debatte um die ‚lois fondamentales‘ knüpfte an spätmittelalterliche Ansätze und Begriffe an, die ihrerseits – wie das gesamte „konstitutionelle Denken“15 der Religionskriegszeit, stark vom kanonischen Recht und von der Korporationslehre der mittelalterlichen Kirche beeinflusst waren.16 Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurden die vor 1574 zur Bezeichnung unverfügbarer Rechtsnormen gebräuchlichen Termini – insbesondere ‚loi du royaume‘, aber auch weniger spezifische Formulierungen wie ‚loi principale‘, ‚loi perpétuelle‘ und ‚police‘ – allmählich verdrängt, ohne dass je eine klare semantische Abgrenzung erfolgt wäre. Der semantischen Offenheit des Begriffs ‚lois fondamentales‘ korrespondierte eine Vielzahl unterschiedlicher Begründungsansätze. So wurde versucht, die Unverfügbarkeit von Teilen der Rechtsordnung für den König mit deren Ursprung aus dem römischen Recht oder aber aus altem Gewohnheitsrecht zu begründen.17 Andere Ansätze leiteten die Unverfügbarkeit von Rechtsnormen aus deren angeblichem Vertragscharakter ab – ein Argument, das gerade mit Blick auf Gesetze angeführt wurde, die unter Beteiligung von Repräsentativkörperschaften zustande gekommen waren.18 Was wiederum die Partizipation von Repräsentativkorporationen angeht, rückten einige Autoren (nicht zuletzt die sogenannten „Monarchomachen“) die Verpflichtung des Königs in den Mittelpunkt, bei wichtigen Entscheidungen und Gesetzen die Generalstände zu beteiligen. Andere wiederum betonten vor allem die obligatorische Mitwirkung des königlichen Rats (dem auch die Prinzen von Geblüt angehören sollten) – und schließlich wurde die Partizipation der Obergerichte an der königlichen Gesetzgebung als unverzichtbare Grundlage der Rechtsordnung gewertet19 – darauf wird noch zurückzukommen sein. Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass – entgegen dem bis in jüngere Handbuchdarstellungen hinein vermittelten Eindruck weitgehender systematischer Kohärenz20 – auch das Spektrum jener Rechtsnormen, die in 15 Vgl. noch immer William F. Church, Constitutional Thought in Sixteenth-Century France. A Study in the Evolution of Ideas, zuerst 1941, ND New York 1969. 16 Vgl. Brian Tierney, Religion, Law, and the Growth of Constitutional Thought, 1150 – 1650, Cambridge (Mass.) / New York 1982; mit Blick auf das spätmittelalterliche Frankreich ferner Paul Ourliac, La notion de loi fondamentale dans le droit canonique des XIVe et XVe siècles, in: Théorie et pratique politiques à la Renaissance. XVIIe colloque international de Tours, Paris 1977, S. 121. 17 Vgl. im Einzelnen Schilling (Fn. 6), S. 342 – 359. 18 Vgl. ebd., S. 359 – 370. 19 Vgl. zum Ganzen ebd., S. 149 – 213. 20 Vgl. etwa Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1999, S. 64; Peter Claus Hartmann, Französische Verfassungsgeschichte der Neuzeit (1450 – 2002). Ein Überblick, 2. Aufl. 2003, S. 18 – 20; vgl. dagegen Denis Richet, La France moderne. L’esprit des institutions, Paris 1973, S. 46 – 52.
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den Debatten des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts zu grundlegenden ‚lois du royaume‘ oder ‚lois fondamentales‘ erklärt wurden, ebenso breit wie diffus war – es reichte von der Garantie der Partizipationsrechte der genannten Repräsentativkörperschaften bis hin zu Gesetzen, die den Einfluss von Ausländern in Frankreich begrenzen sollten. Es ist also festzuhalten, dass die inhaltliche Abgrenzung dieser Grundgesetze bis weit ins 17. Jahrhundert hinein im Zentrum heftiger Deutungskonflikte stand. Théodore de Bèze,21 der als erster von ‚lois fondamentales‘ sprach, verzichtete ganz auf deren inhaltliche Abgrenzung – seine Verwendung des Begriffs war nicht mehr (und nicht weniger) als der Versuch, jene Maßstäbe und Kriterien guten Regierens, die traditionell mit Begriffen wie ‚anciennes lois‘, ‚justice‘ und ‚raison‘ umrissen wurden, mit Hilfe einer einprägsamen Metapher zu fassen.22 Innocent Gentillet,23 der den Begriff als erster systematisch verwendete, unterschied in seiner 1576 publizierten ‚Brieve Remonstrance‘ drei Kategorien von Fundamentalgesetzen, die er der ‚justice‘, der ‚police‘ und der ‚religion‘ zuordnete.24 Er griff damit eine Begriffs-Trias auf, mit deren Hilfe etwa 60 Jahre zuvor Claude de Seyssel versucht hatte, die rechtliche Be-
21 Vgl. zu Person und Werk Alain Dufour, Théodore de Bèze, poète et théologien, Genf 2006. 22 De Bèze verwendet den Begriff im Kontext seiner Definition der Tyrannis. Nicht jeder Monarch, der verschwenderisch bzw. geizig regiere oder einem Laster verfallen sei, könne als Tyrann gelten, gegen den Widerstand erlaubt sei. Vielmehr gehöre zur Tyrannis „une malice confermee avec un renversement d’Estat & des loix fondementalles d’un Roiaume“. Théodore de Bèze, Du droit des magistrats sur leurs subiets. Traitté tres-necessaire en ce temps, pour advertir de leur devoir, tant les magistrats que leurs Subiets: publié par ceux de Magdebourg l’an mil MDL & maintenant revue et augmenté de plusieurs raisons et exemples, o. O. 1574, ND der Ausgabe 1574, hrsg. v. Robert M. Kingdon, Genf 1970, S. 61. Die Tatsache, dass de Bèze den Begriff ‚lois fondamentales‘ erst zu Ende seiner Schrift anführt, nachdem er den nämlichen Sachverhalt zuvor mit Begriffen wie „loix posees et receues“ (S. 33), „loix d’estat“ (S. 41), „loix posees avec le fondement de la Monarchie Françoise“ (ebd.), „droit public, & concernant l’estat de quelque nation ou peuple“ (S. 50) oder „loix & conditions, sur lesquelles l’estat publique est fondé“ (S. 55) bezeichnet, verdeutlicht, dass er kein grundlegend neues Konzept entwickelt hat, sondern an die überkommenen Konzepte zur Bezeichnung unverfügbarer Rechtsnormen anknüpft. 23 Vgl. zu Gentillet C. Edward Rathé, Innocent Gentillet and the First Anti-Machiavel, Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 27 (1965), S. 186; Pamela Stewart, Innocent Gentillet e la sua polemica antimachiavellica, Florenz 1969; Antonio d’Andrea, The Political and Ideological Context of Innocent Gentillet’s Anti-Machiavel, Renaissance Quarterly 23 (1970), S. 397; Salvo Mastellone, Aspetti dell’Antimachiavellismo in Francia: Gentillet e Languet, in: Machiavellismo e Antimachiavellici nel Cinquecento. Atti del convegno di Peruguia 30 IX – 1 X 1969, Florenz 1970, S. 117 – 130. 24 Innocent Gentillet, Briève rémonstrance à la noblesse de France sur le faict de la Declaration de Monseigneur le Duc d’Alençon, o. O. 1576, S. 14: „Il faut presupposer qu’il y en a de trois sortes [de loix fondamentales]: Les unes concernent la religion, les autres la iustice, et les autres la police: car ce sont les trois colonnes sur lesquelles le royaume de France est fondé.“ Auch Gentillet verwendet in der betreffenden Passage ‚lois fondamentales‘ und ‚lois du royaume‘ synonym bzw. verknüpft die Termini.
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grenztheit der Herrschaft des französischen Königs zu umreißen.25 Die konkreten Gesetze, die Gentillet unter die drei genannten Kategorien subsumierte und für fundamental erklärte, bildeten freilich alles andere als ein in sich kohärentes Ganzes. Vielmehr spiegelte seine Auswahl die Forderungen jener hochadligen, gegen König Heinrich III. revoltierenden ‚malcontents‘, in deren Auftrag er die ‚Brieve Remonstrance‘ verfasst hatte.26 So erklärte Gentillet unter anderem die rechtliche Anerkennung der Protestanten zum Grundgesetz, aber auch das Verbot der Ausfuhr von Geld aus dem Königreich, Gesetze gegen Wucher und das Verbot von Münzverschlechterungen.27 In seinem zeitgleich publizierten ‚Antimachiavel‘ führte Gentillet weniger und zum Teil andere Grundgesetze an – unter anderem das salische Gesetz, die Unveräußerlichkeit der Krondomäne und die Aufrechterhaltung der drei Stände (was auch immer Letzteres im Einzelnen rechtlich bedeuten sollte).28 Obschon bis zum vorläufigen Ende der Religionskriege im Jahre 1598 und noch einmal im Umfeld der Generalstände des Jahres 1614 intensiv über die ‚lois fondamentales‘ debattiert wurde, kam es nicht zur Konsolidierung eines „konstitutionalistischen“ Konzepts der Grundgesetze. Zumal in materieller Hinsicht blieb die bei de Bèze und Gentillet beobachtbare Offenheit der zu ‚lois fondamentales‘ erklärten Normen kennzeichnend für diese Debatte. Sie dürfte auch damit zusammenhängen, dass letztlich ungeklärt blieb, aufgrund welcher Kriterien ‚lois fondamentales‘ von anderen Rechtsnormen abgegrenzt werden konnten, und worauf deren fundamentaler Charakter beruhte. Zudem kann man im Umfeld der Generalstände von 1614 beobach-
25 Claude de Seyssel, La monarchie de France et deux autres fragments politiques, hrsg. v. Jacques Poujol (Bibliothèque Elzévirienne), Paris 1961, I / 8, S. 115: „Et pour parler desdits freins par lesquels la puissance absolue des rois de France est réglée, j’en trouve trois principaux; le premier est la Religion; le second, la Justice; et le tiers la Police.“ Die dritte Herrschaftsbremse umfasste nach Seyssels Vorstellung einerseits eine Reihe grundlegender Gesetze, die auf die conservation du royaume en universel et particulier abzielten und bereits so lange befolgt wurden, dass die Könige es nicht wagten, sie außer Kraft zu setzen (ebd., I / 11, S.119) und andererseits der Sicherung der ständischen Ordnung verpflichtete Grundprinzipien politischen Handelns, die garantierten, dass ein jeder Stand seinen Rechten gemäß leben konnte (ebd., II / 17 – 25, S. 154 – 166). 26 Vgl. zum Ganzen Arlette Jouanna, Un programme politique nobiliaire: les Mécontents et l’État (1574 – 1576), in: Philippe Contamine (Hrsg.), L’État et les aristocraties (France, Angleterre, Écosse), XIIe-XVIIe siècle, Paris 1989, S. 247 – 278; dies., Le devoir de révolte. La noblesse française et la gestation de l’Etat moderne, 1559 – 1661, Paris 1989, vor allem S. 166 – 179 und S. 281 – 390; dies., Le temps des Guerres de Religion (Fn. 13), S. 231 – 236. 27 Gentillet, Briève rémonstrance (Fn. 24), S. 15 – 23. 28 [Innocent Gentillet], Discours sur les moyens de bien gouverner et maintenir en bonne paix un royaume ou autre principauté […] contre Nicolas Machiavel Florentin, o. O. 1576, zahlreiche Neuauflagen, zuletzt udT Anti-Machiavel. Edition de 1576 avec commentaires et notes, hrsg. v. C. Edward Rathé (= Les Classiques de la pensée politique, Bd. 5), Genf 1968, S. 47 f.
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ten, dass nun selbst auf ständischer Seite neben der fundamentalgesetzlichen Verankerung von Partizipationsrechten verstärkt die Sicherung des unbedingten Gehorsams der Untertanen durch ‚lois fondamentales‘ gefordert wurde.29 Von einer „konstitutionalistischen“ Konzeption oder gar Theorie der Grundgesetze konnte jedenfalls 1614 / 15 nicht die Rede sein; sie wurde auch im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts nicht mehr entwickelt. So setzte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts ein anderes, enges Verständnis der Fundamentalgesetze durch, das von Vertretern der Krone in den Auseinandersetzungen der Religionskriege stets favorisiert worden war. Auch bei der „royalistischen“ Deutung der ‚lois fondamentales‘ gab es Grauzonen, auch hier war nicht durchweg klar, welchen Regeln fundamentalgesetzlicher Rang zukommen sollte, denn tatsächlich waren diese Fundamentalgesetze an keiner Stelle eindeutig festgelegt. Doch der konzeptionelle Kern dieses Verständnisses war einigermaßen eindeutig: Als ‚lois fondamentales‘ waren demnach einige wenige Rechtsnormen zu betrachten, die auf die Sicherung der Sukzession und der feudal-materiellen Grundlagen des Königtums abzielten. – Im Mittelpunkt dieser Bestimmungen stand die (auch von Verfechtern einer „konstitutionellen“ Konzeption der Fundamentalgesetze anerkannte) ‚loi salique‘.30 Sie legte die männliche Primogeniturerbfolge fest, besagte also, dass nur einer legitimen Ehe entstammende männliche Nachkommen des ersten kapetingischen Königs Hugues Capet (+ 996) erbberechtigt waren und einen Erbanspruch übertragen konnten, mit einem Vorrang für die jeweils ältesten Söhne und ihre Nachkommen. – Weitgehend unumstritten war auch (spätestens seit 1611) der (in Rechtssprichwörtern wie „Le roi est mort, vive le Roi“ oder „Le Roi ne meurt pas en France“ verdeutlichte) Grundsatz, wonach unmittelbar mit dem Tod eines Königs dessen Nachfolger König mit allen Rechten war, ohne dass es dafür der Krönung bedurfte – ein Grundsatz, der den überpersönlichen Charakter des Königtums unterstrich und zugleich implizierte, dass Entscheidungen, Gesetze und Verträge des verstorbenen Königs nach dessen
Vgl. unten Abschnitt III. 2. Vgl. zur Entwicklung der ‚loi salique‘ John M. Potter, The Development and Signification of the Salic Law of the French, English Historical Review 52 (1937), S. 235; Ralph E. Giesey, The juristic Basis of Dynastic Right to the French Throne (Transactions of the American Philosophical Society 51 / 5), Philadelphia 1961, insb. S. 17 – 22; Helmut Scheidgen, Die französische Thronfolge (987 – 1500). Der Ausschluß der Frauen und das Salische Gesetz, phil. Diss. Bonn 1976; Swoboda (Fn. 11), S. 40 – 69; Ulrich Muhlack, Thronfolge und Erbrecht in Frankreich, in: Kunisch / Neuhaus (Fn. 3), S. 173; Jean Barbey / Frédéric Bluche / Stéphane Rials, Lois fondamentales et succession de France, Paris 1984; Élie Barnavi, Mythes et réalité historique. Le cas de la loi salique, Histoire, Économie & Société 3 (1984), S. 323; Colette Beaune, Naissance de la nation France, Paris 1985, S. 357 – 392; Éliane Viennot, La France, les femmes et le pouvoir. L’invention de la loi salique (Ve-XVIe siècles), Paris 2006. 29 30
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Tod in Kraft blieben, falls sie vom neuen König nicht ausdrücklich widerrufen wurden.31 – Von Vertretern der Krone in der Regel als Grundgesetz bezeichnet wurde auch die bereits im Spätmittelalter durch Edikte geregelte, aber noch im 16. Jahrhundert umstrittene Volljährigkeit des Königs am Tag nach seinem 13. Geburtstag.32 – Weithin anerkannt, aber in der Praxis durchaus flexibel gehandhabt wurde das Prinzip der Unveräußerlichkeit der Krondomäne.33
Während der Religionskriege massiv umstritten war hingegen der Grundsatz der Katholizität des Königs. Er wurde von den katholisch dominierten Generalständen der Jahre 1576 / 77 und 1588 / 89 zum Grundgesetz erklärt. 1588 leisteten König Heinrich III. und die Ständedeputierten sogar einen Eid auf ein entsprechendes Grundgesetz, das ‚édit de l’union‘. Mit dem 1593 erfolgten Übertritt seines Nachfolgers, Heinrichs IV., zum katholischen Glauben wurde es faktisch bestätigt. Dennoch finden sich im 17. Jahrhundert kaum mehr Quellen, die dieses Prinzip als Grundgesetz bezeichnen.34 In Frankreich setzte sich also ein enges, auf die Grundlagen des Königtums begrenztes Verständnis der Fundamentalgesetze durch. Sieht man von diesem Komplex ab, gab es keine grundgesetzlichen Bestimmungen über die Rechte, Amtspflichten oder Aufgaben des Königs. Vor allem aber war in Frankreich das Verhältnis von Krone und Repräsentativkörperschaften, das in vielen Monarchien der Frühneuzeit den zentralen Gegenstandsbereich von Fundamentalgesetzen darstellte, nicht im Rahmen unverfügbarer ‚lois fondamentales‘ geregelt – ein Sachverhalt, der mit der Machtlosigkeit und der fehlenden institutionellen Verankerung der französischen Generalstände zu erklären ist.35 Dies hatte andererseits zur Folge, dass auch die faktische 31 Von maßgeblicher Bedeutung für die allgemeine Anerkennung dieses Grundsatzes war die Aufnahme der Parömie „Le roi ne meurt jamais, ou, le roi est mort, vive le roi“ in die 1611 erschienene 3. Aufl. von Antoine Loisels erstmals 1607 publizierten ‚Institutes coutumières‘; Antoine Loisel, Institutes coustumieres ou manuel de plusieurs et diverses reigles, sentences, et proverbes, tant anciens que modernes du droict coustumier et plus ordinaire de la France, nouvelle édition, avec les variantes des éditions antérieures, une table de concordance et des tables analytiques par Michel Reulos, Paris 1935, hier S. 19; vgl. zum Ganzen Ralph A. Giesey, The Royal Funerary Ceremony in Renaissance France (Travaux d’Humanisme et Renaissance, 37), Genf 1960, insb. S. 182 f.; sowie ders., The Juristic Basis (Fn. 7), S. 6, der darauf hinweist, dass dieser Grundsatz bereits 1270 nach dem Tode Ludwigs in Tunis ins Feld geführt worden sei; ferner Ernst H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology, 6. Aufl., Princeton 1981, S. 409 – 419. 32 Vgl. im Einzelnen Schilling (Fn. 6), S. 373 f. 33 Vgl. Adhémar Esmein, L’inaliénabilité du domaine de la Couronne devant les Etats Généraux du XVIe siècle, in: FS Gierke, Weimar 1911, ND Frankfurt a. M. 1987, S. 361; Robert Descimon, L’union au domaine royal et le principe d’inaliénabilité. La construction d’une loi fondamentale aux XVIe et XVIIe siècles, Droits 22 (1995), S. 79. 34 Vgl. im Einzelnen Schilling (Fn. 6), S. 395 – 398.
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Nichtexistenz der Generalstände zwischen 1615 und 1789 keiner grundgesetzlichen Fixierung bedurfte; ein die Entmachtung der Stände regelndes Fundamentalgesetz, wie es etwa 1665 in Dänemark in Form der ‚lex regia‘ geschaffen wurde, hat es hier nie gegeben.36 Dass sich in Frankreich im Gefolge der Religionskriege ein enges, die Partizipationsrechte von Repräsentativkörperschaften an keiner Stelle berücksichtigendes Verständnis der Fundamentalgesetze durchsetzte, hängt auch mit dem Erfolg im weitesten Sinne „absolutistischer“37 Ansätze zusammen, die im Gefolge Bodins bereits seit den letzten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts vorherrschend und spätestens nach dem Scheitern der Fronde für Jahrzehnte weitestgehend unangefochten waren. Diese „absolutistischen“ Ansätze unterschieden sich recht deutlich voneinander und sollten keineswegs als Ausdruck einer in sich geschlossenen Theorie gedeutet werden; selbst das Postulat der ‚legibus solutio‘, der Entbindung des Souveräns von den Gesetzen, die gemeinhin als wichtigstes Bestimmungsstück des absolutistischen Herrschaftsverständnisses gilt, war nicht unumstritten und wurde etwa von Jacques Bénigne de Bossuet, dem Bischof, Prinzenerzieher und maßgeblichen politischen Theoretiker am Hof Ludwigs XIV., abgelehnt.38 In zwei für unsere Fragestellung entscheidenden Punkten stimmten 35 Vgl. allgemein Georges Picot, Histoire des États généraux considérés au point de vue de leur influence sur le gouvernement de la France de 1355 à 1614, 4 Bde., Paris 1872; Claude Soule, Les États généraux de France (1302 – 1789). Étude historique, comparative et doctrinale (= Études présentées à la Commission internationale pour l’Histoire des Assemblées d’États, Bd. 35), Heule 1968; Martin Gosman, Les sujets du père. Les rois de France face aux représentants du peuple dans les assemblées de notables et les États généraux 1302 – 1615, Paris u. a. 2007. 36 Vgl. zur dänischen ‚lex regia‘ des Jahres 1665 Peter Brandt, Von der Adelsmonarchie zur königlichen „Eingewalt“. Der Umbau der Ständegesellschaft in der Vorbereitungs- und Frühphase des dänischen Absolutismus, Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 33; Johannes Kunisch, Staatsverfassung und Mächtepolitik. Zur Genese von Staatenkonflikten im Zeitalter des Absolutismus (= Historische Forschungen, Bd. 15), Berlin 1979, S. 17. 37 Die in den letzten beiden Jahrzehnten um den „Absolutismus“ geführte Forschungsdiskussion hat gezeigt, dass dieses Forschungskonzept die Herrschaftspraxis frühneuzeitlicher Fürstenstaaten nur sehr einseitig zu erfassen vermag. Zur Charakterisierung frühneuzeitlicher Repräsentationen und Diskurse, die auf Überhöhung des Monarchen zielten, erscheint es gleichwohl brauchbar; der Terminus „absolutistisch“ wird hier in diesem letzteren Sinne gebraucht. Vgl. zum Ganzen Lothar Schilling, Vom Nutzen und Nachteil eines Mythos, in: ders. (Hrsg.), Absolutismus – ein unersetzliches Forschungskonzept? L’absolutisme – un concept irremplaçable? Eine deutschfranzösische Bilanz. Une mise au point franco-allemande (= Pariser Historische Studien, Bd. 79), 2008, S. 13; ders., Der Absolutismus als „neues Modell“? Überlegungen zur Erforschung absolutistischer Repräsentationen in der Frühen Neuzeit, in: Christoph Kampmann u. a. (Hrsg.), Neue Modelle im Alten Europa. Traditionsbruch und Innovation als Herausforderung in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2012, S. 194. 38 Vgl. im Einzelnen Lothar Schilling, Bossuet, die Bibel und der ‚Absolutismus‘, in: Andreas Pečar / Kai Trempedach (Hrsg.), Die Bibel als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne (= Beihefte der Historischen Zeitschrift, Bd. 43), 2007, S. 349, hier S. 368 f.
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freilich von den 1570er Jahren bis ins 18. Jahrhundert fast alle „absolutistischen“ Autoren und alle Vertreter der Krone überein. Zum einen herrschte Einigkeit, dass Frankreich keine Tyrannis war, in der dem Willen des Herrschers keinerlei Grenzen gesetzt waren; doch auch das Modell der diesen Willen nur ansatzweise begrenzenden ‚monarchie seigneuriale‘ kam nicht in Frage. Vielmehr war unumstritten, dass das Königreich eine ‚monarchie royale‘ war – eine Einherrschaft, die sich durch die Achtung des göttlichen und natürlichen Rechts, den Respekt gegenüber der überkommenen Rechtsordnung sowie schließlich die unbedingte Geltung einiger weiterer, von Menschen geschaffener grundlegender Rechtsprinzipien auszeichnet. Nun mögen sich die Verfechter „absolutistischer“ Positionen wiederum nicht immer einig gewesen sein, was diesen grundlegenden Rechtsprinzipien im Einzelnen zuzurechnen war – Einigkeit bestand indes darin, dass diese Rechtsprinzipien, die ‚lois fondamentales‘, in der französischen Monarchie geachtet wurden39. Selbst wenn einzelne Autoren letztlich nur wenige Rechtsnormen (und zumal die ‚loi salique‘) als Fundamentalgesetze anerkannten,40 sorgten diese Gesetze in ihren Augen doch dafür, dass der König über Krone und Königreich nicht wie ein Privatmann über sein Eigentum verfügen konnte. In diesem Sinn meinte etwa Bossuet: „La France, où la succession est réglée selon ces maximes [de la loi salique], peut se glorifier d’avoir la meilleure constitution d’état qui soit possible, et la plus conforme à celle que Dieu même a établie.“41
Dieses Zitat ist zugleich einer der ersten Belege für den eingangs erwähnten, im weitesten Sinne verfassungsrechtlichen Gebrauch des Wortes ‚constitution‘ in einer zusammengesetzten Wendung (wobei freilich „constitution d’état“ nicht einfach mit „Staatsverfassung“ zu übersetzen ist, die wenig elegante Übersetzung „Bauprinzip der Monarchie“ dürfte den Sach-
39 Bossuet etwa grenzte die von ihm befürwortete „absolute“ Gewalt des Monarchen wie folgt gegen das tyrannische ‚gouvernement arbitraire‘ ab: „il ne s’ensuit pas de là que le gouvernement soit arbitraire, parce qu’outre que tout est soumis au jugement de Dieu […] il y a des lois dans les empires contre lesquelles tout ce qui se fait est nul en droit“; Politique tirée des propres paroles de l’écriture sainte, zuerst 1709, édition critique avec introduction et notes par Jacques Le Brun, Genf 1967, Buch VIII, Art. II, 1ère proposition, S. 292. 40 Nachdem er zunächst ein eher offenes, nicht klar abgegrenztes Verständnis der ‚leges imperii‘ vertreten hatte, wurde Jean Bodin zum Verfechter einer engeren, auf die rechtlichen Grundlagen der ‚majesté souveraine‘ ausgerichteten Definition der Fundamentalgesetze: „Quant aux loix qui concernent l’estat du Royaume, & de l’establissement d’iceluy, d’autant qu’elles sont annexes & unies avec la couronne, le Prince n’y peut deroger, comme est la loy Salique: & quoy qu’il face, tousiours le successeur peut casser ce qui aura esté faict au preiudice des loix Royales & sur lesquelles est appuyé & fondé la maiesté souveraine“ (Les six livres de la République, 4. Aufl., Paris 1583, I / 8, S. 137); vgl. zum Ganzen Lemaire (Fn. 11), S. 111 – 133. 41 Bossuet (Fn. 38), Buch II, Art. 1, 11e proposition, S. 59.
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verhalt zutreffender bezeichnen). Jedenfalls erhellt aus dieser Aussage Bossuets die ungeheure symbolische Bedeutung der Fundamentalgesetze für das Verständnis (und das Selbstverständnis) der französischen Monarchie als rechtlich geordnete, legitime ‚monarchie royale‘; diese symbolische Dimension der ‚lois fondamentales‘ dürfte letztlich mindestens ebenso bedeutend gewesen sein wie deren im engeren Sinne rechtsnormative Wirksamkeit. Bei den Vertretern der Krone und Verfechtern „absolutistischer“ Verfassungskonzeptionen unumstritten war zweitens der Grundsatz der Unteilbarkeit der königlichen Souveränität. Von allen Postulaten der politischen Theorie Bodins hat seine Lehre von der Unteilbarkeit der souveränen Gewalt und das damit verknüpfte Verdikt gegen die von ihm als „verbrecherisch“ bewertete Annahme,42 Frankreich sei eine ‚monarchie mixte‘, die breiteste Rezeption erfahren. Tatsächlich verlor die Mischverfassungslehre, die bis in die 1570er Jahre hinein auch von vielen der Krone nahestehenden Autoren vertreten worden war, gegen Ende des Jahrhunderts massiv an Rückhalt – ablesbar nicht zuletzt daran, dass zwischen 1580 und 1600 zahlreiche prominente Autoren, darunter der Historiograph des Königs Bernard Girard du Haillan43 und der renommierte Jurist Charondas Le Caron44 ihre Position in dieser Frage grundlegend revidierten. 42 Bodin (Fn. 40), II / 1, S. 262 f.: „On a voulu dire & publier par escrit que l’estat de France estoit aussi composé des trois Républiques, & que le Parlement de Paris tenoit une forme d’Aristocratie, les trois estats tenoyent la Democratie, et le Roy representoit l’estat Royal: qui est une opinion non seulement absurde, mais aussi capitale. Car c’est crime de leze maiesté de faire les subiects compagnons du Prince souverain.“ In der lateinischen Ausgabe des Jahres 1586 weist eine Randnotiz an dieser Stelle ausdrücklich auf ein seinerzeit sehr erfolgreiches Werk des Juristen Bernard Girard du Haillan hin (siehe die folgende Fn.); vgl. J[ohn] H[erseay] M[cMillan] Salmon, Bodin and the Monarchomachs, in: Horst Denzer (Hrsg.), Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München, München 1973, S. 359 – 378, hier S. 371. 43 Bernard de Girard, seigneur du Haillan, De l’Estat et Succez des Affaires de France, Paris 1570, erneut Paris 1572; in der letzteren Ausgabe heißt es: „bien que ce [la France] soit une Monarchie, si est-ce que par l’institution d’une infinité de belles choses politiques, qui la rendent florissante, il semble qu’elle soit composee de trois façons de gouvernement: c’est à sçavoir de la Monarchie, qui est d’un: de l’Aristocratie, qui est le gouvernement des personnages graves & sages, choisis & receuz au maniement des affaires: & de la Democratie, c’est à dire, du gouvernement populaire.“ (2. Paginierung, S. 3); in der 1580 erschienenen Neuauflage dieses Buches erinnert du Haillan in offensichtlicher Anspielung auf Bodin an die Thesen einiger „escrivains bien hardis“, denen zufolge es ein Majestätsverbrechen sei, Frankreich als gemischte Monarchie zu bezeichnen. Er behaupte nicht, dass Frankreich eine zusammengesetzte Monarchie sei, sondern lediglich, dass es angesichts der „authoritez des trois estats“ so scheine. Die drei Stände seien freilich der „puissance du Souverain“ unterworfen und leiteten von ihm ihren eigenen Einfluss ab. Es bestehe also ein großer Unterschied zwischen Schein und Sein. Denn es könne kein Zweifel bestehen, dass der König „absolument Royal, Monarchique, et Souverain“ sei und „toutes les marques d’absolue puissance et de souveraineté“ aufweise; Ausgabe Paris 1580, S. 154 r / v; vgl. Church (Fn. 15), S. 122, Anm. 5. 44 Charondas Le Caron, der Frankreich zuvor mehrfach als ‚monarchie mixte‘ charakterisiert hatte (vgl. Schilling, Normsetzung [Fn. 7], S. 175, Anm. 210), schloss in seinem 1587 erstmals veröffentlichten Lehrbuch des Französischen Rechts die Beteili-
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Nach der in Frankreich im 17. und frühen 18. Jahrhundert vorherrschenden strikten Auslegung des Souveränitätsgrundsatzes war es undenkbar, eine Institution mit der Aufgabe zu betrauen, die Achtung der Fundamentalgesetze durch den König zu überwachen. So zentral die Fundamentalgesetze für das (Selbst-)Verständnis der französischen Monarchie der Frühen Neuzeit waren, so selbstverständlich gingen die Verfechter „absolutistischer“ Vorstellungen davon aus, dass ihre Achtung durch den König keiner weiteren Sicherung bedürfe. Ebenso wie das göttliche und natürliche Recht und der Grundsatz der Achtung gegenüber der überkommenen Rechtsordnung sollten auch die Fundamentalgesetze einzig im ‚forum internum‘ des königlichen Gewissens ihre Wirkung entfalten. Doch sollte keine Instanz befugt sein, die Geltung königlicher Entscheidungen und Gesetze unter Berufung auf mögliche Verstöße gegen diese Prinzipien in Frage zu stellen, um damit womöglich Widerstand zu legitimieren.45
III. Institutionen, Verfahren, politische Praxis 1. Die Rolle der ‚parlements‘
Der enge, im Wesentlichen auf den möglichst reibungslosen, quasi „automatischen“ Übergang der Krone begrenzte Gegenstandsbereich der ‚lois fondamentales‘ sorgte in Verbindung mit der strikt auf die Wahrung der unteilbaren Souveränität des Königs ausgerichteten Politik der Krone dafür, dass es in der Verfassungspraxis des 17. und 18. Jahrhunderts nur in sehr eingeschränktem Maße Ansatzpunkte für einen „Schutz der Fundamentalgesetze“ gab. Und doch hat es solche Ansätze gegeben; sie gingen stets von den ‚cours souveraines‘ und zumal vom ‚parlement de Paris‘ aus – und dies nicht ohne Grund. Denn keine anderen Körperschaften haben ihren Anspruch, an der Regierung und zumal an allen wichtigen Rechtsakten des Königs beteiligt zu werden, so erfolgreich verfochten wie diese Obergerichte.46 gung der Generalstände an der Gesetzgebung ausdrücklich aus. Zwar habe der König früher Gesetze im Rahmen einer – hier als „Parlement & assemblee des trois ordres & Estats du Royaume“ bezeichneten – Versammlung erlassen, doch wegen der Schwierigkeit, diese Versammlungen einzuberufen, und aus anderen Gründen berieten die Könige Gesetze inzwischen nur noch mit jenen Personen, die sie in ihren ‚conseil‘ beriefen; Pandectes ou Digestes du droict françois, 7. Aufl., Paris 1637, S. 5 f. Vgl. zu Charondas Guillaume Leyte, Charondas et le droit français, Droits 39 (2004), 17. 45 Bodin versuchte dieser doppelten Logik durch die Unterscheidung zwischen dem am Ideal der ‚monarchie royale‘ auszurichtenden ‚gouvernement‘ und der – von der Frage des guten Regiments ganz losgelöst behandelten – Souveränität Rechnung zu tragen; vgl. Jean-Louis Thireau, L’absolutisme monarchique a-t-il existé? Revue française d’Histoire des Idées politiques 6 (1997), S. 291 (301). 46 Vgl. zur Geschichte der französischen Obergerichte Félix Aubert, Histoire du Parlement de Paris de l’origine à François Ier, 1250 – 1515, 2 Bde., Paris 1894; Edouard Maugis, Histoire du Parlement de Paris de l’avènement des rois Valois à la mort d’Henri IV, 3 Bde., Paris 1913 – 1916, ND New York 1967; Albert N. Hamscher, The
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Ihren Partizipationsanspruch leiteten das Pariser ‚parlement‘ und die seit dem 15. Jahrhundert rasch wachsende Zahl der anderen ‚cours souveraines‘ von der weithin, bis ins 16. Jahrhundert auch von der Krone anerkannten Vorstellung ab, sie repräsentierten im Sinne der Lehre von den zwei Körpern bzw. Personen des Königs dessen überzeitliche Würde. Seit dem späteren 13. Jahrhundert finden sich in den Akten des ‚parlement‘, in ‚coutumiers‘ und juristischen Werken, aber auch in Schriftstücken der königlichen Kanzlei Aussagen, wonach dieses Gericht den König vorstellte oder sogar als ‚pars corporis regis‘ an dessen Herrschergewalt teilhatte.47 Ihren Einfluss verdankten die Obergerichte v. a. ihrem Registrierungsund Remonstranzrecht. Seit dem Spätmittelalter bedurften von der Kanzlei ausgestellte, gesiegelte Schriftstücke (‚lettres patentes‘) der Registrierung durch die Obergerichte, um Rechtskraft zu erlangen. Da Gesetze mit allgemeiner Geltung meist als ‚lettres patentes‘ ausgestellt wurden, bildete die Registrierung bald den Schlusspunkt fast aller Gesetzgebungsakte – eine Entwicklung, die insofern im Interesse des Königtums lag, als sie einen authentischen, stets verfügbaren Gesetzestext sicherte. Dabei setzte sich durch, dass die Obergerichte die betreffenden Akte vor der Registrierung prüften, dem König in Remonstranzen ihre Bedenken mitteilten und gegebenenfalls die Registrierung verweigerten – auch dies war in der Regel im Sinne des Königtums, das davon profitierte, wenn neu erlassene Gesetze und andere Rechtsakte des Königs nicht im Widerspruch zu älteren Entscheidungen und Ansprüchen des Königs standen und Inkohärenzen der Rechtsordnung vermieden wurden.48
Parlement of Paris After the Fronde 1653 – 1673, Pittsburgh (PA) 1976; Françoise Autrand, Naissance d’un grand corps de l’état: Les Gens du Parlement de Paris, 1345 – 1454, Paris 1981; John Hay Shennan, The Parlement of Paris, London 1968; James Hosea Kitchens, The Parlement of Paris During the Ministry of Cardinal Richelieu, 1624 – 1642, 2 Bde., Ph.D. thesis, The Louisiana State University, Baton Rouge 1974; Jacques Poumarède / Jack Thomas (Hrsg.), Les Parlements de Province. Pouvoirs, justice et société du XVe au XVIIIe siècle, Toulouse 1996; Sylvie Daubresse, Le Parlement de Paris ou la voix de la raison (1559 – 1589) (= Travaux d’Humanisme et Renaissance, Bd. 398), Genf 2005; eine konzise Zusammenfassung in deutscher Sprache bei Mager (Fn. 7), S. 124 – 131. 47 Vgl. Jacques Krynen, Voluntas domini regis in suo regno facit ius: Le roi de France et la coutume, in: Aquilino Iglesia Ferreirós (Hrsg.), El dret comú i Catalunya. Actes del VII Simposi Internacional Barcelona 23 – 24 de maig de 1997, Barcelona 1998, S. 59 (74); ders., Qu’est-ce qu’un Parlement qui représente le roi?, in: Bernard Durand / Laurent Mayali (Hrsg.), Excerptiones iuris. Studies in honor of André Gouron, Berkeley (CF) 2000, S. 353 – 366; Schilling (Fn. 6), S. 214 f. Die Bezeichnung als ‚pars corporis regis‘ war offensichtlich an eine Stelle des Codex Iustinianus angelehnt; dort bezeichnet der Kaiser den Senat als „pars corporis nostri“ (9.8.5). 48 Vgl. zur Entwicklung des Registrierungs- und Verifikationsrechts der ‚parlements‘ Aubert (Fn. 46), I, S. 357 – 364; Robert Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte von der Mitte des Neunten Jahrhunderts bis zur Revolution, München / Berlin 1910, S. 218 f.; Maugis (Fn. 46), I, S. 517 – 546; Kitchens (Fn. 46), S. 73 – 81.
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In der Praxis waren die Obergerichte über Jahrhunderte maßgeblich an der Herleitung immer neuer königlicher Rechte und an der Überhöhung der königlichen Gewalt beteiligt gewesen.49 Deshalb akzeptierten die Könige auch ihren Anspruch, einen entscheidenden Aspekt der ‚majestas regalis‘ zu verkörpern. Doch seit dem 16. Jahrhundert kam es im Verhältnis von Königtum und Obergerichten zu Spannungen. Dies hing damit zusammen, dass die Obergerichte zunehmend „politische“ Ziele und Forderungen50 entwickelten. Dabei stellten sie sich als entschiedene Gegner autokratischer Bestrebungen des Königtums dar. Tatsächlich vermochten sie dem König auf die Dauer weit wirkungsvoller entgegenzutreten als ‚conseil‘ und Generalstände, da sie anders als letztere institutionell fest verankert und anders als der königliche Rat personell weitgehend unabhängig waren, zumal ihre Inamovibilität weithin anerkannt war.51 Diese Stellung und zumal ihr Prüfungs- und Registrierungsrecht suchten die Obergerichte zu nutzen, um unliebsame Entscheidungen zu blockieren, etwa den von der Krone mehrfach, zuletzt 1629, unternommenen Versuch, die Ämterkäuflichkeit einzuschränken oder gar abzuschaffen.52 Die Krone reagierte darauf, indem sie im Laufe des 16. Jahrhunderts immer häufiger versuchte, die Registrierung von Gesetzen zu erzwingen – sei es durch die Übermittlung eines Registrierungsbefehls (den in der Regel ein Prinz von Geblüt überbrachte) oder im Rahmen feierlicher Auftritte in einem Obergericht (‚lits de justice‘). Diese Zeremonien, die bis dahin in ganz 49 Vgl. zur Bedeutung der ‚parlements‘ für die Ausweitung der königlichen Machtstellung Hamscher (Fn. 46). S. XVII; Jacques Krynen, L’empire du roi. Idées et croyances politiques en France, XIIIe-XVe siècle, Paris 1993, S. 403 – 408. 50 Vgl. Félix Aubert, Le Parlement de Paris au XVIe siècle, Nouvelle revue historique de droit français et étranger, série 3, 29 (1905), S. 737 – 790; 30 (1906), S. 58 – 83; 30 (1906), S. 179 – 209, hier S. 200 – 209; Maugis (Fn. 46), I, S. 547 – 631; Glasson (Fn. 46), I, S. 13 f.; Shennan (Fn. 46), S. 188 – 221; Kitchens (Fn. 46), S. 80 – 107; Albert Cremer, Die Gesetzgebung im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Barbara Dölemeyer / Diethelm Klippel (Hrsg.), Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit (ZHF, Beiheft 22), 1998, S. 33 (41 f.). 51 Die Frage, ob der König ‚officiers‘ und zumal Mitglieder eines Obergerichts, die sich nichts hatten zuschulden kommen lassen, abberufen konnte, war im Detail nicht unumstritten. Im Grundsatz hatten freilich bereits die spätmittelalterlichen Könige anerkannt, dass sie ‚officiers‘ weder versetzen noch ihres Amtes entheben durften. Im 16. und frühen 17. Jahrhundert wurde von Verfechtern der königlichen Prärogative gelegentlich behauptet, der König könne die ‚conseillers‘ der Obergerichte ebenso entlassen wie die Mitglieder seines ‚conseil‘. Andere Autoren wie Rebuffi und Charondas Le Caron wiesen diese Auffassung zurück. In der Praxis waren Amtsenthebungen oder Versetzungen auf Einzelfälle beschränkt. Andererseits trug die sich im Laufe des 16. Jahrhunderts durchsetzende Ämterkäuflichkeit dazu bei, die personelle Eigenständigkeit der Gerichte gegenüber dem König zu stärken; vgl. zum Ganzen Church (Fn. 15), S. 52 f. und S. 133 – 136; Roland Mousnier, Les institutions de la France sous la monarchie absolue, 2 Bde., Paris 1974 – 1980, I, S. 37 f. 52 Vgl. zum letzten Versuch im Rahmen des sogenannten ‚Code Michau‘ von 1629 Lothar Schilling, Gesetzgebung im Frankreich Ludwigs XIII. – Ein konstitutives Element des Absolutismus? Das Beispiel des Code Michau (1629), Ius Commune 24 (1997), S. 91 (111 – 113).
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unterschiedlichen Kontexten genutzt worden waren, um wichtige Entscheidungen des Königs und zugleich seine Gewalt als oberster Richter symbolisch zu überhöhen, dienten im Laufe der Regierungszeit Heinrichs III. mehr und mehr der Machtdemonstration gegenüber den Obergerichten und der Aushebelung ihres Remonstranzrechts.53 1586 etwa erzwang Heinrich III. bei einem einzigen ‚lit de justice‘ die Registrierung von 27 auf die Schaffung neuer Geldquellen abzielenden Edikten – 16 von ihnen waren dem ‚parlement‘ zuvor nicht einmal zur Beratung vorgelegt worden.54 Vor diesem Hintergrund versuchten die Obergerichte in den Debatten der Religionskriege, die Anerkennung ihrer Partizipationsrechte und zumal des Verifikations- und Remonstrationsrechts als für die König nicht hintergehbare ‚loi du royaume‘ bzw. ‚loi fondamentale‘ durchzusetzen. So betonte der ‚premier président‘ des Pariser ‚parlement‘, Archille de Harlay, in einer Rede bei dem eben erwähnten ‚lit de justice‘, man unterscheide in Frankreich zwischen königlichen Gesetzen, die der König jederzeit ändern könne, und Gesetzen des Königreichs, die „unsterblich“ seien. Zu letzteren gehöre insbesondere, dass kein Gesetz Geltung beanspruchen könne, solange es nicht vom ‚parlement‘ beraten, publiziert und registriert worden sei; denn nur so sei sichergestellt, dass es gut, gerecht und vernünftig sei und angewandt werde.55 Teilweise wurde diese Argumentation sogar noch weiter zugespitzt 53 In den 1980er und 1990er Jahren wurde um die Geschichte des ‚lit de justice‘ eine erbitterte Forschungskontroverse geführt, die hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden kann. Sie wurde ausgelöst durch die Studie von Sarah Hanley, The Lit de Justice of the Kings of France: Constitutional Ideology in Legend, Ritual, and Discourse (= Studies Presented to the International Commission of the History of Representative and Parliamentary Institutions, Bd. 65), Princeton (NJ) 1983. Hanley vertrat die These, Bedeutung als die Registrierung von Gesetzen erzwingender Akt habe das ‚lit de justice‘ erst unter Heinrich IV. erlangt, die von der Forschung angenommene Kontinuität dieser Form des ‚enregistrement forcé‘ seit dem Spätmittelalter beruhe auf einer Legende des 16. Jahrhunderts. Hanleys Thesen haben sich inzwischen in mancher Hinsicht als revisionsbedürftig erwiesen. Es kann heute nicht mehr bezweifelt werden, dass es bereits im Spätmittelalter ‚lits de justice‘ gab, die der Durchsetzung der Registrierung von Rechtsakten des Königs dienten. Andererseits ist deutlich geworden, dass dieses Zeremoniell bis ins 16. Jahrhundert offener gehandhabt wurde und weit weniger institutionalisiert war als von der älteren Forschung angenommen; vgl. zum Ganzen Mack P. Holt, The King in Parliament: The Problem of the ‚Lit de Justice‘ in Sixteenth-Century France, The Historical Journal 31 (1988), S. 507; Françoise Autrand, Art. ‚Lit de justice‘, Lexikon des Mittelalters 5 (1991), Sp. 2010; Robert Jean Knecht, Francis I and the ‚Lit de Justice‘: A ‚Legend‘ Defended, French History 7 (1993), S. 53; Elizabeth A. R. Brown / Richard C. Famiglietti, The ‚Lit de Justice‘. Semantics, Ceremonial and the ‚Parlement‘ of Paris 1300 – 1600 (= Beihefte der Francia, Bd. 31), 1994. 54 Das ‚lit de justice‘ vom 16. Juni 1586 fand breite Beachtung; Reflexe auf dieses Ereignis sind nachgewiesen bei Church (Fn. 15), S. 152 f., Anm. 78; Holt (Fn. 53), S. 514; Hugues Daussy, Les huguenots et le roi. Le combat politique de Philippe Duplessis-Mornay (1572 – 1600) (Travaux d’Humanisme et Renaissance, 364), Genf 2002, S. 307. Zum Ganzen ferner Sylvie Daubresse, Henri III au parlement de Paris. Contribution à l’histoire des lits de justice, Bibliothèque de l’École des chartes 159 (2001), S. 579 (602 f.); dies., Le Parlement (Fn. 46), S. 267 – 289.
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und das Verifikations- und Remonstrationsrecht als zentrales Element eines ursprünglichen Herrschaftsvertrags gedeutet.56 Die Obergerichte deuteten das Remonstranzrecht fortan als ‚loi fondamentale‘, versuchten also, ein seit Jahrhunderten übliches Verfahren der Normenkontrolle, das nach ihrer Auffassung von der Krone ausgehöhlt wurde, als Fundamentalgesetz abzusichern.57 Zugleich deuteten sie ihr Remonstranzrecht zunehmend als Instrument, das die Vereinbarkeit neuer Rechtsakte mit den ‚lois fondamentales‘ sicherstellte, und erklärten sich damit selbst zu Hütern der Fundamentalgesetze. Die Krone widersetzte sich diesen Bestrebungen freilich mit Nachdruck. Sie versuchte, den Grundsatz der Prüfung ‚de lege ferenda‘ nicht nur in Einzelfällen durch den Rekurs auf verschiedene Formen der erzwungenen Registrierung auszuhebeln, sondern ihn auch grundsätzlich außer Kraft zu setzen oder zumindest die aufschiebende Wirkung von Remonstranzen zeitlich zu begrenzen58 – ein Ansatz, der in der Praxis freilich nur sehr eingeschränkt wirksam war. Ludwig XIV. legte 1673 sogar fest, dass Remonstranzen überhaupt erst nach vollzogener Registrierung zulässig waren.59 Ganz abgeschafft freilich hat auch er die Normenkontrolle durch die Obergerichte nicht. Sein eigentliches Ziel, die „Entpolitisierung“ der ‚parlements‘, hat er ebenso wenig erreicht wie sein Nachfolger.60 55 Kritische Edition dieser Rede: Guillaume du Vair, Actions et traictez oratoires. Édition critique, hrsg. v. René Radouant, Paris 1911, S. 221 – 228, hier S. 223. 56 So die Argumentation in einer von dem jungen Parlamentsrat Guillaume du Vair vorgenommenen und anonym publizierten Bearbeitung der vorgenannten Rede. Hier werden die unveränderlichen „ordonnances du Royaume“ als Gesetze definiert, „par lesquelles vous estes monté au throsne Royal & a ceste couronne esté conservée par vos predecesseurs, jusques à vous“; ebd., S. 214 – 218, hier S. 216. 57 Als ‚loi du royaume‘ bzw. ‚loi fondamentale‘ wurde das Verifikations- und Remonstranzrecht im 16. und 17. Jahrhundert von den Obergerichten nahestehenden Juristen auch in einschlägigen Gesamtdarstellungen des französischen (Verfassungs-) Rechts bezeichnet; vgl. etwa Charondas (Fn. 44), 142: „telle est la loy du Royaume, que nuls Edicts, nulles Ordonnances n’ont effect, et on n’obeyt à iceux: ou plustost on ne les tient pour Edits et Ordonnances, s’ils ne sont verifiez aux Cours souveraines […] et par la libre deliberation d’icelles.“; ähnlich Bernard de la Roche Flavin, Treze livres des Parlemens de France […], Bordeaux 1617, XII / 17, Nr. 23, S. 707: „Desquels Edicts […] les Parlemens ont le soin de l’execution. […] Il est vray que par une des loix fondamentales de ce Royaume, les predecesseurs Roys, ont donné le pouvoir à leurs Parlemens de les verifier, homologuer, refuser, limiter, ou restraindre.“ Vgl. zur ‚doctrine parlementaire des lois fondamentales‘ noch immer Holtzmann (Fn. 48), S. 321 und S. 347 – 349; Lemaire (Fn. 11), S. 211 – 219. 58 Vgl. im Einzelnen Schilling, Gesetzgebung (Fn. 52), S. 116 f. 59 Die Frist, innerhalb derer bei Einwänden der Obergerichte ein Aufschub der Registrierung möglich sein sollte, wurde bereits durch die ‚ordonnance civile touchant la réformation de la justice‘ von 1667 auf eine Woche reduziert, bei Abwesenheit des Königs auf sechs Wochen [Druck: Isambert / Jourdan / Decrusy (Hrsg.)], Recueil général des anciennes lois françaises, depuis l’an 420 jusqu’à la révolution de 1789 […], 29 Bde., Paris 1821 – 1833, Bd. 18, S. 103 – 180, hier S. 105 f.). Die gänzliche Aufhebung jeglichen Aufschubs erfolgte durch ‚lettres-patentes‘ vom 23. Februar 1673 (Druck: ebd., Bd. 19, S. 70 – 73).
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2. Souveränität des Königs als Fundamentalgesetz?
Neben dem kontinuierlich (und letztlich trotz aller Einschränkungen erfolgreich) verfolgten Anspruch, im Rahmen ihres Verifikations- und Remonstranzrechts als Hüter der überkommenen Rechtsordnung zu fungieren, haben die Obergerichte in einigen Fällen versucht, konkrete Bestimmungen als Fundamentalgesetze zu etablieren. Sowohl inhaltlich wie mit Blick auf das gewählte Verfahren bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Initiative bei den Generalständen von 1614. Hier forderte der Dritte Stand auf Vorschlag des Pariser ‚parlement‘ im ersten Artikel seines Beschwerdehefts, eine ‚loi fondamentale‘ zu erlassen, auf die alle Deputierten der Generalstände sowie alle geistlichen und weltlichen Amtsträger einen Eid leisten sollten. Dieses Fundamentalgesetz sollte bestimmen, dass keine geistliche oder weltliche Macht den König seines Amtes entheben dürfe; wer seine Souveränität in Frage stellte, sollte als Majestätsverbrecher verurteilt werden.61
60 Vgl. Michael Wagner, Art. ‚Parlement‘, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 – 1820, hrsg. v. Rolf Reichhardt u. a., Heft 10 (= Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, Bd. 10 / 10), München 1988, S. 55, der treffend von einer „gescheiterten ‚Entpolitisierung‘ der Parlements“ spricht (57). 61 Der Text wurde zeitgenössisch mehrfach gedruckt; zuletzt ediert ist er bei JeanFrançois Solnon (Hrsg.), Sources d‘histoire de la France moderne, XVIe, XVIIe, XVIIIe siècle, Paris 1994, S. 218 f. Die maßgebliche Passage lautet: „[…] le roi sera supplié de faire arrêter en l’assemblée de ses états, pour loi fondamentale du royaume qui soit inviolable et notoire à tous: que comme il est reconnu souverain en son État, ne tenant sa couronne que de Dieu seul, il n’y a puissance en terre, quelle qu’elle soit, spirituelle ou temporelle, qui ait aucun droit sur son royaume pour en priver les personnes sacrées de nos rois, ni dispenser ou absoudre leurs sujets de la fidélité et obéissance qu’ils lui doivent pour quelque cause ou prétexte que ce soit. Que l’opinion contraire […] est impie, détestable, contre vérité et contre l’établissement de l’État de la France qui ne dépend immédiatement que de Dieu. Que tous les livres qui enseignent telle fausse et perverse opinion seront tenus pour séditieux et damnables; tous étrangers qui l’écriront et publieront, pour ennemis jurés de la couronne; tous sujets de Sa Majesté qui y adhéreront, de quelque qualité et condition qu’ils soient, pour rebelles, infracteurs des lois fondamentales du royaume et criminels de lèse-Majesté au premier chef. […]“. An der Abfassung dieses Artikels war Antoine Arnauld, ein entschieden gallikanisch eingestellter Anwalt und früherer ‚conseiller d’état‘ Heinrichs IV., dessen Kinder eine wichtige Rolle in der jansenistischen Bewegung spielen sollten, maßgeblich beteiligt; vgl. Eric W. Nelson, Defining the Fundamental Laws of France: The Proposed First Article of the Third Estate at the French Estates General of 1614, English Historical Review 464 (2000), S. 1215; Pierre Blet, L’article du Tiers aux Etats généraux de 1614, Revue d‘histoire moderne et contemporaine 2 (1955), S. 81; Ralf Ritter, Der Wandel der Souveränitätsidee in der politischen Literatur Frankreichs von 1587 bis 1630. Eine Untersuchung zum Werdegang des absolutistischen Staatsdenkens, phil. Diss. (masch.), Freiburg i. B. 1968, S. 181 – 189; J. Michael Hayden, France and the Estates General of 1614, Cambridge 1974, S. 188; James Russell Major, Representative Government in Early Modern France, New Haven / London 1980, S. 406 f.; Denis Richet, Paris et les États de 1614, in: ders. / Roger Chartier (Hrsg.), Représentation et vouloir politiques: autour des États généraux de 1614 (= Recherches d’histoire et de sciences sociales, Bd. 4), Paris 1982, S. 63 (71 f.).
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Der Artikel fügt sich in die bereits angesprochene, auch in anderen Forderungen dieser Generalstände beobachtbare Tendenz ein, angesichts zweier Königsmorde die unbedingte Gehorsamspflicht der Untertanen fundamentalgesetzlich abzusichern. Dass mit dem Pariser ‚parlement‘ ausgerechnet jene Körperschaft eine fundamentalgesetzliche Verankerung der Souveränität des Königs zu erreichen suchte, die sich konsequent als Widerpart autokratisch-absolutistischer Tendenzen des Königs hervorgetan hatte, mag auf den ersten Blick überraschen. Bedenkt man freilich, dass das ‚parlement‘ sich als ‚pars corporis regis‘ verstand, erscheint der Vorstoß schon weniger überraschend. Berücksichtigt man ferner, dass das entschieden gallikanisch-antirömische Obergericht ein primär gegen äußere, päpstliche Einmischung gerichtetes Souveränitätsverständnis vertrat, ist er durchaus plausibel. Im Hinblick auf die Frage eines Schutzes der „Verfassung“ ist an der Initiative des ‚parlement‘ vor allem der Ansatz interessant, nicht nur weltliche, sondern auch geistliche Amtsträger durch einen Eid auf ein Fundamentalgesetz zu verpflichten – das revolutionäre Frankreich hat ihn mit dem Priestereid vom 27. November 1790 aufgegriffen. Die Krone freilich ließ sich auf den Vorstoß des ‚parlement‘ nicht ein – ja, angesichts der offen antirömischen Tendenz des ersten Artikels setzte sie nach Beschwerden des Klerus und der Kurie sogar durch, dass er nicht in den offiziellen, dem König ausgehändigten ‚cahier général‘ übernommen wurde.62 Doch auch andere Artikel, die (ohne antirömische Tendenz) darauf abzielten, die Souveränität des Königs und die Gehorsamspflicht der Untertanen zu Fundamentalgesetzen zu erklären,63 wurden seitens der Krone nicht aufgegriffen. Dies war insofern konsequent, als die fundamentalgesetzliche Absicherung der Souveränität des Königs durchaus als Ansatzpunkt für eine Einschränkung der königlichen Prärogative, ja sogar für die Rechtfertigung von Widerstand dienen konnte, wie etwa die Argumentation eines (an sich der Krone nahestehenden) Juristen, Jean Savaron, aus dem Jahre 1620 zeigt. Savaron argumentierte, der Verzicht des Königs auf seine Souveränität rechtfertige ebenso wie die Veräußerung der Krondomäne Widerstand der Untertanen und ‚officiers‘, denn der König sei letztlich nur eine Art „administrateur et […] usufruictier de son royaume“64. 62 Vgl. die Erläuterung im Text des offiziellen ‚cahier‘; Lalourcé / Duval (Hrsg.), Recueil des cahiers généraux des trois ordres aux États généraux, 4 Bde., Paris 1789, Bd. IV, S. 273; ferner die in der vorigen Fn. zitierte Literatur. 63 Vgl. Schilling, Normsetzung, S. 413. 64 Jean Savaron, De la Souveraineté du Roy, et que sa Majesté ne la peut souzmettre à qui que ce soit, ny aliener son Domaine à perpetuité. Avec les preuves et Authoritez, contre un Autheur incogneu, Paris 1620, S. 10: „Ce defaut de pouvoir donner et aliener procede de ce que le Roy n’est seulement qu’administrateur et comme usufruictier de son Royaume.“ Ebd., S. 11: „puisque la souveraineté et Domaine sont les nerfs et la force de l’Estat, à la manutention duquel le serment et les loix du Royaume
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Es war also das (politisch durchaus wohlbegründete) Festhalten der Krone an einem auf die Grundlagen des Königtums begrenzten Verständnis der Fundamentalgesetze, das die Bestrebungen der Obergerichte, die Souveränität des Königs zum Fundamentalgesetz zu erklären, ins Leere laufen ließ.
3. Die Regelung der Regentschaft
Dem Pariser ‚parlement‘ blieb freilich ein Ansatzpunkt, um sich als Hüter bzw. Wächter der Fundamentalgesetze ins Spiel zu bringen. Es waren dies jene Situationen, in denen das Königtum auch in einer Erbmonarchie mit Primogeniturerbfolge strukturell schwach war: wenn beim Tod eines Königs kein volljähriger Thronfolger bereitstand und eine Regentschaft eingerichtet werden musste – ein Fall, der bekanntlich in der französischen Geschichte der Frühen Neuzeit mehrfach eingetreten ist.65 Tatsächlich hat das ‚parlement de Paris‘ in fast allen betreffenden Fällen maßgeblich an der Bestätigung bzw. Installierung der Regentschaft mitgewirkt. Dies war 1574 so, als Heinrich III. nach dem Tod seines älteren Bruders erst aus Polen anreisen musste,66 1610 nach der Ermordung Heinrichs IV.,67 aber auch 1643 beim Tod Ludwigs XIII. und schließlich 1715 beim Tod Ludwigs XIV. Die Beteiligung des ‚parlement de Paris‘ blieb dabei nicht auf zeremonielle Aspekte beschränkt, sondern schloss die inhaltliche Überprüfung der Regentschaftsregelung ein. Dies wurde zumal bei den beiden letztgenannten Fällen deutlich, in denen die Könige jeweils kurz vor ihrem Tod einen Regentschaftsrat eingesetzt hatten – Ludwig XIII. durch eine beim ‚parlement‘ registrierte ‚déclaration‘68, Ludwig XIV. durch ein bei diesem Gericht hinterlegtes Testament69. In beiden Fällen ist es den jeweiligen Regenten (im
obligent vostre Majesté […]. Vos subiects et officiers [sont obligés] à s’opposer à ces aliénations, sauf l’honneur et reverence du Roy, sans pour ce encourir le crime de rebellion et de desobeissance.“ Vgl. zu der auf Jean de Terre Rouge zurückgehenden Vorstellung des Königs als ‚usufruitier‘ oder ‚administrateur‘ des Königreichs (mit weiteren Belegen) Robert Descimon, La royauté française entre féodalité et sacerdoce. Roi seigneur ou roi magistrat?, Revue de synthèse 112 (1991), S. 455 (457 f.); zu Savaron Sabrina Michel, Un propagandiste du pouvoir royal au début du XVIIe siècle: Jean Savaron, Revue Française d’Histoire des Idées politiques 4 (1996), S. 227 (248 – 252). 65 Vgl. zum Folgenden noch immer Holtzmann (Fn. 48), S. 313 – 316. 66 Vgl. etwa Daubresse, Le Parlement (Fn. 46), S. 51 f. 67 Vgl. Albert Cremer, Les grands administrateurs français au début de l’époque moderne vus par eux-mêmes (16e / 17e siècles), Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 6 (1994), S. 1 (10 f.); Kathleen Crawford, Perilous Performances. Gender and Regency in Early Modern France (= Harvard Historical Studies, Bd. 145), Cambridge / (Mass.) 2004, S. 98 – 136, insb. S. 68 – 71. 68 Druck: Isambert / Jourdan / Decrusy (Hrsg.) (Fn. 59), Bd. 16, S. 550 – 556. 69 Das Testament Ludwigs XIV. vom 2. August 1714 ist (handschriftlich und transkribiert) zugänglich unter http: //www.archivesnationales.culture.gouv.fr/chan/chan/ testament-et-codicille.pdf; es ist u. a. abgedruckt bei Isambert / Jourdan / Decrusy
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ersten Fall der Königinmutter Anne d‘Autriche, im zweiten Fall dem Neffen Ludwigs XIV., Philippe d’Orléans), mit Hilfe des ‚parlement de Paris‘ gelungen, den vom verstorbenen König eingesetzten Regentschaftsrat zu beseitigen – 1643 im Rahmen eines ‚lit de justice‘, das Anne d’Autriche mit dem kaum fünfjährigen Ludwig XIV. abhielt70, 1715 durch einen Beschluss des ‚parlement de Paris‘, das auf Antrag Philipps von Orléans entschied, die Regentschaft falle – dies sei ein Grundgesetz der Monarchie – automatisch dem nächsten volljährigen Verwandten des minderjährigen Königs zu71. Die Entscheidung des Jahres 1715 ist insofern besonders interessant, als das ‚parlement‘ noch weitere Bestimmungen des Testaments des Sonnenkönigs aufhob72 – insbesondere die Bestimmung, seinen beiden der Verbindung mit der Marquise de Montespan entstammenden Lieblingssöhnen, dem Herzog von Maine und dem Grafen von Toulouse, wichtige Ämter und Kommandos zu übertragen und sie ungeachtet ihrer illegitimen Geburt zur Thronfolge zu berechtigen – unmittelbar nach den männlichen Angehörigen der bourbonischen Nebenlinien Orléans und Condé. In diesem Fall fungierte das ‚parlement de Paris‘ unbestreitbar als Wächter der Fundamentalgesetze, da der Eingriff des Sonnenkönigs in die Thronfolge zweifelsfrei gegen das salische Gesetz verstieß. Das Gericht nutzte die Gelegenheit, um über dieses unumstrittene Fundamentalgesetz hinaus eine neue ‚loi fondamentale‘ bezüglich der Regentschaft zu postulieren. Doch damit nicht genug: Als Gegenleistung für die Unterstützung, die es Philipp von Orléans gewährte, konnte das ‚parlement de Paris‘ die volle Wiederherstellung des alten Remonstranzrechts erreichen.73 Diese entscheidende Stärkung, die auch nach dem Ende der ‚Régence‘ nicht revidiert wurde, bildete bis 1789 die Grundlage für ein neues Selbstbewusstsein der Obergerichte in ihrem nun konsequent als Verteidigung der Fundamentalgesetze legitimieren Widerstand gegen (tatsächliche oder an(Hrsg.) (Fn. 59), Bd. 20, S. 623 – 628; vgl. François Bluche, Louis XIV, Paris 1986, S. 871 – 875. 70 Vgl. Anon., Séance du Roy Louis XIV tenant son lit de justice en son Parlement le 18 may 1643, Paris 1643; Crawford (Fn. 66), S. 98 – 136, insb. S. 104 – 107; Klaus Malettke, Die Bourbonen, I: Von Heinrich IV. bis Ludwig XIV. (1589 – 1715), Stuttgart 2008, S. 132 f. 71 Vgl. zur Rolle des ‚parlement‘ in der Regentschaft Philipps von Orléans Crawford (Fn. 67), S. 137 – 176; Klaus Malettke, Die Bourbonen, II: Von Ludwig XV. bis Ludwig XVI., 1715 – 1789 / 92, Stuttgart 2008, S. 7 – 10. 72 Druck des im Gefolge des ‚lit de justice‘ vom 2. September 1715 gefassten Beschlusses (‚arrêt‘) des Pariser ‚parlement‘ mit damit verknüpften Aktenstücken aus den Parlements-Registern ebd., Bd. 21, S. 2 – 25; ein Protokoll des ‚lit de justice‘ ebd., S. 26 – 36. Vgl. zum Ganzen Michel Antoine, Louis XV, Paris 1989, S. 31 – 37; Ernst Hinrichs, Fürsten und Mächte. Zum Problem des europäischen Absolutismus, 2000, S. 9 – 17. 73 Die betreffende ‚déclaration‘ vom 15. September 1715 ist ediert bei Isambert / Jourdan / Decrusy (Hrsg.) (Fn. 59), Bd. 21, S. 40 f.
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gebliche) Missbräuche der königlichen Politik – bis hin zu ihrer konsequenten Blockadepolitik gegen alle Ansätze einer Steuerreform.
4. „Constitution“ als politischer Kampfbegriff
Dieser Kampf, der zu Beginn der 1770er Jahre unter Kanzler Maupeou in der zeitweiligen Aufhebung der Obergerichte gipfelte,74 wird bis heute von der Forschung nicht einheitlich bewertet. Lange Zeit dominierte eine – von weltanschaulich wie methodisch so unterschiedlichen Historikern wie Alfred Cobban,75 Michel Antoine76 und Albert Soboul77 vertretene – Deutung, die in den Obergerichten – ganz im Sinne der royalistischen Propaganda in der Ära Maupeou78 – von Standesegoismen getriebene Reformverhinderer erblickte, die die notwendige Neuordnung des französischen Finanzsystems blockierten, um eigene Privilegien zu erhalten. In der jüngeren, vor allem angelsächsischen Literatur wird die Opposition der ‚parlements‘ indes weniger als Ausdruck ökonomischer Interessen denn als Ergebnis der Eigendynamik der konfliktuellen politischen Kultur Frankreichs im 18. Jahrhundert erklärt, deren Entstehung wiederum mit dem Jansenismusstreit in Verbindung gebracht wird.79 Unabhängig davon, wie man die inneren Konflikte im Frankreich des 18. Jahrhunderts (und zumal die Rolle der ‚parlements‘) deutet, ist unumstritten, dass die Obergerichte in diesem Kontext das als autonomer Gegenpart zum König verstandene Konzept der Nation entwickelten und sich selbst als deren Vertreter definierten, während andererseits ihr Selbstverständnis als ‚pars corporis regis‘ verblasste.80
74 Vgl. Durand Echeverria, The Maupeou Revolution. A Study in the History of Libertarianism, France 1770 – 1774, Baton Rouge / London 1985; Cottret (Fn. 7), S. 143 – 178. 75 Alfred Cobban, A History of Modern France, Bd. 1: 1715 – 1799, Baltimore 1961. 76 Antoine (Fn 72). 77 Albert Soboul, La Révolution française, 2 Bde., Paris 1964. 78 Vgl. Sarah Maza, Private Lives and Public Affairs. The Causes Célèbres of Prerevolutionary France, Berkeley (CF) u. a. 1993, S. 51 – 60. 79 Vgl. neben der in Fn. 7 genannten Literatur Peter R. Campbell, The Conduct of Politics in France in the Time of the Cardinal de Fleury, 1723 – 1745, Ph.D. thesis, London 1985 (besonders zum Einfluss des ‚parti janséniste‘ innerhalb der Magistratur des ‚parlement de Paris‘ in den 1720er und 1730er Jahren); ders., Power and Politics in Old Regime France, 1720 – 1745, London 1996; Dale Van Kley, The Jansenists and the Expulsion of the Jesuits from France, 1757 – 1765, New Haven (CT) 1975; ders., The Damiens Affair and the unraveling of the ancien régime, 1750 – 1770, Princeton (NJ) 1984. 80 Vgl. etwa Jean Egret, Louis XV et l’opposition parlementaire, 1715 – 1774, Paris 1970; Daniel A. Bell, Des Stratégies d’opposition sous Louis XV. L’affaire des avocats, 1730 – 31, Histoire, Économie & Société 9 (1990), S. 567; ders., The Cult of the Nation in France. Inventing Nationalism 1680 – 1800, Cambridge (Mass.) / London 2003, S. 50 – 77; Julian Swann, Politics and the Parlement of Paris, 1754 – 1774, Cambridge (Mass.) 1995.
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Die von den Parlamentsräten (und mehr noch von an diesen Gerichten tätigen Anwälten wie Le Paige81) in den Konflikten nach 1715 entwickelten Positionen knüpften in vieler Hinsicht an die oben skizzierten konstitutionellen Theorien des 16. und frühen 17. Jahrhunderts an. Sie ergänzten sie durch den Rückgriff auf die (fiktive) rechtshistorische Überlieferung (etwa durch die Deutung der ‚parlements‘ als Rechtsnachfolger fränkischer Volksversammlungen)82 und durch die Übertragung der jansenistischen Ekklesiologie des Widerstandes auf den Bereich des Politischen – der Jansenismus hatte bekanntlich vor allem an diesen Gerichten breiten Rückhalt. Zumal die Selbststilisierung des ‚parlement de Paris‘ als „ dépositaire et […] conservateur des Loix constitutives de l’État“, dem es oblag „[de] s’opposer comme un mur d’airain à tout ce qui pourroit affoiblir l’autorité de ces […] Loix“, wies nicht zufällig eindeutige Parallelen zur Argumentation der Jansenisten auf, die behaupteten, die reine christliche Glaubenswahrheit gegen den ‚pouvoir arbitraire‘ des Papstes zu verteidigen.83 Dabei ging die jansenistisch inspirierte Neuformulierung des „konstitutionellen Denkens“ mit einer Sakralisierung der Nation – deren Verkörperung die ‚parlements‘ zu sein beanspruchten – bei gleichzeitiger Desakralisierung des Königtums einher.84 Diesem Diskurs der ‚parlements‘, dem die Kommunikationsstrategie des Appells an das Publikum korrespondierte, setzte die Krone das Programm des „königlichen Patriotismus“ entgegen, das die affektive Einheit zwischen König und Nation betonte und damit alle rechtlichen Reglementierungen der monarchischen Herrschaftsausübung implizit zurückwies.85 In dieser Konstellation erfolgte auch die eingangs bereits angesprochene Rezeption der semantischen Neujustierung des ‚constitution‘-Begriffs durch Montesquieu, der bekanntlich selbst dem Parlamentsadel entstammte. Sie wurde von den Obergerichten in ihrem Kampf gegen die Krone begierig auf81 Louis Adrien Le Paige (*1712, +1803), Jansenist und erklärter Gegner der ‚philosophes‘, wurde von der Forschung lange vernachlässigt; die jüngere Jansenismus-Forschung sieht in ihm freilich (ungeachtet divergierender Perspektivierungen) einen politisch ungemein wirksamen Akteur der jansenistisch-aufgeklärten Kritik an der Monarchie; vgl. zusammenfassend Vogel (Fn. 7). 82 So etwa in einer Flugschrift, die über weite Strecken ein gegen Mazarin gerichtetes Pamphlet aus der Zeit der Fronde aufnimmt: Anon., Mémoire touchant l’origine de l’autorité du Parlement de France appelé Judicium Francorum, Paris 1730; vgl. Catherine Maire, L’église et la nation. Du dépôt de la vérité au dépôt des lois. La trajectoire janseniste au XVIIIe siècle, Annales 46 (1991), S. 1177 (1193). Voll entfaltet wird diese pseudohistorische Herleitung bei Louis Adrien Le Paige, Lettres historiques sur les fonctions essentielles du Parlement, sur le droit des Pairs et sur les lois fondamentales, 2 Bde., Amsterdam 1753 – 1754; vgl. Wagner (Fn. 60), S. 13. 83 Le Paige (Fn. 82), Bd. 1, S. 32; vgl. zum Ganzen (mit zahlreichen weiteren, ähnlich lautenden Belegen) Maire, L’église et la nation (Fn. 82). 84 So die zentrale These von van Kley, The Religious Origins (Fn. 7). 85 Vgl. Thomas E. Kaiser, Louis the Bien-Aimé and the rhetoric of royal body, in: Sara E. Melzer / Kathryn Norberg (Hrsg.), From the Royal to the Republican Body. Incorporating the Political in the Seventeenth- and Eighteenth-Century France, Berkeley (CF) 1998, S. 131 – 161; Bell, The Cult of the Nation (Fn. 80), S. 63 – 68.
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gegriffen, da der neue ‚constitutions‘-Begriff es erlaubte, jene nun mehr und mehr der ‚nation‘ zugeordneten Grundlagen der Rechtsordnung griffig zu bezeichnen, als deren Wahrer sich die Obergerichte darstellten. Mochten die in diesem Zusammenhang zu ‚lois fondamentales‘ erklärten Rechtsnormen zwar weiterhin großenteils traditional hergeleitet sein und älteren Forderungen (und den wirtschaftlichen Interessen) der Gerichtshöfe entsprechen (Prinzip der ‚inamovibilité des offices‘, Achtung der ‚franchises et libertés‘ einzelner Provinzen und Korporationen, Verifikations- und Remonstranzrecht), so erhielt die Argumentation der Obergerichte durch die Verknüpfung von ‚lois fondamentales‘, ‚constitution‘ und ‚droits de la Nation‘, die einer angeblichen Theorie der königlichen Allmacht entgegengestellt wurden, doch eine ganz neue Dynamik. Im Zuge der Maupeou-Krise hat sich das oppositionelle Lager bekanntlich erheblich radikalisiert. Es entstand der ‚parti patriote‘, der nun offen gegen den ministeriellen Despotismus polemisierte und die Nation zur einzigen Quelle der Souveränität erklärte.86 Parallel dazu löste sich die Verfassungsdiskussion zunehmend von der bis dahin gerade von den ‚parlements‘ betonten Rückbindung an die Rechtstradition der französischen Monarchie. Das parlamentarische Milieu bildete zwar auch weiterhin den Kern dieser Bewegung, die in der propagandistischen Auseinandersetzung mit der Krone die Oberhand gewann, doch ging der prägende Einfluss der ‚parlements‘ auf die Argumentation der antiroyalistischen Opposition nun allmählich zurück. Obschon etwa van Kley zu Recht auf das Fortwirken eines ideellen und personellen Substrats der jansenistisch-parlamentarischen Opposition bis in die erste Phase der Revolution hinweist,87 traten im Diskurs der Patrioten Bezüge auf das positive Recht der französischen Monarchie und die (erfundene) fränkische Ur-Geschichte der ‚parlements‘ zugunsten naturrechtlicher Argumente, aber auch poetischer, zukunftsgerichteter Evokationen der Freiheit der Nation in den Hintergrund.88 Nun geriet auch der Anspruch der ‚parlements‘, als einzige legitime Fürsprecher der Nation zu agieren und die ‚lois fondamentales‘ zu verteidigen, zunehmend in die Kritik. Spätestens im Zuge der Debatten um die Wahlund Abstimmungsmodalitäten der einzuberufenden Generalstände wurde er endgültig zurückgewiesen. Damit war der Weg frei für ein neues Verfas86 Vgl. Shanti Singham, „A Conspiracy of Twenty Million Frenchmen“. Public Opinion, Patriotism and the Assault on Absolutism During the Maupeou Years 1770 – 1775, Ph.D. diss., Princeton 1991. 87 Vgl. van Kley (Fn. 7), S. 249 – 302. 88 Vgl. Peter R. Campbell, The Language of Patriotism in France, e-France. Journal of French Studies 1 (2007), S. 1 – 43 (http: //www.reading.ac.uk/e-France/Campbell% 20-%20Language%20of%20Patriotism.htm.pdf); ders., The Politics of Patriotism in France (1770 – 1788), French History 24 (2010), S. 550; Bell, The Cult of the Nation (Fn. 80), S. 68 – 77.
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sungsverständnis, das die Verfassung als allein von der Nation zu handhabendes rechtliches Instrument zur Sicherung der Souveränität des Volkes und der Individualrechte jedes Einzelnen verstand. Abbé Sieyès hat dieses Verständnis, das auch in dem eingangs zitierten Artikel der ‚déclaration des droits de l’homme et du citoyen‘ zum Ausdruck kommt, seit November 1788 in seinen Reformbroschüren und schließlich im Januar 1789 in seiner Schrift ‚Qu’est-ce que le Tiers Etat‘89 in großer Klarheit niedergelegt.
IV. Zusammenfassung Im frühneuzeitlichen Frankreich gab es – wie in den meisten europäischen Gemeinwesen der Vormoderne – Rechtsnormen, die von den sich zu entsprechenden Fragen artikulierenden bzw. am politischen Leben teilhabenden Zeitgenossen als für die Monarchie grundlegend und deshalb unveränderlich eingeschätzt wurden. Obwohl der sich zur Bezeichnung dieser Rechtsnormen spätestens im 17. Jahrhundert europaweit durchsetzende Begriff der ‚leges fundamentales‘ bzw. ‚lois fondamentales‘ zuerst in Frankreich geprägt wurde und die Diskussion über diese Fundamentalgesetze hier bis in die Zeit der Fronde sehr intensiv geführt wurde, wurden in Frankreich – bedingt durch die strikt auf Wahrung der unteilbaren Souveränität des Königs ausgerichteten Politik der Krone – letztlich nur wenige die Sukzession und die Krondomäne betreffende Rechtsnormen allgemein als Fundamentalgesetze anerkannt. Obwohl die ‚lois fondamentales‘ in den zeitgenössischen Debatten gelegentlich als Verträge zwischen Königtum und Volk bzw. Königtum und Repräsentativkörperschaften gedeutet wurden, hat es in Frankreich anders als in vielen anderen zeitgenössischen Monarchien und besonders im Reich keine vertragsförmig zustande gekommenen Fundamentalgesetze gegeben. Die strikte Souveränitätspolitik der Krone stand auch Bestrebungen zum Schutz der Fundamentalgesetze entgegen. Selbst Initiativen, die darauf abzielten, die Souveränität des Königs oder den unbedingten Gehorsam der Untertanen als Fundamentalgesetze zu verankern, wurden von der Krone abgelehnt. Gleichwohl haben die königlichen Obergerichte und zumal das Pariser ‚parlement‘ versucht, (allgemein) als Hüter der Rechtsordnung und (spezifischer) als Hüter der ‚lois fondamentales‘ zu fungieren. Als Ansatzpunkt diente dabei einerseits das Verifikations- und Remonstrationsrecht, das
89 Emmanuel-Joseph Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers états, o. O. [Paris] 1789; vgl. Pasquale Paquino, Sieyès et l’invention de la constitution en France, Paris 1998; Christian Winterhoff, Verfassung – Verfassungsgebung – Verfassungsänderung (= Jus Publicum, Bd. 155), Tübingen 2007, S. 26 – 29 u. ö.
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nach dem Verständnis der Obergerichte seinerseits ein Fundamentalgesetz darstellte; es zielte nicht spezifisch auf den Schutz der Fundamentalgesetze, auch wenn es von den Obergerichten immer wieder in diesem Sinne gedeutet wurde. Der zweite Ansatzpunkt ergab sich im Zusammenhang mit Regentschaften. Hier ist es dem Pariser ‚parlement‘ gelungen, über ihren Tod hinausgehende Regelungsversuche einzelner Könige zurückzuweisen und 1715 einen Verstoß Ludwigs XIV. gegen das salische Gesetz abzuwehren. Bei dieser Gelegenheit wurde zudem mit der Wiederherstellung des uneingeschränkten Remonstranzrechts die Grundlage gelegt für das Wiedererstarken der Obergerichte, die nach 1715 ihre Partizipationsansprüche neu legitimierten, indem sie sich als von der Nation mit dem Schutz der überkommenen Rechtsordnung (bzw. seit der Mitte des Jahrhunderts: der Verfassung) beatuftragt darstellten. Die Obergerichte haben damit sowohl institutionell wie inhaltlich eine entscheidende Rolle bei der Politisierung der Verfassungsdiskussion des 18. Jahrhunderts gespielt. Als freilich in den späten 1770er und 1780er Jahren die Herleitung der ‚constitution‘ aus der überkommenen Rechtsordnung der Monarchie in Frage gestellt wurde, wurde auch der Anspruch der Obergerichte, im Namen der Nation die Verfassung zu hüten, hinfällig. Für Sieyès und seine Mitstreiter stand denn auch außer Frage, dass der Schutz der neuen Verfassung nicht einer privilegierten Körperschaft der alten Monarchie übertragen werden durfte.
Aussprache Gesprächsleitung: Härter
Härter: Vielen Dank für dieses sehr dichte Referat, das uns insgesamt in die Verfassungsproblematik des frühneuzeitlichen Frankreich eingeführt hat, gleichwohl auch sehr deutlich gemacht hat, dass Verfassungsschutz im Grunde auf wenige verfassungsähnliche Normen und vielleicht auch auf das monarchische Prinzip begrenzt war. Es wäre aber zu diskutieren, welche Rolle der König spielte und ob er derjenige war, der überwacht oder vor Gefährdung geschützt werden musste. Ich glaube, das gibt genug Anlass zur Diskussion und würde um Wortmeldungen bitten. Herr Schönberger. Schönberger: Vielen Dank, Herr Schilling, für dieses äußerst anregende Referat, das zu ganz vielen Fragen und Bemerkungen Anlass gäbe. Vielleicht eine Eingangsüberlegung mit modernen Kategorien. Könnte man vielleicht sagen, was Sie uns vorgestellt haben, betrifft zwei Aspekte, die wir auch noch in der modernen Verfassung kennen? Nämlich einerseits die Konstituierung der öffentlichen Gewalt und andererseits deren Begrenzung. Der klassische Kern der lois fondamentales betrifft ganz stark die Konstituierung der öffentlichen Gewalt, dass ich weiß, wer der Herrscher ist, dass ich sicher sein kann, das geht auch weiter. Das ist der Kern der Regel, dass das Krongut nicht veräußert werden darf. All das sind Aspekte, die die Existenz und Konstituierung der öffentlichen Gewalt als solche betreffen. Das Gegenstück ist natürlicherweise sehr viel unklarer und betrifft irgendwelche Formen von Begrenzungen dieser Gewalt. Sie haben uns ja sehr schön vorgeführt, dass diese Grenzen immer unklar waren und eigentlich so richtig erst im 18. Jahrhundert inhaltlich gefüllt wurden. Hier entwickeln die Parlements ja nun wirklich sehr viele auch grundrechtliche Gehalte wie den Schutz vor willkürlicher Verhaftung, wenn auch häufig noch in Verbindung mit ihrer eigenen korporativen Stellung. Aber es erinnert doch vieles schon an moderne Grundrechte. Das wäre also meine erste Frage: Kann man das Ancien Régime insoweit mit moderneren Kategorien beschreiben? Der zweite Aspekt betrifft ein historisches Paradox. Frankreich gelingt es nämlich nach 1789 nicht mehr, die Verfassung zu schützen. Hingegen beschreiben Sie uns für das Frankreich vor 1789 zumindest eine ganz Menge von Ansätzen für den Schutz der Verfassung, insbesondere eben durch die Parlements als Gerichtshöfe. Danach klappt es ja ganz lange Zeit nicht und
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man hat grundsätzliche Schwierigkeiten mit der Verfassungsgerichtsbarkeit. Wie würden Sie dieses Paradox einschätzen? Es ist ja doch ein interessanter Punkt, dass man beim Thema Verfassungsgerichtsbarkeit in Frankreich eher an das ältere, vormoderne Frankreich denken würde als an das moderne. Vielleicht damit verbunden ein letzter Aspekt: Was die Parlements hinsichtlich der Fundamentalgesetze machen, ist ja gewissermaßen eine Form präventiver Normenkontrolle. Alles geschieht ja vor der Registrierung des Gesetzes. Bevor das Gesetz wirklich wirksam wird, kommen die Parlements ins Spiel. Und die Franzosen haben das ja später auch noch lange in der Verfassungsgerichtsbarkeit so gehandhabt. Das ist erst in den letzten Jahren grundlegend verändert worden. Steckt dahinter nicht ein ganz fundamentales Anliegen? Wenn die öffentliche Gewalt schon in Frage gestellt wird, dann soll dies eben präventiv geschehen. Die Parlements appellieren an den wahren, den guten König, der ein solches Gesetz gar nicht erst erlassen würde. Aber wenn es dann einmal in Kraft ist, dann gibt es keine Möglichkeit mehr, es in Frage zu stellen. Ist das nicht vielleicht eine urfranzösische Kombination, die dann auch nach 1789 noch fortwirkt? Es gibt durchaus die Möglichkeit, dass der Gesetzesinhalt gegenüber dem König problematisiert werden darf, auch mit naturrechtlichen Argumenten, auch mit dem Argument höherrangiger lois fondamentales. Aber wenn das Gesetz einmal in Kraft ist, wenn es registriert wurde, dann gibt es kein Pardon mehr, dann muss es durchgeführt werden. Falls man es jetzt noch in Frage stellen könnte, wäre die öffentliche Gewalt als solche gefährdet. Ist das vielleicht das Erbe, das auch nach 1789 fortwirkt, als man sich die Infragestellung von Gesetzen ja für lange Zeit noch viel weniger vorstellen konnte als im Ancien Régime? Schilling: Vielen Dank für diese Fragen, die ja in mancher Hinsicht über das von mir behandelte Thema hinausführen, in einem Punkt vielleicht auch tatsächlich im Anschluss an das nächste Referat noch einmal behandelt werden sollten. Aber ich gehe die einzelnen Punkte gerne einmal durch. Erstens: Wir haben es tatsächlich mit zwei Seiten zu tun: Die eine Seite betrifft Konstituierung und Grundlagen der königlichen Gewalt. Das ist der Bereich, in dem in Frankreich die lois fondamentales greifen, im anderen, der Begrenzung der königlichen Gewalt, spielt das parlement die entscheidende Rolle. Das ist richtig und es ist ein Spezifikum der Fundamentalgesetzsituation im Frankreich des Ancien Regime, dass die Konstituierung und Sicherung der königlichen Gewalt den Kern der Fundamentalgesetze ausmacht und die andere Seite, die Begrenzung und Kontrolle, an die Tätigkeit der parlements gebunden ist. Dies ist durchaus ein Reflex einer entsprechenden öffentlichen Diskussion. Die Betonung der Sicherung der königlichen Gewalt in den Fundamentalgesetzen wird von einer breiten Mehrheit getragen – hier spielt, wenn man die Diskussion gerade bei den Generalständen
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1614 ansieht, die Erfahrung der Religionskriege eine fundamentale Rolle. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung, zu der auch die Erfahrung zweier Königsmorde gehört, stellt sich die Notwendigkeit, die Grundlagen der monarchischen Gewalt zu sichern, als über alle Diskussion erhaben dar. Auch die „konstitutionalistischen“ Kräfte des 16. und frühen 17. Jahrhunderts stellen die loi salique und die Notwendigkeit der Sicherung der Monarchie nicht in Frage. Es gibt einige Diskussionen über die Volljährigkeit des Königs mit dreizehn Jahren, aber ansonsten gibt es kaum Dissens – auch der Grundsatz le roi est mort vive le roi ist nicht umstritten. Insofern gebe ich Ihnen Recht, über die fundamentalgesetzliche Sicherung der Grundlagen des Königtums herrscht Konsens, während umgekehrt über die Fragen der Begrenzung seiner Gewalt letztlich kein Konsens hergestellt werden kann. Die Frage, warum der Verfassungsschutz nach 1789 nicht funktioniert, ist wesentlich schwieriger zu beantworten – über sie sollte man nach dem nächsten Referat noch einmal diskutieren. Ich denke, dies hat vielleicht auch mit Ihrer dritten Frage zu tun. Ich würde in der Tat sagen, das im Ancien Régime übliche Verfahren, nämlich vorher zu klären, ob ein Gesetz im Widerspruch zur Rechtsordnung steht, und wenn dies geklärt ist, die Achtung des Gesetzes unbedingt einzufordern (was nicht heißt, dass dies stets funktioniert), ist grundsätzlich durchaus funktional. Hier ist ja auch der Grund zu suchen, weshalb das Prüfungs- und Remonstranzrecht der parlements so lange Zeit von der Krone problemlos anerkannt wird. Dies wird gerne übersehen, denn aus der Perspektive der Zeit Richelieus und Ludwigs XIV. mag man annehmen, das Verhältnis von Krone und Obergerichten sei durch ständige Konflikte geprägt gewesen (was freilich selbst für diese Zeit nicht ganz richtig ist). Es kam zu Konflikten zumal dann, wenn die parlements versuchten, das Inkrafttreten von Rechtsakten auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben. Dagegen versuchte gerade Ludwig XIV., das sofortige Inkrafttreten seiner Rechtsakte durchzusetzen – ob dies tatsächlich langfristig im Interesse der Krone war, sei dahingestellt. Die Kontrolle vor Inkrafttreten beruhte also auf sehr langer Erfahrung. Ich bin mir nicht sicher, ob das nach 1789 völlig abgebrochen ist. In der Revolution und in der napoleonischen Zeit ist aber in der Tat zu beobachten, dass die öffentliche Infragestellung einmal in Kraft getretener Gesetze um alles in der Welt vermieden werden sollte. Härter: Vielen Dank! Herr Ruppert. Ruppert: Es ist interessant, in einer Hinsicht haben Sie ja, obwohl Sie das ja wieder etwas relativiert haben durch die neuere Forschung, einen ganz wichtigen neuen Aspekt in unser Tagungsthema gebracht, in den „Schutz der Verfassung“. Schutz der Verfassung kann auch sein, dass eine Schicht um ihre Privilegien kämpft, um sie zu erhalten. Ich meine, den Kampf der Parlements gegen das Königtum kann man ja so deuten. Das
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war eine Schicht, die hat ihre Privilegien versucht zu erhalten, hat das in der Form des Verfassungsschutzes getan, aber darum ging es mir nicht in erster Linie. Meine Frage ist nur ganz kurz: Sie haben den Verfassungsschutz exemplifiziert an der Registrierung der Gesetze; das liegt auf der Hand und ist auch für die französische Monarchie der Frühen Neuzeit einsichtig. Aber muss man vielleicht nicht doch, wenn man das so macht, eher von dem Schutz der Rechtsordnung als vom Schutz der Verfassung sprechen, wenn man sich einmal die Materien anschaut, um die es ging bei der jeweiligen Registrierung? Schilling: Dies sind beides Fragen, die allgemein auf Charakteristika vormoderner Rechtsordnungen abheben. Den Begriff der Schicht würde ich hier freilich nicht verwenden. Es handelt sich um eine privilegierte Korporation, und die verteidigt selbstverständlich ihren Status. Wobei ich nicht – wie Sie dies andeuten – von Missbrauch sprechen würde. Die Rechtsordnungen der Vormoderne beruhen darauf, dass jeder über spezifische Rechte verfügt. Privilegien sind konstitutiv für diese Ordnung – so haben die parlements dies auch sehr lange gesehen. Sie haben nicht die Verteidigung ihrer Privilegien als Verteidigung der Verfassung ausgegeben, sondern sie waren überzeugt, dass Privilegien in der Rechtsordnung ihrer Zeit eine konstitutive Rolle spielten. Das ändert sich dann im Laufe des 18. Jahrhundert, da wird dann auch die Verfassungsdiskussion um neue Werte, um Ansätze eines Grundrechtsschutzes usw., angereichert. Bei Montesquieu kann man diese Verschiebungen erkennen. Also: die parlements verteidigen selbstverständlich ihre Vorrechte, doch sie handeln sozusagen systemkonform. Schutz der Rechtsordnung, Schutz der Verfassung: Dies ist ein Problem, das ich eingangs angesprochen und mit Luhmann als mangelnde Differenzierung bezeichnet habe. Es gibt keine klare Ausdifferenzierung zwischen der Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit und dem spezifischen Verfassungsrecht. Dies ist ja auch die Voraussetzung dafür, dass es dann im 18. Jahrhundert über die inhaltliche Ausdehnung der lois fondamentales zu einer breiten Debatte kommt. Die parlements konstruieren in dieser Zeit umfassende lois fondamentales, und in dieses weite Verständnis der Fundamentalgesetze fließen Eigeninteressen und Standesinteressen ebenso wie neue Grundrechtskonzeptionen. Die materielle Erstreckung der Fundamentalgesetze und schließlich des sich entwickelnden Verfassungskonzepts ist nicht klar abgegrenzt. Anders als dann nach 1789, als in kurzer Zeit eine Verfassung neu geschaffen und schriftlich fixiert wird, bezeichnet der Verfassungsbegriff im Verlauf der vorausgehenden Diskussionen des 18. Jahrhunderts verschiedene sich wandelnde ältere und neue Norminhalte, er reichert sich allmählich an – und dies macht diese Diskussionen so reizvoll. Aber vielen Dank für den Hinweis. Härter: Herr Schmidt.
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Schmidt: Herr Schilling, verstehe ich Sie recht, wenn ich zu der Auffassung komme, dass sich die Leges Fundamentales in Frankreich um das Königtum drehen, im Gegensatz zu dem, was uns Frau Westphal für Deutschland vorgeführt hat, wo es um die Friedens- und Sicherheitsregelungen geht? Und würde ich Sie dann immer noch richtig verstehen, wenn ich behaupte, dass die Entwicklungsfähigkeit dieser Leges Fundamentales in Frankreich praktisch nicht gegeben ist, während im Reich hingegen eine Entwicklung und eine Anpassung an die Verhältnisse besser und deutlich schneller möglich ist, als dies in Frankreich überhaupt denkbar wäre? Schilling: Herr Schmidt, ich würde Sie wahrscheinlich überraschen, wenn ich sagte, ich stimme Ihnen zu [Heiterkeit]. Ich stimme nicht zu, denn zum einen halte ich den Gegensatz Königtum versus Frieden für problematisch. Ich habe versucht deutlich zu machen, dass ja gerade die Legitimität des Königtums (ungeachtet der durchaus begrenzten persönlichen Begabung einzelner Könige) nicht in Frage steht. Wovon zehrt denn die Legitimität des Königtums? Genau davon (dies hat übrigens auch noch Friedrich der Große reflektiert), dass es ihm gelungen ist, die religiösen Bürgerkriege zu überwinden. Friede bedeutet ja auch Verhinderung von Bürgerkriegen. Und in dieser Rolle haben sich die französischen Könige immer gesehen. Dies ist noch in den Diskussionen des 18. Jahrhundert sehr präsent. Deshalb kann ich die Gegenüberstellung Königtum versus Frieden so nicht akzeptieren. Es gibt aber unterschiedliche Wege, den Frieden zu sichern. Der eine ist konsensual, von mir aus „konstitutionalistisch“, stützt sich auf vertragliche Regelungen zwischen Monarch und Ständen. In Frankreich setzt sich letztlich, obwohl es gerade in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ganz andere Ansätze gegeben hat, die Sicherung des Friedens durch einen Souverän, der nicht in Frage steht, durch. Der andere Teil ihrer These scheint mir gerade durch das, was wir eben diskutiert haben, widerlegt zu sein. Wenn Sie sehen, dass in Frankreich diese enge, auf die Grundlagen des Königtums konzentrierte Vorstellung der Fundamentalgesetze dank der Tätigkeit der parlements dann eben doch als konzeptioneller Kern fungiert, an den sich im 18. Jahrhundert neue, auf moderne Verfassungen vorausweisende Vorstellungen bis hin zum Grundrechtschutz anlagern, wird daran doch deutlich, dass die französischen lois fondamentales keineswegs statisch oder gar nicht entwicklungsfähig sind. Zum Reich sage ich lieber einmal nichts, das würde den Rahmen sprengen. Heun: Zwei kurze Fragen bzw. Bemerkungen. Die erste zum Verfassungsbegriff: Da haben Sie die Rolle von Montesquieu sehr stark hervorgehoben, auch als politisierten Verfassungsbegriff. Aber das muss man ja deutlich sagen, das ist ein älterer Verfassungsbegriff […]. Schilling: Ja.
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Heun: […] nämlich der, der auch auf die britische Verfassung noch zutrifft. Der neue Verfassungsbegriff ist dann erst der von Vattel, der eigentlich als Erster den modernen Verfassungsbegriff verwendet und in die Begriffsgeschichte gewissermaßen einführt. Das ist die eine Bemerkung, die andere ist eine Frage: Sie haben gesagt, dass die Parlements versucht haben, auch durchaus die Souveränität des Königs zu stärken, dass das auf den Widerstand des Königs gestoßen ist und meine Frage ist: Ist auch schon die dahinterstehende Überlegung bei dem Monarchen deutlich? Gibt es dafür irgendwelche Belege, dass es auch ein rein verfahrenstechnisches Argument gewesen sein könnte, dass er einfach verhindern wollte, dass gewissermaßen nur von anderer Seite, von den Parlements aus, fundamentale Gesetze geschaffen werden können und er, der Monarch, das ganz in dem Bereich lassen wollte, der sozusagen unverfügbar ist, weil er althergebracht ist, und gerade den Bereich dessen, was die Modernität des Gesetzgebungsverfahrens ausmacht, nämlich dass man neues Recht schafft, dass das für den Bereich der lois fondamentales gar nicht gelten sollte? Kann man dieses verfahrentechnische Argument oder diese Überlegung feststellen oder findet sich in den Quellen nichts dazu? Schilling: Zum ersten: Ich denke, wir sind uns einig, dass Montesquieu in der alten Verfassungsvorstellung wurzelt, aber es ist interessant, wie schon bei Montesquieu selbst neue Ansätze sich anlagern. Nun liegt die Bedeutung Montesquieus nicht allein in dem, was er formuliert, sondern auch in den Diskussionen, die er anstößt. Montesquieus Ansatz ist sehr „anschlussfähig“; er wird von Personen zitiert, die Bedeutungen in den Begriff der Verfassung legen, an die er selbst noch nicht gedacht hat. Aber dies geschieht innerhalb weniger Jahre, es ist wirklich faszinierend. Zur zweiten Frage: Hier gibt es ein Quellenproblem, an dem ich auch schon zu beißen hatte. Ich hatte gehofft, bei den Archivstudien zu meiner Habilitationsschrift für das späte 16. und das frühe 17. Jahrhundert die Gesetzgebung begleitende, umfassende interne Memoranden zu finden, wie wir sie vielfach aus dem 18. Jahrhundert kennen. Doch die Quellenüberlieferung ist sehr lückenhaft. Gelegentlich äußern sich Beteiligte in Publikationen zu solchen Themen, doch die Quellen, auf die wir uns zur Beantwortung Ihrer Frage stützen können, sind rar. Auf dieser schmalen Quellengrundlage kann man aber immerhin konstatieren, dass das Grundproblem, dass jegliche Schaffung neuer Fundamentalgesetze im Widerspruch zum Souveränitätsanspruch des Königs steht, von Vertretern der Krone erfasst wird. Dies wird letztlich weniger theoretisch reflektiert, als ich mir das selbst gewünscht hätte. Aber vielleicht finden wir ja noch Belege. Härter: Bitte die Wortmeldung hier rechts: Herr Baumgart. Baumgart: Ich frage mich, Herr Kollege, ob zu den lois fondamentales, wie Sie mir aufgezeigt haben, nicht vor allen Dingen auch das Eigentums-
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recht dazuzuzählen ist. Und der Schutz des Eigentumsrechtes ist ja ein fundamentaler Bestandteil des Verfassungsschutzes, wenn ich das so sagen darf. Und darauf basiert ja die Partizipation der Stände in der Auseinandersetzung mit der Monarchie, nämlich im Kampf um die Steuern und ohne die Steuern kann diese Monarchie in dieser Funktionsweise ja gar nicht existieren. Also, es geht darum, dass hier, meine ich, die Beschränkung der königlichen Gewalt gerade auch durch dieses Fundamentalrecht gekennzeichnet sein müsste. Und dahinter steht natürlich ganz allgemein das von Ihnen ja kurz angedeutete, vielleicht auch stärker zu akzentuierende Widerstandsrecht generell. Gibt es dies als einen Fundamentalsatz in der Form, dass man es hier anwenden kann? Schilling: Inhaltlich bin ich absolut Ihrer Meinung. In der französischen Diskussion ist völlig klar, dass das Eigentumsrecht als göttliches und natürliches Recht gilt und deshalb nicht zur Diskussion steht. Es wird übrigens auch von Bodin anerkannt – daraus resultiert das berühmte Bodinsche Steuerparadoxon. Baumgart: Bodin schreibt das ja. Schilling: Ja. Das Eigentumsrecht muss nicht im Rahmen der lois fondamentales garantiert werden, weil es als göttliches und natürliches Recht und damit als unumstößlich gilt. Insofern bin ich ganz Ihrer Meinung, doch wird das Eigentumsrecht nicht eigens als Fundamentalgesetz angesprochen. Was die Frage des Widerstands angeht: Natürlich sind beide Fragen, ich habe es an einer Stelle angedeutet, eng miteinander verknüpft. Gerade da ist von legitimem Widerstand die Rede, wo lois fondamentales verletzt werden, das ist die klassische Argumentation. Dies ist auf der anderen Seite der Grund, warum sich in Frankreich im 17. Jahrhundert in inhaltlich-materieller Hinsicht ein so extrem enges Verständnis der lois fondamentales durchsetzt, weil man eben sieht, dass jede Erweiterung sofort bedeuten würde, dass sich Ansatzpunkte, Legitimationsmöglichkeiten für Widerstand ergeben. Und genau das will man verhindern. Die Diskussionen des 16. Jahrhunderts sind da noch recht frei, aber spätestens seit der Richelieu-Zeit sind sie es nicht mehr. In der Fronde findet man noch einmal Reflexe auf die alten Diskussionen, aber ansonsten setzt sich seit der Richelieu-Zeit gerade angesichts der Widerstandsproblematik eine möglichst auf die Grundlagen des Königtums konzentrierte, enge Definition der lois fondamentales durch. Härter: Ich habe jetzt noch zwei Wortmeldungen vorliegen, die wir zusammenfassen. Wir müssen dann gleich auch zum Ende kommen. Herr Brauneder und dann noch hier vorne rechts. Brauneder: Ich habe nur eine Frage: Hat sich so etwas entwickelt wie die Klassifikation von Gesetzen, nämlich unabänderbar, schwer abänderbar,
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abänderbar? Hintergrund der Frage: Die Gesetzgebungslehre in Deutschland. H.-H. Brandt: Meine Frage steht etwas quer zu der Ebene, auf der hier diskutiert wird. Aber mich interessieren auch ein bisschen die materiellen Bedingungen der vorrevolutionären Situation, die von institutioneller Dekompensation bestimmt ist. Das liegt daran, dass der Staat eigentlich bankrott ist, von daher auch die Erschütterung der Institutionen. Jetzt erfindet man 1787 eine Notablenversammlung. Erste Frage: Das ist ja eine Art von Legitimitätsreserve, mit der man hofft, im Sinne konkludenten Handelns einen politischen Vertrauensvorschuss zu erhalten und die Einberufung der Generalstände zu vermeiden. Auf welche rechtliche Basis stellt man das eigentlich? Und zweitens: Ist dieser Schritt nicht in sich selbst schon eine Bankrotterklärung aller Institutionen, die bis dahin versucht haben, den Staatsbankrott abzuwenden? Schilling: Ich bin angehalten worden, sehr kurz zu antworten; dies möge bitte nicht als Unhöflichkeit gewertet werden. Es gibt Diskussionen über eine Abstufung der Gesetze gerade im 16. Jahrhundert; diese Unterscheidung wird getroffen, allerdings meistens zweistufig: also änderbar vs. nicht änderbar; lois du royaume sind nicht änderbar und lois du roi sind änderbar. Zur Notablenversammlung 1787: Notablenversammlungen hatte es bekanntlich in der Geschichte der französischen Monarchie immer wieder gegeben. Ihr Vorteil aus Sicht der Krone lag darin, dass sie über die Zusammensetzung dieser Versammlungen bestimmen konnte. Sie waren eine Legitimitätsreserve. Doch erwies sich 1787 dann doch die Loyalität der Handverlesenen zu ihrem jeweiligen Stand und den damit verknüpften Interessen als stärker als die Loyalität zur Krone, deren Legitimitätsverlust bereits weit fortgeschritten war. Das ist eindeutig. Härter: Vielen Dank noch einmal für die rege Diskussion und das schöne Referat. Für mich ist vielleicht doch als offene Frage geblieben, inwiefern diese spezifische Konstruktion von Verfassungsschutz in Frankreich mit dem justiziellen Verfassungsschutz durch die Parlamente und dem Königtum, als Schutzobjekt im Mittelpunkt, gerade im 17. und 18. Jahrhundert den policeylich-präventiven Verfassungsschutz befördert haben. Ich glaube, Frankreich hat da auch eine Vorreiterrolle gespielt, aber das wäre noch zu diskutieren. Wir können damit diese erste Runde schließen und ich übergebe den Vorsitz an den Kollegen Waldhoff.
Joseph Emmanuel Sieyès – Verfassungsgerichtsbarkeit im System der volonté générale Von Andreas Kley, Zürich, und Goran Seferovic, Zürich I. Verfassung als Puddingrezept? Der englische Schriftsteller Arthur Young machte auf einer Reise durch Europa im Juni 1789 in Paris Halt. In seinem Reisebericht vermerkte er für den 27. Juni 1789, dass man in Marly anlässlich eines Auftritts des Königs auf dem Balkon seines Schlosses den Ausruf „Vive le roi!“ vernehmen konnte. Dies geschah, obgleich Louis XVI. gerade seinen Widerstand gegen die Nationalversammlung aufgegeben hatte und damit ein weiterer Schritt zur Abschaffung der Monarchie getan war. Unter den Notabeln und den Geschäftsleuten der Hauptstadt sei laut Young jedoch der Ausdruck „making the constitution“ weit öfter zu hören gewesen. Young kam nicht umhin anzufügen: „which they use as if a constitution was a pudding to be made by a receipt.“1 Für den Engländer musste dieses „constitution-making“ schwer verständlich gewesen sein, galt die ungeschriebene Verfassung in England doch als „not the source but the consequence of the rights of the individuals“2. Die englische Verfassung galt nicht als Basis, sondern als Konsequenz der Rechte der Individuen.
II. Verfassung 1. Verfassungsbegriff
Der heutige Staat weist der Verfassung eine äußerst prominente Stellung zu. Gleichwohl hat sich bis heute kein anerkannter Verfassungsbegriff ausbilden können, was wohl auch mit den verschiedenen Anforderungen zusammenhängt, welche man an den Verfassungsbegriff stellte.3 Soll eine Ver1 Arthur Young, Travels during the years 1787, 1788 and 1789, Bd. 1, London 1792, S. 124. 2 Albert Venn Dicey, Introduction to the study of the law of the constitution, 3. Aufl., London 1889, S. 190. 3 Vgl. Heinz Mohnhaupt / Dieter Grimm, Verfassung, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, 1990, S. 831 (832 f.); Mat-
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fassung Grundlage einer Verfassungsgerichtsbarkeit bilden, so muss diese Verfassung schriftlich verfasst sein und dem einfachen Gesetzesrecht übergeordnet sein.4 In diesem Sinn ist der englische Verfassungsbegriff für eine eigentliche Verfassungsgerichtsbarkeit untauglich. Zu den eher formellen Elementen des kontinentalen Verfassungsbegriffs tritt außerdem ein materielles, wonach eine Verfassung die zentralen Strukturelemente einer politischen Ordnung, insbesondere die Herrschaftsverhältnisse ordnen soll,5 wozu auch individuelle Freiheitsrechte gehörten.6
2. England, die moderne Nation
Der bissige Kommentar von Arthur Young über das „constitution-making“ ist nicht ganz unberechtigt. Verfassungen, welche sich die Nationen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als Grundgesetz oder je nach Perspektive als höchstes Gesetz (paramount law) geben, sind juristisch-technische Ordnungen, welche ähnlich einem mehr oder weniger durchdachten und ausgeklügelten Rezept zusammengestellt werden. Das fundamental Neue an diesem Vorgang war jedoch zumindest in den USA weitgehend nur das Rezept, nicht jedoch die Zutaten. So folgte die Konstitutionalisierung der Fundamentalrechte in der Virginia Bill of Rights von 1776, nachdem diese im England des 18. Jahrhunderts als naturrechtlich fundierte Geburtsrechte der Untertanen bereits anerkannt worden waren.7 Die Individualrechte verloren in England bereits im Laufe des 17. Jahrhunderts weitgehend ihren Bezug zu einer spezifischen Ordnung oder einem gesellschaftlichen Stand.8 Auch Tocqueville zählte in seinem Werk „L’ancien régime et la révolution“ eine thias Eberl, Verfassung und Richterspruch: Rechtsphilosophische Grundlegungen zur Souveränität, Justiziabilität und Legitimität der Verfassungsgerichtsbarkeit, Berlin 2006, S. 3 f.; Felix Renner, Der Verfassungsbegriff im staatsrechtlichen Denken der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert: Ein Beitrag zur Dogmengeschichte, Diss. Univ. Zürich, Zürich 1968, S. 5 ff. 4 Vgl. auch Renner (Fn. 3), S. 8 ff. 5 So schon Emmanuel Joseph Sieyes, Meinung über die Grundverfassung der Konvention in der Sitzung des 2ten Thermidor (20ten Julius 1795) im dritten Jahr der Republik, in: ders., Politische Schriften, hrsg. v. D. Usteri, Bd. 2, Leipzig 1796, S. 369 f.; vgl. auch Eberl (Fn. 3), S. 2 Fn. 1; Peter Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes: eine verfassungstheoretische Rekonstruktion, Tübingen 2002, S. 7 ff. 6 Vgl. zu diesem Zusammenhang ausführlich Unruh (Fn. 5), S. 7 ff. 7 Vgl. Hasso Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, Darmstadt 2000, S. 38 f.; ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, Tübingen 1995, S. 25 f.; Gerald Stourzh, Liberal Democracy as a Culture of Rights: England, the United States and Continental Europe, in: Elisabeth Glaser / Hermann Wellenreuther (Hrsg.), Bridging the Atlantic: The question of American exceptionalism in perspective, Camebridge 2002, S. 11 (15 f.); für eine frühe Aufzählung der Rechte freier Engländer: Edward Chamberlayne / John Chamberlayne, Angliae Notitia, London 1704, S. 302 f. 8 Vgl. Otto Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes, in: ders., Staat und Verfassung: Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, Göttingen 1962, S. 128; Gerald Stourzh, Wege zur Grundrechtsde-
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Reihe von Rechten auf, welche Engländer bereits im 17. Jahrhundert besessen hatten und kam daher zum Schluss, dass England schon damals „eine ganz moderne Nation“ gewesen sei.9 Albert Venn Dicey fasste diesen Umstand später wie bereits erwähnt zusammen als: „the law of the constitution […] is not the source, but the consequence of the rights of individuals“10. Und in Frankreich sollte die Revolution gemäß dem Urteil Tocquevilles „nicht einmal eines der Grundgesetze wesentlich abändern“11. Der wesentliche Unterschied des englischen zum kontinentalen System bestand in erster Linie in formeller Hinsicht, England verfügte nicht über eine kodifizierte Verfassung. Die englische Verfassung war nicht die Basis, sondern die Konsequenz der geltenden Ordnung,12 ein Umstand, der insbesondere Thomas Paine dazu veranlasste, zu konstatieren, dass England gar keine Verfassung besitze.13 Außerdem war das Verfassungssystem Großbritanniens aus dem Kampf zwischen Parlament und Krone hervorgegangen, welchen das Parlament gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu seinen Gunsten entschieden hatte. In diesem Sinne konnte sich in England eine Differenz zwischen Verfassungsrecht und Gesetzesrecht zwar ausbilden, dies aber hauptsächlich im Verhältnis zwischen Parlament und Krone, besonders prägnant in der Glorious Revolution. Seit diesem Zeitpunkt gehört „constitution“ im Singular in England zum festen Sprachgebrauch und bezieht sich auf die grundlegenden Regeln der Staatsorganisation.14 Wird gegen diese „constitution“ verstoßen, so drohen zwar grundsätzlich Konsequenzen, doch entsprechend dieser Stoßrichtung der Verfassung gegen den englischen König, bot diese keinen Schutz gegen die Suprematie des Londoner Parlaments. Dieses konnte sich im Konfliktfall über das ungeschriebene Verfassungsrecht hinwegsetzen.15 Diese Übermacht des Parlaments führte jedoch im Laufe des 18. Jahrhunderts zu mehreren Konflikten, wie beispielsweise die Kontroverse um den septennial act von 1716 zeigt.16 mokratie: Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien 1989, S. 155 f. 9 Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, aus dem Französischen von Theodor Oelkers, Münster 2007, S. 38. Tocqueville erwähnt die Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichheit der Lasten, freie Presse und Öffentlichkeit der Verwaltung (S. 37). 10 Dicey (Fn. 2), S. 190. 11 Tocqueville (Fn. 9), S. 38 f. 12 Vgl. Fn. 2. 13 Thomas Paine, Rights of man: being an answer to Mr. Burke’s attack on the French Revolution, London 1791, S. 53 ff. 14 Mohnhaupt / Grimm (Fn. 3), S. 866. 15 Vgl. zu dieser Verfassungskrise Gerald Stourzh, Vom Widerstand zur Verfassungsgerichtsbarkeit: Zum Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert, in: Kleine Arbeitsreihe des Instituts für europäische und vergleichende Rechtsgeschichte an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz, Heft 6, Graz 1974, S. 12 ff. 16 Vgl. Stourzh (Fn. 15), S. 7 ff.; Eberl (Fn. 3), S. 271 ff.
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Viele Publikationen aus dem 18. Jahrhundert unterschieden nicht zwischen der Tatsache, dass zwar eine ungeschriebene englische Verfassung existierte, diese im Konfliktfall gegen das Parlament aber nicht durchgesetzt werden konnte.17 Amerikanische und französische Publizisten waren der Ansicht, dass eine Verfassung ohne den zugehörigen Rechtsschutz gar keine Verfassung sei.18 Im Gegensatz dazu definierte der englische Lord Bolingbroke noch 1733 die Verfassung in „A Dissertation upon Parties“ als „the assemblage of laws, institutions and customs […] to which the community hath agreed to be govern’d“.19 Bolingbroke spricht dabei auf die englischen Verfassungskonventionen an, welche eher soziale Regeln als Rechtsnormen waren.20 Und auch im vorrevolutionären Frankreich tauchten im Gefolge der Aufklärung Forderungen nach einer Verfassung auf. So sprach Anne Robert Jacques Turgot, Generalkontrolleur der französischen Finanzen 1774 – 76, in Zusammenhang mit der mangelhaften Organisation der Gemeinden bereits 1775 die an Louis XVI. gerichtete Warnung aus: „La cause du mal, Sire, vient de ce que votre nation n’a point de Constitution“.21
3. Verfassung und Gesetzgebung
Für den Engländer Arthur Young musste ebenfalls neu sein, dass Frankreich die Rechte des Individuums und die Staatsorganisation aus politischen Gründen in einer Verfassungsurkunde proklamierte.22 In Abkehr, aber mit
17 Vgl. etwa Emmanuel Joseph Sieyes, Rede des Abbé Sieyes über die Frage des königlichen Vetos usw. in der Sitzung vom 7. September 1789, in: ders., Politische Schriften 1788 – 1790, hrsg. und übers. von Eberhard Schmitt / Rolf Reichardt, Darmstadt / Neuwied 1975, S. 259 (270). 18 Prägnant dazu Emmanuel Joseph Sieyes, Meinung über die Gerichtsbarkeit und die Einrichtung des über die Verfassung wachenden Gerichts der Geschworenen in der Sitzung des 18ten Thermidor im dritten Jahr der Republik, in: ders., Politische Schriften, hrsg. v. Usteri, Bd. 2, Leipzig 1796, S. 403 (405): „Eine Staatsverfassung ist entweder eine Sammlung verbindender Geseze, oder sie ist nichts“. Vgl. auch Ulrich Thiele, Verfassungsgebende Volkssouveränität und Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Position der Federalists im Fadenkreuz der zeitgenössischen Kritik, in: Der Staat 39 (2000), S. 397 (407 f.). Thomas Paine war der Ansicht es existiere gar keine englische Verfassung, jedoch mit einer abweichenden Argumentation, vgl. Paine (Fn. 13), S. 53 ff. 19 Henry St. John Bolingbroke (Lord Viscount), A dissertation upon parties: in several letters to Caleb D’Anvers, 10. Aufl., London 1775, S. 141; vgl. auch Stourzh (Fn. 8), S. 41. 20 Vgl. zur Gestalt und Geschichte dieser Konventionen Julius Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte bis zum Regierungsantritt der Königin Victoria, München / Berlin 1913, S. 581 ff. 21 Anne Robert Jacques Turgot, Memoire sur les municipalités, in: Pierre Samuel Du Pont de Nemours (Hrsg.), Oeuvres posthumes de M. Turgot ou mémoire de M. Turgot, Lausanne 1787, S. 5 (9).
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Billigung des britischen Mutterlandes, entwickelten bereits die Kolonien in Nordamerika schriftliche Grundgesetze, die sogenannten charters,23 welche die Kolonisten oft als constitution bezeichneten und die die einheimische Staatsgewalt regelten.24 Damit räumten die jungen Gemeinwesen nicht nur mit den meisten ständischen Unterscheidungen auf,25 sondern stellten die gesamte politische Herrschaft zur Disposition des Verfassungsgebers.26 Mit der Unterscheidung zwischen der ungeschriebenen englischen Verfassung und der Gesetzgebung des Londoner Parlaments eröffneten sich die Kolonien einen Freiraum, der es ihnen ermöglichen sollte, formell korrekt zustande gekommene Gesetze des Mutterlands – anhand der (ungeschriebenen) Verfassung und den Verfassungskonventionen des Mutterlandes – anzufechten.27 Das Mutterland folgte diesem Verfassungsverständnis selbstverständlich nicht, was zum Bruch mit England führte.28 Erst in dieser Verfassungskrise bedienten sich die Parteien regelmäßig des Begriffs „unconstitutional“ als Adjektiv, was noch anlässlich der Septennatskrise 1715 nicht vorgekommen war.29 Das Wort drang außerdem – zusammen mit dem amerikanischen Verfassungsbegriff30 – als „inconstitutionnel“ in den französischen Wortschatz ein,31 die Voraussetzungen waren in Frankreich jedoch nicht die gleichen wie im Amerika der Revolutionszeit. Während sich in den Kolonien der Kampf insbesondere gegen die Allmacht des Londoner Parlaments richtete, war das Ziel der Französischen Revolution die Ablösung des absolutistischen Königshauses.32 Entsprechend betonte die „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ von 1789 noch stärker als die Unionsverfassung von 1787 die Gleichheit als Gegenstück zur alteuropäischen Privilegiengesellschaft.33
22 Der Prozess der „Fundamentalisierung“ der Individualrechte fand bereits vor der Declaration of Rights von 1689 statt, vgl. Stourzh (Fn. 7), S. 15. 23 Vgl. Stourzh (Fn. 15), S. 18; ders. (Fn. 8), S. 158 f. 24 Mohnhaupt / Grimm (Fn. 3), S. 866. 25 Tocqueville konzedierte der englischen Nation des 17. Jahrhunderts immerhin „gleichsam einbalsamiert einige Trümmer des Mittelalters bewahrt“ zu haben, vgl. Tocqueville (Fn. 9), S. 38. 26 Vgl. Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 7), S. 39. 27 So insb. im Zusammenhang mit dem stamp act von 1765, vgl. Stourzh (Fn. 15), S. 16.; vgl. zur Resonanz des septennial acts in den amerikanischen Kolonien im Hinblick auf Verfassungsgerichtsbarkeit: Ebel (Fn. 3), S. 272 ff.; zur Bedeutung der Verfassungskonventionen in diesem Zusammenhang Hatschek (Fn. 20), S. 584 f. 28 Mohnhaupt / Grimm (Fn. 3), S. 866. 29 Vgl. Stourzh (Fn. 15), S. 15 f. 30 Vgl. zu dieser Rezeption etwa Mohnhaupt / Grimm (Fn. 3), S. 867 f. 31 Vgl. Stourzh (Fn. 15), S. 16. 32 Vgl. Stourzh (Fn. 15), S. 30. 33 Vgl. Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 7), S. 39.
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III. Volkssouveränität und Gewaltenteilung – Pouvoir constituant und pouvoir constitué 1. Volonté générale und Gewaltenteilung?
Die Gesetzgebung der Revolutionszeit begann sich der gesamten politischen Herrschaft anzunehmen, wodurch die Notwendigkeit entstand, politische Herrschaft rechtlich zu konstruieren. Um beim Bild Arthur Youngs zu bleiben: Es bestand Bedarf an Rezepten für die Verfassungsordnung. Die USA orientierten sich stark am Gewaltenteilungsmodell von Montesquieu, welches strikte Gewaltenteilung, geteilte Gesetzgebungskompetenz und ein System von gegenseitiger Gewaltenhemmung vorsah.34 In Frankreich übte Rousseaus „Herrschaft des Gesetzes“ – das Gesetz als Ausdruck des Gemeinwillens – einen stärkeren Einfluss aus, was sich nach der Französischen Revolution dadurch ausprägte, dass die Legislative über allen anderen Gewalten stand. Bei diesem Konzept des „légicentrisme“35 war es grundsätzlich nicht möglich, die Legislative unter die Herrschaft einer übergeordneten Verfassung zu stellen, da die Legislative die höchste politische Entscheidungsinstanz darstellte.36 Entsprechend erklärte der Almanach von Père Gérard von 1793 den Begriff der Verfassung: „constitution nous dit & signifie un corps dont toutes les parties, toutes les proportions s’accordent bien entr’elles“37. Die Verfassung soll damit in erster Linie den politischen Körper organisieren. Auch eine Gewaltenhemmung à la Montesquieu darf in einem solchen System nicht sein, da die Judikative nicht den Gesetzgeber kontrollieren kann, welcher der volonté générale ihren Ausdruck verleiht.38 So sahen die frühen Staatsdenker der Französischen Revolution vor allem die Gefahr einer despotischen Exekutive, welche verhindert werden müsse.39 Allerdings tauchten in den Debatten zur Montagnardverfassung gleichwohl Forderungen auf, wonach das Volk auch vor der Unterdrückung durch die Legislative geschützt werden sollte.40 Aber erst die Vollmachtengesetzgebung während der Jakobinerherrschaft führte klar vor Augen, dass auch die Legislative als Verkörperung der volonté générale der Willkürherrschaft verfallen konnte.41 Vgl. Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 7), S. 176 f. Vgl. zum Begriff etwa Philippe Blachèr, Controle de Constitutionnalité et volonté générale, Diss. Univ. Montpellier, Paris 2001, S. 29. 36 Vgl. Marco Fioravanti, Sieyès et le jury constitutionnaire: Perspectives historicojuridiques, Annales Historiques de la Révolution Française 349 (2007 / 3), S. 87 f.; Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 7), S. 177. 37 Jean-Marie Collot d’Herbois, Almanach du Père Gérard pour l’année 1793, Lièges / Bruxelles 1793, S. 20. 38 Vgl. Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 7), S. 178; Fioravanti (Fn. 36), S. 102. 39 So auch Sieyes (Fn. 17), S. 270 f. 40 Vgl. Fioravanti (Fn. 36), S. 91 f. 34 35
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Gleichwohl sollte sich die Vorstellung von der gesetzgebenden Versammlung als Verkörperung der volonté générale als größtes Hindernis gegen eine Verfassungsgerichtsbarkeit erweisen.42
2. Sieyès’ Versuch einer Versöhnung
a) An dieser Stelle setzt Emmanuel Joseph Sieyès43 an, als er in einer Rede vor dem französischen Nationalkonvent am 20. Juli 1795 seinen Entwurf einer Grundverfassung für Frankreich vorstellte. Sieyès’ im Januar 1789 veröffentlichte Schrift „Über den Dritten Stand“ machte ihn zu einem der Wegbereiter der Französischen Revolution.44 Auch Sieyès änderte seine Auffassungen über die Gewaltenteilung nach der Herrschaft der Jakobiner und insbesondere nach dem Grauen des „Grande Terreure“. So anerkannte er, dass nicht nur von der Exekutive despotische Gefahr droht, sondern auch die Legislative in ihrer Macht zurückgebunden und kontrolliert werden muss. Das Prinzip der Volkssouveränität war mit der Gewaltentrennung und Gewaltenhemmung zu versöhnen.45 Sieyès formulierte dieses Problem folgendermaßen: „trennet, um den Despotismus zu verhüten; centralisiert, um die Anarchie zu vermeiden.“46 Sieyès unterschied begrifflich zwischen dem pouvoir constituant und dem pouvoir constitué.47 Dass er diese Unterscheidung erfunden haben soll,48 trifft jedoch nicht zu.49 Bereits in der englischen Verfassungspraxis zu Beginn des 18. Jahrhunderts scheint diese Unterscheidung geläufig gewesen zu sein. So unterschied Daniel Defoe in seinem Werk „The Original Power of 41 Vgl. Ulrich Thiele, Volkssouveränität und Freiheitsrechte. Sieyes’ Versuch einer prozeduralen Vermittlung, in: ders. (Hrsg.), Volkssouveränität und Freiheitsrechte. Emmanuel Joseph Sieyes Staatsverständnis, Baden-Baden 2009, S. 13 (22 f.). 42 Vgl. Stourzh (Fn. 8), S. 172 f.; Fioravanti (Fn. 36), S. 102. 43 Der Name Sieyès wird nicht einheitlich geschrieben. Die französische Literatur richtet sich häufig nach dem Werk von Paul Bastid, welcher „Sieyès“ schrieb. So ausdrücklich Fioravanti (Fn. 36), S. 89 Fn. 6. In deutschsprachigen Publikationen wird der Name überwiegend ohne Accent als „Sieyes“ verwendet. Marco Fioravanti führt mehrere Quellen an, welche sich mit der Orthographie des Namens beschäftigen. Im Folgenden wird die französische Orthographie verwendet, soweit es sich nicht um direkte Zitate handelt. 44 Vgl. Ulrich Thiele, Volkssouveränität und Menschenrechte. Gewaltenteilung im Denken von Sieyès, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 86 (2000), S. 48 (50); Thomas Hafen, Staat, Gesellschaft und Bürger im Denken von Emmanuel Joseph Sieyes, Bern / Stuttgart / Wien 1994, S. 1 ff. (insb. 12 f.); Fioravanti (Fn. 36), S. 89. 45 Vgl. Thiele (Fn. 41), S. 26 f. 46 Sieyes (Fn. 5), S. 370. 47 Thiele (Fn. 18), S. 397. 48 So neben weiteren Karl Loewenstein, Verfassungslehre, übers. aus dem Englischen, 2. Aufl., Tübingen 1969; Thiele (Fn. 18), S. 397 m. w. H. 49 So auch Michel Troper, Sieyès et le jury constitutionnaire, in: Mélanges en l’Honneure de Pierre Avril: La République, Paris 2001, S. 265 (insb. 265 f.).
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the Collective Body of the People of England“ schon 1701 zwischen dem „collective body“ und dem „representative body“. Ersterer bezeichnete dabei den unvertretenen Volkskörper, während letzterer das Volk in Gestalt seiner Repräsentanten, dem Unterhaus, bezeichnete. Dieses Begriffspaar deutet darauf hin, dass die englische Verfassungspraxis zwischen der Volkssouveränität und der gesetzgebenden Gewalt zu unterscheiden begann,50 wenngleich es vorerst das Vokabular der Oppositionellen war. „But if they [King, Lords and Commons] must be vested with power, some body must vest them with it“51, schloss Defoe. b) In formeller Hinsicht konnte diese theoretische Unterscheidung zwischen verfassungs- und gesetzgebender Gewalt jedoch nur durchgesetzt werden, wenn eine Institution bestand, welche über diese Abgrenzung und allfällige Übergriffe entscheiden konnte. In diesem Sinne ist die Jury constitutionnaire Sieyès’ die praktische Anerkennung des pouvoir constituant.52 Er war jedoch auch in dieser institutionellen Hinsicht nicht der erste, welcher eine solche oder ähnliche Institution vorschlug. So bestand in Pennsylvania seit der Verfassung von 1776 ein Council of Censors. Dieser war zwar kein Verfassungsgericht und konnte auch keine Verfassungsrevisionen einleiten, aber immerhin konnte dieser Rat öffentlichen Tadel erteilen, Impeachments einleiten und der Legislative Empfehlungen abgeben.53 Eine fast identische Institution gab es auch im Gliedstaat Vermont seit 1777.54 Die Verfassung von New York von 1777 installierte außerdem einen Revisionsrat, welcher aus Trägern der Exekutive und aus Richtern zusammengesetzt war und eine abstrakte präventive Normenkontrolle durchführen konnte.55 Interessanterweise konnten die beiden Kammern der Legislative eine negative Entscheidung dieses Rates jedoch mit einer Zweidrittelmehr-
Vgl. Stourzh (Fn. 15), S. 9 f. Daniel Defoe, The Original Rights of the People of England, Examined and Asserted, in: ders., A true collection of the writings of the author of The true born English-man, London 1703, S. 137 (145). 52 Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, Tübingen 1909, S. 416 ff. 53 Sect. 47 Constitution of Pennsylvania vom 28. September 1776, Quelle: Francis Newton Thorpe (Hrsg.), The Federal and State Constitutions Colonial Charters, and Other Organic Laws of the States, Territories, and Colonies Now or Heretofore Forming the United States of America, Bd. 5, Washington DC 1909, S. 3081 ff.; Zur Kritik am Counsel of Censors James Madison, Federalist Paper No. 50; Thiele (Fn. 18), S. 410 f.; vgl. auch Gerhard Robbers, Emmanuel Joseph Sieyes. Die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit in der Französischen Revolution, in: Ulrich Thiele (Hrsg.), Volkssouveränität und Freiheitsrechte. Emmanuel Joseph Sieyes’ Staatsverständnis, Baden-Baden 2009, S. 243 (248). Nicht zutreffend ist daher die Aussage Zweigs, wonach es sich bei diesem Council um ein Verfassungsgericht handelte, vgl. Zweig (Fn. 52), S. 417. 54 Sect. XLIV Constitution of Vermont vom 8. Juli 1777, Quelle: Thorpe (Fn. 53), Bd. 6, Washington DC 1909; S. 3748 f.; vgl. auch Robbers (Fn. 53); Zweig (Fn. 52), S. 417 und 290 Fn. 2. 55 Stourzh (Fn. 15), S. 25, vgl. auch Fn. 56. 50 51
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heit überstimmen.56 Die Ähnlichkeit mit dem späteren Vetorecht des amerikanischen Präsidenten ist nicht zufällig. Der Verfassungskonvent hatte auf einen mit einem Veto ausgestatteten Council of Revision verzichtet, um dieses Recht schließlich dem Präsidenten alleine zuzuweisen.57 Armand-Guy Kersaint brachte im französischen Nationalkonvent von 1793 die Institution eines solchen Zensorenrats als „Tribunal des censeurs“ ein.58 Und auch Condorcet beschäftigte sich intensiv mit der Frage, wie Gesetzgebungsakte durch direktdemokratische Mittel kontrolliert werden könnten.59 c) Der Zusammenhang zwischen verfassungsgebender Gewalt und Verfassungsgerichtsbarkeit steht dabei historisch gesehen in einem engen Zusammenhang zum Widerstandsrecht der Vertretenen.60 Schon Blackstone statuierte in seinem Kommentar ein Widerstandsrecht gegen „unconstitutional oppressions“ der Gewalten61 und Daniel Defoe schloss aus der Unterscheidung zwischen dem collective body und dem representative body auf ein unter bestimmten Voraussetzungen auszuübendes Widerstandsrecht des collective bodys – also des unvertretenen Volks – gegen die Repräsentanten: „If either, or all the Branches to whom this Power is Delegated invert the Design, the End of their Power, the Right they have to this Power ceises; and they become Tyrants and Usurpers of a Power they have no Right to.“62
Wenngleich die Terminologie von „verfassungswidrigen“ Gesetzen noch nicht entstanden war,63 so zeigt sich doch klar ein neuer Standpunkt in der politischen Debatte: Akte des Gesetzgebers können gegen die britische Verfassung verstoßen. Diese Argumentation stieß – nicht weiter verwunderlich – besonders in den amerikanischen Kolonien Großbritanniens auf große Resonanz. Eine über dem Gesetzgeber, dem britischen Parlament, stehende Verfassung bot den Kolonien ein rechtliches Argument, die unbeschränkte Gesetzgebungsgewalt Londons legal anzufechten.64 Insbesondere in der „Stamp Act Crisis“ 1765 scheint der Begriff „unconstitutional“ erstmalig und gehäuft auf und dies, obwohl eine schriftliche Verfassung im heutigen 56 Sect. III Constitution of New York vom 20. April 1777, Quelle: Thorpe (Fn. 53), Bd. 5, Washington DC 1909, S. 2628 f. 57 Vgl. Werner Heun, Die Geburt der Verfassungsgerichtsbarkeit – 200 Jahre Marbury v. Madison, in: Der Staat 43 (2003), S. 267 (273 f.). 58 Fioravanti (Fn. 36), S. 90 f.; Robbers (Fn. 53), S. 254. 59 Vgl. Andreas Kley / Richard Amstutz, Gironde-Verfassungsentwurf aus der französischen Revolution vom 15. / 16. Februar 1793: Deutschsprachige Übersetzung mit einer Einleitung und kommentierenden Anmerkungen, Zürich / St. Gallen 2011, S. 26 ff.; Fioravanti (Fn. 36), S. 91 mit Hinweisen auf weitere Entwürfe. 60 Vgl. auch Kley / Amstutz (Fn. 59), S. 19. 61 Vgl. William Blackstone, Commentaries On The Law of England, Bd. 1, 7. Aufl., Oxford 1775, S. 244 ff. 62 Defoe (Fn. 51), S. 147; vgl. auch Stourzh (Fn. 8), S. 43 ff. 63 Es war die Rede von „nichtigen“ Gesetzen, vgl. Stourzh (Fn. 15), S. 14. 64 Vgl. Stourzh (Fn. 15), S. 15 f.
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Sinne noch nicht greifbar war, sie musste erst geschaffen werden. Die Einzelstaaten der USA schufen sich in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 18. Jahrhunderts schriftliche Verfassungen und entsprechende Erzeugungsverfahren.65 So unterschied beispielsweise Massachusetts bei der Entwicklung seiner Verfassung deutlich zwischen der verfassungsgebenden und der gesetzgebenden Gewalt und der Staat konzipierte die Staatsverfassung als ein Dokument mit den grundlegenden Normen staatlichen Zusammenlebens. In einem weiteren Schritt nahmen die Verfassungskonvente außerdem die bestehenden Individualrechte, wie z. B. habeas corpus, in die Verfassungen auf und positivierten sie.66 James Iredell bemerkte 1786, dass die gesetzgebende Versammlung damit definitiv „a creature of the constitution“ darstelle.67 IV. Sieyès’ Entwurf von 1795 1. Stellung und Umfang der Verfassung
Da die Déclaration der Verfassung vorausging, blieb für die Verfassung Frankreichs im Wesentlichen nur noch, aber immerhin, die Staatsorganisation festzulegen. Nach Sieyès handelte es sich dabei um denjenigen Teil der „politischen Maschine, den ihr dazu gründet, das Gesez zu geben, und […] die Vollstrekung des Gesezes in allen Punkten der Republik zu bewirken.“68
Überhaupt wollte Sieyès den Umfang der Verfassung streng beschränken, indem er forderte, dass selbst Fundamentalgesetze (lois fondamentales) außerhalb der Verfassung erlassen werden sollten. Die Normen, welche die Staatsorganisation betreffen, sollten den einzigen Teil der Verfassung bilden. Die Verfassung sollte sich vom Umfang her auf etwa 50 Artikel beschränken.69 Und auch an die Delegation der Organisationskompetenzen hatte Sieyès bereits gedacht. Einzig die Zentraleinrichtungen sollten in der Grundverfassung organisiert werden, da die „strenge Subordination“ genügend Gewähr biete, die unteren Ebenen nicht von der verfassungsgebenden Gewalt regeln zu lassen.70 Die Regelung der unteren Einrichtungen sei damit zwar der verfassungsgebenden Gewalt entzogen, durch die Subordination sei dies aber zu verantworten.71 Vgl. Stourzh (Fn. 15), S. 16 ff. Vgl. Stourzh (Fn. 15), S. 18. 67 James Iredell in einem anonym (An Elector) erschienen Zeitungsartikel vom 17. August 1786, in: Griffith J. McRee (Hrsg.), Life and Correspondence of James Iredell, Bd. 2, New York 1858, S. 146. 68 Sieyes (Fn. 5), S. 367. 69 Sieyes (Fn. 5), S. 370. 70 Sieyes (Fn. 5), S. 370. 71 Vgl. Sieyes (Fn. 5), S. 370. 65 66
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2. Jury constitutionnaire und ihre Funktionen
Die erste Thermidorrede Sieyès’ befasste sich mit einer „Grundverfassung“ für die Nation. Die Vorschläge Sieyès’ fanden jedoch beim Nationalkonvent kaum Zustimmung, obwohl der Konvent die Person Sieyès schätzte.72 Einzig das Institut eines Verfassungsgerichts schien den Delegierten wert, weiter erörtert zu werden.73 In der ersten Rede verwandte Sieyès für diese Institution nur wenig Raum, seine Begründung dafür lautete: „Die Nothwendigkeit desselben springt so sehr in die Augen, dass ich zu meiner zweiten Forderung übergehe.“ 74 Womöglich war dies eine bewusste Taktik Sieyès’, weil er in erster Linie Einfluss auf die Verfassungsdebatte gewinnen wollte.75 Die Jury sollte seiner Meinung nach aus drei Zwanzigsteln der Mitglieder der Gesetzgebungsversammlung bestehen und Klagen gegen Dekrete der Gesetzgebungsversammlung behandeln.76 Es handelte sich damit um eine Art Parlamentsausschuss, aus welchem das Verfassungsgericht als Geschworenengericht gebildet werden sollte. Sieyès war der Ansicht, dass die Rechtsprechung nicht ins Gebiet der Gesetzgebung hinübergreifen dürfe.77 Für ihn kam daher nicht in Frage, die bürgerlichen Gerichte mit der Verfassungsgerichtsbarkeit zu betrauen.78 Der Grund für diese Ansicht liegt in der Tatsache, dass die bürgerlichen Gerichte, die „parlements“, vor der Revolution reformfeindlich urteilten. Sie stellten sich unter Umständen auch gegen die Krone, jedoch meist, um Privilegien zu schützen, von denen nicht zuletzt auch die Mitglieder des Gerichts profitierten.79 Die zweite Thermidorrede von Sieyès beschäftigte sich ausschließlich mit dem Verfassungsgericht, welchem er im Gegensatz zur ersten Rede jedoch einige weitere Funktionen zuwies und dessen Organisation und Verfahren er genauer skizzierte. Der Entwurf wies der Jury constitutionnaire drei Funktionen zu: a) Als Kassationsinstanz sollte die Jury die Einhaltung der Verfassung kontrollieren, b) als „atelier de proposition“ Vorschläge zur Revision der Verfassung machen und c) als Billigkeitsinstanz in der Straf- und wo-
72 Zweig (Fn. 52), S. 413 ff., insb. 421; vgl. auch Stourzh (Fn. 8), S. 172 f., S. 219 f.; Robbers (Fn. 53), S. 243 f., 246. 73 Vgl. Zweig (Fn. 52), S. 421 f. 74 Sieyes (Fn. 5), S. 382. 75 So jedenfalls Troper (Fn. 49), S. 266 ff. 76 Sieyes (Fn. 5), S. 400. 77 Vgl. Sieyes (Fn. 18), S. 405 f. 78 Im Gegensatz zu den Gerichten der USA, vgl. Alfred Rufer, Das Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit während der Helvetik, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 5 (1955), S. 273 (276 f.). 79 Vgl. ausführlich Jean-Louis Mestre, Juridiction Judiciaires et Contrôle de Constitutionnalité en France de 1715 à 1814, in: Toward Comparative Law in the 21th Century: The 50th anniversary of The Institute of Comparative Law in Japan: Chuo University 1998, Tokio 1998, S. 499 (504 ff., insb. 506 f.).
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möglich auch der Zivilgerichtsbarkeit die Strenge des positiven Rechts mildern und Gesetzeslücken füllen.80 a) Zusammensetzung und Kassationsinstanz: Nach dem Entwurf von Sieyès bestand das Verfassungsgericht aus 108 Mitgliedern. Diese erneuerte man alljährlich zu einem Drittel, wobei die Geschworenen diese durch Kooptation aus den jeweils 250 abtretenden Mitgliedern der Gesetzgebungsversammlung ersetzten.81 Die Verfassungsrichter wären somit allesamt ehemalige Parlamentsmitglieder gewesen, wobei die bereits amtierenden Mitglieder die neu zu wählenden bestimmt hätten. Sieyès sah scheinbar keine Gefahr einer oligarchischen Machtkonzentration, welche diesem System immanent war. Im Gegenteil: Es blieb Sieyès’ Bestreben, die Revolution mit Hilfe eines Gremiums von Notabeln zu bändigen.82 Anfechtungsobjekt konnten laut der deutschen Übersetzung „Handlungen“ (actes) bilden.83 Es ist zu vermuten, dass die jury Gesetze nicht direkt überprüfen konnte. Sieyès äußerte sich dazu in seiner zweiten Rede nicht ausdrücklich, was dazu führte, dass sich die Wissenschaft in der Bewertung von Sieyès’ Entwurf nicht ganz einig ist. Michel Troper erkennt in Sieyès’ Entwurf kein Verfassungsgericht, da Gesetze nicht (direkt) überprüft werden konnten.84 Die herrschende Meinung geht – freilich teilweise ohne den Ausdruck „actes“ zu thematisieren85 – davon aus, dass die Jury constitutionnaire ein Vorgänger der modernen Verfassungsgerichtbarkeit auch in Bezug auf Gesetze war.86 Dafür spricht der Umstand, dass die Jury in Sieyès’ erster Thermidorrede auch „Dekrete“ der Gesetzgebungsversammlung hätte überprüfen sollen.87 Die Tatsache, dass nur Akte angefochten werden, schließt jedoch nicht aus, dass die Jury zwar das verfassungswidrige Gesetz nicht aufheben, den darauf gestützten Akt aber kassieren konnte. Dies wäre 80 Sieyes (Fn. 18), S. 403; vgl. auch Robbers (Fn. 53), S. 244; Rufer (Fn. 78), S. 276 f.; Zweig (Fn. 52), S. 421 ff. 81 Vgl. Sieyes (Fn. 18), S. 432, Art. 2 f. Das erste Mal wären die Mitglieder des Geschworenengerichts zu je einem Drittel von der verfassungsgebenden und der gesetzgebenden Versammlung sowie von der Konvention gewählt worden (S. 433, Art. 4). Vgl. auch Fioravanti (Fn. 36), S. 95; Robbers (Fn. 53), S. 244 f.; Rufer (Fn. 78), S. 277; Zweig (Fn. 52), S. 421; Alois Riklin, Machtteilung: Geschichte der Mischverfassung, Darmstadt 2006, S. 339 f. 82 Vgl. Fioravanti (Fn. 36), S. 96; Hafen (Fn. 44), S. 219 ff m. w. H. 83 Sieyes (Fn. 18), S. 405; ders., Opinion sur les attributions et l’organisation du jury constitutionnaire, présentée à la Convention Nationale dans la séance du 18 thermidor, l’an 3 de la République, [s.l.] 1795, z. B. S. 5, 10 f., 35 f. 84 Troper (Fn. 49), S. 272 ff. 85 Eduard His, Geschichte des neuern Schweizerischen Staatsrechts, Bd. 1, Basel 1920, S. 197; Zaccaria Giacometti, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Schweizerischen Bundesgerichtes (Die staatsrechtliche Beschwerde), Zürich 1933, S. 27 f.; Rufer (Fn. 78), S. 277. 86 Sehr differenziert Riklin (Fn. 81); thematisiert, aber schließlich offen gelassen Fioravanti (Fn. 36), S. 96 f. 87 Sieyes (Fn. 5), S. 400.
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eine Lösung, wie es die Praxis des schweizerischen Bundesgerichts im Rahmen der akzessorischen Normenkontrolle anwendet.88 Alles andere würde auch keinen Sinn machen, war es doch Sieyès’ Absicht, die Jury zum „Wächter“ der Verfassung zu machen.89 Hätte sie gegen verfassungswidrige Gesetze nichts vorkehren können, so wäre dieses Ziel nicht zu erreichen gewesen und die Trennung zwischen Verfassungsgeber und Gesetzgeber wäre faktisch aufgehoben worden. Entsprechend der primär antidespotischen Stoßrichtung der jury constitutionnaire90 äußerte sich Sieyès zuallererst zur Anfechtbarkeit von Akten der Beamten. Er unterschied dabei zwischen „verantwortlichen“ und „nichtverantwortlichen“ Handlungen der Beamten.91 In etwas umständlichen Ausführungen erläuterte Sieyès, was er unter diesen Begriffen verstand.92 Dies mag auch der Grund sein, warum diese Terminologie Sieyès’ nicht immer korrekt wiedergegeben wird. So wird darunter teilweise auch eine Differenz zwischen weisungsgebundenen und nicht weisungsgebundenen Handlungen verstanden.93 Dies kann Sieyès mit seinen Ausführungen aber nicht gemeint haben,94 denn so würde auf das Subordinationsverhältnis abgestellt, was bezüglich der Verfassungsmäßigkeit eines Aktes grundsätzlich nicht relevant sein kann. Entsprechend führte Sieyès aus, dass verantwortliche Beamte wie gewöhnliche Bürger vor dem natürlichen Richter verantwortlich für ihre Handlungen seien.95 In diesem Zusammenhang machte Sieyès außerdem eine bemerkenswerte Unterscheidung zwischen der persönlichen Verantwortlichkeit von gewöhnlichen Bürgern und verantwortlichen Beamten: „Der Bürger hat volle Freiheit, in dem, was ausser dem Gebiet des Gesezes liegt, zu thun, was ihm beliebt [im Gegensatz zum Beamten, dieser] macht sich strafbar, nicht allein wenn er dem Gesez gerade zuwider handelt, sondern auch, wenn er sich die geringste Amtshandlung ausser dem, was das Gesez vorschreibt, erlaubt.“96
In dieser Aussage finden sich einerseits eine strenge Gesetzesbindung der Verwaltung und andererseits ein liberales Gesellschaftsbild. Dieses liberale Konzept begründet Sieyès mit den natürlichen Rechten des Bürgers.97 88 Vgl. etwa Giovanni Biaggini / Thomas Gächter / Regina Kiener (Hrsg.), Staatsrecht, Zürich / St. Gallen 2011, S. 376. 89 Sieyes (Fn. 18), S. 405. 90 Zur Qualifikation: Thiele (Fn. 41), S. 31. 91 Vgl. Sieyes (Fn. 18), S. 407 ff. 92 Vgl. zu dieser Qualifikation auch Hafen (Fn. 44), S. 5 f. sowie S. 220 f. betreffend inhaltliche Lücken; Fioravanti (Fn. 36), S. 93; Paul Bastid, Sieyès et sa Pensée, Diss. Phil. Univ. Paris, Paris 1939, S. 170 f., welcher die Ausführungen als zu doktrinär und nicht geeignet für eine parlamentarische Debatte bezeichnete. 93 Vgl. Thiele (Fn. 41), S. 32. 94 Entsprechend auch die Ausführungen von Riklin (Fn. 81), S. 339. 95 Vgl. Sieyes (Fn. 18), S. 407. 96 Sieyes (Fn. 18), S. 408 f. 97 Sieyes (Fn. 18), S. 409.
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Bei nicht verantwortlichen Handlungen eines Beamten mangelt es hingegen an einem Zugang zur bürgerlichen Gerichtsbarkeit, weil der Beamte „nicht“ verantwortlich ist. Dies kann daher herrühren, dass der Beamte seine Gewalt überschreitet oder dass er die nötigen Formen nicht beachtet.98 Nicht-verantwortlich sind dabei in Sieyès’ Konzept grundsätzlich alle mit einem Wahlauftrag ausgestatteten Beamten sowie die Richter und Geschworenen.99 Interessanterweise rechtfertigt er die Ansicht, wonach auch Richter und Geschworene nicht verantwortlich seien, mit dem Argument, dass diese das allgemeine Gesetz auf den Einzelfall anwenden würden, es sei „Gesetzgebung für das Einzelne“100. In einer anderen Publikation verglich Sieyès den Gesetzgeber mit dem „Grosshändler“ und den Richter mit dem „Detailhändler“101. Das Bild des Händlers macht noch etwas anderes deutlich, das für die heutigen Gerichte selbstverständlich ist: Die Jury constitutionnaire konnte nicht von sich aus tätig werden.102 Legitimiert, einen Akt anzufechten, sollten laut Sieyès unter anderen die Mitglieder des Parlaments sein. Entsprechend dem zu erwartenden Verfassungsentwurf waren dies die Mitglieder des Rates der 500 und des Rats der Alten.103 Bemerkenswerterweise wollte Sieyès dieses Recht auch der Minderheit gegenüber der Mehrheit zugestehen, da für diese Situation nichts vorgekehrt sei.104 Sieyès ging sogar soweit, diese Entscheidung einer ernsten politischen Streitigkeit durch das Verfassungsgericht als „natürlichen Fortschritt des Gesellschaftsstandes“ zu bezeichnen. Den gegenwärtigen Zustand, bei welchem keine „Vergleichungsinstanz“ für solche Streitigkeiten bestand, nannte Sieyès die „thierische Beschaffenheit des Naturzustandes“105. Diese drastische Ausdrucksweise steht wohl damit in Zusammenhang, dass Sieyès bestrebt war, mit seinem Entwurf in erster Linie die Revolution zu beenden.106 Auch den Ur- und Wahlversammlungen sollte das Beschwerderecht zustehen.107 Ob dem Vollziehungsdirektorium ein Anfechtungsrecht gewährt werden sollte, darüber äußerte sich Sieyès unentschlossen, er wollte diese Frage 98
Vgl. Sieyes (Fn. 18), S. 407. Vgl. Sieyes (Fn. 18), S. 410, wo Sieyès die betreffenden Beamten entsprechend seines Entwurfs aufzählt. 100 Sieyes (Fn. 18), S. 411; vgl. dazu ausführlich Hafen (Fn. 44), S. 286 ff.; vgl. auch Alois Riklin, Emmanuel Joseph Sieyes und die Französische Revolution, Bern / Wien 2001, S. 280. 101 Zit. bei Hafen (Fn. 44), S. 286. 102 Sieyes (Fn. 18), S. 417. 103 Vgl. zur Anpassung an den zu erwartenden Entwurf des Konvents durch Sieyès selbst: Hafen (Fn. 44), S. 217 Fn. 60. 104 Sieyes (Fn. 18), S. 413. 105 Sieyes (Fn. 18), S. 414. 106 Vgl. zu diesem Bestreben Fioravanti (Fn. 36), S. 89. 107 Sieyes (Fn. 18), S. 413 f. 99
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offenbar davon abhängig machen, ob die Regierung als verantwortlich oder unverantwortlich konzipiert werden würde.108 Vollzugsbeamte sollten kein Anfechtungsrecht erhalten, da sie sich an ihre übergeordnete Behörde zu richten hätten.109 Was die gewöhnlichen Bürger betraf, so drückte sich Sieyès in dieser Hinsicht etwas gewunden aus. Er erachtete das Beschwerderecht der gewöhnlichen Bürger zwar als „unnöthig“, wollte es ihnen im Sinne der individuellen Freiheit aber doch zugestehen, da es nicht schädlich sei. Um zu verhindern, dass die Bürger das Beschwerderecht übermäßig in Anspruch nahmen, hatten die Appellanten eine Geldstrafe zu bezahlen, sofern das Gericht entschied, dass kein Grund zur Beschwerde vorlag. Aus diesem Ausdruck, welcher im Original „qu’il n’y a pas motif à réclamation“ lautete,110 schlossen spätere Autoren, dass bei Beschwerden der Bürger ein Beschwerdegrund hätte vorliegen müssen, bei den anderen Beschwerdeführern hingegen nicht. Nach dieser Meinung hätte die Jury in diesen Fällen vorab über die Begründetheit der Individualbeschwerde urteilen müssen, wobei zu dieser Annahme keine direkten Belege angeführt werden.111 Da Sieyès’ Projekt nicht über seine Thermidorreden hinauskam, scheinen dies eher Spekulationen zu sein,112 für diese Unterscheidung findet sich zumindest in den Thermidorreden Sieyès’ kein Hinweis. Es wäre auch eher schwierig umzusetzen gewesen, hätte das Gericht doch die Beschwerde ohnehin bereits teilweise materiell beurteilen müssen, um zu prüfen, ob ein Beschwerdegrund vorliegt. Eher überzeugt die Vermutung, wonach diese Unterscheidung auf den Umstand hinweist, dass es sich bei den Individualbeschwerden um solche der konkreten Normenkontrolle handeln sollte und deshalb ein Motiv, also ein Rechtsschutzinteresse vorliegen musste.113 b) Vorschlagsatelier zur Verfassungsänderung: Sieyès wollte dem Gericht, wie ausgeführt, die Aufgabe zukommen lassen, die Verfassung in ihrem Bestande zu schützen, denn: „Ein Gesez, dessen Beobachtung nur auf den guten Willen beruht, gleicht einem Hause, dessen Balken auf den Schultern seiner Bewohner ruhen würden.“114
108 Sieyes (Fn. 18), S. 415 f. Für Hafen war die Regierung ohne weitere Begründung klageberechtigt, vgl. Hafen (Fn. 44), S. 217; Thiele unterscheidet in einer Kritik an Hafen nicht klar zwischen der Legitimation zur Beschwerde und der Frage, ob Akte der Regierung als Anfechtungsobjekte taugen sollten, vgl. Thiele (Fn. 41), S. 32 Fn. 45. 109 Je nach Entwurf wäre das die Regierung (Entwurf Sieyès) oder eine der Parlamentskammern (Kommissionsentwurf) gewesen, vgl. Sieyes (Fn. 18), S. 415. 110 Sieyes, Opinion (Fn. 83), S. 17. 111 So Hafen (Fn. 44), S. 217; Thiele (Fn. 41), S. 33; Riklin (Fn. 81), S. 339. 112 Auch der Verweis Hafens auf Zweig, wonach dieser das individuelle Klagerecht als Konzession an die Vorschläge der Jakobiner verstand, ist aus der angegebenen Stelle kaum herauszulesen, vgl. Hafen (Fn. 44), S. 217 Fn. 71, mit Verweis auf Zweig (Fn. 52), S. 420. 113 So Riklin (Fn. 81), S. 340. 114 Sieyes (Fn. 13), S. 413.
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Doch musste das Haus in den Augen Sieyès’ von Zeit zu Zeit auch an gewandelte Bedürfnisse angepasst werden. Zu diesem Zweck hatte die Jury constitutionnaire als ein atelier de proposition115, als eine Vorschlagswerkstatt zur Revision der Verfassung zu wirken. Diese Einrichtung sollte verhindern, dass eine erneute Revolution ausbrechen und die geltende Verfassung zerstören konnte. Der zu dieser Zeit tagende Nationalkonvent sollte zum letzten Mal den unkontrollierten pouvoir constituant ausüben.116 Sieyès wollte mit dieser Einrichtung den pouvoir constituant sozusagen domestizieren. Indem nun die Verfassung alles staatliche Handeln und alle Institutionen vorgab, entstand ein Bedürfnis, die Volkssouveränität nach der Revolution wieder zu bändigen. Die geschriebene Verfassung konnte ihre Funktion als feste Ordnung nur dann übernehmen, „wenn sie die Revolution zum fernen Ursprungsmythos verklärt[e]“117. Die potenziell revolutionäre Volkssouveränität (pouvoir constituant) musste nach der Revolution aus dem System der konstituierten Gewalten (pouvoirs constitués) entfernt und in den Bereich des Virtuellen oder zumindest nicht jederzeit Aktuellen verschoben werden.118 So sollte das Gericht alle zehn Jahre ein Heft mit den Änderungsvorschlägen zusammenstellen und dies drei Monate vor den Urversammlungen119 den beiden Kammern der Legislative zustellen und allgemein veröffentlichen.120 Die Urversammlungen entschieden sodann auf der Grundlage dieses Hefts, ob sie den pouvoir constituant für eine begrenzte Zeit121 der gesetzgebenden Versammlung übertragen wollten. Die Legislative konnte die einzelnen Vorschläge der Jury constitutionnaire jedoch nur annehmen oder ablehnen, abändern durfte sie sie nicht.122 Dieses auf den ersten Blick etwas komplizierte Verfahren sollte die Wirkung haben, das Verfahren einer Verfassungsänderung auf drei Organe zu verteilen: Die Jury constitutionnaire arbeitete die Änderungsvorschläge aus, die Urversammlungen entschieden, ob sie den pouvoir constituant der Legislative übertragen wollten und die Legislative entschied, welche vorgeschlagenen Änderungen übernommen
So der originale französische Titel: Sieyes, Opinion (Fn. 83), S. 5. Hafen (Fn. 44), S. 218. 117 Ulrich K. Preuss, Zu einem neuen Verfassungsverständnis, in: Günter Frankenberger (Hrsg.), Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1994, S. 103 (124). 118 Vgl. schon Fn. 106; Fioravanti (Fn. 36), S. 93 f., S. 97 f.; Hofmann (Fn. 7), S. 178. 119 Diesen Urversammlungen wies Sieyès den pouvoir constituant zu, sie sollten jährlich zusammentreten, um die Volksvertreter zu wählen, vgl. Sieyes (Fn. 13), S. 422. Vgl. zu den Urversammlungen auch Zweig (Fn. 52), S. 424 f. 120 Sieyes (Fn. 18), S. 421 f. 121 So der französische Ausdruck „un pouvoir constituant temporaire“, Sieyes, Opinion (Fn. 83), S. 23. 122 Sieyes (Fn. 18), S. 421 f., vgl. zum ganzen Verfahren in Kürze Rufer (Fn. 78), S. 277; und ausführlich Zweig (Fn. 52), S. 421 ff. 115 116
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werden sollten. Aus diesem Grund wird der Entwurf Sieyès auch als „prozedurale Vermittlung“ von Volkssouveränität und Freiheitsrechten bezeichnet.123 Die Jury hatte im Rahmen einer Verfassungsänderung die Frage zu beantworten, „was“ geändert werden sollte, und der Gesetzgeber, „ob“ diese Änderung vorgenommen werden sollte.124 Die Souveränität lag aber in den Urversammlungen der Nation, wobei Egon Zweig dies überzeugend als Fiktion entlarvte. „Der Souverän ist und bleibt geknebelt; bei Siéyès hat er nur die Wahl, ob er sich durch sein Ja oder Nein knebeln lassen will.“125
Dabei darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass das einflussreichste der drei Organe die Jury constitutionnaire war, sie alleine bestimmte den Inhalt der Änderungen.126 Dies war daher einer der Hauptkritikpunkte der zeitgenössischen Politiker: Warum soll man einen „Aufsichtsrat“ schaffen, wenn sich die öffentliche Gewalt in den Händen des Gesetzgebers befindet?127 Antoine-Claire Thibaudeau führte die Tätigkeit der bereits erwähnten Council of Censors in Pennsylvania und Vermont an, welche Sieyès wohl als Vorbild gedient hatten. Thibaudeau stellte unter anderem fest, dass sich im Council die gleichen Meinungsstreitigkeiten festsetzten wie in der Legislative und dass diese sich weigerte, die Entscheide des Councils durchzusetzen.128 Womöglich hatte Sieyès dieses Problem tatsächlich unterschätzt: Warum sollten die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Parlaments sich in einem Ausschuss von ehemaligen Mitgliedern dieses Parlaments plötzlich auflösen?129 Thibaudeau befasste sich in seinen Ausführungen gegen den Entwurf Sieyès’ hauptsächlich mit der abstrakten Normenkontrolle. Individualbeschwerden erwähnte er nur als Mittel, mit Hilfe dessen die Macht der Jury noch vergrößert werden könnte. Er unterstellte den Bürgern, sie könnten den Zustand der Verfassungswidrigkeit bewusst herbeiführen „se pourvoir en inconstitution“130, worauf es der Jury möglich würde, sich mit allen 123 So der Titel des Beitrages von Ulrich Thiele, Volkssouveränität und Freiheitsrechte: Sieyès’ Versuch einer prozeduralen Vermittlung (Fn. 41). 124 Vgl. zu diesem Vergleich Zweig (Fn. 52), S. 424. 125 Zweig (Fn. 52), S. 425. 126 Nach Rufer hält die jury daher den „Schlüssel“ zur Revision, Rufer (Fn. 78), S. 277. 127 Vgl. Zweig (Fn. 52), S. 425 m. w. H. 128 Vgl. Antoine-Claire Thibaudeau, Memoires sur la convention et le directoire: Convention, Bd. 1, Paris 1824, S. 381 ff.; vgl. auch Zweig (Fn. 52), S. 425. Diesen Umstand kannte Thibaudeau wohl aus dem Studium des Artikels von James Madison vom 5. Februar 1788 (Federalist Paper Nr. 50). 129 Vgl. zu Lücken in Sieyès Entwurf an anderer Stelle Thiele (Fn. 41), S. 37; vgl. aber auch Fioravanti (Fn. 36), S. 89 f., wonach Sieyès’ Verfassungsentwurf der am weitesten ausgearbeitete war, welcher dem Nationalkonvent präsentiert worden war. 130 Thibaudeau (Fn. 128), S. 380.
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Staatsakten zu befassen. Es zeigt sich somit im Entwurf, dass die konkrete Normenkontrolle, welcher auch Sieyès zurückhaltend begegnete, nicht im Zentrum der Überlegungen stand. Staatsorganisationsfragen im Zusammenhang mit der Volkssouveränität beherrschten die Diskussion. Die Verfassung galt in Frankreich nicht als eine höherrangige Norm, sondern war in erster Linie ein Mittel, um die Gewalten zu organisieren und deren Funktionen zu garantieren.131 c) Billigkeitsinstanz: Sieyès sah für die Jury constitutionnaire eine dritte Funktion vor.132 Sie sollte, gestützt auf die natürliche Billigkeit (équité naturelle133), gewisse Fälle der unteren Gerichte entscheiden.134 Sieyès führte nicht aus, auf welche Materien sich diese Kompetenz erstrecken sollte. Untersucht man Sieyès Argumentation, so ist jedoch zu vermuten, dass lediglich Strafsachen betroffen sein sollten.135 Die Jury bestimmte jedes Jahr mindestens einen Zehntel ihrer Mitglieder durch Los, welche diese Aufgabe übernehmen sollten.136 Diese Mitglieder sollten diese Fälle im Sinne der individuellen Freiheit entscheiden, weil – so Sieyès – es einem sich frei glaubenden Menschen „unbenommen seyn [muss], seine Zuflucht zu einem Richter zu nehmen“137. Der wahre Name dieses Organs sei laut Sieyès „Tribunal der Rechte des Menschen“, und es sei ebenso sehr ein moralisches als auch ein politisches „Werkzeug“138. Was Sieyès mit dieser Beschreibung meinte, ergibt sich in seiner Definition von Willkür, welche zwei Seiten habe. So beschrieb er einerseits die noch heute gültige Definition, wonach eine Autorität willkürlich herrscht, die „ohne Zügel, ohne Regel und Grundsatz“ waltet. Willkürlich war für Sieyès aber auch ein Entscheid der natürlichen Gerechtigkeit, welcher im Gesetzbuch keinen oder noch keinen Platz findet.139 In diesem Zusammenhang ist auch nachvollziehbar, dass Sieyès selber diese Funktion der Jury mit dem Begnadigungsrecht des Königs verglich, welches die Revolution beseitigte.140 Die Initiative zu einer Entscheidung des Menschenrechts- oder besser Billigkeitsgerichts konnte jedoch nur von den mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichten ausgehen und der Gesetzgeber sollte die näheren Voraussetzungen dieses Vorschlagsrechts regeln.141 131
Fioravanti (Fn. 36), S. 88 f. Fioravanti nannte es la fonction „la plus originale“, Fioravanti (Fn. 36), S. 96. 133 Sieyes, Opinion (Fn. 83), S. 24. 134 Sieyes (Fn. 18), S. 423; vgl. auch Thiele (Fn. 41), S. 34 f. 135 Sieyès erwähnt „Verbrechen“ sowie die Unschuldsvermutung und vergleicht das Tribunal mit dem früheren Begnadigungsrecht des Monarchen, vgl. Sieyes (Fn. 18), S. 424 ff. 136 Sieyes (Fn. 18), S. 423. 137 Sieyes (Fn. 18), S. 425. 138 Sieyes (Fn. 18), S. 427. 139 Sieyes (Fn. 18), S. 428 f. 140 Sieyes (Fn. 18), S. 424. 141 Sieyes (Fn. 18), S. 429. Vgl. auch Hafen (Fn. 44), S. 219. 132
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V. Schicksal des Entwurfs 1. Sénat conservateur
Sieyès hatte sich vorbehaltlos für die Einführung eines Verfassungsgerichts ausgesprochen.142 Demgegenüber hatte der Nationalkonvent Sieyès’ Entwurf fast einstimmig abgelehnt.143 Er nahm in die anschließend ausgearbeitete Verfassung von 1795 einzig die Idee einer Versammlung zur Verfassungsrevision auf.144 Sieyès schien durch die strikte Ablehnung, welche ihm im Konvent entgegenschlug, gekränkt gewesen zu sein.145 Wer wollte ihm, dem maßgeblichen Wegbereiter der Revolution, ihr eigentliches „Verfassungsorakel“146, das verübeln? Einem Besucher habe er sich, als er bereits geistig verwirrt war, mit „la Constitution“ vorgestellt.147 Eine Wahl in den Rat der 500 im Oktober 1795 nahm er zwar an, beteiligte sich aber kaum an den Debatten, die Wahl ins Direktorium 1796 lehnte er ab.148 Doch wer Sieyès schon abgeschrieben hatte, sollte sich getäuscht haben. Sieyès, welchem die Aussage gegenüber Talleyrand zugeschrieben wird: „la politique est une science que je crois avoir achevée“149, wartete weiter auf eine Gelegenheit, um seine Ideen zu verwirklichen. So nahm er im Jahre 1799 die Wahl ins Direktorium doch noch an.150 Indem Sieyès mit Napoléon 1799 den „Brumaire-Staatsstreich“151 durchführte, gelang es Sieyès, seine jury unter der Konsularverfassung von 1799 in der autoritären Form des Sénat conservateur doch noch einzurichten.152 Sieyès, mittlerweile zum provisorischen Konsul ernannt,153 nannte diese bewahrende Institution in seinen als „Obsérvations“ überlieferten Überlegungen im Vorfeld der Konsularverfassung 142 So Sieyès in seiner zweiten Thermidorrede: „La nécessité d’un jury de constitution […] forme une question préliminaire; elle n’a pas souffert de difficulté.“, Sieyes, Opinion (Fn. 83), S. 3. Die deutsche Übersetzung, die Frage habe „keine Schwierigkeiten gefunden“ ist nicht präzise, Sieyes (Fn. 18), S. 405. 143 Zweig (Fn. 52), S. 425; Rufer (Fn. 78), S. 278 f.; Hafen (Fn. 44), S. 219 f.; Riklin (Fn. 81), S. 340; Robbers (Fn. 53), S. 246. 144 Titel XIII der Verfassung vom 22. August 1795, Quelle: Jacques Godechaut, Les Constitutions de la France depuis 1789, Paris 1995, S. 138 f.; vgl. dazu auch Robbers (Fn. 53), S. 251. 145 Vgl. Zweig (Fn. 52), S. 426; Rufer (Fn. 78), S. 280; Riklin, Sieyes (Fn. 100), S. 228. 146 Der Begriff stammt wohl von Hafen (Fn. 44), S. 2; vgl. auch Rufer (Fn. 78), S. 301. 147 Zit. bei Bastid (Fn. 92), S. 284. 148 Hafen (Fn. 44), S. 21; Riklin, Sieyes (Fn. 100), S. 233 f. 149 Hafen (Fn. 44), S. 25, ohne Quellenangabe. 150 Hafen (Fn. 44), S. 22; Riklin, Sieyes (Fn. 100), S. 238. 151 Vgl. zu Sieyès Rolle im Brumaire-Staatsstreich Hafen (Fn. 44), S. 22 f.; Riklin, Sieyes (Fn. 100), S. 240 ff. 152 Vgl. Hafen (Fn. 44), S. 227 f.; Zweig (Fn. 52), S. 426; Robbers (Fn. 53), S. 251 f.; Rufer (Fn. 78), S. 280 f.; Riklin (Fn. 81), S. 340. 153 Vgl. Hafen (Fn. 44), S. 23; Riklin, Sieyes (Fn. 100), S. 243 f.
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noch „Collège des conservateurs“154. Dieses Collège basierte zwar noch auf der Jury constitutionnaire, war aber bereits stark oligarchisch geprägt.155 Napoléon, welcher über den von Sieyès im Anschluss an den BrumaireStaatsstreich präsentierten Verfassungsentwurf gelacht haben soll,156 überarbeitete diesen Entwurf selbständig, was den überheblichen Sieyès zutiefst gedemütigt haben soll.157 Der Sénat conservateur bestand schließlich aus 80 Mitgliedern, welche mindestens 40 Jahre alt sein mussten und die der Senat auf Lebenszeit durch Kooptation wählte.158 Beide Parlamentskammern, der Corps législatif und das Tribunat sowie der erste Konsul Napoléon schlugen einen Kandidaten vor, wobei jeweils einer der drei vorgeschlagenen gewählt werden musste.159 Der Sénat conservateur überprüfte auf Beschwerde des Tribunats oder der Regierung die Verfassungsmäßigkeit von nicht näher bezeichneten Akten und wählte seinerseits u. a. die Mitglieder des Tribunats, des corps législatif und die Konsuln.160 Die Mehrheit der Mitglieder des ersten Senats durften Sieyès und Ducos, die beiden provisorischen Konsuln, welche selber zu Senatoren wurden, gemeinsam mit den beiden neu zu ernennenden Konsuln gemeinsam bestimmen.161 Dies war wohl ein Geschenk Napoléons an seine beiden Mitstreiter, nachdem er selber sich mit deren Mithilfe als erster Konsul installiert hatte.162 Die Verfassung von 1799 diente jedoch lediglich als Fassade, um die Diktatur Napoléons zu verbergen, die vorgesehenen Wahlen fanden nie statt.163 Sieyès’ letzte politische Tat war die Ernennung eines Großteils der Senatoren, Tribune und Gesetzgeber, außerdem durfte er im ersten Jahr nach dem Staatsstreich in skurriler Tracht als Senatspräsident amten.164 Danach verschwand er in der Bedeutungslosigkeit, hatte er sich durch den Staatsstreich doch kompromittiert und seine unbestrittenen Verdienste um die Revolution und die Verfassungsgebung verspielt. Die von Na-
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Riklin, Sieyes (Fn. 100), S. 249 f.; vgl. auch Fioravanti (Fn. 36), S. 102. Hafen (Fn. 44), S. 240 ff.; vgl. auch die tabellarische Darstellung der Institutionen in den unterschiedlichen Verfassungsentwürfen bei ders., Der Einfluss der Souveränitätskonzeption von Emmanuel Joseph Sieyes auf ausgewählte helvetische Verfassungsentwürfe, St. Gallen 1993, S. 12; vgl. auch Fioravanti (Fn. 36), S. 102. 156 Hafen (Fn. 44), S. 2; His (Fn. 85), S. 197 f. 157 Hafen (Fn. 44), S. 23. 158 Art. 15 und 16 der Konsularverfassung von 1799, Quelle: Godechot (Fn. 144), S. 153. 159 Art. 16 der Konsularverfassung von 1799 (Fn. 158); vgl. zum Verfahren auch Riklin (Fn. 100), S. 248 ff.; Rufer (Fn. 78), S. 280. 160 Vgl. Art. 20 f. der Konsularverfassung von 1799 (Fn. 158). 161 Art. 24 der Konsularverfassung von 1799 (Fn. 158); vgl. auch Riklin (Fn. 100), S. 249; Rufer (Fn. 78), S. 280; Hafen (Fn. 44), S. 23 f. 162 Hafen (Fn. 44), S. 23 f. 163 Riklin (Fn. 100), S. 256 f. 164 Riklin (Fn. 100), S. 259 f.; Hafen (Fn. 44), S. 23 f. 155
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poléon verliehenen Ehrentitel – unter anderen als erbadliges Oberhausmitglied – taten das Übrige.165
2. Bedeutung für die Helvetik
Vier Jahre später fanden die Ideen Sieyès’ von 1795 Nachahmung in der Schweiz.166 Als 1799 die erste Helvetische Verfassung revidiert werden sollte, tauchte im Senat die Idee eines Verfassungsgerichts auf.167 Gestützt auf einen Bericht des Sieyès-Kenners Paul Usteri,168 nahm der Senat am 5. März 1799 einen Anhang zum bereits verabschiedeten Entwurf der Kommission an. Usteri, den man auch den schweizerischen Sieyès nannte,169 verlangte, dass die Verfassung ein „über die Verfassung wachendes Geschworenengericht“ einrichten sollte.170 Nach diesem Entwurf bestand das Gericht aus 24 Mitgliedern und ebenso vielen Ersatzmitgliedern. Die gesetzgebende Versammlung wählte die Richter aus dem Kreis der zurücktretenden Mitglieder der gesetzgebenden Räte, des Vollziehungsrates oder des Obersten Gerichtshofes.171 Das Geschworenengericht entschied über Verstöße gegen die Verfassung, welche die gesetzgebenden Räte, der Vollziehungsrat oder das Obergericht begingen.172 Der öffentliche Ankläger jeder Landschaft konnte selber tätig werden oder er musste tätig werden, sofern ihm eine Anzeige von 100 Bürgern aus seiner Landschaft vorlag. In diesem Falle machte der öffentliche Ankläger dem Ankläger am Obergericht Meldung.173 Der Ankläger am Obergericht hatte einen Fall aufzugreifen, sobald er von mindestens zwei Dritteln aller öffentlichen Ankläger der Landschaften eine Anzeige erhalten hatte.174 Der betroffenen Behörde gab man in diesem Fall jedoch im Vorfeld Gelegenheit, den angefochtenen Akt zurückzunehmen. Andernfalls hatte der Ankläger am Obergericht die Anzeige beim Obersten Gerichtshof oder bei den gesetzgebenden Räten einzureichen.175 Diese Behörde entschied über die Einleitung einer Untersuchung und gab der beschuldigten Behörde 165
Riklin (Fn. 100), S. 261 f.; Hafen (Fn. 44), S. 23 f. Vgl. His (Fn. 85), S. 199. 167 Der Vorschlag kam von Joseph Lüthi aus Solothurn, vgl. Amtliche Sammlung der Acten aus der Zeit der Helvetischen Republik (1798 – 1803), Bd. IV, S. 1336; vgl. auch Rufer (Fn. 78), S. 284; His (Fn. 85), S. 199. 168 Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 39 (1895), S. 399 (399 f.). 169 Allgemeine Deutsche Biographie (Fn. 168), S. 401. 170 Rufer (Fn. 78), S. 284 f.; His (Fn. 85), S. 199; Hafen, Helvetische Verfassungsentwürfe (Fn. 155), S. 13. 171 Art. 2 – 4 des Entwurfs, Actensammlung Helvetik Bd. IV, S. 1336 f. 172 Art. 5 des Entwurfs, Actensammlung Helvetik Bd. IV, S. 1337. 173 Art. 7 des Entwurfs, Actensammlung Helvetik Bd. IV, S. 1337. 174 Art. 8 des Entwurfs, Actensammlung Helvetik Bd. IV, S. 1337. 175 Art. 9 des Entwurfs, Actensammlung Helvetik Bd. IV, S. 1337; vgl. auch Rufer (Fn. 78), S. 285; His (Fn. 85), S. 199. 166
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erneut Zeit, um den angefochtenen Akt zurückzunehmen.176 Erst nachdem diese hohen Hürden überwunden waren, hatte diejenige Behörde das Geschworenengericht einzuberufen, welche bereits die Untersuchung angeordnet hatte. Das Geschworenengericht war nach diesem Vorschlag keine ständige Behörde und löste sich auf, sobald sie das Urteil gefällt hatte.177 Im Frühjahr 1799 folgte der zweite Koalitionskrieg, welcher die Helvetische Republik stark in Mitleidenschaft zog und eine Verfassungsrevision in den Hintergrund treten ließ. Der Senat führte daher nicht einmal eine Beratung über den Kommissionsvorschlag durch.178 Das Geschworenengericht tauchte lediglich noch in einem nicht weiter behandelten Entwurf der Revisionskommission am 17. Oktober 1800 auf, der nun ein Gericht mit 36 Mitgliedern vorsah.179 Als die Öffentlichkeit die Verfassungsrevision gegen Ende 1799 wieder erörterte, hatte sich die Situation stark verändert. In Paris hatte inzwischen der Brumaire-Staatsstreich stattgefunden und die Konsularverfassung war installiert worden. Helvetien befand sich nach den Verwüstungen durch die Koalitionskriege und die Wirtschaftskrise in einer furchtbaren Lage.180 Es war offensichtlich nicht die Zeit für visionäre Verfassungsprojekte. Gleichwohl schlug die Verfassungskommission des Senats noch immer vor, ein Geschworenengericht einzusetzen. Mehrheit und Minderheit der Kommission unterbreiteten dem Senat verschiedene unterschiedliche Verfassungsentwürfe. Unter dem Eindruck des Sénat conservateur, welcher inzwischen in Frankreich eingesetzt war, trugen die beiden Vorschläge zuhanden des Senats nun oligarchische Züge. Usteri, Berichterstatter der Ratsmehrheit, erläuterte den Entwurf der Kommissionsmehrheit. Das nun „Landgeschworenengericht“ genannte Gericht übernahm das Wahlsystem der Konsularverfassung, indem es sich durch Kooptation aus Dreiervorschlägen der gesetzgebenden Räte und der Regierung erneuerte.181 Es bestand aus 45 auf 15 Jahre Amtsdauer gewählten Mitgliedern.182 Neben den eigentlichen gerichtlichen Aufgaben wirkte das Landgeschworenengericht auch an den Wahlen der anderen Gewalten
Art. 11 f. des Entwurfs, Actensammlung Helvetik Bd. IV, S. 1337. Art. 16 des Entwurfs, Actensammlung Helvetik Bd. IV, S. 1337; vgl. auch Rufer (Fn. 78), S. 285. 178 Rufer (Fn. 78), S. 286; Allgemeine Deutsche Biographie (Fn. 168), S. 402. 179 Actensammlung Helvetik, Bd. V, S. 585.; vgl. auch His (Fn. 85), S. 199 Fn. 66. 180 Rufer (Fn. 78), S. 286; zu den Koalitionskriegen in Kürze: Andreas Fankhauser, Koalitionskriege, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Bd. 7, S. 306 ff. 181 Art. 25 Verfassungsentwurf Kommissionsmehrheit, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1321; vgl. auch His (Fn. 85), S. 199 f.; Rufer (Fn. 78), S. 288 ff. insb. 293, wonach der Wahlmodus in der Kommission umstritten war. 182 Art. 24 Verfassungsentwurf Kommissionsmehrheit, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1321; vgl. auch His (Fn. 85), S. 199 f.; Rufer (Fn. 78), S. 288 f. 176 177
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mit183 und vermittelte sogar bei Aufständen im Landesinnern. Misslang dieser Vermittlungsversuch, so konnte das Gericht das Militär autorisieren das aufständische Gebiet zu besetzen.184 Außerdem hatte das Landgeschworenengericht die Kommissare zu wählen und zu beaufsichtigen, welche den Staatsschatz verwalteten.185 Diese aus heutiger Sicht doch eher seltsame Machtfülle eines Verfassungsgerichts ging dem Senat zu weit. Insbesondere der Umstand, dass sich das Gericht durch Kooptation ergänzte, löste Unzufriedenheit unter den Senatoren aus, da dies dem Grundsatz der Volksvertretung widersprach.186 Usteri übernahm das System der Wahlen und Wählbaren aus der französischen Konsularverfassung und begründete dies vorwiegend mit der Ungebildetheit der Bürger.187 Es scheint dabei ein gewisser revolutionärer Widerspruch auf, wenn Kommissionsmitglied Lüthi die vorgeschlagene Institution mit dem Sechzehnerrat im Bern des Ancien Régime vergleicht.188 Die Minderheit der Kommission blieb näher am Kommissionsentwurf vom 5. März 1799, was die Kompetenzen und das Verfahren des „Über die Verfassung wachenden Geschworenengerichts“189 betraf. Der Bericht der Minderheit sah im Landgeschworenengericht der Mehrheit „die gefährlichste Gewalt, die je in einer Republik existiert hat“190. Neben den zu erwartenden Kosten, kritisierte die Minderheit vor allem das Wahlsystem, welches die Mehrheit vorschlug. Das Geschworenengericht setzte sich nach dem Entwurf der Minderheit daher aus allen helvetischen Bezirksgerichtspräsidenten zusammen, was dem Prinzip der Volksvertretung eher entsprach.191 Es konnte nur Akte der Regierung oder des Parlaments überprüfen, nicht jedoch der Gerichte.192 Der öffentliche Ankläger des Bezirks hatte eine ver183 Vgl. Bericht der Kommissionsmehrheit, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1317; Art. 27 Verfassungsentwurf Kommissionsmehrheit, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1321; vgl. auch His (Fn. 85), S. 199 f.; Rufer (Fn. 78), S. 289, wonach das Landgeschworenen „in erster Linie Wahlbehörde“ sei. 184 Art. 31 Verfassungsentwurf Kommissionsmehrheit, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1321; vgl. auch His (Fn. 85), S. 199 f.; Rufer (Fn. 78), S. 290. 185 Art. 90 und 93 Verfassungsentwurf Kommissionsmehrheit, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1321; vgl. auch His (Fn. 85), S. 199 f. 186 His (Fn. 85), S. 200; Vgl. auch Bericht der Kommissionsminderheit, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1328 ff. (1329), wo die Volksregierung gefordert wird. 187 Vgl. Rufer (Fn. 78), S. 290. 188 Rufer (Fn. 78), S. 290 f. 189 Dieser Name wurde in Art. 119 des Verfassungsentwurfs der Kommissionsminderheit ausdrücklich aufgeführt, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1339. 190 Bericht der Kommissionsminderheit, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1328 ff. (1330); auch zit. bei Rufer (Fn. 78), S. 292. 191 Art. 119 Verfassungsentwurf Kommissionsminderheit, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1339; vgl. auch den erläuternden Bericht der Kommissionsminderheit, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1330; Rufer (Fn. 78), S. 291 ff.; His (Fn. 85), S. 200. 192 Art. 120 Verfassungsentwurf Kommissionsminderheit, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1339; vgl. auch His (Fn. 85), S. 201.
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meintliche Verfassungsverletzung aus eigenem Antrieb oder aufgrund einer Anzeige von 50 Bürgern dem ältesten Ankläger der Republik mitzuteilen.193 Dieser älteste Ankläger griff einen Tatbestand jedoch erst auf, wenn er eine gleiche Anzeige von der Mehrheit der öffentlichen Ankläger Helvetiens erhalten hatte. Er machte der betroffenen Behörde Mitteilung von der Anzeige, worauf diese einen Monat Zeit erhielt, um die beanstandete Handlung zurückzunehmen.194 Nahm die betroffene Behörde die Handlung nicht zurück, so hatte der älteste Ankläger sie dem ältesten Bezirksgerichtspräsidenten zu übergeben, welcher das Geschworenengericht einzuberufen hatte.195 Nach kontroversen Beratungen196 verwarf der Senat den Entwurf der Kommissionsmehrheit und beschloss, seine weiteren Diskussionen auf den Entwurf der Minderheit zu stützen.197 Am 5. Juli 1800 genehmigte der Senat schließlich einen Verfassungsentwurf, welcher sich am Vorschlag der Kommissionsminderheit orientierte, die Kompetenzen des Gerichts aber noch weiter einschränkte.198 Die Wahlversammlungen wählten nun die Geschworenen direkt und wählbar waren nur ehemalige Mitglieder von Parlament oder Regierung sowie bestimmte Beamte.199 Das Gericht konnte nur Klagen behandeln, welche von mehr als einem Viertel der Räte, der Mehrheit der Regierung oder der Mehrheit der Wahlkreisgerichte eingereicht wurden.200 Das Gericht hatte außerdem noch die Auszählung der Stimmen bei einer Verfassungsänderung durch die Urversammlungen zu übernehmen.201 Usteri und seine Gesinnungsgenossen repräsentierten das liberale Bürgertum, sie waren Liberale aber keine Demokraten.202 Ihr Ziel war es, die Herrschaft im Staat einer vermögenden, intellektuellen Mittelklasse zu übertragen. Das allgemeine Wahlrecht und die Volkssouveränität waren diesem Ziel im Weg. Als sie erkennen mussten, dass der Senat diesem Vorhaben standhaft Widerstand leisten würde, lösten sie die Parlamentskam193 Art. 122 Verfassungsentwurf Kommissionsminderheit, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1339 f.; vgl. auch Rufer (Fn. 78), S. 293. 194 Art. 123 f. Verfassungsentwurf Kommissionsminderheit, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1340; vgl. auch Rufer (Fn. 78), S. 293. 195 Art. 124 Verfassungsentwurf Kommissionsminderheit, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1340; vgl. auch Rufer (Fn. 78), S. 293. 196 Vgl. für eine Zusammenfassung der Beratungen Rufer (Fn. 78), S. 293 ff. 197 Rufer (Fn. 78), S. 298 für diesen Entscheid sowie S. 298 f. für eine Zusammenfassung der folgenden Beratungen. 198 Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1304 ff., die Bestimmungen zum Geschworenengericht finden sich hauptsächlich in Art. 114 – 121 (S. 1313 f.); vgl. auch His (Fn. 85), S. 200 f.; Rufer (Fn. 78), S. 299. 199 Art. 114 f. Verfassungsentwurf Senat, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1313. 200 Art. 116 Verfassungsentwurf Senat, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1313; vgl. auch Rufer (Fn. 78), S. 299. 201 Art. 121 Verfassungsentwurf Senat, Actensammlung Helvetik Bd. V, S. 1314; vgl. auch His (Fn. 85), S. 201. 202 Rufer (Fn. 78), S. 300.
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mern auf und setzten einen provisorischen gesetzgebenden Rat ein, der aus Republikanern und Aristokraten bestand.203 Dieser Vollziehungsrat erarbeitete im Folgenden einen eigenen Verfassungsentwurf, welcher dann durch eine Gesandtschaft Napoléon überbracht werden sollte. In bemerkenswerter Willfährigkeit arbeitete Albrecht Rengger diesen Entwurf mit stark oligarchischem Charakter aus und kopierte darin den mittlerweile in Frankreich eingesetzten Sénat conservateur, welcher in der helvetischen Fassung Erhaltungs-Senat hieß.204 Dieser hatte sich durch Kooptation aus einem Dreiervorschlag der beiden Parlamentskammern und der Regierung selber zu ergänzen.205 Daneben kam dem Erhaltungs-Senat eine große Machtfülle zu. So hatte er umfangreiche Wahl- und Abberufungsrechte, konnte Bürgerrechte erteilen, auf Vorschlag der Regierung Strafurteile mildern oder aufheben und militärische Besetzungen aufrührerischer Landesgegenden veranlassen.206 Außerdem amtierte das Gericht in Strafverfahren gegen die obersten Beamten.207 Diesen Entwurf unterbreitete die helvetische Delegation Napoléon in Paris, doch bereits Talleyrand bemängelte, der Entwurf würde zu sehr die französische Verfassung nachäffen (trop singer la constitution française).208 Er setzte dem Projekt seine Verfassung von Malmaison entgegen, darin findet sich weder ein Oberster Gerichtshof noch ein Verfassungsgericht.209 Auf das erstere wartete die Schweiz bis 1848 auf das letztere bis 1874, jedoch nur bezüglich kantonaler Gesetze in bestimmten Materien. Die Verfassungsgerichtsbarkeit über Bundesgesetze ist bis heute unerfüllt.210 Bundesgesetze sind für das Bundesgericht aufgrund von Art. 190 der Bundesverfassung (BV) verbindlich. Allerdings steht die Bundesversammlung nicht mehr geschlossen hinter dieser Bestimmung. Der Nationalrat hat am 6. Dezember 2011 beschlossen, Art. 190 BV ersatzlos zu streichen. 211 Der Ständerat ist 203 Rufer (Fn. 78), S. 301 ff.; Andreas Frankhauser, Helvetische Republik, Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Bd. 6, S. 258 (260, 266). 204 Art. 18 – 29 Verfassungsentwurf Vollziehungsrat, Actensammlung Helvetik Bd. VI, S. 533 ff. (534); vgl. auch His (Fn. 85), S. 201; Rufer (Fn. 78), S. 303 f. 205 Art. 20 Verfassungsentwurf Vollziehungsrat, Actensammlung Helvetik Bd. VI, S. 533 ff. (534); vgl. auch His (Fn. 85), S. 201; Rufer (Fn. 78), S. 303. 206 Art. 22 – 27 Verfassungsentwurf Vollziehungsrat, Actensammlung Helvetik Bd. VI, S. 533 ff. (534 f.); vgl. auch His (Fn. 85), S. 201; Rufer (Fn. 78), S. 303 f. 207 Art. 28 Verfassungsentwurf Vollziehungsrat, Actensammlung Helvetik Bd. VI, S. 533 ff. (535) vgl. auch His (Fn. 85), S. 201; Rufer (Fn. 78), S. 304. 208 Actensammlung Helvetik Bd. VI, S. 577; vgl. auch Rufer (Fn. 78), S. 304; His (Fn. 85), S. 202. 209 Rufer (Fn. 78), S. 304. 210 Vgl.; etwa Giacometti (Fn. 85), S. 14 ff.; Goran Seferovic, Das Schweizerische Bundesgericht 1848 – 1874: Die Bundesgerichtsbarkeit im frühen Bundesstaat, Diss. Univ. Zürich, Zürich 2010, S. 13 ff. 211 Vgl. Giovanni Biaggini, Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit: Ersatzlose Aufhebung von Art. 190 BV als optimaler Weg?, Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins 148 (2012), S. 241.
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ihm dabei bisher nicht gefolgt und hat am 5. Juni 2012 Nichteintreten auf die betreffenden Vorlagen beschlossen.212 VI. Aktualität von Sieyès im Frankreich der V. Republik Es dauerte schließlich bis 1958, dass Frankreich mit dem Conseil constitutionnel ein Organ einrichtete, welches Gesetze präventiv und abstrakt anhand der Verfassung prüfen konnte. Die verfassungsausführenden Gesetze (lois organiques) müssen dabei obligatorisch durch den Premierminister dem Conseil constitutionnel vorgelegt werden.213 Darüber hinaus war die Legitimation zu dieser Beschwerde jedoch bis im Jahre 2008 eng ausgestaltet.214 Lediglich der Staatspräsident, der Premierminister, die Präsidenten der Parlamentskammern und seit 1974 auch je 60 Abgeordnete aus einer der beiden Kammern konnten eine solche Normenkontrolle veranlassen.215 Seit einer Verfassungsrevision vom 21. Juli 2008 existiert eine konkrete Normenkontrolle verbunden mit einer Individualbeschwerde, dies jedoch nur, falls der Conseil d’Etat oder der Cour de cassation (das oberste Verwaltungsgericht oder das oberste Zivilgericht) die Sache dem Conseil constitutionnel überweisen.216 Es handelt sich somit auch bei der Individualbeschwerde um eine konzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit beim Conseil constitutionnel. VII. Bewertung Sieyès beschrieb sein System der Gewalten als „concours des pouvoirs“, was Wettbewerb der Gewalten meinte217 oder auch „Zusammenwirken der Gewalten“ bedeuten kann.218 Sieyès verglich die Staatsorganisation mit dem Bau eines Hauses, bei dem die Arbeiter verschiedene Funktionen ausführen, aber gemeinsam zu einem Zweck beitragen. So propagierte Sieyès eine „uni-
212 Amtliches Bulletin Ständerat 2012, die Seitenzahl lag zum Zeitpunkt der Drucklegung noch nicht vor. 213 Dmitri Georges Lavroff, Le droit constitutionnel de la V. République, 2. Aufl., Paris 1997, S. 171; Yann Grandjean, La question prioritaire de constitutionnalité, une solution pour la Suisse?, Aktuelle Juristische Praxis 2011, S. 1325 (1326). 214 Vgl. zur nicht vorhandenen Individualbeschwerde vor der Revision 2008 etwa Lavroff (Fn. 213), S. 172 f. 215 Art. 61 Abs. 2 der Französischen Verfassung (aktuell abrufbar unter http: // www.legifrance.gouv.fr./), vgl. etwa auch Lavroff (Fn. 213), S. 132, 169 ff.; Grandjean Question (Fn. 213), S. 1326. 216 Art. 61 – 1 Abs. 1 der Französischen Verfassung; vgl. zur Entstehung der konkreten Normenkontrolle 2008: Grandjean (Fn. 213), S. 1327 f.; ders., Le contrôle des normes entre européanisation et réactions nationales, in: Jusletter 14. März 2011, S. 1 (10 ff.). 217 So auch Thiele (Fn. 41), S. 29. 218 So His (Fn. 85), S. 196.
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té d’action“ der Gewalten und keinesfalls eine Gewalten vermengende „action unique“219, wie sie Condorcet als notwendig erachtete für einen Staat ohne Parteien.220 Sieyès wollte auf diese Weise die Gewaltentrennung mit einer harmonischen Staatsorganisation verbinden, wie bereits das erwähnte Zitat über das Verhältnis von Anarchie und Despotie veranschaulicht.221 In diesem Konzept diente die Jury constitutionnaire, wie Sieyès selbst ausführte, als Kassationsgericht und als Vorschlagswerkstatt der Grundverfassung sowie als Menschenrechtsgerichtshof der Rechte des Menschen.222 Ein System der checks and balances, in welchem die Judikative die Legislative kontrolliert, wie es die USA kannten, passte schlecht zu dieser „unité d’action“. Sieyès Verfassungswerk wird daher oft als prozedurale Vermittlung von Volkssouveränität und Freiheitsrechten angesehen.223 „L’idée dominante était que l’unique garantie des droits possible était à rechercher ‹dans le seul jeu des pouvoirs›.“224
Aufgrund dieser Überlegungen tendierte Sieyès dazu, seine Jury zu einer Superinstitution auszugestalten, da er zur Ansicht kam, dass nur eine solche oligarchische Institution die Freiheitsrechte auf Dauer gewährleisten könne.225 Sieyès selber nannte seinen Verfassungswächter zuerst „Jury“, dann „Collège“ und schließlich „Sénat“, was alleine schon anzeigt, dass die Institution immer politischer wurde.226 Doch schon die Jury war politisch geprägt, indem sie sich vollständig aus ehemaligen Parlamentariern zusammensetzen sollte. Die Gesetzgebung anhand der Verfassung zu kontrollieren, sollte in Frankreich durch ein politisches Organ geschehen. Neben der Tatsache, dass Gerichte im nachrevolutionären Frankreich schlecht angesehen waren,227 wäre alles andere mit der volonté générale – verkörpert im parlamentarischen Gesetz – nicht zu vereinbaren gewesen.228 Und wenn man sich dieser Voraussetzungen bewusst ist, so bleibt dem Verfassungsgeber tatsächlich nichts anderes übrig, als zu versuchen, die Freiheitsrechte im „seul jeu des pouvoirs“ zu garantieren. Dies war übrigens ein Weg, welcher auch der schweizerische Bundesstaat von 1848 – 74 (und in Teilen bis 1893) gewählt hatte.229 Das schweizerische System sah zwar eine Individualbe-
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Sieyes (Fn. 5), S. 379; vgl. auch Thiele (Fn. 41), S. 28 f. Vgl. Jean-Antoine-Nicolas de Caritat Condorcet, Exposition des principes et des motifs du plan de constitution, in: ders., Oeuvres complèts de Condorcet, Bd. XVIII, Brunswick / Paris 1804, S. 155 (184 f.); vgl. auch Hafen (Fn. 44), S. 201. 221 Vgl. schon oben Fn. 46 sowie Hafen (Fn. 44), S. 201. 222 Sieyes (Fn. 18), S. 429 f. 223 So ausdrücklich Thiele (Fn. 41), insb. S. 36 f. 224 Fioravanti (Fn. 36), S. 102. 225 Vgl. Thiele (Fn. 41), insb. S. 36. 226 Vgl. Fioravanti (Fn. 36), S. 102. 227 Vgl. dazu schon oben Fn. 79. 228 Vgl. Fioravanti (Fn. 36), S. 102. 220
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schwerde vor, aber die Verfassungsgerichtsbarkeit stand dem Bundesrat und auf Rekurs hin der Bundesversammlung zu. Ob die politischen Behörden im Rahmen dieser Rekurse auch „politische“ Urteile gefällt haben, wäre ein lohnender Untersuchungsgegenstand.
229 Vgl. Art. 59 Abs. 2 Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Brachmonat 1874 (= Amtliche Sammlung, N.F. I 136) sowie Art. 189 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893 (= Amtliche Sammlung, N.F. XIII 455); vgl. dazu auch Goran Seferovic, Leo Weber und der Anfang des Bundesamtes für Justiz, in: Commentationes Historiae Iuris Helveticae, 5 (2010), S. 115 (128 ff.).
Aussprache Gesprächsleitung: Waldhoff
Waldhoff: Vielen Dank, Herr Kley. Man kann ja gar nicht anders, als aktuelle Debatten in diesen Vorschlägen von Sieyès gespiegelt zu sehen; so eine Art Missbrauchsgehör kam in Ihren Ausführungen vor – in Deutschland ist das zur Zeit wieder ganz groß in der Diskussion. Die Äußerung von Verfassungsrichtern über Verfassungsänderungen, die uns so viele Probleme etwa bei den Europaentscheidungen machen, scheint in dem berichteten Vorschlag institutionalisiert zu werden; das alles ist hoch interessant. Und mit 108 Mitgliedern könnte der Ehrgeiz sämtlicher deutscher Staatsrechtslehrer befriedigt werden [Allgemeine Heiterkeit.], als Verfassungsrichter berufen zu werden […] Nach diesen nicht ganz ernst gemeinten Vorbemerkungen bitte ich um Wortmeldungen. Wir fangen mit Herrn Schönberger an. Schönberger: Vielleicht zwei Überlegungen dazu, eine historische und eine systematische. Historisch wäre sicherlich die Frage: Müsste man die Vorschläge von Sieyès nicht noch einmal stärker in die gesamte Umorganisation der Justiz in Frankreich in der damaligen Zeit stellen? Wenn man sich diese Landschaft einen Augenblick vergegenwärtigt, dann war damals schon die Cour de cassation geschaffen worden als Kassationshof für Privatrecht und Strafrecht. Bezeichnenderweise durfte die Cour de cassation am Anfang aber nicht einmal eine bindende Gesetzesauslegung machen, das blieb Sache des gewählten Parlaments. Frankreich neigte nach der Revolution dazu, die höchsten Gerichte parlamentsnah zu organisieren und hatte Schwierigkeiten, die Unabhängigkeit der Justiz vom gewählten Gesetzgeber anzuerkennen. Das war die Reaktion auf die Kämpfe der Monarchie mit den Parlements vor 1789. Die Vorschläge von Sieyès sind hier einzubetten. Dann sieht man auch erst, dass damals ja die Verwaltungsgerichtsbarkeit noch fehlt. Die Cour de cassation hat hier keine Kompetenzen, die Verwaltungsgerichtsbarkeit kommt erst später mit dem Staatsrat Napoleons. Die Vorschläge von Sieyès für ein „Tribunal de Cassation“ antworten auch auf diese Lücke. Es geht hier gar nicht um Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern um Verwaltungsgerichtsbarkeit. Das Beispiel zeigt: Wenn wir über Sieyès und seine Vorschläge nachdenken, dann müssen wir uns von der Faszination lösen, Vorläufer der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit zu suchen, und zunächst einmal danach fragen, welche Justizprobleme Sieyès in seiner Zeit lösen musste.
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Aussprache
Das führt mich nun auch zum Problem der Gesetzeskontrolle. Die Unklarheit von Sieyès’ Vorschlägen dazu ist bezeichnend, weil das eben nicht das zentrale Problem ist, das Sieyès vor Augen hat. Es gab ein Problem der Justizorganisation insgesamt. Die Selbstkontrolle der parlamentarischen Gesetzgebung war nur ein Teilaspekt. Es liegt dann nicht fern, dass dieser Teil eher im Sinne einer politischen Begleitkontrolle geschehen soll, wozu auch ganz gut passt, dass man bei diesem Organ dann auch Vorschläge für Verfassungsrevision und Ähnliches ansiedelt. Soviel zur historischen Einordnung. Systematisch und von der heutigen Verfassungsgerichtsbarkeit her würde ich fragen: Ist es nicht bezeichnend, dass Sieyès die Gesetzeskontrolle nicht der allgemeinen Justiz anvertraut, sondern eine gewissermaßen selbständige Verfassungsgerichtsbarkeit vor Augen hat? Er trennt sie von der üblichen Justiz, aus spezifisch französischen Gründen. Und das ist ja das Anliegen bei der Einrichtung praktisch aller selbständigen Verfassungsgerichte. Man vertraut der überkommenen Justiz nicht, also sucht man etwas anderes. Regelmäßig werden sie eingerichtet aus Misstrauen gegenüber der Justiz, die man schon hat, auch beim Grundgesetz 1949. Warum richtet man denn überhaupt ein selbständiges Verfassungsgericht ein? Man will die Gesetzeskontrolle eben nicht dem Bundesgerichtshof übertragen, der im Zweifel von irgendwelchen alten Nationalsozialisten bestückt ist. Hier wird also schon in der französischen Revolution ein allgemeines Motiv deutlich: Misstrauen gegenüber dem etablierten Justizsystem; man braucht etwas Neues. Hier liegt dann vielleicht wirklich die Kontinuität zur modernen Verfassungsgerichtsbarkeit. Nicht so sehr in direkten Nachwirkungen im französischen Verfassungsrat von 1958. Sondern im Sinn eines Grundmotivs bei der Errichtung selbständiger Verfassungsgerichte, die häufig fern von der normalen Justiz angesiedelt werden und ein großes Stück politisiert sind. Bei Sieyès ist diese Politisierung so offenkundig, dass man sie gar nicht näher ausführen muss. 108 alte Parlamentarier als Verfassungskontrolleure sprechen für sich selbst. Waldhoff: Dann fügen wir noch Herrn Grothe dazu. Grothe: Ich möchte anschließen an das, was Herr Schönberger gesagt hat. Er hat die Vorgeschichte von Sieyès aufgerollt, und ich möchte nach der Nachgeschichte fragen. Das, was Sie uns vorgestellt haben, dieses Modell von Sieyès, wirkt doch recht theoretisch, so wie eine Gedankenspielerei, die jemand in der Zeit der Französischen Revolution macht, in der verschiedene Verfassungsmodelle ausprobiert werden, und in der jemand dann sagt: Was machen wir denn jetzt mit der justizförmigen Kontrolle von dem, was beispielsweise verfassungsgebende Versammlungen beschließen? Wie können wir da vorgehen? Das ist alles eben doch sehr theoretisch. Und irgendwie passt dazu, dass Sie gesagt haben, eine Rezeption sei eigentlich erst 1958 in
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Frankreich erfolgt. Mich würde dann aber doch interessieren: Hat es nicht irgendwie einmal eine Bezugnahme vorher gegeben? Das wäre sonst ja erst 150 Jahre später, da ist man doch etwas verwundert. Oder liegt es eben an diesem sehr konstruierten Modell, das in der Verfassungspraxis zunächst einmal schwer umsetzbar scheint? Kley: Zu Herrn Schönberger: Ich teile Ihre Auffassung. Es passt exakt in die französische Entwicklung hinein und ganz bemerkenswert ist an diesem Vortrag von Sieyès eben, dass er versucht, Volkssouveränität und Durchsetzung der Verfassung zu versöhnen. Deshalb macht er eben den Vorschlag eines parlamentsnahen Gerichts oder Ausschusses von Ehemaligen. Das illustriert das natürlich uns längst bekannte und ungelöste Problem, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit eine enorm politische Dimension hat und von einem Organ ausgeübt wird, das in gewisser Art und Weise politisch bestimmt wird. Die Verfassungsrichter sollen, wie im Fall von Frankreich bis heute, nicht reine Juristen sein, sondern vielmehr politisch erfahrene Persönlichkeiten sein. Die Kontinuität besteht in Frankreich im größeren Bewusstsein der politischen Kraft eines Verfassungsgerichtes. Das ist eigenartig, dass Sieyès den Vorschlag nicht einmal ansatzweise umsetzen konnten. Er ist nicht ernst genommen worden, aber ich lasse mich sonst gerne von jemandem belehren, der das genau weiß; ich habe nie etwas gesehen. Das Einzige, was man sagen kann, der Conseil d‘État als Verwaltungsgericht, also das Beratungsorgan der Regierung, hatte gewisse sozusagen verfassungsrichterliche Funktionen übernommen. Aber das war eher so zufällig und hat sich so entwickelt. Sonst stimme ich Ihnen zu. Herr Grothe, sagen Sie mir bitte noch einmal die Frage. Grothe: Im Grunde genommen haben Sie meine Frage eben beantwortet. Sie wissen nichts über eine Rezeption. Das war meine Frage: Gibt es wirklich gar keine Rezeption vor 1958? Sie haben gesagt, dass Sie nichts gefunden haben. Kley: Ich habe nichts gefunden. Waldhoff: Danke. Axel Tschentscher ist der nächste Diskutant. Tschentscher: Vielen Dank für den Vortrag. Ich habe eine dreigliedrige Frage. Die dreigliedrige Frage bezieht sich aber auf einen einzigen Aspekt, nämlich auf die auffällige personelle Zusammensetzung dieses Gremiums. 108 Mitglieder, alles Parlamentarier und wenn ich es richtig verstanden habe, sogar noch mit dem Element der Selbstergänzung. Als Erstes wird da für mich problematisch: Wie soll eine Kontrolle stattfinden können? Kennen Sie irgendeinen Weg, wie eine Minderheit im Parlament, die dann dieses Gremium aktiviert, gegen die Mehrheit im Parlament, jetzt in eben diesem Gremium, dann doch eine Kontrolle bewirken kann? Als Zweites, auch per-
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sonell: Hat in dieser Rede von Sieyès von 1795 irgendeine Auseinandersetzung mit der US-Verfassung stattgefunden? Denn das, was ganz offenkundig fehlt, ist das Gewaltenteilige in diesem Modell. Und das war ja ganz anders beim US-Bundesgericht. Sieyès ist vermutlich nicht jemand, der da amerikanisch oder englisch rezipiert hat? Und der dritte Aspekt, auch personell: Diese mögliche Rezeption, Conseil Constitutionnel in der Verfassung von de Gaulle. Der Conseil ist doch wieder anders zusammengesetzt. Ich weiß es jetzt nicht mehr ganz auswendig, aber nach meinen Erinnerungen sind z. B. die Ex-Präsidenten Mitglieder im Conseil, und es sind jedenfalls nicht nur Parlamentarier drin. Und das würde doch gegen eine Rezeption sprechen, wenn man jedenfalls kein echtes Parlamentsgremium mit dieser Aufgabe betraut. Kley: Zur ersten Frage: Die Zusammensetzung der Mitglieder zeigt einen fast etwas oligarchischen Charakter des Organs. Dieses umfasst etwa ehemalige Parlamentarier, die die Gesetze gemacht haben und nachher diese Gesetze wiederum im Anwendungsfall überprüfen sollen. Hier vertraute Sieyès blindlings, ohne sich in dieser Rede zu äußern, dass das die richtigen Leute sind. Er will damit nur die Tatsache befriedigen, dass diese Form der Beurteilung einen politischen Charakter hat. Hier entwickelt sich die Gefahr, dass sich die sogenannten Richter oder Geschworenen zusammentun, und weiterhin die Anschauung der Parlamentsmehrheit teilen, aus der sie stammen. Das ist ein ungelöstes Problem. Wir können es heute fast nicht mehr verstehen, dass Sieyès so „abhängige“ oder vorbestimmte Personen als Verfassungsrichter vorsieht. Sieyès erwähnt die USA in seiner Rede nicht. Sein Vorschlag ist wirklich ein französisches Eigengewächs, das hier heranwächst, denn er behandelte das amerikanische Modell überhaupt nicht. Es ist auch nicht erkennbar, wo er sich hat inspirieren lassen, gerade deshalb handelt es sich um eine sehr originäre Sache. Und das heutige Frankreich: Ja natürlich, die Verfassungsrichter sind nicht ehemalige Parlamentarier allein, aber sehr politiknahe Leute, die auf Vorschlag der Parteien gewählt werden. Also im Prinzip eben nicht vorrangig hervorragende Juristen wie beim Bundesverfassungsgericht, sondern Leute mit politischer Erfahrung und die ehemaligen Staatspräsidenten sind da von Amtes wegen Mitglieder. Man kann sagen, das sei eine Abweichung zum Sieyès, aber in der Sache ist es genau das Gleiche: Politische Leute besetzen das Verfassungsgericht, weil eben hier nicht Justiz vorliegt, sondern eine merkwürdige Staatstätigkeit von anderer Art, die einen stark politisch-rechtsetzenden Inhalt hat. Waldhoff: Herr Schilling. Schilling: Ich habe zwei Fragen: Die eine knüpft an die Fragen von Herrn Schönberger und anderen an. Wie kann man die relative Schwäche der fran-
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zösischen Verfassungsgerichtsbarkeit erklären? Handelt es sich nicht auch um eine Schwäche der Verfassung, wenn man bedenkt, dass Frankreich seit der Revolution fünfzehn Verfassungen hatte? Dass jene, die am längsten gehalten hat, die der Dritten Republik, eigentlich eher als Torso zu gelten hat? Dass auch in jüngerer Zeit die Überarbeitung der Verfassung als quasi politische Umgestaltung gelegentlich thematisiert wurde? Gibt es da eine langfristige Tradition, die eine strukturelle Schwäche der Verfassung bedingt? Die andere Frage betrifft Sieyès. Ich kenne den Sieyès von 1789 besser als jenen von 1795. Könnten Sie vielleicht kurz skizzieren, wie sich sein Verfassungsdenken von 1789 bis zu der von ihnen vorgestellten Rede entwickelt? Kann man versuchen, die Entwicklung seiner Vorstellungen anhand bestimmter markanter Punkte zu charakterisieren oder wäre das ein eigener Vortrag? Dann verzichte ich selbstverständlich. Kley: Das ist eine interessante Frage betreffend die Schwäche in Frankreich, was aber die Sache nicht ganz trifft. Es ist eine Schwäche des Verfassungsdenkens, die insofern hervortreten kann, als die Verfassung nur als Instrument des Regierens angeschaut wird. Die Verfassung wird in diesem Sinne zu einem temporären Phänomen, um zu regieren, neue Mehrheitsverhältnisse und neue Machtverhältnisse zu erzeugen. Dieses Vorgehen ist geradezu ein französisches Prinzip. Man kann es auch so sehen: Die Menschenrechte wurden ein paar Mal feierlich außerhalb der Verfassung erklärt und, das ist ja wichtig zu sagen, als ewiges Naturrecht angekündigt. Das Wichtigste wurde da geleistet und jetzt kann man dann getrost den Staat organisieren. Das wird immer wieder mit neuen Versuchen gemacht, einen Staat zu haben, der der Mehrheit genügt, der die Menschenrechte schützt oder auch vielleicht diese Rechte etwas weniger schützt. Aber in Frankreich ist diese Verfassungsschwäche augenfällig. Sie haben Recht, wenn Sie die Dritte Republik als die stabilste einstufen, was ihre Verfassungsordnung anbelangt. Und alles andere, vor allem die Mehrheitsverhältnisse in der Regierung und in der Nationalversammlung sind temporär. Die de GaulleVerfassung dauert jetzt allerdings schon eine Weile und sie könnte bald einmal zum Ausdruck der stabilen Verfassung an sich werden. Zum Denken bei Sieyès: Ich habe den Eindruck, er hat gewisse opportunistische Züge nicht nur in seinem Handeln, sondern auch in seinem Verfassungsdenken. Er macht recht scharfe Kurven in seinem Denken, die mir von der Sache her nicht erklärbar sind. Natürlich kann ich ihm das nicht vorwerfen, man darf stets klüger werden. Schilling: Das liegt also nicht an mir? Kley: Nein, es liegt nicht an Ihnen, ich habe auch große Mühe, die sehr unterschiedlichen Vorschläge unter einen Hut zu bringen. Und wenn man dann die spätere Zeit noch betrachtet, wird es einem dann fast etwas übel, was
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Sieyès alles mitmacht. Ich denke, er ist ein sehr kreativer Geist, der sich aber dann sehr stark von der Zeit bestimmen ließ. Ich sehe nicht einen durchgehenden Zug in seinem Denken, er ist auch nicht ein treuer Anhänger von etwas, das er in seinem politischen Leben durchzieht, außer dass er physisch überlebt: Die Guillotine kann an seinem Hals keine Arbeit verrichten. [Heiterkeit.] Waldhoff: War das nicht bei einem gewissen Talleyrand ganz ähnlich? Aber vielleicht war das auch ein Zug der Zeit […] Der Nächste wäre Herr Brauneder. Brauneder: Danke Herr Kley vorhin für das Wort Eigengewächs. Jetzt fühle ich mich mit meiner Frage nicht so ganz weg vom Thema. Nämlich: Ich wollte Sie fragen nach der Council of Cencors in Pennsylvania. Wo kommt diese Idee eigentlich her? Mitgebracht vermutlich von Einwanderern, und die kommen ja von irgendwo in Europa. Waldhoff: Herrn Härter nehmen wir vielleicht noch dazu. Härter: Herr Kley, ich beginne vielleicht mit einer etwas zugespitzten und provozierenden These: Diese Verfassungsgerichtsbarkeit, die Sie uns geschildert haben und die Sieyès konstruiert hat, ist eigentlich ein Substitut für bestimmte Funktionen und Vorrechte, die der König ausgeübt hat und die man jetzt nicht mehr in der neuen Verfassungskonstruktion unterbringen kann. Das eine ist sozusagen die Normenkontrolle, ursprünglich in manchen Verfassungen zwar Vetorecht, in Frankreich aber etwas anders als Initiativrecht für Verfassungsänderung, und dann das letzte, die Gnadengewalt, die ich noch etwas erweitern würde. Insofern werden auch bei Sieyès die zeitgenössischen Probleme, wie Sie sie geschildert haben, nicht systematisch, sondern aus der Problematik der Verfassungsänderung und der neuen Verfassungskonstruktion behandelt, die Elemente traditionaler Art nicht mehr unterbringen kann. Das dritte, die Gnadengewalt, finde ich besonders interessant im Hinblick auf Verfassungsschutz und zwar vor allem der Entwicklung des justiziellen Verfassungsschutzes, der auch noch im 19. Jahrhundert dieses Element inkorporieren muss, z. B. über Mediation und Schiedsgerichtsbarkeit, und jedenfalls nicht nach strengem Recht Konflikte entscheiden kann. Und ich glaube, deswegen geht es nicht nur um Strafgerichtsbarkeit, sondern vielleicht auch um Konflikte, die mit politischer Dissidenz und sonstigen Verfassungsproblemen zusammenhängen. Diese sollen nicht mehr nach strengem Recht entschieden werden, sondern über Mediation und Vermittlung, um damit sozusagen präventiv Verfassung zu erhalten und Revolution zu verhindern. Kley: Zu Herrn Brauneder: Ich sehe hier gewisse Spuren bei Rousseau: Dieser Zensorenrat, den er auch vorgesehen hat, übt bei Rousseau nicht eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit aus, sondern eher kontrolliert geistig in
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dem Sinne, dass die Republik in die richtige Richtung marschiert, dass es nicht demagogische Meinungen gibt, dass die Bürger in den Versammlungen richtig stimmen. Ich sehe diesen Zensorenrat als von der Volkssouveränität motiviert an. Rousseau hat stark in den amerikanischen Gliedstaaten eingewirkt, er war für sie ein wichtiger Denker. Zu Herrn Härter: Das ist eine interessante These, die ich teilweise auch unterschreiben würde. Es gibt Zeitgenossen, die genau das gleiche sagen, was Sie sagen. Vor allem das königliche Vetorecht ist praktisch undenkbar, man könnte es höchstens dieser Jury noch geben, aber unter keinen Umständen beim König. Interessant ist dieses königliche Vetorecht, das Louis XVI. ja ausgiebig ausgeübt hatte, denn das Volk bezeichnete ihn als Monsieur Véto. Es findet sich auch in der Montagnard-Verfassung von 1793. In den Verfassungsentwürfen war dieses Veto auf das Volk übertragen worden und auf diese Weise wird das königliche Veto zu einem Volksreferendum: Das ist eine echte Demokratisierung oder aus royalistischer Sicht müsste man sagen, dass das Volk jetzt königlich geworden ist. Freilich wird diese Verfassung nicht umgesetzt. Ich bin überzeugt, es hat sehr viel für sich, dass man in der Jury Dinge platziert, die man sonst nicht brauchen kann wie das Begnadigungsrecht, denn irgendjemand, der unverdächtig ist, muss es ausüben. Und diese alten Parlamentarier im Verfassungsgericht sind genau die Richtigen dafür. Die Verbesserungsvorschläge, die das Verfassungsgericht sammelt, gehörten zwar ursprünglich nicht dem König, aber in gewisser Weise schon: Denn er verkörperte ja die Verfassung und seine Regentschaft hätte auch Verbesserungen aufnehmen und umsetzen können. Bei Sieyès haben wir eine Jury, die das sammelt und dann als Heft herausgibt. Darüber kann das Parlament abstimmen. Waldhoff: Jetzt haben wir eine Zwischenintervention von Christoph Schönberger. Schönberger: Spontan, in Ergänzung zu dem, was Herr Härter gesagt hat. Ich glaube, dass Sie sehr recht haben mit der Übertragung aus der Monarchie, vielleicht kann man es zuspitzen: Das französische Ancien Regime hatte eine absolutistische Staatsgewalt, die aber durch Mechanismen des internen Appells abgemildert war, auf allen Ebenen. Und das versucht man jetzt nach der Revolution irgendwie zu rekonstruieren. Wo ich ihnen allerdings widersprechen würde, ist die Vorstellung, es sei dabei auch in Frankreich um eine Art Mediationsmechanismus und den Ausgleich von Konflikten zwischen Staatorganen gegangen. Gerade das hat Frankreich ja nicht entwickelt, bis heute nicht. Wir haben dort bis heute kein Organstreitverfahren; der interne Konflikt innerhalb des Staates bleibt rein politisch und kann nicht rechtlich vermittelt werden. Das scheint mir der große Unterschied zu sein zur deutschen Tradition, die immer wieder auch eine Staatsgerichtsbarkeit zwischen den Organen hervorgebracht hat. Aber richtig ist sicherlich,
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dass die Billigkeit der vorrevolutionären Justiz unter dem nachrevolutionären Gesetz keinen Ort mehr hat. Sieyès sucht einen Ersatz dafür. In der Gerichtsbarkeit will er sie nicht ansiedeln, um diese nicht mächtig zu machen, also wählt er eine politische Ebene. Waldhoff: Jetzt Herr Steiger, bitte. Steiger: Vielen Dank. Ich möchte noch einmal an das anknüpfen, was Herr Schilling schon aufgeworfen hat. Sie haben beide den Begriff Verfassungsschwäche gebraucht. Den möchte ich doch ein bisschen hinterfragen. Und Sie haben dann auch gesagt, die Menschenrechte seien ein fester Bestand, also faktisch so eine Art Überverfassung oder noch viel mehr als die lois fondamentales, also etwas ganz Fundamentales, überhaupt nicht antastbar, das andere ist nur Instrument. Hinsichtlich des Ersteren, also was die Menschenrechte angeht, bin ich völlig einverstanden. Aber was das Zweitere angeht, möchte ich auch das hinterfragen. Denn welche Rolle spielt es eigentlich, dass die zweite Verfassung erst einmal suspendiert in einen schönen Kasten eingeschlossen wird und mitten im Konvent steht und jeder verneigt sich? Ich weiß es nicht, vielleicht hat man es auch nicht getan, aber das kann ich mir so vorstellen, so ähnlich wie die Bundeslade, aber lassen wir die Verfassung da ruhen, bis die Revolution zu Ende ist, während Sie ja sagen, Sieyès will damit die Revolution eben gerade beenden. Ich glaube, da liegt das eigentliche Motiv oder der eigentliche Grund auch für diese Verfassungsschwäche. Das ist mehr als ein Instrument, das ist eben gerade eine völlig andere Konzeption, so scheint mir, ich will das jetzt zuspitzen, eine völlig andere Konzeption, von dem was eine verfassungsgebende Versammlung ist, denn es geht ja immer um dies, dass das Volk selber durch eine verfassungsgebende Versammlung immer die Hoheit haben muss, auch eine neue Verfassung machen zu können. Und eben, das ist nicht Verfassungsschwäche, sondern es ist eine ganz andere Vorstellung. Sieyès kommt offenbar von einer Konzeption dieser Art: Wenn wir einmal eine Verfassung haben, dann ist das auch ein fester Zustand und der muss auch so bleiben, allenfalls mit diesen zehn Jahren da, mit solchen Vorschlägen dann verändert werden. Ich frage mich, welche Rolle spielt die Volkssouveränität, repräsentiert natürlich durch die jeweilige Versammlung? Zunächst die Nationalversammlung, der Konvent, dann das, dann das, dann je nachdem, ob einmal wieder eine Nationalversammlung bzw. dieser große Rat, der im Schloss Versailles zusammentritt. Das scheint mir doch eher etwas anderes als nur Verfassungsschwäche. Waldhoff: Herr Borck signalisiert mir, dass sein Beitrag genau dazupasst. Borck: Ich möchte meine Bemerkung daran anschließen als eine Frage. Kann es sein, dass in Frankreich dieser dauernde Wechsel der Verfassung im Grunde eine andere verfassungspolitische Grundsatzentscheidung enthält?
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In der Verfassung von 1793 beispielsweise steht ja ausdrücklich in Artikel 28, dass mit einer solchen Verfassung niemals die Entscheidung kommender Generationen gebunden sein kann; diese sollen, ja sie müssen natürlich in der Lage sein, neue Verfassungsentwürfe zu machen. In Deutschland gibt es bekanntlich die gegenteilige Tendenz: Nicht nur im Heiligen Römischen Reich ist von den ewig währenden Grundgesetzen die Rede, sondern bis in unser heutiges Verfassungsrecht hinein gibt es sowohl im Grundgesetz Ewigkeitsentscheidungen, also Artikel, die mit keiner politischen Mehrheit änderbar sein sollen, als auch in einzelnen Landesverfassungen, z. B. in der von Rheinland Pfalz. Also, ich wiederhole die Frage: Kann man sagen, dass der Verfassungsgeber verfassungspolitisch anders denkt in Frankreich als bei uns? Waldhoff: Ich weiß nicht, Herr Heun: Passt Ihr Beitrag auch dazu? Nein. Kley: Also, danke Herr Borck, Sie geben eigentlich die Antwort für Herrn Steiger, die ich mir zurecht gelegt habe. Ich denke auch, das ist ein anderes Verfassungskonzept in Frankreich. Es besteht nämlich das Recht auf jederzeitige Änderung der Verfassung. Thomas Paine hatte ja im Verfassungskomitee der Girondisten bis Februar 1793 mitgewirkt, bis er von den Jakobinern verhaftet worden ist und auf Intervention des amerikanischen Botschafters dann freigelassen worden ist. Von ihm stammt vermutlich dieser Artikel, den Sie erwähnt haben. Das jederzeitige Änderungsrecht der Verfassung ist in seinem Werk über die Rechte des Menschen auch schon formuliert: „Die Anmaßung, noch jenseits des Grabes regieren zu wollen, ist die unverschämteste aller Tyranneien“. Das ist Thomas Paine, der das so scharf formuliert hat und in Frankreich ist das in jener Zeit auf fruchtbaren Boden gefallen. Jede Generation entscheidet für sich selbst, das ist das Recht der Generationen, über sich selbst zu entscheiden. Und insofern ist es notwendig, ein lebendiges Volk eng mit der Verfassung zu verknüpfen, will man eine dauerhafte Verfassungsordnung errichten und die normative Kraft der Verfassung entfalten lassen. Ich könnte mir gut vorstellen, aber dafür bin ich zu wenig Frankreich-Kenner, dass man das als den französisch-politischen Charakter ansehen könnte. Waldhoff: Dann wäre Herr Klippel der Nächste. Klippel: Herr Kley, Sie haben einen wunderbaren klassischen ideengeschichtlichen Vortrag gehalten; das ist legitim und aufschlussreich. Wie wir gehört haben, bietet das auch in vielfältiger Art und Weise Gelegenheit, heutige Probleme damit in Verbindung zu bringen. Aber es gibt ja auch die methodischen Forderungen der sogenannten neuen Ideengeschichte bzw. der Cambridge School, und eine dieser Forderungen ist die Kontextualisierung. Da knüpft nun meine Frage an: Auf welche Herausforderungen seiner Zeit hat denn Ihrer Auffassung nach Sieyès mit seinem Entwurf geantwor-
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tet? Ich vermute zudem, aber das könnten Sie vielleicht aus den Quellen widerlegen, dass Sieyès nicht der Einzige ist, der zu dieser Zeit etwas über das von Ihnen behandelte Thema geschrieben hat, dass vielmehr eine ganze Diskussion darüber stattgefunden hat. Und meine dritte Bemerkung ist, dass ich Ihnen nicht so recht glaube, dass es überhaupt keine Rezeption dieser Gedanken gibt. Mir fallen spontan Fichtes Ephoren ein. Sieyès war ja nicht irgendwer, sodass zudem zu vermuten ist, dass in Deutschland und in Frankreich, gelegentlich jedenfalls, seine Ideen aufgegriffen wurden. Waldhoff: Dann nehmen wir jetzt Herrn Heun noch dazu. Heun: Ich wollte antworten, bevor die Frage von Herrn Brauneder vergessen worden ist. Und zwar wollte ich noch einmal etwas zu dem Zensorenrat sagen, nämlich dass ich nicht glaube, dass Rousseau in irgendeiner Weise diese Vorstellung beeinflusst hat, sondern dass diese Vorstellungen unmittelbar zurückgehen auf das spartanische Ephorat. Die spartanische Verfassung galt in Amerika am Ende des 18. Jahrhunderts als vorbildliche Verfassung, vielmehr als etwa die von Athen, und das Ephorat war Grundlage der Vorstellung, dass man ein solches Gremium von weisen Männern haben würde, die sozusagen als allgemeine politische Kontrolle wirken würden. Diese Vorstellung ist auch der Hintergrund für Rousseau, also es ist das unmittelbare spartanische Vorbild, das hier wirkt. Eine kleine Randbemerkung erlaube ich mir noch zu Sieyès selbst. Also ich glaube, dass das Modell in der Tat überhaupt nicht rezipiert worden ist, weil es vollständig unbrauchbar ist. [Heiterkeit und Wortmeldungen im Hintergrund.] Erstens bleibt die Mischung aus ganz unterschiedlichen Funktionen ziemlich unbrauchbar und es ist außerdem unbrauchbar wegen der Zusammensetzung und der Größe des Gremiums und insofern glaube ich im Übrigen auch, dass das Ephorat bei Fichte auch auf Sparta zurückgeht und nicht auf Sieyès. [Heiterkeit.] Kley: Herr Heun, wenn ich gleich antworte: Rousseau hat natürlich auch die antiken Autoren gelesen. Seine Ideen gehen ebenfalls darauf zurück. So ist der Zensorenrat ganz klar antiker Stoff, das würde ich auch so sehen. Die interessante Frage von Herrn Klippel betreffend der Bedürfnisse der Zeit: Welche Bedürfnisse will Sieyès befriedigen mit diesen Vorschlägen? Ich bin der festen Überzeugung, er wollte die politische Ordnung stabilisieren. Man kann sagen, die Revolution sollte jetzt langsam auf sichere Bahnen gelenkt werden. Er wollte die politische Ordnung stabilisieren und deshalb passt es sehr gut, dass man diese zum Teil verlorenen königlichen Funktionen irgendwo bei diesem Gremium der Jury unterbringt. Vor allem der Verbesserungsmechanismus der Verfassungsgebung zeigte gerade, dass auch der künftige Verfassungsgeber ein eingesetzter Verfassungsgeber ist. Dieser muss sich also nach Regeln orientieren, die schon bestehen und die verhindern, dass es zu einer neuen Revolution kommt. Ich würde es als Versuch
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sehen, die Ordnung jetzt rechtlich zu stabilisieren. Ein sicher untauglicher Versuch, das gebe ich sofort zu, aber das war derzeit das Hauptbedürfnis. Andere Bedürfnisse, z. B. die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit, kann ich tatsächlich auch nicht gut erkennen. Waldhoff: Die letzte Wortmeldung, die mir vorliegt, ist von Herrn Willoweit. Willoweit: Ich wollte nur davor warnen, voreilig einen Gegensatz zwischen französischem und deutschem Verfassungsdenken aufzubauen. Dabei haben wir die Weimarer Reichsverfassung vergessen, die zur Disposition des Parlaments stand und als Detail dazu: Carl Schmitt hat damals in seiner „Verfassungslehre“ auf den Unterschied zwischen der Pouvoir Constituant und der Pouvoir Constitué hingewiesen. Nach seiner Meinung gab es gewisse Grenzen der Verfassungsänderung. Dem hat aber Gerhard Anschütz heftig widersprochen und in seinem Kommentar zur Reichsverfassung behauptet, seine eigene sei die herrschende Meinung. Die deutschen Staatsrechtler seien Carl Schmitt nicht gefolgt. Sie setzten also auf ein konsequentes Demokratieprinzip. Und das spielte am Ende der Weimarer Republik auch eine gewisse Rolle. Waldhoff: Meines Wissens hat Carl Schmitt diese Unterscheidung überhaupt erst in die deutsche Diskussion eingeführt. Carl Schmitt brachte diese Neuerung, während etwa Anschütz sicher die herrschende Meinung abbildete, daran habe ich keinen Zweifel. Willoweit: Das habe ich ja auch gemeint und ich wollte gar nichts anderes sagen. Nur wenn man Anschütz liest als Zeitgenossen des damaligen Carl Schmitt, dann merkt man, wie randständig dieser damals mit seiner Position war. Waldhoff: Wenn keine weiteren Wortmeldungen vorliegen, sind wir sogar sehr gut in der Zeit fertig. Wir haben über ein sehr politisiertes oder politisches Modell von Verfassungsgerichtsbarkeit jetzt in der letzten Runde etwas erfahren und ich glaube, es ist eine etwas verquere aktuelle Diskussion darüber, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit insgesamt etwas Unpolitisches sein könnte. Das geht schon wegen eines nicht unpolitischen Prüfungsmaßstabs nicht, auch wenn das Gericht sich strikt an das Recht gebunden fühlt. Gegenteiliges scheint zumindest in historischer Perspektive keine Basis zu finden. [Heiterkeit.] Mit diesen etwas spitzen Bemerkungen können wir die fachliche Seite des heutigen Tages beenden. Das Abendessen ist am bekannten, vom Vorsitzenden beschriebenen Ort, um 19.00 Uhr einzunehmen, und wir würden uns im fachlichen Programm morgen um 9.00 Uhr mit dem Vortrag von Herrn Härter hier in diesem Saal wiederfinden. Vielen Dank.
II. Vor- und Frühformen von Verfassungsgerichtsbarkeit im Konstitutionalismus in vergleichender Perspektive
Schlichtung, Intervention und politische Polizei: Verfassungsschutz und innere Sicherheit im Deutschen Bund Von Karl Härter, Heppenheim an der Bergstraße I. Einleitung Für die historische Entwicklung des justiziellen wie exekutiv-strafrechtlichen Verfassungsschutzes kommt dem Deutschen Bund im normativen wie praktischen Bereich eine ausgesprochen zwiespältige Rolle zu: Einerseits formte er in funktionaler Hinsicht wesentliche Elemente insbesondere des polizeilich-strafrechtlichen Verfassungsschutzes aus, andererseits war die Bereitschaft seiner Mitgliedsstaaten gering, sich Normen und Institutionen eines gemeinsamen Bundesverfassungsschutzes zu unterwerfen oder gar ein höchstes Bundesgericht zu installieren.1 Bereits in der Gründungsphase des Bundes hatten die ihre neugewonnene Souveränität behauptenden Mitgliedsstaaten ein gemeinsames Höchstgericht verhindert. Der Bund übernahm folglich nicht die erfolgreichste Institution der Gewähr und des Schutzes der Verfassung im weitesten Sinne, die das 1806 aufgelöste Heilige Römische Reich besessen hatte: die beiden höchsten Reichsgerichte. Reichskammergericht und Reichshofrat hatten nicht nur die Reichsverfassung und die Verfassungen der einzelnen Reichsstände (inklusive der mediaten Reichsmitglieder), sondern partiell auch Rechte der Untertanen geschützt oder zumindest gewahrt.2 Garantie und Schutz von „Verfassung“ durch ein gemeinsames Höchstgericht in einem solchen umfassenden und unbestimmten Sinn kam für die Staaten des Deutschen Bundes nicht in Frage. Die einzelstaatliche Souveränität und Verfassungsautonomie sollte weder einge1 Eine moderne Geschichte des Verfassungsschutzes seit der Frühen Neuzeit existiert nicht; Wilhelm Merk, Verfassungsschutz, Stuttgart 1935, bietet zwar einen bis ins Mittelalter zurückgreifenden, materialreichen Überblick, ist aber politisch tendenziös und handelt den Deutschen Bund auf wenigen Seiten (S. 116 – 141) deskriptiv ab. Zu diesem noch immer grundlegend: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I: Reform und Restauration, Nachdruck der 2., verbesserten Aufl., Stuttgart u. a. 1990, S. 619 – 640, 696 – 766, Bd. II: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, 3., überarbeitete Aufl., Stuttgart u. a. 1988, S. 125 – 184, 831 – 841 und passim. 2 Vgl. hierzu zusammenfassend den Beitrag von Siegrid Westphal in diesem Band sowie Ulrich Eisenhardt, Zu den historischen Wurzeln der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, in: Friedrich Battenberg / Filippo Ranieri (Hrsg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa, FS Diestelkamp, 1994, S. 17.
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schränkt noch ein Schutz der (insgesamt geringen) verfassungsmäßigen Rechte der Bürger durch ein Bundesgericht ermöglicht werden. Verfassung und Verfassungsschutz im Deutschen Bund inkludierte bereits auf der normativen Ebene kaum durch die Bundesverfassung gewährte verfassungsmäßige Grundrechte des Einzelnen (mit Ausnahme von Religionsfreiheit, Freizügigkeit, Rechtsgewährung bzw. Justizverweigerung) und in der Praxis des gerichtlichen Verfassungsschutzes spielten Bürgerrechte keine Rolle.3 Diese Bereiche werden daher ebenso wie das Problem äußerer militärischer Bedrohungen im Folgenden ausgeklammert und die Darstellung auf zwei für die Entwicklung des Verfassungsschutzes wesentliche Felder und Funktionen konzentriert: (1) Verfassungskonflikte, Verfassungsverstöße und Konflikte zwischen Bundesmitgliedern, die im Rahmen des justiziellen Verfassungsschutzes (Austrägalverfahren) oder durch exekutive Maßnahmen (Bundesexekution) geregelt wurden, und (2) die innere Sicherheit, die den Schutz von Verfassung und Staat insbesondere durch die entstehende politische Polizei und exekutive Maßnahmen wie die Bundesintervention beinhaltete. Der folgende Überblick zielt darauf, die Formierung wesentlicher Normen, Verfahren und Institutionen eines „modernen“ Verfassungs- und Staatsschutzes im Deutschen Bund als Ergebnis der Interdependenzen wie Kollisionen zwischen diesen beiden Bereichen und den rechtlichen Reaktionen auf politische Konflikte, Dissidenz und Gewalt, die als Gefährdung oder Bedrohung der Verfassung wahrgenommen wurden, darzustellen.4 Aufgrund der prekären Verfassungsstruktur des Bundes konnten auf mehreren Ebenen Verfassungsgefahren, Verfassungskonflikte und Verfassungsstörungen zwischen Bund und Mitgliedern, den ungleichen Mitgliedern untereinander oder innerhalb eines Mitgliedstaates entstehen, die zu existenzbedrohenden Verfassungskrisen eskalieren konnten.5 Dies betraf sowohl die Konflikte der
3 Zu diesem Bereich des Verfassungsschutzes im Rahmen von Höchstgerichtsbarkeit und zur Diskussion um ein Bundesgericht vgl. Hartmut Müller-Kinet, Die höchste Gerichtsbarkeit im deutschen Staatenbund 1806 – 1866, Bern u. a. 1975, S. 14 – 71; Ulf Björner, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Norddeutschen Bund und Deutschen Reich (1867 – 1918). Eine rechtshistorische Untersuchung über Gerichtsbarkeit im Spannungsfeld von Politik und Recht innerhalb der von Bismarck geschaffenen deutschen Bundesstaaten, Frankfurt a. M. u. a. 2000. 4 Vgl. zu diesem Ansatz: Karl Härter, Legal Responses to Violent Political Crimes in 19th Century Central Europe in: Karl Härter / Beatrice de Graaf (Hrsg.), Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus: Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2012, S. 161. 5 Huber (Fn. 1), Bd. I, S. 619 – 621; vgl. insgesamt zur Diskussion um die Verfassungsstruktur des Deutschen Bundes, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann: Erich Röper, Die Verfassung des Deutschen Bundes, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 28 (1977), S. 648 – 688; Wolfram Sieman, Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806 – 1871, München 1995, S. 324 – 326; Hartwig Brandt, Der
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Mitglieder untereinander oder mit dem Bund als auch die allgemeine Zunahme politischer Dissidenz und politischer Gewalt seit 1815. Gefahren für die Bundesverfassung gingen damit auch von politisch motivierten, teils gewaltbereiten „Verfassungsfeinden“ aus, die Aufstände, einen Umsturz oder gar eine Revolution initiieren wollten.6 Zugrunde gelegt wird folglich ein historisch-funktionaler Begriff von Verfassung und Verfassungsschutz, der als Staatsschutz die Gewähr der Bundes- und einzelstaatlichen Verfassungen, den Schutz der Staats- oder Regierungsform und damit der Herrschaftsordnung, aber auch die Erhaltung der gemeinsamen föderalen Verfassungsordnung in den Mittelpunkt stellt.7 Denn die Verfassungsgestalt des Deutschen Bundes als einem föderalen Gebilde, das sich als Staatenbund definierte, letztlich aber wie ein Bundesstaat funktionieren musste, machte den justiziell-schiedlichen wie exekutiv-polizeilichen Schutz der Verfassung zu einer anstehenden „Gemeinschaftsaufgabe“. Bereits die frühen „Grundgesetze“ des Deutschen Bundes statuierten zentrale Prinzipien und Objekte eines Schutzes der Verfassung (freilich ohne diesen explizit so zu benennen), der insbesondere 1830 bis 1836 durch weitere Gesetze, Verfahren und Organe des Bundes verfestigt und ausgeweitet wurde. Die Bundesakte von 1815 definierte die „Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten“ (Art. 2) als Bundeszweck, verfügte in Art. 11 bezüglich der Konflikte zwischen Bundesmitgliedern ein Gewaltund Selbsthilfeverbot und etablierte ein Vermittlungs- und Schlichtungsverfahren bei der Bundesversammlung, das auch der „richterlichen Entscheidung“ einer Austrägal-Instanz zugeführt werden konnte.8 Die Austrä-
lange Weg in die demokratische Moderne. Deutsche Verfassungsgeschichte von 1800 bis 1945, Darmstadt 1998, S. 50 – 67; Jürgen Müller, Der Deutsche Bund 1815 – 1866, München 2006; Michael Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495 – 1934), Berlin u. a. 2008, S. 329 f. 6 Zusammenfassender Überblick: Dirk Blasius, Geschichte der politischen Kriminalität in Deutschland (1800 – 1980). Eine Studie zu Justiz und Staatsverbrechen, Frankfurt a. M. 1983; Karl Härter, Asyl, Auslieferung und politisches Verbrechen in Europa während der „Sattelzeit“: Modernität und Kontinuität im Strafrechtssystem, in: Ute Schneider / Lutz Raphael (Hrsg.), Dimensionen der Moderne. FS Dipper, 2008, S. 481. 7 Zum historischen Verfassungsbegriff grundlegend: Heinz Mohnhaupt / Dieter Grimm, Verfassung. Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart. Zwei Studien, 2. Aufl., Berlin 2002; zum Staatsschutz: Friedrich-Christian Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, München 1970; Dietmar Willoweit (Hrsg.), Staatsschutz (= Aufklärung, Jahrgang 7, Heft 2, 1992), Hamburg 1994. 8 Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815, zitiert nach: http: //www.verfassungen. de/de/de06-66/bundesakte15-i.htm [1.11.2012]. Druck: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803 – 1850, Stuttgart 1961, Nr. 29; Eckhardt Treichel (Bearb.), Die Entstehung des Deutschen Bundes 1813 – 1815 (= Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes: Abt. 1, Quellen zur Entstehung und Frühgeschichte des Deutschen Bundes 1813 – 1830, Bd. 1), München 2000, Nr. 250.
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galordnung von 1817, die Exekutionsordnung von 1820 und die Wiener Schlussakte von 1820 präzisierten und erweiterten dies durch das Verbot des Austritts aus dem „unauflöslicher Verein“ in Art. 5 und einem weitreichenden Veränderungsverbot (territorialer Besitz, Rechte und Pflichten) in Art. 6, das in Art. 56 auch auf die „bestehenden landständischen Verfassungen“ erstreckt wurde, die „nur auf verfassungsmäßigem Wege wieder abgeändert werden“ konnten.9 Als „Schutz- und Friedensordnung“ übernahm der Deutsche Bund folglich einige Elemente aus der Verfassung des Alten Reiches – die Bewahrung und den Schutz der Integrität und der Rechte seiner Mitglieder – und erweiterte das Erhaltungs- und Veränderungsverbot auf den gesamten Bund, dessen Grundverfassung als unauflöslich und unveränderbar postuliert wurde. Im Vergleich zum Alten Reich war die Verfassungsstruktur des Deutschen Bundes jedoch wesentlich statischer konstruiert und sah kaum nachhaltige verfassungsrechtliche Lösungen für die potentiellen Zielkonflikte und Kollisionen zwischen Verfassungsautonomie, Verfassungsänderungen innerhalb der Mitgliedstaaten, Veränderungsverbot, Integritätspostulat und Verfassungskonflikte zwischen Mitgliedstaaten und Bund vor. Denn der Bund räumte seinen Mitgliedern keine justiziellen Möglichkeiten ein, Konflikte oder Beschwerden mit / gegen den Bund auf dem Weg der (höchsten) Gerichtsbarkeit zu lösen. Einzig die Bundesversammlung als höchstes Bundesorgan konnte auf legislativem Weg oder mittels Schlichtung Verfassungsänderungen vornehmen oder Verfassungskonflikte regeln. Diese verfassungsrechtliche Schwäche des normativen und justiziellen Verfassungsschutzes begünstige allerdings den Ausbau des exekutiven, polizeilichen und strafrechtlichen Verfassungsschutzes im Bereich der inneren Sicherheit und der verfassungsbedrohenden Konflikte zwischen und innerhalb der Mitgliedsstaaten, wobei das Element der Schlichtung und Vermittlung mittels justizieller Verfahren durchaus Bedeutung behielt. Damit lassen sich drei zentrale Wirkungsebenen und Problemlagen des justiziellen und polizeilichen Schutzes der Verfassung im Deutschen Bund unterscheiden, die auch in neueren Darstellungen stärker betont werden, die insbesondere die innere Sicherheit in den Blick gerückt haben:10 – der Schutz des gesamten Bundes und seiner als kaum veränderbar und unauflöslich gedachten „Verfassungsordnung“ sowie der Integrität und 9 Schlußakte der Wiener Ministerkonferenzen vom 15. Mai 1820, zitiert nach: http: //www.verfassungen.de/de/de06-66/bundesakte15-i.htm; ebd. auch der Text der Austrägal-Ordnung vom 16. Juni 1817 und der Exekutions-Ordnung vom 3. August 1820; gedruckt bei Huber (Fn. 8), Bd. 1, Nr. 30, 36 und 37. 10 Kotulla (Fn. 5), S. 357 – 389; vgl. zur Entwicklung der öffentlichen / Inneren Sicherheit als einer zentralen Staatsaufgabe: Karl Härter, Security and „gute Policey“ in Early Modern Europe: Concepts, Laws and Instruments, Historical Social Research 35 (2010), S. 41 – 65.
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Rechte (der „Verfassungen“) der einzelnen Mitglieder; primär hierfür zuständig war der Bundestag, der Beschlüsse im Rahmen der Bundesexekution durchsetzen konnte;11 – verfassungsbedrohende Konflikte zwischen den Mitgliedern und dem Bund sowie den Mitgliedern untereinander, die möglichst auf dem Weg des justiziellen Verfassungsschutzes durch Bundesversammlung und Austrägalgerichtsbarkeit im Rahmen von Mediations- und Schlichtungsverfahren geregelt werden sollten, wobei auch diesbezüglich eine Bundesexekution möglich war;12 – und die innere Sicherheit und der innere Verfassungsfrieden, die durch politische Dissidenz / Gewalt, aber auch durch gewaltsame Aktionen innerhalb oder durch die Bundesstaaten bedroht und mittels der Bundesintervention als exekutivem Verfahren geregelt werden konnten,13 langfristig aber auch zur der Etablierung politischer Polizeien14 führten.
Im Folgenden sollen anhand der exemplarischen Felder „innere Sicherheit“ und „Konflikte zwischen den Mitgliedern“ die Formierung und Ausdifferenzierung des justiziellen wie des exekutiv-polizeilichen-strafrechtlichen Verfassungsschutzes als miteinander verknüpfte – und durchaus auch kollidierende – Entwicklungen beobachtet werden.
II. Justizieller Verfassungsschutz und Verfassungskonflikte Der justizielle Verfassungsschutz im Deutschen Bund knüpfte zwar hinsichtlich seiner umfassenden Verfassungsgarantie an die Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich an, übernahm von dieser aber lediglich das Austrägalverfahren ohne ein Höchstgericht zu installieren und übertrug das Vermittlungs- und Schiedsverfahren bei Konflikten zwischen den Bundesmitgliedern der Bundesversammlung.15 Erst nach dessen Scheitern konnten Gerichte der Länder wahl- und fallweise tätig werden und Entscheidungen nach Recht herbeiführen. Untertanen waren vom justiziellen Verfassungs11 Ernst Rudolf Huber, Bundesexekution und Bundesintervention. Ein Beitrag zur Frage des Verfassungsschutzes im Deutschen Bund, Archiv des öffentlichen Rechts 79 (1953), S. 1. 12 Gerd Frühauf, Die Austrägalgerichtsbarkeit im Deutschen Reich und im Deutschen Bund, München 1976; Florian W. Betz, Die Austrägalinstanz des Deutschen Bundes, Marburg 2007; Müller-Kinet (Fn. 3). 13 Rüdiger Ham, Bundesintervention und Verfassungsrevision. Der Deutsche Bund und die kurhessische Verfassungsfrage 1850 / 52, Darmstadt u. a. 2004. 14 Ernst Rudolf Huber, Zur Geschichte der politischen Polizei im 19. Jahrhundert, in: ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat. Studien zur Geschichte der modernen Staatsidee, Stuttgart 1965, S. 144; Wolfram Siemann, Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung, die Anfänge der politischen Polizei 1806 – 1866, Tübingen 1985. 15 Müller-Kinet (Fn. 3), S. 74 – 95; Frühauf (Fn. 12); Betz (Fn. 12).
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schutz ausgeschlossen und bezüglich der Verfassungskonflikte zwischen Bund und Mitgliedstaaten war ebenfalls ausschließlich die Bundesversammlung zuständig und der Rechtsweg ausgeschlossen. Der Schwerpunkt des justiziellen Verfassungsschutzes lag damit auf der Regulierung von Konflikten zwischen Bundesmitgliedern im Rahmen des ordentlichen Austrägalverfahrens,16 in dem die Bundesversammlung auf Anrufung tätig wurde. Scheiterten Vermittlung und Vergleich, folgte ein gerichtliches Verfahren vor einem jeweils ausgewählten obersten Landesgericht, das als „Bundesgericht“ Recht sprach und dessen Entscheidungen die Bundesversammlung exekutieren lassen konnte. Die neuere Studie von Betz hat insgesamt 54 Austrägalverfahren vor 19 staatlichen Obergerichten (meist Celle oder Lübeck) ermittelt, von denen 33 (und damit die Mehrzahl) bis 1830 erledigt wurden.17 Die bearbeiteten Konflikte resultierten überwiegend aus der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches, dem Reichsdeputationshauptschluss und dem Rheinbund und betrafen häufig finanzielle Forderungen, öffentliche Schuldensachen oder Gebietsstreitigkeiten. Nur 23 Verfahren betrafen verfassungsrechtliche Konflikte zwischen Bundesstaaten aus der Zeit des Deutschen Bundes, wobei es sich meist um Hoheitskonflikte, Erbstreitigkeiten oder Vertragsbrüche handelte. Lediglich zwei können als ernsthafte Verfassungskonflikte klassifiziert werden, bei denen der Bund in funktionaler Hinsicht justiziellen Verfassungsschutz gewährleistete, und zwar 1832 der Bruch des Mitteldeutschen Zollvereins durch Kurhessen (was aber 1833 durch Gründung des Zollvereins obsolet wurde), und 1865 die Ansprüche Sachsen-Weimar-Eisenachs auf Holstein und Lauenburg, die abgewiesen wurden.18 Bezüglich der inneren Verfassungskonflikte und Verfassungsverstöße eines Mitgliedstaates – z. B. zwischen Regierung und Landständen oder Mediatisierten – konnten Bundesgarantie oder Gefährdung der Gesamtordnung zwar die verfassungsrechtliche Basis für einen aktiven justiziellen Verfassungsschutz bilden. Da jedoch eine ausdrücklich nachgesuchte Garantie der Landesverfassung und die Anrufung durch das betroffene Mitglied im Konfliktfall Voraussetzung für ein aktives Eingreifen bildeten, kam es in der Praxis zu keinem einzigen konkreten Fall. Daran änderte auch die Einrichtung des Bundesschiedsgerichts im Jahr 1834 nichts. Es war zwar fakultativ zum Austrägalverfahren für innere Verfassungskonflikte der Bundesmitglieder – vor allem zwischen Landständen und Landesherren, Mediatisierten und Land – zuständig, erlangte jedoch ebenfalls keine praktische Wirksamkeit, da die Einigung der Konfliktparteien über eine gemeinschaftliche An16 Das außerordentliche Austrägalverfahren war dagegen Konflikten um privatrechtliche Ansprüche an Bund oder Mitglieder vorbehalten und wird – da den Verfassungsschutz nicht betreffend – hier nicht weiter behandelt. 17 Betz (Fn. 12), S. 52 – 69 und tabellarische Übersicht im Anhang, S. I – VI. 18 Müller-Kinet (Fn. 3), S. 136 – 149.
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rufung (die Landstände hatten sich darüber mit ihren Regierungen zu verständigen) Voraussetzung für ein Tätigwerden war.19 Insofern besaß diese Erweiterung des justiziellen Verfassungsschutzes eher eine symbolisch-präventive Funktion im Kontext der Verschärfung des polizeilich-strafrechtlichen Verfassungsschutzes zwischen 1830 und 1836, insbesondere durch den Bundesbeschluss über Maßregeln zur Aufrechthaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutschland vom 28. Juni 1832 (die sogenannten sechs Artikel).20 Diese kriminalisierten Konflikthandeln der Landstände als verfassungsbedrohend und ermöglichten unter Umständen ein polizeilich exekutives Vorgehen im Rahmen der Bundesintervention. Allerdings sollte eine solche Eskalation von inneren Verfassungskonflikten möglichst vermieden werden und insofern schloss das Bundesschiedsgericht eine Lücke im Verfassungsschutz, da gegen dissentierende Landstände unterhalb der Schwelle des Aufruhrs ein exekutives Handeln des Bundes fraglich war. Dieses hätte nicht nur erheblich in die Verfassungsautonomie und damit Souveränität der Mitgliedsstaaten eingegriffen, sondern im Fall einer Eskalation einen inneren Konflikt auf die Ebene des Bundes transformieren und damit eine Gefährdung der Bundesverfassung herbeiführen können. Insofern kann man das Bundesschiedsgericht durchaus als Instrument eines präventiv-symbolischen Verfassungsschutzes auf der justiziellen Ebene sehen. Neben der exekutiven Möglichkeit der Bundesintervention stellte der Bund seinen Mitgliedern für innere Verfassungskonflikte immerhin ein Verfahren und eine Institution zur Verfügung und signalisierte die Option eines potentiellen justiziellen Eingreifens des Bundes in innere Verfassungsstreitigkeiten.21 Ein weiterer Ausbau des justiziellen Verfassungsschutzes gelang im Deutschen Bund jedoch nicht mehr, da die Reformversuche nach 1849 scheiterten und die Regelungen der Reichsverfassung von 1849 keinen Bestand hatten. Diese stattete das neu geschaffene Reichsgericht mit einer umfassenden Zuständigkeit zum Schutz der Verfassung aus. Darunter fiel nicht nur die justizielle Lösung von Verfassungskonflikten, sondern die Zuständigkeit des Gerichts erstreckte sich auch auf Anklagen gegen die Reichsminister oder die Minister der Einzelstaaten sowie die „Strafgerichtsbarkeit in den Fällen 19 Bundesbeschluss vom 30.10.1834, in: CJCG, Bd. 2, S. 316 – 319; vgl. Müller-Kinet (Fn. 3), S. 189; Ludwig Bentfeldt, Der Deutsche Bund als nationales Band, Göttingen u. a. 1985, S. 215 f.; Kotulla (Fn. 5), S. 374, Rn. 1511. 20 Bundesbeschluss über Maßregeln zur Aufrechthaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutschland vom 28. Juni 1832: http: //www.verfassungen.de/de/de0666/bundesakte15-i.htm und gedruckt: Huber (Fn. 8), Bd. 1, Nr. 42; Ralf Zerback (Bearb.), Reformpläne und Repressionspolitik 1830 – 1834 (Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes: Abt. 2, Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes 1830 – 1848, 1), München 2003, Nr. 42 sowie ebd., S. 201 – 249 weitere Akten zu den diesbezüglichen Verhandlungen des Bundestags. 21 Zur zeitgenössischen Bewertung vgl. auch Müller-Kinet (Fn. 3), S. 191 – 194.
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des Hoch- und Landesverraths gegen das Reich“.22 Damit war erstmals ein auch für die innere Sicherheit wichtiges Feld des strafrechtlichen Verfassungsschutzes dem durch ein Höchstgericht ausgeübten justiziellen Verfassungsschutz zugewiesen worden.23 Diese Konstruktion blieb auch nach 1866 teilweise erhalten und wurde in der Verfassung des Norddeutschen Bundes in Art. 74 explizit verfassungsrechtlich verankert: „Jedes Unternehmen gegen die Existenz, die Integrität, die Sicherheit oder die Verfassung des Norddeutschen Bundes [– oder seine Mitgliedsstaaten – sollte gemäß der] bestehenden oder künftig in Wirksamkeit tretenden Gesetze [verfolgt werden. Zuständig für] Unternehmungen gegen den Norddeutschen Bund, welche, wenn gegen einen der einzelnen Bundesstaaten gerichtet, als Hochverrath oder Landesverrath zu qualifiziren [seien, war das] gemeinschaftliche Ober-Appellationsgericht der drei freien und Hansestädte in Lübeck[, das auch alle] Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Bundesstaaten [und] Verfassungsstreitigkeiten“
erledigen sollte.24 Einen solchen umfassenden juristischen und strafrechtlichen Verfassungsschutz hatte der Deutsche Bund nach 1849 nicht mehr zustande gebracht, obwohl dessen Bedeutung durchaus erkannt worden war: Die Dresdener Bundeskonferenz (1850 / 51) und die Erfurter Unionsverfassung enthielten zwar Reformvorschläge, doch weder die Reform der Austrägalgerichtsbarkeit noch die Pläne, ein Bundesgericht zu errichten und dieses mit umfassenderen Kompetenzen gerade im Verfassungsschutz auszustatten, erlangten eine Chance auf Realisierung.25 Dafür war nicht allein die Konkurrenz zwischen Österreich und Preußen verantwortlich, sondern es lassen sich auch strukturelle Gründe nennen: Die Kollisionen zwischen Verfassungsautonomie der Mitgliedsstaaten und einem nur im Rahmen der gesamten Föderation zu bewältigenden juristischen Verfassungsschutz ließen sich im Rahmen der Verfassungsstruktur des Bundes letztlich kaum lösen. Die Mitwirkung und starke Stellung der Bundesversammlung sollte nicht zu22 Verfassung des deutschen Reiches vom 28. März 1849, Abschnitt V., Artikel I. § 126. 23 Im Grunde knüpfte dies freilich an frühneuzeitliche Konstruktionen an, die politische Verbrechen wie Verrat und das crimen laese maiestaties meist den höchsten Gerichten vorbehalten hatten; vgl. Schroeder (Fn. 7), S. 26 ff.; Barton L. Ingraham, Political Crime in Europe. A Comparative Study of France, Germany, and England, Berkeley 1979; Karl Härter / Beatrice de Graaf, Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus: Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert, in: Härter / de Graaf (Fn. 4), S. 1. 24 Verfassung des Norddeutschen Bundes [vom 16. April 1867], Art. 74 sowie Art. 75 – 77 zum juristisch-strafrechtlichen Verfassungsschutz; vgl. hierzu Björner (Fn. 3), S. 24 – 27, 33 – 35. 25 Vgl. Jonas Flöter, Beust und die Reform des Deutschen Bundes 1850 – 1866. Sächsisch-mittelstaatliche Koalitionspolitik im Kontext der deutschen Frage, Köln u. a. 2001, S. 194 – 214; Dieter Wyduckel, Die Diskussion um die Errichtung eines Bundesgerichts beim Deutschen Bund, in: Jonas Flöter / Günther Wartenberg (Hrsg.), Die Dresdener Konferenz 1850 / 51. Föderalisierung des Deutschen Bundes versus Machtinteressen der Einzelstaaten, Leipzig 2002, S. 193.
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gunsten eines Höchstgerichts eingeschränkt und Verfassungskonflikte letztlich nicht durch Gerichtsentscheidung, sondern möglichst politisch mittels Vermittlung- und Schiedsverfahren gelöst werden. Die qualitative Bedeutung des auf Mediations- und Schiedsverfahren aufruhenden juridischen Verfassungsschutzes, den der Deutsche Bund durchaus variantenreich entwickelt hatte, darf zwar nicht unterschätzt werden,26 letztlich etablierte der Bund jedoch von Anfang an die innere Sicherheit als zentrales Feld des Verfassungsschutzes und baute den exekutiv-polizeilichen Verfassungsschutz aus.
III. Exekutiv-polizeilicher Verfassungsschutz: Innere Sicherheit und gewaltsame Verfassungsbedrohungen Im Hinblick auf die innere Sicherheit und gewaltsame Verfassungsgefährdungen sah sich der Deutsche Bund unterschiedlichen Bedrohungsszenarien ausgesetzt: – politischen Gewalttaten (wie z. B. Attentaten) oder einem mehr oder weniger gewaltsamen Verfassungsumsturz in Form von Aufständen, Revolten oder Revolutionen durch politische Gegner und Massenbewegungen; – Verfassungsgefährdungen durch politische Dissidenten und Oppositionelle, die mittels Öffentlichkeit, Propaganda und sonstigen politischen Aktivitäten auch auf eine Verfassungsänderung des Bundes oder einzelner Mitgliedsstaaten abzielten; neben demokratisch-liberalen und national orientierten Gruppen und Einzelpersonen konnten auch legale Veränderungsbestrebungen der Landstände einzelner Gliedstaaten als Verfassungsgefährdung wahrgenommen werden bzw. sich zu einer solchen ausweiten; – und schließlich konnte auch von dem Verhalten der Bundesmitglieder, deren Regierungen ihre Bundespflichten nicht erfüllen wollten oder konnten, eine Gefährdung der Bundesverfassung ausgehen.
In allen Bereichen entwickelten sich Verfassungsgefährdungen und Bedrohungen der inneren Sicherheit, auf die neben den Staaten auch der Bund seit 1819 mit Normen, Institutionen und Verfahren des exekutiven und strafrechtlich-polizeilichen Staats- und Verfassungsschutzes reagierte oder die er dazu benutzte, diesen auszubauen.27 Im Bereich der rechtlichen bzw.
26 Vgl. zur differenzierten Bewertung des juristischen Verfassungsschutzes: Betz (Fn. 12), S. 111 – 113; Müller-Kinet (Fn. 3), S. 226 – 231; Ham (Fn. 13), S. 41 – 43. 27 An dieser Stelle können die eigentlichen Ereignisse und deren Bedrohungscharakter nicht diskutiert werden, da sich das Untersuchungsinteresse auf die rechtlichen Reaktionen und deren Bedeutung für die Formierung des Verfassungsschutzes richtet.
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gesetzlichen Normen sind diesbezüglich zu nennen: die Wiener Schlussakte von 1820, die Exekutions-Ordnung vom 3. August 1820, die Karlsbader Beschlüsse von 1819 / 20, die so genannten Maßregelgesetze von 1824 und 1830 bis 1836 (Bundesbeschluss 1830, sechs und die zehn Artikel von 1832, Bundesbeschluss von 1833 und den Bundesbeschluss über Bestrafung von Vergehen gegen den Deutschen Bund und Auslieferung politischer Verbrecher von 1836) sowie der Bundesbeschluss zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (so genannter Bundesreaktionsbeschluss) vom 23. August 1851 und die Bundespresse- bzw. Vereinsgesetze vom 6. und 13. Juli 1854.28 Mit der Bundesexekution und der Bundesintervention sowie den beiden Zentraluntersuchungskommissionen in Mainz und Frankfurt etablierte der Bund zwei differenzierte exekutive Verfahren des Verfassungsschutzes sowie eine politische Polizei mit nachrichtendienstlicher Funktion. Letztere war eng verbunden mit dem Ausbau des Überwachungsinstrumentariums und spezifischer Verfahren zur Generierung und Distribution von Wissen, das einen nachrichtendienstlichen Verfassungsschutz wie die polizeiliche und gerichtliche Verfolgung von „Verfassungsfeinden“ als politische Verbrecher ermöglichte. Wie erwähnt postulierte bereits die Bundesakte die innere Sicherheit als zentralen Zweck und damit Aufgabe des strafrechtlich-polizeilichen Staatsund Verfassungsschutzes. Der Bund und zunächst auch viele seiner Mitglieder verfügten zwar nicht über eine Strafrechtskodifikation mit einer systematischen Normierung der politischen Verbrechen und Staatsschutzdelikte, wie sie der französische Code pénal 1810 vorgegeben hatte.29 Der Bund erließ jedoch wesentliche Einzelgesetze, die einen rudimentären politischpolizeilichen Staatsschutz und ein Aufgabenfeld des Verfassungsschutzes konstituierten. Die Attentate auf Kotzebue und Ibell dienten Metternich bekanntlich als Anlass, um bei der Ministerialkonferenz im August in Karlsbad Beschlüsse gegen die politische Oppositionsbewegung zu erlangen, die der Bundestag im September einstimmig in Form von vier Bundesgesetzen (Exekutionsordnung, Universitäts-, Preß- und Untersuchungsgesetz) verabschiedete.30 Diese verschärften die Zensur aller Druckerzeugnisse und die 28 Online: http: //www.verfassungen.de/de/de06-66/bundesakte15-i.htm; gedruckt bei: Huber (Fn. 8), Bd. 1, Nr. 40 – 50; Zerback (Fn. 20), Nr. 21, 42, 44, 66, 71 sowie S. 127 – 425 mit einer ausführlichen Dokumentation zu den Verhandlungen über diese Bundesbeschlüsse; Jürgen Müller (Bearb.), Der Deutsche Bund zwischen Reaktion und Reform (= Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes: Abt. 3, Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes 1850 – 1866, Bd. 2), Nr. 14, 51 und 52. 29 Christian Brandt, Die Entstehung des Code pénal von 1810 und sein Einfluß auf die Strafgesetzgebung der deutschen Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts am Beispiel Bayerns und Preußens. Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 139 – 194; Schroeder (Fn. 7), S. 244 – 246. 30 Provisorische Bestimmungen hinsichtlich der Freiheit der Presse vom 20. September 1819, Provisorischer Bundesbeschluß über die in Ansehung der Universitäten zu ergreifenden Maßregeln vom 20. September 1819, Beschluß betreffend die Bestel-
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Überwachung der Universitäten, an denen geheime Verbindungen und nicht autorisierte Studentenorganisationen verboten wurden, ordneten die Aufdeckung revolutionärer Umtriebe und demagogischer Verbindungen an und gründeten als Bundesorgane einer politischen bzw. Sicherheitspolizei die Mainzer Zentraluntersuchungskommission und außerordentliche Bevollmächtigte in den einzelnen Ländern. Zwar reagierten Universitäts-, Pressund Untersuchungsgesetz auf aktuelle, als Sicherheits- bzw. Verfassungsgefährdung eingeschätzte Ereignisse wie das Wartburgfest, die Gründung der Allgemeinen deutschen Burschenschaft, die Attentate auf Kotzebue und Ibell oder die sozialen Unruhen der Jahre 1819, sie knüpften inhaltlich aber auch an die Beschlüsse des Alten Reiches zwischen 1789 und 1793 an, die eine von der französischen Revolution ausgehende Verfassungsbedrohung zum Ausgangspunkt hatten. Diese umfassten bzw. zielten auf die Unterdrückung sozialer Unruhen und politischer Propaganda, die Verschärfung der Zensur, ein Verbot geheimer Studentenorden und ein „Berufsverbot“ überführter Mitglieder für den landesherrlichen Dienst, verpflichteten die Reichsmitglieder zur gegenseitigen Hilfeleistung im Rahmen der Reichsexekutionsordnung und bestätigten die Zuständigkeiten von Reichsgerichten und Reichsfiskal.31 Im Gegensatz zum Alten Reich sah der Deutsche Bund keine Beteiligung von Gerichten mehr vor und stärkte die exekutiven Maßnahmen des gemeinsamen Verfassungs- und Staatsschutzes durch die Etablierung von Bundesexekution, Bundesintervention und Mainzer Zentraluntersuchungskommission. Zwar finden sich auch diesbezüglich Anklänge an den „Verfassungsschutz“ des Alten Reiches und die Reichsexekutionsordnung, die Exekutionsordnung des Bundes und das Untersuchungsgesetz bedeuteten jedoch eine erhebliche Institutionalisierung und Professionalisierung des Verfassungs- und Staatsschutzes auf gemeinsamer gesetzlicher Grundlage und mit differenzierten Verfahren, die sowohl auf die einzelnen Mitgliedsstaaten und begrenzte Verfassungsgefährdungen als auch die innere Sicherheit und Bedrohung der Verfassung des gesamten Bundes abstellten.
lung einer Centralbehörde zur nähern Untersuchung der in mehreren Bundesstaaten entdeckten revolutionären Umtriebe vom 20. September 1819, Exekutions-Ordnung des Deutschen Bundes vom 3. August 1820, alle Online: http: //www.verfassungen.de/ de/de06-66/bundesakte15-i.htm; gedruckt bei: Huber (Fn. 8), Bd. 1, Nr. 31 – 33 und 37. Zu den Karlsbader Beschlüssen, insb. im Kontext von politischer Polizei und „Verfassungsschutz“: Eberhard Büssem, Die Karlsbader Beschlüsse von 1819. Die endgültige Stabilisierung der restaurativen Politik im Deutschen Bund nach dem Wiener Kongreß von 1814 / 15, Hildesheim 1974; Donald Eugene Emerson, Metternich and the political police. Security and subversion in the Hapsburg monarchy (1815 – 1830), The Hague 1968, S. 100 – 123. 31 Karl Härter, Reichstag und Revolution 1789 – 1806. Die Auseinandersetzung des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Alte Reich, Göttingen 1992, S. 287 – 377.
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Karl Härter 1. Die Bundesexekution
Mit der Bundesexekution etablierte der Bund ein auf die einzelnen Mitgliedstaaten zielendes exekutives Verfahren, das primär gegen die betreffenden Regierungen, letztlich aber auch gegen Landstände eingesetzt werden konnte.32 Als Maßnahme des Verfassungsschutzes zielte die Bundesexekution umfassend auf die Nichterfüllung verfassungsmäßiger Pflichten und verfassungsgefährdende Aktivitäten der Mitgliedstaaten und konnte bei massiver Verfassungsverletzung, Nichterfüllung der Bundespflichten und zur Durchsetzung von Gesetzen und Vergleichen der Bundesversammlung oder zur Vollstreckung von Gerichtsentscheidungen (nach einem Austrägalverfahren) eingesetzt werden. Das umständliche formelle Verfahren der Bundesversammlung sah – ähnlich wie im Alten Reich – die Aufforderung zu gütlicher Beilegung, einen Exekutionsbeschluss, Fristen und einen Auftrag an andere Bundesstaaten zur Exekution (Exekutionsmandat) sowie gegebenenfalls eine militärische Besetzung, einen Exekutionskommissar, Sequestration und die Wiederherstellung des früheren Verfassungszustands bzw. der Landesverfassung vor. Die Exekution richtete sich zwar gegen die jeweilige Obrigkeit / Regierung des Mitgliedstaates, konnte aber zur Erhaltung der Landesverfassung auch im Fall dissentierender Landstände oder politischer Umstürze zum Tragen kommen. Als vorläufige außerordentliche Abwehrmaßnahme war zudem eine formlose militärische Bundesexekution möglich, um z. B. gegen Bundesmitglieder einzuschreiten, die gewaltsam gegen Mitgliedstaaten oder den Bund vorgingen. Die praktische Anwendung blieb allerdings auf einige wenige, aber wichtige und signifikante Fälle beschränkt: – 1827 bis 1830 die Aufhebung der Braunschweigischen Verfassung (ohne militärische Exekution), – 1832 Baden (ohne militärische Exekution), – 1834 nach dem Wachensturm gegen den Magistrat Stadt Frankfurt, – 1864 die dänische Herrschaft in Holstein, – 1866 formlose Bundesexekution gegen Preußen.33 32 Schlußakte der Wiener Ministerkonferenzen vom 15. Mai 1820, Art. 19 und 31 sowie Exekutions-Ordnung vom 3. August 1820, gedruckt bei: Huber (Fn. 8), Bd. 1, Nr. 30 und 37. Hierzu noch immer maßgeblich: Huber (Fn 11); und darauf aufbauend: Huber (Fn. 1), Bd. I, S. 634 – 639; weiterhin: Jörg Pannkoke, Der Einsatz des Militärs im Landesinnern in der neueren deutschen Verfassungsgeschichte, Münster 1998, S. 7 – 16. Überholt dagegen die lediglich deskriptiv das Bundesrecht referierenden älteren Arbeiten von: Ludwig Börner, Die Bundesexekution nach der Reichsverfassung, Rothenburg o. Tbr. 1908, S. 7 – 19 und (nahezu wörtlich identisch) Otto-Georg von Sauberzweig, Die Bundesexekution nach deutschem Bundes- und Reichsrecht, Greifswald 1917, S. 9 – 16. 33 Vgl. den Überblick bei: Huber (Fn. 1), Bd. I, S. 639; Pannkoke (Fn. 32), S. 12 – 15.
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Bezeichnend ist, dass eine militärische Exekution meist nicht notwendig war und die Drohung genügte und in zweien der Fälle (1834 und 1864) auch die Bundesintervention zum Einsatz kam. Die Exekution richtete sich zudem nicht nur gegen Verfassungsgefährdungen, die von den Regierungen der Mitgliedsstaaten ausgingen, sondern auch gegen politisch motivierte Umsturzversuche, so zumindest im Fall des Frankfurter Wachensturms von 1833, den die Bundesversammlung zunächst mit einer militärischen Bundesintervention beantwortet hatte. Zusätzlich zu dieser beschloss sie 1834 noch die Bundesexekution als zusätzliche Drohmaßnahme bzw. Maßnahme der Gewährleistung der Sicherheit der Bundesversammlung, die dem Frankfurter Magistrat nicht zugetraut wurde, der seine Truppen zunächst nicht dem Sicherheitskorps unterstellen wollte und damit seine Bundespflichten nicht erfüllte.34 Insgesamt erlangte die Bundesexekution als praktische Maßnahme des exekutiven Verfassungsschutzes eine eher geringe Wirksamkeit und scheiterte bekanntlich 1866 gegen Preußen. Im Kontext des justiziellen Verfassungsschutzes und der anderen Instrumente – Bundesintervention und politische Polizei – bildete sie jedoch eine zusätzliche, flexible Option, die verstärkend und drohend wirken konnte. 2. Die Bundesintervention
Die Bundesintervention bildete die stärkste Maßnahme des Verfassungsschutzes gegen (mehr oder weniger) gewaltsame Bedrohungen der Verfassung und sollte im Fall von revolutionären Unruhen, Aufständen oder Verschwörungen eingesetzt werden. Die innere Sicherheit firmierte dabei explizit als Gegenstand des „Verfassungsschutzes“, denn die Bundesintervention sollte statthaben „in Rücksicht auf die innere Sicherheit des gesammten Bundes […] im Fall einer Widersetzlichkeit der Unterthanen gegen die Regierung, eines offenen Aufruhrs, oder gefährlicher Bewegungen [. War durch] Widersetzlichkeit der Unterthanen gegen die Obrigkeit die innere Ruhe unmittelbar gefährdet, und eine Verbreitung aufrührerischer Bewegungen zu fürchten, oder ein wirklicher Aufruhr zum Ausbruch gekommen“,
konnte die betreffende Regierung die Hilfe des Bundes per Requisition anrufen; sollte sie dazu nicht in der Lage sein, konnte der Bund auch unmittelbar aktiv werden. Darüber hinaus konnte die Bundesversammlung exekutive Maßnahmen nach Rücksprache mit den betreffenden Regierungen anordnen, falls 34 Huber (Fn. 1), Bd. II, S. 169 – 173. Vgl. weiterhin Sarah-Lena Schmidt, Der Frankfurter Wachensturm von 1833 und der Deutsche Bund. Deutungen in verfassungsgeschichtlichem Kontext, Hamburg 2011, die freilich gerade die verfassungsrechtliche Problematik von Bundesintervention und Bundesexekution als Maßnahmen des Verfassungsschutzes nicht erfasst. Zur Bundesintervention ausführlicher unten.
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„die öffentliche Ruhe und gesetzliche Ordnung in mehreren Bundesstaaten durch gefährliche Verbindungen und Anschläge“
bedroht war.35 Damit war ein exekutives Instrument des bundesweiten Verfassungsschutzes etabliert worden, das auf wesentliche Manifestationen verfassungsbedrohender Aktivitäten im Bereich der inneren Sicherheit zielte: Aufruhr / Revolte, gefährliche Bewegungen bzw. Verbindungen (staatsgefährdende oder „terroristische“ Vereinigung) und politische Gewalt bzw. Anschläge und Attentate.36 Das eigentliche exekutive Verfahren folgte freilich Strukturen, wie sie bereits für das Alte Reich kennzeichnend waren, allerdings ohne Beteiligung einer Höchstgerichtsbarkeit: Voraussetzung war in der Regel die Requisition des betroffenen Staates und in jedem Fall eine Mehrheitsentscheidung der Bundesversammlung, welche die Exekution mangels eigener Organe (Bundesmilitär oder Bundespolizei) Mitgliedstaaten übertrug. Zur praktischen Ausführung kam die Bundesintervention erst nach 1830 bei der „belgischen Revolution“ in Luxemburg von 1830 / 31, bei den Unruhen in der Coburgschen Exklave Lichtenberg im Jahr 1832 als nachbarschaftliche Intervention Preußens und 1833 beim Frankfurter Wachensturm, direkt und ohne Ersuchen des Magistrats veranlasst, ging es bei der Frankfurter Intervention von 1833, die bis 1842 andauerte, doch um die innere Sicherheit am Tagungsort der Bundesversammlung und die Gefährdung der zentralen Verfassungsinstitution des Bundes. Nach der Revolution von 1848 / 49 griff der Bund noch zweimal zur Bundesintervention als Instrument des Verfassungsschutzes: 1850 bis 1852 beim Aufruhr in Schleswig-Holstein und 1850 bis 1852 im Verfassungskonflikt in Kurhessen.37 Im Übrigen tauchte bei der Bundesintervention in Frankfurt auch die Frage der Verfassungsgarantie durch auswärtige Mächte auf: Frankreich und Großbritannien machten als Mitunterzeichner der Wiener Schlussakte, der die Bundesakte wörtlich einverleibt worden war, bei der Bundesintervention in mehreren Noten Mitwirkungsrechte geltend. Zwar schloss sich daran eine langlebige staats- und verfassungsrechtliche Diskussion über eine auswärtige Verfassungsgarantie und ein Interventionsrecht der Garantiemächte an, tatsächlich hatten Frankreich und Großbritannien jedoch 1833 keine solche Garantie der Bundesverfassung und ein darauf gestütztes Interventionsrecht explizit behauptet. Ein interventionistischer Verfassungsschutz durch aus35 Schlußakte der Wiener Ministerkonferenzen vom 15. Mai 1820, Art. 25 und 26, in: Huber (Fn. 8), Bd. 1, Nr. 30. 36 Zur Bundesintervention: Huber (Fn. 11); Huber (Fn. 1), Bd. I, S. 631 – 634; Pannkoke (Fn. 32), S. 17 – 31; Ham (Fn. 13), S. 44 – 60. 37 Überblick über die einzelnen Anwendungsfälle: Huber (Fn. 1), Bd. I, S. 633 f. und Bd. II., S. 904 ff. und 926 ff.; Pannkoke (Fn 32), S. 23 – 30; zu Frankfurt: Schmidt (Fn. 34), S. 50 – 53 (knapp und nicht über Huber hinauskommend); sowie zu Kurhessen jetzt die ausführliche Darstellung von: Ham (Fn. 13).
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wärtige Mächte, gestützt auf die Inkludierung innerer Verfassungsnormen bzw. einer „Verfassung“ in einen völkerrechtlichen Vertrag, hatte sich bereits im Alten Reich nicht durchsetzen können und war im 19. Jahrhundert unter den Bedingungen nationalstaatlicher Verfassung keine politische Option.38 Auch wenn die Bundesintervention letztlich nur in wenigen Fällen zur Anwendung kam und die praktische Durchführung nicht immer völlig mit den normativen Vorgaben übereinzustimmen schien, war damit doch ein wirksames exekutives Verfahren des Verfassungsschutzes etabliert worden, dem jedenfalls auf der symbolischen Ebene ein präventiv-abschreckendes Potential zukam, das auch die Bundesstaaten zu verstärkten präventiven und strafrechtlichen Anstrengungen im Bereich ihrer inneren Sicherheit veranlassen konnte. Das Ziel der Bundesintervention war grundsätzlich die Wiederherstellung des früheren Verfassungszustands, der freilich mit der Bundesverfassung kompatibel sein musste. Strafaktionen waren folglich nicht zulässig und eine strafrechtliche Verfolgung kam dem Bund ebenfalls nicht zu. Diese konnte nur durch die jeweils zuständigen Landesgerichte erfolgen, die eine rechtliche Bewertung von Beteiligten und Delikten im Rahmen des jeweiligen partikularen Strafrechts vornahmen. Dabei kam es – wie nach der Bundesintervention gegen den Frankfurter Wachensturm von 1833 – durchaus zu Verfahren gegen politische Straftäter und die daraus gewonnenen Informationen wurden der politischen Polizei des Bundes, der Zentraluntersuchungskommissionen in Frankfurt, zur Verfügung gestellt.39 Trotz einer letztlich eher geringen Verrechtlichung kann die Bundesintervention folglich nicht isoliert gesehen werden, sondern sie gehört in den Kontext des polizeilich-strafrechtlichen Verfassungsschutzes und der rechtlichen Reaktionen auf Gefährdungen der inneren Sicherheit durch politische Dissidenz und Gewalt, die im Deutschen Bund als die Verfassung und Herrschaftsordnung bedrohende politische Kriminalität wahrgenommen und strafrechtlich wie polizeilich-exekutiv verfolgt wurden.40 Gerade für diesen 38 Eva Bieker, Die Interventionen Frankreichs und Großbritanniens anlässlich des Frankfurter Wachensturms 1833. Eine Fallstudie zur Geschichte völkerrechtlicher Verträge, Baden-Baden 2003; zur Frage der bis zum Westfälischen Frieden zurückgehenden völkerrechtlichen Verfassungsgarantie, die Rußland aufgrund des Teschener Friedens behauptete: Karl Härter, Möglichkeiten und Grenzen der Reichspolitik Rußlands als Garantiemacht des Teschener Friedens (1778 – 1803), in: Claus Scharf (Hrsg.), Katharina II., Rußland und Europa. Beiträge zur internationalen Forschung, Mainz 2001, S. 133. 39 Vgl. beispielhaft: Leopold Friedrich Ilse, Geschichte der politischen Untersuchungen, welche durch die neben der Bundesversammlung errichteten Commissionen, der Central-Untersuchungs-Commission zu Mainz und der Bundes-Central-Behörde zu Frankfurt in den Jahren 1819 bis 1827 und 1833 bis 1842 geführt sind, Nachdr. der Ausg. Frankfurt a. M. 1860; Reinhard Görisch / Thomas Michael Mayer (Hrsg.), Untersuchungsberichte zur republikanischen Bewegung in Hessen 1831 – 1834, Frankfurt a. M. 1982. 40 Dazu insgesamt Härter, Legal Responses (Fn. 4).
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Bereich des politischen Verfassungsschutzes durch polizeiliche und strafrechtliche Mittel etablierte der Deutsche Bund in den Jahren 1830 bis 1836 und auf akute Verfassungsbedrohungen reagierend wichtige „moderne“ Elemente.
3. Politisch-polizeiliches Strafrecht
In Folge der Julirevolution von 1830, des Hambacher Festes und des Frankfurter Wachensturms erweiterte die Bundesversammlung mit den Bundesbeschlüssen über Maßregeln zur Herstellung und Erhaltung der Ruhe in Deutschland vom 21. Oktober 1830, über Maßregeln zur Aufrechthaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutschland vom 28. Juni 1832 („Sechs Artikeln“) und über Maßregeln zur Aufrechthaltung der gesetzlichen Ruhe und Ordnung im Deutschen Bunde vom 5. Juli 1832 („Zehn Artikeln“), wegen eines gegen den Bestand des Deutschen Bundes und die öffentliche Ordnung in Deutschland gerichteten Komplotts vom 30. Juni 1833 und weiteren Bundesbeschlüssen nicht nur die Karlsbader Beschlüsse, sondern den politisch-polizeilichen und strafrechtlichen Staats- und Verfassungsschutz insgesamt.41 Das Maßregel-Gesetz von 1830 betraf zunächst den exekutiven Verfassungsschutz durch die Bundesintervention, die bei „Dringlichkeit der Gefahr“ auch sofort in Form einer militärischen Hilfe eines Nachbarstaates geleistet werden konnte. Dies zielte insbesondere darauf, die grenzübergreifende Ausbreitung eines Aufruhrs zu verhindern. Der Bund verschärfte daher ebenfalls die Zensur der „öffentlichen Blätter politischen Inhalts“ insbesondere im Hinblick auf Nachrichten über „aufrührische Bewegungen“ und „auswärtige Angelegenheiten“, weil diese „das Vertrauen in die Landesbehörden und Regierungen schwächen, und dadurch indirect zum Aufstand reitzen“ könnten.42 Die sechs Artikel von 1832 betonten das monarchische Prinzip als Kern der Verfassungsstruktur und verpflichteten jeden „Souverain, als Mitglied des Bundes“, landständische Aktivitäten (wie insbesondere Petitionen), die der Bundesverfassung widersprechen würden, zu „verwerfen“. Die Verweigerung von Steuern bzw. der „zur Führung einer den Bundespflichten und der Landesverfassung […] erforderlichen Mittel“ durch Landstände wurde als Verfassungsverstoß definiert, der zur Bundesintervention berechtige. Die 41 Vgl. für das Folgende: Huber (Fn. 1), Bd. II, S. 151 – 163 und 173 – 184; Kotulla (Fn. 5), S. 367 – 377; aus der Perspektive der politischen Polizei: Siemann (Fn. 14), S. 72 – 122; aus der Perspektive des politischen Strafrechts: Härter (Fn. 4), S. 168 – 170. 42 Bundesbeschluß über Maßregeln zur Herstellung und Erhaltung der Ruhe in Deutschland vom 21. Oktober 1830, zitiert nach: http: //www.verfassungen.dede/ de06-66/bundesakte15-i.htm; gedruckt bei: Huber (Fn. 8), Bd. 1, Nr. 41; Zerback (Fn. 20), Nr. 20 und 21.
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sechs Artikel schränkten schließlich die „Öffentlichkeit der landständischen Verhandlungen“ ein, soweit diese „die Ruhe des einzelnen Bundesstaates“ stören oder eine das „gesammte […] Deutschland […] gefährdende Weise“ annehmen würden. Dementsprechend sollte eine auf sechs Jahre befristete Commission der Bundesversammlung die landständischen Aktivitäten überwachen. Damit waren auch Verfassungseinrichtungen eines Gliedstaates – Landstände bzw. Parlamente, Petitionsrecht, Steuerbewilligung – im Kontext der inneren Sicherheit in den Bereich des polizeilich-strafrechtlichen Verfassungsschutzes des Bundes gerückt worden.43 Die zehn Artikel definierten weitere Tatbestände des polizeilich-politischen Strafrechts bzw. der Verfassungsgefährdung, wie die Gründung von politischen Vereinen, „außerordentliche Volksversammlungen und Volksfeste […] öffentliche Reden politischen Inhalts[, das] öffentliche Tragen von Abzeichen in Bändern, Cocarden oder dergleichen [sowie das] Aufstecken von Fahnen und Flaggen, das Errichten von Freiheitsbäumen und dergleichen Aufruhrzeichen.“
Neben Formen der politischen Gewalt kamen folglich öffentliche und symbolische verfassungsfeindliche Äußerungen als Aufgabe des Staats- und Verfassungsschutzes stärker in den Blick, die durch eine entsprechende Polizei- oder Verfassungsschutzbehörde – die 1833 neu installierte Bundeszentralkommission – überwacht werden sollten. Der „Bundesbeschluß wegen eines gegen den Bestand des Deutschen Bundes und die öffentliche Ordnung in Deutschland gerichteten Complotts“ vom 30. Juni 1833 wies dieser Centralbehörde die Aufgabe zu, „die aufrührischen Complotte in den einzelnen Deutschen Bundesstaaten ihr zugehenden Notizen zusammenzustellen, die Thatsachen aufzuklären, die Urheber und Theilnehmer zu ermitteln“
und in den einzelnen Bundesstaaten eine strafrechtliche Verfolgung einzuleiten.44 Die Gesetze von 1832, 1834 und 1836 thematisierten darüber hinaus die grenzübergreifende und transnationale Dimension des Staats- und Verfassungsschutzes und trugen insofern zur Formierung transnationaler Sicher43 Bundesbeschluß über Maßregeln zur Aufrechthaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutschland vom 28. Juni 1832, zitiert nach: http: //www.verfassungen. de/de/de06-66/bundesakte15-i.htm; gedruckt bei Huber (Fn. 8), Bd. 1, Nr. 42; Zerback (Fn. 20), Nr. 42. 44 Zweiter Bundesbeschluß über Maßregeln zur Aufrechthaltung der gesetzlichen Ruhe und Ordnung im Deutschen Bunde vom 5. Juli 1832; Bundesbeschluß wegen eines gegen den Bestand des Deutschen Bundes und die öffentliche Ordnung in Deutschland gerichteten Komplotts vom 30. Juni 1833, zitiert nach: http: //www.ver fassungen.de/de/de06-66/bundesakte15-i.htm; gedruckt bei Huber (Fn. 8), Bd. 1, Nr. 43 und 44; Zerback (Fn. 20), Nr. 44 und 66. Hierzu Siemann (Fn. 14), S. 76 ff., 93 ff.; sowie noch immer brauchbar: Theodor Adolf Löw, Die Frankfurter Bundeszentralbehörde von 1833 – 1842, Gelnhausen 1932.
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heitsregime bei.45 Der Bundesbeschluß über die Unstatthaftigkeit der Einmischung fremder Mächte in die inneren Angelegenheiten des Deutschen Bundes vom 18. September 1834 schob der Möglichkeit einen (rechtlichen) Riegel vor, dass europäische Mächte wie Frankreich und England die Garantie der Bundesakte nutzen konnten, um daraus das Recht auf eine exekutiven Verfassungsschutz z. B. in Formen einer militärischen Intervention abzuleiten. Die zehn Artikel verpflichteten die Bundesmitglieder erstmals, „diejenigen, welche in einem Bundesstaat politische Vergehen oder Verbrechen begangen, und sich, um der Strafe zu entgehen, in andere Bundeslande geflüchtet haben, auf erfolgende Requisition, in so fern es nicht eigene Unterthanen sind, ohne Anstand auszuliefern.“ (Art. 8)
Artikel sieben wies die Bundesstaaten weiterhin an, „Fremde, welche sich wegen politischer Vergehen oder Verbrechen in einen der Bundesstaaten begeben haben [sowie] Einheimische und Fremde, die aus Orten oder Gegenden kommen, wo sich Verbindungen zum Umsturz des Bundes oder der Deutschen Regierungen gebildet haben und der Theilnahme daran verdächtig sind [besonders zu kontrollieren und sie durften] verdächtigen ausländischen Ankömmlingen, welche sich über den Zweck ihres Aufenthalts im Lande nicht befriedigend ausweisen können“
keinen Aufenthalt gestatten.46 Der „Bundesbeschluß über Bestrafung von Vergehen gegen den Deutschen Bund und Auslieferung politischer Verbrecher auf deutschem Bundesgebiete“ vom 18. August 1836 präzisierte und erweiterte die grenzübergreifende Strafverfolgung und die Auslieferung als Instrument des Verfassungsschutzes und verpflichtete die Bundesstaaten, „Individuen, welche der Anstiftung eines gegen den Souverain, oder gegen die Existenz, Integrität, Verfassung oder Sicherheit eines andern Bundesstaates gerichteten Unternehmens, oder einer darauf abzielenden Verbindung, der Theilnahme daran, oder der Begünstigung derselben beinzichtigt sind, dem verletzten oder bedrohten Staate auf Verlangen auszuliefern.“
Diese Auslieferungspflicht galt im Übrigen nur für politische Verbrechen und den Bereich des Verfassungsschutzes; gewöhnliche Verbrechen blieben davon ausgenommen. Der Bundesbeschluss von 1836 vollzog schließlich die 45 Hierzu allgemein: Karl Härter, Die Formierung transnationaler Strafrechtsregime: Auslieferung, Asyl und grenzübergreifende Kriminalität im Übergang von gemeinem Recht zum nationalstaatlichen Strafrecht, in: Rechtsgeschichte 18 (2011), S. 36 – 65; Karl Härter, Legal Concepts of Terrorism as Political Crime and International Criminal Law in Eighteenth and Nineteenth Century Europe, in: Aniceto Masferrer (Ed.), Post 9 / 11 and the State of Permanent Legal Emergency: Security and Human Rights in Countering Terrorism, Dordrecht 2012, S. 53. 46 Bundesbeschluß über die Unstatthaftigkeit der Einmischung fremder Mächte in die inneren Angelegenheiten des Deutschen Bundes vom 18. September 1834; Zweiter Bundesbeschluß über Maßregeln zur Aufrechthaltung der gesetzlichen Ruhe und Ordnung im Deutschen Bunde vom 5. Juli 1832, zitiert nach: http: // www.verfassungen. de / de / de06 – 66 / bundesakte15-i.htm; gedruckt bei: Huber (Fn. 8), Bd. 1, Nr. 43 und 50; Zerback (Fn. 20), Nr. 44 und 71.
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normative Verbindung von politischem Strafrecht und Verfassungsschutz und benannte neben der „äußern und innern Ruhe und Sicherheit“ auch die „Verfassung des Bundes“ als zentrales Schutzgut: „[J]edes Unternehmen gegen die Existenz, die Integrität, die Sicherheit oder die Verfassung des Deutschen Bundes, in den einzelnen Bundesstaaten [, war nach] „Maaßgabe der in den letzteren bestehenden oder künftig in Wirksamkeit tretenden Gesetze […] als Hochverrath, Landesverrath oder unter einer andern Benennung zu richten wäre, zu beurtheilen und zu bestrafen.“47
Diese weitreichenden und teils in die Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten eingreifenden Bundesbeschlüsse formten zwar noch kein geschlossenes politisches (Bundes-)Strafrecht oder eine kohärente Rechtsgrundlage des Verfassungsschutzes, die auch die strafrechtliche Verfolgung vereinheitlicht hätte. In der Forschung ist zudem umstritten, ob diese „Ausnahmegesetze“ 1848 vollständig aufgehoben wurden.48 Dennoch besitzen sie grundlegende Bedeutung im Hinblick auf die langfristige Etablierung und Ausdifferenzierung wesentlicher Normen und Instrumente des polizeilichstrafrechtlichen Verfassungsschutzes, die über 1848 / 49 bzw. 1866 hinausweisen und das politische Strafrecht zahlreicher Mitgliedsstaaten wie das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 im Hinblick auf politische Delikte und Staatsschutz prägten.49 Der Bund selbst übernahm Normen in das Bundespressegesetz vom 6. Juli 1854, das Bundesvereinsgesetz vom 13. Juli 1854 und im so genannten Bundesreaktionsbeschluss vom 23. August 1851. Letzterer erweiterte sogar die sechs Artikel im Hinblick auf die Verfassungskontrolle von Landesverfassungen, auf welche die Landstände einen substantiellen Einfluss ausgeübt hatten, wobei die innere Sicherheit als Begründung fungierte. Dies führte bekanntlich zur Gleichschaltung der Verfassungen der Mitgliedstaaten nach 1850, teils in Form von Selbstgleichschaltung der Gliedstaaten, welche demokratisierte Verfassungen oder Teile aufhoben, teils aber auch in Form der Bundesintervention wie in Kurhessen 1850 / 52.50
47 Bundesbeschluß über Bestrafung von Vergehen gegen den Deutschen Bund und Auslieferung politischer Verbrecher auf deutschem Bundesgebiete vom 18. August 1836, zitiert nach: http: //www.verfassungen.de/de/de06-66/bundesakte15-i.htm; gedruckt bei Huber (Fn. 8), Bd. 1, Nr. 49. Vgl. hierzu Melitta Grimm, Das Auslieferungswesen im Recht des Deutschen Bundes, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 48 (1928), S. 448. 48 Vgl. zusammenfassend: Kotulla (Fn. 5), S. 377 – 384; Ham (Fn. 13), S. 64 f. 49 Härter (Fn. 4); Schroeder (Fn. 7), S. 82 – 101; Ingraham (Fn. 23), S. 140 – 148 und 185 – 199. 50 Ham (Fn. 13); Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848 – 1866, Göttingen 2005, S. 90 – 145.
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Karl Härter 4. Politische Polizei und nachrichtendienstlicher Verfassungsschutz
Der dargestellte polizeilich-strafrechtliche Verfassungsschutz des Deutschen Bundes richtete sich letztlich auf den Erhalt der bestehenden Herrschaftsordnung aus und verstand sich primär als Staatsschutz gegen alle oppositionellen Bewegungen und Handlungen – von der politischen Gewalt bis zur Steuerverweigerung von Landständen. Da der Bund weder über ein gemeinsames Strafrecht noch ein Bundesgericht verfügte, musste er die gerichtliche Verfolgung und Bestrafung von „Verfassungsfeinden“ der Gerichtsbarkeit der Einzelstaaten überlassen. Dies brachte komplexe Kommunikation und Verfahren zwischen Bund, einzelstaatlichen exekutiven Organen (Polizeien) und Gerichten mit sich und verstärkte auf der Bundesebene den Trend zu einem nachrichtendienstlichen und ermittelnden Staats- und Verfassungsschutzes, der zumindest indirekt „grenzübergreifend“ (im Rahmen des Bundes) auf den justiziellen Verfassungsschutz der einzelnen Mitgliedstaaten Einfluss nahm. Ausdruck dieser spezifischen Strukturen und Problemlagen war die Etablierung einer politischen Bundespolizei in Form der Mainzer Zentraluntersuchungskommission (1819 – 1828) und der Frankfurter Zentraluntersuchungsbehörde (1833 – 1842), begleitet von der Etablierung „politischer Polizeien“ in den Einzelstaaten und der Ausformung polizeilich-informationeller bzw. nachrichtendienstlicher Verfassungsschutztechniken, die durch das geheime Mainzer Informationsbüro (1833 – 1848) eine weitere Institutionalisierung erfuhren.51 Die wesentliche Aufgabe beider Bundeszentralbehörden bestand darin, Informationen über „Verfassungsfeinde“ und „Verfassungsbedrohungen“ im Bereich der inneren Sicherheit zu beschaffen, zu sammeln und den Polizeien oder Strafgerichten der einzelnen Mitgliedsstaaten, aber auch der Bundesversammlung zur Verfügung zu stellen. Die „verfassungsfeindlichen“ Zielgruppen umfassten dabei das gesamte Spektrum der politischen Opposition in ihren zahlreichen Spielarten; dies reichte von der Überwachung der Landstände bzw. ständischen Parlamente und ihrer Abgeordneten, den Universitäten (Burschenschaften) und der national-liberalen Bewegung bis zu frühen sozialistisch-kommunistischen Gruppierungen.52 51 Umfassend hierzu: Siemann (Fn. 14); zur politischen Polizei als wesentliches Element von Verfassungsschutz: Huber (Fn. 14); sowie zu den beiden Bundesbehörden: Eberhard Weber, Die Mainzer Zentraluntersuchungskommission. Karlsruhe 1970; Löw (Fn. 44); Frank Thomas Hoefer, Pressepolitik und Polizeistaat Metternichs. Die Überwachung von Presse u. politischer Öffentlichkeit in Deutschland u. den Nachbarstaaten durch das Mainzer Informationsbüro (1833 – 1848), München u. a. 1983. 52 Vgl. hierzu vor allem die umfangreich publizierten Quellen: Rudolph Hug, Die Central-Untersuchungs-Commission zu Mainz und die demagogische Umtriebe in den Burschenschaften der deutschen Universitäten zur Zeit des Bundestags-Beschlusses vom 20. Sept. 1819, Leipzig 1831; [Friedrich Moritz von Wagemann], Darlegung der Haupt-Resultate aus den wegen der revolutionären Complotte der neueren Zeit in Deutschland geführten Untersuchungen. Auf den Zeitabschnitt mit Ende Juli 1838, Frankfurt a. M. [1839]; Ilse (Fn. 39); Werner Kowalski (Hrsg.), Vom kleinbürgerlichen
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Die Bundeszentralbehörden griffen zwar teilweise auf ältere, grenzübergreifende Polizeitechniken aus dem Alten Reich zurück (Fahndungslisten, Requisition, Auslieferung),53 entwickelten darüber hinaus aber charakteristische nachrichtendienstliche Techniken des informativ-polizeilichen Verfassungsschutzes: – das Beschaffen und Sammeln von Informationen aus unterschiedlichen Quellen, von Informanten, Denunziationen und Spitzelberichten aus dem Ausland (über das deutsche politische Exil im Ausland) bis zu Auszügen aus laufenden Ermittlungs- und Gerichtsverfahren, wobei die Mainzer Kommission auch zeitlich bis zum Ende des Alten Reiches (1806) zurückging und das Mainzer Informationsbüro von 1833 bis 1848 auch umfangreich Informationen über deutsche politische Exilanten im benachbarten Ausland sammelte. Ausgewertet wurden weiterhin Briefwechsel, Schriften Verdächtiger und öffentlich zugängliche Informationen aus den Druckmedien; die Bundeszentralbehörden nutzten folglich Zensur und Postkontrolle; – dabei ging es auch um die Analyse von Motiven, Aktivisten, Aktivitäten, Methoden, Verbindungen und Netzwerken, um ein grenzübergreifendes Gesamtbild des „verfassungsfeindlichen“ Milieus (inklusive des politischen Exils) zu erarbeiten; – die Informationen wurden folglich zu relevantem Wissen verarbeitet und in Form von Dossiers und Berichten an die Bundesversammlung, aber auch an Behörden, Polizeien und Gerichte der Gliedstaaten kommuniziert. Die Bundesversammlung ließ daraus sogar „Verfassungsschutzberichte“ anfertigen und 1830 in gekürzter Form publizieren, um die Öffentlichkeit „aufzuklären“ bzw. auf diese präventiv-abschreckend und letztlich auch propagandistisch einzuwirken; – dieses Wissen diente wiederum in den einzelnen Bundesstaaten der polizeilichen Überwachung und Koordinierung von Aktivitäten im Bereich der inneren Sicherheit und der Strafverfolgung, und zwar sowohl in Gerichts- als auch Auslieferungsverfahren.54 Demokratismus zum Kommunismus, Bd. 2: Die Hauptberichte der Bundeszentralbehörde in Frankfurt am Main von 1838 bis 1842 über die deutsche revolutionäre Bewegung, Berlin 1978; Görisch / Mayer (Fn. 39). 53 Vgl. Karl Härter, Die Reichskreise als transterritoriale Ordnungs- und Rechtsräume: Ordnungsnormen, Sicherheitspolitik und Strafverfolgung, in: Wolfgang Wüst / Michael Müller (Hrsg.), Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa – Horizonte und Grenzen im spatial turn […], Frankfurt a. M. u. a. 2011, S. 211. 54 Vgl. insgesamt Weber (Fn. 51); Löw (Fn. 44); Siemann (Fn. 14), S. 76 ff., 93 ff.; sowie zu einzelnen Techniken / Institutionen: Jakob Nolte, Demagogen und Denunzianten. Denunziation und Verrat als Methode polizeilicher Informationserhebung bei den politischen Verfolgungen im preußischen Vormärz, Berlin 2007; Hoefer (Fn. 51); Dirk Riesener, Polizei und politische Kultur im 19. Jahrhundert. Die Polizeidirektion Hannover und die politische Öffentlichkeit im Königreich Hannover, Hannover 1996.
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Karl Härter
Bemerkenswert ist folglich die grenzübergreifende – und zwar innerhalb und über die Grenzen des Bundes hinaus – Dimension dieses informationellpolizeilichen „nachrichtendienstlichen“ Verfassungsschutzes, dessen Wirksamkeit im Hinblick auf konkrete Strafverfolgung freilich limitiert blieb. Denn bereits die Kooperation mit den auf ihre Souveränität und Verfassungsautonomie bedachten Bundesstaaten und ihren Polizeibehörden und Gerichten stellte ein kaum lösbares Problem dar. Da die Bundesstaaten ihre eigenen Institutionen ausbauten und die akute Verfassungsbedrohung in den 1820er und 1840er Jahren abzunehmen schien, konnten sich die beiden Bundeszentralbehörden auch nicht dauerhaft verfestigen und wurden 1828 bzw. 1842 stillschweigend aufgelöst. Pläne für weitere Bundespolizeien ließen sich nach 1850 nicht realisieren, aber die Funktion eines nachrichtendienstlichen Verfassungsschutzes blieb rudimentär in der preußischen Geheimpolizei und dem deutschen Polizeiverein erhalten.55 Übersehen werden darf zudem nicht, dass sich die exekutive Effizienz von Verfassungsschutz grundsätzlich nur schwer messen lässt und die Aufgabe der Wissenserzeugung und Distribution – und damit die nachrichtendienstlich-kommunikative Funktion – gemessen an den zeitgenössischen Bedingungen durchaus von Bedeutung war: Bereits der Mainzer Kommission gelang, so Weber, ein „umfassender Überblick über die verfassungsfeindlichen Kräfte“, auf den die Frankfurter Zentralbehörde aufbauen konnte.56 Nach Huber „leistete die Bundeszentralbehörde der ihr gestellten Aufgabe des Bundesverfassungsschutzes eine bedeutenden Dienst“.57 Denn das umfangreiche nachrichtendienstliche Wissen, das sich in der fünfbändigen „Totalübersicht“ der Mainzer Kommission oder dem „Schwarzen Buch“ der Frankfurter Behörde mit Informationen zu über 2000 potentiellen oder tatsächlichen „Verfassungsfeinden“ manifestierte, wurde auch nach 1842 polizeilich, juristisch und öffentlich-publizistisch verwertet. Langfristig stimulierte dies zudem die öffentliche Debatte und die staatsrechtlichen Diskurse über Methoden und rechtliche Kontrolle des polizeilich-nachrichtendienstlichen Verfassungsschutzes und erzeugte damit einen nicht intendierten Effekt, der im Grunde die Kritik am Deutschen Bund und seiner Verfassung verstärkte.
55 Wolfram Siemann (Hrsg.), Der „Polizeiverein“ deutscher Staaten. Eine Dokumentation zur Überwachung der Öffentlichkeit nach der Revolution von 1848 / 49, Tübingen 1983; Mathieu Deflem, International Policing in Nineteenth-Century Europe: The Police Union of German States 1851 – 1866, International Criminal Justice Review 6 (1996) S. 36. 56 Weber (Fn. 51), S. 97. 57 Huber (Fn. 1), Bd. II, S. 173.
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IV. Schluss Aus der Perspektive der Praxis und der Ergebnisse scheint der Verfassungsschutz des Deutschen Bundes eher eine Negativbilanz aufzuweisen. Weder die politische Polizei noch die Instrumente des exekutiven Schutzes konnten die Bundesverfassung vor der Revolution von 1848 schützen. Auch bezüglich gewaltsamer Konflikte zwischen den Gliedstaaten blieb der Schutz der Bundesverfassung prekär, die schließlich an dem rasch eskalierenden Konflikt zwischen Preußen und Österreich 1866 zerbrach und mit dem Scheitern der formlosen / außerordentlichen Bundesexekution die Wirkungslosigkeit des exekutiven Verfassungsschutzes zu bestätigen schien. Die beiden – zweifellos außerordentlichen – Beispiele verweisen auf signifikante Kollisionen und Friktionen, die aus komplexen stark diversifizierten Strukturen eines justiziellen, exekutiven und polizeilich-strafrechtlichen Verfassungsschutzes im föderalen System des deutschen Bundes resultierten. Der Deutsche Bund konnte weder die Ambivalenz von Verfassungsautonomie souveräner Mitgliedstaaten und der Notwendigkeit eines gemeinsamen – normativ-strafrechtlichen, polizeilich-exekutiven und juristischen – Schutzes auflösen noch diese unterschiedlichen Formen und Instrumente zu einem systematischen, widerspruchfreien und verrechtlichten Verfassungsschutz ausbauen. Letztlich gelang dies bestenfalls bedingt im eingeschränkten Bereich des dominierenden polizeilichen Staatsschutzes. Doch trotz dieses evidenten Scheiterns entwickelte der Deutsche Bund – reagierend und experimentierend und ohne systematisches Konzept – grundlegend Funktionen und Instrumente des justiziellen, polizeilich-exekutiven und strafrechtlichen Verfassungsschutzes in einem föderalen Verfassungsgebilde, die längerfristig wirkten und die Entwicklung des Verfassungsschutzes beeinflussten – auch im Hinblick auf die damit verbundenen strukturellen Systemkollisionen.58 Diese treten auch deshalb so deutlich zutage, weil sich die Formierung eines (mehr oder weniger) modernen Verfassungsschutzes im Deutschen Bund als verschränkter interdependenter Prozess vollzog, in dem juristische, normativ-strafrechtliche, exekutive, polizeiliche und nachrichtendienstliche Instrumente und Bereiche sich gegenseitig beeinflussten. Dabei spielte auch Kontinuitätslinie zum Alten Reich eine Rolle: Zwar installierte der Deutsche Bund kein höchstes Gericht, übernahm aber aus dem Bereich des justiziellen Verfassungsschutzes das Austrägal- bzw. Vermittlungs- und Schlichtungsverfahren, das rechtlich und institutionell über zwei Ebenen (Bundesversammlung / Bund, Landesgericht / Mitgliedsstaat) 58 In diesem Zusammenhang sei nur an die aktuellen Debatten und Bemühungen des Jahres 2010 um eine Reform des Verfassungsschutzes in der Bundesrepublik Deutschland erinnert, die im Hinblick auf die länderübergreifenden nachrichtendienstlichen Instrumente ähnliche Strukturprobleme erkennen lässt.
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ausgestaltet war. In der Funktion ähnelt dies stark den Verfahrensweisen des Alten Reiches, das ebenfalls eine Beteiligung des Reichstags an Verfassungskonflikten kannte (z. B. über Rekurse) und das Verfassungsschutz im Sinne des Schutzes von Integrität und Rechten seiner Mitglieder und der möglichst gewaltlosen Lösung von Konflikten zwischen den Reichsmitgliedern auf den Weg von Kompromiss und Schlichtung wies. Auch im Bereich des exekutiven und polizeilich-strafrechtlichen Verfassungsschutzes sind Kontinuitäten erkennbar: Die Bundesintervention ähnelte entsprechenden Mechanismen des Reiches, um mittels der Reichsgerichte und / oder kaiserlicher Kommissionen gegen Aufstände und Revolten vorzugehen; noch in den 1790er Jahren in der Auseinandersetzung mit der französischen Revolution war diese Form des „Verfassungsschutzes“ eingesetzt und aktualisiert worden, auch in Form militärischer Exekutionen (z. B. gegen Lüttich). Bundesexekution und Exekutions-Ordnung des Deutschen Bundes weisen ebenfalls Einflüsse der bis in die Endphase des Reiches auch diskutierten und umstrittenen Reichsexekutionsordnung auf. Und nicht zuletzt griffen die Karlsbader Beschlüsse von 1819 im Bereich der inneren Sicherheit bezüglich Kontrolle von Universitäten und Beamten, Aufruhr oder Zensur auf Normen des Alten Reiches zurück. Freilich wies der Schutz der Reichsverfassung gerade auf der exekutiven und strafrechtlich-polizeilichen Ebene die größten Defizite auf und in dieser Beziehung entwickelte der Deutsche Bund den Verfassungsschutz erheblich weiter. Insgesamt überwiegen folglich die Differenzen: Der Deutsche Bund beschränkte den justiziellen Verfassungsschutz, insbesondere hinsichtlich der rechtlichen Möglichkeiten der Untertanen / Bürger, der Verfassungskonflikte innerhalb der Bundesstaaten und der Bundesmitglieder mit den Bund. Dagegen baute er den strafrechtlich-polizeilichen Verfassungsschutz im Bereich der inneren Sicherheit erheblich aus, und zwar ohne Beteiligung einer Höchst- oder gar Verfassungsgerichtsbarkeit. Dieser justizielle Verfassungsschutz ohne Höchstgericht besaß dann auch in der Praxis eine lediglich geringe Wirksamkeit, und es ist charakteristisch, dass die meisten Austrägalverfahren Konflikte betrafen, die noch aus dem Alten Reich bzw. seiner Auflösung stammten. Dennoch sollte die Funktion des justiziellen Verfassungsschutzes im Hinblick auf Konflikte zwischen den Bundesmitgliedern und auch innerhalb der Bundesstaaten zwischen Landständen / Mediatisierten und Landesherren / Regierungen nicht unterschätzt werden. Austrägalverfahren und Bundesschiedsgericht von 1834 kamen zumindest eine symbolische präventive Funktion zu und sie haben im Kontext des Gewalt- und Selbsthilfeverbots die Eskalation von Konflikten zu verfassungsbedrohenden Szenarien womöglich verhindert oder Konflikte gedämpft. In einem föderalen Gebilde wie dem Deutschen Bund mit einem großen Potential an verfassungsbedrohenden Konflikten besaß dieser rudimentäre justizielle Verfassungsschutz folglich eine – schwierig zu gewichtende wichtige – Bedeutung. Bezüglich der beiden Großmächte Österreich und Preußen und
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dem damit einhergehenden Konfliktpotential konnte er allerdings keine Funktionen oder Wirkungen gewinnen. Die symbolisch-präventive Wirkung des justiziellen Verfassungsschutzes beruhte auch auf dem vorhandenen Potential des exekutiven wie polizeilich-strafrechtlichen Verfassungsschutzes: Mit der Bundesexekution, der Bundesintervention, den beiden Zentraluntersuchungsbehörden als nachrichtendienstlich tätige Verfassungsschutzbehörden / politische Bundespolizeien und einer durchaus beachtlichen Fortschreibung des politisch-polizeilichen Strafrechts hat der Deutsche Bund die innere Sicherheit als ein zentrales Feld des Verfassungsschutzes erstmals auf der gesamtdeutschen Ebene umfassend etabliert, ja „innere Sicherheit“ und „Verfassungsschutz“ überhaupt erstmals explizit normativ festgeschrieben. Insgesamt formte der Bund wesentliche Normen, Institutionen, Maßnahmen und Schutzgüter eines bundeseinheitlichen exekutiven bzw. polizeilich-strafrechtlichen Verfassungsschutzes aus, der wesentliche Funktionen abdeckte: (1) Kennzeichnend ist die enge Verbindung zum politischen Strafrecht, zum Staatschutz und zur inneren Sicherheit und damit die Erweiterung und Kriminalisierung verfassungsgefährdender Handlungen. Dies betrifft diverse Manifestationen politischer Dissidenz, Kriminalität und Gewalt, bezog aber auch staatlich-politische und Verfassungseinrichtungen der Mitgliedsstaaten teilweise mit ein, und zwar insbesondere durch die Überwachung landständischer Versammlungen und der Mitglieder landständischer Parlamente. Insofern formte sich Verfassungsschutz auch als rechtliche Reaktion auf politische Gewalt und politische Konflikte aus, die von der politischen Opposition (bzw. „Verfassungsfeinden“), aber auch von Mitgliedsstaaten ausgehen konnte. (2) Als weiteres wesentliches Merkmal erweist sich die polizeilich-präventive nachrichtendienstliche Ausrichtung insbesondere im Hinblick auf Informationsgewinnung und Wissensgenerierung, die erstmals institutionalisiert und bezüglich der Techniken weiterentwickelt wurden und zu einer weitreichenden Distribution und Verwendung dieses Wissens in strafgerichtlichen Verfahren, Länderpolizeien, transnationalen-diplomatischen Kontexten (Überwachung, Exil, Auslieferung) und zu öffentlich-propagandistischen Zwecken in Form rudimentärer „Verfassungsschutzberichte“ führten. Damit einher ging freilich eine enorme Ausweitung von Denunzianten- und Spitzelwesen, Überwachung, Informationssammlung oder Zensur im Hinblick auf politische Tätigkeiten, Universitäten, öffentliche Versammlungen, Vereins- und Gruppenbildung und Druckmedien, die zentralen Bereiche der entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit. (3) Als ein neues Element kann schließlich die transnationale Dimension benannt werden, die sich vor allem in der grenzübergreifenden (innerhalb des Bundes und auch ansatzweise zwischen dem Bund und anderen
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Staaten) Überwachung, Verfolgung und Auslieferung von „Verfassungsfeinden“ und schließlich dem ersten Bundesgesetz zur Auslieferung manifestierte: Mit dem Bundesbeschluss über Bestrafung von Vergehen gegen den Deutschen Bund und Auslieferung politischer Verbrecher auf deutschem Bundesgebiete, vom 18. August 1836 wurde zudem der Schutz der Verfassung im Kontext der inneren Sicherheit und der transnationalen Strafverfolgung überhaupt erstmals explizit in einem gesamtdeutschen Gesetz als „Schutzgut“ normativ verankert. Übersehen werden darf freilich nicht, dass die Ausdifferenzierung des polizeilich-strafrechtlichen Verfassungsschutzes durchaus mit erheblichen Reibungsverlusten und Kollisionen – vor allem auch im Hinblick auf die Verfassungsautonomie der Mitgliedsstaaten – einherging, einer geringen Verrechtlichung bzw. rechtlichen Kontrolle unterlag59 und zudem eine sehr unterschiedliche praktische Relevanz und exekutive Wirksamkeit gewann. Letztere wird man eher als gering einschätzen müssen – allerdings sind die zahlreichen politischen Prozesse in den einzelnen Mitgliedstaaten bis auf einzelne Ausnahmen noch kaum erforscht –, wohingegen den nachrichtendienstlichen Funktionen eine größere Bedeutung zukam: Wissen und nicht Vollzug avancierte im Deutschen Bund zum Kern des Verfassungsschutzes – der diese funktionale Ausrichtung beibehielt. Damit verbunden war eine ebenfalls langfristig wirksame Ausrichtung auf innere Sicherheit und Prävention, in deren Mittelpunkt der Staat und die Herrschaftsordnung standen, die vor Verfassungsbedrohung bzw. „Verfassungsfeinden“ (wie der politisch national-liberalen Opposition) geschützt werden sollten. In diesem Sinn könnte man Verfassungsschutz des Deutschen Bundes vor allem als Staatsschutz charakterisieren. In einem föderalen Gebilde wie dem Deutschen Bund fehlte diesem freilich der zentrale Nukleus: der Nationalstaat (und damit auch ein entsprechendes Strafrecht oder ein Höchstgericht). Insofern musste sich Verfassungsschutz über mehrere Ebenen und Schutzgüter – Bundesverfassung und Landesverfassung, monarchische Herrschaftsverfassung wie früher Parlamentarismus, justizielle und polizeilich präventive Instrumente von Bund und Gliedstaaten – erstrecken. Dies förderte zwar eine frühe grenzübergreifende transnationale Ausrichtung, ließ aber auch die charakteristischen Reibungsverluste und Kollisionsfelder von justiziellem, exekutivem und polizeilich-strafrechtlichem Verfassungsschutz in einem föderalen Staatenbund / Bundesstaat zutage treten, die sich womöglich langfristig verfestigten.
59 Zusammenfassend: Müller (Fn. 5), S. 68 – 76; und prägnant: Wolfram Siemann, Der Vorrang der Staatspolizei vor der Justiz, in: Dieter Simon (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, Frankfurt a. M. 1987, S. 197.
Aussprache Gesprächsleitung: Grothe
Grothe: [Einleitung:] Zunächst wollen wir uns die Frage stellen, was wir von der bisherigen Diskussion mitgenommen haben: dass es umstritten ist, ob man politikwissenschaftliche Modelle auf ältere Zeiten anwenden kann; vielleicht auch die Frage, wann die Frühe Neuzeit endet und die Späte Neuzeit beginnt, ungefähr 1789, es kann aber auch 1795 sein; vielleicht auch die Tatsache, dass die Wirkung von Sieyès in Sparta beginnt und bei de Gaulle endet; schließlich, dass die Verfassungsgeschichte ein sehr umfassendes Gebiet ist. All das nehmen wir mit in den zweiten Tag und freuen uns darauf, dass wir uns heute beschäftigen dürfen mit dem Thema „Höchstgerichtsbarkeit im Deutschen Bund bzw. in den Einzelstaaten des Deutschen Bundes“. Wir schreiten also voran ins 19. Jahrhundert. Soweit diese kleine Vorbermerkung. Meine Aufgabe ist es, die Sektion zu moderieren. Und wenn man sich die verschiedenen Wortbedeutungen von Moderieren vor Augen hält, dann meint das zum einen „sich mäßigen“, und das heißt, dass ich mich selbst mäßigen muss, dass aber auch die Referenten und die Diskussionsteilnehmer sich mäßigen müssen. Und eine andere Wortbedeutung ist das Züchtigen. Ich möchte hier natürlich nicht den Zuchtmeister spielen, aber ich weise vorsichtshalber darauf hin, dass wir selbstverständlich versuchen müssen, uns an den Zeitrahmen zu halten. Zunächst soll es das gewesen sein mit einer kleinen Vorrede. *** Grothe: Herzlichen Dank, Herr Härter, für Ihr einleuchtendes Referat über den Verfassungsschutz im Deutschen Bund, das einerseits noch einmal die Übernahme von Elementen aus dem Alten Reich gezeigt hat, das andererseits aber auch aktuelle Dimensionen aufwies: Überwachung von Abgeordneten, grenzübergreifende Kontrollen usw. Ich darf die Aussprache eröffnen. Herr Simon. Simon: Ich bin überrascht über die Reichweite und Tiefe der Schnüffelei, die da betrieben wurde. Diese zahlreichen Daten, die da erhoben und zusammengetragen wurden, das verlangt doch einen ziemlich ausgebauten Sicherheitsapparat. Meine Frage wäre: Wo war der? Das kann doch nicht alles die-
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Aussprache
se Kommission selbst gemacht haben; der Kommission muss doch die Möglichkeit offengestanden haben, auf die schon recht ausgebauten Apparate in den Einzelstaaten zurückzugreifen. Und das erstaunt mich doch, denn eigentlich war ja erst kurz vorher überhaupt so etwas wie eine moderne Vollzugspolizei entstanden. Preußen hatte sogar erst ab 1848 eine Polizei im modernen Sinne, eine Vollzugspolizei. Was waren das für Geheimpolizeien, die alle diese Daten ermittelt haben? Grothe: Wollen Sie gleich antworten, Herr Härter? Härter: Ja. Zunächst einmal kann man den Begriff der modernen Polizei nicht so einfach auf diese Zeit des Vormärz applizieren. Es ist völlig richtig, dass moderne Vollzugspolizeien erst allmählich entstehen. Von der Funktion der politischen Polizei her haben wir aber Gerichte und eben Polizeiorgane wie die beiden Kommissionen in Mainz und Frankfurt, wenn wir sie so nennen dürfen, die eingebunden sind. Diese Kommissionen haben von den Innenministerien Informationen erhalten, auch von den Außenministerien und den Diplomaten über das politische Exil. Die Kommissionen haben grundsätzlich verlangt – für die Frankfurter Kommission war das sogar als Pflicht statuiert worden –, dass in jedem politischen strafrechtlichen Verfahren und auch in polizeilichen Ermittlungsverfahren die zuständigen Behörden der Gliedstaaten Informationen an die Kommissionen weitergeben. Sie waren dazu verpflichtet, und ein Gericht durfte eigentlich kein Urteil sprechen, ohne dass diese Kommission Informationen aus dem Verfahren erhalten hat. Also, in diesem Sinne, handelt es sich nicht um eine Länderpolizei oder einen Länderverfassungsschutz, der im Deutschen Bund tätig war, sondern um ein Ensemble von unterschiedlichen Behörden, vom Ministerium über die allmählich entstehenden politischen Polizeien bis zu den Gerichten, die Informationen zum Schutz der Verfassung liefern, was auch zu Friktionen führt, weil sich manche Gerichte auch strikt weigerten, dieses zu tun. Von daher war das alles in der Praxis höchst problematisch, aber von der Idee her modern. Grothe: Der Nächste ist Herr Kotulla. Kotulla: Herr Härter, ich fand Ihre Übersicht sehr beeindruckend, habe aber trotzdem noch ein paar Rückfragen: Sie sprachen über den Verfassungsschutz seitens des Bundes. Welche Verfassung sollte der Bund denn jeweils geschützt haben? Sie erwähnten die Landesverfassungen, aber auch die Bundesverfassung. Selbst wenn es vielleicht etwas pingelig klingen mag: Der Bund war ein Staatenbund, hatte also keine Verfassung im eigentlichen Sinne. Ihm lagen stattdessen völkerrechtliche Verträge zugrunde. Ich verwende auch häufig den Begriff „Bundesverfassung“, aber streng genommen ist dies nicht korrekt.
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Des Weiteren sagten Sie, die Bundesexekution wäre als Institution letztlich eher bedeutungslos gewesen. Ich möchte dem widersprechen. Die Bundesexekution war ein Erfolgsmodell. Der Umstand, dass man sie selten tatsächlich bemühen musste, ansonsten zumeist die Androhung ausreichte – ich denke etwa an Braunschweig –, zeigt, dass man es nicht oft zum Äußersten kommen ließ. Es wurde spätestens dann eingelenkt, wenn bundesseitig der Exekutionskommissar bestimmt worden war. Dann merkte offenbar der Betroffene, dass es für ihn ernst würde und fügte sich. Dann vielleicht noch eine Anmerkung zu Ihrer Frage im Hinblick auf die Bundeskommissionen, insbesondere die Untersuchungskommission: Letztere etwa hatte bemerkenswert weitreichende Kompetenzen. Sie durfte sogar, wenn es um sogenannte politische Vergehen und Verbrechen ging, Kommissare zu den eigentlichen Landesermittlungsbehörden schicken. Diese Landesermittlungsbehörden waren gehalten, dem Kommissar die Unterlagen auszuliefern bzw. auf Verlangen sogar den Delinquenten auszuliefern, sodass dieser vor der Kommission selber Rede und Antwort zu stehen hatte. Und vielleicht zum Schluss noch zu den Aufgaben der Bundesversammlung: Diese hatte doch auch justizielle Aufgaben, nicht zuletzt im Schlichtungsbereich. Hierzu möchte ich Sie noch um ein paar klarstellende Erläuterungen bitten. Danke. Härter: Zum ersten Punkt: Ein Staatenbund hat keine Verfassung. Also als Historiker wehre ich mich immer ein bisschen dagegen, solche idealtypischen Modelle dem Deutschen Bund überzustülpen. Ich habe ja gesagt, dass er sich selbst als Staatenbund definiert hat, aber letztlich nur wie ein Bundesstaat funktionieren konnte. In dieser Beziehung sehe ich sehr viel stärker eine Verfassungsstruktur, die aus dem Alten Reich kommt und die meines Erachtens auch die praktische Politik und das Verfassungsverständnis der Zeitgenossen geprägt hat. Und dieses Verfassungsverständnis, auch im Hinblick auf die Schutzgüter, wurde ja explizit definiert und es impliziert ein föderales Verfassungsschutzmodell, in dem man einerseits souveräne Gliedstaaten hat, deren Verfassung auch im begrenzten Umfang geschützt werden soll, in dem aber auch Aktivitäten und Verfassungskonflikte, die aus den Gliedstaaten selbst oder zwischen den Gliedstaaten entstehen können sowie soziale revolutionäre Unruhen auch als eine Bedrohung der Verfassung wahrgenommen wurden. Und dies wird so benannt in den Gesetzen des Bundes, in denen es um die „Verfassung des Bundes“ geht, die auch explizit als Schutzobjekt benannt wird. Also insofern ist das Verständnis der Zeitgenossen, das sich entwickelt, dass die Verfassung des Bundes ein Schutzobjekt ist, das mittels der dargestellten verschiedenen, durchaus defizitären, Instrumente des Verfassungsschutzes geschützt werden soll. Es entsteht dabei keine, um Missverständnissen vorzubeugen, moderne Verfassung des Bundes und es gibt auch keinen modernen systematischen Verfassungsschutz, sondern er entwickelt sich in dieser Gemengelage von älterem Verfassungsver-
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ständnis und teils neuen Instrumenten. Ich habe ja versucht zu zeigen, dass diese Entwicklung der Verfassungsschutzfunktion aufeinander bezogen ist und auch so wahrgenommen wurde, wie das im Alten Reich nicht wahrgenommen wurde. In der Hinsicht entspringt die Bundesexekution eher diesem älteren Verfassungsverständnis und Modell des Alten Reiches und dessen Exekutionsordnung. Da gibt es Elemente, die in die Bundesexekutionsordnung übernommen worden sind, aber auch die gleichen strukturellen Defizite und Probleme durch das komplexe Verfahren und das Übertragen der Exekution auf einzelne Mitglieder mit den Rivalitäten zwischen Preußen und Österreich. Von der strukturellen Seite her folgt die Bundesexekution eher einem Modell, das noch im Alten Reich verankert ist und in der Hinsicht auch „defizitärer“ ist. Ich gebe Ihnen völlig Recht, dass die symbolisch präventive Funktion im Kontext aller anderen Instrumente des Verfassungsschutzes – ich habe diese nur im Nebensatz abgehandelt – zentral und wichtig ist. Aber schon 1850 / 52 und erst recht 1866 zeigt sich, dass dies nicht mehr wirksam ist, weil nach der Revolution von 1848 / 49, zugespitzt, Verfassungsschutz nach dem Muster des Alten Reiches und dessen Exekutionsordnung nicht mehr funktionieren kann. Zu den Kommissionen danke ich für den Kommentar, dem ich hier nichts hinzufügen möchte. Die Rolle der Bundesversammlung ist dagegen sehr schwierig zu bewerten, weil wir letztlich gar nicht wissen, mit welcher Intensität sie sich tatsächlich dem Verfassungsschutz angenommen hat. Von den Austrägalverfahren werden viele letztlich an die Gerichte überwiesen. Ich bin mir daher nicht sicher, inwieweit die Bundesversammlung in diesem Bereich des justiziellen Verfassungsschutzes tatsächlich ihre SchlichtungsMediatorenfunktion wahrnehmen konnte, die sie als politisches Gremium belastete. Und als politisches Gremium hatte sie Schwierigkeiten, Entscheidungen in Verfassungskonflikten zu legitimieren, und zwar so, dass sie auch von den Betroffenen anerkannt wurden. Deswegen denke ich, ist man relativ häufig im Austrägalverfahren auf Landesgerichte ausgewichen, deren Entscheidungen eine andere juridische Qualität im Hinblick auf die Lösung der Verfassungskonflikte hatte. Ansonsten hat die Bundesversammlung aber Verfassungsschutzaktivitäten (z. B. der Mainzer und Frankfurter Kommissionen) koordiniert. Grothe: Im Hinblick auf die Zeit möchte ich die Frageliste jetzt schließen. Vielleicht können wir auch gleich einige Fragen zusammen oder hintereinander stellen und dann gemeinsam beantworten lassen. Ich habe als nächsten Redner Herrn Tschentscher. Tschentscher: Vielen Dank. Aus schweizerischer Sicht ist die Periode deshalb interessant, weil deutsche Liberale in die Schweiz geflüchtet sind und dort zum Teil politisch sehr aktiv geworden sind. Das gilt besonders für die Phase der Regeneration, also die 1830er Jahre. Es gilt aber letztlich auch
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schon für die Restauration und dann noch einmal speziell bei den Bedenken der europäischen Großmächte im Zusammenhang mit dem Sonderbundskrieg. Meine Frage dazu wäre jetzt: Inwieweit ist dieser Nachrichtendienst auch mit einer informatorischen Nacheile verbunden gewesen? Hat man also die Deutschen, die dann im Ausland politisch aktiv waren, auch erfasst und weiterverfolgt? Das wäre jetzt aus verfassungshistorischer Sicht in der Schweiz sehr interessant zu wissen. Und das Gegenstück dazu: Hat es eine Kooperation mit einzelnen schweizerischen Kantonen gegeben? Denn deren Polizeibehörden waren zum Teil auch misstrauisch gegenüber diesen deutschen Exilanten, die plötzlich politisch aktiv wurden. Danke. Grothe: Sollen wir vielleicht ein bisschen sammeln? Herr Schmidt steht auf der Rednerliste. Schmidt: Herr Härter, ich bin das Gefühl nicht losgeworden, dass das Wort Verfassungsschutz in Ihrem Vortrag an vielen Stellen nur eine euphemistische Umschreibung für Repressionen war, und ich habe mich gefragt, warum mir dieser Gedanke immer beim Deutschen Bund kommt und eigentlich nie beim Alten Reich. Darüber müsste man vielleicht einmal nachdenken. Hängt das ein bisschen damit zusammen, dass wir, etwa bei den Karlsbader Beschlüssen, erst einmal nachdenken müssen, was da eigentlich geschützt wird, wer sich als Verfassungsschützer ausgibt und welche Verfassung eigentlich geschützt werden soll, bevor wir so weiter diskutieren können, wie Sie das völlig richtig zu Recht gemacht haben? Aber ich habe bei Ihrem Vortrag auch weitergedacht und mich gefragt, wenn man den Staatsschutz der DDR so ansieht, dann hat auch der geschützt. Dann können wir ähnlich wertneutral über diesen reden, wie Sie das jetzt über den Deutschen Bund getan haben. – Völlig korrekt, wie ich glaube, aber ohne den Kontext, den gestern Herr Klippel angemahnt hat. Grothe: Vielen Dank. Frau Westphal wollen Sie vielleicht auch noch fragen? Und dann können wir zu den Antworten schreiten. Westphal: Ich möchte anknüpfen an das, was Herr Simon vorhin gefragt hat. Es geht mir noch einmal um das Verhältnis zwischen Bund und Ländern und insbesondere um das Kommissionswesen und die Kontinuitäten zum Alten Reich. Du hast die Exekutionsordnung sehr betont, ich würde aber vor allem an das Kommissionswesen des Reichshofrates denken. Und da stellt sich für mich die Frage, ob hier, teilweise ganz bewusst, an solche Kontinuitäten angeknüpft wurde, weil bei den Kommissionen auch ein integrativer Aspekt mitzubedenken ist. Man bedient sich ganz bewusst der Apparate, Institutionen und Instrumente der einzelnen Territorien und Territorialfürsten. Dabei spielt der integrative Aspekt eine Rolle, also die Beteiligung der Länder zum Schutz der Verfassung, eigentlich eine Form der Akzeptanz.
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Härter: Kurz zu Herrn Tschentscher: Die Schweiz spielt tatsächlich eine Rolle, so wie Frankreich auch. Es gibt eine Art „informationelle Nacheile“; Nacheile ist allerdings ein rechtliches Instrument, das im akuten Fall die Möglichkeit umfasst, jemanden an der Grenze festzunehmen. Im Sinne der Informationserhebung über politische Flüchtlinge gab es freilich auch Kooperation mit der Schweiz und den einzelnen Kantonen, vor allem auf der Ebene einzelner Polizei- oder exekutiver Behörden im „kleinen Grenzverkehr“. Es gab zudem massive Versuche seitens des Bundes und seitens Österreichs, die Schweiz dazu zu bringen, dass sie mehr politische Flüchtlinge ausliefert, oder solche erst gar nicht aufnimmt; weiterhin Druck, damit das Schmuggeln von politischen Schriften aufhört usw.; die Schweiz beugte sich dem teilweise, verschärfte ihr Asylrecht, das nicht mehr so liberal gehandhabt wurde, und insbesondere nach 1848 / 49 schloss sich die Schweiz der Politik an, jeden, der verdächtig war, eine wirkliche politische Gewalttat, ein Attentat oder etwas Ähnliches vollbracht zu haben, auszuliefern; aber oft schob die Schweiz politisch Verdächtige auch weiter ab. Zu Herrn Schmidt: Verfassungsschutz und Repression: Muss man diesen Kontext immer besonders betonen und herstellen? Und dann das Alte Reich als liberal und den Deutsche Bund als repressiv charakterisieren? Ich meine, sicher ist das zentrale Mittel und die zentrale Funktion von Verfassungsschutz im Deutschen Bund Repression im Hinblick auf die politische Opposition, wobei das Alte Reich ganz sicher nicht nur liberal ist, denn 1792 / 93 und bei den Unruhen im Gefolge der Französischen Revolution ging das Reich genauso vor, wie der Deutsche Bund: mit militärischen und polizeilichen Mitteln. Schmidt: Nein! Härter: Aber sicher. Und es hat eine gleiche normative Grundlage. 1792 / 93 werden sozusagen die Karlsbader Beschlüsse fast exakt vorformuliert, die werden 1819 nur übernommen: Der Reichstag verabschiedet eine Zensurgesetzgebung, die Universitätskontrolle, das Verbot von Verbindungen usw. Das ist identisch mit den polizeilichen Maßnahmen des Bundes und auch wenn vorher das Reichskammergericht eingeschaltet war, die Exekution gegen Lüttich und Ähnliches wird mit militärischer Gewalt vorgenommen und bildet eine Option des Verfassungsschutzes. Und der ist in dem Fall des Alten Reiches auch Schutz einer Herrschaftsordnung; durch die Reichsgerichtsbarkeit in gewisser Weise liberaler und flexibler; und er erscheint auch so, weil er nicht so durchgeformt ist. Aber es ist immer auch Schutz der Herrschaftsordnungen, es ist immer auch bezogen auf einzelne Gliedstaaten – Österreich und Preußen. Insofern würde ich Altes Reich und Deutschen Bund nicht gegeneinander setzen, sondern Verfassungsschutz inkludiert immer Staatsschutz und Schutz einer Herrschaftsordnung. Und wie wir diese Herrschaftsordnung bewerten, hängt von den Umständen und Perspektiven
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ab. Ich habe mich jetzt einer expliziten Bewertung des Deutschen Bundes entzogen; man könnte dies versuchen, aber mir ging es nicht darum. Sondern um die langfristige Entwicklung der Instrumente des Verfassungsschutzes. Zu Siegrid Westphal: Zu den Kommissionen des Reichshofrats gibt es einen großen Unterschied. Die Zentralkommission des Deutschen Bundes ist Polizeibehörde, im Grunde politische Polizeien, die Informationen sammeln, verarbeiten und weitergeben. Sie sind niemals exekutiv oder gerichtlich tätig, insofern können sie nicht integrativ vorgehen. Es gibt natürlich auch Exekutionskommissionen, das heißt, bei der Bundesexekution werden einzelne Mitglieder damit beauftragt, die Exekution durchzuführen, das folgt dann eher dem Muster des Alten Reiches. Da mag auch der integrative Aspekt eine Rolle gespielt haben, aber letztlich, und so auch im Alten Reich, ging es darum, Kreisstände und im Fall des Bundes Bundesmitglieder zu beauftragen, die machtpolitisch und militärisch in der Lage waren, eine Exekution überhaupt durchzuführen. Und in einem zweiten Schritt geht es auch darum, und so auch im Alten Reich, die mächtigen Mitglieder irgendwie in den Schutz der Verfassung einzubinden; damit entsteht aber auch ein Hebel, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Mitglieder einzumischen. Grothe: Herzlichen Dank. Ich darf noch einmal mit Verweis auf den Mäßigungsaspekt, also Moderation als Mäßigung, um kurze Fragen und kurze Antworten bitten. Zwei Gruppen möchte ich noch bilden. Es sind insgesamt noch fünf Fragen: Herr Brauneder zunächst, Herr Schönberger, Herr Mußgnug, und dann gibt es noch eine zweite kurze Runde. Brauneder: Ich möchte zwei, drei Bemerkungen machen, die nicht unbedingt ein härterisches Koreferat auslösen müssen. Die erste zur Verfassung des Deutschen Bundes. Ich darf Sie, Herr Härter, noch ergänzen: Es gibt eine Fülle von Buchtiteln: „Die Verfassung des Deutschen Bundes“, „Die Bundesverfassung“. Also für die Zeitgenossen hatte der Deutsche Bund eine Verfassung. Die zweite Ergänzung, Herr Härter, wenn Sie noch gestatten, Stichwort von mir: Metternich’sches Spitzelwesen. Woher kamen die Informationen? Das ist ja nahezu bis heute sprichwörtlich. Es gab einen immensen Spitzelapparat, der auch ins Ausland hinausreichte. 1866, das war bitte keine Bundesexekution, auch wenn es in vielen Lehrbüchern so steht, es war eine Exekution Artikel 2 lit. Wiener Schlussakte, und da es genau keine Bundesexekution war, konnte ja Preußen sagen, die Bundesverfassung ist gebrochen, wir treten daher aus dem Deutschen Bund aus. Also wenn man Bundesexekution sagt, dann wird das Verhalten von Preußen eigentlich nicht verständlich. Und schließlich noch eine Frage: Sie haben erwähnt die Jakobinergesetze 1792 / 93. Hat man die als übergeleitet da angesehen? Der Deutsche Bund hat ja bewusst die Rechtsnachfolge nach dem Alten Reich abgelehnt. Oder war das ebenso eine Idee, die man übernom-
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men hat? Oder war man formell der Meinung, diese Gesetze gelten im Deutschen Bund? Schönberger: Zunächst eine kurze Bemerkung zur Staatenbund-Bundesstaat-Problematik. Man muss hier mitbedenken, dass die Dogmengeschichte im Grunde erst später versucht, die Begriffe zu klären. In der Zeit ist das ja noch sehr im Fluss, insofern ist auch die Redeweise von der Verfassung ganz naheliegend. Die Zeitgenossen kennen ja die Unterscheidung zwischen Staatenbund und Bundesstaat in dieser Intensität gar nicht. Die kommt ja erst hinterher, sie wird ja meistens erst von den Bundesstaaten aus rückblickend gemacht, um die Staatenbünde abzuwerten. Deshalb ist die Unterscheidung so problematisch; sie führt immer dazu, dass man die Staatenbünde systematisch unterschätzt. Gerade der Deutsche Bund ist ein gutes Beispiel dafür, was alles möglich war. Wir kennen die vergleichbare Debatte im Übrigen aus der heutigen Diskussion über die Natur der Europäischen Union. Auch dort führt sie nicht weiter. Was ich aber in der Sache sagen wollte, ist eigentlich etwas anderes. Müssen wir nicht noch einmal genauer darüber nachdenken, was eigentlich Verfassungsschutz in föderativen Systemen heißt? Ist der föderative Verfassungsschutz nicht immer verbunden mit der Frage nach einer gewissen Homogenität des Bundes? Wird also über den föderativen Verfassungsschutz nicht irgendeine Form von Mindestanforderungen an Gemeinsamkeit hergestellt? Im Deutschen Bund geschieht das über das monarchische Prinzip und ähnliche Figuren. Wir kennen es aber auch aus dem heutigen Europarecht bei der Frage, welche Anforderungen die Union an die innere Organisation ihrer Mitgliedstaaten stellt. Denken Sie als aktuelles Beispiel an die Debatte über die Verfassungsentwicklung in Ungarn. Was hat es mit derartigen bündischen Verfassungsgarantien in Hinblick auf die Strukturen der Mitgliedsstaaten auf sich? Das scheint mir eine Grundsatzfrage zu sein, die immer wieder auftaucht. Diese Frage wird häufig nicht justiziell oder nur begrenzt justiziell bearbeitet, sondern gerade von den Räten der Regierungsvertreter bearbeitet. Das scheint mir ganz typisch zu sein, Herr Härter. Hierin liegt sicherlich ein Problem, weil hier politische Organe tätig werden, aber es scheint mir nicht untypisch, dass diese Fragen lange bei diesen Organen verbleiben. Wenn man noch etwas vorausdenkt in der Deutschen Verfassungsgeschichte, sieht man, auch der Bundesrat des Kaiserreichs hat so etwas noch gemacht und sich mit Verfassungskonflikten oder Fragen der Erbfolge in den Einzelstaaten befasst. Selbst der Staatsgerichtshof der Weimarer Republik hat in der Folge eine Hauptaufgabe bei den Verfassungskonflikten innerhalb der Länder gehabt. Dieser föderative Verfassungsschutz ist eine starke Wurzel der Verfassungsgerichtsbarkeit und gerade er ist nur begrenzt zu erfassen, wenn man sich von vornherein nur auf Gerichte konzentriert. Mußgnug: Ich möchte auf das Stichwort „monarchisches Prinzip“ zurückkommen. Wenn ich es richtig sehe, bildet es den Angelpunkt der Bundesver-
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fassung. Art. 57 der Wiener Schlussakte hat das monarchische Prinzip nicht ohne Grund sehr genau und vor allem sehr gebieterisch definiert. Die sogenannten Artikel-Gesetze – die „Bundesbeschlüsse über Maßregeln zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutschland“ von 1832 und 1834 zitieren Art. 57 WSchA ausdrücklich und stützen sich auf ihn. Damit haben sie das monarchische Prinzip zum zentralen Objekt des bündischen Verfassungsschutzes erhoben. Am monarchischen Prinzip festzuhalten, war Bundespflicht, deren Erfüllung der Bund weit konsequenter anmahnte als die an sich nicht minder wichtige Bundespflicht zum Erlass einer Repräsentativverfassung und damit zum Übergang von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie. Dabei, aber das nur nebenbei, reizt mich die Frage, ob die Pflicht zur Reinerhaltung der konstitutionellen Monarchie auch die nun einmal nicht monarchischen drei Hansestädte traf und, wenn ja, mit welchen Folgen. Art. 58 WSchA, der sicherstellt, dass „die im Bunde vereinten souverainen Fürsten […] durch keine landständische Verfassung in der Erfüllung ihrer bundesmäßigen Verpflichtungen gehindert oder beschränkt werden“ durften, erwähnt die Hansestädte auffälligerweise nicht, was aber wohl schwerlich bedeutet haben kann, dass sie sich durch ihre Verfassungen an der Erfüllung ihrer Bundespflichten hätten hindern lassen dürfen. Grothe: Vielen Dank für die Fragen, jetzt ganz kurze Antworten. Härter: Zu Herrn Brauneder: Die Beschlüsse von 1792 / 93 sind zwar nicht unmittelbar übernommen worden, aber sie waren verpflichtend in die jeweilige Gesetzgebung der Reichsstände integriert worden und aus dieser Gesetzgebung der Einzelstaaten des Deutschen Bundes hat man die Karlsbader Beschlüsse wieder teilweise extrahiert. Insofern gibt es schon eine Kontinuität. Herr Schönberger, mit Staatenbund-Bundesstaat haben Sie genau das Problem des Verfassungsschutzes benannt und zwar besonders im Hinblick auf die Verfassungen der Gliedstaaten, die ja Verfassungsautonomie besitzen – und das ist ja auch die Frage von Herrn Mußgnug. Diesbezüglich hatte der Bund nur die eine einzige Lösung, die 1850 / 52 in Kurhessen zur Ausführung kam, die Bundesintervention bei Änderungen der Verfassungen der Gliedstaaten. Wobei die Intervention in Kurhessen – ich denke diesbezüglich anders als Herr Kotulla – legitim war, denn durch Bundesrecht und Gesetzgebung war ein Veränderungsverbot postuliert worden, dass die Verfassungen nicht vom monarchischen Prinzip abweichen dürfen und auch die politischen Veränderungsmöglichkeiten der Landstände wurden begrenzt. Erscheint durch Verfassungsänderungen in Gliedstaaten die Bundesverfassung als gefährdet, war es zulässig, einzugreifen und die Verfassung des Gliedstaates abzuändern. Insofern wurde auch über politisch-polizeilichstrafrechtliche Gesetzgebung ein diffuses Kontrollrecht installiert, und da-
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mit eine Möglichkeit des Abgleichs oder gar eine „Homogenisierung“ der Länderverfassung bezüglich weniger Prinzipien. Die „Lösung“ solcher Verfassungskonflikte bestand in der Intervention; justizielle Möglichkeiten der Verfassungsänderung bzw. Kontrolle waren nicht vorgesehen. Das führte zu Konflikten und wurde auch von den Zeitgenossen kaum anerkannt, denn auch die Mitgliedsstaaten konnten letztlich nicht anerkennen, dass der Bund per Intervention ihre Verfassung ändert. Insofern war die Bundesintervention für solche Fälle im Grunde nicht wirklich als Prinzip anerkannt und konnte wie 1850 / 52 nur machtpolitisch durchgesetzt werden. Das beantwortet glaube ich auch zum Teil Ihre Frage, Herr Mußgnug. Grothe: Vielen Dank. Jetzt noch zwei kurze Fragen. Herr Wißmann und Herr Willoweit. Wißmann: Vielen Dank. Ich möchte an dem begrifflichen Gegensatz von Verfassungsschutz und Schutz der Verfassung noch einmal anknüpfen. Sie haben uns ja den Verfassungsschutz im Grunde als Herrschaftsschutz und Machtschutz vorgeführt, auch institutionell auf Seiten der staatlichen Macht angesiedelt. Und meine ganz schlichte Frage wäre: Gibt es gegen diese Spielart des Verfassungsschutzes in der Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts auch schon Gegenstimmen, die aus der bürgerlichen Verfassungsbewegung heraus den Schutz der Verfassung bereits auch als Begrenzung von Herrschaftsmacht verstehen und also gegen den „Staatsschutz“ abgrenzen? Wie entwickeln sich da die Begrifflichkeiten? Dankeschön. Willoweit: Ich wollte eigentlich nur eine Bemerkung zur historischen Einordnung machen. Herr Härter, Sie haben sehr stark, und im Diskussionsbeitrag noch einmal, die Kontinuität mit dem Alten Reich betont. Ich meine, die Unterschiedlichkeit der beiden Systeme springt doch in die Augen. Hier geht es ja darum, dass das Verfassungssystem des Deutschen Bundes gegen die Masse der Bevölkerung, gegen sehr starken Impuls von unten geschützt werden muss. Im Alten Reich aber ist davon gar nichts zu merken, dass – außer in punktuellen Konflikten – das Volk oder das aufstrebende Bürgertum seine Verfassung loswerden möchte. Die haben sich ja gar nichts anderes vorstellen können, als dass es das Reich gibt. Dies ist auch eine kleine Anmerkung zum Konzept dieser Tagung. Was Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich ist, muss im 19. Jahrhundert Verfassungsschutz sein; das ist ja etwas fundamental anderes. Das ist der eine Aspekt. Wie hängt er mit dem vorhergehenden System zusammen? Aber wichtiger ist mir ein anderer Gedanke: Es ist ja eine Art Horrorkabinett, was Sie da vorgeführt haben. Ich habe übrigens unter den Namen, die Sie nannten, den Namen Siemann vermisst. Seine Arbeit zu den Anfängen der politischen Polizei und zu den Policeyvereinen war grundlegend. Für mich lautet die Frage: Ist da nicht eine Mentalität entstanden, die dann das, was wir im Deutschen Reich in Gestalt der Reichsfeinde
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vor uns haben, fortwirkt? Das ist wirklich eine Frage an die deutsche Geschichte. Hier ist über zwei Generationen hinweg ein repressives System kultiviert worden und es muss ja irgendwie die politische Klasse sehr stark geprägt und beeinflusst haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass ohne diese Zeit des Deutschen Bundes das Deutsche Reich im Umgang mit diesen ganzen Dissidenten, von den Katholiken bis zu den Sozialisten und liberalen Journalisten usw., anders verfahren wäre. Härter: Ganz kurz: Es gab Gegenstimmen zu dieser polizeilich-repressiven Entwicklung, vor allem Stimmen, die ein Bundes- oder Höchstgericht forderten. Aber es ist auch bezeichnend, dass z. B. die Badische Verfassung von 1849 genau diesen Zusammenschluss von innerer Sicherheit, politischem Strafrecht – also Hochverrat und Landesverrat – und Verfassungsschutz vollzieht. Von der strukturellen Seite her erscheint dies alles als ein bloß repressives polizeilich-präventives System; aber letztlich waren die meisten Zeitgenossen der Auffassung, dass es benötigt wird; auch die demokratische Verfassung von 1849 beinhaltete einen polizeilich-strafrechtlichen Verfassungsschutz, auf den man nicht verzichten wollte. Herr Willoweit, bezüglich der Kontinuitäten und Brüche habe ich jetzt besonders stark zu machen versucht, dass im Grunde die Modernisierungsleistung die polizeilich-strafrechtliche Seite des Verfassungsschutzes bildet oder den Umbruch vom Reich zum Bund markiert. Einen solchen hat das Alte Reich sicher nicht gehabt. Aber was die Konflikte betrifft, und zwar die Bedrohung durch Konflikte zwischen Mitgliedern von föderalen Gebilden, sehe ich durchaus Kontinuitäten. Diese sind im Alten Reich und auch im Deutschen Bund gegeben, gewinnen allerdings nicht mehr die frühere Virulenz. Insofern sind auch Bundesintervention und Bundesexekution im Grunde Verfahren, die bereits im Alten Reich ähnlich ausgeformt waren und im gewissen Umfang auch zum Zuge gekommen sind. Grothe: Herzlichen Dank für die Debattenbeiträge und natürlich auch insbesondere für die Antworten. Ich darf einen Kollegen, Michael Kotulla, nach vorne bitten, der den nächsten Vortrag hält.
Schutz der Verfassung in Einzelstaaten – Die Beispiele Württemberg und Bayern Von Michael Kotulla, Bielefeld I. Einführung Der Schutz der konstitutionellen Einzelstaatenverfassungen im 19. Jahrhundert soll in dem an mich herangetragenen Referatsthema unter dem Aspekt, inwieweit sich darin Vor- und Frühformen von heutiger Verfassungsgerichtsbarkeit erkennen lassen, beleuchtet werden. Bei diesem Schutz geht es zwar allgemein formuliert um prinzipiell alle rechtstechnisch getroffenen Vorkehrungen zur Beachtung und Befolgung der in den Verfassungsvorschriften kodifizierten Maßgaben durch die von der Verfassungsordnung bestimmten (Staats-)Organe; oder anders gewendet: um die Vermeidung des durch die Organe möglichen Missbrauchs. Doch wird sich der hiesige Beitrag angesichts des insoweit ausschließlich auf die „Vor- und Frühformen von (unter der Ägide des Grundgesetzes in Deutschland üblicher, sc.) Verfassungsgerichtsbarkeit“ fokussierenden Generalthemas naheliegender Weise nur mit den vom jeweiligen Staatsverfassungsrecht überhaupt so etwas wie Justitiabilität von staat(sorganschaft)lichen Handlungen bestimmenden Rechtsinstituten zu befassen haben. Damit werden sich meine Ausführungen schon mangels anderer judizieller Ausprägungen im konstitutionellen Verfassungsrecht des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf die sog. Ministeranklage konzentrieren. Diese war indes bereits in der zeitgenössischen Literatur nicht unumstritten: Den einen galt sie als ein zentrales, wenn nicht als das zentrale Instrument des Verfassungsschutzes,1 den anderen als ungeeignet,2 eben als „etwas Unzweckmäßiges“3. In jüngerer und jüngster Zeit überwiegt indes eindeutig die positive Einschätzung.4 Ob und gegebenen1 Z. B. Hans Frisch, Die Verantwortlichkeit der Monarchen und höchsten Magistrate, Berlin 1904, S. 104; Ernst Maurer, Die Ministerverantwortlichkeit in konstitutionellen Monarchien, 1899, S. 6; Friedrich Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, Gießen 1845, S. 423. 2 Z. B. Otto Bähr, Der Rechtsstaat, Kassel 1864, S. 80; Johann Caspar Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, München 1852, S. 143; Romeo Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen Staatsrechts, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1847, S. 70; Robert von Mohl, Die Verantwortlichkeit der Minister in Einherrschaften mit Volksvertretung, Tübingen 1837, S. 78. 3 Friedrich Bülau, Die Behörden in Staat und Gemeinde, Leipzig 1836, S. 112.
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falls inwieweit diese tatsächlich berechtigt ist, soll an dieser Stelle noch dahinstehen. Die nachfolgenden Ausführungen werden sicherlich Aufschlüsse geben können. Thematisch beschränke ich mich in erster Linie auf die verfassungsrechtlichen Gegebenheiten in den Königreichen Bayern und Württemberg, die beide fast zeitgleich (1818 und 1819) konstitutionelle Verfassungen5 mit die Ministeranklage betreffenden Regelungen6 erhielten. Dass diese beiden Verfassungsurkunden für den gesamten deutschen Konstitutionalismus repräsentativ wären und daher stellvertretend für die Vielzahl der anderen Verfassungen stehen können, soll und darf aber nicht behauptet werden. Die Vielzahl der unterschiedlichsten einschlägigen Regelungen in anderen deutschen Einzelstaaten zu diesem Themenkomplex spricht eindeutig dagegen. Gleichwohl erscheinen die hier gewählten beiden frühkonstitutionellen Verfassungen immerhin dazu geeignet, die extreme Bandbreite dessen, was im Rahmen der Ministeranklage geregelt war, einigermaßen zu veranschaulichen. Bevor wir uns jedoch dem eigentlichen Kern meiner Ausführungen zur Ministeranklage im Verfassungsrecht Bayerns und Württembergs zuwenden, erscheint zunächst eine kursorische Darstellung des konstitutionellen Systems mit seinen wesentlichen Merkmalen angebracht:
II. Herausbildung und Merkmale des konstitutionellen Systems Bei den nach Ende des Heiligen Römischen Reiches erlassenen deutschen Einzelstaatenverfassungen7 handelte es sich entweder um „alt“ständische bzw. (mit Blick auf Städte) „alt“patrizische oder um „neu“ständische. Erstere waren solche, die sämtlich auf dem zumeist den vorherigen Jahrhunderten entstammenden und bis dahin konservierten Stände- bzw. Patriziatswesen basierten, letztere waren Repräsentativverfassungen. Grundsätzlich 4 Vgl. etwa Peter Badura, Die parlamentarische Verantwortlichkeit der Minister, Zeitschrift für Parlamentsfragen, 11 (1980), S. 573 (573 f.); Wilhelm Eugen Dallinger, Die Ministeranklage in der Geschichte des bayerischen Verfassungsrechts, 1934, S. 59; Friedrich Greve, Die Ministerverantwortlichkeit im konstitutionellen Staat, 1977; S. 13; Richard Schmidt, Die Grundlinien des deutschen Staatswesens, Leipzig 1919, S. 44. – Siehe dazu auch Tobias Alexander Krammerbauer, Die Ministerverantwortlichkeit und die Vorformen sonstiger Verfassungsgerichtsbarkeit in Württemberg zwischen 1815 und 1918, Frankfurt a. M. 2011, S. 25 f. 5 Verfassungs-Urkunde des Königreichs Baiern vom 26.5.1818 (Gesetzblatt für das Königreich Baiern 1818, Sp. 101 ff. – abgedruckt bei Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806 – 1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen, 2. Bd.: Bayern, Berlin 2007, Dok. 376; Verfassungs-Urkunde für das Königreich Württemberg vom 25.9.1819 (Königl. Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1819, S. 634 ff.). 6 Tit. X §§4 – 6 BayVU 1818, §§ 52, 195 – 205 WürttVU 1819. 7 Übersicht bei Michael Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495 – 1934), Berlin 2008, Rn. 1404.
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unterschieden sie sich in der Art, wie die jeweils von ihnen vorgesehene und mit gewählten Deputierten beschickte landständische Vertretung ihrem jeweiligen Landesherrn entgegentrat: entweder als egoistische Interessenwalterschaft der einzelnen Landstände (Ritter, Geistlichkeit, Städte, Zünfte, Universitäten, ggfs. Bauern), deren Mitglieder lediglich ein (imperatives) Mandat der jeweils von ihnen vertretenen Stände besaßen (altständische Verfassungen), oder als Vertretung des gesamten Volkes mit dem freien Mandat eines jeden Abgeordneten (neuständische Verfassungen). Ungeachtet aller divergierenden Ausprägungen wurde zwischen den Ständen und ihrem Landesherrn stets um den legitimen Anteil ersterer an der obrigkeitlichen Herrschaftsausübung gerungen. So gesehen bezweckten alle Verfassungen die Einschränkung der monarchischen Hoheitsgewalt. Doch machte der Monarch den Ständen in dem einen Falle Zugeständnisse politischer Mitwirkung mit Blick auf die Berücksichtigung ständischer Sonderinteressen, in dem anderen Falle der gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisse wegen. Allerdings waren die Stände im Verhältnis zu ihrem Monarchen nur in der letztgenannten Konstellation die Interessenvertretung des gesamten Landes. Sie avancierten zu den die Belange aller Bevölkerungskreise wahrnehmenden politischen Faktoren und wurden in dieser Funktion gleichsam als identisch mit dem Land selbst behandelt. Streng genommen handelte es sich deshalb bei diesen „neu“ständischen Konstitutionen bloß um ständischvolksrepräsentative Mischformen. Trotzdem erfuhr das volksrepräsentative Element durch sie zweifellos eine prestigeträchtige Aufwertung. Wenngleich es an der Schwelle des Übergangs von der napoleonisch geprägten Staatenordnung Deutschlands zum Deutschen Bund immer noch an einer alle deutschen Staaten einheitlich erfassenden Kodifikationsidee fehlte, so begannen sich die neuständischen Verfassungen allmählich durchzusetzen.8 Diese vom Monarchen initiierte oder doch zumindest wesentlich geprägte Verfassungsgebung verfolgte verschiedene Ziele: Mit ihr sollten – gerade in den hier primär interessierenden süddeutschen Ländern – die neuerworbenen Gebiete und deren Bevölkerung in das vergrößerte Staatswesen integriert, die bereits erfolgte Verwaltungsreform verfassungsrechtlich fundiert und die eigene Souveränität bundes- und außenpolitisch abgesichert werden. Überdies zielte sie auf einen Ausgleich zwischen dem Monarchen und dem gesellschaftlich wie wirtschaftlich aufstrebenden Bürgertum. Mit diesen Verfassungen gaben die bis dahin entweder absolut oder unter feudal-ständischer Beteiligung regierenden Landesfürsten verbindlich kodifizierte Zusagen zur Selbstbeschränkung ihrer Herrschaftsgewalt. Ob sie nun auf Vereinbarung zwischen Volk(svertretung) und Herrscher beruhten (sog. paktierte Verfassungen) oder aber von Letzterem als vermeintlicher Beleg eigener Machtfülle einseitig erlassen wurden (sog. oktroyierte Verfas8
Näher dazu Kotulla (Fn. 8), Rn. 1408 ff.
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sungen), machte dabei keinen wesentlichen Unterschied. Stets wurde nämlich ein neuer Rechtsrahmen geschaffen, der als Ausweis politischer Rücksichtnahme auf diejenigen im Lande gelten konnte, deren Mitarbeit man um der Sicherung des dauerhaften Bestandes der monarchischen Machtstellung willen für unverzichtbar hielt. Fortan war der Monarch gegenüber seinen Untertanen eidlich an die Bestimmungen der „Konstitution“ gebunden. Das betraf nicht zuletzt die nunmehr von seiner Einwirkung unabhängig ausgeübte Rechtspflege sowie die verfassungsmäßig umrissenen Wirkungskreise der Landtage im Bereich der Gesetzgebung und Etatfeststellung. Hinzu kamen den Untertanen zugesicherte Grundrechte. Dennoch blieb der Monarch das Oberhaupt des Staates, das alle Rechte der Staatsgewalt von niemandem als sich selbst ableitete und in sich vereinigte. Eine eigenständige Legislative neben ihm gab es nicht, sondern nur die dafür mit bestimmten Mitwirkungsrechten ausgestatteten, als Volksvertretung fungierenden Landtage. Immerhin vollzog sich damit der Übergang zu einer verfahrensgebundenen Gesetzgebung. Das Recht zur Gesetzesinitiative lag vorerst aber noch ausschließlich beim Monarchen bzw. bei seiner Regierung.9 Erst allmählich wurde mit den moderneren konstitutionellen Verfassungen auch den Volksvertretungen das Initiativrecht eingeräumt.10 Wenngleich sich im Mitwirkungsrecht der Volksvertretungen an der Gesetzgebung wohl der wesentlichste Aspekt monarchischer Machtbegrenzung manifestierte, so blieb die Position des Monarchen doch auch diesen Organen gegenüber eine dominante, was sich schon an dem regelmäßig allein dem Landesherrn für die Kammern zustehenden Eröffnungs-, Vertagungs-, Schließungs- und Auflösungsrecht zeigte.11 Demgegenüber unterlag die Ausübung der landesherrlichen Exekutivgewalt nur insofern Einschränkungen, als sie zu ihrer wirksamen Ausübung nach einer Reihe von Verfassungen der Gegenzeichnung durch einen Minister bedurfte.12 Hierdurch übernahm der nach den Regeln des Konstitutionalismus einzig von der Gunst seines Monarchen abhängige Minister die Verantwortung gegenüber der Volksvertretung („Ministerverantwortlichkeit“). – Doch dazu später mehr. Dass die Person des Monarchen als selbst im Falle von Verfassungsverstößen in nahezu allen konstitutionellen Verfassungsurkunden für nicht zur Rechenschaft ziehbar („sakrosankt“) galt, schien deshalb folgerichtig.13 Die alleinige monarchische Verfügungsgewalt über das Militär blieb seitens der Verfassung unberührt. All dies unZ. B. § 172 WürttVU 1819. Z. B. § 97 KurhessVU 1831, Artt. 61 PreußVU 1848, 64 PreußVU 1850. 11 Z. B. Tit. VI § 23 BayVU 1818, Artt. 76 PreußVU 1848, 77 PreußVU 1850, § 186 WürttVU 1819. 12 Z. B. § 155 BraunschwNeueLandschO, 1832, § 151 Abs. 1 HannGG 1833, § 51 WürttVU 1819. 13 Vgl. etwa § 5 Abs. 2 BadVU 1818, Tit. II § 1 Abs. 2 BayVU 1818, § 5 HannGG 1833, § 4 Abs. 2 WürttVU 1819 (jeweils „heilig und unverletzlich“), Artt. 41 PreußVU 1848, 43 PreußVU 1850 (jeweils „unverletzlich“) – siehe auch unten III. 1. 9
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terstrich die weiterhin als „monarchisches Prinzip“ (Art. 57 WSA) bekannt gewordene zentrale Rolle des Monarchen. Eine Verfassungsurkunde existierte danach nämlich einzig kraft monarchischer Gewalt und nicht etwa umgekehrt.14 Dabei machte es insoweit auch keinen Unterschied, ob die Konstitution – wie etwa die bayerische von 1818 – eine vom Herrscher dem Land oktroyierte15 war oder ob es sich – wie bei der württembergischen von 1819 – um eine der wenigen zwischen dem Monarchen und seinen Ständen vereinbarte handelte.16 III. Ministeranklage im konstitutionellen Verfassungsrecht Bayerns und Württembergs Für gewöhnlich enthielten die konstitutionellen Verfassungen – so auch die Bayerns von 1818 und Württembergs von 1819 – besondere Vorschriften, die gewährleisten sollten, dass der Verfassung nicht zuwider gehandelt wurde.17 Auf diese Weise gedachte man, die verfassungsrechtlichen Errungenschaften zu sichern. Eine zentrale Rolle nahm dabei die in einer Vielzahl von deutschen Einzelstaatenverfassungen vorgesehene Ministeranklage ein.18 Sie war – wie eingangs schon erwähnt – streng genommen das einzige verfahrensmäßig ausgestaltete Instrument, dem in gewisser Weise so etwas wie ein an verfassungsgerichtliche Verfahren erinnerndes judikatives Prozedere beigemessen werden kann. Vorbilder für derartige Regelungen gab es bereits in England, den USA, Polen und Frankreich.19 Erste, letztlich aber wohl kaum mehr als die ohnehin selbstverständliche politische Verantwortung der Minister festschreibende Ansätze in Deutschland brachte Art. 20 der westfälischen Verfassung von 1807 zum Ausdruck. 1. Unverantwortlichkeit des Monarchen
Der Ministeranklage ist nur vor dem Hintergrund des allen konstitutionellen deutschen Verfassungen gleichermaßen zugrundegelegten Grundsatzes 14 Näher dazu Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806 – 1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen, 1. Bd.: Gesamtdeutschland, Anhaltische Staaten und Baden, Berlin 2005, Anm. 225 f. 15 Hartmut Maurer, „Die Verfassungsgewähr im konstitutionellen Staatsrecht des 19. Jahrhunderts“, in: FS Link, Tübingen 2003, S. 725 (727). 16 Im Text der Präambel selbst wird die württembergische Verfassungsurkunde sogar ausdrücklich auch als eine „vollkommene beiderseitige Vereinigung über folgende Punkte“ bzw. in § 205 Abs. 2 als „Vertrag“ bezeichnet. Außerdem wurde die Konstitution vom König und sämtlichen Mitgliedern der Ständeversammlung unterzeichnet. 17 Siehe insb. Tit. X BayVU 1818: „Von der Gewähr der Verfassung“, § 10 und X. Kapitel WürttVU 1819: „Von dem Staats-Gerichtshofe“. 18 Statt vieler weiterer: § 67 Satz 4 BadVU 1818, Tit. X § 6 BayVU 1818, Artt. 59 PreußVU 1848, 61 PreußVU 1850, § 199 WürttVU 1819. 19 Näher dazu Krammerbauer (Fn. 4), S. 25 ff.
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der monarchischen Unverantwortlichkeit zu verstehen. Die Person des Monarchen galt – wie bereits erwähnt20 – sowohl nach der bayerischen und der württembergischen Konstitution als „heilig und unverletzlich“. Ungeachtet der uns heute deutlich überhöht anmutenden Formulierung war die damit zum Ausdruck gebrachte rechtliche Unverantwortlichkeit des Herrschers keinen geheimnisvollen oder gar mystischen Erwägungen, sondern profanen Zweckmäßigkeitserwägungen geschuldet: Die Stabilität des Staates sollte nämlich nicht dadurch beeinträchtigt werden können, dass die oberste Autorität sich im politischen Tagesgeschäft aufrieb. Dass auch der Monarch gleichwohl zur Verfassungstreue verpflichtet war, verstand sich angesichts seiner Rolle als Verfassungsgeber eigentlich von selbst, dokumentierte sich aber auch regelmäßig verfassungsrechtlich, insbesondere durch den vom Herrscher bei Begebung der Konstitution oder bei Antritt seiner Regierung nach Maßgabe der jeweiligen Verfassungsurkunde21 zu leistenden Verfassungseid.22
2. Ministerverantwortlichkeit
Zwar vereinigten die Monarchen – so auch die Könige Bayerns und Württembergs – in ihren konstitutionell verfassten Staaten als jeweiliges Staatsoberhaupt in sich alle Rechte der Staatsgewalt, doch durften sie diese nur – wie auch in den beiden für den Konstitutionalismus insoweit typischen Verfassungsurkunden ausdrücklich fixiert23 – unter den dort niedergelegten Bestimmungen ausüben: a) Ihre rechtliche Verankerung fand die Ministerverantwortlichkeit in Württemberg in § 51 der dortigen Verfassungsurkunde von 1819. Diese bestimmte, dass alle die Staatsverwaltung betreffenden Verfügungen des Königs der Gegenzeichnung durch den „Departements-Minister oder Chef“ bedurften, wodurch ein solcher Amtsträger anstatt des Monarchen die inhaltliche Verantwortung dafür auch gegenüber der Ständeversammlung übernahm. Gleiches galt gemäß § 52 WürttVU 1819 für das selbständig im Rahmen des eigenen Ressorts Verfügte. Eine entsprechende Verantwortlichkeit war sogar für nachgeordnete Staatsbeamte vorgesehen (§ 53 WürttVU 1819). Demgegenüber fehlte es der bayerischen Konstitution von 1818 an einer entsprechenden ministeriellen Gegenzeichnungspflicht. Stattdessen waren die „Königlichen Staats-Minister und sämmtliche Staatsdiener“ – wie es in Tit. X § 4 lapidar hieß – für die „genaue Befolgung der Verfassung 20 21
Siehe Fn. 13. Z. B. Tit. X § 1 Bay. VU, Art. 54 Preuß VU 1848 und 1850, § 205 Abs. 2 Württ.
VU. 22 23
Zum Verfassungseid mit Blick auf Bayern siehe Kotulla (Fn. 5), Anm. 1399. Tit. II § 1 Abs. 1 BayVU 1818, § 4 Abs. 1 WürttVU 1819.
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verantwortlich“. Man ging also in beiden Staaten von der allgemeinen Beamtenverantwortlichkeit aus. Dass diese Verantwortlichkeit in Bayern auch gegenüber den Kammern galt, ließ sich nur daraus entnehmen, dass diese bei einem von ihnen für begründet erachteten Verfassungsverstoß durch eine der in Rede stehenden Personen das Recht zur gemeinsamen Beschwerdeführung beim König hatten. Erst mittels der Artt. 4 und 6 des Ministerverantwortlichkeitsgesetzes vom 4. Juni 184824 wurde auch für Bayern eine dem § 51 WürttVU 1819 vergleichbare Verantwortlichkeitsregelung für Minister und deren Stellvertreter eingeführt. b) Die konstitutionelle Ministerverantwortlichkeit zeichnete sich durch das Bestreben aus, die Regierungsgewalt möglichst umfassend an die Verfassung zu binden. Sie zielte auf den Schutz der Verfassung vor regierungsseitig erfolgenden rechtswidrigen Übergriffen. Die Ministerverantwortlichkeit beschränkte sich daher nicht nur auf die Verfassungsbindung des in seiner Person unverantwortlichen Monarchen, sondern erstreckte sich überdies auch auf das originäre, vom monarchischen Regierungshandeln eigenständige Ministerhandeln und die Handlungsweisen untergeordneter Amtsträger. Ungeachtet dessen bildete das Nebeneinander von unverantwortlichem Monarchen und verantwortlichen Ministern das Grundgerüst der konstitutionellen Staatsform. Wenn der prinzipiell weiterhin souveräne Monarch in seiner Person auch künftig materielle Regierungsgewalt ausüben können sollte, ohne dafür den Landständen gegenüber verantwortlich zu sein, so ließ sich eine gubernative Verfassungsbindung nur realisieren, sofern zumindest ein Minister für das monarchische Regierungshandeln verantwortlich zu machen war. Dementsprechend war die Begründung der Verantwortlichkeit allein an die individuelle Mitwirkung des Ministers beim monarchischen Regierungshandeln geknüpft. c) Ihrer Zielsetzung entsprechend war die Ministerverantwortlichkeit materiell auf die Verfassungsmäßigkeit des Regierungshandelns gerichtet: Es ging tatbestandsmäßig in Bayern um „vorsätzliche Verletzung der Staatsverfassung“ (Tit. X § 6 BayVU 1818) bzw. seit 1848 um schuldhafte Verletzung der Staatsgesetze (Art. 9 des Gesetzes vom 4.6.1848) oder in Württemberg um „verfassungswidrige Handlungen“ (§ 124 WürttVU 1819). Weitere Konkretisierungen, etwa in Gestalt von Regelbeispielen, wie sie in anderen konstitutionell verfassten deutschen Staaten – so z. B. Hessen-Darmstadt25 oder Kurhessen26 – verankert waren, gab es nicht. Umstritten blieb zunächst, ob sich die Verantwortlichkeit über die Verfassungsmäßigkeit des Regie24
Abgedruckt bei Kotulla (Fn. 5), Dok. 376 / 21. Art. 1 des Gesetzes über die Verantwortlichkeit der Minister und obersten Staatsbeamten vom 5.7.1821: Einstandspflicht der Minister für gesetzwidrige Handlungen und für die Nichterfüllung der Zusagen des Monarchen an die Stände. 26 § 81 KurhessVU 1831: Verantwortlichkeit des Innenministers für die verfassungsgemäße Einberufung der Ständeversammlung. 25
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rungshandelns hinaus generell auch auf die bloße Gesetzmäßigkeit des Handelns erstrecken sollte. Dagegen sprach, dass es zum Wesen des Konstitutionalismus gehörte, die Beschränkungen der monarchischen Regierung in einer dem Zugriff des Monarchen entzogenen Verfassungsurkunde abschließend niedergelegt zu haben. Für eine Ausweitung sprach eine möglichst wirksame Beschränkung der Regierungsgewalt. In der Verfassungspraxis setzte sich überwiegend die ausschließlich auf die Verfassungsmäßigkeit des Regierungshandelns abstellende Ansicht durch. Als insoweit repräsentativ für die württembergischen Verhältnisse dürfen zeitgenössische Feststellungen gelten, wonach „Verletzungen von andern gesetzlichen Bestimmungen, welche weder VerfassungsUrkunde, noch in ausdrücklichen Zusätzen zu derselben enthalten sind, […] niemals der Jurisdiction des Staatsgerichtshofes“
unterliegen würden.27 Demgemäß wurde 1823 der aus der Kammermitte gestellte Antrag auf Anklageerhebung gegen den württembergischen Finanzminister Ferdinand Heinrich August von Weckherlin beim Staatsgerichtshof wegen eines Verstoßes gegen das Steuergesetz von der Kammer einstimmig abgelehnt.28 Erst ab 1848 vollzog sich jedenfalls in Bayern ein mit einer neuen Rechtsetzung einhergehender Wandel. Jeden Staatsminister sollte nach Art. 7 des Gesetzes vom 4.6.1848 fortan sogar noch über die Verantwortlichkeit für gesetzmäßiges Amtshandeln hinausgehend die Verantwortlichkeit für dem „Landeswohl nachtheilige“ Regierungsakte treffen. Sofern es die subjektiven Verantwortlichkeitsvoraussetzungen anbelangte, bedurfte es in Bayern gemäß der Verfassungsurkunde von 1818 stets einer vorsätzlich begangenen Verfassungsverletzung; nach 1848 genügte indes bereits ein auf Fahrlässigkeit zurückzuführendes schuldhaftes Ministerhandeln. Damit hatten sich die Haftungsmaßstäbe seit 1848 also spürbar verschärft. Zuvor stand den Ständen bei nicht vorsätzlichen Verfassungsverletzungen nur ein an den König zu richtendes Beschwerderecht zu.29 In Württemberg wurde ein Verschulden als verantwortlichkeitsbegründende Voraussetzung für die Verfassungsverletzung tatbestandlich zwar nicht ausdrücklich verlangt, doch bejahte man auch dort das individuelle Verschuldenserfordernis, wobei ungeachtet heftiger Kontroversen ungeklärt blieb, ob nur vorsätzliches Handeln oder auch bloße Fahrlässigkeit die Ministerverantwortlichkeit auszulösen vermochte.30 Naturgemäß hing die praktische Wirksamkeit des Verantwortlichkeitstatbestandes in besonderem 27 Carl Friedrich Scheuerlen, Der Staatsgerichtshof im Koenigreiche Württemberg, Tübingen 1835, S. 60 f. 28 Näher dazu Krammerbauer (Fn. 4), S. 151 f. 29 Tit. X § 5 BayVU 1818. 30 Zu dem Diskussionsverlauf siehe Krammerbauer (Fn. 4), S. 167 ff.
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Maße von der Strenge der Verschuldensmaßstäbe ab. War es ohnehin schon schwierig, den Vorsatz nachzuweisen, so galt dies noch umso mehr, wenn in den Verfassungsurkunden anderer deutscher Staaten – wie etwa SachsenWeimar-Eisenach,31 Hannover,32 Kurhessen33 – sogar nur durch absichtliches Handeln eine Verantwortlichkeit begründet werden konnte. d) Die bayerische Verfassungsurkunde von 1818 proklamierte zwar in Tit. X § 6 ein sogleich noch zu behandelndes ständisches Anklagerecht für Verfassungsverletzungen, knüpfte an die in diesem Rahmen festgestellte Einstandspflicht der Minister aber keine bestimmten Rechtsfolgen. Dies wurde offenbar auch nicht für notwendig gehalten, da den Regelungen über die Ministerverantwortlichkeit zunächst ein eindeutig strafrechtliches Verständnis zugrundelag. Vor diesem Hintergrund durfte eine Strafe nur dann verhängt werden, wenn eine Tat vor ihrer Begehung unter Strafe gestellt war. Das bedeutete, dass die verfassungsverletzende Handlung obendrein nach dem Strafrecht mit Strafe bedroht sein musste. Dementsprechend wurde juristisch letztlich keine andere Ministerverantwortlichkeit als die nach den Strafgesetzen ohnehin bereits vorhandene begründet. Dies waren insbesondere die Tatbestände des Hochverrats in Bezug auf die Verfassung, Amtsmissbrauchs durch Begehung gemeiner Verbrechen, der Amtspflichtverletzung zum Schaden der Untertanen oder Bedrückung der Untertanen.34 Andere Fälle, in denen die Verfassungsverletzung nicht den Tatbestand eines der erwähnten Verbrechen oder Vergehen bildete, wurden nicht erfasst; insoweit klaffte offenkundig eine Lücke, zumindest wenn der verfassungsrechtlich statuierten Ministerverantwortlichkeit überhaupt eine eigenständige Bedeutung zukommen sollte. Das sollte sich erst nach 1848 ändern. Einen anderen Weg, nämlich den der primär staatsrechtlichen Verantwortung, zeigte die württembergische Verfassungsurkunde auf. Dort ging es zwar auch um Strafen, doch beschränkten sich diese grundsätzlich auf Verweise und Geldstrafen, Suspensionen und Entfernungen vom Amt sowie auf den vorübergehenden oder dauernden Landschaftsausschluss. Eine weitergehende strafrechtliche Verfolgung blieb unter bestimmten Voraussetzungen gleichwohl möglich. In diesem Zusammenhang hatte schon Bluntschli im Jahre 1867 angemerkt, dass die Möglichkeit des tatsächlichen Gebrauchmachens von der Ministeranklage zur Durchsetzung der Ministerverantwortlichkeit umso weniger in Betracht käme, je härter die in diesem Kontext angedrohten Strafen seien.35 § 125 SächsWeimarGG 1816. § 151 Abs. 3 HannGG 1833. 33 § 78 KurhessVU 1852. 34 Artt. 300, 352, 438, 449 f. bay. StGB von 1813. 35 Johann Caspar Bluntschli, in: ders. / K. Brater, Deutsches Staatswörterbuch, Bd. 10, 1867, S. 746 (754). 31 32
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Erst das Ministerverantwortlichkeitsgesetz von 1848 (Art. 9) sah dann auch in Bayern den württembergischen vergleichbare Folgen der Pflichtwidrigkeit vor. Nunmehr drohte als Konsequenz die einfache Entfernung aus dem Amte unter Belassung des gebührenden Ruhegehaltes, die Dienstentlassung ohne Ruhegehalt oder die Dienstentsetzung.
3. Ministeranklageverfahren
Sowohl die bayerische als auch die württembergische Verfassungsurkunde sahen zur Durchsetzung der Ministerverantwortlichkeit ein Anklageverfahren gegen Minister vor. Bei allen Unterschieden in der konkreten Ausgestaltung bestanden immerhin insoweit Gemeinsamkeiten, als zwischen dem Stadium der Anklageerhebung seitens der Ständeversammlung und demjenigen der Durchführung des sich daran anschließenden gerichtlichen Verfahrens unterschieden wurde. Tit. X § 5 BayVU 1818 gab nur beiden Kammern zusammen ein Recht zur Beschwerde über die Staatsminister und andere Staatsbehörden wegen Verfassungsverletzung. Über die Beschwerde konnte der Monarch entweder gleich selbst befinden oder sie dem Staatsrat oder der obersten Justizstelle entscheidungshalber übergeben. Mit Blick auf „einen höhern Staats-Beamten“ stand den Kammern überdies das Recht zu, einen solchen auch „wegen vorsetzlicher Verletzung der Staats-Verfassung anzuklagen“. Damit war den bayerischen Kammern ein förmliches Anklagerecht eingeräumt. Dem voranzugehen hatte eine genaue Untersuchung und Beschreibung der Anklagepunkte durch jede der beiden Kammern und ein jeweils einzeln gefasster, an den König zu richtender Anklagebeschluss (Tit. X § 6 Abs. 1 und 2 BayVU 1818). Diesenfalls war der in formeller Hinsicht in die Anklageerhebung einbezogene König allerdings von der eigentlichen Sachentscheidung ausgeschlossen. Er hatte die Angelegenheit vielmehr zwingend der obersten Justizstelle – also dem Oberappellationsgericht in München – zur Entscheidung zu übergeben und die Kammern von dem Ausgang des Verfahrens unterrichteten (Tit. X § 6 Abs. 3 BayVU 1818). Diesem Verfahren war wegen der damit begründeten faktischen Blockademöglichkeit des (verfassungsrechtlich unverantwortlichen!) Monarchen eine gewisse Missbrauchsanfälligkeit immanent. Verweigerte nämlich der König die Übermittlung des Anklagebeschlusses an das Gericht, so bestand keine Chance, das gerichtliche Verfahren in Gang zu setzen. Abgesehen davon war angesichts des Zustimmungserfordernisses beider Kammern zur Anklageerhebung das Zustandekommen einer Ministeranklage wegen der untereinander zumeist widerstreitenden Interessen ohnehin schwierig. Berücksichtigt man in materieller Hinsicht außerdem, dass eine Bestrafung ohnehin nur in Betracht kam, wenn sie sich auf einen allgemeinen Straftatbestand stützen konnte, so warf dies ein bezeichnendes Licht auf die Erfolgsaussichten der Ministeranklage.
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Hiervon kündet nicht zuletzt das insgesamt gesehen ein Einzelfall gebliebene, im Jahre 1831 gegen den damaligen Innenminister Eduard von Schenk angestrengte Verfahren, das bereits im Beschlussstadium an den Divergenzen zwischen beiden Kammern scheiterte.36 Demgegenüber sah § 195 WürttVU 1819 „zum gerichtlichlichen Schutze der Verfassung“ die Errichtung eines nur aus gegebenem Anlass zusammentretenden, dann aber aus einem Präsidenten und zwölf jeweils hälftig von König und Ständeversammlung bestimmten Richtern bestehenden (§ 196 WürttVU 1819) Staatsgerichtshofes vor. Im Unterschied zur bayerischen Konstitution, die nur den Rechtsweg zum regulären obersten Strafgericht eröffnete, war die Ministeranklage in Württemberg die Domäne eines eigens zu bildenden, nach staatsrechtlichen Maßstäben judizierenden Gerichtshofs. Auch die für das grundsätzlich öffentlich zu verhandelnde Verfahren vor diesem Gerichtshof geltenden Vorschriften lieferte der Verfassungstext gleich mit. Die Zuständigkeit bezog sich auf „Unternehmungen, welche auf den Umsturz der Verfassung gerichtet sind“ und auf die „Verletzung einzelner Punkte der Verfassung“. Anklagebefugt waren sowohl die Regierung als auch jede der beiden Kammern: erstere (Regierung) gegen einzelne Mitglieder der Stände und des Ausschusses, letztere (Kammern) gegen Minister, einzelne Mitglieder oder höhere Beamte der Ständeversammlung (§§ 198, 199 Abs. 1 WürttVU 1819). Der Klageantrag war anders als in Bayern direkt an den Gerichtshof zu richten. Der einzige, noch dazu mit Klageabweisung endende Prozess, der jemals gegen einen württembergischen Minister stattfand, war derjenige gegen Karl Eberhard Freiherrn von Wächter-Spitteler im Jahre 1850.37 Die Strafbefugnis im Rahmen eines Ministeranklageprozesses erstreckte sich nur auf Verweise, Geldstrafen, Suspensionen, Entfernungen aus dem Amt und vorübergehende oder fortwährende Ausschließung von der Landschaft (§ 203 Abs. 1 WürttVU 1819). Im Falle einer Verurteilung hatte der Präsident des Staatsgerichtshofs für die Vollziehung des Urteils zu sorgen. Zusätzliche strafgerichtliche Verfahren blieben daneben grundsätzlich möglich, soweit vom Staatsgerichtshof in dem Erkenntnis weitere Bestrafungen nicht ausdrücklich ausgeschlossen wurden (§ 203 Abs. 2 WürttVU 1819). Hemmungen der Untersuchung oder Begnadigungen des Verurteilten waren mit Blick auf Verfassungsschutzsachen unzulässig (§ 205 WürttVU 1819). Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass der König sich schützend vor einen seiner Minister stellen konnte. Anderenfalls hätte der Monarch das gesamte Verfahren ad absurdum führen können. Erst drei Jahrzehnte später, im Zuge der revolutionären Ereignisse, gelang es dann auch in Bayern mit dem die Verfassungsurkunde von 1818 ändernden Ministerverantwortlichkeitsgesetz vom 4. Juni 1848, das bereits von den 36 37
Siehe dazu auch Kotulla (Fn. 5), Anm. 1449 f. Ausführlich dazu Krammerbauer (Fn. 4), S. 226 ff.
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Zeitgenossen als defizitär wahrgenommene Verfahren der Ministeranklage dem württembergischen anzunähern. Dennoch blieb hier anders als in Württemberg weiterhin der überwiegend strafrechtliche Charakter unverkennbar; wie sich nicht zuletzt aus dem zur weiteren Ausführung des Gesetzes vom 4. Juni 1848 ergangenen Gesetz, den Staatsgerichtshof und das Verfahren bei Anklagen gegen Minister betreffend, vom 30. März 185038 ergab. Danach war nämlich zur Aburteilung erhobener Ministeranklagen ein bei dem obersten Gerichthof angesiedelter, als Schwurgericht organisierter Staatsgerichtshof zu bilden. Dieser sollte aus einem Präsidenten, sechs Räten, einem Gerichtsschreiber und zwölf Geschworenen bestehen (Art. 1 des Gesetzes von 1850). Der Kreis der Personen, die mit der Ministeranklage belangt werden konnten, wurde nunmehr beschränkt auf die Minister und deren Stellvertreter (Artt. 9 f. des Gesetzes von 1848). Gegenüber allen anderen Amtsträgern, die nicht unmittelbar dem König unterstanden, gab es fortan nur die disziplinarische Verantwortlichkeit gegenüber ihren Vorgesetzten. Auch der Rücktritt eines Ministers vom Amte stand der Ministeranklage nicht entgegen. Zur Anklageerhebung war nach wie vor ein übereinstimmender Beschluss beider Kammern nötig (Art. 3 des Gesetzes von 1850). Gleiches galt für die jederzeit mögliche Zurücknahme der Anklage. Ebenso blieb es bei der schon aus der Konstitution von 1818 bekannten Mitwirkung des Königs in Form der Weiterleitung des Anklagebeschlusses an den Gerichtshof (Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes von 1850). Eine Verjährung des Rechts zur Anklageerhebung war nicht vorgesehen. Gegenstand der Anklage bildeten positive Handlungen oder Unterlassungen, durch die mit der Amtstätigkeit des Ministers in Beziehung stehende Staatsgesetze verletzt würden (Art. 9 des Gesetzes von 1848). Subjektive Verantwortlichkeit, also Verschulden, war immer nötig. Insoweit genügte indes bereits eine fahrlässig begangene, im Zusammenhang mit der Amtstätigkeit des Ministers stehende Gesetzesverletzung. War durch diese Gesetzesverletzung zugleich der Tatbestand eines gemeinen Deliktes oder eines Amtsverbrechens erfüllt, so hatte die Verfolgung der letzteren durch die ordentlichen Strafgerichte zu geschehen, ebenso wie auch etwaige Entschädigungsansprüche vor den Zivilgerichten geltend gemacht werden konnten (Art. 13 des Gesetzes von 1848). Die Kammern wählten, jede für sich, aus ihrer Mitte Anklagebevollmächtigte zur Einreichung und Vertretung der Anklage. Diese hatten die gesetzlichen Befugnisse der Staatsanwaltschaft. Die Anklagebevollmächtigten übergaben dem Präsidenten des obersten Gerichtshofes die Anklage und beantragten den Zusammentritt des Staatsgerichtshofs. Dessen Verfahren richtete sich im Allgemeinen nach dem jeweils geltenden Strafprozessrecht, soweit durch die Gesetze von 1848 und 1850 nichts anderes bestimmt wurde (Art. 1 des Gesetzes von 1850). Das Verfahren war öffentlich und mündlich. Der Schuldspruch konnte in Abhängigkeit von dem Grade des Verschuldens 38
Kotulla (Fn. 5), Dok. 408.
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und den Folgen der Pflichtwidrigkeit auf einfache Entfernung aus dem Amte unter Belassung des gebührenden Ruhegehaltes, auf Dienstentlassung ohne Ruhegehalt oder auf Dienstentsetzung lauten. Rechtsmittel gegen das Urteil fanden nicht statt. Eine Begnadigung durch den König war ausgeschlossen (Art. 12 Abs. 1 des Gesetzes von 1848). Die Beseitigung der aus der Verurteilung folgenden Rechtsbeschränkungen durfte nur mit Zustimmung des Landtags erfolgen.
IV. Fazit Angesichts der stets hohen Antragshürden konnte das Ministeranklageverfahren in Bayern schon in rechtstatsächlicher Hinsicht kaum jemals Bedeutung erlangen. Ungeachtet des von der württembergischen Ständeversammlung weitaus leichter in Gang zu setzenden Anklageverfahrens blieb die Ministeranklage auch in Württemberg als rechtliches Instrument realiter nahezu bedeutungslos, was indes noch nichts über die politische Bedeutung für die Kammern als Droh-Kulisse gegenüber der Königlichen Regierung aussagt. Die Ministeranklage war jedoch schwerlich das mitunter als ein „Kernstück des Konstitutionalismus“39 eingestufte Instrument, sondern lediglich die an sich plausible Ergänzung für die ansonsten kammerseitig unkontrollierbare landesherrliche Regierung. So unterschiedlich die beiden hier vorgestellten Modelle der Ministeranklagen im Ergebnis auch sein mögen, sie bildeten aus heutiger Sicht immerhin einen ersten zarten Ansatz, um Regierungshandeln justiziabel zu machen. Vor diesem Hintergrund darf sicherlich von einer wenngleich nach Inhalt und Umfang noch stark limitierten Verfassungsgerichtsbarkeit gesprochen werden. Allerdings hat dieses konstitutionelle Rechtsinstitut in dem mit einer ausdifferenzierten Verfassungsgerichtsbarkeit ausgestatteten Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland keine erkennbaren Spuren hinterlassen.
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Schmitthenner (Fn. 1), S. 423.
Aussprache Gesprächsleitung: Grothe
Grothe: Herzlichen Dank, Herr Kotulla, für Ihren Beitrag über den „Schutz der Verfassungen in Einzelstaaten am Beispiel von Württemberg und Bayern“. Vom Zeitablauf her wäre für 11.30 Uhr die Kaffeepause terminiert, so dass wir jetzt knapp zwanzig Minuten hätten, es sei denn, der Gesprächsbedarf wäre so groß, dass wir die Kaffeepause verkürzen. Ich bitte jedenfalls um Wortmeldungen. Bitte, Herr Brandt. H.-H. Brandt: Darf ich als Nichtjurist vielleicht einleitend etwas dazu sagen: Was Sie uns da vorgeführt haben, ist mir immer als etwas sehr Deutsches vorgekommen. Die Relevanz der Ministeranklage steht im umgekehrten Verhältnis zu der Bedeutung, die die damals aktiv Handelnden diesem Komplex zugemessen haben, und diese Zumessung liegt natürlich in dem historischen Horizont, in dem sie dachten. Sie dachten immer an das englische Impeachment-Verfahren, und das war bekanntlich mit dem House of Lords als Gericht eine enorme Waffe im Kampf um die Parlamentarisierung der Regierungen. In der Folge war Ministeranklage immer eine Ikone des deutschen Verfassungsdenkens. Sie musste man also unbedingt durchsetzen und in Ausführungsgesetzen organisieren, um hiermit die konstitutionelle Monarchie oder besser den wahren Konstitutionalismus, wie man das damals nannte, zu verwirklichen. Damit glaubte man einen Schlüssel zur Parlamentarisierung der Regierung in der Hand zu haben. So etwas ist daraus nie geworden. Das Ergebnis ist die Reduktion auf Staatsrecht und Justizförmigkeit, und das ist natürlich etwas ganz anderes als eine politische Waffe, wie sie im englischen Beispiel liegt. Diesen Bestimmungen zum Anklageverfahren, so interessant das ist, sind im deutschen Konstitutionalismus alle politischen Zähne, oder doch die meisten – ich will das nicht klein reden – politischen Zähne gezogen worden. Noch eine kleine Anmerkung: Bismarck hat immer gesagt, politische Auseinandersetzungen kann man nicht verrechtlichen. Infolgedessen lassen wir das also gar nicht erst zu. In der Norddeutschen Bundes- / Reichsverfassung wurde dann zwar eine Ministerverantwortlichkeit aufgenommen, deren Umsetzung ein Ausführungsgesetz bestimmen sollte. Dieses ist – wofür Bismarck sorgte – nie ergangen, also blieb dieser ganze Komplex im Deutschen Reich dann virtuell.
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Grothe: Selbstverständlich dürfen Sie sofort antworten, Herr Kotulla. Die Frage ist nur, ob wir gleich etwas sammeln. Oder? Kotulla: Vielleicht ganz kurz nur zu diesem Impeachment: Es ist natürlich schon ein großer Unterschied, ob ich letztendlich nur gegen, sagen wir einmal, einen führenden Politiker, sei es einen Präsidenten oder einen Amtsträger vorgehe, weil ich meine, dass er sich gegen die Verfassungen an sich vergangen hat oder vielleicht Staatsverbrechen, -vergehen oder wie auch immer, begangen hat, so wie es die englische Intention, zumindest in der Spätzeit ist, oder ob es sich – wie im Konstitutionalismus – vielleicht um die einzige Möglichkeit überhaupt handelt, so etwas wie ein auch nur annäherndes Gleichgewicht herzustellen zu einem Monarchen, den man eigentlich nicht belangen kann. Wenn man den Monarchen schon nicht zur Verantwortung ziehen kann, dann doch zumindest denjenigen, der mit der Durchführung der Regierungsaufgaben betraut wird. Somit lässt sich indirekt auch der Monarch in die Schranken weisen. Grothe: Dann wäre Herr Mußgnug jetzt als nächster Redner an der Reihe. Mußgnug: Darin sehe ich den Konstruktionsfehler. Man macht eine Frage des Verfassungsrechts – hat sich die Regierung verfassungskonform oder verfassungsinkonform verhalten, hat sie die Verfassung richtig oder falsch verstanden – zu einer Frage des Strafrechts. Man überspringt also das moralisch indifferente Urteil über Verfassungskonformität des Regierungshandelns und geht sogleich zur Sanktionierung des Verfassungsverstoßes durch Verurteilung des „Schuldigen“ über. Aus dem irrenden wird sogleich der strafwürdige Minister, der eigentlich nichts Böses tun wollte, aber dennoch auch dann durch Bestrafung zum verfassungsfeindlichen Schurken gemacht wird, wenn er an die wirklichen Verfassungsbrecher vom Schlage eines Hassenpflugs nicht heranreicht. Oder hat das die zeitgenössische Literatur dadurch abgemildert, dass sie die Begründetheit der Ministeranklage nicht nur vom objektiv vorliegenden Verfassungsverstoß, sondern darüber hinaus auch von dessen subjektiver Vorwerfbarkeit abhängig gemacht hat? Wären die erforderlichen Ausführungsgesetze für die Ministeranklage ergangen, so hätten sich die mit ihr befassten Gerichte wohl dazu durchgerungen, zwischen dem zwar zu beanstandenden, aber bona mente begangenen Verfassungsverstoß und dem böswilligen und daher zu sanktionierenden Verfassungsbruch zu unterscheiden. Es wäre Ruhe in die allfälligen Streitigkeiten um den Umgang der Regierungen mit dem Verfassungsrecht gekommen. Da die Gerichte aber wegen des Ausbleibens der Ausführungsgesetze ausfielen, blieben die Verfassungstreitigkeiten des 19. Jahrhunderts immer in der Schwebe. Sie wurden vor dem Forum der öffentlichen Meinung ausgetragen. So schwelte der Kampf um die bayerische Budgetpolitik ununterbrochen und unentschieden von 1821 bis 1840; der Preußische Verfassungs-
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konflikt dauerte nicht ganz so lange; aber auch er war für die vier Jahre seiner Dauer der Dauerbrenner in der gesamten deutschen Presse. Es fasziniert, dass dabei die öffentliche Meinung so gut wie immer gesiegt hat; nicht sofort, aber irgendwann eben doch, indem sie ein neues gewandeltes Verfassungsverständnis durchsetzte. Das kann selbst an eher zweitrangigen Meinungsverschiedenheiten nachvollzogen werden wie z. B. an der unter dem Stichwort „Lucius’scher Steuerstreit“ ausgepaukten Frage, ob das Begnadigungsrecht des Monarchen auch den „gnadenweisen“ Steuererlass für verdiente Politiker deckt. Auch darüber hat die öffentliche Meinung nicht gerade entschieden; aber sie hat sich durchgesetzt, indem sie letztendlich doch die Reduktion des monarchischen Begnadigungsrechts auf den Straferlass erzwang und damit der begrifflichen Rosstäuscherei, aus der Nichteinhaltung der einschlägigen Gesetze einen Gnadenakt zu machen und damit die Bindung der Exekutive an das Gesetz aus den Angeln zu heben. Hätte es schon im 19. Jahrhundert Verfassungsgerichte gegeben, die sich dieser Streitigkeiten hätten annehmen können, wären sie rascher, transparenter und vor allem juristischer entschieden worden als vor dem Forum der Presse und der öffentlichen Meinung. Kotulla: Herr Mußgnug, vielleicht nur das dazu: Ich stimme Ihnen zu, die handelnden Minister zu kriminalisieren, kam nur in seltenen Fällen in Betracht, zumal die meisten von ihnen sicherlich Ehrenleute waren, zumindest aber keine Personen, die von vornherein daran dachten, gegen geltendes Recht zu verstoßen. Sie wollten natürlich im Rahmen der Rechtsordnung arbeiten. – Also mangels Schurken, ich bleibe einmal in Ihrer Sprachweise, könnte man vielleicht formulieren, war die Ministeranklage in der Praxis nur bedingt geeignet. Deshalb trat sie auch in der Praxis kaum in Erscheinung. Grothe: Frau Westphal. Westphal: Ich wollte einen Schritt vor die Anklage selbst gehen. Was muss denn der Anstrengung des Verfahrens vorausgehen? Sie haben jetzt geschildert, die Ständeversammlung – und es gibt einen Anklagebevollmächtigten. Aber wie kommt so ein Verfahren eigentlich in Gang? Also gibt es Vorwürfe aus der Bevölkerung beispielsweise gegen einen Minister? Oder wo kommen diese Vorwürfe her? Was ist die Ausgangslage? Oder sind die angestrengten Verfahren möglicherweise sehr stark auf politischen Druck hin entstanden? Und da würde ich gerne noch einmal an die öffentliche Diskussion und an die öffentliche Meinung anknüpfen wollen und konkret fragen, ob das auch eine Ventilfunktion haben sollte? Also politischen Druck von der Bevölkerung, von bestimmten politischen Gruppen ausgehend, die das festmachen an einem einzelnen Minister und jetzt wird auf Druck der Öffentlichkeit hin ein Verfahren angestrengt oder läuft das anders?
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Kotulla: Frau Westphal, die Frage ist gut; sie muss differenziert beantwortet werden. Sicherlich, wenn man sich die kurhessischen Ereignisse um den Minister Hassenpflug anschaut, könnte man auch von einem gewissen öffentlichen Druck sprechen, der sich auf die Kammer überträgt; diese sieht sich dann veranlasst, das Verfahren in Gang zu setzen. In Kurhessen – würde ich sagen – sieht man dies relativ deutlich. In fast allen anderen Fällen ist es wohl eher so, dass die öffentliche Meinung vergleichsweise wenig Anteil nimmt. Es sind zumeist hochpolitische Fragen, die – wir würden heute sagen – wohl nur für den „Insider“ Bedeutung haben. In den Kammern selbst wächst aus ganz unterschiedlichen Gründen eine gewisse Unzufriedenheit heran, sodass man dort mitunter auch als eine Art „Retourkutsche“ versucht, unliebsame Minister zur Verantwortung zu ziehen. Grothe: Ich habe noch drei Wortmeldungen und würde gerne die Rednerliste damit schließen. Herr Ruppert, Herr Borck, Herr Willoweit. Ruppert: Herr Kotulla, ich glaube schon, man muss auch betonen, dass dieses Instrument der Ministeranklage zwar prinzipiell und als Verfassungsschutzinstrument gedacht war, aber in der Handhabung eigentlich ein politisches Kampfinstrument war. Das ist seine Hauptaufgabe, ja, das muss man ganz klar sehen; vor allen Dingen den präventiven Charakter und das liegt ja auch auf der Hand und ist einfach dadurch bedingt, dass diejenigen, die das Verfahren einleiten können, die politischste Institution des Konstitutionalismus überhaupt ist, nämlich die zweite Kammer. Also insofern ist das ein politisches Kampfinstrument mehr. Das würde ich noch als Ergänzung sagen, das sollte man auf jeden Fall berücksichtigen. Aber was mich jetzt interessieren würde und das auch in Anknüpfung an das Referat von Herrn Härter, ist ja: Neben der Ministerverantwortlichkeit gab es noch einen exekutiven und policeylichen Verfassungsschutz in Württemberg und Baden. Oder kann man sagen, die haben sich darauf verlassen, dass der Deutsche Bund in dieser Hinsicht gut funktionierte und haben gesagt, wir brauchen für unseren Bundesstaat keinen eigenen? Ich meine, Sie haben ja gesagt, Sie wollten sich nur auf das eine konzentrieren, aber es wäre ja doch interessant, wie man in den Bundesstaaten diesen policeylichen und exekutiven Verfassungsschutz gegenüber den Landständen und den Bürgern gehandhabt hat. Das richtet sich ja nur gegen Regierungsorgane hier. Kotulla: Ja, Herr Ruppert. Zunächst ganz kurz zu dem politischen Kampfinstrument: Vordergründig könnte man so etwas vermuten. Doch gerade im Zweikammersystem erweist sich eine derartige Annahme als problematisch. So konnten etwa in Bayern nur beide Kammern zusammen den Beschluss zur Erhebung der Ministeranklage fassen, woraufhin erst die Anklageerhebung überhaupt ihren Lauf nehmen konnte. Württemberg ist hier auch insoweit eher eine Ausnahme.
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Nur so viel zum exekutivischen Verfassungsschutz: Es gibt jedenfalls – anders als beim Deutschen Bund – keine originären Organe, die sich ausschließlich damit beschäftigten. Es sind in der Tat eher die „Policey“ und die Gerichte. Je nachdem, worum es geht verlässt man sich darauf, dass die Angelegenheit auf höchster Ebene geregelt wird. Überhaupt ist es bezeichnend für die Verfassungen der konstitutionellen Staaten, dass sie nur selten spezifisch verfassungsschützende Organe vorsehen. Grothe: Herr Borck! Borck: Da heute Morgen bei den Verfassungsschutzbemühungen des Deutschen Bundes das Königreich Hannover schon über die Klinge gesprungen ist, obgleich es eigentlich ein sehr interessantes Beispiel dafür war, dass die Bundesversammlung als solche beim Schutz bestehender Verfassungen (Artikel 56 der Wiener Schlussakte) eben nicht funktioniert hat, komme ich noch einmal auf das Urteil des Freiherrn vom Stein zum Wegfall des ehemaligen Reichskammergerichts zurück, der gesagt hat, dieses neue System des Deutschen Bundes wird 34 Tyrannen schaffen anstelle der Rechtssicherheit im Heiligen Römischen Reich. Wenn ich jetzt noch einmal das Staatsgrundgesetz von 1833 zu diesem Punkte erwähne, dann unter dem auch in den Ausführungen von Herrn Mußgnug genannten Gesichtspunkt, dass auch dieses ein solches im Grunde ja doch weitgehend verrechtlichtes Verfahren vorgesehen hat. Dort war es ja so, dass die Ständeversammlung unmittelbar bei Verletzung der Verfassung, also dieses Staatsgrundgesetzes, durch ministerielles Handeln tätig werden konnte, und der Hinweis konnte sehr wohl z. B. durch Petition aus der Bevölkerung ursprünglich erfolgt sein, so dass dann ein förmliches Verfahren beim Oberappellationsgericht in Celle angestrengt werden konnte. Der König war nicht befugt, dieses zu hindern, und im Gegenteil gehalten, das in der Verfassung vorgesehene Verfahren ausdrücklich zu genehmigen. Und dieses Verfahren, sofern also dem Minister absichtliche Verletzung des Staatsgrundgesetzes nachgewiesen werden konnte, endete dann mit einer Entscheidung, gegen die es keine Rechtsmittel gab, also gegebenenfalls einer Entlassung des Ministers aus seinen Ämtern, dem König wurde sogar das Begnadigungsrecht genommen. Und was die öffentliche politische Wirkung betraf, so war ein solches Urteil, auch von Staatsseite, in Druck zu geben und der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Ein recht modernes und auf den ersten Blick jedenfalls ein effizientes Verfahren, beim dem allerdings eben auch die allgemeine Ständeversammlung den Antrag stellen musste, wobei es, da sie aus zwei Kammern bestand, natürlich auch die anderen – politischen – Momente gab. Kotulla: Ja, Herr Borck. Ich frage mich, was ich dazu noch ergänzen soll? Das von Ihnen dargelegte hannoversche System war für sich genommen nicht atypisch. Nehmen wir einfach nur die beiden soeben verglichenen Systeme der Ministeranklage und führten sie zusammen, so würde sich darin
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das meiste des „Hannoverschen“ widerspiegeln. Wohl eher zu einem größeren Teil im Württembergischen, zudem aber auch im Bayrischen, wenn es darum geht, nur das Oberappellationsgericht und nicht einen Staatsgerichtshof anzurufen. Gleichwohl hat das als vergleichsweise liberal bezeichnete Verfassungskonstrukt von 1833 den „Schönheitsfehler“, dass die Kammern insgesamt den Beschluss zur Ministeranklage fassen mussten. Und hier liegt in der Tat auch der systemische Hauptschwachpunkt. So gesehen kann man sich eine weitere Reflektion ersparen. Grothe: Die abschließende Frage oder Bemerkung von Herrn Willoweit bitte. Willoweit: Meine Bemerkung ist auch zugleich eine Frage: Hat das ganze Verfahren, das ja für uns doch recht seltsam ist, nicht zur Voraussetzung noch die aufgeklärte Überzeugung, dass Politik etwas ist, was man durch Nachdenken, als Gegenstand der Erkenntnis realisieren kann? Nur als Stichwort sei auf das Buch von Preu über den Policey-Begriff hingewiesen, der dieses Politikverständnis beschrieben hat. Auch mein Eindruck ist, dass sich in der späten Aufklärung die Überzeugung durchgesetzt hat, nicht nur Recht, sondern auch Politik sei Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis. Daher entstehen Staatsratskollegien und nicht etwa Repräsentativorgane, die nur partikulare Interessen artikulieren. Und wenn ich so denke, Politik sei etwas, was Gegenstand von Erkenntnis ist und daher richtig oder falsch, dann kann ich auf den Gedanken kommen: „Wenn einer falsche Politik macht, muss ich ihn anklagen.“ Und deswegen hat es auch nicht funktioniert, weil sich das im 19. Jahrhundert eben als illusorisch erweist. Politik war nun eine Sache von Alternativen, so wie wir das heute gewohnt sind. Das Instrument der Ministeranklage hinkt der Zeit hinterher. Und deswegen war es dann auch sehr schwierig, in der Praxis eine politische Maßnahme eines Ministers als rechtswidrig zu deklarieren, weil eben verschieden entschieden werden konnte. Kotulla: Ja, Herr Willoweit, ich gebe Ihnen recht. Politische Fragen an juristischen Maßstäben zu messen, ist immer problematisch. Und erst recht, wenn dafür Straftatbestände geschaffen werden: Politische Verfehlungen juristisch werten zu wollen, läuft schon fast auf Willkür oder willkürliches Vorgehen hinaus, je nachdem wie man richtige oder falsche Politik verstehen möchte. Aber es ist leider Gottes nicht ganz so einfach. Vordergründig gesehen mag es richtig sein, dass die Juristerei, insbesondere aber die juristische Nachprüfbarkeit bei politischen Sachverhalten möglichst begrenzt sein sollte. Doch muss man sich einmal das konstitutionelle System vor Augen führen: ein Konstrukt mit einem Monarchen, der, zumindest nach außen hin, unumschränkter Herrscher sein muss, es aber tatsächlich nicht ist; einem Monarchen, der exekutivisch in irgendeiner Weise noch handlungsfähig sein soll, dafür aber nicht zur Rechenschaft gezogen werden darf. Das ist schon
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eine sehr ungewöhnliche, wenn nicht äußerst schwierige Gemengelage. Mittels Behelfsmechanismen wird versucht, so etwas wie eine Balance zu schaffen, die natürlich nicht wirklich vorhanden ist. Aber so kann zumindest suggeriert werden, dass es auch eine exekutivische Verantwortlichkeit im monarchischen System gibt. Die Kammern sehen sich zu Recht, soweit es um die Gesetzgebung geht, als hinreichend beteiligt an. Denn Gesetze können nur mit ihrer Zustimmung zustande kommen. Deswegen muss auch nicht zusätzlich, ganz dem Zeitgeist entsprechend, eine Verfassungsgerichtsbarkeit installiert sein. Im Bereich der Exekutive ist der Monarch eigentlich frei, hier ist seine eigentliche Domäne. Ich erinnere nur daran, dass beispielsweise der Oberbefehl über das Militär bzw. das Militärwesen überhaupt ganz außerhalb der Verfassung liegt, sofern wir einmal von der kurhessischen Verfassung von 1831 absehen. Der Konstitutionalismus tut sich für gewöhnlich schwer mit einer Verfassungsbalance. Grothe: Herzlichen Dank, Herr Kotulla, für Ihre Antworten. Vielen Dank allen Diskussionsteilnehmern. Ich danke auch dafür, dass wir nur mit leichter Verspätung in die Kaffeepause gehen, also die Mäßigung hat funktioniert, die Züchtigung war als Drohung schon wirksam, das vielleicht begrifflich anknüpfend an die Drohung mit der Ministeranklage. Und: wir haben uns über Spitzel unterhalten bei Herrn Härter, wir haben uns über Schurken unterhalten bei Herrn Kotulla, von daher dürfte Gesprächsstoff für die Kaffeepause, die um 12.00 Uhr endet, genug da sein. Herzlichen Dank!
Supreme Court und Schweizerisches Bundesgericht als Modelle integrierter Verfassungsgerichtsbarkeit Von Axel Tschentscher, Bern I. Integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit – Vorbild oder Anachronismus? 1. Traditionalität der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit
Der Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika und das Bundesgericht der Schweizerischen Eidgenossenschaft kommen als Modelle der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit vor allem deshalb in Betracht, weil sie die ältesten Beispiele für diese Organisationsform bilden. Zwar gibt es mit dem Obersten Gericht in Dänemark, dem Domstol (gegründet 1661), ein noch älteres Gericht, das heute als integriertes Verfassungsgericht amtet. Dessen Funktion als Verfassungsgericht wurde aber erst 1999 fest etabliert, als das Gericht zum ersten Mal ein Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit für nichtig erklärt hat.1
2. Siegeszug der selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit
Abgesehen von dem Traditionsgesichtspunkt ist hinter die Modellhaftigkeit von Supreme Court und Bundesgericht ein Fragezeichen zu setzen. Man könnte statt vom Vorbildcharakter geradezu von einem Anachronismus sprechen, weil die Gattung der integrierten Verfassungsgerichte offenbar zu den aussterbenden Spezies gehört. Der gegenwärtige Trend geht deutlich hin zur Einrichtung spezialisierter Verfassungsgerichte. Als Modell kann insoweit das durch Hans Kelsen inspirierte österreichische Verfassungsgericht dienen (1919), dem noch in der Zwischenkriegszeit die Gerichte in der Tschechoslowakei (1920) und in Spanien folgten (1931).2 Nach dem Krieg war es nach der Wiedereinsetzung des österreichischen Verfassungsgerichts (1945) dann zunächst das Verfassungsgericht in Italien (1948), bevor wenig später das deut1 Zur Aufhebung des Tvind-Gesetzes, das einzelne Schulen von der staatlichen Förderung ausschloss, siehe Thomas Fredrik, Das Tvind-Urteil des dänischen Obersten Gerichtshofs, ZaöRV 60 (2000), S. 859 (881 f.). 2 Domingo García Belaunde, Verfassungsgerichte in Lateinamerika, in: Alexander Blankenagel u. a. (Hrsg.), FS Häberle, Tübingen 2004, S. 595 (595).
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sche Bundesverfassungsgericht dem Modell folgte (1949). Die osteuropäischen Staaten, die ursprünglich nicht über Verfassungsgerichte verfügten,3 haben im Rahmen ihrer Verfassungsreformen durchweg selbständige Verfassungsgerichte eingerichtet (Ungarn 1989, Bulgarien 1991, die Tschechische und die Slowakische Republik 19924). Polen vollzog diesen Schritt unter Abwendung vom ursprünglichen französischen Modell sogar schon vor der allgemeinen politischen Öffnung (1986), nachdem die Entstehung von „Solidarnosc“ (1980) dort zu ersten Reformen geführt hatte.5 Entsprechendes gilt für die Entwicklung in den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens (Slowenien 1991, Kroatien 1991), soweit sie nicht schon vor ihren Verfassungsreformen über selbständige gliedstaatliche Verfassungsgerichte verfügten, die zu nationalen Gerichten mit gleicher Funktion erhoben werden konnten (Serbien 1963, Bosnien und Herzegowina 1964). Auch das Nachbarland Albanien (1998) sowie zwei der drei baltischen Staaten (Litauen 1992, Lettland 1996) haben das Modell des selbständigen Verfassungsgerichts gewählt. Im Ergebnis führten die Verfassungsreformen in den mittel- und osteuropäischen Ländern durchweg zur Errichtung separater Verfassungsgerichte.6 Abgesehen vom Schweizerischen Bundesgericht sind die zaghaften Ansätze integrierter Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa ohne Erfolg geblieben. Die Paulskirchenverfassung (1849), die neben einem Grundrechtskatalog und Individualbeschwerdeverfahren in § 126 auch eine Kontrolle der Reichsgesetze durch das Reichsgericht vorgesehen hatte, scheiterte insgesamt. Vereinzelt und kurz blieb auch die integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit die das Danziger Obergericht zunächst für sich reklamierte (1923) und dann ausdrücklich zugesprochen bekam (1925).7 In der jüngeren europäischen Geschichte konnte sich schließlich noch in Estland eine integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit halten. Dazu wurde der traditionsreiche Supreme Court, der im freien Estland bereits zwischen 1920 und 1940 bestanden hatte, reaktiviert und zusätzlich mit der Verfassungsgerichtsbarkeit betraut (1992). Das war aber gerade keine Systementscheidung gegen den Trend der Zeit, sondern nur eine symbolische und pragmatische Vorgehensweise. Gleich wohin man schaut, das Modell der spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit scheint überall zu reüssieren, das Modell der integrierten 3 Steffen Rülke, Venedig-Kommission und Verfassungsgerichtsbarkeit. Eine Untersuchung über den Beitrag des Europarats zur Verfassungsentwicklung in Mittel- und Osteuropa, Köln u. a. 2003, S. 99. 4 Das schon 1968 in der Tschchoslowakei vorgesehene Verfassungsgericht wurde mangels Ausführungsgesetzes nicht realisiert; Rülke (Fn. 3), S. 99. 5 Leszek Garlicki, Vier Jahre der Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen, JöR 39 (1990), S. 285 (285 ff.); Rülke (Fn. 3), S. 99. 6 Rülke (Fn. 3), S. 100 mit Übersicht S. 199. 7 Ausführlich dazu Fabian Wittreck, Die Anfänge der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle in Deutschland. Das Danziger Obergericht als Normprüfungsinstanz 1923 – 1939, ZRG GA 121 (2004), S. 415 (430 ff.).
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Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich dazu hingegen keine Zukunft zu haben. Auch der Blick über Europa hinaus ändert an diesem Befund grundsätzlich nichts.8 3. Gründe für die selbständige Verfassungsgerichtsbarkeit
Fragt man nach den Gründen für die Systemwahl, dann wird die spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit in Situationen empfohlen, in denen sich eine neue Verfassung erst noch etablieren muss. So schließt Dieter Grimm aus dem osteuropäischen Reformprozess, „daß eine eigenständige Verfassungsgerichtsbarkeit dann eine Vorbedingung des Erfolgs ist, wenn es darauf ankommt, der Verfassung überhaupt erst Respekt im politischen und womöglich auch im justiziellen System zu verschaffen. Das ist in jenen Ländern der Fall, die zwar seit langem eine Verfassung gehabt haben mögen, welche jedoch im Konflikt mit der Politik stets den kürzeren zog oder von den ordentlichen Gerichten nicht zur Streitentscheidung herangezogen wurde.“9 Wolfgang Hoffmann-Riem deutet das ganz ähnlich: „Ein besonderes Verfassungsgericht bietet sich insbesondere als Vehikel an, den Prozess der Konstitutionalisierung abzusichern, zu beschleunigen und institutionell zu unterfüttern. Weniger freundlich formuliert: Ein besonderes Verfassungsgericht ist die angemessene Lösung für Ordnungen, deren politische Kultur noch nicht so entwickelt ist, dass der Vorrang der Verfassung etablierten Institutionen anvertraut werden kann.“10
Etwas früher hatte Brun-Otto Bryde bereits betont, dass auch die personelle Erneuerung für eine separate Verfassungsgerichtsbarkeit spricht, indem der verfassungsrechtliche Neubeginn von Experten dieses Prozesses getragen und nicht den Richtern des alten Regimes überlassen wird.11 Die Verfassungsrichter fungieren danach gewissermaßen als „Erzieher“ zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Kombiniert man die selbständige Verfassungsgerichtsbarkeit wie im deutschen Modell mit einer konzentrierten Normenkontrolle (dazu sogleich II.2), so tritt als weiterer Vorteil noch hinzu, dass mit der monopolisierten Verwerfungskompetenz des Verfassungsgerichts die „Rechtsunsicherheit und Rechtszersplitterung“ durch unterinstanzliche Normenkontrollen vermieden werden kann.12 8
Dazu unten Abschnitt IV. Dieter Grimm, Die Verfassung und die Politik. Einsprüche in Störfällen, München 2001, S. 211. 10 Wolfgang Hoffmann-Riem, Das Ringen um die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle in den USA und Europa, JZ 2003, S. 269 (273). 11 Brun-Otto Bryde, Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Umbruchsituationen, in: Joachim J. Hesse u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen, Baden-Baden 1999, S. 197 (203 ff.); ähnlich bereits Peter Häberle, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, Darmstadt 1976, S. 1 (16 f.): Führungsstellung des Verfassungsgerichts bei der Verfassungsinterpretation); zustimmend Rülke (Fn. 3), S. 108. 9
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Für die integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit werden keine vergleichbar griffigen Vorteile genannt. Entstehungsgeschichtlich bleiben nur noch Situationen übrig, in denen eine neue Verfassung auf keinerlei Akzeptanzprobleme stößt, weil sie in der politischen Kultur des Landes bereits fest verankert ist. Das trifft allerdings, wie sich an der Entstehung zeigen wird, auf die USA und die Schweiz gerade nicht zu. Deren Verfassung war zum Zeitpunkt der Bundesstaatsgründung jeweils sehr umstritten. Es zeigt sich auch, dass Supreme Court und Bundesgericht heute nicht mehr einem einheitlichen Modell folgen, sondern grundlegende Unterschiede aufweisen.
II. Eigenheiten der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit 1. Integrierte statt spezialisierte Institutionalisierung
Zunächst bedeutet integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit, dass das höchste Gericht des nationalen Instanzenzugs gleichzeitig die Funktion hat, über die Verfassungsmäßigkeit zu entscheiden. Es geht also um die Einheit von Letztinstanzlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie ist sowohl beim Supreme Court als auch beim Bundesgericht verwirklicht. Dies ist das Schlüsselkriterium – und es ist ein rein institutionelles. Sobald ein spezialisiertes Verfassungsgericht eingerichtet wird, ist das Modell integrierter Verfassungsgerichtsbarkeit verlassen. Innerhalb dieser äußeren Modelleinheit stellt sich die Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA und der Schweiz allerdings ganz unterschiedlich dar. a) Konkrete oder abstrakte Normenkontrollbefugnis: Unterschiede gibt es in formeller Hinsicht mit Blick auf die Art der Normenkontrolle. Das schweizerische Recht kennt außer der konkreten auch die abstrakte Normenkontrolle und verfügt entsprechend über eine abstrakt-generelle Normverwerfungskompetenz. Demgegenüber ist für das US-Verfassungsgericht keine abstrakte Normenkontrolle vorgesehen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit bleibt stets einzelfallbezogen. Das Gericht erklärt eine Norm darum nicht insgesamt für nichtig, sondern lediglich für im Einzelfall unanwendbar. Allerdings ist dies beim Supreme Court deshalb kein Minus an Kontrolle, weil die formelle Präjudizienbindung die unteren Gerichte an die ratio decidendi bindet. Eine entscheidungstragende Erwägung zur Verfassungswidrigkeit der Norm ist also ebenso bindend, als wäre diese im Urteilsspruch selbst enthalten. In vielen bedeutenden Urteilen des Gerichts ist gerade dieser generell-prospektive (statt partikular-retrospektive) Effekt wichtig und
12 BVerfGE 1, 184 (199 f.) – Normenkontrolle I, http: //www.servat.unibe.ch/dfr/ bv001184.html; bekräftigend jüngst BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 (2 BvR 2500 / 09; 2 BvR 1857 / 10) – Wohnraumüberwachung Mainz, http: // www.bverfg.de / entscheidungen / rs20111207_2bvr250009.html.
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wird in den Einzelfällen der facial challenges sogar schon ausgelöst, bevor das Gesetz zu Anwendung kommt. b) Umfassende oder beschränkte Normenkontrollbefugnis: Materiell unterscheiden sich die Systeme hinsichtlich der Reichweite der Verfassungsgerichtsbarkeit. Während der Supreme Court jedes Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit für unanwendbar erklären kann, steht dem Bundesgericht die Verwerfungsbefugnis nur gegenüber Kantonsgesetzen zu. Hinsichtlich der Bundesgesetze hat das Gericht hingegen keine vollständige Kontrollkompetenz, weil es deren Verfassungswidrigkeit zwar feststellen kann, ihnen aber die Anwendung gleichwohl nicht versagen darf. Es ist dann Sache des Bundesparlaments, das eigene Gesetz aus Rücksicht auf die Verfassung zu revidieren. Auch hinsichtlich der Kantonsverfassungen gibt es keine Kontrollbefugnis, weil diese durch die Gewährleistung des Parlaments abgesichert sind.13 Die immer neuen Vorstöße zur Einführung einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundesgerichts wurden zuletzt im Juni 2012 mit der deutlichen Mehrheit des Ständerats gestoppt. Die schweizerische Lösung ist zwar selten, aber keinesfalls einzigartig. In der jüngeren Vergangenheit hatte auch Polen bei der Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit (1986) zunächst den Zwischenweg einer Prüfungskompetenz ohne Verwerfungsmöglichkeit gewählt. Man wollte dort angesichts erheblicher Skepsis innerhalb des Ostblocks einen Kompromiss finden.14 Im sozialistischen Staatsmodell wurde die spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit als besonders prominente Form der gegen das Parlament gerichteten Kontrolle als „reaktionäre Institution“ angesehen.15 In einer anderen Hinsicht entspricht die schweizerische Situation heute funktional derjenigen in den Niederlanden. In beiden Ländern ist die Normenkontrolle gegenüber Akten des nationalen Parlaments auf Verfassungsebene eingeschränkt. In beiden Ländern dürfen nationale Gesetze darum nicht wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben werden. Gleichzeitig dürfen Gesetze hier wie dort sehr wohl aufgehoben werden, wenn sie der Europäischen Menschenrechtskonvention widersprechen.16
13 Ausnahme: Wenn nach der Gewährleistung ein neues übergeordnetes Recht (EMRK) in Kraft tritt: BGE 111 Ia 239 – Inzidentprüfung kantonalen Verfassungsrechts. 14 Garlicki (Fn. 5), S. 291 f., 307. 15 Garlicki (Fn. 5), S. 287. 16 Art. 94, 120 Verf-NL; Details dazu bei Gerhard van der Schyff, Constitutional Review by the Judiciary in the Netherlands: A Bridge Too Far?, German Law Journal 11 (2010), S. 275 (280), http: //www.germanlawjournal.com/pdfs/Vol11-No2/ PDF_Vol_11_No_02_275-290_Developments_Gerhard_van_der_Schyff.pdf; Leonard F.M. Besselink, Constitutional Adjudication in the Era of Globalization: The Netherlands in Comparative Perspektive, European Public Law 18 (2012), S. 231 (234 f.).
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Axel Tschentscher 2. Diffuse statt konzentrierte Normenkontrolle
Neben die Unterscheidung zwischen integrierter und spezialisierter Institutionalisierung tritt die weitere, nicht mehr zwingende Unterscheidung zwischen diffuser und konzentrierter Normenkontrolle. Sowohl in den USA als auch in der Schweiz ist die Normenkontrolle diffus, das heißt unabhängig von der Instanz gewährleistet. Die Normenkontrolle ist nicht bei einem Gericht monopolisiert,17 sondern alle Gerichte dürfen und müssen die Konformität mit der Bundesverfassung in eigener Hoheit beurteilen. In den USA und der Schweiz erstreckt sich diese Kontrollaufgabe sogar auf die Gerichte der Gliedstaaten und auf die rechtsanwendenden Verwaltungsbehörden. Beispielsweise hatte im Fall Roe v. Wade, bevor sich der US Supreme Court mit der Sache befasste, in erster Instanz bereits ein District Court im Staat Texas das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs für nichtig erklärt, weil es gegen die Bundesverfassung verstoße.18 Die diffuse Normenkontrolle unterscheidet sich von Rechtssystemen mit konzentrierter Normenkontrolle praktisch erheblich. So gibt es in den USA und der Schweiz nicht das in Deutschland bekannte Verwerfungsmonopol mit Vorlagepflicht (Art. 100 Abs. 1 GG) und Bindung erga omnes durch die Gesetzeskraft der Entscheidung (§ 31 Abs. 2 BVerfGG). Weil dieser weitergehende Unterschied noch gewichtiger ist als die bloß institutionelle Unterscheidung in integrierte bzw. spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit, spricht man bei der diffusen Normenkontrolle häufig vom „amerikanischen System“ im Gegensatz zum „europäischen System“ mit konzentrierter Normenkontrolle. Weder in der Schweiz noch in den USA gibt es für diese diffuse Kontrolle eine spezielle bundesverfassungsrechtliche Anordnung. Sie folgt aus der allgemeinen Gesetzesbindung der Gewalten in Verbindung mit dem Vorrang der Verfassung. Auf kantonaler Ebene gibt es zum Teil ausdrückliche Vorschriften über die diffuse Normenkontrolle. So heißt es in der Verfassung des Kantons Solothurn: „Soweit Erlasse von Kanton und Gemeinden Bundesrecht oder übergeordnetem kantonalem Recht widersprechen, sind sie für den Richter nicht verbindlich.“19
17 Statt von einer konzentrierten wird synonym auch von einer monopolisierten Normenkontrolle gesprochen, etwa bei Dieter Grimm, Probleme einer eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, in: Rainer J. Schweizer (Hrsg.), Reform der Bundesgerichtsbarkeit, Zürich 1995, S. 161 (171). 18 Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973), http: //www.law.cornell.edu/supct/html/histo rics/USSC_CR_0410_0113_ZS.html/, Syllabus: „A three-judge District Court […] declared the abortion statutes void as vague and overbroadly infringing those plaintiffs’ Ninth and Fourteenth Amendment rights.“ 19 Art. 88 Abs. 3 KV-SO; außerdem Art. 66 Abs. 3 KV-BE: „Kantonale Erlasse, die höherrangigem Recht widersprechen, dürfen von den Justizbehörden nicht angewandt werden.“ und Art. 95 Abs. 2 KV-AG: „Sie [die Gerichte] sind gehalten, Erlassen
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Die diffuse Normenkontrolle geht in der Regel mit der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit einher. Das ist allerdings nicht zwingend. So haben die lateinamerikanischen Staaten teilweise selbständige Verfassungsgerichte installiert und halten gleichzeitig an der diffusen Normenkontrolle durch untere Gerichtsinstanzen fest. Umgekehrt kann es eine konzentrierte Normenkontrolle geben, die einem integrierten Verfassungsgericht zugewiesen wird. Beispielsweise war im Rahmen der schweizerischen Justizreform vorgeschlagen worden, das Bundesgericht als oberstes Gericht mit Universalzuständigkeit unverändert zu lassen, bei ihm aber die Kontrolle der Verfassungskonformität zu monopolisieren.20 Die diffuse Normenkontrolle sollte darum von der Einrichtung der Gerichte unterschieden werden. Hans Kelsen behandelt die diffuse Normenkontrolle konsequent als eine eigenständige dritte Strukturvariante der Verfassungsgerichtsbarkeit. In der Reinen Rechtslehre formuliert er zur Normenkontrolle: „Diese Funktion kann einem besonderen Gericht oder dem obersten Gericht oder allen Gerichten übertragen sein.“21 Der letzte Fall, die diffuse Normenkontrolle, ist dabei sogar die Regel, solange das Gesetz keine besondere Festlegung über die Verfassungsgerichtsbarkeit trifft. Dann dürfen alle rechtsanwendenden Behörden ein Gesetz im Einzelfall wegen Verfassungswidrigkeit unangewendet lassen. Wird hingegen ein Gericht zur abstrakten Aufhebung ermächtigt, dann schließt Kelsen daraus, dass es bis zu diesem Zeitpunkt gelten soll, so dass andere Gerichte seine Anwendung nicht verweigern dürfen.22 Das ist in der Schweiz anders, weil hier die diffuse Normenkontrolle weiterhin gilt, obgleich das Bundesgericht zur abstrakten Normenkontrolle und damit zur Aufhebung berechtigt ist.
3. Erstreckung auf die gliedstaatliche Ebene
Ein dritter Aspekt betrifft die Gliedstaaten. In den USA wie auch in der Schweiz setzt sich die diffuse Kontrolle auf der gliedstaatlichen Ebene fort. Die Gerichte der Einzelstaaten bzw. Kantone haben neben den Bundesgerichten ebenfalls die Befugnis und Pflicht, eine Gesetzesnorm wegen Verstoßes gegen die Bundesverfassung unangewendet zu lassen. So hat der Supreme Court des Staates Massachusetts in der Entscheidung Goodridge v.
die Anwendung zu versagen, die Bundesrecht oder kantonalem Verfassungs- oder Gesetzesrecht widersprechen.“ 20 Martin E. Looser, Verfassungsgerichtliche Rechtskontrolle gegenüber schweizerischen Bundesgesetzen. Eine Bestandsaufnahme unter Berücksichtigung der amerikanischen und deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, der Geschichte der schweizerischen Verfassungsgerichtsbarkeit sowie der heutigen bundesgerichtlichen Praxis, Zürich / St. Gallen 2011, § 2 Rn. 95 (S. 61) m. w. N. 21 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 277. 22 Kelsen (Fn. 21), S. 278.
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Department of Public Health, mit der er im Jahr 2003 das staatliche Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen aufhob, nicht nur die Verfassung von Massachusetts, sondern auch die US-Verfassung als Prüfungsmaßstab herangezogen.23 In der schweizerischen Rechtsprechung lautet die einschlägige Formel: „Das Bundesgericht hat verschiedentlich erkannt, dass kantonale Gerichte unmittelbar gestützt auf die Bundesverfassung verpflichtet sind, das von ihnen anzuwendende kantonale Recht auf seine Übereinstimmung mit der Bundesverfassung zu überprüfen […]. Damit verbunden ist grundsätzlich auch die Pflicht, als verfassungswidrig erkanntes Recht im Einzelfall nicht anzuwenden.“24
Bei dem Fall ging es um eine 25-prozentige sogenannte „Heiratsstrafe“ im Kanton Basel-Landschaft – das ist die steuerliche Schlechterstellung von Verheirateten gegenüber Konkubinatspaaren, die typischerweise durch eine Steuerprogression bei gemeinschaftlicher Veranlagung entsteht. Das „grundsätzlich“ bezieht sich auf den Ausgang: Das Bundesgericht hatte die Steuernorm nicht aufgehoben, sondern dem Kanton eine Frist zur Korrektur gestellt, weil das die Doppeleinkommen begünstigt hätte und dadurch noch weiter vom verfassungswidrigen Zustand entfernt gewesen wäre.25 Die Lösung sollte darum dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. Außerdem gibt es in den beiden Ländern noch eine Strukturparallelität bei der Landesverfassungsgerichtsbarkeit. Die Einzelstaaten und Kantone verfügen ebenso wenig wie der Bund über spezielle Verfassungsgerichte. So übt beispielsweise der Supreme Court of California, das höchste Appellationsgericht des Staates, in seinen Entscheidungen die Verfassungsgerichtsbarkeit hinsichtlich der Staatsverfassung aus, ohne dazu stärker als irgendein anderes Instanzgericht ermächtig zu sein: Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist hier also wie auf Bundesebene integriert und diffus. In der Verfassung des Kantons Aargau heißt es entsprechend: „[Die Gerichte] sind gehalten, Erlassen die Anwendung zu versagen, die […] kantonalem Verfassungs- oder Gesetzesrecht widersprechen.“26 23 Goodridge v. Dept. of Public Health, 798 N.E.2d 941 (Mass. 2003), http: //case law.findlaw.com/ma-supreme-judicial-court/1447056.html, vierter Absatz der Entscheidungsgründe: „[T]he core concept of common human dignity protected by the Fourteenth Amendment to the United States Constitution precludes government intrusion into the deeply personal realms of consensual adult expressions of intimacy and one’s choice of an intimate partner.“ 24 BGE 112 Ia 311 E. 2c S. 313 – Anwendung verfassungswidriger Bestimmungen, http: //www.servat.unibe.ch/dfr/bge/a1112311.html; ständige Rechtsprechung, siehe außerdem BGE 82 I 217 E. 1 S. 219 – Lausanner Friedhofsästhetik, http: //www.servat. unibe.ch/dfr/bge/c1082217.html; BGE 91 I 312 E. 3a S. 314 – Verkaufswagengebühr, http: //www.servat.unibe.ch/dfr/bge/c1091312.html; BGE 117 Ia 262 E. 3a S. 265 f. – Basler Kindergärtnerinnen I, http: //www.servat.unibe.ch/dfr/bge/a1117262.html; BGE 127 I 185 E. 2 S. 187 f. – Unfreiwilligkeitszuschlag Staldenried, http: //www.servat.uni be.ch/dfr/bge/c1127185.html. 25 BGE 110 Ia 7 (19) – Hegetschweiler, http://servat.unibe.ch/dfr/bge/a1110007.html. 26 Art. 95 Abs. 2 KV-AG.
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In der Schweiz haben einzelne Kantone im Rahmen ihrer Verfassungsautonomie das System des Bundes übernommen, indem sie die kantonalen Gesetze von der kantonalgerichtlichen Normenkontrolle ausnehmen.27 Die Anwendung der Kantonsverfassungen wird ohnehin durch das Bundesgericht umfassend geprüft.28 Als Grund dafür wird von Cavin die Gewährleistung des Bundes ausgemacht, die den Bund dann auch verpflichte, über die Einhaltung der Kantonsverfassung zu wachen.29 Angesichts dieser Rahmenkontrolle würde es den Kantonen wenig nützen, wenn sie ihre Verfassungsgerichtsbarkeit im Gegensatz zum Bund speziell und konzentriert ausgestalteten, denn neben dem kantonalen Verfassungsgericht bleibt jedenfalls immer das Bundesgericht befugt zur Entscheidung über die Kantonsverfassung. Auch die gliedstaatlichen Verlängerungen der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit sind zwar keine strukturellen Notwendigkeiten, aber typische Erscheinungen.
4. Fazit
Insgesamt ist zu den Eigenheiten festzuhalten: Integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit bedeutet mindestens die institutionelle Vereinigung von Letztinstanzlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit bei einem Gericht. Häufig geht damit eine diffuse Normenkontrolle einher. In Bundesstaaten erstreckt sich die diffuse Normenkontrolle dann regelmäßig auf die gliedstaatlichen Gerichte. Hingegen ist die Intensität der Kontrolle innerhalb der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit von Land zu Land sehr unterschiedlich.
III. Entstehung der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit 1. Supreme Court
a) Gründung zusammen mit dem Bundesstaat (1787): Im Abstimmungskampf um die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika gehörte die Einrichtung einer Bundesgerichtsbarkeit zu den wenigen unbestrittenen Punkten. Schon in einem der ersten Federalist Papers (Nr. 3) formulierte John Jay die Warnung, dass Gerichte in 13 Einzelstaaten unmöglich in der Lage sein würden, die Angelegenheiten des Bundes einheitlich zu beurteilen.
Beispielsweise § 86 Abs. 3 Bst. a Verf-BL, § 116 Abs. 2 Bst. b Verf-BS. Ulrich Zimmerli / Waler Kälin / Regina Kiener, Grundlagen des öffentlichen Verfahrensrecht, Bern 2004, S. 184. 29 Pierre Cavin, Le tribunal fédéral suisse, Revue internationale de droit comparé 30 (1978), S. 345 (347). 27 28
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Die neue Bundesgerichtsbarkeit sei darum eine der weisesten Entscheidungen des Konvents, die nicht genug gerühmt werden könne: „Because, under the national government, treaties and articles of treaties, as well as the laws of nations, will always be expounded in one sense and executed in the same manner, – whereas, adjudications on the same points and questions, in thirteen States, or in three or four confederacies, will not always accord or be consistent; and that, as well from the variety of independent courts and judges appointed by different and independent governments, as from the different local laws and interests which may affect and influence them. The wisdom of the convention, in committing such questions to the jurisdiction and judgment of courts appointed by and responsible only to one national government, cannot be too much commended.“30
Diese Ausgangsüberzeugung findet sich auch in den Federalist Papers von Alexander Hamilton und James Madison an etlichen Stellen wieder. Sogar die Anti-Federalists stellten die Bundesgerichtsbarkeit in ihren Publikationen nicht insgesamt in Frage, sondern konzentrierten sich darauf, die fehlende Garantie von Jury-Trials zu rügen, auf die nach der neuen Verfassung nur noch bei Strafverfahren ein Anspruch bestand.31 Sogar bei Brutus findet sich eine offene Anerkennung des Primats von Supreme Court Entscheidungen gegenüber den Bundesgesetzen.32 Als Annex zur Bundesgerichtsbarkeit war die Verfassungsgerichtsbarkeit ebenfalls unumstritten. Für die Verfassung wie für jedes andere Bundesgesetz galt nach Hamilton, dass es ohne eine einheitliche Gerichtshierarchie mit einem letztinstanzlichen Supreme Court nur toter Buchstabe zu bleiben drohte (Nr. 22): „Laws are a dead letter without courts to expound and define their true meaning and operation. The treaties of the United States, to have any force at all, must be considered as part of the law of the land. Their true import, as far as respects individuals, must, like all other laws, be ascertained by judicial determinations. To produce uniformity in these determinations, they ought to be submitted, in the last resort, to one SUPREME TRIBUNAL.“
30 Zitiert nach der Ausgabe: Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, The Federalist Papers, Buccaneer Books, New York 1992, S. 10 (11 f.). Entsprechendes gilt für die folgenden Wortlautzitate. 31 Etwa in: Federal Farmer vom 8. November 1787, auszugsweise abgedruckt in: John P. Kaminski / Richard Leffler (Hrsg.), Federalists and Antifederalists. The Debate Over the Ratification of the Constitution, Madison 1998, S. 126 (126); Samuel Bryan (alias Centinel II), in: Philadelphia Freeman’s Journal vom 24. Oktober 1787, ebd. S. 128 (129); An Old Whig III, in: Philadelphia Independent Gazetteer vom 20. Oktober 1787, ebd., S. 132 (132). 32 Brutus XI, in: New York Journal vom 31. Januar 1788, abgedruckt in: Kaminski / Leffler (Fn. 31), S. 121 (123 f.): „The opinions of the supreme court, whatever they may be, will have the force of law; because there is no power provided in the constitution, that can correct their errors, or controul their adjudications. From this court there is no appeal. And I conceive the legitslature themselves, cannot set aside a judgment of this court, because they are authorised by the constitution to decide in the last resort. The legislature must be controuled by the constitution, and not the constitution by them.“
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Trotz der Einigkeit in dieser Teilfrage kann aber von einer gefestigten Verfassungskultur ohne Akzeptenzprobleme in der Umbruchsituation des Abstimmungskampfes keine Rede sein. Die Errichtung eines Bundesstaates war ein Experiment ohne praktische Vorbilder, das zudem in einem besonders schwierigen Umfeld stattfand. Die 13 disparaten Einzelstaaten hatten sich je eigene Staatsverfassungen gegeben und genossen nach dem Unabhängigkeitskrieg ein zuvor ungekanntes Maß an Autonomie, das sie nur ungern zugunsten einer nationalen Gewalt mindern wollten. Amerika war zu dieser Zeit zwar nach außen geeint, aber innerlich zutiefst uneinig. Entsprechend argumentierte Hamilton (Federalist Paper Nr. 19), die Schweiz könne für den neuen Bundesstaat kein Vorbild bieten, weil unter den Kantonen mit ihren einheitlichen Sitten viel weniger Anlass zu Streitigkeiten bestünde als in Amerika. Darum könne man sich anders als in der Schweiz auch nicht mit einer Streitschlichtung durch Schiedsgerichte zufrieden geben: „The connection among the Swiss cantons scarcely amounts to a confederacy; though it is sometimes cited as an instance of the stability of such institutions.They have no common treasury; no common troops even in war; no common coin; no common judicatory; nor any other common mark of sovereignty.They are kept together […] by the few sources of contention among a people of such simple and homogeneous manners; by their joint interest in their dependent possessions; by the mutual aid they stand in need of, for suppressing insurrections and rebellions, an aid expressly stipulated and often required and afforded; and by the necessity of some regular and permanent provision for accomodating disputes among the cantons. The provision is, that the parties at variance shall each choose four judges out of the neutral cantons, who, in case of disagreement, choose an umpire. This tribunal, under an oath of impartiality, pronounces definitive sentence, which all the cantons are bound to enforce.“
Uneinigkeit gab es auch im Detail. So war zwar in der damaligen Diskussion zunächst angenommen worden, dass sich die verfassungsrechtliche Normenkontrolle auch gegen Bundesgesetze richten konnte. Hamilton begründete das damit (Federalist Paper Nr. 78), dass die höhere Verpflichtung und Geltung vorgezogen werden müsse – mit anderen Worten, die Verfassung über dem Gesetz und der Wille des Volkes vor demjenigen seiner Vertreter stehe. „A constitution is, in fact, and must be regarded by the judges as, a fundamental law. It, therefore, belongs to them to ascertain its meaning, as well as the meaning of any particular act proceeding from the legislative body. If there should happen to be an irreconcilable variance between the two, that which has the superior obligation and validity ought, of course, to be preferred; or, in other words, the Constitution ought to be preferred to the statute, the intention of the people to the intention of their agents. [… W]henever a particular statute contravenes the Constitution, it will be the duty of the Judicial tribunals to adhere to the latter and disregard the former.“
Einzelstaatliche Gerichte waren bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert dazu übergegangen, den Verfassungsvorrang durch Nichtigerklärung einzel-
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staatlicher Gesetze abzusichern.33 Jedenfalls im praktischen Ergebnis war dies für die staatlichen Legislativorgane nichts Neues, hatte doch der britische Privy Council schon zur Kolonialzeit die Kontrollbefugnis gegenüber Legislativakten der Kolonien ausgeübt. Bereits in der frühesten Rechtsprechung des Supreme Court und der anderen Bundesgerichte gibt es Hinweise, dass auch die Bundesrichter stets davon ausgingen, ihnen stünde eine umfassende Normenkontrolle gegenüber Bundesgesetzen zu.34 Diese Konsequenz war dem Verfassungstext aber nicht zu entnehmen. Als der Supreme Court im Fall Marbury v. Madison35 die Normenkontrollbefugnis im Wege der Selbstermächtigung einforderte, stieß er darum auf Opposition. b) Selbstermächtigung zur Kontrolle von Bundesgesetzen (1803): Diese Entscheidung aus dem Jahr 1803 kann trotz ihrer berühmten Begründung nicht als Ruhmesblatt der Rechtsstaatlichkeit gelten. Sie ist ebenso wenig Ausdruck einer gefestigten Verfassungskultur wie die Bundesstaatsgründung zuvor. Politisch betrachtet handelt es sich um einen Nebeneffekt des Machtwechsels von der föderalistischen Präsidentschaft John Adams zur demokratisch-republikanischen Präsidentschaft von Thomas Jefferson. Am Tag vor der Amtsübergabe hatte sich der ausgehende Präsident im Bewusstsein des bevorstehenden Machtverlusts eine vom Kongress gerade beschlossene Justizreform zunutze gemacht, um handstreichartig insgesamt 16 neue Bundesrichter und 42 neue Friedensrichter zu ernennen.36 Zu diesen berüchtigten „Mitternachtsnominationen“ gehörte auch diejenige des Klägers Marbury. Mit der Zustellung der Ernennungsurkunden hatte Adams seinen Parteifreund John Marshall betraut, den er einen Monat zuvor zum Gerichtspräsidenten des Supreme Court erhoben hatte. Diesem gelang es aber nicht, vor dem Machtwechsel alle Urkunden zuzustellen. Bei der Klage ging es jetzt darum, ob der Innenminister der neuen Regierung (Secretary of State James Madison) entgegen der ausdrücklichen Weisung des neuen Präsidenten Jefferson gerichtlich gezwungen werden konnte, diese Zustellung vorzunehmen. Im Supreme Court wurde Marshall zum maßgeblichen Richter in diese Angelegenheit, obwohl er dabei sowohl befangen als auch parteiisch war – befangen deshalb, weil es um eine Zustellung ging, die zuvor zu seinen Pflichten gehört hatte; parteiisch deshalb, weil der Streit entlang der politi33 Dazu Werner Heun, Die Geburt der Verfassungsgerichtsbarkeit – 200 Jahre Marbury v. Madison, Der Staat 42 (2003), S. 267 (277) m. w. N. in Fußnote 64. 34 Vgl. Keith E. Whittington, Judicial Review of Congress Before the Civil War, The Georgetown Law Journal 97 (2009), S. 1257 (1266 ff.). 35 Marbury v. Madison, 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803), http: //www.law.cornell.edu/ supct/html/historics/USSC_CR_0005_0137_ZO.html. Ausführliche Analyse mit weiteren Nachweisen etwa bei Heun (Fn. 33), S. 267 ff. 36 Für Details siehe Heun (Fn. 33), S. 268 f. m. w. N.
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schen Fronten verlief und er selbst zu jenen Föderalisten gehörte, die kurz vor dem Machtwechsel noch in Richterämter befördert worden waren. Statt sich für befangen zu erklären, fand Marshall die für alle gesichtswahrende Lösung, dass er seinen politischen Gegner gewinnen ließ und dadurch selbst jeder persönlichen Kritik entging. Bei der Gelegenheit etablierte er die Normverwerfungsbefugnis des Gerichts, die von Präsident Jefferson damals bestritten wurde. Es handelt sich hier um eine Selbstermächtigung durch die Hintertür. Zwar beruht das Ergebnis letztlich darauf, dass sich das Gericht für unzuständig erklärte. Doch bildet der Fall gleichwohl ein echtes Beispiel der Normenkontrolle. Das Gericht musste nämlich eine jedenfalls dem Wortlaut nach sehr umfassende Zuständigkeitsregel im Gerichtsorganisationsgesetz umstoßen, die den Supreme Court ermächtigte, rechtliche Weisungen an alle Gerichte und Amtspersonen der nationalen Hoheitsgewalt auszusprechen.37 Nach der Verfassung ist eine erstinstanzliche Zuständigkeit des Gerichts ausdrücklich nur für einen kleineren Kreis von Ernennungen zulässig.38 Sieht man einmal von der Option einer verfassungskonformen Auslegung ab,39 wäre das Gericht ohne die Nichtigerklärung dieser Klausel nach seiner sonstigen Argumentation verpflichtet gewesen, die neue Regierung zur Zustellung der alten Ernennungsurkunde zu zwingen. Obgleich viele der emphatisch vorgetragenen materiellen Überlegungen in der Entscheidung wegen der Unzuständigkeit bloß als obiter dictum gelten können,40 ist die Normverwerfung selbst im Ergebnis nicht obiter dictum, sondern ratio decidendi. Gleichwohl ist es eine untypische, ja sogar etwas künstlich wirkende Konstellation, denn hinsichtlich einer weitgehend verstandenen Gesetzesermächtigung waren sich alle Parteien einig, dass sie den Verfassungsrahmen überschritt. Besonders auffällig ist auch, dass das Gericht von der materiellen Frage des Verfassungsvorrangs (Supremacy Clause) ohne weiteres auf die Notwendigkeit der eigenen Kompetenz zur Durchsetzung dieses Vorrangs schließt. Gerade im Vergleich mit dem Schweizerischen Bundesgericht, das trotz unumstrittenen Verfassungsvorrangs selbst nicht die Kompetenz hat, Bundesgesetze für nichtig zu erklären, zeigt sich die Kurzschlüssigkeit dieser Argumentation. 37 The United States Judiciary Act of 1789 vom 24. Sep. 1789, 1 Stat. 73; http: // www.constitution.org/uslaw/judiciary_1789.htm, Chapter XX, Section 13: „[…] writs of mandamus, in cases warranted by the principles and usages of law, to any courts appointed, or persons holding office, under the authority of the United States.“ www. constitution.org/uslaw/judiciary_1789.htm. 38 Artikel III Abschnitt 2 Absatz 2 der US-Verfassung: „ In all Cases affecting Ambassadors, other public Ministers and Consuls, and those in which a State shall be a Party, the supreme Court shall have original Jurisdiction. In all the other Cases before mentioned, the supreme Court shall have appellate Jurisdiction, both as to Law and Fact, with such Exceptions, and under such Regulations as the Congress shall make.“ 39 Zu dieser Option Heun (Fn. 33), S. 271. 40 Vgl. Heun (Fn. 33), S. 269 ff.
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c) Öffentlichkeitswirksame Aktivierung der Normenkontrolle (1857): Es sollte weitere 54 Jahre dauern, bis der Supreme Court seiner Selbstermächtigung auch eine Praxis der Normenkontrolle folgen ließ – jedenfalls eine solche, die oberhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle lag.41 Mit dem Dred Scott Case42 aus dem Jahr 1857 kam ausgerechnet einem die Sklaverei fördernden Entscheid diese Schlüsselrolle zu. Es ist die wohl meistkritisierte Entscheidung des Supreme Courts überhaupt. In der Sache ging es um mehrere Kongressgesetze, mit denen die Sklaverei im Staat Wisconsin für illegal erklärt worden war. Der Supreme Court entschied nun, dass dem Bundesparlament keine Kompetenz zukomme, die innerstaatliche Rechtsfrage der Sklaverei zu regeln. Die Normverwerfung betraf nunmehr einen sehr kontroversen Punkt und war insofern typisch für das Instrument. Sie war aber bloß obiter dictum, weil das Gericht schon vorher festgestellt hatte, dass Dred Scott kein US-Bürgerrecht besitze und darum gar nicht klagebefugt sei. Dem Entscheid kommt ungeachtet von solchen Details die Rolle zu, den Anspruch des Bundesgerichts auf Kontrolle der Bundesgesetze öffentlichkeitswirksam bekundet zu haben. Es folgten weitere, weniger prominente Entscheidungen, mit denen die Normverwerfung gegenüber dem Kongress gefestigt wurde. Beispielsweise traf das Gericht im folgenden Jahr in People’s Ferry v. Beers43 die Feststellung, dass die Seerechtskompetenz im Gerichtsorganisationsgesetz des Bundes verfassungswidrig sei. Drei Jahre später nahm es in Kentucky v. Dennison44 eine verfassungskonforme Korrektur des Bundesgesetzes über flüchtige Sklaven vor. Insgesamt etablierte der Supreme Court beginnend mit dem Dred Scott Case eine kontinuierliche und sichtbare Praxis der Normenkontrolle gegenüber dem Kongress. Man könnte als Zwischenergebnis festhalten, dass die voll ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit erst jetzt begann – zu einem Zeitpunkt also, in dem tatsächlich die Bundesstaatlichkeit, die Bundesverfassung und der Supreme Court bereits auf eine lange Tradition zurückblickten und eine hohe Akzeptanz genossen. d) Faktische Spezialisierung auf Verfassungsgerichtsbarkeit? Heute sieht die Situation wiederum anders aus. Das Gericht ist fest etabliert und wird in erster Linie als Verfassungsgericht angesehen. Dies liegt vor allem an dem freien Annahmeverfahren, mit dem das Richterpanel aus den jährlich etwa 41 Zu zahlreichen anderen Normenkontrollfällen in der Zwischenzeit siehe die Übersicht bei Whittington (Fn. 34), S. 1331. 42 Dredd Scott v. Sandford, 60 U.S. 393 (1857), http: //www.law.cornell.edu/supct/ html/historics/USSC_CR_0060_0393_ZS.html. 43 People’s Ferry Company of Boston v. Beers, 61 U.S. 393 (1858), http: //www.law. cornell.edu/supct/html/historics/USSC_CR_0060_0393_ZS.html. 44 Kentucky v. Dennison, 65 U.S. 66 (1860), http: //www.law.cornell.edu/supct/ html/historics/USSC_CR_0065_0066_ZS.html.
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7000 eingereichten Fällen die weniger als 100 auswählt, mit denen es sich befassen will. Der erhebliche Aufwand des ausnahmslos mündlichen Verfahrens führt dazu, die Annahme nur bei „zwingenden Gründen“ (compelling reasons) zu bewilligen. Nach den internen Regeln des Gerichts steht dabei an erster Stelle die Auflösung eines Konflikts bei der Auslegung eines Bundesgesetzes oder der Bundesverfassung. Auch wie bei allen anderen Annahmekonstellationen beschränkt sich das Gericht auf die richtungsweisenden Entscheidungen mit bisher ungeklärten Rechtsfragen. Die heute zur Entscheidung angenommenen Fälle sind zwar formal Fälle der Instanzgerichtsbarkeit (petitions for writs of certiorari, i. e., „cert-cases“), doch inhaltlich geht es vor dem Supreme Court fast immer um Fragen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Angesichts der geringen Zahl von nur neun Richterinnen und Richtern ist dabei stets sichergestellt, dass die Entscheidungen auf verfassungsrechtliche Kenntnisse gestützt werden. Im praktischen Ergebnis ist der US-Supreme Court darum heute wohl ein ebenso stark spezialisiertes Verfassungsgericht wie das deutsche Bundesverfassungsgericht. Der Unterschied zwischen europäischem und amerikanischem Modell wirkt sich eher bei den 94 erstinstanzlichen Distriktsgerichten (district courts) und den 11 Berufungsgerichten (courts of appeal = circuit courts) aus. Vor dem Hintergrund dieser Besonderheiten bietet sich ein Vergleich mit dem Bundesgericht an:
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a) Gründung zusammen mit dem Bundesstaat (1848): Ähnlich wie in den Vereinigten Staaten begann auch in der Schweiz die Verfassungsgerichtsbarkeit mit dem Bundesstaat. In der alten Ordnung (vor 1798) hatten die Eidgenossen mit Schiedsrichtern und Obmännern operiert.45 In der von Napoleon erzwungenen Helvetik (1798) war zwar ein oberster Gerichtshof für den neuen Einheitsstaat vorgesehen, doch hatte dieser bis zum Ende der Verfassungsepisode keine Zeit, sich zu etablieren. Er hatte abgesehen von der Verantwortlichkeitsgerichtsbarkeit auch keine verfassungsgerichtliche Funktion.46 Die anschließende Mediation (1803) verzichtete auf ein über die Gliedstaaten wachendes Gericht. In Artikel 36 der Bundesverfassung hieß es: „Sie [die Tagsatzung] entscheidet über Streitigkeiten, die zwischen den Cantonen entstehen“. Die wenigen Fälle, die auf diesem Wege erledigt wurden, betrafen vor allem Fragen des Gerichtsstands und der Heimatlosigkeit.47 In der restaurativen Zeit des Bundesvertrags (1815) änderte sich
45 Dazu etwa Elisabeth Nägeli, Die Entwicklung der Bundesrechtspflege seit 1815, Winterthur 1920, S. 10 ff.; Looser, Verfassungsgerichtliche Rechtskontrolle (Fn. 20), § 7 Rn. 7 ff. (S. 226 ff.). 46 Looser (Fn. 20), § 7 Rn. 10 (S. 229).
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daran wenig. Nur wurde jetzt ein Schiedsgericht mit den anfallenden Fällen betraut. Solche Schiedsverfahren hatten von vornherein den systemischen Fehler, dass sich ein Kanton weigern konnte, einen Schiedsrichter zu ernennen, und dadurch dem Schiedsverfahren insgesamt entging.48 Nach dem Entwurf von 1833 hätte erstmalig ein Bundesgericht eingeführt werden sollen. Dieser Reformvorschlag blieb aber ohne Erfolg. Die Bundesstaatsgründung (1848) und mit ihr die Einrichtung des Bundesgerichts wurden erst als Ergebnis des Sonderbundkrieges möglich. In der neuen Verfassung drückte sich die Niederlage der Sonderbundkantone aus. Hier hatten die liberalen Kräfte ihre Vorstellungen zwar nicht ganz rücksichtslos, aber doch unter Überwindung von konservativem Widerstand durchgesetzt. Von einer gefestigten Verfassungskultur ohne Akzeptenzprobleme kann darum keine Rede sein. Eine ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit analog zum US-amerikanischen Vorbild entstand auch mit der Bundesstaatsgründung nicht sogleich. Das Bundesgericht war zunächst nur als kasuelles Gericht, nicht als ständige Einrichtung installiert worden. Darin drückte sich, nach dem Urteil von Eduard His, die „Unsicherheit der damaligen Staatsgründer“ aus.49 Organisatorisch tagte es nur an einem ordentlichen Termin in Bern und sonst bei Bedarf nach Wahl des Präsidenten an unterschiedlichen Orten. Personell bestand das Gericht nur aus nebenamtlichen Richtern, die das Parlament zudem zu mehr als zwei Dritteln aus den eigenen Reihen wählte.50 Inhaltlich fehlte ihm die wichtige Kompetenz zur Überprüfung von Beschwerden wegen Verletzung verfassungsmäßiger Rechte. Diese Kompetenz war während der Verfassungsberatungen in zwei Anträgen ohne Erfolg eingefordert worden.51 Stattdessen wurde in Art. 105 der Bundesverfassung 1848 eine Überweisung im Einzelfall vorgesehen, die das Parlament in der Praxis ignorierte.52 Im Ergebnis war der verfassungsgerichtliche Wirkungskreis des Organs 47 Niccolò Raselli, Das Bundesgericht, Internet-Publikation, http: //www.bger.ch/ das_bundesgericht_raselli_07_05.pdf, S. 2. 48 Eduard His, Geschichte des neuern Schweizerischen Staatsrechts, 3. Bd., Der Bundesstaat von 1848 bis 1914, Basel 1938, S. 459 f.; Goran Seferovic, Das Schweizerische Bundesgericht 1848 – 1874. Die Bundesgerichtsbarkeit im frühen Bundesstaat, Zürich u. a. 2010, S. 11. 49 His (Fn. 48), S. 466. 50 Arthur Haefliger, Hundert Jahre Schweizerisches Bundesgericht, SJZ 71 (1975), S. 1 (1). Von den Zeitgenossen wurde die Ämterkumulation in Bundesgericht und Bundesversammlung nicht nur als Problem, sondern auch als praktischer Vorteil beurteilt. Statt eines Gehalts erhielten die Richter Taggelder. Nach der ersten Wahl waren acht der 11 Bundesrichter gleichzeitig Mitglieder der Bundesversammlung. Seferovic (Fn. 48), S. 16 f., 33. 51 Siehe zu diesen Anträgen des Schwyzers Diethelm und der Genfer Deputation Haefliger (Fn. 50), S. 2. 52 Das Parlament überwies dem Gericht eine einzige staatsrechtliche Beschwerde auf dieser Grundlage und traf im Übrigen solche Entscheidungen selbst. Es handelte sich um den Fall Dupré, abgedruckt in ZSR II (1853), S. 41 – 47.
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gegenüber der vorausgegangenen Schiedsgerichtsbarkeit unter dem Bundesvertrag sogar noch reduziert.53 In den knapp 1000 handgeschriebenen Verfahrensakten im Archiv des Bundesgerichts finden sich überwiegend Heimatlosigkeitsangelegenheiten sowie straßen- und eisenbahnrechtliche Enteignungsfragen, die dem Gericht durch Gesetz übertragen worden waren.54 b) Verstetigung in der ersten Totalrevision (1874): Erst mit der gelungenen Totalrevision der Bundesverfassung im Jahr 1874 verstetigte man das Bundesgericht zu einem ständigen Gericht mit vollamtlichen Richtern und festem Sitz in Lausanne. Erst jetzt begann die amtliche Publikation der Entscheidungen. Mit der anstehenden Vereinheitlichung des Schuldrechts (OR, 1883) zeichnete sich ein erheblicher Bedeutungszuwachs bei der zivilrechtlichen Kernkompetenz als interpretationsleitende Letztinstanz ab. Und als Verfassungsgericht erlangte es nun die Befugnis, Individualverfassungsbeschwerden zu behandeln, die neben den erweiterten Grundrechten der Bundesverfassung auch grundrechtsgleiche Rechte wie das Doppelbesteuerungsverbot erfasste. Als eine Konsequenz der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit wuchs das Gericht unabhängig vom Bestand an Verfassungsgarantien schon allein wegen seiner Funktion als Letztinstanz. Die Rechtsvereinheitlichungen führten direkt zu einer Erhöhung der Richterzahl und Vermehrung der Abteilungen – 1883 mit der Vereinheitlichung des Obligationenrechts, 1892 mit der Reform der Schuldbetreibung, 1912 mit dem Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches, 1942 mit der Vereinheitlichung des Strafrechts und 1969 mit dem Inkrafttreten des Verwaltungsverfahrensgesetzes. Das Gericht war von Anfang an ein politiknahes Gericht. So fanden sich unter den ersten neun vollamtlichen Mitgliedern insgesamt vier ehemalige Ständeräte und drei ehemalige Nationalräte. Bis heute werden die Gerichtssitze unter den fünf größten Parteien ungefähr proportional zu deren Stärke im Parlament aufgeteilt. Im Unterschied zur Struktur von 1848 wurde aber 1874 die personelle Gewaltenteilung verwirklicht. Die Bundesrichter durften kein anderes öffentliches Amt mehr innehaben. Obwohl das erste Organisationsgesetz von 1874 noch einzelne Zugangshürden zur Verfassungsgerichtsbarkeit enthielt, die erst mit der Zeit abgebaut wurden,55 fällte das neu konstituierte Bundesgericht von Anfang an 53 Jakob Blumer, Das schweizerische Bundesgericht. Eröffnungsrede, Zeitschrift für Schweizerische Gesetzgebung und Rechtspflege 1 (1875), S. 24 (25). 54 Darunter befanden sich überwiegend Expropriationsstreitigkeiten sowie insgesamt 102 Scheidungsprozesse konfessionell gemischter Ehen, die dem Gericht eine lästige Pflicht waren. Nur etwa 500 Streitigkeiten musste das Gericht entscheiden; der Rest endete mit einem Vergleich. Seferovic (Fn. 48), S. 24 ff., 35 f., 213, 358. 55 Zaccaria Giacometti, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Schweizerischen Bundesstaates (Die staatsrechtliche Beschwerde), Zürich 1933, S. 39 f.; Haefliger (Fn. 50),
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originär verfassungsrechtliche Entscheidungen. Dabei waren sich die Richter bewusst, dass diese neue Kompetenz ein „interessanter und weitaussehender Wirkungskreis“ zu werden versprach.56 Der erste Bundesgerichtspräsident erklärte als Leitbild dafür: „in der grossen Schwesterrepublik jenseits des Ozeans [den] obersten Gerichtshof, welcher gleichsam das Prinzip ruhiger Stätigkeit in Mitten allgemeiner Bewegung und heftiger Parteikämpfe repräsentirt, durch konsequente Handhabung der Unionsverfassung und der Unionsgesetze.“57
Schon im ersten Jahresband der Entscheidungssammlung (1875) findet sich beispielsweise die erfolgreiche Beschwerde des 27-jährigen Solothurners Kamber, der sich auf seine verfassungsrechtliche Ehefreiheit berief (Art. 54 Nr. 1 aBV). Die Regierung hatte ihm die Ehebewilligung verweigert, weil die Frau mit 40 Jahren zu alt und zudem mit sechs unehelichen Kindern belastet sei, was „keineswegs zur Förderung des Hausfriedens beitragen dürfte“ (BGE 1, 92 – Kantonale Ehehindernisse). In einem anderen Fall schützte das Bundesgericht wenig später das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 49 aBV) zugunsten einer thurgauischen Frau, von der sich der Mann nur deshalb hatte scheiden lassen, weil sie nicht in den von ihm bestimmten Gottesdienst gehen wollte. Die Begründung dieses frühen Urteils klingt bereits nach der erst hundert Jahre später anerkannten mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte. Es heißt: „So wenig der Staat nach Art. 49 der Bundesverfassung […] seinen Angehörigen ein bestimmtes religiöses Bekenntniß vorschreiben oder verbieten […] darf, so wenig steht dem Ehemanne das Recht zu, die religiöse Ueberzeugung seiner Ehefrau zu beherrschen und deren Glaubens- und Gewissensfreiheit Zwang anzuthun.“58
Wenn man das Jahr 1875 als den eigentlichen Beginn der schweizerischen Verfassungsgerichtsbarkeit wählt, dann kann tatsächlich von einer weitgehenden Akzeptanz des Bundesstaates und seiner Institutionen gesprochen werden. Allerdings ist zu diesem Zeitpunkt die Idee einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit noch nicht verbreitet. Die Einsetzung des österreichischen Reichsgerichts für den Grundrechtskatalog aus dem Staatsgrundgesetz von 1867 mag zwar mehr sein als eine nur deklaratorische S. 6; Hans Huber, Hundert Jahre Bundesverfassung, SJZ 70 (1974), S. 149 (153); Rainer J. Schweizer, Die Errichtung des ständigen Bundesgerichts 1874 und die Verdienste von Johann Jakob Blumer um diese Reform, in: FS Soliva, Zürich 1994, S. 295 (308 f.): Die Entscheidungskompetenz zu einer Reihe wichtiger Grundrechte war bis zur Revision des Organisationsgesetzes (1893) noch den politischen Behörden vorbehalten (Niederlassungsfreiheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit und Kultusfreiheit), die zur Handels- und Gewerbefreiheit noch bis 1911. Außerdem Werner Brüschweiler, Artikel ‚Bundesgericht‘ in: Historisches Lexikon der Schweiz, www.hls-dhs-dss.ch/ textes/d/D9631. 56 Blumer (Fn. 53), S. 26. 57 Blumer (Fn. 53), S. 28. 58 BGE 4, 434 E. 2 S. 435 – Setz-Germann, http://www.servat.unibe.ch/dfr/pdf/ c1004434.pdf.
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Schutzfunktion dieses Gerichts.59 Aber den eigentlichen Durchbruch dürfte die Idee der selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit erst in der Zwischenkriegszeit mit Hans Kelsen erlangt haben, um dann in Österreich vorbildträchtig verwirklicht zu werden. c) Unvollständige Normenkontrollbefugnis: Eine vollständige Verfassungsgerichtsbarkeit bestand allerdings damals wie heute nicht. In Artikel 133 Nr. 3 der Bundesverfassung hieß es zur Kontrollkompetenz bei Verfassungsbeschwerden und anderen Streitigkeiten: „In allen diesen Fällen sind jedoch die von der Bundesversammlung erlassenen Gesetze und allgemein verbindlichen Beschlüsse sowie die von ihr genehmigten Staatsverträge für das Bundesgericht maßgebend.“
Damit stellt sich die Verfassungsgerichtsbarkeit grundsätzlich anders und rechtspolitisch sehr viel weniger kontrovers dar als in der amerikanischen Schwesterrepublik: Indem Bundesgesetze maßgebend sind, ist das Bundesgericht nicht berechtigt, eine solche Norm auch nur im Einzelfall unanwendbar zu lassen, geschweige denn, sie abstrakt für nichtig zu erklären. Dasselbe gilt für alle anderen Gerichte. Sie sind zwar im Rahmen der diffusen Normenkontrolle grundsätzlich ermächtigt und verpflichtet, den Verfassungsvorrang zu beachten. Dies aber nicht gegenüber den Bundesgesetzen. Mittelbar wirkt sich das auch auf den Umfang der verfassungskonformen Auslegung aus. Äußerstenfalls kann das Bundesgericht die Verfassungswidrigkeit feststellen, um auf diesem Wege einen Appell an die Bundesversammlung zu richten. Nach der Einschätzung von Bryde ist es „kein Zufall“, dass sich Formen der reduzierten Verfassungsgerichtsbarkeit gerade in den „alten Demokratien“ finden.60 Der Zusammenhang zwischen hoher politischer Stabilität und verringerter verfassungsgerichtlicher Kontrolle mag ein Grund sein, warum sich die Frage eines verselbständigten Verfassungsgerichts in der Schweiz auf absehbare Zeit gar nicht stellen wird. Die Diskussionen kreisen derzeit noch um die Vorfrage, inwieweit man überhaupt eine vollständige Verfassungsgerichtsbarkeit installieren sollte.61 d) Verselbständigung durch Abteilungen? Damit bleibt noch die Frage, inwieweit sich eine Verselbständigung der Verfassungsgerichtsbarkeit auch subkutan durch organisatorisch-funktionale Aufgabenteilung innerhalb des 59 Stephan G. Hinghofer-Szalkay, Die Grundrechtserkenntnisse des Reichsgerichts. Wurzel des österreichischen Grundrechtsstaates oder Deklaration ohne Rechtsfolgen?, ZNR 33 (2011), S. 192 (193 ff., 200 ff.). 60 Brun-Otto Bryde, Integration durch Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Grenzen, in: Hans Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 329 (331). 61 Vgl. den (erfolglosen) Vorschlag des Bundesrats, im Rahmen der Justizreform eine vorfrageweise gerichtliche Überprüfung von Bundesgesetzen konzentriert beim Bundesgericht vorzusehen: Botschaft über eine neue Bundesverfassung, 20. November 1996, in: BBl 1997 I 1 ff. (505 ff., 532 ff.). Ein entsprechendes, 2011 aufgegriffenes Projekt ist 2012 im Parlament gescheitert.
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Gerichts ergeben kann. Immerhin ist die Rechtsprechung zum Zivilrecht und zum öffentlichen Recht bereits seit 1893 durch die Reform des Organisationsgesetzes jeweils unterschiedlichen Abteilungen zugewiesen. Durch die spätere Aufteilung der öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten auf eine überwiegend staatsrechtlich und eine eher verwaltungsrechtlich tätige Abteilung (1969) ist diese interne Spezialisierung noch einmal verstärkt worden. Die Abteilungsstruktur führt indes nicht dazu, dass alle spezifisch verfassungsrechtlichen Fragen von der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung behandelt würden. Der notorische Fall der VgT-Nachrichten aus dem Jahr 2002 (BGE 129 III 35) kann dieses Problem illustrieren. Es ging darum, inwieweit die schweizerische Post als öffentliches Unternehmen gegenüber den Kunden an die Grundrechte gebunden sei. Die Post hatte einer Tierschutzvereinigung wegen der abstoßenden Bebilderung ihrer Massendrucksache, also wegen eines Inhalts der Meinungsäußerung, die Beförderung zu einem günstigen Tarif versagt. Weil es sich um Vertragsrecht handelte, gelangte dieser Entscheid vor die zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts. Dort wurde unter weitgehender Ignorierung des grundrechtlichen Schrifttums und mit deutlicher Würdigung des politischen Interesses an einer Privatisierung der Postaufgaben die Grundrechtsbindung in dieser Angelegenheit verneint. Im Ergebnis nützte es der Rechtssicherheit nur wenig, dass das Gericht ausnahmsweise doch einen Kontrahierungszwang nach Zivilrecht konstruierte. Der grundrechtsdogmatische Schaden war bereits angerichtet. Diese Entscheidung charakterisierte Yvo Hangartner zu Recht als „grundrechtlichen Irrläufer der I. Zivilabteilung“.62 Die Frage wurde dann 2010 in einem nicht publizierten, aber gleichwohl viel beachteten Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung zur Theatervermietung in Genf gerade umgekehrt entschieden.63 Der Fall zeigt einen der Hauptnachteile der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit. Mit der zivilrechtlichen Letztentscheidung im Instanzenzug sind gleichzeitig alle verfassungsrechtlichen Rügen verbraucht. Es gibt in solchen Konstellationen keinen letzten Rettungsanker mehr für die spezifisch verfassungsrechtlichen Fragen. In der besten aller Welten wäre dies kein Problem, weil die Zivilrichter des Bundesgerichts mit der Aufgabe zur integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit auch gleich über die Befähigung zu deren Bewältigung verfügten. In der Realität sieht es leider anders aus. Im Ergebnis zeigt sich, dass der Supreme Court und das Bundesgericht nicht in stabilen Situationen mit großer Akzeptanz gegründet wurden, son62 Yvo Hangartner, Entscheidbesprechung, AJP 2011, S. 705 (706), mit weiteren Literaturnachweisen. 63 BGer, Urteil 1C_312 / 2010 vom 8. Dezember 2010 – Alhambra-Vermietung Genf, mit Anmerkungen von Michel Hottelier, AJP 2011, S. 698; Yvo Hangartner, AJP 2011, S. 705; Axel Tschentscher, in: Walter Kälin u. a., Die staatsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts in den Jahren 2010 und 2011, ZBJV 147 (2011), S. 747 (782 f.).
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dern eher unter Rahmenbedingungen, in denen man heute wohl zu einem spezialisierten Verfassungsgericht raten würde. Die Normenkontrolle konnten diese Gerichte aber im Laufe von Jahrzehnten graduell entwickeln und dadurch auf größere Akzeptanz für dieses einschneidende Instrument bauen. Die Unterschiede zwischen den beiden Gerichten sind trotz der ähnlichen Ausgangslage inzwischen sehr groß geworden. IV. Integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich Im folgenden Verfassungsvergleich wird sich zeigen, dass die praktische Vorbildfunktion von USA und Schweiz in der Verfassungsgerichtsbarkeit heute gering ist. Ob die Modelle integrierter Verfassungsgerichtsbarkeit überhaupt noch Vorzüge aufweisen, muss angesichts dieser Tendenz hinterfragt werden. Das Beharrungsvermögen dieser beiden Staaten könnte auch einfach auf resignativ-pragmatischen Motiven beruhen. Die faktisch versteinerte US-Verfassung lässt kaum Gestaltungsspielraum für institutionelle Reformen. In der Schweiz beweisen die zwei gelungenen Totalrevisionen zwar die Lebendigkeit der Grundordnung, aber inhaltlich geht es stets in so kleinen Schritten vorwärts, dass ein grundlegender Systemwechsel in der Gerichtsbarkeit unwahrscheinlich wird. 1. Commonwealth-Staaten
Als prominente Beispiele integrierter Verfassungsgerichtsbarkeit kommen zunächst die Gerichte der Commonwealth-Staaten in Betracht: der High Court von Australien (1903), der Supreme Court von Kanada (1949) und der Supreme Court von Indien (1950) sowie der relativ neue Supreme Court von Neuseeland (2004). Für diese Gerichte haben weder die USA noch die Schweiz Modell gestanden. Sie sind vielmehr Emanzipationsgewächse aus der ursprünglichen Zuständigkeit des britischen Privy Council. Für die ehemaligen britischen Kolonien in Afrika, die nach ihrer Unabhängigkeit zunächst dem Westminster Modell folgten, lässt sich inzwischen sogar ein Trend zur selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit feststellen.64 Als Besonderheit, die ebenfalls keine amerikanischen Wurzeln hat, nimmt der Supreme Court in Großbritannien (2009) heute materiell die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in einem Land ohne geschriebene Verfassung wahr. Im Fall von Großbritannien ist dabei eine neue, immer wichtiger werdende Motivation für die Gründung von Verfassungsgerichten zu erkennen. Sie sind Befreiungsschläge gegenüber einer als fremd empfundenen Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. 64 Am Beispiel Südafrikas Brun-Otto Bryde, Constitutional Law in „old“ and „new“ Law and Development, in: VRÜ 41 (2008), S. 10 (11, 13).
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Axel Tschentscher 2. Holland und Skandinavien
Aus denselben Gründen wie in Großbritannien wird auch in Holland diskutiert, ob man die Normenkontrolle einführen sollte.65 Der fehlende nationale Filter gegenüber Menschenrechtsbeschwerden in Straßburg ist ein starkes Motiv für den Systemwechsel.66 Sollten sich die Holländer entgegen ihrer Tradition für eine Normenkontrolle entscheiden, dann voraussichtlich mit einem selbständigen Verfassungsgericht. In den Nachfolgestaaten der niederländischen Antillen ist dies seit deren Verselbständigung auch das gewählte Mittel (Sint Maarten 2010). Auch die skandinavischen Länder sind solchen Trends ausgesetzt. Der schon erwähnte Domstol in Dänemark67 war formal betrachtet bisher nicht als Verfassungsgericht, sondern als Oberster Gerichtshof konzipiert. Er gewann aber 1999 kraft ungeschriebener Selbstermächtigung eine Kompetenz zur Normenkontrolle und damit Verfassungsgerichtsqualität. Damit ist ein Filter gegenüber der Normenkontrolle in Straßburg entstanden, dessen bewusste gesetzliche Reflexion noch aussteht. Ähnlich war die Entwicklung in Schweden, wo die beiden obersten Gerichte (Oberstes Gericht und Oberstes Verwaltungsgericht) einen Rat zur nichtverbindlichen Normenkontrolle bilden.68 Am ehesten folgt der Oberste Gerichtshof Norwegens dem Vorbild der US-Gerichtsbarkeit. Nach seiner frühen Gründung (1815) auf der Basis der Verfassung von 1814 wurde die Zuständigkeit des Obersten Gerichts für Verfassungsgerichtbarkeit bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Anschluss an das amerikanische Vorbild aus der Universalzuständigkeit abgeleitet.69 Auch Finnland hatte sich zunächst für das US-Vorbild entschieden, verfolgt aber seit der Verfassungsreform im Jahr 2000 eine Hybridform der Verfassungsgerichtsbarkeit. Dabei werden die ex post-Normenkontrollen im Einzelfall weiterhin durch das Oberste Gericht Finnlands vorgenommen. Zusätzlich ist aber ein Parlamentsausschuss für Verfassungsrecht mit der ex ante-Normenkontrolle befasst. Diesem Ausschuss kommt wegen seiner engen Bindung an verfassungsrechtliche Expertisen die Rolle eines QuasiVerfassungsgerichts zu.70
van der Schyff (Fn. 16), S. 281 ff. Zur Relevanz dieses Arguments bei der Selbstermächtigung des Domstol (Supreme Court) in Dänemark siehe Fredrik (Fn. 1), S. 882. 67 Dazu oben Abschnitt I. 1. 68 Franz C. Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Armin von Bogdandy / Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl., Berlin / Heidelberg 2009, S. 559 (561). 69 Vgl. Constance Grewe, Vergleich zwischen den Interpretationsmethoden europäischer Verfassungsgerichte und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, ZaöRV 61 (2001), S. 459 (468). 70 Details bei Kaarlo Tuori, Kombination aus theoretischer ex ante- und konkreter ex post-Prüfung: Das finnische Modell, in: Gret Haller u. a. (Hrsg.), Menschenrechte 65 66
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Insgesamt lässt sich für Holland und Skandinavien zwar nach wie vor eine traditionsbedingte Abstinenz gegenüber dem allgemeinen Trend zur spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit feststellen. Diese Zurückhaltung weist aber in den letzten 20 Jahren zunehmend Brüche auf.
3. Lateinamerika
Die Staaten Lateinamerikas werden gelegentlich als Beispiel für integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit genannt.71 Daran ist richtig, dass diese Staaten, allen voran Mexiko, mit dem Amparo-Verfahren (recurso de amparo) ein traditionsreiches Instrument für integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit entwickelt haben. Es ähnelt dem habeas corpus, indem es als allgemeine Aktion grundsätzlich vor jedem Gericht geltend gemacht werden kann, geht inhaltlich aber weit darüber hinaus. Außer auf die Wiederherstellung persönlicher Freiheit kann ein Amparo auch wegen der Verfassungswidrigkeit von Normen, Urteilen oder Verwaltungsakten sowie allgemein in Agrarsachen geltend gemacht werden. Im Ergebnis handelt es sich um ein außerordentliches Beschwerderecht, das die Verteidigung der eigenen Grundrechte gegen staatliche Eingriffe mit einschließt. Entgegen dieser integrativen Amparo-Tradition zeigt sich aber heute in den lateinamerikanischen Ländern ein starker Trend zu spezialisierten Verfassungsgerichten. Dabei folgt die Entwicklung weder eindeutig dem amerikanischen noch dem europäischen Modell. So gibt es beispielsweise in Brasilien, Peru, Guatemala und Ecuador ein Kombinationsmodell, bei dem ein spezialisiertes Verfassungsgericht für die abstrakte Normenkontrolle zuständig ist, aber gleichzeitig die traditionell gewachsene diffuse Verfassungsgerichtsbarkeit durch konkrete Normenkontrollen aller anderen Gerichte erhalten bleibt.
4. Japan
Am ehesten dürfte noch Japan durch die Vereinigten Staaten inspiriert worden sein. Dort gab es bereits seit 1875 ein Vorgängergericht zum heutigen Supreme Court. Es war autonom nach westlichem Vorbild eingesetzt worden. Unter der nach preußischem Vorbild erstellten Meiji-Verfassung (1889 – 1946) erhielt es 1890 die oberste Revisionsgewalt, verfügte aber damals noch nicht über die Normenkontrolle. Erst die von den Vereinigten Staaten gesteuerte Verfassungsrevision hat 1947 zur heutigen Struktur ge-
und Volkssouveränität in Europa. Gerichte als Vormund der Demokratie?, Frankfurt a. M. / New York 2011, S. 279 (284 ff.). 71 Petra Stykow, Vergleich politischer Systeme, Paderborn 2007, S. 185.
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führt. Man könnte insoweit von einem unfreiwilligen Modellcharakter sprechen. Die japanische Verfassung hält allgemein fest, dass die rechtsprechende Gewalt den Gerichten obliegt (Art. 76 JV) und weist dem Obersten Gerichtshof die doppelte Aufgabe als Letztinstanz und Verfassungsgericht zu (Art. 81 JV).72 Nach herrschender Verfassungsinterpretation und Praxis steht die Befugnis zur Kontrolle von Gesetzen, Verordnungen und sonstigen Regelungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit aber auch allen anderen Gerichten zu. Es handelt sich also um ein Beispiel integrierter Verfassungsgerichtsbarkeit mit diffuser Normenkontrolle nach amerikanischem Vorbild. Lediglich die gliedstaatliche Komponente entfällt, weil Japan nicht als Bundesstaat organisiert ist. Obwohl die japanische Verfassung von 1947, genau wie vorher schon die die Meiji-Verfassung, noch nie geändert wurde, gibt es Diskussionen um eine mögliche Revision. Einer der prominentesten Vorschläge für eine neue Verfassung, der YOMIURI-Entwurf, sieht dabei die Einführung eines Japanischen Verfassungsgerichtshofs vor, der sowohl die abstrakte wie auch die konkrete Normenkontrolle in alleiniger Kompetenz wahrnehmen soll.73 Das wäre dann, wie schon in Europa und Lateinamerika, wiederum ein Beispiel für den Trend hin zu spezialisierten und konzentrierten Systemen.
V. Ergebnisse 1. Kein einheitliches Modell
Dieter Grimm hat vertreten, man könne die verfassungsgerichtliche Systemfrage ohne Rücksicht auf die Gerichtstradition eines Landes und seine historischen Erfahrungen gar nicht beantworten.74 Für die integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit dürfte dieser Befund zutreffen. Schon im Vergleich von USA und Schweiz haben sich deutliche Unterschiede gezeigt, beispielsweise die verfassungsrechtliche Spezialisierung beim Supreme Court und die starke Einschränkungen der Normenkontrolle im Falle des Bundesgerichts.75 In den Traditionslinien gibt es insoweit eine Parallele, als beiden Gerichten die Verfassungsgerichtsbarkeit inhaltlich erst mit der Zeit zugewachsen ist. Das dürfte aber ein Artefakt der Entwicklungsgeschichte sein und kein Indiz für Modellverwandtschaft. Immerhin sind beide Bundesver-
72 Hierzu und zum Folgenden Masanori Shiyake, Verfassung und Religion in Japan, Baden-Baden 2011, S. 14, 17 ff. 73 Shiyake (Fn. 72), S. 18. Vgl. aber S. 21 zu ablehnenden Stimmen. 74 Grimm (Fn. 17), S. 175; ders. (Fn. 9), S. 211. 75 Weitere Gründe für die Einzigartigkeit des Bundesgerichts bei Cavin (Fn. 29), S. 347.
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fassungen so alt, dass sie ihre Gerichtsbarkeit installierten, bevor die Systementscheidung für oder gegen eine spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit überhaupt zum Thema wurde. Das mag auch der Grund dafür sein, dass die beiden Staaten im Verfassungsvergleich weder europäisch noch außereuropäisch eine nennenswerte Vorbildfunktion erlangt haben.
2. Institutionelle Stellung und institutioneller Wandel
Bleibt zum Schluss noch die Frage nach den Vor- und Nachteilen. Argumentiert man mit dem institutionellen Eigeninteresse, so gibt es bei spezialisierten Verfassungsgerichten ohne Weiteres eine starke Motivation, die Bedeutung der Verfassung in den Vordergrund zu stellen, denn mit dieser Bedeutung steht und fällt die institutionelle Stellung des Gerichts und des Gerichtspersonals. Im Umkehrschluss bedeutet dies für die integrierten Verfassungsgerichte der USA und der Schweiz: Solange die Verfassungshoheit nicht in Frage steht, weil auch integrierte Gerichte gewillt und fähig sind, den Verfassungsvorrang praktisch durchzusetzen, besteht normalerweise nicht das Bedürfnis nach einer separaten Verfassungsgerichtsbarkeit. „Normalerweise“ deshalb, weil auch einfache Administrativgründe wie die Belastung des Gerichts für eine Trennung der Funktionen sprechen können.76 Dem ist der Supreme Court, dessen Struktur in einer faktisch versteinerten Verfassung kaum je änderbar sein wird, dadurch entgangen, dass er sich in der eigenen Praxis ein Ermessen bei der Auswahl der Fälle eingeräumt und seine Tätigkeit dann auf eigentliche Verfassungsfragen konzentriert hat. Der Supreme Court ist darum heute funktional fast ein spezialisiertes Verfassungsgericht. Seine Stellung an der Spitze des regulären Instanzenzugs ist durch das Annahmeermessen abgeschnitten. Er ist Höchstgericht und Gipfelpunkt der Gerichtshierarchie nur noch in einem symbolischen Sinn.
3. Pragmatische Anpassung
Die Entwicklung des US Supreme Courts zeigt exemplarisch, wie sehr die resultierende Charakteristik eines Gerichts von praktischen Zwängen abhängt. Ähnlich wie das US-amerikanische Pendant sucht sich auch der Supreme Court von Kanada jedes Jahr nur einige Dutzend Fälle für eine Prüfung aus. Auch dieses Gericht ist dadurch faktisch zu einem spezialisierten Verfassungsgericht geworden. Verfassungsgerichtliche Spezialisierung durch Meidung der Masse bloß letztinstanzlicher Kontrollen ist also eine mögliche Antwort auf Entscheidungsdruck. In einigen Fällen integrierter Verfassungsgerichtsbarkeit wäre aber auch dies kein Ausweg aus der Über-
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Grimm (Fn. 17), S. 175.
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lastung, weil die Verfassungsbeschwerden den größten Umfang ausmachen. So gingen bei dem wohl weltweit am stärksten belasteten integrierten Verfassungsgericht, dem brasilianischen Supremo Tribunal Federal, allein im Jahr 2010 mehr als 100.000 neue Beschwerden ein, die überwiegend auf Verfassungsrechte abzielten.77
4. Integrierte Prüfung
Demgegenüber besteht in der Schweiz bisher noch kein Handlungsdruck. Das Gericht wurde personell immer weiter aufgestockt, so dass es nach wie vor seiner Doppelrolle gerecht wird, ohne unerträgliche Verfahrenszeiten zu erzeugen. Nicht nur die steigende Zahl der Richterinnen und Richter hat zu dieser Entlastung beigetragen, sondern auch die gewachsene Bedeutung der Gerichtsschreiber in der Arbeitsteilung, die Einrichtung von Bundesverwaltungsgericht und Bundesstrafgericht, die Pflicht zur Einrichtung von verwaltungsgerichtlichen Vorinstanzen in den Kantonen und die Streitwertgrenzen für die zivilrechtlichen Beschwerden. Ein Vorteil der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit offenbart sich in der neuesten Verfahrensrevision. Sie hat das zuvor geltende Nebeneinander von verfassungsgerichtlicher und einfachrechtlicher Beschwerdeform zu einer Einheitsbeschwerde zusammengefasst. Zwar musste als salvatorischer Rettungsanker für Ausnahmekonstellationen in letzter Sekunde noch eine „subsidiäre Verfassungsbeschwerde“ hinzugefügt werden, doch im Prinzip führt die Einheitsbeschwerde heute alle Rügen, einfachrechtliche wie verfassungsrechtliche, durch denselben Prüfungskanal, was für Beschwerdeführer überschaubarer und effizienter ist als das frühere Aktionensystem. Der Hauptnachteil der Integration dürfte jenseits von Organisationsdetails liegen. Er entsteht, wenn das Bundesgericht unter Vernachlässigung verfassungsrechtlicher Fragen eine Entscheidung als Letztinstanz trifft. Mit dieser Entscheidung sind dann gleichzeitig alle Grundrechtsrügen verbraucht, während im spezialisierten System noch ein Verfassungsgericht bereit steht, um sich diesen gesondert zu widmen.
77 Brazil’s Supreme Court. When less is more. Reforms improve the judicial system, in: The Economist vom 21. Mai 2009.
Aussprache Gesprächsleitung: Brauneder
Brauneder: Vielen Dank für das schöne Referat. Die Diskussion ist eröffnet. Herr Simon. Simon: Bei aller Betonung der jeweils eigenständigen gerichtsverfassungsgeschichtlichen Tradition in den hier zur Rede stehenden Ländern bleibt doch ein grundlegender Befund: Es gibt eine nicht übersehbare Tendenz zu einer spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit. Man fragt sich natürlich: „Wie kann man das erklären?“ Hätte man bei möglichen Deutungsmustern nicht auch etwas auf die Wissenschaftsgeschichte des Öffentlichen Rechts zu blicken? Eine Deutungs- und Erklärungsmöglichkeit könnte ja sein, dass es erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer dogmatischen Verselbständigung des Öffentlichen Rechts, insbesondere des Verfassungsrechts, als eines besonderen, immer stärker vom Allgemeinen Recht abgehobenen Bereiches kommt. Diese Entwicklung verleiht der Meinung und dem justizpolitischen Standpunkt zusätzliche Plausibilität, dass es für Entscheidungen, die aus einer besonders strukturierten Dogmatik mit anderen Ausgangspunkten bei der Grundsatzbildung usw. hervorgehen, eben auch eines besonderen Gerichtshofes bedarf. Muss man hier also nicht auch auf die Wissenschaftsgeschichte des Öffentlichen Rechts schauen, aus der man möglicherweise Motive entnehmen kann für den steigenden Bedarf an einer institutionell verselbständigten Verfassungsgerichtsbarkeit? Tschentscher: Herr Simon, was Sie schildern, wird besonders schön deutlich in Kelsens Argumentation für die Verselbständigung. Kelsen sagt ja, Verfassungsrecht als besonderes Recht verlange auch nach einem besonderen Gericht. Dahinter steht die Überzeugung, Verfassungsrecht ist politisches Recht und dann braucht man auch fähige, politisch abgesicherte Richter. Wenn man sich allerdings die integrierten Gerichte anschaut, dann sind die gar nicht weniger politisch. Ich kann Ihnen als Beispiel die allererste Phase des Bundesgerichtes bieten: Wie wurde das Gericht besetzt? Es wurden Parlamentarier hineingewählt, die zudem während ihrer Richterwahlperiode weiterhin im Parlament blieben. Das ist ein sehr enger politischer Konnex. Und man achtete sogar noch darauf, dass, wenn ein Kanton im Bundesrat mit einem Regierungsmitglied vertreten war, dieser Kanton nicht
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Aussprache
mehr bei der Richterwahl berücksichtigt wurde, so dass möglichst alle Kantone durch politische Repräsentanten in Bundesregierung und Bundesgericht vertreten waren. Viel politischer geht nicht, was die Kompetenz der Bewältigung von Verfassungsfragen angeht und die Bewältigung des politischen Inputs. Das Gleiche kann man eigentlich in den USA auch sehen: Der Supreme Court war, und nicht erst in den letzten Jahrzehnten, sondern im letzten Jahrhundert, immer ein sehr politisches Gericht. Jeder Präsident hat versucht darauf Einfluss zu nehmen, Richter haben sich an ihrem Stuhl festgehalten bis zu ihrem Tode, weil sie vermeiden wollten, dass ein ihnen nicht gleichgesinnter Präsident sie ersetzt. Die Antwort ist also: ja und nein. Sicher, der Siegeszug der spezialisierten Gerichtsbarkeit hat auch mit der Identifizierbarkeit des Öffentlichen Rechts als einer eigenständigen Materie zu tun. Bei den Konsequenzen daraus sehe ich allerdings keine Besonderheit der speziellen Verfassungsgerichte. Brauneder: Herr Schönberger. Schönberger: Ich habe als allgemeine Überlegung erst einmal folgende Frage: Ihr Referat lebt ja ganz stark von einer Idealisierung der speziellen Verfassungsgerichtsbarkeit. Aus dieser Perspektive erscheint das andere Modell, die integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit der USA oder der Schweiz, als etwas latent Defizitäres. Denn aus Ihrer Sicht ist es natürlich der große Vorteil der spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit, dass diese es erlaubt, das Verfassungsrecht überhaupt erst einmal zu dramatisieren. Die spezielle Verfassungsgerichtsbarkeit zwingt institutionell zur Dramatisierung des Verfassungsrechts, insbesondere der Grundrechtsfragen, während das integrierte Modell gewissermaßen zu einer Banalisierung des Verfassungsrechts führt, weil dieses nur eine Materie unter anderen Materien bleibt. Man könnte nun die spezielle Verfassungsgerichtsbarkeit unter vielen Aspekten problematisieren, das möchte ich hier im Detail aber nicht tun. Ich will aber auf einen Vergleichsaspekt hinweisen, der vielleicht noch einiges erklären kann. Sie gehen im Grunde davon aus, dass das Ideal die umfassende Normenkontrolle ist. Diese bräuchte man eigentlich, und dann fragt man sich besorgt, warum sie nicht so richtig oder nur so halb entwickelt ist. Die beiden Staaten, die Sie beschreiben, sind aber Bundesstaaten. Diese Bundesstaaten hatten am Beginn das Problem, dass sie ihr neues Bundesrecht überhaupt erst etablieren mussten. Deswegen scheint es mir eigentlich ganz fernliegend zu sein, dass ein junger Bundesstaat als erstes die Verfassungskontrolle der Bundesgesetze etabliert. Die Aufgabe des Bundesstaates ist doch zunächst, das neue Bundesrecht überhaupt erst einmal durchzusetzen, insbesondere gegenüber widerstrebenden Gliedstaaten. Das ist doch in der Schweizer Geschichte das große Thema des 19. Jahrhunderts. Widerstrebende Kantone müssen die Bundesgesetze überhaupt erst einmal einhalten und vollziehen. Ich würde sagen, für die USA gilt das in anderer Weise auch.
Aussprache
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Und insofern ist es ganz naheliegend, dass die Normenkontrolle von Bundesgesetzen am Anfang gerade nicht etabliert wird. In der Schweiz ist diese Entscheidung ja ganz bewusst getroffen worden. In den USA gilt im 19. Jahrhundert faktisch Ähnliches. Der Supreme Court muss zwar die Normenkontrolle der Bundesgesetze theoretisch beanspruchen, wahrscheinlich auch schon deswegen, um zu verhindern, dass die Gliedstaaten diese beanspruchen. Aber er übt sie eben kaum aus, um die Wirksamkeit des Bundesrechts nicht zu gefährden. Das ändert sich erst, als der amerikanische Bundesstaat sich im 20. Jahrhundert konsolidiert hat und man dann eben auch zu einer stärkeren Grundrechtskontrolle der Bundesgesetze übergeht. Das ist ein ganz zentraler Aspekt, dann erzählen wir die Entwicklungsgeschichte doch etwas anders. Ich bin im Übrigen auch gar nicht so sicher, dass man wirklich sagen kann, die integrierten Modelle seien historische Sonderfälle, die heute von der Spezialisierung gewissermaßen entwicklungstechnisch überholt sind. Ich glaube, es gibt noch einen Aspekt, der da mitschwingt, nämlich das Vertrauen in die Justiz insgesamt, die in den USA und der Schweiz nicht als eine völlig spezialisierte bürokratische Justiz erscheint, sondern als eine Justiz, der man die Verfassungskontrolle guten Gewissens auch noch mit anvertrauen kann. Und das scheint mir schon der große Unterschied zu sein, dieses Vertrauen haben wir in den meisten Staaten natürlich nicht. Und deswegen führen die meisten Staaten, wenn sie eine Verfassungsgerichtsbarkeit neu einführen, diese gerade aus dem Misstrauen gegen die bürokratische Karrierejustiz ein, die in der Regel in Abhängigkeit vom vorherigen Regime steht. Diesen Richtern kann man die Normenkontrolle nicht in die Hand geben, also macht man etwas Spezialisiertes. Ist das so ein großer Vorteil, oder ist das nicht einfach der Ausdruck großer Not? Diese Not ist relativ allgemein, aber sie genügt als solche kaum, um die Überlegenheit der speziellen Verfassungsgerichtsbarkeit zu begründen. Tschentscher: Vielen Dank, Herr Schönberger. Wenn ich im Kopf richtig mitgezählt habe, haben Sie jetzt etwa neun Punkte angesprochen, auf die es sich einzugehen lohnt. Ich gehe in umgekehrter Reihenfolge auf drei ein. Zunächst einmal: Sind diese Gerichte Sonderfälle? Sie sind insofern keine Sonderfälle, als eigentlich der Normalfall die integrierte Gerichtsbarkeit ist, denn wenn man eine Normenhierarchie hat, dann müssen sich die Gerichte ja wohl daran halten. Die Kombination von Gewaltenteilung, Verfassungsvorrang und Gerichtsbarkeit führt eigentlich zur Integrierung. Darum würde ich nicht sagen, dass die integrierten Verfassungsgerichte ganz außergewöhnlich sind. Man sieht ja auch an den südamerikanischen Staaten besonders deutlich, dass dort ganz naturwüchsig diese integrierte Gerichtsbarkeit erst einmal entsteht. Der Amparo ist zwar ein Kristallisationspunkt, mit dem das geschieht, aber man könnte sich so eine Entwicklung auch ohne ein Amparo-Verfahren vorstellen. Ich will unsere beiden
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Gerichte also gar nicht so sehr zu Sonderfällen stilisieren, das ist der eine Punkt. Das Zweite – Normenkontrolle: Dass die Normenkontrolle gar nicht im Vordergrund stand bei der Begründung dieser Gerichtsbarkeit, das ist ohne Zweifel richtig. Was ich hier nicht abgedruckt habe, ist die Supremacy Clause aus der US-Verfassung. Warum nicht? Weil die zu dieser Frage nichts beiträgt. Supremacy klingt ja erst einmal nach Vorrang. Welcher Vorrang ist aber vor allem gemeint? Der des Bundesrechts gegenüber dem der Staaten – genau das also, was Sie gesagt haben. Die Klausel trägt für die Frage des Vorranges innerhalb des Bundesrechts, Verfassung gegenüber Bundesgesetzen, historisch gar nichts bei. Trotzdem denke ich, es wäre zu stark zu sagen, dass bis zum Zeitpunkt von Marbury versus Madison bewusst eine Zurückstellung der Normenkontrollfrage stattgefunden hat. Ich meine, das war eine unbewusste Entscheidung aus der Situation heraus – und dass in der Entscheidung so schöne Dinge drinstehen, die wir heute noch verwenden können, das ist eher ein Zufall, der wohl auch in der Person von Marshall begründet liegt. Quintessenz: Ja, es stimmt, in dem zeitlichen Kontext ist die Normenkontrolle noch nicht das Hauptthema. Trotzdem meine ich, dass die Normenkontrollfrage bereits auftaucht, weil der Verfassungsvorrang bereits diskutiert wird. Bei Hamilton findet man es ganz ausdrücklich, wenn er sagt, die Verfassung geht den Bundesgesetzen vor. Viel deutlicher kann man es nicht betonen. Drittens schließlich Ihr erster Punkt – die Banalisierung: Vielleicht klang es bei mir so, als würde ich der speziellen Verfassungsgerichtsbarkeit einen deutlichen Vorzug geben. Was nicht im Referat enthalten ist, ist die Kritik an der speziellen Verfassungsgerichtsbarkeit. Da ließe sich ja viel sagen – und nicht nur zur neueren bundesdeutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern auch ganz allgemein. Ich werde es einmal andersherum machen und, als Entkräftung der Banalisierung, die Vorteile der integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit noch einmal in den Raum stellen. Sehen Sie, wenn Sie aus der Sicht eines Klägers in der letzten Instanz alle Fragen vorbringen können, dann bieten Sie dem Gericht ein Portfolio an Argumenten, ohne festlegen zu müssen, worauf es sich stützen soll. Das erhöht die Erfolgsaussichten und bietet dem Gericht auch bessere Möglichkeiten, seine Entscheidung abzuschließen. Es muss nicht spezifisch-verfassungsrechtliche Argumente nehmen, sondern es kann auch interpretatorische aus dem Bundesrecht nehmen. Insofern, unter pragmatischen Gesichtspunkten, und das sieht man in der Rechtssprechung des Schweizerischen Bundesgerichts sehr schön, ist das sogar ein großer Vorteil. Ich meine nur, dass dem eben auch Nachteile gegenüberstehen und die habe ich, wenn ich Ihre Frage bedenke, vielleicht überdeutlich betont. Brauneder: Gut, bevor ich Herrn Kley das Wort gebe, ein Blick auf die Uhr. Wir sind sehr, sehr unter Zeitdruck, aber wir können ja die Diskussion
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zu diesem Referat vielleicht unter Umständen noch am Nachmittag fortsetzen. Oder? Sehen das die Veranstalter anders? Jetzt werden wir vermutlich nicht mehr hinkommen und wir sollten eigentlich diese interessante Diskussion auch nicht abwürgen. Um 13.15 Uhr müssen wir beim Essen sein. Bis dahin sind es 20 Minuten und wir müssen noch hinübergehen und wir wollen die Küche nicht verärgern, weil wir noch mehrere Mahlzeiten vor uns haben, vielleicht geht es sich aus. Tschentscher: Wir können gerne bündeln und ich kann versprechen, es kurz zu halten. Brauneder: Probieren wir das einmal. Gut, dann Herr Kley. Kley: Eine Anmerkung und eine Frage. Die Anmerkung betrifft den von Ihnen erwähnten Fall VGT (Verein gegen Tierfabriken) gegen die Schweizer Post. Diese hatte die Übermittlung und Verteilung von Nachrichten des VGT deshalb verweigert, weil das darin enthaltene Bildmaterial extrem anstößig war. Ich teile Ihre Auffassung zu diesem Fall; ich kann aber noch den Hintergrund dieses Streits beleuchten. Dahinter steht ein Gelehrtenstreit, der sich Ende der 1980er Jahr an der Berner Fakultät abgespielt hat. Die Privatrechtler haben sich gegen die Öffentlichrechtler gewandt, als Letztere die Drittwirkung der Grundrechte zu postulieren begannen. Die Privatrechtler behaupteten, das sei eine „modernistische“ Lehre. Diese sei überflüssig, würde das Privatrecht bevormunden und eigentlich würde man hier das Territorium in unzulässiger Weise ausweiten. Diese Auseinandersetzung hatten die Beteiligten sehr heftig geführt und letztlich ließ sie sich nicht beilegen. Vielmehr reichte sie bis in die Gegenwart und bis in das Bundesgericht hinein. Einzelne Abteilungen des Bundesgerichts verweigern nach wie vor die Anwendung der Drittwirkungsklausel (Art. 35 Abs. 3) in der schweizerischen Bundesverfassung. Es handelt sich um einen Beleg, dass die rechtswissenschaftlichen Theorien nicht bloße Theorie sind, sondern sehr praktische, vielleicht sogar zu praktische Auswirkungen haben, wenn Sie mir diese Formulierung gestatten. Zu meiner Frage: Sie haben schön geschildert, welche Zuständigkeiten das alte Bundesgericht (also von 1848 bis 1874) besaß. Diese kamen aufgrund gesetzlicher Ermächtigungen zustande und betrafen etwa die Fälle der Heimatlosigkeit, die Fälle der Ehescheidung und der Enteignungssachen etwa für den Eisenbahnbau. Jetzt könnte man doch die These aufstellen, das sei eben doch auch Grundrechtsprechung gewesen. Das sind ja alles Themen, eben die Staatsangehörigkeit, Ehescheidung, Eigentumsrecht, die grundlegende Positionen des Einzelnen betreffen. Hat an dieser Stelle nicht eine eigentliche Vorbereitung für die spätere Grundrechtsprechung des Bundesgerichtes stattgefunden? Brauneder: Gut, dann nehmen wir Herrn Heun noch dazu.
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Heun: Ich würde doch noch einmal ganz gerne etwas die historische Entwicklung bis zu Marbury versus Madison ergänzen, weil mir das doch etwas zu sehr verkürzt erscheint, dass man sich zu sehr auf Marbury versus Madison konzentriert. Also erstens gab es schon, bevor es überhaupt die Bundesverfassung gab, in Amerika eine Tradition der Normenkontrolle, weil die Gesetze der lokalen repräsentativen Versammlungen zum Teil vom Privy Council für nichtig erklärt worden sind. Das heißt, es gab schon eine gewisse Tradition, bevor es überhaupt zu der Einrichtung einer Verfassung kam. Das ist das Erste. Das Zweite ist, dass die Frage der Normenkontrolle in dem Philadelphia Konvent bereits debattiert worden ist und es gab mehr Stimmen für eine Normenkontrolle als Gegenstimmen. Man findet beide Positionen in der Fülle der Philadelphia Konvention, aber auch da ist schon eine überwiegende Mehrheit von Stimmen für eine Normenkontrolle zu finden. Das Nächste ist, dass es dann im Gefolge in den Einzelstaaten eine ganze Reihe von Gerichtsentscheidungen gibt, die eine entsprechende Normenkontrolle durchführen und den Vorrang der Verfassung gegenüber den Gliedstaatengesetzen durchsetzen. Und dann wird meistens übersehen, dass in der Rechtsprechung des Supreme Court schon im Jahr 1795 in der Entscheidung von Van Horne’s Lessee der Supreme Court angenommen hat, dass ein Gesetz, ein Landesgesetz, gegen die gliedstaatliche Verfassung verstoßen hat und deswegen nichtig ist. Damit wird die Normenkontrolle prinzipiell schon in Anspruch genommen und der Vorrang der Verfassung durchgesetzt und es gibt auch schon eine Entscheidung vorher, in der eine gründliche Prüfung des Bundesgesetzes vorgenommen wird und dann nur abgelehnt wird, dass es verfassungswidrig sei, aber diese Prüfung setzt schon voraus, dass die Normenkontrolle in Anspruch genommen wird. Es ist übrigens so, dass die Entscheidung Marbury versus Madison zwar heftig umstritten war, aber gerade in diesem Punkt zuerst einmal nicht. Der Punkt ist fast unbemerkt in der seinerzeitlichen Diskussion geblieben, die Inanspruchnahme der Normenkontrolle ist nicht kritisiert worden. Und Thomas Jefferson hat sich erst später ganz generell gegen die Macht des Supreme Courts ausgesprochen, auch deswegen, weil es natürlich federalistisch besetzt war, während die Republikaner im Grunde genommen durchgehend ab 1800 die Präsidentschaft gestellt haben. Also, auch da haben wir eigentlich eine spätere Entwicklung. Brauneder: Bitte kein Koreferat halten. Heun: Ich denke übrigens, dass in der Tat die Durchsetzung des Bundesrechtes ein wichtiger Gesichtspunkt war. Es ist aber nicht so ganz richtig, wenn Sie sagen, die Supremacy Clause habe keine Rolle gespielt, sondern Marbury versus Madison beruft sich, würden wir heute sagen – dogmatisch falsch, aber Marshall beruft sich auch auf diese Supremacy Clause, um genau den Vorrang der Bundesverfassung vor den Bundesgesetzen zu beanspruchen. Im Übrigen ist die heutige Hauptfunktion des Supreme Court des-
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wegen hauptsächlich auf das Verfassungsrecht gestützt, weil das praktisch die Vereinheitlichung von gliedstaatlicher Rechtsprechung und bundesstaatlicher Rechtsprechung bewirkt. Deswegen hat der Supreme Court die frühere Inanspruchnahme eines gemeinsamen Common Law inzwischen abgelehnt. Er braucht sie nämlich nicht mehr, weil er die Verfassung hat und auf diese Art und Weise die Vereinheitlichung der Rechtsprechung bundesweit durchsetzt. Tschentscher: Vielen Dank Herr Heun. Ich habe sieben Punkte aufgeschrieben. Brauneder: Sie müssen nicht auf alle antworten. Tschentscher: Ich nehme vier und versuche es jeweils in einem Satz. Vereinheitlichung: Ja, das sieht man wunderbar, sowohl bei den normalen Bundesgerichten als auch beim Supreme Court, denn der sucht sich diejenigen Sachen heraus, die richtig kontrovers geworden sind und erst dann betreibt er mit seiner Entscheidung die nötige Vereinheitlichung. Supremacy Clause: Ja, das war dogmatisch falsch. Neben Van Horne‘s Lessee 1795 gibt es etliche Entscheidungen, die Whittington analysiert hat, pro Jahr ein bis zwei. Das Problem ist nur, die sind in der öffentlichen Diskussion nicht relevant geworden, sind also keine „big things“ in dieser Diskussion, darum halte ich nach wie vor Marbury versus Madison und dann später Dred Scott für die entscheidenden, auch wenn das vielleicht eine etwas konventionelle Sichtweise ist. Philadelphia Konvent: Dem werde ich mit Interesse nachgehen. Nach meiner Erinnerung ist es allerdings so, dass bei diesen Abstimmungen dann gar nicht mehr eine proportionale Beteiligung der Staatenvertreter gegeben war. Aber das werde ich noch einmal genauer studieren. Und schließlich Nichtigerklärung durch den Privy Council: Das ist zwar eine Tradition, aber mit der wollten die Verfassungsväter jetzt ja gerade brechen. Also gerade das gehörte zu den unsäglichen Dingen, die in der Unabhängigkeitserklärung gerügt wurden, diese Herrschaft durch den Privy Council. Da denke ich nicht, dass man eine Traditionslinie bis zur Verfassungsgründung ziehen kann. Herr Kley: Ja, vielen Dank. Das ist die schwierige Frage: Gibt es eine Tradition, schon aus dieser frühen Rechtsprechung? Ich bin da sehr unentschieden, z. B. bei den Eheverfahren. Das Bundesgericht hatte unter anderem über Scheidungen zu befinden und zwar von gemischt-konfessionellen Ehen. Die wurden ihm zugewiesen – eine ganz ungeliebte Aufgabe –, und darin kann man den Grundrechtsaspekt sehen, aber es waren letztlich doch eher schlichte Dinge, die heute bei normalen Amtsgerichten behandelt werden und nicht bei einem Bundesgericht. Insofern waren es Zufälle, und die
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ganze Entschädigungsrechtssprechung ist aus meiner Sicht wirklich eher eine Frage der Bewertung in Geld und weniger eine Rechtsfrage. Das Einzige, bei dem es wirklich um etwas Verfassungsrechtliches ging, war noch die Heimatrechtssituation. Selbst das hat allerdings einen eher wirtschaftlichadministrativen Hintergrund, denn das Problem bestand einzig darin, welcher Kanton für die meistens mittellosen Witwen und Waisen aufkommen sollte. Insofern, bei aller Liebe zur Bedeutungszuweisung, habe ich doch ein bisschen Schwierigkeiten, beim alten Bundesgericht in den Jahren 1848 bis 1874 schon einen Schwerpunkt in der Grundrechtsjudikatur zu sehen. Brauneder: Gut, Herr Steiger. Steiger: Danke. Mir scheint, dass mit Ihrem Referat in unserer Diskussion, eine neue Stufe erreicht ist, weil Sie, zum ersten Mal nämlich, zwei konkrete Verfassungen jeweils mit einem Verfassungsgericht, ich sage es einmal so, mit einem verfassungs-kontrollierenden justiziellen Verfahren in einem Gericht, zusammenbringt. Bisher hatten wir es ja immer mit allen möglichen Verfahren zu tun, die wir immer so gedeutet haben, mag es dahin kommen oder nicht. Also, das scheint mir ganz entscheidend zu sein und damit stellt sich für mich nun die allgemeine Frage, wie ist das eigentlich mit dem Zusammenhang zwischen Verfassung und Verfassungsgericht? Gehört das irgendwie zusammen und wie? Sicherlich kann man nicht sagen, ein Staat hat keine Verfassung, wenn er keine justizielle Verfassungskontrolle hat. Wo kämen wir denn da hin? Aber kann man nicht umgekehrt sagen, dass man dort, wo man auch mit etwas eigenartigen justiziellen Mitteln, die wir gestern und heute am Morgen schon besprochen haben, Kontrolle der politischrechtlichen Ordnung hat, dass man dann von einer Verfassung durchaus sprechen kann, weil eben auch die justizielle Kontrolle da ist? Sollten wir also jetzt einmal umgekehrt denken, als wir bisher gedacht haben? Das hat natürlich seine Konsequenzen. Für mich als Europarechtler hat das einfach die Konsequenz, dass man eben dann doch bei Europa von einer Verfassung sprechen kann. Ich sage jetzt mit Absicht, bei Europa und nicht EU, weil wir ja noch nicht den europäischen Menschrechtsgerichtshof als Instanz innerhalb der EU haben. Wenn wir auf Europas Organisation insgesamt gucken, auf Europarat und EU, ich weiß, das ist vielleicht gefährlich, kann man eben dann doch von der Verfassung Europas sprechen. Auf wie viel Punkte Sie jetzt kommen, das weiß ich nicht. Brauneder: Damit es mehrere Punkte werden, nehmen wir den Herrn Härter noch dazu. Härter: Ich wollte noch einmal darauf aufmerksam machen, dass gerade diese integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit doch sehr stark vormodern geprägt ist, durch vormoderne Vorbilder, die auch bereits diskutiert worden sind. Sie entspricht strukturell einem Modell der Höchstgerichtsbarkeit, wie
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wir es in Europa in der Frühen Neuzeit und im 18. Jahrhundert vorfinden, wo es noch keine spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit gab, aber über die unterschiedlichen justiziellen Möglichkeiten so etwas wie eine Kontrolle entsteht; als Stichworte könnte man nennen: Reichskammergericht und Reichshofrat. Ein zweiter Punkt kommt immer noch etwas zu kurz, das ist der justizielle Verfassungsschutz; dieser umfasst sowohl die Konflikte zwischen den Gliedstaaten als auch die Konflikte zwischen Gliedstaaten und dem Bund. Wie ist das in dieser integrierten Verfassungsgerichtsbarkeit verankert? Brauneder: Gut, Herr Tschentscher. Dann auch gleich das Schlusswort. Tschentscher: Ich fange mit dem Letzten an. In den USA nicht, jedenfalls gibt es keine spezifische Klage vor dem Supreme Court zur Auseinandersetzung zwischen Einzelstaaten. In der Schweiz hingegen von Anfang an. Von Anfang an einige Schlüsselkompetenzen und damit, ich hatte Ihnen diesen graduellen Zuwachs geschildert, unumstrittener als die Normenkontrolle und unumstrittener als überhaupt die Verfassungsgerichtsbarkeit im klar rechtlichen Sinn. Vormoderne: das lasse ich einfach so stehen, ich fühlte mich ein bisschen erinnert an den Hinweis von Herrn Schönberger, dass Normenkontrolle eigentlich kein Thema ist und meine Antwort dort war ja, eigentlich ist integrierte Verfassungsgerichtsbarkeit, integrierte Gerichtsbarkeit insgesamt, der Normalfall. Davon kann man einmal ausgehen und darum wundert mich das auch nicht, dass das zuerst entsteht und wir dann erst mit Kelsen und mit Österreich diesen Siegeszug der speziellen Gerichte erlebten. Herr Steiger: Das finde ich nun sehr schwierig und sehr originell, die Idee sozusagen, das Ganze vom Kopf auf die Füße zu stellen: Also Verfassung haben wir dann, wenn wir eine Verfassungsgerichtsbarkeit haben. Wenn wir das weiter verallgemeinern, hätte man Rechtsstaatlichkeit genau dann, wenn es eine Gerichtsbarkeit gibt, die über das Recht entscheidet. Man kann diesen methodischen Wechsel ja wohl nicht an der Bezeichnung von Verfassungsgericht festmachen? „Wo ist dann die Grenze?“, habe ich mich gefragt bei Ihrer Idee. Ich finde das sehr originell, ich kann im Moment aber noch nicht sehen, wie das jetzt die Analyseschärfe im Ergebnis erhöhen wird. Aber ich werde weiter darüber nachdenken und das ist vielleicht eine gute Gelegenheit, zum Schluss zu kommen. Ich verzichte auf ein Schlusswort und danke Ihnen sehr für das Zuhören und die Diskussion. Brauneder: Vielen Dank. Weiter nachdenken ist ja wirklich ein schönes Schlusswort. Dankeschön. Mahlzeit.
„Schutz der Verfassung“ in der österreichischen Dezemberverfassung von 1867 Von Gerald Stourzh, Wien
Die Dezemberverfassung von 1867 ist keine einheitliche Verfassungsurkunde. Vielmehr besteht sie aus einem Bündel von Grundgesetzen oder Staatsgrundgesetzen; diesbezüglich ist die Terminologie nicht ganz einheitlich. Die Dezemberverfassung, so genannt nach dem Tage der kaiserlichen Sanktionierung, dem 21. Dezember 1867, besteht im engeren Sinne aus fünf Gesetzen:1 – Gesetz, wodurch das Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 26. Februar 1861 abgeändert wird. Dieses Gesetz bezeichnet sich in einem Artikel (Art. 15) ausdrücklich als Grundgesetz, und in einem anderen gleichzeitig sanktionierten Gesetz (Ausgleichsgesetz) wird es als „Staatsgrundgesetz“ bezeichnet. Von Stringenz der Bezeichnungen kann also keine Rede sein. – Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger. – Staatsgrundgesetz über das Reichsgericht. – Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt. – Staatsgrundgesetz über die Regierungs- und Vollzugsgewalt.2
Es ist wichtig, auf die Mehrzahl von Staatsgrundgesetzen hinzuweisen, die die Dezemberverfassung im engeren Sinne bildeten, weil Historiker gar nicht so selten bestimmte Artikel „der Dezemberverfassung“ nennen, ohne zu bedenken, dass diese Staatsgrundgesetze separate Zählungen hatten. 1 Der Verfasser hat sich seit 1967 immer wieder mit Entstehung und Durchführung der österreichischen Dezemberverfassung befasst und greift daher im vorliegenden Vortragstext mehrfach auf frühere Publikationen zurück, insb. die folgenden: Gerald Stourzh, Die österreichische Dezemberverfassung von 1867 (1968), in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaats, Wien / Köln 1989, S. 239 – 258; ders., Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848 – 1918, Wien 1985; ders., Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen in der Entwicklung des österreichischen Verfassungsstaats 1848 – 1918 (2003), wiederabgedruckt in: ders., Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990 – 2010, Wien / Köln 2011, S. 85 – 103. – Der bis heute weitaus beste Kommentar zur Dezemberverfassung findet sich in den Exkursen und Anmerkungen in der Edition von Edmund Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze, 2. Aufl., Wien 1911. 2 Texte bei Bernatzik (Fn. 1), S. 390 – 439.
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Zwei der am häufigsten genannten Artikel „der Dezemberverfassung“ sind in zwei verschiedenen Gesetzen mit getrennter Zählung zu finden: Art. 14 über das Notverordnungsrecht steht im Grundgesetz über die Reichsvertretung, Art. 19 über die Gleichberechtigung der Nationalitäten steht im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger. Von den fünf genannten Staatsgrundgesetzen hatte nur das erste, über die Reichsvertretung, seinen Ursprung in einer Regierungsvorlage. Die vier anderen Staatsgrundgesetze, von denen das bedeutendste das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger war, entstanden im Verfassungsausschuss des Abgeordnetenhauses des Reichsrates, sie waren Schöpfungen des Parlaments. Der Reichsrat von 1867 hat also als eine Art pouvoir constituant fungiert, wenngleich die Sanktion des Kaisers unausweichlich war. Es gibt aber noch einige weitere Gesetze, die in engem Zusammenhang mit der Dezemberverfassung stehen und manchmal auch als Teil der Dezemberverfassung betrachtet werden. Sie sind in drei Gruppen einzuteilen. Die erste Gruppe ist etwas ausführlicher zu erörtern: Es handelt sich um zwei Gesetze. Zunächst und am wichtigsten, das den Ausgleich mit den Ländern der ungarischen Stephanskrone regelnde, also die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn begründende oder genauer mitbegründende „Gesetz betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten und die Art ihrer Wirksamkeit“. Ich spreche von dem die Doppelmonarchie mitbegründenden Gesetz, weil es auch ein entsprechendes Gesetz des nunmehr gleichberechtigt mit dem Wiener Parlament agierenden ungarischen Parlaments gab. Der Ausgleich mit Ungarn, die Bildung einer nunmehr gleichberechtigt existierenden „ungarischen Reichshälfte“ war ja die an politischer Bedeutung alles andere überragende Neuerung des Jahres 1867. Diese Neuerung war vom Kaiser und König mit Vertretern des ungarischen Landtags ausgehandelt worden, ohne Konsultierung oder gar Zustimmung des Wiener Parlaments.3 Die, wie zu zeigen sein wird, wichtigen liberal-rechtsstaatlichen Komponenten der Dezemberverfassung, die an die Verfassungstradition von 1848 anknüpften, waren eine Konzession des Kaisers an die Liberalen im Wiener Parlament, deren nachträgliche Zustimmung zum Ausgleich er benötigte. Die Herstellung der vollen Verfassungsmäßigkeit in der nicht-ungarischen Hälfte der Monarchie war aber auch
3 Das die Ergebnisse dieser Verhandlungen enthaltende ungarische Gesetz war bereits am 12. Juni 1867 von Franz Joseph in seiner Eigenschaft als König von Ungarn sanktioniert worden. Text bei Bernatzik (Fn. 1), S. 329 – 350. Zu den staats- und völkerrechtlichen Folgen des österreichisch-ungarischen Augleichs siehe Gerald Stourzh, Der Dualismus 1867 – 1918. Zur staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Problematik der Doppelmonarchie, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Bd. 7, Verfassung und Parlamentarismus, Teilbd. 1, Wien 2000, S. 1177 – 1230.
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eine Grundbedingung der Ungarn für den Abschluss des Ausgleichs.4 Für die Wiener Parlamentsmehrheit war wiederum die gleichzeitige Sanktionierung der österreichischen Staatsgrundgesetze mit dem (österreichischen) Ausgleichsgesetz eine Garantie für die Akzeptanz der Staatsgrundgesetze durch den Kaiser. Deshalb wurde – mit einem weiteren Gesetz – ein Junktim festgelegt, wonach die oben genannten fünf Staatsgrundgesetze gleichzeitig mit dem Ausgleichsgesetz vom Kaiser zu sanktionieren wären. Alle insgesamt nun sieben Gesetze wurden am 21. Dezember 1867 sanktioniert.5 Von Interesse, und signifikant für die schwierige Übergangslage der Habsburgermonarchie im Jahre 1867 ist das Phänomen, dass das Wort „österreichisch“ in zwei am gleichen Tage vom Kaiser sanktionierten Gesetzen in zwei vollkommen unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wurde. Im Titel des Ausgleichsgesetzes war von den „allen Länder der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten“ die Rede. Hier bezog sich „österreichisch“ noch auf die gesamte Habsburgermonarchie. Im gleichzeitig sanktionierten Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger ist jedoch von der „österreichischen Staatsbürgerschaft“ die Rede, die sich lediglich auf die Staatsbürgerschaft der nicht-ungarischen Länder bezog; es gab eine eigene ungarische Staatsbürgerschaft. Diese nicht-ungarischen Länder waren offiziell „die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“. Inoffiziell bürgerte sich schnell der Name „Cisleithanien“ ein, vom kleinen Flüsschen Leitha abgeleitet, das streckenweise die Grenze zwischen Ungarn und Niederösterreich bildete. Ungarn, von Wien ausgesehen, wurde daher manchmal als „Transleithanien“ bezeichnet. Zunächst im Sprachgebrauch, schrittweise auch in offiziellen Dokumenten, bürgerte sich „Österreich“ als Name für die 17 im Wiener Parlament vertreten Kronländer ein, beschleunigt durch die im November 1868 von Franz Joseph verfügten offiziellen Bezeichnungen der Doppelmonarchie als „österreichisch-ungarische Monarchie“ oder „österreichisch-ungarisches Reich“.6 Nun, nur kurz, zur zweiten Gruppe. Es handelt sich um zwei Gesetze, früheren Datums, das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit und das Gesetz zum Schutze des Hausrechts, beide vom 27. Oktober 1862. Diese wurden nachträglich mittels zweier Bestimmungen im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 (Art. 8 u. 9) zu Staatsgrundgesetzen erklärt. Schließlich ist, ebenfalls nur kurz, eine dritte Gruppe, zu nennen. Es gab drei Gesetze aus dem Jahr 1867, materiell mit verfassungsrechtlichem In-
§ 25 des ungarischen Ausgleichsgesetzes, Bernatzik (Fn. 1), S. 338. Bernatzik (Fn. 1), subsumiert in seinem Inhaltsverzeichnis alle sieben Gesetze unter „Dezemberverfassung“, spricht jedoch im Text (S. 390) nur von den fünf erstgenannten Gesetzen als „Dezemberverfassung“. 6 Hierzu ausführlich Stourzh (Fn. 3), S. 1183 – 1193. 4 5
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halt, jedoch weder als Staatsgrundgesetze bezeichnet noch mit Zweidrittelmehrheit zustande gekommen. Es handelt sich um das Ministerverantwortlichkeitsgesetz vom 25. Juli 1867, das einen Staatsgerichtshof einführte, sowie um das Vereinsgesetz und um das Versammlungsgesetz, beide vom 15. November 1867.7 Die Unübersichtlichkeit des altösterreichischen Verfassungsrechts ab 1867 geht aber noch weiter. Bereits seit 1861 gab es 15 Landesordnungen und 15 Landtagswahlordnungen für die 17 nicht-ungarischen Kronländer – je 15 Ordnungen für 17 Länder deshalb, weil die drei Länder Istrien, Görz mit Gradisca und die reichsunmittelbare Stadt Triest eine gemeinsame Landesordnung bzw. Landeswahlordnung erhielten. Diesen zweimal 15, also 30 Ordnungen war im sogenannten Februar-Patent von 1861 ausdrücklich „die Kraft eines Staatsgrundgesetzes“ für das betreffende Land verliehen worden.8 Landesgesetze erhielten Gesetzeskraft durch die Sanktion des Kaisers ohne Dazwischentreten des Parlaments, genannt Reichsrat, in Wien. Es gab, im Unterschied zum Deutschen Reich, keine Norm „Reichsrecht bricht Landesrecht“; es gab 1867 große Widerstände gegen die Dezemberverfassung vor allem aus Böhmen, Mähren und Tirol. Die Staatsgrundgesetze von 1867 wurden in Abwesenheit der den Wiener Reichsrat viele Jahre hindurch boykottierenden tschechischen Abgeordneten beschlossen. Von Regierungsseite her war geplant, bei Kompetenzkonflikten zwischen Reichsrat und Landtagen auf Antrag des Reichsrates den Kaiser entscheiden zu lassen. Dem widersetzte sich das Abgeordnetenhaus des Reichsrats, und es erfolgte keine Regelung – mit dem Ergebnis, dass anstatt des Grundsatzes „Reichsrecht bricht Landesrecht“ der Grundsatz „lex posterior derogat priori“ obwalten sollte.9 Ein schwieriges Problem bestand darin, dass sowohl die Landesordnungen als auch das Grundgesetz über die Reichsvertretung taxative Aufzählungen von Kompetenzen enthielten. Davon wird im Zusammenhang mit Georg Jellineks Schrift „Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich“ von 1885 noch die Rede sein. Doch nun zum „Schutz“ der Verfassung. Im Rahmen dieser Tagung steht der Schutz der Verfassung durch die verschiedenen Entwicklungen und Ausprägungen der richterlichen Prüfungsrechts, des „judicial review“ im Mittelpunkt des Interesses. Gleichwohl möchte ich zunächst den Schutz der Verfassung durch die Verankerung der formellen Höherrangigkeit mittels erschwerter Abänderungs- oder Ergänzungsbedingungen zur Diskussion stellen. Von „Ewigkeits“-Klauseln (wie etwa in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes oder Art. V letzter Satz der US-Bundesverfassung vorgesehen) über sehr schwierige und langwierige Abänderungs- oder Ergänzungsbedingun7 8 9
Texte bei Bernatzik (Fn. 1), S. 371 – 378, 381 – 387, 387 – 390. Bernatzik (Fn. 1), S. 257. Vgl. Stourzh, Dezemberverfassung (Fn. 1), S. 248.
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gen wie in den USA bis zu relativ leichter zu bewältigenden Hürden wie der parlamentarischen Zweidrittelmehrheit etwa in Österreich (mit Ausnahme einer Gesamtänderung der Bundesverfassung) gibt es ja ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Qualifikationen, mittels derer ein Verfassungstext vor Abänderungen, oft auch vor tagespolitischem Missbrauch, geschützt werden soll. Diese Qualifikationen sind in der Tat ein Schutzwall, mit dem der Verfassungsgeber die Verfassungstexte umgibt. Im alten Österreich gab es auf Landesebene stark erschwerte Abänderungsbedingungen, nämlich die Erfordernis der Anwesenheit von mindestens drei Viertel aller Mitglieder und die Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Anwesenden, die auf Vorbildern aus Verfassungstexten der Jahre 1848 / 49 basierten. Für das cisleithanisch-österreichische Parlament in Wien, den Reichsrat, galten einfachere Regeln. Für die fünf Staatsgrundgesetze von 1867 galt, dass Änderungen nur mit einer Mehrheit von wenigstens zwei Dritteln der Stimmen vorgenommen werden, wobei zunächst die Anwesenheit von mindestens 100 Abgeordneten, das war damals knapp die Hälfte der insgesamt 203 Abgeordneten, erforderlich war. Bei einer Novellierung des Grundgesetzes über die Reichsvertretung 1873, als die direkte Wahl zum Abgeordnetenhaus eingeführt wurde,10 wurde präzisiert, dass Änderungen der Staatsgrundgesetze nur bei Anwesenheit der Hälfte der Mitglieder (die Abgeordnetenzahl stieg in mehreren Schüben an) und mit den Stimmen von mindestens zwei Dritteln der anwesenden Abgeordneten zustande kämen.11 Interessanterweise waren Abstimmungen mit Zweidrittelmehrheit nicht für das politisch so wichtige Ausgleichsgesetz vorgesehen, obwohl dieses „in Ergänzung des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung“ erlassen wurde. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass die ungarische Gesetzgebung, darin der englischen ähnlich, keine qualifizierten Mehrheiten und keine Staatsgrund- oder Verfassungsgesetze im formellen Sinne kannte. In den Jahrzehnten nach 1867 kam es zu einer Vielzahl von Gesetzen, für die die Zweidrittelmehrheit in Anspruch genommen wurde. Es handelte sich im Normalfall um Änderungen einzelner Bestimmungen der fünf Staatsgrundgesetze von 1867, häufig um Änderungen aus dem Kompetenzkatalog des Grundgesetzes über die Reichsvertretung. Obgleich von Amts wegen vor 1914 eine Liste von mit Zweidrittelmehrheit zustande gekommene Gesetzen erstellt wurde, gibt es keine endgültige und vollständige Aufzählung dieser Gesetze. 1914 entstand ein regierungsinternes Gutachten über die Frage von 10 1867 war die Wahl der Abgeordneten durch die Landtage und aus den Mitgliedern der Landtage vorgesehen. Die Weigerung des (mehrheitlich tschechischen) böhmischen Landtags, Abgeordnete in den Reichsrat zu wählen, führte über zwei „Notwahlgesetze“ von 1868 und 1872 zur Novellierung von 1873. Ausführlicher Kommentar bei Bernatzik (Fn. 1), S. 741 f. 11 Bernatzik (Fn. 1), S. 745.
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Verfassungsgesetzen und Staatsgrundgesetzen. Der Verfasser, der staatsrechtliche Experte des Innenministeriums, Baron Johann Eichhoff, kam zum Schluss, dass dem Begriff des Verfassungsgesetzes ein materielles, dem Begriff des Staatsgrundgesetzes ein formelles Kriterium, nämlich das Zustandekommen mit qualifizierter Mehrheit, zugrunde liege. Alle Staatsgrundgesetze seien Verfassungsgesetze – Eichhoff nannte 14 Staatsgrundgesetze –, aber nicht alle Verfassungsgesetze seien Staatsgrundgesetze. Klassisches Beispiel dafür waren die Reichsratswahlordnungen. Eichhoffs Liste umfasste aber keineswegs alle Gesetze, die wegen Abänderungen von Bestimmungen der ursprünglichen Staatsgrundgesetze mit Zweidrittelmehrheit abgestimmt wurden.12 Mangels einer klaren Terminologie und einer generellen grundgesetzlichen Regelung gab es immer wieder Unsicherheiten und kontroverse Interpretationen, ob nun eine Gesetzesvorlage eine qualifizierte Mehrheit verlange oder nicht. Die Feststellung, ob ein Gesetz mit Zweidrittel-Mehrheit abzustimmen sei, oblag den Präsidenten der beiden Häuser des Reichsrats und gegebenenfalls einer einfachen Mehrheitsabstimmung, da es immer wieder zu Kontroversen zwischen Minderheit und Mehrheit bezüglich der Qualifikationserfordernisse einzelner Gesetzesmaterien gab. Dies war ein Zustand, der schon 1885 in der später noch ausführlicher zu kommentierenden Schrift Georg Jellineks „Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich“ scharf kritisiert wurde.13 Die Regierung hielt sich übrigens aus diesen Kontroversen stets heraus. Um Klärung bemüht, sagte 1894 der damalige Präsident des Abgeordnetenhauses Baron Chlumecky: „Nicht die Frage, ob irgend ein Gegenstand einen verfassungsrechtlichen Inhalt hat, ist für die Frage der Zweidrittel-Majorität entscheidend, sondern nur die Frage, ob es sich um die Abänderung eines Gesetzes handelt, welches mit einer Zweidrittel-Majorität beschlossen worden ist und bezüglich dessen es ausdrücklich im Gesetze heißt, dass es einer qualifizierten, das heißt einer Zweidrittel-Majorität bedarf.“14
Hier finden wir uns bereits, wie ich einmal gesagt habe,15 auf dem Wege in Richtung Hans Kelsens – weg vom materiell-inhaltlichen, hin zum formellprozeduralen Verfassungsverständnis. Kelsen hat schon 1913 den „Begriff des formellen Gesetzes“ als „das Allerheiligste der Verfassung“ bezeichnet.16 12 Hierzu ausführlich Stourzh, Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen (Fn. 1), S. 98 – 100. 13 Georg Jellinek, Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich, Wien 1885, S. 19 f. 14 Stourzh, Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen (Fn. 1), S. 96. 15 Stourzh, Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen (Fn. 1), S. 96 f. 16 In einem ohne Namenszeichnung veröffentlichten Artikel „von einem Staatsrechtslehrer“ mit dem Titel „Die böhmische Verwaltungskommission vor dem Verwaltungsgerichtshof“ in der Tageszeitung „Neue Freie Presse“, Nr. 17353, 5. Novem-
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Abschließend betone ich, wie schon bei anderer Gelegenheit, dass die bezüglich der Verfassung der Republik Österreich so oft und mit Recht beklagte Zersplitterung des Verfassungsrechts, der man erst in den letzten Jahren zu Leibe gerückt ist, ihren Ausgangspunkt nicht in der Kelsen-Verfassung von 1920 hat, sondern bereits in der eben selbst aus mehreren Gesetzen zusammengesetzten Dezemberverfassung von 1867 und der durch Teilabänderungen weiter zersplitterten und unübersichtlichen Entwicklung in den Jahrzehnten bis 1918. Konrad Hesse hat einmal mit Hinweis auf Art. 79 Abs. 1 des Bonner Grundgesetzes gesagt, dass jeder ohne Schwierigkeiten erkennen soll, was „de constitutione lata gilt“. Denn sonst, so schrieb Hesse, wären der „Primat und die stabilisierende Wirkung der geschriebenen Verfassung, die Rechtsklarheit und die Rechtsgewissheit, die sie schafft,“ „preisgegeben zugunsten der Zulassung eines notwendig immer unübersehbarer werdenden Konglomerats von Abweichungen.“17
Die österreichische Verfassungsgeschichte nicht erst nach 1920 oder 1945, sondern eben schon nach 1867 bestätigt ex negativo Hesses Erkenntnis. Der Schutz der Verfassung war 1867 eingebettet in ein damals noch größeres, zentraleres Anliegen: der Schutz, ja eigentlich erst die dauerhafte Schaffung des konstitutionellen Rechtsstaates. Das Wort vom Rechtsstaat taucht mehrfach in den damaligen Verfassungsdebatten auf. Der politisch wichtigste Gegensatz war nicht jener zwischen Verfassung und einfachem Gesetz (und möglicher verfassungswidriger Gesetzgebung), sondern zwischen konstitutionellem Rechtsstaat und (gerade in der Habsburgermonarchie immer wieder neu auftauchendem und bis Ende der Monarchie latent oder subsidiär weiter vorhandenem) monarchischem Ermessen. Von den fünf Staatsgrundgesetzen der Dezemberverfassung waren drei – eben nicht von der Regierung eingebrachte, sondern aus dem Schoße des Abgeordnetenhauses erwachsende – Gesetze dem Rechtsstaat und dem Rechtsschutz der Bürger gewidmet. Im Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt wurden u. a. die Unabhängigkeit des richterlichen Amtes sowie die Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung in allen Instanzen festgelegt. Für das öffentliche Recht von überragendem Interesse war Art. 15, in dem die Errichtung eines Verwaltungsgerichtshofes, und zwar im Unterschied zum preußischen System der mehrstufigen Verwaltungsrechtspflege eines einzi-
ber 1913, Abendblatt, S. 3. Ich verdanke den Hinweis auf die Autorschaft Kelsens Robert Walter. Zum verfassungsgeschichtlichen und verfassungsrechtlichen Kontext dieses Artikels siehe Gerald Stourzh, Verfassungsbruch im Königreich Böhmen: Ein unbekanntes Kapitel zur Geschichte des richterlichen Prüfungsrechts im alten Österreich (1992), wiederabgedruckt in: ders., Umfang der österreichischen Geschichte (Fn. 1), S. 139 (146). 17 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Karlsruhe 1968, 253.
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gen und letztinstanzlichen Verwaltungsgerichtshofs festgelegt wurde. Wenn jemand behaupte, „durch eine Entscheidung oder Verfügung einer Verwaltungsbehörde in seinen Rechten verletzt zu sein, so steht es ihm frei, seine Ansprüche vor dem Verwaltungsgerichtshofe im öffentlichen mündlichen Verfahren wider einen Vertreter der Verwaltungsbehörde geltend zu machen.“18
Der Verwaltungsgerichtshof, mit einem Durchführungsgesetz zum Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt 1875 geschaffen, ist zu einem ganz bedeutenden Bollwerk der Rechtsstaatlichkeit im späthabsburgischen Österreich geworden.19 Ich komme nochmals darauf zu sprechen. In einem bestimmten Bereich wurde allerdings eine Art Sonder-Verwaltungsgerichtsbarkeit geschaffen: Zu den Kompetenzen des 1867 durch Staatsgrundgesetz geschaffenen und 1869 durch ein Ausführungsgesetz errichteten Reichsgerichts gehörte laut Staatsgrundgesetz über die Einrichtung eines Reichsgerichts, Art. 3, lit. b, folgende Bestimmung: Dem Reichsgericht stand „über Beschwerden der Staatsbürger wegen Verletzung der ihnen durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte, nachdem die Angelegenheit im gesetzlich vorgeschriebenen administrativen Wege ausgetragen ist“,
die endgültige Entscheidung zu. Daraus geht klar hervor, dass den Beschwerden der Staatsbürger ein Verwaltungsverfahren vorhergehen musste, an dessen Ende eine zumindest subjektiv vom Beschwerdeführer empfundene Verletzung eines seiner „durch die Verfassung“ – konkret durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger – gewähr-
Bernatzik (Fn. 1), S. 433. Folgende Begebenheit, erzählt in den Memoiren des letzten k.u.k. Finanzministers Alexander Freiherr von Spitzmüller, möge dies illustrieren. Der durchaus autoritär gesinnte Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand interessierte sich für die Restaurierung einer Kirche von bedeutendem Kunstwert in Kärnten und setzte durch, dass die Restaurierungskosten von der Ortsgemeinde übernommen würden. Gegen den diesbezüglichen Gemeinderatsbeschluss legten die in der Gemeinde ansässigen Protestanten Berufung ein, die vom Landesausschuss in Klagenfurt abgelehnt wurde. Darauf reichten die Berufenden eine Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof in Wien ein. Es war vorauszusehen, dass aufgrund der Gesetzeslage der Verwaltungsgerichtshof der Beschwerde stattgeben würde. Nun kam es zu einer Intervention des Thronfolgers bei dem durchaus konservativ-katholisch eingestellten Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofes, Graf Friedrich Schönborn. Franz Ferdinand sandte einen seiner höchsten Beamten, Freiherrn v. Rumerskirch, zum Präsidenten Schönborn mit dem Ersuchen, dieser möge den entscheidungsbefugten Senat so zusammensetzen, dass die Beschwerde abgewiesen werde. Schönborn rief seinen Sekretär Dr. Hiller als Zeugen, um zu sagen, dass Erzherzog Franz Ferdinand „die unerhörte Zumutung“ an ihn gerichtet habe, den Senat so zusammenzusetzen, dass es zu einer Abweisung der Klage käme. Als Richter dürfe er diese Anregung nicht einmal gehört haben und könne daher nicht einmal nein sagen. Freiherr v. Rumerskirch möge dies „seiner kaiserlichen Hoheit“ zur Kenntnis bringen. Berichtet (aufgrund der persönlichen Mitteilung des bei dem Gespräch anwesenden Dr. Hiller) in: Alexander Spitzmüller, … und hat auch Ursach, es zu lieben [Memoiren], Wien 1955, S. 181 f. 18 19
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leisteten Rechte stand. Die herausragende Bedeutung dieser Kompetenz ist von zwei der besten Kenner des Rechtsschutzes im öffentlichen Recht Altösterreichs, Karl von Lemayer und Friedrich Lehne, ganz besonders hervorgehoben worden. Schon 1897 hat Lemayer zweimal für das Reichsgericht das Wort „Verfassungsgerichtshof“ verwendet, und zwar ausschließlich auf die Kompetenz des Reichsgerichts „zum Schutze verfassungsmäßig gewährleisteter Einzelrechte“ bezogen.20 Für die in Art. 3 b genannten verfassungsrechtlichen Streitsachen habe das Gesetz das Reichsgericht „gewissermaßen als einen neben den Verwaltungsgerichtshof tretenden Verfassungsgerichtshof kompetent erklärt“.21 Friedrich Lehne hat 1975 den Schutz der Grundrechte als die für Politik und Verfassungsgeschichte wichtigste Aufgabe des Reichsgerichts angesehen. In Bezug auf diese Kompetenz hat Lehne das Reichsgericht als „Grundrechtsgerichtshof“ bezeichnet.22 Lehne zitierte aus dem Bericht des Verfassungsausschusses von 1867, wonach „der Schutz der durch die Staatsgrundgesetze gewährleisteten Rechte wichtig genug [sei,] um eine Beschwerde an ein höchststehendes Gericht auch gegen die Ansicht der Administrativbehörden zuzulassen, denn es handelt sich hier um den Schutz der Verfassung selbst, insofern sie dem Einzelnen Rechte gewährt.“23
Die Frage nach dem „Schutz der Verfassung“ führt also, was Altösterreich ab 1867 betrifft, zur in der damaligen Verfassungslandschaft Europas eigentlich einzigartigen Kombination eines Grundrechtskatalogs auf Ebene des Gesamtstaates, nämlich des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, mit der Einklagbarkeit dieses Grundrechtskatalogs bei einem Höchstgericht, eben dem durch ein weiteres Staatsgrundgesetz geschaffenen Reichsgericht. Das Reichsgericht, noch im Gründungsjahr 1869 seine Tätigkeit aufnehmend, bestand aus einem vom Kaiser ernannten Präsidenten und Vizepräsidenten sowie aus zwölf vom Kaiser aufgrund von Dreiervorschlägen des Reichsrates (je zur Hälfte des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses) ernannten Mitgliedern. Dazu kamen noch vier Ersatzmitglieder. Die Ernennungen erfolgten auf Lebenszeit.
20 Karl von Lemayer, Art. „Rechtsschutz im öffentlichen Rechte“, in: Ernst Mischler / Josef Ulbrich (Hrsg.), Österreichisches Staatswörterbuch, Bd. 4, 2. Aufl., Wien 1909, S. 18f. Lemayers Artikel war bereits in der 1. Aufl. 1897 erschienen und wurde nach dem Tode Lemayers 1906 in Hinblick auf dessen herausragende Bedeutung als Öffentlichrechtler unverändert (mit Ergänzungen im Abschnitt über die Verwaltungsgerichtsbarkeit) übernommen. 21 Lemayer (Fn. 20), S. 19. Im Originaltext sind die Worte „Reichsgericht“ und „Verwaltungsgerichtshof“ abgekürzt („R.G.“ bzw. „V.G.“). 22 Friedrich Lehne, Rechtsschutz im öffentlichen Recht, in: Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Bd. 2, Verwaltung und Rechtswesen, Wien 1975, S. 684. 23 Johann v. Spaun, Das Reichsgericht, Wien 1904, 31 (meine Hervorhebung), zit. nach Lehne (Fn. 22).
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Im Falle der beiden gerade genannten Staatsgrundgesetze wird die vom Revolutionsjahr 1848 bis 1867 – trotz der absolutistischen Zwischenspiele – weiterwirkende Verfassungsüberlieferung besonders deutlich: In der Frankfurter Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849 hatte es die „Grundrechte des deutschen Volkes“ gegeben, die übrigens bereits als eigenes Reichsgesetz am 27. Dezember 1848 verkündet worden waren. In der gleichen Verfassung gab es aber auch den berühmten § 126 lit. g), wonach zur Zuständigkeit des in der Verfassung verankerten Reichsgerichts „Klagen deutscher Staatsbürger wegen Verletzung der durch die Reichsverfassung ihnen gewährten Rechte“ zählten. Ebenso gab es einen vom österreichischen Reichstag 1848 / 49, dem sogenannten Kremsierer Reichstag, ausgearbeiteten Entwurf der „Konstitutionsurkunde für die österreichischen Staaten“ mit einem Katalog der „Grundrechte des österreichischen Volkes“ und mit einem Obersten Reichsgericht, das als einzige Instanz zuständig „bei Klagen auf Genugtuung wegen Verletzung konstitutioneller Rechte durch Amtshandlungen der Staatsbediensteten.“ war. Auch die oktroyierte Verfassung vom März 1849, begleitet von einem kaiserlichen Patent über die durch die konstitutionelle Staatsform gewährleisteten politischen Rechte, normierte die Kompetenz des Reichsgerichts „als oberste Instanz bei Verletzungen der politischen Rechte“. Diese enge Verbindung von Grundrechtskatalogen und deren Einklagbarkeit bei einem obersten Reichsgericht wurde 19 Jahre später in Österreich neuerlich verfassungsmäßig oder in der damaligen Terminologe staatsgrundgesetzlich verankert, diesmal nicht nur auf dem Papier, sondern auf Dauer. Damit kam die „48er-Überlieferung“, wie ich sie nenne, in Österreich wesentlich früher zum Tragen als im Deutschen Reiche, eigentlich 80 Jahre früher, wie Robert Walter einmal geschrieben hat. Wir haben es also ab 1867 bzw.1869 mit einer Frühform der Individualbeschwerde zu tun. Allerdings ist sogleich hinzuzufügen, dass den Urteilen des Reichsgerichts der Dezemberverfassung über Beschwerden wegen Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte lediglich feststellende, keine kassatorische Wirkung zukam – im Unterschied zu den Urteilen des Verwaltungsgerichtshofs. Über die tatsächliche Befolgung der Entscheidungen des Reichsgerichts durch die Verwaltung sind die Ansichten der Forschung unterschiedlich. Eine auf Archivquellen basierende Untersuchung24 ist zum dem Schluss gekommen, dass sich in der überwiegenden Zahl der Fälle die Rechtsansicht des Reichsgerichts durchgesetzt hat; ich neige auch dieser Ansicht zu. Ich möchte die Judikatur des Reichsgerichts zu einem ganz bestimmten Artikel des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbür-
24 Werner R. Svoboda, Die tatsächliche Wirkung der Erkenntnisse des österreichischen Reichsgerichtes (1869 – 1918), in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, N. F. 21 (1971), S. 183 – 196.
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ger herausgreifen, aus zwei Gründen: erstens, weil es sich um einen Artikel handelt, dessen Inhalt im Mittelpunkt des altösterreichischen Nationalitätenproblems steht, nämlich die Gleichberechtigung der Nationalitäten, und zweitens, weil ich der Judikatur zu diesem Artikel detaillierte Studien aufgrund der ausführlichen handschriftlichen Mitschriften über die vertraulichen Sitzungen des Reichsgerichtskollegiums gewidmet habe.25 Art. 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger lautete in seinen ersten beiden Absätzen: – (Abs. 1) „Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache.“ – (Abs. 2) „Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt.“ – Den etwas längeren dritten Absatz werde ich etwas später erwähnen.
Zwei Grundprobleme ergaben sich aus dem zitierten Text: – Erstens: In einem Gesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, also zunächst einmal physischer Personen, Individuen, wurde plötzlich von einer Kollektivität, nämlich den Volksstämmen als Träger von gleichen Rechten gesprochen. Dazu kam, dass diese Kollektivperson in keiner Weise zusätzlich rechtlich definiert war. Wer vertrat diese Kollektivität, wer gehörte ihr an? Ungelöste Fragen. – Daraus ergab sich das zweite Grundproblem: War zur Wirksamkeit dieses Verfassungsartikels nicht ein Ausführungsgesetz nötig, das auf diese Fragen Antworten, vor allem Definitionen, Regelungen der Zugehörigkeit und der rechtlichen Vertretung geben würde?
Das Reichsgericht, oder genau genommen die Mehrheit des Kollegiums ging im Jahre 1877, als erstmals eine Beschwerde wegen Verletzung des Art. 19 vom Reichsgericht zu entscheiden war, mit einer bemerkenswerten juristischen Unbekümmertheit vor, obwohl sie juristisches Neuland betrat. Es ging um die Beschwerde dreier Gemeinden im nordöstlichen Niederösterreich, die überwiegend von slawischer Bevölkerung in einem tschechischslowakischen Mischgebiet bewohnt waren, denen jedoch die Unterrichtsbehörden die deutsche Unterrichtssprache vorschrieben. Ein Kollegiumsmitglied bezweifelte, dass Gemeinden beschwerdeberechtigt seien. Das Staatsgrundgesetz spreche „nur von Staatsbürgern, nicht von Gemeinden“. Der Referent, Baron Hye, ein Veteran der Märzrevolution von 1848 erwiderte, dass durch die behördliche Verfügung die Rechte der Gemeinde „und aller Familien-Glieder“ verletzt erscheinen. Gegen nur zwei Gegenstimmen schloss sich die Mehrheit des Kollegiums der Ansicht des Referenten an. Da25
Stourzh, Gleichberechtigung der Nationalitäten (Fn. 1).
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mit war ein Präzedenzfall von großer Tragweite geschaffen: Juristische Personen wurden als Träger von staatsbürgerlichen Rechten betrachtet. Die Kollegiumsmehrheit folgte, gegen drei Stimmen, dem Referenten auch in der materiellen Entscheidung. Es liege eine Verletzung des Rechtes der drei Gemeinden nach Art. 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vor. In der Begründung erkennt man das vom 48er Jahr geprägte altliberale Freiheits- und Gerechtigkeitspathos des Referenten: die Opportunitätserwägungen des Unterrichtsministeriums könnten die „nun einmal durch die Staatsgrundgesetze garantierten Rechte der Bewohner dieser Ortschaften auf gleichberechtigte Wahrung und Pflege ihrer slavischen Sprache und Nationalität“
nicht präjudizieren, könnten daher auch „für das Reichsgericht nicht maßgebend sein, weil ja dieses nur nach Gerechtigkeit und Gesetz“ zu entscheiden habe. Mit dieser Entscheidung war ein zweiter Präzedenzfall von noch größerer Tragweite geschaffen worden. Das Reichsgericht sah den Art. 19 des Staatsgrundgesetzes als unmittelbar anwendbares Recht an und hat trotz zahlreicher Gegenstimmen daran bis 1918 festgehalten. In der staatsrechtlichen Literatur gingen die Meinungen, ob Art. 19 ohne Ausführungsgesetz anwendbar sei, auseinander. Friedrich Tezner, Karl Hugelmann und Stanislaus von Madeyski sprachen sich für die direkte Anwendbarkeit des Artikels 19 aus; die vielleicht prominenteren Juristen Adolf Exner und Georg Jellinek sprachen sich dagegen aus. Besonders scharf hat Jellinek in seinem „System der subjectiven öffentlichen Rechte“ von 1892 gegen die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 19 Stellung genommen: „Dieser Artikel ist erstens ganz unjuristisch stilisiert, indem Volksstämmen, die keine Rechtspersönlichkeit besitzen und Sprachen, die niemals Rechtssubjekte werden können, ‚Rechte‘ zugesprochen werden. Sodann erfordern diese allgemeinen Bestimmungen einen konkreten Inhalt, der aus dem vagen Prinzipe der Gleichberechtigung niemals abgeleitet werden kann. Eine Ausführungsgesetzgebung ist notwendig.“26
Doch schon vier Jahre zuvor, 1888, war es hinter den verschlossenen Türen des vertraulich beratenden Reichsgerichtskollegiums zu einer dramatischen Konfrontation der entgegengesetzten Standpunkte gekommen. Diesmal ging es um die Beschwerde der kroatischen Gemeinde Vrbnik (italienisch Verbenico) auf der Insel Krk (italienisch Veglia), die damals zum Kronland Istrien gehörte. Die Gemeinde erhob Beschwerde gegen den Landesausschuss (die Landesregierung) von Istrien, weil diese eine Eingabe in kroatischer Sprache in italienischer Sprache beantwortet hatte. Der damals dem Reichsgericht angehörende Adolf Exner polemisierte heftig gegen die
26 Georg Jellinek, System der subjectiven öffentlichen Rechte, Tübingen 1892, S. 94.
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Praxis des Reichsgerichts, Art. 19 unmittelbar anzuwenden; konkrete Rechte folgten aus Art. 19 überhaupt nicht. Das Reichsgericht müsste „gerade zu ins Blaue jus statuieren“. Exner schloss mit der Aufforderung, das Reichsgericht sollte „keinen Schritt weiter tun in dieser bedenklichen Praxis.“ Nach längerem hin und her kam der – eigentlich tragische – Höhepunkt der Auseinandersetzung. Der damals 81-jährige Baron Hye, der 11 Jahre zuvor der eigentliche Schöpfer der jetzt so heftig umstrittenen Judikatur des Reichsgewichts gewesen war, erklärte nun, die Bedenken Exners „zu begreifen, ja sie zu teilen“. Er sehe vollkommen ein, dass sich das Reichsgericht mit seiner Judikatur zu Art. 19 „in große Schwierigkeiten begeben habe“. Allerdings gebe es bereits eine konstante Praxis, und man müsse sich an die Präzedenzfälle halten. Das Beratungsprotokoll vermerkt nun wörtlich: „Er, der Redner, werde daher, wenn auch mit gebrochenem Herzen,“ für den Referentenantrag stimmen27 – d. h., Feststellung der Verletzung des Rechtes der Gemeinde nach Art. 19. Das Reichsgericht behielt die 1877 eingeschlagene Praxis, den Art. 19 unmittelbar anzuwenden, bis 1918 bei. Bei etwa 115 Beschwerden, die Rechtsverletzungen gemäß Art. 19 behaupteten (wobei es allerdings keineswegs bei allen zu Beratungen über den Sachverhalt kam), war die deutliche Mehrzahl der Entscheidungen des Reichsgerichts minderheitsfreundlich. Es gab aber auch spektakuläre Entscheidungen, die Beschwerden einer sprachlich-nationalen Minderheiten ablehnten, etwa die Beschwerde von in Wien lebenden Tschechen, die das Öffentlichkeitsrecht für tschechische Privatschulen in Wien forderten. Ohne hier auf die juristische Begründung der Entscheidung eingehen zu können – das Reichsgericht kam zu dem Schluss, dass der „tschechische Volksstamm“ in Wien nicht wohne –, ist es doch eindrucksvoll zu sehen, dass ein tschechisches Mitglied des Reichsgerichtskollegiums, der Prager Universitätsprofessor Anton von Randa, bemerkte, dass er „zwar mit schwerem Herzen, aber nach seiner juristischen Überzeugung“ für den Antrag stimme, die Beschwerde der Wiener Tschechen abzulehnen.28 Ohne Zweifel hat das Reichsgericht in Nationalitätenfragen in Auslegung des Artikels 19 Entscheidungen gefällt, die manche Juristen wie Jellinek dem Bereich der Gesetzgebung zugeordnet hätten. Auch der Verwaltungsgerichtshof hat an Stelle eines untätigen Gesetzgebers Entscheidungen getroffen, die zur Herausbildung eines eigenen Schultyps, der sogenannten „Nationalitätenschulen“, vor allem in Böhmen, führten. Dies waren Entscheidungen, die der sprachlichen Minderheit in zweisprachigen Schulgemeinden die Errichtung von öffentlichen Pflichtschulen mit der Unter-
27 Das vertrauliche Beratungsprotokoll vom 3. Juli 1888 ediert bei Stourzh, Gleichberechtigung (Fn. 1), S. 263 (266, 267; meine Hervorhebung). 28 Die Protokolle der öffentlichen Verhandlung sowie der vertraulichen Beratung vom 19. Oktober 1904 ediert bei Stourzh, Gleichberechtigung (Fn. 1), S. 278 (300).
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richtssprache der Minderheit zusicherten. Dies geschah unter dem Schutz des vorher noch nicht zitierten 3. Absatzes des Artikels 19, wonach in den Ländern, in welchen mehrere Volksstämme wohnen, die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein sollen, „dass ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält.“ Dieser Text ging auf das Bestreben deutschböhmischer Abgeordneter zurück, den Zwang zur Erlernung des Tschechischen als zweiter Landessprache hintan zu halten. Paradoxerweise wurde diese Bestimmung später mit Erfolg von tschechischen Minderheiten in mehrheitlich deutschen Schulgemeinden verwendet, um dank einer konstanten Spruchpraxis des Verwaltungsgerichtshofs eigene öffentliche Schulen mit tschechischer Unterrichtssprache zu erhalten. Es gab keinen anderen Bereich, wo „die Verfassung“, konkret ein Artikel eines Staatsgrundgesetzes – so unmittelbar in den Alltag eines multinationalen und multilingualen Staates eingriff wie mit dem Verfassungspostulat der nationalen und sprachlichen Gleichberechtigung, wo die höchstgerichtlich interpretierte Verfassung in zahlreichen Fällen rücksichtslos agierende nationale Mehrheiten in Gemeindestuben und Landesbehörden in ihre Schranken wies. Der Zweck des Art. 19 sei es, so hieß es in einem Urteil des Reichsgerichts aus 1880, „dass dadurch den nationalen Minderheiten der österreichischen Staatsangehörigen der ihnen rechtlich gebührende Schutz verschafft werden soll“.29 Doch nun zum Reichsgericht als Verfassungsgerichtshof in nuce. Von Interesse ist, dass schon 1875 der damalige liberale Minister Josef Unger, nachmaliger Präsident des Reichsgerichts, das Reichsgericht kurzum als „Verfassungsgericht“ bezeichnet hat, wie Georg Jellinek zehn Jahre später in seiner noch zu diskutierenden Schrift „Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich“ festhielt.30 Wir haben bereits gesehen, dass das Reichsgericht in Hinblick auf die Individualbeschwerde bei Verletzung verfassungsmäßig gewährleisteter Rechte 1897 von Karl von Lemayer als „Verfassungsgerichtshof“ bezeichnet wurde. Hinzuzufügen ist, dass zu diesen Rechten, nach Rechtsauffassung des Reichsgerichts, auch das Wahlrecht zum Reichsrat und das Wahlrecht zu Gemeindevertretungen zählten.31 Zwei weitere 29 Entscheidung zugunsten der Beschwerde der (mehrheitlich jüdischen) Stadtgemeinde Brody in Galizien gegen Verweigerung der Errichtung einer Volksschule mit deutscher Unterrichtssprache seitens des galizischen Landesschulrates und des Unterrichtsministeriums vom 12. Juli 1880, zit. bei Stourzh, Gleichberechtigung (Fn. 1), S. 77 f. Urteil veröffentlicht als Nr. 219 von Anton Hye Frh. v. Glunek (Hrsg.), Sammlung der nach gepflogener öffentlicher Verhandlung geschöpften Erkenntnisse des k. k. österreichischen Reichsgerichtes, Wien 1874 ff. 30 Jellinek (Fn. 13), S. 63, Anm. 65 (Hinweis auf Ungers Äußerung in der Generaldebatte des Herrenhauses des Reichsrates über das Gesetz zur Errichtung des Verwaltungsgerichtshofs).
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Kompetenzbereiche seien kurz genannt. Erstens Kompetenzkonflikte, und zwar zwischen Gerichts- und Verwaltungsbehörden über die Frage, ob eine Angelegenheit im Rechts- oder Verwaltungswege auszutragen sei, dann zwischen einer Landesbehörde und den obersten Regierungsbehörden bei administrativen Kompetenzkonflikten, schließlich zwischen den autonomen Landesorganen verschiedener Länder. Auch war über Kompetenzkonflikte zwischen den ordentlichen Gerichten und dem Verwaltungsgerichtshof zu entscheiden. Bei Kompetenzkonflikten zwischen dem Reichsgerichts und dem Verwaltungsgerichtshof hatte ein gemischter Senat aus beiden Gerichten unter dem Vorsitz des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs zu entscheiden. Ein zweiter Bereich betraf Entscheidungen über öffentlichrechtliche Ansprüche verschiedener Art: Ansprüche einzelner Kronländer an den Gesamtstaat oder Ansprüche einzelner Kronländer untereinander, weiters Ansprüche von Gemeinden, Körperschaften oder Einzelpersonen – etwa Beamten – an eines der Kronländer oder den Gesamtstaat. Es zeigt sich, dass mögliche Konflikte im Bereich der Gesetzgebung ausgeklammert waren. Hier legte Georg Jellinek mit seiner 1885 publizierten Broschüre „Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich“ weitreichende Neuerungsvorschläge vor. Jellineks Schrift ist mehrfach kommentiert worden, besonders in einem von Stanley Paulson und Martin Schulte im Jahr 2000 herausgegebenen Sammelband über Jellinek in drei Beiträgen von Dieter Wyduckel, Alfred Noll und Gerald Stourzh.32 Jellinek ging davon aus, dass schon 1867 die weitere Ausgestaltung des Reichsgerichts zu einer wenn auch noch nicht namentlich so bezeichneten verfassungsgerichtlichen Instanz als wünschenswert bezeichnet wurde. Die von Jellinek zitierte Passage aus dem Bericht des Verfassungsausschusses des Reichstags von 1867 ist auch heute von großem verfassungsgeschichtlichem Interesse, weil sie zeigt, wie zukunftsweisend das verfassungsrechtliche Denken in Österreich anno 1867 bereits war. Ich zitiere diese Passage: „Es lässt sich nicht leugnen, dass es auch wünschenswerth wäre, zur Entscheidung gewisser Verfassungsconflicte zwischen den Landtagen und dem Reichsrathe oder zwischen den Vertretungskörpern und der Regierung über den Umfang verfassungsmäßiger Rechte, über Auslegung von Gesetzen u. dgl. ein unabhängiges Organ zu besitzen. Bei der Unfertigkeit unserer Verfassungszustände und mit Rücksicht auf die traurigen Erfahrungen der Vergangenheit erschien aber jede Antastung der gesetzgebenden Gewalt der Vertretungskörper, jede Unterordnung derselben unter
31
Bernatzik (Fn. 1), S. 428, Anm 5. Stanley Paulson / Martin Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek – Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000. Darin: Dieter Wyduckel, Georg Jellineks Beitrag zur Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 277; Alfred J. Noll, Georg Jellineks Forderung nach einem Verfassungsgerichtshof für Österreich, S. 261; sowie Gerald Stourzh, Verfassung und Verfassungswirklichkeit Altösterreichs in den Schriften Georg Jellineks, S. 247 (bes. 254 – 257). 32
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einen Richterspruch gefährlich und musste diese Frage der Zukunft überlassen bleiben.“33
Diese Zukunft sei bereits herbeigekommen, argumentierte nun Jellinek 18 Jahre später. Er streute dem Reichsgericht Rosen – obgleich er später, wie wir ja gesehen haben, die Judikatur zum Nationalitätenartikel heftig kritisieren sollte. Mit seinem Reichsgericht sei Österreich den übrigen monarchischen Verfassungsstaaten vorangeschritten.34 Drei Materien nannte Jellinek, deren Regelung dem Reichsgericht als Verfassungsgerichtshof zugeführt werden sollten, wobei lediglich schon bestehende Zuständigkeiten des Reichsgerichts erweitert werden sollten: – Erstens: Das Reichsgericht als Wahlgerichtshof. Das Reichsgericht hatte, wie bereits erwähnt, in Ausübung seiner Kompetenz betreffend die Verletzung der durch die Verfassung gewährleisteten Rechte auch über die recht- oder unrechtmäßige Eintragung von Wählern in Wählerlisten zu befinden. Ein 1880 entschiedener Fall aus Oberösterreich (das Reichgericht hatte die Aufnahme einiger Personen in die Wählerliste der Großgrundbesitzer als rechtswidrig erklärt) regte die öffentliche Diskussion über die Kontrolle von Wahlberechtigung und Wählbarkeit an und veranlasste auch Jellinek, für die Ausweitung der ansatzweise bereits wahrgenommenen Kompetenz des Reichsgerichts zu einem Wahlprüfungsgerichtshof einzutreten,35 eine Forderung, die knapp danach in einer Schrift des liberalen Abgeordneten Heinrich Jaques36 und auch in mehreren Anträgen im Reichsrat wiederholt wurde, allerdings nicht zum Tragen kam. – Zweitens: Wie bereits erwähnt, war Jellinek ein scharfer Kritiker der unzureichend geregelten Kompetenz betreffend die Anwendung der Zweidrittelmehrheit bei Gesetzesbeschlüssen im Reichsrat, die der Autorität des Präsidenten des beschlussfassenden Hauses und bei Meinungsverschiedenheiten der einfachen parlamentarischen Mehrheit anheim gegeben war. Dies sei, so Jellinek zutreffend, eine minderheitsfeindliche Praxis. Jellinek war und wurde immer mehr ein leidenschaftlicher Befürworter minderheitsfreundlicher Regeln der parlamentarischen Entscheidungsfindung, wie dies am eindrucksvollsten in seiner schmalen, aber grundlegenden Schrift „Das Recht der Minoritäten“ von 1898 zum Ausdruck kam.37 Es tut den theoretischen Überlegungen Jellineks keinen Jellinek (Fn. 13), S. 63 Jellinek (Fn. 13), S. 65 f. 35 Jellinek (Fn. 13), S. 65, Anm. 68. 36 Heinrich Jaques, Die Wahlprüfung in den modernen Staaten und ein Wahlprüfungsgerichtshof für Österreich, Wien 1885. Zur Wahlprüfungsfrage bei Jellinek und Jaques vgl. Herbert Haller, Die Prüfung von Gesetzen. Ein Beitrag zur verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle, Wien / New York 1979, S. 28 f. 37 Zu dieser Schrift vgl. ausführlicher Stourzh (Fn. 31), S. 259 f. 33 34
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Abbruch, wenn man darauf aufmerksam macht, dass als realpolitischer Hintergrund die Ängste der sich bedroht fühlenden deutschen Minderheit gegenüber der slawischen Mehrheit in Cisleithanien zu sehen sind. Würde die Bestimmung über die Zweidrittelmehrheit in unseren Grundgesetzen fehlen, schrieb Jellinek 1885, „so würde bei der Schroffheit der nationalen Gegensätze die jeweilige, noch so geringe Majorität durch die Beschließung von Verfassungsänderungen […] ihre Herrschaft zu einer dauernden zu machen versuchen.“38
Jellinek stellte – vor 127 Jahren! – die gerade auch für das Thema dieser Tagung zentrale Frage: „Welcher Schutz soll nun der Verfassung gegen rechtswidrige Abänderung zu Theil werden?“39 Jellineks Vorschlag ging allerdings nicht in Richtung einer reichsgerichtlichen Kontrolle de lege lata, sondern de lege ferenda. Einer parlamentarischen Minderheit wäre das Recht einzuräumen, einem Gerichtshofe – gemeint war das Reichsgericht – „die Frage vorzulegen, ob gegebenen Falles in einem Gesetzesvorschlag verfassungsändernde Bestimmungen enthalten seien.“40 Ich möchte anmerken, dass Jellinek hier eine Regelung vorweggenommen hat, die in Frankreich im Jahre 1974 eingeführt wurde, nämlich das Beschwerderecht von 60 Abgeordneten oder Senatoren vor den Conseil Constitutionnel, der ja ebenfalls eine Präventivkontrolle hat. – Drittens: Am ausführlichsten behandelte Jellinek das Verhältnis von Reichs- und Landesgesetzgebung, das in Österreich ja nicht dem Grundsatz „Reichsrecht bricht Landesrecht“ unterworfen war. Er gab zahlreiche Beispiele für jeder Logik entbehrende Kompetenzzuweisungen. Der Schutz gegen Raupen- und Maikäferschäden sei landesgesetzlich geregelt, der Schutz der Weingärten gegen die Reblaus jedoch reichsgesetzlich. Gravierender war die Tatsache, dass das Gemeindewesen der Länderkompetenz unterstehe, das Heimatrecht jedoch reichsgesetzlich geregelt sei.41 Er kontrastierte das im Deutschen Reich obwaltende Prinzip der vollständigen Trennung von Länder- und Reichsgesetzgebung mit der österreichischen, durch die einheitliche Sanktionsgewalt des Kaisers für Reichs- und Ländergesetze gegebenen Situation.42 Sein Vorschlag war, dass in Kompetenzstreitigkeiten zwischen Reichs- und Landesgesetzgebung wiederum nur de lege ferenda das Reichsgericht angerufen werden könnte. Und zwar entweder durch die Regierung, durch eine Minorität des Reichsrates, oder durch die Landtage bzw. eine in den Landesordnungen zu bezeichnende Landtagsminorität. Das überragende politische Postulat des Minoritätenschutzes tritt wieder ganz klar zu Tage. 38 39 40 41 42
Jellinek (Fn. 13), S. 18. Jellinek (Fn. 13), S. 22 (meine Hervorhebung). Jellinek (Fn. 13), S. 23. Jellinek (Fn. 13), S. 41 f. Jellinek (Fn. 13), S. 42.
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Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung in Österreich ging bekanntlich in der Kelsen-Verfassung andere Wege als die von Jellinek vorgeschlagene präventive Prüfung der Verfassungsmäßigkeit – obgleich sehr kurze Zeit, nämlich während der Wirksamkeit des provisorischen Verfassungsgerichtshofgesetzes vom 25. Jänner 1919 die Staatsregierung Landesgesetze vor deren Kundmachung beim Verfassungsgerichtshof wegen Verfassungswidrigkeit anfechten konnte.43 Doch liegt dies nicht mehr im Bereich meines Referats. Zum Abschluss: Welches sind die positiv, welche sind die kritisch zu bewertenden Aspekte der österreichischen Dezemberverfassung von 1867?44 Sehr kritisch ist die parlamentarische Komponente der Dezemberverfassung zu betrachten. Der Parlamentarismus im cisleithanischen Österreich ist mit dem Nationalitätenkonflikt nicht zu Rande gekommen. Die tschechischen Abgeordneten, wie schon erwähnt, boykottierten den Reichsrat von Mitte der 60er bis Ende der 70er Jahre, im böhmischen Landtag gab es ebenfalls Boykotte der einen oder anderen Seite. Die Regierung merkte bald, dass der Reichsrat für nationalitätenrelevante Gesetzgebung nicht geeignet war; sie wich in den Achtziger und Neunzigerjahren zunehmend auf Regierungsverordnungen aus. Mit berühmt-berüchtigten Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren im Jahre 1897, den nach dem Ministerpräsidenten Grafen Badeni so genannten Badenischen Sprachenverordnungen, provozierte die Regierung wütende Protestaktionen der Deutschen, die Zustände im Reichsrat eskalierten bis zum Einschreiten der Polizei, und es begann eine längere Periode des Regierens durch Notverordnungen mit provisorischer Gesetzeskraft, gestützt auf den Artikel 14 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung von 1867. Dieser Notverordnungsartikel wurde immer wieder als Substitut für die parlamentarische Gesetzgebung angewendet, am häufigsten zwischen 1897 und 1904, und dann wieder von 1914 noch vor Kriegsausbruch bis 1917.45 Seit der Jahrhundertwende wich die Regierung stärker auf die Landesgesetzgebung zur Durchführung nationaler Reformvorhaben aus. Dies gelang in Mähren 1905 und in der Bukowina 1910, und stand auf dem Punkt der Verwirklichung in Galizien, als der Weltkrieg ausbrach.46 Es gelang nicht in Böhmen, wo 1913 die böhmische Landesverfas43 Sie tat dies dreimal, allerdings wurden die Fälle jeweils vor der Verhandlung zurückgenommen: Stourzh (Fn. 32), S. 258 mit Verweis auf Haller (Fn. 36), S. 42 f. 44 Ich verweise auf meinen Versuch einer abschließenden Bilanz in Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie (Fn. 1), S. 255 – 258. 45 Hierzu die ausgezeichnete Monographie von Gernot D. Hasiba, Das Notverordnungsrecht in Österreich (1848 – 1917). Notwendigkeit und Missbrauch eines „Staatserhaltenden Instrumentes“, Wien 1985. 46 Mit der zunehmenden Bedeutung der autonomen Landesgesetzgebung im Bereich des Nationalitäten- und Minderheitenschutzes, und besonders mit dem nationalitätenrechtlich sehr bedeutenden Mährischen Ausgleich, habe ich mich zuletzt 2010 in einer Arbeit in englischer Sprache auseinandergesetzt: Stourzh, The Ethnicizing of
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sung suspendiert und eine kommissarische staatliche Verwaltung eingesetzt wurde. Dies war Verfassungsbruch, da es in der Landesgesetzgebung keinen Notverordnungsartikel gab. Ein subsidiärer Absolutismus, um ein Wort Friedrich Tezners von der „universalen Subsidiarfunktion des Kaisers“ in Notsituationen abzuwandeln, war wohl im Hintergrund der Verfassungsjahrzehnte stets vorhanden,47 wie übrigens schon 1871 die Bereitschaft des Kaisers, die Dezemberverfassung zugunsten einer dann nicht zu Stande gekommenen Sonderlösung für die böhmischen Länder zu verlassen, gezeigt hatte. Positiv zu bewerten ist wohl die rechtsstaatliche Komponente der Dezemberverfassung. Sie ist, mit der Schaffung des heute noch in Geltung stehenden Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger sowie der Gründung und jahrzehntelangen Judikatur der beiden öffentlichrechtlichen Höchstgerichte, Reichsgericht und Verwaltungsgerichtshof, sehr bedeutend. Mehrmals, 1875, 1885 und 1897, neuerlich 1918 knapp vor dem Ende der Monarchie von Karl Renner48 in seinem Werk über das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wurde der Begriff Verfassungsgerichtshof oder Verfassungsgericht genannt, bevor es in der Republik Österreich bzw. zunächst bereits in der Republik Deutschösterreich zur Schaffung eines Verfassungsgerichtshofs kam. Die Dezemberverfassung von 1867 bewahrte und pflegte das auf die Revolution von 1848 zurückgehende Grundrechtsbewusstsein wohl stärker als im Zweiten Deutschen Reich. Das rechtsstaatliche Erbe der Dezemberverfassung wirkt trotz der Unterbrechungen 1933 / 34 und vor allem 1938 weiter und ist noch in unserer Gegenwart spürbar.
Politics and „National Indifference“ in Late Imperial Austria, in: ders., Umfang der österreichischen Geschichte (Fn. 1), S. 283 – 323. 47 Stourzh, Verfassungsbruch (Fn. 16), S. 147, 155. 48 Karl Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Wien 1918, § 59 „Das Verfassungsgericht des Bundes“, S. 291 ff.; auch Haller (Fn. 36), S. 37 – 39.
Aussprache Gesprächsleitung: Neuhaus
Neuhaus: Vielen Dank, Herr Stourzh, für diesen sehr präzisen Vortrag, veranschaulicht durch eine Reihe von Beispielen. Meine Damen und Herren, wir kommen gleich zur Diskussion. Ich bitte um Wortmeldungen. Herr Simon. Simon: Wir haben im Reichsgericht einen Gerichtshof ohne Gesetzesüberprüfungskompetenz, aber mit Zuständigkeit für Individualverfassungsbeschwerde und Kompetenzstreitigkeiten. Kann man erkennen in den Debatten im Vorfeld der Begründung dieser Institution, welche Motive für die Gründung eines eigenen Verfassungsgerichts maßgebend waren? Denn hier haben wir zum ersten Mal eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit, die nicht in ein allgemeines Höchstgericht integriert ist, wie dies in den Beispielen der Vorreferenten der Fall war. Ließe sich bei diesem Gericht die These, die ja verschiedentlich vorgetragen wurde, verifizieren, dass es ein Misstrauen gegenüber der etablierten ordentlichen Justiz gewesen sein könnte, das dann ursächlich dafür war, dass man ein eigenes Gericht schafft, dem man das heiße Eisen von Verfassungskonflikten zu übertragen wagt? Misstrauen gegenüber der ordentlichen Justiz, der man diese hochpolitischen Streitigkeiten nicht überlassen möchte als entscheidendes Motiv für die Begründung einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit? Wird dieses Motiv hier in irgendeiner Form greifbar? Stourzh: Ich habe den Eindruck, wie ich es auch schon kurz angedeutet habe, dass 1867 in Österreich das, was 1848 und 1849 auf dem Papier zustande kam, eine ganz große Nachwirkung hatte. Es gab ein eigenes Reichsgericht in der Frankfurter Verfassung, es gab ein eigenes Reichsgericht im sogenannten Kremsierer Verfassungsentwurf des österreichischen Reichstages. Es gab auch, was ich noch nicht erwähnt habe, ein eigenes Reichsgericht in der oktroyierten Verfassung von 1849, die ebenfalls nicht umgesetzt worden ist. Das heißt, wir haben also nicht weniger als drei Verfassungstexte, nicht umgesetzte aber vorhandene Verfassungstexte, alle mit einem eigenen Reichsgericht und auch alle mit einem eigenen Katalog der Grundrechte. Wobei in der Paulskirchenverfassung die Grundrechte ja hineingenommen wurden, nachdem sie bereits im Dezember 1848 als eigenes Reichsgesetz verkündet worden waren. Im Kremsierer Entwurf wurden die Grundrechte
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auch in diesen Entwurf der Verfassungsurkunde hinein genommen. Im Jahre 1849 bei der oktroyierten Verfassung ist ein Katalog der Grundrechte als eigenes getrenntes kaiserliches Patent publiziert worden. Das ist deshalb interessant, ein Punkt den ich in meinem Referat nicht erwähnt habe, weil darin ein Motiv zu sehen ist, dass die Verfassungsgeber, man kann sie wirklich so nennen, im Verfassungsausschuss des Abgeordnetenhauses des Reichsrats von 1867, die getrennte Beschlussfassung über mehrere Staatsgrundgesetze, insbesondere über das Wichtigste, über die Allgemeinen Rechte der Staatsbürger, vorgesehen und auch durchgeführt haben, weil sie davon ausgegangen sind, der Kaiser, das war ja noch dazu derselbe Kaiser, hat im Frühjahr 1849 ein eigenes Patent über die Grundrechte oktroyiert und publiziert. Wenn er das getan hat, dann wird er einen Katalog, der nicht ganz so unähnlich war, als eigenes Gesetz auch wieder akzeptieren. Aus diesem Grund ist man von einer allgemeinen Verfassungsurkunde, für die ja aus dem Jahr 1848 Vorbilder vorhanden waren, abgegangen und ist zu der Praxis der nebeneinander stehenden Staatsgrundgesetze gekommen, was sicher dann später Zersplitterungseffekte gehabt hat. Neuhaus: Vielen Dank Herr Stourzh. Herr Brauneder, Sie haben das Wort. Brauneder: Zu der Frage, vielleicht jetzt gleich von Herrn Simon: Man kann das noch ergänzen durch eine personelle Kontinuität, nämlich durch den Abgeordneten Megerle von Mühlfeld. Megerle von Mühlfeld, Wiener Rechtsanwalt, saß 1848 / 49 im Frankfurter Grundrechtsunterausschuss. Er war also einer der drei Mitglieder, die diesen Grundrechtskatalog in Frankfurt mitkonzipiert haben. Megerle von Mühlfeld war dann Abgeordneter ab 1861, hat die beiden von Ihnen, Herr Stourzh, erwähnten Grundrechte 1862 initiiert. Er wollte dann noch andere Grundrechtsgesetze, ich glaube, er hat sie sogar eingebracht, die wurden aber nicht beschlossen und Megerle von Mühlfeld verstarb dann ganz kurz vor dem Inkrafttreten der 67er-Verfassung. Also er trägt sozusagen die Frankfurter Grundrechte und mit Kremsierer Entwurf, alles was Sie erwähnt haben, in die 67er-Verfassung hinein. Und Sie, Herr Stourzh, haben ja den schönen Fund in einem mir jetzt nicht mehr erinnerlichen Nachlass gemacht, wo der Referent des GrundrechteStaatsgrundgesetzes von 1867 im Entwurf […] Stourzh: Sturm! Brauneder: Sturm! Sturm, nicht? Er schrieb hin: „Alles 1849!“ Und ich kann eine nostalgische Bemerkung jetzt wirklich nicht unterdrücken: Mein erster wissenschaftlicher Vortrag, den ich auf einem Kongress hörte, das war der Österreichische Historikertag in Linz. Da war ein Vortrag von Ihnen, Herr Kollege Stourzh, über die Dezemberverfassung. Und ich möchte Ihnen doch wünschen, dass Ihr heutiger Vortrag nicht unser letzter Vortrag zu diesem Thema ist. [Zustimmung im Auditorium.] Ich möchte noch zwei
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Bemerkungen machen, obwohl über Ihr Referat man stundenlang diskutieren könnte. Die eine: Was gehört zur Verfassung im materiellen Sinn? Im formellen Sinn konnte man es nicht beantworten. Und da gab es eine ganz Palette von Meinungen; zum Beispiel, dass nicht einmal alle Staatsgrundgesetze zur Verfassung im materiellen Sinn gehören. Und über die Abstimmung war das ja auch nicht lösbar. Man muss sich nämlich vorstellen, und diese Schrift, die Sie von Jellinek erwähnt haben, die ist ja wirklich ein Schlüsseldokument, dass der vorsitzführende Präsident erheben musste bei einer Abänderung eines Gesetzes, mit welcher Mehrheit wurde dieses Gesetz, sagen wir einmal vor fünfzehn Jahren, beschlossen. Denn eine Abänderung eines mit qualifizierter Mehrheit beschlossenen Gesetzes durch eine einfache Mehrheit, das wäre verfassungswidrig gewesen. Aber das spielte da überhaupt keine Rolle; es gab eine ganze Reihe von verfassungswidrigen Gesetzen, nehme ich an, denn es gab ja keine Normenkontrolle, nicht? Daher stand ein verfassungswidriges Gesetz solange in Kraft bis es vielleicht, unter Umständen, wieder novelliert worden ist, bis man diesen Mangel heilte. Und das brachte dann, Herr Wiederin wird es vielleicht ja erzählen, Kelsen zu der Idee, man müsse Verfassungsgesetze nicht nur mit Zweidrittelmehrheit usw. beschließen, sondern man muss sie auch bezeichnen und man muss Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen als Verfassungsbestimmung bezeichnen, damit also irgendwann einmal, nach fünfzehn Jahren, der vorsitzführende Präsident sozusagen nicht Archivstudien machen muss. Also das war eines der problematischen Punkte: Was zählt überhaupt zur Verfassung? Und um das Kraut noch fetter zu machen, es gab eine Fülle von einfachen Gesetzen, die mit einem höheren Quorum zu beschließen waren als Verfassungsgesetze. Das waren meistens Gesetze, die mit dem Nationalitätenproblem zu tun hatten. Und meine letzte Bemerkung: Reichsrecht bricht Landesrecht galt deswegen nicht, weil sämtliche Gesetze, auch Landesgesetze, Reichsgesetze waren, durch die Sanktion des Reichsorgans Monarch. Die Diktion der Staatsrechtswissenschaft: Landesgesetze sind partielle Reichsgesetze. Wie Sie, Herr Stourzh, ja gesagt haben, galten nur zwei Derogationsprinzipien: lex specialis und lex posterior. Also man könnte sich vorstellen, wenn eine Panne passiert wäre, dass der steirische Landtag ein Strafgesetzbuch beschließt und es fällt niemandem auf – also so dumm waren die aber nicht – und der Kaiser sanktioniert, dann hätte dieses partielle steirische Strafgesetzbuch dem Reichsstrafgesetzbuch derogiert. Stourzh: Für die Steiermark. Brauneder: Für die Steiermark natürlich nur. Und damit will ich Sie nun verlassen mit meinen Bemerkungen. Vielen Dank, Herr Stourzh, ich habe mir nichts anderes erwartet, als dass Sie ein interessantes Referat halten.
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Stourzh: Ganz kurz, nur ein, zwei Punkte. Antwort auf Herrn Brauneder. Also zur Frage – Verfassungsgesetz, Staatsgrundgesetz im formellen Sinn: Es hat vor Ausbruch des Weltkrieges im Innenministerium der staatsrechtliche Referent, ein Baron Eichhoff, versucht, eine Zusammenstellung zu machen und hat ausdrücklich bemerkt, Verfassungsgesetze im materiellen Sinn, die also Verfassungsmaterien behandeln, sind eben nicht notwendigerweise Staatsgrundgesetze. Staatsgrundgesetze sind also jene, die als solche ausdrücklich bezeichnet worden sind. Er hat zwar in dieser internen Expertise geschrieben, dass alle Staatsgrundgesetze Verfassungsgesetze sind, er hat vierzehn damals aufgezählt, was aber sicher nachweislich zu wenig war. Es gab noch zahlreiche, durch Abänderungen, Teilabänderungen, zustande gekommene Gesetze. Aber z. B. ein Verfassungsgesetz, wenn es der Materie nach je ein solches gab, ist das Ministerverantwortlichkeitsgesetz vom Jahre 1867 gewesen, vom Sommer 1867, das den Staatsgerichtshof begründet hat. Das ist mit einfacher Mehrheit zu Stande gekommen, es wurde keine Zweidrittelmehrheit vorgesehen, es wurde auch nicht als Staatsgrundgesetz bezeichnet. Nie! Aber es ist materiell gesehen sicher ein ganz wichtiges Verfassungsgesetz gewesen. Auch andere Gesetze, z. B. die Wahlordnungen des Reichsrats, waren einfache Gesetze, obwohl aus politischen Gründen und ohne das als Staatsgrundgesetz zu bezeichnen, bei der Wahlrechtsreform 1906 / 1907 eine qualifizierte Mehrheit eingeführt wurde, um der deutschen Minderheit die Sicherheit zu geben, dass sie nicht überstimmt werden würde in nationalitäten-politischen, nationalitäten-rechtlichen Fragen. Das hat es alles gegeben. Neuhaus: Danke, Herr Stourzh. Bitte, Herr Kollege. Neschwara: Ich möchte auf die Charakterisierung des Reichsgerichtes als Verfassungsgerichtshof eingehen und Ihnen Recht geben, dass Sie das in den Vordergrund gestellt haben. Das Reichsgericht war eigentlich gedacht zum Schutz des Rechtsstaates, denn nicht umsonst fordert Jellinek 1885 die Einführung eines Verfassungsgerichts. Und wenn das Reichsgericht diese Funktion schon gehabt hätte, wäre diese Forderung ja eine müßige gewesen. Das Reichsgericht schützt den Rechtsstaat gegen Kompetenzstreitigkeiten oder löst diese. Es gibt einen Schutz gegen Eingriffe staatlicher Organe gegen verfassungsrechtlich gewährleistete Grundrechte, es gibt also politische Rechte, es gibt aber keinen Schutz vor Eingriffen gegen Unrecht, das vom Parlament ausgeht. Eben im Zusammenhang mit der Frage der Kompetenzzuordnung zwischen Reich und Ländern, da übt, wenn man so sagen will, der Monarch die Funktion eines Schiedsrichters aus, indem er durch die Sanktion letztlich entscheidet, ob ein Gesetz verfassungsmäßig zustande gekommen ist. Dass das Reichsgericht ein „Reichs“-Gericht war, zeigt sich auch in der Zusammensetzung; das ist vielleicht ein bisschen untergegangen. Sie haben erwähnt die Nominierung durch die beiden Kammern des Reichsrates, Abgeordnetenhaus und Herrenhaus zu gleichen Teilen, aufgrund von
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Dreiervorschlägen. Man kann aufgrund der Besetzungslisten für die zwölf Reichsgerichtsmitgliederstellen feststellen, dass bestimmte Stellen ganz bewusst offenbar, aufgrund eines parlamentarischen Konsenses, für bestimmte Nationalitäten reserviert waren. Zwei für die Tschechen, zwei für die Polen, sechs durchgehend für die Deutschen und zwei waren gemischt kann man sagen. Damit verbinde ich jetzt eine Frage: Wie hat man diesen Konsens im Parlament zustande gebracht, dass man das von 1869 bis 1918 durchwegs durchgezogen hat, sodass die einzelnen Länder bzw. in Verbindung damit, die Nationalitäten im Reichsgericht, ich sage einmal, annähernd adäquat repräsentiert gewesen sind? Da muss es ja irgendwie Absprachen gegeben haben. Danke. Stourzh: Das ist eine interessante und legitime Frage. Ich kann Ihnen leider, Herr Neschwara, keine Antwort darauf geben. Ich habe das nicht untersucht, ich habe die Tatsache zur Kenntnis genommen, dass es ja entsprechende nationale Vertretungen gab; auch nicht von allen, aber vor allem Tschechen und Polen immer wieder; Italiener ist mir keiner bekannt, Slowene ist mir auch keiner bekannt. Aber ich kann mich auch irren, ich kann sowohl an Tschechen als auch an Polen mehrfach denken. Aber interessant ist eine Äußerung aus dem Protokoll, die mir in den Kopf kommt, dass bei einem Fall, den ich nicht erwähnt habe, einem Nationalitätenfall, als das Reichsgericht zu befinden hatte, über eine Beschwerde der Wiener Tschechen, die das Öffentlichkeitsrecht für tschechische Schulen in Wien, das von der Verwaltungsbehörde abgelehnt worden war, reichsgerichtlich durchsetzen wollten, die Tschechen verloren haben. Das ist einer der relativ wenigen Fälle, wo das Reichsgericht nicht minderheitenfreundlich, sondern mehrheitsfreundlich entschieden hat und zwar mit der Begründung, dass der tschechische Volksstamm, es ging ja in diesem Artikel 19 um Volksstämme, „nicht in Wien wohnte“, sondern dass es nur eine verstreute tschechische Bevölkerung in Wien gebe, aber der Volksstamm als angesiedelter Volksstamm, lebe in Wien nicht. Deshalb wurde das abgelehnt. Es hat damals jemand gesagt, wenn die Gemeinde Favoriten noch eine unabhängige Gemeinde wäre, wäre das eine gewaltige tschechische Mehrheit gewesen. Und da hat ein tschechisches, und deshalb sage ich das, ein tschechisches Reichsgerichtsmitglied, der Professor Anton von Randa, Professor an der Tschechischen Universität in Prag, gesagt, dass er mit schwerem Herzen, aber nach seinem juristischen Gewissen mit dem Antrag auf Ablehnung stimme. Also hier war ein nationaler Vertreter, der aber, wörtlich aus dem Protokoll genommen, mit schwerem Herzen, aber seinem juristischen Gewissen folgend, sich dem Argumenten der anderen, der Mehrheit, angeschlossen hat, wobei die Polen besonders aktiv gewesen sind in der Gestaltung der endgültigen Entscheidung. Danke. Neuhaus: Danke, Herr Stourzh. Herr Brandt, Sie haben das Wort.
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H.-H. Brandt: Eigentlich bleibt nicht viel zu sagen, zumal Sie selber ja in Ihrem abschließenden Saldieren der Positiva und Negativa das Entscheidende resümiert haben. Besonders beeindruckend fand ich die Äußerungen Jellineks von 1867 und 1885. 1867 argumentiert er ja doch sehr restriktiv, also sinngemäß: Man dürfe das Parlament bzw. den Gesetzgeber nicht ersetzen. Aber 1885 befand er, jetzt ist die Situation da, in der man das Gericht in dieser Funktion etablieren müsse. Daran sieht man natürlich komplementär die ganze Problematik des Verfassungsgefüges. Das Reichsgericht wird in der österreichischen Tradition mit Recht hochgehalten als einer der Garanten für Rechtsstaatlichkeit, für Grundrechtsschutz usw. Aber die Überlastung bzw. die Belastung des Reichsgerichtes mit all diesen Problemen ist natürlich komplementär zu dem Befund zu sehen, dass der Gesetzgeber ja in wesentlichen Materien ausgefallen ist. Und da liegt ja doch eigentlich das Problem, dass auf dem Buckel des Reichsgerichtes fundamentale Probleme der österreichischen Verfassungsentwicklung ausgetragen wurden, weil die Dinge eben im parlamentarischen Verfahren nicht geregelt werden konnten. Und das bedeutet, das Parlament hat die Integrationsfunktion, die es ja eigentlich nach dem konstitutionellen Prinzip auszuüben hat und die von ihm erwartet werden musste, eigentlich nicht erfüllt, weshalb immer Ersatzinstitutionen wie der Kaiser selbst bzw. die Regierung und das Reichsgericht in obrigkeitliche Funktionen eintreten mussten. Das heißt, es sind Instanzen über den Parteien. Die berühmte Sehnsucht nach dem Staat über den Parteien manifestiert sich hier eben im Lob der Judikatur und, wie nicht vergessen werden soll, im Monarchen selbst. Das ist eigentlich tragisch, und ich habe diese Situation immer als ein fundamentales Defizit dieses Staatsgebildes angesehen. Eine andere Frage, die ich vielleicht noch anschließen darf: Das Reichsgericht ist natürlich auch nicht dazu da, über den Schutz des individuellen Grundrechts hinaus Gruppenrechte zu installieren, denn es kann nicht einfach Gesetzgeber spielen. Die Frage wäre aber doch, ob es noch mehr solcher Entscheidungen gegeben hat, wie Sie sie an dem einen Fall der drei Gemeinden im Nordosten von Niederösterreich vorgeführt haben. Lässt sich eine Tendenz erkennen, dass man dieses Problem sieht, dass qualitativ Gruppenrechte etwas anderes sind als individuelle Grundrechte? Das moderne Minderheiten-Schutzrecht stellt ja eben auf Gruppen ab und nicht auf Individuen, das kam im liberalen Rechtsdenken nicht vor. Gerade für die Habsburgermonarchie war diese Materie aber von konstitutiver Bedeutung. Stourzh: Ich möchte ganz kurz Folgendes sagen: Sie haben natürlich vollkommen recht, Herr Brandt, wenn Sie das Versagen des Parlaments so deutlich hervorheben. Und es ist in der Tat so gewesen, ich habe es ja kurz auch erwähnt, dass eigentlich entgegen der kontinentalen und auch der österreichischen Rechtstradition im Hinblick vor allem auf die Nationalitätenproblematik, den beiden Höchstgerichten Öffentlichen Rechts, dem Reichsge-
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richt und auch dem Verwaltungsgerichtshof, Dinge auf den Kopf gefallen sind, die eigentlich das Parlament hätte lösen sollen, aber eben nicht gelöst hat. Und ich würde doch auch abwägend sagen, dass sich beide Gerichte dieser Aufgabe, die sie sich nicht ausgesucht haben, eigentlich in bemerkenswerter Weise entledigt haben. Ich denke jetzt auch an den Verwaltungsgerichtshof, der unter dem Schutze dieses merkwürdigen sogenannten Sprachenzwangsartikels operierte, Absatz 3 des Artikel 19, dass jedem Volksstamm ohne Zwang zur Erlernung einer zweiten Landessprache Mittel gegeben werden müssten, um seine Jugend in der eigenen Landessprache zu instruieren. Dahinter stand der Unwille der Deutsch-Böhmen Tschechisch zu lernen und ihre Kinder Tschechisch lernen zu lassen. Das war das Motiv, aber es hat sich dann gegen die Deutschen gewendet, weil zahlreiche tschechische Bergarbeiter von Mittelböhmen nach Nord-Westböhmen gezogen sind in die nord-westböhmischen Bergbaugebiete, die ja überwiegend deutsch waren, und dann eben tschechische Schulen, nicht nur tschechischer Unterricht, sondern tschechische Schulen für ihre eigenen Kinder verlangt haben. Der Verwaltungsgerichtshof hat, unter Zuhilfenahme dieses gerade genannten Absatzes, analog das Reichsvolksschulgesetz angewendet, wonach für eine bestimmte Anzahl von schulpflichtigen Kindern in einer bestimmten Entfernung, – vier Kilometer, es gab auch kleine Differenzen, Schulen errichtet werden müssten. Und das hat er dann analog angewendet für Schulen mit einer bestimmten Unterrichtssprache. In den Verwaltungsakten, die ich mir angeschaut habe, gibt es Listen und Listen mit Namen und Adressen von Eltern, von Kindern mit dem Begehren, dass für ihre Kinder eben eine solche Minderheitenschule errichtet werde, und die Vertreter der anderen Nationalität haben buchstäblich Name für Name und Kind für Kind das bestritten und haben gesagt, das sei vorgeschoben, das sei gar keine tschechische Familie und das sei kein tschechisches Kind und das dürfe überhaupt da nicht mit eingerechnet werden. Es sind Einzelkämpfe gewesen. Ich möchte noch etwas dazu sagen, dass die Schwierigkeiten doch nicht allein mit der mangelnden Gesetzgebung zusammenhängen. Nach der Jahrhundertwende hat die Regierung ihren Ausweg in einigen Ländern in einer Reformlandesgesetzgebung gesucht und auch gefunden, mit Nationalitätenvertretern, die sich in einer gewissen Balance befanden und aus verschiedenen Gründen zu Kompromissen bereit waren. So ist ein sogenannter Ausgleich in Mähren und einer in der Bukowina zustande gekommen, und da hat man das Prinzip Befriedung, Pazifizierung der Nationalitäten durch Trennung verfolgt. Das war ein neues Prinzip, nationale Autonomie: Es ist das ganze Land Mähren von zwei vollkommen getrennten Wahlkreiseinteilungen überzogen worden, eine Wahlkreiseinteilung nur für tschechische Wähler und zu Wählende und ein zweites Netz von Wahlkreisen nur für die Deutschen. Es wurden daher auch getrennte Wählerlisten errichtet, und
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zwar eine Wählerliste für tschechische Wähler, eine Wählerliste für deutsche Wähler. Es wurde gesetzlich genau geregelt und auch hier ist es, wie sie jetzt in einem skurrilen Fall, den ich mir erlaube, kurz zu beschreiben, sehen werden, ist das Reichsgericht, obwohl ein Gesetz da war, befasst worden. Es war nämlich in diesen Wählerlisten möglich, dass eingetragene Wähler der deutschen oder auch der tschechischen Wählerliste, ich gehe jetzt von den Deutschen aus, das Recht hatten, andere Personen, die in dieser Wählerliste eingetragen waren, hinauszureklamieren (das war ein offizieller Ausdruck – hinauszureklamieren), weil sie sie für Tschechen hielten. Also der Herr Maier sagt in der deutschen Wählerliste, der Herr Müller, auch wenn er einen deutschen Namen hat, ist ein Tscheche und ich reklamiere ihn hinaus, er gehört in die tschechische Wählerliste. Daraus hat sich ein Verwaltungsverfahren ergeben, denn der Bürgermeister musste sich äußern, die betreffende Person musste befragt werden und im Zweifelsfall ging das an die Oberbehörde in Brünn. Die ersten Wahlen kamen und es waren etwa 3000 Personen, bei welchen die Behörde in Brünn nicht mehr tätig geworden ist. Und jetzt haben die Tschechen etwas besonders Schlaues gemacht: Sie haben nämlich die Technik des Trojanischen Pferdes angewendet. Sie haben in die deutsche Wählerliste drei Tschechen eingeschleust, die sich als Deutsche ausgegeben haben und das ist nicht bezweifelt worden. Diese drei Tschechen haben jetzt begonnen, hunderte und hunderte von Personen in der deutschen Wählerliste hinauszureklamieren, weil sie gesagt haben, die gehören zur tschechischen Wählerliste. Dieser Fall, weil von der Verwaltungsbehörde nicht zeitgerecht behandelt, kam vor das Reichsgericht und das Reichsgericht hat den Klägern recht gegeben, die sich als Deutsche ausgaben, die einen tschechischen Anwalt hatten. Und der Präsident des Reichsgericht hat das ganze zunächst nicht einmal verstanden, weil es so subtil inszeniert war, das Trojanische Pferd, und hat gesagt: „Wieso haben diese drei Deutschen einen tschechischen Rechtsanwalt?“ Daraufhin hat ihn ein anderes Mitglied aufgeklärt: „Ja das Ganze ist ja eine inszenierte Sache gewesen.“ Das Reichsgericht hat das von der Verfassung gewährleistete Recht des Hinausreklamierens anerkannt. Das ist das skurrilste Recht, das das Reichsgericht je bestätigt hat. Sehr kompliziert. [Heiterkeit.] Neuhaus: Danke, Herr Stourzh. Zum Abschluss: Herr Härter. Nicht mehr? Gut, dann war das Ihr Schlusswort. Herr Stourzh, vielen Dank Ihnen, für Vortrag und Diskussion.
III. Verfassungsgeschichte der Zwischenkriegszeit
Das richterliche Prüfungsrecht in Reichskonstitutionalismus und Republik – Wegmarke der Verfassungsgerichtsbarkeit Von Hinnerk Wißmann, Münster I. Einleitung Der Begriff des richterlichen Prüfungsrechts zielt auf eine zentrale Fragestellung des modernen Verfassungsstaats: Es geht mit der Entscheidung, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen Gerichte Rechtsnormen auf ihre Gültigkeit und also Anwendbarkeit hin überprüfen können,1 zugleich um die Verteilung von Letztentscheidungskompetenzen zwischen den Staatsorganen, insbesondere um ihre Durchsetzungsfähigkeit im Krisenund Streitfall. Wenn Gerichte aus der Rolle des nachgeordneten Gesetzesanwenders sichtbar heraustreten und ganz im Gegenteil eine Entscheidung gerade über das Gesetz treffen, realisiert sich nicht zuletzt das Verhältnis von Politik und Recht, das jeder Verfassungsordnung als unabgeschlossener, dynamischer Prozess aufgegeben bleibt.2 Zu klären ist stets, ob ein solcher Prüfauftrag überhaupt besteht und wem er institutionell zukommt (insbesondere: Verfassungsgerichtsbarkeit oder allgemeine Inzidentkontrolle?), welche Arten von Rechtssätzen geprüft werden (insbesondere: Privilegierung des Parlamentsgesetzes?) und nach welchem Maßstab die Prüfung vorzunehmen ist (insbesondere: formeller oder
1 In diesem Sinn wird der Begriff des richterlichen Prüfungsrechts üblicherweise gebraucht, vgl. zuletzt etwa Werner Frotscher / Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 11. Aufl., München 2012, Rn. 360; Bernd J. Hartmann, Das richterliche Prüfungsrecht unter der Weimarer Reichsverfassung, JJZG 8 (2007), S. 154 (155); Nadine E. Herrmann, Entstehung, Legitimation und Zukunft der konkreten Normenkontrolle im modernen Verfassungsstaat, Berlin 2001, S. 15.; vgl. umfassend Alexandra Maria Hornauer, Das Reichsgericht zur Frage des richterlichen Prüfungsrechts (1919 – 1933), Frankfurt a. M. 2009. 2 Eine neue Entwicklungsstufe ist insoweit durch die Verfassungslage im supranationalen Mehrebenensystem eingetreten, weil sich die Zahl und Kombination der beteiligten Akteure vervielfacht hat. Vgl. allgemein Stefan Oeter / Franz Merli, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, VVDStRL 66 (2007), S. 361 (392 ff.); zum Bezugsbegriff des Verfassungsverbundes Ingolf Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (163 ff.); Andreas Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, S. 1.
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Hinnerk Wißmann
materieller Vorrang des Verfassungsrechts?). Der Vergleich von „Reichskonstitutionalismus“ ab 1871 und Weimarer Republik bietet sich nun in besonderer Weise an, diesen allgemeinen Problemkreis verfassungshistorisch zu untersuchen. Vielfach bekannt ist insoweit die Merkformel, nach der das Reichsgericht erst in der Weimarer Republik Parlamentsgesetze verwarf, während es sich zuvor auf die Kontrolle von Verordnungen beschränkt hatte, und sich in diesem Wechsel stellvertretend die Distanz der alten, kaisertreuen Eliten gegenüber dem neuen republikanisch-demokratischen System zeigte.3 Ein solcher Blickwinkel ist jedoch verkürzt, weil er die Voretappe falsch einschätzt: Tatsächlich war die Verwerfung kaiserlicher und fürstlicher Verordnungen vor 1918, die ihren entscheidenden Antrieb im neuen Modell des Bundesstaats hatte, als Erweiterung des Richteramts nicht minder bemerkenswert als die Kontrolle von Reichsgesetzen nach 1918. Wenn Reichskonstitutionalismus und Weimarer Republik mit gleicher Aufmerksamkeit betrachtet werden, ist deshalb statt eines Bruchs viel eher die (modifizierte) Kontinuität des richterlichen Selbstverständnisses zu betonen. Schritt für Schritt – und so in einem tieferen Sinn direkt miteinander verbunden – traten Elemente zutage, mit denen sich das Richteramt im Verfassungsstaat als Gegengröße der politischen Akteure positionierte.4 Um diese These zu belegen, geht die Untersuchung in drei Schritten vor: Zunächst kann gezeigt werden, dass bereits im Konstitutionalismus das richterliche Prüfungsrecht gegenüber Rechtsnormen als offene Grundfrage der Gewaltenteilung erkannt wurde. Entgegen den gängigen Verkürzungen stabilisiert sich der ausdrückliche Verzicht auf die Überprüfung parlamentarischer Gesetze erst zum Ende des Kaiserreichs – und zwar nur in relativer, vorläufiger Form (II.). Die Weimarer Rechtspraxis baut die inzidente Normenkontrolle konsequent weiter aus und entwickelt daneben die direkte Normenkontrolle als Handlungsform der neuen Staatsgerichtsbarkeit; zur 3 Pointiert Helmut Fangmann, Justiz gegen Demokratie – Entstehungs- und Funktionsbedingungen der Verfassungsjustiz in Deutschland, Frankfurt a. M. 1979, insb. S. 106 ff. („Höhepunkt der Anmaßung der materiell-rechtlichen Überprüfung“); vgl. zur Grundsatzkritik auch Friedhelm Hase, Richterliches Prüfungsrecht und Staatsgerichtsbarkeit – Zu den Auseinandersetzungen über Formen einer justiziellen Kontrolle der parlamentarischen Gesetzgebung in Weimar, in: Friedhelm Hase / Karl-Heinz Ladeur, Verfassungsgerichtsbarkeit und Politisches System, Frankfurt a. M. 1980, S. 103 (113); beschreibend auch Christoph Gusy, Richterliches Prüfungsrecht, Berlin 1985, S. 86 ff.; zuletzt etwa Herrmann (Fn. 1), insb. S. 120 ff.; Hartmann (Fn. 1), S. 168 f. Dementsprechend dann die Beschreibung des Prüfungsrechts im Konstitutionalismus als „Wahrung des status quo“ bei Gusy, ebd., S. 71; Herrmann (Fn. 1), S. 105. Anders unter Hinweis auf Kontinuitäten bereits Karl August Bettermann, Reichsgericht und richterliches Prüfungsrecht, in: FS Broermann 1982, S. 491 ff. Zum staatsrechtlichen Gesamtzusammenhang Joachim Wieland, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl., Tübingen 2008, Art. 93 GG, Rn. 12 ff. 4 Dieser Prozess war nicht abgeschlossen, und so hat Weimar am Ende nicht an zu viel, sondern an zu wenig richterlicher Kontrolle gelitten. Vgl. Hinnerk Wißmann, Verfassungsrechtsprechung im Übergang. Die Judikatur des StGH zu Notverordnungsrecht und Diktaturgewalt 1925 – 1932, Der Staat 47 (2008), S. 187 (insb. S. 203 – 208).
Richterliches Prüfungsrecht in Reichskonstitutionalismus und Republik
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Begründung können die Reaktionen auf konkrete Krisenszenarien und allgemeine Überlegungen zum Vorrang der Verfassung identifiziert werden (III.). Insgesamt füllten die Gerichte mit der Rechtssatzkontrolle funktional zutreffend ihren Auftrag im Verfassungsgefüge aus. So bleibt festzustellen, dass die Entwicklung des richterlichen Prüfungsrechts ein hervorstechendes Beispiel für die Bewährung des Richteramtes in verfassungsrechtlichen Grenzsituationen ist. Ein Verfassungstext kann diese Aufgabendimension weitgehend, nicht jedoch schon abschließend regulieren (IV.).
II. Das richterliche Prüfungsrecht im Reichskonstitutionalismus: Modernisierungsschub durch Kontrolle des Verordnungsrechts und Stärkung der Bundesebene 1. Gesetzeslage und Rechtspraxis
a) Ausgangspunkt: Das richterliche Prüfungsrecht als Grenzerfahrung des frühen Konstitutionalismus: Die Frage, welchen Maßstab der Richter bei seiner Entscheidung zugrundezulegen hat, welche Vorgaben also auch für ihn bindend sind, steht paradigmatisch für den Übergang von der staatsrechtlichen Frühmoderne hin zu einer Rationalität des Rechts im Verfassungsstaat, der in Deutschland in Reaktion auf Napoleon einsetzte. Mit der Forderung nach einer geschriebenen Verfassung (im süddeutschen Frühkonstitutionalismus) war ebenso wie mit dem Bemühen um eine Effektuierung der Staatsgeschäfte (in der preußischen Staatsreform) notwendig eine Verständigung über den Rang von Rechtsquellen verbunden, den das ältere Recht in dieser Entschiedenheit nicht gekannt hatte.5 Für eine Entscheidung über diese Fragen trafen in Deutschland nun unterschiedliche Entwicklungslinien zusammen. Mit dem französischen Senatsmodell und der amerikanischen Inzidentprüfung waren hier schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts klar voneinander abgegrenzte, praktische Modelle der Gesetzeskontrolle bekannt; sie stammten allerdings aus republikanischen Staatsgründungen.6 Dagegen fand das 5 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl., Berlin 1981, S. 330 ff.; zur älteren Stellung des Gesetzes im Überblick Hinnerk Wißmann, Generalklauseln. Verwaltungsbefugnisse zwischen Gesetzmäßigkeit und offenen Normen, Tübingen 2008, S. 45, 56 – 58. 6 Zur Entwicklung in den USA: Charles F. Abernathy, The Lost European Aspirations of US Constitutional Law, in: Werner Kremp (Hrsg.), 24. Februar 1803 – Die Erfindung der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Folgen, Kaiserslautern 2003, S. 37 und Winfried Brugger, Kampf um die Verfassungsgerichtsbarkeit: 200 Jahre Marbury v. Madison, JuS 2003, S. 320; zur Rezeption: Wolfgang Hoffmann-Riem, Das Ringen um die verfassungsrechtliche Normenkontrolle in den USA und Europa, JZ 2003, S. 269; Peter Krüger, Einflüsse der Verfassung der Vereinigten Staaten auf die deutsche Verfassungsentwicklung, ZNR 18 (1996), S. 226 (242 ff.); Bodo Pieroth, Amerikanischer Verfassungsexport nach Deutschland, NJW 1989, S. 1333; Überblick der Entwicklung der richterlichen Normenkontrolle in Frankreich bei Herrmann (Fn. 1), S. 132 ff., zu Art. 21 der Konsulatsverfassung 1799 S. 137 f.; zur Verfassungsreform
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ältere englische Verfassungsmodell der evolutionär-konstitutionellen Monarchie seinen Erfolg gerade in dem Ausschluss richterlicher Kontrolle parlamentarischer Gesetze begründet.7 Schon vor der Reichsgründung waren die deutsche Staatspraxis und das Staatsrecht des Konstitutionalismus mit der Frage des richterlichen Prüfungsrechts befasst, insbesondere in den Grenzerfahrungen der Revolution um 1848. Eine befriedende Lösung war dabei nicht erreicht worden; im Ergebnis hatte sich in den bekannten Konflikten in Kurhessen wie in Preußen die richterliche Kontrolle von Regierungsverordnungen des herrschenden Hauses nicht durchsetzen können.8 Eine besondere nachrevolutionäre Pointe war es dabei, dass parlamentarisches Gesetz und königliche Verordnung in Preußen durch die revidierte Verfassung in eine seltsam anmutende Allianz zusammengeschmiedet wurden, indem nun für beide gleichermaßen eine richterliche Kontrolle ausdrücklich untersagt war.9
von 2008, die eine a posteriori konkrete Normenkontrolle einführt Daniela Karrenstein, Die französische Verfassungsreform vom 23. Juli 2008, DÖV 2009, S. 445; zur Rezeption der frz. Verfassungsentwicklung in Deutschland Rainer Wahl, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 3. Aufl., Heidelberg 2003, § 2, Rn. 5 – 10; Gusy (Fn. 3), S. 22 – 28. 7 Andreas Kley / Christian Kissling, Verfassungsgeschichte der Neuzeit: Großbritannien, die USA, Frankreich, Deutschland und die Schweiz, 2. Aufl., Bern 2008, S. 58 – 82; Martin Begrich, Die Verfassung des Vereinigten Königreichs, ihre Reform und ihr Wandel, Hanse Law Review 2007, S. 121 (124 f., 146 ff.); Anthony Bradley / Keith D. Ewing, Constitutional and Administrative Law, 15. Aufl., London 2010, S. 49 ff., 78 ff.; Ian Loveland, Constitutional Law, Administrative Law and Human Rights, 6. Aufl., Oxford 2012, S. 21 ff. 8 Siehe zum kurhessischen Verfassungskonflikt und der Rolle des hessischen Oberappellationsgerichts Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, 2. Aufl., Stuttgart 1968, S. 908 ff. und Frotscher / Pieroth (Fn. 1), Rn. 357 – 367; zur Regelung der preußischen Verfassung siehe Fn. 9 und Frotscher / Pieroth (Fn. 1), Rn. 371 f. Übersicht über die Praxis des Prüfungsrechts im Frühkonstitutionalismus Gusy (Fn. 3), S. 25 ff. m. w. N.; zur literarischen Debatte der Frühzeit S. 29 ff. 9 Art. 106 (1850): „Gesetze und Verordnungen sind verbindlich, wenn sie in der vom Gesetze vorgeschriebenen Form bekannt gemacht worden sind. Die Prüfung der Rechtsgültigkeit gehörig verkündeter Königlicher Verordnungen steht nicht den Behörden, sondern nur den Kammern zu.“ Anders Art. 105 (1848) „Gesetze und Verordnungen sind nur verbindlich, wenn sie zuvor in der vom Gesetze vorgeschriebenen Form bekannt gemacht worden sind. Wenn die Kammern nicht versammelt sind, können in dringenden Fällen, unter Verantwortlichkeit des gesamten Staatsministeriums, Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen werden, dieselben sind aber den Kammern bei ihrem nächsten Zusammentritt zur Genehmigung sofort vorzulegen.“ Wegen der bei Art. 106 vorausgesetzten „Autorität des Gesetzes“ (Art. 86) ist die bekannte Wertung, hier läge ein „Sieg der Reaktion“ vor (Abgeordneter Hugo Preuß, Protokoll des Verfassungsausschusses, Verfassungsgebende Nationalversammlung [1919], Anlage Nr. 391, S. 484) zu kurz: Auch das (vom König promulgierte) Parlamentsgesetz musste sich nicht richterlich kontrollieren lassen. Eher war es ein Sieg der Politik über die gerichtlichen Instanzen des Rechtsstaats; zur Debatte im Staatsrecht vor 1871, insb. zur Rolle Robert von Mohls und den Verhandlungen auf dem 3. und 4. DJT Wieland (Fn. 3), Rn. 12; Franz-Joseph Peine, Normenkontrolle und konstitutionelles System, Der Staat 22 (1983), 521 (526 ff.).
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b) Normenkontrolle als konstitutives Element des neuen Bundesstaats: Mit der Begründung des Kaiserreichs 1870 / 71 war die Frage des richterlichen Prüfungsrechts allerdings in neuer Weise virulent. Im nun entstandenen Bundesstaat war zusätzlich zu den bereits bekannten Fragen (ob eine eigenständige Staatsgerichtsbarkeit einzurichten und welche Aufgaben ihr zu übertragen seien; ferner, ob in Bezug auf die richterliche Prüfungskompetenz zwischen Parlamentsgesetz und exekutiver Rechtsverordnung unterschieden werden müsse) nämlich zu klären, ob ein Konflikt zwischen Landesrecht und Bundesrecht im Wege der Normenkontrolle (oder rein politisch) zu entscheiden sei.10 Zu einer umfassenden Regelung kam es schon deshalb nicht, weil das ausgreifende Modell der Frankfurter Paulskirchenverfassung für eine echte Staatsgerichtsbarkeit nicht weiterverfolgt wurde.11 Dennoch waren drei neue Faktoren geschaffen worden, die für das richterliche Prüfungsrecht erhebliche Bedeutung erlangen sollten: Nach Art. 2 RV sollten die Reichsgesetze (und damit auch die Reichsverfassung selbst) den Landesgesetzen vorgehen. Zum zweiten wurde ein Reichsgericht eingerichtet.12 Und schließlich enthielt das Gerichtsverfassungsgesetz 1877 in § 1 die reichseinheitliche Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit, die nur durch „das Gesetz“ begrenzt sei, also ohne weitere Einschränkung wie etwa nach der preußischen Verfassungslage.13 Die Verfassungssituation war insoweit „ungleichzeitig“, weil das (vermeintlich für die Staatspraxis unwichtigere) Reich in verschiedener Hinsicht fortschrittlicher und moderner aufgestellt war als die Einzelstaaten, wie sich unzweifelhaft etwa in Bezug auf das Wahlrecht zeigen lässt. Aus dieser Lage heraus sollte sich im Deutschen Reich nun ein neues Verhältnis zwischen (Reichs-)Gerichtsbarkeit und Verordnungen entwickeln.
10 Zum Streit um die Verfassungsgerichtsbarkeit Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, 2. Aufl., Stuttgart 1970 (Nachdruck 1978), S. 666; zum „delikaten staatsrechtlichen Problem“ des richterlichen Prüfungsrechts für das Kaiserreich ebd., S. 1057 ff.; zu Verfassungsfragen im Vorfeld der Reichsgründung Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 6. Aufl., München 2009, S. 262 – 266; zur Verfassungsgerichtsbarkeit und zur Frage des Vorrangs der Verfassung im Konstitutionalismus Wahl (Fn. 6), § 2, Rn. 32 – 39; Gusy (Fn. 3), S. 22 – 28. Hierzu und zur Entwicklung des Prüfungsrechts in den deutschen Staaten im 19. Jahrhundert Herrmann (Fn. 1), S. 46 – 59, 76 – 78. 11 Dazu Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 2. Aufl., Neuwied 1998, S. 197 – 200; Wieland (Fn. 3), Rn. 11; Ulrich Scheuner, Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, FS Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 1, 1976, S. 1 (36 ff.). 12 § 12 GVG 1877: „Die ordentliche streitige Gerichtsbarkeit wird durch Amtsgerichte und Landgerichte, durch Oberlandesgerichte und durch das Reichsgericht ausgeübt.“ 13 Vgl. zur Unabhängigkeit des Richters Kommissionsbericht über den Entwurf eines Gerichtsverfassungsgesetzes, Reichstagsprotokolle 1876, Anlage Nr. 8, S. 318 (320 f.); Überblick bei Michael Kotulla, Die verfassungsrechtliche Ausprägung der Garantie der richterlichen Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert, DRiZ 1992, S. 285 ff.
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c) Kontrolle von Landesverordnungen und Bundesverordnungen: Das Verfassungsrecht des Konstitutionalismus ist vielfach dafür in Anspruch genommen worden, in ihm drücke sich paradigmatisch die prinzipielle Trennung zwischen Parlament und Krone, zwischen Gesetz und Verordnung aus, was dann logisch in die Bejahung des Prüfungsrechts gegenüber Verordnungen, in die Verneinung des Prüfungsrechts gegenüber Parlamentsgesetzen führe. Eine solche Gedankenführung ist mit Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse im Bundesstaat jedoch kurzschlüssig. Die vorliegende Rechtsprechung vermittelt vielmehr folgendes Bild: In den ersten einschlägigen Äußerungen verhielt sich das Reichsgericht eher allgemein zu den Grenzen der Überprüfung von „Akten der gewöhnlichen Gesetzgebung“, ohne dass dabei eine scharfe Unterscheidung von Gesetz und Verordnung oder gar die Rolle des Parlaments im Mittelpunkt gestanden hätte; ausgeschlossen wurde hingegen bereits die überschießende Wirkung von allgemeinen „Grundsätzen“ (wie etwa der Schutz wohlerworbener Rechte) gegenüber späteren Gesetzen.14 Gerade zu Beginn galt, auch wegen der unterschiedlichen Judikate in den Einzelstaaten, die Frage der Überprüfung von Reichsgesetzen sogar ausdrücklich als mindestens streitig.15 Von der einschlägigen Entscheidung im Jahr 1889 an, bei der es konkret um die Überprüfung einer Bundespräsidialverordnung gegangen war, trennten sich dann allerdings in der Tat die Wege in der Überprüfung von Verordnungen und Gesetzen. In der besonderen Frage der Rechtsverordnung auf Reichsebene wurde ein Prüfungsrecht in kräftigem Maße wahrgenommen. Besonders war die Lage hier, weil anders als in den Einzelstaaten unstreitig kein eigenständiges, sondern nur ein gesetzesabhängiges Verordnungsrecht bestand.16 Daher war ein materieller Maßstab, eben das delegierende Gesetz, stets notwendig zur Hand, an dem die Rechtsverordnung tatbestandsorientiert überprüft werden konnte. In der Praxis führte dies freilich des Öfteren dazu, dass das Reichsgericht gegen die Landesgerichte manche Rechtssätze als „materielle“ Rechtsverordnungen rettete, denen es an der üblichen Verordnungsform fehlte – mit Berufung darauf, dass das jeweilige Gesetz eine solche Form nicht vorgesehen habe.17 Im Ergebnis wurde das Prüfungsrecht durch eine Institution der Reichsebene also als ein – gelegentlich auch ausdrücklich erklärter18 – Beitrag zur 14 RGZ 9, 232 (235 f.) – 1883 – Bremer Deichordnung. Zur begrenzten Aussage der Entscheidung überzeugend auch Herrmann (Fn. 1), S. 100 f. 15 Ausdrücklich RGZ 24, 1 (3) – 1889 – Militärspeiseanstalten. Zur zeitgenössischen Debatte in der Literatur Nachweise bei Gusy (Fn. 3), S. 53 ff. 16 Paul Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, 7. Aufl., 1919 (Neudruck 1969), S. 141 f. 17 RGZ 40, 68 – 1897 – Leistungsanspruch Kriegsversehrte; bestätigend RGZ 48, 84 – 1901 – Zivilversorgung Militäranwärter. 18 RGZ 48, 195 – 1901 – Kompetenzkonflikt. Siehe noch Fn. 20.
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Stärkung der Reichsebene wahrgenommen. Dem entsprach, dass preußische Polizeiverordnungen vom Reichsgericht mehrfach wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht für ungültig erklärt wurden.19 In diesem Zusammenhang wurde das richterliche Prüfungsrecht auch in späteren Jahren unbefangen und eher untechnisch-allgemein proklamiert: „Dem Richter steht, wenn er eine Rechtsnorm anwenden oder seiner Entscheidung zu Grunde legen will, grundsätzlich die Befugnis zu, sie auf ihre Rechtsgültigkeit zu prüfen.“20
d) Kontrolle von Parlamentsgesetzen? aa) Jenseits solch allgemeiner Formeln war eine inhaltliche Überprüfung eines Parlamentsgesetzes auf Reichsebene praktisch schwer vorstellbar. Immerhin stellte § 1 GVG den Richter unter das Gesetz. Vor allem aber war die Reichsverfassung als materieller Maßstab schon deshalb ausgeschaltet, weil sie nach Art. 78 im Wege der Reichsgesetzgebung – also praktisch durch jedes nachgängige Reichsgesetz – geändert werden konnte (wenn auch gegebenenfalls unter besonderen Kautelen). Gleichwohl musste die (Vor-)Frage, ob denn ein gültiges Reichsgesetz vorliege, nicht von vornherein unbeachtlich bleiben. Sowohl die Kompetenzfrage nach der Zuständigkeit des Reichs wie auch die Überprüfung der Einhaltung des Verfahrens standen dafür als Kontrollgrößen bereit. Das Reichsgericht entwickelte hier eine Formel, die man als (nur) theoretisches formelles Prüfungsrecht deklarieren könnte. Nach den bereits geschilderten allgemeinen Andeutungen früherer Jahre formulierte der 7. Zivilsenat erstmals 1911 entscheidungstragend bei einem Streit über die Anwendbarkeit einer (verfassungsändernden) Bestimmung des Zolltarifgesetzes: „Die Frage der Rechtsgültigkeit kann unerörtert bleiben […] denn sollte diese Vorschrift auch eine Erweiterung der Zuständigkeit des Reichs enthalten, so fehlt es doch, da das Gesetz vom Bundesrat und vom Reichstag beschlossen und ordnungsmäßig verkündet ist, für den Richter an jedem Anlaß, an dem ordnungsmäßigen Zustandekommen auch gemäß Art. 78 der Reichsverfassung zu zweifeln.“21
Zuvor war dieser Gedanke, der sich auf Laband berief, als obiter dictum angedeutet worden.22 Genauer betrachtet, wird man allerdings auch in dieser 19 Mit der Abgrenzung zum Verwaltungsakt RGZ 43, 418 – 1899 – Gerichtszuständigkeit; RGZ 45, 267 – 1900 – Schlachthofbetriebsordnung. 20 RGZ 45, 267 (270 f.) – 1900 – Preußische Polizeiverordnung. Die Entscheidung fährt fort, dass die Überprüfung in Preußen für Gesetze und königliche Verordnungen ausgeschlossen sei, im Übrigen bestünde bezüglich der Prüfung „aller anderen landesgesetzlichen Normen“ (!) in Preußen für den Richter keine Schranke. Noch weitergehend RGZ 48, 195 (205) – 1901 – Kompetenzkonflikt, mit der ausdrücklichen Festlegung, dass Art. 106 der preußischen Verfassung das Reichsgericht wegen Art. 2 RV nicht an der Kontrolle hindern könne; siehe auch unten Fn. 25. 21 RGZ 77, 229 (231) – 1911 – Wildbretgemeindesteuer. 22 RGZ 48, 84 (88) – 1901 – Zivilversorgung Militäranwärter; falsch die Berufung auf RGZ 43, 314 (320) – 1899 – Einkommensteuerveranlagung; siehe Paul Laband,
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Formel keinen echten Ausschluss des richterlichen Kontrollrechts sehen können, sondern eher einen vorläufigen Verzicht, der eben solange gelte, wie es keinen „Anlaß“ zu einer gegenteiligen Meinung gebe. Die dahinter stehende Konzeption wurde dann unter den besonderen Umständen des Weltkriegs 1916 nochmals klarer gefasst: „Die [angegriffenen] Gesetze sind im Reichsgesetzblatt verkündet. Sie tragen die Unterschrift des Kaisers und die Gegenzeichnung des Reichskanzlers. Die Eingangsworte enthalten die Erklärung, daß Bundesrat und Reichstag zugestimmt haben. Durch seine Gegenzeichnung hat der Reichskanzler die Verantwortlichkeit auch dafür übernommen, daß die Gesetze verfassungsmäßig zustande gekommen sind. Damit würde, wenn tatsächlich eine Verfassungsänderung vorliegen sollte, zugleich der formelle Beweis geliefert sein, daß im Bundesrate die nach Art. 78 Abs. 1 erforderliche Mehrheit vorhanden gewesen war.“23
Eine Überprüfung des Reichsgesetzes am Maßstab der Verfassung fand damit im Ergebnis zwar nicht statt. Das Reichsgericht entlastete sich insoweit allerdings mit dem Kunstgriff, dass angesichts der Ausfertigung gegebenenfalls auch eine verfassungsändernde Mehrheit vorgelegen habe – dies zu überprüfen sei nicht Aufgabe der Richterbank, sondern im Rahmen der Verfassungstreue den Beteiligten der Reichsgesetzgebung aufgegeben. Statt einer tatsächlichen Überprüfung des Gesetzgebungsvorgangs, wie ihn wohl ein Staatsgerichtshof vorgenommen hätte, begnügte sich das Reichsgericht mit dem Verweis auf die verfassungsmäßigen Pflichten der anderen Staatsorgane. bb) Anders lagen die Dinge im Übrigen von vornherein, wenn es sich um den Rechtsbefehl eines Landesgesetzes handelte, der gegen Vorschriften eines Reichsgesetzes oder der Reichsverfassung verstieß.24 Hier ging es um den Vorrang des Bundesrechts, der in Art. 2 RV ausdrücklich in der Reichsverfassung niedergelegt war, und insofern nahm das Reichsgericht in seiner herausgehobenen Position für sich in Anspruch, Landesrecht jedweder Art (und ausdrücklich auch förmliche Gesetze) bei Unvereinbarkeit mit dem Reichsrecht unangewendet zu lassen.25 Für die Gesamtschau festzuhalten bleibt insofern, dass es bei dem Ausschluss richterlicher Überprüfung jedenDas Staatsrecht des deutschen Reiches, Bd. 2, 5. Aufl. 1911 (Neudruck 1964) mit Verweis auf RGZ 9, 232 (235 f.) – 1883 – Bremer Deichordnung. 23 RG, JW 1916, S. 596 (597) – Reichszuwachssteuergesetz. Ausdrücklich wurde daher nicht überprüft, ob mehr als 13 Gegenstimmen vorlagen. Die richtige Verkündung dagegen hatte das RG dem Vorderrichter als Überprüfungspflicht aufgegeben, vgl. RGZ 43, 418 (420) – 1899 – Gerichtszuständigkeit. 24 Das gilt auch für Vorschriften des Landesverfassungsrechts: Huber (Fn. 10), S. 1063 f.; nach Laband (Fn. 16), S. 143 f., gehen Reichsgesetze allen landesrechtlichen Vorschriften vor. 25 RGZ 2, 93 (94) – 1880 – Mecklenburgische Konkursausführungsverordnung; RGZ 11, 183 (187) – 1884 –Braunschweigisches Gewerbegesetz; RGZ 15, 27 (28 f., 32) – 1885 – Bremisches Einkommensteuergesetz; RGZ 19, 176 (180) – 1887 – Preußisches Stempelgesetz, darin Berufung auf Art. 2 RV bei Verwerfung; RGZ 61, 9 (13) – 1905 – Hamburgisches Schweinehaltungsverbotsgesetz; siehe auch oben Fn. 20.
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falls nicht um die Dignität des Parlamentsgesetzes als einem unangreifbaren Ausdruck des Kompromisses zwischen Bürgertum und Krone ging.
2. Zwischenergebnis: Ausbau und graduelle Beschränkung des Prüfungsrechts
Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass das richterliche Prüfungsrecht nach 1871 auf Reichsebene durchaus eine kräftige Entwicklung genommen hatte. Die neue Verfassung gab dafür klare Orientierungsgrößen vor, an denen sich das Reichsgericht ausrichten konnte, und die es für die Bestimmung seiner Position als neues Bundesorgan nutzte. Insofern sind zwei Aspekte klar zu unterscheiden: Das Verhältnis von Reichsverfassung und Reichsgesetz war nicht von der Bedeutung, die ihm in der Rückschau zugemessen wurde. Die Reichsverfassung enthielt als Organisationsstatut ohnehin kaum inhaltliche Maßstäbe für den Gesetzgeber. Außerdem war wegen der lex-posterior-Regelung des Art. 78 RV ein Konflikt kaum vorstellbar. Für die aktive Rolle der Justiz viel wichtiger war, dass bis zur Einführung des BGB die Grundlage richterlicher Entscheidung vielfach ohnehin gar nicht das klare, formelle Gesetz war, sondern das gemeine Recht ebenso wie allerlei altrechtliche Rechtsnormen verschiedenster Provenienz. Die heute selbstverständlich erscheinende „dienende“ Rolle der Richter hatte zu dieser Zeit gerade noch keine gefestigte Tradition, „klassische“ Rechtsstaaten wie Großbritannien und auch schon die USA jedenfalls waren durch das common law sicher keine Vorbilder für eine umfassende Gesetzesbindung. Die Differenzierung der Rechtsquellen steckte im Übrigen gerade auch für das Verwaltungshandeln noch immer erst in seinen Anfängen.26 Viel stärker als gemeinhin angenommen muss dagegen beachtet werden, dass aus der besonderen bundesstaatlichen Lage heraus die Überprüfung von Rechtsverordnungen zu einem allgemeinen Grundsatz gemacht wurde: Für die Landesverordnungen folgte dies aus dem Vorrang des Reichsrechts, für die Verordnungen der Reichsebene aus ihrer Gesetzesbindung. So war im Ergebnis das richterliche Prüfungsrecht in einen Kernbereich der Staatlichkeit erstreckt. Immerhin musste die Verordnung nicht nur praktisch, sondern auch staatstheoretisch als gleichberechtigtes Mittel der Staatsorganisation neben dem Gesetz betrachtet werden, für weite Bereiche des Verwaltungsstaats sogar als alleinige Orientierungsgröße.27 Diese Grundlage 26 Hinzuweisen ist insoweit auf die parallele Entwicklung innerhalb der (institutionell neuartigen) Verwaltungsgerichtsbarkeit, vgl. zur Bedeutung der Kreuzbergentscheidung des Preußischen OVG von 1882 Wißmann (Fn. 5), S. 70 ff. 27 Genauer zu differenzieren wäre hier nach Rechtsverordnungen und Verwaltungsverordnungen, weil nur erstere Rechtssätze im Sinn des materiellen Rechts sein sollten, vgl. Laband (Fn. 16), S. 127 f.
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des Konstitutionalismus war 1871 nicht prinzipiell aufgehoben worden, der Kompromiss zwischen förmlicher Verfassungsordnung und monarchischem Prinzip weder stabilisiert noch im Ausgang auch nur vorentschieden. Doch mit der Einführung des „modernen“ Bundesstaats trat eine neue Mobilisierung der unentschiedenen Lage ein. Der „alte“ Konstitutionalismus war nicht zuletzt durch die eher unscheinbare Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Überprüfung von Verordnungen auf eine abschüssige Bahn geraten.28 III. Normenkontrolle in der Weimarer Republik 1. Gesetzeslage und Rechtspraxis
a) Ausgangspunkt: Notwendige Neugründung des richterlichen Prüfungsrechts in der Republik: Durch die republikanische Verfassung von 1919 war die Frage, wie sich Gesetzgebung, Exekutive und richterliche Kontrolle zueinander verhalten sollten, neu zu stellen.29 Denn die Kontinuität, die für den Verwaltungsrechtsstaat angenommen wurde,30 konnte hinsichtlich seiner Fundamente nicht gelten: Nun war jede Staatsfunktion erst durch die Verfassung in ihre Rechte eingesetzt und damit von vornherein limitiert, für eine vorverfassungsrechtliche Reservekompetenz fehlte jeder Anhaltspunkt, wenn auch die Nachwehen des Konstitutionalismus in der Staatslehre ihre Spuren hinterließen.31 28 Die hier sehr real werdende Wirkung des bundesstaatlichen Elements spart Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1992, S. 273 (insb. 291 ff., v. a. 301) in seiner Stellungnahme zur politischen Form und Legitimitätsidee des Konstitutionalismus fast ganz aus, vgl. nur S. 304. Vgl. demgegenüber zur inneren Dynamik als immanentem Faktor nach 1871 Ernst Rudolf Huber, Das Kaiserreich als Epoche verfassungsrechtlicher Entwicklung, in: Isensee / Kirchhof (Fn. 6), insb. Rn. 20 ff. 29 Ernst von Hippel, Das richterliche Prüfungsrecht, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 1932 (Nachdruck 1998), S. 546 (555 f.). 30 Klassisch: Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 2, Vorwort zur 3. Aufl. 1924 (Nachdruck 1969). 31 Bekanntlich kam nach Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, AöR 55 (1929), S. 161 die Rolle des Hüters der Verfassung dem Reichspräsidenten und nicht dem Staatsgerichtshof zu; dagegen die herrschende republikanische Lehre, etwa Heinrich Triepel, Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern. Beiträge zur Auslegung des Art. 19 der Weimarer Reichsverfassung, in: Festgabe Kahl 1923, Teil II, S. 1 (93) und auch die ausdrückliche Selbstzuschreibung des StGH, erstmalig in der Entscheidung vom 15.10.1927, Hans-Heinrich Lammers / Walter Simons (Hrsg.), Entscheidungen des Staatsgerichtshofs, Bd. 1, Berlin 1929, S. 292 (295) = RGZ 118 Anh. S. 1; deutlich ablehnend zu Schmitt Simons, Geleitwort, in: Lammers / Simons (Hrsg.), Entscheidungen des Staatsgerichtshofs, Bd. 4, Berlin 1934, S. VIII f.; zu dieser Debatte Karl Zippelius, Verfassungsrechtliche Stellung und Entwicklung der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das deutsche Reich, Karlsruhe 1973, S. 146 ff. und 162 ff.; Scheuner (Fn. 11), S. 50 ff.
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Eine ausdrückliche Regelung des richterlichen Prüfungsrechts enthielt auch die neue Reichsverfassung nicht. Zu beachten war freilich, dass nach neuem Recht bereits auf verfassungsrechtlicher Ebene Art. 102 die richterliche Unabhängigkeit sicherte.32 Auch hatte sich die Stellung der Verfassung selbst verbessert, sie konnte nur noch mit qualifizierter „positiver“ Mehrheit abgeändert bzw. durchbrochen werden; zudem enthielt die WRV nun auf Reichsebene vor allem mit den Grundrechten (ungeachtet derer exakter dogmatischer Position) materielle Regelungen. Und mit der Einrichtung eines Staatsgerichtshofs, der das intergouvernementale Bundesratsmodell ablöste, war auch institutionell der entscheidende Schritt zur Verfassungsgerichtsbarkeit getan worden, um der neuen Rangfolge des Verfassungsrechts – erst das (Verfassungs-)Recht, dann die (politischen) Akteure – Geltung verschaffen zu können.33 Unter diesen neuen Voraussetzungen musste das richterliche Prüfungsrecht ganz offensichtlich insgesamt neu verortet werden. Dementsprechend hatten bereits in der Nationalversammlung einschlägige Debatten stattgefunden, vor allem in Bezug auf die Aufgaben des Staatsgerichtshofs.34 Klare Lösungen waren in der knappen Zeit, die für die Verfertigung der neuen Staatsfundamente zur Verfügung stand, nicht erreicht worden. So gab das Ausführungsgesetz von 1920 dem Reichsgericht die Zuständigkeit für die Verwerfung von Landesrecht nach Art. 13 WRV, statt diese klar verfassungsgerichtliche Aufgabe dem Staatsgerichtshof zu übertragen; auch umfassten dessen sonstige Zuständigkeiten nach Art. 19 WRV weder den Bundesorganstreit noch die abstrakte Normenkontrolle. Ein geschlossenes System der gerichtlichen Zuständigkeiten im Verfassungssystem war aus diesen Elementen nicht abzuleiten, sondern der weiteren Entwicklung in der Staatspraxis überlassen.35 b) Der Ausbau der inzidenten Kontrolle in der Rechtsprechung des Reichsgerichts: Angesichts der geschilderten Ausgangslage musste es weiterhin zuerst auf die Gerichte ankommen, auf welchem Pfad die richterliche Kontrolle von Rechtsakten nun weitergeführt, ausgebaut oder zurückgenommen werden würde. Das betraf zunächst die ordentliche Gerichtsbarkeit und sonstige Gerichte außerhalb der Staatsgerichtsbarkeit. Hier konnte mangels einer generellen Zuständigkeit die Überprüfung von Rechtsnormen wie schon bisher aus Anlass eines konkreten Rechtsstreits nur inzident stattfinden, wenn die für die Streitentscheidung anwendbare Rechtsnorm festzuArtikel 102: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.“ Vgl. Wißmann (Fn. 4), S. 189 – 192. 34 Darstellung der Verhandlungen nach dem Protokoll des Verfassungsausschusses, Verfassungsgebende Nationalversammlung [1919] Anlage Nr. 391, S. 483 ff.; siehe auch Gerhard Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, Nr. 5 zu Art. 70 WRV. 35 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6, Stuttgart 1981, S. 560 ff.; Wißmann (Fn. 4), S. 192 ff. 32 33
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stellen war. Die aktive Gesetzgebung der Übergangszeit, insbesondere in der Nationalversammlung, gab den Gerichten sogleich vielfach Gelegenheit, zu Normen Stellung zu nehmen, deren Verfassungsmäßigkeit bestritten wurde. Insoweit bot die höchstrichterliche Rechtsprechung zunächst wiederum kein klares Bild: Zum einen behaupteten sowohl Reichsgericht wie auch der 1918 neugeschaffene Reichsfinanzhof in Anknüpfung an die alte Rechtsprechung zur Überprüfung von Verordnungen, es hätte seit jeher ein richterliches Prüfungsrecht für Verordnungen wie Gesetze gegeben.36 Gerade gegenteilig wurde aber zum anderen ebenso formuliert, dass die Gerichte bei gehörig verkündeten Normen (und zwar auch bei Verordnungen) gar kein Überprüfungsrecht hätten.37 Schließlich ließen Entscheidungen die Frage auch bewusst offen.38 Andere Gerichte, zunächst das Reichsversorgungsgericht und dann später der Reichsfinanzhof, gingen schließlich schon weiter und wendeten Reichsgesetze nicht an.39 Diese eher tastenden Äußerungen bündelte die berühmte Entscheidung des 111. Bandes, mit der der 5. Zivilsenat des Reichsgerichts 1925 im Streit um die Aufwertungsgesetzgebung programmatisch die inhaltliche Kontrolle von Reichsgesetzen ausrief.40 Allerdings ist sogleich zu beachten, dass in der konkreten Entscheidung im Ergebnis die Verfassungsmäßigkeit der Norm angenommen wurde. Erst mit einigem Abstand, nämlich 1929, stellte das Reichsgericht dann tatsächlich in mehreren Fällen die Rechtsungültigkeit von Reichsgesetzen fest und wandte sie nicht an41 bzw. ließ sie durch eine verfassungskonforme Auslegung leerlaufen.42 Beansprucht und angewandt wurde bei diesen Entscheidungen ein doppelter Überprüfungsmaßstab: In 36 RGZ 102, 161 (164) – 1921 – Bremische Verordnung gegen Wohnungsmangel; RGZ 107, 377 (379) – 1923 – Reichsabdeckereiverordnung; RFHE 5, 333 (334f.) – 1921 – Reichskriegsabgabengesetz; auch RFHE 7, 97 (98, 100) – 1921 – Reichsgoldzahlungsgesetz. 37 RGZ 107, 315 (317) – 1924 – Abgeltungsverordnung. 38 RGZ 107, 370 (376) – 1924 – Hypothekenaufwertung in Steuernotverordnung. 39 Zuerst nur das Reichsversorgungsgericht 1924, RVGE 4, 168 (184 f.). Das RVG verwarf hier ein Änderungsgesetz zum Besoldungsgesetz. Allerdings fand nur eine formelle Prüfung statt. Das Änderungsgesetz wird wegen eines Eingriffs in wohlerworbene Rechte nach Art. 129 WRV als verfassungsändernd qualifiziert und wegen nicht feststellbarer verfassungsändernder Mehrheiten verworfen. Dann RFHE 21, 68 (76,79) – 1926 – Verwerfung der Kohlensteuerordonanz der Rheinlandkommission; RFHE 27, 321 (322) – 1931 – Überprüfung der Reichshilfenotverordnung auf Verfassungsmäßigkeit, keine Verwerfung; RFHE 31, 356 (357) – 1932 – Aufbringungsumlagegesetz, verfassungsgemäß. 40 RGZ 111, 320 – 1925 – Aufwertungsgesetz. 41 RGZ 124, 173 (176) – 1929 – Versorgungsansprüche Schutzpolizei; RGZ 126, 161 – 1929 – Verjährung. 42 Vgl. RGZ 125, 420 (422) – 1929 – zur verfassungskonformen Auslegung (Beamtenernennung); dezidiert anders dann nach 1933 RGZ 142, 389 (392) – 1934 – Dienstbezüge, unter Berufung auf RGZ 107, 315 – 1924 – Abgeltungsverordnung, im Widerspruch zu RGZ 136, 301(306) – 1932 – ruhegehaltsfähige Zulage und RGZ 141, 342 (344) – 1933 – Konrektorenzulage.
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formeller Hinsicht wurde nach den Voraussetzungen der Rechtsgültigkeit gefragt, was bei Reichsgesetzen bedeutete, dass eine verfassungsändernde Mehrheit vorgelegen habe. Dem vorgeschaltet war jedoch eine materiellrechtliche Überprüfung, die vor allem am Maßstab des Eigentumsgrundrechts erfolgte: Denn nur, wenn der Inhalt der Verfassung durch das neue Gesetz verändert wurde, war die qualifizierte Mehrheit erforderlich. So handelt es sich bei dieser Form der richterlichen Kontrolle um den Typus der konkret-inzidenten Normenkontrolle in formeller und bzw. oder materieller Hinsicht. Der entscheidende programmatische Ausspruch für das erweiterte Verständnis der richterlichen Gesetzeskontrolle wurde in der Leitentscheidung zum Aufwertungsgesetz im 111. Band formuliert: „Voraussetzung für die Anwendung der Vorschriften des Aufwertungsgesetzes ist, daß sich keine durchgreifenden Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes ergeben […]: Im Hinblick auf die in der Öffentlichkeit […] erhobenen Angriffe (gegen das Gesetz) erscheint es […] geboten, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes von Amts wegen einer Prüfung zu unterziehen. […] Da die Reichsverfassung selbst keine Vorschrift enthält, nach der die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Reichsgesetze den Gerichten entzogen und einer bestimmten anderen Stelle übertragen wäre, muß das Recht und die Pflicht des Richters, die Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen zu prüfen, anerkannt werden.“43
Auf dieser schlichten Grundlage prüfte der 5. Zivilsenat daraufhin vor allem einen Eingriff in das nach Art. 153 WRV geschützte Eigentum. Hier kam nun dem Senat zupass, dass er kurz zuvor die Vorgängerregelung, die als Notverordnung ergangen war, inhaltlich geprüft hatte, so dass sich sachlich keine entscheidenden neuen Aspekte ergaben und das Gesetz für verfassungsgemäß erklärt werden konnte. Wie 122 Jahre zuvor beim Supreme Court war damit der taktische Zug gelungen, die neu errungene Kompetenz hinter einer Zustimmung in der konkreten Sache zu verbergen. Dennoch war in der einsetzenden Diskussion der Widerstand gegen das Reichsgericht sehr stark.44 Dies lag nun nicht nur an der Grenzverschiebung als solcher, die mit der Prüfung eines Gesetzes verbunden sein musste, sondern an der speziellen Vorgeschichte der konkreten Streitsache: Das Reichsgericht hatte in der Inflation den Grundsatz Mark = Mark aufgegeben und Schuldnern verwehrt, Schulden in entwerteter Papiermark statt in Goldmark abzutragen.45 Innerhalb der Reichsregierung war erwogen worden, die damit verbundene Aufwertung gesetzlich zu verbieten. In einer beispiellosen
RGZ 111, 320 (322 f.) – 1925 – Aufwertungsgesetz. Kritik etwa bei Walter Jellinek, Grenzen der Verfassungsgesetzgebung, Berlin 1931, S. 19; Anschütz (Fn. 34), Nr. 4 f. zu Art. 70 WRV; weitere Nachweise bei Hartmut Maurer, Das richterliche Prüfungsrecht zur Zeit der Weimarer Verfassung, DÖV 1963, S. 683 (684 f.). 45 RGZ 107, 78 (89) – 1923 – Hypothekenaufwertung Südwestafrika. 43 44
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Aktion hatte daraufhin der Richterverein beim Reichsgericht im Januar 1924 öffentlich erklärt, er glaube „erwarten zu dürfen, daß die von ihm vertretene Auffassung nicht durch einen Machtspruch des Gesetzgebers umgestoßen wird[. Die einschlägige Entscheidung sei auf] den großen Gedanken von Treu und Glauben [gestützt, eine andere Entscheidung würde zu einem] höchste[n] Maße des Unrechts führen, unerträglich in einem Rechtsstaat.“
Treu und Glaube stehe außerhalb des einzelnen Gesetzes, keine Rechtsordnung könne ohne diesen Grundsatz bestehen. Die Erklärung schloss mit einer kaum verhohlenen Drohung: „Ein schwerer Stoß für das Rechtsgefühl im Volke […] wäre es, wenn es dazu kommen müßte, daß jemand, der sich im Rechtsstreit auf die neue gesetzliche Vorschrift beriefe, damit von den Gerichten mit der Begründung abgewiesen würde, seine Berufung auf die Vorschrift verstoße gegen Treu und Glauben. [Es bestünde die] ernste Gefahr,“
dass der geplante Eingriff von Seiten der Gerichte als verfassungswidrige Enteignung betrachtet würde (auch bei nur teilweisem Verbot der Aufwertung); der Vorstand bitte, „dieses Bild von der Stimmung beim Reichsgericht […] zu würdigen.“46 Ohne Zweifel: Hier ist eine Grenzüberschreitung zu besichtigen, die mit guten Gründen skandalisiert werden kann. Man wird die Mitglieder des Reichsgerichts auch kaum zu unbedingt-standhaften Verfassungsfreunden stilisieren können. Denn interessant ist ja vor allem, dass in der entscheidenden Erklärung des Richtervereins eben nicht die Verfassung, sondern der allgemeine Grundsatz von Treu und Glauben herangezogen wird; das BGB erschien sozusagen als Ausdruck absoluter, vorgesetzlicher Richtigkeiten. In diesem Sinn wird dann später in der Entscheidung die Verfassung auch eher als Vehikel genutzt: „Die Reichsverfassung hat in Art. 102 den in § 1 GVG aufgestellten Grundsatz aufgenommen, daß die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen seien. Die Bestimmung schließt nicht aus, daß einem Reichsgesetz […] die Gültigkeit insoweit aberkannt werden kann, als sie mit anderen, vom Richter zu beachtenden Vorschriften, die ihnen vorgehen, in Widerspruch stehen. Das ist der Fall, wenn ein Gesetz einem in der Reichsverfassung aufgestellten Rechtssatz widerspricht und bei seinem Erlaß die für eine Verfassungsänderung vorgeschriebenen Erfordernisse nicht vorgelegen haben.“47
Da das Aufwertungsverbot, wenn auch in abgemilderter Form, sehr wohl Gesetz wurde und das Gericht dennoch die Verfassungsmäßigkeit der entsprechenden Regelungen bejahte, ist gegen den landläufigen Eindruck eher festzustellen, dass der Senat eben nicht unangefochten eherne Judikatur praktizierte, sondern sich auf ein mittleres Ergebnis einließ.48 Vor allem ist 46 47
JW 1924, S. 90. RGZ 111, 320 (322f.) – 1925 – Aufwertungsgesetz.
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für die Einordnung aber relevant, dass das Prüfungsrecht zwar allgemein formuliert war, jedoch vom Reichsgericht erst „entdeckt“ wurde in dem Moment einer absoluten Krise, in der die wechselseitige Hilflosigkeit aller beteiligten Staatsorgane das hervorstechende Merkmal war. Das Reichsgericht bewahrte durch sein Votum, wenn man so will, die Reichsregierung vor der Versuchung eines absoluten Schuldenschnitts.49 c) Prinzipielles Prüfungsrecht in der Praxis des Staatsgerichtshofs und des Reichsgerichts: aa) Allerdings greift es zu kurz, das richterliche Prüfungsrecht nur in dieser erweiterten Kontinuität der reichsgerichtlichen Rechtsprechung wahrzunehmen. Denn der Staatsgerichtshof unternahm auf einem anderen Weg ebenfalls die Überprüfung von Reichsgesetzen. Hierfür stand ihm wegen der gesetzlichen Limitierung seiner Aufgaben nur das Verfahren des Reich-Länder-Streits, also eines besonderen Organstreitverfahrens im Rahmen des Art. 19 WRV, zur Verfügung. Erstaunlicherweise hat sich in Deutschland die Sichtweise durchgesetzt, der Staatsgerichtshof habe eine nur sehr eingeschränkte Entscheidungsmacht besessen. Dieses Vorverständnis prägt auch die Darstellungen des richterlichen Prüfungsrechts, die sich oft genug auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts konzentrieren.50 Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass der Staatsgerichtshof ganz generell sehr großzügig mit der Zuteilung der Zulässigkeitsvoraussetzungen war und so seine Zuständigkeit erheblich ausweitete. Gerade am Beispiel der Normprüfung lässt sich zeigen, dass das Gericht sich dabei auch durch funktionale Grenzen bestimmter Klageverfahren nicht an einer verfassungsrechtlichen Beurteilung hindern ließ.51 Und so hatte der Staatsgerichtshof 1928 auf Antrag des Landes Preußen ein Reichsgesetz im Tenor als ungültig erklärt, weil eine Verletzung der subjektiven Rechte des Antragstellers vorläge. Hier war also im Typus der Normenkontrolle als streitiges Parteiverfahren die Normkontrolle der eigentliche, ausdrückliche Streitgegenstand. Der Staatsgerichtshof entschied über die Ungültigkeit eines Änderungsgesetzes zur reichsweiten Biersteuergemeinschaft, mit dem nach den Wirren der Inflation die Verteilung der damit verbundenen Erträge (zum zweiten Mal nach 1925) neu geordnet wurde. Preußen, dessen Position sich durch die Neuregelung verschlechtert hatte, machte geltend, dass eine Zweidrittelmehrheit zur Änderung des Gesetzes
48 Andere Stoßrichtung in der Bewertung bei Huber (Fn. 35), S. 566, wonach das RG das Gesetz nur für verfassungsgemäß erklärte, weil dieses aufgrund des Drucks, der durch die öffentliche Erklärung der Richterschaft entstanden ist, geändert worden sei. 49 Gesamtübersicht über die Rechtsprechung, gegliedert nach Senaten, bei Hornauer (Fn. 1), S. 60 ff. 50 Vgl. etwa Gusy (Fn. 3), S. 79 ff.; Herrmann (Fn. 1), S. 108 ff. 51 Zur Handhabung der Zulässigkeitsvoraussetzungen Wißmann (Fn. 4), S. 194 – 196.
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erforderlich gewesen sei. Denn die ursprünglichen Regelungen von 1919 seien durch die Nationalversammlung als verfassungsrechtliche (Teil-)Vorschriften beschlossen worden, weil sie nach ihrem Wortlaut nur mit verfassungsändernder Mehrheit geändert können werden sollten. Wie auch das Reichsgericht beschäftigte sich der Staatsgerichtshof zunächst mit der Frage, ob er zur Entscheidung über den Antrag (und damit zu einer direkten Normenkontrolle) berufen sei – zumal zu dieser Zeit ein aktueller Gesetzentwurf vorlag, der ihm dieses Recht erst einräumen wollte. Der Staatsgerichtshof sah hierin mit ähnlicher Argumentationstiefe wie zuvor der Zivilsenat beim Reichsgericht kein Problem: „Der Umstand, daß der Staatsgerichtshof zu dieser Prüfung noch nicht allgemein bestellt ist, schließt keineswegs aus, daß ihm die Befugnis dazu auf Grund besonderer gesetzlicher Anordnung zusteht. […] Art. 19 enthält wegen des Inhalts von Streitigkeiten […], die zwischen dem Reich und einem Lande auftauchen, keinerlei Beschränkungen […]. Hiermit erledigen sich die gegen die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs vorgebrachten Bedenken.“52
Das rechtliche Problem des Falls lag darin, dass die Nationalversammlung in diesem Fall für ein einfaches Gesetz 1919 noch vor Verabschiedung der neuen Verfassung einen besonderen Schutz verfügt hatte, indem sie zu seiner Änderung die Anforderung einer verfassungsändernden Mehrheit festlegte. Der Staatsgerichtshof verwies insoweit darauf, dass die Nationalversammlung „nach den ihr eingeräumten Machtbefugnissen durch nichts gehindert [war], den Gesetzen Verfassungsschutz im Sinn der zukünftigen Reichsverfassung beizulegen.“
Von diesem Grundsatz aus war der Fortgang klar, weil der Staatsgerichtshof ganz formell die Qualität des Streitgegenstands als verfassungsdurchbrechendes Gesetz ohne inhaltliche Prüfung feststellen konnte, ebenso dann die Nichterfüllung der entsprechenden Anforderungen.53 So bleibt festzuhalten, dass schon vor dem Reichsgericht der Staatsgerichtshof ernstgemacht und ein parlamentarisches Gesetz verworfen hat. bb) Im Übrigen war auch die Überprüfung des Landesrechts am Maßstab des Reichsrechts durch Art. 13 Abs. 2 WRV noch einmal neu geordnet worden. Neben das schon zuvor anerkannte inzidente Prüfungsrecht war nunmehr eine besondere bundesstaatliche Form der abstrakten Normenkontrol-
52 Entscheidung des StGH vom 17.11.1928, Lammers / Simons (Fn. 31), Bd. 1, S. 156 (166). 53 Die Pointe der Entscheidung, die sie mit der Linie des Reichsgerichts in der Aufwertungsrechtsprechung verband, lag in der Feststellung, durch das Gesetz habe eine (potentiell zu weitgehende) Bindung der Gerichte vorgelegen, die allerdings genau diese Aufwertung selbst durchaus hätten vornehmen können (!), wie es in den Krisenzeiten der Inflation auch regelmäßig erfolgt sei, siehe Entscheidung des StGH vom 17.11.1928, Lammers / Simons (Fn. 31), Bd. 1, S. 156 (172).
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le getreten, die durch das Reichsgericht wahrgenommen wurde.54 Insoweit war, wie schon bisher, der besondere Status eines Parlamentsgesetzes jedenfalls kein Grund für eine Beschränkung der richterlichen Überprüfung.
2. Ergänzung: Das Prüfungsrecht als Gegenstand der Rechtspolitik
Die genannten Urteile sind nur vor der Folie einer langgestreckten politischen und akademischen Debatte zum richterlichen Prüfungsrecht richtig zu erfassen. Schon in der Nationalversammlung war ein ausdrückliches Kontrollverfahren vor dem Staatsgerichtshof verlangt worden.55 In der Folge hatten sich die Kohorten in bemerkenswerter Weise sortiert: Die ältere Labandsche Linie, die ein Prüfungsrecht der Gesetze konstitutionalistisch stets abgelehnt hatte, wurde nun aufgenommen von den republikanischen Oberhäuptern der Staatsrechtslehre. Unter anderem Thoma, Anschütz und Jellinek sprachen sich gegen den Schutz der Verfassung vor dem Gesetzgeber durch die Gerichte aus; abgelehnt wurde allerdings vor allem die ungeordnete Handhabung durch die (untere) Instanzgerichtsbarkeit; hier war die Sorge vor der Behinderung der neuen demokratischen Staatlichkeit durch antirepublikanisch gesinnte Richter mit Händen zu greifen.56 In der Tat entsprach umgekehrt der Grundton der Befürworter eines richterlichen Prüfungsrechts einer Haltung, die dem Luderparlament Schlimmes zutraute und zur Not auch die Verfassung dagegen in Einsatz bringen wollte.57 Erhellend ist nun allerdings, dass jenseits dieser quasi politischen Frontstellung die Entwicklungsperspektive eines neu geordneten Normenkontrollverfahrens vor dem Staatsgerichtshof weithin Befürworter hatte, gerade in das Lager der Demokraten hinein. Schon Thoma hatte 1922 auf der ersten Konferenz der Staatsrechtslehrer in seinem Hauptreferat zu diesem Thema seine Ablehnung de lege lata mit der Zustimmung de lege ferenda verbun54 Siehe allgemein Anschütz (Fn. 34), Rn. 2 f. zu Art. 13 WRV; Entscheidung des StGH vom 17.11.1928, Lammers / Simons (Fn. 31), Bd. 1, 156 (insb. 165 f.); RGSt 56, 177 (180) – 1921 – Versammlungsrecht Württemberg; RFHE 4, 9 (11) – 1920 – Sächsisches Steuergesetz; RGZ 107, 287 – 1923 – Sächsisches Altersgrenzengesetz. 55 Siehe oben Fn. 34. 56 Anschütz (Fn. 34), Nr. 5 zu Art. 70 WRV; ders., Verhandlungen des 34. Deutschen Juristentages zu Köln 1926, Stenographischer Bericht, 2. Bd. 2, 1927, S. 194 (209); Richard Thoma, Das richterliche Prüfungsrecht, AöR 43 (1922), S. 267 (274 f., 279); Walter Jellinek, Das Märchen von der Überprüfung verfassungsmäßiger Reichsgesetze durch das Reichsgericht, JW 1925, S. 454; ders.; Verfassungswidrige Reichsgesetze, DJZ 1921, Sp 753. 57 Heinrich Triepel, Der Weg der Gesetzgebung nach der neuen Reichsverfassung, AöR 39 (1920), S. 534 (536); Ottmar Bühler, Sind die ordentlichen Gerichte verpflichtet, verfassungswidrige Gesetze anzuwenden?, DJZ 1921, Sp 580; Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 4. Aufl. 1996, S. 20, 36, 46; Abgeordnete Hugo Preuß und Adalbert Düringer, Protokoll des Verfassungsausschusses, Verfassungsgebende Nationalversammlung [1919], Anlage Nr. 391, S. 483 und 485.
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den.58 Anschütz hatte in ähnlicher Weise auf dem 34. Deutschen Juristentag 1926 in einem Gutachten die Einführung einer Normenkontrolle durch den Staatsgerichtshof für richtig gehalten.59 Dem entsprach der wiederholte Vorstoß der Reichsregierung, ein entsprechendes ausdrückliches abstraktes Normenkontrollverfahren mit besonderer Antragsberechtigung gesetzlich zu regeln.60 Eine solche „ordentliche“ Lösung war mit anderen Worten – ebenso wie die internationalen Vorbilder und Vergleichslösungen – in der Diskussion durchweg präsent, auch wenn es (auch hier) – weder in den „goldenen Jahren“ noch in der späteren Krise des Parlamentarismus zu einer großen Lösung kam.61 Damit blieb es bei der vorläufigen, krisenorientierten, institutionell heiklen, kurz: instabilen Verfertigung der richterlichen Gesetzeskontrolle. In der exekutivischen Auflösung des Rechtsstaats ab 1930 und mit voller Gewalt ab 1933 war hier kein Halt zu finden.62
IV. Das richterliche Prüfungsrecht – ein Beitrag zu „checks and balances“ in der Staatspraxis von Kaiserreich und Republik 1. Die Judikatur von Reichsgericht und Staatsgerichtshof: Funktionale Richtigkeit trotz argumentativer Schwäche
Fasst man den verfassungshistorischen Befund knapp, aber mit der notwendigen Differenzierung zusammen, war sowohl für den Reichskonstitutionalismus nach 1871 als auch für das Verfassungsrecht der Weimarer Republik nach 1918 eine bemerkenswerte Handhabung des richterlichen Prüfungsrechts zu beobachten: Die Überprüfung von gubernativen Verordnungen in der Monarchie positionierte sich ebenso gegen das staatsrechtliche Zentrum wie die Überprüfung von Reichsgesetzen in der parlamentarisch geführten Republik. War im ersten Fall das Bundesstaatsmodell der entscheidende Modernisierungsfaktor gegenüber älteren Auffassungen von
Thoma (Fn. 56), S. 275. Anschütz, Verhandlungen Juristentag (Fn. 56), S. 205 ff. 60 Zu einem abgelehnten Antrag im Rahmen der Beratung über das Gesetz über den Staatsgerichtshof (9.7.1921, RGBl S. 905), Bericht in den Verhandlungen des Reichstages, I. Wahlperiode 1920 / 24, Bd. 22, Anlage Nr. 1592, S. 1136 (1138); zum ersten Gesetzentwurf der Reichsregierung 1926 Reichsminister des Innern Wilhelm Külz, DJZ 1926, Sp 837 (842 ff.) = Verhandlungen des Reichstags, III. Wahlperiode 1924 / 28, Bd. 29, Anlage Nr. 2855; weiterer Entwurf 1928, Verhandlungen des Reichstages, IV. Wahlperiode, 1928 / 30, Bd. 9, Anlage Nr. 382. 61 Zusammenfassend damals Fritz Morstein Marx, Variationen über die richterliche Zuständigkeit zur Prüfung der Rechtmäßigkeit des Gesetzes, 1927, S. 153 ff.; Gesamtschilderung der damaligen Diskussion bei Maurer (Fn. 44), S. 684 ff.; Hase (Fn. 3), S. 107 ff.; Gusy (Fn. 3), S. 90 ff.; Herrmann (Fn. 1), S. 107 ff.; Hartmann (Fn. 1), S. 158 ff.; Hornauer (Fn. 1), S. 35 ff. 62 Bezeichnend RGZ 142, 389 (392) – 1934 – Dienstbezüge. 58 59
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der „Unverletzlichkeit“ königlicher Verordnungen, wurde im zweiten Abschnitt der Vorrang der Verfassung zur Kontrollgröße gegenüber späteren Ratsschlüssen des Parlaments. Wie ist nun diese Positionierung der Gerichte einzuordnen? Statt der bisher vorherrschenden Wahrnehmung eines scharfen Schnitts zwischen den beiden Phasen kann – so die hier vorzutragende Beobachtung – bei einer funktional orientierten Betrachtung festgestellt werden, dass sowohl das Reichsgericht wie auch der Staatsgerichtshof sich proaktiv, aber rollen- und verfassungsadäquat verhielten: Der Verfassungs- und der Gesetzgeber ließen die Frage des richterlichen Prüfungsrechts jeweils offen und forderten damit eine richterliche Stellungnahme heraus. Fest stand allein der Rechtssatz, der Richter sei (nur) dem Gesetz unterworfen. Es greift nun zu kurz, die fehlende Verwerfung von Gesetzen vor 1918 und die Inanspruchnahme dieses Rechts nach 1918 bei insoweit gleicher Rechtslage als Bruch zu beschreiben. Um zu einem tieferen Blick zu gelangen, muss die jeweilige Gesamtlage stärker gewichtet werden: Für den Konstitutionalismus war der vordergründig entscheidende Aspekt, dass die Reichsverfassung nach allgemeiner Meinung formell als einfaches Gesetz zu behandeln war. Damit gab es keinen Maßstab, an dem nachgängige Gesetze hätten kontrolliert werden können, ein späteres Gesetz „stach“ nach überwiegender Anschauung wegen Art. 78 RV den älteren Rechtssatz, mochte er auch in der Verfassung verankert sein. Gültig waren aber die formellen Vorgaben der Verfassung, wie es zu einem Rechtssatz kommen konnte, und so konnte (mindestens theoretisch) geprüft werden, ob ein Gesetz ordnungsgemäß verkündet war; insofern verfehlt es das Selbstverständnis der Gerichte, eine Prüfungskompetenz gegenüber Parlamentsgesetzen in toto auszuschließen, weil insofern Spielraum auch für eine extensive Auslegung des § 1 GVG blieb.63 Gegenüber Verordnungen hingegen griff die Kontrollgewalt der Gerichte auch materiell durch. Dass sie tatsächlich wahrgenommen wurde, war aber angesichts der auch insoweit ja fehlenden positiven Regelung eines Kontrollrechts und angesichts der überragenden Bedeutung von Regierungsverordnungen für die Staatspraxis der konstitutionellen Monarchie durchaus eine erstaunliche Tat. Insofern war in Weimar von vornherein eine neue Lage eingetreten: Das Gesetz konnte nur noch mit qualifizierter Mehrheit die Verfassung ändern oder durchbrechen – die Verfassung war damit unmittelbar zu einem Kontrollinstrument gegenüber der Gesetzgebung geworden. Und wenn die Gerichte nun auch das Parlamentsgesetz kontrollierten, wiederholten sie die
63 Praktisch allerdings zogen die Gerichte wie gesehen aus der Ausfertigung den Schluss, dass in der gegenseitigen Kontrolle von Parlament und Exekutive auch die Voraussetzungen für verfassungsändernde Gesetze vorgelegen hätten. Es bleibt freilich eine schöne konstitutionalistische Pointe, dass der Ausschluss der inhaltlichen Kontrolle von Gesetzen am Beispiel Bremen formuliert worden war, bereits vgl. Bettermann (Fn. 3) S. 500.
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Tat ihrer Vorgeneration, weil sie die inhaltliche Verschiebung der Staatsgewalten ausglichen: Dem Parlament stand eben keine unabhängige, gar königliche Gubernative mehr gegenüber. Stattdessen war in dem Zusammenschluss von Exekutive und Legislative64 ein zentraler Machtfaktor entstanden, der einen neuen Ausgleich innerhalb der Gewaltenteilung forderte. Diese funktionale Richtigkeit vor Augen, muss man in der Gesamtwertung über die Schwächen der Begründung, insbesondere auch die vorverfassungsrechtlichen Atavismen in der Haltung der Gerichte hinwegsehen. Eher wird man einen zu großzügigen Maßstab in der Zuteilung von Beurteilungsspielräumen zu konstatieren haben, der bereits im Kaiserreich zu beobachten war65 und der auch für die Rechtsprechung der Weimarer Zeit ein inneres Hemmnis blieb.66
2. Schluss: Von den Grenzen normativer Vorbestimmung des Richteramts
Ein kurzer Schlussgedanke weist auf die Verbindung der Verfassungsordnungen bis in die Gegenwart der europäischen Mehrebenensysteme: Die Bundesrepublik hat mit den Regeln des Grundgesetzes und der Entscheidungskultur des Bundesverfassungsgerichts eine besondere justizstaatliche Verfassungsordnung ausgeprägt, die die checks and balances in einem parlamentarischen Regierungssystem nochmals erneuert und in insgesamt gelungener Weise austarieren konnte. Man nimmt von dieser Leistung nichts, wenn man mit der Perspektive der Verfassungsgeschichte zwei Aspekte in Erinnerung ruft: Zum einen stellten die Vorerfahrungen der Weimarer Verfassung eine Blaupause eindringlicher Art dar, die positive wie negative Orientierung ermöglichte. Zum anderen konnte das Projekt Grundgesetz unter den Bedingungen von Prosperität und Friedlichkeit gelingen. Die Durchsetzung, auch Erweiterung richterlicher Befugnisse, die zu den vielfach besprochenen Grundlinien der Karlsruher Judikatur gehört, konnte so bisher fast ohne ernsthafte Infragestellung erreicht werden. Der Vergleich zu den Grenzsituationen, in denen vor allem die doppelte Staatsgerichtsbarkeit des Weimarer Systems agieren musste, bestätigen die auch heute noch gültige Einsicht, dass eine normative Ordnung die Aufgaben des Verfassungsrichteramtes vorläufig, aber nicht abschließend regeln kann: Der Mut, als Gegenüber der Macht zu agieren, bleibt unverzichtbar.
64 Art. 54 WRV: „Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.“ 65 Siehe oben bei Fn. 23 zur Rechtsprechung des Reichsgerichts bei der Feststellung des verfassungsmäßigen Gesetzesbeschlusses. 66 Für das Beispiel der Notverordnungen Wißmann (Fn. 4), S. 203 – 208.
Aussprache Gesprächsleitung: Schönberger
Schönberger: Ja, recht herzlichen Dank für diesen zu vielen Diskussionen anregenden Vortrag. Besonders beeindruckt hat mich, dass Sie etwas bestätigen, was man als Erfahrung ja immer wieder macht beim historischen Denken, dass Gegenwartserfahrung den Blick noch einmal neu öffnet. Bei Ihnen klang es ja doch deutlich so, als ob gegenwärtige Krisenerfahrung eine verständnisvollere Hermeneutik von Weimarer Strategien nahelegen würde. Aber das möchte ich der Diskussion überlassen. Ich eröffne sie und bitte um Wortmeldungen. Herr Simon. Simon: Könnten Sie noch einmal genau sagen: Wann taucht diese Idee des richterlichen Prüfungsrechts gegen Verordnungen zum ersten Mal auf und wie wird es da begründet? Auf welche Rechtfertigung dieser Kompetenz greifen die Gerichte da zurück? Das ist mir nicht ganz klar geworden. Was dann die Ausweitung der Prüfungskompetenz in der Weimarer Zeit betrifft, so wird diese von den Gerichten mehr oder weniger eigenmächtig vorgenommen und das sei, wie manche sagen, in erster Linie politisch motiviert gewesen. Das Parlament der Republik war eben ein anderes als dasjenige im Kaiserreich; es war nun zum „Lumpenparlament“ geworden, und gegenüber einem solchen politisch vollkommen veränderten Parlament bringt man eben dann in ganz anderer Weise das richterliche Prüfungsrecht in Stellung, als das in der konstitutionellen Monarchie der Fall gewesen war. Wißmann: Vielen Dank. Wann gegen Verordnungen das richterliche Prüfungsrecht in Stellung gebracht wird, muss man natürlich noch nach Verfassungsetappen differenziert beantworten. Ich habe mich hier auf die Reichsverfassung von 1871 konzentriert. Und da ist der vorrangige Gedanke in der Rechtsprechung des Reichsgerichts der Schutz und die Stärkung der Reichsebene, wenn es um Landesrecht geht, sowie daneben die Gesetzmäßigkeit des Verordnungsrechts, wenn es um Verordnungen der Reichsebene geht. Die überwiegende Zahl von Fällen einer Verwerfung von Verordnungen richtet sich gegen Landesverordnungen, Policey-Verordnungen, die in der zivilgerichtlichen Konstellation dann verworfen werden. Wir haben ja noch kaum verwaltungsgerichtliche Entscheidungen in diesem Bereich und deswegen ist das Reichsgericht in vielen Materien, die wir heute in der anderen Gerichtsbarkeit verordnen würden, zuständig. Es gibt natürlich schon zuvor
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Aussprache
eine breite Debatte über das Kontrollrecht gegenüber Verordnungen. Also mit Händen zu greifen ist das im Kurhessischen Verfassungskonflikt, wo es auch um eine Verordnung geht und nicht um ein Gesetz, die dort kontrolliert werden soll. Rudolph Gneist hat schon auf dem Deutschen Juristentag 1863 ein Prüfungsrecht gefordert, und es gibt staatsrechtliche Untersuchungen schon aus den 1830er Jahren, die sich mit der Frage der „Aufgabe des Richters gegenüber Rechtsnormen“ beschäftigen, und die richten sich zunächst auf die Prüfung von königlichen Verordnungen. Das entspricht auch meiner Beobachtung der Ausdifferenzierung der Rechtsnormen im 19. Jahrhundert: Der Gegensatz von Parlamentsgesetz und Verordnung ist ein nachträglich, erst in dieser Deutlichkeit hinein konstruierter. Wir finden eben in den ersten preußischen Gesetzessammlungen ja in munterer Abfolge königliche Edikte, königliche Gesetze, Parlamentsgesetzte, Verordnungen, Parlamentsverordnungen – es wird alles angeboten. Zu Weimar: Ich glaube, es geht nicht nur um die Stellung des Parlaments, es geht vor allem um die Kombination von Parlament und einer Regierung, die vom Parlament abhängig ist. Das ist, glaube ich, der entscheidende Wechsel gegenüber der Reichsverfassung 1871. Und das ist, funktional betrachtet, ein legitimer Ansatz, Parlamentsgesetze durch die Judikative anders, weitergehend zu kontrollieren, weil die politische Hemmung durch die entgegengesetzte Regierung wie im Reichskonstitutionalismus fehlt. Das ist, grob gesagt, das Problem, das wir heute noch haben. Dreier: Herr Wißmann, haben Sie schönen Dank für dieses außerordentlich instruktive und tief eindringende Referat. Ich hatte beim Blick auf das Tagungsprogramm schon die ganz leise Befürchtung, dass es vielleicht gewisse Überschneidungen zwischen Ihrem und meinem Thema geben könnte. Vielleicht darf ich gerade deswegen zwei kleine Bedenken gegenüber einem etwas zu harmonischen und evolutionären Bild anmelden. Ich nehme die Zeit vor und nach 1919 und insbesondere die Judikatur im 111. Band sehr viel stärker als Traditionsbruch wahr. Sie haben Recht, die Entscheidungen aus der Zeit des Kaiserreiches sind immer vorsichtig und selten in leitsatzmäßiger Grundsätzlichkeit formuliert. Aber ich glaube, wenn man sie ein bisschen kontextualisiert, kommt doch relativ schnell Folgendes heraus: Wenn von Verordnungen die Rede ist, sind Reichs- und Landesverordnungen gemeint; wenn von Gesetzen die Rede ist, meinen sie Landesgesetze. Sie meinen nicht die Reichsgesetze. Für diese gibt es kein Prüfungsrecht. Darüber herrscht auch im Staatsrecht des Kaiserreichs Klarheit. Eine gerichtliche Überprüfung der Reichsgesetze – das geht nicht, denn das hat der Monarch so publiziert und damit ist Schluss. Daraus resultiert dann aber die eigentliche politische und soziologische Pointe: Solange die Gesetzgebungsgewalt jedenfalls auch beim Monarchen verankert ist, prüfen die Gerichte nicht. In dem Augenblick, in dem die Gesetzgebung die Gesetzgebung des souveränen Volkes und seiner Vertreter ist, da prüfen die Gerichte. Warum? Angeblich
Aussprache
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wegen eines drohenden Parlamentsabsolutismus. Doch ganz so einfach ist die Lage ja nicht, dass man dachte, jetzt stehen tatsächlich Regierung und Parlament zusammen; es gab ja den Reichspräsidenten. Und noch stärker als vom Parlament war in Weimar die Regierung vom Reichspräsidenten abhängig, und der hat ja eine relativ eigenständige Politik betrieben. Damit hängt zusammen der zweite Punkt, den ich vielleicht auch etwas anders nuancieren würde. Ich glaube, dass es eine gewisse Fehlwahrnehmung ist, die den Punkt nicht ganz trifft, wenn man so tut, als gäbe es ganz grundsätzlich und praktisch immer ein richterliches Prüfungsrecht, das sozusagen lediglich in verschiedenen Varianten auftritt. In dieser Sichtweise nehmen es dann einmal die ordentlichen Gerichte aller Instanzen wahr, manchmal nimmt es ein Staatsgerichtshof wahr, manchmal nimmt es ein Reichsgericht gemäß Artikel 13 Absatz 2 WRV wahr. Ich glaube, die Pointe und auch die Erklärung, warum Anschütz als erklärter Gegner eines diffusen inzidenten richterlichen Prüfungsrechts ein Verfechter der These wird, dass wir Prüfungsrechte beim Staatsgerichtshof konzentrieren, ist nicht, dass es sich dabei lediglich um eine andere Variante des Prüfungsrechts handelt, sondern die konkrete Normenkontrolle nimmt den Gerichten das von ihnen reklamierte Verwerfungsrecht für Reichsgesetze weg. Es nimmt es ihnen dezidiert weg und überträgt es einer einzigen Instanz, dem Staatsgerichtshof, bei dem man etwas sicherer sein kann, dass sich nicht ganz so viele geborene und gebliebene Monarchisten im Gericht finden wie beim Reichsgericht. Die meisten Richter in Weimar waren ja nach der berühmten Wendung von Ernst Fraenkel Monarchisten aus innerer Notwendigkeit. Und das haben sie ja sozusagen bewiesen. Friedrich Ebert hat 1919 allen Beamten und allen Richtern die Möglichkeit gegeben, aus dem Amt zu scheiden, wenn sie sich mit der neuen Ordnung nicht identifizieren können. 0,2 Prozent, wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe, haben davon Gebrauch gemacht, aber ungefähr 90 Prozent sind wahrscheinlich doch stark monarchistischer Gesinnung geblieben. Vor diesem Hintergrund muss man die Unterstützung einer konkreten Normenkontrolle durch Anschütz verstehen. Deren Konzentration beim Staatsgerichtshof ist der eigentliche Clou. Also das ist nicht eine bloße Variante des von den Gerichten reklamierten gesetzlichen Prüfungs- und Verwerfungsrechts, das ist das glatte Gegenteil! Man nimmt es den Gerichten fort und überträgt es allein dem Staatsgerichtshof. Interessanterweise finden wir genau diese Regelung in Art. 100 des Grundgesetzes. Diese Bestimmung sagt nicht, es gibt so ein bisschen richterliches Prüfungsrecht für alle Gerichte, sondern sie sagt: „Ihr könnt prüfen. Verwerfen kann nur das Bundesverfassungsgericht.“ Und über deren Besetzung entscheiden dann wieder politische Instanzen. Wißmann: Herzlichen Dank für diese Bestätigung, Anreicherung und Infragestellung meiner Überlegung. Wir liegen, glaube ich, eng beieinander. Zu der Wertung: Handelt es sich bei der Entscheidung des Reichsgerichts
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1925 doch vorrangig um einen Traditionsbruch? Habe ich das zu weich gezeichnet? Ich würde Ihnen für die Entscheidung im 111. Band zum Teil zustimmen, weil da tatsächlich auch ältere Begründungsansätze, die auf Kontinuität gedeutet hätten, in geradezu auffälliger Weise gerade nicht zitiert werden. Das ist hier schon stark als neu gesetzt. Mein Problem dabei wäre aber: Es gibt eben weiterhin Gegenentscheidungen, auch des Reichsgerichts, die noch nach dem 111. Band ausdrücklich sagen, Gesetze können wir nicht überprüfen und dann wieder an ältere Entscheidungen anknüpfen. Ich stimme Ihnen zu, dass diese Entscheidung Traditionsbruch sein will. Das hat aber auch mit dem konkreten Entscheidungsgegenstand zu tun. Insgesamt fügt sich das Bild nicht so schlüssig zusammen, dass man hier eine klare Kante hat, nach der alles neu ist. Die Rolle des Reichspräsidenten und die politische Dreiecksbeziehung zu Regierung und Parlament wäre natürlich noch einmal eine ganz eigene Untersuchung wert. Wie stark man das als Fortschreibung der monarchischen Rolle oder doch eben als neu gestaltete Kompetenz begreift, dazu ist ja aber auch schon Vieles von Vielen gesagt worden. Deswegen nehme ich das hier einfach nur so, wie Sie es formuliert haben, gerne an. Zum Zweiten, dem Verhältnis von Inzidentkontrolle und Verfassungsgerichtsbarkeit: Wir kennen ja die Konzeption in Bezug auf das Bundesverfassungsgericht: Bloß nicht die alten Richter, die jetzt im BGH sitzen und früher die Blutrichter waren, dass die jetzt unsere demokratischen Gesetze kaputtschießen, deswegen machen wir einen Artikel 100. Ähnlich hat das Anschütz für die Weimarer Zeit in der Tat auch schon formuliert. Der damalige erste Gesetzentwurf der Reichsregierung hatte genau diese scharfe Begrenzung der Inzidentkontrolle nicht vorgesehen. Er sieht zwar eine Regelung zur Kontrolle von Gesetzen durch den Staatsgerichtshof als abstrakte Normenkontrolle vor, sagt aber weiter, das richterliche Prüfungsrecht im Übrigen bleibt unberührt. Und dagegen wendet sich Anschütz scharf, also sind wir ganz beisammen, er sagt, das ist eine unentschiedene Regelung, wir müssten jetzt einen klaren Schnitt machen, sozusagen Artikel 100 Grundgesetz. Und das war aber offensichtlich eben noch nicht Common Sense, sondern es gab durchaus die Überlegung, dass man diese abstrakte Normenkontrolle neben die andere, diffuse Inzidentkontrolle treten lassen will. Auch da wird das Bild, je näher man herantritt, eher ein wenig unklar. Die Frage ist, wie mutig ist man sozusagen, daraus dennoch eine klare Aussage zu machen. Ich bin da vielleicht nicht ganz so mutig wie Sie. Aber das können wir ja dann morgen noch einmal in umgekehrter Versuchsanordnung debattieren. Schönberger: Herr Ruppert, bitte. Ruppert: Vieles ist jetzt eigentlich schon gesagt worden durch die Fragestellungen und Ihre Antworten. Ich würde aber auch noch einmal betonen wollen, dass es doch deutlich sichtbar ist, dass das richterliche Prüfungs-
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recht in Weimar das System, wenn wir einmal das Ganze als ein politisches System sehen, Kaiserreich und Weimarer System, dass doch die Rolle der Gerichte sehr, sehr viel stärker wird. Wenn man das sieht, das sind Kräfte, die gegenseitig sich in Schach halten, während sich doch im Kaiserreich die Obersten Gerichte in der Überprüfung sehr zurückgenommen haben, werden sie in der Weimarer Republik ganz deutlich offensiver. Ich glaube, das kann man schon sehen, und das sind politische Gründe, die Herr Dreier auch schon angesprochen hat. Aber ich will jetzt noch auf einen anderen Punkt hinaus, weil dieses Thema ja schon stark abgehandelt worden ist, und zwar auf den Punkt: Die Überprüfungen sind ja doch beim Reichsgericht erfolgt und dann von Zivilsenaten oder von Strafrechtssenaten. Und da kann man doch schon einmal die Frage nach der Kompetenz dieser Richter stellen. Wo liegt eigentlich die Kompetenz dieser Richter, die Verfassungsmäßigkeit überhaupt festzustellen, weil sie ja gar keine kompetenten Richter in dem Feld des Verfassungsrechts sind? Das ist der eine Punkt und der andere Punkt, das muss man auch sehen, um das wirklich auch etwas mehr zu problematisieren, ist doch, dass es keine Verfassungsgerichtsbarkeit gab, auch keine, wie wir sie heute ja kennen, Tradition, dass keine Verfassungsgerichtsbarkeit vorhanden war. Das heißt, es gab keine Prinzipien, nach denen die Richter selbst sich wieder zu richten hatten, um in der Tradition der Verfassungsrechtsprechung zu bleiben und ihre Urteile zu fällen. Das heißt also, dadurch, dass es die Tradition nicht gab, war auch der politischen Willkür viel weiter Tür und Tor geöffnet. Ich glaube, die beiden Punkte muss man bei dem richterlichen Prüfungsrecht in der Weimarer Republik schon problematisieren. Wißmann: Mein Anliegen ist es durchaus, ein Fragezeichen hinter der Formel zu machen, dass kaisertreue Richter der Republik das Leben unnötig schwerer gemacht haben, indem sie Gesetze zerschossen haben, wo es möglich war. Ich überreiße jetzt etwas – ganz so haben Sie es nicht gesagt. Was ich herausarbeiten wollte, ist, das Reichsgericht macht das erst in einer Situation, wo es tatsächlich um eine existenzielle Krise geht, das ist sozusagen keine akademische Debatte, die man sich ausdenkt, weil man gerade keine anderen Sorgen hat, als wie man denn so zu Gesetzen steht. Sondern da geht es in der Hyperinflation um Treu und Glauben als Systemgedanke. Das Reichsgericht hat die Befürchtung, dass der Gesetzgeber aus seinerseits auch wieder politischen Gründen, und wie man meint, zu kurz greifenden Gründen Unheil anrichtet. Ich sehe das ernste Anliegen dieser Judikatur, die eben, glaube ich, im Nachhinein ungerecht beurteilt ist, wenn man meint, da saßen Reichsgerichtsräte und fluchten über diese Arbeiter im Parlament und in der Regierung und früher war alles besser. Ich glaube, das ist zu einfach. So einfach politisch war das Reichsgericht, meine ich, nicht zu verorten. Allerdings habe ich versucht zu betonen, in der Tat ist die Verfassung im Grunde nur ein Vehikel. Also sie sind keine Verfassungsjuristen, da sind wir
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sofort beisammen. Die Verfassung dient dazu, notfalls ewige Rechtsgrundsätze gegen Parlamentsgesetze zu verteidigen. Sie haben selbstverständlich schon von Standes wegen meine Sympathie, wenn Sie fragen, wie Zivilrechtler sich die Sachkompetenz für die Beurteilung von Verfassungsfragen anmaßen können. Das ist aber mit Verlaub keine stabile oder von vornherein selbstverständliche Sicht auf die Dinge. Es ist ja durchaus zu fragen, warum denn immer Staatsrechtslehrer ins Verfassungsgericht berufen werden und nicht auch einmal ein Zivilrechtslehrer. Das sind ja alles Volljuristen und die lernen alle auch das einfache Recht im Lichte der Verfassung anzuwenden. Auch jeder Amtsrichter muss die Verfassung anwenden. Ich gebe Ihnen sofort zu, die Mentalitätensozialisation ist eine sehr unterschiedliche, deswegen ist es gut so, wie es ist, aber, dass man das sozusagen der Lage der 1920er Jahre vorwerfen kann, da wäre ich zurückhaltend. Im Übrigen war der Staatsgerichtshof ja angeflanscht ans Reichsgericht, weil das Reichsverwaltungsgericht nie zustande kam. Deswegen entschieden in manchen Sachen Richter der Oberverwaltungsgerichte aus Sachsen, Preußen usw. zusammen mit Reichsgerichtsräten. Also das war wirklich eine gemischte Veranstaltung, das wäre einmal interessant, ob das gelungene Diskussionskulturen waren. Schönberger: Herr Grothe, bitte. Grothe: Herr Wißmann, meine Bemerkung bezieht sich auf Ihre erste These. Also zurückgreifend in die Frühzeit Ihres Vortrages: Und zwar möchte ich anknüpfen an den Begriff „Konstitutionalismus“. Der Begriff ist natürlich sehr vereinfacht und damit auch problematisch, weil Konstitutionalismus eine schillernde und sich sehr stark verändernde Form ist. Wenn Sie dann noch als Beispiel die preußische Verfassung von 1850 nehmen, dann knüpft das ein wenig an das Modell von Ernst Rudolf Huber an, der die Verfassung von 1850 gewissermaßen als Normal-, ja sogar als Idealfall des Konstitutionalismus vorführt. Das vernachlässigt natürlich die ganze Situation, denn weder ist 1850 der Normalfall, noch ist Preußen der Normalfall. Es gibt frühkonstitutionelle Formen und die sehen natürlich völlig anders aus als der Konstitutionalismus im Kaiserreich usw. Insofern müsste man das problematisieren – genauso wie den Begriff der Gewaltenteilung. Es gibt ja maximal eine „hinkende“ Gewaltenteilung im Konstitutionalismus, wobei der Monarch am Ende doch das Letztentscheidungsrecht hat. Oder auch der Begriff der parlamentarischen Gesetze. Letztlich sind die Gesetze immer vom Monarchen veröffentlicht, dekretiert worden, mit Zustimmung und unter Beratung des Parlaments. Aber eigentlich parlamentarische Gesetze im wirklichen Verstande sind es nur unter den Bedingungen des Konstitutionalismus. Also insofern möchte ich bei Ihrer These doch gewisse Fragezeichen setzen, jedenfalls im Hinblick auf die Begrifflichkeiten. Um vielleicht noch ein Beispiel zu nennen, wie vielfältig diese konstitutionellen Formen waren:
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Im Kurfürstentum Hessen hat es die Möglichkeit einer Überprüfung von Verfassungsnormen gegeben, durchgeführt von einem Kompromissgericht, das sich aus Regierungs- und Parlamentsvertretern zusammensetzte. Dieses Kompromissgericht hat dann nicht ein einziges Mal getagt. Es gab daneben auch noch einen Staatsgerichtshof, der konkrete Fälle, d. h. Ministeranklagen, entschieden hat. Es gibt ein ganz buntes Bild, und der Konstitutionalismus ist über hundert Jahre mehr oder weniger stabil gewesen. Das ist alles sehr vielfältig, und das kommt in Ihrer These nicht so deutlich zum Ausdruck. Wißmann: Ich würde Ihnen zustimmen, dass ich jeden der Hauptbegriffe in These 1 in Anführungszeichen setzen muss. Allerdings glaube ich schon, dass auch im Konstitutionalismus die Gegensätzlichkeit der verschiedenen Staatsfunktionen und Akteure als Problem erkannt ist. Auch wenn richtig ist, dass am Ende die Gesetze aus dem monarchischen Prinzip heraus königliche Gesetze sind, bleiben trotzdem die Rolle des Parlaments und das Zusammenwirken in diesem königlichen Gesetz unter Zustimmung der Kammern heikel. Im Übrigen liegen die Dinge auf Reichsebene anders. Die Verhältnisse sind ja durchaus bemerkenswert, wenn man an den kurhessischen Verfassungskonflikt denkt: Preußen unterstützt die kurhessische Aufmüpfigkeit der Offiziere, die sich an den Verfassungseid bei der Armee gebunden fühlen, gegen den Fürsten mit seiner verfassungswidrigen Steuerverordnung. Preußen selbst hat aber in seiner Verfassung ausdrücklich geregelt, dass kein Verfassungseid stattfindet für die Armee. Das sind eben auch Ungleichzeitigkeiten, die das 19. Jahrhundert ausmachen. Schönberger: Gut, jetzt würde ich mit Blick auf die Zeit die Rednerliste schließen und die jetzt noch Sprechenden auch um vergleichsweise prägnante Statements bitten, damit wir einigermaßen durchkommen. Der Nächste ist Herr Neschwara. Neschwara: Ich habe drei kurze Feststellungen und eine ganz kurze Frage, die sich damit verbindet. Es gibt in der Österreichischen Monarchie seit etwa um 1800 den gesetzlich anerkannten Grundsatz, dass die Gerichte, die ordentlichen Gerichte, eine Art formelle inzidente Normprüfung durchführen dürfen, nämlich im Rahmen der Prüfung der gehörigen Kundmachung. Es sitzt ein Experte neben mir [Prof. Brauneder], der darüber publiziert hat. Dann gibt es seit 1867 den verfassungsrechtlich anerkannten Grundsatz des Legalitätsprinzips, der wird institutionalisiert, 1875 / 76 in einem Verwaltungsgerichtshof, und in den Nachfolgestaaten der Österreichischen Monarchie, in Deutschösterreich und in der Tschechoslowakischen Republik, erfolgte 1920 die Anerkennung abstrakter Normenkontrolle durch den Verfassungsgerichtshof. Warum ist das in Österreich und in den Nachfolgestaaten Zug um Zug, relativ rasch anerkannt worden und im Deutschen Reich nicht?
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Schönberger: Vielleicht bündeln wir ein bisschen und nehmen noch Herrn Heun dazu. Heun: Drei Punkte: Erstens, mich hat jetzt erstaunt, dass Sie die Position zu den Rechtsverordnungen erstaunlich fanden und zwar deswegen, weil das Ganze ja auf einer relativ langen Tradition im 19. Jahrhundert schon beruht, die sich allmählich entwickelt hat und die sehr scharf unterschieden hat, dass man nämlich zunächst Rechtsverordnungen, die natürlich auf dem eigenständigen königlichen Verordnungsrecht beruhen, nicht kontrollieren kann, dass aber, soweit sich dann auch tatsächlich ein gesetzesvertretendes und gesetzesdelegiertes Rechtsverordnungsrecht durchsetzt, auch die Auffassung allmählich durchsetzt, dass diese Rechtsverordnungen auch von den Gerichten kontrolliert werden können. Und das wirkt dann auch sogar am Ende des 19. Jahrhunderts wieder zurück auf die anderen Rechtsverordnungen, sodass sich ganz generell die Auffassung durchsetzt, dass Rechtsverordnungen ganz allgemein überprüft werden können. Dass jetzt einige Rechtsverordnungen des Reiches hier an die Landesregierungen delegiert werden, ändert an dieser Problematik eigentlich nichts. Das ist kein Bund-LänderProblem, es ist nur schlicht und ergreifend auch eine Tatsache, dass Länder in erster Linie Rechtsverordnungsdelegationen damals bekommen, anders als heute, in der es vor allem Bundesrechtsverordnungen sind. Aber hier setzt sich das ganz sukzessive durch, eben abhängig von der Frage: Ist der König eigentlich derjenige, der die Rechtsverordnung erlässt oder nicht? Insofern ist ein umfassendes Rechtsverordnungsprüfungsrecht am Ende des 19. Jahrhunderts eigentlich weitgehend unumstritten. Zweiter Punkt, ganz kurz nur: Zur Reichsverfassung: Dass die jetzt nicht als Prüfungsmaßstab herangezogen wird, außer der Tatsache, dass überhaupt formell ein Gesetz vorliegt, liegt zwar sicher auch an der generellen Zurückhaltung gegenüber Gesetzen, die im 19. Jahrhundert noch verbreitet ist, auch soweit natürlich die Monarchen hier noch die Sanktionsgewalt haben, aber das liegt natürlich auch daran, das vergisst man immer ganz gerne, dass nämlich die Reichsverfassung überhaupt keine materiellen Maßstäbe enthalten hat. Grundrechte gab es nicht. Also woran hätten die Gerichte die Gesetze überhaupt prüfen sollen? Und ich würde tendenziell die Aussage wagen, dass langfristig, angesichts dessen, dass der Reichstag der Hauptgesetzgeber war und der Monarch eigentlich keine Rolle mehr im Reich gespielt hat, was das Gesetzesrecht angeht, er im Grunde genommen nur noch die Sanktionsgewalt hatte, dass wahrscheinlich, wenn wir einen Grundrechtskatalog auf der Reichsverfassungsebene gehabt hätten, auch langfristig das Reichsgericht ein entsprechendes Prüfungsrecht an sich gezogen hätte, sicher vorsichtiger als dann in der Weimarer Republik, aber wahrscheinlich tendenziell langfristig schon. Ganz kurz noch zur Weimarer Reichsverfassung: Da scheint es mir noch einmal wichtig zu sein, nicht nur ganz allgemein von dem Prüfungsrecht zu sprechen, sondern auch stärker
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noch einmal zu differenzieren, dass bei einzelnen Normen, die relativ klar und eindeutig sind, das Prüfungsrecht relativ wenig umstritten ist, was sich schneller durchsetzt, dass aber die große Frage natürlich die ist, wie ist das eigentlich bei diesen ganz allgemeinen Maßstäben, etwa insbesondere des Gleichheitssatzes, wo wir nur allgemeine Gerechtigkeitsmaßstäbe haben. Da gibt es gar keinen präzisen Maßstab, den die Gerichte eigentlich anwenden können und das wirft eigentlich dann, bei der Diskussion über das richterliche Prüfungsrecht das Hauptproblem auf. Das heißt also, man muss noch einmal schärfer unterteilen zwischen dem richterlichen Prüfungsrecht für relativ klar bestimmte Normen einerseits und dem richterlichen Prüfungsrecht für Normen, die so vage sind, dass sie im Grunde genommen die wesentliche Entscheidung dem Gericht überlassen. Schönberger: Dann würde ich noch Herrn Waldhoff bitten. Waldhoff: Ich habe nur eine kurze Frage zu dem Thema Entscheidungsfolgenaussprüche. Die Überschrift des Referats ist ja so formuliert gewesen als Schritt zur Verfassungsgerichtsbarkeit. Wenn wir jetzt Artikel 100 GG nehmen, ist es ja wie folgt: wenn das Bundesverfassungsgericht eine konkrete Normenkontrolle durchführt und die Norm verworfen wird, wenn diese sich im Ergebnis als verfassungswidrig herausstellt, greift die ipso-iure-ex-tuncNichtigkeits-Doktrin, d. h. die Norm ist von Anfang an nichtig und das Bundesverfassungsgericht stellt dies nur nachträglich fest. Ist die Entscheidung nicht beim Bundesverfassungsgericht konzentriert, also in Bezug auf vorkonstitutionelles Recht und auf Verordnungen, ist die Normenkontrolle den Fachgerichten überwiesen; die Entscheidungswirkungen gelten dann freilich nur inter partes. Die Fachgerichte wenden das vorkonstitutionelle Gesetz oder die Verordnung einfach nicht an. Spielt diese Unterscheidung vor dem Hintergrund einer noch fehlenden Verfassungsgerichtsbarkeit eine Rolle in diesen Diskussionen? Schönberger: Herr Pieroth, bitte. Sie verzichten. Herr Dreier wollen Sie Ihre Bemerkung noch machen oder können wir sie vielleicht auf morgen vertagen, weil wir dann ja noch einmal darüber sprechen. Dreier: Können wir alles morgen machen. Schönberger: Gut, dann würde ich Sie um Ihr Schlusswort bitten. Wißmann: Ja, vielen Dank. Herr Neschwara, zu Österreich, Deutschland, Deutschem Reich: In dieser konkreten Gegenübersetzung kann ich aus dem Stand keine seriöse Antwort anbieten. Warum das hier so, dort so ist, dafür bin ich auch nicht ausreichend informiert über die österreichische Entwicklung. Das müssen wir vielleicht im Zwiegespräch, auf der Basis von Informationen, die Sie mir dann noch einmal geben, vertiefen.
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Herr Heun: Warum ist das mit den Rechtsverordnungen erstaunlich? Ist doch alles unumstritten am Ende des 19. Jahrhunderts. Ja, ist es auch. Mein Hinweis sollte darauf zielen, der Ursprung ist aber unter dem monarchischen Prinzip eben nicht sozusagen von leichter Hand zu haben, sondern es ist schon eine Tat, eine königliche Verordnung, eine Bundespräsidialverordnung, was auch immer man haben will, auf ihre Rechtsgültigkeit zu prüfen, gerade weil sie eben, sagen wir, aus dem Urgrund der Herrschaftsorganisation herrührt. Darum ging es mir, zu betonen, dass das sozusagen keine reife Frucht war, die den Gerichten einfach in den Schoss fiel. Die Reichsverfassung hatte keine inhaltlichen Maßstäbe. Hätte sie sie gehabt, wäre sie auch im Kaiserreich zur Gesetzeskontrolle angewandt worden? Das ist ein interessantes Gedankenexperiment. Zum Weimarer Prüfungsrecht: Ja, in der Tat muss man dort noch stärker unterscheiden zwischen förmlicher Überprüfung, formeller Überprüfung, materieller Überprüfung. Wir haben, wenn wir uns die Entscheidungen angucken, dort schon eine relativ reichhaltige Dogmatik vor allem zum Enteignungsbegriff, die eben genau versucht, das in den Griff zu bekommen. Der Punkt jetzt, sozusagen zu diesem Thema, ist ja erst einmal nur, dass das Reichsgericht sich da überhaupt herantraut, dass eben über Seiten und Seiten geprüft wird: „Ist das eine Enteignung?“ Herr Waldhoff: Was sind die Entscheidungsfolgen? Was wird dort festgesetzt? In der Tat, was ich vorführen wollte, ist auch in Bezug auf Reichsgesetze Inter-partes-Judikatur. Dabei ist freilich interessant, dass das Reichsgericht als Leitsatz formuliert: Ist die Verordnung, ist das Gesetz rechtsgültig? Es wird als Frage sozusagen an den Anfang der Entscheidung gestellt, aber eben nur als Frage formuliert. Und dann steht in der Entscheidung: Die Norm ist nicht rechtsgültig und wird deswegen in diesem Fall nicht angewandt. Im Übrigen macht das sogar der Staatsgerichtshof in seiner Biersteuerentscheidung so, weil das ja ein Parteiverfahren ist. Und er sagt das auch ausdrücklich: Preußen wird nicht von diesem Gesetz beschwert, weil es Preußen gegenüber nicht angewandt werden kann. Preußen obsiegt in diesem Verfahren, das Gesetz ist nicht rechtsgültig, aber das ändert nichts daran, dass es gegenüber anderen Parteien angewandt werden kann, solange die nicht auch klagen. Um zu dem Generalthema und der mir aufgegebenen Aufgabe zurückzukehren: Mein Votum ist in der Tat, die Verfassungsgerichtsbarkeit tritt uns in der Weimarer Republik in doppelter Gestalt entgegen, sowohl das Reichsgericht wie der Staatsgerichtshof sind Teile einer Verfassungsgerichtsbarkeit, sie sind in ihrer Judikatur unfertig. Aber ich glaube, jede Verfassungsgerichtsbarkeit ist immer auch unfertig. Dankeschön. Schönberger: Danke für das schöne Referat und die sehr angeregte Diskussion.
Der österreichische Verfassungsgerichtshof als Schöpfung Hans Kelsens und sein Modellcharakter als eigenständiges Verfassungsgericht Von Ewald Wiederin, Wien
Fast die ganze Welt ist sich einig: Als Funktion hat die Verfassungsgerichtsbarkeit viele Wurzeln, als Institution hat sie exakt einen Vater, und er heißt Hans Kelsen.1 Spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit mit der Befugnis zur Gesetzesprüfung ist zum österreichischen Exportartikel geworden, der fast schon den Stand der Verfassungstechnik bildet, nicht nur auf 1 Ludwig Adamovich, Der Verfassungsgerichtshof der Republik Österreich. Geschichte – Gegenwart – Visionen, in: Journal für Rechtspolitik 1997, S. 1 (1); Andreas Auer, Die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, Basel / Frankfurt a. M. 1984, S. 20; Walter Berka, Verfassungsrecht. Grundzüge des österreichischen Verfassungsrechts für das juristische Studium, 4. Aufl., Wien 2012, Rz. 992; Christoph Bezemek, A Kelsenian model of constitutional adjudication. The Austrian Constitutional Court, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 67 (2012), S. 115 (116 f.); Georg Brunner, Der Zugang des Einzelnen zur Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Raum, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 50 (2002), S. 191 (198); Karl Brockhausen, Gedanken über den österreichischen Verfassungsgerichtshof, in: Juristische Blätter 59 (1930), S. 69 (69); Louis Favoreu, Les Cours constitutionelles, 2. Aufl., Paris 1992, S. 5, 11; Héctor Fix-Zamudo, Los tribunales constitucionales y los derechos humanos, México 1980, 46 f., 52; Gudrun Haase / Katrin Struger, Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, Wien 2009, S. 29; Andreas Kley, Hans Kelsen als politischer Denker des 20. Jahrhunderts, in: Liechtensteinische Juristen-Zeitung 2000, S. 16 (17); Norbert Leser, Hans Kelsen und die österreichische Bundesverfassung, in: Günther Schefbeck (Red.), 75 Jahre Bundesverfassung. Festschrift aus Anlaß des 75. Jahrestages der Beschlußfassung über das Bundes-Verfassungsgesetz, Wien 1995, S. 789 (803 f.); René Marcic, Österreich, das Musterland der Rechtskontrolle, in: Juristische Blätter 83 (1961), S. 1 (2); Adolf Merkl, Hans Kelsen als Verfassungspolitiker, in: Juristische Blätter 60 (1931), S. 385 (388); Theo Öhlinger, Constitutional Review. The Austrian Experience as seen from a Comparative Perspective, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 53 (1998), S. 421 (424); Stanley L. Paulson, Constitutional Review in the United States and Austria: Notes on the Beginnings, in: Ratio Juris 16 (2003), S. 223 (225, 232); Peter Pernthaler, Österreichisches Bundesstaatsrecht. Lehr- und Handbuch, Wien 2004, S. 31; László Sólyom, Mythen und Wirklichkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit – am Beispiel ihrer Entwicklung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, in: Verfassungsgerichtshof der Republik Österreich (Hrsg.), Verfassungstag 2011, Wien 2011, S. 15 (16); Michel Troper, Kelsen und die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit, in: Agostino Carrino / Günther Winkler (GesRed.), Rechtserfahrung und Reine Rechtslehre (= Forschungen aus Staat und Recht, Bd. 104), Wien / New York 1995, S. 15 (16); Mark V. Tushnet, Marbury v. Madison Around the World, in: Tennessee Law Review 71 (2004), S. 251 (258); Robert Walter, Die mitteleuropäische Verfassungsgerichtsbarkeit und die Reine Rechtslehre, in: Österreichische Richterzeitung 1993, S. 266 (266 f.).
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dem Kontinent, und sie gilt so sehr als seine Leistung, dass je länger, je mehr vom kelsenianischen Modell die Rede ist – auch in dieser Vereinigung, schon der Titel meines Referats bringt das zum Ausdruck. Mein Zugang zum Thema besteht darin, den Titel mit Fragezeichen zu versehen. Gibt es überhaupt ein österreichisches Modell, und wenn ja, was macht es aus? Wodurch und wieweit hatte Kelsen an seiner Entwicklung Anteil? Allein hierauf werde ich mich konzentrieren, alles andere schneide ich ab. Das mutet Ihnen zu, Neugierde für die Vorgänge in Österreich aufzubringen, die vielleicht weniger interessant sind als die Transfers der Verfassungsgerichtsbarkeit in andere Länder.2 Ich denke, dass diese Entscheidung vertretbar ist, sieht man doch Modelle wie Entwicklungen schärfer, wenn man sie zu ihrem Ursprung zurückverfolgt. I. Daten Die Formierung dessen, was heute bald kelsenianisches, bald österreichisches Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit genannt wird, vollzog sich schrittweise nach dem Untergang der Monarchie.3 Am 25. Jänner 1919 verabschiedete die Provisorische Nationalversammlung ein Gesetz über die Errichtung eines deutschösterreichischen Verfassungsgerichtshofes, mit dem das Reichsgericht der Monarchie in einen Verfassungsgerichtshof der Republik umgewandelt wurde.4 Der Name lag in der Luft, schon im alten Österreich war das Reichsgericht als Verfassungsgericht bezeichnet worden.5 Wirkungskreis und Organisation blieben zunächst gleich,6 seine bishe2 Überblick hierüber bei Mauro Cappelletti / Theodor Ritterspach, Die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze in rechtsvergleichender Betrachtung, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 20 (1971), S. 65 (83 f.), und Donald Kommers, An Introduction to the Federal Constitutional Court, in: German Law Journal 2 (2001), abrufbar unter http: //www.germanlawjournal.com/index.php?pageI D=11&artID=19 (2.8.2012). 3 Überblick bei Clemens Jabloner, Die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts im Zuge des Staatsumbaues 1918 bis 1920, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 2011, S. 213 (220 ff.), und Kurt Heller, Der Verfassungsgerichtshof. Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wien 2010, S. 149 ff., 155 ff. 4 StGBl. Nr. 48 / 1919. 5 Vgl. den Beitrag von Gerald Stourzh, „Schutz der Verfassung“ in der österreichischen Dezemberverfassung von 1867, in diesem Band. Die Bezeichnung „Verfassungsgerichtshof“ geht auf Karl Renner zurück: vgl. Herbert Haller, Die Prüfung von Gesetzen. Ein Beitrag zur verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle (= Forschungen aus Staat und Recht, Bd. 47), Wien / New York 1979, S. 41, 69; Gerald Stourzh, Hans Kelsen, die österreichische Bundesverfassung und die rechtsstaatliche Demokratie, in: Die Reine Rechtslehre in wissenschaftlicher Diskussion (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 7), Wien 1982, S. 7 (11); Georg Schmitz, The Constitutional Court of the Republic of Austria 1918 – 1920, in: Ratio Juris 16 (2003), S. 240 (244). 6 § 2 StGBl. Nr. 48 / 1919 rezipierte das Staatsgrundgesetz über die Einsetzung eines Reichsgerichts, RGBl. Nr. 143 / 1867, sowie die Gesetze RGBl. Nr. 44 / 1869 und 37 / 1876.
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rigen Mitglieder, soweit sie nicht anderen Nationalitäten angehörten, wurden erneut bestellt. Alsbald dehnte man die Kompetenzen dieses Verfassungsgerichtshofes schrittweise aus: Zur Kausalgerichtsbarkeit, zur Schlichtung von Kompetenzkonflikten und zur Prüfung der Verletzung politischer Rechte, die die vom Reichsgericht übernommene Grundausstattung bildeten, trat die Entscheidung über Ministeranklagen hinzu,7 für die in der Monarchie der nie effektuierte Staatsgerichtshof zuständig gewesen war,8 sowie bereits im März 1919 eine Kompetenz zur Gesetzesprüfung. Sie war allerdings auf Landesgesetze beschränkt, lediglich vor deren Kundmachung möglich und ausschließlich auf Antrag der Staatsregierung zulässig.9 Dieses Modell präventiver Normenkontrolle, heute meist das französische genannt,10 wurde in der Bundesverfassung von 192011 aufgegeben zugunsten einer Prüfung aller Gesetze, auch jener des Bundes, die erst nach der Kundmachung einsetzt, aber keine zeitlichen Begrenzungen kennt.12 Darin liegt bis heute die Kernkompetenz des Verfassungsgerichtshofes, auf die er ein Monopol hat. Abgerundet wird sie durch eine Exklusivzuständigkeit zur Verordnungsprüfung,13 die zuvor allen Gerichten oblag, durch eine Zuständigkeit zur Prüfung diverser Wahlen14 sowie durch eine Kompetenz zur Entscheidung über Völkerrechtsverletzungen, die bis heute nicht aktualisiert ist.15 Das Ausführungsgesetz ließ nicht lange auf sich warten: Am 13. Juli 1921 beschloss der Nationalrat das Gesetz über die Organisation und das Verfahren des Verfassungsgerichtshofes,16 und am 15. Juli 1921 wählte er Mitglieder, unter anderem einen Universitätsprofessor namens Johann Kelsen.17 7 Gesetz vom 3. April 1919, womit die Aufgabe des ehemaligen Staatsgerichtshofes auf den Deutschösterreichischen Verfassungsgerichtshof übertragen wird, StGBl. Nr. 212 / 1919, Art. I. 8 Gesetz vom 25. Juli 1867, über die Verantwortlichkeit der Minister für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, RGBl. Nr. 101 / 1867. 9 Gesetz vom 14. März 1919 über die Volksvertretung, StGBl. Nr. 179 / 1919, Art. 15 Abs. 1: „Gesetzesbeschlüsse einer Landesversammlung können wegen Verfassungswidrigkeit (Artikel 12) von der Staatsregierung binnen 14 Tagen nach Einlangen der Mitteilung (Artikel 13) beim Verfassungsgerichtshofe angefochten werden. Diese Anfechtung ist der Landesregierung unverzüglich mitzuteilen.“ 10 Zu Frühformen solcher präventiven Normenkontrolle im ancien regime vgl. den Beitrag von Lothar Schilling, Der Schutz der Verfassung im vormodernen Frankreich, in diesem Band. 11 Gesetz vom 1. Oktober 1920, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz), StGBl. Nr. 450 / 1920 = BGBl. Nr. 1 / 1920 (i. w. F.: B-VG 1920). 12 Art. 140 B-VG 1920. 13 Art. 139 B-VG 1920. 14 Art. 141 B-VG 1920. – Zuvor oblag für die Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung die Prüfung dem mit StGBl. Nr. 90 / 1919 eingerichteten, aber niemals zusammengetretenen Wahlgerichtshof. 15 Art. 145 B-VG. 16 BGBl. Nr. 364 / 1921. 17 Stenographische Protokolle des Nationalrates der Republik Österreich, [I. Gesetzgebungsperiode], S. 1961.
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II. Mythen Gesetzesprüfung durch ein auf Verfassungsfragen spezialisiertes Gericht: Im Jahr 1920 kam das unerwartet, wie ein Paukenschlag.18 Wieso gerade in der jungen Republik, wo doch die alte Monarchie die richterliche Prüfung von Gesetzen strikt abgelehnt hatte? Wo Wirkungen sind, da muss es Ursachen geben, und das gilt erst recht, wenn ein alter, solider Damm plötzlich bricht. Dementsprechend mangelt es nicht an Erklärungen. Sie setzen teils auf der Reflexionsebene an und führen Besonderheiten der Habsburgermonarchie ins Treffen, teils machen sie auf der Erzählungsebene eine Handvoll Personen für das Ergebnis verantwortlich. Das alte Österreich hatte in der Tat seine Spezifika, die dem richterlichen Prüfungsrecht günstig waren.19 In ihm war die alte Reichstradition, nach der der Herrscher vor Gericht belangt werden konnte, stärker präsent geblieben als in den anderen Teilen des Reichs. Mit der Dezemberverfassung 1867 knüpfte die Monarchie sodann enger an die Revolution von 1848 und ihre Errungenschaften an, als dies im Deutschen Reich der Fall war,20 aber im Unterschied zur Schweiz, die bis heute keine richterliche Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen kennt, gab es keine demokratische Tradition als Stolperstein. Weiters war der Rechtsschutz hoch entwickelt, wenn nicht vorbildlich für die damalige Zeit: Das Reichsgericht war ab 1869 Grundrechtsgericht, bei dem sich Staatsbürger „gegen alle Willkürlichkeiten und Vergewaltigungen der Regierungsgewalt“ – so heißt es drastisch in der Einleitung zum ersten Band seiner Entscheidungssammlung21 – beschweren konnten.22 Nach 1876 gesellte sich eine funktionierende Verwaltungsgerichtsbarkeit hinzu, die, um sie vom Ruder der Verwaltung fernzuhalten, strikt auf Rechtskontrolle limitiert war, mit der Kassation der angefochtenen Verwaltungsentscheidung jedoch über ein effektives Störungsinstrument verfügte.23 Außerdem hatte die Monarchie für ihr Nationa18 Theo Öhlinger, Hans Kelsen – Vater der österreichischen Bundesverfassung, in: Gerald Kohl / Christian Neschwara / Thomas Simon (Hrsg.), FS Brauneder. Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive, Wien 2008, S. 407 (411 f.), spricht zutreffend von der Durchbrechung eines Tabus. 19 Vgl. Jana Osterkamp, Verfassungshüter ohne politischen Rückhalt. Das tschechoslowakische Verfassungsgericht nach 1920 im Vergleich mit Österreich, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 2011, S. 275 (276 ff.). 20 Dieter Wyduckel, Georg Jellineks Beitrag zur Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Stanley L. Paulson / Martin Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000, S. 277 (280 f., 294 f.). 21 Anton Hye Frh. v. Glunek (Hrsg.), Sammlung der Erkenntnisse des k. k. österreichischen Reichsgerichtes, Bd. I, Wien 1874, S. III. 22 Würdigung seiner Tätigkeit bei Thomas Olechowski, Grundrechte und ihr Schutz in der Habsburgermonarchie, in: Österreichische Richterzeitung 2010, S. 30 (32 ff.). 23 Zur langwierigen Genese vgl. Thomas Olechowski, Die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich (= Österreichische Rechtswissenschaftliche Stu-
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litätenproblem auf das Recht als Konfliktlösungsmedium gesetzt, um das auseinanderdriftende Ganze durch Minderheitenrechte zusammenzuhalten, wo mit Mehrheitsentscheidungen kein Staat mehr zu machen war.24 Schließlich verfügte sie über bundesstaatsähnliche Strukturen,25 insbesondere über eine zwischen Reichsrat und Landtagen getrennte Gesetzgebung,26 und über eine hoch entwickelte Kompetenzgerichtsbarkeit.27 Die Ambiance war damit günstig. Das sieht bestätigt, wer die junge Tschechoslowakei in den Blick nimmt. Auch dort wurde ein Verfassungsgericht eingerichtet und ihm die Prüfung der Gesetze anvertraut, in einer cisleithanischen Parallelaktion, in der zunächst Prag die Priorität gebührte, wo es schon im Februar 1920 zum Beschluss über die verfassungsrechtlichen Grundlagen28 und im März 1920 zur Verabschiedung des Ausführungsgesetzes29 kam. Dann aber fiel Prag gegenüber Wien zurück, erst im November 1921 kam es zur Konstituierung des Gerichts, erst ein Jahr später zum ersten Urteil und erst im Jahr 1936 zum ersten Gesetzesprüfungsantrag.30 Das än-
dien, Bd. 52), Wien 1999, S. 82 ff., zur Kassation eingehend Günther Winkler, Die Entscheidungsbefugnis des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes im Lichte der Gewaltentrennung, zitiert nach: ders., Orientierungen im öffentlichen Recht. Ausgewählte Abhandlungen (= Forschungen aus Staat und Recht, Bd. 46), Wien / New York 1979, S. 105 (111 – 114). 24 Vgl. zum einen die Garantie der Gleichberechtigung aller Volksstämme und Sprachen in Art. 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. Nr. 142 / 1867, sowie die sie mit Leben erfüllende Rechtsprechung des Reichsgerichts; zum anderen die im Gefolge der Badeni-Krise einsetzende Ausgleichsgesetzgebung sowie die sie begleitende theoretische Reflexion: vgl. m. w. N. Gerald Stourzh, Verfassung und Verfassungswirklichkeit Altösterreichs in den Schriften Georg Jellineks, in: Stanley L. Paulson / Martin Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000, S. 247 (258 f.). 25 Dazu Thomas Simon, Die Föderalisierung des Kaisertums Österreich nach 1860 und der Gedanke der Selbstverwaltung, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Selbstverwaltung in der Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit (= Beihefte zu „Der Staat“, Heft 19), Berlin 2010, S. 257 (269 ff.). 26 Mit den hieraus resultierenden Konflikten musste der Richter ungeachtet des Ausschlusses seines Prüfungsrechtes umgehen: vgl. Anton Menger, System des österreichischen Civilprocessrechts in rechtsvergleichender Darstellung Bd. I, Wien 1876, S. 239 ff., mit dem Vorschlag einer Lösung nach der lex-posterior-Regel, von der auch die Staatspraxis ausging und die sich durchsetzte. 27 Vgl. schon § 140 Z 3 des Kremsierer Entwurfs der Constitutionsurkunde und § 106 Z I des Kaiserlichen Patents vom 4. März 1849, die Reichsverfassung für das Kaiserthum Oesterreich enthaltend, RGBl. Nr. 150 / 1849, sodann Art. 2 des Staatsgrundgesetzes vom 21. December 1867, über die Einsetzung eines Reichsgerichtes, RGBl. Nr. 143 / 1867. Die Bedeutung der Kompetenzgerichtsbarkeit betonend: Stourzh (Fn. 24), S. 249. 28 Gesetz vom 29. Feber 1920, Slg. Nr. 121 / 1920, betreffend die Einführung der Verfassungsurkunde der tschechoslowakischen Republik, Art. II und III. In der Verfassungsurkunde selbst ist das Verfassungsgericht lediglich in § 20 Abs 6 erwähnt. – Die tschechoslowakischen Rechtsquellen sind zitiert nach: Leo Epstein, Studien-Ausgabe der Verfassungsgesetze der Tschechoslowakischen Republik, 2. Aufl., Reichenberg 1932. 29 Gesetz vom 9. März 1920, Slg. Nr. 162 / 1920, über das Verfassungsgericht.
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dert aber nichts daran, dass die Tschechoslowakische Republik an der Ausbildung der Institution einen Anteil hatte, der die gängige Etikettierung der konzentrierten Gesetzesprüfung fragwürdig macht.31 Man hat einander genau beobachtet, und die Wiener haben mehr von Prag abgeschrieben als umgekehrt.32 Das österreichische Modell ist kein rein deutschösterreichisches, es ist im Grunde ein postaltösterreichisches Modell.33 Doch günstige Bedingungen allein erklären die konkrete Entstehung noch nicht. Wie ist es genau gekommen? Nach tradierter Auffassung34 sind es vier Personen, die der konzentrierten Gesetzesprüfung den Weg bereitet haben. Georg Jellinek und Heinrich Jaques haben literarisch das Eis gebrochen, der eine mit der Programmschrift über einen Verfassungsgerichtshof,35 der andere mit seinem Juristentagsgutachten zum richterlichen Prüfungsrecht und mit seiner Monographie über die Wahlprüfung.36 Karl Renner hat sich diesen
30 Eingehend Jana Osterkamp, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechoslowakei (1920 – 1939). Verfassungsidee – Demokratieverständnis – Nationalitätenproblem (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 243), Frankfurt a. M. 2009, S. 1, 93 ff., 153 ff.; ferner Jaroslav Krejčí, Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen in der čechslovakischen Republik, in: Zeitschrift für Ostrecht 3 (1929) S. 38 – 47. 31 Das ist aufgezeigt bei Haller (Fn. 5), S. 63 ff. 32 Beispiele hiefür sind zum einen die (in der Sitzung des Unterausschuss des Verfassungsausschusses beantragte und beschlossene, vgl. Felix Ermacora [Hrsg.], Quellen zum Österreichischen Verfassungsrecht [1920]. Die Protokolle des Unterausschusses des Verfassungsausschusses samt Verfassungsentwürfen, Wien 1967, S. 483, und von Öhlinger, Hans Kelsen [Fn. 18], S. 413, als typisch kelsenianisch erachtete) Pflicht zur Bezeichnung von Verfassungsrecht, die dem Art. I Abs. 2. des tschechoslowakischen Einführungsgesetzes nachgebildet ist, zum anderen die Regelung der Entscheidungswirkungen, die erstmals im Linzer Entwurf erfolgte und wohl durch § 20 Verfassungsgerichtsgesetz inspiriert war (Haller [Fn. 5], S. 64 mit FN 231). 33 Ebenso Osterkamp (Fn. 19), S. 275, die von einer österreichisch-tschechoslowakischen Lösung spricht. 34 Vgl. – mit unterschiedlichen Nuancierungen – Carsten Fricke, Zur Kritik an der Staats- und Verwaltungsgerichtsbarkeit im verfassungsstaatlichen Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Frankfurt a. M. 1995, 74 ff.; Haller (Fn. 5), S. 25 ff.; Heller (Fn. 3), S. 127 ff.; Karl Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in: VVDStRL 39 (1981), S. 7 (8 f.); Rudolf Machacek, Austrian Contributions to the Rule of Law, Kehl / Strasbourg / Arlington 1994, S. 4 f.; Alfred J. Noll, Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich (1885 bis 1928) am Beispiel der Arbeiten von Georg Jellinek, Franz Weyr, Alfred von Verdroß und Herbert Kier, in: Johann J. Hagen u. a. (Hrsg.), querela iuris. Gedächtnisschrift für Eduard Rabofsky (1911 – 1994), Wien / New York 1996, S. 191 (191 ff.); Stanley L. Paulson, On Hans Kelsen’s Role in the Formation of the Austrian Constitution and his Defense of Constitutional Review, in: Werner Krawietz / Robert S. Summers / Ota Weinberger / Georg Henrik von Wright (Hrsg.), The Reasonable as Rational? FS Aarnio, Berlin 2000, S. 385 (389 f.); Osterkamp (Fn. 30), S 9. 35 Georg Jellinek, Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich, Wien 1885. 36 Heinrich Jaques, Gutachten über die Gesetzgebungsfrage: „ob der Richter auch über die Frage zu befinden hat, ob ein Gesetz verfassungsmäßig zu Stande gekommen“, in: Verhandlungen des Vierten Deutschen Juristentages Bd. I, Berlin 1863, S. 240 – 257; ders., Die Wahlprüfung in den modernen Staaten und ein Wahlprüfungsgerichtshof für Österreich. Eine staatsrechtliche Abhandlung, Wien 1885.
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Ideen zunächst als politischer Schriftsteller angeschlossen37 und sie dann als Staatskanzler auf die politische Agenda gesetzt. Hans Kelsen hat sie aufgegriffen und umgesetzt, ebenfalls in einer Doppelrolle:38 Als Rechtstheoretiker hat er mit der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung das Fundament gelegt, und als Autor der Bundesverfassung von 1920 hat er die praktische Umsetzung bewerkstelligt – ähnlich, so liest man mitunter,39 wie in Prag sein Freund František Weyr, dem Haupt der Brünner Rechtstheoretischen Schule, die vergleichbar normativistisch ausgerichtet war. Diese Erklärung ist unter Juristen wohl noch immer herrschend, von Gerald Stourzh aber schon vor dreißig Jahren angezweifelt worden.40 Seine Zweifel sind berechtigt, ich will sie weiter verstärken, beginnend mit Bemerkungen zu Jellinek und Jaques. Gewiss, sie haben die Gesetzesprüfung gefordert, Jellinek in der 1919 verwirklichten Form einer ex-ante-Prüfung,41 Jaques als Prüfung nach Kundmachung,42 zu der es 1920 kam. Das Echo ihrer Schriften war jedoch in Österreich wenig nachhaltig. Das Parlament ließ den Wahlprüfungsvorstoß nach Debatten mit überwiegend ablehnenden Voten versanden,43 und ein Rezensent sah in beiden Büchern Vorschläge 37 Karl Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Oesterreich. 1. Teil: Nation und Staat, Leipzig / Wien 1918, S. 292 ff. Ansätze dazu bereits in der 1. Aufl., erschienen unter dem Pseudonym Rudolf Springer, Der Kampf der oesterreichischen Nationen um den Staat. 1. Teil: Das nationale Problem als Verfassungs- und Verwaltungsfrage, Wien / Leipzig 1902, S. 241. 38 René Marcic, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reine Rechtslehre, Wien 1966, S. 55 ff.; Walter Antoniolli, Hans Kelsen und die Österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Hans Kelsen-Institut Wien (Hrsg.), Hans Kelsen zum Gedenken, Wien 1974, S. 27 (27), wiederabgedruckt in: Robert Walter / Clemens Jabloner / Klaus Zeleny (Hrsg.), 30 Jahre Hans Kelsen-Institut. Dokumentation eines Festaktes am 30. September 2002 in den Räumlichkeiten des Verwaltungsgerichtshofes in Wien (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 24), Wien 2003, S. 73 (73), der überdies als dritte Rolle erwähnt, dass Kelsen „als Richter und ständiger Referent des Verfassungsgerichtshofes die Verfassungsgerichtsbarkeit zum Leben erweckt hat“. Hiezu näher unten VI. 39 Als Vermutung ausgewiesen bei Haller (Fn. 5), S. 67; zur Gewissheit geworden bei Walter (Fn. 1), S. 268, und Noll (Fn. 34), S. 205 f. 40 Stourzh, Hans Kelsen (Fn. 5), S. 14 ff. Ihm beipflichtend Thomas Olechowski, Der Beitrag Hans Kelsens zur österreichischen Bundesverfassung, in: Robert Walter / Werner Ogris / Thomas Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, Wien 2009, S. 211 (228), der Kelsen als den Architekten der Verfassung charakterisiert. 41 Jellinek (Fn. 35), S. 23 ff. – Zum antiparlamentarischen Grundton Jellineks und zu den Nöten seiner Argumentation vgl. Jens Kersten, Mehrheit und Minderheit im Minoritätenstaat, in: Der Staat 40 (2001), S. 221 (226 f., 230 f.). 42 Jaques, Wahlprüfung (Fn. 36), S. 74 ff. 43 Vgl. einerseits den Antrag des Abg. Coronini, 1069 BlgAH IX. Session, abgedruckt bei Jaques, Wahlprüfung (Fn. 36), S. 115 – 120, sowie den Antrag der Abg. Coronini, Jaques und Genossen, 19 BlgAH X. Session, andrerseits die sehr lebhaften und grundsätzlichen Diskussionen am 12. und 16. 2. 1886, StProtAH X. Session, S. 604 ff., 634 ff. In der Abstimmung wurde die Zuweisung an einen eigenen Ausschuss mit 149 gegen 130 Stimmen abgelehnt und der Antrag dem Wahlreformausschuss zugewiesen, der ihn bis zum Ende der Session nicht mehr förmlich behandelte. – Das gleiche
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politisch aktiver Vertreter der deutschnationalen Minderheit, die diese umsetzen hätte können, solange sie die dazu erforderliche Mehrheit hatte.44 Georg Jellinek reagierte darauf, indem er schon in „Gesetz und Verordnung“ – nur zwei Jahre später erschienen – zu seiner Forderung auf Distanz ging. Er verwies auf die Ministerverantwortlichkeit, sah die Gefahr verfassungswidriger Gesetze auf ein Minimum geschwunden und die Voraussetzungen richterlicher Prüfung auf dem Kontinent nicht gegeben.45 Dogmatisch schloss er sich Laband an, und nur ganz am Rande meinte er, rechtspolitisch könne man stärkere Garantien erwägen.46 Das ist sichtlich der eigenen Kampfschrift geschuldet, die er nicht einmal zitierte. 1906, in einem 1906 in Wien gehaltenen Vortrag, hatte er den Glauben, man könne die staatliche Machtverteilung durch Rechtssätze steuern, endgültig verloren.47 Die amerikanischen Erfahrungen mit der richterlichen Prüfung zeigten, dass sie etwas Zufälliges in sich trüge und der Rechtsunsicherheit überaus abträglich sei.48 Resümierend hielt er fest, die Gerichte seien dort an die Stelle des Verfassungsgesetzgebers getreten. Sie dünkten sich wohl objektiv, entschieden aber unter dem Druck der öffentlichen Meinung politisch wie ein drittes Haus der Legislative.49 Der Paulus war also zum Saulus geworden.50 Dass man seine Wandlung übersehen oder ihr keine Bedeutung beigemessen hätte, können wir ausschließen.51 Schicksal war übrigens den Wahlprüfungsgutachten von Jellinek und Seydel für den 19. Deutschen Juristentag beschieden. In der Diskussion gewann die Auffassung, der Tagungsgegenstand berühre eine hochbrisante Frage und ziehe den Juristentag in das politische Tagesgeschehen hinein, dermaßen an Boden, dass selbst Jaques, der als Referent die beiden Gutachten unterstützt hatte, den Juristentag satzungsgemäß zur Behandlung der Frage als inkompetent ansah (Verhandlungen des 19. Deutschen Juristentages 3. Bd., Berlin / Leipzig 1888, S. 210 ff.). Darauf ging man ohne Abstimmung auseinander. 44 Gumplowicz, in: Deutsche Litteraturzeitung 1885, Sp. 1521 (1523). Skeptisch Laband, in: AöR 1 (1886), S. 226 – 230, der im Hinblick auf die „verschwindend geringe“ Wahrscheinlichkeit einer Umsetzung auf eingehende Kritik verzichtet; ablehnend N. G., in: Literarisches Centralblatt 1885, Sp. 1149 f. Positives Echo in den Besprechungen von Seydel, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft NF 9 (1886), S. 126, und Bidermann, in: Grünhuts Zeitschrift 14 (1887), S. 188. 45 Georg Jellinek, Gesetz und Verordnung. Staatsrechtliche Untersuchungen auf rechtsgeschichtlicher und rechtsvergleichender Grundlage, Freiburg im Breisgau 1887, S. 395 ff. 46 Jellinek (Fn. 45), S. 402 f., 405 f. 47 Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Berlin 1906, S. 8 ff. 48 Jellinek (Fn. 47), S. 16 ff. 49 Jellinek (Fn. 47), S. 19 f. 50 Das ist registriert bei Alfred J. Noll, Georg Jellinek’s Forderung nach einem Verfassungsgerichtshof für Österreich, in: Stanley L. Paulson / Martin Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000, S. 260 (276). Ähnlich Wyduckel (Fn. 20), S. 295: „Einer konkreten oder abstrakten Normenkontrolle im heutigen Sinne hätte er [Jellinek] wohl äußerst kritisch bis ablehnend gegenübergestanden.“
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Ähnlich ist es um Weyr bestellt. Er hatte sich in seinen „Rahmengesetzen“ wohl der Forderung nach einer präventiven Prüfung der Kompetenzfrage angeschlossen.52 In seinem Verfassungsentwurf von 1917 verzichtete er jedoch auf ein Verfassungsgericht, vielleicht weil er im Einheitsstaat dafür keinen Bedarf mehr sah, und im Verfassungsausschuss der tschechoslowakischen Nationalversammlung stand er der Gesetzesprüfung skeptisch gegenüber.53 Bei Karl Renner liegen die Dinge komplizierter. In der zweiten Auflage von „Nation und Staat“, 1918 erschienen, diesmal unter eigenem Namen, wollte er ein Bundesverfassungsgericht mit der Prüfung der Kompetenzkonformität von Landesgesetzen betrauen.54 Ein Jahr später war dieses Programm bereits umgesetzt. Dass es dermaßen schnell ging, lag an einem heftigen Konflikt zwischen der Wiener Zentrale und den Ländern. Auf Basis einer Bestimmung, nach der die Rechte des Monarchen in der jungen Republik auf den Staatsrat übergingen,55 nahm der Staatsrat – also die Regierung der Zentrale – die Kompetenz in Anspruch, Gesetze der Länder zu sanktionieren. Der Unmut in den Länder war enorm, und auf der 3. Länderkonferenz kam es darob zum Eklat, im Zuge dessen Otto Ender, damals Landeshauptmann von Vorarlberg, Karl Renner als „imperator redivivus“ titulierte.56 Renner beschwichtigte, diese Sanktionierung brauche es, aber nur, um Verfassungswidrigkeiten hintanzuhalten.57 Die im März 1919 eingeführte präventive Kontrolle von Landesgesetzen bildete den Kompromiss, mit dem diese Krise beigelegt wurde:58 Nach Art. 15 des Gesetzes über die
51 Desgleichen ist auszuschließen, in der Verfassungsdiskussion 1919 / 1920 hätten die Akteure um die Judikatur des Supreme Courts in der Lochner-Ära nicht gewusst (in diese Richtung Theo Öhlinger, Die Entstehung und Entfaltung des österreichischen Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Bernd-Christian Funk u. a. [Hrsg.], Der Rechtsstaat vor neuen Herausforderungen. FS Adamovich, Wien 2002, S. 581 [586], wenn er explizite Bezugnahmen hierauf vermisst). Der rechtsvergleichende Horizont war in der Zwischenkriegszeit wesentlich weiter als in der Nachkriegszeit. 52 Franz Weyr, Rahmengesetze. Studie aus dem Österreichischen Verfassungsrechte (= Wiener Staatswissenschaftliche Studien, Bd. 11 / III), Leipzig / Wien 1913, S. 42 f., mit dem Vorschlag, das Recht zur Präsentation der Richter zwischen Reichsrat und Landtagen zu teilen. Ebenfalls „die Schaffung eines richterlichen Organes zur vorherigen Feststellung der Gesetzgebungskompetenz in zweifelhaften Fällen (Verfassungsgerichtshof)“ anregend: Rudolf v. Herrnritt, Die Stellung der Kronländer im Gefüge der österreichischen Verfassung, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 3 (1918), S. 37 (45). 53 Osterkamp (Fn. 30), S. 10 m. w. N. 54 Renner (Fn. 37), S. 292 f. 55 Gesetz vom 12. November 1918 über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich, StGBl. Nr. 5 / 1918, Art. 3. 56 Protokoll über die 3. Länderkonferenz vom 31. Jänner und 1. Februar 1919, abgedruckt bei: Felix Ermacora, Materialien zur österreichischen Bundesverfassung Bd. 1: Die Länderkonferenzen 1919 / 20 und die Verfassungsfrage (= Österreichische Schriftenreihe für Rechts- und Politikwissenschaft, Bd. 9 / I), Wien 1989, S. 7 (22). 57 Ebd., S. 39 ff.
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Volksvertretung sollte der Staatsrat Gesetzesbeschlüsse der Landtage wegen Verfassungswidrigkeit anfechten können. Ein Klammerausdruck im Text59 stellte klar, dass der Verfassungsgerichtshof nicht umfassend prüfen, sondern nur die Kompetenzkonformität, die Landesordnungsgemäßheit und die Geschäftsordnungsgemäßheit beurteilen sollte. Die sechs Entwürfe, die Hans Kelsen im Auftrag von Karl Renner im Laufe des Sommers 1919 ausarbeiten sollte,60 blieben in diesem Rahmen, sie füllten ihn aber anders aus. Maßstab der Prüfung war erstens nicht mehr die Verfassung respektive die Kompetenzverteilung, sondern das Bundesrecht schlechthin.61 Konsequenz dieser Änderung: Kompetenzkonformität des zur Prüfung gestellten Landesgesetzes allein war zu wenig, wenn der Bund zuvor ohne verfassungsrechtliche Deckung ein Gesetz erlassen hatte, mit dem das Landesgesetz kollidierte. Dann war das Landesgesetz bundesgesetzwidrig, die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Bundesgesetzes dem Verfassungsgerichtshof allerdings verwehrt, das Landesgesetz musste weichen. Zweite Abweichung: Gegenstand der Prüfung war nicht mehr der Gesetzesbeschluss vor, sondern das Landesgesetz nach Kundmachung. Die Prüfung der Bundesrechtskonformität der Landesgesetze stellte somit eine verfassungsgerichtliche Daueraufgabe dar, für die die übrigen Gerichte Zubringer sein sollten: Wenn sie Zweifel hegten, mussten sie beim Verfassungsgerichtshof die Aufhebung eines von ihnen anzuwendenden Landesgesetzes stellen. Das erlaubt ein erstes Zwischenfazit. Nach Renner wie nach Kelsen war die Gesetzesprüfungskompetenz als Instrument der Bundesaufsicht über die Länder konzipiert. Kelsen legte den Maßstab dieser Rechtsaufsicht breiter an und band in sie die Fachgerichte ein. Vorbild für das eine war gewiss Art. 13 der Weimarer Reichsverfassung, für das andere wohl die schweizerische Rechtsprechung zur derogatorischen Kraft des Bundesrechts. Von Innovation oder gar Revolution war keine Spur. 58 Der Konflikt wird auch angesprochen in Kelsens Denkschrift „Die Stellung der Länder in der künftigen Verfassung Deutschösterreichs“, abgedruckt bei Felix Ermacora, Die Entstehung der Bundesverfassung 1920 Bd. 2: Dokumente der Staatskanzlei über allgemeine Fragen der Verfassungsreform (= Österreichische Schriftenreihe für Rechts- und Politikwissenschaft, Bd. 9 / II), Wien 1989, S. 3 (7). 59 Er ist wiedergegeben in FN 9. 60 Vgl. die Synopsen der der Gesetzesprüfung gewidmeten Bestimmungen seiner Entwürfe bei Georg Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 6), Wien 1981, S. 300 f., sowie bei Felix Ermacora, Die Entstehung der Bundesverfassung Bd. 4: Die Sammlung der Entwürfe zur Staats- bzw. Bundesverfassung (= Österreichische Schriftenreihe für Rechts- und Politikwissenschaft, Bd. 9 / IV), Wien 1990, S. 236 – 239. Zur Beauftragung durch Renner vgl. Stourzh, Hans Kelsen (Fn. 5), S. 15. 61 Diese Umstellung des Prüfungsmaßstabes hängt damit zusammen, dass Kelsen von einem Vorrang des Bundesrechts ausging. In die Entwürfe II, III, V und VI war der aus der Weimarer Reichsverfassung geläufige Satz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ explizit übernommen, in den Entwürfen I und IV wohl stillschweigend vorausgesetzt. Vgl. Schmitz (Fn. 60), S. 138 f., bzw. Ermacora (Fn. 60), S. 68 f.
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III. Widerstände Solch einseitige richterliche Kuratel der Länder war nicht konsensfähig in einer rechtlichen Umgebung, in der Staats- und Landesgesetze gleichen Rang hatten, und das schon seit gut fünfzig Jahren.62 Vor allem die westlichen Länder wandten sich gegen einen Bundesrechtsvorrang und setzten sich damit innerhalb der Christlichsozialen durch.63 Folge war eine Frontstellung zwischen den Parteien, die für ausländische Betrachter skurril angemutet haben muss. Die Sozialdemokraten, soweit sie nicht in den Ländern die Mehrheit hatten, traten für den Einheitsstaat ein und wollten den Ländern nur ihre bisherige Autonomie belassen. Das hinderte sie freilich nicht, vehement für einen Vorrang des Bundesrechts einzutreten, den es im status quo nicht gab.64 Die Christlichsozialen präferierten umgekehrt den Bundesstaat, lehnten die für ihn typische stärkere derogatorische Kraft des Bundesrechts aber ab.65 Dass der Konflikt symbolische Bedeutung hatte, machte ihn umso gefährlicher. Renner sah als erster, dass die Länder weder einen Vorrang der Bundesgesetze akzeptieren würden noch deren Freistellung von verfassungsgerichtlicher Kontrolle.66 In St. Germain skizzierte er Leitsätze für die Verfassungsreform mit Formulierungen für die, wie es heißt, „entscheidenden Paragraphen“. Einer davon gibt den Ländern das Recht, sich gegen Gesetzesbeschlüsse des Bundestages an den Verfassungsgerichtshof zu wenden.67 Im Oktober informierte er auf einer zwischenamtlichen Sitzung die anderen Ressorts über diesen Plan,68 nicht aber die Ländervertreter, mit denen er an den beiden Folgetagen über die Verfassung konferier62 Nachweise der insoweit einhelligen Meinung bei Ewald Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht. Zugleich ein Beitrag zu Strukturproblemen der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung in Österreich und in Deutschland (= Forschungen aus Staat und Recht, Bd. 111), Wien / New York 1995, S. 64 FN 55. 63 Dazu Ewald Wiederin, Die verfassungspolitische Diskussion über die Einrichtung Österreichs als Bundesstaat, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 2011, S. 356 (363 f.). 64 Vgl. das Aktionsprogramm des Verbandes sozialdemokratischer Abgeordneter, Volkstribüne vom 26. Februar 1919, abgedruckt bei Klaus Berchtold, Österreichische Parteiprogramme 1868 – 1966, Wien 1967, S. 233 f. 65 Vgl. ihren bereits am 14. Mai 1919 eingebrachten ersten Verfassungsentwurf, 231 BlgKNV, abgedruckt bei Ermacora (Fn. 60), S. 550 ff., in dem ein Bundesrechtsvorrang fehlt. Art. 50 übernahm jedoch die bestehende asymmetrische Möglichkeit einer Prüfung von Gesetzesbeschlüssen der Landtage vor Kundmachung auf Antrag der Bundesregierung, und Art. 55 Abs. 2 sah eine Kompetenz des Verfassungsgerichtshofs zur Entscheidung über Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern, der Länder untereinander sowie über Staatsanklagen vor. 66 Das hat erstmals Stourzh, Hans Kelsen (Fn. 5), S. 19, herausgearbeitet. 67 Leitsätze für ein politisch-ökonomisches Programm der Koalition, abgedruckt bei: Georg Schmitz, Karl Renners Briefe aus Saint Germain und ihre rechtspolitischen Folgen (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 16), Wien 1991, S. 195 (197). 68 Vgl. das Protokoll der Staatskanzlei über die zwischenstaatsamtliche Besprechung am 11. Oktober 1919, abgedruckt bei: Ermacora (Fn. 58), S. 74, sowie den Bericht des Staatsamts für Justiz über diese Sitzung, ebd. S. 76 (78).
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te.69 Sein Instinkt erwies sich als richtig: Eine inhaltsgleiche Anfechtungsbefugnis tauchte zum Jahresende im Tiroler Verfassungsentwurf auf.70 Die Verhandlungen mit Tirol und den anderen Ländern führte in der Folge Michael Mayr, ein Christlichsozialer, dem Kelsen als Berater zuarbeitete.71 In einem im Jänner 1920 erstellten Entwurf beharrten die beiden auf Bundesrechtsvorrang und Prüfung bloß der Landesgesetze,72 bissen damit aber auf Granit. Ende Februar 1920, nach der Konferenz in Salzburg, auf der dieser Entwurf beraten wurde,73 war absehbar, dass es einen Bundesrechtsvorrang gar nicht geben konnte und eine Gesetzesprüfung nur bei symmetrischer Konzeption.74 Man entschied sich dafür, auch die Bundesgesetze auf den Prüfstand zu stellen75 und für Landes- wie Bundesgesetze die Verfassungswidrigkeit zum Maßstab zu machen,76 gleichzeitig aber den Zugang zum Verfassungsgerichtshof drastisch zu verengen:77 Antragslegitimiert waren nur die Regierungen, die Gesetzesprüfung also als reines Organstreitverfahren zwischen den Exekutiven in Bund und Ländern konzipiert.78 Es
69 Vgl. das Protokoll über die 7. Länderkonferenz (12. und 13. Oktober 1919), abgedruckt bei Ermacora (Fn. 56), S. 61 – 87. 70 Vgl. den – systemwidrig platzierten – Art. XVII Abs. 2 Tiroler Verfassungsentwurf, abgedruckt bei Ermacora (Fn. 32), S. 66 (71). Eine vergleichbare Bestimmung war bereits in der vom 7. Oktober 1919 datierten, der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemachten Erstfassung enthalten (Stourzh, Hans Kelsen [Fn. 5], S. 21 FN 55, 28). Es ist nicht auszuschließen, aber eher unwahrscheinlich, dass dieser Umstand die Äußerung Renners am 11. Oktober 1919 veranlasst hat. 71 Zum Verhältnis einerseits die Äußerung Kelsens, Mayr habe ihm freie Hand gelassen; andrerseits Stourzh, Hans Kelsen (Fn. 5), S. 20, der die Rolle Mayrs unterschätzt sieht. 72 Vgl. Art. 13 Abs.4 und 150 Privatentwurf Mayr, abgedruckt bei Ermacora (Fn. 60), S. 308, 408; ferner die Äußerung Mayrs in der 3. zwischenstaatsamtlichen Sitzung vom 13. November 1919, „dass man mit allen Kräften bestrebt sein werde, diesen Grundsatz [Bundesrecht bricht Landesrecht]in irgend einer Form in die Verfassung aufzunehmen“ (Ermacora [Fn. 58], S. 57, 84), sowie die Länderbesprechungen. – Zu dieser Phase eingehend Schmitz (Fn. 5), S. 252 ff. 73 Vgl. die Stenographische Verhandlungsschrift über die Länderkonferenz in Salzburg am 15., 16. und 17. Februar 1920, abgedruckt bei Ermacora (Fn. 56), S. 93 – 195. Gegen einen Bundesrechtsvorrang hatten sich zuvor in bilateralen Besprechungen Salzburg, Oberösterreich, Kärnten, Steiermark, Wien und Vorarlberg verwahrt: vgl. Ermacora (Fn. 58), S. 103, 116 f., 123, 125, 129, 137, 149). 74 Kelsen und Mayr hatten dies antizipiert: Eine bereits vor der Salzburger Länderkonferenz ausgearbeitete (vgl. Stourzh, Hans Kelsen [Fn. 5], S. 28 FN 84) zweite Version des „Privatentwurfs“ sah erstmals ein symmetrisches konzipiertes Anfechtungsund Prüfungsrecht vor: Schmitz (Fn. 60), S. 301, bzw. Ermacora (Fn. 60), S. 408. 75 Vgl. Art. 150 Linzer Entwurf, abgedruckt bei Ermacora (Fn. 32), S. 106 (139). 76 Kritik hieran äußert in der Folge Max Layer in seiner Stellungnahme zum vorläufigen Verfassungstext des Verfassungsunterausschlusses, abgedruckt bei Ermacora, Dokumente (Fn. 58), S. 203 (206, 221). 77 Vgl. Art. 79 Abs. 2 Linzer Entwurf, abgedruckt bei Ermacora (Fn. 32), S. 125. Ebenso zuvor schon die 2. Fassung des Mayr-Entwurfs: Ermacora (Fn. 60), S. 356; anders hingegen der Abdruck des Mayr-Entwurfs bei Schmitz (Fn. 60), S. 213. 78 Haller (Fn. 5), S. 2; Öhlinger (Fn. 51), S. 586 f. Treffend bereits Leo Wittmayer, Die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen als Problem der Rechtsan-
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wäre auch anders gegangen, man hätte umgekehrt die Antragsbefugnis der Gerichte beibehalten und auf die Bundesgesetze erweitern können. Der Verzicht darauf zeigt, dass bei Mayr, Renner wie Kelsen die Skepsis überwog. Von einer Gesetzesprüfung fernab föderaler Konflikte, in deren Rädern sich auch Bundesgesetze verfangen konnten, ließ man besser die Finger. Weiter nördlich in Prag, wo die Verfassung am Schalttag beschlossen worden war, hatte man die Weiche anders gestellt.79
IV. Protokolle Auf der nächsten Länderkonferenz in Linz opponierten diesmal die Sozialdemokraten, die auf einem Bundesrechtsvorrang und der Gerichtsbefugnis zur Anfechtung von Landesgesetzen beharrten.80 Die Koalition zerbrach, bevor sie diese und viele andere Differenzen ausräumen konnte. Die Parteien brachten ihre Entwürfe in der Nationalversammlung ein.81 Der Verfassungsausschuss setzte einen Unterausschuss ein, der den Sommer über tagte und dem das Unmögliche gelang. Für unser Thema ist von Interesse, dass der Satz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ intensiv diskutiert, schließlich aber verworfen wurde,82 und dass der Antrag Bauers, den Gerichten die Anfechtung von Landesgesetzen vor dem Verfassungsgerichtshof zu ermöglichen, ebenfalls auf Ablehnung stieß.83 Noch wichtiger ist indes ein Vorstoß des Abgeordneten Leuthner, den Verfassungsgerichtshof von Amts wegen zur Normenkontrolle zu ermächtigen. Das Protokoll hält fest, dass dieser näherung, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 6 (1927), S. 55 (62 f.): „[A]ll dies rührt daher, daß der in der Bundesverfassung etwas zurückgedrängte Bund sich unter allen Umständen diese höchstrichterliche Aufsicht über die Landesgesetzgebung nicht entgehen lassen wollte und den Ländern um diesen Preis selbst die Anfechtung von Bundesgesetzen einräumte.“ 79 Nach § 9 Verfassungsgerichtsgesetz waren u. a. das Oberste Gericht, das Oberste Verwaltungsgericht und das Wahlgericht antragsbefugt; der Antrag musste jedoch gemäß § 10 von der Vollversammlung ausgehen. Zu den fatalen praktischen Auswirkungen dieser Einengung vgl. Osterkamp (Fn. 30), S. 21 f. – 1929 wurden auch in Österreich der Oberste Gerichtshof sowie der Verwaltungsgerichtshof zur Stellung von Gesetzesprüfungsanträgen befugt und verpflichtet (vgl. Art. 140 Abs. 1 B-VG i. d. F. BGBl. Nr. 392 / 1929). Dass die tschechoslowakische Regelung trotz ihres nicht übernommenen Konstruktionsfehlers als Vorbild gewirkt hatte, ist mit Händen zu greifen: vgl. Felix Adler, Verfassung und Richteramt, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 10 (1931), S. 103 (116 FN 1), und Haller (Fn. 5), S. 64. 80 Vgl. die Stenographische Verhandlungsschrift über die Länderkonferenz in Linz am 20., 21., 22. und 23. April 1920, abgedruckt bei Ermacora (Fn. 56), S. 201 (235), sowie die von der Staatskanzlei dem Protokoll beigeschlossene Gegenüberstellung der wesentlichen Differenzpunkte zwischen den sozialdemokratischen und christlichsozialen Verfassungsvorschlägen, ebd. S. 341 (342); ferner Art. 75 des Danneberg-Entwurfs, wiedergegeben bei Ermacora (Fn. 60), S. 357. 81 Vgl. 842, 888 und 904 BlgKNV. 82 Ermacora (Fn. 32), S. 302 f., 427. 83 Ermacora (Fn. 32), S. 363.
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Antrag auf eine Anregung Kelsens zurückgeht, der Leuthner sekundiert: Erst durch diese Bestimmung könne „der Verfassungsgerichtshof […] ein objektiver Wahrer der Verfassung werden […], indem einer der ständigen Referenten mit der Stellung eines Bundesanwaltes betraut werden könnte und ermächtigt wäre, die Verfassungsmäßigkeit der Bundesund Landesgesetze und Verordnungen ständig zu überprüfen.“84
Außer Kelsen85 hat aber niemand für den Antrag Verständnis. Er wird abgelehnt und als Minderheitsvotum angemeldet.86 Am 14. September 1920 kommt der Unterausschuss im Zuge der Erörterung „technischer Fragen“, wie es im Protokoll heißt,87 auf die Gesetzesprüfung zurück. Bei den Parteibesprechungen hätten sich zwei Fragen ergeben: einerseits die nach einer Befristung, andererseits das Problem, dass der Verfassungsgerichtshof im Laufe eines Verfahrens auf eine verfassungswidrige Norm stößt. Hier „könne man ihm das Recht nicht nehmen, unter einem auch hierüber zu entscheiden“.88 Das klingt nach inzidenter Prüfung nach amerikanischem Muster, und für sie bestand im Rahmen der Grundrechtsund Wahlgerichtsbarkeit Bedarf. Dem Verfassungsgerichtshof in den vor ihm anhängigen Verfahren die Prüfung von Verordnungen zu verwehren, die alle anderen Gerichte bei ihm anfechten konnten, hätte einen Systembruch bedeutet. Dort Prüfung zuzugestehen, legte es nahe, es bei Gesetzen gleich zu halten. Damit war das Problem exponiert. Die Lösung kam von der Staatskanzlei – und damit auch von Hans Kelsen. In einem neuen Gesamtvorschlag für die Bestimmungen über den Verfassungsgerichtshof schlug sie vor, den Gerichtshof zur Prüfung zu ermächtigen, wenn ein Gesetz oder eine Verordnung die Voraussetzung eines seiner Erkenntnisse bildete.89 Der Gesamtvorschlag wurde im Unterausschuss „ohne Debatte genehmigt“.90 Das war kein Wunder: Wir schreiben den 23. September 1920 und befinden uns am Ende der allerletzten Sitzung, alle sind müde, es gibt Wichtigeres zu tun. Die folgenden Tage galt es im Verfassungsausschuss strittige Punkte zu klären und einen Bericht an das Plenum zu verfassen. Die Teile über die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts hat Merkl verfasst,91 was vermuten lässt, dass er den
Ermacora (Fn. 32), S. 421. Er hatte im Entwurf II, Einschub zu Art. 157, zur Wahrung des Gesetzes Bundesanwälte vor den Landesverwaltungsgerichten sowie einen Bundesgeneralanwalt beim Bundesverwaltungsgericht vorgesehen (vgl. Schmitz [Fn. 60], S. 292) und die Idee eines Verfassungsanwalts später literarisch propagiert (vgl. Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5 [1929], S. 30 [75]). 86 Ermacora (Fn. 32), S. 421. 87 Ermacora (Fn. 32), S. 445. 88 Ermacora (Fn. 32), S. 445. 89 Ermacora (Fn. 32), S. 495 ff. 90 Ermacora (Fn. 32), S. 495. 84 85
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Gesamtvorschlag der letzten Minute redigiert hat. Im Bericht wird auf die bundesstaatliche Bedeutung des Verfassungsgerichtshofs, auf seine neue Kompetenz zur Gesetzesprüfung und auf die paritätische Ausgestaltung des Antragsrechts der Regierungen hingewiesen.92 Von amtswegiger Prüfung erfahren die Parlamentarier nichts. Die Plenardebatten zeigen, dass Danneberg, Verfassungsexperte der Sozialdemokraten und ihr Hauptredner in der Debatte, noch nicht einmal die Möglichkeit der Prüfung von Bundesgesetzen registriert hatte.93 Acht Tage, nachdem handverlesene Parlamentarier den Text zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatten, war er auch schon beschlossen. Genug Stoff für ein zweites Zwischenresümee: Kelsen hielt auch in der zweiten Phase am Vorrang des Bundesrechts fest und richtete die Gesetzesprüfung als Instrument zur Effektuierung dieses Vorrangs ein. Gegen die Prüfung von Bundesgesetzen leistete niemand länger Widerstand als er. Nachdem sich die Staatskanzlei dazu durchgerungen hatte, Bund und Länder gleich zu behandeln, monopolisierte sie zunächst die Antragsbefugnisse bei den Regierungen. Um die daraus resultierenden Verwerfungen auszubügeln, eröffnete sie in letzter Minute die Möglichkeit amtswegiger Prüfung durch den Verfassungsgerichtshof aus Anlass anhängiger Verfahren. An den Formulierungen hatte Kelsen wohl Anteil,94 und sie waren gewiss in seinem Sinne, hatte er sich doch zuvor vergeblich für einen Staatsanwalt des öffentlichen Rechts stark gemacht, der Gesetze vor dem Verfassungsgerichtshof anklagen konnte.95 Unter den Parlamentariern hat hingegen niemand die immensen politischen Implikationen erkannt.96
91 Wolf-Dietrich Grussmann, Adolf Julius Merkl. Leben und Werk (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 13), Wien 1989, 28 f. 92 AB 991 BlgKNV, S. 6 = Ermacora (Fn. 32), S. 556. 93 StProt KNV, S. 3394. Darauf ist erstmals hingewiesen bei Theo Öhlinger, Verfassung – Demokratie – Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Manfred Matzka (Hrsg.), Sozialdemokratie und Verfassung, Wien u. a. 1985, S. 171 (181). 94 Gleichwohl überzogen m. E. Olechowski (Fn. 40), S. 227, wenn er aufgrund der Ingerenz Kelsens auf den Gesamtvorschlag der Staatskanzlei dessen Anteil an der Entstehung der Verfassungsgerichtsbarkeit als höher einschätzt als jenen Karl Renners. Wie im Text Felix Ermacora, Österreichs Bundesverfassung und Hans Kelsen, in: Adolf J. Merkl / René Marcic / Alfred Verdroß / Robert Walter (Hrsg.), FS Kelsen, Wien 1971, S. 22 (48). 95 Positive Bewertung der Möglichkeit amtswegiger Gesetzesprüfung denn auch bei Hans Kelsen, Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit im Dienste des Bundesstaates, nach der neuen österreichischen Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 42 (1923), S. 173 (193). 96 Vergebliche, da rechtsdogmatisch unhaltbare Versuche, den Prüfungsmaßstab des Verfassungsgerichtshof auf Kompetenzkonformität zu beschränken, durch Friedrich Austerlitz, Verfassungsrevision, in: Der Kampf 18 (1925), S. 161 – 165, sowie dens., Der Verfassungsgerichtshof prüft!, in: Der Kampf 23 (1930), S. 115 – 126. Austerlitz war Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung und von 1920 bis 1930 Mitglied des Verfassungsgerichtshofes. Dazu wie allgemein zum Verhältnis der Sozialdemokratie zur verfassungsgerichtlichen Gesetzesprüfung Öhlinger (Fn. 93), S. 182 ff.
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V. Erklärungen Die Genesis ist damit aber noch nicht zu Ende. Ich fasse nach einem anderen Strang, der bislang nicht die nötige Beachtung gefunden hat. In der Bundesverfassung 1920 wird dem Verfassungsgerichtshof als neue Kompetenz nicht nur die Gesetzesprüfung zugewiesen. Auch die Verordnungsprüfung ist neu, sie wird den Gerichten entzogen und bei ihm zentralisiert. Hier liegt der Schlüssel, ohne den man das österreichische Modell nicht verstehen kann. Wie kam es zu diesem Schritt und wieso? Die Dezemberverfassung hatte, typisch österreichisch, die Entscheidung über das richterliche Prüfungsrecht nicht der Jurisprudenz überlassen, sondern klare Position bezogen.97 „Die Prüfung der Giltigkeit gehörig kundgemachter Gesetze“ gestand sie den Gerichten nicht zu. Über „die Giltigkeit von Verordnungen“ hatten die Gerichte dagegen „in gesetzlichem Instanzenzuge zu entscheiden“. Damit war, wenn auch nur für Verordnungen, das amerikanische Modell einer inzidenten Prüfung adoptiert. Nach 1867 nahmen die Gerichte die Prüfung ernst, und im Zuge ihrer Tätigkeit stellten sie bald fest, dass der Wust an Literatur zum Thema dort aufhörte, wo die Fragen begannen: nämlich nach vorgenommener Prüfung und Nichtigerklärung der Verordnung. Edmund Bernatzik hat sich diesen vertrackten Problemen gewidmet und Lösungen zu entwickeln versucht.98 Von res iudicata über die Gültigkeit der Verordnung kann ihm zufolge bei richterlicher Entscheidung über ihre Nichtigkeit nicht ernstlich die Rede sein, weil diese Frage nur Präjudizialfrage ist. Die Verordnung bleibt abstrakte Rechtsnorm, sie wird zwar der Entscheidung des Gerichts zugrunde gelegt oder nicht, aber über deren Rechtsbestand entscheidet das gerichtliche Urteil genauso wenig merital wie über den Rechtsbestand eines Gesetzes.99 Das nächste Gericht kann also die Sache völlig anders sehen, und die Verwaltung ist deshalb zu förmlicher Beseitigung der Verordnung nicht verpflichtet. Anders stellt sich ihm die Sache dar, wenn eine Aufsichtsbehörde über die Rechtmäßigkeit der Verordnung einer Selbstverwaltungskörperschaft entschieden hat und deren Entscheidung den Gegenstand verwaltungsgerichtlicher Prüfung bildet. Hier entfaltet das Urteil Rechtskraft, und Bernatzik benötigt zehn Seiten, um die Auswirkungen auf die Verfahrensparteien zu erklären.100 Seine Argumentsführung ist streng prozessual, aber in den Fußnoten hält er mit seiner Bewertung der Rechtslage nicht hinter dem Berg. Richter hätten nicht
97 Vgl. Art. 7 des Staatsgrundgesetzes vom 21. December 1867, über die richterliche Gewalt, RGBl. Nr. 144 / 1867; ferner die Klarstellung für das Reichsgericht in § 30 RGBl. Nr. 44 / 1869. 98 Edmund Bernatzik, Rechtsprechung und materielle Rechtskraft. Verwaltungsrechtliche Studien, Wien 1886, S. 290 ff. 99 Bernatzik (Fn. 98), S. 292. 100 Bernatzik (Fn. 98), S. 293 ff.
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immer nur eine Meinung, in Fragen des öffentlichen Rechts seien Diskrepanzen zwischen behördlichen Entscheidungen tausendfach unerträglicher als in privatrechtlichen Angelegenheiten, der Zustand, dass zwei staatliche Behörden verschiedene abstrakte Rechtsnormen anerkennen, allenfalls darum haltbar, weil er so selten vorkomme.101 Es müsse darum entweder „den Gerichten eine Art Controle über die Verwaltung zustehen mit bindender Wirkung auf dieselbe oder es muss in jedem solchen Conflictsfall eine besondere Instanz zusammentreten, die […] über die Giltigkeit der Verordnung in einer für alle Teile bindenden Weise zu entscheiden hätte.“102
Vergleichbare institutionelle Vorkehrungen hielt er auch bei Einführung einer richterlichen Gesetzesprüfung für unabdingbar, verhinderten bzw. verminderten sie doch „Conflikte zwischen richterlicher Gewalt einer- und Legislative und Exekutive andrerseits, die heraufzubeschwören dem doktrinär angehauchten Liberalismus von jeher eine Art wollüstigen Grauens bereitet hat.“103
Die Bernatziksche Schrift kann man in Bedeutung und Wirkung kaum unterschätzen.104 Doch nicht nur deshalb können wir das Problem, dass inzidente Feststellungen niemanden binden, als bekannt voraussetzen. Die Zunft war in diesem Punkt deshalb sensibel, weil es als Strukturproblem auch anderswo zu beobachten war. Das Reichsgericht vermochte die Verletzung politischer Rechte der Staatsbürger zwar festzustellen, es konnte aber die bei ihm angefochtene Verfügung im Unterschied zum Verwaltungsgerichtshof nicht kassieren.105 Praktische Folge: Die Verwaltung ignorierte mitunter seine Sprüche,106 so wie sie sich um Feststellungen der UngültigBernatzik (Fn. 98), S. 266 Fn. 104, 292 Fn. 38. Bernatzik (Fn. 98), S. 292 Fn. 38. 103 Bernatzik (Fn. 98), S. 266 FN 104, an die Adresse von Jacques. 104 An ihn anknüpfend Ludwig Adamovich, Die Prüfung der Gesetze und Verordnungen durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof (= Wiener Staatswissenschaftliche Studien, N. F., Bd. 5), Leipzig / Wien 1923, 95 ff. 105 Gesetz vom 18. April 1869, betreffend die Organisation des Reichsgerichtes, das Verfahren vor demselben und die Vollziehung seiner Erkenntnisse, RGBl. Nr. 44 / 1869, §§ 35 und 39. Zur kontroversen Diskussion im Ausschuss vgl. die Materialien bei Johann v. Spaun, Das Reichsgericht. Die auf dasselbe sich beziehenden Gesetze und Verordnungen samt Gesetzesmaterialien sowie Übersicht der einschlägigen Judikatur und Literatur, Wien 1904, S. 54 f.; zu den Auffassungen in der Literatur vgl. Leo Epstein, Die Rechtswirkungen der Entscheidungen des Reichsgerichtes über Beschwerden wegen Verletzung der durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 3 (1918), S. 434 (435, 440 ff.). – Bis heute erscheinen Arbeiten darüber, ob die Ablehnung kassatorischer Wirkung der Erkenntnis eine Bindung an sie ausschloss: vgl. Stephan G. HinghoferSzalkay, Die Grundrechtserkenntnisse des Reichsgerichts. Wurzel des österreichischen Grundrechtsstaates oder Deklaration ohne Rechtsfolgen?, in: ZNR 33 (2011), S. 192 (200 ff.). 106 Zur Praxis eingehend Werner R. Svoboda, Die tatsächliche Wirkung der Erkenntnisse des österreichischen Reichsgerichtes (1869 – 1918), in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 21 (1971), S. 183. 101 102
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keit von Verordnungen mitunter nicht kümmerte. Grundrechtsprüfung und Verordnungsprüfung hatten dieselbe offene Flanke. Kommen wir vor diesem Hintergrund noch einmal auf die ersten Verfassungsentwürfe zurück. In den Vorstudien Renners zur Bundesverfassung findet sich nichts zur Verordnungsprüfung, sehr wohl aber die Skizze einer reformatorischen Verwaltungsgerichtsbarkeit nach preußischem Muster,107 die Renner favorisierte, weil er in der Kassation keine hinreichende Lösung sah: Den Verwaltungsgerichtshof hielt er für kein echtes Gericht, sondern bloß für einen „Nachrichter“.108 Kelsen hingegen führte in all seine Entwürfe eine Kompetenz des Verfassungsgerichtshofs zur Prüfungen von Verordnungen ein, und er löste die von Bernatzik aufgeworfenen Probleme, indem er dem Urteil kassatorische Kraft gab.109 Diese Lösung hatte sich beim Verwaltungsgerichtshof bewährt, um sie war dort acht Jahre lang gerungen worden, sie war dort am Ende ein allseits akzeptabler Kompromiss, weil die Kassation der Justiz eine effektive Kontrolle der Verwaltung ermöglichte, aber sie nicht in Versuchung brachte, an deren Stelle zu administrieren. Kurzum: Die Verordnung wird behandelt wie ein Verwaltungsakt: Trotz Rechtswidrigkeit gilt und bindet sie, solange sie nicht aufgehoben wird. Prüfungsmaßstab kann deshalb nicht ihre Gültigkeit sein,110 sondern nur ihre Gesetzmäßigkeit. Gibt der Verfassungsgerichtshof dem Prüfungsantrag statt, so wird die Verordnung durch sein Erkenntnis kassiert, und damit das Publikum davon erfährt, muss die erlassende Behörde die Aufhebung kundmachen. Nach demselben Muster wird sodann die Gesetzesprüfung gestrickt: Im Fall der Verfassungswidrigkeit verfällt das Gesetz der Kassation, die Kundmachung der Aufhebung obliegt hier freilich nicht der Legislative, sondern der Regierung.111 Diese Übertragung der Lemayerschen Lösung auf die Normenkontrolle gab zu Diskussionen keinen Anlass. Den Juristen dürfte sie intuitiv eingeleuchtet haben, und den Politikern war wohl schon das Problem nicht bewusst. Doch auch hier sind Kelsens Entwürfe nicht das letzte Wort, einmal mehr kommt es zu Änderungen in letzter Minute. Der erwähnte Gesamtvorschlag der Staatskanzlei kehrt das Verhältnis von Erkenntnis und Kundmachung um: Erst die Kundmachung bewirkt die Aufhebung, und zwar mit Vgl. seine Leitsätze, abgedruckt bei: Schmitz (Fn. 67), S. 202 ff. Renner (Fn. 37), S. 217. 109 Vgl. die Synopsen bei Schmitz (Fn. 60), S. 298 f., sowie bei Ermacora (Fn. 60), S. 236 f. 110 Anders hingegen § 18 des tschechoslowakischen Verfassungsgerichtsgesetzes 1920, der – ganz der traditionellen Linie folgend – das Verfassungsgericht im Falle der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes zum Ausspruch seiner Ungültigkeit verhält. Zu den Entscheidungswirkungen vgl. die bei Epstein (Fn. 28), S. 251 f., 255 f., abgedruckten Gesetzesmaterialien sowie Osterkamp (Fn. 30), S 37 ff., 162 ff. 111 Vgl. Schmitz (Fn. 60), S. 300 f., sowie Ermacora (Fn. 60), S. 236 – 239; ferner Art. 150 Abs. 3 Linzer Entwurf (Ermacora [Fn. 32], S. 139). 107 108
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Wirkung ex nunc, das Erkenntnis verpflichtet zwar zu unverzüglicher Kundmachung, es lässt die geprüfte Norm aber noch bestehen.112 Grund für diese Entkoppelung war wohl einerseits der Wunsch, am Verfahren nicht beteiligte Dritte zu schützen. Andrerseits gab sie dem Verordnungsgeber die Chance, die Kundmachung der Aufhebung mit der Kundmachung einer Ersatzregelung zu verbinden und so ein rechtliches Vakuum zu vermeiden. Und exakt darauf kam es den Rechtstechnikern in der Staatskanzlei an. Bei der Gesetzesprüfung räumten sie dem Verfassungsgerichtshof die Befugnis ein, für das Außerkrafttreten eine Frist zu bestimmen, die vom Gerichtshof frei zu bemessen war, aber sechs Monate nicht überschreiten durfte.113 Was Bernatzik zur alten Lösung bemerkt hatte,114 das gilt auch hier: Die Probleme beginnen, nachdem das Erkenntnis gefällt ist. Die Regelung war auf organstreitliche Verfahren zugeschnitten, für Gerichtsanträge passte sie gar nicht, weil die ex-nunc-Wirkung der Aufhebung der angefochtenen Bestimmung zu ihrer Anwendung im Anlassfall zwingt.115 Doch diese und andere116 Kinderkrankheiten sollen hier auf sich beruhen, denn es würde von den entscheidenden Punkten nur ablenken. Ich sehe deren drei. Erstens löst Kelsen durch die Konzeption der richterlichen Gesetzesprüfung nach dem Vorbild der österreichischen Verwaltungsaktsprüfung ein Gewaltenteilungsproblem. Die Kassation hat sich im Verhältnis zwischen Verwaltung und Gerichtsbarkeit bewährt, weil sie die Rollen des Akteurs und des Kontrolleurs trennt – wieso sie nicht für das Verhältnis von Gerichtsbarkeit und Gesetzgebung nutzbar machen? Wie konsequent das geschieht, sieht man an einem Detail: Nicht die richterliche Entscheidung über die Rechtswidrigkeit der Norm wird kundgemacht, kundgemacht wird nur die Tatsache der Aufhebung. Der Bürger erfährt aus dem Gesetzblatt, welche zuvor dort abgedruckten Gesetze, Paragraphen oder Worte aufgehoben sind. Das Verfassungsgericht wird gezwungen, aus dem Zeichenkorpus, das in seiner Gesamtheit das geltende Recht ausmacht, einzelne Zeichen heraus-
Ermacora (Fn. 32), S. 496. Art. 140 Abs. 3 B-VG 1920. Diese Frist wurde in der Folge auf Verordnungen erstreckt und für Gesetze schrittweise auf 18 Monate ausgedehnt (vgl. Art. 139 Abs. 5, 140 Abs. 5 B-VG i. d. g. F.). 114 Bernatzik (Fn. 98), S. 292 Fn. 38. 115 Vgl. Robert Neumann-Ettenreich, Der Verwaltungs- und der Verfassungsgerichtshof nach dem Bundesverfassungsgesetze, in: Zeitschrift für Verwaltung 1 (1921), S. 67 – 80 (76), der für eine ergänzende Auslegung eintrat, die sich durchsetzte (vgl. Kelsen [Fn. 95], S. 194 f.). Das Versehen wurde schließlich mit BGBl. Nr. 302 / 1975 korrigiert. 116 Außerdem war übersehen worden, dass bei bereits außer Kraft getretenen Gesetzen und Verordnungen keine Aufhebung, sondern eine Feststellung der Verfassungswidrigkeit vonnöten war (Korrektur durch BGBl. Nr. 268 / 1925), und dass es einer Ermächtigung zur Wiederinkraftsetzung der durch ein verfassungswidriges Gesetz aufgehobenen verfassungskonformen Gesetze bedurfte (Bereinigung durch BGBl. Nr. 392 / 1929). 112 113
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zuschneiden. Für alles andere – Insoweit-Aufhebungen, vorläufige Anordnungen, Übergangsregelungen – lässt das Kassationsmodell keinen Platz. Und dadurch, dass das Gericht die Aufhebung aufschieben kann, wird es von den widrigen Folgen seines Tuns weitgehend entlastet. Es kann darauf vertrauen, dass es einen demokratischen Prozess gibt, der die Dinge wieder ins Lot rückt, indem er die Lücken rechtzeitig füllt. Diese Beschränkung des Verfassungsgerichts auf negative Gesetzgebung ist für das österreichische Modell nicht minder prägend als die Konzentration der Prüfung bei einem Gericht. Zweitens bekommt Normprüfung im Vergleich zum amerikanischen Modell einen völlig anderen Charakter. Aus einer rein intellektuellen Tätigkeit, die sich im Kopf des Richters abspielt und sich nur dort abspielen darf, weil er um das Recht ja wissen muss, wird ein Verfahren, in dem es Kläger und Beklagte gibt, in dem man relevante Fakten erheben kann und Betroffene anhören muss. Das hat gravierende Folgen, die hier auszuführen zu weit führen würde. Dergleichen kann ich nur vermerken, dass die amtswegige Prüfung, fünf vor zwölf eingeführt, als Konzession an das amerikanische Modell in das System nicht recht passt. Der dritte, allerwichtigste Punkt ist die Umstellung der Prüfung. Aus einer Prüfung der Gültigkeit von Recht wird die Prüfung der Rechtswidrigkeit von Recht. Damit wird die das richterliche Prüfungsrecht bislang tragende These, dass ein verfassungswidriges Gesetz nur scheinbar ein Gesetz ist, in Wahrheit aber Nichtrecht darstellt, einen fehlgeschlagenen Normerzeugungsversuch, regelrecht umgedreht, auf den Kopf gestellt. Gleichzeitig wird akzeptiert, dass in ein und demselben System Normen gelten, die einander widersprechen, die zueinander in Konflikt stehen. Weniger logizistisch formuliert: Die das Rechtssystem konstituierende Unterscheidung Recht / Unrecht wird in das System wieder eingeführt und auf das Recht selbst bezogen. Die Implikationen dieses Schrittes, neudeutsch re-entry genannt,117 sind Kelsen 1920 alles andere als klar. Die halbe reine Rechtslehre, von der Rechtsquellen- und Stufenbaulehre über die Bundesstaatstheorie und die Lehre vom Fehlerkalkül bis hin zum Spätwerk, ist im Grunde nur der Versuch, einen theoretischen Rahmen für die Behandlung dieser selbst geschaffenen Probleme zu entwerfen. Dass seine Antworten für Österreich besser passen als für andere Rechtsordnungen, ist deshalb keine Überraschung. Ich ziehe ein drittes Zwischenfazit, indem ich zusammenfasse und zugleich eine Frage beantworte, die der Titel meines Referates aufwirft. Für
117 Der Begriff geht auf George Spencer-Brown, Laws of Form, Erstausgabe 1969, zitiert nach der Ausgabe Portland / Oregon 1994, 69 ff., zurück und ist im Soziologendeutsch gängig, seit Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, S. 230, 547, 610 ff., ihn aufgegriffen hat.
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die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit sind fünf Elemente charakteristisch: Erstens die Konzentration der Normenkontrolle bei einem Gericht; zweitens die Anerkennung rechtswidriger Normen als geltendes Recht; drittens ihre Prüfung in einem Verfahren, in dem es Antragsteller und Antragsgegner gibt; viertens die Beschränkung der gerichtlichen Befugnisse auf die Aufhebung der geprüften Norm; fünftens beträchtliche Freiheit, über den Zeitpunkt und den Umfang dieser Aufhebung zu verfügen.
VI. Entscheidungen Hans Kelsen war der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur als Legist und als Redaktor verbunden. Er hat sie auch theoretisch untermauert, um nicht zu sagen legitimiert, was ansonsten so gar nicht seine Art war, und sie gegen Anwürfe verteidigt. Sein berühmtes Referat auf der Wiener Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1928118 und seine Kontroverse mit Carl Schmitt über den Hüter der Verfassung119 sind allgemein bekannt, es erübrigt sich, hierüber weitere Worte zu verlieren. Weniger geläufig ist vielleicht die Art und Weise, wie er eine andere Rolle ausgefüllt hat. Wie erwähnt, war Hans Kelsen Mitglied des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, seit März 1919 schon, und ab Herbst 1921 einer von drei ständigen Referenten. Nichts prägt Institutionen stärker als ihre ersten Amtsinhaber.120 Der Gerichtshof funktionierte gut und wurde der Regierung dermaßen unbequem, dass es 1929 zu einer Gesamtreform kam, in deren Zuge alle Richter abberufen wurden.121 Über seine Tätigkeit als Richter wissen wir durch eine Untersuchung von Robert Walter122 gut Bescheid, und wir können deshalb sagen, dass er am Erfolg des Gerichtshofes, ohne den der Wiener Verfassungsgerichtshof heute vielleicht ebenso vergessen wäre wie das alte Prager Verfassungsgericht, wesentlichen Anteil hatte.123 Ich Kelsen (Fn. 85). Vgl. zunächst Carl Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, in: Otto Schreiber (Hrsg.), Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50-jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1. Oktober 1929) Bd. 1, Berlin / Leipzig 1929, S. 154; sodann ders., Der Hüter der Verfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 16 (1929), S. 161, und ders., Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931. Entgegnung: Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein? Berlin / Grunewald 1931. 120 Am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts und seiner Selbstinthronisierung als Verfassungsorgan ist das gezeigt bei Christoph Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: Matthias Jestaedt / Oliver Lepsius / Christoph Möllers / Christoph Schönberger, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, Berlin 2011, S. 9 (23 ff.). 121 Dazu Christian Neschwara, Hans Kelsen und das Problem der Dispensehen, in: Robert Walter / Werner Ogris / Thomas Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, Wien 2009, S. 249 (255 ff.). 122 Robert Walter, Hans Kelsen als Verfassungsrichter (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 27), Wien 2005. 118 119
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widerstehe der Versuchung, einzelne Fälle auszubreiten, und ziehe nur die großen Linien nach. Erstens fällt auf, dass Kelsen seine Richterrolle völlig anders anlegt als seine Rolle als Wissenschaftler. Als Richter hat er keine Scheu vor unreiner Rechtslehre, er liebt sie nachgerade. Er setzt das ganze Instrumentarium traditioneller Jurisprudenz ein, das er als Rechtswissenschaftler als unwissenschaftlich vor die Türe weist, und er zeigt dabei, dass er auch diese Instrumente besser beherrscht als die anderen. Handwerklich ist er, Vorurteile Lügen strafend, alles andere als zimperlich: Er klebt nicht am Wortlaut, er argumentiert primär systematisch und teleologisch, ganz selten historisch, er nimmt für den Gerichtshof rechtsschöpferische Kompetenzen in Anspruch und verteidigt dies gegenüber seinen Richterkollegen.124 Von einem zurückhaltenden Auslegungsstil oder gar von einem „radikalen judicial restraint“ kann keine Rede sein.125 Zweitens begreift Kelsen seine Mitgliedschaft im Verfassungsgerichtshof sichtlich als politisches Amt, zu dem er sich durch Wahl legitimiert sieht und das ihm die Möglichkeit gibt, seine verfassungspolitische Agenda durchzusetzen. Ganz oben auf dieser Agenda steht die Demokratie: Wahlen sind strikt zu prüfen,126 das Parlament muss notfalls dazu gezwungen werden, die wesentlichen Entscheidungen selber zu treffen, anstatt sie durch weite Verordnungsermächtigungen an die Verwaltung zu delegieren,127 und der grundrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung erteilt er als Referent einer Leitentscheidung zum Eigentumsgrundrecht eine klare Absage, weil es Sa-
123 Vgl. die Charakterisierung in einem Brief Karl Renners an Abg. Heilmann vom 24. April 1930, wiedergeben bei Schmitz (Fn. 67), S. 145: „Und so wurde Kelsen, von dessen Geiste die Schöpfung und die Wirksamkeit des Verfassungsgerichtshofes durch zehn Jahre getragen wurden, von diesem Gerichtshof entfernt.“ 124 Anschauungsmaterial bei Walter (Fn. 122), S. 19, 26 f., 38, 44. 125 Anders Öhlinger (Fn. 18), S. 417 f., 424 (Zitat), der m. E. die – nur ideologisch und nicht rechtsdogmatisch erklärbaren – Vorbehalte Kelsens gegen verfassungsgerichtliche Billigkeits- und Gerechtigkeitsprüfungen (Kelsen [Fn. 85], S. 69) verallgemeinert und für bare Münze nimmt. Im „evolutiven Stil“ des Verfassungsgerichtshofs in jüngeren Jahren sehe ich daher (entgegen Öhlinger, ebd. S. 423) keinen Bruch mit einem durch Kelsens Methodik geprägten Stil der Zwanzigerjahre, sondern seine Fortsetzung, wenn auch auf anderen Feldern und unter einer anderen – Rechtsstaatlichkeit vor Demokratie stellenden – politischen Agenda. 126 Vgl. das von ihm als Referent konzipierte Erkenntnis VfSlg. 888 / 1927, wo der Gerichtshof „im Interesse der Gesetzmäßigkeit der Wahlen, die in einer demokratischen Republik, in der alle maßgebenden Staatsorgane durch Wahl berufen werden, eines der Fundamente des Staates bildet“, einen „sehr rigorosen Maßstab“ zur Anwendung bringen will. 127 VfSlg. 176 / 1923. In diesem Verfahren, dessen Akt in den Archiven heute leider fehlt, war Kelsen Referent (vgl. Öhlinger [Fn. 18], S. 409 f.), und er hatte zuvor in einem Verfahren vor dem tschechoslowakischen Verfassungsgericht in diesem Sinne gegutachtet (vgl. zur Entscheidung Franz Adler, Gesetz und Verordnung, in: Wissenschaftliche Vierteljahresschrift zur Prager Juristischen Zeitschrift 1923, Sp 114 [116 ff.]; Osterkamp, Verfassungsgerichtsbarkeit [Fn. 30], 111 ff.).
Der österreichische Verfassungsgerichtshof als Schöpfung Hans Kelsens
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che des Parlaments ist und nicht des Gerichtshofes, das Gewicht der öffentlichen Interessen einzuschätzen und sie gegen private Interessen abzuwägen.128 Darin sehen wir heute meist Eigentumsfeindlichkeit und Mangel an Grundrechtsbewusstsein, es ist aber im zeitgenössischen Kontext adäquater bewertet als Sorge um die junge Demokratie, die untergehen muss, wenn in ihr für die Programme der Austromarxisten kein Raum ist. Das Zensurverbot sowie das Diskriminierungsverbot des Gleichheitssatzes exekutiert er demgegenüber mit einer Schärfe, die manche Entscheidung noch heute progressiv erscheinen lässt.129 Drittens ist Kelsen sichtlich am Maßstab interessiert, nicht am Gegenstand der Prüfung. Subsumtionen hält er für beliebig,130 und er spricht sich dagegen aus, gesetzliche Bestimmungen durch eine verfassungskonforme Deutung vor der Aufhebung zu retten, weil das den Gerichtshof auf Konfrontationskurs mit den Behörden bringt, die zuvor anders interpretiert haben.131 Vierte und letzte Beobachtung: In Kompetenzfragen agiert er betont ergebnisblind, grundstürzende Folgen wie den Zusammenbruch des Sozialversicherungssystems in Kauf nehmend,132 auf die Korrektur durch das Parlament vertrauend. In Konflikten zwischen Verwaltung und Gerichtsbarkeit ergreift er demgegenüber für die liberalere Verwaltung Partei,133 und er verteidigt – Anzeichen beginnender Rollenkonfusion – 1928 die vom Gerichtshof gefällte Entscheidung literarisch gegen Kritik.134 Dass er letztlich wegen seines Engagements für die Sever-Ehen135 sein Amt verlor, hat ihn aus Österreich vertrieben.136 128 VfSlg. 1123 / 1928: „Die Anfechtung bekämpft nun entschieden das Vorhandensein dieser Voraussetzung; sie behauptet, daß die im Mietengesetze enthaltenen Einschränkungen nicht dem allgemeinen Wohle, sondern nur dem Wohle der Mieter und nicht einmal aller Mieter dienen. Demgegenüber muß auf das nachdrücklichste betont werden, daß sich der Verfassungsgerichtshof in eine Erörterung dieser Frage nicht einlassen kann. Das allgemeine Wohl oder das allgemeine Beste ist ein juristisch gar nicht faßbarer Begriff, es ist ausschließlich Sache des Gesetzgebers, das Vorhandensein dieser Voraussetzung festzustellen […]. Es besteht geradezu die Hauptaufgabe der gesetzgebenden Körperschaften darin, sich über den Wert der vielfach entgegenstehenden Interessen eine Meinung zu bilden, das nach ihrer Ansicht höhere Interesse zu begünstigen oder zwischen widerstreitenden Interessen ein Kompromiß zu schließen. Der Verfassungsgerichtshof muß es aber entschieden ablehnen, in einer solchen Frage eine Meinung zu äußern.“ 129 Vgl. VfSlg. 449 / 1925, 552 / 1925, 630 / 1926, 651 / 1926. 130 Vgl. seine Äußerung im Verfahren G 92 / 22, zitiert nach Walter (Fn. 122), S. 27: „Die jetzt vorliegende Frage ist im Wesentlichen eine Subsumtionsfrage. Man könnte natürlich auch anders subsumieren.“ 131 Vgl Walter (Fn. 122), S. 29 f. 132 Vgl. VfSlg. 328 / 1924; ferner VfSlg. 90 / 1922, 720 / 1926, 1119 / 1928. 133 Vgl. insb. VfSlg. 878 / 1927. Näher Walter (Fn. 122), S. 60 ff. 134 Hans Kelsen, Der Begriff des Kompetenzkonfliktes nach geltendem österreichischen Recht, in: Juristische Blätter 57 (1928), S. 105; ders., Zum Begriff des Kompetenzkonfliktes, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 7 (1928), S. 583; ferner seine Wortmeldung in: VVDStRL 5 (1929), S. 222.
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Ewald Wiederin
VII. Elternrollen Damit bin ich am Ende, und ich schlage den Bogen zum Anfang zurück. In Hans Kelsen den Vater der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit zu sehen, geht fehl. Die entscheidenden Impulse gaben andere, zuallererst Karl Renner.137 Die Schöpfungslegende ist deshalb aber noch nicht falsch. Ein Elternteil war er allemal, der wichtigere sogar, Mutterschaft müssen wir ihm attestieren, mag auch rätselhaft bleiben, wie er zum Kind gekommen ist. Als Verfassungsredaktor hat er die Verfassungsgerichtsbarkeit ausgetragen und auf die Welt gebracht, als Verfassungsrichter hat er sie in ihren kritischen ersten Jahren aufgezogen, als Verfassungstheoretiker hat er sie gegen alle Angriffe, gegen haltlose wie berechtigte, verteidigt. Es hat also sein Recht, wenn er selbst die Verfassungsgerichtsbarkeit als sein liebstes Kind betrachtet hat138 und wenn wir auf dieser Tagung das Kelsenianische Modell diskutieren.
135 Dazu eingehend Ulrike Harmat, Ehe auf Widerruf? Der Konflikt um das Eherecht in Österreich 1918 – 1938 (= Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 121), Frankfurt a. M. 1999, S. 290 – 311, 403 – 415; Christian Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter. Seine Rolle in der Dispensehen-Kontroverse, in: Stanley L. Paulson / Michael Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts (= Grundlagen der Rechtswissenschaft, Bd. 3), Tübingen 2005, S. 353 (361 ff.); Rudolf Aladár Métall, Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969, S. 51 – 56. 136 Zu den Gründen vgl. Robert Walter, Hans Kelsens Emigration aus Österreich im Jahre 1930, in: Friedrich Stadler (Hrsg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Wien / München 1988, S. 463 (465 f.). – Zum Angebot der Sozialdemokraten, ihn wieder in den Gerichtshof zu bringen, sowie zur Ablehnung Kelsens und ihren (nicht ganz geklärten) Gründen vgl. Thomas Zavadil, Die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs 1933. Diplomarbeit an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Wien 1997, S. 46 mit FN 193. 137 Vgl. dessen Brief vom 23.12.1930 an Kelsen, abgedruckt bei Schmitz (Fn. 67), S. 146: „Ich denke mit einem gewissen Stolz an unsere Zusammenarbeit in den härtesten Tagen Österreichs. Mögen die anderen sich auf unseren abgelegten Kleidern noch so breitmachen, mögen sie noch soviel verfälschen und verderben, die Grundmauern der Verfassung, die wir zwei dem Lande gegeben haben, müssen sie doch stehen lassen!“ 138 Als Ausspruch Kelsens überliefert von Marcic (Fn. 38), S. 58, der auf einen Trinkspruch Kelsen bei einem zu seinen Ehren vom österreichischen Bundeskanzler Dr. Klaus gegebenen Frühstück verweist, und von Hans Klecatsky in einer Sendung des Österreichischen Rundfunds Ö 1 vom 8. Mai 1973, 20 Uhr, abgedruckt in: Robert Walter / Clemens Jabloner / Klaus Zeleny (Hrsg.), 30 Jahre Hans Kelsen-Institut. Dokumentation eines Festaktes am 30. September 2002 in den Räumlichkeiten des Verwaltungsgerichtshofes in Wien (= Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 24), Wien 2003, S. 87 (102). Kelsen selbst hat hingegen öffentlich nur von seinem persönlichsten Werk gesprochen: Hans Kelsen, Autobiographie (1947), S. 27 = Hans Kelsen Werke Bd. I, Tübingen 2007, S. 29 (67): „Der Abschnitt, an dem mir am meisten lag und den ich als mein persoenlichstes Werk betrachtete, die Verfassungsgerichtsbarkeit, hatte in den parlamentarischen Verhandlungen ueberhaupt keine Aenderung erfahren.“ Ähnliche Äußerung in der erwähnten Rundfunkaufnahme von 1973, ebd. S. 90.
Aussprache Gesprächsleitung: Waldhoff
Waldhoff: Ganz herzlichen Dank, Herr Wiederin, für dieses nachgerade spannende Stück Gesetzgebungs- und Institutionengeschichte. Ich bitte um Wortmeldung. Herr Härter. Härter: Vielen Dank für diese äußerst lebendige Darstellung. Ich erlaube mir noch einmal etwas breiter zu fragen. Wir haben ja bereits gestern sehr viel davon gehört, dass die Normenprüfung, die Normenkontrolle, offenbar eine zentrale Rolle spielt für die Entstehung von Verfassungsgerichten. Im Hinblick auf unsere Tagung und den Verfassungsschutz kann man nun weiterfragen: Warum wird denn der Normenkontrolle über ein Höchst- oder Verfassungsgericht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine solche wichtige Rolle im Hinblick auf den Schutz der Verfassung eingeräumt? Oder anders gefragt: Gibt es daneben noch andere Felder und Bereiche, auf denen z. B. das Verfassungsgericht den Schutz der Verfassung gewährleisten soll? Beispielsweise in der Verfassung des Norddeutschen Bundes war niedergelegt, dass sich das konzipierte Höchstgericht auch mit solchen Dingen wie Höchst- und Landesverrat beschäftigen sollte, also mit ganz anderen Bedrohungen von Verfassung. Und daran anschließend könnte man noch einmal für Österreich nicht nur nach einzelnen Akteuren und Personen, sondern auch nach dem politischen gesellschaftlichen und rechtlichen Kontexten fragen; Sie haben das angedeutet. Gibt es Konflikte zwischen den Ländern und damit zwischen einzelnen Akteuren, die die Kompetenz innehaben, Normen zu setzen? Pluralität der Normsetzung bzw. Normsetzungskompetenzen kann auch als ein Konflikt wahrgenommen werden, der eine Verfassung bedrohen könnte. Waldhoff: Wir nehmen noch Herrn Neschwara bitte dazu. Neschwara: Was das Genetische betrifft, vielleicht eine Bemerkung noch, die das Bild der Elternschaft oder Vaterschaft abrundet: Norbert Leser, glaube ich, hat Hans Kelsen unterstellt, dass der Verfassungsgerichtshof sein „liebstes Kind“ gewesen wäre. Also insofern scheint das eine Bestätigung zu finden. Die Genese, die beruht, glaube ich, auf dem Erbgut, das Kelsen übernommen hat aus dem österreichischen Verfassungsrecht, nämlich der Dezemberverfassung. Das Reichsgericht findet im provisorischen Verfassungs-
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gerichtshof 1919 faktisch eine materielle Fortsetzung. Wenn man sich das Register des Präsidialarchivs des Verfassungsgerichtshofs ansieht, dann wird das einfach fortgesetzt mit einer neuen Zählung der Geschäftszahlen. Es gibt einen dicken, ich glaube mit blauem Buntstift gezogenen Strich in dem Register, wo dann die Tätigkeit durch den Verfassungsgerichtshof sozusagen als Nachfolger des Reichsgerichts beginnt. Und der Verfassungsgerichtshof, das Präsidium, wickelt auch das alte Reichsgericht ab. Es gibt eine sehr intensive personelle Identität: Der Vizepräsident des Provisorischen Verfassungsgerichtshofs, ist ein ehemaliges Reichsgerichtsmitglied. Kelsen selbst ist relativ früh in den Verfassungsgerichtshof aufgenommen worden, als Nachfolger übrigens von Bernatzik. Vielleicht liegt da auch irgendwo ein anderer Zusammenhang. Er hat ihn ja auch auf der Universität im Lehramt „beerbt“. Was man auch stark hervorheben muss, ist die politische Rolle des Verfassungsgerichtshofs, die übrigens sehr eng damit zusammenhängt, dass die Parlamente oder die Gesetzgebungskörperschaften, Nationalrat und Bundesrat, die Mitglieder wählen. Das ist auch etwas, was aus der Praxis der Monarchie übernommen wird. Dass die politischen Parteien sich die Verfassungsrichter nach dem Stärkeverhältnis im Parlament ausmachen, ist zunächst ein Faktum, das dann 1929 verfassungsrechtlich ins Bundesverfassungsgesetz als Regel auch aufgenommen wird. Und das wird dann auch Hans Kelsen, wenn man so sagen will, zur Fußangel, weil er ja auch selbst propagiert hat, dass die Ernennungsrechte nicht mehr dem Parlament alleine zugeordnet werden, sondern auch der Bundesregierung. Er selbst war einer der Verfassungsrichter, die 1919 nicht von einer politischen Partei nominiert, sondern sozusagen als neutrale Richter übernommen worden sind, also ohne parteipolitische Einfärbung. 1929 werden dann die Vorschlagsrechte anders verteilt, nämlich zwischen den Gesetzgebungskörperschaften und der Bundesregierung. Die Bundesregierung soll neutrale Verfassungsrichter nominieren und ist nicht mehr bereit, Kelsen für die Ernennung dem Bundespräsidenten vorzuschlagen. Im Hintergrund steht das Problem, das Du angeschnitten hast, nämlich die Dispensehe, die zu einem gesellschaftspolitischen und innenpolitischen Konflikt zwischen Verfassungsgerichtshof und Regierung und letztlich zur Niederlage des Verfassungsgerichtshofs führt, und damit auch zur Eliminierung von Kelsen als Verfassungsrichter. In dem Zusammenhang habe ich eine kurze Frage: 1929 kommt doch im Zuge der Verfassungsreform auch das inzidente Gesetzesprüfungsrecht der ordentlichen Gerichtsbarkeit ins Spiel. Es wird aber in der Verfassungsdiskussion 1929 völlig in den Hintergrund gespielt. Warum? Sie ist doch gar nicht so unwichtig, diese Kompetenz. Wiederin: Zunächst: Kann man Schutz der Verfassung mit Normenkontrolle identifizieren, gibt es daneben nicht auch noch anderes? Natürlich gibt es anderes, das beibehalten und ausgebaut wird, die Staatsgerichtsbarkeit zum Beispiel. Im Unterschied zu anderen Verfassungssystemen bleibt sie in
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Österreich nicht totes Recht, es kam nach 1920 zu zwei staatsrechtlichen Anklagen, und es ist vielsagend, dass beiden Fällen föderale Konflikte zugrunde lagen. Ich dachte aber, es sei vertretbar, mich auf die Normenprüfung zu konzentrieren: zum einen, weil es das mir aufgegebene Thema verlangt hat und weil hier die Innovationen stattfanden, zum anderen aber auch, weil es – und das hängt gewiss mit der Art und Weise zusammen, in der man in der Monarchie mit Konflikten umging – zu Substitutionsprozessen gekommen ist. Organstreitverfahren sind im B-VG zugunsten von Normprüfungsverfahren verschwunden, und das hat wiederum den österreichischen Drang verstärkt, aus allem eine Norm zu machen, um über deren Rechtmäßigkeit absprechen zu können. Selbst der Gummiknüppel eines Polizisten wird noch als Norm wahrgenommen, weil diese Deutung lange Zeit nötig war, um den Schlag mit ihm vor Gericht bekämpfen zu können. Das liegt wohl auf einer durchgängigen Entwicklungslinie: Politische Konflikte wie der Konflikt zwischen Cis- und Transleithanien, zwischen Zentrale und Ländern oder der Nationalitätenkonflikt wurden beigelegt, indem in Form rechtlicher Ausgleichsinstrumente Sphären und Kompetenzen geschieden wurden; und den rechtlichen Konflikten, die daraus folgten, versuchte man die Spitze zu nehmen, indem man sie ontologisierte und anstatt über die Zulässigkeit des Verhaltens der Konfliktparteien über die Rechtmäßigkeit von Normen absprach. Zum Reichsgericht – das ist ganz klar – gab es institutionell eine große Kontinuität, was die Mitglieder und was die Arbeitsweise anlangt. Sie ging so weit, dass der Verfassungsgerichtshof noch bis Mitte der 1920er Jahre die Drucksorten des Reichsgerichts weiter verwendete, die falsche Gerichtsbezeichnung wurde einfach handschriftlich korrigiert. Das hatte keine ökonomischen Gründe, es ist nur durch das Selbstverständnis des Gerichtshofs erklärbar. So viel aber die Kontinuität erklärt, die Einführung und den Ausbau der Gesetzesprüfung erklärte sie im Grunde nicht. Insoweit, so habe ich den Eindruck gewonnen, gab es auch eine starke aleatorische Komponente. Am Anfang stand der Versuch, die Länder stärker an die Kandare zu nehmen: Der Verfassungsgerichtshof sollte Landesgesetze intensiver prüfen können, nicht bloß vor Kundmachung, sondern auch noch später, auch auf Antrag der Gerichte. In dem Moment, in dem der Bund mit dieser Absicht politisch nicht durchkam, wandte sich das gegen ihn. Und der Versuch, die Gesetzesprüfung der Sache nach als reines Organstreitverfahren zu konzipieren, scheiterte, weil das mit dem Verordnungsprüfungsmodell nicht kompatibel war. Damit zur Frage, weswegen 1929 die Ausdehnung der Antragsbefugnis auf die anderen Höchstgerichte nicht einmal diskutiert worden ist. Meine These wäre, dass das primär als technische Frage galt. Wir haben es wohl mit einem Transfer aus Prag zu tun, und die Person, die das Ganze im Gepäck hatte, können wir benennen, es war gewiss Ludwig Adamovich, der
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Professor in Prag gewesen war, die tschechoslowakische Lösung also sehr gut kannte und bei der Vorbereitung der Novelle als Regierungsberater fungierte. Ähnlich war wohl zuvor die Entscheidung für eine Bezeichnungspflicht betreffend Verfassungsgesetze zustande gekommen. Sie wurde aus der Prager Verfassung abgeschrieben, und zwar erst im September 1920, in letzter Minute. In den Kelsen-Entwürfen steht davon nichts. Waldhoff: Wir fassen wieder zwei Fragen zusammen. Christoph Schönberger und Herr Brauneder. Brauneder: Vielen Dank für das schöne Referat. Einen Punkt will ich nur unterstreichen, nämlich dass die Gesetzesprüfung eine föderalistische Wurzel hat. Das haben Sie ja erwähnt, und es hängt damit zusammen, was ich gestern ganz kurz charakterisiert habe, dass in der Monarchie die Landesgesetze partielle Gesamtstaatsgesetze waren. Und da gab es eine ganz starke Aufsicht des Gesamtstaates, eben durch die Sanktion des Kaisers, auch der Landesgesetze. Und dann kommt die Frage: Wer tritt, grob gesprochen, an die Stelle des Monarchen? Man könnte noch Etliches da thematisieren. Eine Frage betrifft das Eigentumserkenntnis, das Sie erwähnt haben. Ist das jenes, wonach Enteignung auch ohne Entschädigung stattfinden kann? Ich würde bitten, wenn Sie die Frage mit ja oder nein beantworten können, jetzt gleich, denn dann würde ich mit meiner Wortmeldung mit einem Satz noch fortfahren. Wiederin: Grundsätzlich ja, aber es waren mehrere Erkenntnisse, eine ganze Serie: beginnend damit, dass Eigentum weit zu verstehen ist und den Entzug wie auch die Beschränkung jedweden Privatrechts umfasst, über die Ansicht, dass der Begriff des öffentlichen Interesses gar nicht justiziabel ist, bis hin zum Satz, dass es keine Entschädigung geben muss. Brauneder: Ja, also das finde ich als eines der absurdesten Erkenntnisse. Und da zeigt sich, dass Kelsen, ich bin immer sehr skeptisch wegen Kelsen, weil er immer als Säulenheiliger hingestellt wird. Das ist richtig, im Staatsgrundgesetz bei der Eigentumsgarantie ist von der Entschädigung keine Rede. Ich will nur ein Argument dagegen verwenden. Der österreichische Grundrechtskatalog ist in einer zweiten Auflage wiederholt worden, für Bosnien-Herzegowina, und da drinnen ist dann sehr wohl die Verpflichtung zur Entschädigung bei Enteignung enthalten, so dass eigentlich Kelsen hätte denken können: Wieso kann ich in Wien enteignen ohne Entschädigung, in Sarajewo aber muss ich Entschädigung zahlen? Also, im Begriff Enteignung war natürlich gemäß ABGB die Entschädigung mitgedacht. Also dieses Erkenntnis habe ich eigentlich nie verstanden. Als typischen Auswuchs des Rechtspositivismus würde ich das einmal werten. Kein Glanz für Hans Kelsen.
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Wiederin: Beim Enteignungserkenntnis führt es wohl nur bedingt weiter, wenn wir eine Debatte darüber führen, ob es rechtsdogmatisch richtig war. Ich halte es für vertretbar: Im Staatsgrundgesetz 1867 ist von Entschädigung nichts zu lesen, und zwar im Unterschied zum Kremsierer Entwurf und im Unterschied zur oktroyierten Märzverfassung. Von den Mitgliedern des Verfassungsausschusses, die 1867 das Staatsgrundgesetz konzipierten, saßen zuvor, wie Sie gestern völlig zu Recht bemerkt haben, die Hälfte im Kremsierer Reichstag, einige von ihnen auch in der Paulskirche. Verfassungen sprechen nun nicht nur dadurch, dass sie bestimmte Sätze aus den Vorgängerbestimmungen abschreiben, sondern auch dadurch, dass sie manche Passagen weglassen. Das ist aber im Grunde nicht der Punkt. Mein Petitum war, dass wir bei Kelsen als Verfassungsrichter in diesem wie in anderen Erkenntnissen eine durchaus verfassungspolitische Haltung beobachten können, die auf Demokratie setzt. Bei den wirtschaftlichen Grundrechten läuft das grundrechtsdogmatisch gesprochen darauf hinaus, den Schutzbereich dermaßen extrem auszudehnen, dass einigermaßen scharfe Rechtfertigungsanforderungen gar nicht durchhaltbar sind. Wenn alles eine Enteignung ist, wie in den ersten Erkenntnissen behauptet wird, von der Geldstrafe bis zur Steuerforderung, dann ist es überzogen, ja sinnlos, für jede Enteignung eine Entschädigung zu verlangen. Die Absage an die Verhältnismäßigkeitsprüfung sehe ich kritischer, denn, insoweit gebe ich Ihnen völlig Recht, das öffentliche Interesse wird im Staatsgrundgesetz für Enteignungen gefordert. Natürlich ist das justiziabel; es stellt eine verfassungspolitische Entscheidung dar, wenn ein Gericht sagt, das prüfen wir nicht nach, darauf lassen wir uns gar nicht ein. Mir ging es nur darum zu zeigen, dass diese von Kelsen geprägte Judikatur wenig mit hohlem Rechtspositivismus zu tun hat, dass die weitreichenden politischen Implikationen nicht etwa in Kauf genommen sind, sondern für diese Linie bestimmend waren. Kurzum: Hinter der Judikatur steckt ein klares Programm, und dieses Programm hat weit mehr mit Demokratie zu tun, als wir uns das heute eingestehen. Schönberger: Wenn ich eine der zentralen Thesen richtig verstanden habe, dann ist sie eine föderative These. Die These ist: Die Normenkontrolle der Bundesgesetze entsteht in Österreich gewissermaßen als Kompensation für die Durchsetzung des Vorrangs des Bundesrechtes. Dieser Vorrang musste im jungen österreichischen Bundesstaat überhaupt erst neu gedacht werden, weil es in der Zeit der Monarchie, Herr Brauneder hat ja schon darauf hingewiesen, anders gelöst worden war, nämlich durch die Personenidentität und Sanktionsrechte des Monarchen in Kombination mit der Lex-Posterior-Formel. Wenn man das jetzt wieder vergleichend in die Bundesstaatsentwicklung einordnet, dann führt das wieder auf ein allgemeines Problem zurück. Nehmen wir etwa den Fall der Schweiz, die den Vorrang des Bundesrechts früh durchsetzt und gleichzeitig das Bundesrecht schützt gegenüber der Normenkontrolle, um eben die Durchsetzung dieses Bundesrechts gegenüber
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den Kantonen nicht zu gefährden. Das ist aus der Entstehungsgeschichte der entsprechenden Schweizer Norm ganz klar. Man hatte insbesondere die widerstrebenden Sonderbundeskantone, und man hatte auf der Bundesebene natürlich eine liberale Mehrheit, die die aus ihrer Sicht fortschrittlichen Bundesgesetze gegen reaktionäre Kräfte in den Kantonen durchsetzen will und deswegen natürlich eine Normenkontrolle der Bundesgesetze ausschließen möchte. Könnte man das für Österreich nicht ähnlich interpretieren? Im Grunde wollen gerade auch die Sozialdemokraten natürlich weiterhin eine starke Bundesgesetzgebung, die möglichst wenig in Frage gestellt wird. Das können sie aber im Ergebnis nicht durchsetzen und müssen als Kompensation jetzt schlucken, dass die Bundesgesetze auch einer Kontrolle unterworfen werden, aber immerhin einer Kontrolle durch eine Sonderinstitution und in einem besonderen Verfahren. Damit ist die Bedrohung für die Bundesgesetze also zugleich auch wiederum eingehegt und begrenzt. Das hast Du ja auch von den Prozeduren her sehr schön beschrieben. Man eröffnet eine Kontrolle und kanalisiert sie dadurch gleichzeitig auch. Kann man das vielleicht als ein allgemeines föderatives Problem beschreiben? Dieses Problem blenden wir typischerweise aus, weil wir die Normenkontrolle gern so beschreiben, als gehe es immer um einen Grundkonflikt zwischen Gesetzgeber und Verfassung, während dieser Grundkonflikt doch häufig eher institutioneller und föderativer Natur ist. Wir müssen also die Frage der Normenkontrolle insgesamt vom Föderalismus her neu aufrollen. Waldhoff: Nun Herr Grothe bitte. Grothe: Meine Frage passt jetzt nicht in diesen Themenkomplex, aber ich möchte sie trotzdem stellen. Wir stehen jetzt gewissermaßen vor den Trümmern der Schöpfungslegende. Wir wissen, Kelsen ist also nicht der Vater, vielleicht die Mutter des Verfassungsgerichtshofs. Trotzdem wäre für mich die Frage: Die Legende entsteht, sie bildet sich aus, sie existiert bis jetzt eben vor einer dreiviertel Stunde. Wie ist Kelsen denn selbst damit umgegangen, dass diese Legende entstand? Hat er irgendwie darauf reagiert, autobiographisch in irgendwelchen Zeugnissen? Hat er sich darin gesonnt, als Vater angesehen zu werden? War ihm das egal? Hat er es akzeptiert? Wie auch immer. Gibt es irgendetwas, worin man Anknüpfungspunkte sehen könnte? Wiederin: Ich beginne mit der Frage, wie Kelsen denn zu seinem Kind stand. Er hat in der Tat in einem Radiointerview, das – wenn ich mich richtig erinnere – 1958 aufgenommen wurde, meine Schluss-Sequenz war ein Zitat, die Verfassungsgerichtsbarkeit als sein „persönlichstes Werk“ bezeichnet, und er hat hinzugefügt, dass sein Entwurf, und hier sieht man schon, dass Erinnerung und Fakten nicht kompatibel sind, den ganzen Prozess der Verfassungswerdung in der konstituierenden Nationalversammlung ohne Änderungen überstanden habe. Das ist einfach nicht wahr. Diese Bezeichnung als
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„persönlichstes Werk“, in Gesprächen sogar, wie wir von Norbert Leser wissen, als „liebstes Kind“, sie ist sicherlich sehr, sehr berechtigt, wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln. Und sie bringt etwas Biographisches, etwas Existenzielles zum Ausdruck. Es ist doch auffällig, dass Kelsen als überzeugter Demokrat eigentlich allen Grund hätte haben müssen, einer gerichtlichen Gesetzesprüfung skeptisch gegenüber zu stehen, und dass er sich in puncto Verfassungsgerichtsbarkeit weitaus persönlicher engagiert hat als in anderen Fragen. Vielleicht ging es ihm auch darum, sein Kind, nachdem es einmal da war, so zu formen und zu erziehen, dass es in der jungen Demokratie nicht allzu viel Unfug anstellen konnte. Aber das ist gewiss schon ein Stück weit Spekulation. Christoph Schönberger hat völlig Recht, die Wurzel der Gesetzesprüfung ist eine föderative. Die Gesetzesprüfung war Mittel zum föderalen Zweck, sie war nur ein Vehikel, um Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern judiziell anstatt politisch austragen zu können. Diese Präferenz für rechtliche Verfahren lässt sich auch in anderen Bereichen beobachten. Auf eine Bundesexekution hat man in der Verfassung 1920 verzichtet, man hat an ihre Stelle ein recht kompliziertes System von Zuständigkeitsübergängen gesetzt. Die Ablehnung eines Bundesrechtsvorrangs geht darauf zurück, dass in der Monarchie die Landesgesetze den gleichen Rang hatten wie die Reichsgesetze. Obwohl die Kompetenzen von Reich und Ländern geschieden waren wie in einem Bundesstaat, waren Reichs- und Landesgesetz gleich viel wert, das eine wie das andere Gesetz war der Wille des Monarchen. Aufgrund dieser einheitsstaatlichen Vorprägung verwundert es nicht, dass die von den Sozialdemokraten unternommenen Versuche, das Bundesstaatsmodell des Deutschen Kaiserreiches zu implantieren, alle scheitern, weil die Länder zu stark sind und sich das nicht gefallen lassen. Denn die Länder sind teilweise seit dem 13. / 14. Jahrhundert territorial unverändert, sie sind weitaus beharrlichere politische Kräfte, als dies in Deutschland mit seiner Kleinstaaterei der Fall war. Nach dem Scheitern des Plans, einen Bundesrechtsvorrang zu effektuieren, bleibt als Kompromiss übrig, den Vorrang der Verfassung gegenüber beiden, Bund wie Länder, zu verankern. Aus dem Bundesrechtsvorrang, der nicht durchgesetzt werden kann, wird eine Verfassungsgerichtsbarkeit über die Gesetzgebung von Bund und Ländern, deren Zweck primär darin liegt, Kompetenzkonflikte zu schlichten. Noch in den 1930er Jahren meinte ein ehemaliger Verfassungsrichter in einem Aufsatz, dass der Verfassungsgerichtshof auf die Prüfung der Kompetenzkonformität beschränkt sei und dass jede darüber hinausgehende Gesetzeskontrolle die Verfassung verletze. Die Dreikreisetheorie Kelsens ist in meinen Augen der Versuch, dieses neue und andersartige Modell theoretisch abzubilden. Der dritte Kreis, die Gesamtstaatsverfassung, ist dem Bundes- wie dem Landesrechtskreis übergeordnet, aber darunter gibt es strikte Parität von Bund und Ländern.
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Schönberger: Vielleicht eine kurze Nachfrage zur Klärung. Kelsen schreibt ja dann 1928 einen Aufsatz über die Bundesexekution und hat dort ganz stark die Vorstellung, dass es Parität von Bund und Länder gibt. Ich habe das immer als ein originelles Bundesstaatsmodell gelesen. Man kann es aber auch als Eingeständnis der Schwäche verstehen. Die Parität muss gewährleistet werden, weil man den Vorrang ansonsten nicht durchsetzen kann. Die Parität kommt also sozusagen als Ersatzangebot. So würdest Du das auch interpretieren? Wiederin: Ja, das ist so. Waldhoff: Jetzt möchte Herr Brauneder noch kurz replizieren. Brauneder: Zur Stellung der Länder möchte ich nur einen Satz sagen. Man kann vielleicht die Ländergrenzen als kontinuierlich betrachten, aber es wird massiv der riesige Unterschied der Stellung der Länder verkannt, die sie 1918 / 1919 / 1920 kriegen. Bis dahin gelten die Länder als Kommunalverbände höchster Ordnung. Sie sind konstruiert wie eine Gemeinde, überhaupt nicht wie ein Staat. Und diese Staatlichkeit wird nicht nur formal durch die Bundesverfassung gewählt, sondern auch konstruktiv-inhaltlich. Also diese Kontinuität, die Sie angedeutet haben, ist für den Rechtshistoriker absolut nicht nachvollziehbar. Wiederin: Ich habe mit ihr einfach die territoriale Kontinuität gemeint. Wenn Sie auf eine Karte des 15. Jahrhunderts blicken, so erkennen Sie Salzburg sofort, Sie sehen Österreich auf den ersten Blick. Die Länder sind sehr alt, und sie sind, sieht man von Kriegen einmal ab, in ihrem Bestand weitgehend intakt geblieben. Die Aufspaltung des Burgenlandes wurde nach Ende des Zweiten Weltkrieges sofort wieder rückabgewickelt, und das laute Nachdenken Kreiskys als Bundeskanzler, dass es vielleicht sinnvoll sein könnte, Osttirol Kärnten anzugliedern, hatte zur Folge, dass ein Tiroler Landeshauptmann mit dem Aufmarsch der Tiroler Schützen drohte. Neugliederungsdebatten kennen wir in Österreich nicht, das ist ein […]. Brauneder: Entschuldigen Sie, natürlich gab es die auch 1919. Wien als größeres Bundesland auf Kosten von Niederösterreich freilich. Verzeihen Sie, dass ich jetzt so rüde bin. Natürlich gab es diese Debatten, die Debatten am Anfang der Republik. Aber ich meine ja nicht die Geographie, sondern die innere Konsistenz der Länder. Und das soll für einen Juristen ein bisschen wichtiger sein, als das geographische Argument. Waldhoff: Herr Stourzh. Stourzh: Ja, nur ganz kurz zu dem Thema, also Vaterschaft oder Mutterschaft Kelsens. Das Bild mit der Mutterschaft gefällt mir sehr gut und ist tatsächlich, glaube ich, eben zutreffender, als das von der Vaterschaft. Was
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ich aber hinzufügen möchte, ist Folgendes: Dass, es wurde ja schon angedeutet, gerade deshalb Kelsen durch den kompletten Bruch in der Organisation der Verfassungsgerichtsbarkeit, nicht einmal zehn Jahre nach der Gründung des Verfassungsgerichtshofes, durch die Verfassungsreform 1929, auch 1930, sehr getroffen wurde. Per Verfassungsgesetz sind alle Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes von 1921, die auf Lebenszeit gewählt wurden, bestellt worden; überwiegend auch in Fortsetzung der Reichsgerichtstradition, Reichgerichtsmitglieder wurden auf Lebenszeit ernannt vom Kaiser; die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes der 20er Jahre waren es auf Lebenszeit. Und alle diese auf Lebenszeit gewählten Personen wurden per Verfassungsgesetz ihrer Ämter enthoben und eine vollkommene Neuorganisation des Verfassungsgerichtshofes fand statt, Begrenzung mit 70 Jahren, nicht mehr Lebenszeit. Ich wollte noch hinzufügen, dass die Sozialdemokraten Kelsen angeboten haben, ihn auf ihr Kontingent für den Verfassungsgerichtshof, den neuen Verfassungsgerichtshof, vorzuschlagen. Kelsen hat das abgelehnt, weil er, ursprünglich ja eben als neutrales Mitglied in den Verfassungsgerichtshof gekommen, nicht eine Parteiennominierung annehmen wollte. Aber ich glaube, die persönliche Betroffenheit Kelsens durch die Ereignisse 1929 / 30, wobei er ja wusste, dass seine Referententätigkeit und Stellungnahme im Eherechtsfall ihm wirklich den Hass und die Wut der Christlich-Sozialen eingetragen hat, hat da mitgespielt. Da ist es ja bis zu persönlichen Anpöbelungen gekommen. Diese Dinge haben ihn dann doch, soviel ich zu wissen glaube, persönlich sehr mitgenommen. Dankeschön. Waldhoff: Ein Schlusswort, Herr Wiederin. Wiederin: Zum einen danke ich Gerald Stourzh für diese Abrundung und Ergänzung. Zum anderen wollte ich kurz auf die Einwände Wilhelm Brauneders zurückkommen: Ich will überhaupt nicht kleinreden, dass es in der rechtlichen Stellung der Länder im Laufe der Geschichte gravierende juristische Unterschiede gab, ganz im Gegenteil. Für eine Antwort auf die Frage, weshalb es 1920 in Österreich zu einer sehr spezifischen Ausprägung von Bundesstaatlichkeit gekommen ist, denke ich aber doch, dass die damalige faktische politische Machtstellung der Länder die einzig schlüssige Erklärung ist. Dass ihre Bedeutung und ihr Einfluss selbst in der Sondersituation 1918 / 19 relativ beträchtlich waren, das, so meine ich weiters, hängt eben doch mit ihrer historischen Kontinuität zusammen, die es ungeachtet aller rechtlichen Brüche und Umbrüche gibt. Vielen Dank. Waldhoff: Vielen Dank, Herr Wiederin. Wir treffen uns um fünf vor elf zum Vortrag von Herrn Dreier.
Verfassungsgerichtsbarkeit in der Weimarer Republik* Von Horst Dreier, Würzburg** I. Das Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 II. Traditionsbestand: Prüfung von Verordnungen und (Landes-)Gesetzen im Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prüfung von Reichsverordnungen auf Reichsgesetzmäßigkeit . . . . . . . . . . . . 2. Prüfung von Landesgesetzen auf Reichsgesetzmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Überprüfung von Reichsgesetzen auf ihre materielle Verfassungsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Inzidente Normenkontrolle (Art. 13 Abs. 1 WRV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Föderale Hierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorrang des Reichsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Judikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normenhierarchie Gesetz – Verordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Traditionsbruch: Materielles Prüfungs- und Verwerfungsrecht der Gerichte bei förmlichen Reichsgesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
322 322 324 324 327 327 327 328 331 332
IV. Abstrakte Normenkontrolle (Art. 13 Abs. 2 WRV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 1. Gehalt und Bedeutung der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 2. Judikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 V. Akzidentielle Normenkontrolle im Kontext von Länderorganstreitigkeiten, Länderstreitigkeiten und Reich-Länder-Streitigkeiten (Art. 19, 108 WRV) 1. Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich (StGH) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfahrensarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Insbesondere: Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes . . . . . . . . . a) Interpretatorische Reduktion auf Organstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Reichsverfassung als Entscheidungsmaßstab? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen? . . . . . . . . . . . . . . . . .
344 345 345 346 346 349 350 358 361
VI. Entwicklungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 1. Der 34. Deutsche Juristentag in Köln 1926 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 2. Reformgesetzentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 VII. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
* Bei den Recherchen sowie der Sichtung und Aufbereitung des umfangreichen Materials, insbesondere der Judikatur, haben mich die Mitarbeiter(innen) meines Lehrstuhls tatkräftig und einsatzfreudig unterstützt. Allen voran möchte ich meiner Assistentin, Frau Anna-Lena Strelitz, für ihre wertvolle Hilfe danken. Für die Lektü-
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I. Das Thema Das in diesem Beitrag behandelte Thema lautete ursprünglich: „Reichsgericht und Staatsgerichtshof auf dem Weg zur Verfassungsgerichtsbarkeit?“ Diese Fragestellung schien mir allerdings nicht vollkommen sach- und problemneutral formuliert, sondern eher geeignet, eine Art von Fortschrittsgeschichte zu suggerieren. Ihr zufolge gibt es einen institutionellen Zustand namens „Verfassungsgerichtsbarkeit“, den man heutzutage jedenfalls in Deutschland offenbar erfreulicherweise erreicht hat, im hier interessierenden Zeitraum der Weimarer Republik aber offenkundig (noch) nicht. Man war – vielleicht – auf dem Weg, keineswegs aber am Ziel. Weimar erscheint vor diesem Hintergrund wieder einmal als eine Art negative Kontrastfolie, vor der die Errungenschaften des Grundgesetzes nur umso heller und leuchtender strahlen. Eine solche Sichtweise würde schon verkennen, wie problematisch und umstritten die Redeweise sowie die Konzeption von Verfassungsgerichtsbarkeit in Weimar – aber beileibe nicht nur dort – war, wie viele verschiedene Vorstellungen begrifflicher, systematischer und funktionaler Art sich dahinter verbargen und bis zum heutigen Tage verbergen.1 Denn es gibt kein zeitloses Modell von Verfassungsgerichtsbarkeit, das als objektive Richtschnur re des Manuskripts und viele wertvolle Hinweise sage ich Herrn Prof. Dr. Fabian Wittreck, Universität Münster, meinen besonders herzlichen Dank. – Die dieser Abhandlung zugrundeliegende Vortragsversion wurde konzipiert und ausgearbeitet während meines Aufenthaltes als Fellow der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München im Akademischen Jahr 2011 / 12. ** Abgekürzt zitiert (mit Namenskürzel, Band und Seite) wird die mehrbändige Entscheidungssammlung von Lammers-Simons (Hans-Heinrich Lammers / Walter Simons [Hrsg.], Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich und des Reichsgerichts auf Grund Artikel 13 Absatz 2 der Reichsverfassung, Berlin 1929 ff.; Bd. I: 1920 bis 1928, 1929; Bd. II: Entscheidungen aus dem Jahre 1929, 1930; Bd. III: Ergänzungsband mit Abt. C: Entscheidungen des Reichsfinanzhofs auf Grund Art. 13 Abs. 2 RVerf; Abt. D: Entscheidungen der Staatsgerichtshöfe der Länder, umfaßt Entscheidungen aus den Jahren 1920 bis 1930 einschließlich, 1931; Bd. IV: mit Anhang Entscheidungen des Reichsfinanzhofs auf Grund Art. 13 Abs. 2 RVerf u. Entscheidungen der Staatsgerichtshöfe der Länder, Entscheidungen aus der Zeit vom 1. Januar 1930 bis 30. September 1931, im Anhang aus der Zeit vom 1. Januar 1931 bis 30. September 1931, 1932; Bd. V: mit Anhang Entscheidungen des Reichsfinanzhofs auf Grund Art. 13 Abs. 2 RVerf u. Entscheidungen der Staatsgerichtshöfe der Länder, Entscheidungen aus der Zeit vom 1. Oktober 1931 bis 30. September 1932, 1933; Bd. VI: mit Anhang Entscheidungen des Reichsfinanzhofs auf Grund Artikel 13 Absatz 2 der Weimarer RVerf. u. Entscheidungen der Staatsgerichtshöfe der Länder sowie Zusammenstellung der beim Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich anhängig gewesenen Streitsachen, die außerhalb des Verfahrens ihre Erledigung gefunden haben, Entscheidungen aus der Zeit nach dem 1. Oktober 1932, 1939). Beispiel: L-S I, S. 392. 1 Instruktiv Ernst Friesenhahn, Die Staatsgerichtsbarkeit, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, Tübingen 1932, § 98 (S. 523 – 545); vorher bereits die beiden Staatrechtslehrervorträge von Heinrich Triepel und Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL), Bd. 5 (1929), S. 2 ff., 30 ff.
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für die je konkreten Realisierungsformen dienen könnte und an dem sich ablesen ließe, ob man sich erst auf dem Weg zur Verfassungsgerichtsbarkeit befindet oder bereits deren Erreichen vermelden kann.2 Die hochgradig unterschiedlichen Ausgestaltungen, die uns heutzutage in den freiheitlichen Verfassungsstaaten der westlichen Welt in puncto gerichtlicher Kontrolle von staatlichen Hoheitsakten begegnen (von den USA über Frankreich bis hin zu Deutschland, von Schweden über die Schweiz bis hin zu Italien), legen von dieser Spannweite an Möglichkeiten ein beeindruckendes Zeugnis ab.3 Es gibt kein allgemein konsentiertes Bild von Verfassungsgerichtsbarkeit und deswegen keinen fixen Maßstab, es gibt nur die überaus differenten Realisierungsformen selbst, die sich in jeder erdenklichen Hinsicht außerordentlich stark unterscheiden können, was etwa den Kognitionsbereich der Gerichte, insbesondere die Objekte gerichtlicher Überprüfung, vor allem aber auch was Form und Verfahren, mögliche Antragsteller und die gerichtliche Kontrolldichte betrifft.4 Von daher kann es nicht verwundern, daß man dem zeitgenössischen Selbstverständnis der Weimarer Ära zufolge durchaus über eine Staats- oder Verfassungsgerichtsbarkeit (der Unterschied der
2 Vgl. die materialreichen Darstellungen von Ulrich Scheuner, Die Überlieferung der Deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. I, Tübingen 1976, S. 1 ff.; Rudolf Hoke, Verfassungsgerichtsbarkeit in den deutschen Ländern in der Tradition der deutschen Staatsgerichtsbarkeit, in: Christian Starck / Klaus Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Teil I, Baden-Baden 1983, S. 25 ff. – So läßt sich in historischer wie in rechtsvergleichender Perspektive das Erreichen des Stadiums der Verfassungsgerichtsbarkeit ganz unterschiedlich datieren je nach dem, was man als entscheidendes Merkmal betrachtet (Verrechtlichung föderativer Streitigkeiten bzw. allgemeine Beschwerdemöglichkeiten für Untertanen wie im Alten Reich; Zulassung des Organstreits, also die Verrechtlichung der Beziehungen unterschiedlicher Funktionsträger wie im 19. Jahrhundert; schließlich die Kontrolle des förmlichen Gesetzgebers selbst wie in Österreich seit 1920). Illustrativ Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung. Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1982, S. 95 ff. 3 Zur Vertiefung und m. w. N. Alexander v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien. Ein systematischer Verfassungsvergleich, Baden-Baden 1992; Joachim Wieland, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, 2. Aufl., Tübingen 2008, Art. 93 Rn. 26 ff.; Andreas Voßkuhle, in: Hermann v. Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, 6. Aufl., München 2010, Art. 93 Rn. 13 ff.; Christoph Hönnige, Verfassungsgerichte in den EU-Staaten: Wahlverfahren, Kompetenzen und Organisationsprinzipien, in: ZSE 6 (2008), S. 524 ff.; Klaus Schlaich / Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 9. Aufl., München 2012, Rn. 1 ff., insb. 9. 4 Siehe dazu für den speziellen, aber besonders wichtigen Bereich der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Bindung der Legislative an die grundrechtlichen Gewährleistungen die Untersuchung von Friederike V. Lange, Grundrechtsbindung des Gesetzgebers. Eine rechtsvergleichende Studie zu Deutschland, Frankreich und den USA, Tübingen 2010, S. 128 ff., die gravierende Differenzen der drei untersuchten Staaten aufzeigt. – Es würde ja auch seltsam berühren, wenn man unter Hinweis darauf, daß es dort keine Organstreitigkeiten zwischen den obersten Bundesorganen gibt, die Existenz einer Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA verneinen wollte.
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Begrifflichkeit ist für die Sache selbst irrelevant) verfügte,5 für wie vollkommen oder unvollkommen, für wie reform- und erweiterungsbedürftig man sie auch immer halten mochte (dazu unter VI., S. 363 ff.) Ganz in diesem Sinne spricht Richard Thoma in seinem Festschriftenbeitrag für das Reichsgericht in durchaus repräsentativer Weise und ohne ironische Distanzierung vom „Dank der Staatsrechtswissenschaft […] für die Erkenntnisse einer kraftvollen und richtungweisenden Staatsgerichtsbarkeit, die seit nunmehr acht Jahren in immer reicherer Fülle dem Schoße des Reichsgerichtes entspringen.“6
Daher sei im folgenden unter einem neutraleren Titel ganz schlicht und im Sinne eines sehr weiten, für vielfältige Gestaltungsformen offenen Begriffs von Verfassungsgerichtsbarkeit7 danach gefragt, welche Möglichkeiten es in der Weimarer Republik gab, in gerichtlichen Verfahren die Reichsverfassung als Prüfungsmaßstab für die Beurteilung von Rechtsnormen und staatlichen Rechtsakten sei es der Länder, sei es des Reiches mit der Folge zur Anwendung zu bringen, daß entgegenstehende Rechtsakte der Länder oder des Reiches zu weichen hatten. Diese Durchsicht setzt freilich eine sorgfältige Sondierung des relativ heterogenen Normenmaterials sowie eine transparente Sortierung der entsprechenden Kompetenzen voraus. Die Weimarer Reichsverfassung kannte nämlich keine Art. 93 GG vergleichbare Bestimmung, die in wünschenswerter Klarheit und gesetzestechnisch erfreulicher Systematik die wesentlichen verfassungsgerichtlichen Kompetenzen auflistet – übrigens ganz ähnlich, wie rund einhundert Jahre zuvor in Art. 126 der Paulskirchenverfassung geschehen; ebensowenig konzentrierte sie die entsprechenden Befugnisse bei einem einzigen Gerichtshof, einem auch personell stabilen, sicht- und identifizierbaren Spruchkörper. Hingegen war die Verfassungsgerichtsbarkeit in Weimar „vorläufigen und buntscheckigen Charakters“.8 Die Verfassung bot recht verstreute, wenig systematische und 5 Fritz Stier-Somlo, Deutsches Reichs- und Landesstaatsrecht, Bd. I, Berlin / Leipzig 1924, S. 399 ff.; Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 527 ff.; Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl., Berlin 1933 (im folgenden: Anschütz, WRV), Art. 19 Anm. 2 (S. 161). 6 Richard Thoma, Die Staatsgerichtsbarkeit des Deutschen Reiches, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben. Festgabe der juristischen Fakultäten zum 50jährigen Bestehen des Reichsgerichts (1. Oktober 1929) in 6 Bänden, herausgegeben von Otto Schreiber, Bd. I, Berlin / Leipzig 1929, S. 179 ff. (179). Von „kräftigem Wachstum“ der Verfassungsgerichtsbarkeit spricht der seinerzeitige Vorsitzende des StGH, Walter Simons (Zum Geleit, in: L-S I, S. 7 ff. [7]). – Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, Stuttgart u. a. 1981 (ND 1993), S. 542 ff. gibt § 38 seiner Darstellung der Weimarer Reichsverfassung den Titel „Die Verfassungsgerichtsbarkeit“; siehe auch Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S. 209 ff. („Verfassungsgerichtsbarkeit und Staatsgerichtshof“). 7 Etwa in dem funktionellen Sinne, daß man unter Verfassungsgerichtsbarkeit Rechtsprechung am Maßstab der Verfassung versteht – unabhängig davon, in welcher institutionellen Gestalt das geschieht. 8 So die Charakterisierung durch Simons, Zum Geleit (Fn. 6), S. 11. Ähnlich hat Stefan Korioth, Garantie der Verfassung oder Verfassungsrecht aus der Hand der Ju-
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durch Zuständigkeitsdiversifikation noch weiter komplizierte Regelungen, die zwar alle irgendwie mit „Verfassungsschutz“ in einem anspruchsvollen Sinn des Wortes zu tun hatten,9 aber keine klare Konzeption erkennen ließen und schon gar nicht ein einziges, besonders herausgehobenes und kompetentiell mit umfassenden Befugnissen ausgestattetes Gericht – wie das Bundesverfassungsgericht – etablierten. Diese geringere Sichtbarkeit gerichtlicher Institutionen, die mit der Prüfung von Verfassungsverstößen befaßt waren, mag lange nachwirkende Vorstellungen eines in Weimar praktisch nicht oder kaum vorhandenen Kontrollmechanismus zur Durchsetzung der Verfassungsnormen und ihres Schutzes befördert und gefestigt haben. Vielleicht kommt noch hinzu, daß sich die Weimarer Staatsrechtslehre stärker auf theoretisch-konzeptionelle Fragen konzentrierte und den einschlägigen Normen der Weimarer Reichsverfassung sowie der daraus erwachsenen, häufig höchst anschaulichen Judikatur kaum besonderes Augenmerk widmete.10 Sinn und Aufgabe der folgenden Ausführungen soll es im wesentlichen sein, die in der Weimarer Reichsverfassung angelegten und vorgesehenen Möglichkeiten verfassungsgerichtlicher Jurisdiktion sowie die entsprechende Praxis der Gerichte etwas näher zu beleuchten. Auf die knappe Rekapitulation gewisser Traditionsbestände aus der Zeit des Kaiserreichs (dazu II.) folgt eine systematisierende Sichtung der Möglichkeiten, Rechtsakte an der Weimarer Reichsverfassung zu messen und zu verwerfen. Als Ordnungsprinzip dienen die verschiedenen Verfahrensarten, wie sie zumindest teilweise aus dem Grundgesetz geläufig sind: die inzidente Normenkontrolle gemäß Art. 13 Abs. 1 WRV (III.), die abstrakte Normenkontrolle gemäß Art. 13 stiz – Richterliche Normenkontrolle in der Weimarer Republik, in: Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2003, S. 705 ff. (706) die „diffuse, ungefestigte Stellung der Verfassungsrechtsprechung in der ersten deutschen Republik“ betont. 9 Siehe zur Verwendung des Terminus „Verfassungsschutz“ im Sinne eines Schutzes der Verfassungsnormen vor Mißachtung, Verletzung oder Durchbrechung durch staatliche Institutionen: Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 526 f.; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 3. Aufl., Stuttgart u. a. 1988, S. 1056. – Ganz ähnlich die auf Hans Kelsen zurückgehende Rede von den „Garantien der Verfassung“ (das sechste Hauptstück der Österreichischen Bundesverfassung von 1920, das Regelungen zum Verwaltungs- und Verfassungsgerichtshof umfaßt, ist überschrieben: „Garantien der Verfassung und Verwaltung“). 10 So dürfte die Kontroverse zwischen Carl Schmitt und Hans Kelsen über die Frage, wer als Hüter der Verfassung anzusehen sei (Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Berlin 1931; dagegen Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, in: Die Justiz VI [1930 / 31], S. 576 ff.; auch in: ders., Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, herausgegeben von Robert Chr. van Ooyen, Tübingen 2008, S. 58 ff.), bis heute einen sehr viel größeren Bekanntheitsgrad genießen und sehr viel gründlicher studiert worden sein (zusammenfassend Christoph Schönberger, Die Verfassungsgerichtsbarkeit bei Carl Schmitt und Hans Kelsen: Gemeinsamkeiten und Schwachstellen, in: La controverse sur „le gardien de la Constitution“ et la justice constitutionelle. Kelsen contre Schmitt, Paris 2007, S. 177 ff.) als die im folgenden etwas intensiver ausgebreitete Judikatur namentlich des Reichsgerichts und des Staatsgerichtshofes.
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Abs. 2 WRV (IV.) sowie die akzidentielle Normenkontrolle durch den Staatsgerichtshof im Zusammenhang mit den ebenfalls zu erörternden Streitigkeiten gemäß Art. 19 Abs. 1 WRV (V.). Insgesamt wird sich zeigen, daß es in der Weimarer Republik keineswegs eine befremdliche oder ungewöhnliche Vorstellung war, Reichs- oder Landesrecht am Maßstab der Reichsverfassung zu überprüfen und dieser im Falle eines Widerspruchs zum Durchbruch zu verhelfen.
II. Traditionsbestand: Prüfung von Verordnungen und (Landes-)Gesetzen im Kaiserreich Für eine realistische und sachangemessene Einschätzung der in der Weimarer Republik vorhandenen Möglichkeiten, Rechtsakte auf ihre Vereinbarkeit (auch) mit der Reichsverfassung zu kontrollieren, erscheint zunächst eine kurze Rückbesinnung auf die überkommene Rechtslage nützlich. Denn zum ehernen Traditionsbestand richterlicher Prüfungsmöglichkeiten schon aus dem Kaiserreich zählte der Umstand, daß sowohl Rechtsverordnungen (des Reiches wie der Länder) als auch Landesgesetze auf ihre formelle wie materielle Reichsgesetzmäßigkeit hin geprüft werden durften, ja mußten11 (dazu 1., 2.); anderes galt freilich für Reichsgesetze (3.).
1. Prüfung von Reichsverordnungen auf Reichsgesetzmäßigkeit
Die Überordnung der Reichsgesetze gegenüber Reichsverordnungen folgerte man schlicht aus der allgemeinen Normenhierarchie und dem daraus abgeleiteten lex superior-Grundsatz (lex superior derogat legi inferiori: Das höhere Recht hebt das niedere auf). Das Gesetz stand höher als die Rechtsverordnung und ging dieser vor. Und da auch die Verfassung selbst unzweifelhaft ein Gesetz war, konnte diese insofern als Prüfmaßstab für die Gerichte fungieren.12 Das galt nicht allein für Rechtsverordnungen auf Landes-,
11 Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 9), S. 1062: es „bestand ein volles formelles und materielles Prüfungsrecht der Gerichte hinsichtlich der Übereinstimmung der Reichsverordnungen und der Landesgesetze und -verordnungen mit der Reichsverfassung und den Reichsgesetzen. Das ergab sich zwingend aus dem Rangverhältnis der Rechtsquellen. Reichsverordnungen, Landesgesetze und Landesverordnungen waren im Verhältnis zu den Reichsgesetzen unzweifelhaft Normen minderer Geltungskraft“. – Eingehende Schilderung der Judikatur bei Alexandra Maria Hornauer, Das Reichsgericht zur Frage des richterlichen Prüfungsrechts (1919 –1933), Frankfurt a. M. 2009, S. 53 ff. (zu Verordnungen), 56 ff. (zu Landesgesetzen). 12 Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 9), S. 1063: „Die Reichsverfassung wie jedes Reichsgesetz galten als eine unantastbare Schranke für die Verordnungsgewalt, auch die der höchsten Reichsorgane. Dieses strenge Legalitätsprinzip sicherte den Vorrang der Reichsverfassung wie jedes Reichsgesetzes vor der Verordnung. Auch der Kaiser war von dieser Normenkontrolle nicht ausgenommen.“
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sondern auch auf Reichsebene. So untersuchte etwa das Reichsgericht in seinem Urteil vom 28. März 1889 die Verfassungsmäßigkeit einer Bundespräsidialverordnung, die die Befreiung von Verbrauchsteuern für Militärspeiseanstalten betraf, und legte dabei Art. 61 der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 als Prüfungsmaßstab an.13 In einem anderen Urteil vom 5. Juli 1913 wird mit lapidarer Selbstverständlichkeit festgestellt, gegen die Rechtsgültigkeit der streitgegenständlichen Reichsverordnung bestünden keine Bedenken, denn sie halte sich im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung.14 Ebenso knapp konstatiert das Gericht im Kriegsjahr 1918: Die Frage, ob sich der Bundesrat beim Erlaß einer Verordnung im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung gehalten hat, sei „der Prüfung durch die ordentlichen Gerichte nicht grundsätzlich entzogen“.15 Die dahinter stehende Logik war eine ganz einfache, schlichte und richtige: Der Richter war an das Gesetz gebunden, und dieses „ist der Verordnung gegenüber eine Norm höheren Ranges“.16 Ein Prüfungs- und Verwerfungsrecht der Gerichte gegenüber Rechtsverordnungen war also traditionell anerkannt und gewissermaßen selbstverständlich.17 Diese erste Traditionslinie verblieb ganz innerhalb der Rechtsordnung des Reiches und stützte sich auf den Gedanken der Über- und Unterordnung von Gesetz und Verordnung sowie die Bindung des Richters an das höherrangige Gesetz.
13 RGZ 24, 1 (3). Dort heißt es, eine entsprechende Prüfungsbefugnis in bezug auf Rechtsverordnungen des Bundes bzw. Reiches (ganz im Unterschied zu Bundes- bzw. Reichsgesetzen) werde „nahezu einstimmig anerkannt“. Siehe noch RG v. 25. November 1897, RGZ 40, 68 (73 ff.), ebenfalls eine Reichsverordnung betreffend. 14 RGZ 83, 54 (61). 15 RG v. 27. Juli 1918, RGZ 93, 255 (260). Die weiteren Ausführungen betreffen Spezialfragen des konkreten Falles, ohne den Grundsatz in Frage zu stellen. 16 So klar und deutlich Georg Meyer / Gerhard Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl., München / Leipzig 1919, S. 745: „Eben die Gründe, welche das richterliche Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen verneinen ließen, führen dazu, dieses Recht bei Verordnungen zu bejahen, d. h. den Gerichten das Recht und die Pflicht zuzuerkennen, Verordnungen aller Art […] nicht nur auf die formelle Korrektheit ihres Zustandekommens […], sondern auch auf ihre materielle Gesetzmäßigkeit zu untersuchen und ihnen, falls sie der Prüfung nicht standhalten, die Anwendung zu versagen.“– In der Entscheidung des RG v. 15. Dezember 1921, RGSt 56, 177 (181) ist das nicht minder präzise formuliert: „Aus der Unterordnung der richterlichen und verwaltenden Gewalt (Funktion) unter die gesetzgebende und aus der Unabhängigkeit der richterlichen von der verwaltenden Gewalt (Funktion) folgt weiter, daß der Richter berechtigt und verpflichtet ist, die von Organen der Verwaltung erlassenen Rechtsverordnungen vor ihrer Anwendung auf ihre förmliche und sachliche Rechtmäßigkeit zu prüfen.“ (Hervorhebung jeweils i. O., H. D.). Aufgegriffen bei Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 102 Anm. 5 (S. 478). 17 Gertrude Lübbe-Wolff, Der Schutz verfassungsrechtlich verbürgter Individualrechte: Die Rolle des Reichsgerichts, in: Hermann Wellenreuther / Claudia Schnurmann (Hrsg.), Die Amerikanische Verfassung und Deutsch-Amerikanisches Verfassungsdenken, New York / Oxford 1990, S. 411 ff. (417). Siehe nochmals RG v. 28. März 1889, RGZ 24, 1 (3).
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Horst Dreier 2. Prüfung von Landesgesetzen auf Reichsgesetzmäßigkeit
Der zweite Traditionsbestand bezog sich ebenfalls auf eine Relation hierarchischer Über- und Unterordnung, freilich nicht auf die Differenz von Gesetz und Verordnung, sondern auf die föderale Hierarchie. Auch hier war letztlich unbestrittene Praxis schon im Kaiserreich, Landesgesetze (und Landesverordnungen) auf ihre Vereinbarkeit mit Reichsgesetzen zu prüfen und bei einem Verstoß zu verwerfen, also im konkreten Fall außer Anwendung zu lassen.18 Ein instruktives Beispiel bildet die Entscheidung des Reichsgerichts vom 7. November 1885, in der es im Zusammenhang mit dem Problem der Doppelbesteuerung in mehreren deutschen Staaten um das Verhältnis eines Reichsgesetzes von 1870 und eines dem zuwiderlaufenden bremischen Gesetzes von 1874 ging. Das bremische Gesetz wird nicht ausdrücklich verworfen, jedoch der Vorrang des Reichsgesetzes klar betont.19 Der Fall demonstriert im übrigen sehr schön, daß hier nicht die Regel der lex posterior greift, da das Reichsgesetz älter ist als dasjenige des Landes. Es geht also allein um die föderale Hierarchie. Für diese ist der Gedanke der Überordnung des Reiches über die Länder tragend, aus dem der in Art. 2 Satz 1 der Reichsverfassung von 1871 zum Ausdruck gebrachte Vorrang der Reichsgesetze („Innerhalb dieses Bundesgebietes übt das Reich das Recht der Gesetzgebung nach Maßgabe des Inhalts dieser Verfassung und mit der Wirkung aus, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen.“) vor dem Landesrecht folgt. Im maßgeblichen Lehrbuch der Zeit hieß es dazu kurz und knapp: „Die Gerichte haben zu prüfen, ob die Landesgesetze […] mit den Reichsgesetzen […] in Einklang stehen, und im Verneinungsfalle der Norm niederen Ranges die Anwendung zu versagen.“20
3. Keine Überprüfung von Reichsgesetzen auf ihre materielle Verfassungsmäßigkeit
Insgesamt war die Rechtslage im Kaiserreich klar und eindeutig. Jeder Prozeßrichter konnte und mußte in einem konkreten Verfahren Landesgesetze sowie Reichs- und Landesverordnungen am höherrangigen Reichsrecht
18 Meyer / Anschütz, Lehrbuch (Fn. 16), S. 743; Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 9), S. 1063 f. mit Fn. 22 unter Hinweis auf die große Zahl und politische Relevanz entsprechender Entscheidungen; Hornauer, Reichsgericht (Fn. 11), S. 56 ff. 19 RGZ 15, 27 (28 f.): „Das Reichsgesetz […] kommt nicht bloß als ein Mittel zur Auslegung des bremischen Gesetzes, sondern als Rechtsnorm in Betracht, welche die Grenze bestimmt, innerhalb welcher von dem bremischen Staate eine Steuer von dem Einkommen aus Gewerbebetrieb auferlegt werden konnte.“ 20 Meyer / Anschütz, Lehrbuch (Fn. 16), S. 743 m. w. N. – Prinzipiell konnten auch dem Reichsrecht zuwiderlaufende Bestimmungen der Landesverfassungen für nicht anwendbar erklärt werden; siehe Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 9), S. 1063.
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einschließlich der Reichsverfassung überprüfen und im Falle eines Widerspruchs außer Anwendung lassen.21 Das ergab sich aus der Überordnung von Gesetzen im Verhältnis zu Verordnungen sowie aus der Überordnung von Reichsrecht im Verhältnis zum Landesrecht. An diese Tradition knüpfte man in Weimar nahtlos an (dazu III. 1. und III. 2.); in einem Punkte kam es allerdings zum Traditionsbruch (dazu näher III. 3.). Denn ebenso klar und eindeutig war im Kaiserreich gewesen, daß eine Überprüfung von Reichsgesetzen auf ihre materielle Verfassungsmäßigkeit ausgeschlossen war.22 Nach überkommener konstitutioneller Lehre hatten die Gerichte bei Reichsgesetzen allein deren formelle Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, nach der strengsten (also: engsten) Position, die u. a. von Georg Jellinek, Paul Laband und Gerhard Anschütz vertreten wurde, lediglich deren ordnungsgemäße Publikation.23 Weder das ordnungsgemäße Zustandekommen (also z. B. die Einhaltung der Gesetzgebungskompetenzen oder das Vorliegen erforderlicher Mehrheiten)24 noch die materielle Verfassungsmäßigkeit25 oblag dieser Auffassung nach ihrer Prüfung; insofern waren andere Faktoren des politischen Lebens zuständig,26 im Konstitutionalismus letztendlich der die Gesetze ausfertigende und verkündende Monarch.27 Das war im Kaiserreich die ganz 21 Zusammenfassend Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 9), S. 1062 ff.; LübbeWolff, Schutz (Fn. 17), S. 417; Michael Stolleis, Judicial Review, Administrative Review, and Constitutional Review in the Weimar Republic, in: Ratio Juris 16 (2003), S. 266 ff. (269 f.); Christiane Chlosta, Nur dem Gesetz unterworfen? Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung zu Idee und Wirklichkeit richterlicher Gesetzestreue unter besonderer Berücksichtigung der Aufwertungsrechtsprechung und des richterlichen Prüfungsrechts, Frankfurt a. M. 2005, S. 23 ff.; Hornauer, Reichsgericht (Fn. 11), S. 59 f. 22 Siehe außer den Hinweisen in den folgenden Fußnoten nur Paul Laband, Staatsrecht, in: Systematische Rechtswissenschaft (= Die Kultur der Gegenwart, herausgegeben von Paul Hinneberg, Teil II, Abteilung VIII), Berlin / Leipzig 1906, S. 293 ff. (314); w. N. bei Meyer / Anschütz, Lehrbuch (Fn. 16), S. 743 f. – Überblick zum Meinungsspektrum in der Literatur bei Hornauer, Reichsgericht (Fn. 11), S. 27 ff. 23 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 2, 5. Aufl., Tübingen 1911, S. 44 ff.; Georg Jellinek, Gesetz und Verordnung, Freiburg i. Br. 1887, S. 402 ff.; Gerhard Anschütz, Deutsches Staatsrecht, in: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, Bd. IV, 7. Aufl., München u. a. 1914, S. 1 ff. (166); Meyer / Anschütz, Lehrbuch (Fn. 16), S. 736 ff. m. w. N. und Darstellung des Streitstandes um das richterliche Prüfungsrecht. 24 Für ein solches erweitertes formelles (nicht aber für ein materielles) Prüfungsrecht votierten u. a. etwa Bluntschli, v. Gierke, v. Gneist (Nachweise bei Huber, Verfassungsgeschichte III [Fn. 9], S. 1059 f.). 25 Präzise zur Unterscheidung Helge Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, Göttingen 1984, S. 216 ff.; Markus Klemmer, Gesetzesbindung und Richterfreiheit, Baden-Baden 1996, S. 249 mit Fußnote 745 f., 372 ff. 26 Vgl. Meyer / Anschütz, Lehrbuch (Fn. 16), S. 744; zusammenfassend Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 70 Anm. 2 (S. 367 ff.). 27 Anschütz, Deutsches Staatsrecht (Fn. 23), S. 158, 166. (S. 158: „Ausfertigen heißt beurkunden. Was beurkundet werden soll, ist die Legalität des Gesetzgebungsverfahrens und die Echtheit des Gesetzestextes, insbesondere die Übereinstimmung des vom Bundesrate sanktionierten Gesetzesinhalts mit den Beschlüssen des Reichstags. Diese
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überwiegende Position in der Literatur28 und entsprach der Linie der Judikatur, die sich nur selten in grundsätzlicher Weise mit der Frage beschäftigte, den Ausschluß der Prüfung von Reichsgesetzen auf ihre materielle Verfassungsmäßigkeit aber en passant immer wieder einmal erwähnte.29 Sehr deutlich spricht das Reichsgericht diese (materiellrechtliche) Sakrosanktheit der Reichsgesetze für den Richter allerdings in einer Strafsenatsentscheidung30 sowie in einem zwei Jahre vor dem revolutionären Umbruch gefällten zivilrechtlichen Urteil31 noch einmal aus. In keiner einzigen Entscheidung Punkte sind vor der Ausfertigung zu prüfen. […] Die in der kaiserlichen Ausfertigung liegende Bescheinigung der Echtheit und Gültigkeit des Gesetzes kann von keinem, den das Gesetz angeht – Gerichte, Verwaltungsbehörden, Untertanen – einer Überprüfung und Beanstandung unterzogen werden.“ – S. 166: „Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes schaffen […] den gesetzanwendenden Stellen, also auch den Gerichten gegenüber […] eine praesumtio iuris et de iure für die Gültigkeit, insbesondere für die formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes.“) – Zum ganzen erhellend Lübbe-Wolff, Schutz (Fn. 17), S. 414 ff., 430 ff.; kompakte Zusammenfassung auch bei Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 9), S. 1058 ff. 28 Eine Minderheit trat für ein materielles Prüfungsrecht ein: so etwa v. Meier, v. Mohl oder v. Rönne (Nachweise bei Huber, Verfassungsgeschichte III [Fn. 9], S. 1060, nach dessen Beobachtung sich die Zahl der Verfechter dieser Position am Ende des Kaiserreiches wieder erhöhte). 29 Deutlich die allgemein formulierte Ablehnung eines materiellen Prüfungsrechts in RG v. 17. Februar 1883, RGZ 9, 232; der konkrete Fall (eingehend Hornauer, Reichsgericht [Fn. 11], S. 43 ff.) bezog sich allerdings auf eine Landesverfassung, nicht auf das Reich. – Typisch etwa RG v. 6. Oktober 1911, RGZ 77, 229 (231): „Die Frage der Rechtsgültigkeit des § 13 a. a. O. [scil.: des Zolltarifgesetzes des Reiches] kann aber hier unerörtert bleiben; denn sollte diese Vorschrift auch eine Erweiterung der Zuständigkeit des Reichs enthalten, so fehlt es doch, da das Gesetz vom Bundesrat und vom Reichstage beschlossen und ordnungsmäßig verkündet ist, für den Richter an jedem Anlaß, an dem ordnungsmäßigen Zustandekommen auch gemäß Art. 78 der Reichsverfassung zu zweifeln“. Es folgen in Klammern Hinweise auf zwei ältere Entscheidungen (RGZ 43, 420; 48, 88) sowie auf Labands Staatsrecht, in dem die fehlende Kompetenz zur inhaltlichen Überprüfung von Reichsgesetzen klar und deutlich ausgesprochen wird. (Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4. Aufl., Bd. 2, Tübingen 1901, S. 43 mit Fn. 4). Im Urteil des RG v. 26. März 1901, RGZ 48, 84 (88) findet sich dann wieder die charakteristische Formel von dem fehlenden „Anlaß, an dem verfassungsmäßigen Zustandekommen [des Reichsgesetzes, H. D.] auch gemäß Art. 78 der Reichsverfassung“ zu zweifeln, da es „vom Bundesrate und dem Reichstage beschlossen und ordnungsgemäß publiziert“ worden sei (zu dieser Entscheidung Hornauer, Reichsgericht [Fn. 11], S. 49 ff.). 30 I. Strafsenat des RG. v. 29. Juni 1908, abgedruckt in: Goltdammer’s Archiv 55 (1908), S. 325 f. Der Leitsatz dieser Entscheidung lautet: „Gegenüber ordnungsmäßig ausgefertigten und verkündeten Gesetzen gibt es kein richterliches Prüfungsrecht hinsichtlich des verfassungsmäßigen Zustandekommens des Gesetzes.“ An anderer Stelle führt der Senat tiefergehend aus: „Mit dem Rechte der Ausfertigung und Verkündung der Reichsgesetze, das nach Art. 17 der Reichsverfassung dem Kaiser zusteht, ist für ihn und an seiner Stelle für den Reichskanzler notwendig auch das Recht und die Pflicht verbunden, zu prüfen, ob die verfassungsmäßigen Voraussetzungen für jene Maßnahmen gegeben sind. Wird durch die Ausfertigung und Verkündung eines Reichgesetzes das Vorhandensein der Voraussetzungen bejaht, so muß gegenüber diesem Ergebnisse der verfassungsmäßig allein möglichen Prüfung jede Nachprüfung und insbesondere auch eine solche durch den Richter ausgeschlossen sein […].“ 31 RG v. 11. Januar 1916, JW 1916, S. 596 (597). Die Verfassungswidrigkeit der entscheidungserheblichen Reichsgesetze ließ das Gericht mit den Worten dahingestellt:
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des Reichsgerichts aus der Zeit des Kaiserreichs wurde ein Reichsgesetz auf seine materielle Verfassungsmäßigkeit untersucht und verworfen.32 Soviel zum Traditionsbestand. Wenden wir uns jetzt der Rechtslage in der Weimarer Republik zu. III. Inzidente Normenkontrolle (Art. 13 Abs. 1 WRV) 1. Föderale Hierarchie
a) Vorrang des Reichsrechts: Der Traditionsaspekt kommt am deutlichsten in der föderalen Hierarchie des Art. 13 Abs. 1 WRV zum Ausdruck: „Reichsrecht bricht Landrecht.“ Damit war die aus dem Kaiserreich geläufige klare Überordnung des Reichsrechts jedweden Ranges (Verfassung, Gesetz, Verordnung) über das Recht eines Landes jedweden Ranges (Verfassung, Gesetz, Verordnung) bestätigt und aufs Neue etabliert.33 Der „Vorrang der Reichsgesetze vor den Landesgesetzen“ folgt, wie Anschütz in seinem Standardwerk zur Weimarer Reichsverfassung schreibt, schlicht „aus der Souveränität des Reichs gegenüber den Ländern“.34 Erläuternd fügt er hinzu: „Die Normen des Reichsrechts sind, verglichen mit denen des Landesrechts, Normen höheren Ranges […], deshalb bricht Reichsrecht Landesrecht. […] ‚Reichsrecht bricht Landrecht‘ ist nicht gleichbedeutend mit dem Satze lex posterior derogat priori. […] Das Reichsgesetz geht dem Landesgesetz nicht nur vor, wenn es das spätere, sondern auch, wenn es das frühere, weil es das Reichsgesetz ist. […] das Reichsgesetz ist […] dem Landesgesetz nicht gleichwertig, sondern überlegen: es ist ihm gegenüber der höhere, rechtlich stärkere Wille.“35
Ob ein solcher Konflikt zwischen Reichsrecht und Landesrecht vorlag, war Sache der Auslegung durch die Gerichte. Dabei folgerte die reichsgerichtliche Judikatur aus Art. 13 WRV nicht nur eine Prüfungspflicht gegenüber den Landesgesetzen, sondern sah auch die einzelne Prozeßpartei – ungeachtet eines etwaigen Verfahrens nach Art. 13 Abs. 2 WRV – für befugt an, die Ungültigkeit einer landesrechtlichen Norm geltend zu machen.36 Aller„denn selbst wenn das der Fall sein sollte, würde doch die Verbindlichkeit beider Gesetze anerkannt werden müssen“. 32 Hornauer, Reichsgericht (Fn. 11), S. 45 ff. zeigt klar, daß es immer nur um ein (mehr oder minder weites) formelles Prüfungsrecht ging. 33 Stier-Somlo, Reichs- und Landesstaatsrecht (Fn. 5), S. 379 zu Art. 13 Abs. 1 WRV: „Dieser Grundsatz bildet eine notwendige Voraussetzung für das Bestehen einer über den Einzelstaaten stehenden Gesamtstaatsgewalt.“ 34 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 13 Anm. 1 (S. 101); dort auch das folgende Zitat. 35 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 13 Anm. 2 (S. 102 f.). 36 Beispiele: RG v. 18. November 1921, RGZ 103, 200 – Lippisches Gesetz über Ansprüche von Seitenlinien des ehemaligen Fürstenhauses (Art. 153 WRV); RG v. 14. März 1922, RGZ 104, 58 – Preußisches Altersgrenzengesetz (Art. 129 Abs. 1 Satz 3 WRV); RG v. 17. Oktober 1923, RGZ 107, 261 – Sächsisches Grundstücksverkehrsgesetz (Art. 153 Abs. 2 WRV); RG v. 13. Dezember 1924, RGZ 109, 310 – Anhaltinisches Berggesetz (Art. 153 WRV).
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dings konnte die Streitfrage nicht in prinzipaler Weise, sondern nur inzidenter (also im Rahmen eines konkreten Rechtsstreites ohne Wirkung intra omnes) entschieden werden.37 Es handelte sich insofern um eine indirekte oder inzidente Rechtskontrolle der Landesgesetzgebung: „Die den Gerichten unbestrittenermaßen […] zustehende Kompetenz, die Normen des Landesrechts auf ihre Reichsgesetzmäßigkeit zu prüfen, berechtigte sie nur dazu, der für reichsgesetzwidrig erachteten Norm die Anwendung zu versagen, nicht dazu, sie aufzuheben.“38
Diese Begrenzung ist allen Formen der „diffusen“ Normenkontrolle39 eigen – in der Bundesrepublik Deutschland etwa bei der Prüfung von Verordnungen oder vorkonstitutionellen Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit.40 b) Judikatur: aa) Für die insofern gewiß beschränkte, aber dennoch alles andere als wirkungslose Normenkontrolle des Landesrechts auch und gerade anhand der Verfassung bietet die reichsgerichtliche Judikatur zahlreiche Beispiele. Der allgemeine Grundsatz der Überprüfbarkeit, wie er in der Wissenschaft praktisch unangefochten galt, findet etwa im Urteil des Reichsgerichts vom 18. November 192141 eine gerade wegen ihrer beiläufigen Selbstverständlichkeit eindrucksvolle Formulierung. Das Berufungsurteil hatte – in Anknüpfung an jene Selbstverständlichkeit – bestimmten landesgesetzlichen Normen unter Hinweis auf Art. 153 WRV (Enteignung) die Rechtsgültigkeit abgesprochen, die Revision daraufhin aber geltend gemacht, daß „die gemäß Art. 102 RVerf. dem Gesetz unterworfenen Richter nicht befugt seien, aus den Gründen des Berufungsurteils einem Gesetze die Rechtmäßigkeit zu versagen.“ Die Revision stellte also die Zulässigkeit der Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der Gerichte (gleich welcher Instanz) in bezug auf die Vereinbarkeit von Landesrecht mit Reichsrecht in Frage. Daraufhin trocken und kurz das Reichsgericht:
37 Zur Differenz von institutioneller und inzidenter Normenkontrolle Schmitt, Hüter (Fn. 10), S. 12 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 9), S. 1057 ff.; ders., Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 560, 564 ff.; Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht (Fn. 3), Rn. 111. 38 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 13 Anm. 4 (S. 105). Das Imperfekt des Zitats erklärt sich daraus, daß Anschütz sich hier zunächst auf die alte Rechtslage bezieht, die Art. 13 Abs. 1 WRV unverändert widergibt, um dann auf den innovativen Charakter von Art. 13 Abs. 2 WRV hinzuweisen (dazu unten unter IV. 1.). Das fehlende Recht zur prinzipalen Verwerfung und die Beschränkung auf die inzidente Prüfung waren wiederum ganz h. M.: siehe etwa Stier-Somlo, Reichs- und Landesstaatsrecht (Fn. 5), S. 379 ff. 39 Terminus: Schmitt, Hüter (Fn. 10), S. 18 mit Fn. 3; Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 560. 40 Dazu Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht (Fn. 3), Rn. 141; Christian Hillgruber / Christoph Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl., Heidelberg u. a. 2011, Rn. 584a, 589 ff. 41 RGZ 103, 200.
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„Die Auffassung ist jedoch unzutreffend. Der Prozeßrichter hat das einschlägige geltende Gesetz anzuwenden. Findet er, daß landesrechtliche Vorschriften, deren Anwendbarkeit in Frage kommt, mit reichsrechtlichen Vorschriften im Widerspruch stehen, so hat er gemäß Art. 13 Abs. 1 und 102 RVerf. das Recht und auch die Pflicht, das betreffende Landesgesetz für nicht geltend zu erklären und außer Anwendung zu lassen.“42
Beim entgegenstehenden Reichsrecht handelte es sich in diesem besonders instruktiven Fall um eine Norm der Weimarer Reichsverfassung selbst, nämlich um Art. 153 WRV (Eigentumsgarantie und Enteignung). Das Eigentumsrecht bzw. die Möglichkeit der Enteignung gemäß Art. 153 Abs. 2 WRV stand sodann im Mittelpunkt einer das gesetzliche Vorkaufsrecht gemäß sächsischem Recht betreffenden Entscheidung des RG aus dem Jahre 1923, wenngleich das Gericht hier eine Verletzung im Unterschied zum vorangegangene Urteil letztlich verneint.43 Nicht anders als unter dem Grundgesetz auch ist das Eigentumsrecht von besonderer verfassungsrechtlicher und verfassungsprozessualer Bedeutung, was das wiederum ein Jahr später ergangene Urteil des Reichsgerichts zur anhaltinischen Berggesetzgebung dokumentiert, in dem ein Verstoß gegen Art. 153 Abs. 2 WRV angenommen und die Ungültigkeit der entsprechenden landesgesetzlichen Normen konstatiert wird.44 Anschaulich gestaltet sich ferner ein Urteil des Reichsgerichts zum preußischen Fluchtliniengesetz, dessen § 13 vom Gericht als Enteignung angesehen wird, ohne daß eine adäquate Entschädigung gemäß Art. 153 Abs. 2 WRV vorgesehen wäre. Die wiederum mit augenfälliger Selbstverständlichkeit formulierte zentrale Passage lautet: „Nach Art. 153 Abs. 2 Satz 2 RVerf. erfolgt eine Enteignung gegen angemessene Entschädigung, soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt. Es fragt sich, ob § 13 Abs. 1 FlLG […] mit dieser Verfassungsvorschrift vereinbar ist. Ihre Anwendung kann nicht schon deshalb abgelehnt werden, weil das Fluchtliniengesetz bei Erlaß der Reichsverfassung bereits in Geltung stand. […] Der Art. 153 Abs. 2 RVerf. enthält unmittelbar anwendbares Recht und greift daher auch älteren Landesgesetzen gegenüber Platz.“45
Und zur eigenen Prüfungs- und Verwerfungskompetenz heißt es wenig später: „Art. 153 Abs. 2 Satz 2 RVerf. fordert die Gewährung einer angemessenen Enteignungsentschädigung. Die nähere Regelung der Angemessenheit liegt auf den der Landesgesetzgebung überlassenen Gebieten dieser ob. Ein gewisser Spielraum 42 RGZ 103, 200 (201). Unter Bezugnahme auf diese Stelle praktisch gleichlautend RG v. 17. Oktober 1923, RGZ 107, 261 (263). 43 RG v. 17. Oktober 1923, RGZ 107, 261 (264, 270). 44 RG v. 13. Dezember 1924, RGZ 109, 310 (323): „das Anhaltinische Gesetz vom 27. März 1920 verstößt […] gegen Art. 153 Abs. 2 RVerf. und ist danach […] für ungültig zu erachten […] Landesgesetze, die gegen die zwingenden Vorschriften der Reichsverfassung in Art. 153 Abs. 2 verstoßen, sind ungültig, entbehren der Rechtsverbindlichkeit“. 45 RG v. 28. Februar 1930, RGZ 128, 18 (30).
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freien Ermessens muß ihr hierbei eingeräumt werden. Der Richter darf der landesrechtlichen Regelung nur dann die Gültigkeit versagen, wenn die Grenze solchen Ermessens offensichtlich überschritten ist.“46
Die nähere Prüfung der einschlägigen landesgesetzlichen Normen führt sodann zu dem Ergebnis: „Dieser Rechtszustand entspricht nicht der Reichsverfassung. […] § 13 FlLG verstößt […] deshalb gegen die Reichsverfassung […] Im Umfang dieses Verstoßes ist die Vorschrift ungültig seit Inkrafttreten der Reichsverfassung, die für jede Enteignung die Gewährung einer angemessenen Entschädigung vorschreibt.“47
Es lassen sich weitere Entscheidungen anführen, auf die hier ohne nähere Schilderung verwiesen sei.48 bb) Zu einer ähnlichen Häufung von Fällen kommt es bei Klagen gegen die Verletzung der wohlerworbenen Rechte der Beamten gemäß Art. 129 Abs. 1 Satz 3 WRV. Ein im Jahre 1922 ergangenes Urteil, in dem es um die Fixierung von Altersgrenzen für Senatspräsidenten des Preußischen Oberverwaltungsgerichtes ging, hält mit vertrauter Selbstverständlichkeit die Befugnis des Prozeßrichters zur Prüfung der Vereinbarkeit von Landesrecht mit höherrangigem Reichsrecht fest. „Zur Entscheidung steht demnach die Frage, ob das AGrG. [Altersgrenzengesetz, H. D.], soweit es eine Altersgrenze für die zur Zeit seines Inkrafttretens bereits angestellten Beamten bestimmt, deshalb der Wirksamkeit entbehrt, weil es insoweit mit der Vorschrift des Art. 129 Abs. 1 Satz 3 RVerf. in Widerspruch steht. Daß der Prozeßrichter zur Prüfung einer solchen Frage berechtigt und verpflichtet ist, kann nach Art. 13 RVerf. (vgl. auch Art. 61 Abs. 1 Satz 3 der preuß. Verf. vom 30. November 1920) keinem Zweifel unterliegen.“49
Eine Verletzung der wohlerworbenen Rechte wurde im konkreten Fall allerdings verneint. Breiten Raum nahmen Fragen der Interpretation der wohlerworbenen Rechte der Beamten desgleichen in einem reichsgerichtlichen Urteil aus dem Jahre 1931 ein. Auch wenn es aus bestimmten Gründen letztlich zur Klageabweisung kommt, wird die Frage der Vereinbarkeit des in Rede stehenden Oldenburgischen Beamtendiensteinkommensgesetzes mit der Reichsverfassung eingehend behandelt.50 Das Gericht bekräftigt, daß Art. 129 Abs. 1 RGZ 128, 18 (32). RGZ 128, 18 (33 f.). 48 RG v. 3. November 1925, RGZ 112, 50 (Enteignung eines Rittergutes) behandelt die Frage der Vereinbarkeit eines preußischen Ausführungsgesetzes zum Reichssiedlungsgesetz mit Art. 153 Abs. 2 WRV vor dem Hintergrund der Geldentwertung, verneint aber einen Widerspruch mit der Reichsverfassung. – Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 153 Abs. 2 WRV mit der Folge der Rechtsungültigkeit der landesgesetzlichen Norm hingegen in RG v. 4. November 1925, RGZ 112, 67 (Thüringisches Gesetz über den Grundstücksverkehr). 49 RG v. 14. März 1922, RGZ 104, 58 (59). 50 RG v. 10. Juli 1931, RGZ 134, 1 (7 ff.). 46 47
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Satz 3 WRV „nicht bloß eine Richtschnur, sondern unmittelbar geltendes Recht enthält“, was allgemein anerkannt werde; es folgt dem Berufungsrichter darin, daß die einschlägige landesgesetzliche Vorschrift in gewissem Umfang „mit der Reichsverfassung nicht mehr vereinbar ist“ und prüft dann nur noch die weitere „Frage, ob damit auf Grund des Art. 13 RVerf. die ganze Vorschrift nichtig ist“.51
2. Normenhierarchie Gesetz – Verordnung
Die soeben unter III. 1. (S. 327 ff.) genannten Fälle betrafen durchweg Landesgesetze. Es blieb aber in der Weimarer Republik ebenso unverändert dabei, daß auch Landesverordnungen sowie Reichsverordnungen anhand von Reichsgesetzen einschließlich der Reichsverfassung auf ihre Vereinbarkeit untersucht und gegebenenfalls verworfen, d. h.: außer Anwendung gelassen wurden. Denn auch diese Normenhierarchie eröffnete, wie schon im Kaiserreich, dem Prozeßrichter die Möglichkeit, genauer: gab ihm das Recht und die Pflicht, Verordnungen am Maßstab des höherrangigen Gesetzesrechts zu prüfen. So stellte das Reichsgericht in einer Entscheidung vom 28. April 1921 die Verfassungswidrigkeit von Verordnungen der Freien Hansestadt Bremen zur Bekämpfung des Wohnungsmangels wegen Verstoßes gegen Art. 153 Abs. 2 WRV fest.52 Den gleichen Mangel konstatierte das Gericht in seinem Urteil vom 3. März 193153: Hier verstieß eine Verordnung des Landes Mecklenburg-Schwerin über die Enteignung von Grundeigentum ebenfalls gegen die Entschädigungsgarantie des Art. 153 Abs. 2 WRV. Nicht minder reichhaltig ist der Fundus bei Verordnungen des Reiches. Auch deren Rechtsgültigkeit wurde regelmäßig anhand von Reichsgesetzen geprüft, wenngleich im Ergebnis des öfteren bejaht. So etwa geschehen im Urteil v. 1. März 1924 zur Prüfung der Rechtsgültigkeit einer Hypothekenaufwertung durch eine Steuernotverordnung; hier war ausdrücklich eine Verletzung von Normen der Reichsverfassung geltend gemacht (u. a. Art. 153, 105, 134 WRV), eine solche vom Gericht indes letztlich verneint worden.54 Gleiches trifft auf das Urteil des Reichsgerichts v. 8. Dezember 1923 zu, in dem es um eine Reichsverordnung ging, die die Vergütung für an Abdeckereien zu liefernde Tiere regelte.55 Einen Verfassungsverstoß stellte der III. Zivilsenat des Reichsgerichts aber in seinem Beschluß vom 25. Januar 1924 bei der Prüfung der RechtsgülZitate: RGZ 134, 1 (10, 15). RGZ 102, 161 (165). 53 RGZ 132, 69 (75 f.). 54 RGZ 107, 370 (373 ff.). 55 RGZ 107, 377 (379). – Siehe noch RG v. 1. Juli 1924, RGZ 109, 117 (122): Gültigkeit einer Reichsverordnung zur Ergänzung des Besoldungsgesetzes. 51 52
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tigkeit einer Verordnung über die Erweiterung eines Abgeltungsverfahrens für bestimmte Ansprüche dem Reich gegenüber insofern fest, als in der fraglichen Verordnung Entscheidungen des Finanzministers der gerichtlichen Überprüfung entzogen worden waren, worin der Senat eine Verletzung von Art. 103, 105 Satz 2 WRV erblickte.56 Auf weitere Entscheidungen sei wiederum pauschal verwiesen.57 3. Traditionsbruch: Materielles Prüfungs- und Verwerfungsrecht der Gerichte bei förmlichen Reichsgesetzen
Während es im Kaiserreich ausnahmslose Spruchpraxis der Gerichte gewesen war, förmliche Reichsgesetze von der richterlichen Prüfung auszunehmen, und dies von der ganz überwiegenden Meinung in der Wissenschaft als zwingend geboten angesehen wurde, so diversifizierte sich das Meinungsspektrum in der Weimarer Republik. Von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende blieb das richterliche Prüfungsrecht58 gegenüber Reichsgesetzen in der Wissenschaft umstritten. Die Diskussion wogte hier hin und her und ergab kein geschlossenes und in sich stimmiges Bild.59 Die Furcht vor einem allmächtigen demokratischen Gesetzgeber schien bei nicht wenigen Stellungnahmen aus der Wissenschaft nur allzu sichtbar durch, die nun – in Abwehr eines vermeintlichen „Parlamentsabsolutismus“60 – das allgemeine Prü56 RGZ 107, 315 (319). Die Entscheidung ist durch Beschluß der Vereinigten Zivilsenate des RG abgeändert und die fragliche Norm für rechtsgültig erklärt worden (RG v. 22. Februar 1924, RGZ 107, 320 [325 f.]). Vgl. dazu Hornauer, Reichsgericht (Fn. 11), S. 81 ff., 178 ff. 57 RG v. 29. Januar 1926, RGZ 113, 6 (8 ff.) – Rechtsgültigkeit einer Durchführungsverordnung zur Verordnung über Goldbilanzen. RG v. 9. Juli 1926, RGZ 114, 262 (263) – Rechtsgültigkeit einer Kartellverordnung. 58 Gemeint ist mit dieser Wendung hier und im folgenden stets: Prüfungs- und Verwerfungsrecht der Gerichte jedweder Instanz in dem Sinne, daß die Norm bei der konkreten Entscheidung außer Anwendung gelassen wird. Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 70 Anm. 5 (S. 372) spricht plastisch von einem richterlichen Prüfungsrecht im „eminenten Sinne“, welches er definiert als „das Recht jedes Richters, jedes, auch jedes vorschriftsmäßig verkündete Reichsgesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen und ihm im Falle des Nichtbestehens der Prüfung die Anwendung zu versagen“. 59 Eingehende Darstellung, auf die hier verzichtet werden muß, bei Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 560 ff.; Wendenburg, Debatte (Fn. 25), S. 43 ff.; Christoph Gusy, Richterliches Prüfungsrecht, 1985, S. 74 ff.; Lübbe-Wolff, Schutz (Fn. 17), S. 418 ff.; Klemmer, Gesetzesbindung (Fn. 25), S. 248 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, München 1999, S. 117 f.; Hornauer, Reichsgericht (Fn. 11), S. 35 ff. – Zeitgenössisch Richard Thoma, Das richterliche Prüfungsrecht (1922), in: ders., Rechtsstaat – Demokratie – Grundrechte. Ausgewählte Abhandlungen aus fünf Jahrzehnten, herausgegeben und eingeleitet von Horst Dreier, Tübingen 2008, S. 76 ff.; Otto Koellreutter, Art. Richterliches Prüfungsrecht, in: Fritz Stier-Somlo / Alexander Elster (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Bd. 5, Berlin u. a. 1928, S. 146 ff.; Max Sonderland, Das richterliche Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen und Verordnungen nach Reichs- und preußischem Staatsrecht, Diss. jur. Köln 1932, S. 27 ff.; Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 70 Anm. 2 ff. (S. 367 ff.), Art. 102 Anm. 3 (S. 475 ff.).
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fungsrecht des Richters auch gegenüber förmlichen Reichsgesetzen für zulässig, wenn nicht für geboten hielten.61 Hierbei handelte es sich zwar nicht ausschließlich, doch überwiegend um eher konservative, demokratie- und republikskeptische Stimmen; eine allein an politischen Präferenzen orientierte Lagerbildung ließ sich nicht ausmachen. Freilich hielten die nicht allzu zahlreichen, in der Debatte aber durchaus gewichtigen Vertreter einer demokratie- und republikfreundlichen Grundhaltung überwiegend an der überkommenen Auffassung auch und gerade unter den gewandelten politischen Verhältnissen fest. Für diese Gruppe können die Namen Richard Thoma und Gerhard Anschütz als repräsentativ gelten.62 Ihre Haltung beruhte nun keineswegs auf einer Abwertung und Geringschätzung der Verfassung, sondern auf der Opposition gegen eine „verfassungswidrige Erhöhung des Richters über den Gesetzgeber“63 und der daraus resultierenden Hochschätzung der Idee demokratischer Staatsorganisation, die in diesem Fall wohl auch verbunden war mit bekanntlich nicht unbegründeten Zweifeln am liberaldemokratischen Geist der Weimarer Richterschaft.64 60 Siehe nur Ernst v. Hippel, Das richterliche Prüfungsrecht, in: Anschütz / Thoma, Handbuch, Bd. II (Fn. 1), S. 546 ff. (556). 61 Man kann ironischerweise sagen: als die förmlichen Reichsgesetze noch im (besonders ausgestalteten) konstitutionellen System des Kaiserreiches von Reichstag und Bundesrat beschlossen sowie vom Kaiser publiziert wurden, hielten die Gerichte eine Überprüfung nicht für nötig. Erst als die Gesetzgebung umfassend demokratisiert und der Kaiser als Publikationsorgan weggefallen war, änderte sich dies. Pointiert Friedrich Karl Kübler, Der deutsche Richter und das demokratische Gesetz, in: AcP 162 (1963), S. 104 ff. (106: „[D]er deutsche Richter war […] um so gesetzestreuer, je autoritärer der deutsche Staat verfaßt war; in dem Maße, in dem das Gemeinwesen sich demokratisierte, wurde dem Richter die Verbindlichkeit des Gesetzes problematisch.“) Und hinzuzufügen ist, daß auch nach 1933 die Richter in puncto Prüfungsrecht wieder „äußerste Zurückhaltung“ (Hornauer, Reichsgericht [Fn. 11], S. 245 f.; siehe auch Chlosta, Gesetz [Fn. 21], S. 185 f.) übten. Knapp BVerfGE 1, 184 (194): „Zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wurde das Recht des Richters zur Prüfung von Gesetzen und Verordnungen als unvereinbar mit der autoritären Staatsauffassung im allgemeinen verneint.“ Zeitgenössisch in diesem Sinne Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg 1933, S. 21. Näher zur vergleichsweise intensiven NS-Debatte um das richterliche Prüfungsrecht Fabian Wittreck, Nationalsozialistische Rechtslehre und Naturrecht. Affinität und Aversion, Tübingen 2008, S. 49 f. 62 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 102 Anm. 3 (S. 475 f.); zu seiner Position näher Horst Dreier, Ein Staatsrechtslehrer in Zeiten des Umbruchs: Gerhard Anschütz (1867 – 1948), in: ZNR 20 (1998), S. 28 ff. (40 ff.). Thoma, Prüfungsrecht (Fn. 59), S. 82 ff., 89 f.; zu seiner Position näher Horst Dreier, ‚Unbeirrt von allen Ideologien und Legenden‘ – Notizen zu Leben und Werk von Richard Thoma, in: Thoma, Rechtsstaat (Fn. 59), S. XIII ff. (LIV ff.). 63 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 102 Anm. 4 (S. 477 f.). Deutlich auch Richard Thoma, Die Funktionen der Staatsgewalt. Grundbegriffe und Grundsätze (1932), in: ders., Rechtsstaat (Fn. 59), S. 301 ff. (348): „Mißtrauen gegen die demokratisch gewählten Parlamente“, „staatsverneinendes Element“. Im gleichen Sinne Bernd J. Hartmann, Das richterliche Prüfungsrecht unter der Weimarer Reichsverfassung, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, Bd. 8, Berlin 2006 / 2007, S. 154 ff. (168 f.). 64 Vgl. dazu Kübler, Richter (Fn. 61), S. 112 ff.; Dieter Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, Darmstadt 1975, S. 48 ff., 59 ff.; Hans Hattenhauer, Zur Lage der Justiz
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Umgekehrt entsprangen die Forderungen nach einem richterlichen Prüfungsrecht nicht selten einem tiefen Mißtrauen gegenüber den Mechanismen parlamentarischer Demokratie, was man zum Teil recht unverblümt aussprach.65 Insgesamt ging es letztlich weniger um Fragen streng juristischer Logik66 als um den Primat bestimmter Staatsorgane: Vertrauen in den parlamentarischen Prozeß oder Richterkönigtum, wenn man die unterschiedlichen Positionen einmal schlagwortartig kennzeichnen will. Angesichts von Herkunft und Gesinnung der durchweg hochkonservativen und monarchistisch eingestellten Richterschaft war die Gefahr der Desavouierung des parlamentarischen Gesetzgebers gewiß nicht von der Hand zu weisen. Man denke nur an das berühmte Wort Ernst Fraenkels, wonach es sich bei den Richtern in Weimar ganz überwiegend um „Monarchisten aus innerer Notwendigkeit“ gehandelt habe,67 oder an die von Hans Kelsen auf der Münsteraner Staatsrechtslehrertagung von 1926 in der Diskussion hervorgehobenen sozialen Implikationen des Prüfungsrechts und seinen deutlichen Hinweis darauf, daß die Richterschaft in Weimar noch stark von antirepublikanischem Geist geprägt war.68 Wie verhielt sich nun das Reichsgericht selbst? Es gab mit seiner „rebellische(n) Erklärung“69 vom 8. Januar 1924, verfaßt vom Richterverein des
in der Weimarer Republik, in: Karl Dietrich Erdmann / Hagen Schulze (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie (1980), Düsseldorf 1984, S. 169 ff.; zur „Obstruktion der staatstragenden Eliten“ Detlef J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 218 ff. 65 Besonders offen formulierte der hochangesehene Heinrich Triepel, erster Vorsitzender der 1922 gegründeten „Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer“, das richterliche Prüfungsrecht (auch gegenüber förmlichen Reichsgesetzen) sei „in der parlamentarischen Republik, wenn nicht der einzige, so doch der wichtigste Schutz der bürgerlichen Freiheit gegenüber einem machthungrigen Parlamente“ (Heinrich Triepel, Der Weg der Gesetzgebung nach der neuen Reichsverfassung, in: AöR 39 [1920], S. 456 ff. [534 ff., Zitat: S. 537]; auf S. 538 heißt es weiter: „Der Mehrzahl unserer Politiker und Juristen ist es noch nicht genügend zu Bewußtsein gekommen, daß Einrichtungen, die unter der konstitutionellen Monarchie erträglich sein mochten, in der parlamentarischen Republik schlechterdings unerträglich sein können.“). Gleiche Stoßrichtung bei Axel Freiherr von Freytagh-Loringhoven, Die Weimarer Verfassung in Lehre und Wirklichkeit, München 1924, S. 243. – Hinweis auf die neuen politischen Umstände auch bei Thoma, Prüfungsrecht (Fn. 59), S. 81. 66 Das wird klar demonstriert von Thoma, Prüfungsrecht (Fn. 59), S. 78 ff.; knapp ders., Funktionen (Fn. 63), S. 346 f. 67 Ernst Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz (1927), in: ders., Zur Soziologie der Klassenjustiz und Aufsätze zur Verfassungskrise 1931 – 1932, Darmstadt 1968, S. 1 ff. (8). – An der Berechtigung einer unbesehenen Übernahme dieser zugespitzten These werden freilich zunehmend Zweifel geäußert: siehe Joachim Rückert, Richtertum als Organ des Rechtsgeistes: Die Weimarer Erfüllung einer alten Versuchung, in: Knut Wolfgang Nörr / Bertram Schefold / Friedrich Tenbruck (Hrsg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, Stuttgart 1994, S. 267 ff. (294, 296 f., 309 f.); ders., Richterrecht seit Weimar?, in: Festschrift für Sten Gagnér, Ebelsbach / M. 1996, S. 203 ff. (S. 207 f., 209 ff., 216 f.). 68 Hans Kelsen, VVDStRL 3 (1927), S. 53 ff. (54). – Richtiger Hinweis hierauf bei Wendenburg, Debatte (Fn. 25), S. 67.
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Reichsgerichts, eine Kostprobe seiner Gesinnung, indem es mit Blick auf die hochumstrittene Aufwertungsgesetzgebung in der Hochinflationsphase ankündigte, „sittenwidrigen Notverordnungen“ die Anwendung zu versagen.70 In seiner konkreten Spruchpraxis behalf es sich dann wenig später mit dem, was Walter Jellinek in einem kritischen Beitrag schlicht ein „Märchen“ nannte,71 weil es eine nicht existente Tradition der Berechtigung von Gerichten erfand, förmliche Reichsgesetze umfassend, also auch auf ihre materielle Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen.72 Seinen bekanntesten Ausdruck fand die Reklamation eines solchen materiellen Prüfungsrechts im Urteil des Reichsgerichts zur Aufwertungsfrage vom 4. November 1925.73 Es war 69 So die Charakterisierung durch Thoma, Funktionen (Fn. 63), S. 347 Fn. 79. Zum Vorgang eingehend Norbert Hempel, Richterleitbilder in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1978, S. 93 ff.; Chlosta, Gesetz (Fn. 21), S. 82 ff. 70 Eingabe des Richtervereins beim Reichsgericht an die Reichsregierung. Abdruck: JW 1924, S. 90. Die Reichsregierung hatte damals aufgrund des Ermächtigungsgesetzes vom 8. Dezember 1923 die Gesetzgebungsgewalt inne. – Zu dieser Eingabe und zu anderen offen republikfeindlichen Stimmen aus der Richterschaft näher Kübler, Richter (Fn. 61), S. 112 ff.; Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (1968), 7. Aufl., Tübingen 2012, S. 64 ff.; Horst Dreier, Die Radbruchsche Formel – Erkenntnis oder Bekenntnis?, in: Festschrift für Robert Walter, Wien 1991, S. 117 ff. (120 ff.); Ralph Angermund, Deutsche Richterschaft 1919 – 1945. Krisenerfahrung, Illusion, politische Rechtsprechung, Frankfurt a. M. 1990, S. 19 f., 31 ff. 71 Walter Jellinek, Das Märchen von der Überprüfung verfassungswidriger Reichsgesetze durch das Reichsgericht, in: JW 1925, S. 454 f.; zustimmend Wendenburg, Debatte (Fn. 25), S. 57 („So riß das Reichsgericht denn auch in kaum verschleiertem Dezisionismus die Normenkontrollkompetenz an sich, unterstützt in erster Linie von konservativen Autoren.“); Lübbe-Wolff, Schutz (Fn. 17), S. 419; Klemmer, Gesetzesbindung (Fn. 25), S. 249; Stolleis, Judicial Review (Fn. 21), S. 272; Hornauer, Reichsgericht (Fn. 11), S. 115. Hingegen wirft Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 565 Jellinek in nicht recht nachvollziehbarer Logik ein „Verkennen dieser Realität“, nämlich der Inanspruchnahme des Prüfungsrechts, vor. Wie Jellinek Hermann Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? (1929), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 1992, S. 443 ff. (449), der mit Blick auf die in RGZ 111, 320 vorgetragene Begründung, das Gericht habe seit jeher ein materielles Prüfungsrecht für Reichsgesetze besessen, von einer „eklatant unrichtigen Behauptung“ spricht. 72 Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 564 nennt den Traditionsbruch eine der „bedeutenden Verfassungswandlungen innerhalb des Weimarer Staatsrechts“, Lübbe-Wolff, Schutz (Fn. 17), S. 418 einen „Doktrinenwechsel“, Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 70 Anm. 5 (S. 373) eine „Umkehr“. Siehe auch Hartmut Maurer, Das richterliche Prüfungsrecht zur Zeit der Weimarer Verfassung, in: DÖV 1963, S. 683 ff. (684). – Nicht überzeugend hingegen der Versuch von Karl August Bettermann, Reichsgericht und richterliches Prüfungsrecht, in: Festschrift für Johannes Broermann, Berlin 1982, S. 491 ff. einen solchen Bruch zu leugnen und eine Kontinuität der Judikatur darzutun. 73 RGZ 111, 320; dazu eingehend Chlosta, Gesetz (Fn. 21), S. 102 ff.; Hornauer, Reichsgericht (Fn. 11), S. 95 ff. – Es war freilich nicht die einzige und vor allem nicht die erste Entscheidung, die die Überprüfung von Reichsgesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit reklamierte und durchführte. Vorangegangen waren zwei Judikate des Reichsfinanzhofes: RFH v. 23. März 1921, RFHE 5, 333 (334); RFH v. 12. Oktober 1921, RFHE 7, 97 (99 ff.); zu RFHE 5, 333 Helmut D. Fangmann, Justiz gegen Demokratie. Entstehungs- und Funktionsbedingungen der Verfassungsjustiz in Deutschland, Frankfurt a. M. / New York 1979, S. 81 ff.; RFHE 7, 97 betraf hingegen vorkonstitutionelles Recht und damit eine von vornherein unproblematische Situation, weil hier im Konfliktfall die lex posterior-Regel galt und das volle richterliche Prüfungs-
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schon wegen seines Gegenstandes, der Bewältigung der Inflationsfolgen und damit dem zentralen politischen und gesellschaftlichen Thema der Jahre, von herausragender Bedeutung. Sehr selbstbewußt wurde hier das Recht zur Überprüfung förmlicher Reichsgesetze reklamiert. Art. 102 WRV (Unterwerfung des Richters unter das Gesetz) schließe „nicht aus, daß einem Reichsgesetz oder einzelnen seiner Bestimmungen vom Richter die Gültigkeit insoweit aberkannt werden kann, als sie mit anderen, vom Richter zu beachtenden Vorschriften, die ihnen vorgehen, in Widerspruch stehen. Das ist der Fall, wenn ein Gesetz einem in der Reichsverfassung aufgestellten Rechtssatz widerspricht […] Da die Reichsverfassung selbst keine Vorschrift enthält, nach der die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Reichsgesetze den Gerichten entzogen und einer bestimmten anderen Stelle übertragen wäre, muß das Recht und die Pflicht des Richters, die Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen zu prüfen, anerkannt werden.“74
Das war absolut apodiktisch formuliert und auch nicht durch den leisesten Versuch der Beibringung älterer Judikatur75 oder durch Rezeption der wissenschaftlichen Kontroverse abgesichert.76 Dennoch sollte diese Generalrecht schon wegen Art. 178 Abs. 2 Satz 1 WRV außer Frage stand; dazu nur v. Hippel, Prüfungsrecht (Fn. 60), S. 552. Beide Judikate machten aber, wie Thoma es ausdrückte, „noch nicht vollen Ernst […], insofern sie sich zwar auf eine gewisse Prüfung der aufgeworfenen Fragen (Befugnis der Nationalversammlung zur Gesetzgebung außerhalb der Verfassungsgebung; Verfassungsmäßigkeit des Goldzollgesetzes trotz Art. 151) einlassen, die Gültigkeit der angefochtenen Gesetze aber bejahen“ (Thoma, Prüfungsrecht [Fn. 59], S. 78 Fn. 3). Das war allerdings anders in der – kurz vor RGZ 111, 320 ergangenen – Entscheidung des Reichsversorgungsgerichts v. 21. Oktober 1924 (RVGE 4, 168 [188 ff.]), die ebenfalls das richterliche Prüfungsrecht gegenüber Reichsgesetzen beansprucht, näher begründet und im konkreten Falle eine Verfassungsverletzung bejaht – also geprüft und verworfen – hatte. Dazu näher Simon Kempny, Die obersten Fachgerichte der Weimarer Republik als Wegbereiter des richterlichen Prüfungsrechts: das Aufkommen der Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit in der höchstrichterlichen deutschen Rechtsprechung, in: DÖV 2010, S. 976 ff. 74 RGZ 111, 320 (322 f.). 75 Man hätte vielleicht auf RG v. 28. April 1921, RGZ 102, 161 (164) und die dortige nicht näher spezifizierte Redeweise von der ständigen Rechtsprechung, derzufolge Gerichte befugt seien, „die formelle wie die materielle Rechtmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen nachzuprüfen, soweit die Nachprüfung nicht durch Gesetz ausgeschlossen ist“, verweisen können. Durch den konkreten Fall war diese Äußerung nicht veranlaßt, da es um Rechtsverordnungen, nicht um (Reichs- oder Landes-)Gesetze ging. „Zudem widersprach die Aussage inhaltlich der bisherigen Rechtsprechung des Gerichts. Es wurde einfach eine nicht vorhandene Rechtsprechungstradition behauptet.“ (Hornauer, Reichsgericht [Fn. 11], S. 115; Lübbe-Wolff, Schutz [Fn. 17], S. 419 nennt die Sentenz des RG „kühn“). – Eine ähnliche Passage findet sich noch in RG v. 8. Dezember 1923, RGZ 107, 377 (379) unter Weglassung des einschränkenden „soweit“-Satzes (das Urteil betraf eine reichsrechtliche Verordnung, also wieder kein formelles Reichsgesetz; dazu Hornauer, Reichsgericht [Fn. 11], S. 102 ff.). Möglicherweise könnte man argumentieren, die Gerichte hätten mit „Gesetzen“ in beiden Judikaten nur Landesgesetze gemeint (oder meinen können), da es gerade der überkommenen Judikatur und herrschenden Meinung entsprach, Reichsgesetze von gerichtlicher Prüfung auszuschließen; das wäre allerdings höchst spekulativ und wenig plausibel. Sie machten sich wohl vielmehr die Unbestimmtheit des Terminus zunutze und formulierten bewußt vage, um ihren Spielraum zu verbreitern.
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akquisition einer auf Reichsgesetze erstreckten Normprüfungskompetenz, die in der Folgezeit als ganz selbstverständlich vorausgesetzt wurde,77 aber über zwei ganz wesentliche Umstände nicht hinwegtäuschen. Zum einen: Im konkreten Urteil wurde das der Prüfungskompetenz unterworfene Aufwertungsgesetz im Ergebnis für verfassungsgemäß erklärt, so daß es nicht zum Nichtigkeitsverdikt kam.78 Vor allem eröffnete es nicht etwa eine lange Reihe vergleichbarer Judikate, schon gar nicht mit dem Ergebnis der Verwerfung reichsgesetzlicher Normen.79 Insgesamt kam es im gesamten Zeitraum der Weimarer Republik nur in drei Fällen zur Prüfung und Verwerfung von nachkonstitutionellen reichsgesetzlichen Normen am Maßstab der Reichsverfassung, wobei keiner von ihnen auch nur annähernd so bedeutend war wie die Aufwertungsentscheidung im 111. Band.80 Zutreffend hat man diesen auf den ersten Blick vielleicht erstaunlichen Tatbestand mit taktisch kluger Zurückhaltung erklärt: „In dieser wissenschaftlich ungesicherten Situation reagierten die Gerichte, wie es häufiger der Fall ist; sie verbanden eine entschiedene Bejahung der Grundsatzfrage mit praktischer Zurückhaltung bei der Ausübung des Prüfungsrechts: der spektakulären Inanspruchnahme durch das Aufwertungsurteil des Reichsgerichts folgte keine Kette spektakulärer Entscheidungen, in denen Gesetze für unwirksam erklärt worden wären; das Prüfungsrecht blieb sozusagen in Wartestellung.“81 76 Allgemeine Auffassung: siehe außer den Belegen in Fn. 71 ff. noch Gusy, Prüfungsrecht (Fn. 59), S. 87; Hartmann, Prüfungsrecht (Fn. 63), S. 168, jeweils m. w. N. 77 Siehe Fangmann, Justiz (Fn. 73), S. 140 ff.; Wendenburg, Debatte (Fn. 25), S. 51 ff.; Hornauer, Reichsgericht (Fn. 11), S. 95. 78 RG v. 4. November 1925, RGZ 111, 320 (324 ff., 331). 79 Außer der bereits erwähnten Entscheidung des Reichsversorgungsgerichts (oben Fn. 73) gab es noch drei weitere Fälle, in denen das Reichsgericht (in einem Fall als Schiedsgericht fungierend) Reichsgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfte und verwarf, wobei der schiedsgerichtliche Fall die Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 105 WRV) betraf (RG v. 30. November 1929, RGZ 126, 161), die beiden anderen Garantien zugunsten der Beamten, nämlich einmal die wohlerworbenen Rechte (RG v. 20. März 1928, RGZ 120, 321 [324 f.]: Art. 129 Abs. 1 Satz 3 WRV), einmal den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten (RG v. 19. April 1929, RGZ 124, 173 [176 f.]: Art. 129 Abs. 1 Satz 4 WRV). Das letztgenannte Urteil betraf sowohl ein Reichsgesetz als auch das entsprechende preußische Ausführungsgesetz. Der schiedsgerichtliche Fall (RGZ 126, 161) ist insofern nicht einschlägig bzw. von minderer Bedeutung, als der Schiedsspruch im Zuge der folgenden regulären gerichtlichen Auseinandersetzung wenige Tage später aufgehoben wurde: RG v. 3. Dezember 1929, RGZ 128, 165 (172); siehe dazu Hornauer, Reichsgericht (Fn. 11), S. 119 ff., 149 ff. – Bei RG v. 2. Juli 1925, RGZ 111, 199 handelt es sich um eine lex posterior-Konstellation (vgl. Erläuterung in Fn. 73), so daß die Entscheidung nicht einschlägig ist (mißverständlich insofern Hornauer, Reichsgericht [Fn. 11], S. 129 ff., 133, 143). 80 In einem Falle handelte es sich zudem um eine (frühe) Entscheidung des Reichsversorgungsgerichts (siehe Fn. 73 a. E.). Diese drei Entscheidungen waren: RG v. 20. März 1928, RGZ 120, 321 (324 f.); RG v. 19. April 1929, RGZ 124, 173 (176 f.); RVG v. 21. Oktober 1924, RVGE 4, 168 (188 ff.). – Zu RGZ 124, 173 eingehend Fangmann, Justiz (Fn. 73), S. 79 ff.; Hornauer, Reichsgericht (Fn. 11), S. 78 f. 81 Rainer Wahl / Frank Rottmann, Die Bedeutung der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik – im Vergleich zum 19. Jahrhundert und zu Weimar, in: Werner Conze / M. Rainer Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bun-
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Aber bei dieser Wartestellung blieb es denn auch bis 1933 und somit bis zum Untergang der Weimarer Republik. Wir wollen uns daher von dem höchst umstrittenen – und in der nachträglichen Rezeption oft ganz unangemessen im Vordergrund stehenden – allgemeinen Prüfungsrecht der Gerichte abwenden und uns auf das gesicherte Terrain derjenigen verfassungsrechtlichen Prüfungskompetenzen zubewegen, die die Weimarer Verfassung entweder gemäß allgemein geteilter Interpretation voraussetzte oder aufgrund neuer Bestimmungen bewußt neu schuf. IV. Abstrakte Normenkontrolle (Art. 13 Abs. 2 WRV) Während Art. 13 Abs. 1 WRV einen überkommenen und gewachsenen Rechtszustand tradierte, stellte Art. 13 Abs. 2 WRV eine echte Innovation dar.82 Denn diese Norm ermöglichte eine prinzipale Normenkontrolle, die nicht nur inter partes wirkte. Es handelt sich um eine Form der abstrakten Normenkontrolle, als welche sie seinerzeit von Friesenhahn auch ausdrücklich tituliert wurde.83 1. Gehalt und Bedeutung der Norm
Gerhard Anschütz bestimmte Funktion und Bedeutung des Art. 13 Abs. 2 WRV dahin, daß sie neben die in vollem Umfang aufrechterhaltene indirekte Kontrolle der Landesgesetzgebung des Abs. 1 tritt und eine „direkte Kontrolle“ ermöglicht: „Diese Kontrolle erfaßt die Frage der Vereinbarkeit des Landesgesetzes mit dem Reichsrecht nicht bloß mittelbar und als Inzidentfrage, sondern unmittelbar und als Prinzipalpunkt; sie gewährt somit auch die Möglichkeit, Landesgesetze als mit desrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 339 ff. (356); in der Sache ähnliche Einschätzungen bei Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 567; Lübbe-Wolff, Schutz (Fn. 17), S. 422 f.; Rückert, Richterrecht (Fn. 67), S. 219 ff. 82 Art. 13 Abs. 2 WRV lautete: „Bestehen Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten darüber, ob eine landesrechtliche Vorschrift mit dem Reichsrecht vereinbar ist, so kann die zuständige Reichs- oder Landeszentralbehörde nach näherer Vorschrift eines Reichsgesetzes die Entscheidung eines obersten Gerichtshofs des Reichs anrufen.“ Der oberste Gerichtshof war das Reichsgericht. – Zeitgenössische Darstellung: Karl Munzel, Die gesetzeskräftige Entscheidung des Reichsgerichts auf Grund von Art. 13 Abs. 2 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. April [sic] 1919 nebst Ausführungsgesetz vom 8. April 1920, Diss. jur. Göttingen 1931. 83 Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 526: „Die abstrakte Normenkontrolle. Gegenstand der gerichtlichen Entscheidung ist hier, losgelöst von jedem konkreten Streitfall, die Frage der Gültigkeit einer Norm, insbesondere ihre Vereinbarkeit mit dem Verfassungsrecht. Die Entscheidung muß selbst notwendigerweise Gesetzeskraft haben. […] Im geltenden Reichs- und Landesstaatsrecht findet sich eine solche abstrakte Normenkontrolle nur in Art. 13 Abs. 2 RV für die Vereinbarkeit von Landesrecht und Reichsrecht.“ Gleiche Einordnung bei Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 410, 561, 562 ff.
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den Reichsgesetzen unvereinbar und mit allgemeinverbindlicher Wirkung für ungültig zu erklären bzw. aufzuheben.“84
Vielzitiert war die Wendung des Reichsfinanzhofes, es handele sich insofern um einen „gesetzgebende[n] Akt besonderer Art“.85 Im Verhältnis zur abstrakten Normenkontrolle des Grundgesetzes (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) war Art. 13 Abs. 2 WRV teils weiter, teils enger gefaßt. Weiter gezogen war der Kreis der Antragsberechtigten: Jedes Ministerium auf Reichs- oder Landesebene kam in Betracht, nicht lediglich die Regierungen von Bund und Land oder ein Viertel des Parlaments; umgekehrt kannte man in Weimar die Antragsbefugnis einer qualifizierten Minderheit des Reichstags nicht. Enger gezogen war der Kreis der zur Überprüfung gestellten Normen: Während das Grundgesetz die ganze Spannweite von Bundes- und Landesrecht einbezieht, beschränkt sich die Weimarer Regelung auf die Vereinbarkeit des Landesrechts mit dem Reichsrecht. Zu diesem Reichsrecht zählte aber natürlich die Weimarer Reichsverfassung selbst. Übereinstimmend sprechen beide Normen von „Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten“, was in Weimar jedenfalls von einigen Autoren überaus großzügig interpretiert wurde. So lehnte Anschütz eine Beschränkung auf Meinungsverschiedenheiten zwischen den Behörden ab: Die Reichs- und Landeszentralbehörden könnten vielmehr das Gericht „auch dann anrufen, wenn sie selbst weder ‚zweifeln‘ noch ‚verschiedener Meinung‘ sind, d. h. sich streiten, sondern unter sich einig sind, gleichwohl aber die Frage der Vereinbarkeit eines Landesgesetzes mit dem Reichsrecht im Hinblick auf anderwärts (z. B. in den Parlamenten, bei den Gerichten, in der Wissenschaft, in der Öffentlichkeit) hervorgetretene Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten in unzweideutiger und unanfechtbarer Weise zum Austrag bringen möchten.“86
Wer war nun zur Entscheidung berufen? Art. 13 Abs. 2 WRV sprach von einem obersten Gerichtshof des Reiches, als welchen das Ausführungsgesetz vom 8. April 192087 das Reichsgericht bestimmte.88 Hier setzte sich wiederum die Tendenz zur kompententiellen Zersplitterung durch, die der 84 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 13 Anm. 4 (S. 105). Siehe auch Stier-Somlo, Reichsund Landesstaatsrecht (Fn. 5), S. 381 f.: „Durch Art. 13 II dagegen kann die Frage, ob eine Landesrechtsnorm mit einer Reichsrechtsnorm vereinbar ist, grundsätzlich, unmittelbar und hauptsächlich, ohne Vorliegen eines Zivil-, Straf- oder Verwaltungsgerichtsverfahrens entschieden werden. […] Die Entscheidung hat Gesetzeskraft!“ (Hervorhebung i. O., H. D.). 85 RFH v. 13. November 1920, RFHE 4, 9 (11) = L-S III, S. 59 (61). 86 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 13 Anm. 4 (S. 106). Ähnlich weit Stier-Somlo, Reichs- und Landesstaatsrecht (Fn. 5), S. 403; Albert Hensel, Die Rangordnung der Rechtsquellen insbesondere das Verhältnis von Reichs- und Landesgesetzgebung, in: Anschütz / Thoma, Handbuch, Bd. II (Fn. 1), § 84, S. 313 ff. (327). 87 RGBl. S. 510. 88 Hierzu und zum folgenden Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 13 Anm. 5 (S. 106 ff.); Hensel, Rangordnung (Fn. 86), S. 327 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 562 f.
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Sichtbarkeit und auch der Durchschlagskraft des Reichsgerichts als Verfassungsgericht eher abträglich waren. Denn zum einen judizierten jeweils verschiedene der zahlreichen Senate des Reichsgerichts, deren Zuständigkeit im Einzelfall dessen Präsident festlegte.89 Zum zweiten wurden steuerrechtliche Streitigkeiten zwischen Reich und Land dem Reichsfinanzhof,90 Besoldungsfragen hingegen dem Reichsverwaltungsgericht übertragen, an dessen Stelle wiederum ein besonderes Reichsschiedsgericht trat.91 Während diese Diversifikation heute eher seltsam berührt, muten die Entscheidungswirkungen wieder vertrauter an.92 Bei Feststellung einer Unvereinbarkeit des Landesrechts mit dem Reichsrecht war Nichtigkeit die Folge (und zwar prinzipiell ex tunc, de facto damals wie heute oft ex nunc). Die Entscheidungen ergingen durch Beschluß, den die Reichsregierung ohne Begründung im Reichsgesetzblatte zu verkünden hatte.93
2. Judikatur
Zur Illustration der Judikatur diene zunächst das Reichsgesetzblatt des Jahres 1920, S. 2016 f. Dort heißt es: „Auf Grund des Artikels 13 Abs. 2 der Verfassung des Deutschen Reichs und des Ausführungsgesetzes vom 8. April 1920 (Reichs-Gesetzbl. S. 510) hat das Reichsgericht, IV. Zivilsenat, am 4. November 1920 beschlossen: I § 2 Abs. 2 und § 18 Abs. 2 Satz 2 und 3 des Sächsischen Übergangsgesetzes für das Volksschulwesen vom 22. Juli 1919 (GVBl. S. 171) stehen mit Artikel 146, 149, 174 der Verfassung des Deutschen Reichs im Widerspruche. II Die in der Bekanntmachung vom 10. Dezember 1918 des Arbeiter- und Soldatenrats für Hamburg, Altona und Umgegend enthaltene Verordnung, daß der Religionsunterricht in allen öffentlichen Schulen und Erziehungsanstalten des ehemaligen Hamburgischen Staates fortfällt, steht mit Art. 146, 149, 174 der Verfassung des Deutschen Reichs im Widerspruche. Hensel, Rangordnung (Fn. 86), S. 328. §§ 5, 6 des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden (Finanzausgleichsgesetz) v. 23. Juni 1923 (RGBl. S. 494). 91 §§ 6, 7 des Gesetzes zur Sicherung einer einheitlichen Regelung der Beamtenbesoldung (Besoldungssperrgesetz) v. 21. Dezember 1920 (RGBl. S. 2117). 92 Hierzu nur Stier-Somlo, Reichs- und Landesstaatsrecht (Fn. 5), S. 382; Hensel, Rangordnung (Fn. 86), S. 328 f. 93 Der Neuerungsgehalt dieser Bestimmung kommt in den nachdrücklichen Hervorhebungen von Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 13 Anm. 5 (S. 107) zum Ausdruck. „Er [scil. der Beschluß, H. D.] hat Gesetzeskraft (§ 3 Abs. 3 des G v. 8. April 1920), wirkt also (jedermann gegenüber, nicht nur inter partes, sondern inter omnes!) wie eine vom Reichsgesetzgeber ausgehende authentische Interpretation des betreffenden Reichsgesetzes.“ (Hervorhebungen i. O., H. D.) 89 90
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III Die Verordnung des Arbeiter- und Soldatenrats Bremen vom 7. Januar 1919, wonach der Religionsunterricht in den staatlichen Schulen fortfällt, und die diese Verordnung bestätigende Verordnung der vorläufigen Bremischen Regierung vom 2. und 7. März 1919 stehen mit Artikel 146, 149, 174 der Verfassung des Deutschen Reichs im Widerspruche. Berlin, den 29. November 1920. Die Reichsregierung Dr. Heinze“
In der Sache ging es in allen drei Fällen weder um die Eigentumsgarantie noch um die wohlerworbenen Rechte der Beamten, sondern um das öffentliche Schulwesen und die Garantie des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach.94 Die Entscheidungen spiegeln die in der Anfangsphase der Weimarer Republik mit großer Heftigkeit ausbrechenden weltanschaulichen Konflikte, die gerade in den sozialdemokratisch und kommunistisch dominierten Ländern bzw. Stadtstaaten zur Abschaffung des Religionsunterrichtes geführt hatten.95 Das war ein klarer Verstoß gegen die Bestimmung des Art. 149 Abs. 1 Satz 1 WRV („Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien [weltlichen] Schulen.“), der vom Reichsgericht ohne Wenn und Aber festgestellt wurde. Religionsbezogenen und staatskirchenrechtlichen Normen kam dabei wenn nicht eine Pionier-, so doch eine Hauptrolle zu. So waren in Braunschweig durch Gesetz vom 20. Juni 1919 weitreichende Regelungen zur Ausübung der Kirchengewalt in der evangelisch-lutherischen Landeskirche getroffen worden (Auflösung der Landessynode; Einrichtung eines Landeskirchenrates, dem Mitglieder der Landesversammlung angehören mußten; Vorlage der Kirchengesetze beim Rat der Volksbeauftragten).96 Dieser ebenfalls noch relativ frühe Beschluß aus dem Jahre 1921 zeigt sowohl die Mechanismen der Verfahrensart als auch die Entschlossenheit des Gerichts, den Normen der Weimarer Reichsverfassung zum Durchbruch zu verhelfen. Den Antrag auf Entscheidung stellte der Reichsminister des Innern, nachdem Versuche, eine gütliche Einigung zwischen Landesregierung und Landesversammlung auf der einen, der Landessynode und dem Landeskirchen94 Die drei Beschlüsse v. 4. November 1920 finden sich in: L-S I, S. 441, 508, 528. In den RGZ-Bänden sind sie nicht abgedruckt. 95 Zu diesen in den Landesverfassungen der Zwischenkriegszeit besonders umstrittenen Materien Fabian Wittreck, Zur Einleitung: Verfassungsentwicklung zwischen Novemberrevolution und Gleichschaltung, in: ders. (Hrsg.), Weimarer Landesverfassungen. Die Verfassungsurkunden der deutschen Freistaaten 1918 –1933, Tübingen 2004, S. 1 ff. (23 ff.). 96 Zum Sachverhalt RG v. 26. Oktober 1921, L-S I, S. 516 (= RGZ 103, 91 [92 ff.]). Aus dem zeitgenössischen Schrifttum Johann V. Bredt, Das Reichsgericht und der braunschweigische Kirchenverfassungsstreit, in: AöR N.F. 3 (1922), S. 348 ff.
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rat auf der anderen Seite herbeizuführen, gescheitert waren. Das Gericht gibt dem Antrag des Ministers statt, die landesgesetzlichen Normen für in Widerspruch mit der Reichsverfassung stehend zu erachten. Die für die Entscheidung maßgebliche Norm bildet Art. 137 Abs. 3 Satz 1 („Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“), die das Gericht ausdrücklich als „unmittelbar geltendes Recht“ qualifiziert.97 Klargestellt wird auch, daß der Vorrang der Reichsverfassung sich nicht nur auf nachkonstitutionelle, sondern auch auf vorkonstitutionelle Rechtsakte bezieht, da im vorliegenden Falle die braunschweigischen Gesetze vor Inkrafttreten der Reichsverfassung erlassen worden waren. Dazu das Gericht: „Ihm [scil.: Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV] widerspricht auch ein Landesgesetz, welches vor dem Inkrafttreten der Reichsverfassung geschaffen ist, wenn dieses Landesgesetz einen staatlichen Eingriff in die Verwaltung einer Religionsgesellschaft enthält und wenn es erst unter der Herrschaft der Reichsverfassung ausgeführt werden soll. Es ist dann durch die vor der Reichsverfassung liegende Landesgesetzgebung ein Zustand geschaffen worden, der unter der Herrschaft der Reichsverfassung nicht hätte geschaffen werden dürfen und der deshalb unter ihrer Herrschaft auch nicht fortdauern darf. So lagen die Verhältnisse in Braunschweig. Als die Reichsverfassung in Kraft trat, hatte der Staat Vorschriften über das Synodalrecht der evangelisch-lutherischen Landeskirche erlassen, die er unter der Herrschaft der Reichsverfassung nicht mehr erlassen konnte. Nach diesem Wahlrecht darf deshalb unter der Herrschaft der Reichsverfassung auch nicht mehr gewählt werden. Eine Vorschrift, welche diese Wahl trotzdem anordnet, steht mit der Reichsverfassung in einem unvereinbaren Gegensatz und muß ihr weichen.“98
Weichen mußte der Reichsverfassung auch ein Gesetz im vormaligen Herzogtum Sachsen-Gotha, das direkt nach der Staatsumwälzung vom Rat der Volksbeauftragten und der Landesversammlung den Grundbesitz der vormals regierenden Fürsten in Staatseigentum überführte.99 Der antragstellende Reichsminister des Innern sah Art. 153 WRV (Eigentum resp. Enteignung) als doppelt verletzt an: einmal wegen Verstoßes gegen Art. 153 Abs. 2 Satz 1, weil es an einer Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit fehle; zum andern wegen Verstoßes gegen Art. 153 Abs. 2 Satz 2, weil es keine Entschädigungsregelung gab. Das Gericht schloß sich dem letztgenannten Punkt an und ließ die Frage nach dem Gemeinwohlzweck dahinstehen.100
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RGZ 103, 91 (94). RGZ 103, 91 (94). – Weiterer Fall: Anwendung eines sächsischen Gesetzes zur Regelung von Altersgrenzen und Pensionsdienstzeiten auf ordentliche Mitglieder des Landeskonsistoriums als Verstoß gegen Art. 137 Abs. 3 Satz 2 WRV (RG v. 27. November 1923, L-S I, S. 445 [= RGZ 107, 287]). – Siehe noch RG v. 20. Juni 1925, L-S I, S. 519 (= RGZ 111, 134): Verstoß des Braunschweigischen Grundsteuergesetzes gegen Art. 173, 138 WRV durch Beseitigung der Steuerfreiheit der evangelischen Landeskirche. 99 RG v. 18. Juni 1925, L-S I, S. 500 (= RGZ 111, 123) – Gesetz über die Einziehung des Gothaischen Hausfideikommisses. 100 RGZ 111, 123 (132 ff.). 98
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Damit stand im Ergebnis fest, daß das Gothaische Gesetz über die Einziehung des Gothaischen Hausfideikommisses mit der Reichsverfassung unvereinbar und daher nichtig war. Schließlich spielten auch die wohlerworbenen Beamtenrechte in Verfahren nach Art. 13 Abs. 2 WRV eine Rolle. So wurden gewisse Bestimmungen des württembergischen Ministergesetzes, die sich rückwirkende Kraft beigemessen hatten, vom Reichsgericht für unvereinbar mit Art. 129 Abs. 1 Satz 3 WRV erklärt. Hier ging das Verfahren auf einen Antrag des württembergischen Staatsministeriums zurück.101 Eine Verletzung der Reichsverfassung bejahte das Reichsgericht desgleichen in einer Entscheidung, die gesetzliche Neuregelungen der Wahl von Schulleitern in Bremen betraf. Hier erkannte das Gericht sowohl auf einen Verstoß gegen Art. 129 Abs. 2 WRV („Die Beamten können nur unter den gesetzlich bestimmten Voraussetzungen und Formen vorläufig ihres Amtes enthoben, einstweilen oder endgültig in den Ruhestand oder in ein anderes Amt mit geringerem Gehalt versetzt werden.“) als auch gegen Art. 129 Abs. 1 Satz 3 WRV („Die wohlerworbenen Rechte der Beamten sind unverletzlich.“).102 In quantitativer Hinsicht ist zu bemerken, daß den Aufstellungen bei Lammers-Simons zufolge insgesamt 24 Entscheidungen des Reichsgerichts nach Art. 13 Abs. 2 WRV ergingen.103 Thematisch lassen sich drei Schwerpunkte ausmachen: erstens staatskirchenrechtliche Regelungen (Religionsunterricht, Selbstverwaltungsrecht, Staatsleistungen); zweitens beamtenrechtliche Fragen, insb. deren wohlerworbenen Rechte; drittens Probleme um Eigentum und Enteignung (die aber wesentlich stärker im Rahmen des Art. 13 Abs. 1 WRV dominierten). Vom Reichsfinanzhof stammen (bis 1931) 13 Entscheidungen zu Steuerfragen.104
101 RG v. 5. Dezember 1927, L-S I, S. 472 (= RGZ 120, 374). In der Sache sprach man den ehemaligen königlichen Ministern ein Anrecht auf lebenslängliches Ruhegehalt und auf Hinterbliebenenversorgung zu, da es sich insofern (aufgrund des Beamtengesetzes von 1912) um wohlerworbene Rechte handele (RGZ 120, 374 [398]). 102 RG v. 19. Januar 1923, L-S I, S. 531 (= RGZ 107, 1 [3, 5 f.]). – Siehe noch RG v. 13. Juli 1928, L-S I, S. 489 (= RGZ 122, 10): Regelung des Badischen Beamtengesetzes, das die Versetzung eines Beamten in ein anderes Amt mit geringerem Range zuließ, als Verstoß gegen Art. 129 Abs. 1 Satz 3 WRV. 103 Im einzelnen: bis 1928 genau 20 Entscheidungen (L-S I, S. 25 ff.); Fehlanzeige dann 1929 (L-S II, S. 20); L-S IV, S. 4: drei; L-S V, S. 4: Fehlanzeige; L-S VI, S. 3: eine. – Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 562 Fn. 6 zählt 23 Entscheidungen, berücksichtigt aber offenkundig L-S V und VI nicht. 104 L-S III, S. 17 ff.; die letzte Entscheidung erfolgte im Jahre 1928.
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V. Akzidentielle Normenkontrolle im Kontext von Länderorganstreitigkeiten, Länderstreitigkeiten und Reich-Länder-Streitigkeiten (Art. 19, 108 WRV) Im Falle des Art. 13 Abs. 2 WRV gelangte die Reichsverfassung in den Kognitionsbereich des Reichsgerichts, weil es sich bei dem durch Landesrecht verletzten Reichsrecht auch um die Normen der Reichsverfassung selbst handeln konnte. Insofern war über Normen der Reichsverfassung zu judizieren, die den Prüfungsmaßstab für eventuell widerstreitendes Landesrecht bildeten. Darüber ging Art. 19 WRV noch einmal deutlich hinaus, indem er einen gesonderten gerichtlichen Spruchkörper, den Staatsgerichtshof, etablierte und mit verschiedenen Kompetenzen ausstattete. Bei ihrer Wahrnehmung konnte wiederum die Rechtserheblichkeit der Reichsverfassung und deren Durchsetzung gegenüber zuwiderlaufendem sonstigen Recht eine Rolle spielen. Der langjährige Vorsitzende des Staatsgerichtshofs bezeichnete Art. 19 WRV nach seinem Ausscheiden aus dem Amt und am Vorabend des Unterganges der Weimarer Republik als „Kontrollinstanz für die Einhaltung der Bestimmungen der Reichsverfassung“.105 Dabei war der Gegenstand der in Art. 19 WRV geregelten Verfahren (Verhältnis der Länder untereinander, Verfassungsstreitigkeiten innerhalb der Gliedstaaten) nicht gänzlich neu. Doch allein die Ausgestaltung der Schlichtung von Streitigkeiten durch ein Gericht und nicht ein politisches Organ wie den Bundesrat nach altem Recht (dem der Reichsverfassung von 1871) markierte einen enormen Fortschritt, jedenfalls einen erheblichen Wandel und eine stärkere rechtliche Durchdringung, für die es in der Bismarckverfassung entweder gar keine oder nur entfernt ähnliche Vorbilder gab. Mit Art. 19 WRV wurde, wie Anschütz es formulierte, der Staatsgerichtshof als Hauptträger, wenngleich nicht als einziger „Träger der staatsrechtlichen Gerichtsbarkeit (= Verfassungsgerichtsbarkeit)“ etabliert.106 Er galt als durchaus „bedeutsame Erscheinung im Weimarer Staatsleben“.107
105 Walter Simons, Zum Geleit, in: L-S V, S. VII ff. (XII). Das Geleitwort trägt das Datum vom 22. Februar 1933. 106 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 2 (S. 161). 107 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, München 2000, S. 648; von einer „zu den Fundamentaleinrichtungen des Weimarer Staatssystems gehörenden Zuweisung von Verfassungsstreitfällen an die eigens für diese Aufgabe geschaffene Staatsgerichtsbarkeit“ spricht Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 542. – Eher blaß und vage Hans Schneider, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 3. Aufl., Heidelberg 2003, § 5 Rn. 69: „rege Tätigkeit“.
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1. Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich (StGH)
a) Organisation: Der in Art. 19 WRV erwähnte Staatsgerichtshof wurde gemäß Art. 108 nach Maßgabe eines Reichsgesetzes errichtet.108 Wiederum zeigte sich eine erhebliche Zersplitterung und Diversifikation, die der Sicht- und Identifizierbarkeit des Gerichts abträglich waren. Denn: „Die Einrichtung, die Besetzung und das Verfahren des StGH sind je nach Zuständigkeit verschieden.“109 Hinzu trat, daß der StGH in seiner Erscheinung stark mit dem Reichsgericht verschmolz. Der ursprünglichen Konzeption zufolge sollte eine Art Zweiteilung des StGH erfolgen: Die (praktisch bedeutungslosen) Anklageverfahren sollten bei einem Senat des Reichsgerichts in Leipzig ressortieren, alle anderen Verfahren bei einem Senat des geplanten Reichsverwaltungsgerichts mit Sitz in Berlin.110 Da die in Art. 166 WRV vorgesehene Institutionalisierung eines RVerwG aber bis zum Ende der Weimarer Republik ausblieb,111 dominierte ganz das Reichsgericht, bei dem der Staatsgerichtshof organisatorisch verankert war und wo er seinen personellen Schwerpunkt hatte.112 Sein Präsident (und nicht der eigentlich vorgesehene Präsident des Reichsverwaltungsgerichts) hatte in den regulären und zahlenmäßig absolut dominierenden Fällen des Art. 19 WRV den Vorsitz inne. Ihm zur Seite standen in diesen auch qualitativ überwiegenden Fällen drei Reichsgerichtsräte sowie an Stelle der eigentlich vorgesehenen drei Richter des RVerwG je ein Rat des preußischen und sächsischen Oberverwaltungsgerichts sowie des bayerischen Verwaltungsgerichtshofes.113
108 Gesetz über den Staatsgerichtshof v. 9. Juli 1921 (RGBl. S. 905). Zur Genese Hans-Heinrich Lammers, Das Gesetz über den Staatsgerichtshof vom 9. Juli 1921, Berlin 1921, S. 1 ff. (Einleitung). – Zuvor amtierte für kurze Zeit der anders besetzte Vorläufige Staatsgerichtshof. Zu ihm knapp Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 546; eingehend Wolfgang Wehler, Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. Die politische Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Zeit der Weimarer Republik, Diss. jur. Bonn 1979, S. 94 ff. 109 So lapidar Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 108 Anm. 3 (S. 503). 110 Siehe nur Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 546; Gusy, Weimarer Reichsverfassung (Fn. 6), S. 211 f.; Hartmut Maurer, Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Staat – Wirtschaft – Gemeinde. Festschrift für Werner Frotscher zum 70. Geburtstag, Berlin 2007, S. 45 ff. (61 f.). 111 Wolfgang Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht. Ein Beitrag zur Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland, Tübingen 1991, insb. S. 393 ff. 112 Daher konstatierte Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 179, „daß man, wenn nicht im juristischen, so doch im soziologischen Sinne sagen darf: es ist das Reichsgericht, aus dem diese staatsgerichtlichen Urteile ergehen, dessen Präsident und Mitglieder ihnen, wenn nicht allein, so doch vorwiegend das Gepräge geben.“ 113 Zum Vorstehenden Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 108 Anm. 3 (S. 503); Helmuth Mende, Art. 108. Staatsgerichtshof, in: Hans Carl Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 1, Berlin 1929, S. 149 ff. (155 f.); Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 531. – In anderen Verfahren traten an die Stelle von Richtern der Verwaltungsgerichtsbarkeit solche der ordentlichen Gerichte bzw. waren vom Reichstag und Reichsrat jeweils zur Hälfte bestimmte Beisitzer vor-
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„Da zudem in weitem Umfang Stellvertretung zulässig war, herrschte bei der konkreten Besetzung erhebliche Fluktuation. So konnte es kaum zur Herausbildung einer eigenständigen Identität der Staatsgerichtsbarkeit kommen.“114
b) Zuständigkeiten: Die diversen Zuständigkeiten des StGH waren weit über die Weimarer Reichsverfassung verstreut: Art. 15 Abs. 3, 18 Abs. 7, 19, 59, 90, 170 Abs. 2, 171 Abs. 2 WRV. Weitere Zuständigkeiten konnten ihm durch einfaches Reichsgesetz übertragen werden.115 c) Verfahrensarten: Die zentrale Norm des Art. 19 Abs. 1 WRV116 spannte drei Verfahrensarten zusammen, die das Grundgesetz als getrennte kennt: den Organstreit in den Ländern (vgl. Art. 99 GG), Streitigkeiten zwischen einzelnen Ländern sowie Streitigkeiten zwischen einem Land und dem Reich (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 u. 4 GG). aa) Völlig neu war dabei die Regelung des Streites zwischen Reich und Ländern (Art. 19 Abs. 1, 3. Var. WRV), für die es in der Reichsverfassung von 1871 kein Vorbild gegeben hatte.117 Friesenhahn erklärt diese alte Rechtslage damit, daß der „rechtliche Austrag von Streitigkeiten zwischen Bund und Gliedern […] nicht wesentlich zur Verfassung des Bundes“ gehöre, da dieser aufgrund seiner Überordnung „die politische Entscheidungsgewalt für sich beanspruchen und seine Entscheidung auch durchsetzen“ könne. Gleichwohl erkennt er an: „Indem die neue Reichsverfassung in Art. 19 auch für diese Streitigkeiten den Staatsgerichtshof als unabhängige Entscheidungsinstanz zuständig macht, geht sie einen Schritt weiter in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesbeziehungen.“118
Streitbeteiligt sind Reichsregierung und Landesregierung. Dieses Verfahren erwies sich im Laufe der Jahre sowohl quantitativ wie qualitativ als außerordentlich bedeutsam.119 Während anfangs noch Fälle dominierten, die mit der Reichsbahn und den Reichswasserstraßen zu tun hatten (die bis zuletzt einen starken Anteil ausmachten und für die es im übrigen spezielle Zuständigkeitsbestimmungen in der WRV gab),120 wurden gesehen (Stern, Staatsrecht V [Fn. 107], S. 649). Einzelheiten finden sich im Gesetz über den Staatsgerichtshof (vgl. Fn. 108), insb. in §§ 3, 18, 31. 114 Gusy, Weimarer Reichsverfassung (Fn. 6), S. 212. 115 Detaillierte Auflistung bei Mende, Art. 108 (Fn. 113), S. 152; Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 530 ff.; Stern, Staatsrecht V (Fn. 107), S. 649 f. 116 Die Norm lautete: „(1) Über Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, in dem kein Gericht zu ihrer Erledigung besteht, sowie über Streitigkeiten nichtprivatrechtlicher Art zwischen verschiedenen Ländern oder zwischen dem Reiche und einem Lande entscheidet auf Antrag eines der streitenden Teile der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, soweit nicht ein anderer Gerichtshof des Reichs zuständig ist. (2) Der Reichspräsident vollstreckt das Urteil des Staatsgerichtshofs.“ 117 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 1 (S. 161); Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 9), S. 1056 f. 118 Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 529. 119 So auch die Einschätzung von Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 550.
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später zunehmend hochpolitische Prozesse im Rahmen des Reich-LänderStreites ausgetragen, der berühmteste unter ihnen natürlich derjenige um den „Preußenschlag“.121 Aber auch das Verbot nationalsozialistischer Schulgebete in Thüringen durch Urteil vom 11. Juli 1930 wäre zu nennen.122 Rein quantitativ ergingen im Zeitraum von 1920 bis 1928 insgesamt 21 Entscheidungen in diesem Verfahren, bis zum Ende der Weimarer Republik im Jahresschnitt also drei bis vier.123 Ein Reich-Länder-Streit war es dann auch, der den Durchbruch zur Prüfung von Reichsgesetzen brachte (dazu unter V. 2. b), S. 358 ff.). bb) Art. 19 Abs. 1, 2. Var. WRV konnte mit der Regelung des Streites zwischen einzelnen Ländern an Vorgängerregelungen anknüpfen. Denn, um wiederum Friesenhahn zu zitieren: „Aus der Natur des Bundes folgt zwingend, daß die Austragung von Streitigkeiten zwischen den Gliedern nicht
120 Siehe hierzu sowie zur Würdigung der durchaus hohen Bedeutung dieser Verfahrensart Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 192 ff.; Walter Simons, Zum Geleit, in: L-S IV, S. VII ff. (X). 121 Abdruck der Entscheidung vom 25. Oktober 1932: RGZ 138, Anhang S. 1*. Dieser für die Endphase der Weimarer Republik entscheidende Vorgang wurde in der Literatur ausgiebig nach jeder denkbaren Seite hin erörtert und erfährt deswegen an dieser Stelle keine nähere Behandlung. Minutiöse Darstellung der Reichsexekution wie des folgenden Prozesses bei Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, Stuttgart u. a. 1984, S. 1015 ff., 1120 ff.; siehe noch Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919 –1932, Düsseldorf 1985, S. 570 ff.; kompakte Zusammenfassung m. w. N. bei Stern, Staatsrecht V (Fn. 107), S. 705 ff., 730 f. – Zeitnahe kritische Einschätzung des Urteils: Simons, Zum Geleit (Fn. 105), S. XI f.; umsichtige Erörterung bei Wehler, Staatsgerichtshof (Fn. 108), S. 340 ff. 122 L-S IV, S. 104 = RGZ 129, Anhang S. 9*. Das Gericht ließ offen, ob es sich um einen Fall des Art. 15 oder des Art. 19 WRV handelte (S. 18*). In der Sache ging es um einen Antrag des Deutschen Reiches gegen das Land Thüringen wegen Unvereinbarkeit der Empfehlung von Schulgebeten des (nationalsozialistischen) Thüringischen Ministeriums für Volksbildung (Minister war Dr. Wilhelm Frick) mit Art. 148 Abs. 2 WRV. Der StGH gab dem Antrag mit der Begründung statt, daß Art. 148 Abs. 2 WRV dem Schutz der Empfindungen Andersdenkender diene, die empfohlenen Gebete durch ihre nationalsozialistischen Inhalte in den Dienst parteipolitischer Forderungen gestellt würden, um gerade den Zorn gegen Andersdenkende zu schüren, indem sie sich „gegen die politischen Anschauungen weiter Kreise des deutschen Volkes wenden und ein Bekenntnis zum Antisemitismus enthalten in der Form, daß die Anhänger jener politischen Anschauung [der Sozialdemokratie, H. D.] und die Juden als Volksbetrüger und Landesverräter gebrandmarkt werden“ (S. 25*). – Simons, Zum Geleit (Fn. 120), S. XI vermerkt, dieser Streit habe „wegen seiner politischen Bedeutung großes Aufsehen erregt“. Stenographisches Protokoll der mündlichen Verhandlung in: Erwin Bumke (Hrsg.), Verfassungswidrigkeit der thüringischen Schulgebete, Berlin 1931, S. 23 ff. 123 Insgesamt waren es 37 Entscheidungen. Im einzelnen: Bis 1928 ergingen 21 Entscheidungen (L-S I, S. 19 f.), im Jahre 1929 deren drei (L-S II, S. 13), 1930 bis September 1931 vier (L-S IV, S. 1), Oktober 1931 bis September 1932 fünf (L-S V, S. 1), danach bis zum Ende nochmals vier (L-S VI, S. 1). Das ergibt einen Jahresschnitt von rd. 3,5 Entscheidungen. – Zum Vergleich: Im Zeitraum von 1951 bis 2000 hatte das Bundesverfassungsgericht insgesamt nur 35 Eingänge beim Bund-Länder-Streit zu verzeichnen (Zahlen nach: Peter Badura / Horst Dreier [Hrsg.], Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, Tübingen 2001, S. 931 ff., 934).
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der Gewalt überlassen bleiben kann“, weshalb deren Erledigung „typische Erscheinungen für jeden Bund“ seien.124 Art. 19 WRV tritt in dieser Perspektive an die Stelle des Art. 76 Abs. 1 der Reichsverfassung von 1871, der die Entscheidung freilich dem Bundesrat und damit einem denkbar ungeeigneten Organ übertragen hatte.125 Typische Streitgegenstände bilden Hoheitsrechte, Verlauf der Landesgrenzen, Gewässernutzungen und Staatsverträge.126 Streitbeteiligt sind allein die Landesregierungen.127 Diese Verfahrensart war in Weimar quantitativ wie qualitativ betrachtet von eher geringem Gewicht.128 Von 1920 bis 1928 gab es insgesamt nur sieben Verfahren129; allein in vier Fällen war Mecklenburg-Strelitz beteiligt; vornehmlich ging es um Fischerei- und Schiffahrtsfragen. Für die Jahre danach verzeichnen Lammers-Simons keine einzige Entscheidung mehr. cc) Von der größten Bedeutung war die Regelung des Art. 19 Abs. 1, 1. Var. WRV: die Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, in dem kein Gericht zu ihrer Erledigung bestand. Da Landesverfassungsgerichte mit umfassendem Zuständigkeitskatalog, der auch Verfassungsstreitigkeiten umfaßte, nur in wenigen Ländern existierten (Bayern, Thüringen, Mecklenburg-Schwerin und Oldenburg), nicht aber im mit Abstand wichtigsten und größten preußischen Staat130 (und genauso wenig in Baden, Braunschweig, Bremen, Hamburg, Sachsen, Württemberg etc.),131 wurden die politischen Konflikte bedeutender Gliedstaaten in einem bemerkenswerten Ausmaß der Judikatur des Staatsgerichtshofs unterFriesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 528. So die Einschätzung von Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 1 (S. 160). Im Detail zum Bundesrat der Bismarckverfassung in seiner Funktion als Reichsverfassungsgericht Huber, Verfassungsgeschichte III (Fn. 9), S. 1064 ff. 126 Vgl. auch Stier-Somlo, Reichs- und Landesstaatsrecht (Fn. 5), S. 401. 127 Stier-Somlo, Reichs- und Landesstaatsrecht (Fn. 5), S. 402. – Walter Simons, Zu § 98. Die Staatsgerichtsbarkeit, in: Anschütz / Thoma, Handbuch, Bd. II (Fn. 1), S. 737 ff. (738) hebt mit Bezug auf Art. 19 Abs. 1, 2. und 3. Var. ausdrücklich hervor, daß hier „die Parteirollen ohne weiteres klar“ seien, weil nur die Regierungen von Reich und Ländern Parteifähigkeit besaßen. Große Probleme warf diese Frage aber bei den Länderorganstreitigkeiten auf (dazu unter V. 2. a), S. 350 ff.). 128 Zur Würdigung Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 195 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 551. 129 L-S I, S. 21 f. 130 Die Preußische Verfassung von 1919 hatte zwar in Art. 58, 87 die Errichtung eines landeseigenen Staatsgerichtshofes vorgesehen, das erforderliche Ausführungsgesetz war jedoch nie erlassen worden. 131 Genaue Sortierung bei Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 548, 551 ff.; Wittreck, Einleitung (Fn. 95), S. 18 ff. (und dort die Übersicht 6 auf S. 51 f.). Ohne eigene Einrichtungen der Staatsgerichtsbarkeit waren Preußen, Sachsen, Mecklenburg-Strelitz, Braunschweig, Bremen, Lübeck, Schaumburg-Lippe und Waldeck. Sechs Länder (Anhalt, Baden, Hamburg, Hessen, Lippe und Württemberg) kannten Staatsgerichtshöfe für die (wenig bedeutsamen) Ministeranklagen und die Wahlanfechtung, aber nicht für die Organstreitigkeiten, für die der Staatsgerichtshof zuständig war. 124 125
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worfen.132 Das lag nicht zuletzt daran, daß der Kreis der parteifähigen Antragsteller und Antragsgegner in diesem Verfahren außerordentlich weit gezogen wurde (vgl. unter V. 2a) dd), S. 353 ff.). Auch materiell handelte es sich hierbei um den mit Abstand interessantesten Fall, weil die Norm Interpretationsprobleme bereitete, deren Bewältigung wiederum ein beträchtliches Innovationspotential offenbarte. Daher sei dieses Verfahren im folgenden näherer betrachtet. 2. Insbesondere: Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes
Den historischen Hintergrund für die Regelung des Art. 19 Abs. 1, 1. Var. WRV umschreibt Friesenhahn dahingehend, daß prinzipiell in jedem Bund, aber gerade in Deutschland seit jeher „ein Interesse an der inneren Befriedung seiner Gliedstaaten“ bestanden habe, dem man in der Geschichte mit unterschiedlichen Regelungen nachgekommen sei: „Die bundesstaatliche Entwicklung der Erledigung von Verfassungsstreitigkeiten in den Gliedstaaten mündet in den Art. 19 RV erster Fall, der insofern einen rechtsstaatlichen Fortschritt bedeutet, als die Entscheidungsgewalt von der politischen Instanz des Bundesrats an ein unabhängiges Gericht, den Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, übergegangen ist.“133
Die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes für Verfassungsstreitigkeiten in den Ländern warf nun gewichtige Auslegungsfragen auf, bei deren Beantwortung man nicht auf Tradition und Herkommen zurückgreifen konnte, so daß sich hier die offenen Interpretationsprobleme bündelten und sich daraus resultierende Meinungsdifferenzen häuften. Doch kam es im Laufe von insgesamt nur wenigen Jahren in zentralen Punkten zu einem recht breiten Konsens – dies einerseits durch die schlichte Tatsache entsprechender Judikatur des StGH, zum anderen nicht zuletzt deshalb, weil sich einige Protagonisten, unter ihnen Gerhard Anschütz, zu beträchtlichen Selbstkorrekturen veranlaßt sahen.134 Zwei Aspekte stellten sich als besonders schwierig und umstritten heraus. Einmal: Was war eigentlich genau unter Verfassungsstreitigkeiten zu verstehen, genauer: Wer konnte in einem solchen Verfahren Partei sein? Zum zweiten: Betrafen die Streitigkeiten nur die Verfassungen der Länder, oder konnte sich der Streit auch um die Auslegung der Reichsverfassung drehen? Es ging 132 Siehe im einzelnen Wolfgang Eiswaldt, Die Staatsgerichtshöfe in den deutschen Ländern und Art. 19 der Reichsverfassung, in: Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 59 (1926), S. 299 ff. (320 ff.). 133 Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 528. Den Fortschritt gegenüber der Regelung in Art. 76 der Reichsverfassung von 1871, die den Bundesrat als Organ für einen gütlichen Ausgleich vorgesehen und die Sache im Falle des Scheiterns der Reichsgesetzgebung überantwortet hatte, betont desgleichen Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 1 (S. 160 f.). 134 Dazu sogleich unter V. 2. a), S. 350 ff.
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somit um die beiden Bestandteile des Wortes „Verfassungsstreitigkeiten“: Welche Verfassung war gemeint – die des jeweiligen Landes oder auch die des Reiches? Und: Wer durfte eine entsprechende Streitigkeit führen, also Partei in der Verfassungsstreitigkeit sein? Beginnen wir mit der letzten Frage. a) Interpretatorische Reduktion auf Organstreitigkeiten: aa) Daß Art. 19 WRV neben den Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern auf der einen Seite sowie zwischen diesen lediglich die sog. Organstreitigkeiten (in unserem heutigen Sinne) in den Ländern auf der anderen Seite (und nicht mehr) regelte, ist eigentlich erst durch eine im Laufe der Zeit erzielte weitgehende Übereinstimmung in der Beurteilung der Reichweite der Parteifähigkeit durch Judikatur und Literatur klar geworden. Denn der pure Wortlaut legte eine solche Beschränkung nicht nahe. Das lag an der eigentümlichen Kargheit des Art. 19 WRV bei der Bestimmung der streitenden Subjekte dieser Verfassungsstreitigkeiten. Bei einigermaßen unbefangener Betrachtung konnte man ohne weiteres auf die Idee kommen, daß als verfassungsrechtlicher Streit jeder Streit (auch der zwischen Bürger und Staat) über die Verfassung anzusehen sei, so daß der StGH auch von Privatpersonen hätte angerufen werden können – die Verfassungsbeschwerde in unserem heutigen Sinn (bezogen auf die Grundrechte in den Landesverfassungen) wäre geboren worden.135 Das sind keineswegs spekulative oder hypothetische ex-post-Betrachtungen, sondern diese Fragen wurden seinerzeit eingehend diskutiert, wenngleich – jedenfalls im Laufe der Jahre – ganz überwiegend mit ablehnender Beantwortung versehen. Anschütz bringt es präzise auf den Punkt: „Nimmt man an, daß jeder Streit über die Auslegung und Anwendung der Verf., insbes. auch der Reichsverf. […] unter den Begriff VStr fällt, so würde der StGH von jedermann angerufen werden können, der mit irgendwem über irgendwelche Verfassungsvorschrift streiten will […] Insbesondere würde die Zuständigkeit des StGH gegeben sein, wenn Einzelpersonen in ihren Grundrechten verletzt zu sein behaupten, denn die Grundrechte bilden einen Teil der Verfassung.“136
Wenn man – wie der StGH – die Auffassung vertrat, wonach Verfassungsstreitigkeiten allein dadurch bestimmt sind, daß es um die Auslegung und Anwendung der Verfassung geht,137 konnte – wie etwa Ernst Friesenhahn zu 135 Gusy, Weimarer Reichsverfassung (Fn. 6), S. 214. Vgl. zur seinerzeitigen Redeweise von Verfassungsbeschwerde Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 527, 539 Fn. 72. – Nur der Freistaat Bayern hatte in § 93 seiner Verfassung vom 4. Januar 1919 eine allgemeine Verfassungsbeschwerdemöglichkeit vorgesehen, dessen Abs. 1 Satz 1 lautete: „Jeder Staatsangehörige und jede juristische Person, die in Bayern ihren Sitz hat, haben das Recht der Beschwerde an den Staatsgerichtshof, wenn sie glauben, durch die Tätigkeit einer Behörde in ihrem Recht unter Verletzung dieser Verfassung geschädigt zu sein.“ (Text: Wittreck, Landesverfassungen [Fn. 95], S. 126). Siehe dazu Thomas Bock, Das Grundrechtsverständnis des Bayerischen Staatsgerichtshofs nach der Verfassungsurkunde des Freistaates Bayern vom 14. August 1919 und das zeitgenössische Schrifttum, Diss. jur. Regensburg 2001, S. 11 ff., 17 ff. 136 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 5 (S. 164). 137 Bereits der vorläufige Staatsgerichtshof hatte in seiner Entscheidung v. 12. Juli 1921, L-S I, S. 357 (= RGZ 102, Anhang S. 415) ein denkbar weites Begriffsverständnis
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Recht geltend machte – dieses Ergebnis nur um den Preis der Inkonsequenz abgewehrt werden.138 bb) Aber die – vom Ausgangspunkt des StGH eigentlich gebotene – Konsequenz wollte seinerzeit letztlich kaum jemand ziehen,139 weder die Vertreter der Wissenschaft140 noch der StGH selbst.141 Gewichtige anderslautende Positionen wurden im Laufe der Zeit revidiert, wofür Anschütz das prominenteste Beispiel bildet.142 Da der Wortlaut für die Reduktion nicht viel von Verfassungsstreitigkeit zugrunde gelegt, indem er konstatierte: „Der Begriff Verfassungsstreitigkeiten bezeichnet seinem Wortlaut nach lediglich Streitigkeiten über die Verfassung, also Streitigkeiten, welche die Verfassung zum Gegenstand haben.“ (L-S I, S. 361 = RGZ 102, Anhang S. 419). Außerdem billigte er die vom Abgeordneten Dr. Kahl als Berichterstatter in der Sitzung des Verfassungsausschusses am 3. Juni 1919 vertretene Auffassung, wonach Verfassungsstreitigkeiten „Streitigkeiten über die Auslegung oder die Anwendung der Landesverfassung“ sind (L-S I, S. 362 = RGZ 102, Anhang S. 420). Dieser Ansatz wurde vom StGH in zahlreichen folgenden Entscheidungen bekräftigt: siehe nur StGH v. 12. Januar 1922, L-S I, S. 313 (= RGZ 104, Anhang S. 423), wo es heißt: „Im vorliegenden Fall handelt es sich zweifellos um eine Verfassungsstreitigkeit im Sinne des Art. 19 RV., da der Streit zwischen Landtag und Landtagsfraktion die Auslegung und Anwendung des § 8 der württ. Verfassung betrifft“ (L-S I, S. 315 = RGZ 104, Anhang S. 425). 138 Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 534 Fn. 46: „Die Zurückweisung des einzelnen Bürgers insbesondere […] läßt sich vom Ausgangspunkt des StGH nicht rechtfertigen.“ 139 Wobei gerade in den ersten Jahren die Stimmen derer, die auch „den Einzelnen“ als parteifähig i. S. d. Art. 19 sahen, an Zahl und Gewicht durchaus nicht gering waren. Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 538 Fn. 70 nennt u. a. Anschütz, Poetzsch und Stier-Somlo. Zum Meinungsstand auch Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 184 ff.; Friedrich Kühn, Formen des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes im deutschen Reichs- und Landesstaatsrecht, Diss. jur. Leipzig 1929, S. 54 m. Fn. 1. 140 Klar und deutlich aufgrund seiner Rechtskreis-Theorie vor allem Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 538: „Der einzelne Staatsbürger dagegen kann niemals den Staatsgerichtshof anrufen, da er nicht in einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis stehen kann.“ 141 Nach dessen st. Rspr. kam es darauf an, wer als „streitender Teil“ im Sinne des Art. 19 WRV anzusehen war. Den einzelnen Bürger, der sich auf seine Grundrechte berief, rechnete das Gericht nicht dazu: siehe StGH v. 7. Juli 1928, L-S I, S. 309 (311) (= RGZ 121, Anhang S. 8* [10* f.]); drei Entscheidungen des StGH v. 17. Dezember 1927, L-S I, S. 329 (335) (= JW 1929, S. 53); L-S I, S. 341 (345); L-S I, S. 398 (402) (= RGZ 118, Anhang S. 22* [28* f.]); StGH v. 23. März 1929, L-S II, S. 176 (182) (= RGZ 124, Anhang S. 40* [47*]); StGH v. 24. März 1932, L-S V, S. 67; StGH v. 12. Juli 1921, L-S I, S. 357 (363 f.) = RGZ 102, Anhang S. 415 (422) läßt die Frage, ob auch wahlberechtigte Staatsbürger antragsberechtigt sind, gänzlich offen. Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 184 charakterisiert die Haltung des Staatsgerichtshofs dahingehend, er scheine „entschlossen, die Lehre abzulehnen, wonach jedermann eine Verfassungsstreitigkeit mit einer Landesregierung vor den Staatsgerichtshof bringen könnte, sofern er nur nachweist, daß ihm in diesem Lande kein anderes Gericht (z. B. ein Verwaltungsgericht) hierfür offensteht und behauptet, er sei in einem Rechte verletzt, das auf einem Satze der Landesverfassung […] beruht, also z. B. auf einem Grundrechtsartikel.“ 142 Noch in der 11. Auflage seines Kommentars von 1929 rechnete Anschütz zu den parteifähigen Antragstellern am Ende einer längeren Aufzählung „endlich unter Umständen (insbesondere, wenn sie um ihre landesverfassungsmäßig gewährleisteten Rechte streiten wollen) auch Privatpersonen, einzelne Staatsbürger“ (Gerhard An-
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weiterhalf, griff man auf andere Auslegungselemente wie den Willen des Verfassunggebers zurück. Hier eröffnete sich des weiteren das Feld verschiedener theoretischer Konzepte (etwa von Verfassungsrechtskreisen und Verwaltungsrechtskreisen, von Wirkungskreisen der Gerichtsbarkeiten oder grundlegende funktionale Vorstellungen).143 Einige Überlegungen muten heute eher fremd an. So hatte etwa Heinrich Triepel dafür plädiert, „Verfassung“ in Art. 19 WRV nur im engeren Sinne, nämlich als materielle Verfassung zu verstehen, was die Grundrechte ausschließe.144 Gegen diese Auffassung sprach schon seinerzeit, daß dann vor dem StGH lediglich über Aufbau und Aufgaben der Länder, nicht aber über Grundrechte und Grundpflichten der Staatsangehörigen hätte gestritten werden können.145 Anschütz kommentierte: „Gewiß sind Grundrechtsstreitigkeiten nicht immer VStr (s. o.); die Behauptung aber, daß sie es niemals seien, geht sicher zu weit.“146 In Anschütz’ eigener, im Laufe der Zeit gewandelter Auffassung zu dieser entscheidenden und weichenstellenden Frage mischen sich Überlegungen unterschiedlicher Art. Er ringt sichtlich mit dem Problem. Und man kann – schütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 11. Aufl., Berlin 1929, Art. 19 Anm. 2 [S. 154]). Deutlich in diesem Sinne auch ders., Gesetzentwurf und Bericht, in: Verhandlungen des 34. Deutschen Juristentages zu Köln, Bd. II, Berlin / Leipzig 1927, S. 196 ff. (199): „Verfassungsstreitigkeiten ‚innerhalb eines Landes‘ sind Streitigkeiten über Verfassungsrecht, über die Auslegung und Anwendung der Verfassung des betreffenden Landes, sie alle und nur sie. Sie alle, also insbesondere ohne Unterschied, wer als Streitteil, als Partei auftritt und ob die Parteien über ihnen zustehende subjektive Rechte streiten oder nicht.“ (Hervorhebung i. O., H. D.). Ähnlich ders., Schlußwort als Berichterstatter des 34. Deutschen Juristentages, ebd., S. 273 ff. (274 f.): „[E]s würde dem Sinn der Verfassung vollkommen entsprechen, wenn man sich auf den Standpunkt stellte, […] daß in Landesverfassungsstreitigkeiten auch der Einzelne, nicht bloß als Organträger, sondern auch als Individuum, berechtigt ist, den Staatsgerichtshof anzurufen.“ – Diese Position hat Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 5, 6 (S. 164 f.) ausdrücklich revidiert. Dazu sogleich noch näher. 143 Theoretisch anspruchsvoll war vor allem das Rechtskreis-Modell von Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 523 ff. 144 Siehe Triepel, Wesen (Fn. 1), S. 22 f., der dahingehend argumentiert, Art. 19 RVerf. knüpfe „an die liberal-rechtsstaatliche Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts“ an, so daß „er deshalb unter ‚Verfassungsstreitigkeiten‘ in den Ländern die Streitigkeiten zwischen Bürger und Staat über Besitz oder Berücksichtigung individueller Rechte nicht begreifen will“ (S. 22, Hervorhebung i. O., H. D.). 145 Einer solchen Auffassung hat auch der StGH selbst in seiner Entscheidung vom 19. Dezember 1929, L-S II, S. 80 (= RGZ 127, Anhang S. 1*) eine unmißverständliche Absage erteilt, wenn er in aller Deutlichkeit konstatiert: „Sie [die o. g. Ansicht, H. D.] würde – und das spricht entscheidend gegen sie – dazu führen, daß, um den Sprachgebrauch der Reichsverfassung zu verwenden, nur über Aufbau und Aufgaben der Länder, nicht über Grundrechte und Grundpflichten der Staatsangehörigen vor dem Staatsgerichtshof gestritten werden könnte. Es muß als ausgeschlossen bezeichnet werden, daß die Reichsverfassung einem so wesentlichen Bestandteil des heutigen Verfassungsrechts, der sich nicht bloß in ihr mit Wirkung für die Länder, sondern, aus ihr mehr oder weniger vollständig übernommen, auch in vielen Landesverfassungen findet, den verfassungsrechtlichen Schutz völlig hat versagen wollen.“ (L-S II, S. 85 f. = RGZ 127, Anhang S. 1* [8* f.]) 146 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 5 (S. 165).
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retrospektiv sicher leichter – erkennen, daß sich das Problem des Grundrechtsschutzes durch eine Art von Staats- oder Verfassungsgerichtsbarkeit langsam herausschält, auch wenn es noch interpretativ umgangen werden kann.147 So heißt es bei Anschütz zunächst: „Streitigkeiten dieser Art gehören indessen, jedenfalls soweit der Rechtsschutzanspruch des Einzelnen sich gegen ein Verwaltungsorgan richtet, nicht zum Wirkungskreis der Verfassungsgerichtsbarkeit (Art. 19), sondern zu dem der Verwaltungsgerichtsbarkeit (Art. 107). […] Es ist nicht anzunehmen, daß die RVerf neben die Verwaltungsgerichte und ihre künftige Spitze, das Reichsverwaltungsgericht […] noch den StGH als oberste Instanz zur Entscheidung von Streitigkeiten über Grundrechte hat einsetzen wollen. Der Begriff der VStr bedarf daher einer Einschränkung.“148
Die h. M. faßt er dahingehend zusammen, „daß die durch Art. 19 eingesetzte Verfassungsgerichtsbarkeit ihrem Wesen nach Streitentscheidung zwischen den Bildnern des Staatswillens (den Staatsorganen i. w. S.) unter sich, nicht aber Streitentscheidung zwischen dem Staate und seinen Untertanen (Einzelpersonen, innerstaatlichen Verbänden) ist.“149
cc) Letztlich setzt sich als h. M. in Weimar die zuerst wohl von Thoma angedeutete Lösung durch, den Begriff der Verfassungsstreitigkeiten nicht über die Interpretation von „Verfassung“ adäquat einzuengen, sondern über die Figuren von Parteifähigkeit und Aktivlegitimation.150 Der Ausschluß des „jedermann“ begrenzte den Kreis der potentiellen Antragsteller bzw. Beteiligten deutlich (und machte die andernfalls ins Uferlose ausdriftende Kompetenz vermutlich überhaupt erst handhabbar). In einem Satz zusammengefaßt: Man formte die normtextlich sehr viel offenere Regelung des Art. 19 Abs. 1, 1. Var. WRV im Kern als Organstreit aus.151 dd) Bei der Bestimmung der parteifähigen Organe zeigte man sich dann allerdings ausgesprochen großzügig und nahm einiges von dem vorweg, was sich später in der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts stärker und 147 So, um argumentative Konsistenz bemüht, Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 7 Fn. 3 (S. 166): „Freilich sind nicht alle von der RVerf anerkannten oder verliehenen subjektiven Rechte fähig, Gegenstand einer VStr zu sein, nicht insbes. die Grundrechte, soweit deren Schutz Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist […].“ (Hervorhebung i. O., H. D.) 148 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 5 (S. 164). 149 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 8 (S. 166; Hervorhebung i. O., H. D.) unter Berufung auf Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 184 sowie weitere Autoren. 150 Thoma, Prüfungsrecht (Fn. 59), S. 87: „Nicht jeder Streit über den Sinn eines Verfassungsartikels ist ein Verfassungsstreit. Es kommt auf die streitenden Subjekte an.“ 151 Nochmals Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 184: Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem Sinne diene „der rechtsstaatlichen Kontrolle der inneren Staatswillensbildung, nicht, wie die Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Kontrolle der Handhabung der Staatsgewalt gegen Außenstehende“. Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 8 (S. 168): nach h. M. müsse es „sich bei der VStr grundsätzlich stets um Organschaftsstreitigkeiten handeln“.
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in sehr viel längeren Entscheidungszyklen ausgebaut finden würde;152 in einigen Punkten ging man darüber sogar deutlich hinaus. So konnte nach vergleichsweise wenigen Jahren auf einem einigermaßen festen Sockel von einschlägigen Judikaten als ausgemacht (und somit als von Literatur und Judikatur getragene herrschende Meinung) gelten, „die höchsten Staatsorgane und sonstige zur Mitwirkung an der Bildung des Staatswillens unmittelbar oder mittelbar berufene Landesstellen“153 als parteifähig i. S. d. Art. 19 WRV anzusehen. Dahinter verbarg sich eine imposante Reihe von möglichen Streitsubjekten154: – Landesregierungen und Landtage;155 – der preußische Staatsrat (als landesspezifische Besonderheit);156 – qualifizierte Minderheiten des Parlaments, die mit eigenen Rechten ausgestattet waren;157 – Sperrminoritäten für Verfassungsänderungen;158 – Landtagsfraktionen;159 – Ausschüsse des Parlaments, sofern sie von der Verfassung mit besonderen Aufgaben betraut wurden;160 152 Siehe statt vieler Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht (Fn. 3), Rn. 79 ff., 92 (zum Organstreit, insb. kritisch zur Parteifähigkeit der politischen Parteien und der Fraktionen gemäß gefestigter BVerfG-Judikatur). Eingehend Sabine Hoffmann, Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich in der verfassungsgerichtlichen Rezeption nach 1945, Berlin 2005, S. 10 ff., 38 ff. 153 StGH v. 21. November 1930, L-S IV, S. 188 (= RGZ 130, Anhang S. 3* [9*]). 154 Siehe die Auflistung von Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 534 ff.; knapp und präzise Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 8 (S. 167 f.); ferner Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 551 ff.; Hartmut Maurer, Der verfassungsrechtliche Rechtsschutz der Gemeinden, politischen Parteien und Kirchen, in: Die Ordnung der Freiheit. Festschrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2007, S. 335 ff. (336 f.). 155 Das war ganz unbestritten. Vgl. nur StGH v. 12. Juli 1921, L-S I, S. 378 (= RGZ 102, Anhang S. 425); Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 183 („Normalfall“); zustimmend auch Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 535. 156 StGH v. 23. März 1929, L-S II, S. 51 (= RGZ 124, Anhang S. 19*). Das hatte vorweg prognostiziert Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 183. 157 Beispiel aus der Judikatur: Anträge auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Siehe StGH v. 12. Januar 1922, L-S I, S. 313 (= RGZ 104, Anhang S. 423); StGH v. 18. Juni 1927, L-S I, S. 370 (= RGZ 116, Anhang S. 45*). 158 Sie erhielten so die Möglichkeit, „die Verfassungswidrigkeit von einfachen Gesetzen oder Notverordnungen gegen die Regierung geltend zu machen“ (Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit [Fn. 1], S. 536). Hier gab es Überschneidungen mit der Parteifähigkeit von Fraktionen. 159 Das waren die häufigsten Fälle. Siehe u. a. StGH v. 29. September 1923, L-S I, S. 286 (= RGZ 107, Anhang S. 17*); StGH v. 19. Dezember 1929, L-S II, S. 80 (= RGZ 127, Anhang S. 1*); StGH v. 24. Juni 1930, L-S IV, S. 175 (= RGZ 129, Anhang S. 1*); StGH v. 5. Dezember 1931, L-S V, S. 152 (= RGZ 134, Anhang S. 26* [40*]). Aus der Literatur zustimmend Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 8 (S. 167); Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 183; ablehnend hingegen Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 536 f.
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– der einzelne Abgeordnete;161 – politische Parteien;162 – Gruppen von Staatsbürgern, die zur Betreibung eines Volksbegehrens erforderlich sind.163
Der StGH schließlich ging noch weiter und sprach die Parteifähigkeit auch den Gemeinden und Landeskirchen,164 ja sogar adeligen Familienverbänden zu, sofern diese nach altem Recht mit autonomer Satzungsgewalt ausgestattet waren, was aber auf den annähernd geschlossenen Widerspruch der Wissenschaft stieß.165 Dem einzelnen Staatsbürger hingegen kam die Parteifähigkeit nach ganz h. M. nur dann zu, wenn dieser die Beeinträchtigung seiner Mitwirkungsrechte bei Wahlen und Abstimmungen geltend machen konnte.166 Dafür jedenfalls Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 537. StGH v. 12. Januar 1922, L-S I, S. 313 (= RGZ 104, Anhang S. 423); StGH v. 12. Juli 1921, L-S I, S. 357 (= RGZ 102, Anhang S. 415); zustimmend Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 184; ablehnend dagegen Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 537 mit Hinweisen auf Inkonsistenzen der Judikatur. 162 Erstmals anerkannt in drei Entscheidungen des StGH v. 17. Dezember 1927, L-S I, S. 329, 341, 398; die letztgenannte ist abgedruckt in: RGZ 118, Anhang S. 22* und bietet eine ausführliche Begründung. So heißt es u. a.: „Die Volksvertretungen der neuzeitlichen Verfassungen setzen aber das Vorhandensein von Parteien voraus. Die Durchführung der Wahlen für die Volksvertretungen ist ohne sie nicht denkbar. […] Mit ihnen rechnet denn auch die das Verhältniswahlverfahren näher regelnde Gesetzgebung. […] Aus dieser gesetzlich anerkannten engen Beziehung der Parteien zum Verhältniswahlverfahren und aus dem großen Interesse, das sie berechtigterweise an ihm haben, muß die Folgerung gezogen werden, daß sich die politischen Parteien in Verfassungsstreitigkeiten, die das Wahlrecht zum Gegenstand haben, mit Anträgen an den Staatsgerichtshof wenden dürfen.“ (S. 29* f. = L-S I, S. 402 f.). Das entsprach im Ergebnis überwiegender Meinung, war aber keineswegs selbstverständlich. Klar Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 537: „Die Anerkennung der Parteifähigkeit der politischen Parteien ist die Konsequenz der verfassungsmäßigen Einrichtung des Parteienstaates.“ Dort in Fn. 68 Beispiele für die Bejahung der Sachbefugnis von politischen Parteien: Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Landeswahlgesetzen, Anfechtung der Besetzung eines Wahlprüfungsgerichts, Behinderung von Volksbegehren. 163 StGH v. 19. Dezember 1929, L-S II, S. 80 (89) (= RGZ 127, Anhang S. 1* [13* f.]). Siehe hierzu Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 538. 164 Gemeinden: StGH v. 12. Januar 1922, L-S I, S. 366 (= DJZ 1922, Sp 427); StGH v. 13. März 1926, L-S I, S. 385 (392) (= JW 1927, S. 456 f.); StGH v. 11. Dezember 1929, L-S II, S. 99 (= RGZ 126, Anhang S. 14*); StGH v. 11. Dezember 1929, L-S II, S. 109 (= RGZ 126, Anhang S. 9*); StGH v. 5. Dezember 1931, L-S V, S. 201 (= RGZ 134, Anhang S. 12*). – Landeskirchen: StGH v. 15. Oktober 1927, L-S I, S. 292 (= RGZ 118, Anhang S. 1*); StGH v. 7. Dezember 1929, L-S II, S. 150 (= RGZ 128, Anhang S. 16*); StGH v. 24. Juni 1930, L-S IV, S. 243. 165 Altständische Korporationen: StGH v. 10. Mai 1924, L-S I, S. 254 (= RGZ 111, Anhang S. 1*) und v. 28. April 1931 (L-S IV, S. 217). Glatt ablehnend Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 538 f. („freigiebige Austeilung von Parteirollen“). Gegen Gemeinden und Kirchen auch Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 186 f. sowie Triepel, Wesen (Fn. 1), S. 24. Sehr reserviert in Bezug auf die adeligen Familienverbände Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 8 (S. 168): „wird man nur mit starken Vorbehalten zustimmen können“, der sich noch deutlicher und m. w. N. gegen die Parteifähigkeit von Gemeinden und Kirchen ausspricht (Anm. 8, S. 169). Zur Verteidigung siehe Simons, Zu § 98 (Fn. 127), S. 739 f. 160 161
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Die Fülle der parteifähigen Subjekte, vom StGH mit der technischen Wendung „Landesstelle“ umschrieben, indiziert bereits, daß es einen reichhaltigen Entscheidungsfundus gab. Der Zusammenhang liegt auf der Hand: Je mehr potentielle Antragsteller es gibt, desto mehr Verfahren sind zu erwarten. In der Tat finden sich bei keinem anderen Verfahren so viele Entscheidungen wie hier, nämlich über 90.167 Man muß sich nochmals vergegenwärtigen, daß der StGH insbesondere in einem so großen und politisch bedeutsamen Land wie Preußen als Landesverfassungsgericht fungierte, das den Löwenanteil an Fällen beisteuerte; mit einigem Abstand folgten „Mittelstaaten“ wie Baden, Hessen, Sachsen und Württemberg. Aufgrund dessen sowie der Vielfalt und Dichte der Judikate war das Verfassungsleben (zulässige Anträge immer vorausgesetzt) in einem erstaunlichen Ausmaß der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterworfen. Inhaltlich streuten die Entscheidungen denkbar breit: – Verfassungswidrigkeit von Verordnungen über die Beflaggung von Dienstgebäuden;168 – Begrenzung der Aufgaben eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses169 und Grenzen der Änderung eines Antrages auf Einsetzung eines solchen Ausschusses;170 – wahlrechtliche Bestimmungen171 und Auslegung der Wahlgrundsätze;172 – Eingemeindungen173 und kommunale Neugliederungen allgemein,174 desgleichen Auflösung selbständiger Gutsbezirke;175 166 Siehe Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 9 (S. 169 f.). Generell ablehnend Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 538: Der einzelne Staatsbürger könne „niemals den Staatsgerichtshof anrufen“. Früh hatte Thoma darauf hingewiesen, daß der einzelne Bürger dann als parteifähig anzuerkennen sei, wenn er im status activus handelt, also beispielsweise eine Gesetzesinitiative betreiben will (Thoma, Prüfungsrecht [Fn. 59], S. 87; dies aufgreifend und vertiefend ders., Staatsgerichtsbarkeit [Fn. 6], S. 184: einzelne Bürger „als Mitgestalter der staatlichen Willensbildung, als Elemente des in Streit gezogenen Verfassungsorganismus“). 167 Im einzelnen: bis 1928 waren es 25 Entscheidungen (L-S I, S. 23 ff.); allein 1929 sind 15 Entscheidungen zu verzeichnen (L-S II, S. 14 ff.); 1930 bis September 1931 sind es dann 25 (L-S IV, S. 2 ff.); Oktober 1931 bis September 1932: 16 (L-S V, S. 2 f.); von Oktober 1932 bis Februar 1933 dann noch einmal elf (L-S VI, S. 1 ff.). 168 StGH v. 9. Juli 1928, L-S I, S. 276 (= RGZ 121, Anhang S. 13*). 169 StGH v. 12. Januar 1922, L-S I, S. 313 (= RGZ 104, Anhang S. 423). 170 StGH v. 18. Juni 1927, L-S I, S. 370 (= RGZ 116, Anhang S. 45*). 171 StGH v. 7. Juli 1928, L-S I, S. 321. 172 StGH v. 17. Dezember 1927, L-S I, S. 341; StGH v. 22. Juni 1928, L-S I, S. 356. – Zur politischen Brisanz dieser Judikatur nähere Hinweise in Fn. 193 sowie Willibalt Apelt, Die Wahlrechtsentscheidungen des Staatsgerichtshofs und die letzte Regierungsbildung im Freistaat Sachsen, in: AöR N.F. 18 (1930), S. 121 ff. 173 StGH v. 12. Januar 1922, L-S I, S. 366 (= DJZ 1922, Sp. 427); StGH v. 13. März 1926, L-S I, S. 385 (= JW 1927, S. 456); StGH v. 13. März 1926, L-S I, S. 392 (= JW 1927, S. 457); StGH v. 28. April 1931, L-S IV, S. 233 (= RGZ 133, Anhang S. 15*); StGH v. 5. Dezember 1931, L-S V, S. 201 (= RGZ 134, Anhang S. 12*). 174 StGH v. 11. Dezember 1929, L-S II, S. 99 (= RGZ 126, Anhang S. 14*).
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– Notverordnungen, insb. in Preußen;176 – politische Rechte von Beamten;177 – Erklärung der Ungültigkeit einer Landtagswahl178 und von Landeswahlgesetzen;179 – Anfechtung von Reichstagswahlen;180 – Staatsleistungen an Landeskirchen;181 – Schulangelegenheiten, etwa die Bildung von religionslosen Sammelklassen und Sammelschulen;182 – Vertrauensfragen im Landtag;183 – Rechtsstellung des Preußischen Staatsrats;184 – ab 1930 dann zunehmend Fälle, die in irgendeinem Bezug zur nationalsozialistischen Partei und ihren in einigen Landtagen vertretenen Fraktionen standen.185
Somit wäre die eine Frage weitgehend beantwortet: streitendes Subjekt konnte im Verfahren nach Art. 19 Abs. 1, 1. Var. WRV zwar nicht eine Einzelperson sein, die eine Verletzung ihrer Grundrechte gegen den Staat geltend machte, sondern nur, wer in irgendeiner Weise an der StaatswillensbilStGH v. 11. Dezember 1929, L-S II, S. 114. StGH v. 21. November 1925, L-S I, S. 267 (= RGZ 112, S. 1*); StGH v. 9. Juli 1928, L-S I, S. 276 (= RGZ 121, Anhang S. 13*); StGH v. 23. März 1929, L-S II, S. 51 (= RGZ 124, Anhang S. 19*); StGH v. 13. Juli 1929, L-S II, S. 66 (= RGZ 125, Anhang S. 1*); StGH v. 25. April 1931, L-S IV, S. 158; StGH v. 28. April 1931, L-S IV, S. 275 (= RGZ 133, Anhang S. 1*); StGH v. 11. März 1932, L-S V, S. 179. Speziell dazu etwa Bill Drews, Staatsgerichtshof und preußisches Notverordnungsrecht, in: DJZ 1928, Sp. 1429 ff.; Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 187 ff.; Christoph Gusy, Weimar – die wehrlose Republik?, Tübingen 1991, S. 81 ff., 327 ff.; Hinnerk Wißmann, Verfassungsrechtsprechung im Übergang. Die Judikatur des StGH zu Notverordnungsrecht und Diktaturgewalt 1925 –1932, in: Der Staat 47 (2008), S. 187 ff.; Hornauer, Reichsgericht (Fn. 11), S. 215 ff. 177 StGH v. 23. Oktober 1929, L-S II, S. 72 (= RGZ 126, Anhang S. 1*); StGH v. 19. Dezember 1929, L-S II, S. 80 (= RGZ 127, Anhang S. 1*). 178 StGH v. 22. März 1929, L-S II, S. 127 (= RGZ 123, Anhang S. 13*). 179 StGH v. 22. März 1929, L-S II, S. 136 (= RGZ 124, Anhang S. 1*). 180 StGH v. 25. April 1931, L-S IV, S. 143. 181 StGH v. 7. Dezember 1929, L-S II, S. 150 (= RGZ 128, Anhang S. 16*); StGH v. 24. Juni 1930, L-S IV, S. 243. 182 StGH v. 24. Juni 1930, L-S IV, S. 175 (= RGZ 129, Anhang S. 1*); StGH v. 25. April 1931, L-S IV, S. 182. 183 StGH v. 18. Februar 1930, L-S IV, S. 203 (= RGZ 128, Anhang S. 46*). 184 StGH v. 31. Oktober 1923, L-S IV, S. 286 (Erledigung der Streitsache durch Vergleich). 185 Siehe drei Entscheidungen des StGH v. 27. April 1931, L-S IV, S. 168, 171, 221; StGH v. 21. November 1930, L-S IV, S. 200; StGH v. 24. März 1932, L-S V, S. 149 (Erledigung eines Antrags auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung); StGH v. 27. April 1932, L-S V, S. 180; StGH v. 20. Juni 1932, L-S V, S. 184; StGH v. 21. Juni 1932, L-S V, S. 185 (= RGZ 137, Anhang S. 5*). Vgl. noch die Hinweise in Fn. 193. 175 176
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dung beteiligt war. Der so bestimmte Kreis von Antragstellern wurde aber weit und großzügig gezogen. Nun also zur anderen Frage: Ging es bei den Verfassungsstreitigkeiten der 1. Variante des Art. 19 WRV nur um die Verfassung des jeweiligen Landes oder auch um die Reichsverfassung selbst? b) Die Reichsverfassung als Entscheidungsmaßstab? Ursprünglich hatte in der Wissenschaft wie auch der Judikatur Einigkeit darüber geherrscht, daß bei Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes Maßstab der Überprüfung nur die Verfassung des jeweiligen Landes sein konnte.186 Das lag angesichts der Funktion des Gerichts, als Verfassungsgericht für die Länder zu fungieren, die keine eigenen Verfassungsgerichte institutionalisiert hatten, auch absolut nahe. Gleichwohl vollzog der StGH hier in einer bahnbrechenden Entscheidung vom 15. Oktober 1927187 einen Schwenk und zählte zu den Streitigkeiten der ersten Variante („innerhalb eines Landes“) unter bestimmten Voraussetzungen auch solche über Auslegung und Anwendung der Reichsverfassung selbst.188 Es ist wohl kein Zufall, daß es diese Entscheidung ist, in der sich das Gericht (soweit ersichtlich, zum ersten Mal) selbst als „Hüter der Reichsverfassung“ tituliert.189 In der Sache ging es um die Aufwertung von Staatsleistungen an die Kirchen im Lande Sachsen. Das Gericht erstreckte seinen Kognitionsbereich nun keineswegs in toto auf die Reichsverfassung, sondern beschränkte sich auf diejenigen ihrer Normen, die auf die Landesverfassung einwirkten und ihrer Ergänzung dienten, also gewissermaßen zu Landesverfassungsrecht mutierten, weil sie als dessen Bestandteil angesehen wurden. Der entscheidende Satz lautete: „Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes im Sinne des Art. 19 RVerf. sind nicht nur Streitigkeiten über Auslegung und Anwendung einer Landesverfassung, sondern auch Streitigkeiten über Auslegung und Anwendung solcher reichsrechtlicher Verfassungsvorschriften, die auf das Landesverfassungsrecht einwirken und es ergänzen.“190
186 Dazu nur Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 181; Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 3, 4 (S. 161 f., 163 f.) mit konzentrierter Nachzeichnung der Entwicklung. 187 L-S I, S. 292 (= RGZ 118, Anhang S. 1*). – Zur Bedeutung dieser Entscheidung Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 180 f., der auf S. 181 von „einem kühnen, aber rechtspolitisch richtigen und juristisch vertretbaren Schritt“ spricht. 188 Hinweis bei Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 4 (S. 163), daß diese Position zuerst von Hans-Heinrich Lammers, Urteilsanmerkung zu den beiden Entscheidungen des StGH v. 13. März 1926, in: JW 1927, S. 456 ff. vertreten worden sei. 189 RGZ 118, Anhang S. 1* (4*). Die Wendung vom StGH als „Hüter“ auch bei Walter Simons, Zum Geleit, in: L-S II, S. 7 ff. (9). 190 So der Leitsatz, abgedruckt in L-S I, S. 22. Im Urteil selbst formulierte das Gericht leicht abweichend, aber in der Sache vollkommen identisch: Es sei zur Prüfung von Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung von Normen der Reichsverfassung befugt, wenn diese „auf die Landesverfassung oder (auf) landesverfassungsrechtliche Normen einwirken und insoweit eine Ergänzung der Landesverfassung bilden“: L-S I, S. 295 (= RGZ 118, Anhang S. 1* [5*]). – Nur am Rande sei erwähnt, daß
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Als solche Normen stufte die Spruchpraxis der folgenden Jahre etwa ein191: – Art. 8, 11 WRV: Reichs- und Landesabgaben; – Art. 17 WRV: freistaatliche Verfassung und Wahlgrundsätze in den Ländern; – Art. 127 WRV: Selbstverwaltung der Gemeinden; – Art. 130 Abs. 2 WRV: Freiheit der politischen Gesinnung und Vereinigungsfreiheit für Beamte; – Art. 134, 164 WRV: öffentliche Lasten, Schutz des Mittelstandes; – Art. 173, 174 WRV: Staatsleistungen an Kirchen und Schulwesen.
Die Literatur schloß sich dieser Interpretation überwiegend an, insbesondere Anschütz selbst korrigierte seine vordem anderslautende Position.192 Nachdem das Gericht diese Sicht der Dinge 1927 zum ersten Mal präsentiert hatte, wurde sie – auch gegen anhaltende Kritik – in einer ganzen Serie von Entscheidungen als ständige Rechtsprechung etabliert, man könnte auch sagen: zementiert.193 Drei Jahre später klingt das dann in der Entscheidung hier wohl die Grundlagen für die unter dem Grundgesetz noch lange virulente Diskussion über sog. Bestandteilsnormen zu suchen sind. In aller Kürze dazu Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 2. Aufl., Tübingen 2006, Art. 28 Rn. 54, 57. 191 Siehe Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 4 mit Fn. 4 (S. 164) und weiter die zusammenfassenden Auflistungen in: StGH v. 5. Dezember 1931, L-S V, S. 152 (164) (= RGZ 134, Anhang S. 26* [39*]). 192 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 19 Anm. 3, 4 (S. 161 ff.). 193 Vgl. in L-S I, S. 21 ff. in der Rubrik A. III die Entscheidungsnr. 5, 9, 10, 11, 20 mit den nur leicht variierten Aussagen: „Gegenstand einer Verfassungsstreitigkeit innerhalb eines Landes im Sinne des Art. 19 RVerf. kann auch ein Streit über Auslegung und Anwendung von Vorschriften der Reichsverfassung sein, die auf das Landesverfassungsrecht einwirken und es ergänzen.“ (Nr. 9). – „Der Begriff ‚Verfassungsstreitigkeit innerhalb eines Landes‘ im Sinne von Art. 19 RVerf. umfaßt auch Streitigkeiten über Auslegung und Anwendung der Reichsverfassung.“ (Nr. 10). – „‚Verfassungsstreitigkeit innerhalb eines Landes‘ kann auch ein Streit über Auslegung und Anwendung der Reichsverfassung sein.“ (Nr. 11). – „Eine Streitigkeit über die Auslegung und Anwendung des Art. 17 RVerf. kann ‚Verfassungsstreitigkeit innerhalb eines Landes‘ im Sinne von Art. 19 RVerf. sein.“ (Nr. 20). Drei der Entscheidungen (Nr. 9, 10 und 20) stammen vom gleichen Tage, dem 17. Dezember 1927 (Abdruck von Entscheidung Nr. 20 in: RGZ 118, Anhang S. 22* [28* ff.]); sie betrafen die Wahlgrundsätze des Art. 17 WRV und schützten vor allem kleine Parteien (darunter die NSDAP) vor Benachteiligungen und Erschwerungen ihrer Teilnahme an Wahlen. Zur politischen Brisanz der Judikatur Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 181 f. mit Hinweis auf die Feststellung des Reichsgerichtspräsidenten, durch diese Urteile sei die Öffentlichkeit erst richtig auf die Existenz des Staatsgerichtshofes aufmerksam geworden. Zum Konfliktpotential der Judikatur und ihrer späteren Änderung Wehler, Staatsgerichtshof (Fn. 108), S. 167 ff. – Siehe auch die höhnischen Bemerkungen von Hans-Heinrich Lammers, Geleitwort [datierend vom 30. April 1939], in: L-S VI, S. VII ff. (IX), man dürfe nicht übersehen, „daß der Staatsgerichtshof, so überraschend dies auf den ersten Blick erscheinen mag, sich ein gewisses Verdienst auch vom Standpunkt der NSDAP erworben hat. Hat doch der Staatsgerichtshof den Wi-
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zur Bildung von religionslosen Sammelklassen und Sammelschulen durchaus selbstbewußt so: „Der Staatsgerichtshof hält nach erneuter Prüfung an seinem bisherigen, wiederholt eingehend begründeten Standpunkt fest, daß Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes im Sinne des Art. 19 Abs. 1 RVerf. auch in der Reichsverfassung wurzelnde Streitigkeiten sein können, sofern eine Vorschrift der Reichsverfassung im Streite ist, welche die Landesverfassung oder andere landesverfassungsrechtliche Normen ergänzt. Dies trifft auf Art. 174 Abs. 1 RVerf. zu. Das Verhältnis des Deutschen Reichs zu den deutschen Ländern rechtfertigt es, diese Vorschrift ebenso zu behandeln, als wenn sie in die Verfassungen der Länder aufgenommen worden wäre.“194
Es liegt auf der Hand, daß der StGH mit dieser Judikatur den engen Aktionsbereich eines subsidiären Landesverfassungsgerichts verläßt und auf dem außerordentlich vielgestaltigen und durch zahlreiche Verfahren geprägten Feld der Organstreitigkeiten nach Art. 19 Abs. 1, 1. Var. WRV stark auf die Interpretation der Reichsverfassung durchgreift. Das wiederum ist zwar strukturell nicht neu: In den anderen beiden Verfahrensarten des Art. 19 Abs. 1 WRV konnten solche Fragen ohnehin nicht ausbleiben, und Art. 13 Abs. 2 WRV stützte sich auch und gerade auf den Gedanken, der Reichsverfassung entgegenstehendes Landesrecht aus dem Weg zu räumen. Freilich war für Art. 13 Abs. 2 WRV nicht der StGH, sondern das Reichsgericht zuständig, und die anderen beiden Verfahrensarten des Art. 19 WRV wiesen bei weitem nicht eine ähnlich hohe Entscheidungsfrequenz auf, wie sie bei der Entscheidung von Landesverfassungsstreitigkeiten zu beobachten war. Hier gestaltete sich der interpretative Zugriff leichter und effektiver. Friesenhahn stellte 1932 fest, der StGH habe das Kriterium der auf die Länder einwirkenden und sie ergänzenden reichsverfassungsrechtlichen Normen im Laufe der Zeit so weit aufgeweicht, „daß man nach der derzeitigen Lage der Rechtsprechung wohl behaupten kann, daß ein Streit über eine Norm der Reichsverfassung, die nicht gerade die Organisation des Reichstaates betrifft, genügt.“195
dersinn des starren ‚Verhältniswahlrechts‘ der Weimarer Verfassung durch peinlich genaue Auslegung der einschlägigen Verfassungsbestimmungen ad absurdum geführt. […] In verschiedener Hinsicht hat hier die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs das ihre zur Teilnahme der NSDAP als politische Partei an den Wahlkämpfen und damit zu dem sich aus diesen vielfachen Wahlkämpfen ergebenden Aufschwung der NSDAP beigetragen“. – Zum Problemkomplex Antje von Ungern-Sternberg, Die Weimarer Suche nach dem richtigen Wahlsystem – zwischen Verfassung und Rechtspolitik, in: dies. / Ulrich J. Schröder (Hrsg.), Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre, Tübingen 2011, S. 189 ff. (203 ff.). 194 StGH v. 24. Juni 1930, L-S IV, S. 175 (179) (= RGZ 129, Anhang S. 1* [6*]). – Das ging weit über die bloße Möglichkeit hinaus, daß die „Entscheidung eines Streits aus einem landesverfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis […] unter Umständen zur Entscheidung der Vorfrage nötigen [kann], ob ein Landesrechtssatz mit der Reichsverfassung vereinbar ist.“ (Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit [Fn. 1], S. 540). 195 Friesenhahn, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 541.
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3. Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen?
Doch auch darüber ging der StGH ein Jahr später noch einmal hinaus. In der Entscheidung vom 17. November 1928196 kommt es zu einer weiteren innovativen Erweiterung der Prüfungskompetenz, indem sich das Gericht für befugt erklärt, auch Reichsgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Es erklärt frank und frei: „Zur Prüfung abstrakter Fragen ist der Staatsgerichtshof nicht berufen, doch ist er befugt, in einem konkreten Rechtsstreit die Verfassungsmäßigkeit eines Reichsgesetzes nachzuprüfen.“197
Das war der Durchbruch. Es handelte sich freilich insgesamt weniger deutlich um eine offensichtliche Okkupation und einen Bruch mit der Vergangenheit als bei der Abwertungsjudikatur des Reichsgerichts in RGZ 111, 320.198 Schon der Sachverhalt dieses „Biersteuer“-Falles, in dem Preußen gegen das Reich prozessierte, war außerordentlich komplex. Im Kern ging es um die Verfassungsmäßigkeit eines in seiner ursprünglichen Form noch von der Weimarer Nationalversammlung beschlossenen Gesetzes, in dem seinerseits festgelegt worden war, daß seine Änderung nur durch verfassungsänderndes Gesetz erfolgen dürfe. Das angegriffene Änderungsgesetz aus dem Jahre 1927 war im Reichstag aber nur mit einfacher, nicht mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen worden. Im Reichsrat hatte Preußen den Antrag gestellt, Einspruch gegen das Gesetz einzulegen, was jedoch mit 37 gegen 30 Stimmen abgelehnt worden war.199 Preußen hatte für den Einspruch votiert und argumentierte nun, es sei in seinen Rechten verletzt, weil das Reich das Gesetz als rechtsgültig behandele. Denn der Einspruch sei verfassungswirksam beschlossen worden, weil für eine Verfassungsänderung auch im Reichsrat eine verfassungsändernde Mehrheit nötig sei: „Da die Reichsregierung gleichwohl den Antrag auf Einlegung des Einspruchs als abgelehnt bezeichnet und dementsprechend das Gesetz verkündet habe, bestehe infolgedessen auch ein Streit zwischen dem Reich und Preußen darüber, ob ein von Preußen im Reichsrat gestellter Antrag angenommen worden sei oder nicht.“200
Das Gericht geht über die dagegen vom Reich vorgebrachten Einwände, die sich im wesentlichen auf die anderslautende Tradition und die fehlende Rechtsgrundlage für eine Überprüfung von Reichsgesetzen stützen, bemerkenswert rasch hinweg. Eine einzige von insgesamt 27 Seiten widmet sich der Zentralfrage nach der Kompetenz des StGH, Reichsgesetze auf ÜbereinRGZ 122, Anhang S. 17* ff. Dazu Fangmann, Justiz (Fn. 73), S. 144 f. StGH v. 17. November 1928, L-S I, S. 19 (= RGZ 122, Anhang S. 17*). 198 Zu RGZ 111, 320 oben unter III. 3., S. 332 ff. 199 RGZ 122, Anhang S. 17* (19*). Ausführlich zum Sachverhalt und den verfassungsrechtlichen Fragen Karl Loewenstein, Die Rechtsgültigkeit der gesetzlichen Neuregelung der Biersteuerentschädigung, in: AöR N.F. 13 (1927), S. 234 ff. 200 RGZ 122, Anhang S. 17* (24* f.). 196 197
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stimmung mit der Reichsverfassung zu überprüfen. Der Gerichtshof verweist dazu auf einen entsprechenden Gesetzentwurf (Reichstags-Drs. 382 / 28),201 der eine solche Kompetenz in Gestalt einer abstrakten Normenkontrolle vorsah – aber nicht, indem man etwa eine Art von Vorwirkung dieses Gesetzes für sich reklamiert, sondern allein um darauf hinzuweisen, daß eine solche, gesetzlich noch nicht realisierte allgemeine Zuständigkeit des StGH nicht ausschließe, „daß ihm die Befugnis dazu auf Grund besonderer gesetzlicher Anordnung zusteht“.202 Auch der Gesetzentwurf wolle bestehende Rechte auf Anrufung des StGH unberührt lassen. Ein solches Recht sieht der Gerichtshof nun in Art. 19 WRV, der wegen des Inhalts von Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern „keinerlei Beschränkungen (enthält), durch welche die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs ausgeschlossen würde“.203 Die Literatur stimmte dieser gravierenden Änderung weitgehend zu, auch diejenigen Autoren eingeschlossen, die ein allgemeines Prüfungs- und Verwerfungsrecht der Gerichte ablehnten. Als repräsentativ kann Anschütz gelten, der in seinem Kommentar schreibt: „Die Frage, ob der Staatsgerichtshof die Verfassungsmäßigkeit des betreffenden Reichsgesetzes zu prüfen habe, ist in früheren Auflagen dieses Kommentars verneint worden. An dieser Verneinung kann nicht festgehalten werden. Auch wenn man ein Recht des Richters, die seinen Entscheidungen zugrunde zu legenden Reichsgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, im allgemeinen ablehnt, wird man sich in dem Sonderfalle, wenn die Verfassungsmäßigkeit eines Reichsgesetzes zum Gegenstand – Hauptgegenstand, nicht Inzidentpunkt! – einer Streitigkeit zwischen Reich und Ländern gemacht wird, zur Frage des richterlichen Prüfungsrechtes anders stellen müssen. Nach Art. 19 erstreckt sich die Gerichtsbarkeit des Staatsgerichtshofs auf alle ‚Streitigkeiten nichtprivatrechtlicher Art zwischen dem Reich und einem Lande, soweit nicht ein anderer Gerichtshof des Reichs zuständig ist‘ (vgl. Nr. 12 zu Art. 19). Eine Streitigkeit dieser Art liegt insbesondere dann vor, wenn ein Land behauptet, durch eine verfassungswidrige Maßnahme des Reichs in seinen Rechten verletzt zu sein. Auf die Form der Maßnahme – Verwaltungsakt oder Gesetz – kommt es dabei nicht an; eine einschränkende Auslegung des Art. 19, die den dort gewährleisteten Rechtsschutz der Länder gegenüber gesetzgeberischen Maßnahmen des Reichs versagen will, ist nicht vertretbar. Somit hat der Staatsgerichtshof das Recht und die Pflicht, die von einem Lande in Frage gestellte Verfassungsmäßigkeit eines Reichsgesetzes nachzuprüfen.“204
Gewissermaßen arrondierend und argumentativ sekundierend schreibt Anschütz in den Anmerkungen zu Art. 70 WRV (Ausfertigung der Reichsgesetze durch den Reichspräsidenten), nachdem er die gängige und ganz herrschende These von der Bindung der Gerichte an die ordnungsgemäß verkündeten (Reichs-)Gesetze rekapituliert hat:
Reichstag IV. 1928 / 30, 9, Drs. 382; dazu unten VI. 2., S. 368 ff. RGZ 122, Anhang S. 17* (32*). 203 RGZ 122, Anhang S. 17* (32* f.). 204 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 15 Anm. 9 (S. 123). Für diese auch in der Wissenschaft herrschende Auffassung führt er in der Fn. u. a. Giese, Thoma und Bühler an. 201 202
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„Hiervon gibt es eine wichtige Ausnahme. Was vorstehend über die ‚Gerichte‘ im allgemeinen gesagt ist, findet keine Anwendung auf den StGH für das Deutsche Reich. Der StGH ist befugt und verpflichtet, nicht nur die vorschriftsmäßige Verkündung, sondern auch die sonstige Verfassungsmäßigkeit der Reichsgesetze nachzuprüfen und ihnen im Falle des Nichtbestehens der Prüfung die Anwendung zu versagen.“205
Das mochte überraschen. Anschütz, der alte Gegner des richterlichen Prüfungsrechts, als Befürworter einer entsprechenden Kompetenz des Staatsgerichtshofes? Doch was zunächst wenig stimmig und eher wie ein kompletter Meinungswandel aussieht, gewinnt erheblich an Konsistenz, wenn man sich die Differenzen zwischen einem allgemeinen (diffusen) richterlichen Prüfungsrecht und der spezialisierten und konzentrierten Kompetenz eines besonderen Staatsgerichtshofes vergegenwärtigt. Besonders klar wird das, wenn man als Kulminationspunkt von Reformüberlegungen etwa den 34. Deutschen Juristentag des Jahres 1926 in Köln in den Blick nimmt. Dort gab es einen explizit der Reform der Staatsgerichtsbarkeit gewidmeten Beratungsgegenstand, und einer der Gutachter war kein anderer als Anschütz. Hier wie auch bei einschlägigen Gesetzentwürfen trat deutlich zutage, daß die Kompetenz des StGH zur Überprüfung von Reichsgesetzen sozusagen de lege ferenda zum Greifen nahe lag – desgleichen die Zulassung von Verfassungsstreitigkeiten auf Reichsebene. Es eröffneten sich entscheidende Entwicklungsperspektiven auf der Grundlage von Reformbemühungen, für die es eine breite fachöffentliche und auch politische Unterstützung gab, auch wenn diese Bemühungen letztendlich aus kontingenten politischen Gründen nicht von Erfolg gekrönt waren.
VI. Entwicklungsperspektiven 1. Der 34. Deutsche Juristentag in Köln 1926
Einer der Beratungsgegenstände des 34. Deutschen Juristentages (DJT) lautete: „Empfiehlt es sich, die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs auf andere als die im Art. 19 Abs. 1 RVerf. bezeichneten Verfassungsstreitigkeiten
205 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 70 Anm. 3 (S. 369 f.). Weiter und präzisierend heißt es dort: „Dieses Prüfungsrecht steht ihm zunächst sicher zu bei Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern (Art. 19), namentlich dann, wenn die Verfassungsmäßigkeit eines Reichsgesetzes den Hauptgegenstand (Prinzipal-, nicht Inzidentfrage) der Streitigkeit darstellt […] Es steht ihm aber auch in den andern Fällen seines Wirkungskreises zu, insbesondere bei Verfassungsstreitigkeiten (Art. 19). So die herrsch. M., der sich auch diejenigen Staatsrechtslehrer anschließen, die den Gerichten im allgemeinen, insbes. den ordentlichen Gerichten das Prüfungsrecht nicht zugestehen […] Diese Sonderstellung des StGH findet ihre Rechtfertigung darin, daß er, im Unterschied zu den andern Gerichten, zur Entscheidung verfassungsrechtlicher Streitfragen berufen ist, wozu auch solche gehören, die sich auf das rechtmäßige Zustandekommen von Gesetzen beziehen.“
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auszudehnen?“206 Die Fragestellung kam keineswegs überraschend, sondern war im Grunde seit Beginn der Weimarer Republik Gegenstand der Diskussion.207 Ein entsprechender Vorschlag in der Nationalversammlung war mehrheitlich abgelehnt worden, doch in den Folgejahren hatte es immer wieder auch aus Kreisen der Staatsrechtslehre und über diese hinaus entsprechende Forderungen mehr oder weniger weitgehender Art gegeben, etwa von Richard Thoma,208 Gustav Radbruch209 oder anderen. Walter Jellinek hatte etwa auf der Staatsrechtslehrertagung in Leipzig (März 1925) ausdrücklich dafür plädiert, dem Staatsgerichtshof die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen zu übertragen.210 Im Jahre zuvor hatte die öffentlich-rechtliche Abteilung des Heidelberger Juristentages von 1924 den Beschluß gefaßt, Art. 70 WRV um eine Klausel zu ergänzen, derzufolge vor Verkündung eines Reichsgesetzes eine Entscheidung des Staatsgerichtshofes über seine Vereinbarkeit mit der Verfassung herbeigeführt werden könnte.211 Die Dringlichkeit des Problems war dann insbesondere durch die Reichsgerichtsentscheidung im 111. Bande vom 4. November 1925 mit ihrer weitreichenden Reklamierung eines allgemeinen richterlichen Prüfungsund Verwerfungsrechts (vgl. oben unter III. 3., S. 332 ff.) noch deutlicher hervorgetreten. Beim Kölner Deutschen Juristentag im September 1926 bejahten nun beide Gutachter, Anschütz und Dr. Mende (Ministerialrat des Reichsjustizministeriums), die Frage, indem sie einen gemeinschaftlichen Vorschlag zur Ver206 Hintergrund des Beratungsgegenstandes war u. a. die Usurpation des materiellen richterlichen Prüfungsrechts auch bezogen auf Reichsgesetze durch das Reichsgericht (dazu oben unter III. 3.) und ein darauf reagierender Gesetzesentwurf der Reichsregierung, der den Staatsgerichtshof auch zur Kontrolle von Reichsgesetzen ermächtigte (dazu unten unter VI. 2., S. 368 ff.), letztlich jedoch nie verabschiedet wurde (dazu Huber, Verfassungsgeschichte VI [Fn. 6], S. 563 ff., der aber S. 566 Anschütz’ beim Juristentag eingenommene Position übersieht); zum gesamten Komplex Wendenburg, Debatte (Fn. 25), S. 37 ff., 51 ff., 72 ff.; zur Tagung auch Chlosta, Gesetz (Fn. 21), S. 119 ff. 207 Zum folgenden einige Hinweise bei Wilhelm Külz, Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Reichsrechts, in: DJZ 1926, Sp. 837 ff.; siehe ferner Reichstag III. 1924 / 26, Drs. Nr. 2855, S. 3. 208 Richard Thoma, Die Grenzen des richterlichen Prüfungsrechts, in: DJZ 1925, Sp. 573 f. 209 Gustav Radbruch, Richterliches Prüfungsrecht?, in: Die Justiz I (1925 / 26), S. 12 ff. 210 Siehe Walter Jellinek, Der Schutz des öffentlichen Rechts durch ordentliche und durch Verwaltungsgerichte, VVDStRL 2 (1925), S. 8 ff. (40). Dazu etwa Chlosta, Gesetz (Fn. 21), S. 126 ff. 211 Vgl. zum Verlauf dieses Juristentages Wendenburg, Debatte (Fn. 25), S. 70 ff.; Chlosta, Gesetz (Fn. 21), S. 115 ff. – Der Beschluß lautete: „Artikel 76 RV. sollte einen Zusatz erhalten, welcher die Möglichkeit vorsieht, vor Verkündung eines Gesetzes über seine Vereinbarkeit mit der Verfassung eine Entscheidung des Staatsgerichtshofs herbeizuführen.“ Siehe Verhandlungen des 33. Deutschen Juristentages zu Heidelberg, Berlin / Leipzig 1925, S. 68. Zeitgenössischer Bericht: A. von Staff, Der 33. Deutsche Juristentag in Heidelberg, in: DJZ 1924, S. 749 ff. (753).
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fassungsänderung vorlegten, der – sozusagen als kleinsten gemeinsamen Nenner – folgende Ergänzung des Art. 19 WRV vorsah: „Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich entscheidet ferner in Streitigkeiten Beteiligter über die Auslegung und Anwendung der Reichsverfassung, soweit nicht ein anderer Gerichtshof des Reichs oder Landes zuständig ist. Die Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Reichsrechts wird durch ein Reichsgesetz geregelt.“212
Das war die fast mehr implizite als explizite, jedenfalls die denkbar knappste Einführung von Verfassungsstreitigkeiten auf Reichsebene213 sowie die Zuerkennung einer Prüfungskompetenz des StGH für Reichsgesetze. Sehr viel expliziter, juristisch präziser und detaillierter gestaltete sich sodann der von Anschütz selbst dem Juristentag vorgelegte und näher begründete, als Konkretisierung des in der vorgeschlagenen Verfassungsänderung erwähnten Reichsgesetzes gedachte „Gesetzentwurf über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Reichsrechts“.214 Hier unterscheidet er klar und deutlich zwischen der Erstreckung der abstrakten Normenkontrolle auch auf die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen einerseits, der Etablierung einer konkreten Normenkontrolle andererseits. Demgemäß lautete § 2 Abs. 1 des von Anschütz vorgelegten und dann näher erläuterten Gesetzentwurfs wie folgt215: „Bestehen Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten darüber, ob eine als Gesetz oder Verordnung verkündete Vorschrift des Reichsrechts mit der Reichsverfassung in Widerspruch stehe, so können der Reichstag, die Reichsregierung, der Reichsrat, Verhandlungen 34. DJT (Fn. 142), S. 193 f. Der Vorschlag, Art. 19 Abs. 1 WRV auf Verfassungsstreitigkeiten der Reichsorgane zu erstrecken, ist durchaus bemerkenswert. Denn: „Verfassungsstreitigkeiten innerhalb des Reichsorganismus galten den Schöpfern des Weimarer Reichsgrundgesetzes wegen ihres hochpolitischen Charakters nach wie vor als nicht-justiziabel; sie blieben wie bisher der Entscheidung der politisch verantwortlichen Kräfte überlassen.“ (Huber, Verfassungsgeschichte VI [Fn. 6], S. 543; siehe auch Stern, Staatsrecht V [Fn. 107], S. 647: keine Überprüfbarkeit wegen ihres hochpolitischen Charakters). Der StGH hatte diesen Ausschluß streng beachtet und immer wieder betont, daß er zur Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten innerhalb des Reichs nicht zuständig sei (StGH v. 7. Juli 1928, L-S I, S. 154; StGH v. 7. Dezember 1929, L-S II, S. 41; StGH v. 23. Oktober 1931, L-S V, S. 66). – Anschütz hingegen warb beharrlich für eine Einführung, die aber bis zum Ende der Weimarer Republik nicht realisiert wurde und anders als die abstrakte und konkrete Normenkontrolle auch nicht das Stadium eines Gesetzentwurfes erreichte: „Weder er (scil.: der StGH) noch ein anderes Gericht ist zuständig, ‚VStr innerhalb des Reichs‘ […] zu entscheiden. Insbesondere fehlt es an einer richterlichen Instanz zur Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den obersten Reichsorganen über die Auslegung und Anwendung der RVerf. Diese Rechtslage ist unbefriedigend und daher verbesserungsbedürftig: ein Urteil, das der 34. Deutsche Juristentag, den Vorträgen seiner Berichterstatter (Anschütz, Mende) folgend, sich rückhaltlos angeeignet hat“ (Anschütz, WRV [Fn. 5], Art. 19 Anm. 4 Fn. 3 [S. 163]). Skeptisch zur Einführung aus politischen Gründen, weil die Zeit dafür noch nicht reif sei, wiederum Simons, Zum Geleit (Fn. 6), S. 15; bekräftigend dann Anfang 1932 ders., Zum Geleit (Fn. 120), S. IX. 214 Anschütz, Gesetzentwurf und Bericht (Fn. 142), S. 194 ff. 215 Anschütz, Gesetzentwurf und Bericht (Fn. 142), S. 194. 212 213
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Minderheiten des Reichstages und des Reichsrats, die ein Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl übersteigen, die Entscheidung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich anrufen.“
Mit dieser Regelung wäre – durchaus vergleichbar mit dem heutigen Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG – die abstrakte Normenkontrolle auf Reichsebene eingeführt worden. Abs. 2 des § 2 des Entwurfs regelte die konkrete Normenkontrolle (siehe heute in variierter und erweiterter Form Art. 100 Abs. 1 GG) und lautete: „Das Recht, den Staatsgerichtshof anzurufen, steht auch jedem im letzten oder einzigen Rechtszug stehenden Gericht zu, falls es glaubt, daß ein von ihm anzuwendendes, gehörig verkündetes Reichsgesetz mit der Reichsverfassung in Widerspruch stehe.“
Daß in beiden Fällen das materielle Prüfungs- und Verwerfungsrecht eingeräumt wird, stellt – vor dem Hintergrund der geschilderten Traditionsbestände – § 2 Abs. 3 des Entwurfes noch einmal klar. Es ist in unserem thematischen Zusammenhang vielleicht weniger wichtig, ob Anschütz mit diesen Vorschlägen – wie man mutmaßen könnte – eine Art Kehrtwendung vorgenommen hat.216 Doch kann davon ohnehin keine Rede sein. Denn seine Ablehnung eines allgemeinen, jedem Richter zustehenden richterlichen Prüfungsrechts, das jedenfalls die Nichtanwendung im konkreten Fall implizierte und mangels zentraler Entscheidungsinstanz zu einer „diffusen“ Normenkontrolle217 führte, gründete ja vor allem in der Abwehr einer Desavouierung des parlamentarischen Gesetzgebers durch die konservative, monarchisch gesonnene Richterschaft. Der Vorschlag für eine verfassungsgerichtliche Institutionalisierung eines materiellen Prüfungsrechts setzt sich also nicht in unversöhnlichen Widerspruch zu seiner lange Zeit eingenommenen Position. Sein Plädoyer für eine „Monopolisierung des Prüfungsrechts in der Hand des StGH“218 implizierte vielmehr die unverän216 Tendenziell in diese Richtung Wendenburg, Debatte (Fn. 25), S. 72 ff., 117 ff. – Im folgenden greife ich auf einige Formulierungen zurück aus Dreier, Staatsrechtslehrer (Fn. 62), S. 42 ff. 217 Zur diffusen Normenkontrolle siehe oben in Fn. 39; ferner Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht (Fn. 3), Rn. 117; Lange, Grundrechtsbindung (Fn. 4), S. 19. – Die darin liegenden Gefahren für Rechtssicherheit und Rechtseinheitlichkeit wurden auch von Anschütz gesehen: ders., WRV (Fn. 5), Art. 70 Anm. 5 (S. 374 f.). 218 Anschütz, Gesetzentwurf und Bericht (Fn. 142), S. 209. Wiederum meint Anschütz das Verwerfungsrecht, nicht lediglich das Prüfungsrecht; das wird auch ebd., S. 210 deutlich, wo er ausführt: „Noch nach einer anderen Seite hin möchte ich die Aktivlegitimation ausdehnen; ich möchte sie nämlich auch den Gerichten zuerkennen: nicht allen, aber denen, die einen Fall im letzten oder einzigen Rechtszug zu entscheiden haben. Auch diesen höheren und höchsten Gerichten soll ja, nach dem von mir vertretenen Standpunkt, das Prüfungsrecht gegenüber gehörig verkündeten Reichsgesetzen nicht zustehen. Um so mehr ist es vertretbar, ihnen, falls sie glauben, daß ein von ihnen anzuwendendes Reichsgesetz mit der Reichsverfassung in Widerspruch stehe, das Recht einzuräumen, diesen Streitpunkt zur Entscheidung des StGH zu bringen, wobei in diesem wie in jedem anderen Falle der Anrufung des StGH das Ver-
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derte Ablehnung des „diffusen“ richterlichen Prüfungsrechts im Sinne einer Prüfung und Verwerfung bzw. Nichtanwendung von Reichsgesetzen durch jeden Richter. Das Vorlagerecht der Gerichte bezeichnete Anschütz denn auch typischerweise „als Ersatz des richterlichen Prüfungsrechts“219, dem er mit seinem Entwurf keineswegs das Wort redete. Vielmehr konnte – eine entsprechende Besetzung des Staatsgerichtshofs vorausgesetzt – der Entmachtung und Mißachtung des demokratischen Gesetzgebers durch eine überwiegend monarchistisch eingestellte Richterschaft entgegengewirkt werden. Das von Anschütz favorisierte Modell: Verwerfungsmonopol für Reichsgesetze bei einem Verfassungsgericht, dem die Fachgerichte für verfassungswidrig gehaltene nachkonstitutionelle formelle Gesetze zur verbindlichen Entscheidung vorlegen müssen (über deren Verfassungswidrigkeit sie also nicht selbst entscheiden dürfen), kennzeichnet im übrigen auch die Ausgestaltung des richterlichen Prüfungsrechts unter dem Grundgesetz (Art. 100 Abs. 1 GG).220 Wichtiger als die Frage nach der Konsistenz wissenschaftlicher Positionen eines Individuums ist vielleicht der Umstand, daß die Vorschläge beim DJT 1926 auf breite Zustimmung stießen.221 Und nicht nur das. Sie führten zudem zu Gesetzentwürfen, die diese Vorschläge außerordentlich detailgetreu aufgriffen und auf den Weg legislativer Änderung brachten. Die Einräumung einer Kompetenz des Staatsgerichtshofs zur Überprüfung von Reichsgesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit ging ihren Weg sozusagen fahren vor dem Prozeßgericht selbstverständlich so lange ausgesetzt werden muß, bis die Entscheidung des StGH ergangen und im RGBl. verkündet ist.“ Ein solches Vorgehen setzt die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit zwingend voraus. 219 Anschütz, Gesetzentwurf und Bericht (Fn. 142), S. 211. Völlig konsistent seine Ausführungen im Verfassungskommentar: „Die von der Rechtsprechung und einem großen Teil der Wissenschaft für richtig gehaltene Zuerkennung des Prüfungsrechts an alle Gerichte ohne Unterschied der Instanz ist rechtspolitisch nicht tragbar, vor allem nicht wegen der hiermit unausweichlich verbundenen Gefährdung der Rechtseinheit und Rechtssicherheit durch widersprechende und irreversible Entscheidungen unterer Instanzen. Tragbar ist das Prüfungsrecht nur, wenn es durch Gesetz zentralisiert, d. h. einem obersten, für das ganze Reich zuständigen Gerichtshof […] ausschließlich übertragen wird.“ (Anschütz, WRV [Fn. 5], Art. 70 Anm. 5 [S. 375]; Hervorhebung i. O., H. D.). 220 Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht (Fn. 3), Rn. 117. – Einzige Differenz: Anschütz wollte nur den Gerichten letzter oder einziger Instanz das Vorlagerecht zusprechen (Anschütz, Gesetzentwurf und Bericht [Fn. 142], S. 210). Andererseits argumentierte er gegen Beschränkungen des amtlichen Gesetzentwurfs, wonach die Gerichte sich nicht unmittelbar an den Staatsgerichtshof hätten wenden dürfen, sondern auf dem Dienstwege der obersten Justizverwaltungsbehörde Mitteilung hätten machen müssen, welche dann über eine Anrufung des Staatsgerichtshofs zu entscheiden gehabt hätte: „Diese Bestimmung gefällt mir nicht. Sie leidet an Schwerfälligkeit und an einer unangebrachten bürokratischen Ängstlichkeit; sie ist vor allem geeignet, die richterliche Unabhängigkeit zu gefährden.“ (ebd., S. 211). 221 Der gemeinsame Vorschlag der beiden Berichterstatter Anschütz und Mende wurde einstimmig angenommen, die diesen konkretisierenden Ergänzungen von Anschütz in Gestalt des Gesetzentwurfes mit großer Mehrheit, siehe Verhandlungen 34. DJT (Fn. 142), S. 288.
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von der Rechtswissenschaft zur Rechtspolitik. Dieser gilt zum Abschluß unser Augenmerk.
2. Reformgesetzentwürfe
Drei Monate vor den Kölner Beratungen hatte kein Geringerer als der Reichsminister des Innern, Dr. Külz, in der Deutschen Juristen-Zeitung einen Gesetzentwurf der Regierung vorgestellt. Diesen durchaus ungewöhnlichen Schritt begründete der Minister mit „dem außerordentlich lebhaften Interesse, das das Problem der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von reichsrechtlichen Normen bereits in der Vergangenheit gefunden habe, so daß zu erwarten stehe, daß auch der Versuch der gesetzgeberischen Lösung dieses Problems in der staatsrechtlichen und juristischen Wissenschaft eine starke kritische Würdigung finden wird.“222
In der Sache war einerseits die Möglichkeit einer abstrakten Normenkontrolle (begrenzt auf Reichstag, Reichsrat und Reichsregierung) vorgesehen,223 während die konkrete Normenkontrolle auf die Vorlage letztinstanzlicher Gerichte bei der Reichsregierung beschränkt war.224 Der Zusammenhang mit der Entscheidung des Reichsgerichts vom 4. November 1925 (vgl. unter III. 3., S. 332 ff.) liegt auf der Hand: Man wollte das reklamierte (bzw. usurpierte) weite und diffuse Prüfungsrecht durch eine Konzentration des Verwerfungsrechts beim Staatsgerichtshof domestizieren.225 Im Vergleich mit dem Beschluß des Juristentages erkennt man leicht, daß dieser in zweierlei Hinsicht über den Regierungsentwurf hinausging: zum einen dadurch, daß zu den Antragstellern im abstrakten Normenkontrollverfahren nach den Vorstellungen des DJT auch eine qualifizierte Minder222 Külz, Prüfung (Fn. 207), Sp. 842. – Zu den Gesetzentwürfen eingehend Wehler, Staatsgerichtshof (Fn. 108), S. 105 ff.; Fangmann, Justiz (Fn. 73), S. 119 ff. 223 § 1 Satz 1 des Entwurfs lautete (DJZ 1926, Sp. 842): „Bestehen Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten darüber, ob eine nach Inkrafttreten dieses Gesetzes als Gesetz oder Verordnung verkündete Rechtsvorschrift des Reiches mit der Reichsverfassung in Widerspruch stehe, so können der Reichstag, der Reichsrat oder die Reichsregierung die Entscheidung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich anrufen.“ 224 § 2 Sätze 1 u. 4 des Entwurfs lauteten (DJZ 1926, Sp. 842): „Glaubt ein im letzten oder einzigen Rechtszug entscheidendes Gericht, eine nach Inkrafttreten dieses Gesetzes als Gesetz oder Verordnung verkündete Rechtsvorschrift des Reichsrechts deshalb nicht anwenden zu können, weil sie mit der Reichsverfassung in Widerspruch stehe, so hat es unter Aussetzung des Verfahrens der Reichsregierung unter Begründung seiner Rechtsauffassung hiervon Mitteilung zu machen. […] Teilt die Reichsregierung innerhalb Monatsfrist nach Eingang der Anzeige dem Gericht mit, daß sie auf Grund des § 1 eine Entscheidung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich herbeiführen werde, so hat das Gericht das Verfahren so lange auszusetzen, bis die Entscheidung des Staatsgerichtshofs im Reichsgesetzblatt verkündet ist.“ 225 Explizit zum Zusammenhang von RGZ 111, 320 und dem Gesetzentwurf: Fangmann, Justiz (Fn. 73), S. 128 f.; Wehler, Staatsgerichtshof (Fn. 108), S. 105 ff., 183; Wendenburg, Debatte (Fn. 25), S. 37 f.
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heit des Reichstags zählte (so auch Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG); zum anderen dadurch, daß der Juristentag ein direktes Vorlagerecht (das zugleich eine Vorlagepflicht darstellte) an den Staatsgerichtshof kannte, wenngleich dieses lediglich „jedem im letzten oder einzigen Rechtszug entscheidenden Gericht“ zustehen sollte.226 Doch machte sich der dann Ende 1926 dem Reichstag vorgelegte (gegenüber dem Külzschen Vorschlag veränderte) Gesetzentwurf227 – gerade auch unter dem Eindruck des Kölner Juristentages228 – von solchen Beschränkungen frei. Den entsprechenden Antrag auf abstrakte Normenkontrolle konnten nach § 1 Abs. 1 nun „mehr als ein Drittel der Mitglieder des Reichstags oder mehr als ein Drittel der im Reichsrat vertretenen Stimmen oder die Reichsregierung“ stellen. Ausgedehnt war auch die konkrete Normenkontrolle gemäß § 6: Jedes Gericht konnte danach das Verfahren aussetzen, wenn es eine nachkonstitutionelle reichsrechtliche Norm für unvereinbar mit der Verfassung hielt. Freilich trennten sich die Wege nach gerichtshierarchischer Ordnung: das Reichsgericht, andere Höchstgerichte und Oberlandesgerichte konnten bzw. mußten die Frage dem Staatsgerichtshof vorlegen. Andere Gerichte hatten einen entsprechenden Fall den höheren Gerichten vorzulegen, auf deren Entscheidung es dann ankam.229 Indes wurde der am 16. Dezember 1926 dem Reichstag vorgelegte Gesetzentwurf niemals verabschiedet. Er war zwar im Reichsrat bereits einstimmig angenommen und in einer Generaldebatte am 14. Juni 1927 im Rechtsausschuß des Reichstages allgemein begrüßt worden, gelangte aber vor der Auflösung des Reichstages am 31. März 1928 nicht mehr ins Plenum.230 Man darf 226 § 2 Abs. 2 des Entwurfs des 34. DJT (Fn. 142), S. 194 lautete: „Das Recht, den Staatsgerichtshof anzurufen, steht auch jedem im letzten oder einzigen Rechtszug entscheidenden Gericht zu, falls es glaubt, daß ein von ihm anzuwendendes, gehörig verkündetes Reichsgesetz mit der Reichsverfassung in Widerspruch stehe.“ 227 Reichstag III. 1924 / 26, Drs. Nr. 2855. – Eingehende kritische Analyse: Richard Grau, Zum Gesetzentwurf über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen und Reichsverordnungen, in: AöR n. F. 11 (1926), S. 287 ff. 228 Zu dessen Einwirkung Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 70 Anm. 5 (S. 375); Wehler, Staatsgerichtshof (Fn. 108), S. 108; Wendenburg, Debatte (Fn. 25), S. 41. – Diesen Einfluß bringt die Begründung des Gesetzentwurfs selbst zum Ausdruck (Reichstag III. 1924 / 26, Drs. Nr. 2855, S. 4 f.). 229 Damit waren auch durchaus berechtigte Bedenken beseitigt, wonach der zunächst von Külz präsentierte Vorschlag implizit gerade das richterliche Prüfungsrecht (der unteren Instanzen) implizit akzeptiert und zudem die Vorlage von einer Entscheidung der Reichsregierung abhängig gemacht hatte. Dazu Grau, Gesetzentwurf (Fn. 227), S. 290, 322 f.; Wehler, Staatsgerichtshof (Fn. 108), S. 107; Wendenburg, Debatte (Fn. 25), S. 39 (irrig aber ders., ebd., S. 41, wonach auch in dem geänderten Entwurf noch die Anerkennung eines allgemeinen richterlichen Prüfungsrechts gesehen werden müsse). 230 Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 70 Anm. 5 (S. 375) vermutet, der Entwurf sei im zuständigen Reichstagsausschuß „stecken geblieben“. – Zu den vorangegangenen Kontroversen im Reichsrat Wehler, Staatsgerichtshof (Fn. 108), S. 109 ff., zur Debatte im Reichstag bzw. im Rechtsausschuß selbst ebd., S. 113; einen grundsätzlichen Funk-
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es aber als bemerkenswertes und aufschlußreiches Indiz für die Beharrlichkeit der Verfolgung der Reformziele bezeichnen, daß zwei Jahre später, im Oktober 1928, ein praktisch wortgleicher Gesetzesentwurf erneut eingebracht wurde.231 Er wurde wiederum an den Rechtsausschuß überwiesen und gelangte von dort vor der neuerlichen Auflösung des Reichstages im Juli 1930 nicht mehr zurück ins Plenum.232 Offenkundig wurde der Entwurf Opfer der schwierigen innenpolitischen Entwicklung mit ihren zahllosen Querelen. Beide Entwürfe waren um eine (exakt wortgleiche) Anlage ergänzt, in der in zwar stark komprimierter, aber sachlich absolut zutreffender Form das richterliche Prüfungsrecht in den USA, England, Frankreich, der Schweiz und Österreich skizziert wurde. In der Rückschau ergibt sich bei alledem leicht das Bild bzw. die Vermutung, der StGH habe sich seine Kompetenz zur Prüfung von Reichsgesetzen qua eigener Judikatur genommen, weil bzw. obwohl sie ihm zwar gesetzlich eingeräumt werden sollte, es zu einer Verabschiedung entsprechender Reformvorhaben aber letztlich nicht kam. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Das allgemeine Klima im Bereich der legislativen Faktoren (Reichsrat einstimmig für Änderung) einerseits, der Wissenschaft andererseits wirkte offenkundig ganz eindeutig zugunsten
tionswandel des parlamentarischen Regierungssystems als wahren Grund für das Scheitern der Entwürfe im Reichstag vermutet Fangmann, Justiz (Fn. 73), S. 132 ff. 231 Reichstag IV. 1928 / 30, 9, Drs. Nr. 382. – Falsch insofern die Darstellung bei Huber, Verfassungsgeschichte VI (Fn. 6), S. 564, wo es heißt: „Das zweite Kabinett Hermann Müller (1928 – 30) leitete dem Reichstag eine entsprechende Vorlage nicht mehr zu. Der nun zuständige Reichsinnenminister Severing war von der Notwendigkeit einer starken Reichsgewalt durchdrungen. Unter ihm setzten sich staatspolitische Bedenken gegen die Erweiterung der gerichtlichen Kontrolle über die politische Gewalt der demokratischen Reichslegislative und Reichsexekutive durch.“ – Die eingangs dieser Fn. genannte Reichstags-Drs. (ausgegeben am 19. Oktober 1928) beginnt mit den Worten: „Dem Reichstag beehre ich mich, den Entwurf eines Gesetzes über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Reichsrechts nebst Begründung zur Beschlußfassung vorzulegen. Der Reichsrat hat die Vorlage, die bereits beim letzten Reichstag eingebracht war (vgl. dessen Drucksache Nr. 2855), einstimmig angenommen. Er ist in der Mehrheit der Auffassung, daß der Gesetzentwurf im Hinblick auf die Bestimmung des § 5 verfassungsändernd sei. Auf den Schluß der Begründung wird in dieser Frage verwiesen. Severing.“ (Hervorhebung i. O., H. D.) – Auch Anschütz, WRV (Fn. 5), Art. 70 Anm. 5 (S. 375) spricht fehlerhafterweise davon, die Vorlage sei in den folgenden Wahlperioden nicht wieder eingebracht worden. – Richtig hingegen BVerfGE 1, 184 (194). 232 Vgl. Wehler, Staatsgerichtshof (Fn. 108), S. 113 ff.; Fangmann, Justiz (Fn. 73), S. 129 ff.; beide mit Hinweis darauf, daß in der ersten Lesung im Reichstag allein ein Vertreter der KPD sprach, der den Entwurf rundherum ablehnte. – Auch bei den eher der Linken zuzurechnenden wissenschaftlichen Autoren (Franz Neumann, Ernst Fraenkel, Otto Kirchheimer, Hermann Heller u. a.) gab es starke Vorbehalte gegen jede Form eines richterlichen Prüfungsrechts; siehe Fangmann, Justiz (Fn. 73), S. 118, 193 ff.; Wehler, Staatsgerichtshof (Fn. 108), S. 115 ff.; Wendenburg, Debatte (Fn. 25), S. 86 ff.
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eines Prüfungsrechts des Staatsgerichtshofs. Darin wurde also keine Okkupation oder Usurpation, sondern eine sinnvolle Ergänzung der gesamtstaatlichen Ordnung gesehen. Freilich blieb es ungeachtet der neuen Judikatur des StGH wegen der unveränderten Gesetzeslage bei erheblichen Einschränkungen. Nach wie vor gab es keine Verfahren der konkreten oder abstrakten Normenkontrolle, und beide konnte und wollte nun auch der StGH nicht erfinden oder einführen. Erst das Grundgesetz ging hier einen großen Schritt vorwärts. Der StGH nutzte allein die kleine Schneise, die ihm Art. 19 WRV bot, um in den hiernach vorgesehenen Streitigkeiten jedenfalls auch – akzidentiell – einer Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen nicht aus dem Weg zu gehen. Weitere Fälle außer der „Biersteuer“-Entscheidung (vgl. unter V. 3., S. 361 ff.) sind nicht bekannt geworden. Aber womöglich war hier ein Entwicklungspfad angelegt, der bei längerer ruhiger Rechtsprechungsevolution noch einiges an Innovationen und judikativen Erweiterungen richterlicher Gesetzesprüfung erbracht hätte. Wäre die politische Entwicklung in Weimar nicht so krisenhaft und letztlich katastrophal verlaufen, hätte sich die Staatsgerichtsbarkeit gewiß zu einem kompetentiell beständig wachsenden Faktor des politischen Lebens herausgebildet – mit allen Ambivalenzen eines solchen Prozesses.233 Doch selbst ohne die Realisierung der weitergehenden Reformentwürfe war die Weimarer Republik mit einer auch im internationalen Vergleich recht breiten Palette an Kontrollmöglichkeiten zur Einhaltung und Durchsetzung der Reichsverfassung ausgestattet. Man kann insofern von einem beachtlichen Arsenal an Normen zum „Verfassungsschutz“ in einem nicht nachrichtendienstlich verengten Sinne sprechen.
233 Hellsichtig und aktuell anmutend Anschütz, Gesetzentwurf und Bericht (Fn. 142), S. 211 f.: „Wir müssen uns darüber klar sein, daß, wenn diese Erweiterung Gesetz wird, wir nicht nur die Gesetzgebung, sondern darüber hinaus die ganze Politik, das ganze Verfassungsleben des Reichs mit Gewichten und Hemmungsvorrichtungen belasten, die neben ihren guten Seiten auch ihre Schattenseiten haben. [… M]ißvergnügte Minoritäten werden versuchen, die Anrufung des StGH zu Zwecken zu benutzen, die nichts anderes sind als Obstruktion. […] Der StGH wird, wenn er auch formell – wie bisher – nur mit Rechtsentscheidungen befaßt sein soll, tatsächlich doch weit mehr als bisher in Fragen hineingezogen werden, bei deren Beantwortung der politische Wille – wenn er da ist – gern geneigt ist, den juristischen Verstand zu beherrschen. Der StGH wird immer mehr zu einem politischen Machtfaktor werden, womit die Gefahr entsteht, daß bei der Besetzung der Stellen dieses Gerichtshofs nicht nur auf die richterliche Tüchtigkeit sondern auch auf die politische Stellung der Anwärter gesehen wird.“ (Hervorhebung i. O., H. D.) – Allgemein zur unvermeidlich politischen Funktion der Staatsgerichtsbarkeit, verbunden mit einer besorgten Warnung vor der „Gerontokratie einer […] Elite des Berufsrichtertums, die sich anmaßt, der Demokratie der Parlamente und Volksentscheide ihre Gesetze […] zu zerschlagen“: Thoma, Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 6), S. 197 ff. (Zitat: S. 200).
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VII. Resümee Weimar war nicht auf dem Weg zur Verfassungsgerichtsbarkeit. Weimar hatte eine Verfassungsgerichtsbarkeit – institutionell in Gestalt des StGH und des Reichsgerichts als oberster Gerichtshof gemäß Art. 13 Abs. 2 WRV, funktionell zusätzlich in Gestalt der diffusen Normenkontrolle durch alle Gerichte (vorrangig durch das Reichsgericht), was die inzidente Überprüfung von Rechtsverordnungen und Landesgesetzen betraf. Im Laufe der Jahre wurden diese Kompetenzen kraft kreativer Interpretation noch um das erfolgreich usurpierte, wenngleich eher selten in Anspruch genommene Prüfungsrecht für förmliche Reichsgesetze erweitert. Vor allem aber entfaltete der Staatsgerichtshof eine in ihrer ganzen Breite und Tiefe bislang kaum zur Kenntnis genommene oder entsprechend gewürdigte Judikatur zu wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen. Gemessen am Grundgesetz mögen sich die entsprechenden Kompetenzen als eher gering ausnehmen. Natürlich denkt man in unseren Tagen sogleich an die fehlende Verfassungsbeschwerde, die (in Weimar auf den Gesetzesweg gebrachte, aber nicht verabschiedete) abstrakte Normenkontrolle auf Reichsebene sowie die konkrete Normenkontrolle. Allerdings hat das Grundgesetz das Bundesverfassungsgericht mit einer Kompetenzfülle ausgestattet, wie man sie auf der Welt nicht oft – wenn überhaupt ein zweites Mal – wiederfindet. Insofern wohnt einem direkten Vergleich zwischen der Weimarer Reichsverfassung und dem Grundgesetz immer etwas Unfaires und natürlich auch ganz Unhistorisches inne. Versetzt man sich hingegen einmal in die Jahre der Zwischenkriegszeit, so dürfte es seinerzeit kaum einen anderen Staat gegeben haben, in dem die Kontrolle der Staatsgewalt in Reich und Ländern auf ihre Übereinstimmung mit den Vorgaben der Verfassung auf so vielfältige Art und Weise möglich war und auch praktiziert wurde wie diejenige im Deutschen Reich gemäß der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919.
Aussprache und Schlussdiskussion Gesprächsleitung: Waldhoff
Waldhoff: Ganz herzlichen Dank, Herr Dreier. Wir haben uns überlegt, dass wir die Diskussion des Referats von Herrn Dreier mit der Schlussdiskussion zusammenfassen. Herr Dreier hat ja auch mit einigen Statements, dass es kein zeitloses Modell von Verfassungsgerichtsbarkeit geben kann, dass die Entwicklungen pfadabhängig erfolgen, im Grunde auch die Anregung für eine übergreifende Diskussion gegeben. Ich bitte daher um Wortmeldungen, sowohl zum Referat von Herrn Dreier als auch zum Tagungsthema insgesamt. Wir beginnen mit Herrn Wißmann. Wißmann: Ich freue mich, dass ich am Anfang Lob und Dank an Herrn Dreier zurückgeben kann. Auch ich habe es als absoluten Gewinn empfunden, dass wir zwei Referate mit breiten Schnittstellen übertragen bekommen haben und ich meine, dass sich die Darstellungen in vielfacher Weise gut ergänzt haben. Ich möchte mich auf drei kurze Punkte beschränken, um meine Zustimmung sozusagen zu materialisieren. Das Erste ist ein kleines Detail aus der bundesrepublikanischen Frühgeschichte. Sie haben ja eben noch am Ende den Gang der Weimarer Gesetzesentwürfe zur abstrakten und konkreten Normenkontrolle vorgeführt. Und wenn ich es richtig in Erinnerung habe, hat Anfang der Fünfzigerjahre der Bundesgerichtshof versucht, gegenüber dem Bundesverfassungsgericht durchzusetzen, dass die konkrete Normenkontrolle nach Artikel 100 Grundgesetz auch nur in der Weise ablaufen dürfe, dass zunächst der Bundesgerichtshof die untergerichtliche Vorlage zur Stellungnahme bekäme. Das hat das Bundesverfassungsgericht abgelehnt und hat sich damit durchgesetzt. Auch dort also ein Pfad aus der Weimarer Vorgeschichte, der uns manches zeigen kann über die Gründungsphase der Bundesrepublik. Das Zweite: Sie haben kurz die Notverordnungsjudikatur eingeführt. Das finde ich tatsächlich auch für die Grundfrage, wie Richter gegenüber Rechtsnormen stehen, noch einmal einen interessanten Zwischenbereich, denn es war ja nicht ganz klar, ob Notverordnungen nun eher gesetzesvertretend oder doch eher als eigenständige Verordnungen zu betrachten wären. Und ich glaube, man darf schon noch einmal herausstreichen, wie Sie es auch gesagt haben: Der Staatsgerichtshof ist insoweit mutig, indem er gegen das Bestreiten, etwa von Carl Schmitt, seine Beurteilungskompetenz gegen-
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über Notverordnungen, und zwar auch solchen des Reichspräsidenten, erst einmal durchsetzt. Wenn man dann genauer hinschaut, gibt es auch dort eine interessante Vorgeschichte, die die Schicksalslinie Weimars zeigt: Die ersten Entscheidungen des Staatsgerichtshofs beziehen sich auf preußische SPD-Notverordnungen aus der Mitte der 20er Jahre. Die republikanische Regierung operierte mit einem Trick, das muss man wohl sagen, indem sie den Landtag vertagte und dann, in der Situation der Vertagung, Steuernotverordnungen machte. Das war nach Preußischer Verfassungslage deshalb möglich, weil die Zustimmung des vertagten Landtags ersetzt wurde durch eine Zustimmung des ständigen Ausschusses. In dem spielten aber die parteilosen Abgeordneten keine Rolle. Und deswegen hatte dort die Weimarer Koalition eine Mehrheit, die sie im Plenum nicht hatte. Wir würden heute wohl sagen, das war unzulässig. Politisch war es nun eine republikanischdemokratische Tat des Staatsgerichtshofs, diese Notverordnungen zwar zu kontrollieren, jedoch im Ergebnis durchzuwinken, indem sie sagten, dass ein Beurteilungsspielraum besteht, ein politisches Ermessen der Regierung, hier so vorzugehen. Und meine These dazu wäre: Das ist sozusagen der Anfang vom Ende. Das Gericht hat damit einen Maßstab vorgegeben, von dem es in der Entscheidung zum Preußenschlag nicht mehr herunterkam, weshalb die Richter sozusagen doppelt mutig hätten sein müssen, dann von Papen 1932 entgegenzutreten. Denn sie hätten auch noch mit ihrer eigenen Judikatur brechen müssen. Letzte Bemerkung zu Ihrer sehr überzeugenden Beschreibung zur Selbstermächtigung der Judikatur durch die Auszonung der Parteifähigkeit und der Klagebefugnis, die auch noch die alten Reichsritter bedachte: So sind am Ende hier bei uns auch die Frühneuzeitler wieder mit im Boot. Ganz interessant ist, dass der Präsident des Staatsgerichtshofs und Reichsgerichts Simons im Vorwort der ersten Entscheidungssammlung sagt, es wäre richtig, dass der Staatsgerichtshof dies alles so gründlich-extensiv täte. Zugleich wäre es aber auch richtig, dass es auf Reichsebene keine Organstreitigkeiten gäbe, über die der Staatsgerichtshof zu entscheiden habe, denn das müsste ihn überfordern. Das wären politische Streitigkeiten, die ein Reichsstaatsgerichtshof nicht entscheiden könne. Das, finde ich, ist auch eine interessante Pointe, die doch auch ein Gegengewicht setzt zu dieser sehr breiten Judikatur. Vielen Dank. Waldhoff: Herr Dreier bitte. Dreier: Also ich kann in allen Punkten eigentlich nur zustimmen. Zum ersten Punkt BGH und konkrete Normenkontrolle: Das steht mir jetzt zwar nicht so deutlich vor Augen, aber ich finde Ihre Darstellung völlig plausibel. So denken Richter, so funktionieren Instanzen. Es geht um Macht und Kompetenzen für die eigene Institution. Die Forderung des BGH kommt mir auch gar nicht unvertretbar vor. Sie haben von Notverordnungen in Preußen be-
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richtet. Mich wundert die lang anhaltende Ablehnung von Reichsverfassungsstreitigkeiten ein bisschen, weil man ja dann fragen müsste: Warum können wir eigentlich die Landesverfassungsstreitigkeiten in Preußen, keinem unbedeutenden Land, entscheiden? Die Begründung, Reichsverfassungsstreitigkeiten seien politisch, verfängt nicht, denn unpolitisch war das ja in Preußen auch nicht. Vor diesem Hintergrund ist wiederum der große Konsens des Juristentages und der Politik erstaunlich, solche Reichsverfassungsstreitigkeiten dann doch einzuführen, auch der Reichsrat stimmt zu, der Gesetzesentwurf wird ein zweites Mal auf den Weg gebracht und nicht, wie Ernst-Wolfgang Huber in seiner Verfassungsgeschichte schreibt, nur einmal. Huber schreibt an der Stelle, zu meiner völligen Verblüffung, der Entwurf von 1926 sei nie wiedergekommen, denn Severing, der nächste Minister, sei ein Freund der Exekutive gewesen. Und da lese ich im Reichsgesetzblatt den Entwurf von 1928 von Severing, der sagt, ich lege das alles noch einmal vor. Dieser Entwurf ist vollständig wortgleich mit dem von 1926. Ich habe das wirklich mühselig fünf Seiten lang, jeden Absatz abgeglichen. Es ist kein Komma geändert. Und Huber schreibt, Severing war ein Freund der starken Exekutive und hat das nicht wieder vorgelegt. Unglaublich! Waldhoff: Herr Willoweit. Willoweit: Ich habe eine Frage zu stellen, die mir schon seit gestern durch den Kopf geht, angesichts des Referats von Herrn Wißmann und vielleicht sowieso für den Themenbereich wichtig ist. Zunächst einmal herzlichen Dank Herr Dreier und auch Ihnen noch, Herr Wißmann für Orientierung auf einem bisher schwierig zu überschauenden Feld. Ich glaube, mit der Publikation dieser Referate wird da doch einige Klarheit geschaffen werden. Meine Frage ist eigentlich genereller Art, passt vielleicht auch unter das Stichwort Schlussdiskussion. Welches sind Maßstäbe, die da angelegt wurden oder werden sollten? Die Sache wächst aus dem 19. Jahrhundert hervor und muss eigentlich immer präsent gewesen sein, insofern, als ein Richter, wenn er nach dem Gesetz entscheidet, ein wirksam zustande gekommenes Gesetz braucht. Insofern ist inzident eine Kontrolle, ausgesprochen oder unausgesprochen, eigentlich mit dem Amt des Richters verbunden, jedenfalls in der neueren Zeit. Das ist das eine. Später tritt die Verfassung als Maßstab in den Vordergrund. Aber ich habe den Eindruck, zwischen diesen Kontrollmöglichkeiten gibt es noch eine dritte. Das klang bei Herrn Wißmann an, in der berühmten Stellungnahme oder Drohung des Richtervereins: Ein bestimmtes Gesetz würde gegen Treue und Glaube verstoßen. Und ich frage mich: Geht es hier wirklich um die Verfassung? Oder geht es auch um einen Maßstab, den man aus allgemeinen Rechtsprinzipien gewinnt, die man für höherrangig hält, sprich Vertragsfreiheit, Gewerbefreiheit und Ähnliches, die man dann in die Verfassung hineinlegt? Das würde ich von einer direkten Prü-
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fung verfassungsrechtlicher Normen unterscheiden wollen. Oder vielleicht spielt sich dasselbe bis heute auch bei der Normenkontrolle ab, dass nämlich unterschwellig Prinzipien aus der dogmatisch-theoretischen Tradition des Rechtsdenkens stammen und den Entscheidungen unterlegt werden. Also meine Frage: Welches sind die Maßstäbe gewesen? Ist es nur die Verfassung? Es ist ganz sicher auch das ordnungsgemäße Verfahren, das einem Gesetz zugrunde liegen muss. Aber dann die Frage: Inwieweit werden außer der konkreten Verfassungsnorm allgemeine Begriffe und Institutionen der Rechtsordnung als Maßstab berücksichtigt? Waldhoff: Wir bündeln jetzt einige Fragen. Ich hatte mir selbst eine notiert, die ganz nah an Herrn Willoweits Frage dran ist. Wir haben ja einen zweiten Diskurs, der parallel verläuft und bestimmt Wechselwirkung hatte, nämlich die Frage der Grundrechtsbindung von Gesetzgebung. Eine Frage, die vom richterlichen Prüfungsrecht zu trennen ist, die aber doch damit zusammenhängt. Wenn ich mich an die Reichsfinanzhofsjudikatur, die Sie ja auch erwähnt haben, richtig erinnere, spielt diese Wechselwirkung zwischen Prüfungsmaßstab, davon haben wir noch einen speziellen steuerlichen Gleichheitssatz in der Weimarer Zeit, und Prüfungsrecht eine Rolle. Gibt es Wechselwirkungen in diesem Diskurs? Ich weiß nicht, Christoph ist Deine Frage auch anschlussfähig? Dann würden wir die noch dazunehmen. Schönberger: Ich würde gern auf zwei föderative Aspekte hinweisen. Zunächst ein Zweifel. Herr Dreier, Sie haben gesagt, die Bindung der Länder an die Grundrechte der Reichsverfassung entspreche eigentlich bereits dem dogmatischen Bestand aus der Zeit des Kaiserreichs, nämlich dem Vorrang des Reichsrechts und Anschütz’ Überzeugung von der Souveränität des Reiches. Aber ist das wirklich so? Oder müsste man nicht sagen, die Situation ist grundlegend verändert in dem Augenblick, in dem die Reichsverfassung jetzt einen umfassenden Grundrechtskatalog enthält, von dem man ja gar nicht genau weiß, wie er auszulegen ist. Und dieser Grundrechtskatalog wird jetzt massiv gegen die Landesgesetzgebung in Anschlag gebracht, auf verschiedensten Feldern. Kann man dann wirklich sagen, das war schlicht der dogmatische Bestand, weil der Vorrang des Reichsrechts schon zuvor etabliert war? Ich sehe hier eher eine große Innovation. Wir haben jetzt erstmals einen Reichsgrundrechtskatalog mit weitgehend ungeklärtem Inhalt. Dieser Grundrechtskatalog wird jetzt gegen Gesetzgebung, zwar nur auf der Landesebene, aber dort ziemlich umfassend in Anschlag gebracht. Ich denke, man unterschätzt das Neue, das hier geschah, wenn man sagt, das sei alles durch den föderalen Vorrang abgegolten, denn die alte Reichsverfassung, die Bismarck-Verfassung, hatte diese Probleme ja gerade nicht. Die Prüfung kommt sicherlich ganz technisch daher, das klingt nach klassischem Normenkonflikt, aber doch wird hier plötzlich die Landesgesetzgebung zum ersten Mal einer umfassenden inhaltlichen Prüfung unterworfen.
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Und das relativiert für mich dann vielleicht auch den Bruch zu der Entscheidung des Reichsgerichts von 1925. In diesem Umfeld, in den man sich langsam daran gewöhnt, dass Normen, wenn auch nur auf der Landesebene, materiellen Anforderungen unterliegen, ist vielleicht der Sprung, das jetzt irgendwann auch auf die Reichsgesetzgebung zu erstrecken, nicht mehr ganz so groß. Aus einer eigentlich föderativen Problematik konnte mehr und anderes werden. Ergänzend will ich noch auf einen Aspekt hinweisen, der auch dazugehört, aber auf einer anderen Ebene liegt. Es ist ja interessant zu fragen, worin die Rechtfertigung dafür liegt, dass das Reich in Weimar jetzt die inneren Konflikte der Länder justizförmig löst. Und das ist ja der Löwenanteil der Entscheidungen, die der Staatsgerichtshof getroffen hat. Hier würde ich schon sagen, das steht in viel älteren Traditionslinien. Schon früher hatten Reich oder Bund innere Konflikte der Länder geschlichtet und gelöst. Auch im Bundesrat des Kaiserreichs ist das teilweise schon gemacht worden, wenn auch nicht in streng gerichtsförmiger Form. Das ist eine alte föderative Tradition. Und diese Tradition erklärt auch, warum der Sprung zu Organstreitigkeiten auf Reichsebene so schwer fällt. Der innere Konflikt in den Ländern wird immer schon als Grundproblem begriffen, dass Reich oder Bund immer im Auge haben müssen. Aber die Reichsebene selbst ist etwas ganz anderes. Und auch die rechtspolitischen Vorschläge, die Sie dokumentieren, betreffen ja gerade nicht die Möglichkeit von Organstreitigkeiten auf Reichsebene. Das hält man weiterhin für zu politisch, hier muss das Reich sozusagen autonom bleiben. Hier liegt in Weimar noch eine leere Stelle. Dieser Sprung gelingt erst mit dem Grundgesetz. Waldhoff: Auch wenn es ein bisschen viel wird: Herr Borck hat signalisiert, dass seine Frage auch genau zum Punkt passt. Borck: Zu dieser Maßstabfrage möchte ich auch noch etwas nachfragen. Neu ist ja in der Weimarer Verfassung nicht nur der – eigentlich ohnehin aus der Paulskirche bekannte – Grundrechtskatalog, sondern neu ist auch der Grundsatz der Volkssouveränität und die Formel: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Meine Frage ist jetzt: Wie würde sich dieses Prüfungsrecht (ob es möglicherweise Beispiele gab, weiß ich nicht), wie würde sich dieses Prüfungsrecht verhalten, wenn der Reichspräsident nach Artikel 73 der Reichsverfassung ein Gesetz des Reichstages dem Volke zum Entscheid vorgelegt hätte und das Gesetz angenommen worden wäre? Hätte es dann ein Prüfungsrecht gegeben, entgegen dem Grundsatz, dass die Staatsgewalt vom Volke aus geht? Oder hätten das Verfassungsgericht oder der Staatsgerichtshof die Staatsgewalt dann gleichsam für sich in Anspruch genommen? Dreier: Ich fange bei Herrn Schönberger an. Die föderale Hierarchie taucht bei mir auf als Traditionsbestand für die inzidente Kontrolle. Darü-
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ber hinaus gibt es natürlich neue verfassungsrechtliche Bestimmungen. Artikel 13 Absatz 2 ist neu, das Verhältnis Reich – Länder in Artikel 19 ist neu, das Verhältnis Länder – Länder ist nicht neu. Man hat Verbesserungen gegenüber der alten Rechtslage eingeführt, wo Kompetenzen beim Bundesrat lagen, der dafür ganz ungeeignet war. Dann die zweite Frage: Gibt es etwas Neues durch die Existenz materieller Grundrechte auf Reichsebene? Von der Gesamtstruktur her natürlich nicht, vom Sachgehalt her möglicherweise schon, aber auch nicht zwingend. Nehmen Sie die anhaltinische Berggesetzgebung, die als Verstoß gegen die Garantie der Eigentumsgarantie der Weimarer Verfassung angesehen wird. Der Sachverhalt ist ein anderer, aber die Struktur ist es eben nicht. Ich sehe nicht, dass materielle Grundrechte gleichsam selbstverständlich zu stärkeren Prüfungsrechten des Reichsgerichtes im Wege der inzidenten Normenkontrolle geführt haben. Im Übrigen haben in der von mir gesichteten Judikatur fast immer nur die wohlerworbenen Beamtenrechte, Eigentum, Enteignung, Religionsgesellschaften und Staatsleistungen an diese eine Rolle gespielt. Die anderen Grundrechte tauchen kaum auf. Das kann auch mit der fehlenden Verwaltungsgerichtsbarkeit zu tun haben. Insgesamt glaube ich, der föderale Gedanke erklärt viel, bestätigt auch die alte These von Klaus Schlaich: Föderalismus ist eine ganz starke Wurzel der Verfassungsgerichtsbarkeit. Eine mit der heutigen Situation vergleichbare Bedeutung der Grundrechte hat sich in Weimar noch nicht durchgesetzt. Drittens zu den Reichsverfassungsstreitigkeiten: Das habe ich vielleicht nicht deutlich genug gesagt. Der Deutsche Juristentag wollte die Reichsverfassungsstreitigkeiten direkt in den Artikel 19 schreiben. Und erst in einem Ausführungsgesetz wurden dann konkret abstrakte und konkrete Normenkontrolle geregelt. Die Gesetzentwürfe haben das nicht aufgegriffen, und das war wohl auch gut so. Die Vorschläge und Gesetzentwürfe zur abstrakten Normenkontrolle waren deshalb so plausibel, weil es ohne sie keine Instanz gab, die den Dissens der höchsten Staatsorgane schlichten konnte, wenn es um die Frage ging: Gilt dieses Reichsgesetz oder gilt es vielleicht nicht, weil es gegen die Verfassung verstößt?“ Preußen sagt: „Das ist verfassungsändernd, ihr habt ja gar nicht die notwendige Mehrheit.“ Die Mehrheit des Reichsrates sagt: „Wir brauchen keine größere Mehrheit, die einfache Mehrheit reicht, unsere Mehrheit reicht, das ist nicht verfassungsändernd.“ Was sagt und tut jetzt der Reichspräsident? Jeder kann sich eine unterschiedliche Meinung bilden, aber es fehlt eine streitschlichtende Instanz. Schließlich noch einmal zur Grundrechtsbindung. Auf keinen Fall waren die Grundrechte nur Programmsätze. Viele von denen galten natürlich auch direkt und unmittelbar. Aber es gab weitgehende Einschränkungsmöglichkeiten, und ihre Bedeutung für die Gesamtrechtsordnung war bei weitem nicht so groß wie heute. Deswegen dominieren in Weimar Eigentum und Enteignung, das gab es früher auch schon. Die wohlerworbenen Rechte hat-
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ten ebenfalls eine lange Tradition, desgleichen die Staatsleistungen an die Kirchen. Man hat das Gefühl, alles was an vertrauten Problemen aus der Kaiserzeit stammt, das wird massiv betrieben, weil hier vielleicht auch die Umwälzungen am massivsten waren. Und hinter Grundeigentümern, hinter der Beamtenschaft und hinter den Kirchen stand, rechtssoziologisch gesehen, eine gut organisierte Prozessmacht. Nun zu den von Herrn Willoweit angesprochenen Prüfungsmaßstäben: Waren das Treu und Glauben oder andere Prinzipien oder waren das nur konkrete Normen der Verfassung? Da gibt es eben die auffällige Differenz zwischen der Erklärung des Richtervereins von 1924, von der Richard Thoma gesagt hat, sie sei rebellisch gewesen, die dann mit allem kommt, mit zivilrechtlichen Generalklauseln, mit der Gerechtigkeit an sich, mit Treu und Glauben usw., und der späteren Entscheidung selbst. Die Entscheidung im 111. Band ist viel restriktiver, hält sich nur an das Gesetz, also an das Reichsverfassungsgesetz und sagt auch ausdrücklich, das gilt jetzt nur für die nicht verfassungsändernden Gesetze. Verfassungsändernde Gesetze könnten anderes regeln. Also von so etwas Ähnlichem wie Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes, der im Hintergrund von ewigen Rechtsprinzipien stehen könnte, ist keine Rede. Die Entscheidung hält sich im Vergleich zur Erklärung des Richtervereins deutlich zurück. Auch heute ist die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts erfahrungsgemäß dann besser, wenn sie sich an konkrete Maßstäbe des Grundgesetzes hält. In der Mitbestimmungsentscheidung von 1979 heißt es ganz klar, es gibt kein Insgesamt der Grundrechte, es gibt keinen normübergreifenden Ordnungs- und Schutzzusammenhang, wie die Arbeitgeber sagen, es gibt nur die einzelnen Normen des Grundgesetzes, und die prüfen wir durch. Ergebnis: Das Mitbestimmungsgesetz ist verfassungsmäßig. Also so viel vielleicht zu den Maßstäben. Wenn Sie durch den Vortrag einen gewissen Ordnungsgewinn verbuchen, dann freut mich das, denn ich habe selten mit einer Gliederung solange gekämpft wie mit der hier und war dann erst am Schluss so halbwegs zufrieden. Waldhoff: Die nächsten beiden, die ich zusammenfassen würde, wären Herr Grothe und Herr Klippel. Grothe: Ich möchte mich noch einmal mit einer Vaterschaftsfrage hervorwagen. Vater der Weimarer Reichsverfassung ist bekanntermaßen Hugo Preuß. Wenn ich es richtig sehe, sind auch diese Artikel der Verfassung von Hugo Preuß entworfen worden. Er hat sie später, hat die gesamte Verfassung im Zusammenhang kommentiert. Und das passt ja auch in seine Richtung: Einerseits den Föderalismus als Prinzip aufrecht zu erhalten, andererseits aber das Reich ganz stark in den Vordergrund zu rücken und die Länder nachrangig zu behandeln, mit minderer Kraft, sowohl im Artikel 13 ganz deutlich, aber auch in den Zuständigkeiten eben dieses Staatsgerichtshofs kommt das zum Ausdruck. Jetzt wäre meine ergänzende Frage: Ist dies mit
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Bezugnahme auf Preuß bekannt in den Kommentaren, in den Erörterungen dieser beiden Artikel? Ich selber weiß es schlichtweg nicht. Interessant in dem Zusammenhang ist ja, Preuß stirbt 1925. 1928 erscheint dann aus dem Nachlass von Preuß der Band „Reich und Länder“, den Anschütz herausgibt. Und in diesem Band „Reich und Länder“, das ist quasi ein Torso eines Verfassungskommentars von Preuß, werden nur einige Artikel behandelt, aber, soweit ich weiß, auch Artikel 19. Und das passt zeitlich gut zu diesen Entwürfen, die Anschütz vorlegt. Es wäre auch die Frage, ob es darin Bezüge gibt, ob er gewissermaßen Preuß als Vater noch einmal verstärkt hinzunimmt zu seiner Argumentation im Hinblick auf die Interpretation des Artikels 19 Staatsgerichtshof. Waldhoff: Bevor Herr Klippel das Wort erhält, Herr Wißmann hat glaube ich eine Teilantwort. Wißmann: Wenn Herr Dreier erlaubt: Ich habe das Protokoll aus der Verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung dazu zur Hand. Es gibt in der Tat in dem Verfassungsausschuss einen Antrag auf Einführung der abstrakten Normenkontrolle. Der war formuliert: „Wenn hundert Mitglieder des Reichstages es beantragen, ist der Staatsgerichtshof dazu berufen, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und die Übereinstimmung von Verwaltungsakten mit den Grundsätzen der Verfassung zu prüfen. Die Entscheidung des Staatsgerichtshofes ist bindend.“ Und dann wird hinzugefügt in einem Ergänzungsantrag: „Die Verfassungsmäßigkeit der Reichsgesetze und Verordnungen ist dem richterlichen Prüfungsrecht entzogen.“ Und Preuß nimmt zu diesem Antrag Stellung, das will er vollkommen ablehnen: „Das richterliche Prüfungsrecht wäre von Natur aus gegeben, wo es nicht ausdrücklich ausgeschlossen sei“. Und dann kommt dieser berühmte Satz „Es sei ein Sieg der Reaktion gewesen, das in der preußischen Verfassung, in Bezug auf Verordnungen und Gesetze, auszuschließen“. Und das wolle man jetzt hier hineinbringen, das ginge nicht. Also soweit mir das jedenfalls aus diesen Unterlagen vorliegt bis Preuß, wenn man so sagen will, indifferent, bestenfalls, eher ein Befürworter des alten Prüfungsrechts, des diffusen Prüfungsrechts. Waldhoff: Herr Klippel. Klippel: Ich habe drei Bemerkungen: Die dritte ist allgemeiner Art, gehört demnach zur Schlussdiskussion. Also gewissermaßen in aufsteigender Abstraktheit: Mein erster Gedanke nimmt eine Nebenbemerkung von Herrn Dreier auf. Sie haben das Scheitern dieser Entwürfe, die sie erwähnt haben, allgemein mit der Krisenhaftigkeit der Weimarer Republik erklärt. Ich meine nun, dass das kein Einzelbeispiel ist, sondern auf ein Strukturmerkmal der Gesetzgebung in der Weimarer Republik zielt. Ganz allgemein gibt es in der Gesetzgebungsgeschichte dieser Zeit eine Menge von Entwürfen, die
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entweder überhaupt nicht in den Reichstag eingebracht oder dort in erster oder zweiter Lesung behandelt wurden und dann scheiterten, weil der Reichstag wieder einmal aufgelöst wurde, und die daher nie als Gesetz verabschiedet wurden. Und ich nehme an, dass genau in diese Kategorie auch die von Ihnen behandelten Entwürfe fallen; aber ich weiß nicht, ob sie jemals in den Reichstag eingebracht wurden. Die zweite Bemerkung bezieht sich auf die Referate von Herrn Wißmann und Herrn Dreier und in gewisser Hinsicht auch auf Herrn Wiederin. Ich stimme Herrn Willoweit völlig zu, dass die Referate von Herr Wißmann und Herrn Dreier eine wichtige Orientierung über schwierige Fragen und einen schwierigen Bereich gebracht haben. Nachdem man solche Referate gehört hat, ist man immer klüger als zuvor und in der Lage, weitergehende Fragen zu stellen, die vielleicht etwas unfair sind, weil sie über die jeweilige eigentliche Fragestellung der Referate hinausgehen. Herr Dreier, Sie haben gesagt: Sie prüfen die Möglichkeiten, die vorhanden waren. Aber man könnte ja auch fragen: Warum bestehen denn überhaupt diese Möglichkeiten? Herr Wiederin hat zum Beispiel auf das Verhältnis Bundesstaat – Länder in Österreich verwiesen. Das könnte man auch für das Deutsche Reich fragen. Gibt es politische Zusammenhänge, die sich aus den Urteilen, die erwähnt wurden, ergeben? Warum hat das Reichsgericht einen Schwenk vollzogen und warum gibt es allgemeine Zustimmung der Wissenschaft dazu? Man könnte es auch als die große Frage nach dem „Warum“ formulieren, nämlich warum sich das alles so entwickelt hat. Damit komme ich zu einer allgemeinen Bemerkung. Bei der Themenauswahl der Vereinigung für Verfassungsgeschichte ist ja immer maßgeblich, dass der Hut, unter dem die Referate gehalten werden sollen, so breit ist, dass alle darunter passen, vom Mittelalter bis zur Zeitgeschichte und von Historikern bis hin zu Juristen. Das ist diesmal erreicht worden durch die Kombination der Begriffe „Verfassung“ und „Schutz der Verfassung“. Das gibt Anlass nicht zu Kritik am Thema der Tagung, im Gegenteil, das fällt genauso unter die Kategorie, dass man klüger geworden ist, nachdem man alle Referate gehört hat, sondern zu der Frage: Was fehlte? Nun kann nie alles abgedeckt werden bei einer Tagung, das ist klar. Aber was fehlte trotz wichtiger und weiterführender Erkenntnisse? Was fehlte, ist das Mittelalter. Man könnte ja fragen, wenn man die Frage nicht als anachronistisch von vornherein verwirft, was denn unter den Schutz der Verfassung im mittelalterlichen Sinne fällt? In der Neuzeit fehlte auch das Vereinigte Königreich. Wie ist es denn mit dem Schutz der Verfassung unter den Bedingungen des United Kingdom? Des Weiteren könnte man nach den Instrumenten fragen, die es zum Schutz der Verfassung gibt und die nur am Rande erwähnt worden sind. Ausführlich behandelt worden ist die Normenkontrolle, auch die Verfassungsgerichtsbarkeit. Herr Stourzh hat zu Recht die Vorstellung von der Höherrangigkeit der Verfassung erwähnt, die man ja auch als Instrument
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zum Schutz der Verfassung ansehen könnte, dann die erschwerte Abänderbarkeit von Verfassungsnormen – ebenfalls ein solches Instrument. Und auch am Rande zur Rede gekommen sind die Grundrechte als Bestandteil der Verfassung, sodass man auch fragen könnte: Wie hat sich denn die Durchsetzung der Grundrechte als Instrument zum Schutz der Verfassung entwickelt? Schließlich noch ein Gedanke, der nicht fehlende Themen betrifft, der sich mir aber insbesondere bei dem Referat von Herrn Härter aufgedrängt hat. Herr Härter hat ja den Schutz der Verfassung doch fundamental anders verstanden als die anderen Referate. In den anderen Referaten ging es, wenn man einmal die frühneuzeitlichen Referate ausklammert, darum, dass die Verfassung geschützt wird gegen die Verwaltung, gegen die Regierung, gegen die Gesetzgebung. Eine andere Frage ist es, wie man denn die Verfassung gegen die Bevölkerung schützt, also gegen Umsturz durch die Bevölkerung. Vieles von dem, was sich im Vormärz abgespielt hat, würden wir ja heute eigentlich als Wahrnehmung von Grundrechten gegen den Staat verstehen. Es geht mir also darum, dass man sich systematisch klarmacht, dass hier zwei verschiedene Stränge des Themas zu unterscheiden sind. Anders gesagt: Wir haben es mit zwei unterschiedlichen Begriffen von „Schutz der Verfassung“ bzw. „Verfassungsschutz“ zu tun. Dreier: Also von Ihren drei Fragen nehme ich nur zu den beiden ersten Stellung. Was das Scheitern der Entwürfe angeht: Ja, das sehe ich wie Sie, das ist eine häufige Erscheinung. Ich habe das im ähnlichen Kontext, als ich einmal über den Nationalfeiertag in der Weimarer Republik ein bisschen geforscht habe, gesehen. Da strebte man auch unterschiedliche gesetzliche Regelungen an, das ist alles gescheitert. Die beiden Entwürfe von 1926 und 1928 wurden übrigens ganz formell beim Reichstag eingebracht. Der Reichsrat hatte schon zugestimmt, dann geht das zweimal in den Reichstag und zweimal wird nichts daraus. Zweitens zu den Möglichkeiten der Überprüfung und die Frage nach dem Warum. Wir finden einmal gewisse Traditionsbestände vor, dann wird ganz bewusst zum Teil neu zugeschnitten. Neu sind der Staatsgerichtshof und Artikel 13 Absatz 2, ferner gibt es rechtspolitische Diskussionen, die dann zu weiteren Vorschlägen führen. Hinter denen steht, jedenfalls was die Juristen angeht, ganz häufig eine mit hoher Emphase, zu der auch Anschütz und Thoma durchaus fähig waren, vorgetragene Haltung, dass damit ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Rechtsstaat getan wird. Die Bewältigung dieser Fragen mit rechtlichen Mitteln ist das große Ziel, es soll nicht die politische Gewalt entscheiden und auch nicht das Brennusschwert der Gerechtigkeit, von dem Anschütz einmal spricht. Es soll nach Recht und Gesetz zugehen, das heißt, es wird die Bewältigung der Konflikte einem Gerichtshof überantwortet in einem geordneten Verfahren mit normativen Maßstäben. Und
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dann stellt sich unweigerlich die Frage nach der Grenze. Wo fangen jetzt die rein politischen Streitigkeiten an? Für viele waren das eben lange Zeit die Reichsverfassungsstreitigkeiten. Schließlich nur ein kleiner Satz zur Frage Preuß und Anschütz. Ich glaube nicht, dass Anschütz sich auf Preuß gestützt hat. Man muss sich vor Augen führen, wie schnell damals die Lernprozesse gingen und gehen mussten. Der Staatsgerichtshof agierte ja nur rund ein Dutzend Jahre. Anschütz macht ganz schnell Lernprozesse durch. Beim deutschen Juristentag 1926 definiert er noch den Verfassungsstreit im Sinne von Artikel 19 so, dass alle Streitigkeiten um die Verfassung erfasst werden, aber nur bezogen auf die Landesverfassung. In seinem Kommentar ein paar Jahre später sagt er, das stimme leider in beiderlei Hinsicht nicht. Alle Streitigkeiten um die Verfassung gingen nicht, weil wir damit die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde eines jeden Bürgers hätten, das könne man auf keinen Fall annehmen. Und die Beschränkung auf die Landesverfassung stimme auch nicht, denn der Staatsgerichtshof habe richtig erkannt, dass es sozusagen auf die Landesverfassung einwirkende Normen der Reichsverfassung gibt. Da sieht man, wie schnell das alles geht. Und so erkläre ich mir letztlich auch die Entscheidung des Staatsgerichtshofes von 1928, wo man ein Reichsgesetz überprüfte, da aber wiederum nur inter partes. Angesichts der vielen verschiedenartigen Möglichkeiten zur rechtlichen Überprüfung musste irgendwann einmal ein Fall kommen, bei dem man der Frage nach Überprüfung der Reichsgesetze nicht ausweichen konnte. So war dieser Biersteuerfall gestrickt. Hier konnte man den Reich-Länder-Streit nicht anders lösen als durch die Beantwortung der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit eines Reichsgesetzes. Auch das demonstriert wieder den Lernprozess in seiner unglaublichen Geschwindigkeit. Waldhoff: Ganz am Rande: Die Biersteuer spielte übrigens auch bei den Beratungen der Finanzverfassung des Grundgesetzes auf bayerischen Antrag eine zentrale Streitrolle […]. Dreier: Ich hatte mich immer gewundert, warum gerade beim Herrenchiemseeer Entwurf zum Grundgesetz ein umfänglicher Abschnitt der Biersteuer gewidmet ist. Jetzt weiß ich, aus welcher Ecke das stammt. Auch das Problem des einwirkenden Verfassungsrechts des Bundes auf die Länder, das wir unter dem Grundgesetz schon immer diskutieren, wird viel klarer vor dem Hintergrund der Judikatur des Staatsgerichtshofs. Ich halte das zwar für eine ganz falsche Konstruktion, weil sie die Trennung der Verfassungsräume verkennt. Aber jetzt weiß man, wo es herkommt. Überhaupt kommt sehr viel mehr aus Weimar als wir uns vor Augen führen. Waldhoff: Als Beweis nebenbei noch ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte der Biersteuer. Ich würde jetzt Herrn Heun und Herrn Simon zusammenfassen.
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Heun: Ich würde gerne eine allgemeine Bemerkung, die zwar an das Referat anknüpft, aber auch schon in die Schlussdiskussion reicht, machen, und mit einer zweiten Bemerkung die Frage des Prüfungsmaßstabes noch einmal aufgreifen. Das Erste ist, glaube ich, ein Resümee, was man aus dieser Tagung ziehen kann. Noch einmal, die ursprüngliche These, die Sie, Herr Dreier, auch schon erwähnt haben von Herrn Schlaich über die föderalistischen Wurzeln der Verfassungsgerichtsbarkeit, die bei Herrn Schlaich natürlich nur auf Deutschland bezogen war, ist hier jetzt auch noch einmal weiter exemplifiziert worden, und gilt wie wir doch gesehen haben, gerade auch im Vergleich, zu meiner Überraschung eben auch für Österreich, wo auch die föderalistischen Wurzeln ausgesprochen stark sind. Vielleicht sind sie am schwächsten in den USA, aber auch da hatten wir ja gesehen, dass einerseits die Rechtsprechung des Supreme Court eben damit anfängt, dass auch Ländergesetze wegen Verstoßes gegen das Bundesrecht für verfassungswidrig erklärt worden sind. Und dass darüber hinaus Marshall in Marbury versus Madison die Supremacy Clause, zwar dogmatisch falsch, aber eben doch zur Begründung, auch des Vorranges der Verfassung und der Möglichkeit für das Gericht das zu überprüfen herangezogen hat. Und in der Schweiz liegt auch diesen Schluss nahe. Natürlich ist es so, dass dann die Prüfung durch die Gerichte und auch die Vorschriften der Verfassung allmählich darüber hinausgehen, aber ich glaube doch, dass wir Verfassungsgerichtsbarkeit, gerade im Hinblick auf die Normenkontrolle nicht verstehen können, ohne diese föderalistischen Wurzeln im Detail uns anzuschauen. Und das ist ein ganz entscheidender Motor, der dann irgendwann dazu geführt hat, dass man die Prüfung erstreckt hat, aber der Ausgangspunkt ist eben doch der Föderalismus. Das ist die eine Bemerkung. Die zweite Bemerkung zum Maßstab. Da darf ich noch einmal anknüpfen an das, was ich gestern auch schon zum Referat von Herrn Wißmann gesagt habe. Man muss eben bei dem Prüfungsmaßstab noch einmal unterscheiden. Und da gilt einmal der Prüfungsmaßstab der organisatorischen und der kompetenzrechtlichen Vorschriften, die relativ präzise sind, klare Prüfungsmaßstäbe abgeben. Zweitens: der Prüfungsmaßstab, der jetzt hinzukommt in der Weimarer Republik mit den Grundrechten, die aber eben alle doch relativ beschränkt bleiben auf die von Wißmann noch einmal erwähnten, insbesondere bei der Enteignung, wohlerworbenen Rechte im Beamtenrecht. Und schließlich noch kirchliche Fragen, staatskirchenrechtliche Fragen, die darauf beschränkt sind, die relativ konzise sind und die in der Anwendung auch für das Verfassungsgericht jetzt keine großen Schwierigkeiten machen. Und dann kommt in der Weimarer Republik aber eben doch schon auch hinzu der Rückgriff auf ganz allgemeine Maßstäbe. Zuerst durchaus in dieser Stellungnahme des Richtervereins, die dann aber nicht umgesetzt worden ist in der Reichsgerichtsrechtsprechung. Die Frage entzündet sich aber an der Debatte über den Gleichheitssatz, also Artikel 109 Weimarer Reichsverfassung. Aber das kommt auch schon Mitte der Zwanzigerjahre auf, kulminiert
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dann in der großen Debatte auf der Staatsrechtslehrer-Tagung. Und da geht es ja in der Tat um eine weitreichende Erweiterung des Prüfungsmaßstabes auf allgemeine Gesichtspunkte der Gerechtigkeit, der Rückgriff von Kaufmann und anderen auf das Naturrecht, der gewissermaßen ganz in die Weite geht, dann relativ etwas präziser, das, was nachher das Bundesverfassungsgericht auch übernimmt, nämlich der Rückgriff auf die Rechtsprechung des Supreme Court mit der Willkürkontrolle, die Leibholz insbesondere aufgreift. Diese Debatte ist nicht abgeschlossen am Ende der Weimarer Republik, sie ist noch in vollem Gang. Das Reichsgericht hat nie in irgendeiner Entscheidung diese Thesen aufgegriffen. Wahrscheinlich wäre es aber mittelfristig bei einer Fortsetzung der Weimarer Republik auch zu dieser Erweiterung gekommen, da waren die Tendenzen sehr stark. In dieser Frage kommt natürlich auch noch einmal ganz deutlich zum Ausdruck, dass die Kontrolle durch die Gerichte befürwortet wird, natürlich auch vor allem von Leuten, die eher parlamentskritisch eingestellt sind und in der dann auch deutlich wird, dass natürlich, bei aller Befürwortung einer Verfassungskontrolle durch einen konzentrierten Staatsgerichtshof, in diesem Punkt des materiellen Prüfungsmaßstabs die klassischen gemäßigten Positivisten Anschütz und Thoma sagen: „Nein, das ist der Schritt, der geht zu weit.“ Hier bleibt deren Position auch klar, da schwenken sie in keinem Fall um, weil das ein viel zu unpräziser Maßstab ist und das auch innerhalb des Systems, des Regierungssystems eine zu starke Verlagerung weg vom demokratischen Gesetzgeber auf eine, jetzt sage ich einmal, aristokratische oder reaktionäre Gerichtsbarkeit bedeuten würde. Insofern haben wir diese Debatte schon, sie ist aber eben nicht abgeschlossen und sie wird dann letztlich erst wieder in der Bundesrepublik fortgeführt. Waldhoff: Herr Simon. Simon: Ich wollte unmittelbar an Sie eine ganz konkrete Frage stellen, Herr Dreier. Und dann auch im Sinne einer Schlussdiskussion noch einmal zum Thema etwas sagen. Zunächst die konkrete Frage im Anschluss an Ihrem Vortrag, und zwar zu den Motiven derjenigen, die einerseits den Primat des Politischen betonen, dann aber dennoch, wie etwa Severing, eine Prüfungskompetenz des Staatsgerichtshofs auch gegenüber Gesetzen erreichen wollen. Kann man das so beschreiben, dass es solchen Leuten auch darum ging, die Tendenz der Justiz, dieses Prüfungsrecht schrittweise zu okkupieren, wie es ja anscheinend in dieser einen Entscheidung im 111. Band angedeutet ist, vorweg zu nehmen, indem man diese Prüfungskompetenz bei einem bestimmten Gericht konzentriert, um sie damit zugleich einzuhegen, kontrollierbar zu machen und zu begrenzen? Dann hätte die Initiierung einer Gesetzesprüfungskompetenz des Staatsgerichtshofes eine defensive Funktion gehabt: Man zieht damit einer Tendenz der Ordentlichen Gerichtsbarkeit, auf das Feld des Gesetzgebers überzugreifen, eine Grenze. Man lenkt es in die geordneten Bahnen der Verfassungsgesetzgebung und in einen
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Kompetenzkatalog, dem man einem Verfassungsgerichtshof zuordnet. Das wäre die konkrete Frage. Nun zum Thema dieser Tagung: Da stellt sich natürlich immer die Frage nach der Abstraktheit und Reichweite des Themas: Der Hut muss einerseits weit genug sein, damit man möglichst zur Frühen Neuzeit und zur Moderne und vielleicht sogar zum Mittelalter genug Themen findet, die sich unter einem Generalthema fassen lassen. Das Problem ist nur, der Hut darf natürlich nicht soweit ausgedehnt werden, dass der Gesprächszusammenhang darunter leidet. Denn wenn dann die Themen und die Fragestellungen zu weit auseinander sind, dann können diejenigen, die zu einem Thema am einen Ende der Zeitskala vortragen, mit denen, die am anderen Ende der Zeitskala stehen, wohl nur schwer ins Gespräch kommen, und in einer gewisser Weise war hier andeutungsweise diese Gefahr zu erkennen. Deswegen waren wir bei den mittelalterlichen Themen zurückhaltend und haben uns entschlossen, den thematischen Zeitraum zu begrenzen auf den für unser Thema hier entscheidenden Zeitraum des 19. Jahrhunderts und allenfalls die Frühe Neuzeit. Es bleibt natürlich eine gewisse Unentschiedenheit zwischen dem weiten Themenfeld des „Schutzes der Verfassung“ einerseits und der stärkeren Fokussierung auf die Verfassungsgerichtsbarkeit andererseits. Das ist in der Tat ein Problem, denn natürlich war, je mehr wir uns der Moderne nähern und vom 19. Jahrhundert sprechen, das Ganze umso mehr fokussiert auf Schutz der Verfassung durch Justizialisierung zuvor mehr politischer Entscheidungsprozesse und das wird dann institutionell sichtbar in der Ausformung verschiedener Formen von Verfassungsgerichtsbarkeit. Auf diese Weise wurde der Schwerpunkt im Laufe der Tagung schleichend immer stärker in diese Richtung verlagert. Aber das hat eben den Vorzug, dass dann eine sehr dichte und, wie ich finde, hoch interessante Diskussion genau zu diesem Punkt stattfindet. Waldhoff: Den Begriff Verfassungsschutz haben wir ja weitgehend vermieden, weil wir da eher an eine Bundesbehörde in Köln denken. Aber Herr Dreier […]. Dreier: Ja, aber z. B. bei Friesenhahn, in seinem Artikel über Staatsgerichtsbarkeit im Handbuch von Anschütz / Thoma, findet sich ganz unbefangen der Terminus Verfassungsschutz, weil er unsere nachrichtendienstliche Verengung des Begriffs nicht kennt. Man findet das ganz natürlich, das ist eben Verfassungsschutz im Sinne der Erhaltung der Geltungswirkung der Normen der Verfassung, auch bei Anschütz gibt es solche Stellen. Zu Ihrer konkreten Frage: Genau so ist es. Ich würde fast die These wagen, ohne die Entscheidung im 111. Band hätte es diese Entwicklung mit der beschriebenen Dynamik nicht gegeben. Die Akteure reagieren einfach aufeinander. 1925 fällt die Entscheidung im 111. Band. Schon bei der nächsten Staatsrechtslehrer-Tagung sagt Walter Jellinek, also wir brauchen so etwas wie
Aussprache und Schlussdiskussion
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einen Staatsgerichtshof, und sagt weiter, die österreichische Lösung ist so gut, die wird sich sowieso über kurz oder lang durchsetzen. 1926 kommt der Juristentag, macht den erwähnten Vorschlag, der dann von der parallel agierenden Politik in der Substanz übernommen wird. Eigentlich ist die Sache richtig dringlich geworden durch das Reichsgericht 1925, denn die früheren Entscheidungen des Reichsfinanzhofs hatten keine vergleichbare Bedeutung. Aber die Entscheidung des Reichsgerichts in der hochpolitischen Frage der Aufwertung haben alle realisiert. Das bringt sozusagen noch einmal einen Schub in der Entwicklung nach vorne. Und auch Anschütz beruft sich beim Deutschen Juristentag „für diesen Vorschlag auf ein naheliegendes und nachahmungswürdiges Vorbild, auf unsere Schwesternrepublik Österreich.“ Das heißt einfach, der Dialog ist da. Man hat sich sehr gut wechselseitig wahrgenommen, das war schon ein ganz bemerkenswerter Prozess. Zu dem, was Werner Heun gesagt hat, kann ich nur Zustimmung signalisieren. Ich will noch einmal unterstreichen, dass die Wiederbelebung des Naturrechts durch Erich Kaufmann auf der Münsteraner Staatsrechtslehrertagung auf völliges Unverständnis bei Anschütz, Thoma und anderen stößt. Anschütz sagt sinngemäß: „Der spricht Chinesisch für mich. Was soll denn das? Wo sind denn hier die Normen und die Maßstäbe und das Juristische?“ Dieses Naturrecht hat eben das Reichsgericht nicht aufgegriffen. Das muss man einfach sagen. Insofern war Kaufmann doch mit seiner Position isoliert. Waldhoff: Jetzt habe ich noch zwei Diskutanten und die würden wir auch zusammenfassen. Wir sind noch gut in der Zeit wenn sich keine weiteren Wortmeldungen ergeben. Herr Härter und Herr Neschwara. Härter: Herr Dreier, vielen Dank noch einmal für dieses Referat, das sehr systematisch und luzide einige Grundprobleme des justiziellen Verfassungsschutzes noch einmal vor Augen geführt hat. Grundprobleme, die wir durchaus zurückverfolgen könnten bis in die Frühe Neuzeit, auch um für die Probleme und Fragen, die Diethelm Klippel aufgeworfen hat, nicht Lösungen, aber doch Ansätze von Antworten zu finden. Das wäre noch einmal in der Schlussdiskussion etwas zu erörtern. Ich möchte jetzt konkret anhand eines Beispiels nachfragen, wie wir hinter Mechanismen des justiziellen Verfassungsschutzes blicken könnten: Damit meine ich die abstrakte Normenkontrolle nach Artikel 13 Absatz 2. Sie haben dargestellt, dass bei Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten das Reich die landesrechtlichen Vorschriften prüfen kann; solche Zweifel und Meinungsverschiedenheiten reichen bis zur Wissenschaft und zur Öffentlichkeit. Nun entsteht die Frage: Wer hat das tatsächlich benutzt; wer sind die Akteure, die diese Möglichkeit, diese Option benutzen? Ich denke, es sind wohl nicht die Öffentlichkeit und wahrscheinlich auch nicht die Wissenschaft, die Verfahren in Gang bringen, son-
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Aussprache und Schlussdiskussion
dern es ist das Reich selbst. Damit können wir nach der Funktion dieses Verfassungsschutzes fragen, die vielleicht noch weiter geht. Womöglich geht es letztlich darum, dass das Reich damit im Hinblick auf die Länder eine gewisse Homogenisierung von Normativität anstrebt, die als zu disparat wahrgenommen wurde. Das könnte auch eine Funktion des justiziellen Verfassungsschutzes bilden: wenn man so will, eine Kontrolle und Disziplinierung der Länder, die selbst Gesetzgebungs- und normative Kompetenzen besitzen. Das wäre ein Grundkonflikt, den wir sehr weit historisch zurückverfolgen können. Man könnte auch nach der Wirkung fragen, denn es handelt sich um wenige Verfahren; damit erreicht man keine vollständige Homogenisierung in Bezug auf die Länder, aber vielleicht eine gewisse Selbstkontrolle, weil die Länder im Grunde zu vermeiden suchen, dass ein solches Instrument gegen sie eingesetzt wird? Waldhoff: Herr Neschwara. Neschwara: Ich knüpfe nur ganz kurz an eine Bemerkung an, die Herr Dreier jetzt zuvor gemacht hat. Und zwar die Frage der Vorbildhaftigkeit von Regelungen in Bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit in den beiden Staaten Deutsches Reich und Österreich nach 1918. Also, wenn mein Blick auf Ihr Papier fällt, auf „Einschlägige Vorschriften eines Entwurfs“ etc., 1926 und dann 1928 noch einmal eingebracht im Reichstag, dann scheint mir das eindeutig ein Vorbild zu sein für die Verfassungsnovelle 1929 und das Prüfungsrecht der Gerichte, der ordentlichen Gerichte, im Zusammenhang mit der Unterbrechung eines Verfahrens und der Anrufung des Verfassungsgerichtshofs. Es gibt wahrscheinlich eine Vielzahl von anderen Ansatzpunkten, wo dieser Rechtsvergleich einen Gewinn gebracht hätte, auch für die Tagung. Das ist vielleicht ein bisschen zu sehr im Hintergrund geblieben, diese wechselseitige Befruchtung. Ich glaube, die Akteure haben sich ja alle ganz gut gekannt. Einerseits vom Deutschen Juristentag, der ja grenzüberschreitend gewirkt und auch in Österreich zumindest zwei Mal nach 1918 stattgefunden hat. Es gibt die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, die die österreichischen Staatsrechtslehrer genauso eingeschlossen hat wie alle anderen, ich sag jetzt einmal deutschsprachigen. Was mir ein bisschen, jetzt bin ich schon beim Resümee der Tagung, abgegangen ist, ist vielleicht, im Zusammenhang mit der Frage der Institutionalisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit, mehr auch auf die Organisationsgrundlagen zu schauen, auf die personelle Substanz. Wer sind die Verfassungsrichter? Woher werden sie rekrutiert? Welche Funktionen haben sie vor ihrer Tätigkeit? Sind sie wissenschaftlich engagiert? Publizieren sie über Fragen, die sie als Verfassungsrichter behandeln? Sind sie eher aus dem akademischen Bereich? Kommen sie mehr aus der Praxis? Und in welcher Weise können sie auf die Tätigkeit von verfassungsgerichtlichen Institutionen Einfluss nehmen? Dies ist ein bisschen angeklungen beim Referat von Ewald
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Wiederin im Zusammenhang mit der Rolle Kelsens als Verfassungsrichter. Ähnliches wäre vielleicht auch gewinnbringend gewesen bei einzelnen Senatspräsidenten des Reichsgerichts. Beim Staatsgerichtshof bin ich nicht so informiert, ob sich das gelohnt hätte. Aber ich glaube, das Persönliche, die Verfassungsrichter selbst ein bisschen in das Blickfeld zu holen, wäre auch ein Gewinn für diese Tagung gewesen. Sonst kann ich nur sagen, ich nehme sehr viel an Erkenntnissen nach Wien mit. Das Mittelalter, gestehe ich, ist mir nicht abgegangen und auch die Frühe Neuzeit nicht. Danke. Dreier: Gut, dann gehe ich in der Reihenfolge der beiden Redner vor. Ich bin dankbar, dass Sie, Herr Härter, Artikel 13 Absatz 2 noch einmal angesprochen haben. Man muss hier deutlich unterscheiden zwischen dem Tatbestandsmerkmal „Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten“ und der Frage: Wer kann ein solches Verfahren anstrengen beim Reichsgericht? Und da steht in Artikel 13 Absatz 2: „zuständige Reichs- oder Landeszentralbehörde“, de facto waren das die Ministerien. Die Konstruktionen waren ganz unterschiedlich. Einmal gibt es einen Streit in Braunschweig, bei dem es um landesgesetzliche Eingriffe in das Selbstverwaltungsrecht der evangelischlutherischen Landeskirche ging. Es kommt keine gütliche Einigung zustande, und irgendwann sagt der Reichsminister des Innern: Jetzt tragen wir das zum Reichsgericht, und dann sollen die das entscheiden. In einem anderen Fall wurde das württembergische Staatsministerium aktiv. Es kamen relativ viele Akteure in Betracht, nur machten die Regierungen davon nicht oft Gebrauch. Relativ viel geschieht in den sehr aufgewühlten ersten Jahren der Republik. Das beinhaltet auch eine Art politischer Erziehungsleistung. Mit den Verfahren signalisiert man: „So, da ist die Grenze für euch, für die Länder.“ Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass bei Artikel 19 nur Verfassungsstreitigkeiten innerhalb solcher Länder durch den Staatsgerichtshof entschieden werden konnten, die nicht selber eine ausgedehnte Verfassungsgerichtsbarkeit hatten. Die Bayern haben sogleich eine weitreichende eigene Landesverfassungsgerichtsbarkeit etabliert und diese Front sozusagen geschlossen. In Preußen wiederum wurden die Verfassungsstreitigkeiten vom Staatsgerichtshof entschieden, und es gab eine ganz erstaunliche Fülle von Judikaten. Wenn man bedenkt, dass die bei null angefangen haben, ist das wirklich enorm. Man müsste einmal eine Dissertation zur Rezeption des Staatsgerichtshofs in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts vergeben. Das wäre eine wirklich interessante Frage. Was Herr Neschwara gesagt hat, scheint mir ganz wichtig. Deutscher Juristentag und Staatsrechtslehrervereinigung agieren sozusagen über die Grenzen hinweg, die mussten gar keinen formellen Rechtsvergleich machen, die kannten sich, die kannten, glaube ich, auch die jeweiligen Regelungen des Nachbarlandes. Ganz typisch vielleicht: Auf Carl Schmitts „Hüter der Verfassung“ antwortet Kelsen „Wer soll der Hüter der Verfassung sein?“
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Das ist völlig normal und ganz unabhängig davon, dass er mittlerweile in Köln lehrte. Als letzten Punkt will ich noch einmal unterstreichen, dass eine große Schwäche von Staatsgerichtshof und Reichsgericht deren fehlende Sichtbarkeit war. Man konnte nicht sagen, das ist das Gericht, das entscheidet. Extremes Gegenbeispiel sind die USA. „The Nine“, die kennt jeder, die neun Richter des Supreme Court. Beim Bundesverfassungsgericht ist es so, dass man zwar nicht alle Richter kennt, wohl aber den Präsidenten, und die Senate sind immer gleich zusammengesetzt. Beim Reichsgericht und beim Staatsgerichtshof hingegen gab es entweder unübersichtlich viele Senate oder ständig neue Zusammensetzungen, auch von Fall zu Fall, weil man nicht wusste, welcher Richter vom Bayrischen VGH zur nächsten Sitzung des Staatsgerichtshofes geschickt wurde. Man hatte keine Vorstellung vom Gerichtshof als einer Institution, die man sehen und identifizieren konnte, die eine Identität hatte. Ich gehe jetzt nicht so weit zu sagen, hätte man das anders gemacht, wäre alles besser geworden. Aber auch unsere heutige weitverbreitete Unkenntnis darüber, wer und was eigentlich der Staatsgerichtshof in Weimar war, hat viel mit dieser mangelnden Sichtbarkeit und Identität der Institution zu tun. In Österreich war das ganz anders. Da gab es über lange Jahre hinweg einen ziemlich stabilen, vergleichsweise kleinen Kreis von Richtern. In Weimar diffundiert das. Ganz am Schluss wollte ich mich noch einmal für die Einladung und für die außerordentlich instruktive Diskussion bedanken. Es hat mir große Freude gemacht. Vielen Dank. Waldhoff: Vielleicht noch eine ganz kurze Ergänzung. Wir haben in Deutschland gewisse Reserven gegenüber einer Personalisierung von Justiz. Diese Reserven haben durchaus bedenkenswerte Grundanliegen. Freilich wurden diese Bedenken lange Zeit übertrieben. Es gibt zum Beispiel bis heute keine Darstellung sämtlicher Biographien der Verfassungsrichter des Bundesverfassungsgerichts. Wenn man demgegenüber in den Gift Shop des Supreme Courts in Washington geht, hat man allein von Sandra Day O’Connor oder über sie eine Autobiographie und vier andere Biographien – ganz zu schweigen von Sammelwerken, in denen sämtliche Richter seit Installation des Gerichts mit Foto, Lebenslauf usw. vorgestellt werden. Ich weiß, dass es in Deutschland Überlegungen gibt, so etwas nachzuholen. Herr Härter. Härter: Ich wollte noch einmal kurz auf einige Aspekte eingehen, die Herr Klippel angesprochen hat und die im Grunde in dem Referat von Herrn Dreier noch einmal deutlich geworden sind. Wir haben das Schwergewicht auf den justiziellen Verfassungsschutz gelegt, seine unterschiedlichen Mechanismen, die auf bestimmte Konfliktlagen reagieren. Eine Konfliktlage, die den Schutz der Verfassung betrifft, ist immer die Garantie der Verfas-
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sung, aber auch anderer Rechte, die damit mit garantiert werden. Das können wir im Grunde bis ins späte Mittelalter zurückverfolgen und in die Frühe Neuzeit, denn Reichsverfassung garantierte auch wohlerworbene Rechte. Dies war ein Aspekt des justiziellen Verfassungsschutzes über die Reichsgerichte, mittels derer wohlerworbene Rechte gegen andere, auch Inhaber von Herrschaftsrechten, verteidigt werden konnten. Noch in der Weimarer Republik finden wir eine ähnliche Konfliktkonstellation; es geht kaum um die Garantie von Grund- und Menschenrechten, sondern um die Garantie von wohlerworbenen Rechten, die die Verfassung garantierte. Eine andere lang währende Konfliktlage bilden Verfassungskonflikte in den Ländern zwischen Inhabern von Herrschaftsrechten. Auch das ist ein wichtiges Moment von Verfassungsschutz von der Weimarer Republik bis zurück zu den Reichsrittern oder Genossenschaften bzw. Kooperationen. Denn auch in der Frühen Neuzeit war entscheidend, dass diese, wie insbesondere auch Gemeinden, klagen konnten, wenn sie ihre Rechte verletzt sahen. Was später, nach dem Ende des Reiches 1803 / 1806, verschwindet, ist die Möglichkeit von einfachen Untertanen, ihre Rechte, die sie als Stand hatten, einzuklagen, denn im Deutschen Bund gab es auch deswegen kein höchstes Gericht. Auch in der Weimarer Republik möchte man „Verfassungsklagen“ Einzelner wohl eher vermeiden. Auch die Möglichkeit, das Reichsrecht mittels Verfassungsgerichtsbarkeit zu überprüfen – im Alten Reich z. B. durch Reichsstände bei den Reichsgerichten –, auch diese Kontrollmöglichkeit des justiziellen Verfassungsschutzes scheint noch über das 19. Jahrhundert lange abgelehnt worden zu sein. Etwas zu kurz gekommen ist wohl der exekutive sicherheitspolizeiliche Schutz vor Verfassungsgefährdung, die auf Umsturz hinauslaufen. Ich denke aber, es müsste deutlich geworden sein, dass dieser und der justizielle Verfassungsschutz bzw. die Verfassungsgerichtsbarkeit keine getrennten Entwicklungen bilden; exekutiver Schutz mittels Reichsexekution und dann Bundesexekution stehen seit der Frühen Neuzeit auch in einem Zusammenhang mit dem justiziellen Schutz: Man kann beide folglich, glaube ich, nicht voneinander isolieren. Und als letzter Punkt: Es ist immer wieder die Frage aufgekommen, was hinter „Verfassungsschutz“ für Vorstellungen von Verfassung, von Normativität, von Ordnung stehen. Sind nicht diejenigen, die im 19. Jahrhundert revoltieren und die „Verfassungsfeinde“ sind, auch diejenigen, die Grundrechte und Menschenrechte vertreten? Verfassungsschutz ist daher gebunden an die herrschenden Ordnungsvorstellungen der Zeit; Verfassungsschutz ist damit auch Schutz einer Herrschaftsordnung. Letztlich haben viele Referate auch implizit zugrunde gelegt, dass es bei Verfassungsschutz ebenfalls um die bestehende Herrschaftsordnung geht, die geschützt werden soll, wobei daraus auch Konflikte resultieren, die man noch deutlicher machen könnte.
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Aussprache und Schlussdiskussion
Waldhoff: Darf ich das als Schlusswort werten? Dann würde ich jetzt zum Abschluss noch Herrn Simon als Vorsitzendem der Vereinigung das Wort erteilen. Simon: Ich darf dann noch einmal sehr herzlich danken für die wirklich ausgesprochen interessanten Vorträge und die anregende Diskussion, aus der ich persönlich sehr viel mitnehme! Herzlichen Dank und gute Heimreise.
Verzeichnis der Redner Baumgart:
83 f.
Borck:
122 f., 184, 377
H.-H. Brandt:
85, 180, 247
Brauneder:
44 ff., 84 f., 120, 161 f., 213 ff., 243 f., 310, 314
Dreier:
274 f., 281, 374 ff.
Grothe:
116 f., 155 ff., 180 ff., 278 f., 312, 379 f.
Härter:
38 ff., 78 ff., 120, 156 ff., 220 f., 307, 387 f., 390 f.
Heun:
47, 82 f., 124, 218 f., 280f., 384 f.
Kley:
117 ff., 217
Klippel:
123 f., 380 ff.
Kotulla:
156 f., 181 ff.
Mußgnug:
162 f., 181 f.
Neschwara:
245 f., 279 f., 307 f., 388 f.
Neuhaus:
43 f., 242 ff.
Ruppert:
38 f., 80 f., 183, 276 f.
Schilling:
79 ff., 118 f.
G. Schmidt:
40, 47 f., 82, 159 f.
Schönberger:
78 f., 115 f., 121 f., 162, 214 f., 273 ff., 311 f., 314, 376 f.
Simon:
155 f., 213, 242, 273, 385 f., 392
Steiger:
41 f., 43, 122, 220
Stourzh:
242 ff., 314 f.
Tschentscher:
117 f., 158 f., 213 ff.,
Waldhoff:
115 ff., 281, 307 ff., 373 ff.
Westphal:
39 ff., 159, 182
Wiederin:
308 ff.
Willoweit:
46, 125, 164, 185, 375 f.
Wißmann:
164, 273 ff., 373 f., 380
Vereinigung für Verfassungsgeschichte Satzung §1 1.) Die Vereinigung für Verfassungsgeschichte stellt sich die Aufgabe: a) Wissenschaftliche Fragen aus der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, durch Referate und Aussprache in Versammlungen ihrer Mitglieder zu klären; b) Forschungen in diesem Bereich zu fördern; c) auf die ausreichende Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte im Hochschulunterricht sowie bei staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken. 2.) Sie verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung in ihrer jeweils gültigen Fassung. 3.) Sitz der Vereinigung ist Frankfurt am Main.
§2 Gründungsmitglieder der Vereinigung sind diejenigen Personen, die zur Gründungsversammlung am 4.10.1977 in Hofgeismar eingeladen worden sind und schriftlich ihren Beitritt erklärt haben.
§3 1.) Mitglied der Vereinigung kann werden, wer a) auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, seine Befähigung zu selbständiger Forschung durch entsprechende wissenschaftliche Veröffentlichungen nachgewiesen hat und b) an einer Universität bzw. gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschule oder Hochschuleinrichtung als selbständiger Forscher und Lehrer, an einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut als selbständiger Forscher oder im Archivdienst tätig ist. 2.) Das Aufnahmeverfahren wird durch schriftlichen Vorschlag von drei Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Ist der Vorstand einstimmig der Auffassung, dass die Voraussetzungen für den Erwerb der Mitgliedschaft erfüllt sind, so verständigt er in einem Rundschreiben die Mitglieder von seiner Absicht, dem Vorgeschlagenen die Mitgliedschaft anzutragen. Erheben mindestens fünf Mitglieder binnen Mo-
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natsfrist gegen die Absicht des Vorstandes Einspruch oder beantragen sie mündliche Erörterung, so beschließt die Mitgliederversammlung über die Aufnahme. Die Mitgliederversammlung beschließt ferner, wenn sich im Vorstand Zweifel erheben, ob die Voraussetzungen der Mitgliedschaft erfüllt sind. 3.) In besonders begründeten Ausnahmefällen kann Mitglied der Vereinigung auch werden, wer die Voraussetzungen nach Abs. 1 lit. b nicht erfüllt. In diesem Falle wird das Aufnahmeverfahren durch näher begründeten schriftlichen Vorschlag von fünf Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Über die Aufnahme entscheidet nach Stellungnahme des Vorstandes die Mitgliederversammlung mit 2 / 3-Mehrheit der anwesenden Mitglieder.
§4 Die ordentliche Mitgliederversammlung soll regelmäßig alle zwei Jahre an einem vom Vorstand bestimmten Ort zusammentreten. In dringenden Fällen können außerordentliche Versammlungen einberufen werden. Auf Verlangen von 1 / 3 der Mitglieder ist der Vorstand verpflichtet, eine außerordentliche Mitgliederversammlung unverzüglich einzuberufen. Auf jeder ordentlichen Mitgliederversammlung muss mindestens ein wissenschaftlicher Vortrag mit anschließender Aussprache gehalten werden.
§5 Der Vorstand der Vereinigung besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Stellvertretern. Die Vorstandsmitglieder teilen die Geschäfte untereinander nach eigenem Ermessen. Der Vorstand wird am Schluss jeder ordentlichen Mitgliederversammlung neu gewählt; einmalige Wiederwahl ist zulässig. Der alte Vorstand bleibt bis zur Wahl eines neuen Vorstandes im Amt. Zur Vorbereitung der Mitgliederversammlung kann sich der Vorstand durch Zuwahl anderer Mitglieder verstärken. Auch ist Selbstergänzung zulässig, wenn ein Mitglied des Vorstandes in der Zeit zwischen zwei Mitgliederversammlungen ausscheidet.
§6 Der Beirat der Vereinigung besteht aus fünf Mitgliedern; die Mitgliederzahl kann erhöht werden. Der Beirat berät den Vorstand bei der Festlegung der Tagungsthemen und der Auswahl der Referenten. Die Mitglieder des Beirats werden von der Mitgliederversammlung auf vier Jahre gewählt.
§7 Zur Vorbereitung ihrer Beratungen kann die Mitgliederversammlung, in eiligen Fällen auch der Vorstand, besondere Ausschüsse bestellen.
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§8 Zu Eingaben in den Fällen des § 1 Ziff. 2 und 3 und über öffentliche Kundgebungen kann nach Vorbereitung durch den Vorstand oder einen Ausschuss auch im Wege schriftlicher Abstimmung der Mitglieder beschlossen werden. Ein solcher Beschluss bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder; die Namen der Zustimmenden müssen unter das Schriftstück gesetzt werden.
§9 Der Mitgliedsbeitrag wird von der Mitgliederversammlung festgesetzt. Der Vorstand kann den Beitrag aus Billigkeitsgründen erlassen.
Verzeichnis der Mitglieder (Stand 15. August 2013) Vorstand 1. Härter, Dr. Karl, Professor, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, 60489 Frankfurt / Main, Deutschland, [email protected] 2. Simon, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, 1010 Wien, Österreich, [email protected] 3. Waldhoff, Dr. Christian, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, Deutschland, [email protected]
Beirat 1. Brauneder, Dr. Wilhelm, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected] 2. Gusy, Dr. Christoph, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universitätsstraße 25, D 33615 Bielefeld, [email protected] 3. Kotulla, Dr. Michael, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universitätsstraße 25, D 33615 Bielefeld, [email protected] 4. Kraus, Dr. Hans-Christof, Professor, Universität Passau, Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte, Innstraße 25, D 94032 Passau, [email protected] 5. Lepsius, Dr. Oliver, Professor, Universität Bayreuth, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 30, D 95440 Bayreuth, [email protected] 6. Neitmann, Dr. Klaus, Dozent, Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Zum Windmühlenberg, D 14469 Potsdam, OT Bornim, [email protected] 7. Weitzel, Dr. Jürgen, Professor, Reifensteinweg 2, D 97286 Sommerhausen, [email protected]
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Verzeichnis der Mitglieder
Mitglieder 1. Althoff, Dr. Gerd, Professor, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20 – 22, D 48143 Münster, [email protected] 2. Asch, Dr. Ronald G., Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Werthmannplatz, KG IV, D 79085 Freiburg, [email protected] 3. Asche, Dr. Matthias, Professor, Aischbachstr. 5, D 72108 Rottenburg-Dettingen, [email protected] 4. Badura, Dr. Peter, Professor, Am Rothenberg Süd 4, D 82431 Kochel, [email protected] 5. Barmeyer-Hartlieb, Dr. Heide, Professor, Auf den Bohnenkämpen 6, D 32756 Detmold, [email protected] 6. Battenberg, Dr. J. Friedrich, Professor, Hessische Historische Kommission, Karolinenplatz 3, D 64289 Darmstadt, [email protected] 7. Baumgart, Dr. Peter, Professor, Frankenstraße 176, D 97078 Würzburg, [email protected] 8. Becht, Dr. Hans-Peter, Stadtarchiv Pforzheim, Kronprinzenstraße 28, D 75177 Pforzheim, [email protected] 9. Becker, Dr. Hans-Jürgen, Professor, Karl-Fischer-Weg 2, D 93051 Regensburg, [email protected] 10. Birtsch, Dr. Günter, Professor, Bachwies 16, D 54296 Trier / Filsch, [email protected] 11. Blockmans, Dr. Wim, Professor, Rijksuniversiteit te Leiden, Postbus 9515, NL 2300 Leiden, [email protected] 12. Böckenförde, Dr. Ernst-Wolfgang, Professor, Türkheimstraße 1, D 79280 Au bei Freiburg 13. Boldt, Dr. Hans, Professor, Krafftgasse 1, D 79379 Müllheim, [email protected] 14. Borck, Dr. Heinz-Günther, Professor, Karthäuserhofweg 22, D 56075 Koblenz, [email protected] 15. Bosbach, Dr. Franz, Professor, Prorektor der Universität Duisburg-Essen, Universitätsstraße 2, D 45141 Essen, [email protected] 16. Brand, Dr. Jürgen, Professor, Schragen 20, D 40822 Mettmann, [email protected] 17. Brandt, Dr. Hartwig, Professor, Wilhelmstraße 19, D 35037 Marburg / Lahn, [email protected] 18. Brandt, Dr. Harm-Hinrich, Professor, Sonnenrain 10, D 97234 Reichenberg, [email protected]
Verzeichnis der Mitglieder
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19. Brauneder, Dr. Wilhelm, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected] 20. Bulst, Dr. Neithard, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Universitätsstraße 25, D 33615 Bielefeld, [email protected] 21. Burkhardt, Dr. Johannes, Professor, Universität Augsburg, Philosophische Fakultät II, Universitätsstraße 10, D 86135 Augsburg, [email protected] 22. Buschmann, Dr. Arno, Professor, Universität Salzburg, Institut für europäische und vergleichende Rechtsgeschichte, Churfürststraße 1, A 5020 Salzburg, [email protected] 23. Butzer, Dr. Hermann, Professor, Moltkestraße4, D 30989 Gehrden, [email protected] 24. Cancik, Dr. Pascale, Professor, Universität Osnabrück, Martinistraße 12, D 49069 Osnabrück, [email protected] 25. Carl, Dr. Horst, Professor, Universität Gießen, FB 04 Historisches Institut Neuere Geschichte II, Otto-Behaghel-Str. 10 / C1, D 35394 Gießen, [email protected] 26. Chittolini, Dr. Giorgio, Professor, Via Cabrini Madre 7, I 20122 Milano, [email protected] 27. Collin, Dr. Peter, Dozent, Max-Plank-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Postfach 930227, D 60457 Frankfurt / Main, [email protected] 28. Cordes, Dr. Albrecht, Professor, Universität Frankfurt am Main, Fachbereich Rechtswissenschaft, Institut für Rechtsgeschichte, Grüneburgplatz 1, D 60323 Frankfurt / Main, [email protected] 29. Dilcher, Dr. Gerhard, Professor, Kuckucksweg 18, D 61462 Königstein / Taunus, [email protected] 30. Dippel, Dr. Horst, Professor, Glosterstraße 5, D 21735 Jork, [email protected] 31. Dölemeyer, Dr. Barbara, Professor, Max-Plank-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Postfach 930227, D 60457 Frankfurt / Main, [email protected] 32. Eisenhardt, Dr. Ulrich, Professor, Tückingschulstraße 39 E, D 58135 Hagen 33. Endres, Dr. Rudolf, Professor, An den Hornwiesen 10, D 91054 Buckenhof 34. Fenske, Dr. Hans, Professor, Kardinal-Wendel-Str. 45, D 67346 Speyer 35. Fiedler, Dr. Wilfried, Professor, Universität des Saarlandes, Campus 16 / A, Postfach 151150, D 66041 Saarbrücken, [email protected]; [email protected] 36. Fioravanti, Dr. Maurizio, Professor, Universtità degli Studi di Firenze, Facoltà di Giurisprudenza, Dipartimento di Scienze Giuridiche, Via delle Pandette, 32, I 50127 Firenze, [email protected], [email protected]
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Verzeichnis der Mitglieder
37. Frotscher, Dr. Werner, Professor, Universität Marburg, Fachbereich Rechtswissenschaft, Institut für Öffentliches Recht, Universitätsstraße 6, D 35032 Marburg, [email protected] 38. Gall, Dr. Lothar, Professor, Universität Frankfurt am Main, Historisches Seminar FB 8, Grüneburgplatz 1, D 60323 Frankfurt / Main, [email protected] 39. Gosewinkel, Dr. Dieter, Dozent, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Reichpietschufer 50, D 10785 Berlin, [email protected], [email protected] 40. Gotthard, Dr. Axel, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Departement für Geschichte, Kochstraße 4 / BK 11, D 91054 Erlangen, [email protected] 41. Grawert, Dr. Rolf, Professor, Aloyisiusstraße 28, D 44795 Bochum 42. Grimm, Dr. Dieter, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Unter den Linden 11, D 10117 Berlin, [email protected] 43. Grothe, Dr. Ewald, Professor, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Archiv des Liberalismus, Theodor-Heuss-Str. 26, D 51645 Gummersbach, [email protected] 44. Grypa, Dr. Dietmar, Professor, Postfach 1115, D 85065 Eichstätt, [email protected] 45. Gusy, Dr. Christoph, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte, Universitätsstraße 25, D 33615 Bielefeld, [email protected] 46. Härter, Dr. Karl, Professor, Max-Plank-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Postfach 930227, D 60489 Frankfurt / Main, [email protected] 47. Hahn, Dr. Hans Henning, Professor, Universität Oldenburg, Institut für Geschichte, Postfach 2503, D 26111 Oldenburg, [email protected], [email protected] 48. Hahn, Dr. Hans-Werner, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, D 07743 Jena, [email protected] 49. Hamza, Dr. Gabor, Professor, ELTE Római Jogi Tanszék, Egyetem ter 1 – 3, H-1053 Budapest, [email protected] 50. Haug-Moritz, Dr. Gabriele, Professor, Universität Graz, Institut für Geschichte, Attemsgasse 8 / III, A 8010 Graz, [email protected] 51. Hausmann, Dr. Jost, Oberarchivrat, Fasanenweg 28, D 56179 Vallendar 52. Herborn, Dr. Wolfgang, Waldstraße 53 b, D 53902 Bad Münstereifel 53. Heun, Dr. Werner, Professor, Universität Göttingen, Institut für Allgemeine Staatslehre und Politische Wissenschaften, Goßlerstraße 11, D 37073 Göttingen, [email protected]
Verzeichnis der Mitglieder
401
54. Heyen, Dr. Erk Volkmar, Professor, Universität Greifswald, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Domstraße 20, D 17489 Greifswald, [email protected] 55. Hillgruber, Dr. Christian, Professor, Universität Bonn, Institut für Öffentliches Recht, Adenauerallee 24 – 42, D 53113 Bonn, [email protected] 56. Höbelt, Dr. Lothar, Professor, Porzellangasse 19 / 4, A 1090 Wien, [email protected] 57. Hofmann, Dr. Hasso, Professor, Christoph-Mayer-Weg 5, D 97082 Würzburg, [email protected] 58. Hoke, DDr. Rudolf, Professor, Postgasse 19, A 1010 Wien 59. Hufeld, Dr. Ulrich, Professor, Universität Hamburg, Fakultät für Wirtschaftsund Sozialwissenschaften, Holstenhofweg 85, D 22043 Hamburg, [email protected] 60. Isenmann, Dr. Eberhard, Professor, Universität zu Köln, Historisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, D 50923 Köln, [email protected] 61. Ishibe, Dr. Masakuke, Professor, Osaka International University, Department of Economy and Policy, Hirakat-shi, Sugi 3 – 50 – 1, Osaka Fu, Japan 62. Jahns, Dr. Sigrid, Professor, Bommersheimer Weg 20, D 61348 Bad Homburg, [email protected] 63. Jestaedt, Dr. Matthias, Professor, Universität Freiburg, Institut für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie, Abteilung 3: Rechtstheorie, D 79085 Freiburg / Breisgau, [email protected], [email protected] 64. Johanek, Dr. Peter, Professor, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20 – 22, D 48143 Münster, [email protected] 65. Jouanjan, Dr. Olivier, Professor, Bergstraße 5, D 79294 Sölden, [email protected] 66. Kampmann, Dr. Christoph, Professor, Philipps-Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C III, D 35032 Marburg / Lahn, [email protected] 67. Kannowski, Dr. Bernd, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Universitätsstraße 30, D 95447 Bayreuth, [email protected], [email protected] 68. Kern, Dr. Bernd-Rüdiger, Professor, Universität Leipzig, Juristenfakultät, Burgstraße 27, D 04109 Leipzig, [email protected], [email protected] 69. Kersten, Dr. Jens, Professor, Universität München, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft, Prof.-Huber-Platz 2, D 80539 München, [email protected] 70. Kirsch, Dr. Martin, Professor, Am Kriegergarten 2, D 67433 Neustadt / Weinstraße, [email protected] 71. Kleinheyer, Dr. Gerd, Professor, Universität Bonn, Fachbereich Rechtswissenschaft, Adenauerallee 24 – 42, D 53113 Bonn
402
Verzeichnis der Mitglieder
72. Kley, Dr. Andreas, Professor, Universität Zürich, Rechtswissenschaftliches Institut, Rämistraße 74 / 34, CH 8001 Zürich, [email protected] 73. Klippel, Dr. Diethelm, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Universitätsstraße 30, D 95440 Bayreuth, [email protected] 74. Kohl, Dr. Gerald, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected] 75. Kohler, Dr. Alfred, Professor, Universität Wien, Institut für Geschichte, Universitätsring 1, A 1010 Wien, [email protected] 76. Kotulla, Dr. Michael, Professor, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, D 33615 Bielefeld, [email protected], [email protected] 77. Kraus, Dr. Hans-Christof, Professor, Universität Passau, Philosophische Fakultät, Neuere und Neueste Geschichte, Innstraße 25, D 94032 Passau, [email protected] 78. Kroeschell, Dr. Karl, Professor, Fürstenbergstraße 24, D 79102 Freiburg / Breisgau 79. Kühne, Dr. Jörg-Detlef, Professor, Universität Hannover, Juristische Fakultät, Königswortherplatz 1, D 30167 Hannover, [email protected], [email protected] 80. Kunisch, Dr. Johannes, Professor, Irlenpütz 26, D 53332 Bornheim (Walberberg), [email protected] 81. Lanzinner, Dr. Maximilian, Professor, Universität Bonn, Lehrstuhl Neuzeit I, Konviktstraße 11, D 53113 Bonn, [email protected] 82. Leonhard, Dr. Jörn, Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Rempartstraße 15 – KG IV, D 79085 Freiburg, [email protected] 83. Lepsius, Dr. Oliver, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Allgemeine und Vergleichende Staatslehre, Universitätsstraße 30, D 95440 Bayreuth, [email protected] 84. Lieberwirth, Dr. Rolf, Professor, Rainstraße 3 B, D 06114 Halle / Saale 85. Lingelbach, Dr. Gerhard, Professor, Universität Jena, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Carl-Zeiß-Straße 3, D 07743 Jena, [email protected] 86. Löffler, Dr. Bernhard, Professor, Universität Regensburg, Institut für Geschichte, Lehrstuhl für Bayerische Landesgeschichte, Universitätsstraße 31, D 930453 Regensburg, [email protected] 87. Lottes, Dr. Günther, Professor, Universität Potsdam, Historisches Institut, Am Neuen Palais 10, D 14469 Potsdam, [email protected]
Verzeichnis der Mitglieder
403
88. Lück, Dr. Heiner, Professor, Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät, Universitätsring 4, D 06108 Halle / Saale, [email protected] 89. Luntowski, Dr. Gustav, Professor, Am Hiddelk 2, D 34519 Diemelsee 90. Lutterbeck, Dr. Klaus-Gert, Dozent, 1, Chemin de la Fontaine, F 46250 Montcléra, [email protected] 91. Majer, Dr. Diemut, Professor, Karlstraße 62, D 76133 Karlsruhe, majer@kanzlei-karlstr62 92. Maleczek, Dr. Werner, Professor, Universität Wien, Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Universitätsring 1, A 1010 Wien, [email protected] 93. Malettke, Dr., Klaus, Professor, Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte – Frühe Neuzeit, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C, D 35032 Marburg, [email protected] 94. Manca, Dr. Anna Gianna, Professor, Università degli Studi di Trento, Dipartimento di Filosofia, Storia e Beni Culturali, Via Santa Croce 65, I 38100 Trento, [email protected] 95. Marquardt, Dr. Bernd, Professor, Calle 128b, No. 72 – 80, casa 3, Bogotá D.C., Columbia, [email protected] 96. Masing, Dr. Johannes, Professor, Universität Freiburg, Institut für Öffentliches Recht V, Platz der Alten Synagoge 1, D 79085 Freiburg, [email protected] 97. Mazzacane, Dr. Aldo, Professor, Calata San Francesco 13A, I 80127 Napoli, [email protected], [email protected] 98. Menk, Dr. Gerhard, Archivoberrat, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Friedrichstraße 15, D 35037 Marburg, [email protected], [email protected] 99. Modeer, Dr. Kjell A., Professor, Universität Lund, Juridicum, S 22105 Lund 1, [email protected] 100. Möllers, Dr. Christoph, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Unter den Linden 6, D 10099 Berlin, [email protected] 101. Mohnhaupt, Dr. Heinz, Max-Plank-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Postfach 930227, D 60457 Frankfurt / Main, [email protected] 102. Müßig, Dr. Ulrike, Professor, Universität Passau, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht sowie Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Juridicum, Innstraße 39, D 94032 Passau, [email protected], [email protected] 103. Murakami, Dr. Junichi, Professor, Toin-University Yokohama, Faculty of Law, 1614 Kurogane-cho, Aoba-, 225 – 8502 Yokohama, Japan 104. Mußgnug, Dr. Reinhard, Professor, Keplerstraße 40, D 69120 Heidelberg, [email protected]
404
Verzeichnis der Mitglieder
105. Neitmann, Dr. Klaus, Dozent, Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Zum Windmühlenberg, D 14469 Potsdam, OT Bornim, [email protected] 106. Neschwara, Dr. Christian, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected] 107. Neugebauer, Dr. Wolfgang, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät I, Institut für Geschichtswissenschaften, Geschichte für Preußen, Unter den Linden 6, D 10099 Berlin, [email protected] 108. Neuhaus, Dr. Helmut, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Neuere Geschichte I, Fichtestraße 46, D 91054 Erlangen, [email protected] 109. Nicklas, Dr. Thomas, Professor, Université de Reims, Département d’allemand, 57 Rue Pierre Taittinger, F 51096 Reims, [email protected] 110. Nilsén, Dr. Per, Professor, Syddansk Universitet, Juridisk Institut, Campusvej 55, DK 5230 Odense M, [email protected] 111. Pahlow, Dr. Louis, Professor, Universität Frankfurt am Main, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Rechtsgeschichte, Zivilrecht und Gewerblicher Rechtsschutz, Grüneburgplatz 1, D 60629 Frankfurt / Main, [email protected], [email protected] 112. Pape, Dr. Matthias, Dozent, Historisches Institut der RWTH Aachen, Theaterplatz 14, D 52056 Aachen, [email protected], [email protected] 113. Pauly, Dr. Walter, Professor, Universität Jena, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Carl-Zeiß-Straße 3, D 07743 Jena, [email protected] 114. Pelizaeus, Dr. Ludolf, Professor, Universität Mainz, Historisches Seminar, Neuere Geschichte, Jakob-Welder-Weg 18, D 55122 Mainz, [email protected] 115. Peterson, Dr. Claes, Professor, Stockholms universitet, Juridiska institutionen, Universitetsvägen 10c, Södra huset, Frescati, S 10691 Stockholm, [email protected] 116. Pieroth, Dr. Bodo, Professor, Universität Münster, Institut für Öffentliches Recht und Politik, Universitätsstraße 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected] 117. Pietschmann, Dr. Horst, Professor, Postfach 420465, D 50898 Köln, [email protected], [email protected] 118. Polley, Dr. Rainer, Professor, Archivdirektor, Archivschule Marburg, Bismarckstraße 32, D 35037 Marburg, [email protected] 119. Prodi, Dr. Paolo, Professor, Via Galliera 34, I 40121 Bologna 120. Ranieri, Dr. Filippo, Professor, Universität des Saarlandes, Forschungsstelle für Europäisches Zivilrecht, Postfach 151150, D 66041 Saarbrücken, [email protected]
Verzeichnis der Mitglieder
405
121. Reiter-Zatloukal, Dr. Ilse, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected] 122. Robbers, Dr. Gerhard, Professor, Universität Trier, FB V, Rechtswissenschaften, Institut für Rechtspolitik, Postfach 3825, D 54286 Trier, [email protected] 123. Rudersdorf, Dr. Manfred, Professor, Universität Leipzig, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Beethovenstraße 15, D 04107 Leipzig, [email protected], [email protected] 124. Rückert, Dr. Joachim, Professor, Universität Frankfurt am Main, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Institut für Rechtsgeschichte, Postfach 111932, D 60054 Frankfurt / Main, [email protected] 125. Ruppert, Dr. Karsten, Professor, Am Unteren Schlittberg 19, D 67354 Römerberg, [email protected] 126. Schilling, Dr. Lothar, Professor, Universität Augsburg, Geschichte der Frühen Neuzeit, Universitätsstraße 10, D 86135 Augsburg, [email protected] 127. Schindling, Dr. Anton, Professor, Universität Tübingen, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelmstraße 36, D 72074 Tübingen, [email protected]; [email protected] 128. Schmidt, Dr. Georg, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, D 07743 Jena, [email protected] 129. Schmidt-de Caluwe, Dr. Reimund, Professor, Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät, Universitätsplatz 5, D 06108 Halle / Saale, [email protected] 130. Schmoeckel, Dr. Mathias, Professor, Universität Bonn, Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte, Adenauerallee 24 – 42, D 53113 Bonn, [email protected], [email protected] 131. Schneider, Dr. Hans-Peter, Professor, Universität Hannover, Deutsches Institut für Föderalismusforschung, Königswortherplatz 1, D 30167 Hannover, [email protected], [email protected], [email protected] 132. Schneider, Dr. Reinhard, Professor, Aßmannshauser Str. 26, D 14197 Berlin 133. Schönberger, Dr. Christoph, Professor, Universität Konstanz, Fachbereich Rechtswissenschaft, Universitätsstraße 10, Fach D-110, D 78457 Konstanz, [email protected] 134. Schubert, Dr. Werner, Professor, Universität Kiel, Juristisches Seminar, Leibnizstraße 6, D 24118 Kiel, [email protected] 135. Schulze, Dr. Reiner, Professor, Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected], [email protected]
406
Verzeichnis der Mitglieder
136. Schütz, Dr. Rüdiger, Professor, Am Burggraben 24, D 52080 Aachen, [email protected] 137. Schwab, Dr. Dieter, Professor, Riesengebirgstraße 34, D 93057 Regensburg, [email protected] 138. Simon, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected] 139. Stauber, Mag. Dr. Reinhard, Professor, Universität Klagenfurt, Institut für Geschichte, Universitätsstraße 65 – 67, A 9020 Klagenfurt, [email protected] 140. Steiger, Dr. Heinhard, Professor, Oberhof 16, D 35440 Linden, [email protected] 141. Stickler, Dr. Matthias, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, D 97074 Würzburg, [email protected] 142. Stollberg-Rilinger, Dr. Barbara, Professor, Universität Münster, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Domplatz 20 – 22, D 48143 Münster, [email protected] 143. Stolleis, Dr. Michael, Professor, Max-Plank-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Postfach 930227, D 60457 Frankfurt / Main, [email protected] 144. Takii, Kazuhiro, Professor, International Research Center for Japanese Studies, 3 – 2 Goryo Oeyama Nishikyo, Kyoto 610 – 1192, Japan, [email protected] 145. Thier, Dr. Andreas, Professor, Universität Zürich, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Rämistraße 74, CH 8001 Zürich, [email protected], [email protected], [email protected] 146. Ullmann, Dr. Hans-Peter, Professor, Universität Köln, Philosophische Fakultät, Historisches Institut, Albertus-Magnus-Platz, D 50923 Köln, [email protected] 147. Vormbaum, Dr. Thomas, Professor, Fern-Universität Hagen, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 21, D 58097 Hagen, [email protected] 148. Wahl, Dr. Rainer, Professor, Universtität Freiburg, Institut für Öffentliches Recht, Hagenmattenstraße 6, D 79117 Freiburg, [email protected] 149. Waldhoff, Dr. Christian, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht, Unter den Linden 6, D 10099 Berlin, [email protected], [email protected] 150. Wall, Dr. Heinrich de, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Hans-Liermann-Institut für Kirchenrecht, Lehrstuhl für Kirchenrecht, Staats- und Verwaltungsrecht, Hindenburgstraße 34, D 91054 Erlangen, [email protected] 151. Walther, Dr. Helmut G., Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Mittelalterliche Geschichte, Fürstengraben 13, D 07743 Jena, [email protected]
Verzeichnis der Mitglieder
407
152. Weis, Dr. Eberhard, Professor, Ammerseestraße 102, D 82131 Gauting 153. Weiß, Dr. Dieter J., Professor, Universität München, Historisches Seminar, Institut für Bayerische Geschichte, Geschwister-Scholl-Platz 1, D 80539 München, [email protected] 154. Weitzel, Dr. Jürgen, Professor, Reifensteinweg 2, D 97286 Sommerhausen, [email protected] 155. Westphal, Dr. Siegrid, Professor, Lürmannstraße 25, D 49076 Osnabrück, [email protected], [email protected] 156. Wiederin, Dr. Ewald, Professor, Universität Wien, Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected] 157. Wienfort, Dr. Monika, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät I, Institut für Geschichtswissenschaften, Friedrichstraße 191 – 193, D 10117 Berlin, [email protected] 158. Will, DDr. Martin, Professor, EBS Universität für Wirtschaft und Recht, Lehrstuhl für Staatsrecht, Verwaltungs-, Europarecht, Recht der neuen Technologien sowie Rechtsgeschichte, Gustav-Stresemann-Ring 3, D 65189 Wiesbaden, [email protected] 159. Willoweit, Dr. Dietmar, Professor, Unterer Dallenbergweg 11, D 97082 Würzburg, [email protected] 160. Wißmann, Dr. Hinnerk, Professor, Universität Münster, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insb. Verwaltungswissenschaften, Kultur- und Religionsverfassungsrecht, Wilmergasse 28, D 48143 Münster, [email protected] 161. Wolgast, Dr. Eike, Professor, Universität Heidelberg, Historisches Seminar, Grabengasse 3 – 5, Postfach 105760, D 69120 Heidelberg, [email protected] 162. Würtenberger, Dr. Thomas, Professor, Universität Freiburg, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Forschungsstelle für Hochschulrecht, Belfortstraße 20, D 79085 Freiburg, [email protected] 163. Wyduckel, Dr. Dieter, Professor, Technische Universität Dresden, Juristische Fakultät, Mommsenstraße 13, D 01062 Dresden, [email protected] 164. Zlinszky, Dr. János, Professor, Pázmány Péter Katolikus Egyetem, Szentkiralyi u. 28, H 1083 Budapest, [email protected], [email protected], [email protected]