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German Pages 230 [231] Year 2003
Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur
BEIHEFTE Z U „DER STAAT" Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht
Herausgegeben von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Armin von Bogdandy, Winfried Brugger, Rolf Grawert, Johannes Kunisch, Fritz Ossenbiihl, Walter Pauly, Helmut Quaritsch, Andreas Voßkuhle, Rainer Wahl
Heft 15
Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 22. 3. - 24. 3. 1999
Für die Vereinigung herausgegeben von
Hans-Jürgen Becker
Duncker & Humblot · Berlin
Redaktion: Hans-Jürgen Becker, Regensburg
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6828 ISBN 3-428-11160-5
Inhalt Barbara Stollberg-Rilinger: Verfassung und Fest. Überlegungen zur festlichen Inszenierung vormoderner und moderner Verfassungen Aussprache
7 38
Anton Schindling: Universität und Verfassung in der Frühen Neuzeit
51
Aussprache
80
Wolfgang Neugebauer: Staatsverfassung und BildungsVerfassung Aussprache
91 126
Peter Philipp Riedl: Verfassung in der deutschen Literatur um 1800
135
Aussprache
160
Ernst Kutscheidt: Verfassung und Architektur: Der Appellhof in Köln als Modell neuer Gerichtsverfassungen 175 Aussprache
188
Gerhard Robbers: Musik und Verfassung
197
Aussprache
209
Verzeichnis der Redner
219
Satzung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte
220
Verzeichnis der Mitglieder
223
Verfassung und Fest Überlegungen zur festlichen Inszenierung vormoderner und moderner Verfassungen*
Von Barbara Stollberg-Rilinger, Münster
Verfassung und Fest sind Gegenstand verschiedener historischer Disziplinen: der Rechts- und Verfassungsgeschichte zum einen, der Kunst- und Kulturgeschichte zum anderen. Dem entspricht, daß Verfassung und Fest nach modernem Verständnis völlig verschiedenen Sphären angehören. Insbesondere die politische Kultur der Bundesrepublik ist ausgesprochen festfeindlich. Feste werden privat gefeiert; kollektiv und öffentlich sind sie allenfalls im Sportstadion oder zu Karneval. Wie fern Verfassung und Fest einander heute stehen, kommt symptomatisch darin zum Ausdruck, wie w i r heute unsere Verfassung „feiern". Das „Ereignis", an das unser neuer Nationalfeiertag erinnern will, ist das rechtliche Inkrafttreten eines Staatsvertrags - also etwas, woran sich strenggenommen niemand erinnern kann, weil es eine juristische Konstruktion ist und nicht ein Ereignis von irgendeiner sinnlich erfahrbaren Qualität (obwohl es Ereignisse, an die man sich erinnern könnte, ja 1989/90 durchaus auch gegeben hat). Es ist deshalb vermutlich anzunehmen, daß die Mehrzahl der Bundesbürger nicht so genau weiß, was am 3. Oktober eigentlich genau „gefeiert" wird. 1 Unsere nüchterne und festfeindliche politische Kultur macht es uns außerordentlich schwer, das vormoderne Verhältnis zwischen Verfassung und Fest zu verstehen. Die Verfassungsgeschichte hat sich zwar seit dem 19. Jahrhundert durchaus sehr aufmerksam mit den zentralen „solennen", also feierlichen Rechtsakten wie Wahl, Krönung und Weihe beschäftigt. * Die Druckfassung dieses Vortrags war im Dezember 1999 abgeschlossen. Zahlreiche wichtige neuere Veröffentlichungen konnten daher leider nicht mehr berücksichtigt werden, so auch die Arbeiten aus dem Umkreis des Münsteraner SFB 496 über „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertsysteme". 1 Vgl. Hannes Stekl, Politische Feste und nationale Feiertage in Deutschland, in: Beiträge zur Historischen Sozialkunde 26/1, 1996, 20-26; zur politischen Festkultur der alten Bundesrepublik Helmut Quaritsch, Probleme der Selbstdarstellung des Staates (Recht und Staat i n Geschichte und Gegenwart, H.478/479), Tübingen 1977, 23 ff.: „Das Thema ,Staatsfest' scheint uns ohnehin nicht zu liegen ... Als Nation haben die Deutschen wenig zu feiern, und was sie feiern, ist dazu ungeeignet." Aber auch schon der Verfassungstag der Weimarer Republik, so Quaritsch, reichte nicht zur Feier der Nation: „dazu war schon der Anlaß viel zu unanschaulich".
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Barbara Stollberg-Rilinger
Aber gerade die prominentesten Vertreter dieser historiographischen Tradition neigten stets dazu, solche Akte als Verfassungsinstitutionen zu behandeln und von ihrem Festcharakter gerade abzusehen. Stets erschienen die Festlichkeiten als Abirrungen und Wucherungen, als „prunkendes Beiwerk", das den „ursprünglichen Kern ... zu überwuchern drohte". So heißt es ζ. B. bei Percy Ernst Schramm, die Königsweihe und -krönung sei durch die frühmoderne Festkultur „geradezu in Gefahr [geraten], ihre zentrale Stellung zu verlieren und zu einem A k t unter anderen in einer langen Folge von Festlichkeiten zu werden". 2 Die strenge juristische Gegenüberstellung zwischen rechtskonstitutivem „Kern" einerseits und zeremoniellem „Beiwerk" andererseits entspringt rechtspositivistischen Prämissen und erschwert den Zugang zum zeitgenössischen Verständnis solcher solenner Akte. 3 Um die Einheit von Verfassung und Fest in der Vormoderne zu verstehen, müssen wir von den unausgesprochenen Vorannahmen des modernen Konstitutionalismus und Rechtspositivismus, die den Blick der klassischen Verfassungsgeschichte geleitet haben, absehen. Mindestens bis ins 18. Jh. nämlich waren die großen Herrschaftsrituale zugleich prunkvolle Feste. Rund ein halbes Jahrtausend der abendländischen Verfassungsgeschichte war also durch solche vermeintlichen „Abirrungen" ins Festliche gekennzeichnet. Um das historische Verhältnis von Fest und Verfassung besser zu verstehen, machen Historiker seit einiger Zeit methodische Anleihen bei Ethnologie und Kultursoziologie. Schon Johan Huizinga hat in diese Richtung gewiesen, als er einerseits den „bizarren, barbarischen Fürstenprunk", die „abgedroschenen Allegorien" und die „leere Konvention überladener Etikette" der burgundischen Hoffeste des 15. Jahrhunderts beschrieb, dann aber andererseits selbst auf die historische Perspektivität seines eigenen Urteils hinwies und dazu aufforderte, sich „zuallererst einmal Rechenschaft ab[zu]legen über die Funktion, die das Fest damals in der Gesellschaft erfüllte: „Es habe nämlich „noch einiges von der Funktion, die es bei primitiven Völkern versah, bewahrt: [ . . . ] die souveräne Äußerung der Kultur zu sein, die Form, in der man [ . . . ] sein Gemeinschaftsgefühl zum Ausdruck bringt." 4 Manchen mag die Parallele zu den „primitiven Völkern" zunächst einmal skeptisch stimmen: Läßt sich aus den Initiationsfeiern der Ndembu oder den magischen Ritualen der Bororo etwas lernen über politische Feste 2 Percy Ernst Schramm, Geschichte des englischen Königtums im Lichte der Krönung (1. Aufl. Weimar 1937), Darmstadt 1970, 90 ff. 3 Vgl. die Überlegungen von Wolfgang Sellert, Zur rechtshistorischen Bedeutung der Krönung und des Streites um das Krönungsrecht zwischen Mainz und Köln, in: H. Duchhardt (Hrsg.), Herrscherweihe und Königskrönung im frühneuzeitlichen Europa, Wiesbaden 1983, 21-32; ders., Gewohnheit, Formalismus und Rechtsritual im Verhältnis zur Steuerung sozialen Verhaltens durch gesetztes Recht, in: H. Duchhardt/G. Melville (Hrsg.), Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1997, 29-47. 4 Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, Stuttgart 1975, 368.
Verfassung und Fest
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der Renaissance u n d des Barock, f ü r die K ü n s t l e r w i e Brunelleschi, D ü r e r oder Rubens gearbeitet haben? W o r i n besteht der Wert der k u l t u r a n t h r o p o logischen A n l e i h e n f ü r das Verständnis der europäischen p o l i t i s c h e n Festkultur? K u l t u r a n t h r o p o l o g i e u n d -Soziologie, ihrerseits beeinflußt v o n der p h i l o sophischen Phänomenologie, haben die fundamentale E i n s i c h t f o r m u l i e r t , daß alles soziale H a n d e l n i n ein System v o n Bedeutungen eingebettet ist, das die W a h r n e h m u n g der sozialen W i r k l i c h k e i t i m m e r schon steuert. Was den E i n z e l n e n als objektive, d i n g l i c h e Realität gegenübertritt (die „ K u l t u r " i n einem sehr umfassenden Sinne), w i r d zugleich i m m e r schon d u r c h S p r a che u n d s u b j e k t i v sinnhaftes H a n d e l n k o n s t r u i e r t u n d muß v o n den E i n z e l nen selbst i m m e r aufs Neue i n d i v i d u e l l angeeignet u n d reproduziert werden. 5 F ü r die Geschichtswissenschaft hat die Ü b e r n a h m e dieser „ k u l t u r alistischen" Sicht z u der methodischen Überzeugung geführt, daß die vergangene soziale W i r k l i c h k e i t n i c h t u n a b h ä n g i g v o n i h r e r zeitgenössischen W a h r n e h m u n g beschrieben w e r d e n k a n n , w e i l eine Gesellschaft ü b e r h a u p t n i c h t z u trennen ist v o n dem B i l d , das sie sich v o n sich selbst gemacht h a t . 6 Das Fest spielt n u n eine zentrale Rolle b e i der K o n s t i t u i e r u n g der j e w e i l i g e n sozialen W i r k l i c h k e i t , der j e w e i l i g e n K u l t u r als „ h i s t o r i s c h ü b e r l i e fertes System v o n Bedeutungen, die i n symbolischer Gestalt a u f t r e t e n " 7 . Was D u r k h e i m f ü r die Feste einfacher S t a m m e s k u l t u r e n festgestellt hat, ist 5 Vgl. insbesondere im Bereich der klassischen Kulturanthropologie Emile Durkheim, Elementare Formen des religiösen Lebens (1. Ausg. 1912), Frankfurt/Main 1981; Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austausche in archaischen Gesellschaften (1. Ausg. 1950), Frankfurt/Main 1968; Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken (1. Ausg. 1962), Frankfurt/Main 1968; Arnold van Gennep, The Rites of Passage (1. Ausg. 1909), London 1977; im Bereich der Kultursoziologie Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, 6. Aufl. Frankfurt/Main 1993; Peter Berger/ Thomas huckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/ Main 1970; unter den jüngeren Ethnologen besonders Clifford Geertz, Dichte Beschreibung, Frankfurt/Main 1983; Victor Turner, Das Ritual. Struktur und AntiStruktur, Frankfurt/Main 1989; vgl. zuletzt den interdisiziplinären Sammelband von Andrea J. Belliger/David Krieger (Hrsg.), Ritualtheorien, Opladen 1998. 6 Die geschichtswissenschaftliche Literatur zur „kulturalistischen Wende" ist inzwischen Legion; hier sei nur verwiesen auf einige aktuelle Bilanzen: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996; Ute Daniel, Klio unter Kulturschock, in: GWU 49, 1997, 195-218 und 259-278; Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, München 1997. - In Deutschland ist die „kulturalistische Wende" insbesondere von der Frühneuzeitforschung zwar breit rezipiert worden, aber immer noch gehen Rechts-, Verfassungs-und Politikgeschichte einerseits und Kulturgeschichte andererseits weitgehend getrennte Wege. Sehr stark wirkt der ursprüngliche Impuls der neuen Kulturgeschichte nach, das „Volk" als historischen Akteur zu rehabilitieren und deswegen Kultur vor allem als „Volkskultur" zu thematisieren. So etwa noch in der aktuellen Bestandsaufnahme von Bob Scribner, Historical Anthropology of Early Modern Europe, in: ders./R. Po-Chia Hsia (Hrsg.), Problems in the Historical Anthropology of Early Modern Europe, Wiesbaden 1997, 11-34. 7 Clifford Geertz, Religion als kulturelles System, in: ders., Dichte Beschreibung (wie F N 5), 46.
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durchaus verallgemeinerungsfähig 8 : I n i h r e n k o l l e k t i v e n Festen inszeniert eine Gemeinschaft das B i l d i h r e r eigenen idealen O r d n u n g , u n d z w a r i n einer herausgehobenen Sphäre demonstrativer A u ß e r a l l t ä g l i c h k e i t , u n d erneuert sich d a m i t periodisch selbst. I m Fest w e r d e n die zentralen D e f i n i t i o n e n - i m eigentlichen Sinne: die A b g r e n z u n g e n - , die f ü r die p o l i t i s c h soziale O r d n u n g k o n s t i t u t i v sind, s i n n l i c h - k o n k r e t erfahrbar; etwa: die Grenzen zwischen den Geschlechtern, die Grenzen zwischen A l t u n d Jung, zwischen H o c h u n d N i e d r i g , zwischen Herrschaft u n d Gehorsam, n i c h t z u letzt zwischen I n n e n u n d Außen, Dazugehörigen u n d Nichtdazugehörigen. Das g i l t auch f ü r solche Feste, die eine demonstrative Inversion der A l l t a g s o r d n u n g herstellen, also G e f ä h r d u n g u n d K o n f l i k t symbolisch i n Szene setzen - n a c h A n s i c h t vieler K u l t u r a n t h r o p o l o g e n ein essentieller Bestandteil aller großen Festrituale, die gerade so die F u n k t i o n erfüllen, K o n f l i k t p o t e n t i a l e z u entschärfen u n d das stets drohende Chaos z u b ä n d i g e n . 9 E i n e p o l i tisch-soziale O r d n u n g k a n n auf D a u e r n u r bestehen, solange m a n a n sie g l a u b t (so D u r k h e i m ) , oder genauer: solange die B e t e i l i g t e n wechselseitig m i t Recht voneinander e r w a r t e n können, daß sie i h r H a n d e l n danach ausr i c h t e n (so M a x W e b e r ) . 1 0 D i e k o l l e k t i v e D e m o n s t r a t i o n der O r d n u n g i m Fest h a t danach die F u n k t i o n , das Z u t r a u e n u n d die E r w a r t u n g e n w a c h zuhalten, auf denen diese O r d n u n g b e r u h t . M i t anderen Worten: Das vormoderne Verfassungsfest stellt her, was es darstellt u n d s y m b o l i s i e r t . 1 1 8 Zur Übertragung der ethnologischen Konzepte auf europäische Kulturen vgl. etwa Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, Frankfurt/Main 1974; Sally Moore/Barbara Myerhoff (Hrsg.), Secular Ritual, Assen 1977; Robert Wuthnow, Ritual and Moral Order, in: ders., Meaning and Moral Order, Berkeley 1987; David I. Kertzer, Ritual, Politics, and Power, Yale 1988; Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter, Darmstadt 1997; Edward Muir, Ritual i n Early Modern Europe, Cambridge 1997. - Zum Fest als historischem Phänomen allgemein vgl. den Forschungsüberblick von Michael Maurer, Feste und Feiern als historischer Forschungsgegenstand, in: HZ 253, 1991, 101-130; sowie die Sammelbände von Walter Haug (Hrsg.), Das Fest. Politik und Hermeneutik, München 1989; Uwe Schultz (Hrsg.), Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1988; Paul Hugger (Hrsg.), Stadt und Fest. Zur Geschichte und Gegenwart europäischer Festkultur, Stuttgart 1987; Dieter Düding/Peter Friedemann/Paul Münch (Hrsg.), Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek 1988. 9 Vgl. dazu insbesondere Tarner, Das Ritual (wie F N 5); zu karnevalesken Ritualen und dem Chaos als stetiger Möglichkeit des Festes vgl. die klassischen Studien von Emmanuel Le Roy Ladurie, Karneval in Romans. Von Lichtmeß bis Aschermittwoch 15709-1580, Stuttgart 1982; Natalie Zemon Davis, Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich; Yves-Marie Bercé, Fête et révolte. Des mentalités populaires du XVIe au XVIIIe siècles, Paris 1976, für viele andere. 10 Durkheim, Die elementaren Formen (wie F N 5), 482; Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, 7. Aufl. Tübingen 1988, 427-474. 11 Dies ist nicht im Sinne eines archaischen, quasi-magischen Rechtsformalismus gemeint. Vgl. dazu zuletzt Sellert, Gewohnheit, Formalismus und Rechtsritual (wie F N 3); grundsätzlich Wilhelm Ebel, Recht und Form. Vom Stilwandel im deutschen Recht, Tübingen 1975; Adalbert Erler, Rechtssymbolik, in: HRG 4,1990, 381-84.
Verfassung und Fest
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Von den Kulturanthropologen haben die Historiker gelernt, die für das Funktionieren eines Gemeinwesens geradezu konstitutive Bedeutung des Symbolischen ernstzunehmen. Sie haben sich den verfremdenden „ethnologischen" Blick zu eigen gemacht und damit Distanz zu den Selbstverständlichkeiten gewonnen, die die Wahrnehmung der eigenen und der vergangenen Kultur immer schon präformieren und daher der Reflexion zunächst einmal entzogen sind. Dazu gehören auch die Normen und Selbstverständlichkeiten, die unser Verhältnis zur Verfassung prägen, ohne selbst Gegenstand von Verfassungstexten zu sein. Die kulturalistische Perspektive (wie ich hier grob vereinfachend einmal die Vielfalt der neueren Ansätze nennen will) eröffnet daher nicht nur ein angemesseneres Verständnis der vormodernen Verfassungen, sondern ist vielleicht auch erhellend für unsere gegenwärtige Verfassungskultur. Ich möchte im folgenden zum Verhältnis von Verfassung und Fest einige Überlegungen aus der Perspektive der Frühneuzeithistorie anstellen. Angesichts der Allgemeinheit und Breite des Themas, das mir die Veranstalter gestellt haben, kann es sich wirklich nur um allgemeine Überlegungen und einige wenige Beispiele zur Veranschaulichung handeln. Erstens möchte ich fragen, i n welchem Sinne man für die Frühe Neuzeit von „Verfassungsfesten" sprechen kann. Das soll anhand eines signifikanten Beispiels aus der Epoche der ständisch-korporativen Verfassungen zu beantworten versucht werden. Zweitens möchte ich zeigen, wie die Krise der ständisch-korporativen Verfassung mit der Entzauberung ihrer Feste im 17. und 18. Jh. einherging; mit anderen Worten: wie die Verfassungspraxis ihren festlichen Charakter und umgekehrt die Feste ihren verfassungsrechtlichen Charakter verloren. Drittens werde ich - wiederum an wenigen Beispielen - zu zeigen versuchen, welche Aporien das Verhältnis von Verfassung und Fest zu Beginn der Moderne, also im Zeitalter der Revolution kennzeichneten.
I. Feste und frühneuzeitliche Verfassung Wenn „Verfassung" in vorkonstitutioneller Zeit den „konkrete[n] Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung" eines Gemeinwesens schlechthin meint, 1 2 so kann man jeden festlichen öffentlichen A k t dieses Gemeinwesens als Verfassungsfest betrachten - von der städtischen 12 Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre, 4; Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung (Der Staat, Beih. 6), Berlin 1983, 7-21; zuletzt Christoph H.F. Meyer, Mittelalterliche Rechts- und Verfassungsgeschichte: die Methodenfrage aus anthropologischer Sicht, in: Duchhardt/Melville (Hrsg.), Recht und Ritual (wie F N 3), 71 -102.
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Prozession 13 über die Eröffnung von Land- und Reichstagen 14 bis zu Königsweihe und -krönung. 1 5 Es handelt sich dabei um Verfassungsfeste in einem sehr grundsätzlichen Sinne, weil in diesen festlichen Akten die Verfassung schlechthin existierte - und noch kein davon unabhängiges, abstraktes, primär schriftliches Dasein führte. In öffentlichen Solennitäten des Gemeinwesens erlebten die Mitglieder die Verfassung gewissermaßen in „Realpräsenz". Verfassungsakt und Festakt waren dabei kaum zu trennen auch wenn juristische Systematiker schon früh bemüht waren, rechtskonstitutive von „nur zeremoniellen" Elementen zu unterscheiden. 16 Die Verfassungspraxis war aber nicht identisch mit ihrer systematisierenden Interpretation durch die Juristen. Vielmehr war offenbar die festliche Inszenierung erforderlich, um Legitimität zu erzeugen - man könnte von „Legitimation durch zeremonielle Verfahren" sprechen. In vorkonstitutioneller Zeit bedurfte die politisch-soziale Ordnung in besonderem Maße der sichtbaren Vergegenwärtigung. Erst durch ihre regelmäßige Aktualisierung im öffentlichen, feierlichen Akt wurde die Verfassung auf Dauer gestellt; und umgekehrt: Die Veränderung des solennen Aktes änderte die Verfassung des Gemeinwesens. Was über die Huldigung im besonderen gesagt worden ist, gilt im weiteren Sinne für alle vormodernen Solennitäten: „Gerade in Ermangelung einer schriftlich fixierten Konstitution war die periodische Vergegenwärtigung der den Herrschaft sver13 Methodisch überaus anregend: Robert Darnton, Ein Bourgeois bringt seine Welt in Ordnung, in: ders., Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution, München 1989, 125-166; neuere Forschungsüberblicke bei Gerd Schwerhoff, Das rituelle Leben der mittelalterlichen Stadt, in: Geschichte in Köln 35, 1994, 33-60; Muir, Ritual (wie FN 8). 14 Rosemarie Aulinger, Das Bild des Reichstags im 16. Jahrhundert, in: Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 18, Göttingen 1980; Albrecht R Luttenberger, Pracht und Ehre. Gesellschaftliche Repräsentation und Zeremoniell auf dem Reichstag, in: A. Kohler/H. Lutz (Hrsg.), Alltag im 16. Jahrhundert, München 1987, 290-326; Karl Möseneder (Hrsg.), Feste in Regensburg, Regensburg 1986; Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren, in: J. Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (ZHF, Beiheft 19), Berlin 1997, 91 -132. Die Literatur dazu ist kaum noch übersehbar; vgl. nur etwa Duchhardt (Hrsg.), Herrscherweihe (wie F N 3); Jânos Bäk, Coronations. Medieval and Early Modern Monarchic Ritual, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1990; zu Frankreich: Le Sacre des Rois. Actes du Colloque international d'histoire sur les sacres et couronnements royaux, Paris 1985; Richard Jackson, Vive le Roi. A History of the French Coronations from Charles V. to Charles X., Chapel H i l l 1984; Ralph E. Giesey, Cérémonial et puissance souveraine, Paris 1987; zu England: Sidney Anglo, Spectacle, Pageantry and Early Tudor Policy, 2. Aufl. Oxford 1997; Lois G. Schworer, The Glorious Revolution as Spectacle, in: St. Baxter (Hrsg.), England's Rise to Greatness 1660-1763, Berkeley 1983; zum Reich s. unten F N 39. 16 So z. B. schon in der Reichspublizistik des 17. Jhs., vgl. dazu Sellert, Zur staatsrechtlichen Bedeutung (wie F N 3), 27 ff. Sellert beklagt die Unzulänglichkeit der modernen juristischen Kategorien für die Erfassung solcher Solennitäten und weist darauf hin, daß der Symbolwert der Krönung „für das positive Recht noch immer schwer zugänglich ist".
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band in seinen Grundstrukturen bestimmenden Normen und Werte für die Selbstbehauptung und -vergewisserung dieses Verbandes unabdingbar." 17 Die demonstrative, feierliche Wiederholung rechtlich-politischer Akte kann als ältere, ursprünglichere Form der Institutionalisierung aufgefaßt werden, die der Institutionalisierung durch abstrakte, generalisierende Satzung vorausgeht und sie auch später noch lange Zeit begleitet. Verfassungsfeste in der Vormoderne in diesem Sinne waren vor allem Übergangsrituale, die dazu dienten, die politische Ordnung über den Wechsel der einzelnen Herrschafts- und Amtsträger hinaus zu verstetigen. Auch die Übergangsriten des einzelnen Lebenslaufs - Taufe, Initiation, Heirat, Beisetzung - hatten bei Mitgliedern von Herrscherfamilien immer eine mehr oder weniger ausgeprägte politische Qualität - gemäß ihren „zwei Körpern", also der physischen und politischen Doppelnatur ihrer Existenz. Diese feierlichen Übergangsriten - wie ausgeprägt ihre Rechtswirkung im einzelnen auch immer war - brachten stets in besonderem Maße das Verhältnis zwischen Herrscher und „Volk" in seiner ständisch-korporativen Verfaßtheit zu konkreter Anschauung und aktueller Existenz. Zu denken ist hier nicht nur an die zentralen Rituale des Herrschaftswechsels wie Wahl, Krönung und Weihe, sondern auch an die feierliche Eröffnung der ersten Ständeversammlung, die erste Session des Hofgerichts (das lit de justice, die jeweils erste Session des neuen Reichshof rats etc.) und nicht zuletzt an die Entrée , also den Einzug des Herrschers in eine Stadt und seinen Empfang durch die Bürgerschaft. Im Zentrum dieser Feiern stand fast immer die Leistung von Eiden: Der Huldigungseid einerseits, die eidliche Bestätigung der Ämter und Würden, der Rechte, Freiheiten und Privilegien andererseits. Da derartige Übergangsfeste nicht nur auf der zentralen politischen Ebene, sondern in verkleinertem Maßstab auf allen Ebenen der ständisch-korporativen Ordnung stattfanden, wurde diese durch ein Geflecht persönlich abgelegter Eide zusammengehalten, die die Herrschaft begründeten und begrenzten. Der königliche Krönungseid bildete nur, wie Paolo Prodi es formuliert hat, „das Herz eines verflochtenen Systems von Herrschafts Verträgen". 18 Bei den Festen des Herrschaftswechsels wurden essentielle Herrscherfunktionen in feierlich ritualisierter Form ausgeübt. So war die Ausübung des Gnadenrechts ein regelmäßiger Bestandteil der Herrschaftswechsel17 André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800-1800), Stuttgart/New York 1991, 516; vgl. Muir, Ritual (wie F N 8), 230: „ . . . the repetitions of rituals actually formulated a kind of constitution of the state." - „Such rites ,constitute' i n the sense that the performance created a ritual structure for the state i n an era before written constitutions." 18 Vgl. Paolo Prodi, Das Sakrament der Herrschaft, Berlin 1997, 167 ff., 173 f., 180, der die Unterschiede zwischen Lehnseid, Krönungseid, Bürgereid etc., also zwischen herrschaftlichen und genossenschaftlichen „Eid-Verträgen" nivelliert und von einem Kontinuum, einem verflochtenen System persönlicher Eide als Essenz der ständischkorporativen Verfassungen in ganz Europa spricht.
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rituale, ferner die Annahme von Suppliken aus dem „Volk" und verschiedene Formen der Almosenausteilung - also Akte, bei denen der neue Inhaber die Herrschertugenden der iustitia, der dementia, der Caritas und der magnanimitas demonstrativ unter Beweis stellte. Als Ausweis des exklusiven Herrscherrechts, Standeserhöhungen vorzunehmen, verbanden sich mit dem Herrschaftswechsel regelmäßig Ritterschläge, Ordensaufnahmen, Zunftmeisterrezeptionen und dergleichen. Umgekehrt nahm der neue Herrschaftsträger die meist genau festgelegten Geschenke des „Volkes" - der Stadt oder der Stände - entgegen. Als essentieller Bestandteil aller dieser Rituale des Herrschaftswechsels muß nicht nur die Eucharistiefeier, sondern auch das feierlich zelebrierte säkulare Gemeinschaftsmahl gelten. Und schließlich ging das alles mit Tänzen, Schauspielen, Turnieren usw. einher auch dies keineswegs schlichte „Belustigungen" 19 oder „Divertissements", sondern Veranstaltungen, die die Einheit der Gemeinschaft, die Normen der Herrschaft und die Austragung von Konflikten symbolisch in Szene setzten - was nicht zuletzt aus der Akribie hervorgeht, mit der die Beteiligten alle Elemente solcher Feiern bis ins geringste Detail aushandelten und planten. Um zu veranschaulichen, wie bei solchen Festen des Herrschaftswechsels die politische Verfassung zugleich symbolisch inszeniert und aktuell praktiziert wurde, möchte ich aus der unüberschaubaren Fülle der Phänomene hier nur ein Beispiel etwas näher ausführen, nämlich die Entrée des Erzherzogs Karl, des späteren Kaisers Karl V., als Graf von Flandern in Brügge im Jahre 1515. 20
19 So die ältere Sicht, vgl. etwa Siegfried Sieber, Volksbelustigungen bei deutschen Kaiserkrönungen, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, 3. Folge, 11,1913. 20 Dokumentiert i n der Beschreibung durch den habsburgischen Hofhistoriographen Remy DuPuy, La tryumphante Entrée de Charles Prince des Espagnes en Bruges 1515. A Facsimile w i t h an Introduction by Sydney Anglo, Amsterdam/New York o.J. - Die Beschreibung ist in einer handschriftlichen und einer gedruckten Fassung erhalten; vgl. die Einleitung von Sydney Anglo ebd. - Ferner I. von RoederBaumbach, Versieringen bij Blijde Inkomsten gebruikt i n de Zuidelijke Nederlanden gedurende de 16e en 17e eeuw, Antwerpen 1943, 40 ff.; Jean Jacquot, Panorama des fêtes et cérémonies du regne. Évolution des thèmes et des styles, in: ders. (Hrsg.), Fêtes et cérémonies au temps de Charles Quint, Paris 1960, 413-491; Hugo Soly, Plechtige intochten in de Steden van de Zuidelijke Nederlanden tijdens de overgang van Middeleeuwen naar Nieuwe Tijd, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 97, 1984, 341 - 361, hier 345 ff.; James M. Murray, The Liturgy of the Count's Advent in Bruges, from Galbert to Van Eyck, in: Barbara A. Hanawalt/Kathryn L. Reyerson (Hrsg.), City and Spectacle in Medieval Europe, Minneapolis 1994, 137-152; Andrew D. Brown, Civic Ritual: Bruges and the Count of Flanders in the Later Middle Ages, in: EHR 112, 1997, 277-299. - M i t DuPuy beginnt die Tradition der monumentalen, aufwendig illuminierten und gedruckten offiziellen Dokumentationen der Entrées; vgl. Karl Möseneder, Zeremoniell und monumentale Poesie. Die „Entrée solenelle" Ludwigs XIV. 1660 in Paris, Berlin 1983, 14.
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Quelle: Remy DuPuy, La tryumphante Entrée de Charles Prince des Espagnes en Brügges 1515. A Facsimile with an Introduction by Sydney Anglo, Amsterdam/New York ο J.
Abbildung 1: Erzherzog Karl zieht als neuer Graf von Flandern mit Gefolge durch das Heilig-Kreuz-Tor i n Brügge ein 2 1 21 Die Abbildung findet sich im Manuskript, nicht in der Druckfassung des Werkes von DuPuy; sie hat überdies im Text keine Entsprechung. Daher ist es schwer zu deuten, was die Figur im Vordergrund rechts bedeutet, die rücklings auf einem Esel reitet und in einem Modell des Turms des Heilig-Kreuz-Tors steckt. Jedenfalls handelt es sich um ein typisches karnevaleskes Motiv, einen Umkehr-Ritus im wörtlichen Sinne. Vgl. Michail A. Bojcov, Ephemerität und Permanenz bei Herrschereinzügen im spätmittelalterlichen Deutschland, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 24, 1997, 87-107, hier 100, der auf ein anderes bemerkenswertes Beispiel solcher parodistischer Umkehr-Riten anläßlich des fürstlichen Einzugs zum
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Anläßlich seiner Volljährigkeitserklärung machte der fünfzehnjährige Karl eine feierliche Huldigungsreise durch Flandern und Brabant. Die Städte bereiteten ihm reihum aufwendige Empfänge: Löwen, Brüssel, Mechelen, Antwerpen, Middelburg und Gent. Jede Stadt suchte die andere an Aufwand zu übertreffen. In Brügge schließlich kulminierten diese Bemühungen; die Entrée dort am Abend des 18. April 1515 galt als unübertrefflich und von noch nicht dagewesener Pracht und Genialität. Wie es dem traditionellen Muster der Herrschereinzüge entsprach, wurden Karl bei seiner Ankunft die Stadtschlüssel überreicht; er bestätigte die Rechte und Freiheiten der Stadt und empfing im Gegenzug deren Huldigung. In Begleitung seiner Tante, der bisherigen Regentin Margarete, seines adligen Gefolges, auswärtiger Gesandter, der städtischen Amtsträger und Bürgertruppen zog er in die hell erleuchtete Stadt ein und passierte einen Festweg, der durch eine höchst sinnreiche Festarchitektur markiert war. Die in Brügge residierenden auswärtigen Kaufleute aus Spanien, Italien und der Hanse, aber vor allem die Korporationen der Stadt Brügge selbst hatten eine Folge von insgesamt 28 Ehrenpforten geschaffen (d. h. konzipiert, finanziert und in Auftrag gegeben), unter denen die Prozession sich hindurchbewegte - Triumphbögen mit aufwendigen, teilweise mechanisch beweglichen Aufbauten, auf denen sowohl plastische und bildliche Darstellungen als auch tableaux vivants biblische, mythologische und historische Szenen vergegenwärtigten. In der Beschreibung des Hofhistoriographen DuPuy erscheinen diese Bildwerke gleichsam als szenisch vergegenwärtigter Fürstenspiegel, durchaus vergleichbar dem, den Erasmus zu demselben Anlaß - aber in einem anderen Medium - für Karl verfaßt hatte. Die elf Ehrenpforten der Brügger Handwerks- und Handelskorporationen, die den Zugweg eröffneten und beschlossen, bildeten eine einheitliche, kohärente Sequenz und entfalteten Station für Station eine kontinuierliche historische Argumentation, ein sehr genau durchdachtes Programm, das die Rederijkers, die Mitglieder der städtischen Rhetorikerkammer, in Absprache mit dem Rat konzipiert hatten. Dabei präsentierte sich jede der neun Großzünfte der Stadt mit einer eigenen Ehrenpforte. Auf jedem dieser Tore befand sich ein schreinförmiger Aufbau, meist in Form eines prominenten Brügger Gebäudes, dessen Türen sich wie bei einem Flügelaltar öffneten und den Blick auf ein lebendiges Bild freigaben, wenn sich die Prozession ihm näherte. Jedes dieser tableaux vivants bestand aus zwei Szenen, die jeweils eine Station der städtischen Geschichte zu einer biblischen oder antiken Parallele in Bezug setzten. Das Thema der gesamten Sequenz bildeten Aufstieg und Niedergang der Stadt Brügge; das Leitmotiv war der Appell an Karl, der Stadt wieder zu ihrem alten Glanz zu verhelfen. Die BürgerReichstag in Regensburg 1471 hinweist (aus: Die große Burgunder Chronik des Diebold Schilling von Bern, Bd. 1, Luzern 1985, 122).
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schaft Brügges erschien im Licht der biblischen Analogien als auserwähltes Volk, das Karl als seinen Messias erwartete. Dabei evozierte man zugleich die Urszene jedes Adventus, den Einzug Jesu in Jerusalem am Palmsonntag. Das Verhältnis zwischen Stadt und Stadtherrn wurde im Zuge der Entrée durch Privilegienbestätigung und Huldigung aktuell erneuert und zugleich durch das Bildprogramm in die historische Tradition eingebettet. Auf die ersten drei städtischen Bildwerke, die die legendären Ursprünge der Stadt und den Erwerb ihrer wertvollsten Reliquien vergegenwärtigten, folgte ein tableau vivant , das Ludwig von Nevers, den Grafen von Flandern, zeigte, wie er (1337) der Stadt die Urkunde mit ihren Privilegien und Freiheiten überreicht. Parallel dazu präsentiert Moses den Kindern Israels die Gesetzestafeln vom Berg Sinai (Abb. 2). 2 2 Die folgenden Szenen zeigen die Jungfrau Brügge auf dem Höhepunkt ihres Glanzes - erhoben auf zwei goldene Säulen, nämlich marchandise und negotiation als Grundfesten ihres Wohlstands. Aus ihrer Brust fließt Rotwein, den der Graf von Flandern auffängt, während parallel dazu Moses die Geschenke der Israeliten empfängt, um die Bundeslade damit auszuschmücken - ein selbstbewußter Hinweis auf den Wert der reichen Stadt für den Fürsten (Abb. 3). In der folgenden Doppelszene vertraut Philipp der Kühne den sechs Schöffen das Regiment der Stadt Brügge an, während zu seiner Linken Romulus 100 Senatoren in Rom einsetzt (Abb. 4). Die weiteren Szenen beschreiben allegorisch Höhepunkt und beginnenden Niedergang des städtischen Wohlstands, ohne allerdings die Konflikte mit den Herzögen von Burgund und den Habsburgern zu thematisieren, und enden mit dem Rad der Fortuna, das von der Hand des jungen Erzherzogs Karl gedreht wird. Mit dem Einzug Karls zelebrierte die Stadt ihre Verfassung in doppelter Weise: Zum einen wurde der Herrschaf tsvertrag zwischen Herr und Stadt aktuell in feierlicher Form erneuert, und zum anderen wurde das Verhältnis zwischen Herr und Stadt als Aufeinanderfolge historischer Stationen abgebildet, der neue Fürst also in eine Reihe ausgewählter Vorgänger gestellt und zugleich programmatisch mit den Erwartungen konfrontiert, die sich an seinen Regierungsantritt knüpften.
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Die Abbildungen 2 - 4 sind Holzschnitte aus der Druckfassung des Werkes von (wie F N 21).
2 Der Staat, Beiheft 15
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Quelle: Remy DuPuy, La tryumphante Entrée de Charles Prince des Espagnes en Brügges 1515. A Facsimile with an Introduction by Sydney Anglo, Amsterdam/New York o.J.
Abbildung 2: Ludwig von Nevers, Graf von Flandern, überreicht der Stadt Brügge eine Urkunde mit den Privilegien und Freiheiten der Stadt; parallel dazu präsentiert Moses den Kindern Israels die Gesetzestafel vom Berg Sinai
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Quelle: Remy DuPuy, La tryumphante Entrée de Charles Prince des Espagnes en Brügges 1515. A Facsimile with an Introduction by Sydney Anglo, Amsterdam/New York o.J.
Abbildung 3: Die Jungfrau Brügge steht erhoben auf zwei Säulen, nämlich marchandise und negotiation als Grundlagen ihres Wohlstandes - aus ihrer Brust fließt Rotwein, den der Graf von Flandern auffängt; parallel dazu empfängt Moses die Geschenke der Israeliten, um damit die Bundeslade auszuschmücken
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Quelle : Remy DuPuy, La tryumphante Entrée de Charles Prince des Espagnes en Brügges 1515. A Facsimile with an Introduction by Sydney Anglo, Amsterdam/New York o.J.
Abbildung 4: Philipp der Kühne vertraut den sechs Schöffen das Regiment der Stadt Brügge an; parallel dazu setzt Romulus in Rom 100 Senatoren ein
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D e r E i n z u g v o n 1515 ist z w a r e i n besonders elaboriertes, aber doch auch sehr charakteristisches Beispiel einer „Joyeuse et solenelle e n t r é e " , 2 3 i n sofern sie sowohl die ideale monarchische Herrschaft inszenierte als auch die k o r p o r a t i v e O r d n u n g der S t a d t darstellte u n d schließlich vor a l l e m das i n Vergangenheit, wechselseitige Verhältnis beider, i h r e mutua obligatio Gegenwart u n d Z u k u n f t abbildete u n d beschwor. I n diesem Sinne k a n n m a n sagen: D i e Entrée war der Herrschaf t s v e r t r a g . 2 4 Gewiß bestand der Herrschaf tsvertrag n i c h t ausschließlich i n d e m festlichen A k t , sondern existierte auch i n o b j e k t i v i e r t e r Form als U r k u n d e . D o c h die schriftliche V e r b ü r g u n g erübrigte die stets erneute festliche A k t u a l i s i e r u n g n o c h k e i -
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Die Literatur zu den Entrées der verschiedenen europäischen Monarchien und Republiken ist inzwischen kaum noch überschaubar. Ich zitiere nur einige klassische und neuere Arbeiten: Ernst von Kantorowicz, The King's Advent, in: Art Bulletin 26, 1944, 207 ff.; Klaus Tenfelde, Adventus. Zur historischen Ikonologie des Festzugs, in: HZ 235, 1982, 45-84; Wilfried Dotzauer, Die Ankunft des Herrschers, in: A K G 55, 1973, 245-288; Roy Strong , Art and Power. Renaissance Festivals, 1450-1650, Woodbridge 1984; Muir,; Ritual (wie F N 8), 239 ff.; Barbara Wisch/Susan Scott Munshower (Hrsg.), A l l the World's a Stage. Art and Pageantry in the Renaissance and Baroque, Pennsylvania 1990; Christian Desplat/Paul Mironneau (Hrsg.), Les entrées. Gloire et déclin d'un cérémonial., Biarritz 1997; für das Reich zuletzt Bojcov, Ephemerität und Permanenz (wie F N 21); Andrea Löther, Die Inszenierung der stadtbürgerlichen Ordnung, in: Klaus Tenfelde/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994; für Frankreich Bernard Guénée/Françoise Lehoux (Hrsg.), Les entrées royales françaises d e l 3 2 9 à l 5 1 5 , Paris 1968 (Quellensammlung); Entrées royales et fêtes populaires à Lyon de XVe au XVIIIe siècles, Lyon 1970; Lawrence M. Bryant, The King and the City in the Parisian Entry Ceremony: Politics, Ritual and Art in the Renaissance, Genf 1986; Möseneder, Monumentale Poesie (wie F N 20); Marie-Claude Canova- Green, The Iconography of French Royal Entries in the Aftermath of La Rochelle (1628-32), in: Majestas 3, 1995, 117-130; für England: Sydney Anglo, Spectacle (wie F N 15); Malcolm Smuts, Public Ceremony and Royal Charisma: the English Royal Entry i n London, 1485-1642, in: The First Modern Society, Cambridge 1989, 65-94; für die Niederlande Roeder- Baumbach, Blijde Inkomsten (wie FN 20); John Landwehr, Splendid Ceremonies. State Entries and Royal Funerals in the Low Countries, 1515-1791, Leiden 1971 (Bibliographie); Jean-Marie Cauchies, La signification politique des entrées princières dans les Pays-Bas: Maximilian d'Autriche et Philippe-le-Bon, und Wim Blockmans, Fetes et cérémonies au XlVe et XVIe siècles, beide in: Publications du Centre Européen d'Études Bourgignonnes, Neuchâtel, 1994, 19-35 und 37-53; ferner mehrere Beiträge bei Jean Jacquot (Hrsg.), Les Fêtes de la Renaissance, 3 Bde., Paris 1955-75; Joël Blanchard (Hrsg.), Représentation, pouvoir et royauté à la fin du moyen âge, Paris 1995. - Zu unterscheiden von den hier behandelten Huldigungseinzügen (Adventus) sind allerdings die Empfänge von hochgestellten Gästen (ohne Herrschaft über die Stadt) und die Triumphzüge von Siegern über die besiegte Stadt. 24 Historiker, die sich mit der Entrée als Fest beschäftigen, versäumen nie, deren enge Beziehung zum Herrschaftsvertrag zu betonen. Vgl. etwa Bojcov, Ephemerität und Permanenz (wie F N 21), 90: „Adventus domini ist eigentlich (wenigstens in Deutschland) Abschluß eines Vertrages, der in erster Linie die gegenseitige Anerkennung voraussetzt." - Umgekehrt stellen indessen Verfassungshistoriker, die sich mit Herrschaftsverträgen als Rechtsakten befassen, bezeichnenderweise so gut wie nie eine Beziehung zur festlichen Entrée her. Vgl. etwa Gerhard Oestreich, Vom Herrschaftsvertrag zur Verfassungsurkunde, in: ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit, Berlin 1980, 229-252; Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Herrschafts Verträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze, Göttingen 1977; Gerhard Dilcher, Vom ständischen Herrschaftsvertrag zum Verfassungsgesetz, in: Der Staat 27,1988, 161 -193.
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neswegs. Symptomatisch für das Verhältnis zwischen beidem scheint mir vielmehr, daß der Name „Joyeuse entrée" sowohl den konkreten Einzug als auch die dabei verliehenen bzw. erneuerten Rechte und Privilegien und schließlich das Dokument selbst bezeichnen konnte - so wie es bekanntlich in Brabant der Fall war (zuerst 1356). Die Stadt - bzw. bei anderen Anlässen das Land in Gestalt der Stände trat dem Herrscher in ihrer immer schon vorgegebenen Ordnung und Gliederung gegenüber. Der Herrscher galt zwar insofern als Quelle aller Würden und Ränge, als er sie Einzelnen zu- und aberkennen konnte. Zugleich galt er aber auch als Wahrer der guten Ordnung, und seine eigene Herrschaft beruhte auf deren Kontinuität und setzte sie immer schon voraus. Die abgestufte und geordnete Beteiligung des Volkes war daher notwendiger Bestandteil einer Entrée. Nicht nur der Rat, der die Schlüssel übergab oder den Baldachin trug, nicht nur die geistlichen und weltlichen Amtsträger und Korporationen, die an der Prozession teilnahmen oder die Ehrenpforten gestalteten, nicht nur die Bürgermiliz, die den Festweg säumte und ihn damit zugleich abschirmte und kennzeichnete, sondern auch die gesamte Bürgerschaft, die kollektiv den Huldigungseid leistete, ja sogar die nichtbürgerliche Bevölkerung, Frauen und Kinder waren als akklamierende Zuschauer Teilnehmer des Festes. Gegenüber dem von Habermas geprägten Verständnis der vormodernen repräsentativen Öffentlichkeit ist nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß das „Volk" durchaus keine rein passive Rolle spielte, 25 sondern essentieller Part in einem wechselseitigen Kommunikationsprozeß war - was sich nicht zuletzt darin zeigt, daß es diese Kommunikation auch stören und scheitern lassen konnte. 2 6 Zunächst als Zwischenresümee ein Definitionsversuch. Was machte ein „Verfassungsfest" unter den Bedingungen der vorkonstitutionellen Zeit aus? Ich möchte sechs aufs engste miteinander verflochtene Definitionsmerkmale hervorheben: 1. „Verfassungsfeste", für die die Entrées hier als Beispiele standen, hatten im Kern „solennen" Charakter - mit diesem Begriff unterschieden die Zeitgenossen Feierlichkeiten mit einer rechtlichen Dimension von bloßen „Lustbarkeiten" oder „Divertissements". „Solennitäten" zeichneten sich durch die Beobachtung „gehöriger Form" aus und erzeugten durch die Beobachtung äußerer Formen Rechtsverbindlichkeit. 27 Daraus folgt: 25 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Darmstadt/Neuwied 1962; Andreas Gestrick, Absolutismus und Öffentlichkeit, Göttingen 1994; Holenstein, Huldigung (wie FN 17); Löther, Inszenierung (wie F N 23). 26 Vgl. ζ. B. die Überlegungen von Heinz Duchhardt, Krönungszüge. Ein Versuch zur „negativen Kommunikation", in: Duchhardt/Melville (Hrsg.), Recht und Ritual (wie F N 3), 291-301. 27 Vgl. ζ. B. Johann Heinrich Zedlers Großes Vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 38, Leipzig/Halle 1743, Sp. 535-539, s.v. Solennität, Zierlichkeit.
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2. Sie hatten einen formalisierten Charakter, d. h. sie folgten einer Grammatik und einem Vokabular symbolischer äußerer Formen, einer zeremoniellen „Sprache", die wie jede Sprache einer gewissen Regelhaftigkeit und Konstanz bedurfte, um überhaupt verstanden zu werden. Die verschiedenen Bestandteile des Fests erlaubten dabei in unterschiedlichem Maß Variationen, die in der Regel jedesmal sehr genau von den Beteiligten ausgehandelt wurden. Je höher die Rechtsverbindlichkeit des betreffenden Aktes war, desto geringer der Spielraum für Variationen. 3. Die „Verfassungsfeste" hatten sakralen Charakter in einem sehr weiten Sinne, d. h. auch wenn sie nicht selbst gottesdienstliche Handlungen waren oder solche enthielten, so stellten sie doch die politisch-soziale Ordnung als Bestandteil einer universellen göttlichen Ordnung dar, die den letzten legitimationsstiftenden Bezugspunkt darstellte. 4. Sie hatten öffentlichen Charakter, d. h. sie wurden konstituiert durch das Gegenüber von Akteuren und Adressaten, auch wenn die Grenzen zwischen beiden durchaus fließend sein konnten und es abgestufte Formen der Teilhabe gab. 5. Sie hatten außeralltäglichen Charakter, d. h. waren durch bestimmte Formen und durch demonstrative Pracht aus dem Alltagsleben herausgehoben und als symbolische Akte markiert. Zum einen räumlich - die Schauplätze und Prozessionswege wurden etwa durch bewaffnete Milizkordons, durch Blumen, Teppiche, Bilder bis hin zur prächtigen, aber ephemeren Festarchitektur gekennzeichnet. Zum anderen zeitlich: Anfang und Ende einer Sequenz festlicher Akte wurden durch Kanonensalven, Glockenläuten, Feuerwerke und ähnliches markiert. Und schließlich persönlich: Die Personen waren durch ihre Kleidung, Rüstung, Wappen, Begleitung, geschmückte Pferde, Festwagen usw. symbolisch aus dem Alltag herausgehoben. Dabei ist allerdings hinsichtlich der Herrschaftsinhaber selbst eine wesentliche Einschränkung zu machen: Die Herrschaftsträger nämlich waren als solche immer schon symbolisch herausgehoben. Feierlichkeit war gewissermaßen ihr Statusmerkmal 28 ; d. h. wo sie in Person öffentlich in Erscheinung traten, da schuf ihre persönliche Präsenz allein schon eine außeralltäglich-feierliche Situation. Deshalb verhielt es sich bei ihnen eher umgekehrt: Wollten sie sich außerhalb ihrer Residenz ohne diesen feierlich-öffentlichen Charakter bewegen, so bedurfte das besonderer Vorkehrungen - dazu diente ihnen etwa das Instrument des „Incognito". 6. Damit ist das Merkmal angesprochen, das mir besonders wesentlich erscheint: die unmittelbare, körperliche Präsenz, 29 die konkrete persön28 Im Sinne von Habermas, Öffentlichkeit (wie F N 25), 19 f. 29 Vgl. ähnliche Überlegungen dazu bei Gert Melville, Rituelle Ostentation und pragmatische Inquisition, in: Duchhardt/Melville (Hrsg.), Recht und Ritual (wie
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liehe Anwesenheit der Herrschaftsträger und des „Volkes" („Volk" als gegliedertes Ganzes im jeweiligen Rechtssinne, d. h. Bürgergemeinschaft oder Stände, aber auch darüber hinaus). Deutlich wird die zentrale Bedeutung dieses Merkmals im Eid, der ja ein wesentliches Element der meisten „Verfassungsfeste" war: Ein Eid erforderte grundsätzlich persönliche Präsenz, denn er verband nur die, die ihn in Person und förmlich abgelegt hatten, nicht aber ζ. B. deren Nachkommen. Auch wenn es Möglichkeiten der Stellvertretung gab, so galt der Eid doch nicht generell und abstrakt, sondern individuell und konkret. 3 0 Er stand einer transpersonalen, generalisierten Rechts- und Herrschaftsauffassung im Wege. Insofern kann man ihn geradezu als Inbegriff der vormodernen Ordnung auffassen, wie sie im Fest zelebriert wurde.
II. Das Auseinandertreten von Verfassung und Fest Die Entwicklung in der Frühen Neuzeit scheint mir durch zwei korrespondierende Tendenzen gekennzeichnet: Zum einen verloren die Feste immer weiter an Rechtswirksamkeit, an verpflichtungs- und konsensstiftender Bedeutung; zum anderen verlor die Verfassungspraxis immer mehr ihren festlichen Charakter. In ganz Europa wurde die Ausgestaltung herrscherlicher Feste nicht nur immer prunkvoller und theatralischer, die Festarchitektur immer triumphaler, die Herrschaftsallegorien immer antikisierender, sondern auch der Herrscher selbst wurde immer entrückter, das Verhältnis zwischen Herrscher und Stadt bzw. Ständen immer asymmetrischer. Die Feste, die die Herrscher feierten, zogen sich immer mehr an die Residenzen zurück; sie wurden immer mehr zu einseitigen Inszenierungen herrscherlicher Magnifizenz oder zu höfischen Divertissements. 31 Die großen Weihe- und Krönungsrituale wurden zwar konserviert, aber offizielle Entrées zum HerrF N 3), 215-272, hier 236 f.; Hans-Ulrich Gumbrecht, Einführung, in: Jan-Dirk Müller (Hrsg.), ,Aufführung' und ,Schrift 4 in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart/ Weimar 1998, 331-337. Daß rituelle Wirkungen an die Konkretheit einzelner Orte gebunden sind, betont Ulrich Schütte, Stadttor und Hausschwelle. Zur rituellen Bedeutung architektonischer Grenzen in der frühen Neuzeit, in: Werner Paravicini (Hrsg.), Zeremoniell und Raum. 4. Symposium der Residenzen-Kommission der Akad. der Wiss. zu Göttingen, Sigmaringen 1997, 305-324, hier 315. 30 Dazu zuletzt ausführlich Prodi, Sakrament der Herrschaft (wie FN 18). 31 Zu barocken Hoffesten allg. Wisch/Munshower (Hrsg.), A l l the World's a Stage (wie F N 23); Helen Watanabe O'Kelly, Triumphal Shews. Tournaments at GermanSpeaking Courts i n their European Context 1560-1730, Berlin 1992; Eberhard Fähler, Feste des Barock, Stuttgart 1974; Richard Alewyn, Das große Welttheater (1. Aufl. Hamburg 1959), München 1989; Jörg Jochen Berns, Die Festkultur der deutschen Höfe zwischen 1590 und 1730, in: German.-roman. Monatsschrift N.F. 34, 1984, 295311; ders./Thomas Rahn (Hrsg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Tübingen 1995.
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schaftsantritt wurden kaum noch praktiziert. 3 2 Prunkvolle Einzüge gab es nach wie vor, aber sie dienten nun vor allem zur Definition des fürstlichen Rangs im Verhältnis der Potentaten untereinander, 33 weniger zur Definition des Verhältnisses zwischen Herrscher und „Volk", das nun zunehmend auf eine Zuschauerrolle verwiesen wurde. Umgekehrt veränderte sich die politische Praxis. Die Imperative der wachsenden Staatlichkeit - Verschriftlichung, Bürokratisierung, Ausdehnung und Generalisierung der Gesetzgebungstätigkeit usw. - wirkten alle zusammen in die gleiche Richtung: nämlich dahin, daß öffentliche persönliche Präsenz der Herrscher für die Herrschaftsausübung zum einen immer weniger hinreichend, zum anderen aber auch immer weniger erforderlich war. Daß die Rechtsbindungen nun immer stärker abstrakte und allgemeingültige statt konkreter und partikularer Geltung beanspruchten, setzte voraus, daß sie von der physischen Präsenz des Herrschers und seiner konkreten Interaktion mit den Untertanen gelöst waren. Die politische Theorie trug dieser Entwicklung dadurch Rechnung, daß sie das Vertragsverhältnis zwischen Herrscher und Volk zu einem hypothetischen, fiktiv erfolgten, stillschweigend geltenden umdeutete. Untertan oder Bürger war man nicht mehr aufgrund konkreten Huldigungseids oder Bürgerschwurs, sondern von Geburt und tacito consensu,34 Als Beispiel für die Kulmination dieser Entwicklung kann man die Entrée solenelle Ludwigs XIV. in Paris 1660 ansehen, den letzten offiziellen Huldigungsempfang eines französischen Königs durch die Hauptstadt im Ancien Régime. 35 Zwar lassen sich selbst hier noch wesentliche Elemente des traditionellen Herrschaftswechselrituals beobachten - die Schlüsselübergabe durch den Rat, das Huldigungsdefilee der Amtsträger und Korporationen etc. - , aber tatsächlich hatte sich die Feier von dem Herrschaftswechsel selbst bereits völlig getrennt. Die Thronfolge lag zum Zeitpunkt der Entrée schon 17 Jahre, die Krönung 6 Jahre zurück; die Entrée fand vielmehr anläßlich der Hochzeit Ludwigs mit Maria Theresia, der Infantin von Spanien, zur Besiegelung des im Vorjahr geschlossenen Pyrenäenfriedens statt. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang, daß bei Ludwigs 32 Vgl. ζ. B. für England Smuts , Public Ceremony (wie F N 23); für Frankreich Bryant , Royal Entry (wie F N 23). 33 Vgl. z. B. zum Gesandtschaftszeremoniell Barbara Stollberg -Riling er, Höfische Öffentlichkeit, in: Forschungen zur brandenburg-preußischen Geschichte, N.F. 7, 1997,1-32, mit ausführlichen Literaturnachweisen. 34 Vgl. Prodi, Sakrament der Herrschaft (wie F N 18), 332 ff.; vgl. vor allem die grundsätzlichen Überlegungen von Holenstein, Huldigung (wie F N 17), 486 ff. 35 Aus kunsthistorischer Perspektive ausführlich Möseneder, Zeremoniell und monumentale Poesie (wie F N 20), mit Auszügen und Abbildungen aus dem offiziellen Zeremonialdiarium von Jean Tronçon, L'Entrée triomphante de Leurs Majestés Louis XIV, Roi de France et de Navarre, et Marie-Thérèse dAutriche, son épouse, dans la ville de Paris . . . , Paris 1662.
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Thronfolge 1643 erstmals das droit de joyeux avènement à la couronne , die traditionelle Huldigungsabgabe, zu einer allgemeinen Steuer für alle Untertanen erweitert worden war. 3 6 Damit kam eine seit langem andauernde Entwicklung zum Abschluß, in deren Verlauf die bei der Huldigungsentrée ausgeübten Herrscherrechte schrittweise von dem feierlichen A k t und der herrscherlichen Präsenz abgekoppelt und generalisiert worden waren: Die Huldigungsgeschenke der jeweiligen Stadt und der Amtsträger und die königliche Konfirmation ihrer Ämter und Privilegien hatten sich i n eine allgemeine Steuerpflicht verwandelt, das Ritual war durch einen bürokratischen Verwaltungsakt ersetzt worden. Indem die Herrschaftspraxis unpersönlich, abstrakt und unsichtbar wurde und nicht mehr in actu, sondern nur noch mittelbar, in ihren Auswirkungen erfahrbar war, verlor sie ihren festlichen, d. h. demonstrativen, außeralltäglichen Charakter. 37 Der Legitimation durch zeremonielle Verfahren scheint sie aber noch sehr lange bedurft zu haben. In der frühen Neuzeit vertraute man, so scheint es, noch nicht darauf, daß bürokratisch-rationale Verfahren sich selbst legitimieren. Der noch stetig wachsende Aufwand der zentralen Herrschaftsfeste steht geradezu in umgekehrtem Verhältnis zu der schwindenden Rechtswirksamkeit, die ihnen von den Veranstaltern selbst beigemessen wurde. Im Laufe der Frühen Neuzeit begann die Wahrnehmung und Beurteilung solcher Solennitäten durch verschiedene Gruppen von Beteiligten zunehmend zu divergieren. Vor allem die juristisch-bürokratische Elite entwikkelte ein distanziertes, instrumenteil kalkulierendes Verhältnis dazu. Sie war es, die die festlichen Zeremonien einerseits als „äußeres Gepränge" abwertetete, aber zugleich andererseits als herrschaftspsychologisches Instrument zu schätzen wußte. Je mehr das „Volk" nämlich zum Zuschauer reduziert wurde und je mehr die Feste an rechtlicher Qualität einbüßten, desto mehr setzte sich die Auffassung durch, daß die feierlichen Inszenierungen eigentlich in erster Linie für das Volk veranstaltet würden. 3 8 Nur das unse Bryant , Royal Entry (wie F N 23), 6 ff., 47, 356 ff. 37 Das ließe sich etwa an der Perpetuierung der Reichstage oder der schwindenden Bedeutung festlicher Generallandtage zeigen, die von permanenten Ausschüssen der Fachleute abgelöst wurden. - Die Forschung hat auf diesen und anderen Gebieten der Formveränderung politischer Verfahren stets viel weniger Beachtung geschenkt als den politischen Inhalten und vor allem den Zusammenhang zwischen symbolischzeremoniellen Formen einerseits und technisch-„rationalen" Formen andererseits nicht in den Blick genommen. Vgl. dazu Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren (wie F N 14); dies. (Hrsg.), Vormoderne politische Verfahren, Berlin 2000. 38 So der regelmäßige Topos in der zeremonialwissenschaftlichen Literatur des 17. und 18. Jhs., etwa bei Johann Christian Lünig, Theatrum Ceremoniale, Leipzig 1719-1720, Bd.I, 5; vgl. dazu Milos Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat (lus Commune), Frankfurt/Main 1997; Andreas Gestrich, Höfisches Zeremoniell und sinnliches Volk. Die Rechtfertigung des Hof Zeremoniells im 17. und frühen 18. Jh., in: Berns/Rahn (Hrsg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik (wie F N 31), 57-73.
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gebildete Volk n ä m l i c h bedürfe dieser s i n n l i c h e n Anschauung, u m die Größe der Herrschaft z u ermessen u n d sich i h r w i l l i g z u unterwerfen. I n dieser Auffassung offenbart sich eine folgenreiche A u s e i n a n d e r e n t w i c k l u n g v o n „ V o l k " u n d p o l i t i s c h e r E l i t e , die selbst die Zeremonien n i c h t m e h r ernst nahm, die sie veranstaltete. A l l e r d i n g s , so scheint es, g a l t das m e h r f ü r die b ü r o k r a t i s c h e n Fachleute u n d weniger f ü r die Potentaten selbst, die meist selbst n a c h w i e v o r allergrößten Wert auf exakte zeremonielle Details legten. A n einem Beispiel möchte i c h diese K r i s e der H e r r s c h a f t s l e g i t i m a t i o n i l l u s t r i e r e n , n ä m l i c h an der letzten K a i s e r k r ö n u n g i m A l t e n Reich 1792, 3 9 die verblüffende Parallelen aufweist zu der letzten v o r r e v o l u t i o n ä r e n K ö n i g s k r ö n u n g i n F r a n k r e i c h 1775. 4 0 Ebenso w i e Turgot als G e n e r a l k o n t r o l l e u r der Finanzen i n Frankreich, so w a r auch der Staatskanzler K a u n i t z später i n W i e n i n erster L i n i e darauf bedacht, die Kosten der ganzen Zerem o n i e so gering w i e m ö g l i c h z u halten. Das Ausmaß der Sparpläne w i r f t ein bezeichnendes L i c h t auf das Verhältnis der p o l i t i s c h e n E l i t e z u den zentral e n Herrschaftsakten des Staates, d e m sie d i e n t e . 4 1 Daß sich die B ü r o k r a t e n allerdings i n beiden Fällen m i t diesen Plänen n i c h t oder n u r teilweise durchsetzen konnte, zeigt andererseits, daß die K r ö n u n g s k a n d i d a t e n selbst den G l a u b e n an den S i n n der Solennitäten durchaus n i c h t verloren hatten. 39 Allg. zu den Kaiserwahlen und -krönungen im 17./18. Jh. Hans Joachim Berbig, Der Krönungsritus im alten Reich (1648-1806), in: ZBLG 38, 1975, 639-700; Helga Reuter-Pettenberg, Der Bedeutungswandel der Römischen Königskrönung in der Neuzeit, Köln 1963; Bernd Herbert Wanger, Kaiserwahl und Krönung im Frankfurt des 17. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1994; zu den letzten Kaiserkrönungen Wilhelm Brauneder (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich und moderne Staatlichkeit, Frankfurt/ Main 1993; Christian Hattenhauer, Wahl und Krönung Franz II., Frankfurt/Main 1995 (mit Quellenanhang); Manfred Beetz, Überlebtes Welttheater, und Rolf Haaser, Das Zeremoniell der beiden letzten deutsch-römischen Kaiserkrönungen in Frankfurt am Main und seine Rezeption zwischen Spätaufklärung und Frühromantik, beide in: Berns/Rahn (Hrsg.), Zeremoniell (wie F N 31); Ralph-Rainer Wuthenow, Die Kaiserkrönung von 1763 zu Frankfurt am Main, in: Schultz (Hrsg.), Das Fest (wie F N 8), 232 - 242. - Vgl. die offiziellen Diarien der letzten beiden Krönungen: Vollständiges Diarium der Römisch-königlichen Wahl und kaiserlichen Krönung Ihro nunmehr glorwürdigst regierenden Kaiserlichen Majestät Leopolds II., Frankfurt/Main 1791; Diarium der Römisch-Königlichen Wahl und Kaiserlichen Krönung Ihro jetzt allerglorwürdigst regierenden Kaiserlichen Majestät Franz II., Frankfurt/Main 1798. - Anschauliches Material ferner bei Erna Bergerl Konrad Bund (Hrsg.), Wahl und Krönung Leopolds II., Frankfurt/Main 1981; Rainer Koch/Patricia Stahl (Hrsg.), Wahl und Krönung i n Frankfurt am Main (Katalog des Historischen Museums Frankfurt/Main), 2 Bde., Frankfurt/Main 1986. 40 Dazu Hermann Weber, Das Sacre Ludwigs XVI. vom 11. Juni 1775 und die Krise des Ancien Régime, in: E. Hinrichs u. a. (Hrsg.), Vom Ancien Régime zur Französischen Revolution, Göttingen 1978, 539-565; Jackson, Vive le roi (wie F N 15), 219 f. 41 In Frankreich hielten viele die ganze Krönung inzwischen für unnütz, abergläubisch und überflüssig; Belege bei Weber, Das Sacre (wie F N 40), 542. Turgot warnte vor der Praxis der Wunderheilung, weil dies den falschen Glauben befördere, die Krönung sei eine notwendige Zeremonie, während sie doch „dem Recht des Königs überhaupt nichts hinzufügt". - Zur wachsenden Skepsis gegenüber dem Wunder der Königsheilung Marc Bloch, Die wundertätigen Könige, München 1998, 405 ff.
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Quelle: Vollständiges Diarium der Römisch-katholischen Wahl und kaiserlichen Krönung Ihro nunmehr glorwürdigst regierenden Kaiserlichen Majestät Leopolds II., Frankfurt/Main 1791.
Abbildung 5: Einzug Leopolds II. 1790; Huldigung in Frankfurt 1790; Darstellung aus dem offiziellen Wahl- und Krönungsdiarium
Kaunitz riet dem Erzherzog Franz in einem Gutachten eindringlich zu „Weglassung der unwesentlichen Feierlichkeiten, die bloß zur Pracht gehören". 4 2 Damit meinte er insbesondere den solennen Einzug. Ferner solle auf die Anwesenheit der Damen verzichtet werden, weil sie „vorzüglich den Aufwand vermehren", und das Gefolge insgesamt und die Zahl der Visiten und Bankette auf das „Anständige" reduziert werden. Seine Majestät möge sich incognito am Wahlort aufhalten und die „Gala" nur vom Wahltag bis zum zweiten Tag nach der Krönung dauern. Es reichte nach Kaunitz' Ansicht sogar aus, nur einen Wahlgesandten nach Frankfurt zu schicken - aus dem bemerkenswerten Grund, daß „ i n den [Wahl]Konferenzen kein[e] Geschäft[e] vorkommen" - was die Deutung nahelegt, daß er auch den Wahlvorgang und die Beratung der Kapitulation nur noch als Formalität betrachtete. Tiefgreifender war indessen ein anderer Sparvorschlag. Ebenso wie Turgot 1775 aus Kostengründen die Verlegung der Zeremonie von Reims nach 42 Vortrag des österreichischen Staatskanzlers von Kaunitz-Rietberg an Franz vom 2. April 1792, in: Hattenhauer, Wahl und Krönung (wie F N 39), 380-384.
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Paris empfohlen hatte, überlegte man nun im Reich 1792, wie sich durch eine Verlegung der Wahl und Krönung, etwa nach Regensburg, Köln, Augsburg oder Mainz, Zeit und Kosten sparen ließen. Zwei Gutachten aus der Reichskanzlei plädierten nachdrücklich für die Verlegung nach Mainz. 4 3 Die Zeremonialien gemäß der Goldenen Bulle seien dort leicht zu bewerkstelligen, wenn auch auf „entbehrliche Formalitäten" wie „Einholungen, Begleitungen und Aufzüge", aufwendigen Schmuck des Krönungssaals und des Zugweges verzichtet werden müsse. Die solenne Prozession zur Krönungskirche und zurück solle allerdings nicht ausgelassen werden, „da der actus ostensibilis pro populo hauptsächlich darin besteht". Im Gegenteil solle der Weg möglichst lang sein, damit sie „für eine große Menge Volkes sichtbar sei". 4 4 Daß es sich um eine Residenzstadt und nicht um eine Reichsstadt handelte, wurde nicht als unüberwindliches Problem angesehen. Die Rolle des Frankfurter Rates 45 könnten andere übernehmen: „Da kein hinlängliches Stadtratspersonal vorhanden ist, so wäre vorzüglich das Viceamts- und Stadtgerichtspersonal dazu schicklich, und der Stadtrat selbst könnte durch die angesehensten Mitglieder des hiesigen Handelsstandes vermehrt werden"! 4 6 Kaunitz hingegen riet zwar von dem Umzug nach Mainz ab (vor allem, weil das „ganz gewiß nicht wohlfeiler zu stehen komme"). Stattdessen schlug er aber seinerseits vor, die offizielle Reichshof rats-Eröffnung von Frankfurt nach Wien zu verlegen. Das Gericht gewinne dadurch nur „Zeit zur Vornahme wichtiger Geschäfte, indem was in Frankfurt herkömmt, ohnehin nur pro forma geschieht und von keiner Bedeutung sein kann." 4 7 Dieser Vorschlag ist überaus kennzeichnend: Der 43 „Bemerkungen zu der Frage, ob es tunlich und rätlich sei, daß die bevorstehende Kaiserwahl für dieses Mal zu Mainz vorgenommen werde" (vermutlich März 1792), und „Neuersgetätigte Bemerkung ad quaestionem: ob der Krönungsakt nicht wenigstens hier in Mainz zu vollbringen sei?", in: Hattenhauer, Wahl und Krönung (wie F N 39), 365-380. 44 Ebd., 379. 45 Der Frankfurter Rat empfing traditionell den zu Krönenden, die Kurfürsten und Gesandten vor der Stadt, trug bei den Prozessionen den kaiserlichen Baldachin, überreichte das Krönungsgeschenk, leistete den Huldigungseid im Quartier des Kaisers etc.; vgl. Krönungsdiarium (wie F N 39); ferner Berger/Bund (Hrsg.), Wahl und Krönung (wie F N 39), 24 f. - Die ganze Frankfurter Bürgerschaft leistete traditionell den Huldigungseid (vgl. Abb. 5), also das „Volk im politischen Verstände", gegliedert nach Stadtquartieren, „ohne Ansehen der Person"; nur Frauen und Unselbständige mußten zuschauen. A n Krönung und Entrées hatten die Bürger außerdem i n Gestalt der Bürgermiliz „ohne Unterschied des Standes" Anteil; sie markierten die Prozessionswege und bewachten die Gebäude, in denen sich der Kaiser aufhielt. 46 Bemerkungen bei Hattenhauer, Wahl und Krönung (wie F N 39), 371. - Bemerkenswerterweise wird in einer Randbemerkung als Haupthindernis für die Verlegung genannt, daß man in den anderen kurfürstlichen Residenzen neidisch auf diesen zusätzlichen Vorzug Mainz' sein werde. Dies, nicht etwa das Rechtsverhältnis der Reichsstädte zum Kaiser, gilt als Argument dafür, daß die Krönung in einer Reichsstadt und nicht i n einer Residenz stattfand (ebd. 367). 47 Vortrag Kaunitz bei Hattenhauer, Wahl und Krönung (wie F N 39), 383; ein drittes Gutachten aus der Kurmainzer Kanzlei vom 21.5.1792 („Bemerkungen über die
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neue Reichshof rat mußte nicht mehr solenn konstituiert werden; die Stetigkeit der Institution war durch ihr geschäftsmäßiges Funktionieren verbürgt, so daß die zeremonielle Überbrückung des personellen Wechsels überflüssig erschien. Daß alle Umstände dem Diktat der Sparsamkeit untergeordnet werden konnten, offenbart ein radikal gewandeltes Verständnis von dem Sinn und der Wirkmächtigkeit der solennen Akte. Für die politischen Praktiker waren „die Geschäfte" von den „äußeren Formen" vollständig abgelöst. 48 Fast alle konkreten Umstände erschienen austauschbar und beliebig, solange nur der als juristisch konstitutiv geltende Kern des ganzen Rituals (also kurfürstliche Wahl und kaiserlicher Wahleid) korrekt durchgeführt wurde. Während früher die Verfassungsordnung im Fest gerade dadurch real präsent geworden war, daß bestimmte Personen zu bestimmter Zeit an bestimmtem Ort in bestimmter Form versammelt waren, so erschienen nun Zeit und Ort unwesentlich, und - vor allem - sogar die Personen austauschbar. Wer die Stadtschlüssel überreichte, ja selbst wer den Sicherheits- und Huldigungseid leistete, war gleichgültig geworden. Mancher Reichs jurist war sich im Klaren darüber, daß mit all dem die Axt an die Krönung selbst gelegt wurde. So schrieb etwa Carl Friedrich Häberlin nüchtern, daß bei einer Verlegung der Wahl nach Regensburg „die Krönung [ . . . ] alsdann wohl ganz unterblieben seyn würde". 4 9 Solange man nicht konsequent verfuhr und die ganze Solennität abschaffte, trugen solche Umzugs- und Sparvorschläge nur noch mehr dazu bei, das festliche Ritual zu dem leeren Gepränge zu machen, für das man es ohnehin schon hielt. Denn - um bei dem konkreten Beispiel zu bleiben: Wenn es nicht mehr Rat und Bürgerschaft der Freien Reichsstadt Frankfurt waren, die den Huldigungseid ablegten, sondern wenn eine Abordnung von Mainzer Untertanen nur so tat als ob, dann blieb in der Tat von der Realpräsenz der Verfassung im Fest nichts mehr übrig. Indessen folgte Franz II. solchen Umzugsvorschlägen ebenso wenig wie zuvor Ludwig XVI. möglichste Beschleunigung des künftigen Wahl- und Krönungsgeschäfts", ebd., 389391) empfiehlt u. a. die „Weglassung der Titulaturen bei Ablesung der Vollmachten sowie bei der Diktatur". 48 Zum Wandel des Zeremoniellverständnisses im 18. Jh. insbesondere André Holenstein, Huldigung und Herrschaftszeremoniell im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, in: Klaus Gerteis (Hrsg.), Zum Wandel von Zeremoniell und Gesellschaftsritualen in der Zeit der Aufklärung, Hamburg 1991, 21-46. 49 Carl Friedrich Häberlin, Anhang zur Pragmatischen Geschichte der Wahlcapitulation Leopolds II., welcher die Verhandlungen über die Capitulation Franz' II. enthält, Leipzig 1793, V I f. - Der Verfasser des oben zitierten Mainzer Gutachtens hatte hingegen Skrupel, die „curia imperialis cum solemni epulo" wegzulassen, obwohl sie eine „ad actum mora facultatis gehörige bloße Zeremonialhandlung ist", weil dann die Verrichtung der Erzämter völlig aus der Übung komme, und er befürchtete, daß man sich dadurch Vorwürfe der Kurhöfe und der deutschen Staatsrechtslehrer zuziehen möge; Bemerkungen, bei Hattenhauer, Wahl und Krönung (wie FN 39), 379.
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Die nüchtern-bürokratische Sicht war durchaus nicht das einzig mögliche Verhältnis, das gebildete Beobachter im späten 18. Jh. zu solchen Solennitäten einnehmen konnten. Vielmehr gibt es - sowohl was die französische Krönung von 1775, als auch was die letzten beiden Kaiserkrönungen im Alten Reich betrifft - durchaus auch Äußerungen, die darauf hinweisen, daß den alten Herrschaftsritualen neue Bedeutungen zuwuchsen, daß sie also zu Verfassungsfesten in einem neuen Sinne umgedeutet wurden. So erschienen in Frankreich anläßlich der Krönung Ludwigs XVI. mehrere Schriften, die die königliche Eidesformel als Wesenskern des Rituals herausstellten und das Ganze als „contrat social" zwischen König und Volk, als „élection nationale" interpretierten. 50 Auch das Krönungsritual des Alten Reiches, das beim letzten Mal ausgerechnet am 14. Juli 1792 stattfand, konnte in einem solchen Sinne als Nationalfest der Deutschen gesehen werden. Dem stand die Tatsache, daß das altertümliche, „gotische" Gepränge des Rituals den Maßstäben zeitgemäßer höfischer Eleganz nicht entsprach, offenbar nicht im Wege - im Gegenteil umgab gerade dies das Ganze mit der Legitimation ehrwürdig-unvordenklichen Alters, auf die man sich im Reich nun in neuer Weise stolz zeigte. So empfand gerade ein Beobachter wie Georg Forster die Krönung schon 1790 als „eine der wichtigsten Angelegenheiten für unser Vaterland", deren altfränkischer Pomp „als Erinnerung an das Entstehen der deutschen Reichsverfassung mit guten Gründen gerechtfertigt werden" könne - jedenfalls solange das Reich noch nicht „eines natürlichen Todes" gestorben sei. 5 1 Und ein anderer Beobachter kommentierte ebenfalls 1790: „Man erinnerte sich bei der unabsehbaren, in Schranken gehaltenen Menge der Zuschauer jene [sie] Comitien der Römer, oder man glaubte sich in jene Zeiten versetzt, da die Wahl der Kaiser noch von der ganzen Volksmenge geschah [ . . . ] , und das Ganze bildete ein frohes, erhabenes und characteristisches Volksfest." 52 Während gebildete Beobachter sich gewöhnlich höchst abschätzig über das Verhalten des gemeinen Volkes bei Krönungssolennitäten äußerten und vor allem die hemmungslose Gier bei der Austeilung der Münzen, der Preisgabe der Ausstattung, des Weins, des Hafers und des gebratenen Ochsen registrierten, 53 erschien manchem so Nachweise bei Weber, Das Sacre (wie F N 40), 552 f. 51 Georg Forster, Erinnerungen aus dem Jahr 1790 i n historischen Gemälden und Bildnissen (1793), in: Georg Forsters Werke, Bd. 8: Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte, Berlin 1974, 292 f. - Vgl. zur Umdeutung der Reichsverfassung im Sinne des modernen Naturrechts, so etwa zur Umdeutung der Wahlkapitulationen im Reich zu naturrechtlichen Herrschaftsverträgen zwischen der Nation und dem zu Wählenden Barbara Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes? Konzepte landständischer Repräsentation i n der Spätphase des Alten Reiches, Berlin 1999. 52 B[ernhard] W[ilhelm] Wiederholt, Beschreibung des Lagers zu Bergen, welches [ . . . ] 1790 gehalten worden, Cassel 1791, 32; vgl. Haaser, Letzte Kaiserkrönungen (wie F N 39), 610 f. 53 Vgl. z. B. Diarium der Wahl und Kaiserlichen Krönung Franz des Zweiten, Frankfurt/Main, 1798, 8 u.ö.; vgl. auch die Beispiele bei Hattenhauer, Wahl und Krönung (wie F N 39), 191 ff.; Berger/Bund (Hrsg.), Wahl und Krönung (wie FN 39), 69:
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Beobachter nun die Volksmenge keineswegs mehr chaotisch und undiszipliniert: „Doch sah man hier nicht eine unruhige Volksmenge, die nur in den üppigen Belustigungen Vergnügen findet, welche eine Folge des Luxus sind: sondern man sah ein über sein neues Oberhaupt jauchzendes Volk, das stolz auf seine Staatsverfassung, die Gesetze verehrt, und bei welchen sich der Lieblingshang seiner Vorfahren zu männlichen Belustigungen und zu den Waffen fortgepflanzt h a t . " 5 4 Im Licht der neuen politischen Würde der „Nation", die sich im Nachbarland auf neue Weise feierte, wuchs zuletzt auch dem Wahl- und Krönungsritual im Reich eine neue, „patriotische" Bedeutung zu.
III. Moderne Verfassungen und die Schwierigkeit ihrer festlichen Inszenierung Mit der Revolution änderte sich das Verhältnis zwischen Verfassung und Fest grundlegend. Die Verfassung erschien jetzt als durch einen voraussetzungsfreien Gründungsakt geschaffen und zugleich als universell, abstrakt und generell; als Subjekt der Herrschaft erschien jetzt die souveräne Nation der Individuen. Damit wuchs dem Fest der neuen Verfassung eine unerhört große, konstitutive und essentielle Bedeutung zu. Es galt jetzt nichts Geringeres, als den Gründungsakt des Staates selbst feiernd zu vergegenwärtigen und zu inszenieren. 55 Das Fest sollte „die Revolution besiegeln" und „das Bauwerk der Freiheit vollenden" 5 6 . Es mußte eine völlig neue Legitimität erzeugen, d. h. Zutrauen und Glauben an die neue Ordnung wecken und gegenüber Chaos, Angst und aristokratischer Reaktion behaupten. Ganz im Sinne Dürkheims, dem bei seiner Theorie des religiösen Rituals nicht „Dabey geschiehet allezeit Mordt und Todtschlag." - Zu der aufklärerischen Skepsis gegenüber dem Fest vgl. Paul Münch, Fêtes pour le peuple, rien par le peuple. „Öffentliche" Feste im Programm der Aufklärung, in: Düding/Friedemann/Münch (Hrsg.), Öffentliche Festkultur (wie FN 8), 25-45. - Michail A. Bojcov, Qualitäten des Raumes in zeremoniellen Situationen: Das Heilige Römische Reich, 14.-15. Jh., in: Paravicini (Hrsg.), Zeremoniell und Raum (wie F N 29), 129-154, hier: 147 f., weist darauf hin, daß das Chaos der „Volksbelustigungen" im Umfeld der Herrschaftsrituale gerade dazu beitrug, die feierliche Ordnung des zeremoniellen Kerns desto effektvoller hervortreten zu lassen. 54 Wiederholt, Beschreibung des Lagers (wie F N 52). 55 Grundlegend Lynn Hunt, Symbole der Macht - Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt/Main 1989; Mona Ozouf, La Fête révolutionnaire 1789-1799, Paris 1976; Michel Vovelle, Les Métamorphoses de la fête en Provence de 1750 à 1820, Paris 1976; Jean Ehrard/Paul Viallaneix (Hrsg.), Les Fêtes de la Révolution. Colloque de Clermont-Ferrand (juin 1974), Paris 1977; Inge Baxmann, Die Feste der Französischen Revolution, Weinheim/ Basel 1989; Quellentexte bei Marie-Louise Biver, Fêtes révolutionnares à Paris, Paris 1979. - Für Deutschland Düding/Friedemann/Münch (Hrsg.), Öffentliche Festkultur (wie F N 8); Manfred Hettling/Paul Nolte (Hrsg.), Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jh., Göttingen 1993. 56 Zeitgenössische Zitate bei Ozouf, La Fete révolutionnaire (wie FN 55), 44 f.
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zuletzt die Revolutionsfeste vor Augen gestanden haben, 57 dienten diese dazu, die Einheit erst hervorzubringen, die sie symbolisch inszenierten, und die republikanischen Tugenden zu wecken, die sie voraussetzten. Wie die souveräne Nation sich selbst feiern solle, hatte schon Rousseau beschrieben, der regelmäßige öffentliche Feste für unerläßlich hielt, um die Bürger zu Patrioten zu machen. So empfahl er den Polen „Schauspiele in freier Luft, bei denen die Rangordnung sorgfältig beachtet und doch das ganze Volk gleichermaßen beteiligt wird wie bei den A l t e n . " 5 8 Nichts, so hatte er schon 1758 im Brief an D'Alembert über das Theater geschrieben, sei eigentlich der Gegenstand eines solchen republikanischen Schauspiels, als die Freude der Versammelten an einander selbst. „Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Baum auf, versammelt dort das Volk, und ihr werdet ein Fest haben. Tut noch mehr: Stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafür, daß ein jeder sich im andern erkennt und liebt, so daß alle miteinander verbunden sind." 5 9 In diesem Sinne sollte der contrat social selbst im Fest erfahrbar und gegenwärtig werden. Darin kehrte das ältere, vormoderne Symbolverständnis zurück: Der festliche A k t war nicht mehr nur ein äußerliches Zeichen, das etwas anderes, Unkörperliches, unabhängig davon Existierendes repräsentierte, sondern er enthielt das, was er symbolisierte, in Realpräsenz. Die fêtes de fédération , die in ganz Frankreich seit dem Herbst 1789 gefeiert wurden, bezeichnete man ganz in diesem Sinne als „pacte social", „reconciliation" oder „union". 6 0 Ihren Höhepunkt fanden sie bekanntlich i n der zentralen Föderationsfeier am 14. Juli 1790, einer gigantischen Entrée zehntausender Nationalgardisten aus allen Provinzen in Paris, die am Altar des Vaterlandes ihren kollektiven Eid ablegten. So neu, wie die Akteure glauben machten, waren die Formen der Revolutionsfeste selbstverständlich nicht. Das Vokabular der politischen Feste erweist sich vielmehr bei genauerem Hinsehen als erstaunlich begrenzt. Zum einen hatte man sehr vieles - nicht zuletzt den Namen - von den Federal Processions der amerikanischen Kolonien imitiert, die während der schritt57
Durkheim, Die elementaren Formen (wie F N 5), 294 f. Jean-Jacques Rousseau, Considérations sur le gouvernement de la Pologne (1771), dt. Übers, in: Jean-Jacques Rousseau, Sozialphilosophische und politische Schriften, München 1981, 575. 59 Jean-Jacques Rousseau, Lettre à M. D'Alembert (1758), Œuvres complètes, éd. par B. Gagnebin et M. Raymond, Bd.V, Paris 1995, 3-125, hier 114 ff.; vgl. auch die kollektive Zelebrierung des Bürgereids in: Jean-Jacques Rousseau, Projet pour une Constitution pour la Corse, Œevres complètes , Bd. III, Paris 1964, 943. - Vgl. dazu Ozouf, La Fête révolutionnaire (wie F N 55), 10 ff.; Paul Hugger, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Fest und Stadt (wie FN 8), 11 ff.; Baxmann, Feste (wie F N 55), 38 ff.; George L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Von den Befreiungskriegen zum Dritten Reich, Frankfurt a.M./New York 1993, 91 ff. 60 Ozouf, La Fête révolutionnaire (wie F N 55), 52. 58
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weisen Ratifizierung der neuen Unions Verfassung 1787-88 in den Küstenstädten veranstaltet worden waren und dazu gedient hatten, die nur schleppend realisierte nationale Einheit und Integration der Vereinigten Staaten voranzutreiben. 61 Doch auch die dort praktizierten Formen, mit denen der novus ordo saeculorum ins Bild gesetzt wurde, unterschieden sich auf den ersten Blick nicht grundsätzlich von denen der traditionellen Herrschaftsfeste: Prozessionen, Festwagen und Triumphbögen, Bürgermilizen, Festbankette, Tanz, Wettkämpfe, Schauspiele, tableaux vivants , Festreden, Kanonensalven, Glockengeläut, Feuerwerke - und vor allem: Eide. Bis ins Detail lassen sich für die einzelnen Elemente der revolutionären Rituale und ihrer Symbolsprache alteuropäische Entsprechungen finden unter anderem in dem oben genannten Beispiel der Entrée Karls in Brügge 1515: Auch beim „Fest der Einheit" von 1793, von Jacques-Louis David auf das kunstvollste inszeniert, zog sich eine Prozession durch Paris und passierte eine Folge von Stationen, die Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Revolution vorstellten. So wie die Figur der Jungfrau Brügge aus ihrer Brust Wein gespendet hatte, das der Graf von Flandern auffing, so spendete hier die Statue der Göttin „Regénération" aus ihrer Brust die Milch, mit dem der Boden im Namen der Freiheit getauft wurde 6 2 . Und ebenso wie i n Brügge die Gesetzestafeln vom Berg Sinai als Préfiguration der städtischen Verfassung und der Graf von Flandern als neuer Moses erschienen waren, so ließ man beim „Fest des Höchsten Wesens" 1794 Robespierre als neuen Moses von einem Felsen herabsteigen und die neue Wahrheit verkünden. 6 3 Selbst die Freilassung Hunderter von Tauben als Symbol der Freiheit hatte schon das Publikum bei der Krönung Ludwigs XV. verblüfft 6 4 - ganz zu schweigen von traditionellen Symbolen wie dem Staatsschiff, der Figur des Herkules und so fort. Andere Formen waren traditionellen Gemeindefesten entlehnt, wie der Reigen um den Maibaum oder das symbolische Verbrennen von Insignien. Und schließlich war schon für die Zeitgenossen unübersehbar, daß die revolutionären Feste sich bis ins Detail der christlichen Liturgie bedienten - d. h. gottesdienstliche Elemente entweder integrierten oder durch deren säkularisierte Imitation ersetzten: die Messe am Altar des Vaterlandes, die Weihe der Fahnen, bürgerliche Glaubensbekenntnisse, Predigten und Choräle. 65 61 Vgl. dazu Hans-Christoph Schröder, Der Pope's Day in Boston und die Verfassungsfeier in Philadelphia, in: Schultz, Das Fest (wie F N 8), 244-257; ausführlich Jürgen Heideking, Die Verfassungsfeiern von 1788, in: Der Staat 34,1995, 391-413. 62 Biver, Fêtes révolutionnaires (wie F N 55), 57 ff.; Baxmann, Feste (wie F N 55), 68 ff. 63 Biver, Fêtes révolutionnaires (wie F N 55), 87 ff. 64 Vgl. Möseneder, Zeremoniell und monumentale Poesie (wie F N 20), 61; nach Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Großen Herren, Berlin 1733, 608, war das bei der Krönung Ludwigs XV. als etwas Besonderes empfunden worden.
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Quelle: Marie-Louise Biver, Fêtes révolutionnaires à Paris, Paris 1979.
Abbildung 6: Die Göttin „Regénération", Fest der Einheit 1793
Doch auch wenn das Vokabular erstaunlich traditionell war, so war doch gleichsam die Grammatik nun eine ganz andere, weil „Verfassung" nun eine grundsätzlich andere Qualität angenommen hatte. Nicht Kontinuität wurde inszeniert, sondern ganz im Gegenteil der absolute Anfang, der kollektive Gründungsakt fingiert. Die Stelle, die in den Prozessionen des Ancien Régime das Allerheiligste oder der Herrscher eingenommen hatten, nahm nun allegorisch „die Nation", „die Freiheit", „die Vernunft", „das Gesetz" oder „das Vaterland" ein. In vielen Prozessionen führte man im Zentrum ein Verfassungsdokument mit, ja gelegentlich sogar eine Druckerpresse, die es aktuell vervielfältigte. 66 Nicht nach Rang und Würde, sondern nach quasi „natürlichen" Unterscheidungskriterien - A l t und Jung, Männer und Frau65 Ozouf, La Fête révolutionnaire (wie F N 55), 317 ff.; Vovelle, La Fete en Provence (wie F N 55), 237 ff. 66 So die Déclaration des droits de l'homme 1790, vgl. Ozouf, La Fête révolutionnaire (wie F N 55), 323 f.; das Buch „unserer heiligen Verfassung" bei der Fête de la Loi Juni 1792, vgl. Biver, Fêtes révolutionnaires (wie FN 55), 47; u.v.a. - Bei den amerikanischen Föderationsfesten 1788 wurde der Verfassungstext in mitgeführten Druckerpressen sogar während der Prozession vervielfältigt; vgl. Heideking, Verfassungsfeiern (wie F N 61), 406. - Schon bei der Königsproklamation Wilhelms von Oranien und Maria Stuarts in der Glorious Revolution war statt des Königspaares selbst die Declaration of Rights in einer feierlichen Entrée durch London geführt worden; vgl. Schwoerer, Glorious Revolution as Spectacle (wie F N 15), 114. - Vgl. auch z. B. Paul Nolte, Die badischen Verfassungsfeste im Vormärz, in: Hettling/Nolte (Hrsg.), Bürgerliche Feste (wie F N 55), 71, auch hier nahm ein Prunkexemplar des Verfassungstextes die Stelle des Herrschers im Rahmen einer modifizierten Entrée ein.
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en, Provinzen und Distrikte - wurden nun die Prozessionen gegliedert; statt sich um die Präzedenz zu streiten, loste man die Reihenfolge aus. 67 Im Idealfall sollte die Grenze zwischen Akteuren und Zuschauern verschwimmen. Die zentrale Rolle aller Feste spielte wiederum der Eid, nun aber nicht mehr als Begründung eines zweiseitigen Vertrages, sondern als von allen Bürgern persönlich und im ganzen Land gleichzeitig zu leisten-der „kollektiver Initiationsakt". 6 8 Jetzt, wo die alten rituellen Formen von den überzeugten Antiritualisten inszeniert wurden, sollte Authentizität an die Stelle falschen Scheins treten, Gleichheit an die Stelle hierarchischer Ränge, spontane Natürlichkeit an die Stelle gestelzter Pracht und die totale Präsenz der Nation an die Stelle der Herrscher. So jedenfalls war der Anspruch der Akteure. Das erwies sich allerdings zunehmend als Fiktion. Zur Veranschaulichung der Schwierigkeiten, zu denen dieser Anspruch führte, nur ein Beispiel. Früher war das „gemeine Volk" am Festbankett eines großen Herrschaftsrituals durch weinspendende Brunnen, gebratene Ochsen und ähnliches beteiligt worden, wobei es traditionell chaotisch zugegangen war, während die Herrschaftsträger ihr Festbankett in hoch stilisierten Formen zelebriert hatten. Trat nun die souveräne Nation beim gemeinschaftsstiftenden Festmahl an die Stelle der Potentaten, so schuf das Probleme: Zum einen - ganz banal - erwiesen sich meist alle noch so langen Tafeln als zu klein, 6 9 so daß schließlich doch wieder die Honoratioren und Amtsträger - vielleicht mit ein paar ausgewählten Greisen oder Jungfrauen aus dem Volk - tafelten. Zum anderen durfte das Ganze nicht mehr chaotisch und amorph ablaufen. Natürlichkeit und Spontaneität mußten vielmehr auf das sorgfältigste arrangiert und unter äußersten Disziplinierungsanstrengungen gewährleistet werden. Womöglich mehr noch als die Feste des Ancien Régime wurden die Revolutionsfeste daher von Verordnungen reglementiert und unter Strafandrohung diszipliniert. Je weiter sich die Revolution von ihrem Ausgangspunkt entfernte, desto kunstvoller und pädagogisch ehrgeiziger wurde ihre Festkultur, desto mehr mußte sie über die Brüchigkeit der nationalen Einheit und das tatsächliche Chaos hinwegtäuschen. Die Aporie des revolutionären Nationalfestes lag aber - noch grundsätzlicher - darin, daß es die unmittelbare kollektive Präsenz des Verfassungsaktes selbst wiederherstellen wollte - was unter den veränderten Vovelle , La Fête en Provence (wie F N 55), 226 ff., weist allerdings darauf hin, daß Präzedenzkonflikte auch im revolutionären Fest gelegentlich noch (oder wieder) vorkamen. 68 So Prodi, Sakrament der Herrschaft (wie F N 18), 398. 69 Der beim Pariser Föderationsfest 1790 gemachte Vorschlag, vor allen Häusern Tische aufzubauen, so daß ganz Paris eine einzige Tafel würde, scheiterte am Regen und wurde später nicht mehr aufgegriffen. Bei anderen Festen erwiesen sich auch noch so lange Tafeln regelmäßig als zu klein. Vgl. Biver, Fetes (wie F N 55), 28. Beim Bankett des New Yorker Föderationsfestes 1788 fanden immerhin 6 000 Personen an fächerförmig angeordneten Tischreihen Platz, vgl. Heideking, Verfassungsfeste (wie F N 61), 398.
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Bedingungen moderner Staatlichkeit nur eine Fiktion sein konnte. Wenn die ganze Nation tatsächlich auf konkrete, sinnlich erfahrbare Weise präsent gemacht werden soll, so führt das entweder zu anarchischen oder zu totalitären Erscheinungen. 70 Verfassungsfeste mußten unter den Bedingungen des modernen Konstitutionalismus eine ganz andere Qualität haben als in der ständischen Gesellschaft der Vormoderne. Ein Vergleich mit den oben genannten Merkmalen eines vormodernen „Verfassungsfests" macht das deutlich: Wie am Beispiel der Huldigungsentrée gezeigt werden sollte, war ein solches traditionelles „Verfassungsfest" ein formalisiertes, sakrales, öffentliches und demonstrativ aus dem Alltag herausgehobenes Ritual zwischen dem „Volk" im Rechtssinne und dem Herrscher, das eine rechtsverbindliche Wirkung erzeugte. Diesen Charakter hatten moderne Verfassungsfeste seit der Revolution nicht mehr - auch wenn ihre Regisseure sich darum bemühen mochten. Eine moderne Konstitution als Ensemble universalistischer, genereller Normen läßt sich nicht i n demselben Sinne real und aktuell präsent machen wie ein ständischer Herrschaftsvertrag; sie läßt sich nur symbolisch repräsentieren - ζ. B. durch das Dokument, das auf sie verweist, in dem sie aber nicht aufgeht. Moderne Verfassungsfeste sind keine „Solennitäten" im vormodernen Sinne mehr - denn ihnen fehlt gerade die spezifische Verbindung von außeralltäglicher Feierlichkeit mit strenger Förmlichkeit und aktueller Präsenz, die eine konkrete rechtliche Verbindlichkeit der Beteiligten erzeugt. Das öffentliche Fest als kollektiven symbolischen Akt gibt es zwar noch, aber die Erzeugung von Rechtsverbindlichkeit haben andere Verfahren übernommen - solche nämlich, die nicht mehr feierlich, nicht mehr außeralltäglich und auch nicht mehr sakralen Charakters sind und die mit den alten Solennitäten nur gemein haben, daß sie bestimmten Formen folgen müssen, um rechtswirksam zu sein.
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So die zentrale These von Mosse, Die Nationalisierung der Massen (wie F N 59).
Aussprache
Riedl: Sie haben auf die rechtlich-politische Dimension der Verfassungsfeste in der Frühen Neuzeit hingewiesen und in diesem Zusammenhang auch die ausgesprochen vielschichtige Rolle des Volkes im Kommunikationsprozeß derartiger Feste betont. Der von Ihnen erwähnte Georg Forster, ein Jakobiner, der in Mainz an der Errichtung der ersten Republik auf deutschem Boden maßgeblich beteiligt war, betrachtete indes das Volk mit unverhohlenem Argwohn. Dieses Mißtrauen war um 1800 durchaus zeittypisch und wurde durch die Erfahrungen mit dem zunehmend blutigeren Verlauf der Französischen Revolution noch genährt. Ihre Ausführungen legen den Schluß nahe, daß die Rolle des Volkes bei den Verfassungsfesten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts eher entwertet als aufgewertet worden ist. Damit verliefe der „Strukturwandel der Öffentlichkeit" am Ausgang des Ancien régime geradezu regressiv, von der kritischen zur repräsentativen Öffentlichkeit, und nicht umgekehrt: Der Charakter des an diesen politischen Festen beteiligten Volkes hätte sich dann gewissermaßen von dem eines kritischen Publikums zu dem einer, mehr oder weniger, reinen Akklamationsmasse gewandelt. Stollberg-Rilinger: Das kommt ganz darauf an, aus welcher Perspektive „das Volk" betrachtet wurde. Aus der Sicht vieler gebildeter Zeitgenossen erschien gerade die Volksbeteiligung an der Kaiserkrönung als rohe Ausschweifung des Pöbels. Die Beteiligung des „Volkes im älteren Rechtssinne", d. h. der Frankfurter Bürgerschaft als Korporation, da könnten Sie recht haben, scheint von den Regisseuren der Veranstaltung, den sparsamen Kameralisten, nicht mehr wirklich ernst genommen worden zu sein. Im Gegensatz dazu gab es aber auch andere Tendenzen, die auf eine Aufwertung des „Volkes" im Sinne des neuen Nationsbegriffs hinausliefen. Das steht im Zusammenhang mit der zunehmenden Umdeutung der Reichsverfassung, die nun als uraltes germanisch-fränkisches freiheitliches Erbe erschien, trotz aller ihrer Gebrechen also Respekt verdiente. Auf dem Römerberg, so konnte es jetzt scheinen, kam „das Volk" unter freiem Himmel zusammen, um seinem Herrscher zu akklamieren und in einem „Nationalfest" seine uralte Verfassung zu feiern. Man sah die versammelte Menge jetzt in Rousseauschem Licht. So würde ich auch die Äußerungen Forsters interpretieren, bei aller Kritik, die er am „gotischen" Reichsgebäude übt.
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Hartmann: Sie haben in Ihrem schönen Referat auf die Bedeutung der Krönung hingewiesen. Hier ist in Ihrem Sinne zu betonen, daß Ludwig XVI. trotz der K r i t i k der Aufklärung am traditionellen Sacre bewußt festhielt und sogar das „Toucher" der Skrofulosekranken wieder aufnahm, was H. Weber in einem Artikel sehr gut behandelt. Ludwig XVI. sah die Erhaltung der Sakralität als wichtiges Desiderat an. Es läßt sich in der Tat fragen, ob nicht die zunehmende Aufgabe der Sakralität der staatlich-religiösen Feste nicht zur Destabilisierung der Herrschaft beigetragen hat. Wie sehen Sie das? Stollberg-Rilinger: Ich habe mich selbst auf den höchst instruktiven Aufsatz von Hermann Weber über das Sacre Ludwigs XVI. gestützt, den ich nach wie vor zu dieser Thematik für essentiell halte. Zu der Frage, ob Ludwig recht hatte mit seinem Festhalten an der Sakralität des Königtums auch da ist wieder darauf hinzuweisen, daß das eben auf die Adressaten ankam. Sicher entsprach der nüchtern-rechenhafte Zugang eines Turgot nicht den Bedürfnissen und Erwartungen der breiten Masse des Volkes. Andererseits ist schwer einzuschätzen, wie weit hier schon die Tendenz zur Dechristianisierung gegriffen hat. Jedenfalls hat Ludwig XVI. auch die Chance verkannt, die sich aus einer modernen Umdeutung des Königtums im Sinne des „contrat social" zwischen Monarch und Volk ergab. Die Schriften, die so etwas andeuteten, ließ er verbieten, wie Hermann Weber gezeigt hat. Solche Deutungsangebote, die den König ja auch mit einer neuen, zeitgemäßeren Legitimität ausstatteten, hätten sich mit einer gewissen Sakralität durchaus vertragen. Das zeigen ja die Revolutionsfeste ganz deutlich, die auf eine sakrale Aura keineswegs verzichteten; Mona Ozouf hat bekanntlich von einem „Transfer des Sakralen" gesprochen. Wolf: Sie zeigten ein Bild von einem Trompeter bei der joyeuse entrée Karls V. in Brügge. In den Toren waren die Bilder von Moses mit den Gesetzestafeln und vom Fürsten mit den städtischen Privilegien angebracht. Wo konnten Karl V. und sein Gefolge denn hindurchziehen? - Schließlich noch eine Beobachtung zu dem Bild vom Einzug Kaiser Karls VII. in Frankfurt. Das Bild hatte eine originale Unterschrift „Der prächtige Einzug . . . " und eine Unterschrift des modernen Editors „Der prunkvolle Einzug . . . " Pracht und Prunk ist aber nicht das Gleiche. Der Herrscher erscheint in seiner Pracht. Da wird das Herrschertum sichtbar. Prunk ist Angeberei, Show, da sind Innen und Außen identisch. Ich finde, daß die Veränderung des Titels, die der Buchautor hier vorgenommen hat, typisch für das veränderte Verständnis der Moderne gegenüber dem 18. Jahrhundert ist. Stollberg-Rilinger: Zum ersten Punkt: Die gezeigten Ehrenpforten muß man sich so vorstellen, daß das jeweilige Bildwerk, das auf der Abbildung zu sehen ist, sich oben auf einem Tor befand, so daß der Festzug darunter
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durchziehen konnte; der Unterbau, der Torbogen selbst, ist auf der Abbildung also nicht zu sehen. Wenn der Zug sich näherte, öffneten sich die Flügeltüren des Aufbaus, so daß das tableau vivant sichtbar wurde; die Figuren wurden von Brügger Bürgern dargestellt. Zum zweiten Punkt: Die terminologische Unterscheidung zwischen Pracht und Prunk ist sehr subtil und leuchtet mir ein. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sie von den Zeitgenossen so deutlich getroffen wurde. Jedenfalls begegnet auch „Pracht" gelegentlich in pejorativer Färbung. Barmeyer-Hartlieb: Meine Bemerkung ist eher unterstützend als kritischinfragestellend gemeint. Nach meinem Verständnis hat Ihr Vortrag einmal mehr die Bedeutung der „Sattelzeit" um 1800 herausgearbeitet, in der ein völlig neues Verfassungsverständnis entsteht, was sich u. a. in der gewandelten Funktion des Festes zeigt. Für Altertum und Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit des „ganzen Hauses" gilt die Realpräsenz der Verfassung im Fest, wie Sie es genannt haben. Im öffentlichen Miteinander von Herrscher und Beherrschtem manifestiert sich Herrschaft, und nur dort ist sie vorhanden. So würde ich sogar noch vorsichtiger formulieren, als Sie es in Ihrer Kurzfassung tun, wenn Sie vom öffentlichen Charakter und dem Gegenüber von Akteuren und Zuschauern sprechen, weil m.E. die für beide notwendige Interaktion so verwischt wird. Der Herrscher bedarf, um als Herrscher aufzutreten, der Beherrschten und diese sind Teil der geordneten, in gewisser Weise verfaßten Herrschaft. Die Anwesenheit des Herrschers ist notwendig und reale Machtausübung bedarf des Vollzugs, - so bei den Reisekaisern des Mittelalters, deren Herrschaft durch ein Pfalzensystem gestützt wird. Ähnliches gilt noch für das Herrschaftsmodell Ludwigs XIV., also für den absoluten Monarchen. Auch seine Herrschaft hat sakralen Charakter und das zeremoniell reglementierte, rituell und symbolisch sich präsentierende Herrschaftsfest ist integraler Bestandteil seiner Herrschaft, nicht schmückendes Beiwerk und Ornament, auf das verzichtet werden könnte. Ganz anders die Revolutionsfeste der Moderne. Im Sinne eines klassischen Verfassungsverständnisses sind sie schmückendes Beiwerk, Zutat ohne herrschaftslegitimierenden Charakter, denn seit der Amerikanischen und der Französischen Revolution legitimiert sich Herrschaft allein auf der Grundlage des geschriebenen Verfassungstextes. Das öffentliche Fest ändert an der Legitimität der Herrschaft nichts und ist insofern verzichtbar, überflüssig, nicht essentiell. Da aber Herrschaft des sakralen Charakters entbehrt, bedarf sie umso mehr der im Fest erfolgenden Akklamation und plebiszitären Unterstützung. Das Volk, das sich die Verfassung gegeben hat und dem Herrscher demokratische Legitimation verliehen hat, bestätigt, wiederholt im Fest seinen politischen Willen - und insofern erhalten die Revolutionsfeste Verfassungsrang, allerdings nicht im klassischen Verständnis, sondern in einem politisch funktionalen Sinn.
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Stollberg-Rilinger: Ich bin mit Ihnen völlig einer Meinung, was den ersten Punkt betrifft. Statt von Zuschauern sollte man lieber von Adressaten sprechen, um die konstitutive Rolle des „rechtlich verfaßten Volkes" bei Herrschaftsfesten der Frühen Neuzeit hervorzuheben. Was die Bedeutung des Verfassunsgfests in der Moderne betrifft, so sollte man vielleicht unterscheiden zwischen rechtskonstitutiver Bedeutung - die dem Fest jetzt eben nicht mehr zukommt - und legitimationsstif tender Funktion, die ihm jetzt erst recht zukommt, jedenfalls in der Situation des revolutionären Anfangs. Ich würde also einen anderen Legitimitätsbegriff verwenden als Sie - Legitimität nicht im Sinne des Rechtspositivismus, also als identisch mit Legalität, sondern eher im Sinne der verstehenden Soziologie, also im Sinne von tatsächlicher Akzeptanz durch die der Herrschaft Unterworfenen. Die Frage ist dann nicht allein, wie eine moderne Verfassung im positiven Sinne Rechtskraft erwirbt, sondern wie es zustandekommt, daß die Bürger tatsächlich ihre Erwartungen und damit ihr Handeln danach ausrichten. Legt man diesen Legitimitätsbegriff zugrunde, so waren die Revolutionsfeste eben doch essentiell für die Stiftung einer neuen Legitimität. Willoweit: Es scheint mir wichtig, die Texte der frühmodernen Zeit von den historisierenden Inszenierungen des 19. Jahrhunderts zu unterscheiden. Das Fest als wirkliches „Übergangsritual" setzt die Ständegesellschaft mit festgelegten Rangabstufungen, Zeremonial- und Kleiderordnungen voraus. Stollberg-Rilinger: Der Zusammenhang zwischen ständisch-korporativer Verfassung und Herrschaftsfest im von mir dargestellten Sinne scheint mir in der Tat wesentlich. Übergangsrituale, wie es alle diese vormodernen „Verfassungsfeste" im Kern meines Erachtens sind, bewirken ja immer den Übergang von einem Status in einen anderen und stiften dadurch klare und eindeutige Grenzen zwischen Personen. Damit wird nicht nur der jeweilige einzelne Statuswechsel vollzogen, also beispielsweise die Einsetzung in das Herrscheramt, sondern immer zugleich die ständisch-korporative Gesamtordnung mit all ihren Grenzen inszeniert und bekräftigt. Nicht zufällig ist beispielsweise die hohe Zeit der Herrscherentrées deckungsgleich mit der Epoche der ständisch-korporativen Verfassung, also erstreckt sich etwa vom 14. bis ins 18. Jh. hinein. Man könnte die Entwicklung, die ich beschrieben habe, natürlich auch als Prozeß der Ausdifferenzierung des Rechts, auch des Verfassungsrechts, zu einem autonomen gesellschaftlichen Teilsystem beschreiben. In der Vormoderne ist das Recht eben noch in ganz anderer Weise in den gesamten ständischen Lebenszusammenhang eingebettet und davon nicht zu trennen. Brauneder: Vom rechtlichen Aspekt her besehen, verstehen sich wohl manche Feiern als Ausdruck der Publizität des Rechts, besonders in Zeiten, wo dieses hauptsächlich Gewohnheitsrecht ist und, modern gesprochen, sich
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nicht in einem Gesetzblatt ohnedies angeblich für jedermann findet. In der Entwicklung wird schließlich die Geltung des Rechts wichtiger als die Form, spröde formuliert: Das Bundesgesetzblatt ersetzt manche Feierlichkeiten. Stollberg-Rilinger: Selbstverständlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Entwicklung, die ich versucht habe zu beschreiben, und der Entwicklung vom Gewohnheitsrecht zum geschriebenen bzw. positiven Recht. Der Prozeß der Verschriftlichung befördert es natürlich, daß Herrschaftsrituale bzw. -feste immer mehr ihre Kraft, ihre rechtsverbindliche Wirkung einbüßen. Persönliche Präsenz wird immer entbehrlicher, darauf habe ich ja am Beispiel des Eides hingewiesen. Das bedeutet aber nicht, daß symbolische Inszenierungen von Verfassung ihre legitimitätsstiftende Kraft völlig verloren hätten. Allerdings wird „Verfassung" in der Moderne eben nicht mehr im Fest „real präsent", sondern es wird nur noch zeichenhaft auf sie verwiesen. Die Parallele zum Wandel des Symbolverständnisses im Laufe der Frühen Neuzeit scheint mir kein Zufall zu sein. Brandt: Ich möchte den Vortrag noch um die Bemerkung ergänzen, daß i m 19. Jahrhundert das Verfassungs-„Fest" auseinanderfällt in Protokoll bzw. Geschäftsordnung auf der einen Seite und die politische Demonstration (Wartburg, Hambach!) auf der anderen. Die Folklore tritt an die Stelle des angemessenen Verfahrens. Übrigens ist in diesem Zusammenhang auch an das bekannte Wort von Marc Bloch zu erinnern, der da meinte, von der französischen Geschichte habe der nichts begriffen, der die Königsheilungen geringschätze oder die Föderationsfeste aus der Zeit der Revolution übersehe. Stollberg-Rilinger: Das Fest ist in der Tat für das Verständnis jeder politischen Kultur zentral. Ihre Äußerung verstehe ich so, daß in der Moderne klar zu trennen ist zwischen der politischen Inszenierung aufgrund von Legalität, von rechtsförmlichen Verfahren durch die wiederum legal dazu qualifizierten Instanzen einerseits und oppositionellen politischen Volksfesten andererseits, die dann nur noch „Folklore" sind. Ich bin nicht sicher, ob das so klar zu trennen ist, ob sich also nicht auch die offizielle politische Inszenierung der „Folklore" bediente und ob nicht umgekehrt auch die politische „Folklore" in hohem Maße von offiziellen Amtsträgern inszeniert wurde. Darüber müßte man noch genauer nachdenken. Gangl: Der Nachweis eines engen Zusammenhanges zwischen Verfassung und Fest kann wohl für keine Zeit besser erbracht werden als für die Jahre der Französischen Revolution. „Es sollen nationale Festlichkeiten eingeführt werden, um die Erinnerung an die Französische Revolution zu bewahren, die Brüderlichkeit unter den Bürgern zu pflegen und sie an die Verfassung, das Vaterland und die Gesetze zu binden."
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Mit dieser auf einen Antrag von Thouret hin in die Verfassung von 1791 (Tit. I Abs. 8) aufgenommenen Bestimmung hat die Konstituante zu erkennen gegeben, welche große staatspolitische Bedeutung sie den öffentlichen Festen beimaß. Bei den französischen Revolutionshistorikern - Michelet ausgenommen haben die Revolutionsfeste lange Zeit hindurch nur wenig Beachtung gefunden. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt als Folge der Kontroverse Aulard-Mathiez, wurde diese Zurückhaltung aufgegeben. Aber wiederum mußten viele Jahrzehnte vergehen, bis unter dem Eindruck der Maiereignisse von 1968 das Revolutionsfest erneut, und zwar in einer größeren Anzahl von Studien thematisiert wurde. Von der bis dahin üblichen Typenbildung in der Forschung abgehend, hat Mona Ozouf das Bild eines äußerst kohärenten Revolutionsfestes entworfen (La fête révolutionnaire 1789-1799, Paris 1976). Die zahlreichen, scheinbar im Gegensatz zueinander stehenden Feste zeigen nach ihrer Auffassung eine „identische Konzeptualisierung", ja ein „identisches kollektives Bedürfnis". Daneben sei vor allem Michel Vovelle genannt, der, ebenfalls 1976, das öffentliche Fest wieder in seinen regionalen Zusammenhang stellte (Les métamorphoses de la fête en Provence 1750-1830; außerdem diverse lexikalische Beiträge in späteren Jahren). Eine wichtige geistige Vorarbeit für die Organisation von öffentlichen Festen hatten schon die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts geleistet. Neben Mercier und Diderot war es besonders Rousseau gewesen, der gegen jene exklusiven Schauspiele alter Art polemisierte, die „einige Hundert Menschen in einem kleinen dunklen Raum" unterhalten wollen, um dann in pathetischer Sprache seine eigenen Vorstellungen von einem Fest zu verkünden: „Nein, ihr glücklichen Völker, das sind nicht eure Feste. In der freien Natur, unter freiem Himmel sollt ihr zusammentreten und euch der süßen Empfindung eures Glücks überlassen ... Pflanzt i n der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Pfahl auf, versammelt dort das Volk und ihr werdet ein Fest haben. Ja, macht es noch besser: macht die Zuschauer selbst zum Schauspiel, zu Schauspielern; macht, daß jeder sich i n den anderen erkennt und liebt, damit alle umso fester vereint seien" (Lettres sur les spectacles).
Der Stil des Revolutionsfestes war im Verlauf der Zeit mehreren Veränderungen unterworfen, „Metamorphosen", wie Vovelle sie nennt. Eine Übergangsphase stellen die ersten Jahre (1789-1791) dar, in denen die traditionellen Rituale zwar weiterbestehen, aber unter dem Zwang der Ereignisse gleichzeitig Neuerungen aufkommen. Nach einer Reihe von improvisierten Festen (fêtes sauvages) markieren die an die amerikanischen Föderationsfeste anknüpfenden französischen Feierlichkeiten „den ersten Schritt zu einer Regulierung der Feste" (L. Hunt). Mit dem Föderationsfest vom 14. Juli 1790 auf dem Pariser Marsfeld, dem „letzten Ausbruch einer wirklichen
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nationalen Begeisterung" nach Madame de Staël, hatte man das von Rousseau erträumte Fest zur Wirlichkeit werden lassen. Sein Glaube, die Versammlung eines Volkes im Freien würde damit zur Harmonie in der Gesellschaft führen, war damals auch der Glaube der Organisatoren und der in Massen herbeigeströmten Zuschauer gewesen. Das Föderationsfest lebte aus der ihm „innewohenden Kraft zur Einigung" (Michelet); es war der Gründungsakt der nationalen Einheit schlechthin. Eine richtige Doktrin des Revolutionsfestes, auffallenderweise beherrscht von der quälenden Vorstellung eine neuen Aufruhrs, den es zu verhüten gelte, glaubt Ozouf schon bei Mirabeau und Talleyrand vorzufinden, die beide in Konzepten aus 1791 einen „inneren Zusammenhang zwischen den Festen freier Völker und ihren politischen Institutionen" als selbstverständlich hinstellten. Die auf dem Marsfeld enthusiastisch gefeierte (und in den Festlichkeiten anläßlich der Verfassungsproklamation von 1791 scheinbar wiederhergestellte) Harmonie war indessen nicht von langem Bestand. Bald sollte sie sich als Illusion erweisen, die Marats düstere Prophezeiung im „ A m i du Peuple" bestätigte. Der Einklang von Religion und Revolution zerbrach; Bürgertum und Volk, König und Land gingen getrennte Wege. Deutlich zu beobachten ist diese Entwicklung an zwei Festlichkeiten im Frühjahr 1792. Die fortschrittlichen Patrioten organisieren am 15. April in Paris einen der ersten großen Festzüge zu Ehren der begnadigten und von den Galeeren entlassenen Soldaten des Schweizerregiments von Châteauvieux, während sechs Wochen später die einem gemäßigten Republikanismus zuneigende Bourgeoisie der Feuillants ihrerseits einen nationalen Gedenktag zu Ehren des Bürgermeisters von Etampes Simonneau veranstaltet, der bei der Verteidigung des liberalen Lebensmittelgesetzes von der für amtliche Höchstpreise demonstrierenden Menge erschlagen wurde. Auf der einen Seite die Glorifizierung von Aufrührern, auf der anderen Seite die Glorifizierung des Opfers eines Aufruhrs, auf der einen Seite ein Fest der Freiheit, auf der anderen ein Fest des Gesetzes, die öffentliche Meinung gelenkt von dem zwischen Montagne und Gironde schwankenden Condorcet auf der einen Seite und dem antijakobinischen Polemiker A. Chénier auf der anderen: nach außen hin zwei „antagonistische Feste" (Ozouf) gewiß, aber beide auch, so scheint es, von der Absicht geleitet, in spätem Vollzug von Mirabeaus Plan die christliche Religion von den Revolutionsfesten auszuschließen. Unter dem Vorwand einer notwendigen Trennung der einzelnen Lebensbereiche geht man nun daran, das Religiöse aus dem Blickfeld der Menschen zu verbannen. Die Religion wird in die Anonymität des Privaten abgedrängt, während die Bürgertugend die Szene der Öffentlichkeit für sich allein in Anspruch nehmen darf.
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Auf dem düsteren Hintergrund von militärischen Niederlagen und tödlichen Bedrohungen im Innern findet, nachdem die am 24. Juni 1793 vom Nationalkonvent angenommene Verfassung durch einen Volksentscheid (bei massiven Stimmenthaltungen) gebilligt worden ist, am 10. August ein großes, von David bis in alle Einzelheiten organisiertes Fest statt. Von den Ruinen der Bastille über mehrere Stationen bis zum Marsfeld bewegt sich der Festzug, in der Hauptsache bestehend aus lyrisch verbrämten Ansprachen von Hérault de Séchelles, dem früheren Berichterstatter des Verfassungsentwurfs und nunmehrigen Präsidenten des Nationalkonvents. Beim Altar des Vaterlandes angekommen, beschwört er die Menge, die eben proklamierte Verfassung bis zum Tode zu verteidigen, worauf er die Verfassungstafeln sowie die das Ergebnis der Volksabstimmung festhaltende Urkunde in einer „heiligen Lade" verwahrt. Ein neuer Stil des Revolutionsfestes, der aus dem Thema der „Régénération" seine Kraft nimmt, hat sich an jenem Tag durchgesetzt. Es ist „das erste Fest der Revolution ohne Mitwirkung der Kirche, ohne Te Deum und ohne priesterlichen Segen" (F. Furet). Bald sollte die gemäßigte Entchristianisierung einem militanten Atheismus Platz machen. Die Regierung Frankreichs trägt keine Bedenken, sich auf die „Abenteuer der Vernunft" (Vovelle) einzulassen. Zu diesen „Abenteuern" zählt auch das am 10. November 1793 in Paris gefeierte „Fest der Vernunft". Der radikale Pariser Stadtrat hat es ursprünglich als ein „Fest der Freiheit" konzipiert, aber im Wettstreit um die fortschrittlichsten Ideen w i l l er nicht hinter dem seiner Religion abgeschworenen Pariser Bischof Gobel zurückstehen und verlegt es, um den Angriff auf den Katholizismus deutlicher hervortreten zu lassen, aus dem ehemaligen Palais Royal nach Notre-Dame. Zwei Neuerungen vor allem sind es, die das Fest charakterisieren: einmal der Bruch mit dem revolutionären Dogma von den großen offenen Räumen als Veranstaltungsort und zum anderen (statt der Aufstellung einer Statue) das Erscheinen einer lebendigen Frau, einer Schauspielerin der Oper, die, als „Göttin der Freiheit" aus einem kleinen Tempel heraustretend, die Huldigung der Anwesenden entgegennimmt. Dazu kommen szenische Details wie die am Eingang des Tempels aufgereihten Büsten der „philosophes" und die auf dem griechischen Altar brennende Fackel der Vernunft als äußere Zeichen des Stilwandels. Aber dieser ist nicht total. Aus dem gemeinsamen Repertoire aller Revolutionsfeste schöpfend und im Rückgriff auf das ursprüngliche Konzept inszeniert man eine Verherrlichung der Freiheit, indem man dem Volk eine „Göttin der Freiheit" (und nicht der Vernunft) präsentiert und eine neugeschaffene „Hymne auf die Freiheit" (mit dem Text von M.J. Chénier und der Musik von Gossec, dem offiziellen Komponisten der patriotischen Feste) von den Chören vortragen läßt. Diese Kampagne einer radikalen Entchristianisierung stieß auf die erbitterte Gegnerschaft Robespierres. Als Deist in einem deistischen Jahrhun-
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dert mußte er den Atheismus verabscheuen, als ein für die Vollendung der Revolution Verantwortlicher, als der er sich fühlte, war es ihm zur Gewißheit geworden, daß die immer noch mit ihrer Religion verbundene Mehrheit des Volkes nur durch die Hinwendung zum „Höchsten Wesen", dem „Gott ohne Antlitz", sich von ihren „religiösen Vorurteilen" werde abbringen lassen, und als ein um seine Machtstellung Besorgter wollte er mit seinen Attacken gegen die „Maskeraden" der Vernunft auch seine politischen Widersacher vernichten. Die erste Kampfansage erfolgte in einer Rede im Konvent am 21. November 1793, in der Robespierre den Atheismus als „aristokratisch", die Vorstellung von einem „Höchsten Wesen" hingegen als „mit dem Volke eng verbunden" bezeichnete. Ungefähr zur gleichen Zeit sollte der Konvent die Initiative zur Ausarbeitung eines Dekretentwurfes über die Einführung bürgerlicher Feste ergreifen, wodurch Robespierre die Möglichkeit erhielt, seine eigenen Ideen vor den Abgeordneten vorzutragen und diese auch - kraft seines unbeirrbaren Glaubens an sich selbst und seines rhetorischen Talents - davon zu überzeugen. Den Ideen Rousseaus zutiefst verpflichtet, so stellt sich der berühmte Bericht dar, den Robespierre am 7. Mai 1794 dem Konvent erstattet: „ . . . Es gibt jedoch eine Art Einrichtung, die als ein wesentlicher Teil der öffentlichen Erziehung betrachtet werden muß und die notwendigerweise zu diesem Thema gehört. Ich denke an die nationalen Festlichkeiten. Versammelt die Menschen, ihr macht sie damit besser; denn die versammelten Menschen trachten danach, sich gegenseitig zu gefallen, und sie können sich nur durch solche Eigenschaften gefallen, die sie achtbar machen ... Der Mensch ist das bedeutendste Wesen i n der Natur; und das erhabenste Schauspiel ist das eines versammelten großen Volkes. Von den nationalen Festen Griechenlands spricht man euch immer nur mit großer Begeisterung ... ganz Griechenland versammelt sich; man sah ein Schauspiel, das viel größer war als die Spiele, nämlich die Zuschauer selbst... Wie leicht wäre es für das französische Volk, unseren Versammlungen ein umfassenderes Ziel und einen größeren Charakter zu geben! Ein wohlverstandenes System von Festen wäre zugleich ein zartes Band der Brüderlichkeit und ein w i r k sames Mittel der Regenerierung. Veranstaltet also für die ganze Republik allgemeine und feierliche Feste; schafft euch für jeden einzelnen Ort besondere Feste ... Laden wir zu unseren Festlichkeiten die Natur und alle Tugenden ein! Feiern wir sie unter der Schutzherrschaft des Höchsten Wesens, ihm sollen sie gewidmet sein; mit einer Huldigung an seine Macht und seine Güte sollen sie eröffnet und beschlossen werden..."
Das daraufhin vom Konvent beschlossene Dekret verkündet: „Das französische Volk anerkennt die Existenz eines Höchsten Wesens und die Unsterblichkeit der Seele." In seinem letzten Artikel bestimmt es den kommenden 20. Prairial (8. Juni 1794) zu einem nationalen Fest zu Ehren des Höchsten Wesens.
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Robespierre allein sollte dieses Fest gehören, dessen „Idee von ihm entworfen, dessen Durchführung von ihm bestimmt und dessen Hauptrolle von ihm gespielt wird" (Ozouf). Zu dem somit vorgegebenen Thema hat David einen minuziösen Organisationsplan für die Pariser Festlichkeit entworfen, der, mehr oder minder getreu nachgeahmt, zum Vorbild für ganz Frankreich wurde. Das Volk versammelt sich vor den Tuilerien; ein riesiges Amphitheater ist dort errichtet, i n dessen Mitte eine Tribüne, von der aus Robespierre ein Glaubensbekenntnis zum Höchsten Wesen ablegt, um danach eine Reihe von allegorischen Figuren, darunter die Atheismus-Statue als größte, mit einer Fackel i n Brand zu setzen. Eine Apotheose auf dem Marsfeld bildet den Schlußpunkt des Festes. Zu keiner Zeit habe die kollektive Phantasie einen stärkeren Ausdruck gefunden als am 14. Juli 1790 und am 8. Juni 1794, bemerkt Vovelle dazu. Dennoch trägt das Fest vom Höchsten Wesen einen Januskopf. Auf die vergangenen Revolutions jähre zurückblickend, glaubt man den Zenit der großen Volksfeste erreicht zu haben, aber der Blick in die Zukunft ist verschleiert durch die Ungewißheit der kommenden Ereignisse. Der 9. Thermidor wirft seinen Schatten voraus. Das Revolutionsfest überlebt Robespierre und seine Getreuen. Mit der von ihm angestrebten Systematisierung der nationalen Feste hatte er einen Weg beschritten, von dem auch die neuen Machthaber praktisch nicht mehr abweichen sollten. In La Revellière-Lepeaux, einem Mann des „juste milieu", fanden die Thermidorianer, die i n pädagogischer Absicht mit den neuen revolutionären Wertvorstellungen eine neue Festkultur zu begründen suchten, den Theoretiker, der ein Modell für die künftigen Feste schuf. Nach der Annahme der neuen Verfassung, der Direktorialverfassung vom 22. August 1795, in die analog zur Verfassung von 1791 eine Bestimmung über die nationalen Feste (Art. 301) eingefügt worden war, hat der Nationalkonvent noch am 25. Oktober, knapp vor seinem Auseinandergehen, in einem umfangreichen Gesetz über die öffentliche Erziehung die Revolutionsfeste der geänderten Situation angepaßt. Weitere Abänderungen und Ergänzungen (im besonderen das Gesetz vom 1. Februar 1798) kamen in den folgenden Jahren hinzu. Vom Herbst 1798 an mehren sich die Anzeichen für einen Niedergang des Revolutionsfestes. Deutlich zeigt sich dies in einer Rückkehr zur alten Festkultur mit ihren profanen wie religiösen Festen. Mit dem 1801 abgeschlossenen Konkordat ist das Schicksal des Revolutionsfestes besiegelt; denn nunmehr sind es Konsulat und Kaiserreich, die mit ihrer Politik den Gang der Ereignisse bestimmen. Stollberg-Rilinger: Das war ein ausführliches Korreferat, das ich nur zustimmend zur Kenntnis nehmen kann.
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Mir scheint zur Forschungsgeschichte noch erwähnenswert, daß die französische Geschichtsschreibung über die Revolutionsfeste nicht zuletzt von Emile Dürkheims Religionssoziologie Impulse empfangen hat. Durkheim selbst wiederum hatte bei der Untersuchung der religiösen Rituale einfacher Gesellschaften das französische Revolutionsfest vor Augen! Da beißt sich die Katze gewissermaßen in den Schwanz. Dippel: Frau Stollberg-Rilinger, Sie haben in Ihrem Vortrag mehrfach und erneut zum Schluß das Fehlen von Festen und Festlichkeiten im politischen wie im Verfassungsleben der Bundesrepublik, wenn nicht beklagt, so doch konstatiert. Dazu ist festzustellen, daß dieser Tatbestand fraglos im Zusammenhang mit dem Niedergang der öffentlichen Feste steht, den wir in Europa im 19. Jahrhundert feststellen können und der zugleich zu einem wesentlichen Verlust der darin enthaltenen politischen Symbolik geführt hat. Zwar gibt es in den europäischen Monarchien selbst heute noch Herrscherinthronisationen - Belgien wäre ein vergleichbar junges Beispiel. Doch kommt ihnen in unseren Tagen lediglich noch eine untergeordnete Verfassungsbedeutung zu, die sich vor allem im Krönungseid ausdrückt, während die Rechte und Freiheiten der Bürger längst als durch die Verfassung gesichert gelten und nicht länger der feierlichen Bekräftigung durch den neuen Monarchen bedürfen. In diesem Punkt hat also die Herrscherinthronisation ihren Rechtscharakter verloren und ist heute vor allem zu einem identitätsstiftenden Medienereignis geworden. Was die Ersatzstücke, wenn man so will, in den konstitutionellen Monarchien und insbesondere in den Republiken betrifft, so stellt man fest, daß wir zwar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mancherorts Verfassungsfeste erleben, diese sich aber aus vielerlei Gründen letztlich nicht durchsetzen. Auch der Verfassungstag der Weimarer Republik, als solcher gewiß bemerkenswert, bietet hier keinen rechten Ersatz und lebt ja dann auch in der Bundesrepublik in dieser Form nicht wieder auf. Hingegen fällt auf, daß die beiden herausragendsten Feste unserer Zeit, der 4. Juli in den Vereinigten Staaten und der 14. Juli in Frankreich, sich ausdrücklich nicht auf die Verfassung beziehen - was ohnehin in Frankreich mit einem über mehr als 200 Jahre konstanten Datum etwas schwierig gewesen wäre. In den USA feiert man nicht den 17. September, sondern in bemerkenswerter Analogie zu Frankreich das Datum einer nationale Identität stiftenden Tat, die nicht durch eine Verfassung ausgedrückt ist und sich für das kollektive Bewußtsein offensichtlich mehr eignet als eine Verfassung. Stollberg-Rilinger: Ihre Beobachtungen bestätigen meine Auffassung, daß sich die modernen Verfassungen aufgrund ihres abstrakt-generalisierenden Charakters und ihrer positiven Rechtsgeltung schlecht zur symbolischrituellen Inszenierung eignen und ihrer eben auch in geringerem Maße bedürfen. Zwar gibt es im frühen 19. Jh. zahlreiche Feiern, in denen der
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Verfassungstext in einer Prozession, etwa nach Art einer Entrée, an die Stelle des Herrschers tritt. Aber die auf etwas Abstraktes verweisende, symbolische Präsenz eines gedruckten Schriftstücks hat eben eine andere Qualität als die physische Präsenz eines Herrschers. Und das Subjekt moderner Verfassungen, die staatsbürgerliche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit (oder gar die „Menschheit" als Subjekt von Menschenrechtskatalogen), läßt sich eben auch nicht in demselben Sinne physisch präsent machen wie eine ständisch-korporative Gesellschaft, die sich aus überschaubaren Einheiten aufbaut, die auf der Grundlage personaler, kleinräumiger und wenig differenzierter Sozial- und Herrschaftsbeziehungen funktionieren.
4 Der Staat, Beiheft 15
U n i v e r s i t ä t u n d Verfassung i n d e r F r ü h e n N e u z e i t * Von Anton Schindling, Tübingen
In dem geschichtlich gewordenen Erscheinungsbild der Universitäten in der Bundesrepublik Deutschland und im deutschen Sprachraum spielen Erinnerungen an die Frühe Neuzeit eine nicht unwesentliche Rolle. Eine größere Zahl von noch bestehenden oder neuerdings wieder errichteten Universitäten kann sich auf die Gründung als Universität oder als universitätsähnliche Hohe Schule i n den drei Jahrhunderten zwischen 1500 und 1800 berufen. Es sind dies die Universitäten in Bamberg, Bern, Bonn, Duisburg, Eichstätt, Erlangen, Frankfurt/Oder, Gießen, Göttingen, Graz, Halle, Innsbruck, Jena, Kiel, Marburg, Münster, Paderborn, Salzburg, Straßburg, Würzburg und Zürich. Als zwei Gründungen des 16. und des 18. Jahrhunderts müssen wegen der Abbrüche des 20. Jahrhunderts hier Königsberg und Breslau gesondert genannt werden. Die bereits im späten Mittelalter gegründeten Universitäten erfuhren im Laufe der Frühen Neuzeit einschneidende Veränderungen durch die Studienreformen des Humanismus und der Aufklärung sowie durch die Folgen von Reformation, Konfessionalisierung und Absolutismus. Unter den noch oder wieder bestehenden Universitäten gilt dies für Basel, Erfurt, Freiburg im Breisgau, Greifswald, Heidelberg, Ingolstadt (heute München), Köln, Leipzig, Mainz, Rostock, Trier, Tübingen und Wien. 1
* Für Hilfe bei der Drucklegung dieses Aufsatzes danke ich sehr herzlich Herrn cand. phil. Gregor Maier. 1 Franz Eulenburg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, 1904 (ND 1994); Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. M i t besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, 2 Bde., 3. Aufl. 1919-21 (ND 1965); Peter Baumgart/Notker Hammerstein (Hrsg.), Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit, 1978; Dietmar Willoweit, Die Universitäten, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, 1983, S. 369-383; Walter Rüegg (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa, 2 Bde., 1993-96; Alexander Patschovsky/Horst Rabe (Hrsg.), Die Universität in Alteuropa, 1994; Arno Seifert, Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1:15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe, 1996, S. 197-374; Anton Schindling, Bildung und Wissenschaft i n der Frühen Neuzeit 1650-1800, 2. Aufl. 1999. 4'
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Symbole der Universitäten wie Universitätsnamen, etwa nach den Gründerfürsten, Siegelbilder oder Rektoratsszepter bewahren an vielen Orten Andenken an die frühneuzeitliche Periode der Hochschulgeschichte. Die Namen der Universitätsämter und Universitätsgremien stehen in einer älteren Tradition aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit, vom Rektor und dem Kanzler über die Dekane bis zu Senat, Konzil und Fakultäten. Der Vergleich mit Frankreich, wo die Revolution und Napoleon einen scharfen Schnitt auch in der Hochschulgeschichte brachten, zeigt, um wie viel mehr die deutsche Situation von einer evolutionären Fortentwicklung gekennzeichnet war. Die Stellung der Theologischen Fakultäten im deutschen Universitätssystem ist dafür das augenfälligste Beispiel. Natürlich haben die gleich bleibenden Namen und Symbole auch in den deutschsprachigen Ländern höchst unterschiedliche Ausformungen von Universität und Studium bezeichnet. Allein schon die zurückliegenden Jahrzehnte sahen genügend Kontinuitätsbrüche. Die Frühe Neuzeit, die hier im Mittelpunkt stehen soll, endete mit einem großen Universitätssterben. Auf Dauer oder für längere Zeit gingen um 1800 eine ganze Reihe von Universitäten unter, nämlich Altdorf bei Nürnberg, Bamberg, Dillingen an der Donau, Duisburg, Erfurt, Frankfurt/Oder, Fulda, Helmstedt, Köln, Mainz, Paderborn, Rinteln an der Weser, Salzburg, Straßburg und Trier. Damit versank die alte Welt eines territorial und konfessionell verfaßten Hochschulwesens in den Fürstenstaaten und Städten des Heiligen Römischen Reiches. Bereits die Aufklärung hatte dieses ältere Hochschulwesen durch ihre Reformansätze relativiert. 2 Die staatlichen Veränderungen um 1800 führten dann zu einem gewollten Bruch mit der überkommenen Tradition und zu einem Neuanfang, der allerdings im Spannungsfeld der deutschen Staaten sehr unterschiedlich ausfiel. Wenn sich auch langfristig das preußische Modell Wilhelm von Humboldts durchsetzte, so war dies doch ein Prozeß, der das gesamte 19. Jahrhundert hindurch währte. 3 Der preußische Weg ist erst von der Universitäts- und Bildungsgeschichtsschreibung um 1900 rückblickend zum allein weiterführenden Königs weg erklärt worden. 4 2 Grete Klingenstein, Akademikerüberschuß als soziales Problem im aufgeklärten Absolutismus. Bemerkungen über eine Rede Joseph von Sonnenfels' aus dem Jahre 1771, in: dies./Heinrich Lutz/Gerald Stourzh (Hrsg.), Bildung, Politik und Gesellschaft. Studien zur Geschichte des europäischen Bildungswesens vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, 1978, S. 165-204; Franz Quarthai, Öffentliche Armut, Akademikerschwemme und Massenarbeitslosigkeit im Zeitalter des Barock, in: Volker Press/ Eugen Reinhard/Hansmartin Schwarzmaier (Hrsg.), Barock am Oberrhein, 1985, S. 153-188. 3 Ulrich Muhlack, Die Universitäten im Zeichen von Neuhumanismus und Idealismus: Berlin, in: Baumgart/Hammerstein (FN 1), S. 299-340. 4 Adolf von Karnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 3 Bde., 1900 (ND 1970); Max Lenz, Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 4 Bde., 1910-18; Paulsen (FN 1).
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Das Thema U n i v e r s i t ä t u n d Verfassung soll i m folgenden n a c h v i e r Ges i c h t s p u n k t e n behandelt werden: (1) U n i v e r s i t ä t u n d Reich, (2) U n i v e r s i t ä t u n d fürstlicher Territorialstaat, (3) U n i v e r s i t ä t u n d Universitätsstadt u n d (4) U n i v e r s i t ä t u n d Univer sitätsverwandte. Diese vier P u n k t e k ö n n e n freil i c h n i c h t säuberlich getrennt h i n t e r e i n a n d e r z u r D a r s t e l l u n g k o m m e n , da die Übergänge fließend sind. Wenn h i e r n a c h den Interdependenzen zwischen Verfassung u n d K u l t u r gefragt w e r d e n soll, so ist vorab der entscheidende A n t e i l der f ü r s t l i c h e n Territorialstaaten u n d der selbständigen Städte i m Reich an der G r ü n d u n g u n d F o r t e n t w i c k l u n g der U n i v e r s i t ä t e n festzustellen. 5 Es w a r e n einzelne m a r k a n t e Persönlichkeiten aus dem Reichsfürstenstand, die U n i v e r s i t ä t e n gründeten oder d u r c h gezielte Förderung v o r a n b r a c h t e n . 6 Das Reich hatte jedoch einen w i c h t i g e n A n t e i l , denn es b o t als L e g i t i m a t i o n s i n s t a n z das entscheidende Rechtsmerkmal, das die U n i v e r s i t ä t e n v o n großen Schulen unterschied. Dieses Rechtsmerkmal w a r das d u r c h kaiserliche P r i v i l e g i e r u n g verliehene Graduierungsrecht. E i n e rechtmäßige Verleihung a k a demischer Grade, insbesondere des Doktorgrades, w a r seit den A n f ä n g e n des abendländischen Universitätswesens i m H o h e n M i t t e l a l t e r n i c h t n u r an die v o n der K o r p o r a t i o n der Universitätslehrer durchgeführten P r ü f u n gen, sondern auch u n d vor a l l e m an die P r i v i l e g i e r u n g dieser K o r p o r a t i o n d u r c h die höchsten A u t o r i t ä t e n , n ä m l i c h den Papst u n d den Kaiser, gebunden.7 5 Erich Maschke/Jürgen Sydow (Hrsg.), Stadt und Universität im Mittelalter und in der früheren Neuzeit, 1977; Baumgart/Hammerstein (FN 1); Sönke Lorenz (Hrsg.), Attempto - oder wie stiftet man eine Universität. Die Universitätsgründungen der sogenannten zweiten Gründungswelle im Vergleich, 1999. 6 Karl Hengst, Kirchliche Reformen im Fürstbistum Paderborn unter Dietrich von Fürstenberg (1585-1618), 1974; Walther Hubatsch, Albrecht von Preußen (14901568), in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 2, 1978, S. 188-193; zahlreiche Hinweise auf die Universitäten des 16. und 17. Jahrhunderts finden sich i n dem SammelZiegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitwerk: Anton Schindling/Walter alter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650, 7 Bde., 1.-3. Aufl. 1989-97; Johannes Meier, Paderborn, in: ebda., Bd. 3: Der Nordwesten, 2. Aufl. 1995, S. 148-161; Walter Ziegler, Würzburg, in: ebda., Bd. 4: Mittleres Deutschland, 1992, S. 98-126; Manfred Rudersdorf, Die Generation der lutherischen Landesväter im Reich. Bausteine zu einer Typologie des deutschen Reformationsfürsten, in: ebda., Bd. 7: Bilanz - Forschungsperspektiven - Register, 1997, S. 137-170; ders., Konfessionalisierung und Reichskirche. Der Würzburger Universitätsgründer Julius Echter von Mespelbrunn als Typus eines geistlichen Fürsten im Reich (1545-1617), in: Peter Herde/Anton Schindling (Hrsg.), Universität Würzburg und Wissenschaft in der Neuzeit. Beiträge zur Bildungsgeschichte. FS Peter Baumgart, 1998, S. 37-61; Volker Press, Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen, in: Klaus Scholder/Dieter Kleinmann (Hrsg.), Protestanten. Von Martin Luther bis Dietrich Bonhoeffer, 2. Aufl. 1992, S. 60-77; Peter Baumgart, Julius Echter von Mespelbrunn und Maximilian von Bayern als Exponenten des konfessionellen Zeitalters, in: Ernst-Günter Krenig (Hrsg.), Wittelsbach und Unterfranken. Vorträge des Symposions 50 Jahre Freunde Mainfränkischer Kunst und Geschichte, 1999, S. 15-33. 7 Georg Kaufmann, Geschichte der deutschen Universitäten, Bd. 1: Vorgeschichte, 1888 (ND 1958), S. 371-409, Bd. 2: Entstehung und Entwicklung der deutschen Universitäten bis zum Ausgang des Mittelalters, 1896 (ND 1958), S. 1 - 1 7 ; Peter Baum-
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Bereits am Vorabend der Reformation trat im Reich unter Einwirkung des Humanismus das Kaiserprivileg stärker in den Vordergrund. Für die evangelischen Universitätsgründer entfiel seit der Reformation natürlich die päpstliche Privilegierung. Die Universität Marburg an der Lahn wurde als erste evangelische Universität durch Landgraf Philipp den Großmütigen von Hessen lediglich mit einem kaiserlichen Privileg Karls V. errichtet, das zudem erst über ein Jahrzehnt nach der Eröffnung der Hochschule erlangt werden konnte. 8 In der Folgezeit sind bis zum Ende des Alten Reiches alle Universitäten mit einem kaiserlichen Privileg gegründet worden. Noch Kaiser Joseph II. stellte Privilegien für die Aufklärungsgründungen in Münster (1780), Stuttgart (1781) und Bonn (1786) aus.9 Die Privilegien wurden in der kaiserlichen Reichshofkanzlei nach einem traditionellen Urkundenformular ausgestellt, durch das auch gleich bleibende Verfassungselemente weitergegeben wurden. Der Adressat der Universitätsprivilegien war stets eine Obrigkeit im Reichsverband, im Regelfall also ein Landesfürst, in einigen Fällen auch eine Reichsstadt. Die Privilegien stellten ein Universitätsmodell mit den vier Fakultäten der Theologie, Jurisprudenz, Medizin und Philosophie vor, das sich im Mittelalter herausgebildet hatte. Bei den vier klassischen Fakultäten gab es jedoch nach der Reformation in manchen Privilegien Einschränkungen. Die katholischen habsburgischen Kaiser taten sich bei einzelnen protestantischen Universitäten mit der Verleihung des theologischen Promotionsrechts schwer. Vor dem Westfälischen Frieden galt dies für eine Fakultät wie die nürnbergische in Altdorf, die zeitweise im Ruf kryptocalvinistischer Strömungen stand. 10 gart, Die kaiserlichen Privilegien von 1575 für die Universitäten Würzburg und Helmstedt, in: Würzburger Diözesan-Geschichtsblätter 35/36 (1974), S. 319-329; dersUniversitäten im konfessionellen Zeitalter: Würzburg und Helmstedt, in: ders./ Hammerstein (FN 1), S. 191-215. 8 Heinrich Hermelink/Sieg fried A. Kaehler, Die Philipps-Universität zu Marburg 1527-1927. Fünf Kapitel aus ihrer Geschichte 1527-1866, 1927 (ND 1977); Walter Heinemeyer/Thomas Klein/Hellmut Seier (Hrsg.), Academia Marburgensis. Beiträge zur Geschichte der Philipps-Universität Marburg, 1977; Peter Baumgart, Die deutsche Universität des 16. Jahrhunderts. Das Beispiel Marburg, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 28 (1978), S. 50-79; Manfred Rudersdorf, Hessen, in: Schindling/Ziegler (FN 6), Bd. 4: Mittleres Deutschland, 1992, S. 254-288. 9 Max Braubach, Die erste Bonner Universität und ihre Professoren. Ein Beitrag zur rheinischen Geistesgeschichte im Zeitalter der Aufklärung, 1947; ders., Die erste Bonner Hochschule. Maxische Akademie und kurfürstliche Universität 1774/77 bis 1798, 1966; Robert Uhland, Geschichte der Hohen Karlsschule i n Stuttgart, 1953; Alwin Hanschmidt, Die erste münstersche Universität 1773/80-1818, in: Heinz Dollinger (Hrsg.), Die Universität Münster 1780 -1980,1980, S. 3 - 28. 10 Anton Schindling, Straßburg und Altdorf. Zwei humanistische Hochschulgründungen von evangelischen freien Reichsstädten, in: Baumgart/Hammerstein (FN 1), S. 149-189; ders., Die humanistische Bildungsreform i n den Reichsstädten Straßburg, Nürnberg und Augsburg, in: Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts, 1984, S. 107-120; Wolfgang Mährle, Academia Norica. Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hohen Schule Altdorf (1575-1623), 2000.
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Andererseits verzichteten die v o m Jesuitenorden i m A u f t r a g k a t h o l i s c h e r Landesherren gegründeten U n i v e r s i t ä t e n v o n sich aus auf die w e l t l i c h e n S t u d i e n der Jurisprudenz u n d M e d i z i n . Jesuitenuniversitäten i m engeren Sinn, w i e Bamberg, Breslau, D i l l i n g e n an der D o n a u , F u l d a , Graz, M o l s h e i m i m Elsaß, O l m ü t z , Osnabrück u n d Paderborn, h a t t e n nie oder erst spät Juristische u n d Medizinische F a k u l t ä t e n . 1 1 E i n Sonderfall w a r e n die H o h e n Schulen der vor dem Westfälischen Frieden reichsrechtlich n i c h t a n e r k a n n t e n Calvinisten. E i n reformierter Reichsstand hatte keine Chance, e i n kaiserliches P r i v i l e g z u erhalten. Deshalb b l i e b e n die reformierten H o h e n Schulen i m nassauischen H e r b o r n , i m b e n t heimischen B u r g s t e i n f u r t , i m a n h a l t i n i s c h e n Zerbst u n d i n der Hansestadt B r e m e n ohne P r i v i l e g i e n u n d ohne Promotionsrecht, o b w o h l sie i m L e h r angebot dem einer U n i v e r s i t ä t n a h e k a m e n . 1 2 Typologisch s i n d diese reform i e r t e n Schulen i m Reich m i t den schweizerischen H o h e n Schulen i n Z ü r i c h , Bern, Lausanne u n d Genf z u vergleichen, f ü r welche die eidgenössischen S t a d t r e p u b l i k e n , die sich bereits w e i t g e h e n d v o m Reich gelöst hatten, keine P r i v i l e g i e n m e h r einholten. E i n e ähnliche reformierte H o h e Schule gab es als G r ü n d u n g W i l h e l m s I I I . v o n Oranien-Naussau auch i n L i n g e n a n der E m s . 1 3 11 Bernhard Duhr,; Geschichte der Jesuiten i n den Ländern deutscher Zunge, 4 Bde., 1907-28, v. a. Bd. 2/1, 1913, S. 523-595, Bd. 3, 1921, S. 395-439; Karl Hengst, Jesuiten an Universitäten und Jesuitenuniversitäten. Zur Geschichte der Universitäten i n der Oberdeutschen und Rheinischen Provinz der Gesellschaft Jesu im Zeitalter der konfessionellen Auseinandersetzung, 1981; Anton Schindling, Die Universität Dillingen und die katholische Schweiz im konfessionellen Zeitalter. Zusammenfassung eines Vortrages, in: Martin Bircher/Walter Sparn/Erdmann Weyrauch (Hrsg.), Schweizerisch-deutsche Beziehungen im konfessionellen Zeitalter. Beiträge zur Kulturgeschichte 1580-1650, 1984, S. 253-259; ders., Die katholische Bildungsreform zwischen Humanismus und Barock. Dillingen, Dole, Freiburg, Molsheim und Salzburg: Die Vorlande und die benachbarten Universitäten, in: Hans Maier/Volker Press (Hrsg.), Vorderösterreich i n der frühen Neuzeit, 1989, S. 137-176; Herbert Immenkötter/Wolfgang Wüst, Augsburg. Freie Reichsstadt und Hochstift, in: Schindling/ Ziegler (FN 6), Bd. 6: Nachträge, 1996, S. 8-35; Rolf Kießling (Hrsg.), Die Universität Dillingen und ihre Nachfolger. Stationen und Aspekte einer Hochschule i n Schwaben. Festschrift zum 450jährigen Gründungsjubiläum, 1999. 12 Gerhard Menk, Die Hohe Schule Herborn i n ihrer Frühzeit (1584-1660). Ein Beitrag zum Hochschulwesen des deutschen Kalvinismus im Zeitalter der Gegenreformation, 1981; Hans-Georg Aschoff, Bremen. Erzstift und Stadt, in: Schindling/ Ziegler (FN 6), Bd. 3: Der Nordwesten, 2. Aufl. 1995, S. 44-57; Joachim Castan, Hochschulwesen und reformierte Konfessionalisierung. Das Gymnasium Illustre des Fürstentums Anhalt i n Zerbst 1582 -1652,1999. 13 Heinz Schneppen, Niederländische Universitäten und deutsches Geistesleben von der Gründung der Universität Leiden bis ins späte 18. Jahrhundert, 1960; Ulrich Im Hof, Die Entstehung der reformierten Hohen Schule. Zürich (1525) - Bern (1528) Lausanne (1537) - Genf (1559), in: Baumgart/Hammerstein (FN 1), S. 243-262; 400 Jahre Arnoldinum 1588-1988. Festschrift, hrsg. v. Kreisheimatbund Steinfurt, 1988; Heinz Holzhauer/Richard Toellner (Hrsg.), Symposion 400 Jahre Hohe Schule Steinfurt. 18. und 19.09.1988 Schloß Burgsteinfurt, 1991; Thomas Rohm/Anton Schindling, Tecklenburg, Bentheim, Steinfurt, Lingen, in: Schindling/Ziegler (FN 6), Bd. 3: Der Nordwesten, 2. Aufl. 1995, S. 182-198.
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Universitätsähnliche Hochschulen ohne Promotionsrecht, die im Lehrangebot auf die philosophischen Fächer und die Theologie konzentriert waren und in Jurisprudenz und Medizin sich auf propädeutischen Unterricht beschränkten, werden im Sprachgebrauch der Quellen vielfach als „Akademische Gymnasien" oder „Gymnasia Illustria" bezeichnet. Es war ein vor allem städtischer und protestantischer Schultyp, der sich in freien Reichsstädten, autonomen Städten und Hansestädten fand. Erwähnt seien beispielsweise die Gymnasien in Hamburg, Lübeck und Bremen. Die Jesuitengymnasien in katholischen Städten waren in ihren Funktionen vielfach äquivalent. 14 Für die große Mehrzahl dieser „Akademischen Gymnasien" gab es entweder unüberwindbare Hürden für den Erwerb kaiserlicher Privilegien, oder die Schulträger zogen eine Privilegierung der Schule aus verfassungspolitischen Bedenken gegenüber einer Universität erst gar nicht ernsthaft in Betracht. 15 Als Teil des mittelalterlichen Universitätsrechts sahen die Privilegien die korporative Organisation der aus Lehrenden und Studierenden bestehenden „universitas" vor. Dies bedeutete vor allem die Exemtion der Universitätsangehörigen aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit des Territoriums oder der Stadt und damit verbunden die eigene akademische Gerichtsbarkeit des Rektors. Hinzu kamen vielfach auch wirtschaftliche Privilegien, wie Zollfreiheit und Ausschankrechte. Diese korporativen Sonderrechte der Hochschulen standen in einem konfliktreichen Spannungsverhältnis mit dem städtischen Interesse an homogenen Rechtsverhältnissen innerhalb der Stadtmauern. Selbständige Kommunen, wie die Reichsstädte und die autonomen Hansestädte, waren im Zusammenhang der Reformation bestrebt gewesen, die kirchlichen und klösterlichen Sonderrechte innerhalb der Stadt, die rechtlich und wirtschaftlich als schädlich für die Bürgerschaft angesehen wurden, aufzuheben. Das Mißtrauen in solchen Städten gegenüber Universitäten erklärt sich von daher, denn die rechtliche Absonderung der Universitätskorporation entsprach derjenigen von Klöstern und Stiften. 1 6 14 Josef Kuckhoff, Die Geschichte des Gymnasium Tricoronatum. Ein Querschnitt durch die Geschichte der Jugenderziehung in Köln vom 15. bis zum 18. Jh., 1931; Max Leitschuh (Hrsg.), Die Matrikeln der Oberklassen des Wilhelmsgymnasiums i n München, 4 Bde., 1970-76. Anton Schindling, Humanistische Hochschule und Freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie i n Straßburg 1538-1621, 1977; ders., Die reichsstädtische Hochschule i n Straßburg 1538-1621, in: Maschke/Sydow (FN 5), S. 71-83; ders., Schulen und Universitäten im 16. und 17. Jahrhundert. Zehn Thesen zu Bildungsexpansion, Laienbildung und Konfessionalisierung nach der Reformation, in: Walter Brandmüller/Herbert Immenkötter/Erwin Iserloh (Hrsg.), Ecclesia militans. Studien zur Konzilien· und Reformationsgeschichte. FS Remigius Bäumer, Bd. 2: Zur Reformationsgeschichte, 1988, S. 561-570; ders., Institutionen gelehrter Bildung im Zeitalter des Späthumanismus. Bildungsexpansion, Laienbildung, Konfessionalisierung und Antike-Rezeption nach der Reformation, in: Sabine Holtz/Dieter Mertens (Hrsg.), Nicodemus Frischlin (1547-1590). Poetische und prosaische Praxis unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters, 1999, S. 81-104.
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Die Reichsstädte Straßburg und Nürnberg bieten prononcierte Beispiele. Straßburg ersuchte Kaiser Maximilian II. 1566 nur um ein auf die philosophischen Grade eingeschränktes Hochschulprivileg. Das Straßburger Gymnasium wurde so zu einer „Semiuniversität" fortgebildet - wie es in den Quellen heißt. Diesen Typus übertrug die Reichsstadt Nürnberg in ihre untertänige Landstadt Altdorf, wo seit 1578 eine zweite evangelische reichsstädtische Hochschule nach Straßburger Muster entstand. Beide „Semiuniversitäten", Straßburg und das nürnbergische Altdorf, wurden allerdings in der Folgezeit im Lehrangebot zu Volluniversitäten ausgebaut. Am Beginn der 1620er Jahre bekamen sie auch die Promotionsrechte in den höheren Fakultäten durch Kaiser Ferdinand II. verliehen. 17 Während Straßburg mit seinen streng lutherischen Theologen sofort auch das theologische Promotionsrecht erhielt, mußte Altdorf, wo damals noch der nürnbergische Philippismus die Theologie prägte und bei strengen Lutheranern und Katholiken gleichermaßen Mißtrauen weckte, darauf allerdings noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts warten. 1 8 Die korporative Selbständigkeit der Universität und die akademische Gerichtsbarkeit wurden für die beiden evangelischen reichsstädtischen Universitäten in Straßburg und Altdorf nur ganz eingeschränkt oder überhaupt nicht zugelassen. Es zeigte sich hier die Verdichtung der inneren Ordnung in den Reichsstädten und das zunehmend obrigkeitliche Gebaren der Räte seit der Reformation. Im späten Mittelalter hatten die ganz oder teilweise von Städten gegründeten Universitäten in Köln und Erfurt sowie in Rostock und Greifswald noch mehr Autonomierechte eingeräumt erhalten, und zwar infolge der damals noch selbstverständlich akzeptierten kirchlichen und klösterlichen Sonderrechtsbezirke in den Städten. 19 Gerade die korporative 16 Ders., Die Reformation in den Reichsstädten und die Kirchengüter. Straßburg, Nürnberg und Frankfurt im Vergleich, in: Jürgen Sydow (Hrsg.), Bürgerschaft und Kirche, 1980, S. 67-88. 17 Ders., Humanistische Hochschule (FN 15); ders., Straßburg (FN 10); ders., Nürnberg, in: ders./Ziegler (FN 6), Bd. 1: Der Südosten, 2. Aufl. 1992, S. 32-42; Francis Rapp, Straßburg. Hochstift und Freie Reichsstadt, in: ebda., Bd. 5: Der Südwesten, 1993, S. 72-95; Mährle (FN 10). 18 Siegfried von Scheurl, Die theologische Fakultät Altdorf im Rahmen der werdenden Universität 1575-1623,1949; Johannes Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, 1970, S. 1 - 3 4 , 62-123. 19 Edgar Bonjour, Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Aufl. 1971; Roderich Schmidt, Rostock und Greifswald. Die Errichtung von Universitäten im norddeutschen Hanseraum, in: Baumgart/Hammerstein (FN 1), S. 75109; Erich Kleineidam, Universitas studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt, 4 Bde., 2. Aufl. 1983-88; Kölner Universitätsgeschichte, Bd. 1: Erich Meuthen, Die alte Universität, 1988; Matthias Asche, Von einer hansischen Samthochschule zu einer mecklenburgischen Landesuniversität. Die regionale und soziale Herkunft der Studenten an der Universität Rostock in der Frühen Neuzeit, in: Peter Jakubowski/Ernst Münch (Hrsg.), Wissenschaftliche Tagung Universität und Stadt anläßlich des 575. Jubiläums der Eröffnung der Universität Rostock, 1995, S. 141-162; ders., Von der reichen hansischen Bürgeruniver-
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Rechtsautonomie der Universitäten zeigt die Prägung der Hochschulen durch die mittelalterliche Kirche und das Kirchenrecht. In den fürstlichen Territorialstaaten des Reiches waren die Gründerfürsten eher als die Reichsstadtmagistrate bereit, den neuen Universitäten gerichtliche und wirtschaftliche Privilegien in den Städten, die als Sitz der Hochschule ausersehen waren, einzuräumen. Oft war die Universität nicht in der fürstlichen Residenzstadt, sondern in einer anderen wichtigen Stadt des Territoriums untergebracht, wie im Fall von Leipzig, Freiburg im Breisgau, Ingolstadt, Frankfurt/Oder, Tübingen, Marburg, Helmstedt, Molsheim im Elsaß, Rinteln an der Weser, Göttingen und Erlangen. 20 Analog verhielt sich die Reichsstadt Nürnberg mit ihrer Gründung in Altdorf. Die landsässigen Städte hatten nur wenig Mitsprache, wenn es um das Privilegiengesuch des Landesfürsten am Kaiserhof und die Privilegienerteilung ging. Die autonomen Rechte der Universitätskorporation und die oft sehr extensiv ausgeweitete Mitgliedschaft im Rechtsverband der Universität waren in der Folge vielfach ein Anlaß für andauernde Spannungen zwischen der Universität und der Bürgerschaft in der landsässigen Stadt. Wenn es zu gelegentlichen Disziplinlosigkeiten der Studenten kam, wurden diese vom Rektoratsgericht sehr viel weniger streng geahndet als vom Stadtgericht. Bei offenen Konflikten unterstützten die Landesfürsten oft die Universität gegen die untertänige Stadt, da die Territorialherrschaft bei hartem Durchgreifen die Abwanderung der Studenten, insbesondere der zahlungskräftigen Rechtsstudenten, auf andere Universitäten fürchtete. Die Universität sität zur armen mecklenburgischen Landeshochschule. Das regionale und soziale Besucherprofil der Universitäten Rostock und Bützow in der Frühen Neuzeit (1500-
1800), 2000.
20 Peter Baumgart, David Chyträus und die Gründung der Universität Helmstedt, in: Braunschweigisches Jahrbuch 42 (1961), S. 36-82; ders., Universitätsautonomie und landesherrliche Gewalt im späten 16. Jahrhundert. Das Beispiel Helmstedt, in: Zeitschrift für historische Forschung 1 (1974), S. 23-53; ders., Die Gründung der Universität Helmstedt, in: ders./Hammerstein (FN 1), S. 217-241; ders./Emst Pitz (Hrsg.), Die Statuten der Universität Helmstedt, 1963; Arno Seifert, Statuten- und Verfassungsgeschichte der Universität Ingolstadt 1472-1586, 1971; Gerhard S chormann, Academia Ernestina. Die schaumburgische Universität zu Rinteln an der Weser (1610/21-1810), 1982; Günter Mühlpfordt, Die Oder-Universität 1506-1811. Eine deutsche Hochschule in der Geschichte Brandenburg-Preußens und der europäischen Wissenschaft, in: Günther Haase/Joachim Winkler (Hrsg.), Die Oder-Universität Frankfurt. Beiträge zu ihrer Geschichte, 1983, S. 19-72; Walter Ziegler, Bayern, in: Schindling/Ziegler (FN 6), Bd. 1: Der Südosten, 2. Aufl. 1989, S. 56-70; ders., Braunschweig-Lüneburg, Hildesheim, in: ebda., Bd. 3: Der Nordwesten, 2. Aufl. 1995, S. 8 43; Heribert Smolinsky, Albertinisches Sachsen, in: ebda., Bd. 2: Der Nordosten, 3. Aufl. 1993, S. 8 - 3 2 ; Manfred Rudersdorf/Anton Schindling, Kurbrandenburg, in: ebda., S. 34-66; Dieter Stievermann, Österreichische Vorlande, in: ebda., Bd. 5: Der Südwesten, 1993, S. 256-277; Ernst Böhme, Lippe, Schaumburg, in: ebda., Bd. 6: Nachträge, 1996, S. 152-169; Irene Pill-Rademacher, „ . . . zu nutz und gutem der loblichen universitet". Visitationen an der Universität Tübingen. Studien zur Interaktion zwischen Landesherr und Landesuniversität im 16. Jahrhundert, 1993; Alfred Wendehorst, Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 1743-1993,1993.
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als Wirtschaftsfaktor spielte in den Territorien eine wichtige Rolle, da durch auswärtige Studenten Geld ins Land kam, und zwar oft i n Städte, die eben keine Residenzstädte waren, sondern wie Ingolstadt, Marburg und Tübingen ihre ehemalige Residenzfunktion verloren hatten. Für die deutschen Landesfürsten als Universitätsgründer kam es jedoch nicht nur auf die Förderung von Verkehr und Wirtschaft in ihrem Territorium an. Universitätsgründungen dienten in erster Linie der Heranbildung eines einheimischen Nachwuchses an Theologen und Juristen. Dies blieb ein durchgehendes Motiv über die drei Jahrhunderte der Frühen Neuzeit hinweg. 2 1 Deshalb war die personelle Verflechtung der Hochschulen einerseits mit der jeweiligen Landeskirche und andererseits mit dem fürstlichen Hof und den territorialen Zentralbehörden in der Regel besonders eng. 22 Für den Fürsten und seine leitenden Beamten in Verwaltung, Gericht und Kirche stellte das Sachwissen der Universitäten ein Potential zur Information und Beratung, etwa über Gutachten, dar. Im späten Mittelalter kam dies i n der institutionellen Verbindung von Universität und kirchlichem Kollegiatstift unter dem Patronat des Landesfürsten sowie der personellen Verflechtung mit der von Klerikern geprägten fürstlichen Kanzlei einprägsam zum Ausdruck. Exemplarisch war etwa die parallele Gründung von Universität und Stiftskirche in Tübingen und in Wittenberg. 23 Die Verbindung der Universitäten mit der jeweiligen territorialen oder städtischen Kirche verlief zwar nach der Reformation in konfessionell verschiedenen Bahnen, das grundlegende Faktum einer großen Kirchennähe und theologischen Ausrichtung blieb jedoch für alle Universitäten im Reich kennzeichnend. 2 4 Dies war in Deutschland mit seiner Tradition der Vier-Fakultäten21 Roman Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, 1986; Volker Press, Stadt und territoriale Konfessionsbildung, in: ders., Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, 1997, S. 379-434; ders., Soziale Folgen der Reformation in Deutschland, in: ebda., S. 435-479; ders., Führungsgruppen in der deutschen Gesellschaft im Ubergang zur Neuzeit um 1500, in: ebda., S. 515-557; ders., Soziale Folgen des Dreißigjährigen Krieges, in: ebda., S. 622-655. 22 Matthias Asche, Über den Nutzen von Landesuniversitäten i n der Frühen Neuzeit. Leistung und Grenzen der protestantischen „Familienuniversität", in: Herde/ Schindling (FN 6), S. 133-149; ders., Bürgeruniversität (FN 19). 23 Dieter Mertens, Eberhard im Bart als Stifter der Universität Tübingen, in: Lorenz (FN 5), S. 157-173; Dieter Stievermann, Friedrich der Weise und seine Universität Wittenberg, in: ebda., S. 175-207. 24 Exemplarisch hierfür die kurpfälzische Universität Heidelberg: Gerhard Ritter, Die Heidelberger Universität. Ein Stück deutscher Geschichte, Bd. 1: Das Mittelalter 1386-1508, 1936; Volker Press, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559-1619, 1970; ders., Kurfürst Maximilian I. von Bayern, die Jesuiten und die Universität Heidelberg im Dreißigjährigen Krieg 16221649, in: Wilhelm Doerr (Hrsg.), Semper Apertus. Sechshundert Jahre RuprechtKarls-Universität Heidelberg 1386-1986. Geschichte, Forschung und Lehre, Bd. 1: Mittelalter und frühe Neuzeit 1386-1803, 1985, S. 314-370; Eike Wolgast, Die Universität Heidelberg 1386-1986, 1986; ders., Hochschule und Papsttum. Die Universität Heidelberg i n der Zeit der Pfälzer Vorreformation 1517 -1556, in: Joachim Dahlhaus/Armin Kohnle (Hrsg.), Papstgeschichte und Landesgeschichte. FS Hermann
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Universitäten anders als in den romanischen Ländern. Denn Italien und Frankreich kannten bereits früh die institutionelle Trennung von Juristenund Medizineruniversitäten einerseits und theologischen Studienanstalten andererseits. Das Modell der nach vier Fakultäten gegliederten, korporativen Universität, das die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches ihren Privilegien zugrunde legten, war also keineswegs europaweit einheitlich. Jedoch galt dieses Modell über das Reich hinaus auch für Skandinavien und Ostmitteleuropa. Auch in den nördlichen Niederlanden wurde es rezipiert, als die unabhängige Republik, beginnend mit der Universität Leiden 1575, daran ging, eigene Universitäten zu gründen und diese kraft der eigenen souveränen Staatsgewalt der Provinzen mit dem Recht der Graduierung in allen Fakultäten auszustatten. 25 Die Universitäten in den nördlichen Niederlanden haben sich so als erste deutlich von dem herkömmlichen Recht der Erteilung von Universitätsprivilegien durch eine der christlichen Universalgewalten gelöst und das einzelstaatliche Recht der Provinzen betont. Das Recht der staatlichen Obrigkeit von deutschem Landesfürst oder Reichsstadtmagistrat, schweizerischem Kanton oder niederländischer Provinz erschöpfte sich nicht in der Initiative zur Universitätsgründung und deren Durchführung vom Erwerb der Privilegien bis zur Regelung der Vermögens- und Finanzierungsfragen. Vielmehr blieb die staatliche Obrigkeit auf Dauer in der Verwaltung der Hochschulangelegenheiten präsent. Die korporativen Rechte der Universitäten aus der mittelalterlichen Tradition verblaßten immer mehr. Sie umfaßten jetzt vor allem noch die periodische Wahl zu den akademischen Ämtern des Rektors und der Dekane durch die ordentlichen Professoren. 26 Der korporative Verband der Lehrenden blieb so zumindest der Form nach bestehen. Demgegenüber löste sich der Verband der Studierenden, der in der mittelalterlichen Nationenverfassung der Universitäten eine große Rolle gespielt hatte, fast ganz auf und bestand nur noch in locker gefügten, inoffiziellen Landsmannschaften weiter. Für die akademischen Gremien der Professoren bildete neben den Wahlen die Durchführung des Lehrprogramms und der Prüfungen die Haupttätigkeit. Es kennzeichnet die allgemeine Tendenz, wenn eine Entwicklung von der Korporation zur Staatsanstalt festgestellt worden ist. Zumindest ist richtig, daß die von Anfang an in den deutschen Universitäten vorhandenen landesstaatlichen Elemente sich immer mehr verstärkten. Die Zeit nach dem DreiJakobs, 1995, S. 573-602; Anton Schindling /Walter Ziegler, Kurpfalz, Rheinische Pfalz und Oberpfalz, in: dies. (FN 6), Bd. 5: Der Südwesten, 1993, S. 8-49. 25 Henrike L. Clotz, Hochschule für Holland. Die Universität Leiden im Spannungsfeld zwischen Provinz, Stadt und Kirche, 1575-1619, 1998. 26 Rainer Christoph Schwinges, Rektorwahlen. Ein Beitrag zur Verfassungs-, Sozial- und Universitätsgeschichte des alten Reiches im 15. Jahrhundert. M i t Rektorenund Wahlmännerverzeichnissen der Universitäten Köln und Erfurt aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, 1992.
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ßigjährigen Krieg brachte eine Art zweiten Schub an Verdichtung der landesherrlichen Kontrolle über die Ausbildung der Studenten an den Universitäten. 27 In den jetzt neuen, wiederholt eingeschärften Verbotsmandaten, ein Studium außerhalb des Territoriums aufzunehmen, kommt dies zum Ausdruck. Eine geregelte Eingangsstufe für den Staatsdienst, die zunächst in Brandenburg-Preußen eingeführte Auskultatur, diente der Professionalisierung des Beamtenstandes. Die Berufung von Professoren lag ganz selbstverständlich in der Hand des weltlichen oder geistlichen Landesfürsten oder des Reichsstadtmagistrats. Seit der Reformation galt dies gerade auch für die evangelischen Theologen. Vor der Reformation und in den katholischen Konfessionsuniversitäten behielten allerdings die geistlichen Orden, denen von den Landesfürsten einzelne Lehrstühle oder ganze Fakultäten übertragen worden waren, ihre personellen Spielräume bei Berufungen. Martin Luther kam so auf dem ordensinternen Weg der Augustinereremiten auf seinen theologischen Lehrstuhl nach Wittenberg. 28 Die Jesuiten forderten personalpolitische Autonomie für ihren Orden, wenn dieser sich an einer katholischen Universitätsgründung beteiligte oder an einer älteren Universität die Theologische und die Philosophische Fakultät ganz oder teilweise übernahm. Eine derartige Übertragung der Theologischen Fakultät von Volluniversitäten oder einzelner Lehrstühle in derselben an den Jesuitenorden erfolgte in Freiburg im Breisgau, Ingolstadt, Innsbruck, Köln, Prag, Wien und Würzburg, phasenweise auch in Heidelberg. 29 Die Universität in Salzburg wurde von einer Kongregation bayerischer, schwäbischer und österreichischer Benediktinerabteien getragen, die gegenüber dem Salzburger Erzbischof ihre Autonomie zu wahren wußte. 3 0 Durch die geistlichen Orden 27 Notker Hammerstein, Zur Geschichte und Bedeutung der Universitäten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: Historische Zeitschrift 241 (1985), S. 287-328; ders., Göttingen: Eine deutsche Universität im Zeitalter der Aufklärung, in: Patschovsky/Rabe (FN 1); Rainer A. Müller, Geschichte der Universität. Von der mittelalterlichen Universitas zur deutschen Hochschule, 1996; Seifert (FN 1). 2 8 Martin Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483-1521, 2. Aufl. 1983, S. 126-129. 2 9 Duhr (FN 11), ν. a. Bd. 2/1, 1913, S. 523-595, Bd. 3, 1921, S. 395-439; Gottfried Mraz, Geschichte der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck von ihrer Gründung bis zum Jahre 1740, 1968; Hengst (FN 11); Peter Baumgart, Die JuliusUniversität zu Würzburg als Typus einer Hochschulgründung im konfessionellen Zeitalter, in: ders. (Hrsg.), Vierhundert Jahre Universität Würzburg. Eine Festschrift, 1982, S. 3-29; Dominik Burkard, „Oase in einer aufklärungssüchtigen Zeit"? Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Heidelberg zwischen verspäteter Gegenreformation, Aufklärung und Kirchenreform, 1995; Hans-Wolfgang Bergerhausen, Zwei Universitäten im konfessionellen Zeitalter im Vergleich: Würzburg und Köln, in: Herde/Schindling (FN 6), S. 75-94. 30 Aegidius Kolb, Ottobeuren und Salzburg, in: Ders./Hermann Tüchle (Hrsg.), Ottobeuren. Festschrift zur 1200-Jahrfeier der Abtei, 1964, S. 269-303; Ernst Walter Zeeden, Salzburg, in: Schindling/Ziegler (FN 6), Bd. 1: Der Südosten, 2. Aufl. 1989, S. 72-85; Armgard von Reden-Dohna, Weingarten und die schwäbischen Benediktinerklöster, in: ebda., Bd. 5: Der Südwesten, 1993, S. 232-254; Karl Friedrich Her-
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und ihre Stellenbesetzungsrechte an katholischen Universitäten kam in höherem Maße eine Grenze des staatlichen Einflusses zur Geltung als durch die Rechte der zuständigen Diözesanbischöfe. Die zuständigen Diözesanbischöfe oder andere hochrangige Kleriker wurden vor der Reformation meistens zu Universitätskanzlern berufen und hatten als solche die Aufgabe, die ordnungsgemäße Durchführung der Gradverleihungen vorzunehmen oder zu überwachen. Das war allerdings eher ein Ehrenrecht, als daß damit konkrete Machtbefugnisse, etwa bei Stellenbesetzungen, verbunden gewesen wären. 3 1 Auch die protestantischen Landesherren konnten bei der Berufung ihrer Professoren allerdings nicht völlig frei schalten und walten. Es gab vielmehr bereits in der zweiten und dritten Generation nach der Reformation eine starke Tendenz, die Lehrstühle an den Universitäten im Kreis einer kleinen Gruppe von Gelehrtenfamilien zu vergeben, welche die lukrativen Stellen an der Landesuniversität, in der Landeskirche und i n den obersten Landesbehörden jetzt in ihrem durch Connubium zusammengehaltenen Verbund quasi vererbten. Innerhalb der Fakultäten galt eine Rangfolge der Lehrstühle, die durch Aufrücken nach Anciennität von Hausbewerbern besetzt wurden. Im 17. und 18. Jahrhundert stellte die Mehrzahl der kleineren protestantischen Landesuniversitäten diesen Typus der „protestantischen Familienuniversität" dar. 32 Erst die Reformuniversitäten der deutschen Aufklärung - allen voran in Halle an der Saale und Göttingen - wichen von dieser Form ab. In der Geschichtsschreibung sind diese „protestantischen Familienuniversitäten", wie Altdorf, Gießen, Greifswald, Leipzig, Marburg, Rostock oder Tübingen, oft sehr kritisiert worden, vor allem von den meinungsbildenden Wissenschaftshistorikern um 1900, die das preußische Erfolgsmodell der Humboldt-Universität historiographisch kanonisierten. Diese mann, Wissenschaft in Salzburg bis zur Wiedererrichtung der Universität (15191962), in: Heinz Dopsch/Hans Spatzenegger (Hrsg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. 2/3, 1991, S. 1853-1906. 31 Joachim Köhler, Die Universität zwischen Landesherr und Bischof. Recht, Anspruch und Praxis an der vorderösterreichischen Landesuniversität Freiburg (15501752), 1980. 32 Hellmuth Rössler/Günther Franz (Hrsg.), Universität und Gelehrtenstand 1400-1800, 1970; Günther Franz (Hrsg.), Beamtentum und Pfarrerstand 1400-1800. Setzier (Hrsg.), Büdinger Vorträge 1967, 1972; Hansmartin Decker-Hauff/Wilfried Die Universität Tübingen von 1477 bis 1977 i n Bildern und Dokumenten, 1977, S. 162-179; Luise Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit i n der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig, 1996; Thomas Kaufmann, Universität und lutherische Konfessionalisierung. Die Rostocker Theologieprofessoren und ihr Beitrag zur theologischen Bildung und kirchlichen Gestaltung im Herzogtum Mecklenburg zwischen 1500 und 1675, 1997; Asche (FN 22); ders., Bürgeruniversität (FN 19).
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Abqualifizierung wirkt in vielem bis heute nach. 3 3 Jedoch w i r d neuerdings darauf hingewiesen, daß die altständische Prägung von Universitäten durch Gelehrtendynastien nicht immer auch geistige Enge und wissenschaftliche Sterilität bedeuten mußte. Die aus immer wieder denselben Gelehrtenfamilien stammenden Professoren dieser Universitäten konnten auch beachtliche Leistungen erbringen. Sie erfüllten zumindest ihre Aufgabe, dem Land einen eigenen Nachwuchs an Theologen und Juristen heranzubilden, bis zum Ende des Alten Reiches, als in dem großen Universitätssterben um 1800 zahlreiche dieser später viel gescholtenen Universitäten untergingen. 34 Die „protestantische Familienuniversität" lebte übrigens im 19. Jahrhundert noch lange weiter, so in Tübingen, wo etwa die Familie Gmelin einem kritischen Beobachter zufolge „teils geborene, teils ungeborene Professoren" der schwäbischen Landesuniversität umfaßte. 35 Die Verankerung einer Universität im Land wurde durch die Ausbildung von Gelehrtenfamilien, die auf das Territorium bezogen waren, im 17. und 18. Jahrhundert sehr gefördert. Damit wurden die Universitäten auch zu einem Identität stiftenden Landessymbol. Für den Fürsten und die regierende Dynastie bildeten die Hochschulen schon früher ein wichtiges Statusmerkmal und Prestigeobjekt. Bei den Universitätsgründungen um 1500 zeigte sich etwa der Einfluß des Humanismus, wenn die Gründung von Hochschulen als ein Ausfluß der herrscherlichen Munifizenz gegenüber den Musen gefeiert wird. Auch als Beweis christlicher Fürstentugend und Frömmigkeit konnten Universitätsgründungen gelten. Die neu gegründeten Universitäten erhielten den Namen ihres fürstlichen Stifters, um zum höheren Ruhme der Dynastie und zur pietätvollen „memoria" des Gründerfürsten beizutragen. Ein solcher Bezug konnte sehr konkret ausgestaltet sein. In Tübingen zum Beispiel wurde seit der Reformation die Stifts- und Universitätskirche zugleich für die Grablege des jetzt hierher überführten toten Gründers, Eberhard im Barte, und der Dynastie genutzt. Das Kirchengebäude symbolisierte so den Einklang von Universität, Kirche und Dynastie des Hauses Württemberg. 36 Ein katholischer geistlicher Fürst wie Julius Echter von Mespelbrunn in Würzburg schuf eine ähnliche Memorialtopographie. Echter ließ sein Herz in der von ihm errichteten Universitätskirche in dem neuen Baukomplex seiner Julius-Universität beisetzen. 37 33
Etwa bei Thomas Ellwein, Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2. Aufl. 1992. 34 Hans-Wolf Thümmel, Die Tübinger Universitäts Verfassung im Zeitalter des Absolutismus, 1975; Asche (FN 22); ders., Bürgeruniversität (FN 19). ss Robert von Mohl, Lebenserinnerungen 1799-1875,1902, S. 86. se Mertens (FN 23). 37 Peter Baumgart, Gymnasium und Universität im Zeichen des Konfessionalismus, in: Peter Kolb/Ernst-Günter Krenig (Hrsg.), Unterfränkische Geschichte, Bd. 3: Vom Beginn des konfessionellen Zeitalters bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, 1995, S. 251-276; Stefan Kummer, Die Kunst der Echterzeit, in: ebda., S. 663-716.
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Symbole der Landesherrschaft enthalten in der Regel auch die Siegel, Wappen, Szepter, Rektoratsketten, Statuten- und Matrikelbücher der Universitäten. 38 Der Hermelinmantel des Greifswalder Rektors wurde aus einem Prunkgewand des letzten Greifenherzogs von Pommern gefertigt. An den Universitätsgebäuden wurde das Wappen des Landesherrn als Stifter oder Förderer der Hochschule angebracht. In seinem Namen wurden die Universitätsstatuten rechtskräftig erlassen. Die Abhängigkeit der Universität vom territorialen Fürstenstaat kam so sinnfällig zum Ausdruck. Oft wurde dies auch dadurch unterstrichen, daß ein Prinz der regierenden Dynastie zum Ehrenrektor der Universität gewählt wurde. Dieses adelige Ehrenrektorat entstand im Übergang vom späten Mittelalter zur Frühen Neuzeit, als allmählich junge Adelige zum Studium, vor allem der Jurisprudenz, an die Universitäten kamen. 39 Um die Universitäten für standesbewußte Adelige attraktiver zu machen, wurden vornehme Adelige von der Universitätskorporation zu Ehrenrektoren gewählt. Diesem „Rektor magnificentissimus", der sich auf zeremonielle Repräsentation beschränken konnte, stand für die administrativen Aufgaben ein Vizerektor aus dem Lehrkörper zur Seite. 40 Prinzen der regierenden Dynastie, die sich für ein Studium an der Universität aufhielten, waren natürlich für die Übernahme des Ehrenrektorats besonders geeignet. Gelegentlich übernahm auch der Landesherr selbst die Würde des „Rektor magnificentissimus". So verfuhr Julius Echter von Mespelbrunn als Universitätsgründer i n Würzburg. Die bauliche Unterbringung und die Heraldik der frühneuzeitlichen Universitäten sagten viel über ihre verfassungsmäßige Stellung aus. In den evangelischen Territorien und Städten wurden die Hochschulen meistens in ehemaligen Klostergebäuden untergebracht, die seit der Durchführung der Reformation leer standen und über welche die weltliche Obrigkeit jetzt verfügte. So wurde die These Martin Luthers unterstrichen, daß Klöster und Stifte ursprünglich einmal Schulen gewesen seien und nur durch die Mißbräuche des Papsttums zur „Möncherei" verkommen seien. 41 Wenn Neu38 Walter Paatz, Die akademischen Szepter und Stäbe i n Europa. Systematische Untersuchungen zu ihrer Geschichte und Gestalt, 1979. 39 Rainer A. Müller, Universität und Adel. Eine soziostrukturelle Studie zur Geschichte der bayerischen Landesuniversität Ingolstadt 1472-1648, 1974; ders., Aristokratisierung des Studiums? Bemerkungen zur Adelsfrequenz an süddeutschen Universitäten im 17. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 3146; Christian Hoffmann, Ritterschaftlicher Adel im geistlichen Fürstentum. Die Familie von Bar und das Hochstift Osnabrück. Landständewesen, Kirche und Fürstenhof als Komponenten der adeligen Lebenswelt im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung 1500-1651, 1996. 40 Baumgart, Universitätsautonomie (FN 20); Berthold Jäger, Die Ehrenrektoren der Universität Gießen 1609-1723, in: Peter Moraw/Volker Press (Hrsg.), Academia Gissensis. Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte, 1982, S. 221-246. 41 Martin Luther, A n die Ratherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und erhalten sollen, in: ders., Werke. Kritische Gesammtausgabe, Bd. 15, 1899, S. 9-53.
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bauten errichtet wurden, so hielt sich die Bauweise oft an die profane Palastarchitektur. In Helmstedt (Juleum), in Tübingen (Wilhelmsstift) und im nürnbergischen Altdorf (Wichernhaus) haben sich entsprechende Neubauten der Renaissance erhalten. Sie waren selbstverständlich mit den Hoheitszeichen der weifischen und württembergischen Herzöge und des Nürnberger Rats gekennzeichnet. Katholische Neubauten folgten stärker einem Architekturtyp in der Tradition des mittelalterlichen Klosters mit Vierflügelanlage um einen Hof und einem in diesen Baukomplex integrierten Kirchenbau. 42 Julius Echter ließ so seine neue Universität in Würzburg erbauen und mit seinem Wappen schmücken. Die Jesuiten legten bei ihren Universitäten auf repräsentative Neubauten und neu errichtete eigene Universitätskirchen allgemein großen Wert. Aber dies gilt auch für die Benediktiner in Salzburg. Bei den Protestanten wurden keine neuen Universitätskirchen erbaut. Entweder wurden die ehemaligen Klosterkirchen für diesen Zweck genutzt, wie in Marburg, Straßburg, Leipzig, Jena, Rinteln an der Weser oder Göttingen, oder die städtischen Pfarrkirchen dienten zugleich für Universitätsgottesdienste und für die repräsentativen Festakte der Universität, wie in Greifswald, Tübingen, Helmstedt, Altdorf oder im nassauischen Herborn. In diesen Kirchen war meistens zudem die repräsentative Grablege der Professoren. Auch in einer solchen Form des symbolischen Ortes wurde die enge Verbindung von Universität und Landeskirche unterstrichen. Bereits bei dem feierlichen Errichtungsakt der Universität mit der öffentlichen Verkündung der päpstlichen, kaiserlichen und landesherrlichen Privilegien der neuen Hochschule war in der Regel ein Kirchenraum der Schauplatz des Geschehens, das juristisch von konstitutiver Bedeutung war. 4 3 Der Errichtungsakt einer Universität als eine rechtswirksame Kettenhandlung fand nach der feierlichen Verkündung der Privilegien seinen Abschluß mit den ersten Inskriptionen in der neuen Universitätsmatrikel und mit den ersten Promotionen, die in der Regel besonders repräsentativ durchgeführt wurden. Die Immatrikulation durch den Rektor konstituierte den Rechtsverband der Universität für die eingeschriebenen Studenten und sonstigen Universitätsverwandten. Es immatrikulierten sich oft auch durchreisende Studenten und Personen, die einen Dienstleistungsberuf für die Universität ausübten, wie Sprachmeister, Reit-, Tanz- und Fechtlehrer, Buchdrucker und sogar Gastwirte. 44 Alle Immatrikulierten wurden der ge42
Konrad Rückbrod, Universität und Kollegium. Baugeschichte und Bautyp, 1977. Waldemar Teufel, Universitas studii Tuwingensis. Die Tübinger Universitätsverfassung in vorreformatorischer Zeit (1477-1534), 1977. 44 Peter Baumgart, Die Anfänge der Universität Helmstedt im Spiegel ihrer Matrikel (1576-1600), in: Braunschweigisches Jahrbuch 50 (1969), S. 5-32; Rainer Christoph Schwinges, Immatrikulationsfrequenz und Einzugsbereich der Universität Gießen 1650-1800. Zur Grundlegung einer Sozialgeschichte Gießener Studenten, in: Moraw/Press (FN 40), S. 247-295; Uwe Alschner, Universitätsbesuch in Helmstedt 43
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richtlichen und wirtschaftlichen Privilegien der Universität teilhaftig. Als ein Wirtschaftsfaktor war dies für die Professoren wichtig, die in ihren Häusern oft Pensionen für Studenten betrieben und dort ihr Privileg auf steuerfreien Ausschank von Wein und Bier ausüben konnten. Bei Professoren, die entsprechend große Wohnhäuser besaßen, konnte dieser Pensionsbetrieb, den die Ehefrau des Professors leitete, einen erheblichen Umfang erreichen. Die bekanntesten Beispiele sind Luther und Melanchthon in Wittenberg mit ihren zahlreichen Hausgenossen.45 Durch solche Hausgemeinschaften bei renommierten und einflußreichen Professoren wurden vielfach während des Studiums personelle Beziehungsnetze geknüpft, die für die Anbahnung von Karrieren und Eamilienverbindungen zwischen den sich ausbildenden Gelehrtendynastien entscheidend wurden. Die Einnahmen aus Studentenpensionen ergänzten die Einkünfte der Professoren, die in der Regel eine deutliche Spannweite gemäß der Wertschätzung des Fürsten oder der Stadtobrigkeit für einzelne Persönlichkeiten aufwiesen. Die Spitzenprofessoren in der Juristischen und Medizinischen Fakultät erhielten dabei ähnlich hohe Gehälter wie fürstliche Räte und Leibärzte, zumal sie oft auch mit solchen Aufgaben am Hof tätig waren. Für die Mehrzahl der Universitäten wurde im Laufe des 16. Jahrhunderts ein Besoldungssystem der Professoren eingeführt, das auf regelmäßigen Gehaltszahlungen seitens der fürstlichen Hofkammer oder der reichsstädtischen Finanzbehörde aufbaute. Darin wurde die Form der Professorenbesoldung derjenigen anderer leitender Landesbeamter angeglichen. Leistungen in Naturalien traten hinzu. 4 6 Es gab jedoch auch mancherorts noch ein Weiterleben des mittelalterlichen Pfründensystems. Denn vor der Reformation waren die meisten Professoren als Kleriker durch kirchliche Pfründen, oft an den Universitätsstiftskirchen, versorgt worden. Bei den katholischen Theologieprofessoren lebte dieses System zumindest so lange weiter, bis der Jesuitenorden eine Theologische Fakultät übernahm. 47 Die Jesuiten lehnten das Pfründensystem zur Universitätsfinanzierung für sich ab. In der evangelischen freien Reichsstadt Straßburg bestand jedoch das evangelisch gewordene St. Thomasstift als Universitätsstift weiter und bot den Professoren der reichsstäd1576-1810. Modell einer Matrikelanalyse am Beispiel einer norddeutschen Universität, 1998; Asche, Bürgeruniversität (FN 19). 45 Heinz Scheible (Hrsg.), Melanchthon i n seinen Schülern, 1997. 46 Peter Baumgart, Zur wirtschaftlichen Situation der deutschen Universitätsprofessoren am Ausgang des 16. Jahrhunderts. Das Beispiel Helmstedt, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 34/35 (1974/75), S. 957-974. 47 Theodor Kurrus, Die Jesuiten an der Universität Freiburg im Breisgau 16201773, 2 Bde., 1963-77; Georg Schwaiger, Die Theologische Fakultät der Universität Ingolstadt (1472-1800), in: Laetitia Boehm/Johannes Spörl (Hrsg.), Die LudwigMaximilians-Universität i n ihren Fakultäten, Bd. 1, 1972, S. 13-126; Arno Seifert, Die jesuitische Reform. Geschichte der Artistenfakultät im Zeitraum 1570-1650, in: ebda., Bd. 2, 1980, S. 65-89.
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tischen Universität eine Finanzierungsgrundlage, und zwar über die Annexion der Stadt durch Frankreich hinweg bis zum Ende der alten Straßburger Universität in der Französischen Revolution. 48 Das St. Thomasstift existiert übrigens noch heute als Korporation mit dem alten Stiftungsvermögen in enger Verbindung mit der Fakultät für Protestantische Theologie der Straßburger Universität als eines der letzten Kollegiatstifte des Alten Reiches. Die Finanzierung einer Universität wurde in der Regel im Gründungsvorgang durch eine feierlich beurkundete Dotation oder entsprechende Zusagen des Landesherrn oder des Stadtmagistrats festgelegt. Sie konnte zum Problem werden, wenn ein Territorium aufgeteilt wurde oder die Trägerschaft der Universität von Anfang an zweipolig war. Letzteres kennzeichnete die Universität in Rostock, die seit ihrer Gründung unter dem Kompatronat der Herzöge von Mecklenburg und der autonomen Hansestadt Rostock stand. Zwischen den Herzögen und dem Rostocker Rast waren mehrfach komplizierte Verhandlungen wegen der gemeinsamen Finanzierung notwendig. An der Universität gab es herzogliche und rätliche Professoren. Im 18. Jahrhundert kam es von 1760 bis 1789 sogar zu einer Aufspaltung der Universität in eine herzogliche in Bützow und die verbleibende rätliche in Rostock. Für Bützow erlangte der Herzog ein eigenes kaiserliches Universitätsprivileg, welches freilich das Scheitern dieses Experiments nicht verhindern konnte. 4 9 Landesteilungen von Trägerterritorien unter mehrere Linien des fürstlichen Hauses hatten meist zur Folge, daß die Landesuniversität als „Samtuniversität" gemeinsam weitergeführt wurde. Am längsten, nämlich bis 1920, hatte eine solche Regelung für die Universität Jena unter den sächsisch-ernestinischen Herzogtümern in Thüringen Bestand. Jena hatte vier bis fünf „Erhalterstaaten", unter denen Sachsen-Weimar die Federführung innehatte, was um 1800 die Tätigkeit Goethes für die Jenaer Universität ermöglichte. 50 Helmstedt war nach dem Aussterben der älteren Wolfenbütteler Linie während des Dreißigjährigen Kriegs bis zur Gründung von Göttingen die weifische „Samtuniversität". Seit der Gründung der Universität Göttingen zog sich in den 1740er Jahren das Kurfürstentum Hannover aus 48 Jean Adam, Evangelische Kirchengeschichte der Stadt Straßburg bis zur französischen Revolution, 1922; Henri Strohl, Le Protestantisme en Alsace, 1950; Schindling, Humanistische Hochschule (FN 15). 49 Asche, Bürgeruniversität (FN 19). 50 Hans Tümmler, Goethes Anteil an der Entlassung Fichtes von seinem Jenaer Lehramt 1799, in: ders., Goethe in Staat und Politik. Gesammelte Aufsätze, 1964, S. 132-166; ders., Goethe im Jenaer Krisenjahr 1803. Ein Beitrag zur Universitätsgeschichte, in: ebda., S. 167-209; Wilhelm Flitner, Wissenschaft und Schulwesen i n Thüringen von 1550 bis 1933, in: Hans Patze/Walter Schlesinger (Hrsg.), Geschichte Thüringens, Bd. 4: Kirche und Kultur in der Neuzeit, 1972, S. 53-206; Thomas Klein, Ernestinisches Sachsen, kleinere thüringische Gebiete, in: Schindling/Ziegler (FN 6), Bd. 4: Mittleres Deutschland, 1992, S. 8-39.
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der Samtuniversitätsregelung für Helmstedt zurück. 5 1 In Hessen war die Universität Marburg vom Tode Landgraf Philipps des Großmütigen 1568 bis zur konfessionellen Spaltung zwischen dem calvinistischen HessenKassel und dem lutherischen Hessen-Darmstadt eine Samtuniversität. Die Neugründung der lutherischen Universität Gießen durch Hessen-Darmstadt 1607 war dann die Folge der reformierten Konfessionalisierung in Marburg seit 1604. Landgraf Philipp der Großmütige hatte seine Marburger Universität bei der Gründung aus den Gütern der von ihm aufgehobenen hessischen Klöster dotiert. Nach der Spaltung von hessischer Landeskirche und Universität mußte diese Dotation in einem umstrittenen Prozeß zwischen Marburg und Gießen aufgeteilt werden, wobei erst nach dem Westfälischen Frieden eine dauerhafte Regelung zwischen den beiden verfeindeten Linien des Landgrafenhauses in Kassel und Darmstadt gefunden wurde. 5 2 Samtuniversitätsregelungen wurden gelegentlich auch rückgängig gemacht. Für Rostock war im 18. Jahrhundert fürstlicherseits nur noch das Territorium Mecklenburg-Schwerin zuständig, nicht mehr MecklenburgStrelitz. Eine eigentümliche mehrfache Trägerschaft für die Universität gab es katholischerseits in Salzburg, dessen Benediktineruniversität von einer Kongregation bayerischer, schwäbischer und österreichischer Abteien unterhalten wurde. Seit dem Augsburger Religionsfrieden galt im Reich das Prinzip der obrigkeitlichen Religionshoheit, das der Greifswalder Rechtsprofessor Joachim Stephani am Beginn des 17. Jahrhunderts mit der berühmten Formel „cuius regio eius religio" beschrieb. 53 Universitäten und Schulen gehörten für das Verständnis der Frühen Neuzeit ganz selbstverständlich zu den „jura circa sacra" des Landesherrn, so daß die Formel von Stephani auch als „cuius regio eius instructio" modifiziert werden kann. Die konfessionelle Verpflichtung der Universitäten ging praktisch jedoch unterschiedlich weit. Gelegentlich wurden bei Neuberufungen Bekenntniseide der Professoren, und zwar aller Fakultäten, auf die jeweiligen Bekenntnisschriften der Landeskirche gefordert. Nicht in allen lutherischen Territorien gehörte dazu die streng orthodoxe Konkordienformel, die etwa in Helmstedt nicht vorgeschrieben wurde. Die Mehrzahl der evangelischen Universitäten im Reich und ihre Theologischen Fakultäten waren im 17. Jahrhundert jedoch 51 Alschner (FN 44). 52 Anton Schindling, Die Universität Gießen als Typus einer Hochschulgründung, in: Moraw/Press (FN 40), S. 83-113; Manfred Rudersdorf, Der Weg zur Universitätsgründung in Gießen. Das geistige und politische Erbe Landgraf Ludwigs IV. von Hessen-Marburg, in: ebda., S. 45-82; ders., Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg 1537-1604. Landesteilung und Luthertum in Hessen, 1991; Peter Moraw, Kleine Geschichte der Universität Gießen 1607 -1982, 2. Aufl. 1989. 53 Martin Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 1983; Anton Schindling, Reichskirche und Reformation. Zu Glaubensspaltung und Konfessionalisierung in den geistlichen Fürstentümern des Reiches, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, 1987, S. 81-112.
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von der lutherischen Orthodoxie geprägt. Die Theologen beanspruchten für sich ein Wächteramt über die Reinheit der Glaubenslehre. 54 An den katholischen Hochschulen wurde der Eid auf das tridentinische Glaubensbekenntnis, das mit antiprotestantischer Zielsetzung die Verehrung Mariens und der Heiligen sowie die Eucharistielehre einbezog, meistens bereits von den Promovenden erwartet. Die Praxis unterschied sich jedoch oft von der Rechtsnorm. Bei berühmten Juristen oder Medizinern, die für einen Ruf gewonnen werden sollten, wurde der Konfessionseid gelegentlich nicht durchgesetzt. An mehreren Evangelisch-Theologischen Fakultäten gab es Phasen, in denen sich die Professoren der strikten Konfessionalisierung entzogen, so in der philippistischen Gründungsperiode der nürnbergischen Universität Altdorf, in den von David Chyträus beeinflußten Universitäten im gemäßigt lutherischen Rostock und dem von der Irenik geprägten Helmstedt sowie in dem pietistischen Halle. 5 5 Die Universität in Halle an der Saale wurde von Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg bewußt als eine zwar lutherische, aber gegen die Orthodoxie gerichtete Hochschule gegründet. 56 Die unterschiedliche konfessionelle Strenge in den Territorien und Städten des Reiches wirkte sich auch konkret auf die Buchzensur aus, welche die Universitäten über die ihr angehörenden und in ihrem Umfeld wirkenden Buchdrucker und Buchhändler ausübten. Der Theologischen Fakultät kam dabei die Aufgabe zu, die Aussagen zur Glaubenslehre in den gedruckten und verkauften Schriften zu überprüfen. Jedoch waren manche Wege zur Umgehung und Täuschung der Zensur möglich. So etwa, wenn der Paderborner Universitätsprofessor Friedrich von Spee aus dem Jesuiten54 Klaus Schreiner, Disziplinierte Wissenschaftsfreiheit. Gedankliche Begründung und geschichtliche Praxis freien Forschens, Lehrens und Lernens an der Universität Tübingen (1477-1945), 1981; ders., Iuramentum Religionis. Entstehung, Geschichte und Funktion des Konfessionseides der Staats- und Kirchendiener im Territorialstaat der frühen Neuzeit, in: Der Staat 24 (1985), S. 211-246; Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), S. 1 - 4 5 ; ders., Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft. Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Wolf gang Reinhard/Heinz Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte 1993, 1995, S. 1 - 4 9 ; Wolfgang Reinhard, Was ist katholische Konfessionalisierung?, in: ebda., S. 419-452; Anton Schindling, Konfessionalisierung und Grenzen von Konfessionalisierbarkeit, in: ders./Ziegler (FN 6), Bd. 7: Bilanz - Forschungsperspektiven - Register, 1997, S. 9-44. 55 Hans Peterse, Irenik und Toleranz im 16. und 17. Jahrhundert, in: Klaus Bußmann/Heinz Schilling (Hrsg.), 1648. Krieg und Frieden in Europa, Textbd. 1: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft, Ausstellungskatalog 1998, S. 265-271. 56 Wilhelm Schräder, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, 2 Bde., 1894; Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, 1971; Notker Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, 1972.
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orden seine berühmte „Cautio criminalis" gegen die Hexenprozesse mit dem fiktiven Druckort der lutherischen Universitätsstadt Rinteln an der Weser erscheinen ließ. 5 7 Die Aufklärung stand der Zensur zunehmend kritisch gegenüber. Teilweise wurde sie von aufgeklärten Obrigkeiten, so im josephinischen Österreich, als Instrument gegen K r i t i k an der Aufklärung eingesetzt. 58 An der Universität Göttingen verzichtete der gründende kurhannoversche Staat demonstrativ auf eine Zensur für die Veröffentlichungen der Professoren. Mit dieser gewährten Zensurfreiheit und mit hohen Gehaltsangeboten hoffte Gerlach Adolph von Münchhausen, der maßgebende universitätspolitische Berater Kurfürst Georg Augusts II. von Hannover respektive König Georgs II. von Großbritannien, die brillantesten Köpfe unter den protestantischen Professoren für Göttingen zu gewinnen. Mit der Gründung der Universität Göttingen 1737 wurde von Kurhannover ein deutlicher Schritt über das Konfessionelle Zeitalter hinaus getan. Die Grundprägung der Georgia Augusta blieb zwar in einem aufgeklärten Sinne noch immer konfessionell lutherisch bestimmt. 59 Das in Göttingen schwerpunktmäßig gelehrte Reichsstaatsrecht wirkte jedoch breit auch in die katholischen Reichsteile hinein, und für katholische Studenten, auf die Münchhausen von Anfang an hoffte, wurde in der Stadt eine Kirche mit öffentlicher Gottesdienstausübung zur Verfügung gestellt. Göttingen trat mit der Lehre des Reichsstaatsrechts in die Spur der ersten Modelluniversität der deutschen Aufklärung, der Friedrichs-Universität i n Halle an der Saale. Aber mit der Zensurfreiheit und der partiellen konfessionellen Öffnung zumindest gegenüber katholischen Studenten ging das aufgeklärte Göttingen weiter als Halle. Bei der Festlegung und Änderung von Lehrgegenständen und der Fächerstruktur hatten die territorialen oder städtischen Obrigkeiten natürlich ein entscheidendes Wort mitzureden. Die Grundlage blieb allerdings bis ins 18. Jahrhundert der von der Antike und der mittelalterlichen Scholastik geprägte Kanon der wissenschaftlichen Fächer, auch deren Rangfolge von den philosophischen „artes" des Triviums und Quadriviums bis zu der Theologie, die als die „Königin der Wissenschaften" galt. Erst mit der Gründung der Reformuniversität Halle an der Saale 1694 begann die Theologie als Leitwissenschaft der Universität von der Jurisprudenz abgelöst zu 57 Joachim-Friedrich Ritter, Friedrich von Spee 1591-1635. Ein Edelmann, Mahner und Dichter, 1977. 58 Grete Klingenstein, Staatsverwaltung und kirchliche Autorität im 18. Jahrhundert. Das Problem der Zensur i n der theresianischen Reform, 1970. 59 Hammerstein (FN 56); ders., Die deutschen Universitäten i m Zeitalter der Aufklärung, in: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), S. 73-89; Anton Schindling, Die protestantischen Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation im Zeitalter der Aufklärung, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Universitäten und Aufklärung, 1995, S. 9-19.
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werden. Der Jurist Christian Thomasius und seine Schule, dann ebenfalls in Halle der Naturrechtsphilosoph Christian Wolff, stellten neben die theologische und scholastisch-aristotelische Tradition ein säkulares Wissenschaftsverständnis aus dem Geist der rationalen Aufklärung. 6 0 Es lag an den staatlichen Obrigkeiten, diesen Paradigmenwechsel zu fördern oder zu behindern. Die Vertreibung Christian Wolffs aus Halle durch die pietistischen Theologen und den preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., Wolffs Aufnahme in Marburg an der Lahn durch Landgraf Karl von Hessen-Kassel und seine Rückkehr nach Halle unter Friedrich dem Großen zeigt, wie sehr der Landesfürst jeweils entscheidend für die geistigen Weichenstellungen an seiner Landesuniversität war. Die Universitätsreformen der Aufklärung wurden allesamt von Fürsten und ihren Beratern initiiert und durchgeführt. Dies gilt für die evangelischen Reformgründungen in Halle, Göttingen und Erlangen sowie für die katholischen in Münster und Bonn ebenso wie für die Reform älterer Hochschulen vor allem in katholischen Territorien, insbesondere in den geistlichen Fürstentümern Würzburg, Bamberg, Mainz und Salzburg sowie in den habsburgischen Ländern. Sowohl die Erzbischöfe und Bischöfe an Rhein, Main und Salzach als auch Maria Theresia und Joseph II. orientierten sich für die von ihnen verfügten Universitätsreformen an den erfolgreichen protestantischen Modellen von Halle und Göttingen. 61 Die konfessionelle Prägung der Hochschulen im Reich blieb allerdings bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend erhalten, so daß nur Angehörige der jeweiligen Landeskonfession als Professoren berufen werden konnten. Die Anstellung einzelner Protestanten in Mainz nach der Universitätsreform von 1784 durch Kurfürst und Erzbischof Joseph Karl Friedrich von Erthal blieb eine viel beachtete Ausnahme. 62 60 Emil Clemens Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten. Ihre Anfänge im Zeitalter des Humanismus und ihre Ausbildung zu selbständigen Disziplinen, 1927 (ND 1975); Friedrich Hermann Schubert, Die deutschen Reichstage i n der Staatslehre der frühen Neuzeit, 1966; Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Aufl. 1967 (ND 1996); Notker Hammerstein, Thomasius und die Rechtsgelehrsamkeit, in: Studia Leibnitiana 11 (1979), S. 22-44; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts i n Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800,1988. 61 Notker Hammerstein, Aufklärung und katholisches Reich. Untersuchungen zur Universitätsreform und Politik katholischer Territorien des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation im 18. Jahrhundert, 1977; Harald Dickerhof, Die katholischen Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation des 18. Jahrhunderts, in: Hammerstein (Hrsg.), Universitäten und Aufklärung (FN 59), S. 21-47. 62 Timothy C. W. Blanning, Reform and revolution in Mainz 1743-1803, 1974; Helmut Mathy, Die Universität Mainz 1477-1977, 1977, S. 115-200; Eckhart Pick, Mainzer Reichsstaatsrecht. Inhalt und Methode. Ein Beitrag zum ius publicum an der Universität Mainz im 18. Jahrhundert, 1977; Anton Schindling, Die Julius-Universität im Zeitalter der Aufklärung, in: Baumgart (FN 29), S. 77-127; ders., Die JuliusUniversität im Zeichen der Aufklärung. Jurisprudenz, Medizin, Philosophie, in: Peter
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I n den k a t h o l i s c h e n Reichsteilen hatte die A u f h e b u n g des Jesuitenordens d u r c h Papst Clemens XIV. 1774 einen Schub a n A u s w e i t u n g der s t a a t l i c h landesfürstlichen Kompetenzen i m U n i v e r s i t ä t s - u n d Schulwesen m i t sich g e b r a c h t . 6 3 Dies w i r k t e sich v o r a l l e m i n den österreichischen L ä n d e r n aus, w o der josephinische Reformkatholizismus stark etatistische Züge t r u g . 6 4 A u c h i n den geistlichen F ü r s t e n t ü m e r n der Reichskirche setzten aber die bischöflichen Reformfürsten auf die staatlich-landesherrliche I n i t i a t i v e f ü r die Durchsetzung aufgeklärter Verbesserungen. D i e A u f k l ä r u n g s p e r i o d e b o t ebenso w i e die Epoche v o n Reformation u n d Konfessionalisierung eine B ü h n e f ü r m a r k a n t e Fürstenpersönlichkeiten, die sich b i l d u n g s p o l i t i s c h engagierten u n d p r o f i l i e r t e n . 6 5 E i n e zählebige wissenschaftsgeschichtliche Legende behauptet, daß die U n i v e r s i t ä t e n i m Reich i m 17. u n d 18. J a h r h u n d e r t d u r c h Territorialismus u n d Konfessionalismus eingeschnürt u n d deshalb f ü r die F o r t e n t w i c k l u n g des geistigen Lebens u n f r u c h t b a r geworden seien. D i e wissenschaftliche Baumgart (Hrsg.), Michael Ignaz Schmidt (1736-1794) in seiner Zeit. Der aufgeklärte Theologe, Bildungsreformer und „Historiker der Deutschen" aus Franken in neuer Sicht. Beiträge zu einem Symposion vom 27. bis 29. Oktober 1994 i n Würzburg, 1996, S. 3-24. 63 Hermann Hoffmann, Friedrich II. von Preußen und die Aufhebung der Gesellschaft Jesu, 1969; Winfried Müller, Universität und Orden. Die bayerische Landesuniversität Ingolstadt zwischen der Aufhebung des Jesuitenordens und der Säkularisation (1773-1803), 1986; Anton Schindling, Friedrichs des Großen Toleranz und seine katholischen Untertanen, in: Peter Baumgart (Hrsg.), Kontinuität und Wandel. Schlesien zwischen Österreich und Preußen. Ergebnisse eines Symposions in Würzburg vom 29. bis 31. Oktober 1987, 1990, S. 257-272; Hans-Wolfgang Bergerhausen, Friedensrecht und Toleranz. Zur Politik des preußischen Staates gegenüber der katholischen Kirche i n Schlesien, 1740-1806,1999. 64 Fritz Valjavec, Der Josephinismus. Zur geistigen Entwicklung Österreichs im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, 2. Aufl. 1945; Ferdinand Maaß, Der Josephinismus. Quellen zu seiner Geschichte in Österreich 1760-1790. Amtliche Dokumente aus dem Wiener Haus-, Hof- u. Staatsarchiv, 5 Bde., 1951-61; ders., Der Frühjosephinismus, 1969; Eduard Winter, Der Josefinismus. Die Geschichte des österreichischen Reformkatholizismus 1740-1848, 1962; Elisabeth Kovâcs (Hrsg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus, 1979; Anton Schindling, Theresianismus, Josephinismus, katholische Aufklärung, in: Würzburger Diözesan-Geschichtsblätter 50 (1988), S. 215-224; ders. ? Aspekte des „Josephinismus" - Aufklärung und frühjosephinische Reformen in Österreich. Ein Essay zu dem klassischen Werk Eduard Winters, in: Erich Donnert (Hrsg.), Europa in der Frühen Neuzeit. FS Günter Mühlpfordt, Bd. 3: Aufbruch zur Moderne, 1997, S. 683-690; Feter Baumgart, Joseph II. und Maria Theresia (1765-1790), in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519-1918,1990, S. 249-276. 65 Max Braubach, Maria Theresias jüngster Sohn Max Franz. Letzter Kurfürst von Köln und Fürstbischof von Münster, 1961; Werner August Mühl, Die Aufklärung an der Universität Fulda mit besonderer Berücksichtigung der philosophischen und juristischen Fakultät 1734-1805, 1961; Hammerstein, Aufklärung (FN 61); Eduard Hegel, Das Erzbistum Köln zwischen Barock und Aufklärung vom Pfälzischen Krieg bis zum Ende der französischen Zeit 1688-1814, 1979; Anton Schindling, „Friderizianische Bischöfe" i n Franken? Aufklärung und Reform im geistlichen Franken zwischen Habsburg und Preußen, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Friedrich der Große, Franken und das Reich, 1986, S. 157 -171; Ludwig Hammermayer, Die Aufklärung in Salzburg (ca. 1715-1803), in: Dopsch/Spatzenegger (FN 30), Bd. 2/1,1988, S. 375-452.
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Innovation sei deshalb auf die Akademien übergegangen, die von aufgeklärten Fürsten gegründet wurden. Die Berliner Akademie, die maßgeblich von dem Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz angeregt und organisiert wurde, gab dafür als erste ihrer Art das Muster ab. An den Akademien wurden die undogmatischen Wissenschaften von der Natur und der Geschichte gepflegt, deshalb blieben Theologie und Jurisprudenz von ihnen ausgeschlossen. Auf die Berliner Akademie folgten im Laufe des 18. Jahrhunderts weitere Akademien in Göttingen, München, Mannheim und Erfurt. In den katholischen Reichsteilen gab es entsprechende Akademieprojekte i m klösterlichen Bereich, vor allem bei den Benediktinern. Entscheidend für die Arbeitsfähigkeit einer Akademie war, inwieweit der Gründerfürst bereit war, eine dauerhafte Finanzierung zur festen Anstellung von Forschern und der Beschaffung von Forschungsmaterialien zu gewährleisten. Dies war nur begrenzt in Berlin, München und Mannheim der Fall. 6 6 Die Akademiebewegung richtete sich jedoch nicht grundsätzlich gegen die Universitäten, sondern trat ergänzend und gelegentlich auch impulsgebend neben die Hochschulen. In Göttingen war die Akademie einfach ein Annex an die Universität. Der Göttinger Professor Albrecht von Haller, der „letzte Universalgelehrte", unterschied die „Akademie zum Belehren", nämlich die Universität, und die „Akademie zum Erfinden", also das Forschungsinstitut neben der Universität. 67 Bezeichnenderweise waren die Akademien in Berlin, München und Mannheim in Residenzstädten angesiedelt. Die Akademien waren höfische Einrichtungen, eine Fortentwicklung des barocken Hofgelehrtentums, das in Deutschland am brillantesten von Gottfried Wilhelm Leibniz in Hannover verkörpert worden war. 6 8 Sie leisteten verdienstvolle Arbeit in der naturwissenschaftlichen und historischen Forschung. Bedeutende Quelleneditionen, wie die „Monumenta Boica" der Münchner Akademie, verdankten der Akademiebewegung ihr Entstehen. 66 Harnack (FN 4); Ludwig Hammermayer, Die Benediktiner und die Akademiebewegung im katholischen Deutschland (1720-1770), in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 70 (1959), S. 45-146; ders., Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1759-1807, 3 Bde., 1983-1998; Andreas Kraus, Die historische Forschung an der churbayerischen Akademie der Wissenschaften 1759-1806, 1959; ders., Vernunft und Geschichte. Die Bedeutung der deutschen Akademien für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im späten 18. Jahrhundert, 1963; Peter Fuchs, Palatinatus Illustratus. Die historische Forschung an der kurpfälzischen Akademie der Wissenschaften, 1963; Jürgen Voss, Universität, Geschichtswissenschaft und Diplomatie im Zeitalter der Aufklärung. Johann Daniel Schöpflin (1694-1771), 1979. 67 Richard Toellner, Albrecht von Haller. Über die Einheit im Denken des letzten Universalgelehrten, 1971. 68 Hans-Peter Schneider, Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, 3. Aufl. 1995, S. 197-226; Reinhard Finster/ Gerd van den Heuvel, Gottfried Wilhelm Leibniz. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 3. Aufl. 1997.
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Aber die Akademien waren im Reich zu keinem Zeitpunkt und an keinem Ort eine echte Konkurrenz zu den Universitäten. Wie schon im Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung blieben auch im Zeitalter der Aufklärung die Universitäten im Zentrum der geistigen Bewegung. Die beiden Reformuniversitäten der deutschen Aufklärung, Halle und Göttingen, sowie die nach diesem Muster reformierten anderen Universitäten sind hier zu nennen. Auch manche der so gern kritisierten „protestantischen Familienuniversitäten" und Jesuitenhochschulen verdienen Respekt und ein gerechtes historisches Urteil. 6 9 Mit einer vorherrschenden Führungsstellung der Universitäten gegenüber den Akademien unterschied sich die Entwicklung in den Territorien und Städten des Reiches deutlich von derjenigen in Frankreich und England, wo die Akademien seit dem 17. Jahrhundert eine Leitfunktion übernommen hatten. Aber ähnlich wie im Reich blieben auch in der Schweiz und in den nördlichen Niederlanden die Universitäten in einer unangefochtenen Führungsstellung für das geistige Leben. Die aufgeklärten Reformen zielten im Lehrplan der Universitäten auf die Einführung neuer Fächer, so des Reichsstaatsrechts, des Naturrechts, der Reichs- und Territorialgeschichte und der historischen Hilfswissenschaften, moderner Fremdsprachen, der Statistik, der Kameralistik und der Policeywissenschaft sowie der Kirchengeschichte und der Pastoraltheologie. 70 Neue für den Staat nützliche Fächer, wie die Policeywissenschaft, Kameralistik und Statistik, wurden teilweise auch an eigenen Spezialschulen außerhalb der Universitäten angesiedelt. 71 In der Verbindung mit technischen Disziplinen galt dies für die ersten Polytechnischen Schulen, die in den Residenzstädten Braunschweig, Kassel und Stuttgart entstanden. Die Hohe Karlsschule in Stuttgart erhielt 1781 sogar ein kaiserliches Universitätsprivileg in Konkurrenz zu der alten Landesuniversität in Tübingen, wie der Gründerherzog Karl Eugen von Württemberg es wollte. Nach dem Tode Karl Eugens endete jedoch das moderne Stuttgarter Experiment, und die traditionelle Universität Tübingen behielt das Monopol der höheren Studien im Land. 7 2 69 Asche (FN 22). 70 Scherer (FN 60); Heinrich Pompey, Die Pastoraltheologie i n Würzburg von 1773 bis 1803, in: Würzburger Diözesan-Geschichtsblätter 37/38 (1975), S. 3 - 5 5 ; Karl Josef Lesch, Neuorientierung der Theologie im 18. Jahrhundert i n Würzburg und Bamberg, 1978; Stolleis (FN 60); Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und i n der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, 1991; Baumgart (FN 62), darin besonders: ders., Michael Ignaz Schmidt (1736-1794). Leben und Werk, S. 111-126. 71 Bergakademie Freiberg. Festschrift zu ihrer Zweihundertjahrfeier am 13. November 1965, 2 Bde., 1965; Norbert Conrads, Ritterakademien i n der Frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert, 1982; Roland Ladwig, Die Tradition der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung an der Bergakademie Freiberg bis 1945, 1982; Otfried Wagenbreth, Die Technische Universität Bergakademie Freiberg und ihre Geschichte. Dargestellt i n Tabellen und Bildern, 1994. 7 2 Uhland (FN 9); Schindling (FN 1).
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Parallel zu dieser Erweiterung des Fächerspektrums verlief eine Diskussion unter den Aufklärern, insbesondere den Kameralisten, über notwendige Studienbeschränkungen wegen Überfüllung der Universitäten. Die Förderung eines arbeitslosen „akademischen Proletariats" sollte vermieden werden. Maßnahmen zur Beschränkung des Studiums wurden durch den aufgeklärten Absolutismus in Preußen und der Habsburger Monarchie getroffen. In Preußen ist hier die Einführung des Abiturs 1787 als Zulassungsprüfung zum Studium für ärmere Bewerber zu nennen. 73 I n der Habsburger Monarchie reduzierte Joseph II. mehrere Universitäten auf den Status von Lyzeen mit begrenztem Lehrangebot, so auch Innsbruck, Graz und Olmütz. Die öffentliche Diskussion über eine Überproduktion von Akademikern durch allzu viele Universitäten erleichterte ganz erheblich die Aufhebung zahlreicher Hochschulen, die mit dem Ende des Alten Reiches um 1800 einherging. Die sozialpolitische Dimension des Studiums wurde von den Kameralisten breit erörtert und als Thema in die entstehende aufgeklärte bürgerliche Öffentlichkeit eingebracht. Aber nicht erst die aufgeklärten Regenten in weltlichen und geistlichen Territorien des späteren 18. Jahrhunderts, sondern bereits auch ihre Vorgänger im 16. und 17. Jahrhundert waren sich dieser Problematik bewußt. Für die fürstlichen und städtischen Obrigkeiten als Universitätsgründer und Universitätserhalter war es selbstverständlich, daß ihre Hochschulen vor allem der Heranbildung eines Nachwuchses an gelehrten Juristen und Theologen im eigenen Land dienen müßten. Studienförderung verband sich deshalb mit der Erwartung von künftigen loyalen Diensten in Kirche und Verwaltung des Territoriums oder der Reichsstadt. Für ärmere Studenten richteten die Universitätsträger vielfach Konvikte, Stipendien, Mensen oder Freitische ein. Diese sozialen Institutionen wurden vor allem von Theologiestudenten frequentiert. Für die Ausbildung der evangelischen Pfarrer- und Gelehrtendynastien hatten sie eine tragende Bedeutung, da die Söhne des gelehrten Standes oft nur mit Hilfe solcher Stipendien studieren und so den erreichten sozialen Status des Vaters bewahren konnten. Die Unterstützung während des Studiums baute gelegentlich auf ein differenziertes Förderungssystem schon während der vorbereitenden Schulzeit auf. 7 4 Das berühmteste Beispiel hierfür war das Herzog73 Klingenstein (FN 2); Quarthai (FN 2); Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft, Bd. 1: Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten 1787-1817, 2. Aufl. 1996; Jens Brüning, Das pädagogische Jahrhundert in der Praxis. Schulwandel in Stadt und Land in den preußischen Westprovinzen Minden und Ravensberg 1648-1816,1998. 74 Walter Heinemeyer, Studium und Stipendium. Untersuchungen zur Geschichte des hessischen Stipendiatenwesens, 1977; Harald Dickerhof (Hrsg.), Bildungs- und schulgeschichtliche Studien zu Spätmittelalter, Reformation und konfessionellem Zeitalter, 1994; Hans Heumann, Schulpforta. Tradition und Wandel einer Eliteschule, 1994; Reinhard Jakob, Schulen in Franken und i n der Kuroberpfalz 1250-1520. Verbreitung - Organisation - gesellschaftliche Bedeutung, 1994; Franz Heiler, Bildung
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tum Württemberg mit seinem System der evangelischen Klosterschulen, das im Evangelischen Stift in Tübingen aufgipfelte. Für den altwürttembergischen Gelehrtenstand waren dieses Stipendienwesen und das Tübinger Stift eine Art sozialpolitisches Rückgrat. 75 Auf der katholischen Seite boten die Jesuiten grundsätzlich einen unentgeltlichen Unterricht an. Die Schüler und Studenten der Jesuitenkollegien und Jesuitenuniversitäten lebten vorzugsweise internatsmäßig in Konvikten. Die vermögensmäßigen Unterschiede zwischen den Schülern und Studenten traten dabei durch eine geistlich geprägte, gemeinsame Lebensweise nicht so deutlich hervor wie bei den Studenten der protestantischen Universitäten. Zwar bemühten sich die Jesuiten um Schüler und Studenten aus den sozialen Führungsschichten von Adel und Bürgertum. Aber es gibt auch Beispiele dafür, daß sie sehr zielstrebig Schul- und Universitätskarrieren von begabten Söhnen bildungsferner Familien aus den handwerklichen und bäuerlichen Schichten planten, um ihnen verbundene Priester, Ordensleute und weltliche Aspiranten auf Fürstendienste zu fördern. Nachdem sich im 17. Jahrhundert die evangelischen Pfarrer- und Gelehrtendynastien herausgebildet hatten, dürfte das jesuitisch geprägte katholische Schul- und Universitätswesen von unten her sozial durchlässiger gewesen sein als die entsprechenden protestantischen Anstalten. 76 Das Studium als sozialer Aufstiegskanal für Söhne ärmerer Sozialschichten wurde zumindest in den protestantischen Reichsteilen im Laufe der Frühen Neuzeit deutlich eingeengt. Hier wirkten sich seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts das verstärkte Adelsstudium und die gleichzeitige Ausbildung der Pfarrer- und Gelehrtendynastien als Erschwernisse für soziale Aufsteiger aus. Im katholischen Bereich erhielt sich im Weltim Hochstift Eichstätt zwischen Spätmittelalter und katholischer Konfessionalisierung. Die Städte Beilngries, Berching und Greding im Oberamt Hirschberg, 1998; Asche, Bürgeruniversität (FN 19). 75 Martin Leube, Geschichte des Tübinger Stifts, Bd. 1 - 2 , 1921-1930; ders., Das Tübinger Stift 1770-1950. Geschichte des Tübinger Stifts, 1954; Hermann Ehmer, Valentin Vannius und die Reformation in Württemberg, 1976; ders., Der Humanismus an den evangelischen Klosterschulen in Württemberg, in: Reinhard (FN 10); ders., Württemberg, in: Schindling/Ziegler (FN 6), Bd. 5: Der Südwesten, 1993, S. 168-192; Volker Schäfer, Zur Beförderung der Ehre Gottes und Fortpflanzung der Studien. Bürgerliche Studienstiftungen an der Universität Tübingen zwischen 1477 und 1750, in: Maschke/Sydow (FN 5), S. 99-111; Joachim Hahn/Hans Mayer, Das Evangelische Stift i n Tübingen. Geschichte und Gegenwart - zwischen Weltgeist und Frömmigkeit, 1985. 76 Edgar Krausen, Die Herkunft der bayerischen Prälaten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27 (1964), S. 259-285; ders., Beiträge zur sozialen Schichtung der altbayerischen Prälatenklöster des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Zusammensetzung der Konvente von Metten, Raitenhaslach, Reichersberg und Windberg, in: ebd. 30 (1967), S. 355-374; Volker Press, Korbinian von Prielmair (1643-1707). Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen sozialen Aufstiegs im barocken Bayern, 1978; Arno Seifert, Weltlicher Staat und Kirchenreform. Die Seminarpolitik Bayerns im 16. Jahrhundert, 1978.
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und Ordensklerus durch die Verpflichtung zum Zölibat eine gewisse soziale Offenheit mit der Notwendigkeit, den Nachwuchs auch aus handwerklichen und bäuerlichen Schichten zu rekrutieren. Der typisch katholische Nepotismus mit einer Onkel-Neffen-Protektion spielte hier allerdings eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das Studienförderungswesen und die soziale Existenz des gelehrten Standes wiesen so deutlich konfessionell bestimmte Unterschiede auf, die übrigens über das 18. Jahrhundert und das Ende des Alten Reiches hinaus wirksam blieben. Auch auf dem Feld des studentischen Lebens läßt sich dies beobachten. An den katholischen Universitäten wurde die Disziplinierung der Studentenschaft durch geistliche und weltliche Autoritäten generell strikter durchgesetzt. Die Internatserziehung der Jesuiten und die geistliche Beeinflussung der Schüler und Studenten in den Marianischen Kongregationen, für die eine Art Mitgliedspflicht bestand, wirkten in diesem Sinne. Die Marianischen Kongregationen waren auf fromme und nicht auf ständische Verhaltensnormen festgelegt und förderten so einen gewissen sozialen Ausgleich unter den Schülern und Studenten der Jesuiten. 77 Auf der protestantischen Seite lösten sich demgegenüber Reste des mittelalterlichen Bursenwesens im 16. Jahrhundert auf. Insbesondere den adeligen und wohlhabenden bürgerlichen Studenten wurden Freiheiten in ihrer Lebensführung eingeräumt, wie das Tragen von aufwendiger Kleidung und von Waffen, Trinkgelage und Fechtübungen sowie studentische Verbindungen und Landsmannschaften. Die Folge war die berüchtigte Disziplinlosigkeit an manchen protestantischen Universitäten, der sogenannte „Pennalismus", durch den etwa die sächsisch-ernestinische Samtuniversität Jena von sich reden machte. Die Aufteilung der Verantwortung für Jena auf vier oder fünf „Erhalterstaaten" begünstigte ein lasches Verhalten der Obrigkeit. An der, gleichfalls protestantischen, reichsstädtischen Universität in Straßburg wurden andererseits solche unerwünschten Auswüchse durch die strikte Aufsicht der Scholarchen des Rats über die Universität von vornherein unterbunden. 78 In der literarischen Figur des „Cornelius relegatus", der in einer Art von „Studentenspiegeln" an den protestantischen Universitäten kursierte, wird die Spannung zwischen studentischem Leben mit Raufen und Saufen und dem Disziplinierungsanspruch der Obrigkeit satirisch dargestellt. 79 Das Verhältnis von Verfassung und Universität stellte sich in den Territorien und Städten des Heiligen Römischen Reiches in der Frühen Neuzeit 77 Duhr (FN 11), Bd. 1, 1907, S. 357-371, Bd. 2/2, 1913, S. 81-122; Louis Châtellier, L' Europe des dévots, Paris 1987. 7 8 Schindling, Humanistische Hochschule (FN 15); ders., Reichsstädtische Hochschule (FN 15). 79 Friedrich Schulze/Paul Ssymank, Das deutsche Studententum von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, 4. Aufl. 1932 (ND 1991).
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also sehr vielgestaltig dar. Es gab Grundstrukturen, die aus der mittelalterlichen Universitätstradition, der Territorialverfassung des Reiches und der Konfessionalisierung von Kirche und Unterrichtswesen seit der Reformation resultierten. Es gab jedoch im Spektrum solcher Grundmuster auch zahlreiche sehr unterschiedliche Varianten. Die Ausgestaltung der landesherrlichen Territorialgewalt oder der städtischen Obrigkeit konnte sehr differieren. Auch der Grad an konfessioneller Verpflichtung und die konkrete Konfiguration zwischen staatlichen und kirchlichen Anteilen an der Universitätsverfassung wiesen Spielräume auf. Dies galt ebenso für das Maß an Disziplinierungserfolgen der Obrigkeit. Aus der Sicht der Wissenschaftsund Universitätsgeschichte müssen deshalb Bedenken gegen allzu stromlinienförmige und generalisierende Theorien der frühmodernen Verstaatlichung oder der Sozialdisziplinierung und der Konfessionalisierung angemeldet werden. Im Fokus der Universitäten stellen sich die widerborstigen, hemmenden und abweichenden Faktoren im Prozeß der Herausbildung des frühmodernen Staates ebenso wie in den neuerdings sehr betonten Konfessionalisierungsprozessen doch als sehr bedeutsam dar. Das Thema Universität und Verfassung weist somit auch sehr nachdrücklich auf die äußeren und inneren Grenzen derartiger makrohistorischer Erklärungsparadigmen hin.80 Die Universitäten blieben in der abendländischen Geschichte seit dem Hohen Mittelalter durchaus ein Element der „langen Dauer". Sie verbanden vielfach intellektuelle Innovation und Modernisierung mit institutionellem Beharren. Dies galt gerade auch für die Universitäten der Frühen Neuzeit in den Territorien und Städten des Heiligen Römischen Reiches. Sie waren niemals so rückständig und provinziell, wie es von der sehr einseitigen preußenzentrierten Universitätsgeschichtsschreibung um 1900 behauptet worden i s t 8 1 und bis heute von uninformierten Autoren und Universitätspolitikern als eine zählebige Legende weitertradiert w i r d . 8 2 Auch unter den Vorzeichen von Territorium und Konfession, als „protestantische Familienuniversität" oder als Jesuitenhochschule, waren diese Universitäten eingebunden in die gelehrte Welt des lateinisch sprechenden und humanistisch geprägten Europa, das sich seit dem späteren 17. Jahrhundert der Aufklärung mehr oder weniger öffnete. Es besteht kein Grund, die Verfassung dieser territorialen und reichsstädtischen Universitäten als hinderlich 80 Schindling (FN 54); ders., Andersgläubige Nachbarn. Mehrkonfessionalität und Parität i n Territorien und Städten des Reichs, in: Bußmann/Schilling (FN 55), S. 465473; ders., Verspätete Konfessionalisierungen im Reich der Frühen Neuzeit. Retardierende Kräfte und religiöse Minderheiten in den deutschen Territorien 1555-1648, in: Karl Borchardt/Enno Bünz (Hrsg.), Forschungen zur Reichs-, Papst- und Landesgeschichte. FS Peter Herde, T. 2,1998, S. 845-861. 81 Wie F N 4. 82 Ein Beispiel hierfür ist Jürgen Mittelstraß, „Die Weisheit hat sich ein Haus gebaut" - die europäische Universität und der Geist der Wissenschaft, in: Patschovsky/ Rabe (FN 1), S. 205-223.
Universität und Verfassung i n der Frühen Neuzeit
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für die Erfüllung ihrer zeitgenössischen Aufgaben zu kritisieren. Die Universitäten und universitätsähnlichen Hochschulen im Alten Reich und im alten deutschen Sprachraum waren jedenfalls am Ende des Ancien Regime durchaus lebensfähig und keineswegs schlechter, eher deutlich besser als ihre Schwesteranstalten im Westen Europas.
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Neuhaus: Ich danke Ihnen sehr für den ebenso umfassenden Überblick wie akzentuierten Einblick, den sie uns gegeben haben, und ich möchte an das anschließen, was Sie ziemlich zum Schluß gesagt haben: Entsprach der Vielfalt universitärer Erscheinungsformen und ihres jeweiligen Verhältnisses zu den „Landesverfassungen" auch eine Vielfalt der inneruniversitären Verfassungsentwicklungen? Universitätsverfassung und Staatsverfassung läßt sich da ein Zusammenhang herstellen? Schindling: Zu der Frage von Herrn Neuhaus ist darauf hinzuweisen, dass die innere Vielgestaltigkeit der Universitäten in der Frühen Neuzeit nicht so sehr formenreich war, weil die Grundstruktur der vier Fakultäten durch die kaiserlichen Privilegien vorgegeben war. Die Einengung der Universitätskorporation auf die Ordinarien war ein Prozess, der in den Territorien und Städten des Heiligen Römischen Reiches schon im Mittelalter begonnen hatte. In Deutschland besaßen die Studenten keine Korporationsrechte, anders als in Italien. Die verschiedenen Universitätsämter, wie Kanzler, Rektor und Dekan, ähnelten sich von Ort zu Ort sehr. Es gab allerdings Sonderfälle wie den Tübinger Kanzler; dies war ein Sonderfall, der sich aus der ständischen Verfassungsstruktur Württembergs erklärte. Im Detail bestanden also durchaus spezifische Verfassungsunterschiede zwischen den Universitäten, die dem Formenreichtum der deutschen Territorialverfassungen entsprachen, aber es gab gemeinsame Grundstrukturen für die Organisation der Universitäten. Dasselbe galt auch für die Lehrangebote, da diese sehr stark von den Wissenschaftstraditionen des Aristotelismus und des Humanismus bestimmt wurden. Diese übergreifenden Grundmuster waren sehr prägend. Sie differenzierten sich allerdings dann im 18. Jahrhundert. Damals kam es zu den Reformgründungen der Aufklärung und zu Experimenten mit neuen Hochschulformen. Als solche neue Formen der Aufklärungs epoche sind etwa die polytechnischen Hochschulen in Kassel, Braunschweig und Stuttgart zu nennen. Insofern war am Ende des Alten Reiches das Gesamtbild der deutschen Universitätslandschaft sehr variantenreich, weil die Aufklärung nicht nur inhaltlich, sondern auch institutionell neue Ansätze brachte. Hartmann: Herr Schindling, Sie haben in Ihrem sehr eindrucksvollen Vortrag sehr stark das konfessionelle Element der Universitäten herausgestellt - d. h. katholische und evangelische oder reformierte Universitäten.
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Der große Geograph Büsching nennt für das 18. Jahrhundert auch zwei gemischt konfessionelle Universitäten, nämlich Heidelberg und Erfurt, die katholisch und evangelisch waren. Jetzt hätte mich interessiert, wie war dort die Situation - wie hat sich das auf die Verfassung ausgewirkt? Und die zweite Frage: Es gab im Heiligen Römischen Reich auch Talmud-Hochschulen, etwa die von Fürth. Da kann man in der Literatur sogar lesen, die hätten so eine Art Promotionsrecht gehabt. Können Sie mir etwas sagen über diese Talmud-Hochschulen. Wie weit sind diese vergleichbar etwa mit den kalvinistischen Hochschulen, die nicht privilegiert waren oder gab es da überhaupt keine Vergleichsmöglichkeit. Und die dritte Frage: Sie haben am Schluß herausgestellt, die sozialen Möglichkeiten seien für Unterschichten wie Handwerkersöhne in den katholischen Universitäten einfacher gewesen. Sie konnten hier aufsteigen und in die Universität kommen. Ich habe das auch feststellen können, daß viele Jesuiten, etwa Ignaz Kögler, der in Peking Hofastronom war, Handwerkerssöhne waren. Also gab es ohne Zweifel viele Aufstiegsmöglichkeiten, und es gibt da sehr viele Beispiele in dieser Beziehung. Schindling: Zur Frage von Herrn Hartmann möchte ich darauf hinweisen, daß die soziale Durchlässigkeit in den katholischen geistlichen Orden am stärksten war, schon weniger stark dagegen im Diözesanklerus. In den profanen Berufen gab es auch in den katholischen Territorien und Städten das Phänomen von juristischen und medizinischen Gelehrtenfamilien, die sich ähnlich verhalten haben wie die Gelehrtendynastien an den evangelischen Universitäten. In Würzburg ζ. B. findet sich am Ende des Alten Reiches die Mediziner-Dynastie Siebold. An den Philosophischen und Theologischen Fakultäten der katholischen Universitäten lehrten in der Regel Kleriker, und zwar vor allem Ordensgeistliche. In diesem Personenkreis gab es eine sehr starke Mobilität von unten nach oben, die auf jeden Fall mit den Verhältnissen an den protestantischen „Familienuniversitäten" kontrastierte. Für das protestantische Deutschland war eine deutliche soziale Abschließung der Gelehrten- und Pfarrerfamilien seit dem späten 16. Jahrhundert charakteristisch. Dieses Themenfeld ist jedoch für die katholischen Hochschulen wenig erforscht worden. Es gibt eine unübersehbare Schräglage in der Literatur, da die protestantischen Universitäten sehr viel besser erforscht sind als die katholischen, und das gilt insbesondere für die Sozialgeschichte des Studiums und der Bildung. Es gibt hier sozialgeschichtlich noch einen ganz immensen Forschungsbedarf. Die Tatsache, daß die protestantische Seite dieses Phänomens generell sehr viel besser bekannt ist als die katholische, hängt auch mit der Tradition der genealogischen Forschung in den Pfarrerfamilien zusammen. Es gibt ja Pfarrerbücher für eine ganze Reihe von Landeskirchen, und auf diese Pfarrerbücher konnten dann moderne sozialgeschichtliche Studien zu den Pfarrer- und Gelehrtenfamilien aufbauen. Auf der katholischen Seite fehlt es völlig an solchen genealogi6 Der Staat, Beiheft 15
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sehen Untersuchungen. Während in Frankreich die Klerusrekrutierung in der Frühen Neuzeit ein etabliertes Forschungsthema auch der Profanhistoriker ist, fehlt es für die deutschen Territorien und Städte weitestgehend an einschlägigen Arbeiten. Hier wäre zur Sozialgeschichte der Universitäten und der Bildungsschichten noch viel zu tun. Dann zu den beiden Sonderfällen Erfurt und Heidelberg: I n Erfurt wurde die Universität nach der Reformation faktisch auf den Status quo festgeschrieben. Schon bevor der Westfälische Frieden das allgemeine Normaljahr brachte, wurde in Erfurt ein Normaljahr praktiziert. Die Kirchen wurden zwischen Katholiken und Protestanten in der Stadt aufgeteilt und darüber hinaus auch die Universitätsprofessuren konfessionell fixiert. Ein Teil der Professuren in Erfurt wurde mit Katholiken besetzt, ein anderer Teil mit Protestanten. Dieses Normaljahr-System, das mit dem Westfälischen Frieden und dem allgemeinen Normaljahr noch einmal verstärkt wurde, hat in Erfurt an der Universität bis zum Ende des Alten Reiches Bestand gehabt. Aber die Universität Erfurt spielte ja nach der Reformation keine sonderlich große Rolle mehr. Sie hatte auch wenig Zulauf von Studenten. In Heidelberg sah die Situation anders aus, weil dort die Zweikonfessionalität eine Folge von Gegenreformations-Versuchen war. Schon im Dreißigjährigen Krieg hatte die bayerische Verwaltung in der Pfalz versucht, die Jesuiten in Heidelberg einzuführen. Unter der Regierung der katholischen Kurfürsten aus dem Haus Pfalz-Neuburg kamen die Jesuiten zurück, und es kam zu einer teilweisen Übertragung der Theologischen Fakultät an den Jesuitenorden. Dies gehört in die Kurpfälzer Konfessionskämpfe am Beginn des 18. Jahrhunderts, die bekanntlich eine schwere Krise im Reich auslösten. Aber auch in der Kurpfalz führte dies ja dann zu Normaljahrs-Regelungen mit Kirchenteilungen. An der Universität Heidelberg ergab sich eine Normaljahrs-Regelung in der Weise, dass an der Theologischen Fakultät nebeneinander jesuitische und calvinistische Professoren lehrten. Durch die Juridifizierung der Konfessionsverhältnisse im Alten Reich hat auch diese ziemlich kuriose Mischung irgendwie funktioniert. Auch das ist einer der vielen Sonderfälle, von denen Herr Neuhaus vorhin gesprochen hat. Das Alte Reich bestand letztlich aus lauter Sonderfällen, aber es muss natürlich versucht werden, gewisse Grundmuster und Typen herauszuarbeiten. Stollberg-Rilinger: Ich habe eine Frage zur Einbettung der Universitäten in die sozial-ständische Verfassung. Sie haben ja darauf hingewiesen, daß es quasi dynastische Entwicklungen an den protestantischen Universitäten, etwa die ständische Verfestigung der Professorenfamilien, gab. Aber ich denke, es gibt noch ein anderes Indiz für die Assimilation der Universitäten an die ständische Gesellschaft, ich meine das auf den ersten Blick rätselhafte Phänomen des „Adel des Doctor". Das bedeutet ja eigentlich nie, daß der Adel die Doktoren wirklich als seinesgleichen akzeptiert hätte, und im Laufe des 17. Jahrhunderts hat man sich darüber mehr oder weniger lustig
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gemacht. Aber vielleicht kann man dieses Phänomen so interpretieren, daß man die Promotion im Grunde genommen als Analogie zu anderen Standeserhebungsrechten des Kaisers auffaßte, daß es insofern gewissermaßen eine Quasi-Nobilitierung darstellte (sie war ja auch mit Korporationsaufnahme, Rechten und Pflichten etc. verbunden). Das heißt, daß man mit der Fiktion „Adel des Doctor" eigentlich versuchte, den Status des Gelehrten zu „übersetzen" in die Kategorien der ständischen Umwelt. Könnte man das so interpretieren? Schindling: Zu Frau Stollberg-Rilinger möchte ich anmerken, daß ich das angesprochene Problem von der anderen Seite her angehen würde. Die Frage ist die, ob adelige Studenten promovieren oder nicht. Die Gleichung, dass der Adel mit der Doktorpromotion gleichwertig sei, hat ja insofern funktioniert, als von einem gewissen Zeitpunkt an die jungen Adeligen in der Regel nicht mehr promoviert haben. Im 15. und früheren 16. Jahrhundert gab es Beispiele für promovierte junge Adelige, da gab es diese Barrieren noch nicht. Solche adeligen Doktoren fanden sich auch in den Laienstudien, nicht nur in den geistlichen Studien, die eine kirchliche Karriere eröffnen konnten. Das hörte dann in der Mitte des 16. Jahrhunderts auf. Je mehr Adelige studierten, umso weniger promovierten sie. Bei den adeligen Studenten, vor allem bei den Jura-Studenten, setzte sich die Auffassung durch: Wir studieren zwar, um die gelehrten Fertigkeiten zu erlernen, aber wir haben es nicht nötig, zu promovieren, weil wir ja mit dem Adelsnachweis bereits die ständische Qualität haben, die die bürgerlichen Studenten sich erst durch eine Doktorpromotion erwerben müssen. Das Ganze hat insofern funktioniert, als bei der Anstellung in Fürstendiensten offenkundig bei Adeligen auf die Promotion kein Wert gelegt wurde. Bei einem Bürgerlichen dagegen war die Promotion meistens die Einstellungs-Voraussetzung für einen gelehrten Rat im fürstlichen Dienst, während bei einem Adeligen der Nachweis genügte, daß er sich einige Zeit zum Studium an Universitäten aufgehalten hatte. Wir können hier die Statuskonkurrenz zwischen Adeligen und Bürgerlichen in den Fürstendiensten beobachten. Die Adeligen bekamen ihre Dienstanstellungen, ohne die kostspielige und aufwendige Prozedur einer Promotion hinter sich gebracht zu haben, während es für die bürgerlichen Studenten wichtig war zu promovieren. Die Promotion war ja auch eine finanzielle Hürde. Insofern wurden die Karrierechancen der bürgerlichen Konkurrenten zu Gunsten des Adels eingeengt. Diese Phänomene gehören in den Zusammenhang der so genannten Rearistokratisierung oder Refeudalisierung seit dem späten 16. Jahrhundert. Die Umsetzung der Maxime „Adel ist gleich Doktor" würde ein Beleg sein, dass eine solche Rearistokratisierung tatsächlich stattfand, weil die Adeligen sich auf dem Berufsmarkt durchsetzten, ohne promoviert sein zu müssen. Freilich ist dies problematisch. Derartige Vorgänge müßten mit Blick auf die Sozialgeschichte der Bildung noch intensiver erforscht wer6'
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den. Manchmal wird für mein Empfinden allzu pauschal von einer Rearistokratisierung während der Frühen Neuzeit gesprochen. Schmidt: Zum ersten: Auf der normativen Ebene gibt es ja die Gleichstellung von Doktoren und Adligen - ich denke da an die Kleiderordnungen des frühen 16. Jahrhunderts. Vielleicht haben die Adligen in der zweiten Jahrhunderthälfte deswegen aufgehört zu promovieren. Zum andern und damit zu meiner eigentlichen Frage: Es gibt in der Frühen Neuzeit Universitätsgründungen, die nicht als Landesuniversitäten gedacht waren, sondern deutlich über das eigene Land hinaus wirken sollten. Ich denke an Jena, das nach dem Schmalkaldischen Krieg das wahre Wittenberg sein und zugleich den kurfürstlichen Anspruch der Ernestiner repräsentieren sollte. Jena war nie eine Landesuniversität im engeren Sinne, was einerseits die ansonsten anzutreffenden familiären Verkrustungen verhindert hat, ihr andererseits aber den Ruf einer Sauf- und Raufuniversität einbrachte. Hing das zusammen? Durfte es eine Universität, die über die Landesgrenzen hinaus wirken wollte und Studenten von außen brauchte, mit der Disziplinierung nicht übertreiben? Schindling: Der Hinweis von Herrn Schmidt auf die Kleiderordnungen ist eine ganz wichtige Ergänzung. Andererseits müssen die sozialen Grenzen zwischen dem Adel und dem bürgerlichen Gelehrtenstand natürlich scharf gezogen werden. Heiraten zwischen Adeligen und Bürgerlichen waren so gut wie ausgeschlossen. Eine adelige Familie und eine bürgerliche Gelehrtenfamilie waren nicht durch Connubium verbunden, es sei denn, dass die bürgerliche Gelehrtenfamilie nobilitiert wurde. Dann war vielleicht nach zwei oder drei Generationen ein Connubium mit dem landsässigen Adel vorstellbar. Im übrigen waren die Heiratskreise, die für das Familienbewusstsein von entscheidender Wichtigkeit blieben, streng getrennt. Was die Heiratskreise angeht, war eben Doktor nicht gleich Adel. Zur zweiten Frage von Herrn Schmidt, was das Wirken über das jeweilige Trägerland einer Universität hinaus angeht, so möchte ich diesen wichtigen Aspekt betonen, da ich ihn in meinem Vortrag vielleicht etwas zu verkürzt dargestellt habe. Hier ist das Stichwort Konfession wichtig, denn die meisten dieser deutschen Landesuniversitäten waren eben auch Konfessionsuniversitäten. Als Konfessionsuniversitäten wirkten sie über das jeweilige Land hinaus, ja sie sollten über das Land hinaus wirksam sein. Viele dieser Universitäten nahmen ja von vornherein Ausbildungsfunktionen für den geistlichen Stand von Nachbarterritorien wahr. In Tübingen etwa wurden evangelische Prediger auch für eine ganze Reihe von anderen evangelischen Territorien und Städten in Südwestdeutschland ausgebildet. Jena hatte sogar ganz weiträumige Querverbindungen nach Ostmitteleuropa. Wenn etwa angehende lutherische Theologen aus Ungarn und Siebenbürgen zum Studium ins Reich kamen, war oft Jena ihre Zieluniversität. Jena und dann
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später auch Halle an der Saale hatten eine ganz starke Bedeutung für den Protestantismus in Ostmitteleuropa, und zwar vom Baltikum bis Siebenbürgen. Gerade im Fall Jena war diese überregionale Klientel von vornherein gewollt. Konfessionalität und Interregionalität hingen eng miteinander zusammen. Der konfessionalisierte Landesstaat war ja niemals eine Monade, die nur auf sich bezogen gewesen wäre. Es ist ein Missverständnis, wenn die konfessionalisierten Territorien so behandelt werden. Das konfessionalisierte Territorium hatte immer auch den Anspruch auf Außenwirkung. Es gab da missionarische Elemente, ζ. B. die wahre Lehre des Luthertums von Jena aus möglichst weit nach außen zu tragen, und das konnte erreicht werden, indem Studenten, also künftige Prediger und Theologen, dort ausgebildet wurden. In der aktuellen Forschung über das so genannte Konfessionalisierungsparadigma finden solche Aspekte, die über den einzelnen Konfessionsstaat hinausweisen, manchmal zu wenig Beachtung. Eine andere Frage ist die berüchtigte Disziplinlosigkeit in Jena. Diese hing sicher auch mit der Notwendigkeit der ernestinischen Trägerterritorien zusammen, Studenten von auswärts nach Jena zu ziehen. Die studentische Disziplinlosigkeit war im übrigen ein protestantisches Phänomen, vor allem an den lutherischen Universitäten. An den katholischen Universitäten, an denen die Jesuiten unterrichteten, etwa im bayerischen Ingolstadt, gab es natürlich auch eine überregionale Studentenklientel. Aber bei den Jesuiten funktionierte die studentische Disziplinierung sehr viel besser. Landau: Ich habe noch einmal drei Fragen. Die eine knüpft daran an, daß kaiserliche Privilegien erteilt wurden für die Universitäten. Warum gibt es keine päpstlichen Privilegien mehr, auch nicht mehr im katholischen Bereich. Man wundert sich etwa bei den jesuitischen Gründungen oder etwa Würzburg. Julius Echter von Mespelbrunn hat offenbar an den Papst gar nicht gedacht. Denn vor 1500 stand das natürlich ganz im Vordergrund. Die zweite Frage: Wie erklärt sich eigentlich die doch sehr unterschiedliche Frequenz der Universität in der Frühen Neuzeit. Es ist doch ein enormer Unterschied zwischen der Zahl und Studenten in Halle und Jena oder Göttingen und etwa im 18. Jahrhundert Duisburg oder Altdorf. Zieht sich das durch die ganze Frühe Neuzeit oder ist das erst ein spätes Phänomen kurz vor dem Universitätssterben und hängt das mit der Auswirkung zusammen, die Sie eben bei Jena beschrieben haben. Und die dritte Frage würde dahin gehen, welche Rolle spielt eigentlich im 18. Jahrhundert der Pietismus bei der Struktur der Universitäten. Ich habe so den Eindruck, daß doch ein gewaltiger Unterschied besteht, etwa zwischen Halle und Jena. In Halle eine Dominanz des pietistischen Elements in der ganzen Stadt und in Jena diese Ungebundenheit der Studenten und die zum Teil ja doch sehr individualistischen Professoren, zumindest dann in der Spätphase. Damit hängt dann auch etwas anderes zusammen - ist nicht Göttingen auch ein Sonderfall? Mir ist aufgefallen, daß es in Göttingen offenbar auch eine ganze Reihe
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katholischer Studenten aus dem Adel gibt. Ich habe es bei den T h u m und Taxis gesehen. Sie gehen wohl nach Göttingen, weil das diesen aristokratischen Charakter hat, fast eine englische Universität, die in Deutschland ist und internationales Flair hat. Ist Göttingen von der Studentenfrequenz her gewissermaßen schon gemischt gegenüber den konfessionellen Universitäten, die wir ja sonst noch im wesentlichen im 18. Jahrhundert haben. Schindling: Zur Nachfrage von Herrn Landau möchte ich darauf hinweisen, dass für die katholischen Hochschulen im Reich bis ins 18. Jahrhundert hinein päpstliche Privilegien eingeholt wurden, deren Bedeutung allerdings abnahm. Es ist ganz klar, dass auch für die katholischen Universitätsgründungen im 16., 17. und 18. Jahrhundert das kaiserliche Privileg politisch entscheidend war. Es gab da eine ganz eindeutige Verschiebung zu Gunsten des Kaisers, auch bei den katholischen Ständen. Dies fing um 1500 an. Es ist dies ein sehr interessantes Beispiel dafür, wie ein Prärogativrecht des Kaisers erst in der Neuzeit voll zur Geltung kam und gar nicht so spezifisch mittelalterlich war, wie es scheinen könnte. Borck: Herr Schindling, ich habe einige Nachfragen zum allgemeinen verfassungsrechtlichen Rahmen der Universitätsgeschichte. Frage 1: Die Errichtung einer Universität in einem Territorium bedeutet ja auch eine erhebliche und zwar dauernde finanzielle Belastung. Für die Bewilligung der Mittel sind im dualistischen Ständestaat normalerweise die Landstände zuständig. In welcher Form sind die Landstände an der Errichtung der Universitäten, in welcher Form sind sie an ihrer Finanzierung beteiligt gewesen, und ist es Ihnen bekannt, ob hierüber auf den Landtagen Auseinandersetzungen stattfanden? Die Landstände waren ja auch in anderer Weise von den Folgen einer Universitätserrichtung betroffen: ich nenne im außerfinanziellen Raum das Stichwort „Exemtion", also die Schaffung von Sonderrechtsbereichen, wie sie bei geistlichen Institutionen sowohl in Territorien im Großen als auch in den Städten im Kleinen so viel Streit ausgelöst haben. Frage 2: Ich wiederhole die Frage für die Reichsebene. War die Universitätseinrichtung eine Prärogative des Kaisers, wie Moser und auch Pütter im 18. Jahrhundert es behaupten, und wenn ja, war sie unbestritten oder gab es Diskussionen? Sollte es Diskussionen gegeben haben: hat angesichts des Gewichtes der Konfessionsfrage dann die Auseinandersetzung auch separaten Eingang in die beiden Corpora des Reichstages - das Corpus Evangelicorum und das Corpus Catholicorum - gefunden? Zum Schluß noch Frage 3: Eine ganz kleine, etwas kurios erscheinende Frage. Die Organe des Reiches und insbesondere das Reichskammergericht waren ja im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert vom Kalenderstreit um die gregorianische Kalenderreform in teils erheblichem Maße betroffen, bis
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sich das Corpus Evangelicorum dann 1700 zur Einführung des sog. „Neu verbesserten julianischen Kalenders" entschloß, der weitgehend mit dem gregorianischen Kalender übereinstimmte, wenn man von der abweichenden Berechnung des Osterfestes absieht. Gibt es Auseinandersetzungen um den Kalender und damit die christlichen Feste auch i n den gemischten Universitäten Erfurt und Heidelberg? Schindling: Die Nachfrage von Herrn Borck zur Rolle der Reichsstände muss ich so beantworten, dass ich nie irgendwelche Hinweise auf eine K r i tik der Reichsstände an dem kaiserlichen Privilegierungsrecht gefunden habe. Die Reichsstände haben das Prärogativrecht des Kaisers, Universitätsprivilegien zu erteilen, mitgetragen und akzeptiert. Es waren ja die geistlichen und weltlichen Kurfürsten und Fürsten sowie die Reichsstädte, die immer wieder um Universitätsprivilegien bei dem Reichsoberhaupt nachsuchten. Die mächtigsten Reichsstände und auch Reichsstädte haben Universitätsprivilegien eingeholt, und damit haben sie ja auch immer wieder das Prärogativrecht des Kaisers anerkannt. Lediglich in der Schweiz und in den Niederlanden, die sich ja ohnehin politisch vom Heiligen Römischen Reich trennten, wurde bei Hochschulgründungen nicht mehr nach dem Kaiser und seinem Recht auf Privilegienerteilung gefragt. Die Frequenzunterschiede zwischen den Universitäten sind ein sehr interessantes Phänomen - womit ich noch kurz die zweite Frage von Herrn Landau aufgreife. Wir wissen nur sehr wenig über die Ursachen der Frequenzschwankungen, da für die Universitäten der Frühen Neuzeit zwar Matrikeleditionen vorliegen, aber nur wenige Matrikeluntersuchungen durchgeführt wurden. Zwei Doktoranden von mir, Matthias Asche und Uwe Alschner, haben in ihren Dissertationen die Matrikeln von Rostock und Helmstedt für die drei Jahrhunderte der Frühen Neuzeit untersucht. Es zeigt sich hier, daß sehr vielfältige und unterschiedliche Gründe für die Frequenzschwankungen verantwortlich waren. Daneben gibt es nur noch eine Studie von Herrn Schwinges über die Universität Gießen. Für die Forschung bleibt also noch sehr viel zu tun, bevor wir fundierte Aussagen für alle Universitäten des Alten Reiches hinsichtlich der Besucherfrequenzen und der Studentenmigration treffen können. Auffallend sind im 18. Jahrhundert die Frequenzerfolge von Halle an der Saale und Göttingen. Diese beiden Universitäten sind ja nicht nur in geistesgeschichtlicher Hinsicht herausragende Modelle für die Wissenschaft der Aufklärung geworden, sondern haben auch einen ganz enormen Zulauf von Studenten gehabt. Dabei spielten mehrere Faktoren eine Rolle. Auf den Pietismus wurde ja bereits hingewiesen. Der andere Faktor war das juristische Studium in Halle und dann in Göttingen, wobei ebenfalls die Konfession wichtig blieb, weil in Halle und Göttingen die strenge Konfessionalisierung der vorangegangenen Epoche zurückgenommen wurde. In Halle bildete der Pietismus ein Element des Ausgleichs zwischen Lutheranern und Calvinisten, so war es ja
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auch von dem Kurfürsten geplant. Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg wollte die neue Universität in Halle als eine lutherische Universität gründen, die gerade nicht in einem solchen Maße der lutherischen Orthodoxie verpflichtet war wie die benachbarten kursächsischen Universitäten in Leipzig und Wittenberg. Dafür bediente er sich der Pietisten, und das hat voll funktioniert. Von Halle aus kam eine ausgleichende Tendenz in die brandenburgisch-preußische Kirche, in welcher der Konfessionsunterschied zwischen Calvinisten und Lutheranern zunehmend relativiert wurde, was der Hohenzollern-Dynastie, die ja selbst calvinistisch war, sehr am Herzen lag. In Göttingen studierten zahlreiche Katholiken. Gerlach Adolf von Münchhausen strebte das auch an. Anders als in Halle wurde von der Universität Göttingen gezielt um katholische Studenten geworben. Es gab in Göttingen eine öffentlich zugängliche katholische Kirche mit regelmäßigem Gottesdienst. Aus einer ganzen Reihe von adeligen katholischen Familien kamen dann auch Studenten nach Göttingen. Die Georgia Augusta wurde im 18. Jahrhundert zu einer wichtigen Adresse für den katholischen Adel. Göttingen galt im übrigen als eine sehr disziplinierte Universität. Das wäre ein Gegenbeispiel zu Jena, wohin ja auch von weither Studenten kamen. An der kurhannoverschen Universität war die Adelserziehung so wichtig, daß die Studenten sich entsprechend gut benommen haben. Zu Herrn Borck w i l l ich noch anmerken, daß es gelegentlich Auseinandersetzungen zwischen den Landesfürsten und den Landständen um die Finanzierung der Universitäten gab. Dies hing freilich von der ständischen Verfassungsstruktur des Territoriums ab. Ständestaaten wie die Herzogtümer Württemberg und Mecklenburg kannten dieses Thema. In der Regel wurden die Universitäten von den Landesfürsten finanziert, ohne daß die Landstände sich daran beteiligten. Die evangelischen Landesfürsten verwendeten meistens umgewidmetes Kloster- und Kirchengut, um nach der Reformation neu gegründete oder bereits seit längerem bestehende Universitäten zu dotieren. Dafür gab Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen mit seiner Universitätsgründung in Marburg ein Modell, das häufig nachgeahmt wurde. Bei der reformatorischen Umwidmung von Klosterund Kirchengut war meistens eine Verständigung des Fürsten mit den Landständen notwendig. Aber weitere Kämpfe um die Nutzung des ehemaligen Kloster- und Kirchengutes hat es nur noch in Ausnahmefällen gegeben. Auch in den katholischen Territorien wurde öfters umgewidmetes Klostergut zur Dotation von Universitäten verwendet. Dafür mußten die Landesfürsten allerdings die Zustimmung des Papstes einholen. Lingelbach: Herr Schindling, Sie hatten hier mehrfach in Zusammenhang mit der Gesamtuniversität den Status erwähnt. Eine Frage: Läßt sich aus vergleichenden Betrachtungen die These bekräftigen oder - was meine Auffassung ist - vielleicht doch eher relativieren, daß eine solche Gesamtuniversität möglicherweise zu mehr geistiger Freiheit beigetragen hat? Für
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Jena wird dies immer wieder behauptet, insbesondere für die klassische Zeit, also die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Kann man von den ja nicht immer so bedeutenden anderen Universitäten mit dem Status Gesamtuniversität oder auch aus anderen Konpatronaten Parallelen oder überhaupt in diesem Zusammenhang diesbezügliche Fragen oder Thesen herleiten? Danke. Riedl: Im späten 18. und insbesondere im frühen 19. Jahrhundert erlebte im Bereich der Universitäten sowie i n deren Umfeld ein relativ'neuer Veranstaltungstypus eine bemerkenswerte Blüte: öffentliche Vorlesungszyklen. Diese richteten sich an eine breiteres, adeliges und bürgerliches Publikum beiderlei Geschlechts, so daß sie auch im Kontext der Emanzipationsgeschichte eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Veranstaltungen dieser Art wurden in Zeitungen angekündigt, auch Eintrittsgeld wurde erhoben. Nicht wenige prominente Gelehrte der Zeit boten öffentliche Vortragszyklen an ich darf nur an Friedrich und August Wilhelm Schlegel, an Adam Müller und Gottlieb Fichte erinnern. Fichte war besonders umtriebig und hielt gleich an drei Universitäten - Jena, Erlangen und Berlin - öffentliche Vorlesungen. In Jena, und damit streife ich das von Ihnen angesprochene Thema der Disziplin, wollte er in seinem zweiten Semester seine Publikumsvorlesungen von Freitagabend auf den Sonntagmorgen verlegen. Dagegen protestierte die Jenenser Kirchenbehörde mit dem Argument, am Sonntag dürfe eine philosophische Vorlesung nicht in Konkurrenz zur Sonntagspredigt treten. Das ist gewiß nur ein Einzel- und damit ein Ausnahmefall; insgesamt betrachtet sind aber diese akademischen Versuche, eine Öffentlichkeit zu finden, ja, diese überhaupt erst einmal herzustellen, von prinzipieller Bedeutung, nicht nur für die Bildungs- und Universitätsgeschichte, sondern auch im Rahmen des „Strukturwandels der Öffentlichkeit". Hat dieses Phänomen der öffentlichen Vortragszyklen zu einer erwähnenswerten Diskussion im Rahmen der UniversitätsVerfassung im frühen 19. Jahrhundert dazu geführt? Schindling: Zur Bemerkung von Herrn Lingelbach möchte ich darauf hinweisen, daß die Gleichung „Samtuniversität ist gleich geistige Freiheit" nicht aufgeht. Die sächsisch-ernestinische Samtuniversität Jena in der kurzen Phase um 1800 war ein Sonderfall. Dies hing mit der Weimarer Klassik und mit Goethe als Wissenschaftsminister in Weimar zusammen. Zur Erforschung dieses „Ereignisses Weimar - Jena um 1800" gibt es ja jetzt an der Universität Jena einen eigenen Sonderforschungsbereich. Für die anderen Samtuniversitäten, für welche mehrere Territorien verantwortlich waren, gab es keine solchen Phänomene einer geistigen Blüte. In den Zusammenhang der Jenaer Klassik um 1800 möchte ich auch die Phänomene einordnen, auf die Herr Riedl hingewiesen hat. Die neuen Veranstaltungstypen, welche sich an Menschen außerhalb der Universität rieh-
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teten, führten bereits in eine neue Zeit der aufgeklärten, bürgerlichen Volksbildung. Solche Salonvorlesungen sind an den typischen Landeshochschulen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts nicht denkbar. Sie müssen ja im Auge behalten, daß bis weit in das 18. Jahrhundert hinein die Unterrichtssprache an diesen Universitäten Latein war. Schon allein deshalb war es gar nicht vorstellbar, dass für interessierte Laien oder für Frauen Universitätsvorlesungen gehalten worden wären. Deutsch als Unterrichtssprache hat sich ja erst ganz allmählich, ausgehend von Halle und Göttingen, im 18. Jahrhundert durchgesetzt. Brauneder: Erste Bemerkung zu den Doctores Iuris. In allen Kleiderordnungen sind sie nicht gleichgestellt, das schwankt, auch innerhalb eines Territoriums: Einmal den Adeligen und einmal den Patriziern gleichgestellt. Zweite Erinnerung zum Reichskammergericht: Qualifikation der Beisitzer entweder Doctores Iuris oder Adelige plus Rechtskenntnisse genau wie vom Vortragenden in anderem Zusammenhang betont. Was schließlich die Landstände betrifft, würde ich meinen, wenn der Landesfürst die Universität aus seinem Kammergut bezahlt, dann braucht er die Landstände bei der Gründung nicht mit dabei.
Staatsverfassung u n d B i l d u n g s v e r f a s s u n g Von Wolfgang Neugebauer, Würzburg
Wer über Staatsverfassung und Bildungsverfassung in der Frühen Neuzeit sprechen möchte, der wählt bewußt einen Ausschnitt aus einem weiten Thema. Zunächst hat er in aller gebotenen Kürze über den verwendeten Verfassungsbegriff 1 Rechenschaft zu geben, der diesen Ausschnitt mit bestimmt. Bereits die Problemstellung legt einen weiteren Begriff von Verfassung nahe, einer, der über die staatliche Organisationsstruktur, d. h. diejenige von Regierung und Verwaltung, wesentlich hinausgeht, ohne diese allerdings zu ignorieren. Man könnte also von politisch-herrschaftlicher Ordnung eines menschlichen Verbandes sprechen, ein Zugang, der unverkennbar vieles Otto Brunner und Otto Hintze verdankt. In diesem Sinne soll das (früh-)neuzeitliche Bildungswesen in seiner Struktur zur Verfassung des Staates in Beziehung gesetzt werden, jeweils mit einem wesentlichen Interesse an der herrschaftlichen Komponente des Problems. Von Bildungsverfassung in einem umfassenden Sinne ist die Rede, d. h. nicht allein von organisierten Formen der Bildung, also insbesondere Schule und Universität. Denn es ist eine Rückprojektion sehr moderner Verhältnisse, wenn man meint, mit den organisierten, gar anstaltlichen Formen von Bildung das Thema schon zu erschöpfen. Ja, es könnte die These formuliert werden, daß erst am oder gar nach dem Ende der Frühen Neuzeit diese verfestigten Formen von Bildung dominieren und der Staat darauf den Zugriff erstrebt als ein wesentliches Attribut des starken Staates seit dem 19. Jahrhundert. In der Frühen Neuzeit wird die Bildungsverfassung ganz wesentlich von Vermittlungsformen schwächeren Organisationsgrades charakterisiert, Formen, die sich der obrigkeitlichen Kontrolle ganz wesentlich entzogen, was als ein Charakteristikum des frühmodernen „Staates" überhaupt angesehen werden kann. Erst in jüngerer Zeit wurde auch dieser 1 Vgl. Hans Boldt, Einführung in die Verfassungsgeschichte. Zwei Abhandlungen zu ihrer Methodik und Geschichte, Düsseldorf 1984, S. 17-26, bes. S. 22 f. , S. 131135, S. 152-157, jeweils mit Diskussion der verschiedenen Schulen; aus der umfangreichen Lit. vgl. nur noch Heinrich Otto Meisner, Verfassung, Verwaltung, Regierung in neuerer Zeit (= Sitzungsberichte der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Philosophie, Geschichte, Staats- und Wirtschaftswissenschaften, Jg. 1962, Nr. 1), Berlin 1962, S. 3 ff.
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Bereich zum Bestandteil staatlicher Daseins Vorsorge und Leistungs Verwaltung. Es ist zu fragen: Welche Felder des Bildungswesens hat der frühneuzeitliche „Staat" vorgefunden und wie hat er sie sich angeeignet; hat er sie zunächst nominell überformt oder hat er sie kontrollierend durchdrungen? Wo hat die landesherrliche Gewalt Bildungsstrukturen selbst hervorgebracht, und was besagt das für das jeweilige Stadium der Staatsbildung? Insofern haben wir es bei dieser Materie in einem weiteren Sinne auch mit einem Beitrag zur langen Entstehungsgeschichte des Kulturstaats modernerer Zeiten zu tun 2 . Diesen Fragen soll primär an mitteleuropäischen Beispielen nachgegangen werden, und zwar zunächst für die Zeit des Konfessionalismus und sodann für diejenige absolutistischer Regierungsformen. Dieser Raum ist deshalb besonders geeignet, weil sowohl Fälle großflächiger Staatsbildung neben solchen kleinzellig-intensiver Staatsbildung in die Betrachtung einbezogen werden, und dies auch im interkonfessionellen Vergleich. Diese Resultate, die letztlich die Entwicklung des Bildungswesens im Prozeß der Staatsbildung betreffen, müssen freilich Bildungsformen unterschiedlichen Niveaus berücksichtigen, also diejenigen Bereiche, die zunehmend größere Teile der Bevölkerung in Land und Stadt betrafen, ganz wesentlich einbeziehen. Anschließend soll wenigstens in groben Strichen die Einbettung in weitere europäische Bezüge angedeutet werden mit einem Ausblick in das 19. und 20. Jahrhundert. Aus solchen weiteren, europäischen Perspektiven kann vielleicht auch schon ein Grundmuster struktureller Prozesse des Bildungswesens abgeleitet werden. Die Entstehung der europäischen Universität mit ihren beiden prominenten Typen Paris und Bologna ist ja dadurch gekennzeichnet, daß zunächst einmal dem kulturellen und sozialen Bedürfnis nach Wissen 2 Klassisch Ernst Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger (= Königsberger Rechtswissenschaftliche Forschungen, 2), Stuttgart/Berlin 1938, S. 2 - 8 , S. 12 ff.; ders., Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Bd., München/Berlin 1950, S. 31 f., S. 264, S. 300, S. 302 (Schulen); ders., Rechtsfragen der leistenden Verwaltung (= res publica, 1), Stuttgart 1959, S. 9, S. 42; Ernst Rudolf Huber, Vorsorge für das Dasein. Ein Grundbegriff der Staatslehre Hegels und Lorenz von Steins, in: Festschrift für Ernst Forsthoff, München 1972, S. 139-173, (erweitert) wieder in: Ders., Bewahrung und Wandlung. Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Berl i n 1975, S. 319-342, hier S. 320 f.; siehe zum Kulturstaatsbegriff Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1,(1. Aufl.) Freiburg i. Br. 1929, S. 296f. (Fichte); und neuerdings Rüdiger vom Bruch, Kulturstaat - Sinndeutung von oben?, in: ders./Friedrich Wilhelm Graf/Gangolf Hübinger (Hrsg.), Kultur und Kulturwissenschaft um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Wiesbaden 1989, S. 63-101, zu Schmoller S. 63 ff., S. 68-71, frühes 19. Jahrhundert und spätere Rezeption: S. 76 ff.; Ernst Rudolf Huber, Kulturverfassung, Kulturkrise, Kulturkonflikt, in: Ders., Bewahrung, S. 343-374, hier S. 356; zur Anwendung dieser Kategorien auf die neuzeitliche Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte vgl. Wolf gang Neugebauer, Das Bildungswesen in Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 2, hrsg. von Otto Büsch, Berlin/New York 1992, S. 605-798, hier S. 680 f.
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genügt w e r d e n mußte. Dies geschah - w i e oft geschildert w o r d e n ist - z u nächst i n Form spontaner Zusammenschlüsse. Diese E i n u n g e n standen i n Paris i n weiteren T r a d i t i o n e n gelehrter T ä t i g k e i t an K l o s t e r - u n d K a t h e dralschulen, i m Falle Bolognas derjenigen der r ö m i s c h - r e c h t l i c h e n „legisd o c t o r e s " 3 , jeweils an der Wende v o m 12. z u m 13. Jahrhundert. D i e Ü b e r f o r m u n g der K o r p o r a t i o n e n d u r c h K ö n i g t u m oder - i n O b e r i t a l i e n - die S t a d t setzt d a n n erst m i t erheblicher zeitlicher Verzögerung e i n 4 . B e i später e n U n i v e r s i t ä t s g r ü n d u n g e n w a r m a n sich dieser europäischen T r a d i t i o n e n sehr w o h l bewußt, w i e ein B l i c k i n das päpstliche P r i v i l e g f ü r W ü r z b u r g aus d e m Jahre 1576 z e i g t 5 . D i e G r ü n d u n g der U n i v e r s i t ä t Neapel d u r c h K a i s e r F r i e d r i c h II. i m Jahre 1224 brachte den b e r ü h m t e n F a l l v o m Typ der „ S t a a t s u n i v e r s i t ä t " ( K a n t o r o w i c z ) hervor, übrigens u n t e r starker B e t o n u n g der J u r i s p r u d e n z 6 . D i e s p ä t m i t t e l a l t e r l i c h e n u n d f r ü h n e u z e i t l i c h e n U n i v e r sitäten i m H e i l i g e n Römischen Reich standen d a n n ganz ohne Z w e i f e l u n t e r dem Vorzeichen der j e w e i l i g e n S t i f t u n g s - K o n s t e l l a t i o n , w o b e i der landesherrliche G r ü n d e r „ z u r bestimmenden K r a f t " w u r d e , was k o r p o r a t i v e
3 Otto von Gierke, Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft (= Das deutsche Genossenschaftsrecht, 1), Berlin 1868, S. 437 f.; jetzt verschiedene Beiträge in: Walter Rüegg (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1: Mittelalter, München (1993), ζ. B. ders., Themen, Probleme, Erkenntnisse, S. 23-48, bes. S. 25 ff., sowie Jacques Verger, Grundlagen, S. 49-80, etwa S. 58 ff., sodann Paolo Nardi, Die Hochschulträger, S. 83-108, bes. S. 88 ff., Verhältnis zu den weltlichen Mächten im 13. Jahrhundert: S. 96 ff., schließlich noch der Beitrag von Peter Moraw, Der Lebensweg der Studenten, S. 225-254, hier S. 227 ff.; Gordon Leff, Paris and Oxford Universities in the Thirteenth and Fourteenth Centuries. A n Institutional and Intellectual History, (2. Aufl.) New York 1975, S. 20 ff.; A(lan) B. Cobban, The Medieval Universities: their Development and Organisation, (London 1975), S. 56 f., S. 81, S. 170; Herbert Grundmann, Vom Ursprung der Universität im Mittelalter, 2., mit einem Nachtrag versehene Aufl., Darmstadt 1976, S. 31 ff., S. 47; Heinrich Denifle, Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400, Berlin 1885, Neudruck Graz 1956, S. 140 f.; vgl. aus der rechts- und verfassungsgeschichtlichen Lit. noch Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Nachdruck der 2. neubearb. Aufl., Göttingen 1996, S. 53; Rolf Sprandel, Verfassung und Gesellschaft im Mittelalter, 4. Aufl. (= UTB Bd. 461), Paderborn/München/Wien/Zürich 1991, S. 245. 4 Zu allen Einzelheiten Cobban, Universities (FN 3), S. 66 f. (Bologna), Paris: S. 94 ff.; Leff, Paris (FN 3), S. 47-50; Jacques Verger, Les universités au Moyen Age, o. O. 1973, S. 168. 5 Franz X(aver) von Wegele, Geschichte der Universität Wirzburg. Im Auftrage des K. Akademischen Senates verfaßt, 2. Tl.: Urkundenbuch. Wirzburg 1882, Neudruck Aalen 1969, S. 81 in Nr. 43; zur Datierung vgl. Peter Baumgart, Die Julius-Universität zu Würzburg als Typus einer Hochschulgründung im konfessionellen Zeitalter, in: ders. (Hrsg.), Vierhundert Jahre Universität Würzburg. Eine Festschrift. Im Auftrag der Bayerischen-Julius-Maximilians-Universität, Neustadt an der Aisch 1982, S. 3 29, hier S. 15 f., und ders., Universitätsautonomie und landesherrliche Gewalt im späten 16. Jahrhundert. Das Beispiel Helmstedt, in: Zeitschrift für historische Forschung 1 (1974), S. 23-53, hier S. 23. 6 Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Düsseldorf/München 1963, S. 124 f.; ders., Kaiser Friedrich der Zweite. Ergänzungsband, Düsseldorf/München 1963, s. S. 51 f., S. 119, S. 124 ff.; Denifle, Entstehung (FN 3), S. 452, der auf die zwölf Jahre ältere Gründung von Palencia in Kastilien durch Alonso V i l i , hinweist.
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Spielräume beschränken mußte 7 . Städtische Stiftungen (Straßburg, Altdorf, Köln, Erfurt, Basel, Rostock, Greifswald - vielleicht als Mischform Frankfurt an der Oder) ergänzen das Bild; teilweise gingen diese städtischen Gründungen aus dem Typus eines Gymnasium illustre hervor 8 . Autonomierechte wurden in der Praxis reduziert, ohne daß der privilegierte Korporationscharakter beseitigt worden wäre, der u. a. durch Selbstverwaltung und Eigengerichtsbarkeit gekennzeichnet blieb. Der Wille des Stifters, zumal des fürstlichen, wurde „zentral", und dies umso mehr, als diese Universitäten im Prozeß der frühmodernen Staatsbildung mit einsetzender „Bürokratisierung, Zentralisierung, Rationalisierung und Verrechtlichung" sowie zunehmender Schriftlichkeit eine wesentliche Funktion zu erfüllen hatten 9 . Die Ausbildung von Führungspersonal für den frühneuzeitlichen Landesstaat, zumal diejenige von Juristen und Theologen, hatte freilich noch eine andere zeitspezifische Dimension. Diese erschließt sich, wenn man bedenkt, welcher Personalbedarf alleine durch die Besetzung der kirchlichen Funktionsstellen mit geschulten Kräften in der Zeit der Reformation entstanden sein muß. Zu der - mit Volker Press - „zunehmenden Verdichtung des territorialen Verbandes" 10 gehörte die Vermehrung (landesherrlicher) Amtsträgerstellen. Zudem kam den theologischen Fakultäten geradezu ein „Wächteramt über die reine Glaubenslehre" im Territorium zu 1 1 . Insofern verstärkte sich noch der landesherrliche Charakter der mitteleuropäischen Universitäten, begleitet von fürstlicher Intervention in die Autonomie. Alles dies gehört zu dem, wie man es formuliert hat, „Typus 7 Peter Baumgart, Die Universität als europäische Bildungsinstitution, in: Winfried Böhm/Martin Lindauer (Hrsg.), Sechstes Würzburger Symposium der Universität Würzburg. Europäischer Geist - Europäische Verantwortung. Ein Kontinent fragt nach seiner Identität und Zukunft, Stuttgart usw. (1993), S. 71 - 89, hier S. 79 f. 8 Anton Schindling, Straßburg und Altdorf. Zwei humanistische Hochschulgründungen von evangelischen Freien Reichsstädten, in: Peter Baumgart/Notker Hammerstein (Hrsg.), Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit (= Wolfenbütteler Forschungen, 4), Nendeln/Liechtenstein 1978, S. 149189, hier S. 149, S. 154, S. 162; Gerd Heinrich, Frankfurt und Wittenberg. Zwei Universitätsgründungen im Vorfeld der Reformation, in: Ebd., S. 111-129, hier S. 112, S. 115, S. 123 („Gründungsinitiative beim Rat"). 9 Zitat: Anton Schindling, Die Universität Gießen als lypus einer Hochschulgründung, in: Peter Moraw/Volker Press (Hrsg.), Academia Gissensis. Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 45), Marburg 1982, S. 83-113, hier S. 87 f., insges. S. 86-89, S. 95; Abhängigkeiten vom Landesherrn: Peter Baumgart, Die deutschen Universitäten im Zeichen des Konfessionalismus, in: Alexander Patschovsky/Horst Rabe (Hrsg.), Die Universität in Alteuropa, Konstanz (1994), S. 147 -168, hier S. 154 f. 10 Volker Press, Führungsgruppen i n der deutschen Gesellschaft im Übergang zur Neuzeit um 1500, in: Hanns Hubert Hofmann/Günther Franz (Hrsg.), Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit. Eine Zwischenbilanz. Büdinger Vorträge 1978 (= Deutsche Führungsschichten i n der Neuzeit, 12), Boppard am Rhein (1980), S. 2977, hier S. 49, folgendes S. 79; Beispiel: Walter Heinemeyer, Die Bildungspolitik Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 21 (1971), S. 100-128, bes. S. 105 (Marburg). 11 Schindling, Gießen (FN 9), S. 88.
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der U n i v e r s i t ä t des konfessionellen Z e i t a l t e r s " 1 2 . F r e i l i c h h a t die Forschung m i t g u t e n A r g u m e n t e n zeigen können, daß die Gegenkraft z u r Tendenz t e r r i t o r i a l e r Separation der U n i v e r s i t ä t e n i n der Z e i t der Konfessionsk o n k u r r e n z n i c h t übersehen w e r d e n darf. Gemeint s i n d die v e r b i n d e n d e n Gemeinsamkeiten einer d u r c h den H u m a n i s m u s getragenen Gelehrten- u n d Wissenschaftskultur, die i n i h r e m Eigengewicht auch i m konfessionellen Z e i t a l t e r n i c h t unterschätzt w e r d e n d a r f u n d auch die Jesuiten m i t u m spannte13. War die U n i v e r s i t ä t p r i m ä r „ i n s t r u m e n t u m d o m i n a t i o n i s " 1 4 , so müssen w i r f ü r das Verhältnis v o n Staatsverfassung u n d Bildungsverfassung stärk e r differenzieren, w e n n die städtischen Schulen i n die B e t r a c h t u n g einbezogen werden. U m 1500 ist bereits eine d i c h t e u n d durchaus differenzierte städtische B i l d u n g s s t r u k t u r nachzuweisen, n i c h t n u r G r ü n d u n g e n d u r c h die Städte i m eigentlichen S i n n e 1 5 , die sich längst v o n den älteren K l o s t e r u n d D o m s c h u l e n emanzipiert h a t t e n u n d eine eigene A u s s t a t t u n g m i t Rats-, Parochial- u n d sonstigen lateinischen Schulen besaßen 1 6 . F ü r den f r ä n k i schen R a u m h a t R u d o l f Endres geradezu v o n einer „ K o m m u n a l i s i e r u n g der Schule" f ü r die vorreformatorische Z e i t gesprochen 1 7 , u n d dieses D i k t u m 12
Baumgart, Konfessionalismus (FN 9), S. 150; Rolle der „Landesherrschaft": S. 151 f.; Gustav Adolf Benrath, Die deutsche evangelische Universität der Reformationszeit, in: Hellmuth Rössler/Günther Franz (Hrsg.), Universität und Gelehrtenstand 1400-1800. Büdinger Vorträge 1966 (= Deutsche Führungsschichten i n der Neuzeit, 4), Limburg/Lahn 1970, S. 63-83, hier S. 74 f.; Heinz Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517-1648, (Berlin 1988), S. 332; Press, Führungsgruppen (FN 10), S. 49. !3 Baumgart, Konfessionalismus (FN 9), S. 157 f., S. 167; ders., Universität (FN 7), S. 80; ders., Humanistische Bildungsreform an deutschen Universitäten des 16. Jahrhunderts, in: Wolf gang Reinhard (Hrsg.), Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts (= Deutsche Forschungsgemeinschaft. Mitteilung X I I der Kommission für Humanismusforschung), (Weinheim 1984), S. 171-197, hier S. 173, S. 176, Jesuiten: S. 192 f.; ders., Würzburg (FN 5), S. 28 f.; Heinrich Lutz, Das Ringen um deutsche Einheit und kirchliche Erneuerung. Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden 1490 bis 1648 (= Propyläen Geschichte Deutschlands, 4), Berlin (1983), S. 380 f. 14 Baumgart, Würzburg (FN 5), S. 28 f. is Vgl. Press, Führungsgruppen (FN 10), S. 49. 16 Rudolf Endres, Das Schulwesen von ca. 1200 bis zur Reformation, in: Max Liedtke (Hrsg.), Handbuch der Geschichte des bayerischen Bildungswesens, 1. Bd., Bad Heilbrunn/Obb. 1991, S. 141-188, bes. S. 141, S. 143-151, mit tabellarischer Übersicht für Bayern, ferner S. 155 f., S. 159; Heinrich Theodor Kimpel, Geschichte des hessischen Volksschulwesens von seinen ersten Anfängen bis zum Jahre 1800. Vorband zu des Verfassers „Geschichte des hessischen Volksschulwesens im 19. Jahrhundert", Kassel 1906, S. 3, S. 6 - 8 ; Emil Waschinski, Erziehung und Unterricht i m Deutschen Ordenslande bis 1525 mit besonderer Berücksichtigung des niederen Unterrichts. Historisch-pädagogische Abhandlung, Danzig 1908, S. 23; Reinhard Jakob, Schulen i n Franken und i n der Kuroberpfalz 1250-1520. Verbreitung - Organisation - Gesellschaftliche Bedeutung (= Wissensliteratur im Mittelalter, 16), Wiesbaden 1994, S. 36-42 (für den Bereich des Hochstifts Würzburg), u.ö. 1 7 Rudolf Endres, Das Schulwesen i n Franken zur Zeit der Reformation, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 63 (1994), S. 13-29, hier: S. 15, vgl. auch S. 20.
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besitzt Bedeutung nicht nur für diesen Raum. In Nürnberg kam es um 1500 zu einer förmlichen Schulreform in vorsichtiger Distanz zur Kirche, wobei sehr deutlich stadtbürgerliche Bildungsbedürfnisse artikuliert worden sind 1 8 . Nicht nur hier, sondern auch in Handelsstädten des südlichen Ostseeraumes zeigen die Schriftkultur und das Rechnungswesen der Kaufmannshäuser in Form von Büchern, Kladden und Wachstafeln 19 ein entwikkeltes Kulturniveau an. Ohne feste Typenbildung haben lateinische und nun auch deutsche Schulen um 1500 bestanden, bisweilen auch kombinierte Einrichtungen 20 , dazu organisierte Bildungsangebote, die als freies Gewerbe betrieben wurden, um den Begriff der „Privat"-Schule zu vermeiden. Dies ist in landschaftlicher Streuung etwa für den süddeutschen Raum, für den Niederrhein, für Mecklenburg und für Hessen nachzuweisen 21 . Schreib- und Rechenmeister in größeren Städten boten die Vermittlung elementarer Kulturtechniken an, die des Lesens, Schreibens und auch bereits das Rechnen 22 . Wir finden sie bei guter Quellenlage in adligen und bürgerlichen Häusern, z. B. in Rostock und in Lübeck, d. h. eine breite Schicht nicht organisierter Schulungs- und Akkulturationsformen in der Sphäre des Ganzen Hauses. In großen Städten erscheint diese Struktur in einiger Differenzierung, aber auch in kleinen Orten städtischen Charakters hat es (zumal lateinische) Schulen schon vor der Reformation gegeben 23 . Diese Erscheinungen fand der Landesstaat des Reformations] ahrhunderts also vor, er suchte sie zu integrieren, bisweilen auch weiter zu entwickeln, jedenfalls zu visitieren. Luthers Aufforderung aus dem Jahre 1524, die „Ratsherren aller Städte deutschen Landes" sollten „christliche Schulen aufrichten und halten", hatte ja insofern einen unmittelbaren Bezug 18 Endres, Franken (FN 17), S. 16-20. ι9 H(einrich) Schnell, Das Unterrichtswesen der Großherzogtümer MecklenburgSchwerin und Strelitz, Bd. 3 (= Monumenta Germaniae Paedagogica, Bd. 45), Berlin 1909, S. 185 (Wismar, 15. Jahrhundert); Wolfgang von Strohmer, Das Schriftwesen der Nürnberger Wirtschaft vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Zur Geschichte oberdeutscher Handelsbücher, in: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs, hrsg. vom Stadtarchiv Nürnberg, Bd. 2 (= Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg, 11/11), Nürnberg 1967, S. 751-799, passim, bes. S. 753-755, S. 761, S. 764 ff., Buchführung seit dem 14. Jahrhundert: S. 769 - 780. 20 Endres, Franken (FN 17), S. 20-23; Heinemeyer, Hessen (FN 10), S. 109-113. 21 Jakob, Franken (FN 16), S. 31 f., S. 38, S. 338, S. 340 ff.; Friedrich Nettesheim, Geschichte der Schulen im alten Herzogthum Geldern und in den benachbarten Landestheilen. Ein Beitrag zur Geschichte des Unterrichtswesens Deutschlands und der Niederlande. Aus den Quellen bearbeitet, Düsseldorf (1881), S. 81, S. 83; Kimpel, Anfänge (FN 16), S. 9 f.; Endres, Franken (FN 17), S. 23 f.; Alfred Wendehorst, Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben?, in: Johannes Fried (Hrsg.), Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters (= Vorträge und Forschungen, 30), Sigmaringen 1986, S. 9-33, hier S. 29 f. 22 Peter May, Schulen und Unterricht der Schreib- und Rechenmeister: Nürnberg, in: Liedtke (Hrsg.), Handbuch (FN 16), S. 291-296, hier S. 291; Schnell, Unterrichtswesen, Bd. 3 (FN 19), S. 172 (Rostock/Lübeck); Endres, Franken (FN 17), S. 23 f. 23 Kimpel, Anfänge (FN 16), S. 6, S. 8; Endres, Schulwesen (FN 16), S. 155, S. 167.
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z u m E n t w i c k l u n g s s t a d i u m t e r r i t o r i a l e r Staatsbildung, als es d e m Reformat o r ganz wesentlich d a r u m ging, daß L e u t e fürs „ R e g i m e n t " erzogen w ü r d e n 2 4 . I n d e m L u t h e r i n seinem Sendschreiben an den deutschen A d e l z w a r „ v o n hohen u n d n i e d e r n S c h u l e n " sprach u n d v o r a l l e m forderte, i n den Städten m ü ß t e n d u r c h w e g „ M ä d c h e n s c h u l e n " v o r h a n d e n s e i n 2 5 , w i r d d e u t l i c h , daß er n i c h t etwa ein breites ländliches Schulwesen v o r A u g e n h a t t e 2 6 . Melanchthons praktische T ä t i g k e i t i m Sinne humanistischer B i l d u n g ist vielfach bezeugt, u n d z w a r f ü r U n i v e r s i t ä t e n u n d hohe S c h u l e n 2 7 . D a die reformatorischen I m p u l s e zunächst die L a t e i n s c h u l e n i n den S t ä d t e n betrafen, b e r ü h r t e n sie sich m i t dem b i s w e i l e n sehr k l a r ausgesprochenen M o t i v des konfessionellen Territorialstaates des 16. Jahrhunderts. „ D i e w e i l z u dem h e i l i g e n Predigampt, w e l t l i c h e r Oberkeit, z e i t l i c h e n A m p tern, Regimenten, v n n H a u ß h a l t u n g , rechtgeschaffne, weise, gelerte, geschickte v n n gotsferchtige M e n n e r gehören. V n n d d a n n die Schulen die rechten v o n G o t t verordneten v n d beuolhnen M i t t e l seien, d a r i n n e n solliche L e u t aufferzogen mögen w e r d e n " , so müsse i h n e n besondere A u f m e r k s a m k e i t zugewendet werden, so argumentierte die Württembergische S c h u l 24 Martin Luther, A n die Rathsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen, 1524, in: Martin Luther. Ausgewählte Werke. Hrsg. von H. H. Borcherdt und Georg Merz, 5. Bd., 3. Aufl. München 1952, S. 81-104, hier S. 89 f.; sehr deutlich ders., Eine Predigt, daß man Kinder zur Schule halten solle, 1530, ebd., S. 259-294, hier S. 284. 25 Martin Luther, A n den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, 1520, in: Ders., Werke (FN 24), Bd. 2, 3. Aufl., München 1948, S. 81-150, hier S. 141. 26 Vgl. Paul Barth, Die Geschichte der Erziehung in soziologischer und geistesgeschichtlicher Beleuchtung, 5. und 6., durchges. Aufl., Leipzig 1925, S. 323 f.; Ludwig Fertig, Obrigkeit und Schule. Die Schulreform unter Herzog Ernst dem Frommen (1601-1675) und die Erziehung zur Brauchbarkeit im Zeitalter des Absolutismus, Neuburgweiler/Karlsruhe 1971, S. 54, S. 77; Gerhard Müller, Philipp Melanchthon zwischen Pädagogik und Theologie, in: Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Humanismus und Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts (= Deutsche Forschungsgemeinschaft. Mitteilungen X I I der Kommission für Humaniàçiusforschung), (Weinheim 1984), S. 95-106, hier S. 99 f.; Gunnar Thiele, Zur Entstehung der deutschen Volksschule, in: Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts 28 (1938), S. 185-205, S. 198; Eduard Spranger, Zur Geschichte der deutschen Volksschule. Unveränderte Neuauflage. Mit einem Nachwort von Wilhelm Flitner, Heidelberg 1971, S. 54. 27 Hans Ahrbeck, Melanchthon als Praeceptor Germaniae, in: Walter Ellinger (Hrsg.), Philipp Melanchthon. Forschungsbeiträge zur vierhundertsten Wiederkehr seines Todestages dargeboten i n Wittenberg 1960, Berlin (1961), S. 133-148, hier S. 141-144; Baumgart, Konfessionalismus (FN 9), S. 164 f.; Benrath, Universität (FN 12), S. 66-68, S. 70 ff.; Müller, Melanchthon (FN 26), S. 96-99, Praxis: S. 100103; Hermann Jordan, Reformation und gelehrte Bildung in der Markgrafschaft Ansbach-Bayreuth. Eine Vorgeschichte der Universität Erlangen, 1. Tl. (= Quellen und Forschungen zur bayerischen Kirchengeschichte, 1), Leipzig 1917, S. 311 f. (Hof); Rostock: Arno Seifert, Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien, in: Notker Hammerstein (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. Unter Mitwirkung von August Buck, München 1996, S. 197-374, hierS. 310.
7 Der Staat, Beiheft 15
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Ordnung des Jahres 1559. Von d o r t w ü r d e n die r i c h t i g e n Theologen u n d Personen zu „ a n d e r n n o t t u r f f t i g e n Künsten, Regimenten, A m p t e r n u n d H a u ß h a l t u n g e n . . . k o m m e n " 2 8 . Diese S c h u l o r d n u n g w a r - t y p i s c h f ü r das k o n fessionelle Z e i t a l t e r u n d w i e zahlreiche vergleichbare S t ü c k e 2 9 - Teil einer sehr v i e l umfassenderen t e r r i t o r i a l e n K i r c h e n o r d n u n g . A u c h i n der speziell e n F u n d a t i o n s u r k u n d e f ü r das Joachimsthalsche G y m n a s i u m , 1607 ausgestellt v o m brandenburgischen K u r f ü r s t e n Joachim Friedrich, w i r d die A n l a ge „fürstliche(r) S c h u l e n " - i n diesem Falle also einer t e r r i t o r i a l e n F ü r s t e n schule - d a m i t m o t i v i e r t , daß i n i h n e n „ v i e l gelehrter Leuthe, die beydes i n K i r c h e n u n d Schulen, w i e auch i n W e l d t l i c h e n Regimenten n ü t z l i c h e n u n d vortreglichen gebraucht w e r d e n können, erzogen" w ü r d e n 3 0 . Dieses A r g u m e n t begegnet i n den Quellen i m m e r wieder, u n d I n d i z i e n bestätigen e n t sprechende F u n k t i o n e n 3 1 . I n W ü r t t e m b e r g w u r d e n u r derjenige als Schüler i n einer der fürstenschulgleichen sog. „ K l o s t e r s c h u l e n " aufgenommen, der später i m K i r c h e n d i e n s t gebraucht w e r d e n k o n n t e 3 2 . Es gab also einen sehr p r a k t i s c h e n Bezug v o n Staatsverfassung u n d B i l dungsverfassung f ü r den konfessionellen L a n d e s s t a a t 3 3 , der w i e b e i den 28 Reinhold Vormbaum (Hrsg.), Evangelische Schulordnungen, Bd. 1: Die evangelischen Schulordnungen des sechzehnten Jahrhunderts, Gütersloh 1860, S. 69, Nr. 14. 29 Übersicht bei Georg Mertz, Das Schulwesen der deutschen Reformation im 16. Jahrhundert, Heidelberg 1902, S. 162-165; siehe jüngst Sebastian Kreiker, Armut, Schule, Obrigkeit. Armenfürsorge und Schulwesen i n den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts (= Religion in der Geschichte, 5), Bielefeld 1997, bes. S. 125 ff., S. 134-172, u. ö.; Wolfgang Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), S. 257-277, hier S. 265 (Schulordnungen), Visitation: S. 266. 30 Druck z. B. bei Leopold von Orlich, Geschichte des Preußischen Staates im siebzehnten Jahrhundert; mit besonderer Beziehung auf das Leben Friedrich Wilhelm's des Großen Kurfürsten, 3. Tl., Berlin 1839, S. 411; Melle Klinkenborg (Hrsg.), Acta Brandenburgica. Brandenburgische Regierungsakten seit der Begründung des Geheimen Rates, Bd. 3 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, 3), Berlin 1930, S. 172-180, Nr. 1763, hier S. 172; vgl. Adolph Müller, Geschichte der Reformation i n der Mark Brandenburg, Berlin 1839, S. 320. 31 Wie Anm. 30; vgl. Jordan, Reformation (FN 27), Bd. 1, S. 303-310, Bd. 2, Leipzig-Erlangen 1922, S. 55; Lutz, Ringen (FN 13), S. 380; Anton Schindling, Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie i n Straßburg 1538-1621 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 77. Abt. Universalgeschichte), Wiesbaden 1977, S. 7 f.; Sonderfall der österreichischen Landschaftsschulen, getragen vom protestantischen Adel: Gernot Heiss, Konfession, Politik und Erziehung. Die Landschaftsschulen in den nieder- und innerösterreichischen Ländern vor dem Dreißigjährigen Krieg, in: Grete Klingenstein/Heinrich Lutz/ Gerald Stourzh (Hrsg.), Bildung, Politik und Gesellschaft. Studien zur Geschichte des europäischen Bildungswesens vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (= Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, 5), München 1978, S. 13 - 63, hier S. 13 -17. 32 Karl Weller, Einleitung, in: Geschichte des humanistischen Schulwesens in Württemberg. Hrsg. von der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte, 1. Bd., Stuttgart 1912, S. 1 - 1 7 , hier S. 4. 33 Vgl. Gerhard Ο estreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches (= Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte,
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w ü r t t e m b e r g i s c h e n Klosterschulen denn auch geistliches Vermögen f ü r diese Zwecke w i d m e t e , was - m u t a t i s m u t a n d i s - eine generelle Erschein u n g dieser Z e i t gewesen i s t 3 4 . D i e landesherrlichen Organe des K i r c h e n regiments, die K o n s i s t o r i e n oder K i r c h e n r ä t e , die i m 16. J a h r h u n d e r t e n t standen, fungierten als oberste Instanzen der geistlichen A u f s i c h t s f ü h r u n g auch über das t e r r i t o r i a l e Schulwesen, u n d z w a r n o c h i m 18. J a h r h u n d e r t 3 5 . Das I n s t r u m e n t der V i s i t a t i o n b o t i n der Tat die Chance, bis i n die einzelne Stadt, j a bis ins D o r f hinunterzugreifen. Insofern ist es r i c h t i g , w e n n f ü r den Konfessionsstaat des 16. Jahrhunderts v o n einer „ D i f f e r e n z i e r u n g der p o l i t i s c h e n u n d sozialen O r g a n i s a t i o n " , v o n einer A k a d e m i s i e r u n g der E l i t e n u n d v o n einer A u s w e i t u n g der staatlichen Tätigkeitsfelder gesprochen w o r d e n i s t 3 6 . Daß der Staat sich (ganz i m Sinne Luthers) erstmals u m die Jungfrauenschulen k ü m m e r t e , die z u v o r i m wesentlichen an K l ö s t e r n betrieben w o r d e n waren, gehört i n dieses B i l d u n d auch i n den K o n t e x t der V i s i t a t i o n e n 3 7 . B e i dieser Gelegenheit sind Mädchenschulen i n den S t ä d t e n
9. Aufl., Bd. 11) (= dtv Wissenschaftliche Reihe, Bd. 4211), 2. Aufl., München 1976, S. 67-71: „Der deutsche Landesstaat um 1500", ferner S. 71-76; Schilling, Aufbruch (FN 12), S. 315 f., S. 330; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands. Ein Studienbuch, München 1990, S. 128 (Bildungswesen); Fritz Härtung, Der deutsche Territorialstaat des 16. und 17. Jahrhunderts nach den fürstlichen Testamenten, zuerst 1912, wieder in: Ders., Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Leipzig (1940), S. 94-111, bes. S. 98, Visitationen: S. 99; vgl. oben F N 29. 34 Anton Schindling, Die Reformation in den Reichsstädten und die Kirchengüter. Straßburg, Nürnberg und Frankfurt im Vergleich, in: Jürgen Sydow (Hrsg.), Bürgerschaft und Kirche (= Stadt in der Geschichte. Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung, 7), Sigmaringen 1980, S. 67-88, hier S. 76, S. 79; ders., Humanistische Reform und fürstliche Schulpolitik in Hornbach und Lauingen. Die Landesgymnasien des Pfalzgrafen Wolfgang von Zweibrücken und Neuburg, in: Neuburger Kollektaneenblatt. Jahrbuch 133 (1980), S. 141-186, hier S. 146, S. 155, S. 160 ff.; Weller, Einleitung (FN 32), S. 3; Bernhard Landmesser, Die Stände der Kurmark Brandenburg unter Joachim II. (1535-1571). Rechts- und staatswiss. Diss. Kiel 1929, Borna/Leipzig 1929, S. 275; Beispiel: E. G. Bardey, Geschichte von Stadt und Ländchen Friesack mit einem Ausblick auf die Zeit der Quitzows, Nauen 1894, S. 55. 35 Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche, 5., durchges. Aufl., Köln/Wien 1972, S. 489 ff.; Albert Werminghoff, Geschichte der Kirchenverfassung Deutschlands im Mittelalter, 1. Bd. (Hannover/Leipzig 1905), Nachdruck Darmstadt 1969, S. 261 ff.; Emil Sehling, Geschichte der protestantischen Kirchenverfassung (= Grundriß der Geschichtswissenschaft, 2.8), Leipzig 1907, S. 17, S. 21-28; die neuere Lit. zum protestantischen Landesherrlichen Kirchenregiment des 16. Jahrhunderts jetzt bei Harm Klueting, „Quidquid est i n territorio, etiam est de territorio". Josephinisches Staatskirchentum als rationaler Territorialismus, in: Der Staat 37 (1998), Heft 3, S. 417-434, hier S. 423 f., Anm. 45; Karl Müller, Die Anfänge der Konsistorialverfassung im lutherischen Deutschland, in: Historische Zeitschrift 102 (1909), S. 1 - 3 0 , bes. S. 14, S. 18 ff.; Schilling, Aufbruch (FN 12), S. 317 f.; spezieller Ernst Marquardt, Geschichte Württembergs, Stuttgart 1961, S. 112 f.; James Allen Vann, Württemberg auf dem Weg zum modernen Staat 15931793, Stuttgart (1986), S. 55 f.; Enno Fooken, Die geistliche Schulaufsicht und ihre Kritiker im 18. Jahrhundert (= Probleme der Erziehung, 5), Wiesbaden/Dotzheim 1967, S. 26-29, S. 52-55, u.ö.; Kontinuitäten, z. B. Kimpel, Anfänge (FN 16), S. 336. se Schilling, Aufbruch (FN 12), S. 315 f. 7*
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aber n i c h t n u r angeordnet, sondern z u m Teil bereits vorgefunden worden; finanziert w u r d e n sie etwa aus dem „gemeinen k ä s t e n " 3 8 . D i e evidente Nachfrage n a c h organisierter u n d systematisierter S c h u l u n g i n den K u l t u r t e c h n i k e n einschließlich des Schreibens ist f ü r die M ä d c h e n aber n i c h t n u r a l l e i n d u r c h städtische E i n r i c h t u n g e n befriedigt worden. D e r Bedarf w u r d e ganz wesentlich v o n gewerbemäßig betriebenen sogenannten W i n k e l s c h u l e n abgedeckt. Z u dieser I n s t i t u t i o n e n s c h i c h t gehörten i n den Städten des 16. Jahrhunderts gleichfalls die deutschen S c h u l e n 3 9 ; i n N ü r n b e r g w u r d e n u m 1600 75 „teutsche Schulmeister" g e z ä h l t 4 0 . Bei a l l e m Vorbehalt gegen die D i c h o t o m i e v o n Öffentlichem u n d P r i v a t e m 4 1 i n dieser Z e i t , deutet sich i m Bereich des Bildungswesens diese U n t e r s c h e i d u n g z u r M i t t e des 16. Jahrhunderts schon an. F r e i l i c h w e r d e n a u c h die Grenzen f ü r die o b r i g k e i t l i c h e n Bestrebungen, den Z u g r i f f z u erweitern, sehr d e u t l i c h . D i e V i s i t a t i o n w a r das I n s t r u m e n t f ü r temporäre E i n w i r k u n g , etwa b e i einem „ V e r b o t " der Winkelschulen. N i c h t sehr v i e l anders stand es dann, w e n n diese einm a l i g konzessioniert w o r d e n sind. I m m e r h i n ist die reformationszeitliche V i s i t a t i o n , die sowohl b e i der D u r c h s e t z u n g der reformatorischen Landeskonfession als auch i m Dienste der k a t h o l i s c h e n Reform eingesetzt w e r d e n
37 Thiele, Zur Entstehung (FN 26), S. 193-195; Julius Richter, Geschichte der sächsischen Volksschule (= Monumenta Germaniae Paedagogica, 59), Berlin 1930, S. 37 f.; Emil Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 3, Leipzig 1909, S. 87, S. 201, S. 268, S. 326 u.ö.; Beispiel Prenzlau (benutzt in den 1980er Jahren im) Geheimen Staatsarchiv Stiftung Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), Pr. Br. Rep. 8, Prenzlau Nr. 382, Abschied vom 6. März 1577; vorreformatorische Lage: Endres, Schulwesen (FN 16), S. 151 f.; vgl. J. Müller/A. Parisius (Hrsg.), Die Abschiede der in den Jahren 1540-1542 i n der Altmark gehaltenen ersten General-Kirchen-Visitation mit Berücksichtigung der i n den Jahren 1551, 1578-79 und 1600 gehaltenen Visitationen. Im Auftrage des Altmärkischen Geschichts-Vereins, 1. Bd., 2. Heft, Magdeburg 1891, S. 22, mit Anm. 1. 38 Georg Gottfried Küster, Fortgesetztes Altes und Neues Berlin. Darinnen die Historie der Kirchen zu Marien, Petri, im grauen Kloster, der Garnison, auf dem Friedrichswerder, Dorotheen- und Fridrichsstadt, wie auch der Hospitäler, Waysenhäuser und Gymnasiorum i n Berlin von ihrem Anfang biß auf izige Zeiten aus zuverlässigen Nachrichten erzehlet wird, Berlin 1752, S. 937. 39 Endres, Schulwesen (FN 16), S. 181; Richter, Sächsische Volksschule (FN 37), S. 41 ff.; Albert Richter, Kursächsische Volksschulordnungen. M i t einer Einleitung (= Neudrucke Pädagogischer Schriften, 4), Leipzig 1891, S. 12; Victor Herold (Hrsg.), Die brandenburgischen Kirchenvisitations-Abschiede und -Register des XVI. und XVII. Jahrhunderts, 1. Bd.: Die Prignitz, 6. Heft: Wilsnack und Wittstock (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, 4), Berlin 1930, S. 672, Anm. 4; GStA PK, Pr. Br. Rep. 8, wie F N 37; Richard Lamprecht, Die große Stadtschule von Spandau von ca. 1300 bis 1853. Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht des Königlichen Gymnasiums zu Spandau 1903, o.O. 1903, S. 127; „Privatschulen" in hessischen Städten: Kimpel, Anfänge (FN 16), S. 27-30, S. 33, S. 40. 40 Endres, Franken (FN 17), S. 28; Strohmer, Schriftwesen (FN 19), S. 759. 41 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter (= Veröffentlichungen des Instituts für Geschichtsforschung und Archivwissenschaft in Wien, 1), 3., ergänzte Aufl., Brünn/ München/Wien 1943, S. 136 ff.
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k o n n t e 4 2 , stets d a r a u f h i n z u überprüfen, i n w i e w e i t sie t a t s ä c h l i c h schon l o k a l e oder regionale Observanzen durchbrechen konnte. Es w a r ganz offenbar e i n Unterschied, w e n n b e i dieser Gelegenheit schon Bestehendes k o d i f i z i e r t w u r d e oder ob Veränderungen i n t e n d i e r t w u r d e n . Manche I n d i zien sprechen dafür, daß der visitatorische Z u g r i f f auf lateinische, deutsche u n d auf Mädchenschulen i m 16. J a h r h u n d e r t d e u t l i c h stärker w a r als d a n n i m 17. u n d 18. Jahrhundert, daß also i n der Z e i t des konfessionellen Landesstaats eine temporäre „Verstaatung" stattgefunden h a t 4 3 . I n dieser Z e i t verb a n d die visitatorische Ü b e r f o r m u n g der B i l d u n g s s t r u k t u r e n sowohl Schul e n als a u c h U n i v e r s i t ä t e n 4 4 . D i e B i l d u n g s s t r u k t u r e n des 16. Jahrhunderts sind soweit n u r z u verstehen aus dem Prozeß v o n landesstaatlichem A u s b a u u n d Herrschaftsintensivierung, b i s w e i l e n s t i m u l i e r t d u r c h die K o n f e s s i o n s k o n k u r r e n z 4 5 i m L a n d oder auch z u rivalisierenden N a c h b a r t e r r i t o r i e n u n d l a n d s c h a f t l i c h e n bzw. l o k a l e n Resistenzen. D i e regionalistische Prägung des Bildungswesens als einem Massenphänomen t r i t t aber schon b e i der Frage d e u t l i c h entgegen, seit w a n n die s p ä t m i t t e l a l t e r l i c h - f r ü h n e u z e i t l i c h e B i l d u n g s b e w e g u n g a u c h das p l a t t e L a n d ergriffen hat. Daß dies erst i n der oder d u r c h die Reformat i o n geschehen sei, d a r f heute als w i d e r l e g t gelten. D i e unlängst v o n R e i n h a r d J a k o b 4 6 f ü r F r a n k e n u n d die K u r o b e r p f a l z p u b l i z i e r t e n Resultate las42 Hubert Jedin, Die Visitation im Dienste der kirchlichen Reform, zuerst 1967, wieder in: Ernst Walter Zeeden (Hrsg.), Gegenreformation (= Wege der Forschung, 311), Darmstadt 1973, S. 135-141, bes. S. 138 ff.; Ernst Walter Zeeden/Peter Thaddäus Lang, Einführung, in: Dies (Hrsg.), Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa (= Spätmittelalter und Frühe Neuzeit, 14), (Stuttgart 1984), S. 9-20, bes. S. 14 ff., und die Beiträge dieses Bandes zu europäischen Vergleichsfällen. Zum späten 16. Jahrhundert Wolf gang Neugebauer, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 62), Berlin/New York 1985, S. 228-237, bes. 234; sächsisch-thüringischer Raum: Rudolf Menzel, Die Anfänge der Volksschule in Deutschland. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der mitteldeutschen protestantischen Territorien (= Diskussionsbeiträge zu Fragen der Pädagogik, 13), Berlin 1958, S. 103; Jordan, Reformation (FN 27), Bd. 1, S. 311; A. Richter, Kursächsische Volksschulordnungen (FN 38), S. 13; Ludwig Ziemssen, Das württembergische Partikularschulwesen 1534-1559, in: Geschichte des humanistischen Schulwesens in Württemberg, hrsg. von der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte, 1. Bd., Stuttgart 1912, S. 468-602, hier S. 474 ff., S. 478, S. 481; 18. Jahrhundert: Richard Möckel, Die Entwicklung des Volksschulwesens in der ehemaligen Diöcese Zwickau während der Zeit von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Jahre 1835, Leipzig 1900, S.157 f.; wichtig: E. Schmid, Geschichte des Volksschulwesens in Altwürttemberg, hrsg. von der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte, Stuttgart 1927, S. 46-65, bes. S. 49, ferner S. 79. 43 Vgl. zu Bayern Winfried Müller, Regionalgeschichtliche Ergänzungen. Altbayern, in: Liedtke, Handbuch (FN 16), S. 657-664, hier S. 657; Schmid, Altwürttemberg (FN 42), S. 94, S. 410-412; Neugebauer, Staat (FN 42), S. 240 ff. u.ö. 44 Beispiel Gießen: Schindling, Universität (FN 9), S. 96 f. 4 5 Schindling, Hornbach (FN 34), S. 183 f., S. 186; Schilling, Aufbruch (FN 12), S. 333; Baumgart, Konfessionalismus (FN 9), S. 157 f. 4 6 Jakob, Franken (FN 16), S. 129, S. 131 f.; vgl. noch Endres, Schulwesen i n Franken (FN 17), S. 13 f.
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sen sich vorzüglich in weitere Befunde einpassen. Nach Jakob ließen sich in seinem Untersuchungsraum an 29 Orten vorreformatorische Schulen auf Dörfern feststellen; dies waren in großer Mehrzahl, wenn auch nicht ausschließlich, Pfarrorte, aber zu rund einem Drittel sehr große Siedlungen, d. h. solche von „funktionaler Zentralität". Die Verkehrsdichte in der jeweiligen Landschaft erscheint dabei als ein ganz wesentlicher Faktor. Es sei betont, daß die Alphabetisierungsforschung für andere Regionen zu ganz ähnlichen Einsichten gekommen ist. Für die Schuldichte sind mittelalterliche Siedlungsformen von großer Bedeutung gewesen, wie wir am fränkischen, nordwestdeutsch-oldenburgischen und am brandenburgischen Beispiel erkennen können 4 7 . Der regionalspezifische Bildungsbedarf 48 war hier wie anderswo ein entscheidendes Movens bei der Entstehung von Bildungsregionen in (Mittel-)Europa. Die fränkischen Forschungen der jüngsten Zeit belegen zudem, daß dies schon für vorreformatorische Zeiten gilt. Auch bei strenger Prüfung der gegebenen Belege und Exempel ist davon auszugehen, daß auch etwa in der Oberlausitz bereits im 15. Jahrhundert Schulmeister aus Dörfern existiert haben, ohne daß wir in der Regel über ihre Leistung schon etwas zu sagen vermöchten 49 . Immerhin scheint die Schreibfähigkeit eine große Rolle gespielt zu haben, wie auch frühe Schöppenbücher aus dieser Landschaft illustrieren. Dieser Befund erhält angesichts der nur schwachen reformatorischen Aktivität in diesem Raum ein zusätzliches Gewicht; eine allgemeine Landesvisitation hat dort nicht stattgefunden. In der Ober47 Ebd.; Wilhelm Norden, Die Alphabetisierung der oldenburgischen Küstenmarsch im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ernst Hinrichs/Wilhelm Norden (Hrsg.), Regionalgeschichte. Probleme und Beispiele mit einem Beitrag von Brigitte Menssen und Anna-Margarete Taube (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, 34. Quellen und Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Niedersachsens in der Neuzeit, 6), Hildesheim 1980, S. 103-164, hier S. 122; Neugebauer, Staat (FN 42), S. 272 ff.; Alphabetisierung und Marktbeziehungen: Wolfgang Schmale, Soziogeographische Divergenz und nationale Nivellierung. Die Schulerziehung in Frankreich i n der schöpferischen Krise, in: Ders./Nan L. Dodde (Hrsg.), Revolution des Wissens? Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung (1750-1825). Ein Handbuch zur europäischen Schulgeschichte, (Bochum) 1991, S. 179-220, hier S. 188; ähnliche Beobachtungen jetzt bei Reiner Prass, Signierfähigkeit und Schriftkultur. Methodische Überlegungen und neuere Studien zur Alphabetisierungsforschung in Frankreich und Deutschland, in: Francia 25/2 (1999), S. 175-197, S. 187, S. 194 f.; vgl. damit Etienne François , Alphabetisierung und Lesefähigkeit in Frankreich und Deutschland um 1800, in: Helmut Berding/Etienne François/Hans-Peter Ullmann (Hrsg.), Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution (= Edition Suhrkamp, 1521), (Frankfurt am Main 1989), S. 407-424, hier S. 409; vgl. ders., Regionale Unterschiede der Leseund Schreibfähigkeit in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte und Landeskunde 17/2 (1990), S. 154-172, hier S. 156. 4 8 Schmid, Altwürttemberg (FN 42), S. 74. 49 Ε. Α. Seeliger; Schulen in den Landstädten und Dörfern der Oberlausitz vor der Reformation, in: Neues Lausitzisches Magazin 92 (1916), S. 1 - 1 9 , bes. S. 7 - 9 , S. 12 ff., S. 18, und passim; Willi A. Boelcke, Verfassungswandel und Wirtschaftsstruktur. Die mittelalterliche und neuzeitliche Territorialgeschichte ostmitteldeutscher Adelsherrschaften als Beispiel (= Beihefte zum Jahrbuch der schlesischen Friedrich-Wilhelm-Universität zu Breslau, 8), Würzburg 1969, S. 436.
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lausitz wird schon früh die Verbindung von dörflicher Schulfunktion und niederen Kirchendiensten erkennbar. Auch am Niederrhein sind ländliche Schulen für diese Zeit behauptet worden 5 0 . In den Marktregionen des östlichen Mitteleuropa, den Gebieten an unterer Weichsel und am Pregel, sind dörfliche Schulen in den ländlich-zentralen Kirchorten für das 15. Jahrhundert in einiger Zahl belegt 51 , betrieben in der Regel von Glöcknern und Küstern. Dazu paßt, daß bei der ersten reformationszeitlichen Visitation im Jahre 1529 in Masuren Schulen in großer Dichte schon vorgefunden wurden. Auf diesen Fundamenten haben die Visitatoren der kommenden Jahrzehnte dann aufgebaut und auf eine Verdichtung des Netzes gedrängt 52 ; in der Tat ist hier die visitatorische Aktivität eingreifend gewesen 53 . In Pommern stammen die ersten Belege für die Dorfschulen hingegen erst aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts 54 , in Magdeburg waren ländliche Schulen bei der ersten Visitation bereits vorhanden 55 , in ihnen wurde außer dem Katechismus bis zum Lesen geführt, und auch in diesen mittelelbischen Landschaften ging der weitere Ausbau mit reformationszeitlichen Visitationen einher, wie es auch für Hessen gezeigt werden könnte 5 6 , und zwar für die lutherischen Gegenden. Im altwürttembergischen Raum ist die Zahl nachweisbarer vorreformatorischer Dorfschulen sehr gering; hier hat die Verdichtung im 16. Jahrhundert besonders rasante Fortschritte gemacht, aber es ist bemerkenswert, daß dabei lokale Kräfte und Interessen die wesentlichen Impulse gegeben haben. Bei den Visitationen kamen die Bitten aus den Gemeinden, Bitten um eine eigene Schule, was dann zum herzoglichen Befehl und zur Anstellung eines Schulmeisters durch den Kirchenrat führte. Die Lehrfunktion wurde zumeist mit derjenigen des Mesners kombiniert, und Lesetechniken standen im Mittelpunkt des Interesses. Entsprechende Petitionen von Dorfgemeinden sind publiziert 5 7 . Im Ergebnis er50 Nettesheim, Geldern (FN 21), S. 65 f. 51 Waschinski, Erziehung (FN 16), S. 26-30, mit Belegen. 52 Gerhard Düsterhaus, Das ländliche Schulwesen im Herzogtum Preussen im 16. und 17. Jahrhundert, Phil. Diss. Bonn 1975, S. 46 f., S. 60, S. 62 f. 53 Düsterhaus, Schulwesen (FN 52), S. 47 ff. 54 M(artin) W(ehrmann), Zur Geschichte pommerscher Dorfschulen im 16. Jahrhundert, in: Monatsblätter 18 (1904), S. 139-141, hier S. 140; ders., Die Begründung des evangelischen Schulwesens in Pommern bis 1563 (= Beiträge zur Geschichte der Erziehung und des Unterrichts in Pommern. Beihefte zu den Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte, 7), Berlin 1905, S. 40; (Gottfried) von Bülow, Beiträge zur Geschichte der pommerschen Dorfschulen, in: Evangelisches Monatsblatt für die deutsche Schule. Organ des Deutschen Evangelischen Schulvereins 7 (1887), S. 225-251, hier S. 233 f. 55 Friedrich Danneil, Geschichte des evangelischen Dorfwesens im Herzogtum Magdeburg. Aus archivalischen Quellen, Halle 1876, S. 23 ff. 56 Kimpel, Anfänge (FN 16), S. 43; Heinemeyer, Hessen (FN 10), S. 107, S. 124 f., S. 127: um 1560 Schulen auf dem Lande „Ausnahmefälle". 57 Schmid, Altwürttemberg (FN 42), S. 5 f., S. 33 f., S. 50 f., S. 74-78, Druck: S. 28 f.; Bayern: Anton Landers dor fer, Das Bistum Freising in der bayerischen Visitation des Jahres 1560 (= Münchener theologische Studien, 1/26), St. Ottilien 1986,
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wuchsen regional sehr verschieden „dichte" Bildungslandschaften 58 . Für andere Gebiete, etwa die Oldenburger Küstenmarsch 59 , sind analoge Prozesse beschrieben worden. In Kursachsen folgten die Generalartikel des Jahres 1580, nach denen die „Dorf-Custere" auch „Schule halten" und die Knaben bis zum Schreiben und Lesen bringen sollten, nur der faktischen Entwicklung 6 0 . Der Konfessionsstaat förderte die Schulverfassung, aber er schuf sie nicht - jedenfalls nicht allein. Auch für das ländliche Schulwesen konnten freilich Konstellationen der Konfessionskonkurrenz Bedeutung gewinnen, wie ein Blick auf Oberhessen zeigen würde, wo zum Zwecke der Verbreitung des lutherischen gegen das kalvinistische Bekenntnis eine sehr eigentümliche Struktur mit sehr gut dotierten Dorf-Schulstellen geschaffen wurde, Stellen, die sogar von Studenten übernommen worden sind 6 1 . Für die Gewichtung derjenigen Faktoren, die die landschaftliche Bildungsverfassung getragen haben, ist ein Blick auf die Situation zur Mitte des 17. Jahrhunderts nützlich. Man könnte ja meinen, daß der teutsche Krieg das ländliche Schulnetz, das in manchen Regionen sehr jung war, gleich wieder beseitigt hätte 6 2 . Und doch ist etwa im Herzogtum Württemberg und in Hessen das Schulnetz sehr schnell wieder intakt und dicht gewesen, so daß auch die kirchlich unselbständigen Filialgemeinden eine eigene Schule forderten, worauf sodann landgräflicher Befehl in diesem Sinne erging 63 . Die „Allgemeine Landesordnung" für das Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel vom März des Jahres 1647 forderte an prominenter Stelle, daß man die Jugend „bey den schulmeistern oder Küstern auf den Dorffern so viele Jahr in die Schule gehen/und unterweisen lassen" solle, „bis daß sie den Catechismum verstehen/und gedruckte Schriften lesen können" 6 4 . Dieses Beispiel steht nicht alleine da, und eben die WolS. 139 f., Schulen auch in „einzelnen Dörfern sowie in den meisten Märkten und Städten des Bistums Freising", aber auf Dörfern selten; Günter Hasenfuss, Die Entwicklung des Schulwesens in Baden-Durlach von den Anfängen bis zur Entstehung des modernen Bildungswesens unter Berücksichtigung methodisch theoretischer Probleme der Erziehungsgeschichte, (Frankfurt am Main 1979), S. 156-160, zum 16. Jahrhundert: Rund 10% der größeren Dörfer haben Schulen, dann aber Verdichtung des Netzes; Lehrer: Meßner und Schreiber. 58 Schmid , Altwürttemberg (FN 42), S. 37. 59 Norden, Alphabetisierung (FN 47), S. 115 f. 60 Johann Christian Lünig, Codex Augusteus Oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici..., Tl. 1, Leipzig 1724, Sp. 708; vgl. die Ausführungen bei A. Richter, Kursächsische Volksschulordnungen (FN 39), S. 3, S. 11 f. ei Kimpel, Anfänge (FN 16), S. 44, S. 66, S. 76. 62 So Schilling, Aufbruch (FN 12), S. 335. 63 Schmid, Altwürttemberg (FN 42), S. I l l , S. 193; Kimpel , Anfänge (FN 16), S. 133, S. 157 -174, S. 228 f.; Hasenfuss, Baden-Durlach (FN 57), S. 167 ff. 64 Fürstlich Braunschweig-Lüneburgische Wolffenbüttelschen Theil Landes-Ordnung Und Andere/so wol zu deren Erleuterung dienende/als auch sonsten bey denen einen und andern Vorfall zu des Landes Nutz und Besten nach und nach ausgelassene
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fenbüttelsche Ordnung wurde auch im Mecklenburgischen rezipiert, wo bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts Landschulen kaum nachweisbar sind; auf Kirchdörfern wurden sie erst um und nach 1700 üblich 6 5 . Neben landesherrlichen Ordnungen tritt aber das Phänomen entgegen, daß die lokale Geistlichkeit und der Landadel nun ihrerseits aktiv wurden, daß sie für die drängenden Probleme, die nach den Kriegswirren gerade für die ländlichen Führungsschichten besonders spürbar waren, gewissermaßen nach kulturellen Gegenstrategien suchten. Die kriegsbedingt darniederliegende Sozialdisziplin und Kirchenzucht sollte gleichsam durch eine gezielte Intensivierung der Massenbildung für die kommende Generation restabilisiert werden. Diese Impulse kamen von unten, nicht vom Landesherrn und seinen Organen, dies zeigen die Akten ganz deutlich. Auch der Landadel hat in dieser Zeit, in der die Volksreligiosität erblühte, mit Katechisation und Landschule Strukturpolitik aus lokalem Impuls betrieben 66 ; man ist versucht, daran zu erinnern, was Ernst Walter Zeeden über die Bedeutung des Adels als Faktor territorialer Konfessionsbildung ausgeführt hat (und was auf höherem Niveau bis zum großen Krieg der österreichische Adel mit seinen Landschaftsschulen praktizierte) 67 . Im Ostwestfälischen hat um 1650 die Geistlichkeit großes Gewicht auf die Restabilisierung der Kirchenzucht durch Küsterschulen gelegt, sie hat aus diesen Motiven eine lokale Pazifikationsstrategie und damit Staatsbildung von unten betrieben 68 . Ganz ähnlich haben im Oldenburger Küstenland nach dem Dreißigjährigen Krieg Pastoren und Visitatoren Kirchenzucht und Massenbildung eingesetzt und entwickelt, um die arg ins Wanken geratene lutherische Gläubigkeit wieder zu befestigen 69 . Wir sehen: Wir können in der Frühen Neuzeit Phänomene einer lokalen Konfessionalisierung beobachten, was eine etatistische Verengung unseres Verordnungen/Mandata und Constitutiones. Auf Fürstl. Verordnung wieder aufgeleget und zusammen gedruckt, Wolffenbüttel 1729, TL 1, S. 6, vgl. S. 3. 65 Schnell, Mecklenburg, Tl. 3 (FN 19), S. 267 ff., S. 285. 66 Neugebauer, Staat (FN 42), S. 239-255; Volksreligiosität in Brandenburg: Ders., Brandenburg im absolutistischen Staat. Das 17. und 18. Jahrhundert, in: Ingo Materna/Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Brandenburgische Geschichte (Berlin 1995), S. 291-394, hier S. 308 f.; die These von der sozialdisziplinierenden Stabilisierungsfunktion des Landschulwesens im Westfälischen für die Zeit des Dreißigjährigen Krieges bestätigt bei Jens Brüning, Das pädagogische Jahrhundert. Schulwandel in Stadt und Land in den preußischen Westprovinzen Minden und Ravensberg 1648-1816 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 15), Berlin (1998), S. 136 f. 67 Ernst Walter Zeeden, Die Entstehung der Konfessionen. Grundlagen und Formen der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskämpfe, München/Wien 1965, S. 32 f.; vgl. ders., Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung in Deutschland im Zeitalter der Glaubenskämpfe, zuerst 1958, wieder in: Ders. (Hrsg.), Gegenreformation (FN 42), S. 85 -134, bes. S. 133; vgl. auch die Studie von G. Heiss i n F N 31. 68 Ludwig Koechling, Die Kirchenvisitation vom Jahre 1650 im Fürstentum Minden, in: Dona Westfalica. Georg Schreiber zum 60. Geburtstag dargebracht von der Historischen Kommission Westfalens, Münster 1963, S. 167-173, hier S. 169-171. 69 Norden, Alphabetisierung (FN 47), S. 147 f.
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Themas mithin verbietet 70 . In diesem Verständnis wird die Kategorie der Sozialdisziplinierung - mit Gerhard Oestreich - hier in einem weiten Sinne verwendet. Der frühmoderne Staat mit dem starken Herrschaftsanspruch des Absolutismus traf mithin auf eine i n langer Zeit gewachsene Struktur, die lediglich an der Spitze, bei Universitäten und hohen Schulen, tatsächlich im Einflußbereich landesherrlicher Tätigkeit lag. Gewiß konnte i m protestantischen Deutschland der Ediktenstaat 7 1 im Bündnis mit der pädago70 Vgl. meine in F N 66 zit. Arbeiten; zum thematischen Kontext zuletzt mit beachtenswerten Überlegungen Heinrich Richard Schmidt, Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus i n der Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), S. 639-682, bes. S. 647-655, S. 660 („Selbstkonfessionalisierung"), S. 664, S. 670-673, S. 680 ff.; freilich muß zwischen dem von Gerhard Oestreich klassisch geprägten Begriff und einer späteren etatistisch verengten Rezeption klar unterschieden werden; dies gilt für die Frage der Konfessionalisierung und ließe sich drastisch ebenso für die historische Bildungsforschung bzw. historische Pädagogik zeigen. Zuerst: Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Viertel]ahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1969), S. 329-347, wieder in: Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin (1969), S. 179-197, hier S. 187-195; dazu die wichtige Interpretation von Brigitta Oestreich, Einleitung, in: Gerhard Oestreich, Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, Berlin (1980), S. 7-15, hier S. 7 - 9 ; aus der dazu inzwischen schon reichhaltigen (sekundären) Lit. vgl. z. B. Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung i n der frühen Neuzeit", in: Zeitschrift für historische Forschung 14 (1987), S. 265-302, bes. S. 267 ff., S. 273 ff., S. 279, S. 281, S. 291-294; Günther Lottes, Disziplin und Emanzipation. Das Sozialdisziplinierungskonzept und die Interpretation der frühneuzeitlichen Geschichte, in: Westfälische Forschungen 42 (1992), S. 63-74, bes. S. 65 ff., Marktzusammenhänge: S. 69, S. 72 ff.; Paolo Prodi/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Glaube und Eid. Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 28), München 1993, mit den verschiedenen Beiträgen dieses Bandes, konzentriert: Hans Maier, Sozialdisziplinierung - ein Begriff und seine Grenzen (Kommentar), S. 237240. Vgl. Neugebauer, Staat (FN 42, S. 633 f. 71 Vgl. Neugebauer, Staat (FN 42), passim; ders., Einführung, in: Ders. (Hrsg.), Schule und Absolutismus i n Preußen. Akten zum preußischen Elementarschulwesen bis 1806 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 83. Quellenwerk 8), Berlin-New York 1992, S. 13-20, S. 31 ff., u. ö., S. 55-72, und passim, ferner der Quellenteil; ders., Bildungswesen (FN 2), S. 627-641, S. 652-666; ders., Bemerkungen zum preußischen Schuledikt von 1717, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittelund Ostdeutschlands 31 (1982), S. 155-176; ders., Bildung, Erziehung und Schule im Alten Preußen. Ein Beitrag zum Thema: „Nichtabsolutistisches im Absolutismus", in: Karl-Ernst Jeismann (Hrsg.), Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Mobilisierung und Disziplinierung. Im Auftrage der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft (= Nassauer Gespräche der Freiherr-vom Stein-Gesellschaft, 2), Stuttgart 1989, S. 2 5 43; die Thesenführung in weiteren Zusammenhängen und mit Beiträgen zu nicht-bildungsgeschichtlichen Feldern der Staatstätigkeit: Wolfgang Neugebauer, Zur Staatsbildung Brandenburg-Preußens. Thesen zu einem historischen Typus, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 49 (1998), S. 183-194; daß das Bildungswesen nur ein besonders deutliches Beispiel für die Wirkungsgrenzen des Absolutismus (in Preußen) sei, habe ich schon 1985 (FN 42), S. 627 mit Anm. 5a, ausgeführt; der exemplarische Charakter dieses Untersuchungsfeldes wurde also von Anfang an klar angesprochen, d. h. die Vermutung begründet, daß das Bildungswesen, um das es bei diesen Forschungen beispielhaft ging, nicht der einzige Fall derartiger Herrschaftsgrenzen frühmoderner Staatlichkeit sei. In diesen Publikationen auch die benachbarte geistesgeschichtliche Lit., zumal die für das Pietismus-Thema einschlägigen Arbeiten von Carl Hinrichs, z.B. Neugebauer, Staat (FN 42),S.49-60.
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gischen Aktivitätstheologie des (halleschen) Pietismus, später dann in Anlehnung an die Bewegung der Aufklärung, versuchen, an Gestaltungskraft zu gewinnen. Erfolg war dann im Bereich des Möglichen, wenn der gleichsam traditionale Zusammenhang von unsystematischer Ausbildung des Lehrpersonals, dessen dadurch mitbedingtem geringen Status und Gehalt und der damit wiederum korrespondierenden begrenzten Leistungskraft aufgebrochen wurde. Der gleichsam strategische Punkt war - wie sich zeigen sollte - die Lehrerbildung. Aber gerade die erste, pietistisch inspirierte Welle von Schulmeister-Seminaren i n Brandenburg-Preußen wurde von
privaten Gründungen getragen, die nur sehr partiell und labil unterstützt wurden vom Staat des „Aufgeklärten Absolutismus" 7 2 . Quantitäten und Qualitäten genügten nicht, um im Preußen der Frühen Neuzeit staatlicherseits modernisierende Transformationsprozesse
großflächig i n Gang zu
setzen. Hier blieb das Schulwesen - von wenigen gymnasialen Ausnahmen abgesehen - ein Freiraum im Absolutismus. Das S c h l o ß f r e i l i c h staatlich gestützte, temporäre Reforminseln nicht aus. Mindestens ebenso wichtig und l a n g f r i s t i g w i r k u n g s m ä c h t i g e r waren die vielen kleinen, l o k a l g e s t ü t z t e n Verbesserungen, bei denen erst pietistische und dann a u f k l ä r e r i s c h e Programme zugrunde lagen 73 . Der aufgeklärte Theologe, der in seinem örtlichen Wirkungsfeld eine kleine Schulreform von sich aus initiierte, ist ein noch zu wenig untersuchter Massen-Typus dieser Zeit. Nun wurde der Kanon religiöser Unterweisung und derjenige elementarer Kulturtechniken um „Realien" ergänzt, insbesondere um Geographie, Naturlehre und sogar weltliche Geschichte. Immerhin sind dabei Einflüsse der jungen Reformuniversitäten Halle 7 4 - und später Göttingen - auf das gesamte Bildungs72 Neugebauer, Staat (FN 42), S. 372-396; aus der neueren Lit. zum Problem des aufgeklärten Absolutismus sei exemplarisch herausgegriffen Volker Sellin, Friedrich der Große und der aufgeklärte Absolutismus. Ein Beitrag zur Klärung eines umstrittenen Begriffs, in: Ulrich Engelhardt/Volker Sellin/Horst Stuke (Hrsg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt (= Industrielle Welt. Sonderband), Stuttgart (1976), S. 83-112, bes. S. 89 ff., S. 103111, „Bildungspolitik": S. 109; kritisch Gottfried Niedhart, Aufgeklärter Absolutismus oder Rationalisierung der Herrschaft, in: Zeitschrift für historische Forschung 6 (1979), S. 199-211, bes. S. 205 ff.; ferner mehrere Beiträge i n dem Band von Günter Birtsch (Hrsg.), Reformabsolutismus im Vergleich. Staatswirklichkeit - Modernisierungsaspekte - Verfassungsstaatliche Positionen (= Aufklärung 9, 1), (Hamburg 1996), etwa Eckhart Hellmuth, Der Staat des 18. Jahrhunderts. England und Preußen i m Vergleich, S. 5 - 2 4 , bes. S. 14 ff. - diese Studien jeweils mit der klassischen älteren Literatur. 73 Wolfgang Neugebauer, Bildungsreformen vor Wilhelm von Humboldt. A m Beispiel der Mark Brandenburg, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 41 (1990), S. 226-249; ders., Die Schulreform des Junkers Marwitz. Reformbestrebungen im brandenburg-preußischen Landadel vor 1806, in: Peter Albrecht/Ernst Hinrichs (Hrsg.), Das niedere Schulwesen im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 20), Tübingen 1995, S. 259-288; vgl. auch Schmid, Altwürttemberg (FN 42), S. 233 ff., S. 238, S. 240. 74 Neugebauer, Bildungswesen (FN 2), S. 617-622, S. 644-650, mit der Lit.; neuerdings Rolf Lieberwirth, Die Gründung der Universität Halle aus dem Geist des Naturrechts: Die Frühzeit, in: Gunnar Berg/Hans-Hermann Hartwich (Hrsg.),
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wesen zu beobachten, wenngleich moderne Entwicklungen, wie etwa die Kamerallehre seit 1727, sich an den betreffenden Universitäten zunächst nicht zu halten vermochten. Das universitäre Vorbild Halles wirkte weiter, es wurde z. B. auch in Würzburg beachtet 75 . In Kursachsen wurde nach 1756 im Zeichen später Pietismusrezeption zu Wittenberg eine Realschule errichtet 7 6 ; in Mecklenburg sind schwächere Spuren pietistischer Reformaktivität nach 1750 auszumachen, wie denn auch Auswirkungen des frühen Neuhumanismus aus der Göttinger Alma mater. Ickstatt in Bayern hat sich zuweilen auf August Hermann Francke und seinen Berliner (Realschul-) Praktiker Johann Julius Hecker berufen, aber gerade der württembergische Pietismus war bildungsgeschichtlich wenig fruchtbar 7 7 . In Städten und auf dem Lande dominierten im protestantischen Deutschland im Bildungswesen die intermediären Gewalten und lokalen Gemeinschaften. Im deutschen Südwesten, in Altwürttemberg, waren dies die Gemeinden. Sie, und nicht das Konsistorium, haben dort mit ihrem Wahlrecht die Besetzung von Schulstellen beherrscht 78 , und erst 1792 wurde dann das landesherrliche Prüfungsrecht intensiviert. Die Prüfungspraxis in Kursachsen war während des 18. Jahrhunderts ebenso ineffektiv wie in Brandenburg-Preußen. Die lokale Autonomie der dörflichen Sphäre blieb erhalten. Entscheidend war - wie um 1500 79 - i n Stadt und Land das örtliche Kräftegefüge 80 . Da, wo wie in Hessen, die Erblichkeit von Schulstellen eine große Rolle spielte, konnte dies eine (von den Gemeinden geförderte) Variante lokaler Bildungsautonomie im 18. Jahrhundert sein 81 . Das förmliche Anstellungsrecht der Gemeinden, wie es z. B. auch im Hochstift Speyer, in der Grafschaft Mark oder im Fürstentum Halberstadt für Landschulstellen Martin-Luther-Universität. Von der Gründung bis zur Neugestaltung nach zwei D i k taturen (= Monats vorträge zur Geschichte der Universität Halle), Opladen 1994, S. 9 25, bes. S. 17 ff. 75 Peter Baumgart, Bildungsreformen im Hochstift Würzburg unter der Mitwirkung Dalbergs, in: Karl Hausberger (Hrsg.), Carl von Dalberg. Der letzte geistliche Reichsfürst, Regensburg 1995, S. 11-24, hier S. 13 f. 76 Horst Schlechte, Pietismus und Staatsreform 1762/63 in Kursachsen, in: Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner (= Schriftenreihe der Staatlichen Archiwerwaltung, 7), Berlin 1956, S. 364-382, hier S. 377 f. 77 Schnell, Mecklenburg (FN 19), Bd. 2, S. VII, S. 282, Bd. 3, S. 315-322, S. 338, Göttingen: S. 313 ff.; M(ichael) Doeberl, Entwickelungsgeschichte Bayerns, Bd. 2, München 1912, S. 283; Schmid , Altwürttemberg (FN 42), S. 154, S. 178 f., S. 182 f.; Hartmut Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart usw. (1969), S. 63. ™ Schmid, Altwürttemberg (FN 42), S. 46-65 (um 1600), aber dann: S. 89, S. 246 f., S. 335-351. ™ Treffend Jakob, Franken (FN 16), S. 136, S. 138 f. 80 Neugebauer, Staat (FN 42), S. 423-433, S. 496-507; W. Pätzold, Geschichte des Volksschulwesens im Königreich Sachsen, Leipzig/Frankfurt a.M. 1908, S. 80; Möckel, Zwickau (FN 42), S. 49 ff. ei Kimpel, Anfänge (FN 16), S. 263 ff.
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g a l t 8 2 , ist auch an der u n t e r e n E l b e u m 1800 n o c h gang u n d gäbe gewesen, etwa i n der A l t m a r k 8 3 . Ö s t l i c h davon w a r e n Wahlphänomene eher s e l t e n 8 4 . H i e r w a r die S t e l l u n g des Patronats-, d. h. zumeist des G u t s h e r r n a l l z u d o m i n a n t 8 5 , u n d dies galt auch ganz offenbar f ü r Sachsen. I n Hessen scheint die S t e l l u n g der Patrone gleichfalls eine sehr starke gewesen z u s e i n 8 6 . D i e doppelte M e d i a t i s i e r u n g d u r c h Gemeinde u n d L o k a l h e r r s c h a f t , i n den Städten d u r c h die Räte als Patronatsherren, stabilisierte l o k a l e T r a d i t i o n e n . D a z u gehörte auch die Praxis, Schule auf d e m L a n d e n u r i m „ W i n t e r " z u halten, was die Effizienz auch da m i n i m i e r t e , w o e i n g u t entwickeltes Netz v o n elementaren B i l d u n g s e i n r i c h t u n g e n bestand u n d - nachgewiesen f ü r den Trierer R a u m u m 1785/88 - die Schulbesuchsquote sich den 100% n ä h e r t e 8 7 . Diese T r a d i t i o n des Wechsels v o n Sommer- u n d
82 Edmund Jehle, Das niedere Schulwesen unter August Graf von Limburg-Stirum Fürstbischof von Speyer 1770-1797. Nach den Quellen bearbeitet (= Abhandlungen zur oberrheinischen Kirchengeschichte, 2), Freiburg im Breisgau 1923, S. 13; Manfred Heinemann/Wilhelm Rüter, Landschulreform als Gesellschaftsinitiative. Philip von der Reck, Johann Friedrich Wilberg und die Tätigkeit der „Gesellschaft der Freunde der Lehrer und Kinder in der Grafschaft Mark" (1789-1815) (= Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im Neunzehnten Jahrhundert, 11), Göttingen 1975, S. 60 f.; Wilhelm Meiners, Das Volksschulwesen in Mark und Cleve unter Steins Verwaltung (1787-1804), in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungsund Schulgeschichte 16 (1906), S. 113-130, hier S. 114; Walter Werner, Die Entwicklung der Landschulen im Bistum-Fürstentum Halberstadt (1564-1806), 2 Bde., Phil. Diss. Halle-Wittenberg 1974 (masch.), hier Bd. 1, S. 58 f. 83 Karl Heinrich Schmid, Nutzbarkeit des Predigtamtes vornehmlich unter dem Landvolke, aus eigenen Erfahrungen, Braunschweig 1805, S. 241 f.; zur Widerständigkeit von Gemeinden gegen aufklärerische Neuerungen in ihren Schulen, ein Phänomen, das in Ost und West anzutreffen war, sei exemplarisch verwiesen auf Edwin Dillmann, Institution Schule und mental-kultureller Prozeß. Eine Skizze zum 18. und 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 1 (1993), S. 1339, hier S. 26. 34 Neugebauer, Staat (FN 42), S. 502. es Ebd. S. 134-167; Fooken, Schulaufsicht (FN 35), S. 43-46. 86 J. Richter, Sächsische Volksschule (FN 37), S. 315, S. 346 ff., S. 350 f., S. 389; Kimpel, Anfänge (FN 16), S. 228; Dagmar Unverhau, Ein- und Ausführung des Adlerschen Landschulregulativs für Fehmarn von 1802. Fragen an die Forschung, in: Franklin Kopitzsch (Hrsg.), Erziehungs- und Bildungsgeschichte Schleswig-Holsteins von der Aufklärung bis zum Kaiserreich. Theorie, Fallstudien, Quellenkunde, Bibliographie (= Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins, 2), Neumünster 1981, S. 89-114, hier S. 97 f.; Stadt: Schnell, Mecklenburg (FN 19), Bd. 3, S. 287; Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium i n Staat und Gesellschaft. Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten, 1787-1817 (= Industrielle Welt, 15), Stuttgart 1974, S. 53 f. 87 Etienne François, Die Volksbildung am Mittelrhein im ausgehenden 18. Jahrhundert. Eine Untersuchung über den vermeintlichen „Bildungsrückstand" der katholischen Bevölkerung Deutschlands im Ancien Régime, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 3 (1977), S. 277-304, hier S. 294 f.; Reinhard Wittmann, Der lesende Landmann. Zur Rezeption aufklärerischer Bemühungen durch die bäuerliche Bevölkerung im 18. Jahrhundert, in: Dan Berindei, u. a. (Hrsg.), Der Bauer Mittel- und Osteuropas im sozioökonomischen Wandel des 18. und 19. Jahrhunderts. Beiträge zu seiner Lage und deren Widerspiegelung in der zeitgenössischen Publizistik und Literatur (= Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und
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Winterschule m i t starker S c h w a n k u n g der Frequenzen i m jahreszeitlichen Wechsel läßt sich schon f ü r das 16. J a h r h u n d e r t aufzeigen. Sie w u r d e w ä h r e n d des 18. Jahrhunderts i m Südwesten schon d e u t l i c h a b g e s c h w ä c h t 8 8 , h a t sich aber ansonsten zumeist i m a l t e n U m f a n g e r h a l t e n 8 9 . D e r A r b e i t s r h y t h m u s des Dorfes obsiegte über den landesherrlichen E d i k t e n w i l l e n . S t e l l t m a n ferner i n Rechnung, daß v o r a l l e m i n den S t ä d t e n neben e i n m a l konzessionierten Privatschulen u n d an sich u n e r w ü n s c h t e n u n d u n k o n t r o l l i e r t e n W i n k e l s c h u l e n ein d e n k b a r breites S p e k t r u m schwach oder n i c h t organisierter B i l d u n g s f o r m e n u n d -angebote existierte, w i r d das verfassungs-, j a herrschaftsgeschichtliche S p e z i f i k u m f r ü h n e u z e i t l i c h e r B i l dungsverfassung evident. A l l e diese B i l d u n g s p r a k t i k e n reduzierten n a t ü r l i c h die W i r k s a m k e i t der n u n „ ö f f e n t l i c h " genannten Schulen, z u m a l die p r i v a t e n Angebote i m N i v e a u erkennen lassen, daß sie durchaus dem gewachsenen gesellschaftlichen Bedürfnis i m Z e i t a l t e r der A u f k l ä r u n g folgten. M i t den P r i v a t - u n d W i n k e l s c h u l e n t r i t t f r e i l i c h e i n Element der langen D a u e r i n der Bildungsgeschichte entgegen, das w i r schon f ü r das 16. Jahrh u n d e r t beschrieben haben, es charakterisiert ganz w e s e n t l i c h die vormoderne Bildungsverfassung. M i t den M i t t e l n des absolutistischen Staates k o n n t e es - jedenfalls i m protestantischen D e u t s c h l a n d - n o c h n i c h t beherrscht w e r d e n 9 0 . I n der Residenzstadt Kassel gab es u m 1800 n i c h t w e n i -
Osteuropa, 2), Köln/Wien 1973, S. 142-196, hier S. 148; J. Richter, Sächsische Volksschule (FN 37), S. 59; Möckel, Zwickau (FN 42), S. 25, S. 30 f. 88 Schmid , Altwürttemberg (FN 42), S. 15, S. 134, S. 374 (Statistik!); vgl. aber für Baden im 18. Jh. Hasenfuss, Baden-Durlach (FN 57), S. 170, jedenfalls zum frühen 18. Jahrhundert. 89 Schnell, Mecklenburg (FN 19), Bd. 3, S. 340, S. 342; Walter Werres, Die sozialgeschichtliche Begründung der modernen Landschule in Deutschland, Phil. Diss. Münster 1965, S. 192 (Niederstift Münster); Fr(itz) Klein, Das niedere Schul- und Seminarwesen der Grafschaft Mark von 1775-1825. Ein Beitrag zur Geschichte der Lehrerbildung in Preußen, Dortmund 1925, S. 13 f. - statt anderer Belege; siehe ferner den: Auszug aus einem Bericht der Pommerschen Regierung und des Pommerschen Konsistoriums zu Stettin über die Verfassung der Schulanstalten i n dem Herzogthum Pommern, in: Annalen des Preußischen Schul- und Kirchenwesens 2 (1801), S. 69-114, hier S. 112 f. 90 Neugebauer, Staat (FN 42), Teil 2, Kap. 8, S. 581-624; Eckhard K. Deutscher, Private Schulen in der deutschen Bildungsgeschichte. Ein Beitrag zum Verhältnis von Schule und Staat, Erziehungswiss. Diss. Frankfurt am Main/Kelheim im Taunus 1976, S. 38 ff., S. 56 f.; in Leipzig Aufsicht durch den Rat: Johann Gustav Stephan, Urkundliche Beiträge zur Praxis des Volksschulunterrichts im achtzehnten Jahrhundert, Phil. Diss. Leipzig 1888, passim (zu den Strafmethoden i n diesen Schulen: S. 28); C. F. Eduard Mangner, Geschichte der Leipziger Winkelschulen. Nach archivalischen Quellen bearbeitet (= Schriften des Vereins für die Geschichte Leipzigs, 8), Leipzig 1906, S. 79; Fooken, Schulaufsicht (FN 35), S. 53; Verbote im 16. Jahrhundert: Helmuth Heyden, Kirchengeschichte Pommerns, Bd. 1 (= Ostmitteleuropa und der deutschen Osten, 3), Köln-Braunsfeld 1957, S. 233; Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Reg. Mörs II, Generalia Nr. 40 II, zu 1790; Christian August Heinrich Wolff, Repertorium über alle Landes-Angelegenheiten, welche auf den, seit dem Erb-Vergleich vom Jahr 1755, bis zum Ante-Comitial-Convent des Jahres 1784 i n Mecklenburg gehaltenen öffentlichen Landes-Versammlungen verhandelt worden, Rostock (1786), S. 659; deutsche Schulen, Hauslehrerbildung und Winkelschulen in Passau im 18. Jahrhun-
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ger als 32 „Privatschulen", in Bremen kurz zuvor etwa 100 Winkelschulen 91 . Im protestantischen Deutschland wurde eine niveauvolle Mädchenbildung fast ausschließlich von Privatschulen sichergestellt; solche, die von Orden betrieben wurden, kamen vor allem im katholischen Deutschland hinzu 9 2 . Die i n ihrer sozialen Breite oft unterschätzte nicht organisierte Erziehung durch Hauslehrer und Hofmeister war für den Staat schier unkontrollierbar, und es würde lohnen, unter diesem Gesichtspunkt die zeittypischen Lesegesellschaften i n die Betrachtung eingehender einzubeziehen 93 . dert: Margarete Laudenbach, Schule im Zeichen der Aufklärung. Das Passauer Elementarschulwesen unter dem Einfluß zeitgenössischer Schulreformkonzepte, in: Das achtzehnte Jahrhundert 20 (1996), Heft 2, S. 166-180, hier S. 169. 91 Heinrich Theodor Kimpel, Geschichte des hessischen Volksschulwesens im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1, Kassel 1900, S. 20. Rolf Engelsing, Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft, Stuttgart 1973, S. 48. 92 Theodor Jos. Scherg, Das Schulwesen unter Karl Theodor von Dalberg besonders im Fürstentum Aschaffenburg 1803-1813 und im Herzogtum Frankfurt 18101813, Tl. 2, München-Solln 1939, S. 382 ff.; Paul Münch, Lebensformen in der frühen Neuzeit 1500 bis 1800, (2. Aufl.), Frankfurt am Main/Berlin 1998, S. 106 (ungenau); Wilhelm Zimmermann, Die Anfänge und der Aufbau des Lehrerbildungs- und Volksschulwesens am Rhein um die Wende des 18. Jahrhunderts (1770-1826). Ein Beitrag zur Geschichte des rheinischen Schulwesens, 1. Tl.; Die Anfänge der Lehrerbildung und die Reform des niederen Schulwesens i n den rheinischen Territorialstaaten (1770-1794), Köln 1953, S. 41 ff.; Walter Fürnrohr, Franken. Deutsches und Lateinisches Schulwesen, in: Liedtke, Handbuch (FN 16), S. 665-671, hier S. 666; ders., Aufklärerische Reformbemühungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Ebd., S. 633-656, hier S. 653 f.; Anne Conrad, „Jungfraw Schule" und Christenlehre. Lutherische und katholische Elementarbildung für Mädchen, in: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hrsg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, Frankfurt am Main/New York (1996), S. 175-188, hier S. 185 ff.; Christine Mayer, Die Anfänge einer institutionalisierten Mädchenerziehung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: ebd. S. 373-392, hier S. 382388; Neugebauer, Staat (FN 42), S. 619 ff.; Schmid, Altwürttemberg (FN 42), S. 374 f., Landstädte: S. 376; Karl Ernst Maier, Das Schulwesen von der Zeit der Reformation bis zur Aufklärung, in: Liedtke, Handbuch (FN 16), S. 349-383, hier S. 374; Wolfgang Schmale, Die Schule in Deutschland im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Schmale/Dodde, Handbuch (FN 47), S. 627-767, hier S. 663, S. 727. 93 Vgl. F N 90; Helmut Möller, Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert. Verhalten und Gruppenkultur (= Schriften zur Volksforschung, 3), Berlin 1969, S. 250 f.; Ludwig Fertig, Die Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte des Lehrerstandes und der bürgerlichen Intelligenz, Stuttgart (1979), S. 4 ff.; S. 68, S. 91, S. 97, und passim; G. Stephan, Die häusliche Erziehung i n Deutschland während des achtzehnten Jahrhunderts. M i t einem Vorwort von Karl Biedermann, Wiesbaden 1891, S. 6 3 67, S. 72-96, S. 11-117; Hans H. Gerth, Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 19), Göttingen 1976, S. 32, S. 34, S. 51-60, mit Anm. 118-123; Rudolf Stadelmann/Wolfram Fischer, Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800. Studien zur Soziologie des Kleinbürgers im Zeitalter Goethes, Berlin (1955), S. 123; Paul Schwartz, Die Gelehrtenschulen Preußens unter dem Oberschulkollegium (1787-1806) und das Abiturientenexamen, 1. Bd. (= Monumenta Germaniae Paedagogica, 46), Berlin 1910, S. 220; Neugebauer, Staat (FN 42), S. 601-613; Brüning, Jahrhundert (FN 66), S. 325 weist Privatlehrer bei reichen Bauern i n Minden-Ravensberg nach; Fürnrohr, Reformbemühungen (FN 92), S. 652 f.; Lektüreverhalten: Herbert G. Göpfert, Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert, zuerst 1971, wieder i n Franklin Kopitzsch (Hrsg.), Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutsch-
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So könnte es fast scheinen, als würde sich der Zugriff des „Staates" auf die Bildungsverfassung, der im 16. Jahrhundert nachhaltig intensiviert worden war, im 18. Jahrhundert eher abgeschwächt haben, und in der Tat ließe sich für diese provokante These im protestantischen Deutschland manches Argument finden. Es bedeutete wenig, wenn in kräftigem Dekretdeutsch zum Schulbesuch aufgefordert wurde, dann aber - und zwar in Preußen 1805/06 - mit königlicher Order und in speziellen Verfügungen doch hinzugesetzt wurde, daß es natürlich einen „Schulzwang" nicht geben solle 94 . Aber manches spricht dafür, daß im katholischen Bereich, zumal da, wo an Traditionen von Gegenreformation bzw. katholischer Reform angeknüpft werden konnte, der Absolutismus ganz andere Wirkungen zu erzielen vermochte. In Österreich, wo es unter Joseph II. zu einem „Verbot aller privaten Schulen" gekommen ist 9 5 , hatte schon der Reformabsolutismus der spättheresianischen Zeit nach ersten organisatorischen Neuerungen (niederösterreichische Schulkommission 96 , Studienhofkommission) das höhere und das niedere Schulwesen in den Einflußbereich der modernisierten weltlichen Staatsverwaltung gezogen. Anders als in Preußen, wo auch mit der Einrichtung des Oberschulkollegiums im Jahre 1787 die jahrhundertealte Tradition geistlich-konsistorialer Schulaufsicht nicht gebrochen worden ist 9 7 , wurden in Österreich die staatlichen Kreisämter zu denjenigen Instrumenten, mit denen bis in die einzelne Schule ein- und durchgegriffen wer-
land. Zwölf Aufsätze, München 1976, S. 403-411, hier S. 405 f.; Klaus Gerteis, Bildung und Revolution. Die deutschen Lesegesellschaften am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte 53 (1971), S. 127 -139, i n Bremen 1791 36 Lesegesellschaften: S. 128. Irene Jentsch, Zur Geschichte des Zeitungslesens in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, Phil. Diss. Leipzig 1937, S. 145-172. 94 Siehe die bei Neugebauer, Schule und Absolutismus (FN 71), publizierten Quellen: Nr. 159, 199 und 206 auf S. 661 f., S. 680 f., S. 694 ; vgl. ders., Schuledikt 1717 (FN 71), S. 157 f. mit Hinweis auf europäische Parallelen; Gerhard Schmalenberg, Pietismus - Schule - Religionsunterricht. Die christliche Unterweisung im Spiegel der vom Pietismus bestimmten Schulordnungen des 18. Jahrhunderts (= Theologie und Wirklichkeit, 2), Bern/Frankfurt a.M. 1974, S. 75 f , S. 200 f. mit F N 150; Wirkungslosigkeit von Verfügungen in Hessen: Kimpel, 19. Jahrhundert, Bd. 1 (FN 91), S. 9 (18. Jh.); Schnell, Mecklenburg, Bd. 3 (FN 19), S. 278. 95 So mit der Jahreszahl 1783 - Lorenz Mikoletzky, Kaiser Joseph II. Herrscher zwischen den Zeiten (= Persönlichkeit und Geschichte, 107), Göttingen/Zürich/ Frankfurt a.M. 1979, S. 72; Karl Wotke, Das Oesterreichische Gymnasium im Zeitalter Maria Theresias (= Monumenta Germaniae Paedagogica, 30), Berlin 1905, Nr. 49, S. 389. 96 Thomas Ignaz Freiherr von Pöck, Supplementum Codicis Austriaci . . . , 6. Tl., Wien 1777, S. 1381 (22. Okt. 1770); vgl. Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs, Bd. 3, (Wien 1984), S. 99. 97 Neugebauer, Staat (FN 42), S. 102-120; man vgl. damit Peter Mainka, Karl Abraham von Zedlitz und Leipe (1731-1793). Ein schlesischer Adliger i n Diensten Friedrichs II. und Friedrich Wilhelms II. von Peußen (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 8), Berlin (1995), S. 516-598, vgl. damit jedoch die in der Edition von Neugebauer, Schule und Absolutismus (FN 71), S. 791 nachgewiesenen Quellenstellen.
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den konnte. In Preußen hatte die vergleichsweise moderne Kommissariatsverwaltung im 17. und 18. Jahrhundert (mit Ausnahme der Bausachen) damit nichts zu tun. Unter Joseph II. wurde das staatliche Instrumentarium durch den „Kreiskommissär in Schulsachen" noch weiter ausgebaut und differenziert. Nicht die „Allgemeine Schulordnung" von 1774 und ihr System von Schultypen ist das wesentliche, sondern der Staatsgriff selbst nach jedem Hauslehrer. Die Aufhebung des Jesuitenordens und sodann der josephinische Klostersturm verstärkten den staatlichen Einfluß; eingezogenes geistliches Vermögen erbrachte eine Finanzmasse, die, durch spezielle Steuern noch vermehrt, zugunsten des Bildungswesens eingesetzt wurde, und zwar nicht nur für Universitäten und für hohe Schulen 98 . Im protestantischen Deutschland galt auch in dieser Hinsicht der Primat der Gemeinde. Von allen Details, auch denjenigen der handelnden Personen, ist hier zu abstrahieren. Das wesentliche ist der Typus einer staatsinduzierten Reform, die die Schulen unterschiedlichen Niveaus in ein System brachte, bis hinunter zu den deutschen oder Trivialschulen. Im Resultat lassen sich großflächige Effekte nachweisen, wenngleich der Schulbesuch etwa der deutschen Erbländer von denen in den polnischen Teilungsgebieten noch deutlich differierte 99 . Zum Typus, von dem wir sprechen, gehört ganz wesentlich, daß die Reformen des späteren 18. Jahrhunderts strukturell auf sehr viel langfristigeren Prozessen aufruhen, solchen aus der Zeit des konfessionellen Frühabsolutismus Ferdinands I I . 1 0 0 . Das ließe sich in Österreich u. a. dann genauer 98 Wolf gang Neugebauer; Staatswirksamkeit i n Österreich und Preußen im 18. Jahrhundert. Problemskizze am Beispiel des niederen Bildungswesens, in: Jeismann, Bildung (FN 71), 103-115, wo ich die These vom, wenn man so will, früheren Staatszugriff katholischer Staaten auf die Bildungsstrukturen im Vergleich mit dem preußisch-protestantischen Fall 1989 erstmals erprobt habe, unter Einbeziehung des katholischen Frühabsolutismus Ferdinands II.; hier zunächst S. 106 -114, mit Angabe von Quellen und der neueren Lit.; vgl. noch Joseph Alexander von Helfert, Die Gründung der österreichischen Volksschule durch Maria Theresia, Prag 1860, bes. S. 783 ff.; Gustav Strakosch-Graßmann, Geschichte des österreichischen Unterrichtswesens, Wien 1905, bes. S. 120-132; Kreiskommissär in Schulsachen: Sammlung der Kaiserlich-Königlichen landesfürstlichen Gesetze und Verordnungen in PublicoEcclesiasticis vom Jahr 1786, 5. Tl., Wien 1788, Nr. 2, S. 2 - 6 , bes. S. 5 f.; vgl. allgemein Otto Brunner; Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688, Salzburg 1949, S. 317; Neugebauer; Zur Staatsbildung (FN 71), S. 193. 99 Anton Weiß, Geschichte der Österreichischen Volksschule unter Franz I. und Ferdinand I. 1792-1848. Nach Archivalien des k. und k. Haus-, Hof- und Staatsarchivs, des Archivs des k.k. Ministeriums für Kultur und Unterricht in Wien und anderer Archive, Graz/Wien/Leipzig 1904, S. 764, S. 777, S. 790, S. 806 f., S. 815, S. 820, S. 836, S. 895, S. 919 u. ö.; Ernst Wangermann, Aufklärung und staatsbürgerliche Erziehung. Gottfried van Swieten als Reformator des österreichischen Unterrichtswesens 1781-1791 (= Österreich Archiv), München/Wien 1978, S. 42, S. 59; Carl Freiherr von Hock/Herm Ign. Bidermann, Der österreichische Staatsrath (17601848). Eine geschichtliche Studie, Wien 1879, S. 520. 100 Hans Sturmberger,; Kaiser Ferdinand II. und das Problem des Absolutismus, zuerst 1957, wieder in: Ders., Land ob der Enns und Österreich. Aufsätze und Vor-
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zeigen, w e n n das P a t r o n a t s r e c h t 1 0 1 i n der F r ü h e n Neuzeit eingehender analysiert w ü r d e . H i e r w a r es n u n n i c h t m e h r eine B a s t i o n der L o k a l h e r r s c h a f t i n der t e r r i t o r i a l e n Bildungsverfassung, sondern b o t der landesherrlichen I n t e r v e n t i o n zusätzliche A n h a l t s p u n k t e . D e r österreichische F r ü h a b s o l u t i s mus des 17. Jahrhunderts hatte Spätfolgen i m 18. Jahrhundert. Ganz analog ist i n Bayern schon i m 16. J a h r h u n d e r t der G r i f f des „ K o n fessionsstaates" n a c h den B i l d u n g s s t r u k t u r e n i n einem umfassenderen Sinne ein unverzichtbares I n s t r u m e n t gewesen, u m die Position der alten K i r c h e z u festigen. Das setzte m i t den K i r c h e n - u n d S c h u l v i s i t a t i o n e n u m 1560 e i n 1 0 2 . D i e enge Verzahnung v o n Staatsverfassung u n d Bildungsverfassung i m k a t h o l i s c h e n D e u t s c h l a n d t r i t t a m bayerischen F a l l d a r i n e n t gegen, daß u n t e r h a l b des Geistlichen Rates v o n 1 5 7 0 / 7 3 1 0 3 sehr b a l d u n d n o c h i m 18. J a h r h u n d e r t die Rentämter auch f ü r die Schulen z u s t ä n d i g waren. N u r die Jesuiten u n d z e i t w e i l i g die U n i v e r s i t ä t I n g o l s t a d t besaßen eine S o n d e r s t e l l u n g 1 0 4 . D i e „Rentmeisterliche I n s t r u k t i o n " des Jahres 1669 hatte a u s d r ü c k l i c h die A u f s i c h t über die „ S c h u l m e i s t e r " , die auch i m Schreiben u n d Rechnen u n t e r r i c h t e n sollten, erwähnt. Besondere S c h u l „ K o m m i s s a r e " sollten z u Visitationszwecken bestellt w e r d e n 1 0 5 . Das w a r e n träge (= Ergänzungsband zu den Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs, 3), Linz 1979, S. 154-187, hier S. 158, S. 163 ff., S. 167, S. 186 f. 101 J. R. Kusei, Die öffentlichen Patronate im kaiserlichen Österreich und ihre Schicksale i n seinen Nachfolgestaaten, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonist. Abt. 19 (1930), S. 171-214, hier S. 175; (Franz Anton Edler von Guarient), Codicis Austriaci ordine alphabetico c o m p i l a t i . . . , 2. Tl., Wien 1704, S. 178 f., S. 208-211; Gustav Reingrabner, Protestantismus i n Niederösterreich (= Wissenschaftliche Schriftenreihe Niederösterreich, 27), St. Pölten/Wien (1977), S. 122 f., S. 126 f.; Joseph Stanzel, Die Schulaufsicht im Reformwerk des Johann Ignaz Felbiger (1724-1788). Schule, Kirche und Staat in Recht und Praxis des aufgeklärten Absolutismus (= Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folge, 18), Paderborn 1976, S. 235 f.; Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. ... Bd. 2: Das 16. und 17. Jahrhundert, (Wien 1983), S. 133. - Zur Wirkung der österreichischen Schulreformen, vor allem derjenigen Felbigers, auf das kath. Deutschland s. Laudenbach, Schule (FN 90), S. 170 f. 102 Maier, Reformation (FN 92), S. 359; Landers dor fer, Freising (FN 57), S. 32-65. 103 Freiherr von Kreittmayr, Grundriß des Allgemeinen Deutsch- und Bayerischen Staatsrechtes, 3 Teile, München 1770, hier S. 359, S. 361; Annelie Hopfenmüller, Der Geistliche Rat unter den Kurfürsten Ferdinand Maria und Max Emanuel von Bayern (1651-1726) (= Miscellanea Bavarica Monacensia, 85), München 1985, S. 5; Eduard Rosenthal, Geschichte des Gerichtswesens und der Verwaltungsorganisation Baierns. In 2 Bänden, Würzburg 1889-1906, 2. Neudruck Aalen 1984, hier Bd. 1, S. 506-529, Bd. 2, S. 411; Κ E. Maier, Schulwesen (FN 92), S. 362 f.; M(ichael) Doeberl, Entwikkelungsgeschichte Bayerns, Bd. 1, München 1906, S. 419 ff. 104 Winfried Müller, Regionalgeschichtliche Ergänzungen. Altbayern, in: Liedtke, Handbuch (FN 16), S. 657-664, hier S. 657; Fürnrohr, Reformbemühungen (FN 92), S. 641; Richard Bauer, Der kurfürstliche geistliche Rat und die bayerische Kirchenpolitik 1768-1802 (= Miscellanea Bavarica Monacensia, 32), München 1971, S. 104. 105 (Wiguläus Xaverius Frhr v. Kreittmayr), Sammlung der neuest und merkwürdigen Churbaierischen Generalien und Landesordnungen. Mit churfürstlich gnädigster Freyheit, München 1771, S. 547-555, hier S. 555; Volker Press, Die wittelsbachischen
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freilich nur Anfänge, aber hieran konnte bei der bayerischen Schulreform seit 1770 angeknüpft werden, beginnend mit dem Schulmandat dieses Jahres 106 , in Bayern aber - im Unterschied zu Preußen - damit nicht schon endend. Wie in Österreich wurde in Bayern ein Schulfonds geschaffen, gespeist aus dem angefallenen Jesuitenvermögen. Allerdings war, wie formuliert worden ist, die „Verstaatlichung", „nicht Verweltlichung" des Bildungswesens das eigentliche Z i e l 1 0 7 . Aufklärung und Katholizismus wirkten zusammen. Wenn es richtig ist, daß das Personal der bestehenden Elementarschulen nun intensiven Prüfungen unterzogen wurde und daß am Ende des Jahrhunderts davon zwei Drittel der Lehrer betroffen waren, so ist dies ein auch in vergleichender Sicht bemerkenswertes D a t u m 1 0 8 . Dies gilt ferner für die großflächige Verteilung staatlich lizensierter Schulbücher. Wenngleich in Bayern zur Gründung von Seminaren erst spät geschritten worden ist, kamen die Strukturen doch schon in Bewegung. Offenbar war um 1800 der Schulbesuch in Bayern schon größer als in Preußen 109 . Die N e u o r g a n i s a t i o n der staatlichen Zentral V e r w a l t u n g mit dem „Generalschuldirektorium" von 1802 führte dann schon in ein neues Jahrhundert, in dem die Bildungspolitik unter Montgelas - nach Ludwig Doeberl - auf dem Fundament des späten 18. Jahrhunderts fortbauen und nun auch das gymnasiale Schulwesen verändern konnte 1 1 0 .
Territorien: Die pfälzischen Lande und Bayern, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/ Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, (Stuttgart 1983), S. 552-599, hier S. 592; Rosenthal, Gerichtswesen (FN 103), Bd. 2, S. 167-171, vgl. Bd. 1, S. 315. 106 Kreittmayr, Sammlung der Generalien (FN 105), S. 475-479, bes. S. 476; zur bayerischen Schulreform, die mit dem Namen des Geistlichen Rats Heinrich Braun verbunden ist, vgl. aus der Lit. ζ. Β. noch Bauer, Geistlicher Rat (FN 104), S. 104 f., S. 109, neue Schulordnung von 1774: S. 110. Klassische ältere Darstellung: Franz Zwerger, Geschichte der realistischen Lehranstalten in Bayern (= Monumente Germaniae Paedagogica, Bd. 53), Berlin 1914, S. 33-44, S. 47 ff. 107 Albert Reble, Das Schulwesen, in: Max Spindler (Hrsg.), Bayerische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert 1800-1970, 2. Teilband, Sonderband München 1978, S. 949-990, hier S. 951 ff.; Müller, Altbayern (FN 104), S. 662; Fürnrohr, Reformbemühungen (FN 92), S. 639; Doeberl, Entwickelungsgeschichte, Bd. 2 (FN 77), S. 283 f.; allgemein zum Thema Aufklärung und Katholizismus: Harm Klueting (Hrsg.), Katholische Aufklärung - Aufklärung im katholischen Deutschland (= Studien zum 18. Jahrhundert, 15), Hamburg (1993), mit der Einleitung, S. 1-35, Bayern: S. 18 ff.; - vgl. im weiteren Sinne Erich Zöllner, Bemerkungen zum Problem der Beziehungen zwischen Aufklärung und Josephinismus, zuerst 1965, erw. in: Ders., Probleme und Aufgaben der österreichischen Geschichtsforschung. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. Heide Dienst und Gernot Heiß, Wien 1984, S. 348-364, bes. S. 362 ff. 108 Müller, Altbayern (FN 104), S. 662, auch zur nur geringen Anhebung der Qualität; Schulbücher: Fürnrohr, Reformbemühungen (FN 92), S. 643; Reble, Schulwesen (FN 107), S. 952 f., S. 956. 109 Schmale, Deutschland (FN 92), S. 683.
no Ludwig Doeberl, Maximilian von Montgelas und das Prinzip der Staatssouveränität (= Deutsche Geschichtsbücherei, 3), München 1925, S. 139 f.; Reble, Schulwesen (FN 107), S. 954. 8'
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Vielleicht waren die größeren katholischen Staaten auf Grund spezifischer Traditionen aus der Zeit des konfessionellen Frühabsolutismus zur extensiven Staatsbildung unter Einschluß der Bildungsverfassung früher in der Lage als die größeren protestantischen Territorien. In Preußen blieb die Staatsbildung 1 1 1 selektiv, konzentriert auf die für den Militär- und Machtstaat relevanten Felder von Armee, Finanz- und Staatswirtschaft, erst spät dann auch der Justiz. Manches deutet nun darauf hin, daß als dritter Typus derjenige bestimmt werden kann, der als kleinräumig-intensiver zu bezeichnen wäre. Nicht primär die eigentümlichen Bildungen spezifischer staatlicher Kollegien für Schulsachen, in Schleswig und Holstein das Schuldirektorium (1771), das berühmtere in Braunschweig, dasjenige im Hochstift Speyer, der Oberschulrat in Hessen-Kassel von 1805, sind hier von Bedeutung; die Würzburger Schulkommission von 1770 geht allen diesen Bildungen voran 1 1 2 . Wichtiger noch sind nachweisbare Formungen der Bildungsverfassung durch landesfürstliche Intervention. Gerade in den kleinen und kleineren Territorien konnten Staatsverfassung und Bildungsverfassung in eine enge Beziehung gesetzt werden. Im thüringischen Raum, in dem freilich schon im 16. Jahrhundert Schulen auch auf dem Lande weit verbreitet waren, ist mit der - hier können w i r in der Tat sagen: - Schulpolitik Ernst des Frommen von Sachsen-Gotha ein prominentes Beispiel schon oft beschrieben worden 1 1 3 . Dort war das Bildungswesen im kleinstaatlichen Rahmen ein wirksames Instrument territorialer Konsolidierungspolitik zu Ende des Dreißigjährigen Krieges; hier wurde temporär nach jedem Untertanen gegriffen 114 , und immerhin sind Effekte auf Zeit durchaus erkennbar. Im Hessischen sind seit dem 16. Jahrhundert gleich mehrere Beispiele für kleinräumige Strukturpolitik im Bil111 Vgl. Neugebauer, Staatsbildung (FN 71), S. 190-194. Franklin Kopitzsch, Reformversuche und Reformen der Gymnasien und Lateinschulen in Schleswig-Holstein im Zeitalter der Aufklärung, in: ders. (Hrsg.), Bildungsgeschichte (FN 86), S. 82; Hanno Schmitt, Schulreform im aufgeklärten Absolutismus. Leistungen, Widersprüche und Grenzen philanthropischer Reformpraxis im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel 1785-1790. Mit einem umfassenden Quellenanhang (= Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, 12), Weinheim/Basel (1979), S. 114 ff.; Jehle, Speier (FN 82), S. 108; Kimpel, Anfänge (FN 16), S. 343; ders., 19. Jahrhundert (FN 91), Bd. 1, S. 21; Würzburg: Hans-Michael Körner, Michael Ignaz Schmidt, die Schulreformen im Hochstift Würzburg und ihre auswärtigen Vorbilder, in: Peter Baumgart (Hrsg.), Michael Ignaz Schmidt (17361794) in seiner Zeit. Der aufgeklärte Theologe, Bildungsreformer und „Historiker der Deutschen" aus Franken in neuer Sicht. Beiträge zu einem Symposion vom 27. bis 29. Oktober 1994 i n Würzburg (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg, 9), Neustadt an der Aisch 1996, S. 43-60, hier S. 48, S. 58; Scherg, Dalberg (FN 92), Bd. 1, S. 14; zur „deutschen Schulkommission" im Fürstbistum Passau (1780er Jahre) s. Laudenbach, Schule (FN 90), S. 172 f. - auch zu ihren Aufgaben. us Fertig, Obrigkeit (FN 26), S. 27 f., S. 55, S. 63, S. 80, S. 87-103, S. 108, S: 189194 u. ö.; Rudolf Menzel, Die Anfänge der Volksschule in Thüringen, in: Thüringer Heimat 3 (1958), S. 208-220, hier S. 213 (16. Jahrhundert). 114 Fertig, Obrigkeit (FN 26), S. 161. 112
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dungsbereich z u studieren, i n den Grafschaften Nassau u n d Sayn u n d auch i n Hessen-Darmstadt. D a b e i k o n n t e n w i e d e r u m konfessionelle K o n k u r renzkonstellationen s t i m u l i e r e n d w i r k e n 1 1 5 . H i e r w a r der frühmoderne Staat i n der Lage z u k o n t r o l l i e r e n u n d zu ordnen. Es f ä l l t auf, daß in B r a n denburg-Preußen der landesherrliche Z u g r i f f auf das Schulwesen n i c h t i n den größeren Staatsprovinzen u m B e r l i n u n d Königsberg, sondern i n k l e i neren E x p o s i t u r e n i m Westen intensiv gewesen ist, etwa i m überschaubaren F ü r s t e n t u m H a l b e r s t a d t u n d d a n n i n M i n d e n u n d R a v e n s b e r g 1 1 6 . Das B i l dungswesen Preußens w u r d e d u r c h sehr starke Regionalismen u n d Landest r a d i t i o n e n b e s t i m m t , gegen die der A b s o l u t i s m u s n i c h t ankam. D i e verschiedenen Reformen z u Ende des 18. Jahrhunderts i n den Gebieten des geistlichen D e u t s c h l a n d fügen sich i n dieses B i l d nahtlos ein. I n diesen Fällen, vielfach i n s p i r i e r t z u m a l v o m österreichischen V o r b i l d , ist i n sehr moderner Weise i m m e r w i e d e r b e i der L e h r e r b i l d u n g angesetzt w o r d e n 1 1 7 . 115 Gerhard Menk, Territorialstaat und Schulwesen in der frühen Neuzeit. Eine Untersuchung zur religiösen Dynamik in den Grafschaften Nassau und Sayn, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 9 (1983), S. 177-220, bes. S. 180 f., 184, S. 187, „Verflächungssprozeß" im Territorium (Sayn), dabei wesentliche Rolle des Schulwesens: S. 190; S. 192: „eingerichtete neue Kirchspielschulen" i n den Jahren 1590-1600, z.T. Schulen „auf einen Stand gebracht" (also wohl: vorher schon vorhanden), S. 193: ländliche Bevölkerung nicht erreicht, Ausbau endet 1620, „Beharrungskraft der ländlichen Bevölkerung", vgl. ebenso S. 193 f., S. 198 f.; Menk weist im Ergebnis darauf hin, daß die „Beharrungskraft der ländlichen Bevölkerung" dagegen gestanden habe und daß der Kalvinismus es nicht vermocht hätte, „hier in kurzer Frist eine Veränderung der Mentalität oder der sozialen Möglichkeiten zu bewirken" (S. 193), insges. S. 193 f., ebenso S. 198 f., vgl. noch S. 202, S. 218 f. (Konkurrenzlage); vgl. damit Schilling, Aufbruch (FN 12), S. 333 f., S. 335, wo der Abbruch der Entwicklung auf den Deißigjährigen Krieg zurückgeführt wird; Kimpel, Anfänge (FN 16), S. 44; Anhalt-Dessau im 18. Jahrhundert: Anton Schindling, Bildung und Wissenschaft in der frühen Neuzeit 1650-1800 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, 30), München 1994, S. 34 f.; Erhard Hirsch, Dessau-Wörlitz. Aufklärung und Frühklassik, (2. Aufl.) Leipzig (1987), S. 96, S. 105 (1785/87) - worauf hier aus Raumgründen nur nachdrücklich verwiesen werden kann. ne Werner, Halberstadt (FN 82), Bd. 1, S. 103 ff.; Neugebauer, Staat (FN 42), S. 145; siehe jetzt auf reicher Materialbasis Brüning, Jahrhundert (FN 66), S. 242 ff., S. 252, S. 263-275, S. 306, S. 308, 317, 328 ff., bes. S. 334, vgl. S. 346, S. 350; Brüning hebt hervor, daß i n Minden und Ravensberg die (landesherrlichen) Territorialkollegien in erstaunlicher Autonomie und durchaus nicht primär auf Veranlassung der Berliner Instanzen Wirkungen auf die landschaftlichen Schulstrukturen ausgeübt hätten, was eine interessante Ergänzung, vielleicht eine Modifikation des bisherigen Bildes darstellt; zu dieser beachtlichen Dissertation aus der Schule Anton Schindlings siehe meine Rezension in den Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte NF 10 (2000), S. 123-126. 117 Fulda: Kimpel, Anfänge (FN 16), S. 300-326; ders., 19. Jahrhundert (FN 91), Bd. 1, S. 11; Fürnrohr, Reformbemühungen (FN 92), S. 653; Schindling, Bildung und Wissenschaft (FN 115), S. 19; Laudenbach, Schule (FN 90), S. 166 f., S. 170-174, vgl. ο. F N 101; ferner zu Trier: François, Mittelrhein (FN 87), S. 300, S. 303; Körner, Schmidt (FN 112), S. 50, S. 53, S. 58; und schließlich Jehle, Speier (FN 82), S. 20 f., S. 27, S. 29 f., auch zur Wirkung Felbigers; Scherg, Dalberg (FN 92), Bd. 1, S. 14, S. 27-32, S. 331; Baumgart, Dalberg (FN 75), S. 15, S. 19 f.; ders., Michael Ignaz Schmidt (1736-1794). Historiker und Theologe, in: Lebensbilder bedeutender Würzburger Professoren (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg, 8), Neustadt an der Aisch 1995, S. 1-19, hier S. 5; Werner Dettelbacher, Schul-
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Vielleicht kann man diese Phänomene als Beispiele für die - mit Otto Hintze - Unterscheidung von kleinräumig-intensiver und weitflächig-extensiver Staatsbildung ansehen 118 . Damit gewönne das frühneuzeitliche Bildungswesen eine analytische Bedeutung für Stadien und Grade von Staatsbildung und Herrschafts Verdichtung. Schon jetzt darf die Aussage gewagt werden, daß sowohl die im 19. Jahrhundert so vielgescholtene Zersplitterung Deutschlands in der Frühen Neuzeit auf dem Felde der Kulturund Bildungsgeschichte hohe Entwicklungspotentiale durch die engere Verknüpfung von Staatsverfassung und Bildungsverfassung geschaffen hat. Ein übernationaler Vergleich böte dafür weitere gute Argumente. Auch im vorrevolutionären Frankreich hat es staatliche Deklarationen (1698, 1700, 1724) gegeben, nach denen in allen Parochien Schulmeister anzusetzen seien. Gemeinsam mit den mitteleuropäischen Verhältnissen ist, daß schon ihre Wiederholung auf die minimale Wirkung hindeutet 1 1 9 . Die unsystematische Ausbildung des Lehrpersonals, das auch in Frankreich schlecht bezahlt wurde und in Stadt und Land in Elementartechniken, vielleicht auch in Latein, einführte, die große Verschiedenheit der Angebote, wobei in Städten allenfalls in Geographie, Geometrie und Geschichte eingewiesen wurde, sind von der französischen Forschung oft geschildert worden. Die ungleiche Schuldichte deutet auf wesentlich landschaftliche Prägungen auch im Frankreich vor der Revolution hin. Die jahreszeitliche Schwankung, diejenige von Sommer- und Winterschule, die Winkelschulen in den Städten, das alles verweist auf kontinentaleuropäische Gemeinsamkeiten, die w i r in mitteleuropäischen Landschaften bereits studierten 1 2 0 . Im alten reformen im Hochstift zu Würzburg, im Kurfürstentum Mainz, in den Grafschaften Castell und Castell-Rüdenhausen, in: Liedtke, Handbuch (FN 16), S. 672-679, hier S. 672 ff. - Zum bemerkenswerten Verstaatungsvorsprung der katholischen Territorien im Vergleich zu Preußen vgl. schon meine oben FN 98 angegebene Studie. Parallel zu diesen hier erweitert vorgetragenen Thesen, die ich erstmals Ende 1998 an der Universität Würzburg zur Diskussion gestellt habe, hat Jens Brüning i n seiner F N 66 nachgewiesenen Monographie, ausgehend von seiner westfälischen Spezialmaterie auf den „Vorsprung der katholischen Reichsteile" hingewiesen (S. 345, vgl. auch S. 347), für die westfälischen Territorien vgl. auch S. 338 f., S. 342. 118 Mit weiterer Lit. vgl. Wolf gang Neugebauer, Otto Hintze und seine Konzeption der „Allgemeinen Verfassungsgeschichte der neueren Staaten", zuerst 1993, erw. in: Otto Hintze, Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staaten, Fragmente, Bd. 1, hrsg. von Giuseppe D i Costanzo/Michael Erbe/Wolfgang Neugebauer, (= Palomar Athenaeum, 17), (Neapel 1998), S. 35-83, hier S. 46, S. 72; schon 1985 habe ich in dem Buch: Staat (FN 42), bisweilen, etwa S. 145, auf die Kategorie der Raumgröße für die Durchsetzungschancen vormoderner preußischer „Verwaltung" hingewiesen. Die neuere Lit. bietet auch dafür weitere Bestätigungen. 119 Charles Fourrier , L'Enseignement français de l'antiquité à la révolution. Précis d'histoire des institutions scolaires par les textes juridiques, (Paris) 1964, S. 139 und die Auszüge S. 257-259; François Furet/Jacques Ozouf , Lire et écrire. L'alphabétisation des français de Calvin à Jules Ferry, (Bd. 1), Paris 1977, S. 74, S. 85; Engelsing, Analphabetentum (FN 91), S. 45 f., S. 166 f., Anm. 4; E. Levasseur, L'enseignement primaire dans les pays civilisés, Paris-Nancy 1897, S. 41 f. 120 Levasseur, L'enseignement (FN 119), S. 42; Maurice Gontard , L'enseignement primaire en France de la révolution à la loi Guizot. Des petites écoles de la mon-
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Frankreich hielt sich der Staat vielleicht noch mehr zurück, und die Intendanten haben (nach Furet/Ozouf) eher die Tendenz verfolgt, einer Ausdehnung der Elementarausbildung entgegenzuwirken 121 . Das schließt natürlich nicht aus, daß auch in Frankreich die Gegenreformation ein Movens der Entwicklung w a r 1 2 2 . Natürlich spielte die Kirche eine große Rolle, mehr aber noch die Gemeinden; der bildungsstrukturelle Lokalismus ist von der französischen Forschung nachdrücklich betont worden 1 2 3 , und so sind gesellschaftliche Initiativen etwa für eine mathematisch-technische Ausbildung wichtiger gewesen als solche staatlich-obrigkeitlicher Herkunft. Die auf vorzüglicher Quellenbasis gut erforschte Alphabetisierung Frankreichs folgte nicht staatlich-administrativen Grenzen, sondern landschaftlichgroßregionalen Linien, bestimmt von Verkehrsverhältnissen und Marktintensität 1 2 4 . In der Summe gewinnt man den Eindruck, daß in manchen Staaten Mitteleuropas das Verhältnis von Staatsverfassung und Bildungsverfassung ein engeres gewesen ist. Diese These würde durch das englische Beispiel sehr wohl gestützt werden können. Dort hat der Staat erst um 1870 das Bildungswesen zum Objekt intensiverer Fürsorge und Tätigkeit gemacht, während bis dahin private Träger und häusliche Erziehung - durchaus nicht nur in der Aristokratie - dominierten. Im höheren Bildungswesen hatten Stiftungen eine lange Tradition 1 2 5 . Erst im 19. Jahrhundert entstand archie d'ancien régime aux écoles primaires de la monarchie bourgeoise, Paris 1959, S. 26, S. 35, S. 37; Schmale, Frankreich (FN 47), S. 194; Hans-Christian Harten, Das niedere Schulwesen i n Frankreich am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Schulentwicklung zwischen Reform und Revolution, in: Albrecht/Hinrichs (Hrsg.), Schulwesen (FN 73), S. 25-47, hier S. 25; Furet/Ozouf, Lire (FN 119), S. 81. 121 Furet/Ozouf, Lire (FN 119), S. 75 f.; Karl-Ernst Jeismann, „Nationalerziehung". Bemerkungen zum Verhältnis von Politik und Pädagogik i n der Zeit der preußischen Reform 1806-1815, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 19 (1968), S. 201-218, hier S. 205; Schmale, Frankreich (FN 47), S. 217; Universität und Autonomie im alten Frankreich: Roland Mousnier, The Institutions of France under the Absolute Monarchy 1598-1789. Society and State, Chicago/London 1979, S. 450455. 122 Gontard, L'enseignement (FN 120), S. 12, S. 14. 123 Furet/Ozouf, Lire (FN 119), S. 80 f., folgendes: S. 92-94. 124 Schmale, Frankreich (FN 47), S. 188; François, Alphabetisierung (FN 47), 409, vgl. S. 413; ders., Unterschiede (FN 47), S. 156, S. 166; Prass, Signierfähigkeit (FN 47), S. 183; Levasseur, L'enseignement (FN 119), S. 43 f., sowie Gontard, L'enseignement (FN 120), S. 22, Figuren 1 und 2. 125 Charles Birchenough, History of Elementary Education in England and Wales froml800 to the Present, 3. Aufl., London 1938, S. 2 - 4 ; William Boyd/Edmund J. King, The History of Western Education, 10. Aufl., London 1972, S. 367 ff.; Lawrence Stone, The Educational Revolution in England, 1560-1640, in: Past and Present 28 (1964), S. 41-80, hier S. 45; Wolfgang Schmale, Allgemeine Einleitung: Revolution des Wissens? Versuch eines Problemaufrisses über Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung, in: Schmale/Dodde (Hrsg.), Revolution (FN 47), S. 1 - 4 6 , hier S. 17, und Lawrence A. Williams, Abstinenz des Staates. Das britische Schulwesen 1750-1825 (England, Schottland, Irland), in: Ebd., S. 97-135, hier S. 102-105, S. 109, S. 114; Hans-Günter Thien, Schule, Staat und Lehrerschaft. Zur historischen Genese bürgerlicher Erziehung i n Deutschland und England (1790-1918), Frankfurt a.M./New York 1984, hier S. 247-250, S. 275.
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in England ein „staatliches Schulinspektorialsystem" (Thien). In den Vereinigten Niederlanden gab es bis 1795 kein staatliches Engagement in diesem Bereich 1 2 6 . Man könnte also versucht sein, diese Beobachtungen in ein weiteres europäisches West-Ost-Modell zu integrieren 1 2 7 und über ein Verstaatungsgefälle nachzudenken. Dabei müßte innerhalb der Großräume differenziert werden, wie das mitteleuropäische Beispiel zeigt und wie es auch die Resultate der französischen Alphabetisierungsforschung nahelegen. Der mitteleuropäische Typenpluralismus liegt zwischen den eher durch schwachen Staatszugriff gekennzeichneten westeuropäischen Staaten und den osteuropäischen Bildungsstrukturen. In Rußland, im Polen des 18. Jahrhunderts, in Böhmen und Ungarn ist die Rolle des Staates für das Bildungswesen sehr viel größer gewesen, jedenfalls im späten 18. Jahrhundert. Die mitteleuropäischen Typen, die gewissermaßen quer liegen zur europäischen Struktur, haben einen spezifischen Beitrag zur europäischen Bildungs- und Kulturgeschichte erbracht. Der mitteleuropäische Alphabetisierungsvorsprung im 19. Jahrhundert - auch gegenüber Westeuropa - 1 2 8 ist dafür ein sicheres Indiz. Der Beitrag, den dazu das katholische und das kleinzellige Deutschland geleistet hat, darf nicht übersehen werden. Insofern haben also die spezifischen politischen Strukturen in Mitteleuropa durchaus einen langfristigen Beitrag zur Entstehung moderner kul126 Schmale, Einleitung (FN 125); S. 18; Nan L. Dodde/Jan H. G. Lenders, Reform. Reorganisation, Stagnation. Der Schulunterricht in den Niederlanden und Belgien 1750-1825, in: Schmale/Dodde, Revolution (FN 47), S. 137-178, hier S. 149 ff. 1 2 7 Ost-und Mitteleuropa: Joachim Krumbholz, Die Elementarbildung in Rußland bis zum Jahre 1864. Ein Beitrag zur Entstehung des Volksschulstatuts vom 14. Juli 1864 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Mitteleuropa, 15), Wiesbaden 1982, S. 12-18; Galina Smagina, Die Schulreform Katharinas II.: Idee und Realisierung, (Manuskriptdruck Zerbst) 1996, S. 4-14, S. 16-32; die einschlägigen Beiträge bei Schmale/Dodde, Revolution (FN 47), bes. Sàndor Komlósi, Schule und Erziehung in Ungarn (1750-1825).Zwischen Systemerhalt und Modernisierung, S. 255-293, bes. S. 271 ff.; Dagmar Capkovà, Der Neubeginn. Die Schule in den tschechischen Gebieten seit 1774. Österreichische Reformzeit und Nationale Wiedergeburt der Tschechen, ebd. S. 295-321, bes. S. 305 ff., S. 311-315 (Felbiger); Marianna Krupa, Schulerziehung in Polen 1750-1825, in: Ebd., S. 351-385, bes. S. 381 f. Tadeusz Korzon, Wewnçtrzne dzieje Polski za Stanislawa Augusta (1764-1794) ..., Tom. 4, Krakau/Warschau 1897, S. 322-328, ferner Tom. 5, Krakau/Warschau 1897, S. 193 -196, und die weiteren in Tom. 6, Krakau/Warschau 1898, S. 367 verzeichneten Stellen; für Böhmen die Materialsammlung von Anton Weiss, Geschichte der Theresianischen Schulreform in Böhmen. Zusammengestellt nach den halbjährigen Berichten der Schulen-Oberdirektion 17. September 1777-14. März 1792, 2 Bde. (= Beiträge zu Österreich. Erziehungs- und Schulgeschichte, 7, 10), Wien/Leipzig 1906-1908, Kindermann: Bd. 1, S. 489-515, Bd. 2 zu den Vorgängen außerhalb Prags, i n chronologischer Folge. 128 vgl. Neugebauer, Bildungswesen (FN 2), S. 725 f., mit der Lit.; vgl. dann noch Frank-Michael Kuhlemann, Modernisierung und Disziplinierung. Sozialgeschichte des preußischen Volksschulwesens 1794-1872 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 96), Göttingen (1992), S. 17 f., S. 132 f.
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turstaatlicher Verhältnisse geleistet. Mit guten Argumenten ist denn auch darauf aufmerksam gemacht worden, daß die schul- und kulturlandschaftlichen Impulse auch nach 1800 sehr wohl weitergewirkt haben. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Schulbesuch in Süddeutschland und etwa im Königreich Sachsen jedenfalls sehr viel höher als in Norddeutschland. Auch in Preußen ist die praktische Schulpflichtigkeit erst in einem sich über Jahrzehnte erstreckenden Prozeß im 19. Jahrhundert durchgesetzt worden 1 2 9 . Freilich wäre es eine unzulässige Reduktion der Erklärung, wollte man die Entwicklung des Bildungswesens in dieser Zeit allein als Resultat staatlicher Reformen beschreiben; noch für einige Zeit blieben gesellschaftliche Impulse von großer Bedeutung; oft bereiteten sie vor, was später recht pauschal auf Humboldts Konto gebucht worden i s t 1 3 0 . Sie trugen vielmehr ganz wesentlich dazu bei, daß die Strukturen im 19. Jahrhundert in Bewegung kamen. Gesteigertes soziales Interesse an - säkularer Bildung, nun nicht mehr nur auf gelehrter Ebene, war ein ganz wesentliches Movens. Lokale Reformimpulse, auch solche von städtischen und adligen Patronatsherren, bereiteten staatsweite Veränderungen v o r 1 3 1 in einer Zeit, die eine spätere, bildungsbürgerliche Perspektive - zumal um 1900 - allzu sehr auf die Symbol-Figur Wilhelm von Humboldts reduzierte 132 . Heute gewinnen prozeßhafte Erklärungen, die nicht mehr auf scharfe Zäsuren fixiert sind, an Kraft, und es ist noch sehr die Frage, ob etwa durch die Französische Revolution und durch die Reformen im rheinbündischen Deutschland neue Bildungs-Qualitäten in Mittel-Europa bewirkt worden sind 1 3 3 .
129 Karl Ernst Jeismann, Bildungsbewegungen und Bildungspolitik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts im Reich und im Deutschen Bund. Wechselwirkungen, Übereinstimmungen und Abweichungen zwischen den deutschen Staaten, in: Elmar Lechner/Helmut Rumpler/Herbert Zdarzil (Hrsg.), Zur Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Probleme und Perspektiven der Forschung (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 587), Wien 1992, S. 401-426, hier S. 404 f., S. 410, S. 414; die oben F N 73 genannten Studien des Vf.; Schulregionen und lange Dauer: Schmale, Deutschland (FN 92), S. 695; Schindling, Bildung und Wissenschaft (FN 115), S. 3 - 4 8 ; Schulbesuch: Gerd Friederich, Das niedere Schulwesen, in: Karl-Ernst Jeismann/Peter Lundgreen (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3, München (1987), S. 123-152, hier S. 126 f.; Neugebauer; Bildungswesen (FN 2), S. 707, S. 717, S. 721 ff. 130 Mit der Lit. Neugebauer, Bildungswesen (FN 2), S. 666-680. 131 Wie F N 130, S. 712, S. 717 ff.; Faktor „Bildungswillen": Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft, Bd. 2: Höhere Bildung zwischen Reform und Reaktion 1817-1859 (= Industrielle Welt, 56), (Stuttgart 1996), S. 136 u.ö.; ferner wie FN 73. ι32 Jeismann, Bildungsbewegungen (FN 129), S. 414; Neugebauer, Bildungswesen (FN 2), S. 680; ferner meine F N 73 genannten beiden Studien. 133 Vgl. aber Winfried Speitkamp, Staat und Bildung in Deutschland unter dem Einfluß der Französischen Revolution, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 549578, bes. 555 f., Rheinland: S. 557-561; Beispiel: Maria Schimke, (Bearb.), Regierungsakten des Kurfürstentums Bayern 1799-1815 (= Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, 4), München 1996, S. 644 f.
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Was aber war das Neue in der struktur-politischen Bildungsgeschichte des 19. (und 20.) Jahrhunderts, d. h. in verfassungshistorischer Perspektive? Von historisch-pädagogischer Seite hat man den - zunächst bestechenden Gedanken formuliert, die Formung von Schul-iypen und ihre Verbindung im Sinne einer „Systembildung" sei im 19. Jahrhundert das eigentliche Novum gewesen. Eine auf das (18. und) 19. Jahrhundert und zudem auf Preußen konzentrierte Betrachtung kann dem gewiß einiges abgewinnen. „Lehrpläne und Erlasse unterschiedlichster Art formten in ihren Auswirkungen immer stärker nur gering spezialisierte Schulformen zu grundständigen, klar abgegrenzten Typen um", ein wesentlicher Schritt zu einem „Gesamtsystem", in dem dem Berechtigungswesen eine starke definitorische Kraft zukam. Ähnliches ist auch in England und in Frankreich auszumachen 1 3 4 . Allerdings: Ganz unbekannt war auch in der Frühen Neuzeit der Gedanke ja nicht, im städtischen oder territorialen Rahmen die (höheren, städtischen) Schulen in einen systemischen Zusammenhang zu bringen. Dies gilt insbesondere für das alte Württemberg seit 1559 mit seinen drei Ebenen von Partikularschulen, Pädagogien und Tübinger Hochschule 135 ; die 13 Klosterschulen hatten wir bereits erwähnt 1 3 6 . In den Städten Frankens und Altbayerns ist gleichfalls schon im 15. und 16. Jahrhundert ein Schulsystem geschaffen worden 1 3 7 . Weitere Beispiele, insbesondere aus kleineren Territorien, ließen sich geben, doch ist es nicht immer gelungen, solche Schöpfungen auf Dauer zu stellen 1 3 8 . Vielleicht kann man das Neue im 19. und 20. Jahrhundert zunächst darin erkennen, daß nun auch das niedere, wenn man so will, das Massen-Schulwesen, in diesen System-Zusam134
Detlef K. Müller, Der Prozeß der Systembildung im Schulwesen Preußens während der Zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Pädagogik 27 (1981), S. 245-269, hier S. 251, vgl. S. 245; ders., Sozialstruktur und Schulsystem. Aspekte zum Strukturwandel des Schulwesens im 19. Jahrhundert, Göttingen 1977, S. 37; Ruth Meyer, Das Berechtigungswesen in seiner Bedeutung für Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 124 (1968), S. 763-776, bes. S. 763 f., S. 766, S. 768, S. 774, Frankreich und England: S. 770; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, Bürgerwelt und starker Staat, München (1983), S. 458 ff.; Herwig BlanJcertz, Bildung im Zeitalter der großen Industrie. Pädagogik, Schule und Berufsbildung im 19. Jahrhundert (= Das Bildungsproblem in der Geschichte des europäischen Erziehungsdenkens, 15), Hannover 1969, S. 107-109; Centraiblatt für die gesamte Unterrichts-Verwaltung in Preußen Jg. 1901, Nr. 41, S. 275-279. 135 Seifert, Schulwesen (FN 27), S. 305 f.; zur Württembergischen Schulordnung von 1559 s. Ziemssen, Partikularschulwesen (FN 42), S. 493-532, geistliche Aufsicht: S. 529 f. 136 Weller, Einleitung (FN 32), S. 4 f. 137 Vgl. Endres, (FN 16) S. 163 f.; Rainer Α. Müller, Regionalgeschichtliche Ergänzungen. Altbayern, in: Liedtke, Handbuch (FN 16), S. 385-394, hier S. 390 ff.; Anton Schindling, Die humanistische Bildungsreform in den Reichsstädten Straßburg, Nürnberg und Augsburg, in: Reinhard, Humanismus (FN 13), S. 107-120, hier S. 118 f.; Endres, Franken (FN 17), S. 21; Nassau um 1600: Menk, Territorialstaat (FN 115), S. 188 f. („System von Schulen"), vgl. S. 193. 138 Seifert, Schulwesen (FN 27), S. 308 (Sachsen).
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m e n h a n g einbezogen w o r d e n ist, f r e i l i c h zunächst i n einem eher negativen Sinne. D e n n Volks- bzw. A r m e n - u n d Elementarschulen sowie die neuen M i t t e l s c h u l e n verliehen n i c h t die begehrten, k a r r i e r e w i c h t i g e n „ B e r e c h t i g u n g e n " ; höhere u n d niedere Schulen standen nebeneinander. A l l e r d i n g s k a m auch das niedere Bildungswesen i n Bewegung, neue w e l t l i c h e L e h r i n h a l t e t r a t e n - auch i n den Jahrzehnten fortbestehender geistlicher L o k a l schulaufsicht - h i n z u . I n den S t ä d t e n b i l d e t e n reich gegliederte Elementarbzw. Volksschulen das „ u n t e r s t e " Niveau, schon eigentlich unvergleichbar den t r a d i t i o n a l - u n d i f f e r e n z i e r t e n D o r f s c h u l e n früherer Zeiten. D e r e n q u a n t i t a t i v e B e d e u t u n g n a h m schon i m Zuge der U r b a n i s i e r u n g ganz w e sentlich a b 1 3 9 . Vor a l l e m aber: D i e staatliche V e r w a l t u n g t r a t n u n auch auf dem Felde des Massen-Bildungswesens aus d e m S t a d i u m zunächst n u r o r d nender u n d d a n n p u n k t u e l l eingreifender W i r k s a m k e i t i n das spezifisch k u l t u r s t a a t l i c h e S t a d i u m b i l d u n g s p o l i t i s c h e r L e i s t u n g s v e r w a l t u n g ein. Schule w u r d e Bestandteil der Daseinsvorsorge des S t a a t e s 1 4 0 . A u c h das n i e dere Bildungswesen w a r n u n n i c h t m e h r n u r Sache der Patronatsherren u n d der Gemeinden; der Staat finanzierte u n d er bestimmte m i t . I n Preußen t r u g er u m 1900 11,3% der städtischen u n d 3 7 % der l ä n d l i c h e n Elementars c h u l l a s t e n 1 4 1 . „ D e r preußische E t a t f ü r U n t e r r i c h t u n d K u l t u s b e t r u g 1850 139 Neugebauer, Bildungswesen (FN 2), S. 785; Marion Klewitz, Preußische Volksschule vor 1914. Zur regionalen Auswertung der Schulstatistik, in: Zeitschrift für Pädagogik 27 (1981), S. 551-573, hier S. 556; Frank-Michael Kuhlemann, Schulen, Hochschulen, Lehrer. Schulsystem, Niedere Schulen, in: Christa Berg (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4, München (1991), S. 179-227, hier S. 196-199; ders., Modernisierung (FN 128), S. 180 ff.; vgl. Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, PYankfurt am Main 1985, S. 68 ff. 140 In Anlehnung an Ernst Forsthoff (vgl. F N 2) Wolfgang Neugebauer, Einleitung, in: Johann Daniel Ferdinand Neigebaur, Sammlung der auf den Oeffentlichen Unterricht in den Königl. Preußischen Staaten sich beziehenden Gesetze und Verordnungen, Hamm 1826 Neudruck Köln/Wien 1988, S. V * - X X V I I * , hier S. XVI*, S. X X I V * : ders., Bildungswesen (FN 2), S. 680 f. - nach der verwaltungswissenschaftlichen Lit.; vgl. jetzt Jeismann, Gymnasium, Bd. 2 (FN 131), S. 179; von ganz anderem Ausgangspunkt jetzt Werner Buchholz, Geschichte der öffentlichen Finanzen in Europa i n Spätmittelalter und Neuzeit. Darstellung - Analyse - Bibliographie (Berlin 1996), S. 55: „Durch die Auflösung korporativer Strukturen, deren Aufgaben der Staat übernahm, erweiterte sich der Bereich staatlicher Tätigkeit ganz erheblich, etwa in Bildung, Erziehung und Rechtsaufsicht..Ebd. zum Anwachsen der öffentlichen Haushalte. 141 Eugene N. Anderson, Die preußische Volksschule im neunzehnten Jahrhundert, zuerst engl. 1970, wieder in: Otto Büsch/Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Moderne Preußische Geschichte. 1648-1947. Eine Anthologie, Bd. 3 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 52/3. Forschungen zur Preußischen Geschichte), Berlin/New York 1981, S. 1366-1394, hier S. 1389; O. Schwarz/G. Strutz, Der Staatshaushalt und die Finanzen Preußens, Bd. 2, 1. Lieferung: Die Verwaltung der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten, Berlin 1900, bes. S. 113-115, Universitäten: S. 138, S. 156 ff., S. 162 ; allgemein zum „öffentlichen Unterricht" und der Expansion der Ausgaben: S. 11 f.; vgl. aus der Lit. noch Klewitz, Volksschule (FN 139), S. 569; (Arnold) Sachse, Volksschulen, in: S. Körte (Hrsg.), Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., 2. Bd., Berlin 1914, S. 1101-1127, hier S. 1115, S. 1118 f.; zur Lage um 1870 siehe Christa Berg, Die Okkupation der Schule. Eine Studie zur Aufhellung gegenwärtiger Schulprobleme an der Volksschule Preußens (1872-1900), Heidelberg (1973), S. 124.
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etwa 10, 1867 etwa 15, 1901 145 und 1911 280 Millionen M a r k " 1 4 2 . Damit einher ging die Marginalisierung privater oder nicht organisierter Bildungstraditionen; Bildung gerann in anstaltlichen Formen, und auch der Adel wurde in das Examen einer öffentlichen Schule gezwungen. Diese besaß das Monopol zur Erteilung von Berechtigungen. Die Universitäten, die sich in der Praxis alsbald von dem Muster einer idealistischen Bildungstheorie entfernten, mutierten spätestens um 1900 zu einem Typ, der schon von den Zeitgenossen unter den Kategorien des Massenproblems diskutiert und kritisiert worden ist. Auch hier erbrachte der Kulturstaat neue Aufgaben von Daseinsvorsorge für wachsende Interessentengruppen 143 . Die Weiterentwicklung und staatliche Übernahme der Lehrerseminare kann gleichfalls als wesentliches - und als ein sehr frühes - Beispiel leistungsstaatlicher Aktivität auf dem Gebiet des modernen Massen-Bildungswesens aufgefaßt werden. Mit der systematischeren Vorbildung der Dorfschul- und niederen Stadtlehrer wurde nun der systemische Zusammenhang traditionalen Typs von mangelnder Vorbildung des Lehrpersonals, geringem Schulniveau, unzureichendem Einkommen und - wiederum - schlechter Personalqualität aufgebrochen. Die staatlichen Investitionen und Interventionen in die Seminare setzten an einem archimedischen Punkt kulturstaatlichen Wandels an. Die finanzielle Besserstellung des Schulpersonals war in Preußen, Bayern oder etwa Württemberg der nächste - wenn auch zeitlich versetzte - Schritt 1 4 4 , unter drastischer Schwächung etwa noch bestehender Schul-Patronatsrechte 145 . Daß freilich kulturstaatliches Engagement in der Phase der Vollalphabetisierung Mitteleuropas einherging mit der politischen Indienstnahme der Bildungsstrukturen, das ist die andere Seite der Medaille. Erst seitdem der Staat und die politisch beaufsichtigten Gemeinden Daseinsvorsorge im Massenschulwesen betreiben, gehört die Instru142
Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert und im Anfang des 20. Jahrhunderts, Volksausgabe: 21.-28. Tausend, 5. Aufl., Berlin 1921, S. 411. 143 Christian von Ferber, Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864-1954 (= Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer, 3), Göttingen 1956, Sp. 53 f.; Franz Eulenburg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart (= Abhandlungen der Philologisch-Historischen Klasse der Königl. Sächsischen Akademie der Wissenschaften, 24/11), Leipzig 1904, S. 279; vgl. zu den wissenschaftspolitischen Folgediskussionen Wolfgang Neugebauer, Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Deutsche Geschichte im Zeitalter der Weltkriege, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 60-97, hier S. 62 f. (Lit.). 1 4 4 Reble, Schulwesen (FN 107), S. 964-969; Thien, Schule (FN 125), S. 146 f.; Rainer Bölling, Sozialgeschichte der deutschen Lehrer. Ein Überblick von 1800 bis zur Gegenwart, Göttingen 1983, S. 72-75; Jeismann, Bildungsbewegungen (FN 129), S. 417-420; Friedrich, Niedere Schulwesen (FN 129), S. 127, 141; Kuhlemann, Schulen (FN 139), S. 181, S. 194; Michael Sauer, Volksschullehrerbildung i n Preußen. Die Seminare und Präparandenanstalten vom 18. Jahrhundert bis zur Weimarer Republik (= Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, 37), Köln/ Wien 1987, bes. S. 17-31. 145 Sachse, Volksschulen (FN 141), S. 1118.
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mentalisierung durch das politische System jedweder Art zum Vollbild des modernen Bildungswesens. Damit verbinden sich in qualitativ neuer Weise die verfassungsgeschichtlichen Probleme von öffentlicher Bildung und staatlicher Integration. Die sich daraus ergebenden Fragen, von der Forschung allenfalls holzschnittartig aufgegriffen, stellen ein eigenes, neues Thema dar.
Aussprache Hartmann : Eine Frage noch, Herr Neugebauer, zu Ihrem hochinteressanten Vortrag. Frappierend für mich war, daß Sie sagten, der Schulbesuch um 1800 sei in Bayern wesentlich höher als in Preußen gewesen. Das widerspricht den früheren alten Forschungsmeinungen. Sie haben das nur kurz ausgeführt, können Sie diese Forschungsergebnisse noch ein bißchen ausführlicher erläutern, denn ich finde das eine hochinteressante Bemerkung. Neugebauer: Das ist ein Resultat, das sich in der Literatur der letzten Zeit abzeichnet. Man kann natürlich oder muß natürlich sagen, daß w i r keine systematischen Statistiken im Sinne des 19. Jahrhunderts haben, sondern wir haben Einzelinformationen, die aber eben zeigen, daß im altbayerischen Bereich unter der Einwirkung von drei Jahrzehnten intensivierter, nun darf man sagen, staatlicher Fürsorge für das Massenschulwesen doch der Schulbesuch da, wo w i r ihn quantifizieren können, und das nicht nur i n exzeptionellen Ausnahmefällen, um die 80% zu liegen scheint. Das, was w i r in Preußen messen und berechnen können, freilich eher schätzen können, erreicht dieses Level auf gar keinen Fall. Natürlich kann man die Schulbesuchszahlen nicht parallelisieren und gleichsetzen mit den Alphabetisierungsquoten. Aber wir haben die ersten noch etwas schwierig zu bearbeitenden Aufnahmen für etwa 1816. Die Alphabetisierungszahlen für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bestätigen jedenfalls diesen Befund für den Schulbesuch auf eine andere Weise. Willoweit: Ich finde Ihre These ganz faszinierend, daß sich im 18.Jahrhundert oder vielleicht schon i m 17. Jahrhundert der Zugriff des Staates auf das Schulwesen gewissermaßen verringere. Ich habe dazu zwei Assoziationen: Zum einen: Könnte das nicht damit zusammenhängen, daß in den Städten so etwas wie eine aufklärerische Grundströmung entsteht, so sagen w i r seit 1700, die im Bürgertum ein sehr hohes Bildungsinteresse hervorruft, dem der Staat gar nicht gewachsen ist? Und das dann alle möglichen Privatschulen, über die man ja auch aus der Literatur des 18. Jahrhunderts immer wieder etwas erfahren kann, zu befriedigen versuchen? Der andere Aspekt betrifft die Frage: Wie ist es auf dem Lande? Sie haben Sie ja ein Beispiel aus Ostpreußen gebracht und den hoher Anteil von Landschulen in Masuren erwähnt.. Selbst in der damals sicher trostlosesten Gegend Ostpreußens, nämlich auf der Kurischen Nehrung, damals eine Art Wüstengebiet, gab es Schulen. Und dort lebte eine lettische Fischerbevölkerung.
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Ich denke mir, wenn es dort Schulen gab, gab es wahrscheinlich überall Schulen. Kann es dann in der Mark Brandenburg anders gewesen sein? Neugebauer: Die Bildungshistoriker suchen natürlich nach möglichst harten Daten, auch wenn sie i n der Frühen Neuzeit Vergleiche anstreben. Meine Exempel stammen sowohl aus dem städtischen als auch aus dem ländlichen Bereich, und es ist verlockend, die Befunde, die w i r in Brandenburg-Preußen gewinnen können, dann mit den Forschungen aus anderen Regionen zu vergleichen. Dies gilt etwa für die interessanten Resultate zur Oldenburger Küstenmarsch, oder auch für Hessen. Bemerkenswert ist, daß auch da, wo im 16. Jahrhundert visitiert worden ist und dann für lange Zeit nicht mehr, die Schulen existieren, und das als ein Massenphänomen und nicht als untypische Ausnahmen. Es wird zu wenig bemerkt, daß selbst dann, wenn der Landesherr wieder zum Instrument der Visitation greift, dies nicht in jedem Fall Ausweis obrigkeitlicher Initiative gewesen ist. Man findet in den Akten ja auch den Fall, daß die Bitte sozusagen von unten kommt, d. h. aus den Gemeinden kommt die Forderung nach einer landesherrlichen Visitation, nach Möglichkeit mit einem Visitationspatent samt fürstlicher Unterschrift und Kanzleisiegel, damit man dies den Bauern vorzeigen kann. Nicht immer ist es aber zu einer solchen, erbetenen Generalvisitation dann auch tatsächlich gekommen. In der Kanzlei und in der Kammer des Fürsten war das Problem durchaus bekannt geworden, aber die Prioritäten wurden eben anders gesetzt, in der Zeit des Merkantilismus, des Fiskalstaates. Es dominiert nicht mehr das um das konfessionelle Motiv - wie im 16. Jahrhundert - angereicherte Staatsinteresse; im 17. Jahrhundert werden die Schwerpunkte bisweilen andere und das nicht nur i n Brandenburg-Preußen. Hier ist (etwa in Ostpreußen um 1529) so intensiv visitiert worden, wie im 18. Jahrhundert eben nicht. Gleichwohl gibt es eine schulische Flächenstruktur, die nicht auf landesherrliches Handeln zurückgeführt werden kann. I n den Städten kann man bei guter Quellenlage bisweilen plastisch erkennen, wie dort neue Bildungsbedürfnisse zu Maßnahmen aus lokaler Autonomie führen; dann läßt man sich nicht mehr vom Konsistorium oder vom Kirchenrate sagen, was man tun darf und was nicht. Entscheidend ist dann die lokale Bildungsnachfrage. Es gibt auch den umgekehrten Fall, wo man sehen kann, daß erst bürgerliches Autonomiebewußtsein da ist und dann wird sozusagen das kulturelle Bildungsthema mit aufgenommen. Das zeigt aber, wie stark das beides miteinander verbunden ist und bei günstiger Quellenlage können w i r das bis in die Kategorie eines erwachsenen bürgerlichen Selbstbewußtseins um 1770 schon nachweisen. Dölemeyer: Es geht auch wieder um den Zugriff des Staates auf die Bildungsverfassung, den Sie im 18. Jahrhundert jedenfalls für den protestantischen Bereich als abgeschwächt bezeichnet haben. Sie haben allerdings
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dann als dritten Typus „die kleineren Territorien" nachgeschoben, ich denke, es ging mehr um das 17. Jahrhundert. Jetzt möchte ich fragen, wo Sie die Beobachtung einordnen wollen, die ich anführen möchte und zwar die Bedeutung, die die Ausbildung, auch die Universitätsbildung, in den Staatsreformprogrammen des 18. Jahrhunderts einnimmt. Ich denke an Friedrich Karl von Mosers für Hessen-Darmstadt 1762, um die „Pensées sur les princes" Friedrichs II. von Hessen-Kassel 1760, das Programm des Rétablissement in Kursachen 1763, all das ist parallel zu sehen, auch bezüglich des Stellenwertes, des intensiven Interesses, das für die Ausbildung - Berufsbildung und auch Universitätsbildung - angemeldet wird. Neugebauer: Man muß meines Erachtens auf dem Gebiete der Bildungsgeschichte in ganz besonderem Maße zwischen Programm und Wirklichkeit unterscheiden, und das gilt sowohl für die staatstheoretische Literatur im allgemeinen als auch für diejenigen Entwürfe, die von (aufgeklärten) Monarchen stammen. Dies trifft ganz offenbar - wenn man nach der Edition von Horst Schlechte zum kursächsischen Rétablissement ab 1763 urteilt - auch für den kursächsischen Fall zu. Hier ist es in später Pietismusrezeption zur punktuellen Umsetzung von Realschulprinzipien gekommen, aber da haben wir es mit typischen Reforminseln zu tun, nicht mit einem Wandel der Strukturen auf breiter Front. Auch bei der praktischen Realisierung von Programmen spiegeln sich in der schwerpunktmäßigen Durchsetzung spezifisch frühneuzeitliche Prioritätsstellungen wider, so daß die Wirksamkeit auf dem Felde des Massen-Bildungswesens eine in der Regel abgeschwächte gewesen ist - jedenfalls in den größeren protestantischen Gebieten des 17. und 18. Jahrhunderts. Wir treffen hier auf das Phänomen der - wenn Sie so wollen - Herrschaftsmentalität. Programme werden deklariert, deren Umsetzung nicht einmal versucht wird. Signifikant erscheint, daß es im 18. Jahrhundert sozusagen eine Art strukturellen Omnipotenzverzicht noch gibt, was dazu führt, daß bisweilen sogar bei durchaus vorhandenen finanziellen Möglichkeiten diese nicht ausgeschöpft werden. Das scheint mir eine wesentliche Differenz zu sein zwischen der Art und Weise, wie öffentliche Aktivität sich noch im 18. Jahrhundert darbietet und dem, was sich als Leistungsverwaltung in einem umfassenderen Sinne im 19. und 20. Jahrhundert darstellen würde. - Ich darf das vielleicht mit einem preußischen Beispiel aus der Mitte der 1730er Jahre illustrieren. Damals wurde erstmals ein bescheidener Betrag von 50000 Talern für das Schulwesen in Ostpreußen zur Verfügung gestellt und die Literatur hat daraus geschlossen, daß man damit das Stichjahr in diesem Fall habe, mit dem man die staatliche Finanzierung des Schulwesens einsetzen lassen kann. Aber man muß die Begründung dazu lesen, mit der Friedrich Wilhelm I. in einem auch äußerlich ganz eigentümlichen Aktenstück diese Maßnahme kommentiert hat. Er widmet dieses Kapital, davon sollen die Zinsen genommen werden, und er gibt das Kapital, weil die Schulen auf den Etat des Staates nicht gehören, d. h. er hat
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Geld, er gibt es, und sagt gleichzeitig, es ist aber eigentlich nicht etwas, was in dem Bereich der Staatstätigkeit zu bedienen ist. Das ist eine der Schlüsselquellen für die qualitativen Differenzen von Staatstätigkeit und wie sich das theoretisch und praktisch definiert 1730 und 1830. 1830 wäre eine solche Formulierung unmöglich. Sie ist vom König selbst unterzeichnet, nicht von irgendeinem Kabinettssekretär. Landau: Ich möchte doch noch einmal auf diese kleinräumigen Territorien zurückkommen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, gilt für sie dann vielleicht doch diese allgemeine Linie nicht so sehr, denn da bleibt doch das alles sehr eng und der Landesherr sitzt möglicherweise in demselben Städtchen und kennt seine Schule und seine Lehrer ganz genau. Hier scheint mir auch noch im 18. Jahrhundert das Konfessionalistische eine erhebliche Rolle zu spielen, wenn man sich etwa ansieht, daß Kirchen- und Schulordnung häufig in einem Gesetzgebungsakt vereinigt sind, wobei sich überhaupt die Frage stellt, wie weit spielt eigentlich das religiöse Moment eine Rolle in der Volksbildung. Bei Ernst dem Frommen doch ganz sicher. Ich selber bin auf ein Gymnasium gegangen, das von einem Sohn Ernst des Frommen gegründet wurde und ich habe so den Eindruck gehabt, als ich ζ. B. einmal 1945 die Bibliothek des Gymnasiums transportierte, daß da offensichtlich schon seit langem das Lutherische eine ganz entscheidende Rolle spielte. Es war alles vorhanden von Luther bis zur Weimarer Ausgabe. Und das wirkt sich vielleicht auch aus in der Berufskarriere von Lehrern. Mir ist aufgefallen, daß offensichtlich viele der Gymnasiallehrer Pfarrer werden. Daß man hier aufsteigen konnte. Ist das ein allgemeines Phänomen, oder ist es singulär, Sie haben ja auch wieder hingewiesen auf die gedrückte Lage des Volksschullehrers und auf die mangelhafte Ausbildung. Wie sieht es überhaupt mit der Durchlässigkeit und den Chancenmöglichkeiten eines Lehrerberufs aus. Kann man da gewissermaßen gesamtdeutsche Aussagen machen oder ist das auch unterschiedlich. Ich habe also von Thüringen her jedenfalls den Eindruck, daß der Lehrer immerhin eine gut dotierte Pfarrstelle erreichen kann und eventuell sogar überwechseln kann in die Universität. Ist das generell oder haben w i r sonst den hilflos armen Lehrer, der vom Patronatsherrn abhängig ist und ein Hungerdasein führte, der uns ja auch vertraut ist aus der Literatur des späten 18. Jahrhunderts. Man braucht ja nur an Jean Paul zu denken. Neugebauer: Man muß in der ganzen Frühneuzeit unterscheiden zwischen den Lehrern an städtischen Schulen einschließlich der Gymnasien und den Elementarschulen mit ihrem Personal. In den Städten ist - außer an den niederen Elementarschulen - das Lehramt eine Durchgangsposition zum Pfarramt. Es ist ein Prozeß des 19. Jahrhunderts, daß dann der städtische Lehrer zum professionellen Pädagogen wird, das wirkt dann auch in die Universitätsgeschichte hinein, der Aufstieg der philosophischen Fakultäten 9 Der Staat, Beiheft 15
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seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehört zu dieser Entstehung einer professionellen städtischen Lehrerschicht hinzu, währenddessen bis dahin das Verbleiben im schulischen Lehramt die große Ausnahme war, eigentlich gebunden an sehr gut dotierte gymnasiale Stellen und dann allerdings auch dort mit der Entstehung eines Selbstbewußtseins einhergehend, daß man schon um 1770, 1780 bei Personen festmachen kann, die man in die ganz frühe Phase des Neuhumanismus einordnen könnte. Auf dem Lande kann man zwei Untertypen unterscheiden, das generelle Muster ist der in der Regel handwerklich tätige Dorfschulmeister und städtische Elementarlehrer, das sind also Leute, die nebengewerblich auch unterrichten, davon in der Regel aber nicht leben können, d. h. die in der Regel im Textilgewerbe tätig sind; das sind die berühmten Schneiderlehrer, die also gleichsam während des Unterrichtes oder doch so, daß sich das relativ gut miteinander kombinieren läßt, sich die zweite Hälfte der Einnahmen verschaffen. Dies gilt mit einer wesentlichen Differenzierung und, diese ist nun siedlungsstrukturell bedingt, jedenfalls im wesentlichen siedlungsstrukturell: Da wo wir auf dem Lande zu tun haben mit Orten von Zentralitätsfunktion; ich habe diesen Begriff an ein, zwei Stellen in meinem Vortrag schon eingeführt. Da wo wir ein Kirchdorf haben und davon abhängig eine größere Anzahl von Filialorten. Dort ist die Zahl der Schüler so stark, daß das Schulgeldaufkommen hoch ist, und dort gibt es die Praxis bisweilen über Jahrhunderte, daß auch der ländliche Lehrer ein Theologe ist. In Ostpreußen heißen die Praecentores, von praecantare, es gibt aber solche Phänomene auch im thüringischen Raum und in anderen Teilen Deutschlands; das ist offenbar im wesentlichen, ich sage es noch einmal, siedlungsstrukturell bedingt: die Größe der Dörfer und eine solche Zentralitätsfunktion, die uns aus der Mediävistik, Walter Schlesinger hat darüber einmal gearbeitet, ja im Prinzip bekannt ist. In Teilen Hessens scheint dies eine Tradition zu sein, die dort von der Landesherrschaft um 1600 implantiert wird, auch dort können wir nachweisen, daß die Masse der ländlichen Lehrpersonen tatsächlich studierte Theologen gewesen sind. Nun zu Ihrer Frage nach der Kleinräumigkeit staatlicher Tätigkeit im Bildungsbereich, ein Problem, das auch Frau Dölemeyer angesprochen hatte. Das Problem ist ja seit dem 16. Jahrhundert zu studieren, es ist ζ. B. für den Bereich Nassaus der Grafschaft Sayn relativ gut erforscht worden, auch für die folgenden Jahrhunderte. Das Gothaer Beispiel ist prominent. Seit 1770 finden wir dann analoge Fälle vor allem im geistlichen Deutschland in zeittypisch dichter Form. Der Hintergrund scheint mir ein einfacher zu sein, einer, der auch auf das Verhältnis von Kommunikation und Herrschaft in der frühen Neuzeit hinweist. Eine Landschaft von - sagen wir - 100 Dörfern war aus einem konsistorialen Kollegium heraus noch überschaubar. Aber wir erreichen dann eigentlich schon so etwas wie eine Grenzgröße. Wenn die Zahl der Orte in einem Herrschaftssprengel auf die Dreihundert zugeht,
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dann sind die Aufgaben eigentlich schon nicht mehr zu lösen, wenn zu den geistlichen Funktionen und denen etwa des Armenwesens nun auch noch neue kulturstaatliche Tätigkeitsfelder hinzukommen sollen. Diese Aufgaben sind unter den Kommunikationsformen und mit vormodernen Personalstämmen noch nicht zu bewältigen. Im preußischen Staatsverband kann man beide Typen nebeneinander studieren: den großflächigen und den kleinräumigen in zeitlicher Parallele. Das ist mir zuerst aufgefallen, als ich eine ungedruckte Dissertation aus der DDR, verfaßt von Walter Werner im Jahre 1974, las. Da wurden aus der reichen archivalischen Überlieferung Dinge geschildert, die in Ostpreußen oder in der Mark Brandenburg völlig unmöglich gewesen wären. Die neue Dissertation von Herrn Brüning - ein Schüler von Herrn Schindling und Herrn Rudersdorf - bringt nun wichtige neue Resultate für Minden-Ravensberg. Wir sehen, daß in solchen kleinen „Verwaltungs"-Einheiten Veränderungen zumal dann möglich waren, wenn die vor Ort tätigen Theologen, inspiriert etwa von der Aufklärung, Bildungsreformen zu ihrer Sache machten. Dann kommen Prozesse in Gang, die in großflächigen Einheiten unter vormodernen Kommunikations- und administrativen Verhältnissen nicht möglich sind. Wichtig ist der Ortsgeistliche, nicht der Konsitorialrat. Selbst wenn ein in der Wolle gefärbter Aufklärer über das Land reist, wenn der alle 15 Jahre mal im Dorf erscheint, ist die Wirkung Null. Wir können ja solche Beispiele tatsächlich nachweisen, wo Leute, die uns aus der bildungsgeschichtlichen Programmliteratur der Zeit wohlbekannt sind, im Verwaltungsalltag wieder begegnen. Man glaubt dann, es mit verschiedenen Personen zu tun zu haben. Borck: Ich möchte noch einmal auf das soeben gefallene Stichwort Preußen - Sie haben es selbst gegeben - zurückkommen.. Man ist natürlich, wenn einem die Fülle der hier vorgetragenen Tatsachen weniger vertraut ist, zunächst etwas überrascht, dass die preußische Verwaltung großenteils so schlecht funktioniert haben soll, wie es hier vorgetragen wurde, und man fragt sich, wie repäsentativ die einzelnen Beispiele sein können. Ich frage jetzt zusätzlich: welchen Stellenwert haben die an sich doch relativ weitgehenden Regelungen des Preußischen Allgemeinen Landrechts entwickeln können? Die Bildung der Schul verbände, die ja vom Landrecht als konfessionelle Schulverbände vorgesehen waren, ist eine materielle Regelung des Landrechts, die, denke ich doch, wenn ich die Fülle der Akten überschaue, die in unseren Archiven hierzu aufbewahrt werden, im 19. Jahrhundert von den Regierungen, ihren Abteilungen für Kirchen und Schulen, recht genau überwacht werden konnte. Ich meine, daß hier auch ein Zusammenhang mit den Anfängen der preußischen Sozialgesetzgebung, also Kinderschutzgebung von 1839 ff. besteht, da etwa der fehlende Schulbesuch und auch gesundheitliche Mängel der Jugendlichen wesentliches Begründungsmoment für die Einschränkung der Kinderarbeit waren. Können Sie in diesem Zusammenhang weitere Angaben machen? 9*
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Neugebauer: Die Suche nach den Anfängen schulischer Gesetzgebung im preußischen Fall hat eine lange Tradition. Man hat versucht, mit dem Jahre 1717 die Schulpflicht einsetzen zu lassen, dann hat man das Generallandschulreglement an den Anfang moderner Entwicklungen stellen wollen, ungeachtet der Tatsache, daß es in wesentlichen Passagen auf Entwürfe der 1720er Jahre zurückreicht. Dann wieder hat man das Allgemeine Landrecht und sein entsprechendes Kapitel geradezu gefeiert. Freilich galt es ja nur subsidiär, und die provinzialen Observanzen galten primär. Dies betraf nun aber gerade den geistlichen Bereich in besonderem Maße. Man denke nur an die territorialen Kirchenordnungen, die immer auch das Bildungswesen mit umfassen konnten, es betrifft aber auch das Aufkommen an besonderen Schulordnungen. Erst nach 1800 wird dann das Allgemeine Landrecht zu einem wirksameren Argument auch in der praktischen Administration. Es ist eine ganz eigentümliche Form der Rechtsanwendung, daß das ALR im 19. Jahrhundert auch dadurch, daß andere gesamtstaatliche Kodifikationen im Bildungsbereich nicht zustande kamen, nun stärker ins Spiel gekommen ist. - In der Frühen Neuzeit ist die Wirkung von Rechtsnormen im Bildungswesen bisweilen ein ganz eigenes Thema: Etwa wenn es um die Anwendung des Generallandschulreglements von 1763 geht und die Frage auftaucht, ob dieses Regelwerk denn auch an einem konkreten Ort um 1785 angewendet wird. Man sucht es, kann es auch in der Kirchenbibliothek nicht finden. Es ist am Ort - nicht weit von der Hauptstadt - nicht bekannt, diese Meldung geht beim Oberkonsistorium ein - und damit schließt die Akte. Nichts deutet darauf hin, daß man etwa versucht hätte, diesen Rechtstext wenigstens nun zum Ort zu schicken. Schon die pure Unkenntnis einer Norm war ein Faktor; man wußte davon in Berlin. Man nahm es zur Kenntnis, fand sich damit ab. Das meine ich, wenn ich hier von Herrschaftsmentalität spreche. - D a ß die Schulpflicht noch sehr lange von der Kinderarbeit behindert wurde, ist ganz richtig. Im gewerblichen Sektor wurde der entscheidende Wandel mehr durch die technische Entwicklung, die Kinderarbeit entbehrlich machte, als durch Verbote eingeleitet. Ich verweise auf die Studie von Ludwig aus dem Jahre 1965. Brauneder: Ich möchte auf ein Wort zurückkommen, das Sie verwendet haben: Lesegesellschaften. Sie assoziiert man auf der einen Seite sozusagen mit der Selbstorganisation jener die lesewütig sind, Joseph II. sagte, von der Leseseuche befallen sind, also mit Selbstorganisation. Aber auf der anderen Seite ist es u. a. in Österreich auch so, daß der Staat die Lesegesellschaften konzessioniert, also der Staat bediente sich dann der Lesegesellschaften, aber sehr behutsam. Ich glaube in kleineren Städten darf es nur eine geben, in größeren gibt es mehr, aber für Wien wird auch nur eine konzessioniert und das offenbar unter dem Aspekt: Sie nützen dem Staat. So wollte ich Sie noch bitten, vielleicht aus Ihrem Aspekt, wenn es geht, zwei oder drei Worte zu den Lesegesellschaften zu sagen.
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Neugebauer: Es ist ja auch eines der intensiv untersuchten Themen der letzten Zeit, gerade weil man hier ein Bildungsspektrum, das also nicht im Sinne einer schulischen Anstalt verfestigt worden ist, relativ gut greifen kann. Es ist ja auch untersucht worden, schon von Gerteis vor einiger Zeit, inwieweit diese Lesegesellschaften auch zu einem Ort, ja, wenn Sie so wollen, politischer Bewußtwerdung in Deutschland geworden sind. Sicherlich hat es so etwas gegeben, ohne daß wir gleichsam eine evident jakobinische Variante im Heiligen Römischen Reich in mehr als drei Fällen nachweisen können. Die Konzessionierung, die Beaufsichtigung ist die Ausnahme und wäre eigentlich im österreichischen Beispiel wiederum eine Bestätigung meiner These einer ganz ungewöhnlichen Staatsintensität, was man übrigens auch für die frühe Entwicklung der Polizei im Österreich in josefinischer Zeit dartun kann; das sind Verhältnisse, wie sie beispielsweise in Preußen noch keine Vergleichbarkeit in dieser Zeit haben. Wir haben das Phänomen, daß auch in der Phase, in der sowohl in Sachsen-Weimar als auch in anderen Staaten und natürlich in Brandenburg-Preußen unter Woellner der Staat nun das Thema Aufklärung als ein politisches Thema erkennt und die Zensur verstärkt, diese Zensur lediglich für inländische Druckprodukte gilt, so daß also die Lesegesellschaften nun dazu übergehen, sich das oppositionellere Lesematerial eben aus dem Ausland zu holen, d. h. beispielsweise Material, das in Altona gedruckt worden ist, was ja aufgrund seiner politischen Zugehörigkeit als Druckort besonders beliebt war; das wurde dann unkontrolliert eingeführt und unkontrolliert gleichsam rezipiert. Wir können das in einzelnen Fällen nachweisen, da, wo wir ein solches Werk einer Lesegesellschaft zuordnen können und dann in einzelnen Fällen auch noch den glücklichen Fall haben, daß sich die Leser auf der Interimsbroschur eingetragen haben, so daß wir dann manchmal sogar noch die Lektüre-Praxis datieren können in solchen Fällen. Auch da würde ich sagen, stützt das meine Generalthese vom Freiraumcharakter etwa im Brandenburgisch-Preußischen Staat auf diesem Sektor. M i r scheint es so zu sein, als ob diese These für die größeren protestantischen Staaten einmal überprüft werden sollte, ob man das nicht auch dort gelten lassen kann. Dann wäre der preußische Fall nur einer unter vielen.
Verfassung i n d e r d e u t s c h e n L i t e r a t u r u m 1800 Von Peter Philipp Riedl, Regensburg
In einer preußischen Residenzstadt trifft um das Jahr 1820 eine Gruppe von Personen zusammen, für die das Attribut „bunt" zur näheren Charakterisierung vornehm zurückhaltend wäre. In ausführlichen Gesprächen legen sie ihre jeweiligen religiösen und politischen Standpunkte dar, die unterschiedlicher nicht sein können. Da ist zum einen ein legitimistisch argumentierender sogenannter Ultra, der sich für die religiöse Erweckungsbewegung begeistert und einer restaurativen Staatsphilosophie huldigt. Den denkbar größten Gegensatz dazu bildet ein begeisterter Freiheitsschwärmer, der seinen Worten bereits Taten folgen ließ und sich ebenso im südamerikanischen wie im griechischen Befreiungskampf nach Kräften bewähren konnte. Zwischen diesen extremen Positionen steht ein früherer Anhänger der Französischen Revolution und der Vernunftreligion, der mittlerweile, nachdem er etwas in die Jahre gekommen und maßvoller geworden ist, auf das britische Verfassungssystem schwört und den Weg eines klassischen Liberalen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeschlagen hat. Diese Parteien beschnüffelt wiederum ein von Revolutionsparanoia verfolgter Polizeichef, der sich und seine Existenz funktionalistisch als Rädchen im restaurativen Getriebe definiert und an allen Ecken und Enden Mystiker, Jakobiner oder Demagogen wittert. Eine derartige, leicht skurrile Konfiguration deckt das politische Spektrum der Zeit, der Restaurationsära nicht lange nach Erlaß der Karlsbader Beschlüsse, zumindest an seinen Rändern weitgehend ab. Das gesamte Szenario erscheint dabei, gerade in seiner ironisch zugespitzten Form, so idealtypisch konstruiert, daß ihm trotz des unverkennbaren geschichtlichen Gehalts etwas Unwirkliches anhaftet. - Und es stammt auch in der Tat nicht aus einem Geschichtsbuch, sondern aus einem fiktionalen Text, aus Achim von Arnims später Erzählung ,Metamorphosen der Gesellschaft'. 1 1 Diese Erzählung eröffnet die Sammlung ,Landhausleben' von 1826. Zitiert nach der Ausgabe: Achim von Arnim, Werke i n sechs Bänden, hrsg. von Roswitha Burwick u. a. 4. Bd.: Erzählungen 1818-1830, hrsg. von Renate Moering, Frankfurt am Main 1992 (DKV-Bibliothek deutscher Klassiker 83), S. 449-549. Vgl. auch die Forschungsbeiträge von Bernd Fischer, Literatur und Politik - Die ,Novellensammlung von 1812' und das ,Landhausleben' von Achim von Arnim, Frankfurt am Main/Bern 1983 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; Bd. 1), S. 147-179; Her-
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Der Begriff „Metamorphose" allein erweckt Assoziationen, an Ovid und Goethe wird man vielleicht zuerst denken. Metamorphose, also Gestaltwandel, ist ein Grundbegriff von Goethes naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Vorstellungen, im weiteren Sinne auch seiner Weltanschauung im allgemeinen. Goethe erkannte in der harmonischen Entwicklung der im Keim enthaltenen Anlagen bei Pflanzen, Tieren und auch Menschen sowie in dem allmählichen, dynamischen Wandel ein Grundgesetz der Natur. Seine von Skepsis, ja Ablehnung geprägte Einstellung gegenüber Revolutionen fand so eine naturwissenschaftliche Entsprechung. Das Gesetz des Wandels und Werdens steht ebenso in Widerspruch zur Revolution wie zum Stillstand, dem bloßen Festhalten am Bestehenden.2 In Arnims Erzählung bedeutet Metamorphose der Gesellschaft die Versöhnung von Gegensätzen, die Verhinderung gewaltsamer Veränderungen zugunsten eines organischen Wandels und Werdens. Dieses evolutionäre Ideal verkörpert die Hauptfigur, der auch unverkennbar die Sympathie ihres Erfinders gilt. Diese Figur, der Rittmeister, entstammt noch dem Ancien régime und hat dessen - wie es pointiert in der Erzählung heißt - „Eleganz" 3 in vollen Zügen zu genießen gewußt und sein Bewußtsein bei mystischen Geisterbeschwörungen nach dem Vorbild des Grafen Cagliostro erweitert, ein Phänomen übrigens, das aus der beschreibenden Feder Arnims alles andere als kritisch gemeint ist. Der Rittmeister erstarrt indes nicht in einer einmal eingenommenen Haltung, sondern weiß um die Notwendigkeit von zeitgemäßen Veränderungen. Und so widersetzt er sich nun dem restaurativen Geist der Zeit, leitet, im Range eines Kultusministers und zum Entsetzen des reaktionären Polizeichefs, liberale Reformen ein und verleiht so der Erzählung bei aller Vorsicht ein versöhnlich-optimistisches Ende. Daß die Metamorphose der Gesellschaft, also eine evolutionäre Veränderung im Zeichen der Versöhnung, auch verfassungsmäßig verankert werden müsse, davon war Achim von Arnim zutiefst überzeugt. Eine Verfassung betrachtete er daher als unabdingbare Voraussetzung für eine politische Erneuerung Preußens, das er bei seinen fiktionalen wie nichtfiktionalen Einmann F. Weiss, Achim von Arnims ,Metamorphosen der Gesellschaft'. Ein Beitrag zur gesellschaftskritischen Erzählkunst der frühen Restaurationsepoche, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 91 (1972), S. 234-251; Hans-Georg Werner, Arnims Erzählung „Metamorphosen der Gesellschaft". Zur Schaffenseigenart und -problematik eines Romantikers in der Restaurationszeit, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin Luther Universität Halle-Wittenberg 1969, S. 183-195. 2 Zu diesem Zusammenhang von Naturwissenschaft und Politik bei Goethe vgl. Karl Richter, Das „Regellose" und das „Gesetz". Die Auseinandersetzung des Naturwissenschaftlers mit der Französischen Revolution, in: Goethe-Jahrbuch 107 (1990), S. 127-143. Als erste Orientierung zum Stichwort „Metamorphose" sind hilfreich: Gero von Wilpert, Goethe-Lexikon, Stuttgart 1998, S. 697 f. sowie Hans Joachim Becker, Metamorphose, in: Goethe-Handbuch i n vier Bänden, hrsg. von Bernd Witte u. a. Bd. 4/2, hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke/Regine Otto, Stuttgart/Weimar 1998, S. 700-702. 3 Arnim (FN 1), S. 456.
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lassungen zumeist besonders im Blick hatte. 4 Als Anhänger des Freiherrn vom Stein und dessen Selbstverwaltungsidee setzte er sich nachdrücklich für eine konstitutionell beschränkte Monarchie mit einem Zweikammersystem in einem wohlgeordneten Ständestaat ein. Dabei dienten ihm das britische System des King-in-Parliament sowie die Verfassung des Königreichs Westphalen als mögliche Vorbilder. Eine, in Arnims Worten, „durch Demokratie beschränkte Monarchie" 5 sollte, so seine Hoffnung, die Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten überwinden helfen und damit nicht zuletzt die bestmögliche Revolutionsprophylaxe bieten. Gerade in Zeiten revolutionärer Gärungen gewannen Verfassungsfragen besonderes Gewicht und fanden auch in der sogenannten ,schönen Literatur' einen vernehmbaren Widerhall. Gleichzeitig stellte und stellt sich immer wieder die grundsätzliche Frage, wie weit und in welchem Maß sich Kunst prinzipiell auf die Politik einlassen solle, ohne ihre ästhetische Eigenart, auch Eigengesetzlichkeit allzu sehr aufs Spiel zu setzen oder gar zur reinen Propaganda, zur Agitation zu verkommen. Provokant gefragt: Ist das „politisch Lied" nicht doch ein „garstig Lied", wie in der feucht-fröhlichen Runde von Auerbachs Keller in Goethes ,Faust4, jedoch, zugegeben, von wenig vertrauenswürdigen Gesellen gemutmaßt wird? 6 Muß nicht die Kunst zwangsläufig leiden, sich zu sehr veräußern, ihren ureigenen Charakter verlieren, wenn sich Politisches in den Vordergrund drängt? Sollte Montesquieus Begriff der Gewaltenteilung nicht auch die Sphären der Kunst und der Politik feinsäuberlich auseinanderhalten? Und wie steht es um die Dichter selbst und ihre Haltung zur Politik? Sind Dichter Seismographen, die sensibel auf Veränderungen zu reagieren vermögen, oder sind sie doch eher weltfremde Träumer, denen im täglichen Geschäft der Politik nicht so recht zu trauen wäre? Vielleicht sind aber viele Dichter, und gerade die besten, ja auch bei4 Dazu grundlegend: Jürgen Knaack, Achim von Arnim - Nicht nur Poet. Die politischen Anschauungen Arnims in ihrer Entwicklung. Mit ungedruckten Texten und einem Verzeichnis sämtlicher Briefe, Darmstadt 1976; ders., Achim von Arnim. Eine politische Biographie, in: Neue Tendenzen der Arnimforschung. Edition, Biographie, Interpretation, mit unbekannten Dokumenten, hrsg. von Roswitha Burwick/Bernd Fischer, Bern/Frankfurt am Main/New York/Paris 1990 (Germanie Studies in America; No. 60), S. 9-24. 5 So Arnim in seinen »Betrachtungen über die Verfassung des vormaligen Königreichs Westphalen' von 1817. Zitiert nach Achim, von Arnim, Werke i n sechs Bänden, hrsg. von Roswitha Burwick u. a. 6. Bd.: Schriften, hrsg. von Roswitha Burwick/Jürgen Knaack/Hermann F. Weiss, Frankfurt am Main 1992 (DKV-Bibliothek deutscher Klassiker 72), S. 512-532. Zitat: S. 513. Die Vorteile einer beschränkten Monarchie hat besonders nachdrücklich und wirkungsvoll Montesquieu in seinem Werk ,De l'esprit des lois' von 1748 hervorgehoben. Den geradezu epochalen Einfluß, den dieses Werk auf das politische Denken in Deutschland ausgeübt hat, untersucht Rudolf Vierhaus, Montesquieu i n Deutschland. Zur Geschichte seiner Wirkung als politischer Schriftsteller im 18. Jahrhundert, in: Collegium Philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel/Stuttgart 1965, S. 403-437. 6 Johann Wolf gang von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe i n 14 Bänden. 3. Bd.: Dramatische Dichtungen I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, München 1988, Vs. 2092.
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des, Seismographen und Träumer, so daß die Frage nach der Darstellung von Verfassung in der Literatur einen ganz besonderen Reiz gewönne. Eine geradezu mustergültige Probe aufs Exempel ereignete sich am 8. April 1919. An diesem Tag übernahm der 25jährige Dichter Ernst Toller, wenn auch widerstrebend, den Vorsitz des Zentralrats der Münchner Räterepublik. Für manche ein Traum, für andere hingegen ein Alptraum: Dem Künstler fiel politische Macht zu. Dem Träumer, so schien es, fehlte jedoch der Blick für die politische Wirklichkeit. Der Schriftsteller Tankred Dorst, der diese paradigmatischen Ereignisse in seinem Drama ,Toller 4 von 1968 verarbeitet hat, bringt das Dilemma, ja die Aporie des Falles auf den Punkt: „Toller w i l l Politik machen, aber es wird immer Literatur daraus." 7 Tollers Versuch - in Dorsts Drama, aber wohl auch in der Wirklichkeit - , Geist und Macht miteinander zu versöhnen, scheitert - er scheitert ebenso an der Gnadenlosigkeit des rechten Terrors wie an der Unerbittlichkeit des geschulten Kaderkommunismus, der mit kühler Rationalität und einem nüchternen Blick auf die Realität einzig die Machtfrage im Auge behält, koste es, was es wolle. Tollers Utopie einer Versöhnung von Geist und Macht zerbricht an der weitaus prosaischeren politischen Wirklichkeit, in der für Menschheitsvisionen kaum Platz ist. Die Versöhnung von Geist und Macht hatte 120 Jahre früher auch ein anderer, kaum weniger utopisch denkender Dichter im Sinn: Friedrich von Hardenberg, der sich Novalis nannte. Im selben Jahr, in dem er sich sein berühmtes Pseudonym zulegte, 1798, beschwor er, aus Anlaß der Thronbesteigung des preußischen Königspaares, Friedrich Wilhelms III. und Luises, die utopische Idee eines poetischen Staates. Doch sind derartige Vorstellungen nicht eher ästhetisch als politisch? Handelt es sich überhaupt bei dem, was w i r gewöhnlich „politische Romantik" nennen, 8 um eine Politisierung der Ästhetik oder um eine Ästhetisierung der 7 So Tankred Dorst in einem Gespräch aus dem Jahr 1969. Zitiert nach: Tankred Dorst, hrsg. von Günther Erken, Frankfurt am Main 1989, S. 120. Zu den historischen Ereignissen vgl. Allan Mitchell, Revolution in Bayern 1918/1919. Die EisnerRegierung und die Räterepublik, München 1967 (amerikanisches Original: Princeton 1965). 8 Dieser Begriff hat sich seit Carl Schmitts Buch politische Romantik' (1919, 2. Aufl. 1925) durchgesetzt. 1955 folgte Hans Reiss diesem Ansatz, als er unter dem Titel ,The Political Thought of the German Romantics (1793-1815)' eine Auswahl von Texten in englischer Ubersetzung herausgab. Während sich Schmitt indes hauptsächlich auf Adam Müller und Friedrich Schlegel konzentrierte und daher ein sehr einseitiges, verengtes Bild skizzierte, erweiterte Reiss den Autorenkreis um Fichte, Schelling, Novalis, Görres, Baader, Schleiermacher, Savigny und Jacob Grimm. Vgl. dazu die auf der Einleitung dieser Sammlung basierende Abhandlung von Hans Reiss, Politisches Denken in der deutschen Romantik, Bern und München 1966. Eine neuere Anthologie mit einer Gegenstand und Forschung kritisch reflektierenden Einleitung stammt von Klaus Peter (Hrsg.), Die politische Romantik in Deutschland. Eine Textsammlung, Stuttgart 1985. Hier finden sich Texte von Friedrich Schlegel, Novalis, Görres, Arnim, Adam Müller und Franz Baader. Einführend zu dieser Thematik vgl. auch Markus Schwering, Politische Romantik, in: Romantik-Handbuch, hrsg. von Helmut Schanze, Stuttgart 1994, S. 477-507.
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Politik? Oder läßt sich unter den höchst vielschichtigen und unterschiedlichen literarischen Strömungen und Tendenzen, die mehr schlecht als recht unter dem Sammelbegriff „Romantik" subsumiert werden, 9 auch beides finden, eine Politisierung der Ästhetik und eine Ästhetisierung der Politik? Und verbirgt sich hinter der Idee des poetischen Staates nicht eher eine romantische Hieroglyphe als eine einigermaßen faßbare, am Prinzip des Machbaren sich orientierende verfassungspolitische Zielsetzung, wie sie beispielsweise Achim von Arnim in manchen seiner nichtfiktionalen Schriften durchaus konkret formulierte? Politik verlangt ja nach der Festlegung, die sich erfolgversprechend in der Praxis verwirklichen läßt und sich dort auch bewähren muß. Ernst Toller hingegen entzieht sich i n Tankred Dorsts Drama dem Zwang zur einseitigen Konsequenz - in der Kunst wie in der Politik: „Als Künstler muß ich auch die Gegenseite verstehen." 10 Nicht so sehr visionäre Ideale, auch nicht mehr oder weniger konkrete Verfassungsideen, sondern vielmehr ein ausgeprägter Sinn für das Pragmatische und Machbare bestimmte das Handeln eines anderen Dichters, der politische Verantwortung übernahm: Goethe. Wie immer man Goethes politische Maßnahmen als Geheimer Rat und Erster Minister bewerten mag, eines kann, bei aller gebotenen Vorsicht, festgehalten werden: Die so gravitätische Vorstellung einer Versöhnung von Geist und Macht eignet sich nicht, um Goethes Eintreten für eine primär an konkreten sachlichen Bedürfnissen ausgerichtete Politik, für Sachverstand und Kompetenz, angemessen zu charakterisieren. 11 9 Zur kritischen Begriffsbestimmung vgl. insbesondere Gerhard Schulz, Romantik. Geschichte und Begriff, München 1996 sowie den forschungsgeschichtlich aufschlußreichen Sammelband von Helmut Prang (Hrsg.), Begriffsbestimmung der Romantik, Darmstadt 1972 (Wege der Forschung; Bd. CL). 10 Tankred Dorst, Toller, Frankfurt am Main 1968, S. 36. u Kaum ein Thema der Goethe-Forschung ist derzeit so heftig umstritten wie die Rolle, die der Politiker Goethe während seines ersten Jahrzehnts in Weimar (17751786) als Mitglied des Geheimen Consiliums im Herzogtum Sachsen-Weimar gespielt hat. Während der Politologe Ekkehart Krippendorff Goethes Politik als ethisch begründet, dem Gemeinwohl verpflichtet würdigt und insgesamt die Modellhaftigkeit Weimars hervorhebt („Wie die Großen mit den Menschen spielen". Versuch über Goethes Politik, Frankfurt am Main 1988; Goethe. Politik gegen den Zeitgeist, Frankfurt am Main/Leipzig 1999), schickt sich W. Daniel Wilson an, die „politische Legende" Weimar gründlich zu entzaubern (Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars, Stuttgart 1991; Unterirdische Gänge. Goethe, Freimaurerei und Politik, Göttingen 1999; Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar, München 1999). Nach Wilsons umstrittener Überzeugung sind im »klassischen' Weimar systematisch Menschenrechte eingeschränkt und verletzt worden - und zwar unter aktiver Beteiligung Goethes, bei dem Wilson, in diametralem Gegensatz zu Krippendorff, eine entschiedene Diskrepanz zwischen humanen Idealen und amtlicher Praxis zu erkennen glaubt. In der scharfen, teilweise polemischen Auseinandersetzung zwischen Krippendorff und Wilson spiegelt sich nicht zuletzt die aktuelle Problematik des (Selbst)Verständnisses „linker" Politik, wie beide Wissenschaftler auch unumwunden einräumen. Als erzkonservativer, ja reaktionärer Verteidiger spätabsolutistischen Fürstentums erscheint Goethe i n der Darstellung von Wolfgang Rothe, Der politische
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Politik und Kunst - Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, der Zeit, die nun endgültig in den Blick der Untersuchung rücken wird, ist das Verhältnis der beiden Sphären literarhistorisch (noch immer) umstritten. Auf den ersten Blick mögen sich die politische Geschichte und die Literaturgeschichte dieser Epoche nicht so recht zueinander fügen. Der Historiker benennt in erster Linie die Auswirkungen der Französischen Revolution, das Ende des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, die umfassenden Reformwerke, die Befreiungskriege sowie die Errichtung des Deutschen Bundes als die zentralen, die Epoche strukturierenden Koordinaten. Die Literaturgeschichtsschreibung setzt naturgemäß andere Akzente. Bezeichnungen für diese Periode wie Goethezeit oder, in etwas weiter gefaßter, ausgewogenerer Perspektive, klassisch-romantische Kunstepoche haben zumindest das eine gemeinsam: Ihr Fokus ist die Autonomie der Kunst, die der Epoche ihren unverwechselbaren Charakter verliehen hat. 1 2 Damit verbunden ist eine - jedenfalls häufig unterstellte - Tendenz des Apolitischen, die in der sogenannten Eskapismus-Theorie ein sozialgeschichtliches Erklärungsmuster gefunden zu haben schien: Das Bürgertum, so lautet die These, habe sich, von jeglicher politischen Partizipation ausgeschlossen, in die reine Welt der Ästhetik und Poesie geflüchtet, also das Defizit des Politischen mit der Dominanz des Ästhetischen gewissermaßen zu kompensieren versucht. Daß Fragen der Verfassung in der Literatur um 1800 dennoch eine durchaus vielgestaltige Rolle spielen, soll im folgenden gegen die Eskapismus-Theorie, die wissenschaftlich nicht haltbar ist, gezeigt werden. Im Zentrum der Untersuchung steht der Zeitraum zwischen Französischer Revolution und der Errichtung des Deutschen Bundes (1789-1815). Auf mögliche Strategien der Aneignung von Verfassungsfragen sollen einige wenige Schlaglichter geworfen werden, selbstverständlich ohne den mindesten Anspruch auf auch nur annähernde Vollständigkeit. Diese unterGoethe. Dichter und Staatsdiener im deutschen Spätabsolutismus, Göttingen 1998. Zu einer positiven Würdigung Goethes gelangt demgegenüber Friedrich Sengle, Das Genie und sein Fürst. Die Geschichte der Lebensgemeinschaft Goethes mit dem Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Ein Beitrag zum Spätfeudalismus und zu einem vernachlässigten Thema der Goetheforschung, Stuttgart/Weimar 1993. Von den älteren Forschungsbeiträgen zu diesem Thema sind zu erwähnen: Wilhelm Mommsen, Die politischen Anschauungen Goethes, Stuttgart 1948; Hans Tümmler, Goethe als Staatsmann, Göttingen/Zürich/Frankfurt am Main 1976 (Persönlichkeit und Geschichte; Bd. 91/92); ders., Goethe in Staat und Politik. Gesammelte Aufsätze, Köln/Graz 1964 (Kölner Historische Abhandlungen; Bd. 9). 12 Die Problematik von schematisierenden und einengenden Epochenbezeichnungen wie Goethezeit, Klassik, Romantik, die zwangsläufig einem überaus heterogenen Textkorpus nicht gerecht werden können, vermeidet die wichtigste Literaturgeschichte zum späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, indem sie sich an den Koordinaten der politischen Geschichte orientiert: Gerhard Schulz, Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Erster Teil: Das Zeitalter der Französischen Revolution 1789-1806, München 1983; Zweiter Teil: Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration 1806-1830, München 1989 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begründet von Helmut de Boor und Richard Newald; Bd. VII/1 und 2).
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schiedlichen Strategien werden unter drei Leitgedanken gestellt und diskutiert: Suspendierung, Metaphorisierung beziehungsweise Symbolisierung und Konkretisierung. Das Stichwort der Suspendierung verweist gleichsam auf die Gegenthese: die Überlagerung, ja Verdrängung der Verfassungsfrage durch das Ideal einer ethisch-ästhetischen Bildung des Menschen. Eine spezifisch poetische Antwort auf die Umwälzungen der Zeit ist die Metaphorisierung beziehungsweise Symbolisierung von Staats- und Verfassungsvorstellungen, die mit der bereits erwähnten Politisierung der Ästhetik beziehungsweise der Ästhetisierung des Politischen in engem Zusammenhang steht. Daneben wurde in der Literatur um 1800 die Verfassungsfrage - wie im Falle Achim von Arnims bereits angedeutet - auch konkretisiert. Neben der unmittelbaren Herausforderung durch konstitutionelle Wünsche und Bestrebungen zählen hierzu insbesondere der Wandel der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, das Ende des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, die daraus resultierende offene deutsche Frage sowie die Wahrnehmung Westeuropas, in erster Linie Englands und Frankreichs. Auch Amerika zog nicht wenige Deutsche bereits in Bann; davon soll hier indes nicht die Rede sein. Im Jahr 1936 veröffentlichte der Literaturwissenschaftler Walther Rehm sein bis heute berühmtes Buch ,Griechentum und Goethezeit'. Den besonderen Charakter der Aneignung des Griechischen um 1800 faßt er unter anderem in die prägnante Aussage: „Dem römischen Reich deutscher Nation setzt die deutsche Klassik das griechische Reich deutscher Nation entgegen." 1 3 Das Römische bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht nur auf das Alte Reich, sondern insbesondere auf die Staatsidee der römischen Antike und deren Einfluß auf die moderne Staatstheorie. Dem stellt Rehm die von Winckelmann begründete Idee des Griechischen als Glaube an das Reinmenschliche gegenüber.,Geschichte eines Glaubens' - so lautet der Untertitel von Rehms Buch, das auch als innere Abwendung seines Autors von dem neuen, 1933 verkündeten totalitären Staatsglauben in Deutschland zu lesen ist. 1 4 Der Glaube an das Griechische als das Reinmenschliche ist demgegenüber für Rehm ein wahrhaft deutscher Glaube. Die Absage an Staat und Nation, das Römische, zugunsten des Reinmenschlichen, des Griechischen, läßt sich insbesondere in der Hochblüte der deutschen Klassik mit prominenten Versen belegen: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens,/Bildet, ihr könnt es, dafür freyer zu Menschen euch aus", 13
Walther Rehm, Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens, Leipzig 1936, S. 16. 14 Vgl. dazu Ernst Osterkamp, Klassik-Konzepte. Kontinuität und Diskontinuität bei Walther Rehm und Hans Pyritz, in: ZeitenWechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, hrsg. von Wilfried Barner/Christoph König, Frankfurt am Main 1996, S. 150-170 sowie, in demselben Band, den Beitrag von Michael Schlott, Wertkontinuität im Werkkontinuum. Die Funktion der „Klassik" bei Walther Rehm (S. 171-181).
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lautet programmatisch eines der berühmtesten ,Xenien', für die Goethe und Schiller gemeinschaftlich verantwortlich zeichneten. 15 In dem Xenion ,Das Deutsche Reich4 wird der Idee einer Kulturnation, die sich ohne Staatsnation, ja gegen sie konstituiert, ähnlich prägnant und pointiert Ausdruck verliehen: „Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden./Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf." 1 6 Und in seinem Gedichtentwurf ,[Deutsche Größe]' ruft Schiller seine Landsleute dazu auf, „an dem ewgen Bau der Menschenbildung zu arbeiten". 1 7 Aber selbst dieses an sich unmißverständliche Bekenntnis zu einem ethisch-ästhetischen Humanitätsideal verhinderte nicht seinen späteren politischen Mißbrauch. Die Rezeptionsgeschichte von Schillers Gedichtentwurf ist die Geschichte seiner nationalen Vereinnahmung, sei es, daß die Reichsgründung von 1871 auf Schillers Menschheitsvision rückprojiziert wurde, oder der Dichter selbst im Namen der angeblichen „deutschen Größe" zum prophetischen Kriegspropagandisten instrumentalisiert worden ist. 1 8 Zeitgleich zu dem in der - keineswegs unpolitischen - Klassik entworfenen ethisch-ästhetischen Ideal einer Kulturnation regte sich, zunehmend kräftiger, das Bewußtsein einer nationalen Kultur, die ihre Stärke aus der tiefen Verwurzelung in Geist und Geschichte des eigenen Volkes zu gewinnen glaubte. Die mit der Aufwertung, auch Verklärung des Volkes zusammenhängende romantische Staatsauffassung ließ eine Suspendierung der Verfassungsfrage, so wie sie eben skizziert worden ist, nicht zu, mußte sie doch das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten neu bestimmen. Als Leitbild diente den Autoren der Frühromantik, deren Generation ganz im Banne der Französischen Revolution stand, das utopische Ideal eines poetischen Staates, das Novalis Ende des 18. Jahrhunderts entworfen hatte. 1 9 Dieses Ideal wiederum schlug sich in einer Metaphorisierung, teil15 Zitiert nach Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hrsg. von Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert. Erster Band. 8., durchges. Aufl., München 1987, S. 267. 16 Ebd. Zu diesem Experiment einer Kulturnationsgründung als Machtsubstitut in der deutschen Klassik vgl. Conrad Wiedemann, Deutsche Klassik und nationale Identität. Eine Revision der Sonderwegs-Frage, in: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposium 1990, hrsg. von Wilhelm Voßkamp, Stuttgart 1993 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände; 13), S. 541-569. 17 Schiller (FN 15), S. 477. 18 Christian Grawe, Schillers Gedichtentwurf „Deutsche Größe": „Ein Nationalhymnus im höchsten Stil"? Ein Beispiel ideologischen Mißbrauchs in der Germanistik seit 1871, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 167196. 19 Diese normativ aus der Moral begründete Utopie, die in der Frühromantik formuliert worden ist, untersucht Hans-Joachim Mahl, Der poetische Staat. Utopie und Utopiereflexion bei den Frühromantikern, in: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, hrsg. von Wilhelm Voßkamp. 3. Bd., Stuttgart 1982, S. 273-302. Vgl. auch die grundlegende Studie von Hans-Joachim Mühl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidel-
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weise auch Mythologisierung der Verfassungsfrage nieder. Dabei gerieten die Staatsbilder in unmittelbare Konkurrenz zueinander. So hielt Novalis der rationalistisch-naturrechtlichen Staatstheorie, die seiner Meinung nach den Staat zur maschinistisch verwalteten Fabrik verkommen lasse, sein Idealbild der Familie als Keimzelle eines harmonischen Staats entgegen. Familie oder Fabrik - die Auseinandersetzung um den idealen Staat ließ sich höchst anschaulich auf einer metaphorischen, auch symbolischen Ebene führen. Die frühromantische Staatsauffassung kleidete den harmonischen, den poetischen Staat in das Bild einer homogenen Familie und modellierte so mit künstlerischer Freiheit ein utopisches Staatsideal, das sich von der naturrechtlichen Staatstheorie der Aufklärung ebenso distanzierte wie von der Wirklichkeit des preußischen Staates. Das Poetisch-Künstlerische man könnte auch sagen: das Romantische - dieses Verfahrens legitimierte Novalis in der Fragmentsammlung ,Glauben und Liebe oder Der König und die Königin 4 von 1798 mit der totalisierenden Wendung: „Alles kann zur schönen Kunst werden". 2 0 Im poetischen Staat ist auch der Gegensatz von Monarchie und Republik aufgehoben, müsse doch, wie Novalis fordert, die wahre Monarchie einer familiären Liebesgemeinschaft gleichen. Für diese so poetisch-entrückt anmutende Vorstellung erklärte Novalis indes sehr konkret das frisch vermählte preußische Königspaar zum leuchtenden Vorbild, schien diese Ehe doch nicht aus Gründen dynastischer Staatsräson, sondern aus wahrer Liebe geschmiedet worden zu sein. Die Begeisterung des Königspaares über diese dichterische Nobilitierung hielt sich jedoch, gelinde gesagt, in Grenzen. Novalis erhob diese Ehe zum Symbol einer harmonischen Staatsordnung schlechthin, die, weil sie auf gegenseitiger Liebe basiere, der maschinellen Leblosigkeit von Verfassungstexten, welcher Art auch immer, prinzipiell überlegen sei. In dieser noch keineswegs eingelösten Utopie des harmonisch-poetischen Staates hebt sich die Verfassungsfrage gleichsam selbst auf: „Eine vollkommene] Constitution - Bestimmung des Staatskörpers - der Staatsseele - des Staatsgeistes - macht alle ausdrückberg 1965 (Probleme der Dichtung; Bd. 7); 2.» unveränd. Aufl. Tübingen 1994 sowie Klaus Peter, Stadien der Aufklärung. Moral und Politik bei Lessing, Novalis und Friedrich Schlegel, Wiesbaden 1980, S. 85-138; Dennis F. Mahoney, Novalis' »Glauben und Liebe', oder die Problematik eines »poetischen Staats', in: Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Symposium, hrsg. von Wolfgang Wittkowski, Tübingen 1990, S. 192-200 (Diskussion: S. 200-202). Einführend und allgemein zur frühromantischen Bewegung: Lothar Pikulik, Frühromantik. Epoche - Werke - Wirkung, München 1992. 20 Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von Paul Kluckhohn/Richard Samuel. Dritte, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage. 2. Bd.: Das philosophische Werk I, hrsg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl/Gerhard Schulz. Revidiert von Richard Samuel und Hans-Joachim Mähl, Darmstadt 1981, Nr. 39, S. 497. Vgl. einführend: Gerhard Schulz, Novalis, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1996 (zuerst 1969) sowie Herbert Uerlings, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung, Stuttgart 1991 (zu »Glauben und Liebe' vgl. S. 563-569» mit einer kritischen Würdigung der Forschung).
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liehen Gesetze überflüssig. Sind die Glieder genau bestimmt, so verstehn sich die Gesetze von selbst. So lange die Glieder noch nicht vollkommene] Glieder sind - noch nicht genau bestimmt - so muß es Gesetze geben - [ . . . ] Gesetze sind das Complement mangelhafter Naturen und Wesen, daher synthetisch." 21 Die Stilisierung des idealen Staates zur harmonischen Familie wirkte in der Romantik traditionsbildend. Doch dürfen bei allen Parallelen die elementaren Unterschiede innerhalb der romantischen Bewegung nicht übersehen werden. So definierte etwa Friedrich Schlegel noch 1796 den Republikanismus als „notwendig demokratisch" 22. Im Unterschied zu Kant sollte nach Schlegel der Wille der Mehrheit in einem repräsentativen System zum Ausdruck kommen. Später revidierte er diese Utopie einer Volksdemokratie, deren wesentlichen historischen Bezugspunkt er in der attischen Demokratie sah, zugunsten einer Restitution des ständestaatlich organisierten, alteuropäisch-katholischen Kaisertums. 23 Und von der Utopie einer freien Menschengesellschaft, die Novalis herbeisehnte, führt gewiß kein Weg zu der Staatsmystifizierung Adam Müllers, der glaubte, im idealen politischen Gemeinwesen ein Abbild von Gottes Reich erwarten zu können. 24 Die Vorstellung des Novalis von einer neuen, repräsentativen Rolle des Monarchen wertet den Staatsbürger, der sich selbst „thronfähig" 2 5 machen solle, auf. Das herbeigesehnte Ziel, den Gegensatz zwischen Monarchie und Republik im poetischen Staat aufzuheben, ist indes selbst eher poetisch als (real)politisch. In seinem organologischen Staatsmodell idealisiert Novalis den wahren Monarchen zum liebenden Vater und 21 So Novalis in den Aufzeichnungen seines ,Allgemeinen Brouillons' von 1798/99 (Nr. 250): Novalis, Schriften (FN 20), 3. Bd.: Das philosophische Werk II, hrsg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Dritte, von den Herausgebern durchgesehene und revidierte Auflage, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1983, S. 284. 22 So Friedrich Schlegel in seinem ,Versuch über den Begriff des Republikanismus. Veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden'. Zitiert nach dem Sammelband: Friedensutopien. Kant/Fichte/Schlegel/Görres, hrsg. und eingeleitet von Z w i Batscha/Richard Saage, Frankfurt am Main 1979, S. 93-111. Zitat: S. 100. 23 Zu Schlegels geschichtsphilosophischen Vorstellungen vgl. Klaus Behrens, Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie (1794-1808). Ein Beitrag zur politischen Romantik, Tübingen 1984 (Studien zur deutschen Literatur; Bd. 78). 24 Adam Müllers politische Vorstellungen hat Benedikt Koehler analysiert: Ästhet i k der Politik. Adam Müller und die politische Romantik, Stuttgart 1980. Die regressiven Tendenzen der politischen Romantik' akzentuiert Hans Reiss, Politische Romantik. Eine Antwort auf Thomas Nipperdey, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1995, S. 301-318. Zur Gesamtthematik vgl. auch die ältere Studie von Paul Kluckhohn, Persönlichkeit und Gemeinschaft. Studien zur Staatsauffassung der deutschen Romantik, Halle/Saale 1925. Eine kritische wirkungsgeschichtliche Würdigung der politischen Anschauungen des Novalis stammt von Hermann Kurzke, Romantik und Konservatismus. Das „politische" Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte, München 1983 (Literaturgeschichte und Literaturkritik; Bd. 5). 2 5 Novalis, Schriften (FN 20), 2. Bd., S. 489 (Nr. 18).
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vergleicht ihn zudem, nicht ohne absolutistischen Beiklang, mit der „Sonne im Planetensystem". 26 Dieses durchaus zeittypische Bild verwendete später auch Joseph von Eichendorff, allerdings nicht zur metaphorischen Charakterisierung der Monarchie, sondern des dualistischen Systems des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation. Eichendorff faßt die Verklammerung von Kaiserbeziehungsweise Königtum und Reich durch das Lehnswesen in das Bild von einem „Planetensystem", in dem „die Zentralsonne des Kaisertums von den Fürsten und Grafen und diese wiederum von ihren Monden und Trabanten umkreist wurden". 2 7 Durch die zunehmende Aushöhlung der Reichsstruktur verlor, um in Eichendorffs Bild zu bleiben, die kaiserliche Zentralsonne im Laufe der neueren Geschichte ständig an Anziehungskraft, wie überhaupt für diesen Dichter die Neuzeit unter dem Signum umfassender Auflösungserscheinungen steht. Dafür macht Eichendorff insbesondere den neuzeitlichen Subjektivismus verantwortlich, der in der Reformation geboren worden sei, in der Aufklärung seine philosophische Apotheose erfahren und schließlich in der Französischen Revolution politisch einen für Eichendorff - verhängnisvollen weltgeschichtlichen Triumph errungen habe. Der Subjektivismus hat nach Eichendorff das mittelalterliche OrdoSystem zerstört und dadurch auch die Harmonie der menschlichen Gemeinschaft, die auf gegenseitiger Treue basierenden Personalbindungen untergraben. 28 Diesen Verfallsprozeß sahen zahlreiche Dichter der Zeit, und nicht nur sie, durch die zunehmende Kapitalisierung der Welt noch verschärft. Wenn Menschen zu Erwerbsbürgern degradiert werden, alles Streben einzig und allein der Vermehrung persönlichen Eigentums gelte, dann, so die Befürchtung, gerät das gesamte traditionelle Ordnungsgefüge vollends aus den Fugen. Geld verdirbt den Charakter, es korrumpiert den Menschen - so ließe sich dieses Unbehagen auf einen zeitlos gültigen Nenner bringen. In seinem Memoiren-Kapitel ,Der Adel und die Revolution' schreibt Eichendorff über den epochalen Wandel der Revolutionszeit: „Die Stelle der idealen Treue wurde sofort von der materiellen Geldkraft eingenommen [ , . . ] " 2 9 Achim von Arnims Erzählung ,Die Majorats-Herren' (1819) endet in gleichem Sinn mit dem Satz: „und es trat der Credit an die Stelle des Lehnrechts." 30 26 Ebd., S. 488 (Nr. 17). So Eichendorff in seinem Memoiren-Kapitel ,Der Adel und die Revolution'. Zitiert nach: Joseph von Eichendorff, Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wolf gang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. 5. Bd.: Tagebücher, Autobiographische Dichtungen, Historische und politische Schriften, hrsg. von Hartwig Schultz. Mit einem Essay von Wolfgang Frühwald, Frankfurt am Main 1993 (DKV-Bibliothek deutscher Klassiker 96), S. 391. 28 Vgl. allgemein zu Eichendorffs politischen Vorstellungen Peter Krüger, Eichendorffs politisches Denken. In: Aurora 28 (1968), S. 7 - 3 2 und Aurora 29 (1969), S. 5 0 69. 2 9 Eichendorff (FN 27), S. 392. 27
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In der dichterischen Auseinandersetzung mit dem Wandel der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des frühen 19. Jahrhunderts geht die Metaphorisierung der Staats- und Verfassungsvorstellung in deren Konkretisierung über. Die sozialen Folgen, die insbesondere die preußischen Reformen mit sich brachten, wurden sowohl von Dichtern als auch in der Dichtung - das ist ja keineswegs ein und dasselbe - thematisiert und kritisch reflektiert. Über Ausmaß und Folgenschwere des sozioökonomischen Wandels herrschte weitgehende Einigkeit. Die Dichter der Romantik registrierten den Übergang von der alteuropäischen Adelsgesellschaft zur bürgerlichen Eigentümergesellschaft größtenteils mit Bedauern und Sorge, teilweise mit scharfer Ablehnung, die sich in mancher publizistischen Kontroverse entlud, so etwa im Jahr 1810 in den ,Berliner Abendblättern 4 , die Heinrich von Kleist herausgab. Der Streit entzündete sich an den wirtschaftsliberalen Reformen der Regierung Hardenberg und provozierte insbesondere den prominentesten Staatstheoretiker der Romantik, Adam Müller, zu einem heftigen Angriff auf die preußische Politik, der er vorwarf, die Grundlagen des traditionellen Ordnungsgefüges zu zerstören. Müller übte Fundamentalkritik an einer Wirtschaftsordnung, die zu einer menschenfeindlichen, ja gotteslästerlichen Anbetung des alles beherrschenden Marktes verkomme. Er wandte sich insbesondere gegen die von Adam Smith geforderte Arbeitsteilung, die seiner Meinung nach der natürlichen Lebensordnung widerspreche und die menschlichen Beziehungen verdingliche. Den Gesetzen des Marktes sprach er jegliches ethisch-sittliche Fundament ab und stellte ihnen seine rückwärtsgewandte Utopie der altständischen agrarischen Ordnung entgegen. 31 Fabrik oder Familie: Dieser Gegensatz, mit dem in der Romantik metaphorisch Staats- und auch Verfassungsvorstellungen in wertender Absicht einander gegenübergestellt wurden, gewann in der Auseinandersetzung mit dem Wandel der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zugleich eine konkrete und eine symbolische Dimension. Die Fabrik als sinnfälliger Ausdruck für die grundsätzliche Mechanisierung der Welt ist ein konkreter Ort mit symbolischer Bedeutung. In der bereits erwähnten Erzählung ,Die Majorats-Herren 4 von Achim von Arnim wird das Majoratshaus, hier das Symbol der alten Welt, zur modernen Salmiakfabrik umgewandelt und damit in die industriell-kapitalistische Welt des 19. Jahrhunderts versetzt. Diese neue Welt, die allein den Gesetzen der Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit und Gewinnmaximierung gehorcht, hat jeglichen poetischen Zauber verloren: „wie gleichförmig arm ist sie geworden 44, heißt es in Arnims Erzählung 30 Arnim (FN 1), 4. Bd., S. 147. 31 Zu Müllers Kapitalismuskritik vgl. Ernst Hanisch, Der „vormoderne" Antikapitalismus der Politischen Romantik. Das Beispiel Adam Müller, in: Richard Brinkmann (Hrsg.), Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion, Stuttgart 1978, S. 132-146; Albrecht Langner (Hrsg.), Katholizismus, konservative Kapitalismuskritik und Frühsozialismus bis 1850, München/Paderborn/Wien 1975.
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mit spürbarer Resignation. 32 Der Übergang in die alles nivellierende Ära der Industrialisierung markiert auch die Grenzen der Möglichkeiten romantischer Poesie. Der poetische Blick eines Achim von Arnim oder Joseph von Eichendorff zurück auf die Welt des Ancien régime ist gewiß wehmütig, aber ohne nostalgische Verklärung. Das Gebäude des Ancien régime, so die nüchterne Einsicht, war bereits so morsch, daß es dem Sturm der Revolution nicht zu trotzen vermochte. Deutsche Revolutionsfreunde wiederum verhöhnten bereits früher die „gotische Ruine" der Reichsverfassung, die sie polemisch als widernatürlich brandmarkten. 33 Als schließlich das alte Reichsgemäuer tatsächlich in sich zusammenstürzte, hielten sich Überraschung und Trauer auch unter den Dichtern in Grenzen: Ausgezehrt von innerer Schwäche, so die verbreitete Überzeugung, sei das Heilige Römische Reich deutscher Nation sang- und klanglos von der politischen Landkarte Europas verschwunden. Der Eindruck drängt sich auf, daß die von Kriegen heimgesuchten und zermürbten Zeitgenossen anderes im Sinn hatten, als dem zuletzt ohnehin nur noch formell existierenden Reichsverband nachzutrauern. So sehr etwa Goethe, Justus Moser folgend, die territoriale Vielfalt des Reichs als kulturellen Gewinn betrachtete, dem dahingeschiedenen Heiligen Römischen Reich versagte er eine den Verlust beklagende Grabrede. 34 Doch bereits zwei Jahre nach Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. warnte Jean Paul 1808 in seiner,Friedens-Predigt an Deutschland' vor einer möglichen oder bereits grassierenden Reichsnostalgie, die ein System verkläre, das aufgrund seiner Strukturschwächen zurecht nicht mehr existiere. 3 5 Von der Teilnahmslosigkeit zur Nostalgie schien der Weg nicht allzu weit gewesen zu sein. Mit dem Ende des real existierenden Reichs eröffneten sich jedenfalls Freiräume für die Imagination, auch für die Projek32 Arnim (FN 1), 4. Bd., S. 107. 33 Vgl. Peter Schmidt, Die gotische Ruine der Reichsverfassung, in: Weimarer Beiträge 35 (1989), S. 745-758. 34 Vgl. Georg Schmidt, Goethe: politisches Denken und regional orientierte Praxis im Alten Reich, in: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), S. 197-212. Wichtige Hinweise auch bei Hans Reiss, Goethe und die Politik: französische Revolution, Napoleon, Restauration, in: Evolution des Geistes: Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte, hrsg. von Friedrich Strack, Stuttgart 1994 (Deutscher Idealismus; Bd. 17), S. 175-196. Goethes Haltung zum Alten Reich verklärt Heinrich Ritter von Srbik, Goethe und das Reich, Leipzig 1940. Zum Ende des Alten Reichs vgl. Helmut Neuhaus, Das Ende des Alten Reichs, in: Das Ende von Großreichen, hrsg. von Helmut Altrichter/Helmut Neuhaus, Erlangen/Jena 1996 (Erlanger Studien zur Geschichte; Bd. 1), S. 185-209; Karl Otmar Freiherr von Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776-1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität. Teil 1: Darstellung, Wiesbaden 1967 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz; Bd. 38); ders., Das Reich. Friedensgarantie und europäisches Gleichgewicht 1648-1806. Nach der Ausgabe von 1986, Stuttgart 1992. Einführend zur Geschichte des Alten Reichs: Helmut Neuhaus, Das Reich in der frühen Neuzeit, München 1997 (Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 42). 35 Jean Paul, Werke. 5. Bd.: Vorschule der Ästhetik, Levana oder Erziehlehre, Politische Schriften, hrsg. von Norbert Miller, München 1963, S. 885. 10*
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tion. Das Reich wurde am Tage seiner Grablegung gleichsam frei als symbolischer und mythologischer Raum, der nicht mehr an die politische Wirklichkeit gebunden war, sich aber auf diese kritisch beziehen ließ. 3 6 Daneben gaben sich manche Zeitgenossen der Illusion hin, das Alte Reich könnte womöglich noch einmal als konkrete politische Größe Wiederaufleben. So forderte Heinrich von Kleist in seinen politischen Schriften des Jahres 1809 die Wiederherstellung des Alten Reichs mit Kaiser Franz an der Spitze. In seinem Kriegsmanifest ,Über die Rettung von Österreich' simuliert Kleist gar eine staats- und völkerrechtliche Restitution des Reichs, indem er Kaiser Franz I. von Österreich eine entsprechende Proklamation verfassen läßt: „Von dem Tage dieses Beschlusses an soll das deutsche Reich wieder vorhanden sein". 3 7 Dieses nachdrückliche, geradezu beschwörende, politisch jedoch unrealistische, ja naive Bekenntnis zum Heiligen Römischen Reich verband Kleist mit der Hoffnung, Österreich werde einen gesamtdeutschen Befreiungskampf gegen Frankreich anführen. Auf den österreichischen Erzherzog Karl richteten sich tatsächlich viele Hoffnungen der deutschen Patrioten. Es steht daher außer Zweifel, daß bei Kleists Bekenntnis zum Heiligen Römischen Reich tagespolitische Erwägungen eine entscheidende Rolle gespielt haben. Dennoch mag das eindeutige Plädoyer für eine Restitutio in integrum des Reichs mit dem Haus Habsburg an der Spitze aus der Feder eines Dichters überraschen, dem man kaum romantische Neigungen zum Katholizismus nachsagen kann. Das unterscheidet Kleists Haltung prinzipiell von dem Standpunkt der Katholiken Friedrich Schlegel oder Joseph Görres, die sich nicht zuletzt aufgrund ihrer konfessionellen Überzeugung für die Wiederherstellung einer christlichen Universalmonarchie in Deutschland aussprachen. Kleist ließ sich gewiß nicht von den weltanschaulichen Prinzipien eines Schlegel oder Görres leiten, sondern konzentrierte sich auf die machtpolitischen Erfordernisse der Gegenwart, so wie er sie sah. Eine politische Legitimation des Alten Reichs findet sich bei Kleist indes nicht nur in mehr oder weniger propagandistischen Gebrauchstexten. Das Alte Reich tritt auch in einer Kleistschen Dichtung machtvoll in Erscheinung, und zwar in seiner fulminantesten und bis heute wirkungsgeschichtlich bedeutendsten Erzählung: »Michael Kohlhaas' (1808/10), der 36 Detaillierteres zu dieser Frage liefert die Studie des Verf., Das Alte Reich und die Dichter. Die literarische Auseinandersetzung mit einer politischen Krise, in: Aurora 59 (1999), S. 189-224. 37 Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, hrsg. von IlseMarie Barth/Klaus Müller-Salget/Stefan Ormanns/Hinrich C. Seeba. 3. Bd.: Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, hrsg. von Klaus Müller-Salget, Frankfurt am Main 1990 (DKV-Bibliothek deutscher Klassiker 51), S. 501. Vgl. auch Klaus Müller· Salget, Heinrich von Kleist: ,Über die Rettung von Österreich'. Eine Wiederentdeckung, in: Kleist-Jahrbuch 1994, S. 3-48. Zur Gesamtthematik vgl. Volker Press, Das Ende des Alten Reiches und die deutsche Nation, in: Kleist-Jahrbuch 1993, S. 31-55.
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Geschichte eines wohlhabenden Pferdehändlers - „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Z e i t " , 3 8 wie es in der hochberühmten paradoxen Anfangswendung pointiert heißt - , der gegen Adelswillkür und Rechtsbeugung ankämpft, am Ende zwar rehabilitiert wird, für seine gewaltsame Selbsthilfe indes mit seinem Leben bezahlen muß. Anders als in Kleists Quellen, die den historischen Fall des Hans Kohlhase und seiner Fehde dokumentieren, 39 greift in der Erzählung das Reichsoberhaupt, der Kaiser, selbst in den Fall ein und erklärt „die Sache des Kohlhaas zu einer Angelegenheit gesamten heiligen römischen Reichs". 40 Diesem bemerkenswerten Umstand und insbesondere seinen Implikationen ist in der wahrlich nicht knappen Forschungsliteratur, die sich dieser Erzählung widmet, erstaunlich wenig Beachtung geschenkt worden. Der historische Fall des Hans Kohlhase, soweit er sich aus den Quellen rekonstruieren läßt, also die Fehde, die dieser Kaufmann wegen der unrechtmäßigen Wegnahme seiner Pferde geführt hat, sowie sein Rechtsstreit, an dessen Ende im Jahr 1540 seine Hinrichtung stand, vollzog sich einzig und allein im Gegen- und Miteinander der beiden beteiligten Territorialstaaten, Sachsen und Brandenburg. In verfassungsgeschichtlicher Perspektive ist der Fall ohne Zweifel ein Indiz für die sich stärkende Staatlichkeit dieser Territorien im Reich. 41 Die spezifische Konstellation läßt auch Spekulationen, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form sich eine Reichsinstitution hätte einschalten können, keinen Raum. Demgegenüber erwägen nicht wenige Kommentare und Interpretationen der Kleistschen Erzählung die prinzipielle Möglichkeit, daß sich der historische Hans Kohlhase wegen Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung im Kurfürstentum Sachsen an das Reichskammergericht in Speyer hätte wenden können. Diese Möglichkeit bestand jedoch unter den gegebenen Umständen nicht. Tatsächlich erwirkten Sachsen und Brandenburg unter Berufung auf die Goldene Bulle mit Erfolg eine faktische Appellationsfreiheit, die später (für Sachsen 1559, für Kurbrandenburg 1586) auch reichsrechtlich sanktioniert worden ist. 4 2 38 Kleist (FN 37), S. 13. 39 Vgl. insbesondere die rechtsgeschichtliche Studie von Christoph Müller-Tragin, Die Fehde des Hans Kohlhase. Fehderecht und Fehdepraxis zu Beginn der frühen Neuzeit in den Kurfürstentümern Sachsen und Brandenburg, Zürich 1997 (Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte; Bd. 35) sowie - zur Fehdeproblematik i n Kleists Erzählung - Hartmut Boockmann, Mittelalterliches Recht bei Kleist. Ein Beitrag zum Verständnis des ,Michael Kohlhaas', in: Kleist-Jahrbuch 1985, S. 84-108. Kleists historische Quellen dokumentiert Günter Hagedorn, Erläuterungen und Dokumente - Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Bibliographisch erneuerte Ausgabe, Stuttgart 1983, S. 57-72. 40 Kleist (FN 37), S. 126. 41 Malte Dießelhorst, Hans Kohlhase/Michael Kohlhaas, in: Kleist-Jahrbuch 1988/ 89, S. 334-356. Vgl. auch Ekkehard Kaufmann, Michael Kohlhaas = Hans Kohlhase. Fehde und Recht im 16. Jahrhundert - ein Forschungsprogramm. In: Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtshistorie. Symposion für Adalbert Erler, hrsg. von Gerhard Dilcher/Bernhard Diestelkamp, Berlin 1986, S. 65-83.
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Was mag nun Kleist bewogen haben, entgegen der historischen Überlieferung des Falles und zu einer Zeit, als das Alte Reich bereits der Vergangenheit angehörte, der spezifischen Verfassungsstruktur des Reichs sowie der Rolle des Reichsoberhaupts in seiner Erzählung so großes Gewicht zu verleihen? 43 Im historischen Fall gehen zuletzt Sachsen und Brandenburg trotz ihres konfliktbeladenen Verhältnisses, das die Fehde in dieser Form erst ermöglicht hatte, gemeinsam gegen den Landfriedensbrecher Hans Kohlhase vor. Davon kann bei Kleist keine Rede sein. Der Antagonismus der Territorien prägt die Struktur der Handlung bis zuletzt. Hier spiegelt sich nicht zuletzt Zeitgeschichte wider, Kleists Haß auf den Rheinbundstaat Sachsen einerseits, seine Hoffnung auf ein verantwortungsbewußtes Preußen andererseits. Der Kurfürst von Brandenburg ist es schließlich auch, der zusammen mit dem Vertreter des Reichs die rechtliche, und das heißt in diesem Fall vor allem die rechtsstaatliche Lösung herbeiführt, die gleichwohl den tragischen Ausgang nicht zu verhindern vermag. In jedem Fall sorgt die spezifische Struktur des Reichs dafür, daß sich die Macht- und Herrschaftsansprüche einzelner Gewalten nicht ins Absolute steigern lassen. So wertet etwa in Kleists Erzählung Martin Luther in einem Sendschreiben an den Kurfürsten von Sachsen die das Land verwüstenden Mordbrenner nolens volens zur auswärtigen Kriegspartei auf und plädiert dafür, Kohlhaas „mehr als eine fremde, in das Land gefallene Macht" zu betrachten, „wozu er sich auch, da er ein Ausländer sei, gewissermaßen qualifiziere". 4 4 - Für einen Landfriedensbrecher eine ebenso bemerkenswerte wie historisch unwahrscheinliche Nobilitierung. Der Kurfürst von Brandenburg beruft sich sogar - höchst modern und in dieser Form für das 16. Jahrhundert undenkbar - auf das Völkerrecht und rettet auf diese Weise seinen Untertan vor einer qualvollen Hinrichtung, zu der er in Dresden verurteilt worden ist. 4 5 In dieser Argumentation gewinnt das Reich den Charakter eines internationalen Völkerbundes, mit dem es im 18. Jahrhundert tatsächlich in Verbindung gebracht worden ist. So betrachtete Jean-Jacques Rousseau die defensiv-pazifistische Reichsverfassung, neben Holland und der Eidgenossenschaft, als Vorbild und Keimform eines zu errichtenden Völkerbundes, der eine europäische Friedensordnung in der Zukunft garantieren solle. 46 42
Vgl. Rudolf Smend, Das Reichskammergericht. Erster Teil: Geschichte und Verfassung, Weimar 1911 (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit; Bd. IV, H. 3), S. 60-62. 43 Hilda Meldrum Brown sieht den Kaiser „as an almost divine arbiter i n Kohlhaas' case" (Heinrich von Kleist: The Ambiguity of Art and the Necessity of Form, Oxford 1998, S. 125). 44 Kleist (FN 37), S. 82. 4 5 Ebd., 114 f. 46 Vgl. Kurt von Raumer; Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg/München 1953, S. 127-150 (Darstellung), S. 343-368 (Rousseaus Text).
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Doch wie verhält sich nun, so wäre weiter zu fragen, diese Betonung des relativierenden Grundzugs der Reichsverfassung in der Erzählung zu dem Bild des idealen Monarchen, das Kleist mit Blick auf den Kurfürsten von Brandenburg in der Art eines Fürstenspiegels zeichnet? 47 Der Kurfürst von Brandenburg wird seiner Verpflichtung als fürsorglicher Landesvater zwar erst spät, dann aber energisch und kompromißlos gerecht. Am Ende der Erzählung umstrahlt ihn trotz aller Tragik des Geschehens die Aura des paternalistischen Herrschers, der sich seiner persönlichen wie politischen Verantwortung für sein Landeskind voll und ganz bewußt geworden ist. Der Staat als Familie und Liebesgemeinschaft - eine Staats- und Verfassungsvorstellung dieser Art erinnert an die bereits erwähnten unterschiedlichen Entwürfe des Novalis und Adam Müllers. Mit einer vergleichbaren Staatsutopie endet auch Kleists letztes Drama: ,Prinz Friedrich von Homburg'. 4 8 In ,Michael Kohlhaas' integriert Kleist dieses Ideal eines Absolutismus mit menschlichem Antlitz in die Rechtsstrukturen eines funktionierenden Reichsverbandes - ein geschichtsutopischer Entwurf, den man verfassungsgeschichtlich indes nur als anachronistisch bezeichnen kann. Gerade die zunehmende Eigenstaatlichkeit der absolutistischen Großmächte Österreich und Preußen hat ja den Reichsverband gesprengt; sie ließ sich mit der spezifischen Struktur des Alten Reichs prinzipiell nicht vereinbaren. Die Grundsätzlichkeit dieses Dilemmas hat Kleist offenkundig nicht reflektiert. Eine Vorstellung jedenfalls, die Reichspatriotismus und Absolutismus, in welch bereinigter Form auch immer, zu verbinden versucht, ist zwangsläufig aporetisch, eine verfassungsgeschichtliche Contradictio in adjecto. Der tiefere Grund für Kleists so widersprüchlich erscheinende Vorstellungen mag in dem nationalen Vakuum liegen, in das Deutschland durch die Feldzüge Napoleons und das Ende des Alten Reichs geraten war. Bei Kleist meint man das Gefühl der politischen Unsicherheit in dieser Krisen- und Umbruchzeit besonders deutlich verspüren zu können. Die Darstellung von Verfassung in Kleists ,Michael Kohlhaas' hält indes noch eine weitere Facette bereit. Kaum eine Frage wurde in Forschung und Publizistik zu der Erzählung so intensiv und kontrovers diskutiert wie das Rechtsbewußtsein des Helden. 49 Ist Michael Kohlhaas wirklich ein Prototyp 47 Hans Joachim Kreutzer charakterisiert das Eingreifen des Kurfürsten von Brandenburg als quasi-göttlich und sieht i n der Erzählung „eine Art von Fürstenspiegel" (Über Gesellschaft und Geschichte im Werk Heinrichs von Kleist, in: Kleist-Jahrbuch 1980, S. 34-72. Zitat: S. 54). 48 Den Einfluß von Adam Müllers ,Die Elemente der Staatskunst' von 1809 auf die Utopie eines familiär geprägten Staatsmodells i n diesem Drama analysiert Klaus Peter, Für ein anderes Preußen. Romantik und Politik in Kleists ,Prinz Kiedrich von Homburg', in: Kleist-Jahrbuch 1992, S. 95-125. 49 Zu diesen rechtsgeschichtlichen Implikationen vgl. u. a. Monika Frommel, Die Paradoxie vertraglicher Sicherung bürgerlicher Rechte. Kampf ums Recht und sinnlose Aktion, in: Kleist-Jahrbuch 1988/89, S. 357 - 374; Joachim Rückert, „ . . . Der Welt in der Pflicht verfallen...". Kleists ,Kohlhaas' als moral- und rechtsphilosophische
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oder Vorläufer des modernen Terroristen, ein querulatorischer noch dazu, wie 1985 der damalige Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Horst Sendler in einer viel beachteten Studie meinte? 50 Einer derartigen Lesart verschließt sich jedoch der Text. Die Gewalthandlungen des Kohlhaas, die darüber hinaus in ihrem höchst komplexen Begründungszusammenhang zu betrachten wären, enden relativ frühzeitig mit dem Auftritt und Eingreifen Luthers. Im Anschluß daran widmet sich die Erzählung detailliert den komplizierten Optionen und Modalitäten eines geeigneten Rechts Verfahrens. Diese Vorgänge nehmen immerhin zwei Drittel des gesamten Textes in Anspruch und untermauern einmal mehr die prinzipielle Bedeutung des positiven Rechts bei Kleist. 5 1 Die mitunter quälend genaue Beschreibung der Suche nach einem formellen Rechtsweg korrespondiert mit den ursprünglichen Absichten des Helden, der auf die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit pocht. Damit rückt er in die Nähe der urliberalen Idee vom Vorrang des ,Rechten' vor dem ,Guten', wie sie etwa John Rawls in seiner,Theory of Justice' von 1971 definiert und beschrieben hat. 5 2 Dem Rechtsstaat müsse an der Einhaltung gerechter Spielregeln gelegen sein und nicht an der Utopie der ultimativ gerechten Gesellschaft - so lautet in knapper Form die liberale Definition der Gerechtigkeit als eines sozialen Ordnungsprinzips. Sie steht mit der prinzipiellen Position des Michael Kohlhaas durchaus in Einklang, auch wenn sich dieser zeitweilig, aber eben - wie er betont - gezwungenermaßen außerhalb von Staat und Reich stellt, dabei allerdings seinen Gewaltaktionen mit großem Pathos heilsgeschichtliche Züge verleiht und sich in Mandaten als „einen Reichsund Weltfreien, Gott allein unterworfenen Herrn" bezeichnet, der, „zur Errichtung einer besseren Ordnung der Dinge", einer „provisorischen Weltordnung" vorstehe. 53 Ob Reichspatriotismus, paternalistischer Absolutismus oder die Bedeutung formeller Rechtsverfahren - in den fiktionalen wie nichtfiktionalen Texten Kleists finden sich nicht wenige Themen und Motive, die Fragen der Verfassung unmittelbar und konkret berühren. Kleists politische ÜberStellungnahme, in: Kleist-Jahrbuch 1988/89, S. 375-403; Joachim Bohnert, Kohlhaas 50 der Entsetzliche, in: Kleist-Jahrbuch 1988/89, S. 404-431. Horst Sendler, Über Michael Kohlhaas - damals und heute. Berlin 1985 (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin; H. 92). Vgl. dazu die Rezension von Hartmut Boockmann im Kleist-Jahrbuch 1985, S. 177-179. 51 Diesen Befund untermauert der Aufsatz von Joachim Bohnert, Positivität des Rechts und Konflikt bei Kleist, in: Kleist-Jahrbuch 1985, S. 39-55. 52 John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge/Mass. 1971; deutsch: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übersetzt von Hermann Vetter, Frankfurt am Main 1975. Zur Diskussion von Rawls' Thesen vgl. Theorie Diskussion: Über John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit, hrsg. von Otfried Höffe, Frankfurt am Main 1977. Anregendes zu diesen Fragen bietet die konzise Studie von Hasso Hofmann, Bilder des Friedens oder Die vergessene Gerechtigkeit. Drei anschauliche Kapitel der Staatsphilosophie, München 1997. 53 Kleist (FN 37), S. 68,73.
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legungen zum Alten Reich verharren zudem keineswegs bei der allgemeinen Idee einer Restitution. In seiner bereits zitierten Schrift ,Über die Rettung von Österreich' ist sogar - allerdings nur vage - von einem Verfassungsgebungsverfahren für die Zeit nach der erhofften Reichseinigung die Rede. Kleist fordert in diesem Zusammenhang, nach Kriegsende einen Reichstag einzuberufen. 54 Obgleich dieser knappe Hinweis Fragen eher aufwirft als beantwortet, darf man wohl getrost annehmen, daß Kleist nicht den Gesandtenkongreß des Alten Reichs im Sinn hatte. Ob Kleist indes an ein Parlament nach westeuropäischem Muster gedacht hat, bleibt unklar. Ganz allgemein dienten der französische sowie der englische Parlamentarismus im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert durchaus als potentielle Vorbilder für die verschiedenen Verfassungspläne in Deutschland. Der Blick richtete sich verstärkt nach England, das durch keine abschreckend wirkende blutige Revolution erschüttert worden war, sondern sich vielmehr infolge einer dann auch so genannten Glorreichen Revolution - Glorious Revolution - zu einer integrativen Staatsnation entwickelt zu haben schien. 55 Als Herzstück des Parlamentarismus zog die öffentliche politische Rede das besondere Interesse vieler Zeitgenossen auf sich. 56 Parlamentarismus bedeutet ja nicht zuletzt angewandte Rhetorik, die Gewalt der Beredsamkeit, die im öffentlichen Raum um Stimmungen und Meinungen kämpft. Die Macht der Rede löste andererseits manche Befürchtungen, Ängste und Sorgen um die öffentliche Ruhe und Ordnung aus. 57 54 Ebd., S. 503. 55 Das überwiegend positive Bild Englands i n der deutschen Aufklärung untersucht Michael Maurer, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland, Göttingen/ Zürich 1987 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London). Einschlägig sind auch die Studien von Wolfgang J. Mommsen, Zur Entwicklung des Englandbildes der Deutschen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in: Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen. Festschrift für Paul Kluke, hrsg. von Lothar Kettenacker u. a., München 1981, S. 375-397 und Hermann Wellenreuther, England und Europa. Überlegungen zum Problem des englischen Sonderwegs in der europäischen Geschichte, in: Liberalitas. Festschrift für Erich Angermann zum 65. Geburtstag, hrsg. von Norbert Finzsch/Hermann Wellenreuther, Stuttgart 1992 (Transatlantische historische Studien; Bd. 1), S. 89-123. 56 Zur Geschichte der englischen Parlamentsberedsamkeit, insbesondere während ihres häufig so apostrophierten „Goldenen Zeitalters" von 1688 bis zur Reformb i l l 1832, vgl. Hildegard Gauger, Die Kunst der politischen Rede in England, Tübingen 1952. Eine verklärende Würdigung aus der Zeit um 1800 stammt von Dietrich Hermann Hegewisch, Geschichte der englischen Parlamentsberedsamkeit, Altona 1804. 57 Diesen Fragen widmet sich die Monographie des Verf., Öffentliche Rede i n der Zeitenwende. Deutsche Literatur und Geschichte um 1800, Tübingen 1997 (Studien zur deutschen Literatur; Bd. 142). Zur allgemeineren rhetorik- und philosophiegeschichtlichen Einordnung vgl. ζ. B. Peter Ptassek/Birgit Sandkaulen-Bock/Jochen Wagner/Georg Zenkert, Macht und Meinung. Die rhetorische Konstitution der politischen Welt. Mit einem Vorwort von Rüdiger Bubner, Göttingen 1992 (Neue Studien zur Philosophie; Bd. 5); Tobia Bezzola, Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel. Ein Beitrag zur Philosophiegeschichte der Rhetorik, Tübingen 1993 (Rhetorik-Forschungen; Bd. 5); Gudrun Fey, Das ethische Dilemma der Rhetorik i n der Antike und der Neuzeit, Stuttgart 1990.
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Die K r i t i k an der Rhetorik ist so alt wie diese selbst. 58 Im Deutschland des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wiesen eine ganze Reihe prominenter Dichter und Denker auf die Gefahren des Mißbrauchs öffentlicher Reden hin. Am bekanntesten ist wohl das Verdikt Kants in der,Kritik der Urteilskraft 4 , die Rhetorik degradiere die Zuhörer zu willenlosen Maschinen. 5 9 Auch Goethe zählt zu denjenigen, die ihren Argwohn gegenüber dem manipulativen Potential öffentlicher Rede nicht verhehlten. 60 Die Rhetorik als eine Kunst der Verstellung sollte seiner festen Überzeugung nach keinen Einfluß auf Politik und Rechtsprechung gewinnen. Erst jüngst ist ein womöglich von Goethe stammender Aufsatz aufgefunden und publiziert worden, der die Nachteile der Mündlichkeit in der Rechtspflege hervorhebt und die Einführung eines öffentlichen und mündlichen Gerichtsverfahrens in ganz Deutschland ablehnt. Dieser Aufsatz von 1819 reagiert auf die Herausforderung des französischen Rechts, das ein Geschworenengericht sowie öffentliche Verhandlungen vorsah. In der napoleonischen Zeit wurde dieses Recht, der Code Napoléon, in den Rheinlanden eingeführt und später hier beibehalten. Goethe, falls er wirklich der Autor dieses Aufsatzes ist, warnt hingegen davor, daß die Gefahren eines Rechtsverfahrens, das schon grundsätzlich einem „Krieg im Frieden" gleiche, durch eine öffentliche, mündliche Verhandlung unverantwortlich zunähmen. Wenn die Rhetorik Einfluß im Gerichtssaal gewönne, träte unweigerlich „Ueberredung an die Stelle der Ueberzeugung". 61 58 Jürgen Sprute, Philosophie und Rhetorik bei Piaton und Aristoteles, in: Die Macht des Wortes. Aspekte gegenwärtiger Rhetorikforschung, hrsg. von Carl Joachim Classen/Heinz-Joachim Müllenbrock, Marburg 1992 (Ars rhetorica; Bd. 4), S. 29-45. Zu dem prinzipiell spannungsreichen Verhältnis zwischen Rhetorik und Philosophie vgl. den Sammelband Rhetorik und Philosophie, hrsg. von Helmut Schanze/Josef Kopperschmidt, München 1989. 59 Immanuel Kant, K r i t i k der Urteilskraft, hrsg. von Karl Vorländer. Unveränderter Neudruck der Ausgabe von 1924, Hamburg 1963, S. 184 f.: „Ich muß gestehen, daß ein schönes Gedicht mir immer ein reines Vergnügen gemacht hat, anstatt daß die Lesung der besten Reden eines römischen Volks- oder jetzigen Parlaments- oder Kanzelredners jederzeit mit dem unangenehmen Gefühl der Mißbilligung einer hinterlistigen Kunst vermengt war, welche die Menschen als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem Urteile zu bewegen versteht, das im ruhigen Nachdenken alles Gewicht bei ihnen verlieren muß. Beredtheit und Wohlredenheit (zusammen Rhetorik) gehören zur schönen Kunst; aber Rednerkunst (ars oratoria) ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint oder auch wirklich gut sein, als sie wollen), gar keiner Achtung würdig. Auch erhob sie sich nur, sowohl in Athen als in Rom, zur höchsten Stufe zu einer Zeit, da der Staat seinem Verderben zueilte und wahre patriotische Denkungsart erloschen war." 60 Zu Goethes differenzierter und sich im Laufe der Zeit wandelnder Auffassung der Rhetorik vgl. Helmut Schanze, Goethes Rhetorik, in: Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik", Tübingen 1991 (Rhetorik-Forschungen; Bd. 1), S. 139-147. 61 Peter J. Schwartz, A n Unpublished Essay by Goethe? „Staatssachen. Ueber mündliche deutsche Rechtspflege in Deutschland", in: The Germanic Review 73 (1998), S. 107-131. Zitate: S. 108. Die durch die Einführung des Code Napoléon her-
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Überredung statt Überzeugung: Dieser Gegensatz spitzt den uralten und ständig wiederkehrenden Vorbehalt der Philosophie gegenüber der Rhetorik begrifflich zu. Der unwiderstehlichen Macht ebenso genialer wie infamer Überredungskunst verlieh Goethe auch dichterischen Ausdruck. Sein Reineke Fuchs ist eine der faszinierendsten Rednerfiguren der deutschen Literatur und antizipiert den Typus des modernen Volksdemagogen. Goethe selbst hat seinen Meisterredner, der am Ende des Versepos zum Reichskanzler ernannt wird, in einem Brief als typisches Produkt der Höfe, insbesondere aber der Republiken charakterisiert. 62 Die Möglichkeiten öffentlicher Rede waren ja unter den Bedingungen des Absolutismus sehr beschränkt; sie konnten und können sich nur in einem halbwegs freiheitlich verfaßten Gemeinwesen richtig entfalten. Die Fabelfigur Reineke erscheint bei Goethe wie ein Volkstribun des revolutionären Frankreichs in verfremdeter Gestalt. Mit außerordentlichem rhetorischen Geschick nützt Reineke die Schwächen der Menschen ebenso konsequent wie skrupellos zu seinem persönlichen Vorteil aus. - Mit Erfolg: Herrscher wie Beherrschte erliegen zuletzt den Verführungskünsten des hochbegabten, aber gänzlich amoralischen Redners. Gewitzte Ideologen und Demagogen haben angesichts eines maroden, von innerer Schwäche und Leere gekennzeichneten Ancien régime leichtes Spiel. - So ließen sich Reinekes rhetorische Leistungen in Goethes Verständnis historisch-politisch übersetzen. Die rhetorisch-politische Effizienz bricht jeglichen moralischen Imperativ. Die Adressaten der Reden erweisen sich als zu schwach, zu verführbar, zu manipulierbar, zu substanzlos, als daß sie den rhetorischen Verführungskünsten des Rednerfuchses widerstehen könnten. Diese Sicht der Rhetorik und ihrer Wirkungsmechanismen offenbart ein tief sitzendes Mißtrauen gegenüber dem Demos, das sich aufgrund der Erfahrungen mit dem Verlauf der Französischen Revolution noch verstärkte. Über die prinzipielle Verführbarkeit einer manipulierbaren Volksmenge machte sich Christoph Martin Wieland 1798 vorgerufenen Folgen für das Gerichtswesen, gerade mit Blick auf die forensische Beredsamkeit, wurden im frühen 19. Jahrhundert eingehend erörtert: Friedrich Karl von Strombeck, Formulare und Anmerkungen zu der Proceß-Ordnung des Königreichs Westphalen, nebst einigen Mustern gerichtlicher Reden. Erster Theil. Zweyte, gänzlich umgearbeitete Auflage, Göttingen 1809; Zweyter Theil, Braunschweig 1810; Karl Salomo Zachariä, Anleitung zur gerichtlichen Beredsamkeit, Heidelberg 1810. Zur Frage der Mündlichkeit in der Rechtspflege vgl. die Darstellungen von HansJürgen Becker, Die gerichtliche Beredsamkeit. Ein Beitrag zum Verhältnis von Recht und Sprache, in: Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat, Berlin 1989, S. 45-54; Wolfgang Sellert, Mündlichkeitsprinzip und Beredsamkeit vor Gericht, in: Classen/Müllenbrock (FN 58), S. 181-203. 62 A m 28. 6. 1794 schrieb Goethe Charlotte von Kalb: „Hier, liebe Freundin, kommt Reineke Fuchs, der Schelm, und verspricht sich eine gute Aufnahme. Da dieses Geschlecht auch zu unsern Zeiten bei Höfen, besonders aber in Republiken sehr angesehen und unentbehrlich ist, so möchte nichts billiger sein, als seine Ahnherrn recht kennen zu lernen." Zitiert nach der Hamburger Ausgabe (FN 6), 2. Bd.: Gedichte und Epen II. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, München 1988, S. 714.
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mit Blick auf Frankreich keinerlei Illusionen: Der „erste beste hosenlose Tollkopf", der auf einen Tisch steige und dem sich um ihn drängenden Haufen Unsinn predige, kommentiert Wieland bissig, bewirke „ i n zehn Minuten mehr, als die scharfsinnigsten und beredtesten Aufklärer und Weltverbesserer und Utopien-Drechsler in der ganzen Welt in hundert Jahren." 6 3 Die scheinbar unwiderstehliche Macht der politischen Beredsamkeit, die nicht selten ganz selbstverständlich unterstellt wurde, rief indes keineswegs nur Ängste und Befürchtungen hervor. Sie übte vielmehr gerade in einer politisch gleichsam stummen Nation wie Deutschland eine kaum zu überschätzende Faszination aus. In der eingangs erwähnten Erzählung Arnims, ,Metamorphosen der Gesellschaft', wird über die anglophile Figur, Graf Runzel, berichtet, daß er „englische Redner in der Zeitung mit klopfendem Herzen" über die elementaren Angelegenheiten der Nation selbst beim Lesen regelrecht sprechen hört. 6 4 Seine Sehnsucht nach Offenheit und Transparenz des politischen Diskurses ist so überwältigend, daß die im britischen Unterhaus gehaltenen Reden auch im Druck ihre unmittelbare Wirkung nicht verlieren. Wer sich nicht wie Graf Runzel auf die synästhetischen Energien, die offenkundig die Lektüre von Parlamentsreden freizusetzen imstande waren, verlassen mochte, reiste selbst nach London und besuchte das House of Commons, das seit dem späten 18. Jahrhundert zu einer wahren Touristenattraktion geworden war. So auch für Karl Philipp Moritz, der 1782 nach England aufbrach und dabei seine Parlamentsbesuche zum wichtigsten Ereignis seines Unternehmens erklärte. 65 Moritz interessierte sich zum einen im Sinne der Erfahrungsseelenkunde für die psychologischen Verhaltensweisen und theatralischen Riten der Parlamentarier, zum anderen bewunderte er den Patriotismus einer offenkundig politisierten Nation, ihren Public spirit, den er seiner eigenen, politisch selbstvergessenen Nation als Vorbild vor Augen hielt. Adam Müller wiederum, der scharfe Kritiker des britischen Wirtschaftsgeistes, verklärte das britische Parlament, auch ohne persönlichen Besuch, zur griechischen Agora beziehungsweise zum römischen Forum im moder63 So Wieland i n seinen ,Gesprächen unter vier Augen' von 1798. Zitiert nach Christoph Martin Wieland, Sämmtliche Werke X. Bd. 31. Reproduktion der Ausgabe Leipzig 1799, Hamburg 1984, S. 309. Zu Wielands Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution vgl. Bernd Weyergraf, Der skeptische Bürger. Wielands Schriften zur Französischen Revolution, Stuttgart 1972, zu seinem Rhetorikverständnis vgl. Reinhard Tschapke, Anmutige Vernunft. Christoph Martin Wieland und die Rhetorik, Stuttgart 1990 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; Bd. 228). 64 Arnim (FN 1), S. 455. 65 Zur Englandreise von Moritz vgl. Gerhard Sauder, Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782: Karl Philipp Moritz, in: „Der curieuse Passagier". Deutsche Englandreisende des achtzehnten Jahrhunderts als Vermittler kultureller und technologischer Anregungen. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert, Gesamthochschule Wuppertal, Universität Münster, Heidelberg 1983 (Beiträge zur Geschichte der Literatur und Kunst des 18. Jahrhunderts; Bd. 6), S. 93 -108.
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nen Gewand. In seinen ,Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland' von 1812 charakterisiert er das Unterhaus als Gravitationszentrum einer politisch selbstbewußten Nation, die nicht nur zu reden, sondern auch zuzuhören gelernt habe. Reden und Hören sind in Müllers Modell streng, ja untrennbar aufeinander bezogen, sie sind Teil eines dialektisch-diskursiven Prozesses. In wichtigen Debatten des britischen Unterhauses entscheiden sich für Müller nationale Schicksalsfragen. Politik vollzieht sich in der öffentlichen Rede als ein offener, ehrlicher und transparenter Prozeß. Für Müller sind rhetorische Selbstverständigung und nationale Identität zwei Seiten ein und derselben Medaille; beides zusammen führte seiner festen Überzeugung nach zu der inneren wie äußeren Stärke Englands, dessen ungeschriebene Verfassung er zudem in altständischem Sinn uminterpretierte und damit seinen eigenen Idealen anzupassen wußte. Welchen Stellenwert Müller seiner Panegyrik der rhetorischen Verhältnisse in England beimißt, zeigt allein schon die Tatsache, daß er die Quintessenz all dieser Überlegungen bereits im ersten Satz seines Vorlesungszyklus gleichsam vorwegnimmt: „Die Betrachtungen über die Beredsamkeit, welche wir miteinander anzustellen im Begriff sind, müssen, so scheint es, auf die Verherrlichung einer benachbarten Nation führen, welche durch die Gewalt und den Reiz der Rede eine Art von Weltherrschaft vorbereitet hat, - und auf eine gewisse Demütigung unsers deutschen Volkes, welches die Kunst, mit der lebendigen Rede zu zwingen und zu verführen oder sonst den Augenblick zu ergreifen, eigentlich nie besessen und welches das Wort nie bei der Hand gehabt, sondern meistenteils in der Feder erkalten lassen." 66 Um 1800 verklärten die unterschiedlichsten Stimmen in Deutschland das englische Parlament zur idealen Nation in nuce, zu einer sakralen Stätte, an der sich eine politische Nation rhetorisch konstituierte. Eine derartige Vorstellung entstand nicht zuletzt durch Projektion: Dem idealisierten Bild des fremden Landes und seines politischen Systems ist das negative Kontrastbild der eigenen, politisch stummen Nation eingeschrieben. Das teilweise verklärende Lob des britischen Verfassungssystems bei Autoren wie Arnim oder Adam Müller gewinnt darüber hinaus eine noch schärfere Kontur, wenn man es in die Perspektive der allgemeinen Wahrnehmung Englands in der deutschen Romantik rückt. Zugespitzt gesagt, ist die Anglophilie der deutschen Aufklärung in der Romantik gründlich revidiert worden. 67 Dem politisch wie ökonomisch erfolgreichen Nationalstaat England hielt man 66
Zitiert nach Adam Müller, Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Kritische Ausgabe, hrsg. von Walter Schroeder/Werner Siebert. 1. Bd., Neuwied/Berl i n 1967, S. 297. 67 Das Bild Englands bei Achim von Arnim, das sich insbesondere in Folge seiner Englandreise 1803/04 wandelte, beschreibt Christof Wingertszahn, Arnim i n England, in: „Die Erfahrung anderer Länder". Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim, hrsg. von Heinz Härtl/Hartwig Schultz, Berlin/New York 1994, S. 81-101.
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insbesondere einen enthemmten Kapitalismus und Materialismus und, damit zusammenhängend, einen weitgehenden Ausverkauf geistiger, kultureller und sozialer Werte kritisch vor. Die Umwandlung des Staates zur Fabrik, von der schon die Rede war, schien den deutschen Romantikern in England am weitesten vorangeschritten zu sein. So konnte es durchaus geschehen, daß sich die widersprüchlichsten metaphorischen und konkreten Vorstellungen von der englischen Verfassung, beziehungsweise von dem, was man dafür hielt, bei ein und demselben Autor überlagerten. Adam Müller, der unerbittliche Kritiker des britischen Wirtschaftsliberalismus und seiner theoretischen Begründung durch Adam Smith, pries nahezu im selben Atemzug den heiligen patriotischen Ernst britischer Parlamentsdebatten und eine Verfassung, die dies ermöglichte. 68 Mit weihevollem Pathos verklärt er in den ,Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland' das Parlament von Großbritannien zum „einzigen Orte in Europa, wo es der Mühe wert sein kann, Verbindungen auf Leben und Tod einzugehen, teils weil er nie entweiht worden, teils weil es ein ernsthafter Ort ist und die meisten andern gegen ihn nur Lustörter." 6 9 Politik vollzieht sich hier nach Ansicht Müllers in der öffentlichen Rede selbst. Betrachtet man die vielerorts verklärende, ja hypertrophe Einschätzung der Bedeutung des englischen Parlaments und der darin gehaltenen Reden im Zusammenhang, so fällt auf, daß mit besonderem Nachdruck auf die Würde der politischen Auseinandersetzung sowie auf das Verantwortungsbewußtsein und Ethos der britischen Staatsmänner hingewiesen worden ist. Damit sollte nicht zuletzt der weitverbreiteten K r i t i k an der Rhetorik als einer manipulativen Überredungskunst von vorne herein die Spitze genommen werden. Eine ethisch und sittlich fundierte Beredsamkeit, die dennoch nichts von ihrer Wirkungskraft einbüßen sollte - von diesem Ideal träumten nicht wenige Persönlichkeiten in einem Land, in dem öffentliche und lebendige politische Debatten über Fragen von nationaler Bedeutung zum Teil schmerzlich vermißt wurden. Neben allen kritischen Vorbehalten gegenüber Rhetorik und Beredsamkeit artikulierte sich in Deutschland um 1800 so auch der Wunsch, dem lebendigen Wort einen gewichtigen Platz im politischen und kulturellen Leben der Nation einzuräumen und damit die Vorherrschaft der Feder zu brechen. Diese Sehnsucht konnte, mußte aber 68 Erwähnt sei nur die breite Darstellung des Rededuells zwischen Edmund Burke und Charles Fox - „zwei der größten Redner unsrer Zeit" - in der Nacht vom 11. zum 12.2.1791 über die künftige Verfassung Kanadas i n Adam Müllers ,Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall i n Deutschland' (FN 66; Zitat: S. 367): „Die Beredsamkeit hat nie größere Wunder getan als in dieser Nacht; alles aber war unerwartet, wie von einer höheren Macht zubereitet. Die beiden Redner, und mit ihnen alle Zeugen, vergaßen sich selbst: die Ordnung des Parlaments, seit einem Jahrhunderte ununterbrochen, stand stille; wo man keine Namen nennen darf, damit sich die Persönlichkeit nicht aus den großen Verhandlungen ungebührlich heraushebe, da galt es zehn Stunden hindurch nur die Persönlichkeit zweier Mitglieder." (S. 368) 69 Ebd., S. 367.
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nicht zwangsläufig in die Forderung nach einem liberalen Verfassungsstaat münden, wie das Beispiel Adam Müllers zeigt. Trotz aller Bewunderung für britische Parlamentsreden ist Müllers eigentliches rhetorisches Ideal homiletisch und erfüllt sich in der Apotheose wahrhaft christlicher Beredsamkeit. Gleichwohl mußte allein der Glaube an die Wirkungsmacht öffentlicher politischer Rede in einem Land besonders stark ausgeprägt sein, das, zersplittert, von Krieg überzogen und gedemütigt, kaum politisches Selbstbewußtsein entwickeln konnte. In einer derartigen Situation geriet die Suche nach einer geeigneten Verfassung zwangsläufig zur intensiven Ausschau nach möglichen Vorbildern, ob man ihnen zuletzt folgen mochte oder nicht. Bis zu einem gewissen Grad mag diese Stimmung in Deutschland um 1800, wie sie auch in der Literatur der Zeit anklingt, zumindest im Grundzug, an jüngste Verfassungsdiskussionen der Staaten Ost- und Ostmitteleuropas erinnern. Auf der Suche nach einer vorbildlichen Verfassung richtet sich auch hier der Blick nicht selten nach Westen, verweilt aber zumeist nicht auf der britischen Insel, sondern reicht - wie gelegentlich auch schon im Deutschland des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts - weiter, über den Atlantik hinaus.
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Gangli Der Referent hat in seinem exzellenten Vortrag davon gesprochen, daß um 1800 Fragen der Verfassung sowohl von Dichtern als auch in der Dichtung reflektiert wurden. Er hat gleichzeitig auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die dem Zusammengehen von Politik und Literatur im deutschen Raum entgegenstanden. Im Kontext mit der nicht unumstrittenen „Sonderwegthese" wird nicht selten der unpolitische Charakter der Deutschen als eine der Ursachen dafür gesehen, daß Deutschland mit der Entwicklung der westlichen Staaten zu Konstitutionalismus, Parlamentarismus und Demokratie nicht Schritt halten konnte. Berichte von Ausländern sind, wenn nicht nationalistische Motive sie verzerren, hier von besonderem Wert. Dies gilt ohne Zweifel für Madame de Staël, die mit ihrem Buch „De l'Allemagne" (1810) das Deutschlandbild der französischen Historiographie in maßgeblicher Weise beeinflußt hat. Aus ihrer Beobachtung des geistigen Deutschland, dieser „patrie de la pensée", wie sie es nannte, nahm sie den Eindruck mit, daß „die Gebildeten Deutschlands mit größter Lebhaftigkeit das Gebiet der Theorien einander streitig machen, ziemlich gerne aber hierfür den irdischen Machthabern die ganze Wirklichkeit des Lebens überlassen. " In Frankreich hingegen hat das Unvermögen seiner Monarchen, den klassischen Absolutismus durch die Philolosophie der Aufklärung auf eine neue Grundlage zu stellen, die geistige Elite des Landes, die in ihrer Mehrheit in England das Land der Freiheit schlechthin bewunderte, in eine kritische Haltung zu Staat und Gesellschaft gedrängt und damit der Literatur den Weg zur Politik gewiesen. Dies trifft für Charles de Montesquieu zu, dessen Briefroman „Lettres persanes" (1712), ein satirischer Angriff auf das Frankreich der Régence, ihm die Tore zu den Pariser Salons öffnete und dessen Hauptwerk „De l'esprit des lois" (1748) eine epochale Bedeutung erlangen sollte. Darin wurde das von ihm gezeichnete Bild eines Verfassungsstaates („gouvernement modéré") - ein England „à la française" - seinem Freiheitsideal ebenso untergeordnete wie seine Klassifikation der Regierungsformen, wobei er die zuerst dargestellte, an die aristotelische Trias angelehnte „classification du siècle" (M. Prélot) an einer späteren Stelle seines Werkes durch eine am Ausmaß der Freiheit in seinem Staat orientierte „classification de l'avenir" verdrängte.
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Wie Montesquieu, so pflegte auch Jean-Jacques Rousseau zu den geistigen Wegbereitern der Revolution von 1789 gezählt zu werden. Im Mittelpunkt seines Schaffens als Staatstheoretiker stand der „Contrat social" (1762), dieses von einem Verächter der englischen Politik entworfene Modell einer direkten Demokratie, die aber nicht allein auf die „volonté générale" gestützt werden sollte, sondern auch auf ein vom Souverän aufzustellendes Glaubensbekenntnis, die „Zivilreligion", deren Aufgabe es sei, die Liebe des Bürgers zu den Gesetzen zu erwecken. Die Ergänzung und Weiterführung der im „Contrat social" enthaltenen Themen besorgte der Romancier Rousseau. Sein Erziehungsroman „Emile" (1762) sowie der zuvor publizierte, im Alltagsleben spielende Roman „La nouvelle Héloise" (1761) bedeuteten den Bücherliebhabern des 18. Jahrhunderts sogar mehr als sein schwer verständliches politisches Werk. Eine praktische Anwendung fanden Rousseaus politische Vorstellungen in zwei Verfassungsentwürfen: der eine von 1765 für das nach einem Aufstand gegen die Republik Genua zur Unabhängigkeit gelangte Korsika geschrieben, der andere von 1772 für Polen bestimmt, wobei in beiden der Autor, fern von jeder abstrakten Theorie, die nationalen Eigentümlichkeiten berücksichtigt und Reformen, wie ζ. B. die staatsbürgerliche Erziehung durch Festlichkeiten, nur mit größter Vorsicht durchgeführt wissen wollte. Keiner seiner Zeitgenossen - weder Montesquieu noch Diderot, noch Rousseau - hat einen solchen Katalog von Reformen, darunter das Verbot willkürlicher Verhaftung und die Aufhebung von Tortur und Todesstrafe, vorgelegt und keiner hat so sehr dafür gekämpft wie Voltaire, der einen neuen Philosophentypus, den später so benannten „philosophe engagé", verkörperte. Voltaires Gedanken zur Politik haben in verschiedenen Schriften ihren Ausdruck gefunden: in seinen „Lettres philosophiques" (1734) zuerst, einer Lobeshymne auf die englische Verfassung, was ihm den Beinamen eines „Roi des Anglomanes" eintrug, und dann in reiferem Alter in seinen Romanen, in „Candide" (1759) und „L'ingénu" (1767) vor allem. Unmittelbar in die Politik griff Voltaire ein, als er den Kampf gegen die Intoleranz aufnahm. Dem Optimismus der Aufklärung glaubt er widersprechen zu müssen, ihn überzeugt nicht mehr das Axiom von der Güte der menschlichen Natur, am Triumph der Vernunft beginnt er mehr und mehr zu zweifeln und stärker als irgend jemand anderer zu seiner Zeit spürt er, wie sehr der Druck von Grausamkeit und Fanatismus auf der Menschheit lastet. „Ich fühle, daß es wichtig ist für die Menschheit, bis ins kleinste Detail darüber unterrichtet zu werden, was der Fanatismus, diese fürchterliche Pest der Menschheit, anrichten kann" (Traité sur la tolérance", 1763). Seine ganze Hoffnung setzt er auf einen aufgeklärten Absolutismus, der die Menschen durch Gewalt von ihrer gegenseitigen Vernichtung abhalten würde. 11 Der Staat, Beiheft 15
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Die in Frankreich nach 1789 einsetzende literarische Erneuerung, die sich in Abkehr vom Rationalismus der Spätaufklärung vollzog, war das Werk der Romantik. Als eine Welt- und Lebensanschauung, die verschiedene Strömungen in sich aufzunehmen vermochte, beherrschte sie die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Es gehörte zur Eigenart der französischen Romantik, daß sie, wie V. Klemperer in seiner „Geschichte der französischen Literatur" überzeugend dargetan hat, im Gegensatz zur ursprünglich durchaus unpolitischen deutschen Romantik „von Anfang an politisch gerichtet" war. Am Beginn der neuen Epoche stand die große Gestalt eines Francois-René de Chateaubriand, eines Verfechters der Tradition, der den Traditionalismus „zur Poesie geformt hat" (J. Touchard). Seine große literarische Schaffensperiode fiel in die Jahre von Konsulat und Empire. Nach der Verteidigung der kulturschaffenden Prinzipien des Christentums gegen die Voltairianer in „Le génie du christianisme" (1802), nach den Romanen „René" (1805) und „Les martyrs" (1809), gefolgt von dem Reisebericht „Itinéraire de Paris à Jérusalem" (1811), war die Zeit gekommen, da Chateaubriand seinen Ruhm als Schriftsteller genießen konnte. Vom Genie Bonapartes angezogen, aber später von der imperialen lyrannis angewidert, gab ihm erst die Restauration die Möglichkeit, einen großen Platz im Staat und in der Nation einzunehmen. Zum politischen Akteur, der als Diplomat, Minister und Mitglied der Pairskammer seine Zeit mitgestaltet hat, trat der politische Denker, der trotz mancher Widersprüchlichkeiten niemals von seiner Grundüberzeugung abgewichen ist: der Treue zur legitimen Monarchie und zur Freiheit. In seiner Schrift „De la monarchie selon la Charte" (1816) wurde er zum Verteidiger der von Ludwig XVIII. oktroyierten „Charte constitutionnelle" vom 4. Juni 1814, aber gleichzeitig als Ultraroyalist zum scharfen Kritiker der vom Monarchen („Ich w i l l nicht der König zweier Völker sein") eingeschlagenen Versöhnungspolitik. Die politische Ideenwelt Chateaubriands in ihrem ganzen Umfang erschließen erst seine „Mémoires d'outre-tombe" (1849), worin der Autor im Rückblick die „Charte" als „Konstitutionellen Katechismus" und sich selbst als „Lehrmeister des Konstitutionalismus" bezeichnet, als ein „ i n seine Dame (die Charte) leidenschaftlich Verliebter, der durch die Flammen gegangen wäre, um sie in seine Arme zu nehmen". „Mannigfaltigkeit ist Leben, Gleichförmigkeit ist Tod." Niedergeschrieben sind diese Worte vom bedeutendsten Denker der konstitutionellen Monarchie auf dem Kontinent, dem gebürtigen Waadtländer und 1794 zum französischen Bürger gewordenen Benjamin Constant. Immer wieder um die Freiheit kreisten seine Gedanken: in dem 1813 in Deutschland verfaßten Pamphlet gegen Napoleon „De l'esprit de conquête et de l'ursurpation", das auch heute noch als „eine der markantesten
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Schriften gegen den Despotismus und den autoritären Staat" (R. v. Albertini) zu gelten hat, sodann i n den bewußt abstrakt gehaltenen „Principes de politique applicables à tous le gouvernements représentatifs" (1815) und ebenso in der, aus einer Festrede vor dem Athénée Royal hervorgegangenen Schrift „De la liberté des anciens comparée à celle des modernes" (1819). Der wichtigste Beitrag Constants zur Verfassungstheorie war seine in den „Principes" enthaltene Unterscheidung zwischen dem „pouvoir royal" und dem „pouvoir ministériel", womit er zum Theoretiker der Kabinettsregierung wurde. Die Figur des Staatsoberhauptes im parlamentarischen System ist vorgezeichnet in Constants Lehre vom „pouvoir neutre", einer dem Monarchen zustehenden, ausgleichenden, schlichtenden und vermittelnden Gewalt, dazu bestimmt, die anderen Gewalten im Gleichgewicht zu halten und einen durch gegenseitige Blockierungen verursachten Verfassungsstillstand zu verhindern. Daß der Autor des „Esprit de conquête" sich bereit fand, im Auftrag des aus Elba zurückgekehrten Napoleon einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten, den später plebiszitär bestätigten, aber nach Waterloo bedeutungslos gewordenen „Acte additionnel aux Constitutions de l'Empire" vom 22. April 1815, hatte seinen Grund in Constants trügerischer Hoffnung, mit einer liberalen Verfassung einen Despoten in einen verfassungsmäßigen Herrscher zu verwandeln. Auch bei Constant führen zum vollen Verständnis der politischen Texte erst seine übrigen Werke, sein „Adolphe" (1816) im besonderen, ein psychologischer Roman, in dessen Mittelpunkt wie in Chateaubriands „René" die vom „Weltschmerz" („mal du siècle") der Romantik ergriffene Gestalt des Helden steht. Während in den Jahren der Restauration Constant, 1819 als Abgeordneter in die Kammer gewählt, seinen Platz in den Reihen der liberalen Opposition hatte und in der Revolution von 1830, knapp vor seinem Tod, noch seinen Triumph als unbeirrbaren Kämpfer für die Freiheit erleben sollte, ließ sich ein jüngerer Zeitgenosse als Idol der Romantik feiern. Es war Alphonse de Lamartine, der mit seinen „Méditations poétiques", einer erstmals 1820 publizierten und danach ständig erweiterten Gedichtesammlung, vor allem beim Adel und dem Großbürgertum auf begeisterte Zustimmung stieß. In ihm hatte die Romantik auch ihren einflußreichen Historiker gefunden, der sich in seiner „Histoire des Girondins" (1847) das Ziel setzte, „der elenden Gegenwart, in der Frankreich sich langweilt, die große Vergangenheit als ein Zeitalter der Riesen und der Heroen entgegenzustellen" (P. R. Rohden). Darüber darf aber nicht der Politiker Lamartine vergessen werden, der 1833 eine Parlamentskarriere begann und dessen Sternstunde in den Revolutionstagen von 1848 schlug, als er am 24. Februar eine provisorische Regierung proklamierte und später dann i n einer berühmten Rede von der Konstituante die Volks wähl des Staatspräsidenten forderte, von der er sich für seine eigene Kandidatur den Sieg versprach. Der eklatante Mißerfolg 11
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vom 10. Dezember bereitete den Ambitionen des Politikers ein vorzeitiges Ende, bescherte jedoch dem Schriftsteller die für die Weiterführung seiner Arbeit notwendige Muße. Mit diesem Diskussionsbeitrag wurde die Absicht verfolgt, für das Naheverhältnis zwischen Politik und Literatur, das der Referent für einen bestimmten Zeitraum in Deutschland festgestellt hat, eine Parallele in Frankreich am Beispiel großer Namen des 18. und 19. Jahrhunderts aufzuzeigen. Aber Chateaubriands These von der untrennbaren Verbundenheit zwischen dem literarischen und dem politischen Genius war der Boden entzogen, als die weitere politische Entwicklung zu einem Auseinandertreten der beiden Bereiche führte. Nicht zuletzt lag dies in der Konsequenz des parlamentarischen Regierungssystems, das die Übernahme von Führungsaufgaben im Staat von spezifischen Qualifikationen abhängig machte und damit den Typus des Berufspolitikers kreierte. Ob in Zukunft die beiden Positionen auf die eine oder die andere Weise neu definiert werden, ist eine für die Wirkungsmacht des Dichters wie für die Inspiration des Politikers nicht unwichtige Frage. Eine von Optimismus getragene Antwort darauf kam aus dem Munde des Staatsmannes und Baudelaire-Interpreten Georges Pompidou, der 1969 in einem Vortrag in der Comédie-Française für eine Zusammenarbeit zwischen Politikern und Dichtern in der Art eintrat, daß „das Ideelle, dem die Dichter die Form zu geben sich bemühen, von den Politikern in die Wirklichkeit umzusetzen versucht wird". Dippel: Herr Riedl, nachdem, was w i r soeben über Frankreich gehört haben, möchte ich den Blick noch einmal auf England zurücklenken. Vielleicht hätte man doch in diesem Zusammenhang Edmund Burke erwähnen sollen. Denn, was Sie sowohl eingangs Ihres anregenden Vortrags andeuteten und dann zum Schluß mit Ihrer großen These über die freiheitliche Verfassung wieder aufgegriffen haben, ist ja in mancher Hinsicht nicht nur eine unmittelbare Adaption von Burke. Ihre Interpretation legt zugleich die in den von Ihnen angeführten Äußerungen eindeutig enthaltenen politischen Aussagen über die Verfassung offen. Doch wie weit wurde diese whiggistische Bedeutung wahrgenommen und als solche rezipiert? Die Behauptung, England verfüge über eine freiheitliche Verfassung und diese äußere sich im Parlament, verweist ja nicht auf Edmund Burke. Viele werden sich in diesem Zusammenhang ganz unmittelbar an James Burgh erinnert fühlen, der in seinen Political Disquisitions nicht nur wohlmeinenden Engländern, sondern auch allen übrigen Sympathisanten der englischen Verfassung vorhielt, daß sie immer nur die Theorie der britischen Verfassung beachteten, statt ebenfalls die Praxis dieser Verfassung in ihr Urteil einzubeziehen. Diese Praxis kannte nicht nur in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts, sondern insbesondere dann in den neunziger Jahren in der ideologischen Auseinandersetzung mit dem Gedankengut der Französischen Revolution ganz andere Seiten. Manchen blieben
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diese unter der parteipolitisch eingefärbten Stigmatisierung von „Pitt's reign of terror" in Erinnerung. Auch wenn die Praxis dieser Politik keine englische Kopie der jakobinischen Terreur war, stellte sie eben doch alles andere als die überzeugende Demonstration des freiheitlichen Charakters der britischen Verfassung dar. Vielmehr gab es eine ganze Reihe von Gesetzen, mit denen in einschneidender Weise bestehende Rechtspositionen und freiheitliche Rechte, die stets zum konkreten Bestand der britischen Verfassung gezählt worden waren, wie etwa die Habeas-Corpus-Akte, eingeschränkt oder aufgehoben wurden, um den politischen Radikalismus und das Eindringen revolutionären Gedankenguts in Großbritannien zu bekämpfen. Diese Politik ging es nicht nur um ihre eigene antirevolutionäre Programmatik und die Bewahrung des Grundcharakters der britischen Verfassung, so wie sie ihn verstand - hier wären wir wieder bei Edmund Burke - , sondern auch um jene spezifische Form des Liberalismus, der durchaus whiggistische Wurzeln hat, sich jedoch in seiner theoretischen Fundierung ebenso auf den bereits erwähnten Montesquieu zurückführen läßt. Dieser hatte bekanntlich vor der Gleichsetzung von Freiheit mit Demokratie gewarnt und damit unter anderem jenen Teil des deutschen Liberalismus befruchtet, der, anders als Rotteck und einige Gleichgesinnte, sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weigerte, das Prinzip der Volkssouveränität anzuerkennen und damit die spanische Verfassung von 1812 als jenes große Vorbild für die Verbindung von Monarchie und Demokratie ablehnte mit dem Ergebnis, daß die gemäßigt liberale Mehrheit der Paulskirche die erste deutsche Nationalverfassung auf einem - ausschließlich an der Theorie orientierten und in vielschichtiger Weise von Burke beeinflußten - Verständnis der englischen Verfassung und ihres freiheitlichen Charakters zu begründen versuchte, das mehr mit dem ausgehenden 18. als mit dem sich in England vollziehenden Wandel des 19. Jahrhunderts gemein hatte. Danke. Riedl: Selbstverständlich spielt Edmund Burke für das politische Denken Adam Müllers eine ganz entscheidende Rolle. Mit dem deutschen Übersetzer von Burkes Schrift ,Reflections on the Revolution in France', Friedrich Gentz, war Müller befreundet, auch wenn diese Freundschaft nicht frei von Spannungen war. Nach der wohl keineswegs unberechtigten Ansicht von Gentz schlug Müller in seinen politischen Anschauungen doch einige böse Kapriolen: Gentz bezeichnete Müllers politische Ideen einmal als „Allotria". Müller selbst hätte sich gern in der Rolle eines deutschen Edmund Burke gesehen und meinte im Gegenzug bei Burke gar einen „deutschgesinnten Geist" ausmachen zu können. In den von mir erwähnten ,Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland' stilisiert Müller Burke zu einer politischen Heiligenfigur, in der er seine eigenen Ideale eines Homo politicus verwirklicht zu finden glaubt: die Ablehnung der Französischen Revolution, ein hohes Maß an Beredsamkeit, der leidenschaftliche, ja bedingungslose Einsatz für das Vaterland. Gleichwohl sollten
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wir auch nicht unerwähnt lassen, daß Müllers Aneignung von Burkes Vorstellungen sehr einseitig ist, die liberalen Seiten von Burkes Denken bleiben mehr oder weniger ausgeblendet. Und damit komme ich zum zweiten Teil Ihrer Frage. Es ist ja die These meiner Ausführungen, daß die von mir angeführten Stimmen, diejenige Adam Müllers im besonderen, mehr über die Betrachter aussagen als über die Verhältnisse, die sie (scheinbar) thematisieren. Mit anderen Worten: Es handelt sich um Stilisierungen, um Projektionen, die selbstverständlich nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden dürfen. Bei seinem Lob der englischen Parlamentsberedsamkeit beispielsweise beruft sich Müller auf die Rhetorik-Vorlesungen Hugh Blairs, die in deutscher Übersetzung (1785-89) vorlagen. Blairs Einschätzung der Wirkungsmöglichkeit von zeitgenössischen Parlamentsreden ist überaus vorsichtig und stark relativierend. Die moderne Politik wird nach Blair im Kabinett gemacht. Werden Beschlußvorlagen ins Parlament eingebracht, so Blairs Argument, das uns heute ja auch sehr vertraut ist, dann sind sie in aller Regel mehrheitlich abgesichert. Reden im Parlament könnten daran nicht allzu viel ändern. Dieses nüchterne Urteil unterschlägt Adam Müller; er beruft sich vielmehr auf Blair als Kronzeugen für seine Überzeugung von der Wirkungsmacht der Parlamentsberedsamkeit. Es geht also hier nicht um die Realität bestimmter Zustände, die Sie für England skizziert haben, sondern um ganz bestimmte Bilder und Vorstellungen, die der Wirklichkeit selbstverständlich nicht gerecht werden, die indes gerade in ihrer verklärenden Einseitigkeit, in ihrem Projektionscharakter so unerhört aufschlußreich sind für ein spezifisches Denken im Deutschland des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Übersetzungen von englischen Parlamentsreden zählten in Deutschland zu dieser Zeit durchaus zur verbreiteten Lektüre. Als Anwalt für Liberalismus oder gar Volkssouveränität taugt Adam Müller gewiß nicht. Daher war wohl die Fülle von Rechtsbeschränkungen in England, die Sie erwähnten, auch kaum kein politisches Problem für ihn. Im Kontext seiner Überlegungen zur Beredsamkeit hat er sich damit jedenfalls nicht auseinandergesetzt. Hartmann: Herr Riedl, Sie haben in Ihrem sehr anregenden Vortrag sicher mit Recht aufgezeigt, wie schwach das Reich am Ende war und wie wenig effizient seine Institutionen waren. Trotzdem frage ich mich, ob Sie vielleicht nicht doch die Meinung von Kleist zu scharf abqualifiziert haben. Immerhin bei Aretin kann man lesen, daß noch der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. sich ärgerte über Appelle an den Reichshof rat wegen Rechtsverweigerung und immerhin das war offensichtlich noch Tatsache; und zweitens, wenn Sie die Arbeiten von Jean Francois Noelle sehen, dann zeigt sich, daß gerade gegen Ende in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Fälle des Appells kleiner Leute an den Reichshofrat zunehmen, so daß durchaus im Bewußtsein dieses, ja, Gefühl war, ich gehe zum Kaiser und hole mir mein Recht.
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Riedl: Die Rechtlichkeit des Reiches ist in der Tat ein wichtiges Argument gerade in der späten Reichspublizistik. Die Frage ist nur: Was hat Kleist davon gekannt, oder, um es zu präzisieren, was hat ihn hier wirklich interessiert? Meine kurzen Überlegungen zum ,Michael Kohlhaas' bestätigen zunächst einmal Ihren Hinweis: Die spezifische Verfassungsstruktur des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation trägt zur rechtlichen Lösung des Falles bei. Nur: Ich w i l l das K i n d nicht mit dem Bade ausschütten. Im Zentrum der Erzählung stehen prinzipielle Fragen der Rechtlichkeit und Rechtsstaatlichkeit, die nicht primär auf das Reich bezogen beziehungsweise primär durch ihren Bezug zum Reich zu erklären sind. Gleichwohl ist die zeitliche Nähe dieser literarischen Aneignung des Reichs zu Kleists Restitutionspostulat des Jahres 1809 immerhin bemerkenswert. Unter den preußischen Patrioten wäre wohl kaum einer auf die Idee gekommen, dem Haus Habsburg wieder die Führung eines wie auch immer geeinten Deutschland anzutragen. Wenn man sich hier über den alles beherrschenden preußischen Patriotismus hinaus Gedanken über eine künftige Gestalt Deutschlands machte, dann war die Suprematie Preußens eine Conditio sine qua non für alle weiteren Überlegungen. Das ist, in einem weiteren Sinne, das politische Umfeld Kleists. Um so erstaunlicher und damit erklärungsbedürftiger ist daher sein Reichspatriotismus in diesen Monaten. Konfessionelle Motive - ich habe das angedeutet - scheiden bei Kleist aus: Anders als Friedrich Schlegel oder Joseph Görres lag ihm wohl kaum an einer katholisch geprägten Universalmonarchie. Obgleich es prinzipiell sehr schwierig ist, ein klares Bild über diesen Dichter zu gewinnen, der seine Lebensspuren eher verwischte als sie kenntlich zu machen, dürfte eines doch nicht zu bestreiten sein: Katholisierende Neigungen kann man Kleist nicht nachsagen. Sein politisches Denken wurde 1808/09 ganz entschieden durch den antinapoleonischen Kampf bestimmt. Dabei setzte er seine Hoffnungen insbesondere auf Österreich. Und wenn sich Österreich, wie von Kleist ersehnt, an die Spitze eines deutschen Befreiungskrieges stellt, dann hat es auch im Erfolgsfall einen legitimen Anspruch auf die Wiederherstellung der einstigen Führungsrolle in Deutschland. Aber die politische Priorität stand, so denke ich, für Kleist fest: Der Befreiungskampf war ihm wichtiger als das Reich. Willoweit: Ich möchte nur, Herr Riedl, zu bedenken geben, ob man so ohne weitere Erläuterung, wie Sie es getan haben, von westeuropäischer Verfassungswirklichkeit und westeuropäischem Parlamentarismus sprechen soll. Man muß sich immerhin in Erinnerung rufen, daß das parlamentarische System im Gegensatz zum konstitutionellen damals nicht, wie später und bis heute, so scharf gegenübergestellt wurde. Nach einer neueren Untersuchung hat die junge Queen Victoria 1841 zum ersten Mal einen Regierungschef berufen, der nicht ihr Vertrauen hatte, nämlich den Führer der Opposition. Bis dahin war die Frage unentschieden, ob das konstitutio-
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nelle System Englands als ein „parlamentarisches" anzusehen sei. Interessant war Ihr Hinweis auf die freedom of speech. Das ist der Faktor, der die Leute offenbar faszinierte, nicht etwa der Parlamentarismus in dem Sinn, wie wir ihn heute verstehen. Riedl: In meinem Beitrag ist ja nicht von westeuropäischer Verfassungswirklichkeit oder von der Wirklichkeit des britischen Parlamentarismus die Rede, sondern ausschließlich von einer spezifischen Wahrnehmung in Deutschland. Selbstverständlich kann ein stilisiertes Bild, wie das von Adam Müller in seinen ,Zwölf Reden über die Beredsamkeit' gezeichnete, nicht mit der Wirklichkeit gleichgesetzt werden. Allein der Umstand, daß Müller betont, die britische Verfassung entspringe dem ,deutschen Wesen', spricht für sich. Bei den von mir zitierten Wahrnehmungen handelt es sich in erster Linie um Projektionen, die mehr über die grassierende Unzufriedenheit mit der als defizitär empfundenen geistig-kulturellen und politischen Lage in Deutschland aussagen als über das britische King-in-Parliament-System. Gerade weil Adam Müller einen seiner Meinung nach wortgewaltigen Verfechter des Public spirit in Deutschland so schmerzlich vermißt, idealisiert er den politischen Schriftsteller und Parlamentsredner Edmund Burke so über die Maßen. Mit seinen eigenen ,Reden über die Beredsamkeit' versucht er gewissermaßen die von ihm diagnostizierte Lücke zu füllen. Er selbst stellt sich in den Rang eines deutschen Edmund Burke: ein patriotischer Redner, der mit Hilfe eines organischen Geschichtsdenkens revolutionsprophylaktisch wirken und Public spirit initiieren will. Das zielt entschieden nach innen, es kann kaum als ein ernsthafter Beitrag zur Analyse politischer Verhältnisse in England gelten. Zumindest Adam Müller ist darüber hinaus, um auf Ihren zweiten Punkt zu kommen, kein Verfechter des liberalen Postulats „freedom of speech". Für diese Forderung ist ein Autor, der, wie Adam Müller, zuletzt in Metternichs Diensten stand und an den Karlsbader Beschlüssen mitwirkte, kein geeigneter Gewährsmann. Müller setzt sich in seinem Vorlesungszyklus gewiß nicht für einen liberalen Verfassungsstaat ein, sondern für eine Kultur der Mündlichkeit, die er in Deutschland durch die Dominanz der Schriftlichkeit an den Rand gedrängt sieht. Die von Müller diagnostizierte fehlende Sprachkultur hat für ihn nicht zuletzt negative Folgen auch für die politische Kultur. Der Schreibtisch allein reicht nach Müllers Überzeugung für einen kulturellen Aufschwung, der gleichermaßen den Bereich des Politischen erfaßt, nicht aus, er wünscht sich daher eine Rednerbühne. Wie er dem „lebendigen Wort" im Rahmen des Bestehenden zu größerem Recht verhelfen will, bleibt allerdings unklar - aber an Widersprüchen ist Müllers Denken ohnehin nicht arm. Wir sollten zudem nicht vergessen, daß Müller mit seinem Ideal der christlichen Predigt die politische Dimension seiner Überlegungen selbst abschwächt. Ein lebendiges Wort, so wie es Edmund Burke in England pflegt, ist für Müller gleichwohl eine patriotische Tat, die reine
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Schriftstellerei hingegen führt seiner Meinung nach zu einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber dem öffentlichen Leben. Ganz ähnlich dachte etwa August Wilhelm Schlegel, als er 1806 forderte, in diesen unruhigen Zeiten sollte die Poesie ganz der Beredsamkeit weichen. Der Gegensatz „toter Buchstabe" versus „lebendiges Wort" bestimmt nachhaltig den Gedankengang von Adam Müllers ,Reden', er findet sich darüber hinaus in nicht wenigen Zeugnissen um 1800, prononciert beispielsweise bei Fichte, der mit seinen öffentlichen Vorlesungszyklen, allen voran den ,Reden an die deutsche Nation', eine ähnliche Wirkungsstrategie verfolgte. Wie ernst es Müller mit seiner Panegyrik der Oralität gemeint hat, zeigt allein seine Bemerkung in den ,Zwölf Reden über die Beredsamkeit', das „Wunder der Beredsamkeit" sei an den Augenblick gebunden und lasse sich nicht mehr nachträglich wiederholen, durch Lektüre von Parlamentsreden etwa, gingen doch die Töne im Druck verloren. Bei Graf Runzel in Arnims Erzählung ,Metamorphosen der Gesellschaft' hingegen hat sich, wie Sie sich erinnern werden, der synästhetische Effekt bei der Lektüre englischer Parlamentsreden eingestellt. Brandt: Ich bin, Herr Riedl, ganz einverstanden mit Ihrer Systematisierung der Reaktionen auf die politische Entwicklung in Deutschland nach 1789, vor allem mit den ersten beiden Kategorien, die Sie gefunden haben. In der Tat ist das ja eine seltsame Situation, die wir nach 1790 in Deutschland vorfinden: eine Öffentlichkeit, die hochsensibilisiert ist für politische Probleme, gleichwohl aber ohne jeden Einfluß auf die aktuelle Politik. Und in der Tat erwächst daraus eben jene doppelte Reaktion, die Sie geschildert haben: die Flucht aus der Politik, wie w i r sie bei den sogenannten Klassikern vorfinden, und zum anderen die Poetisierung, die Metaphorisierung des Politischen durch die Frühromantik. Ich glaube allerdings, daß, wenn man die Entwicklung noch einige Jahre weiterverfolgt, dann doch, mit dem Untergang des Alten Reiches und der Napoleonisierung Deutschlands, eine neue Konstellation auch von literarischer Macht und politischer Macht sichtbar wird. Deutlich wird dies etwa an drei Figuren, von denen sie zwei erwähnt haben: an Heinrich von Kleist, an Adam Müller und Friedrich Buchholz. Buchholz, der in seinem Buch vom „Neuen Leviathan" die grandioseste Verteidigung des napoleonischen Systems gegeben hat, Adam Müller, der in Dresden ein Programm romantischer Staatswissenschaft formuliert, von dem Sie erzählt haben. Was die drei verbindet, ist ja eben das Neue, ist, daß hier Schriftsteller versuchen, auf die Staatsführung Einfluß zu nehmen. Alle drei sind bei Hardenberg vorstellig geworden, um im preußischen Regiment als Staatspublizisten Eingang zu finden. Wenn man die Dinge noch etwas weiter verfolgt, könnte man sagen, daß nach 1815 in Deutschland eine neue Rollenverteilung unter der Intelligenz zu erkennen ist. Da war einmal die Figur des parlamentarischen Intellektuellen, des Autors als Abgeordneter, wofür es bis zur Paulskirche hin viele Beispiele
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gibt, und da war zum andern der Schriftsteller als Publizist, ja als publizistische Macht. Hier wären Heinrich Heine, Börne, Gutzkow, Rüge und andere zu nennen. Riedl: Mit meinem Leitgedanken der Suspendierung wollte ich nicht den Eindruck erwecken, die deutsche Klassik habe eine „Flucht aus der Politik" angetreten. Nichts liegt mir ferner. Die Suspendierung ist lediglich eine mögliche Strategie, sich mit der Verfassungsfrage um 1800 auseinanderzusetzen. Eine Haltung dieser Art muß auch gar nicht zwangsläufig unpolitisch sein. Goethe hatte durchaus politische Gründe für seine Ablehnung der konstitutionellen Bewegung. Auch der Dichter Goethe ist keineswegs so unpolitisch, wie lange Zeit unterstellt worden ist. Das Versepos ,Reineke Fuchs', auf das ich zu sprechen gekommen bin, ist meines Erachtens Goethes glanzvollste politische Dichtung, die vielleicht gerade wegen ihres politischen Gehalts in Deutschland lange Zeit vergleichsweise, mit Blick auf Goethes Gesamtwerk, nicht die Anerkennung erfahren hat, die sie ohne Zweifel verdient. Auch auf Goethes Revolutionsdramen könnte man i n diesem Zusammenhang einen genaueren Blick werfen. Ihre weiteren Ausführungen zum Thema „Staatspublizistik" gehören in den Bereich, den ich unter dem Stichwort „Konkretisierung" verhandelt habe - auf Kleist und Adam Müller haben Sie noch einmal hingewiesen. Der Versuch der schriftstellerischen Staatsberatung ist in der Tat ein überaus interessantes historisches und literarhistorisches Phänomen. Im Falle Kleists ist dieser Versuch in jeder Hinsicht gescheitert. Adam Müller machte sich bei Hardenberg unbeliebt, weil er die preußischen Reformen, insbesondere die Wirtschaftsreformen im Geiste von Adam Smith, publizistisch bekämpfte. Hier spielt die Kontroverse in Kleists ,Berliner Abendblättern', auf die ich kurz eingegangen bin, eine entscheidende Rolle. Die preußische Regierung hat diesem Zeitungsprojekt Kleists zuletzt faktisch die Existenzgrundlage entzogen. Die neue Rollenverteilung im Vormärz, bis hin zur Paulskirche - der Autor als Abgeordneter - zeigt i n der Tat, wie sehr sich die Verhältnisse nach 1815 verändert haben. Ein Vortrag über ,Verfassung in der Literatur nach 1815' müßte in jedem Fall andere Akzente setzen. Landau: Ich wollte eigentlich zunächst noch einmal unmittelbar anknüpfen an das, was eben gesagt wurde. Natürlich ist das junge Deutschland eine andere Epoche, aber liegen nicht doch schon gewisse Wurzeln dieser literarischen Entwicklung bei einigen Schriftstellern, die noch der Zeit der Jahrhundertwende zuzuordnen sind? Bei Jean Paul scheint es mir ganz offensichtlich zu sein, der ja auch als politischer Schriftsteller hervortrat und wahrscheinlich auch mit diesen Schriften eine gewisse Massenwirkung hatte. Er stand natürlich in enger Verbindung mit Herder, der ja auch letztlich in den beengten Weimarer Verhältnissen sich in gewissem Sinne als politischer Schriftsteller verstanden hat, und offensichtlich auch Schwie-
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rigkeiten hatte, seine Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit so zu schreiben, wie er das ganz gerne gemacht hätte. Wir müssen natürlich die Existenz einer Zensur in dieser ganzen Epoche mitberücksichtigen, was doch den Freiraum des Schriftstellers sehr einengt. Insofern habe ich auch gewisse Zweifel, ob wirklich Madame de Staël das alles richtig diagnostiziert hat, als sie ihre Schnellreise durch Deutschland machte. Das ist natürlich ein Blick von außen, der in mancher Hinsicht täuschen kann. Sehr interessant fand ich Ihren Hinweis auf die Griechen, der ja wohl auch zusammen zu sehen ist mit der allmählichen Entwicklung des Nationalgedankens, der dann zur Germanenideologie führt und den ich bei den juristischen Schriftstellern jedenfalls dann in der ersten Hälfte des Jahrhunderts sehr häufig finde. Man beruft sich auf die Griechen gegen die Römer und sagt, also - die Griechen haben manche großartige Dinge gehabt, die wir eigentlich in Deutschland auch haben wollen - die Jury zum Beispiel leitet man einmal aus England ab, aber auch von den alten Volksgerichten der Griechen und kämpft mit den Griechen gegen die Herrschaft der Juristen und ähnliches mehr, wie überhaupt der antirömische Affekt natürlich in dieser Zeit eine Konstante darstellt. In diesem Zusammenhang muß man vielleicht auch den starken politischen Einfluß sehen, den die Schriftsteller in der Spätromantik bereits vor dem jungen Deutschland ausüben, wie etwa Uhland. Die Vorstellung, daß man aus der deutschen Geschichte das gute alte Recht ableiten könne, und das ist doch eigentlich auch eine kämpferische Haltung, die jedenfalls nicht einzuordnen ist in den Begriff Metaphorisierung durch Familie und Lebensgemeinschaft. Das ist vielleicht mehr Frühromantik und später kommen, jedenfalls in Süddeutschland, politische Spätromantiker, zu denen man ja wohl diese schwäbischen rechnen muß, die dann eigentlich nicht so unbedingt i n eine Liebesgemeinschaft mit dem württembergischen König eintreten wollen. Deutschland scheint mir schon sehr differenziert zu sein und im Ganzen, ich weiß nicht, ob Sie da zustimmen - es ist ja letztlich dies auch eine Teilfrage nach dem sogenannten deutschen Sonderweg; und da denke ich eben, daß die Deutschen gar nicht so unpolitisch waren, wie das oft dargestellt worden ist in der Historiographie, daß die deutsche Literatur so unpolitisch und weitabgewandt sei und nur an die symbolische blaue Blume denke, wobei man sich auch in bezug auf Novalis die Frage stellt, ob das nicht ein sehr politischer Schriftsteller war. Es scheinen mir auch in der Literaturwissenschaft eigentlich Vorstellungen lange vorgeherrscht zu haben, die vielleicht so gar nicht stimmen. Riedl: Daß weder die klassisch-romantische Literatur noch deren Dichter so unpolitisch sind, wie lange Zeit unterstellt wurde, ist nicht nur eine These meines Vortrags, sondern bereits die entscheidende Voraussetzung der vorgenommenen Auffächerung des Politischen mit Blick auf Fragen der Verfassung. Hier gibt es sehr unterschiedliche Positionen, gerade auch hin-
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sichtlich des Realitätsgehalts, bis hin zu konkreten Überlegungen und Forderungen, auf die Sie, wie schon Herr Brandt, aber mit anderem Akzent, für die Zeit nach 1815 hingewiesen haben. Selbst ein und derselbe Begriff konnte sehr unterschiedlich verwendet werden, zum Beispiel derjenige der „Familie", den Sie noch einmal aufgegriffen haben. Die Familie steht keineswegs ausschließlich metaphorisch für eine bestimmte Vorstellung des Staates, als Liebesgemeinschaft zum Beispiel. Adam Müller betont zum Beispiel auch die ganz konkrete Bedeutung der adligen Familien als Stützen des Staates. Die Liste der politischen Autoren ließe sich im übrigen noch weiter ergänzen. Joseph Görres ist zum Beispiel kaum genannt worden. Mit den Brüdern Grimm und den Göttinger Sieben gelangt man in die von Ihnen erwähnte Spätromantik und in den Vormärz. Ich teile Ihre Skepsis gegenüber der Theorie des sogenannten „deutschen Sonderwegs". Allein der Begriff ist mißverständlich, suggeriert er doch, es gäbe einen „Normal "weg. Allein die Tatsache, daß nicht wenige Autoren nach Westen geblickt haben, spricht auch nicht gerade für diese post festum konstruierte Theorie. Der antirömische Affekt, von dem Sie gesprochen haben, muß meines Erachtens differenziert werden. Da gibt es einerseits die ideologischpropagandistische Gleichsetzung von römisch - französisch - welsch. Diese Bedeutung von „römisch" instrumentalisierten insbesondere die Patrioten, die einen Befreiungskrieg gegen Frankreich propagandistisch heraufbeschwören wollten. Kleists ,Hermannsschlacht' ist das heute wohl prominenteste Beispiel für eine derartige Verwendung. „Römisch" kann aber andererseits auch das bedeuten, was der von mir zitierte Walther Rehm im Sinn hatte, nämlich ein spezifisches Verständnis von Staatlichkeit. Die Revolutionäre in Frankreich griffen das ja ganz konkret auf, bis in die Namensgebung (Senat, Konsulat) und die Selbstdarstellung. Diesem römischen Staatsgedanken stellt Rehm mit Blick auf die deutsche Klassik die Idee des Griechischen als des Reinmenschlichen gegenüber - man könnte hier auch das Adjektiv „unpolitisch" voranstellen. Antirömisch in diesem Sinn bedeutet aber nicht antiwelsch. Das ließe sich weder mit dem klassischen Humanitätspostulat im allgemeinen noch mit Goethes Anspruch auf Weltbürgertum vereinbaren. Steiger: Ein Teil der Fragen ist ja schon beantwortet. Ich wollte nur noch einmal das, was Sie eben ganz kurz in einem Halbsatz gesagt haben, erwähnen, nämlich die Verwandtschaftsbeziehungen der Leute, die dort agierten. Novalis, Hardenberg, Savigny, die Arnims u. a. sind befreundet, z.T. verwandt, verschwägert. Sie bilden nicht nur eine soziale Schicht, sondern eine Gruppe miteinander Verwandter, die in der Politik, die in der Dichtung aktiv sind. Können Sie etwas dazu sagen, wie sich das gegenseitig beeinflußt hat, ob in Familienkreisen oder in Zirkeln, die Sie eben genannt haben usw. diese Fragen diskutiert worden sind, auch unter Einschluß solcher Salons wie der Rachel Varnhagens, in diese Personen auch verkehrt haben.
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Riedl: Die personelle Verbindung von Politik und Literatur hat i n Berlin eine ihrer institutionell ausgeprägtesten Formen in der sogenannten „Christlich-deutschen Tischgesellschaft" gefunden. Achim von Arnim hat diesen Verein preußischer Patrioten federführend 1811 als eine Art Gegenentwurf zur Berliner Salonkultur - Rahel Varnhagen haben Sie erwähnt gegründet. In der Tischgesellschaft waren Frauen und Juden nicht zugelassen. Die Mitglieder der Tischgesellschaft entstammten den literarisch und politisch führenden Berliner Kreisen. Hier finden sich Namen wie Fichte, Brentano, Adam Müller, Kleist, Clausewitz, Zelter, Reichardt. Nicht wenige prominente Angehörige des Adels und Hochadels, des Offizierskorps und der Beamtenschaft gehörten dieser Gesellschaft an. Zu den Teilnehmern zählte unter anderem auch der von Ihnen erwähnte Savigny, der Schwager Bettina von Arnims, der dem hoch verschuldeten Gutsherrn Achim von Arnim als eine Art Vermögensberater zur Seite stand. Den Briefwechsel, den Arnim und Savigny geführt haben, bestimmen zu einem guten Teil höchst prosaische Themen: die kleineren und insbesondere größeren Sorgen und Nöte von Arnims Alltag als Gutsbesitzer. Es ist ausgesprochen viel von Geld die Rede. Fragen der Ökonomie und Landwirtschaft beschäftigten Arnim auch im allgemeinen und schlugen sich i n nicht wenigen seiner Schriften nieder. Seine Überlegungen zur Verfassungsfrage wurden wesentlich durch die politischen Vorstellungen des Freiherrn vom Stein geprägt. Auch Savigny ist von Stein beeinflußt worden. Arnims Plädoyer für eine Verquickung von Recht und Verfassung teilte Savigny indes nicht. Überhaupt sind die politischen, juristischen und allgemein weltanschaulichen Positionen Arnims und Savignys keineswegs immer deckungsgleich. Nun zu Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Die Hardenbergs waren ein altes niedersächsisches Adelsgeschlecht. Der Dichter und der spätere preußische Staatskanzler und Reformer Karl August von Hardenberg gehörten zwei verschiedenen Linien dieses Hauses an. Karl August sollte Friedrich einmal eine Anstellung im preußischen Staatsdienst vermitteln. Daraus wurde aber nichts. Den weiteren politischen Aufstieg Karl Augusts erlebte der 1801 verstorbene Friedrich nicht mehr. Eine innere geistige Verbindung zwischen den politischen Utopien des Dichters Friedrich von Hardenberg und den realpolitischen Vorstellungen des späteren preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg vermag ich nicht zu erkennen. Dölemeyer: Was den Arnim-Brentano-Savigny-Kreis betrifft, denke ich, daß hier ein Punkt betrachtet werden sollte, nämlich die sehr heftige Auseinandersetzung zwischen Savigny und Bettine in bezug auf die Entlassung der Brüder Grimm, die zu den „Göttinger Sieben" gehörten, und auf die unterschiedliche Bewertung zu der „Hannoverschen Konstitutionssache". Es gibt übrigens eine neuere Arbeit über Bettine als „politische Schriftstellerin".
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Riedl: Publizistisch ist Bettina erst nach dem Tod Achim von Arnims in Erscheinung getreten. Ihre politischen Schriften stammen hauptsächlich aus den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Als politische Schriftstellerin knüpfte sie gleichwohl auch an Ideen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts an, von denen heute schon die Rede war. Ein inhaltlicher Zusammenhang dieser Art ist zum Beispiel ihr Versuch, die idealistischen Konzepte der Frühromantik mit der politischen und sozialen Wirklichkeit des Vormärz zu vermitteln. In ihrem 1843 anonym veröffentlichten Werk ,Dies Buch gehört dem König', das sie König Friedrich Wilhelm IV. zugedacht hat, klingt das frühromantisch-utopische Ideal eines Volkskönigtums zumindest an. Wie immer man ihre politischen Vorstellungen im einzelnen historisch bewerten mag - ihr Einsatz für soziale Randgruppen und politisch Verfolgte verdient in jedem Falle Respekt.
Verfassung u n d A r c h i t e k t u r : D e r A p p e l l h o f i n K ö l n als M o d e l l neuer Gerichtsverfassungen Von Ernst Kutscheidt, Köln
I. Der Appellationsgerichtshof Am 6. Oktober 1794 zogen französische Truppen in Köln ein. Das besiegelte das Ende der Freien Reichsstadt und bald auch das Ende der Vielzahl der Gerichte 1 in Köln, sie wurden endgültig am 24. Januar 1798 aufgelöst. An ihre Stelle trat als erstinstanzliches Gericht das Friedensgericht, das, erstmals in Deutschland, in öffentlicher und mündlicher Verhandlung zu entscheiden hatte 2 . Nachdem im Frieden von Lune ville am 9. Februar 1801 die Rheinlande Frankreich zugefallen waren, wurde auch im übrigen Rheinland französisches Recht eingeführt, 1804 trat der code civil, 1806 der code de procédure, 1808 der code d'instruction criminelle und 1810 der code pénal in Kraft. Damit war das französische Recht in den Rheinlanden endgültig etabliert. Die Rheinländer lernten es alsbald schätzen, weil es mit seinen, auch nach heutigem Verständnis, rechtsstaatlichen Prinzipien die Rechte des Bürgertums stärkte. Als nach der Niederlage Napoleons die Rheinlande auf dem Wiener Kongreß 1815 Preußen zugeschlagen worden waren, entbrannte aber alsbald der „Kampf um das Rheinische Recht" 3 . Es war zugleich ein Kampf zwischen den Reformern und den restaurativen Kräften in Preußen. Der preußische Justizminister von Kircheisen trat entschieden für die Einführung des Preußischen Allgemeinen Landrechts und der Allgemeinen Gerichtsordnung auch in den Rheinlanden ein, sehr zum Unwillen der Rheinländer. Auch der Staatskanzler Hardenberg widersetzte sich diesem Ansinnen, zumal die Reform des Preußischen Rechts ohnehin anstand. Er trat zwar nicht 1 Dieter Strauch zählt 61 auf; Kölnisches Gerichtswesen bis 1794, in: Quellen zu Geschichte der Stadt Köln, Bd. II, 1996, S. 29 ff. - Nach Abschluß des Manuskipts ist erschienen: Dieter Strauch (Hrsg.), Der Appellhof zu Köln: ein Monument deutscher Rechtsentwicklung, Bonn 2002. 2 Burkhard Gehle, Unter Preußens Adler und Napoleons Gesetz, in: Justitia Coloniensis, 1981, S. 9,18. 3 Dazu Adolf Klein, Hardenbergs letzte Reform, in: Rheinische Justiz, 175 Jahre Oberlandesgericht Köln, 1994, S. 9 ff.
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offen für die Beibehaltung des französischen Rechts ein, begünstigte sie aber faktisch. So wurde schließlich auf seinen Vorschlag 1816 vom König eine „Immédiat-Justiz-Commission für die Rheinlande zu Cöln" eingesetzt, der auch die Aufgabe zufiel, die endgültige Gesetzgebung in den Rheinlanden vorzubereiten. Ihr war ausdrücklich der Auftrag erteilt, die Öffentlichkeit zur Mitarbeit aufzurufen, ein für die damalige Zeit gewiß ungewöhnlicher Vorgang. Sie nutzte dies zu zahlreichen Eingaben und Petitionen, in denen die Beibehaltung des französischen Rechts gefordert wurde. Neben der Gleichheit vor Richter und Gesetz, der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der Richter wurde dabei auch immer wieder die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichtsverhandlung hervorgehoben; so etwa in einer Petition, die die Kölner Stadtverordnetenversammlung dem Preußischen König anläßlich seines Besuches in Köln im September 1817 überreichte 4 . Im Februar 1818 hatte die Kommission ihr Gutachten fertiggestellt. Sie sprach sich im wesentlichen für die Beibehaltung der gerichtsverfassungsrechtlichen und prozeßrechtlichen Errungenschaften des französischen Rechts aus, insbesondere das öffentliche mündliche Verfahren gehöre „zu den wichtigsten Garantien der bürgerlichen Freiheit" und sei „ein unschätzbares theures Gut". Der Justizminister gab jedoch nicht auf und fertigte ein Gegengutachten, in dem insbesondere eingewandt wurde, Öffentlichkeit des Verfahrens gefährde die Moral der Zuschauer und die Mündlichkeit widerspreche der deutschen Gründlichkeit 5 . Hardenberg beauftragte daraufhin den Geheimen Staatsrat Daniels, einen hervorragenden Kölner Juristen, mit einer Untersuchung. Daniels war von Napoleon an den Kassationshof in Paris berufen worden und von dort als Generalprokurator nach Brüssel gegangen. Bereits 1805 hatte er eine deutsche Übersetzung des code civil veröffentlicht. Hardenberg hatte ihn 1817 als Mitglied des Staatsrates gewinnen können. Ohne auf die Kontroversen im einzelnen einzugehen und damit den Konflikt zu verschärfen, schlug Daniels vor, bis zu einer Reform des preußischen Rechts das französische Recht in deutscher Übersetzung als deutsches Recht anzuwenden. Zuvor schon war von Beyme 1817 als Gesetzgebungsminister eingesetzt und damit diese Kompetenz von Kircheisen entzogen worden. Von Beyme wurde nun auch mit der Ordnung der Rheinischen Justizangelegenheiten betraut. Er machte sich den Vorschlag von Daniels zu eigen. Nun war der Bann gebrochen, das französische Recht sollte - vorerst - erhalten bleiben, für seinen Bezirk, der sich von Kleve bis Saarbrücken erstreckte, sollte als Oberinstanz ein Appellationsgerichtshof geschaffen werden. Durch Kabinettsordre des Königs vom 21. Juni 1819 wurde auf den Antrag von Beymes die Rheinische Rechts- und Justizverfassung eingeführt, die bisherigen Appellationshöfe in Düsseldorf, Köln und Trier aufgelöst und der Appellations4 Adolf Klein (FN 3), S. 46 f. s Adolf Klein (FN 3), S. 49.
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gerichtshof in Köln errichtet 6 , übrigens im gleichen Jahr, in dem die Karlsbader Beschlüsse gefaßt wurden. Erster Präsident des Gerichts wurde Daniels. Damit sind w i r endlich beim eigentlichen Thema. Köln hatte sich schon im Vorfeld der Diskussionen bereit erklärt, durch eine Steuerumlage zu den Kosten für ein neues Gerichtsgebäude beizutragen und das nötige Gelände zur Verfügung zu stellen, nicht zuletzt, um damit Düsseldorf aus dem Felde zu schlagen, das sich neben anderen Städten um den Gerichtssitz beworben hatte 7 . Da für eine solche Steuer aber die gesetzlichen Grundlagen fehlten, wurde durch Kabinettsbefehl vom 9. März 1819 der Stadt ihrem „von des Königs Majestät genehmigten Anerbieten zufolge" auferlegt, 150.000 Franken „zur Anschaffung eines der Würde des obersten Gerichtshofs entsprechenden Lokals" aufzubringen. Ein Neubau war erforderlich, weil die Kölner Justiz in verschiedenen Gebäuden höchst unzulänglich untergebracht war und das neue Gebäude alle Justizbehörden, bis auf die Friedensrichter, aufnehmen sollte. Vor allem aber mußten Sitzungssäle für die mündlichen Verhandlungen geschaffen werden. Das Gebäude sollte auf dem Gelände der ehemaligen Frauenklöster „Zum Lämmchen" und Mariagarten errichtet werden, das weitgehend in städtischem Besitz war. Mit dem Entwurf wurde der damalige Adjunkt des Stadtbaumeisters, Johann Peter Weyer, beauftragt, seit 1821 selbst Stadtbaumeister. Sein Plan von 1819 sah einen zweigeschossigen Bau vor, bei dem fünf Sitzungssäle in vorspringenden Trakten um einen Innenhof gruppiert waren 8 . Er wurde in Berlin jedoch als zu kostspielig verworfen. Auch ein zweiter vereinfachter Plan, entwickelt von Baurat Schauß vom Regierungspräsidium und von Weyer überarbeitet, wurde abgelehnt. Schinkel bemängelte in einem dazu angefertigten Gutachten „die etwas zu winklige Anordnung von allen Seiten, wodurch die Einfachheit und Regelmäßigkeit der Ansicht dieses doch bedeutenden öffentlichen Gebäudes sehr verliert und hinsichtlich der Kosten und Konstruktion mancherlei Nachteile entstehen". Eine von ihm daraufhin entworfene Skizze einer Vierflügelanlage ist leider nicht mehr erhalten, auf sie läßt sich nur aus seinem Gutachten schließen: „Hiernach aber bildet das Gebäude von außen ein ganz geschlossenes und regelmäßiges Viereck mit einem Hauptcorps durch die Mitte und ein paar Nebengebäuden an den Seiten der beiden Höfe." 9 Das ließ Weyer nicht ruhen. Er arbeitete 1820 einen weiteren Entwurf aus, dessen zentrales Element wiederum die fünf großen Sitzungssäle waren, diesmal in einem Halbkreis um einen Innenhof gruppiert. Aber auch 6 PrGBl. S. 321. 7 Franzjosef Ploenes, Justiz ohne Raum, in: Justitia Coloniensis, 1981, S. 307 ff. 8 Petra Leser, Die Baugeschichte des Rheinischen Appellatonsgerichtshofes in Köln, in: Architekturgeschichten, Festschrift für Günther Binding, 1996, S. 183 ff. 9 Zitiert nach Petra Leser (FN 8), S. 188. 12 Der Staat, Beiheft 15
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dieser Entwurf fand zunächst nicht die Gnade Berlins. So fertigte Weyer zunächst 1822 mehrere weitere Entwürfe, diesmal für einen Bau am Rathausplatz, den die Stadt empfohlen hatte, um den nötigen Ankauf weiterer Grundstücke am ursprünglich vorgesehenen Platz zu vermeiden. Die Regierung in Berlin aber zögerte weiterhin und erwog eine Erweiterung der vorhandenen Bauten, in denen das Land- und das Assisengericht untergebracht waren, vorgeblich aus Kostengründen, in Wahrheit wohl aber, um die endgültige Etablierung des französischen Rechtes im Rheinland zu verhindern. So wurde in einem Gutachten darauf hingewiesen, daß bei einer Änderung des Rheinischen Rechts die großen Verhandlungssäle überflüssig würden 1 0 . Wegen der desolaten Unterbringung der Gerichte drängten die Kölner aber auf einen Neubau. In einer Eingabe an den König vom 18. Februar 1823 wurde nochmals die Bereitschaft der Stadt zur finanziellen Unterstützung betont und der Weyersche Entwurf von 1820 in Erinnerung gebracht, der, so hieß es, „Zweckmäßigkeit mit einem hinreichend ansehnlichen Äußeren verbindet" 1 1 . Die endgültige Entscheidung über das Schicksal des Rheinischen Rechts aber blieb weiter in der Schwebe. Am 18. April 1823 schrieb von Beyme an den König, er sei mit der Ausarbeitung des Entwurfs eines neuen CriminalGesetzbuches beschäftigt, deshalb ließe sich „zur Zeit noch nicht mit Zweckmäßigkeit bestimmen, welche speziellen Modifikationen die Justizverfassung in den Rheinlanden erhalten wird". Er trat aber für den Weyerschen Entwurf von 1820 ein, weil, „selbst in dem vorgedachten Fall, wenn die preußischen Gesetze ohne alle Modifikationen in der Rheinprovinz Kraft erhielten, die alsdann im Local etwa notwendigen Abänderungen sehr leicht zu bewirken seien, und nur i n der Abtheilung einiger Säle in kleinere Räume bestehe" und deshalb der „ i m Vorschlag gebrachte Neubau zur Unterbringung der Gerichtsbehörde in Cöln jedenfalls zweckmäßig und für Eure Köngl. Majestät Staats-Kasse höchst annehmlich sei, und auch mit den Modifikationen sehr wohl als zweckmäßig bestehen kann unter welchen die Einführung der preußischen Gesetze in den Rheinprovinzen stattfinden dürfe" 1 2 . Das war ein geschickter Schachzug. Der Neubau verfestigte sicherlich das Französische Recht im Rheinland, ohne jedoch seine Beibehaltung endgültig zu präjudizieren. So fiel denn rasch die Entscheidung. Durch Kabinettsordre vom 25. April 1823 wurde die Baugenehmigung für Weyers Entwurf von 1820 erteilt. Das Tauziehen hinter den Kulissen hatte über vier Jahre gedauert. Besonders suspekt erschien dabei den restaurativen Kräften in Preußen die Gerichtsöffentlichkeit, die der Bau eindrucksvoll manifestierte. 10 Petra Leser (FN 8), S. 192. 11 Petra Leser (FN 8), S. 192. 12 Petra Leser (FN 8), S. 193.
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Deutsche Vorbilder für einen solchen Bau gab es nicht, die Gerichte waren entweder in den Kanzleien der Fürstenhöfe untergebracht oder, wie in Köln, in höchst bescheidenen Zweckbauten 13 . Und so orientierte sich Weyer, der in Paris an der Ecole des Beaux Arts studiert hatte, an französischen Bauten, zum Teil am Bau des Corps législatif in Paris 1 4 . Das Zentrum des zweigeschossigen Baus bildete ein großer, halbkreisförmiger Innenhof, der von einem offenen, überdachten Säulengang umschlossen wurde. An diesen schlossen sich radial die fünf Sitzungssäle an, deren größter in der Mitte, der Assisensaal, 26,08 m lang und 12,56 m breit war. Die übrigen Säle waren bei gleicher Breite 18,83 m lang 1 5 . Alle Säle reichten über beide Geschosse. Umschlossen wurde der Bau von einem weiteren Halbrund, in dem die insgesamt 64 Geschäftsräume untergebracht waren. Die Wohnungen der Kastellane begrenzten an der Straßenfront den Zugang zum Innenhof, über den das Publikum unmittelbaren Zugang zu den Sitzungssälen hatte. Dienstzimmer für die Richter gab es nicht, sie hatten zu Hause zu arbeiten. Der Bau wurde am 22. April 1824 begonnen und am 6. November 1826 eingeweiht. Noch einmal hatte es Streit gegeben zwischen der Stadt Köln und der preußischen Regierung, die „ i n kleinlicher Sparsamkeit" auch noch die Übernahme der Kosten für das Mobiliar verlangte. Auch hier gab die Stadt letztlich nach 1 6 . Der Bau fand in der Öffentlichkeit ein unterschiedliches Echo. Die einen lobten ihn als schlichtes klassizistisches Gebäude, in dessen Entwurf „entschieden ein classischer Strich" lag 1 7 , die anderen rieben sich an „diesem unglücklichen Bauwerk im Locomotivschuppenstil" 18 . Vor allem wurde bemängelt, daß die Anforderungen des Geschäftsverkehrs unzureichend berücksichtigt seien bei gleichzeitiger verschwenderischer Raumentfaltung der Sitzungssäle. In der Tat waren die Sitzungssäle überdimensioniert. Aber man mußte eben erst lernen, mit der Gerichtsöffentlichkeit umzugehen. Von den Gerichtsangehörigen wurde alsbald die Ausstattung beanstandet, etwa der „pestienzialische Gestank", der von den in den Korridoren aufgestellten Latrinen ausging oder die mangelnde Beleuchtung der Säle, die zu Unordnungen durch den Lärm der „großen Masse von Leuten, zum Teil aus den geringsten Volksklassen" führte. 1831 wurden deshalb 13 Peter Landau, Reichsjustizgesetze und Justizpaläste, in: Kunstpolitik und Kunstförderung im Kaiserreich, 1982, S. 197 ff. 14 Petra Leser (FN 8), S. 186. is Maße nach Petra Leser (FN 8), S. 190; Ploenes (FN 7), S. 314 gibt 26,60 m für den Hauptsaal an. 16 Ploenes (FN 7), S. 311. 17 H. Wiethase, Baugeschichtliche Entwicklung, in: Köln und seine Bauten, 1888, S. 191. 18 Kölnische Zeitung vom 23. März 1881.
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fünf Kronleuchter für den Assisensaal genehmigt, 1847 eine Gasbeleuchtung für den Saal des Zuchtpolizeigerichts, erst 1853/54 wurde der Bau unterkellert 1 9 . Zunehmend beklagt wurde aber vor allem die räumliche Enge, die Zahl der Prozesse hatte beträchtlich zugenommen. Bis auf die Friedensrichter waren alle Justizbehörden einschließlich des Generalprokurators (Generalstaatsanwalts) und des Oberprokurators in dem Gebäude untergebracht. Die preußische Sparsamkeit aber erwies sich auch hier als standhaft, sie widersetzte sich allen Forderungen nach Abhilfe. Der Kampf um das Rheinische Recht war mit der Errichtung des Gebäudes allerdings noch nicht beendet. Der rheinpreußische Justizminister Karl von Kamptz versuchte es weiter auszuhöhlen. Höhepunkt war 1837 das „Kölner Ereignis", die Verhaftung des Kölner Erzbischofs und seine Verbringung nach Minden, die jedenfalls nach rheinischem Recht illegal, weil ohne richterliche Bestätigung, war. 1843 widersetzte sich der Rheinische Provinziallandtag der Einführung eines neuen Strafgesetzbuches und forderte eine Neubearbeitung „unter Zugrundelegung der rheinischen Gesetzgebung" 2 0 . Erst als Folge der Ereignisse 1848/49 wurde auch im übrigen Preußen die mündliche Verhandlung eingeführt, das Strafgesetzbuch von 1851 folgte in weiten Teilen dem rheinischen Recht. Das materielle französische Recht aber blieb noch lange erhalten, der code civil etwa wurde erst 1900 durch das Bürgerliche Gesetzbuch abgelöst, in Nordrhein-Westfalen galt er für das private Nachbarrecht sogar bis 1976.
II. Der Appellhof Eine Zäsur brachte erst wieder das Jahr 1879. Nach Gründung des Deutschen Reiches waren am 1. Oktober 1879 die sogenannten Reichsjustizgesetze in Kraft getreten 21 , also vor allem Gerichtsverfassungsgesetz, Zivilund Strafprozeßordnung. Die Gerichtsorganisation wurde neu gestaltet, den Gerichten wuchsen neue Aufgaben zu. Der Appelationsgerichtshof wurde zum Oberlandesgericht, das Friedensgericht zum Amtsgericht. Nur das Landgericht blieb, wenn auch in neuer Form, dem Namen nach erhalten. Es war klar, daß das alte Gebäude, das im Volksmund längst Appellhof hieß, den neuen Anforderungen nicht mehr gewachsen sein konnte. Und so wurde ein Neubau unumgänglich. Berlin erwog die Erweiterung des bestehenden Gebäudes. Am 10. März 1879 teilte der Justizminister dem Präsidenten des Appellationsgerichtshofes mit, „daß ich nicht abgeneigt bin, der Herstellung eines Erweiterungsbaues des justizfiskalischen Geschäftshauses am Appellhofplatze näher zu treten, falls es sich ermöglichen sollte, 19 Ploenes (FN 7), S. 313 ff. Adolf Klein, Vom Praetorium zum Paragraphenhochhaus, 1986, S. 40 f. 21 Vom 27. Januar 1877, RGBL S. 41 ff. 20
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hierdurch den erforderlichen Raum zu gewinnen, um das zukünftige Oberlandesgericht, Landgericht und Amtsgericht in demselben Gebäude unterzubringen" 2 2 . Der Bau sollte dem bestehenden Gebäude vorgelagert werden. Das Ansinnen, die Stadt solle den dazu erforderlichen Geländestreifen abtreten, wurde jedoch von der Stadtverordnetenversammlung abgelehnt, um nicht „die Absicht, das alte Gebäude vielleicht auf unabsehbare Zeiten beizubehalten, gleichsam zu unterstützen" 23 . Statt dessen favorisierte die Stadt zunächst einen Bau am Ring, also in dem durch die Stadterweiterung neugewonnenen Gelände. Man wollte eben, wie in anderen Städten auch, einen großen Justizpalast 24 . Berlin aber scheute die Kosten und hielt an der Erweiterung des bestehenden Baues fest, nunmehr auf fiskalischem Grund. Gegen einen zunächst entwickelten Plan des Kreis-Bau-Inspektors Boettcher, dem bestehenden Bau zwei Eckpavillions anzufügen, in denen auch ein Sitzungssaal für das Oberlandesgericht untergebracht werden sollte, gab es aber erbitterte Widerstände. In einem Bericht des Oberlandesgerichtspräsidenten vom 4. August 1880 25 heißt es unter anderem: „Die Beamten des Oberlandesgerichts, zum großen Theil bejahrte Personen, wären dabei darauf angewiesen, um aus ihren Geschäftsräumen zu dem Sitzungssaal zu gelangen, zunächst mehrere Treppen hinab, dann aus dem Hauptgebäude, dem Wind und Wetter ausgesetzt zum Nebengebäude und in diesem die Treppen hinauf zu steigen". Ein hierauf eingeholtes technisches Gutachten von Baurath Gottgetreu kam zu einem vernichtenden Ergebnis: der Plan sei ungeeignet, die Anbindung an den alten Bau sei mißlungen, vor allem die vielen Treppen seien „unbequem und namentlich für ältere Herren nur mit Mühe zu ersteigen" 26 . So wurde denn beschlossen, einen durchgehenden Erweiterungsbau unter Niederlegung eines Teils des alten Appellhofes, nämlich der Kastellanwohnungen und der Sitzungssäle I und V, zu errichten. Den Entwurf fertigte der Regierungsbaumeister Paul Thoemer unter Leitung des Oberbaudirektors Endell. Thoemer oblag auch die Bauleitung. Das mit der Gründung des Reiches erstarkte Nationalgefühl blieb nicht ohne Einfluß auf seinen Entwurf. Überall entstanden öffentliche Bauten, die neben ihrer Zweckbestimmung auch der Repräsentation des Staates dienten. Die Gerichte nahmen hierbei eine hervorragende Stellung ein, sie sollten die Bedeutung einer endlich zum Durchbruch gekommenen liberalen Justiz für den Staat versinnbildlichen, das Deutsche Reich von 1871 war ein Rechtsstaat geworden 27 . Vorbild war der monumentale Brüsseler Justizpalast, der von 1860 bis 1884 von Poelart erbaut worden war, der größte 22 23 24 25 26 27
HStA Düsseldorf, Bestand OLG Köln, Band 11/735, S. 10. HStA (FN18), S. 24. Kölnische Zeitung vom 23. März 1881. HStA (FN 18) S. 45 ff. HStA (FN 18), S. 54. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 1918, Bd. 2, 2. Aufl. 1993, S. 182.
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Neubau des neunzehnten Jahrhunderts überhaupt. Und so entstanden auch in Deutschland überall für die großen Gerichte Justizpaläste, in Stuttgart und Braunschweig seit 1875, in Dresden seit 1876, in Frankfurt am Main wie in Köln seit 1884, in Leipzig das Reichsgericht seit 1888 und der Münchener Justizpalast seit 1891. Dem Historismus der damaligen Zeit entsprechend wurde der Bau im Stil der Neorenaissance errichtet und zwar nicht der italienischen, sondern der norddeutschen Variante. Die Ausführung war durchaus modern und auf Zweckmäßigkeit ausgerichtet. So wurde bereits „Moniergeflecht" verwendet, das Dach aus Gründen der Feuersicherheit in Eisenkonstruktion ausgeführt (wie auch beim Kölner Dom), die Geschäftsräume wurden durch eine Warmwasserheizung beheizt, während für die Sitzungssäle ein Warmluftheizung installiert wurde. Dabei wurde die Luft durch einen Ventilator umgewälzt, der vom ersten von Siemens und Halske erbauten Wechselstrommotor angetrieben wurde, im Sommer diente sie der Kühlung der Räume. Die Geschäftszimmer waren schlicht, während das Treppenhaus ebenso wie die Sitzungssäle reich ausgestattet waren. Das Äußere entsprach dem Repräsentationscharakter. Im Baubericht 2 8 heißt es dazu: „Die äußere Erscheinung des Bauwerks ist mit Rücksicht auf seine Bestimmung insofern aufwändiger gestaltet, als hohe Giebel und steile Dächer mit ragenden Thürmen die bloße Zweckdienlichkeit überschreiten und die Baugruppe kräftig gliedern und beleben". Es sollte, wie Semper das einmal ausgedrückt hat, ein „lesbarer Text mit Bedeutung" sein. Und so heißt es weiter im Baubericht: „ A m Hauptportal des Mittelbaues befinden sich hermenartige Figuren, welche die urtheilssprechende und die ausübende Gerichtsbarkeit versinnbildlichen, die mächtigen Schlußsteine der seitlichen Öffnungen sollen römisches und deutsches Recht zum Ausdruck bringen." Die Grundsteinlegung fand am 17. April 1884 statt, eingeweiht wurde der Bau am 19. September 1887. Der Mitteltrakt diente dem Oberlandesgericht, während Amts- und Landgericht in den stehengebliebenen Teilen des Altbaus untergebracht waren. Dazu waren zwei der stehen gebliebenen großen Sitzungssäle aufgeteilt worden. Die Absicht eines vollständigen Neubaus wurde aber weiterverfolgt und so wurde der Erweiterungsbau sogleich so konzipiert, daß unter Niederlegung des restlichen Appellhofes der Anschluß eines zweiten Bauteils ermöglicht wurde. Schon vor Fertigstellung des Erweiterungsbaus hatte man sich in Berlin zu einem gänzlichen Neubau durchgerungen, die Pläne dazu waren, wiederum von Thoemer, längst fertiggestellt, die örtliche Bauleitung oblag Mönnich. Praktisch ohne Unterbrechung folgte die Grundsteinlegung für den Weiterbau am 16. Dezember 1888, die feierliche Einweihung war am 8. Juli 1893. 28 R. Mönnich, S. 483 ff.
Gebäude für Rechtspflege, in: Köln und seine Bauten, 1888,
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Wieder folgte man ausländischen Vorbildern. Was im ersten Bau aus Raumgründen nicht möglich war, wurde nun verwirklicht: das zweite Treppenhaus öffnet sich zu einem großen Lichthof, einem, so der Baubericht, „einzigen mächtigen Vorraum, eine ,salle des pas perdus 4 für die gesammte Anlage". Auch die Galerie im Schwurgerichtssaal entspricht ersichtlich dem Vorbild im Brüsseler Justizpalast. Sie sollte bei den großen Prozessen das „höhere" Publikum aufnehmen. Man hatte aus den langjährigen Erfahrungen mit der Gerichtsöffentlichkeit im alten Bau und den dabei zutage getretenen Störungen gelernt und deshalb auf eine möglichste Trennung der Besucherströme Wert gelegt. Dazu wurden die Sitzungssäle zusammengefaßt und neben den gewissermaßen offiziellen Treppenhäusern eigene, unmittelbar von außen zugängliche für die Besucher der Verhandlungen eingerichtet. Der Baubericht bemerkt dazu, „Die Vortheile dieser zusammenfassenden Anordnung der Säle, sowohl für die Beheizung und Lüftung derselben, wie auch für die möglichst einfache und ohne jede Störung des Geschäftsverkehrs zu bewirkende Zugänglichkeit der Räume für das Publikum während der Verhandlungen sind nach Betrachtung der Grundrißpläne augenfällig". Aber auch für die Angeklagten wurden von den Zellentrakten im Keller eigene Gänge zu den Sitzungssälen bis hinauf zum dritten Stock gebaut. Diese Idee scheint während der Bauausführung geboren worden zu sein. In den Plänen für den ersten Bauabschnitt fehlen sie noch, sie sind dort aber tatsächlich ebenso vorhanden wie die bereits eigeplanten im zweiten Bauabschnitt. Die Außenfront wurde wiederum reich ausgestattet mit einem mächtigen Giebel über dem Eingangsportal, Erkern an den Seitenflügeln und flankierenden Türmen über den seitlichen Treppenhäusern. Bestimmendes Element sind die drei großen Fenster des Schwurgerichtssaals, zwischen denen die Skulpturen der Kaiser Wilhelm I. und Wilhelm II. aufgestellt waren. Insgesamt verband der Bau Zweckmäßigkeit der Einrichtung und Repräsentation der Gerichtsbarkeit und ihrer Bedeutung für den Staat. Nochmals der Baubericht: „Dabei wird das Bauwerk durch seine Abmessungen und durch die einfache Klarheit seines Systems des monumentalen Eindruckes nicht entbehren und vorzugsweise der Mittelbau mit den mächtigen Lichtöffnungen des Schwurgerichtssaales die Bedeutsamkeit seiner Bestimmung voll zum Ausdruck bringen". Diese Bestimmung wurde augenfällig, wenn man die große Eingangshalle betrat. An der dem Eingang gegenüberliegenden Seite stand der Wahlspruch Franz I. von Österreich: „Justitia fundamentum regnorum". Welch ein Wandel gegenüber der Auffassung des frühen 19. Jahrhunderts!
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III. Die Auswirkungen Als erster Justizpalast nach den Reichsjustizgesetzen wurde der Bau Vorbild für viele weitere Gerichte. Meyers Konversationslexikon von 1893 29 nennt ihn als Beispiel eines großen, weitverzweigten und architektonisch monumental behandelten Gerichts. Die mit der Gerichtsöffentlichkeit in Köln gemachten Erfahrungen wurden bald Allgemeingut. So heißt es in Meyers Lexikon: „Die Eingänge für Richter, Geschworene, Zeugen, Angeklagte und Publikum sind zu trennen. Auf eine abgesonderte Vorführtreppe ist Wert zu legen". Paul Thoemer (1851-1918), der Entwurf s Verfasser, wurde im Preußischen Ministerium für öffentliche Arbeiten Leiter der Abteilung für Groß-Berlin und den Westen der Monarchie. Hier wurden insgesamt 300 kleinere und 51 große Gerichtsgebäude konzipiert 3 0 . Immer wieder stößt man bei diesen Bauten auf das Kölner Vorbild. So findet sich etwa die Galerie des Schwurgerichtssaals im Plenarsaal des preußischen Oberverwaltungsgerichts, dem jetzigen Sitz des Bundesverwaltungsgerichts, oder die Vorführtreppen für die Angeklagten im gleichfalls von Thoemer erbauten Kriminalgericht von Berlin-Moabit 3 1 . Und die Eingangshalle als salle des pas perdus wurde geradezu Standard in zahlreichen großen Gerichten, jedenfalls in solchen, die alle Gerichtszweige aufnahmen. Bei den, zumeist später gebauten Oberlandesgerichten, wie etwa in Köln oder Düsseldorf, verzichtete man auf sie allerdings zumeist, dort ging es vornehmer zu und der Publikumsandrang war nicht so groß.
IV. Wechselvolles Schicksal Die weitere Geschichte sei nur kurz erwähnt. Zunächst nahm das Gebäude alle Kölner Gerichte auf, erwies sich jedoch bald wiederum als zu klein. Deshalb wurde, ebenfalls von Thoemer, am Reichenspergerplatz das Oberlandesgericht erbaut, nach dessen Fertigstellung 1911 der „Appelhof" nur noch der Strafjustiz diente. Als Sondergericht tagte hier für kurze Zeit auch das 1923 eingerichtete Wuchergericht 32 . Das „Dritte Reich" nahm die Idee der Sondergerichte wieder auf, die Zahl der von den vier im Appellhof tagenden Sondergerichten gefällten Todesurteile wird mit 123 angegeben 33 . 29 5. Aufl., 1893 ff., Band 18, Stichwort „Gerichtsgebäude". 30 Gisbert Knopp, Regierungspräsidium und Oberlandesgericht in Düsseldorf, Rheinische Kunststätten, Heft 429,1998, S. 18. 31 Klemmer/Wassermann/Wessel, Deutsche Gerichtsgebäude, 1993, S. 92. S2 Notverordnung des Reichspräsidenten vom 13.7.1923, RGBl. I, S. 699; Wuchergerichtsordnung S.724 . 33 Adolf Klein, Köln im Dritten Reich, 1983, S. 101 ff. und 262 ff.; ders., Hundert Jahre Akten - Hundert Jahre Fakten, in: Justitia Coloniensis, 1981, S. 89, 168 ff.
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Im Kriege wurde der Bau schwer beschädigt, insbesondere wurden im Eingangsbereich Burgmauer das Treppenhaus und der reich ausgestattete ehemalige Senatssaal im ersten Obergeschoß weitgehend zerstört. Zunächst notdürftig wiederhergestellt, wurde das Gebäude seit Ende der vierziger Jahre renoviert und umgebaut. Dabei wurde, dem damaligen Zeitgeist folgend, unter dem Vorwand der Renovierung der ehemals reiche plastische Schmuck vor allem der Außenfront weitgehend entfernt. Die nahezu unbeschädigte Vorderfront des Eingangsbereichs Burgmauer mit den flankierenden Seitentürmen - lediglich der Giebel hatte sich geneigt und war schon früh abgetragen worden - wurde niedergelegt und der Mittelbau im Stil der fünfziger Jahre vollständig neu erstellt. Beherrschendes Material waren Ziegel, gelber Sandstein, Beton und Glas. An die Stelle des alten Senatssaals trat ein schlichter, nunmehr querliegender Sitzungssaal. Das Staatshochbauamt Köln, das die Bauarbeiten verantwortete, führte zur Begründung an, bei dieser Lösung werde „eine klare Gestaltung der Eingangshalle und der Sitzungssäle mit seitlicher Beleuchtung erreicht" 3 4 . Zu seiner Rechtfertigung muß man allerdings sagen, daß auch die damalige Justizverwaltung gegen diese Radikallösung keine Einwände erhob. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr dem Eingangsbereich Burgmauer. Auch dessen reichgegliederte Vorderfront war nahezu unbeschädigt geblieben, nur die Skulpturen der Kaiser hatten ihre Köpfe verloren. Auch hier fiel der reiche plastische Schmuck einer radikalen Vereinfachung zum Opfer, der Giebel wurde abgetragen. In gleicher Weise verfuhr man mit den Gliederungen der Seitenportale und der Eingangstore zum Hof. Im Inneren wurde die große Eingangshalle grundlegend umgebaut, dabei wurden die steinernen Balustraden durch Metallgitter ersetzt, die Wände im Erdgeschoß mit Stein verkleidet, im übrigen unter Fortfall der bisherigen Gliederung glatt verputzt und hell gestrichen, die die Galeriedurchbrüche begrenzenden Säulen entfernt, die Seitenflanken der Durchbrüche leicht schräggestellt, der Boden mit Linoleum gedeckt und anstelle des alten gewölbten Glasdaches eine gläserne Flachdecke eingefügt. Die alten Beleuchtungen, auch die Kronleuchter in den Sitzungssälen, wurden durch „moderne" Neonröhren ersetzt, die zu den alten, reichverzierten Stuckdecken in einen merkwürdigen Kontrast traten. Nachdem Amts- und Landgericht ein neues Gebäude erhalten hatten, zog 1981 das Verwaltungsgericht in den arg verwahrlosten Appellhof ein. Weil er auch das Finanzgericht aufnehmen sollte, plante man seine Renovierung und Erweiterung. Die Pläne hierzu entwarf das Architektenehepaar Trint, das die Forderungen der damaligen Gerichtsverwaltungen von Verwaltungs- und Finanzgericht nach einem möglichst modernen und effizienten Bau berücksichtigte, die rechtshistorische Bedeutung des Baues wurde 34
Günther Kraus, Das Justizgebäude am Appellhofplatz in Köln, 1998, S. 58.
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dabei vernachlässigt. So sollte der Schwurgerichtssaal in kleinere Sitzungssäle aufgeteilt, der Eingang Appellhof geschlossen werden und die große Eingangshalle sollte die Bibliothek aufnehmen. Die Vorführtreppen sollten verschwinden, die Zuschauertreppen zu Räumen umgebaut werden. Das in den fünfziger Jahren errichtete Treppenhaus an der Burgmauer sollte einem Neubau weichen. Beide großen Treppenhäuser sollten in Höhe des ersten Zwischengeschosses durch einen geschlossenen, von einem Lichtband in der Decke erhellten Gang quer über den Hof verbunden werden. Die Denkmalpflege hatte zwar schon am 22.12.1983 das Gebäude in die Denkmalliste aufgenommen, erhob aber gegen die umfangreichen Veränderungen, die vor allem die rechtshistorisch bedeutsamen Teile betrafen, keine Einwände. Buchstäblich in letzter Minute, die Pläne waren bereits unterzeichnet, konnte auf Drängen des nunmehr unter neuer Leitung stehenden Verwaltungsgerichts eine Umplanung erreicht werden, die die historische Bausubstanz, soweit noch vorhanden, schonte und wieder zur Geltung brachte. So wurden die beiden Eingänge erhalten, der nunmehr als Bibliothek genutzte Schwurgerichtssaal wurde in seiner alten Form wiederhergestellt, dazu die Zwischendecke entfernt und die zugebaute, nach langem Suchen jedoch wiederentdeckte Galerie wieder geöffnet. Die Zuschauer- und Vorführtreppen blieben als historisches Dokument bestehen, die große Eingangshalle bekam wieder einen Steinfußboden. Als die Denkmalpflege auch noch den Erhalt des aus den fünfziger Jahren stammenden Treppenhauses an der Burgmauer durchsetzte, glaubten die Architekten Trint ihre Planung nicht mehr verwirklichen zu können und legten sie nieder. Die weitere Bauleitung oblag nunmehr der staatlichen Bauverwaltung, die von der Trint'schen Planung lediglich die Errichtung des Erweiterungsbaus übernahm. Er schließt sich zur Hofseite an den Burgmauertrakt an, die hofseitige Außenwand ist mit Glas verkleidet, so daß sich in ihr die Fassaden des Altbaus widerspiegeln. Besonderes Verdienst gebührt dem Lichtgestalter Dinnebier, Wuppertal, der in einfühlsamer Weise eine neue Beleuchtung schuf. So entwickelte er Lampen für die Gänge, die deren Gewölbe zur Geltung bringen, für die alten Sitzungssäle mit ihren reichgegliederten Decken wurden neue Kronleuchter geschaffen und die Eingangshalle erhielt Wandleuchten, die deren glatte Verkleidung optisch gliedern. Insbesondere durch diese Beleuchtung vermittelt der Innenbau trotz der unterschiedlichen Bauepochen ein einheitliches Raumgefühl. Auch dieses Kapitel gehört sicherlich zum Thema Kultur und Verfassung. Wie sehr man im vorigen Jahrhundert um eine unabhängige, durch die Öffentlichkeit des Verfahrens geprägte Justiz kämpfte, ist heute vielen offenbar nicht mehr bewußt, man nimmt sie als selbstverständlich hin. Gleichwohl sollte dies gelegentlich in Erinnerung gerufen und die wenigen Zeugnisse dazu bewahrt werden. Gott sei Dank gibt es noch Leute, die das tun. Als die Bezirksvertretung Innenstadt der Stadt Köln, die einst so sehr
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für den Appellationsgerichtshof gekämpft hatte, 1985 den Appellhofplatz in Heinrich-Böll-Platz umbenennen wollte, erhob sich ein Sturm der Entrüstung, der die Stadt zum Einlenken zwang. Und so bleibt die Erinnerung an das „Rheinische Recht" wenigstens im Namen dieses Platzes erhalten.
Aussprache Barmeyer-Hartlieb: Der rheinische Appellationsgerichtshof zu Köln als Beispiel für die Interdependenz von Verfassung und Architektur hat uns in eine andere Verfassungssituation geführt, als wir ursprünglich bei dem Oberthema vermutlich erwartet haben. Nicht wie wir das seit Norbert Elias kennen ein Beispiel aus der Vormoderne, durch das die augenfällige Korrespondenz zwischen vormodernem Verfassungsverständnis und repräsentativer höfischer Architektur dargestellt wird, sondern ein öffentlicher Bau aus der Zeit des modernen, nachrevolutionären VerfassungsVerständnisses, und dann noch aus zwei Bauperioden, die in verschiedene Phasen der Verfassungsentwicklung in Preußen gehören. Wie haben Sie uns an Ihrem Beispiel die Interdependenzen dargestellt? Die erste frühe Phase sind die Jahre nach dem Übergang der Rheinlande an Preußen, also etwa 1815-1823. Überliefert ist der Ausspruch des Kölner Bankiers Schaafhausen, der die allgemeine Stimmung ausdrückte, als er sagte, nun habe man in eine arme Familie eingeheiratet - also alles andere als Begeisterung darüber, preußisch zu werden. Zum Selbstbewußtsein des wirtschaftlich erfolgreichen rheinischen Bürgertums gehört der Stolz auf das im Rheinland etablierte französische Recht mit seinen modernen rechtsstaatlichen Prinzipien und dem modernen Element der Mündlichkeit und Öffentlichkeit in der Gerichtsverfassung als Teil der bürgerlichen Freiheit. Auch hieraus resultierte das Überlegenheitsgefühl der Rheinländer und ihr Kampf um die Bewahrung ihres rheinischen Rechtes - sehr einleuchtend und verständlich, wenn man bedenkt, daß noch eine der Hauptforderungen und ein politisches Zauberwort der Vormärzopposition eine Generation später die Forderung nach Öffentlichkeit war. Auffallend, nicht zufällig und vielleicht noch genauer zu untersuchen wäre m.E. in welcher Weise die Auseinandersetzung um den Kölner Appellationsgerichtshof bis zur Baugenehmigung von 1823 genau parallel verläuft zur ersten Verfassungsbewegung in Preußen, die im gleichen Jahr - 1823 - mit dem Provinzialständegesetz ihren ersten - unbefriedigenden - Abschluß fand. Der Zusammenhang zwischen Verfassung und Architektur stellt sich möglicherweise als noch enger heraus, wenn man die beiden Ereignislinien auf ihre zeitliche Parallelität noch genauer untersucht. Die zweite Bauphase der 80er Jahre, die des nationalliberalen Bürgertums im neu gegründeten Deutschen Reich, fällt in die liberale Ausbauphase des Reiches, das nun - im Unterschied zur ersten Phase - ein Verfas-
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sungsstaat ist, wenn auch in der Sonderform der konstitutionellen Monarchie. In dieser Zeit war das nationalliberale Bürgertum tonangebend und stilprägend, wirtschaftlich, aber auch hinsichtlich des Verfassungsausbaus und des architektonischen Geschmacks. Konservative Preußen haben damals mit Argwohn beobachtet, daß gerade die Liberalen aus den annektierten Ländern, wie ζ. B. die Hannoveraner nach 1866 - den inneren Reichsausbau vorantrieben und die Gesetzgebung beeinflußten. Auch hier wieder eine auffallende Parallelität. Und was den Stil angeht: Die Neogotik vieler repräsentativer öffentlicher Gebäude und vor allem die Vollendung des Kölner Doms selbst als Nationaldenkmal mit dem begleitenden ideologischen Streit um die Gotik als den eigentümlich deutschen Stil, ist ein typisches Phänomen des vom linken zum rechten Nationalismus gewandelten Nationalgefühls. Der Stolz der geeinten Nation reklamiert nicht nur diesen Stil für sich, sondern verteidigt auch die deutsche Sonderform der konstitutionellen Monarchie als deutsches, anderen Nationen überlegenes Modell. Dippel: Nur ganz kurz eine Zwischenfrage. In der Zwischenzeit von 1814 bis 23 ist aber praktisch nach dem französischen Recht, obwohl der Fall noch nicht geklärt war, aber in der Praxis weiter gerichtet worden. Oder sehe ich das falsch? Kutscheidt: Man muß drei Phasen unterscheiden: 1815 kommt das Rheinland zu Preußen, sie hatten es schon seit 1814 besetzt. 1819 fällt die Entscheidung durch Kabinettsordre, das französisch-rheinische Recht in den Rheinlanden beizubehalten, die rheinische Justizverfassung wird eingeführt, der Appellationsgerichtshof wird errichtet. Aber erst 1823 fällt dann die Entscheidung, daß der Bau endlich begonnen werden darf. Sie sehen, trotz der scheinbar endgültigen Entscheidung von 1819 ging der Kampf hinter den Kulissen immer noch weiter. In der Zwischenzeit wurde weiter nach dem französischen Recht entschieden, auch die Gesetzessprache war französisch. Daniels hatte zwar schon für das Volk die französischen Gesetzesbücher ins Deutsche übersetzt, die Rechtssprache war aber immer noch französisch. Auch die Gerichtsorganisation und die Prozeßordnungen waren weiterhin französisch. So gab es weiterhin die von den Franzosen eingerichteten Appellationshöfe in Trier und Düsseldorf, die deutsche Abteilung des Appellationshofes in Lüttich war nach Köln verlegt worden. Erst als 1819 die Entscheidung fiel, die rheinische Justizverfassung einzuführen und den Appellationsgerichtshof in Köln zu errichten, wurde das weiterhin anzuwendende französische Recht zum preußischen Recht. Steiger: Was ja auffällt, Herr Kutscheidt, ist die erhebliche Diskrepanz zwischen dem Kampf um diesen ersten Bau, möglichst billig, möglichst sparsam, immer wieder zurück, ist zu teuer, der aufwendige erste Grundriß
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wird immer wieder zurückgewiesen und dann 1870 ff. w i r d dieses Riesenbauwerk errichtet. Sie haben es eingehend mit seinem äußeren Schmuck geschildert. Sie haben auch gesagt, welche Symbolkraft in den einzelnen Schmuckgegenständen, aber auch in den Bauteilen sich ausdrücken soll. Die Frage ist, woran liegt es eigentlich, daß nun so aufwendige gebaut wird? Ist das wirklich nur damit zu erklären, wie Sie einmal gesagt haben, daß nach der Reichswerdung etwas Neues passieren soll, daß der Justizpalast in Brüssel, der ja wirklich eine drückende Architektur ist, zwar nicht wiederholt werden soll, aber als Anregung dient. Preußen bzw. das Reich w i l l genauso groß bauen. Ist es überhaupt Preußen, was da baut oder ist es das Reich, was da baut? Das wäre auch noch zu fragen und insofern würde ich doch gerne noch ein bißchen mehr über die Gründe wissen - jetzt nicht über die Aufteilung, daß das Gericht ein funktionaler Bau ist, ist ja auch bemerkenswert. Das haben Sie ja sehr deutlich gerade an diesen Treppenaufhängern usw. gezeigt, aber auch i n dieser repräsentativen Seite, was kommt da zum Ausdruck, wo ist da der Wandel? Kutscheidt: Also, ich glaube, das hat zwei Gründe. Zum ersten war Preußen damals i n den zwanziger Jahren wirklich sehr arm und mußte sehr sparen. In den siebziger Jahren prosperierte die Wirtschaft und damit flössen auch die Steuern. Das darf man nicht unterschätzen. Das zweite, und für mich mindestens ebenso wichtige ist, daß man mit dem Bau von 1824 ein Gebäude für eine Gerichtsorganisation etablierte, die man im Grunde nicht haben wollte. Während man 1879 in einer ganz anderen Situation war. Da war das Reich gegründet, der preußische König war Kaiser, der Staat identifizierte sich mit der Justiz und brachte gerade deren Gebäude auch als Zeichen der Macht und der Repräsentanz des Staates hervor. Wir haben im Gebäude immer noch den preußischen Adler an den Geländern, es war also ganz bewußt ein Bau des Königs, deshalb auch die Skulpturen von Wilhelm I. und Wilhelm II. an der Außenfront. In der Bestallungsurkunde des Königs für den ersten Oberlandesgerichtspräsidenten 1879, das war der alte Appellationsgerichtshofpräsident, der wurde jetzt Oberlandesgerichtspräsident, heißt es, daß er Uns und Unserem Königlichen Hause in unverbrüchlicher Treue ergeben bleiben solle. Das war damals die übliche Floskel, aber es war eine Identifikation des Staates auch mit dieser Gerichtsbarkeit. [Zwischenruf:]
Also im preußischen Raum!
Kutscheidt: Das würde ich so nicht sagen. Denn diese Bauten entstanden ja überall. Es gab kaum eine der großen Residenzstädte, in denen nicht ein großes Gerichtsgebäude errichtet wurde, Dresden, München usw. Wenn Brüssel schon so etwas baute, mußte man Vergleichbares auch haben. Der Kölner Bau war sicherlich die typisch preußische Ausformung und Variante, aber ich würde nicht so weit gehen zu sagen, daß es etwas typisch
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Preußisches war. Sehen Sie sich einmal den Grundriß des Brüsseler Justizpalastes an, man baute damals so. Landau: Ja, ich würde auch meinen, daß es sich natürlich bei dem Bau dieser riesigen Gebäude um ein internationales Phänomen im Europa des 19. Jahrhunderts handelt. Wobei man vielleicht doch auch sehen muß, daß der Ursprung in großem Umfang doch wohl schon in Frankreich zu sehen ist. Der ganze Begriff „Palais de Justice" kommt ja aus Frankreich und das wandert nun über Belgien in die anderen europäischen Länder. Frankreich hat natürlich vorrevolutionäre Wurzeln mit der starken Stellung der Justiz im Ancien Régime. Und im 19. Jahrhundert, das habe ich ja damals in dem von Ihnen erwähnten Aufsatz versucht auszuführen und ich würde eigentlich daran auch festhalten, ist die Justiz eben ganz zentral. Das Bürgertum erreicht den Rechtsstaat und das symbolisiert sich in dieser Architektur, ich habe damals von Kathedralen des Rechtsstaats gesprochen und würde eigentlich daran festhalten wollen. Und es ist vielleicht noch ein Gesichtspunkt zu erwähnen, der mir immer deutlicher wird, seit ich in München bin. Diese Justizpaläste werden besonders aufwendig dort errichtet, wo es gewisse Probleme gibt mit der eigenen Staatlichkeit. Das ist bei Belgien natürlich ganz evident und spielt auch immer eine ganz große Rolle, daß man hier Belgique darstellen möchte. Und bei Bayern darf man nicht vergessen, daß in der Prinzregentenzeit die beiden wichtigsten Gebäude, die in München errichtet werden, der Justizpalast und das Nationalmuseum sind. Beides große Bauunternehmungen, wobei dann übrigens beim Justizpalast der Barockstil übernommen wird. Der Justizpalast ist ja weitgehend in der Fassade eine Imitation des Schlosses von Pommersfelden, übrigens auch mit diesem Treppenhaus. Diese riesigen Treppenhäuser, die sie dann bei Berliner Gerichten finden, das ist auch natürlich eine Architektur, die imponieren soll. Denn sie sind ja eigentlich gar nicht so recht funktional. In Berlin ist dann ein Hauptbeispiel das in der deutschen Geschichte später ganz anders verwendete Kammergerichsgebäude, das eines der letzten Beispiele ist vor 1914, wo dann über Jahrzehnte der Kontrollrat gesessen hat. Und schließlich, wenn man sich mit der Frage beschäftigt, wie weit benutzt man die Justiz oder dient die Justiz der Schaffung von einem Staats- und Nationalbewußtsein, darf man auch nicht vorbeigehen an dem römischen Justizpalast. Er ist ja jetzt wegen Baufälligkeit, glaube ich, vollständig geräumt. Aber wenn man durch Rom geht oder sich die Stadt von einem der Hügel ansieht, fällt es doch auf, daß der Justizpalast in Rom eigentlich das Gegenstück zum Vatikan ist. Er ist in unmittelbarer Nähe errichtet, er ist ein riesiger Bau, es gibt in Rom kein großes Parlamentsgebäude, es gibt überhaupt keinen Neubau für das Parlament, aber es gibt dieses scheußliche Denkmal für König Viktor Emanuel II. und es gibt den Justizpalast. Das sind für diese bürgerlichen Nationalstaaten ganz entscheidende öffentliche Gebäude. Auch zum Reichsgerichtsgebäude, über das ja neuerdings auch kunst-
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historisch geforscht wird, könnte man eine Menge sagen. Ich selber habe ja gewisse Bedenken gehabt und sie auch geäußert, daß das nun der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Verfügung gestellt wird. Auch da ist ja ein Traditionsbruch, daß das oberste Verwaltungsgericht aus Berlin nach Leipzig geht und das oberste ordentliche Gericht nicht wieder nach Leipzig kommt. Es ist dieses Gebäude auch insofern gut erhalten, als da eine ganze Reihe von Glasgemälden sind, die seinerzeit von einzelnen deutschen Städten gestiftet wurden und heute noch erhalten sind. Das ist wirklich eine Art Reichsarchitektur. Und der Reichsgerichtspräsident scheint in Leipzig auch fast so etwas wie ein offizieller Repräsentant des Kaisers gewesen zu sein. Wir haben es hier mit einem interessanten Erbe, würde ich meinen, der wilhelminischen Zeit zu tun, daß wir zum einen in diesem rheinischen Beispiel sehr deutlich verfolgen können, aber auch darüber hinaus, und zeigt, welche Bedeutung die Justiz gewonnen hatte, daß man derartige Bauten errichtet und letztlich nicht mehr wie 1823 zögert. Das erwähnte Gebäude in Celle, das darf man vielleicht anekdotisch nachtragen, das ja in der Zeit von Ernst August errichtet wird, darf, glaube ich, zwei Jahre nicht eingeweiht werden, weil der König, der den Schlüssel übergeben muß, sich über die Justiz geärgert hat, natürlich in Zusammenhang mit 1837 auch und einfach nicht zur Einweihung kommt. Erst nach zwei Jahren ist Ernst August gekommen und hat das Celler Gebäude, das noch heute erhalten ist, eröffnet. Jedenfalls eine Entwicklung, die man eng sehen muß im Zusammenhang mit dem bürgerlichen Rechtsstaat und natürlich auch zu den Reichsjustizgesetzen; eine einheitliche Justiz in Deutschland verlangte eben auch große repräsentative Gebäude mit stilistischen Gemeinsamkeiten. Kutscheidt: Nur ein Wort dazu. Was auffällt, ist, daß der Staat nicht nur die Justiz anerkennt, sondern, wenn ich das mal so salopp sagen darf, gewissermaßen mit ihr protzt. Man ist stolz auf die Justiz und man zeigt sie her. Der Justizpalast hat größer und prächtiger zu sein als das Regierungspräsidium und als die Hauptpost. Vergleichen Sie das mit einem heutigen Gerichtsbau, der Stellenwert der Justiz ist heute ein ganz anderer. Symptomatisch ist für mich auch das Selbstverständnis und der Selbststolz der Justiz, im Appellhof stand an hervorragender Stelle: Justitia fundamentum regnorum. Das fand auch in gewisser Weise Ausdruck durch das Gebäude. Sie erwähnen die Wappenfenster im Reichgsgericht, auch das hat Parallelen und Vorbilder in Köln. Der alte Senatssaal des Oberlandesgerichts hatte Glasfenster, in denen die Wappen aller Städte und Gemeinden des Bezirks des Oberlandesgerichtes von Kleve bis Saarbrücken aufgenommen waren. Alle Gemeinden waren gebeten worden, ein Exemplar ihres Wappens einzusenden und viele schrieben dann, sie möchten das aber wieder zurück haben, weil die Anfertigung zu teuer gewesen wäre, etwa wenn die Wappen in Silber und Gold ausgeführt waren. Auch dieses Fenster zeigte die Stellung, die nunmehr die Justiz im Staate einnahm.
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Dölemeyer: Ich möchte nur ganz unterstreichen, daß hier auch um die Selbstwahrnehmung und die Selbsteinschätzung der Justiz und der Richterschaft geht. Es ist ganz charakteristisch, daß dies erst für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts festzustellen ist. Ich möchte nur ein Beispiel aus der Jahrhundertmitte bringen, daß das damals noch nicht so war. Der kurzzeitige österreichische Justizminister Anton Ritter von Schmerling hat 1849 bis 1851 erstmals kurz nach der Revolution die Gewaltentrennung durchgesetzt und er erzählt in seinen Memoiren, daß er in der Monarchie umhergereist sei und alle neu eingeführten Gerichtshöfe persönlich eröffnet habe mit einem gewissen Prunk, um die Wertschätzung der Justiz gegenüber der Verwaltungsbeamtenschaft zu heben. Das gelang ihm für kurze Zeit, aber dann kam die Zeit der Reaktion und der Ansatz ging wieder verloren. Der 1881 eingeweihte Justizpalast in Wien steht für die Vollendung einer Entwicklung, die man vielleicht 1848/49 begonnen hat, die aber dann erst zu Ende geführt worden ist. Kutscheidt: Die Wertschätzung galt für die Gerichtsbarkeit als solche. Die Richterschaft wurde doch sehr differenziert betrachtet. Sie war in Klassen eingeteilt und nur die höheren Klassen waren hoffähig. Im Verhältnis etwa zum Militär wurden die Richter selbst eher bescheiden behandelt. Es gibt ein schönes Beispiel: Als das Gericht gebaut wurde, schaffte sich der Oberlandesgerichtspräsident für 75 Mark einen gepolsterten Stuhl an. Das mußte natürlich von Berlin genehmigt werden. Und so schrieb der Justizminister, die Anschaffung von Polsterstühlen sei an anderen Orten prinzipiell abgelehnt worden. Da der gepolsterte Sessel aber bereits angeschafft sei, wolle er ausnahmsweise von einer Beanstandung absehen, ersuche jedoch Euer Exzellenz (das war der OLG-Präsident) und Euer Hochwohlgeboren (das war der Generalstaatsanwalt), in künftigen Fällen nach dem gedachten Prinzipe verfahren zu lassen. Das heißt also, großzügig war man nur bei der Repräsentanz nach außen, die Richter selbst wurden eher knauserig behandelt. Schindling: Ich habe mir gerade überlegt, dass die Justipaläste des späteren 19. Jahrhunderts sehr oft im Stil der Neorenaissance oder des Neobarocks errichtet worden sind. Die Vorbilder für Renaissance-Architektur können dabei aus Italien oder aus Deutschland genommen sein. Im Stil der Neogotik wurde möglicherweise seltener für die Justiz gebaut. Der Historismus des 19. Jahrhunderts hat ja bei der Wahl der Stile jeweils Bedeutungen unterlegt. Dies ist sozial- und verfassungsgeschichtlich wichtig. Das Bürgertum hat eine Affinität zu neogotischer Architektur. Wenn die Bürger sich ein neues Rathaus bauten, dann wählten sie für die bürgerliche Repräsentations-Architektur gerne die Neogotik. Denken sie etwa an das Rathaus am Ring in Wien. Demgegenüber sind Renaissance und Barock herrschaftliche Stile. Wenn der Justizpalast architektonisch an die Renaissance oder an das 13 Der Staat, Beiheft 15
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Barock anschließt, dann w i r d er architektursymbolisch mehr der monarchischen, der herrscherlichen Sphäre zugeordnet als der bürgerlichen, genossenschaftlichen Sphäre. Entsprechend werden im Justizgebäude auch Bilder des Monarchen angebracht. Ich weiß nicht, ob das jetzt eine übertriebene architektursymbolische Interpretation ist - dies wäre noch zu überprüfen. Aber ich habe den Eindruck, dass das Beispiel eines Justizpalastes, das wir hier eindrucksvoll vorgestellt bekommen haben, Architektur der konstituionellen Monarchie ist. Insofern kann nur mit Einschränkungen von Architektur des bürgerlichen Rechtsstaates gesprochen werden. Der konstitutionelle monarchische Staat war natürlich auch ein Rechtsstaat, und der Rechtsstaats-Charakter der Monarchie wird hier architektonisch ausgedrückt. Willoweit: Zu dieser Diskussion zwischen Herrn Landau und Herrn Schindling möchte ich einen weiteren Aspekt beisteuern, der überwiegend gar nicht von mir stammt. Zunächst einmal ist uns allen aufgefallen, daß dieses erste Gebäude als repräsentative Schauseite einen offenen Hof hatte, in den das Publikum hineinströmen konnte. Das erweiterte Gebäude hat dann eine große repräsentative Fassade, das ist ja geradezu das Gegenteil. In seiner Habilitationsschrift über die Entstehung des modernen Strafprozesses hat Alexander Ignor die These vertreten, der Strafprozeß sei - mit einem Worte von Mittermaier ausgedrückt - der Versuch, Freiheit und Sicherheit zu harmonisieren. Das heißt, das Bürgertum ist nicht nur darum besorgt, daß jetzt ein ordentlicher rechtsstaatlicher Prozeß stattfindet mit allen Freiheitsgarantien und obrigkeitliche Willkür ausgeschlossen ist, sondern es legt jetzt Wert auf den Schutz seiner Güterwelt und auf Teilhabe an der politischen Macht, die ja bis zu einem gewissen Grade erreicht ist. Es steht jetzt in der Gesellschaft gewissermaßen auf der anderen Seite. Das meine ich, drücken die Fassaden aus. Landau: Nur ganz kurz: Was die Architektur betrifft, gibt es allerdings auch Beispiele gotischer Architektur bei Justizgebäuden. In München steht neben dem Justizpalast ein ergänzendes Gebäude für das Landgericht, das wenige Jahre später in Bachsteingotik errichtet wurde, übrigens von demselben Architekten, nämlich Thiersch. Also man hielt schon die Architekturstile offenbar für austauschbar. Was den genossenschaftlichen Charakter betrifft, so wird man in der Tat zugeben müssen, daß natürlich diese Justiz insofern herrschaftlich geprägt ist als sie ausgeübt wird im Namen des Königs. Die Staatsgewalt in der konstitutionellen Monarchie liegt beim Monarchen und insofern kann man natürlich sagen, es ist die herrschaftliche Sphäre, aber erkämpft wird natürlich der bürgerliche Rechtsstaat im wesentlichen von den Nationalliberalen. Und insofern glaube ich, kann man das Epithaton bürgerlich verwenden. Vielleicht sollte man in dem Zusammenhang auch noch kurz einen Punkt erwähnen, der die Skulpturen
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an solchen Gebäuden betrifft. Wenn ich das damals richtig verfolgt habe, tritt da nämlich eine gewisse Auswechslung ein. In der Tradition steht es, daß Justinian dargestellt wird in solchen Skulpturen, aber schon beim Reichsgericht, und ich glaube auch sonst bei Justizgebäuden wird es dann die deutschrechtliche Tradition. Da hat man dann plötzlich Eike von Repgow und hat Schwarzenberg und in einigen Fällen auch Suarez. Das würde dann auch eher darauf hindeuten, daß das nicht mehr rein herrschaftlich geprägt ist, wenn man sich etwa auf Eike von Repgow als Kronzeugen für die deutsche Rechtsentwicklung beruft. Dippel: In Antwort auf Herrn Schindling möchte ich nur darauf hinweisen, daß das Hamburger Rathaus Neorenaissance und nicht Neugotik ist. Doch zurück zu Herrn Kutscheidt und dem so eindrucksvoll thematisierten Zusammenhang zwischen Architektur und Verfassung oder - direkter - zwischen Gerichtsarchtitektur und politischer Macht: Drückt sich darin nicht zugleich symbolhaft aus, daß im Kaiserreich Recht nicht im Namen des Volkes, sondern im Namen des Kaisers bzw. Königs gesprochen und dieser also als Quelle des Rechts hypostasiert wurde? Barmeyer-Hartlieb: Die Frage des Baustils, insbesondere der Gotik, ist im 19. Jahrhundert sehr stark unter nationalen Gesichtspunkten - nicht nur unter Architekten - diskutiert worden. Sowohl Franzosen als auch Deutsche argumentierten - wenn sie den gotischen Baustil aufnahmen und propagierten, - dieser sei der auf ihre Nation ursprünglich zurückgehende und der ihrer Nation eigentümlich gemäße und daher seien sie auch die berufenen Wahrer und Fortsetzer dieser Tradition. Somit kommen sehr stark weltanschaulich-ideologische Momente nationalen Selbstverständnisses, nationaler Identität mit ins Spiel. Nicht zufällig w i r d der Kölner Dom zum Nationaldenkmal schlechthin. Dazu hat bekanntlich Nipperdey vor Jahren einen inzwischen schon klassisch zu nennenden Aufsatz geschrieben. Becker: Gerade der Gedanke des gotischen Rathauses geht von Köln aus, von Reichensperger. August Reichensperger war inspiriert durch die englische Gotik und durch den Wiederaufbau und Weiterbau des Kölner Domes; er propagierte mit viel Einsatz, daß die Rathäuser in Deutschland gotisch gebaut werden müssten. Lingelbach: Zu der Neogotisch/Neorenaissance nur so viel: Ich bin nicht genügend Kunstexperte. Aber das waren doch immer sehr kurze Zeiträume, in denen diese Neostile dominierten. Sind das nicht auch mit Zufälligkeiten, wenn in dieser Zeit bestimmte repräsentative Bauten entstanden, so gerade bei der Neogotik? Ich kann es nur für den Thüringer Raum in etwa überschauen, weil ich mich da auch intensiv damit befaßt habe. Da war es 13*
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auch mit von solchen Zufälligkeiten abhängig. Ganz im Konkreten: Das Jenaer Oberlandesgericht zum Beispiel ist aus Reparationszahlungen der Franzosen, als Folge des deutsch-französischen Krieges, finanziert worden. Der Stil war dann der Zeit geschuldet. Aber möglicherweise folgt dies auch anderswo Zufällen. Kutscheidt (zusammenfassend zu den Beiträgen von Schindling, Willoweit, Landau, Dippel, Barmeyer-Hartlieb, Becker und Lingelbach): Es gibt nicht viel dazu zu sagen, es ist alles richtig, was gesagt worden ist. Ich glaube einfach, man muß sich vergegenwärtigen, daß das, was wir heute als Einzelstücke sehen, damals weitgehend Fließbandarbeit war. Über dreihundert Gerichtsgebäude allein im Preußischen Ministerium für öffentliche Bauten, nur für Großberlin und den Westen von Preußen, allenthalben wurde gebaut. Und wenn man mal zum Renaissancestil gegriffen hatte, dann hatte man die Vorlagen dazu schon fertig und benutzte sie auch weiter. Also, ich weiß nicht, ob man die Bedeutung des Stils sehr hoch ansetzen soll, gewiß gab es aber eine gewisse Vorliebe für den Renaissance-Stil. München fällt dabei mit seinem Neubau etwas aus dem Rahmen, aber das ist für Bayern nicht ungewöhnlich. Was sicherlich richtig ist, es waren Gebäude des Monarchen, des Repräsentanten des Staates, das war ganz sichtbar nach außen dokumentiert, sollte es auch. Die Bauten waren ein Zeichen der Repräsentation der Macht. Aber ich w i l l das nicht so negativ sehen, es ist ja doch ein Wandel, wenn der König sich der Justiz als Repräsentant seiner Macht bedient. Das hätte er 50 Jahre vorher mit Sicherheit nicht getan.
M u s i k u n d Verfassung Von Gerhard Robbers, Trier*
Es gibt Verfassungstexte, die sind wie Musik. Sie klingen, wirken wie Hymnen und sind als Hymne gedacht. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt", ist Gedicht und Gesang. „Bundesrecht bricht Landesrecht", das hat als Satz lyrische Qualität. „ I m Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen", dies setzt den Ton der Verfassung. Es gibt Musik, die ist wie Verfassung. Der Gefangenenchor aus Nabucco, die Musik, ist mehr als nur heimliche Hymne Italiens, sie eint, repräsentiert und verpflichtet. Die Marseillaise drängt, treibt, sie reißt mit, schlägt in ihren Bann, ähnlich die Internationale und ähnlich auch die Hymne der Vereinigten Staaten von Amerika. „Hierauf müssen die Vorsteher der Stadt halten, daß es ihnen nicht unvermerkt in Verfall gerate, sondern sie dieses ja vor allen Dingen verhüten, daß irgend etwas geneuert werde in der Gymnastik und Musik gegen die Einrichtung, vielmehr sie diese aufs möglichste aufrecht halten... Denn Gattungen der Musik neu einzuführen, muß man scheuen, als wage man dabei alles; weil nirgends die Gesetze der Musik geändert werden, als nur zugleich mit den wichtigsten bürgerlichen Ordnungen", läßt Piaton in der Politela Sokrates sagen1 - in der Tradition ägyptischer Herrschaftsdoktrin des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts, nach der nur solche Musik geduldet werden könne, die die Leidenschaft bändige 2 . Vertraut man dem erschließt sich, warum die Musik der Beatles, der Rolling Stones Eltern und Jugend mehr entzweit hat als es Geschmacksfragen * Im Sommersemester 1998 und im Wintersemester 1999 hat an der Universität Trier ein Forschungsseminar zum Thema Musik und Recht stattgefunden, das wesentlich von Studenten gestaltet worden ist; auf musikalischer Seite hat besonders auch Herr Thomas Rath mitgewirkt. Der nachfolgende Text hätte ohne die Ergebnisse dieses Seminars nicht erstellt werden können. Die im Rahmen der Veranstaltung verfaßten Referate können eingesehen werden unter http://www.uni-trier.de/ robbers/www/material/ssl998/5011/5011.htm. Allen Teilnehmern des Seminars bin ich dankbar. 1 Platon, Ppliteia, IV. Buch, Kap. 3; 424 b, c, zitiert nach: Piaton, Sämtliche Werke, Bd. 3, i n der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, hrsg. von Walter F. Otto/Ernesto Grassi/Gert Plamböck. 2 Gerhard Nestler, Geschichte der Musik, 1962, S. 30.
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zuzutrauen wäre. D'Alembert in seiner Schrift über die Freiheit der Musik läßt seine - ironisch - großen Politiker sagen: „Alle Freiheiten hängen zusammen und alle sind gefährlich. Die Freiheit der Musik bedeutet die Freiheit des Empfindens, diese die Freiheit des Denkens, die Freiheit des Denkens die des Handelns und die ist der Ruin des Staates. Erhalten wir also die Oper wie sie ist, wenn wir das Königreich erhalten wollen. Begrenzen w i r die Freiheit des Singens, damit die Freiheit der Rede nicht alsbald folge. Manche halten Buffonist, Republikaner, Fraudeur, Atheist - nicht zu vergessen Materialist für Synonyma" 3 . Daniel Auberts Oper „Die Stumme von Portici" gab in ihrer Brüsseler Erstaufführung von 1830 das Signal zum Aufstand der Belgier gegen die Niederländer und damit zur Gründung des belgischen Staates und seiner Verfassung. Die Hälfte des ganzen Werkes ruht auf Marschmusik, leidenschaftliche, aufwühlende Töne herrschen vor. Revolutionsgesänge unterscheiden sich von Wiegenliedern, Soldatenlieder von Kirchengesängen. Der Stadiongesang vor dem Fußballspiel trägt Verfassungsfunktion für die Fangemeinde, die Einmarschmusik des Boxweltmeisters für die Boxwelt. Wenig Verfassungsunmittelbares trauen freilich die klassischen Staatsutopien, Morus Utopia, Campanellas Sonnenstaat und Bacons Neu-Atlantis der Musik zu, sie tritt in den Hintergrund, bleibt der Sphäre der Religion und des Kultes zugeordnet. Immerhin scheint bei Thomas Morus die Fähigkeit und Eigenschaft der Musik auf, geistige Inhalte zu vermitteln und zu verstärken: „ . . . die Führung der Melodie gibt den Sinn der Worte so deutlich wieder, daß sie die Herzen der Zuhörer wundersam ergreift, durchdringt und begeistert" 4 . Bei Campanella ertönt Musik und Gesang von Frauen, dann Pauken, Trompeten und Böller zu den Festtagen der Civitas Solls 5 . Verfassung möchte ich hier verstehen wie der verfassungsgeschichtlich verehrenswürdige Henry Ireton, Schwiegersohn Cromwells und dominierender politischer Kopf der Cromwellschen Revolutionsarmee, in den Debatten über das Agreement of the People von 1647 gemeinsam mit Cromwell selbst 6 im Anfang der Verfassungsbewegung Verfassung verstanden hat. Es ist das Wesentliche, the fundamentals, das die Verfassung, the constitution, bestimmt. Freiheit und Friede, Herrschaft und Gericht, Vertrag, Strafe, 3 D'Alembert, De la Liberté de la Musique, in: Œuvres complètes de d'Alembert, Tome Premier, Slatkine Reprints, Genf 1967, S. 520 f. (Übersetzung vom Verfasser). 4 Thomas Morus, Utopia, 2. Buch, 30 g, in: Der utopische Staat, übersetzt und hrsg. von Klaus J. Heinrich, Rembek 1960, S. 105; zur kultischen Funktion von Musik vgl. Musik und Religion, in: Theologische Realenzyklopädie, 1994, S. 441 ff. 5 Thomas Campanella, Der Sonnenstaat, ebd. S. 155. 6 Vgl. A.S.P. Woodhouse, Puritism and Liberty, The Putney Debates, S. 1, 52, London 1938.
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Schuld und Sühne auch, Menschenrechte und Gesetz, Revolution, Nation und Volk, Staat und Demokratie - das Recht, dieses in seinem Wesen, seiner Eigentlichkeit, in dem worauf es ankommt. Wie nehmen Komponisten dies auf, wie wird es musikalisch umgesetzt? Wenn man in Haydns Schöpfung das Licht hört und in Smetanas Moldau - wie klingt dann Freiheit? Und Freiheit hat einen Klang, viele Klänge, auch Herrschaft klingt, gute und schlechte. Verfassung wird gemalt, in den Herrscherportraits des Barock mit aller Symbolik, Krone und Schwert, Zepter, Vorhang, Säule und in der Aufteilung des Bildes. Anders malt sich Ludwig XVIII, eben wie ein Bürger tätig im Kontor, die Plätze in der Bildmitte frei für die Bürger. Verfassung wird gebaut, in der Schloßarchitektur von Würzburg nicht anders als in Versailles. Das Schloß als Zentrum, deutlich in Karlsruhe, als Klammer und Segnung in der Mitte der Welt, von Stadt, Garten und Natur, ausstrahlend in rationaler Durchdringung aller Verhältnisse. Das Schloß von Versailles, als Verfassung des absolutistischen Frankreichs, nimmt selbst die Religion in sich auf, die Kirche im Grundriß und auf der Erde gleichgestaltet wie der Prinzensaal, nur nach oben anders und besonders, das Schloß auch als Verbindung der Herrschaft zum Himmel. Ähnlich die Stadt, Mannheim, Barcelona oder New York, in bürgerlicher Gleichheit die Straßenzüge, die Stadt als Utopie. Heute die demokratische Durchsichtigkeit des Rechts im Glasbau des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungspostulat, demokratische Durchsichtigkeit der Politik im Bonner Bundestag. Die Glaskuppel über dem Bundestag - oder doch Reichstag - in Berlin knüpft daran an, oder ist es die säkularisiert-religiöse Botschaft des höheren Lichts, die Durchbrechung der Grenze zwischen Weltlichkeit und Transzendenz wie i n der Vollendung und Überwindung der Gotik im durchbrochenen, Erde und Licht verbindenden Turm des Freiburger Münsters? Wenn alle Welt der Kunst Verfassung kennt, dann mag die Musik kaum zurück stehen. Dann liegt nicht nahe, daß Musik ohne Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit sei, dann leuchtet nicht ein, was Hans Heinz Stuckenschmidt sagt: „1. Analogien gesellschaftlicher und musikalischer Phänomene sind rein zufällig und ohne Beweiskraft. Bestenfalls dienen sie statistischen Zwecken. 2. Die Mehrzahl der künstlerischen, namentlich der musikalischen Erscheinungen ist unabhängig von, ja steht oft in Widerspruch zu den gleichzeitigen Sozialzuständen" 7 . 7 Hans-Heinz Stuckenschmidt, Kritisches über Soziologie der Musik, in: Hermann Danuser (Hrsg.), Das musikalische Kunstwerk. Geschichte - Ästhetik - Theorie. Festschrift für Carl Dalhaus zum 60. Geburtstag, Laaber 1988, S. 125; vgl. demgegenüber auch Everett Helm, Music and Tomorrouts Public, New York/Wilhelmshaven 1981, S. 15 f.; Alhrecht Riethmüller, Die Musik als Abbild der Realität, Wiesbaden 1975; Luise Rinser, Die Aufgabe der Musik in der Gesellschaft von heute, Frankfurt/Main 1986; Hans Heinrich Eggebrecht, Funktionale Musik, Archiv für Musikwissenschaft X X X / 1 (1973), S. 1 ff.
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Über Mehrzahl ist hier nicht zu streiten - das ist selbst nur statistisch sondern über Einschlägiges. Und der Widerspruch zu den gleichzeitigen Sozialzuständen wirft die Frage nach Zusammenhang und Funktion des Widerspruchs gerade erst auf. Künstler sind die Seismographen sozialer Umbrüche, das ist feuilletonistische Allerweltsweisheit. Früh und wirkkräftig, auch in unmittelbarer Auseinandersetzung sieht man bei ihnen den Widerspruch zu bestehenden Zuständen, gerade zu denen von positivem Recht und herrschender Verfassung: revolutionäre Musik in den Revolutionsliedern von 1848, zurückgezogen ambivalentes Musikerschicksal eines Schostakowitsch mit seiner Menschenrechtsmusik 8 , Viktor Ullmanns Aufruf zum Widerstand in Theresienstadt - seine Einleitung und Grundstimmung für den Kaiser von Atlantis, zitiert in der Siebten Klaviersonate ist die Dissonanz des Tritonus, im Mittelalter gemieden, ja verboten als diabolus in musica 9 . Das Recht der Bedrückten bricht sich musikalisch Bahn. Mancher Komponist lebt in diesem Bewußtsein, Luigi Nono etwa, wenn er von sich sagt, es mache für ihn keinen qualitativen Unterschied, „ob ich eine Partitur schreibe oder einen Streik organisieren helfe" 1 0 . Das Genie Mozarts in der Hochzeit des Figaro liegt doch nicht darin, ein sozialkritisches Libretto mit nur netten Klängen ummantelt zu haben. Musik trägt, stützt und stürzt Verfassung. „Die Gewalt der Marseillaise, des Ça ira. .. in der Französischen Revolution ist nicht zu leugnen", schreibt Hegel in der Ästhetik, „Die eigentliche Begeisterung aber findet ihren Grund in der bestimmenden Idee", schreibt er weiter, „ i n dem wahrhaften Interesse des Geistes, von welchen eine Nation erfüllt ist und das nun durch die Musik zur augenblicklich lebendigeren Empfindung gehoben werden kann, indem die Töne, der Rhythmus, die Melodie das sich dahingehende Subjekt mit sich fortreißen" 11 . Und als ein letzter Gewährsmann André Grétry: er habe „eine Revolution unter den musikalischen Künstlern entstehen und ausbrechen sehen" - den Buffonistenstreit, die Auseinandersetzung zwischen den Anhängern Glucks und Piccinis über die französische Oper - „die der großen politischen Revolution von 1789 voranging" 1 2 , und 8 Besonders die 5. Sinfonie (1937), die 11. Symphonie (1957), die 13. Symphonie (1962), vgl. Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 514; D. Gojowy, Dimitri Schostakowitsch, 1983, S. 92, 97. 9 Vgl. zu Viktor Ullmann: Daniel Marston, Die antroposophische Deutung des nazisitischen Völkermordes am Beispiel von Viktor Ullmanns i n Theresienstadt entstandener Oper ,Der Kaiser von Atlantis', in: Joachim Braun u. a. (Hrsg.), Verfemte Musik, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1997, S. 59 ff. 10 Vgl. Ernst H. Flammer,; Politische engagierte Musik als Kompositorisches Problem, dargestellt am Beispiel von Luigi Nono und Hans Werner Henze, Baden-Baden 1981, S. 25; Musik zwischen Engagement und Kunst, Graz 1972. 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Dritter Teil, Dritter Abschnitt, Zweites Kapitel, 1 c Wirkung der Musik, Theorie Werkausgabe Bd. 15, S. 158. 12 André-Ernest-Modeste Grétry, zitiert nach Georg Knepler, Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. I, Berlin 1961, S. 202.
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- im Gefolge Montesquieus - „Das Klima und die Regierungen beeinflussen die Musik. Die Musik beeinflußt unaufhörlich die Sitten. Die wahre Musik eines Volkes stimmt mit seinem Klima und seinen Sitten überein" 1 3 . Musik kann Revolution vorbereiten, sie auslösen wie Auberts Stumme von Portici. Musik kann Revolution aber auch anhalten, beschwichtigen, auch im Umbruch Verfassungsstabilisierend wirken. Wer erinnert sich an das Stück „Revolution" der Beatles - die Musik ist retardierend, gleichmäßig-beschwichtigend, aber sie spiegelt doch die Unruhe wider und nimmt sie auf, ist in Entscheidungsmomenten fest, entschieden und kraftvoll - für die bestehende Verfassung. Es war ein persönliches Empfinden in jener Zeit: Hätten die Beatles 1968 ihre musikalisch begründete Autorität benutzt, zur Revolution aufzurufen statt zur Besonnenheit und zur Versöhnung, welche Wendung hätten jene Jahre genommen. Die musikalischen Mittel hätten John Lennon und Paul McCartney gehabt. Wie war Woodstock? Doch auch Musik, Natur und Unmittelbarkeit in fruchtbarer Symbiose, als Fest Bezugspunkt und Identitätstraum für Viele. Kein Staat verzichtet auf eine Hymne. Seltener wird sie als Staatshymne komponiert, meist aus klassischem Bestand gewählt, der Charakter der Musik spielt doch auch eine Rolle. Der Rückgriff auf Bestehendes zeigt vielleicht den Anspruch auf generationenübergreifende Bedeutung des Staates und vielleicht täuscht auch der Eindruck nicht, daß die meisten Hymnen in der Zeit europäischer Staatsentstehung komponiert wurden. Georg Ress berichtet, wie der Schlußsatz von Beethovens 9. Symphonie, die Hymne „ A n die Freude", Hymne zuerst des Europarates und dann auch 1986 die der Europäischen Gemeinschaft wurde: Noch 1972 habe sich bei der erstmaligen Aufführung der Hymne des Europarates zwischen Duncan Sandys, dem Schwiegersohn Winston Churchills, und Lujo Toncic-Sorinj folgende Unterhaltung enwickelt: „What's this noise?" - „The European anthem." - „By whom?" - „Beethoven." - „Even worse!" 1 4 . Die Musik eines Deutschen, der sich der Kategorie deutsch entzieht, kann europäische Hymne werden; kann Musik von Feindschaft zu Frieden führen, Musik auch Verfassung überwinden? Liedtexte, Libretti tragen Verfassungsaussagen: Er hängt an keinem Baume, er hängt an keinem Strick, er hängt nur an dem Traume der freien Republik. Solche Texte sind vielfach untersucht auf ihre politischen, juristischen, staats- und verfassungstheoretischen Gehalte 15 . Die eigentlich musi13 Vgl. André-Ernest-Modeste Grétry, Memoiren, Wilhelmshaven 1978, S. 309 ff. 1 4 Georg Ress, Musik i m Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Maria Jesüs Montoro Chiner/Heinz Schäffer (Hrsg.), Musik und Recht. Symposion aus Anlaß des 60. Geburtstages von Prof. Dr. D Detlef Merten, Berlin 1998, S. 64. 15 Vgl. etwa Mechthild von Schoenebeck u. a. (Hrsg.), Politik und gesellschaftlicher Wertewandel im Spiegel der Musik, Essen 1992; Carl Dalhaus, Die musikgeschichtliche Bedeutung der Revolution von 1848, in: Melos 1978; Gerhard Matern,
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kaiischen, kompositorischen Dimensionen hat sich die Rechtswissenschaft allenfalls erst in Ansätzen erschlossen, etwa durch Peter Häberle, Michael Stolleis oder Hans-Jürgen Becker 16 . Diskussion und Ertrag der Musiksoziologie bleiben erst noch fruchtbar zu machen, musikalische Symbolik für die kulturelle Betrachtung des Rechts zu erschließen 17 . Am leichtesten über die Texte kann sich der Laie auch den Aussagen der Musik nähern. Bisweilen benutzen sie die Musik zum Effekt. Revolutionslieder von 1848 setzen oft einen neuen revolutionären Text zu alten, bekannten, eingängigen, meist einfachen Melodien. So konnten die Menschen mitsingen, im Gefühl einig sein. Der neue Text verfremdet oft, überrascht und prägt sich so ein. Zu weit ginge es wohl, wollte man hierin eine Parallele sehen zu den verfassungspolitischen Inhalten der Revolution von 1848, die doch an alten Formen der Monarchie durchaus festhalten wollten. Das ist nicht zuletzt auch ein altes Stilmittel der Demaskierung untragbarer Verfassungswirklichkeit etwa in The Beggars Opera von John Gay aus dem Jahre 1728. Den Zuhörern bekannte Musik, Lieder, Arien werden gespielt mit neuen Texten, Trivialtexte mit getragener Musik, im Kontrast von Text und Musik Oper und Anti-Oper gegeneinander gestellt, die alte Oper zerstört, die bürgerliche Gesellschaft als kriminelle demaskiert 18 . Schon die Instrumentalisierung kann Aussagen vermitteln. Trompeten und Posaunen sind Herrschaft und Gericht, Hörner Friede und Natürlichkeit. Kriegs- also auch Verteidigungsbereitschaft drücken Trommeln aus. Sozialistisch-revolutionäre Musik erfand neue Konnotationen: Maschinenmusik zum Ausdruck der Herrschaft der Werktätigen. Piaton w i l l alle vielseitigen Instrumente verbannen, Harfen, Zimbeln, auch Flöten. Die Lyra, die Kithara und für die Hirten eine Pfeife ist alles, was übrig bleibt 1 9 . Die große Bedeutung des Rechts in den Bühnendichtungen Richard Wagners, Bayreuth 1973; Wolf gang Schild, Staat und Recht im Denken Richard Wagners, Stuttgart u. a. 1994; Günther Schultz, Das Rcht in den Bühnendichtungen Richard Wagners, Köln u. a. 1962; Andrea Mork, Richard Wagner als politischer Schriftsteller, Frankfurt u. a. 1990, Georg Müller, Das Recht bei Richard Wagner, Berlin 1914; Thomas Koch, Recht, Macht und Liebe i n Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen", Baden-Baden 1997; Georg Müller, Recht und Staat bei Richard Wagner, ARSP XXVII, 1933/34, S. 214 ff.; auch Ernst von Pidde, Richard Wagners Ring des Nibelungen im Lichte des deutschen S traf rechts, 3. Aufl. Hamburg 1982. 16 Vgl. Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 512 ff.; Michael Stolleis, Komponierende Staatsrechtslehrer, in: K. Reichert u. a. (Hrsg.), Recht, Geist und Kunst, 1996, S. 373 ff.; Hans-Jürgen Becker, Herrschertugenden im Wandel. Zu Mozarts Krönungsoper „La clemenza di Tito", in: Gerhard Köbler/Hermannn Nehlsen (Hrsg.), Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschen, München 1997, S. 1 ff.; vgl. auch Michael Ronellenfitsch, Rock & Roll und Recht, Stuttgart u. a. 1998; Hans Engel, Musik und Gesellschaft, Berlin 1960, S. 257 ff. Vgl. Arnold Schering, Das Symbol i n der Musik, Leipzig 1941; Arnold Schmitz, Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik Johann Sebastian Bachs, London 1950; Vladimir Karbusicky, Sinn und Bedeutung in der Musik, Darmstadt 1990. 18 Bernbach, a. a. O., S. 71 ff.
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Die Tonarten mögen heute in den Hintergrund getreten sein, die Unterscheidung zwischen Dur als hart, kampfbereit, aber auch jubelnd und Moll als sanft und friedfertig tragen aber noch immer. Bei Piaton sollen nur die dorisch und die phrygisch genannten bestehen, weil sie Tapferkeit im Krieg und Gewalt, andererseits Vernunft und Besonnenheit, Friedfertigkeit und Frömmigkeit angemessen darstellen; die ionische und lydische dagegen sind als schlaff, klagend und weichlich mißachtet und haben keinen Ort in der Stadt, dessen Verfassung einzurichten ist 2 0 . Beethoven war empfänglich und differenziert. Die B-Tonarten, F-, B-, Es-, As-dur usw. empfand er als weich, die Kreuztonarten G-, D-, A-, Ε-dur als hart. Laut seinem Biographen Schindler sagt Beethoven über seinen Fidelio: „Wenn ich den Pizzaro dort, wo er seine verruchten Anschläge auf Florestan dem Kerkermeister offenbart, in grellen Tonarten (auch in Gis-Dur) singen lasse, so liegt der psychologische Grund in seiner individuellen Charakteristik, die sich in dem Duett mit Rocco in voller Blöße entfaltet, für welchen Ausdruck jene Tonarten mir die entsprechendsten Farben gegeben" 21 . C-dur tritt im Fidelio häufig auf, im Finale erscheint es als Ausgleich widerstreitender Mächte, die zuvor in den Tonartenfolgen Α-dur, D-dur, G-dur und dann C-dur dargestellt und ihr Konflikt in schrittweiser Vereinfachung gelöst wird. Das Libretto singt hier von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Immer wieder ist auch C-dur gewählt, wenn im Libretto der Begriff Glück erscheint, in Marcellines Arie (Nr. 2) ebenso wie selbst in Pizzaros (Nr. 7), wenn er vom Glück des Mordens spricht 2 2 . Musik folgt selbst Gesetzen, sie besitzt Verfassung. Gesetze der Musik gehen den Gesetzen der Gemeinschaft parallel. Sei Ernst Bloch als Kronzeuge berufen: „Die gleichschwebende, in Oktaven eingeengte Temperatur ist so sehr geschichtlich erzeugt, daß sie erst einige Jahrhunderte alt ist. Die Sonatenform mit dem Konflikt zweier Themen, mit Grundton, Durchführung, Reprise setzt kapitalistische Dynamik voraus, die geschichtete, gänzlich undramatische Fuge ständisch-statische Gesellschaft. Die sogenannte atonale Musik wäre in keinen anderen Zeitläuften möglich als in denen des spätbürgerlichen Verfalls, sie antwortete ihm als kühne Ratlosigkeit. Die Zwölftontechnik, welche das dynamische Verhältnis zwischen Dissonanz und Konsonanz, Modulation und Kadenz hinter sich läßt, um still-strenge Reihen zu bilden, wäre im Zeitalter der freien Konkurrenz undenkbar ge19 Platon, Politela, 4. Buch, Kap. X, 399 c - d ; in anderem Zusammenhang vgl. Christoph Peter, Die Sprache der Musik i n Mozarts Zauberflöte, 2. Aufl., Stuttgart 1997. 20 Platon, Politela, 4. Buch, Kap. X, 398 d-399; vgl. auch Hermann Albert, Die Lehre vom Ethos i n der griechischen Musik, 2. Aufl., Tutzing 1968. 21 Vgl. Sigismund von Gleich, Über die Wirkung der Tonarten in der Musik, Stuttgart 1993. 22 Ebd.
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wesen" 23 . In den einzelnen Zuordnungen, besonders in den Bewertungen wird man streiten müssen, und auch Richard Wagner warnt: „Ich habe nicht im Sinne, hier die Darlegung des Wesens der Oper als im Einklänge mit unserer politischen E n t w i c k l u n g stehend zu geben; der willkürlichen Wirkung der Phantasie ist hier ein zu beliebiger Spielraum geboten, als daß bei solchem Beginnen nicht die absurdesten Abenteuerlichkeiten ausgeheckt werden könnten" 2 4 . Aber es geschieht dies im Zusammenhang mit der Zurückweisung der nationalen Richtung in der Behandlung der Melodie, die gerade nach Wagner selbst doch eben vorgekommen war - diese nationale Behandlung der Melodie habe „ i n ihrer Bedeutung und Verirrung, endlich in ihrer immer klarer werdenden und ihren Irrtum kundgebenden Zersplitterung und Unfruchtbarkeit, zu viel Übereinstimmendes mit den Irrtümern unserer politischen E n t w i c k l u n g in den letzten vierzig Jahren, als daß die Beziehung hierauf übergangen werden könnte" 2 5 . Solche Bezüge und Parallelitäten bestehen. Die Musik mathematisiert sich im 17. Jahrhundert in besonders intensiver Weise 26 und mit spezifischem Bezug auf Pythagoras, und ebenso tut dies das Rechtsdenken. Die Verfassungsleistung des Absolutismus liegt in der Durchrationalisierung aller Verhältnisse, Verfassung wird gerechnet, konstruiert, dem Maschinenplan vergleichbar. Deduktive Logik zeigt sich in beiden, bis in die Konstruktion der Darstellung. Vivaldis Vier Jahreszeiten klingen, wie Christian Wolfs lus Naturae im Satzbild aussieht und alle großen juristischen Schriften seiner Zeit. Gleiches Denken, gleiches Verständnis liegt dem zugrunde. Smetanas Moldau, in der das Wasser fließt, der Wald wächst, das Licht klingt und der Bach zum Strom anschwillt, hat seine staatsrechtliche Parallele in den organischen Staatslehren des 19. Jahrhunderts, mit dem Staat als wachsendem, gewachsenem Organismus, bis in die Darstellungsweise der Lehrbücher hinein, in die Breite der Kapitel, in das Wuchern der Gedankenführung. Josef Essers „Grundsatz und Norm" ist Jazz, Karl Larenz „Allgemeines Schuldrecht" vielleicht Dadaismus. Richard Wagner selbst 23 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, S. 1258 f.; vgl. auch Hans-Werner Heister, Musik/Revolution. Festschrift für Georg Knepler zum 90. Geburtstag, Hamburg 1977. 24 Richard Wagner, Oper und Drama, erster Theil: Die Oper und das Wesen der Musik, in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, 3. Bd., 3. Aufl., Leipzig 1897, S. 259. 25 Ebd.; vgl. auch Otto Brusatti, Nationalismus und Ideologie i n der Musik, 1978, S. 74 zu sympohonischen Dichtungen, und passim; Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, S. 166; Helga de la Motte-Haber (Hrsg.), Nationaler Stil und europäische Dimension in der Musik der Jahrhundertwende, Darmstadt 1991. 26 Vgl. Tobias Gravenhorst, Proportion und Allegorie in der Musik des Hochbarock, Frankfurt/Main 1995, S. 19 ff.; zur Säkularisierung der Musik vgl. Helmut G. Koenigsberger, Musik und Religion im neuzeitlichen Europa, in: Grete Klingenstein/ Heinrich Lutz (Hrsg.), Spezialforschung und „Gesamtgeschichte", München 1982, S. 197 ff.; vgl. auch Manfred Büttner (Hrsg.), Wissenschaften und Musik unter dem Einfluß einer sich ändernden Geisteshaltung, Bochum 1992.
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sagt, „wenn die Meyerbeer'schen „Hugenotten" sich zu ihrer höchsten Spitze erheben, hören wir an ihnen, was wir an einem preußischen Gardebataillon sehen. Deutsche Kritiker nennen's ... Emanzipation der Massen" 27 . Amerikanische Popmusik klingt imperial, englische dagegen cute. Daß musikalischer Geschmack sich ändert, Hörgewohnheiten nach Wandel streben, mag auch an bloßem Überdruß des Publikums hängen oder an einer faktischen Erschöpfung der Variationsmöglichkeiten eines musikalischen Systems. Aber vielleicht ist es mit politisch-verfassungsrechtlichem Wandel nicht viel anders, und warum der Wandel die eine Richtung nimmt und nicht die andere, das ist die Frage. Epochen des Rechts finden ihre Entsprechungen in Epochen der Musik. Das Vernunftrecht geht der Barockmusik parallel, zu Johann Sebastian Bach etwa ist gesagt worden, auch das Sinnliche in seiner Musik ist jederzeit der Ratio Untertan 28 , die Sonderform der galanten Musik Frankreichs besitzt eine Entsprechung in der Jurisprudence élégante der Zeit und des Landes, die romantische Musik spiegelt sich im Historismus, die Nationalisierung des Rechts im Laufe des 19. Jahrhunderts besitzt Entsprechungen in der Nationalisierung der Musik. Wagners Musik spiegelt in der bewußten und ausdrücklichen Ablehnung des Chores zugunsten des individuellen Gesanges in der Theorie wie in der musikalischen Durchführung Individualismus und Gegenkraft zu Kollektivismus. Jean-Jacques Rousseau, in seinen musiktheoretischen Schriften ebenso wie in seiner Oper Le devin du village betont den menschlichen Gesang, die bloße Melodie als Ausdruck des Natürlichen, die Schlichtheit als Ablehnung des Gekünstelten und Künstlichen, Vorausentwurf der Romantik und Überwindung der Technizität des Absolutismus 29 . Der Eingangssatz des Contrat Social klingt hier an und Rousseau selbst bemerkt „nur wer Le devin du village hat komponieren können, war auch den Discours sur l'inégalité, den Emile und den Contrat Social zu schreiben imstande" 3 0 . Musik ist in derselben Gesellschaft, der die Verfassung rechtliche Struktur gibt. Sicher ist große Kunst stets auch höchstpersönlich; aber das Genie ist Genie, weil und indem es seine Zeit erfaßt und überwindet. Wie klingt Vertrag. Ein schönes Beispiel ist der Vertrag zwischen Coppelius und Spalanzani in Hoffmanns Erzählungen von Jacques Offenbach. Der Vertrag wird nach dem Libretto über die Rechte an der so beseelt singenden 27 Richard Wagner, a. a. O., S. 271; zu Chor, Masse und Gesellschaft auch Bruno Walter, Von den moralischen Kräften der Musik, Stuttgart 1987, S. 41. 28 Arnold Schering, Das Symbol in der Musik, Leipzig 1941, S. 47. 29 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Brief an Herrn Grimm über die italienische und die französische Oper, in: Peter Gülke (Hrsg.), Jean-Jacques Rousseau. Musik und Sprache, Leipzig 1989, S. 15. 30 Jean-Jacques Rousseau, Rousseau richtet über Jean-Jacques, in: Henning Ritter (Hrsg.), Jean-Jacques Rousseau, Schriften, Bd. II, S. 284; vgl. auch Peter Gülke, Rousseau und die Musik, Wilhelmshaven 1984.
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Puppe Olympia geschlossen. Schneller Rhythmus, fast durcheinander, sich überlagernd, gegensätzlich, dann plötzlich im Duett ruhig, gleichklingend und gleichmäßig, friedvoll. Zunächst das fast chaotische Hin und Her der Vertragsverhandlungen, der gegensätzlichen Interessen, dann Ausgleich, Übereinstimmung, Ruhe. Eine positive, doch auch ironisierende Zeichnung des Vertrages. Oft ist die Oper mit dem Staat parallelisiert worden 3 1 . Nicht so sehr wegen der vielfältig staatsbezogenen Gegenstände - wenngleich von ihrem Beginn an Politik und politische Herrschaft einer ihrer zentralen Gegenstände sind. Die Musik, besonders die Oper gewinnt seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert über die gesamte Zeit des Barock als Mittel der fürstlichen Selbstdarstellung überragende Bedeutung. Die Oper tritt mit ihrem wohl ersten Erscheinen bei Jacopo Peris' Dafne in Florenz 1597/98 mit Politik und Staat in die Welt. Monteverdis Anspruch der Oper auf eine ästhetische Reflexion gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge ist seither in diesem Genre nicht mehr aufgegeben 32 , er lebt bis heute auch im Musical, in der West Side Story, in My fair Lady, in Hair zumal fort. In Monteverdis L'incoronazione di Poppea haben Seneca und Nero auch musikalisch deutlich entgegengesetzte Partien von Vernunft und Willkür, Gemeinwohl und Privatinteresse, Staatstheorie und politischem Machtinstinkt 3 3 . Bei Lully sehen wir Oper selbst als Symbol der Staatswerdung im Absolutismus. Der Absolutismus bezieht alle Lebenszusammenhänge auf den Fürsten. Bei Lully wird alles - Bühnenbild, und -maschinerie, Dekoration, Ballett und Librettist nun integriert, auf die Musik bezogen. Lully schafft eine eigene Ouvertürenform aus den Bedürfnissen und objektiven Geschehnissen bei Hofe, um dem Fürsten, Ludwig XIV, angemessene Gelegenheit zu majestätischem Betreten des Opernsaales zu geben; Ouvertüre, Prolog, der Gesamtlauf der Oper werden zum Gesamtkunstwerk, das selbst das tatsächliche Geschehen bei Hofe einbezieht, zum stabilisierenden Verfassungsereignis 34 . Noch Wagner erklärt mit Rossini die eigentliche Geschichte der Oper als an ihrem Ende angelangt: „Wie Metternich den Staat mit vollem Rechte nicht anders, als unter der absoluten Monarchie begreifen konnte, so begreift Rossini mit nicht minderer Konsequenz die Oper nur unter der absoluten Melodie. Beide sagten: ,Wollt ihr Staat und Oper, hier habt Ihr Staat und Oper - andere gibt es n i c h t ! ' " 3 5 . 31 Etwa bei Richard Wagner, a. a. O., S. 255; vgl. Anthony Arblaster, Viva la Libertà! Politics i n Opera, London 1992. 32 Vgl. Udo Bernbach, Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht, 1997, S. 21. 33 Vgl. Udo Bernbach, a. a. O., S. 33. 34 Vgl. Georg Manten, Das Herrschaftsverständnis des französischen Absolutismus und die Musik von J.-B. Lully und M.-A. Charpentier. Referat im Forschungsseminar „Musik und Recht", Sommersemester 1998, Universität Trier, S. 9 f., http:// www. uni-trier. de/robbers/www/material/ss 1998/5011/5011 .htm. 35 Richard Wagner, a. a. O., S. 255.
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Wie klingt Herrschaft. Im Fidelio 3 6 gibt es zwei Beispiele: Die Ankündigung des Pizzaro und die Ankündigung des Ministers Don Fernando. Sie könnten unterschiedlicher kaum sein. Pizzaros Herrschaft ist Gewalt, falsch, Willkür, intermediäre Herrschaft, gegen die die Französische Revolution sich wesentlich auch wendet. Sie klingt durchaus auch trompetengleich, Insignien der Herrschaft, aber durchsetzt mit Trommeln, unklar, undurchschaubar, bedrängend und vereinahmend, gefährlich. Dagegen die Ankündigung des Ministers Fernando. Reiner Trompetenklang. Entfernt. Leise. Beruhigend und hoffnungsfroh. Diese Herrschaft ist klar, berechenbar, in der Ferne und sie läßt Freiheit im Eigenen. Sie zwingt nicht, sie gibt Struktur und Richtung. So soll Herrschaft sein, und Herrschaft soll sein: so, nicht polis ohne politela: Bürgerliche Freiheit und freiheitliche Herrschaft. Wie klingt Freiheit. Wieder Fidelio und wieder zwei Möglichkeiten. Der Gefangenenchor im Garten, auch im Licht der Freiheit. Schon aufsteigend, auch abfallend beruhigt. Das Libretto singt „ w i r werden frei, wir finden Ruh", Libertas und tranquilitas, Liberté und tranquilité, das sind Forderungen nach Freiheit und Sicherheit in der französischen Revolution. Die Musik steigt auf und findet zu gleichmäßiger Ruhe, Entlastungsmusik, Freiheit von Bedrückung. Und dann die Freiheit des Florestan. Aufsteigend in alle Zukunft. Tätig und dynamisch. Freiheit des Tätig-Tüchtigen, befreit zum Handeln. Noch eines zu Fidelio: das ewige Pochen. Eingangs gleich stört es Joaquino, es tritt von außen, von der Tür heran, aber ist doch innen, im Orchester, ein inneres Klopfen. Dieses Pochen durchzieht die Oper. Das Pochen als Gewissen, der innere Gerichtshof, Freiheit zum Gewissen. Vertrag noch einmal bei Richard Wagner, im Ring des Nibelungen. Zunächst gibt es die ungestörte Natur, Hörnerklang, Woglinde, Wellgunde und Floßhilde. Zu weit geht wohl, hier das Naturrecht zu hören, jedenfalls aber doch ungestörte Natur. Aus der Weltesche bricht Wotan einen Zweig, den Speer zu schnitzen. Der Speer ist Symbol für Recht, für Verfassung, jedenfalls des gesetzten, vertraglich vereinbarten, das dem Schwert Siegfrieds, das der Überwindung durch die Liebe nicht zu widerstehen vermag. Die Germanen senkten den Speer um den Vertrags- und Friedensschluß zu bekunden 37 . So ist das Speermotiv Motiv des Vertrages, des sich ver36 Vgl. etwa Attila Csampai/Dietmar Holland (Hrsg.), Ludwig van Beethoven, Fidelio, München 1981; Peter Cszobàdi u. a. (Hrsg.), Fidelio/Leonore, Salzburg 1998. 37 Adolf Pochhammer, Meisterführer Nr. 5, Richard Wagner's Der Ring der Nibelungen, Berlin o.J., S. 19; vgl. auch Wolfgang Perschmann, Richard Wagner: „Der Ring des Nibelungen", Graz 1986, S. 47.
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tragens, Symbol für sichere Ordnung in der Welt 3 8 . Von oben absteigend, ganz einfach gerade, die Spitze senkend, spannungsreich zugleich und fest. Viktor Ullmann wurde in Auschwitz ermordet. Im Konzentrationslager Theresienstadt schrieb er die Siebte Klaviersonate, sein vorletztes Werk. Ullmann komponiert in einer aus den Fugen geratenen, ver-fassungslosen Zeit, - eine Fuge. Und so zitiert er Bach, schon im Autograph die Tonfolge BACh gekennzeichnet: Die chromatische Spannung in b-a-c'-h steht als Symbol für Sünde und Qual 3 9 , schon seit der Barockmusik. Bach gilt als Fluchtpunkt deutscher Musik, als Meister der Fuge, selbst Symbol für die sittliche Wirkung der Musik und der Kultur schlechthin 40 , aber hier ist wohl auch Gebrochenheit, Abrechnung 41 , mit der - einzigen - Instrumentalisierungsangabe für dieses sonst durch den Komponisten selbst nicht instrumentierte Stück: Erste Posaune gerade hier, ganz herkömmlich Symbol für Gottes Gericht und Mahnung, für den dies irae. Die Wiederholung dann von b-a-c'-h verläßt das Zitat sogleich nach b-a-cis'-c', „ U m sich, so möchte man meinen, wichtigeren Dingen zuzuwenden - dem hebräischen Volkslied" 4 2 , sagt Bernhard Wulff, oder ist es doch eher trauernder Verweis auf das was gut war in Deutschland, dem jetzt zerbrochenen. Im folgenden kommt gedrängte Verbindung der verschiedenen vorgängigen Motive: Neben b-a-c'-h und dem Fugenthema wieder das Klopfmotiv des Hussitengesangs und eine Kirchenliedanspielung: Michael Wiener deutet dies zu Recht als Ausdruck der Überlebenskraft der Inhaftierten, als Widerstand durch die Musik 4 3 . Ullmann komponiert eine Fuge und er zitiert umfangreich: ein Ruf nach Fügung und ein Aufruf zu richtiger Richtung: Im hebräischen Lied Rachel, in hussitischem Schlachtgesang, in der slowakischen Nationalhymne, im Kirchenlied, in Mahnung zu Bach - umfassender Widerstand zu verfaßter K u l t u r 4 4 .
38 Hans Mayer, Richard Wagner i n Bayreuth 1876-1976, Stuttgart/Zürich 1976, S. 199; vgl. auch Christian Oetelshofen, Richard Wagner, Der Ring des Nibelungen, Seminarreferat SS 1998, www.uni-trier.de/robbers/www/material/ssl998/5011/ 5011.htm, S. 5. 39 dtv-Atlas zur Musik, S. 363. 40 Cornells Witthoeft, Variationen und Fuge über ein hebräisches Volkslied, in: Dessa, Ein Vermächtnis aus Theresienstadt, Pully 1997, S. 59, 67. 41 Bernhard Wulff, Sinfonie i n D, in: Symposion anläßlich des 50. Todestages, Dornbach 1994, S. 26 f. 42 Wulff, a. a. O., S. 27. 4 3 Michael Wiener, Rechtliche Grundvorstellungen in der Musik von Viktor U l l mann - Eine juristisch-musikalische Analyse des Finalsatzes seiner 7. Klaviersonate. Referat im Forschungsseminar „Musik und Recht", Sommersemester 1998, Universität Trier, S. 32, http.//www.uni-trier.de/robbers/www/material/ssl998/50 11/ 5011.htm. 44 Vgl. Michael Wiener, a. a. O., S. 38.
Aussprache
Riedl: Sie haben mit Bezug auf Hegels „bestimmender Idee" Zusammenhänge sowie Verbindungen von Verfassung und Musik herausgestellt. Dabei handelt es sich in erster Linie um Wirkungen, die der Künstler auch selbst hervorrufen wollte. Nun führte und führt aber nicht in jedem Fall die „bestimmende Idee" zur gewünschten Wirkung, wie das Beispiel der von Ihnen erwähnten Oper Aubers ,La Muette de Portici' markant zeigt. Die Brüsseler Erstaufführung von 1830 hat trotz der antirevolutionären Tendenz des Librettos einen Volksaufstand ausgelöst, in dessen Folge sich Belgien als eigenes Königreich von Holland abgetrennt hat. Der Widerspruch zwischen Absicht und Wirkung ist hier eklatant: Eine Oper, die vor einer Revolution warnen will, löst eine Revolution aus. Dieses folgenschwere MißVerständnis wurde wohl entscheidend durch das Pathos der Musik verursacht, durch die Wirkung, die eine überaus emotionalisierende Musik auf ein entsprechend disponiertes Publikum ausgelöst hat. Dieses Eigenrecht der Musik, ihre Eigengesetzlichkeit, ist gewissermaßen die Grauzone für Überlegungen zu möglichen Zusammenhängen von Musik und Verfassung. Robbers: Ja, Sie haben recht, ich wollte auch nichts anderes ausdrücken. Wenn man genau hinschaut, habe ich die Dinge auch in verschiedenen Abschnitten erwähnt, Auber's Oper zunächst einmal nur für faktische Wirkungen, die Musik haben kann und da ist es in der Tat wie bei jedem philosophischen Stück oder bei allem, was ein Jurist schreibt oder was sonst so in der Welt passiert, oft ziemlich egal, was derjenige, der als Autor produziert, damit bewirken möchte. Es wirkt halt irgendwie, aber schon das ist eine Aussage, die es wert ist, einmal festgehalten zu werden, daß Musik so wirken kann. Und im übrigen gibt es andererseits auch Beispiele, in denen der Komponist etwas bestimmtes bewirken wollte und damit sogar Erfolg hatte. Das müßte man vielfältig differenzieren, und ich habe nicht viel mehr gefunden als diese Beispiele, soweit darüber überhaupt schon geschrieben worden ist. Es gibt sicher sehr viele weitere Beispiele, die man im einzelnen untersuchen könnte. Willow ext: Eine Bemerkung vielleicht vorweg zum Methodischen. Was Sie geboten haben, ist eigentlich eine Rechtfertigung oder ein Exempel spekulativen Philosophierens. Ich bin immer der Meinung gewesen, daß es ohne dies auch nicht geht. Wir verbauen uns einen großen Teil des Weltverständnisses, wenn wir das nicht wagen. Die Sache hat also einen methodischen 14 Der Staat, Beiheft 15
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Aspekt, über den man vielleicht nachdenken und auch sprechen sollte. In der Sache selbst haben Sie sehr viele Anregungen gegeben. Ich glaube auch, daß es tatsächlich einen ganz engen Bezug zwischen Musik und Verfassungswesen gibt, nämlich zumindest dann, wenn sich große Volksmassen organisieren. Dazu haben Sie Beispiele aus Opern gebracht, aus der Praxis die Marseillaise. Aber es gibt auch aus unseren Tagen ganz naheliegende Beispiele, ζ. B. der Gesang der Internationalen in der Revolution der DDR. Er war ein ganz wesentliches Element, welches die Leute aufrecht gehalten und die Polizei lahmgelegt hat. Und dann ein Beispiel aus dem Baltikum: Dort gibt es ja diese riesigen Sängerfeste, und zwar speziell in Estland und Lettland. Das hat etwas mit Selbstkonstitution des Volkes, mit Demokratieartikulation des Ganzen usw. zu tun und es wird wahrscheinlich als etwas Unverzichtbares empfunden. Vermutlich würde man in der Geschichte noch mehr Beispiele ähnlicher Art auffinden können. - Vielleicht noch ein Wort zur Musik des 19. Jahrhunderts. Es stört mich heute, was mich früher in Konzerten nie gestört hat: das Pathos. Die Musik des 19. Jahrhunderts ist zum Teil ungeheuer pathetisch, und damit werden ganz bestimmte soziale Motivationen oder Assoziationen ausgelöst, die etwas mit Aggression zu tun haben, auch mit Todesbereitschaft usw. Das paßt sehr in die Szenerie der entstehenden Nationalstaaten. Robbers: Zur Methodik, Herr Willoweit, ja, Sie haben auch wieder völlig recht, es geht mir um die Frage aus dem Recht heraus: wie empfindet ein anderer wichtiger Teil der Kultur das Recht? Ich habe mich bemüht, hier Ansätze zu finden, wie so etwas beschrieben wird. In der Tat, das, was ich Ihnen hier zugemutet habe, ist schlicht Spekulation. Ich möchte nicht mehr als nur die Frage aufwerfen und ein paar Beispiele dazu bringen und nicht mehr als fragen: hören Sie das auch, wenn ich bei Fidelio die Freiheit höre und die Herrschaft. Das ist selbstverständlich höchst subjektiv und andere hören sicher auch anders. Das müßte im nächsten von Leuten untersucht werden, die mehr davon verstehen. Mehr möchte ich gar nicht tun. Einen anderen Anspruch hat es nicht. Und dann in der Tat die Massenmusik, die Internationale hatte ich erwähnt, Wagner habe ich erwähnt; Wagner hat bewußt in seinen musiktheoretischen Schriften wie in seiner gesamten Musik Abstand vom Chor genommen, weil er darin die Vermassung gesehen hat. Jedenfalls hat Wagner nach seiner eigenen Aussage in dem Bewußtsein gelebt, daß man so etwas aussagen kann und etwas damit bewirken kann Das Pathos des 19. Jahrhunderts haben Sie erwähnt, ich kann dem nur zustimmen; dies hat wohl auch etwas mit der Nationalisierung der Musik zu tun. Zunächst geht die revolutionäre Musik der französischen Revolution mit den Sängertagen im Baltikum parallel. Da hat es eine zeitlang, wohl 10 Jahre lang etwa, ganz intensive Großchöre gegeben in Paris mit extra dafür geschriebenen Stücken. Vielfältige Musikliteratur ist entstanden, die bewußt die Massen zusammenbringen wollte.
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Landau: Herr Robbers, man kann die vielen Anregungen natürlich nur dankbar zur Kenntnis nehmen, die Sie uns mit Ihrem Vortrag vermittelt haben und ich würde ganz gern noch versuchen, in dieser Diskussion, die ja nun in gewisser Weise einen abschließenden Charakter bei unserer Tagung hat, noch einmal von Ihrem Vortrag ausgehend in Beziehung auf das Gesamtthema der Tagung eine Frage zu stellen. Wenn Musik und Verfassung eng zusammenhängen und wir bei Musik doch immer einen auch normativ geprägten Begriff haben von dem, was wir mit Musik belegen wollen, dann ergibt sich daraus vielleicht auch die Frage, was kann man überhaupt Verfassung nennen. Mir ist bei Ihrem Vortrag ζ. B. aufgefallen, daß Sie offensichtlich die nationalsozialistische Zeit nicht mehr in irgendeiner Weise mit dem Begriff Verfassung verbinden könnten. Man könnte da mit der Frage anknüpfen, die vielleicht primitiv aber auch naheliegend ist, könnte man den Konnex zwischen Musik und Verfassung auch zwischen dem Horst-WesselLied und der NS-Herrschaft herstellen. Und das bringt mich nun zu der Frage des allgemeinen Themas, das wir an sich in der Abschlußdiskussion behandeln wollten, nämlich kultureller Wandel als Voraussetzung des Verfassungswandels. Bei dieser Formulierung hat sich die Frage ergeben, ob das so zu verstehen sei, daß kultureller Wandel Voraussetzung dafür sei, daß sich überhaupt etwas an einer Verfassung ändern könne. Man könnte die Fragestellung auch anders verstehen, daß vielleicht kultureller Wandel einen Verfassungswandel früher oder später notwendig macht. Und wenn wir zu der Diagnose kämen, daß wir in einer Epoche kulturellen Wandels leben, dem würden wahrscheinlich viele bei uns zustimmen in diesem Kreise. Jedenfalls ist in der öffentlichen Meinung doch der Eindruck stark verbreitet, daß kulturelle Entwicklungen auch Verfassungswandel zur Folge haben müßten. So ist also letztlich durch das Thema Musik und Verfassung die Frage provoziert, wie sehen w i r diese Interdependenz von Kultur und Verfassung. Vielleicht können Sie gerade als Öffentlichrechtler dazu noch einiges sagen. Robbers: Sie fragen ganz zu Recht nach dem Verfassungsbegriff. Ich habe in dem, was ich vorzutragen gewagt habe, einen sehr allgemeinen Verfassungsbegriff zugrundegelegt, eben die Frage, was das Wesentliche im Rechtsverständnis einer Zeit ist, was sind die Grundstrukturen. Das ist eine Entscheidung, die ich hier bewußt gemacht habe, weil man sonst für diese Fragestellung zu noch abenteuerlicheren Aussagen käme, als dies jetzt schon möglicherweise der Füll ist. Also man wird wenig an rechtsdogmatischen Einzelheiten über das Reisekostenrecht oder so etwas in der Musik finden, außer, daß vielleicht irgendjemand irgendetwas veralbern will. Zum Nationalsozialismus, ja ich habe es deutlich ausgespart, aber schon etwas zu sagen versucht dazu, mir scheint, daß der Nationalsozialismus gewiss das Horst Wessel-Lied und andere Musik benutzt hat, die Musik benutzt hat, ich sehe jedenfalls nicht, daß der Nationalsozialismus irgendwelche eigene Musik hervorgebracht hätte. Dann der kulturelle Wandel als Voraussetzung u
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des Verfassungswandels. Ich würde mich überheben, wenn ich jetzt irgendwelche allgemeinere Aussagen am Schluß der Veranstaltung wagen wollte. Ich habe mich zunächst gefragt, ob nicht Verfassungswandel Voraussetzung für kulturellen Wandel sein könnte. Also, gibt es nicht ein Hin und Her, und wahrscheinlich wird jeder dem sofort zustimmen. Daß kultureller Wandel Verfassungswandel nach sich zieht, scheint mir selbstverständlich. Es kann nicht anders sein. Ich frage mich immer wieder, wie ist eigentlich unsere Musik heute und unsere Verfassung heute. Und ich sehe keine andere prägende Musik in unserer Zeit als die Popmusik. Die ist nach meinem Eindruck, seit ich sie bewußt erlebe, im Prinzip gleich geblieben. Da gibt es Variationen und da gibt es gewisse Entwicklungen, aber es ist im Grunde nicht wirklich andere Popmusik. Ich warte darauf, daß ich im Radio einmal etwas höre, bei dem ich sage, das ist etwas Neues. Und wenn das der Fall wäre, dann wäre in der Tat die Zeit zu sehen, ändert sich auch etwas in der Verfassung? Viele Beispiele gibt es dafür, daß zu bestimmten Ereignissen wichtiger Art bestimmte Musikstücke extra komponiert worden sind. Ich habe eines zuhause, das hat mir eine Freundin aus den Niederlanden geschenkt, das heißt Kammer s tukken. Das ist komponiert worden zur Eröffnung des neuen Parlamentsgebäudes der Niederlande und ist dort aufgeführt worden. Da ist ein bewußtes „Ich als Komponist möchte die Sache Parlament auf einen musikalischen Begriff bringen": Wie klingt Parlament? Scheel: Eine wesentliche Ergänzung der Reichsverfassung erfolgte im Jahre 1692, als Kaiser Leopold I. dem Hause Braunschweig-Lüneburg die Neunte Kurwürde verlieh. Auf diese Rangerhöhung hat man in Hannover seit Anfang der siebziger Jahre des 17. Jahrhunderts bewußt hingearbeitet. Daneben bediente man sich des Ahnherrn Heinrichs des Löwen für eine politische Kundgebung, um auf die einstige Größe und Macht des Weifenhauses hinzuweisen. Hierfür bot sich die Eröffnung des hannoverschen Opernhauses an, das in Anwesenheit des Kurfürsten von Brandenburg und des Landgrafen von Hessen-Kassel 1689 mit der Oper Enrico Leone von Agostino Steffani eingeweiht wurde. Leibniz gegenüber äußerte die Herzogin Sophie, daß die Handlung dazu bestimmt sei, der Mitwelt zu zeigen, welche Länder das Weifenhaus einst besessen habe. Die Oper ist in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts in einer deutschen Bearbeitung in Braunschweig und an anderen Orten wiederholt aufgeführt worden und wird auch noch gegenwärtig in Hannover-Herrenhausen gespielt. Als Beispiel für die Beziehungen von Musik und Verfassung scheint mir diese Oper gut geeignet, weil man in Hannover bemüht war, für die Erreichung verfassungspolitischer Ziele auch musikalische Mittel einzusetzen. Gangl: Es fällt schwer, den soeben vernommenen Ausführungen des Referenten, deren Niveau uns alle beeindruckt hat, ergänzende Bemerkungen zum Thema „Musik und Verfassung" anzufügen.
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Es heißt nur Bekanntes wiederholen, wenn man Piatons Ansicht in Erinnerung ruft, wonach keine Kunst so intensiv auf die Seele des Menschen einwirkt wie die Musik. Deshalb sollten in seinem Idealstaat zu Erziehungszwecken nur bestimmte Tonarten zugelassen, andere wiederum völlig ausgeschlossen werden. Diese Überzeugung hatte er von Damon, dem bedeutendsten Musiktheoretiker zu Perikles' Zeit, übernommen. Ein DamonZitat in der „Politela" (IV/3, 4240) macht dies sichtbar: „Nirgends rüttelt man an den Gesetzen der Musik, ohne auch an den wichtigsten politischen Gesetzen zu rühren." Später findet sich dasselbe Thema in den „Nomoi" (111/15,700), wo die politische Entartung auf die Entartung in der Musik zurückgeführt wird. Als eher ungewöhnlich mag es hingegen empfunden werden, einen Gabriele d'Annunzio mit den Vortragsthema in Verbindung zu bringen. Als Dichter europäischen Ranges, als glühender Nationalist und Interventionist in den Jahres des Ersten Weltkrieges (man denke an seine Maiansprache 1915 in Genua und Rom), als zu spektakulären Aktionen neigender Fliegeroffizier (Tiefflug über Wien am 9. August 1918) und schließlich als ein von der Politik grausam Enttäuschter und in seinem „Vittoriale" isoliert Lebender ist d'Annunzio in die Geschichte eingegangen. Daß in seinem an Wechselfällen nicht gerade armen Leben auch die Verfassungsfrage für eine kurze Zeit von Bedeutung war, scheint darüber in den Hintergrund getreten zu sein. Was eigentlich nur mehr d'Annunzios Biographen und Italienspezialisten unter den Historikern als Thema vorbehalten bleibt, ist die sog. „impresa fiumana" von September 1919 bis Jänner 1921. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges als ein Teil Kroatiens zum ungarischen Staatsverband gehörend und von diesem durch den Friedensvertrag von Trianon vom 4. Juni 1920 endgültig abgetrennt, war Fiume schon im Spätherbst 1918 mit dem Abzug der ungarischen Behörden und dem darauffolgenden Einmarsch kroatischen Militärs in den Sog des italienischen wie des kroatischen Nationalismus geraten. Der am 30. Oktober 1918 vom neugebildeten „Consiglio nazionale italiano" proklamierte Anschluß Fiumes an Italien war, völkerrechtlich unwirksam, eine politische Demonstration, die die Aufmerksamkeit der Welt auf die Hafenstadt am Quarnero lenkte. Es blieb in der Folge ein für die Italiener Fiumes unerträglicher Gedanke, daß ihre Stadt zur Disposition des am 1. Dezember 1918 aufgerufenen Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen gestellt werden könnte. Das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, schien daher der einzige Ausweg zu sein. In dem als Kriegshelden gefeierten Gabriele d'Annunzio, dessen Losung vom „verstümmelten Sieg" dem italienischen Nationalismus neuen Auftrieb verlieh, fand sich der zur revolutionären Tat entschlossene Führer, der am 12. Septemer 1919 an der Spitze seiner, das „Eia, eia, alalà!" der Schützengräben skandierenden, Legionäre handstreichartig Fiume be-
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setzte, ohne mit der sogleich zurückweichenden interalliierten Schutztruppe in Kampfhandlungen verwickelt zu werden. Ein im Herbst unternommener Versuch der Regierung Nitti, den dadurch geschaffenen Fait accompli im Verhandlungsweg durch einen für Rom und Fiume gleichermaßen annehmbaren Kompromiß politisch und rechtlich abzusichern, scheiterte am Mißtrauen des „Commandante", wie d'Annunzio sich nun nannte, gegenüber den darin enthaltenen Zusagen. Was die laufenden Friedensverhandlungen in Paris betraf, so war die mit weitgehenden Gebietsforderungen auftretende jugoslawische Delegation, aber auch der ursprünglich Italien gegenüber freundlich eingestellte amerikanische Präsident Wilson, der an dem von ihm vertretenen Selbstbestimmungsrecht der Völker keine weiteren Abstriche hinnehmen wollte (mit Fiume wäre auch das von einer kompakten slawischen Bevölkerung bewohnte Umland unter italienische Herrschaft gekommen), in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu den italienischen Unterhändlern geraten, was eine Lösung der Fiumefrage auf internationaler Ebene unmöglich machte. Für d'Annunzio konnte unter den gegebenen Umständen eine solche Lösung nur in der Schaffung eines unabhängigen Staates bestehen, der die „italianità" Fiumes zu sichern und einen späteren Anschluß an Italien vorzubereiten hätte. Daher proklamierte er am 8. September 1920 die von ihm so benannte „Reggenza italiana des Carnaro" und zugleich eine inzwischen ausgearbeitete Verfassung, die „Carta del Carnaro". Dieser Verfassung war jedoch kein langes Leben beschieden. In Erfüllung des in direkten Verhandlungen mit Jugoslawien zustandegekommenen, von d'Annunzio aber heftig bekämpften Vertrages von Rapallo vom 12. November 1920 erzwang die italienische Regierung noch vor Jahresende durch eine militärische Intervention den Abbruch der „impresa". Was den Verfassungshistoriker an diesem nicht effektiv gewordenen Text interessiert, ist der Umstand, daß zwei so verschiedene Persönlichkeiten wie der einem intransigenten Nationalismus verpflichtete, von einem Ästhetizismus und Spiritualismus geprägte Dichter-Soldat und der für die Sache Fiumes gewonnene, einen revolutionären Syndikalismus repräsentierende Alceste De Ambris sich zu einer gemeinsamen Arbeit an einer in Inhalt und Form keiner Tradition folgenden Verfassung zusammenfanden, von der sie nicht zuletzt hofften, sie würde ein Vorbild für eine zukünftige Erneuerung Italiens abgeben. Nicht die politische Substanz der „Carta del Carnaro", d. h. ihre syndikalistisch-korporativistische Grundstruktur, hat uns an dieser Stelle zu beschäftigen, sondern d'Annunzios Versuch, Fiume, seine „città di vita", in ein politisch-ästhetisches Gesamtkunstwerk überzuführen. Dieser Vision ist der in Art. 50 der „Carta" festgelegte Kulturbegriff untergeordnet. Als „die vortrefflichste der weittragenden Waffen für jedes Volk edler Abkunft" versteht d'Annunzio die Kultur; für ihn ist sie wie das
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Recht und der Glaube einer „unzähmbaren Macht" in den Händen des adriatischen Volkes, das „von Jahrhundert zu Jahrhundert zu einem pausenlosen Kampf gegen den kulturlosen Usurpator gezwungen wird": Von einer elitären Kunst ist hier die Rede, von einem vom Genius der lateinischen Rasse genährten Kultur, die sich kämpferisch und missionarisch gibt im Dienste des „Fiumanesimo". Für das Volk von Fiume w i r d sie zugleich mit der Wiedererlangung der Freiheit zum „wirksamsten heil- und glückbringenden Instrument gegen jede von außen kommende gefährliche Verlockung". Von des Dichters bilderreicher Sprache zeugt auch das Wort von der Kultur, die „mit ihrem Wohlgeruch jede Fäulnis erstickt" und „sich wie ein Schutzwall allen Entartungen entgegenstellt". Es ist daher Aufgabe der „Reggenza", in der Gesetzgebung der Kultur den ihr gebührenden Vorrang zu geben und in der Stadt Fiume eine freie, mit weitgehender Autonomie ausgestattete Universität zu errichten. Daß d'Annunzio ein Verehrer von Richard Wagners Musik war und sich mit Claude Debussy eng verbunden fühlte, gehört zu den bekannten Daten seiner Biographie. Als Vorbild und Mittelpunkt der von ihm geforderten neuen Kunst, deren Schöpfer er selbst sein wollte, sah er die Musik. Eine Huldigung an sie bedeuten die Worte, mit denen er seinen Roman „Trionfo della morte" (1894) seinem Freund Michetti widmete. Diese neue Kunst soll „über so vielfältige und wirkungsvolle musikalische Darstellungsmittel verfügen, daß sie selbst dem Vergleich mit dem Orchester Wagners standhalten kann, gelingt es ihr doch zu suggerieren, was sonst bloß die Musik der modernen Seele mitzuteilen vermag" (zit. nach der dt. Ausg., 1899, i n der d'Annunzio-Biographie von M. Gazzetti). Es bedurfte nur noch des Einflusses von d'Annunzios ständiger Begleiterin i n Fiume, der venezianischen Pianistin Luisa Bàccara, um der Musik in der „Carta" (Art. 64) einen verfassungsrechtlichen Status zu geben. Eine „religiöse und gesellschaftliche Institution" soll die Musik in der „Reggenza" sein. „Groß ist ein Volk nicht schon dann, wenn es sich einen Gott nach seinem Bilde schafft, sondern wenn es darüber hinaus für seinen Gott einen Hymnus schafft." Mit der Entfaltung eines vollen Menschentums hat die Musik ihre höchste Erfüllung gefunden. Es ist Nietzsches Lebensphilosophie, in die Sprache des Dichters gekleidet: „Wenn jede Wiedergeburt eines edlen Volkes eine lyrische Anstrengung ist, wenn jedes einmütig geäußerte schöpferische Gefühl eine lyrische Macht ist, wenn jede neue Ordnung eine, in des Wortes stärkster Bedeutung, lyrische Ordnung ist, dann hebt die Musik, als zur Sprache gewordener Ritus verstanden, den Akt des Lebens und das Werk des Lebens auf eine höhere Stufe." Eine solche „das Reich des Geistes ankündigende" Musik kann ihre Aufgabe nur unter bestimmten Voraussetzungen erfüllen. D'Annunzio verlangte nicht wenig; so die Aufstellung von Chören und Instrumentalensembles mit staatlicher Unterstützung, den Bau einer Rotunde für wenig-
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stens 10.000 Zuhörer i n Fiume sowie die Unentgeltlichkeit der großen Chorund Orchesteraufführungen. Man wird sich abschließend fragen, ob d'Annunzio mit seinen die Musik betreffenden kulturpolitischen Vorstellungen nicht in die Tat umsetzen wollte, was der von ihm glühend verehrte Napoleon auf St. Helena seinem Begleiter Las Cases in die Feder diktierte: „Die Musik hat von allen Künsten den tiefsten Einfluß auf das Gemüt. Ein Gesetzgeber sollte sie deshalb am meisten unterstützen." Robbers: Bei d'Annunzio, Herr Gangl, habe ich noch nicht geguckt, ich werde weiterlesen, dankeschön. Riedl: Noch eine kleine Ergänzung zu der auch von Herrn Willoweit angesprochenen Inszenierung von Massen in der Oper. Bei Richard Wagner stimmen Theorie und Praxis i n dieser Frage ja nicht immer überein. In seinem theoretischen Hauptwerk, ,Oper und Drama', hat er sich entschieden gegen Chöre ausgesprochen, i n einigen seiner Opern aber auf deren Einsatz nicht verzichtet, etwa in ,Rienzi', ,Parzifar oder der Götterdämmerung. Insbesondere in den ,Meistersingern von Nürnberg' inszeniert er das Vollk als „Masse" überaus wirkungsvoll. Chöre sind hier von struktureller Bedeutung. Die Persona dramatis Volk entpuppt sich in dieser Oper - und das ist im Kontext unserer Fragestellung ja besonderes interessant - als höchst ambivalent. In der Johannisnacht erscheint das Volk als Chaos verursachende Masse, die gebändigt werden muß, auf der Festwiese konstituiert sich schließlich eine ideale Nation im Zeichen der Kunst. Die Transformation des Volkes von der Masse zur Nation befördert Hans Sachs, der zuletzt als öffentlicher Redner die Menge geschickt zu lenken weiß. Fragen der Verfassung spielen hier zweifellos eine beträchtliche Rolle. Die Festwiesenszene, die später die Nationalsozialisten als vorweggenommenen Reichstag vereinnahmt haben, orientiert sich offenkundig an der Festkultur des 19. und nicht des 16. Jahrhunderts. Auffällig ist das völlige Fehlen von Amtspersonen. Lediglich der Stadtschreiber tritt auf, aber der heißt Beckmesser und ist in ganz anderer Funktion auf der Bühne. Wagner hat das Stück im Vergleich zu seiner wichtigsten dramatischen Vorlage, dem ,Hans Sachs'-Drama Johann Ludwig Deinhardsteins von 1827, prinzipiell entpolitisiert. Auf dieses überaus interessante Phänomen hat der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer nachdrücklich aufmerksam gemacht und die Bedeutung Schillers für die Staatsidee in den »Meistersingern' betont. Deinhardsteins Drama spielt im politischen Raum des Heiligen Römischen Reichs, der Kaiser selbst wirkt mit. Bei Wagner hingegen kulminiert das Geschehen in der Apotheose eines ästhetischen Staates, gewiß auch mit einem Zug ins Totalitäre. Robbers: Danke für die Präzisierung und Differenzierung. Bei Wagner gibt es ja in der Tat bekanntermaßen eine Reihe von Entwicklungsphasen.
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Brandt: Herr Robbers, Sie haben, wenn ich recht sehe, die Querverbindung von Verfassung und Musik auf dreierlei Ebenen vorgeführt. Einmal in der Weise, daß auch die Künste ihre Regeln und insofern also eine Verfassung haben, und in diesem Bezug ist die Musik ja auch die Mathematik unter den Künsten genannt worden. Sie haben zweitens gesprochen von der Instrumentalisierung von Musik oder auch ihren Folgen, hier vor allem in Bezug auf Lied und Oper. Dies wäre das Kapitel Musik und Politik, mit dem Sie sich befaßt haben. Und Sie haben drittens, und das ist natürlich jetzt das Gewagteste, eine Reihe von Assoziationen aufgestellt zwischen zwei verschiedenen Kulturphänomenen. Beispielsweise, indem sie die aufgeklärte Vertragslehre mit der Bachschen Polyphonie assoziierten oder etwa die Smetanaische „Moldau" mit der organischen Staatslehre. Darüber hinaus aber ist natürlich zu fragen, ob nicht das Wesen aller Künste überhaupt die Revolution ist, die Zerstörung des Vorhandenen und der Aufbau des Neuen danach. Und daß insofern natürlich ein ganz erheblicher Unterschied besteht zwischen diesen beiden Kulturphänomenen, denn Verfassung hat, was man immer dazu sagen kann, doch vor allem zu tun mit der Stiftung von Ordnung eines ungefilterten und unübersehbaren Handels. Robbers: Ja, das ist fast zu spannend, als daß ich darauf antworten könnte. Ich bin nicht sicher, ob Kunst, wirklich alle Künste, dazu da sind, Revolution zu stiften. Irgendwie glaube ich es nicht ganz. Es ist wohl nur ein Stück der Wahrheit. Aber wieviel davon, darüber werde ich nachdenken. Daß Verfassung immer Stiftung von Ordnung sei im Gegensatz, zu dem, was Kunst und Revolution macht, auch da bin ich nicht sicher. Das ist nur ein Stück der Wahrheit. Wieviel Revolution steckt in unserer Verfassung? Wieviel Neues, wieviel Zukunft, wieviel Hoffnung, wieviel Verpflichtung, etwas zu schaffen, was 1949 noch nicht da war. Im Zentrum steht die Frage eines normativen Anspruches grundlegend zu verbessern. Dann hat auch auf dieser Ebene Kunst und Verfassung wieder etwas miteinander zu tun. Verfassung ist nicht etwas, was mich zurückhält, was mich verpflichtet, nur das zu machen, was die Jahre 1949, 1789 oder andere sich einmal ausgedacht haben. Sondern es geht voran, ist Wegweisung. Neugebauer: Ich erinnere mich an einen Satz, der von Johann Sebastian Bach stammt, der am Ende seines Lebens, glaube ich, formuliert hat: Musik könne nur sein zur Ehre Gottes und zur Rekreation des Gemüts, wo dieses nicht ist, da ist nur „teuflisches Geplärr und Geleier" (A 38). Das führt mich zu einer Frage, die natürlich Dinge anspricht, die in allen Vorträgen eine Rolle gespielt haben, freilich mehr inpicite, nämlich die Frage nach der Säkularisationstendenz in der Wirkung auf das Verhältnis von Kultur und Verfassung. Wenn ich mich recht entsinne, war es einer der wenigen Historiker, die sich bisher mit musiktheoretischen und musikgeschichtlichen Dingen beschäftigt haben. Herr Königsberger in London, der das Verhältnis
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von Musik und Säkularisation in einem Aufsatz untersucht hat; und insofern möchte ich Sie fragen wollen, welche Rolle eben der Prozeß der Säkularisation von der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert für ihre spezielle Materie „das Verhältnis von Verfassung und Musik" spielt. Robbers: Das einzige, was ich glaube, dazu vermuten zu dürfen, ist, daß in der Tat eine Säkularisierung der Musik gibt in einer bestimmten Zeit und daß sie nach meiner Vermutung in etwa parallel geht zur Säkularisierung wesentlicher Rechtsvorstellungen. Das gehört mit in die Kategorie des relativen Gleichklanges von Epochen. Dazu gehört in der Tat als ein ganz Wichtiges die Säkularisierung. Ich bin Ihnen dankbar für den Hinweis auf Königsberger, das werde ich nachlesen, und ich bin zuversichtlich, daß man dort Parallelisierungen finden kann, in der Tat, aber man muß zurückhaltend sein, daß man nicht zuviel behauptet. Wolf: Vielen Dank. Im Ancien Régime wurden konstitutive Akte damit abgeschlossen, daß man ein Tedeum sang. Im Jahre 1292 bei der Frankfurter Königswahl erwartete alle Welt die Wahl des Sohnes Rudolfs von Habsburg als Nachfolger: Albrecht von Österreich. Aber die Königswähler hatten sich das in ihrer Mehrheit anders ausgedacht, und der Erzbischof von Mainz, der das Ergebnis der Menge verkündete, sagte - ich spekulierte jetzt ein bißchen - : Wir haben gewählt, es lebe der König A-.; man erwartete: A-lbrecht und dann kam A-dolf von Nassau. Das war eine große Überraschung bei der österreichisch-pfälzischen Partei. Der Protest wurde aber übertönt, indem der Erzbischof von Mainz sofort nach dem Ausruf „Es lebe König Adolf von Nassau" das Tedeum anstimmte. Damit war die Sache zu Ende, und es gab keinen Einspruch mehr, man konnte nichts machen. Für die gegnerische Partei gab es nur noch die Möglichkeit, die Kirche zu verlassen und draußen zu rufen: Das ist ja unerhört! Also: Musik als Verfassungsmittel. Auch Friedrich der Große hat nach seinen siegreichen Schlachten, obwohl er Freigeist war, „Tedeum wie üblich" befohlen. Wir werden jetzt aber trotzdem kein Tedeum anstimmen!
Verzeichnis der Redner Barmeyer-Hartlieb 40,188 f., 195 Becker 195 Borck 86 f., 131 Brandt 42,169 f., 217 Brauneder 41, 90,132 Dippel 48,164 f., 189,195 Dölemeyer 127 f., 173,193 Gangl 42 ff., 160 ff., 212 ff. Hartmann 39, 80 f., 126,166 Kutscheidt 189,190 f., 192,193,196 Landau 85 f , 129, 170 f , 191 f., 194 f , 211
Lingelbach 88 f., 195 f.
Neugebauer 126, 127, 128 f , 129 ff, 132,133, 217 f. Neuhaus 80 Riedl 38, 89, 165 f , 167, 168 f , 170, 171 f , 173, 174,209,216 Robbers 209, 210, 211 f , 216, 217, 218 Scheel 212 Schindling 80, 81 f , 83 f , 84 f , 86, 87 f , 89 f , 193 f. Schmidt 84 Steiger 172,189 f. Stollberg-Rilinger 38, 39 f , 41, 42, 47 f , 48 f , 82 f. Willoweit 41,126 f , 167 f , 194, 209 f. Wolf 39, 218
V e r e i n i g u n g f ü r Verfassungsgeschichte
Satzung § 1 1. Die Vereinigung für Verfassungsgeschichte stellt sich die Aufgabe: a) Wissenschaftliche Fragen aus der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, durch Referate und Aussprache in Versammlungen ihrer Mitglieder zu klären; b) Forschungen in diesem Bereich zu fördern; c) auf die ausreichende Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte im Hochschulunterricht sowie bei staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken. 2. Sie verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke" der Abgabenordnung i n ihrer jeweils gültigen Fassung. 3. Sitz der Vereinigung ist Frankfurt am Main.
§ 2 Gründungsmitglieder der Vereinigung sind diejenigen Personen, die zur Gründungsversammlung am 4.10.1977 i n Hofgeismar eingeladen worden sind und schriftlich ihren Beitritt erklärt haben. § 3 1. Mitglied der Vereinigung kann werden, wer a) auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, seine Befähigung zu selbständiger Forschung durch entsprechende wissenschaftliche Veröffentlichungen nachgewiesen hat und b) an einer Universität bzw. gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschule oder Hochschuleinrichtung als selbständiger Forscher und Lehrer, an einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut als selbständiger Forscher oder im Archivdienst tätig ist. 2. Das Aufnahmeverfahren w i r d durch schriftlichen Vorschlag von drei Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Ist der Vorstand einstimmig der Auffassung, daß die Voraussetzungen für den Erwerb der Mitgliedschaft erfüllt sind, so verständigt er in einem Rundschreiben die Mitglieder von seiner Absicht, dem Vorgeschlagenen die Mitgliedschaft anzutragen. Erheben mindestens fünf Mitglieder binnen Monatsfrist gegen die Absicht des Vorstandes Einspruch oder beantragen sie münd-
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liehe Erörterung, so beschließt die Mitgliederversammlung über die Aufnahme. Die Mitgliederversammlung beschließt ferner, wenn sich im Vorstand Zweifel erheben, ob die Voraussetzungen der Mitgliedschaft erfüllt sind. 3. In besonders begründeten Ausnahmefällen kann Mitglied der Vereinigung auch werden, wer die Voraussetzungen nach Abs. 1 lit. b nicht erfüllt. I n diesem Ealle w i r d das Aufnahmeverfahren durch näher begründeten schriftlichen Vorschlag von fünf Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Über die Aufnahme entscheidet nach Stellungnahme des Vorstandes die Mitgliederversammlung mit 2 / 3 -Mehrheit der anwesenden Mitglieder. § 4 Die ordentliche Mitgliederversammlung soll regelmäßig alle zwei Jahre an einem vom Vorstand bestimmten Ort zusammentreten. In dringenden Fällen können außerordentliche Versammlungen einberufen werden. Auf Verlangen von 1 / 3 der Mitglieder ist der Vorstand verpflichtet, eine außerordentliche Mitgliederversammlung unverzüglich einzuberufen. Auf jeder ordentlichen Mitgliederversammlung muß mindestens ein wissenschaftlicher Vortrag mit anschließender Aussprache gehalten werden. § 5 Der Vorstand der Vereinigung besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Stellvertretern. Die Vorstandsmitglieder teilen die Geschäfte untereinander nach eigenem Ermessen. Der Vorstand wird am Schluß jeder ordentlichen Mitgliederversammlung neu gewählt; einmalige Wiederwahl ist zulässig. Der alte Vorstand bleibt bis zur Wahl eines neuen Vorstandes im Amt. Zur Vorbereitung der Mitgliederversammlung kann sich der Vorstand durch Zuwahl anderer Mitglieder verstärken. Auch ist Selbstergänzung zulässig, wenn ein Mitglied des Vorstandes i n der Zeit zwischen zwei Mitgliederversammlungen ausscheidet.
§« Der Beirat der Vereinigung besteht aus fünf Mitgliedern; die Mitgliederzahl kann erhöht werden. Der Beirat berät den Vorstand bei der Festlegung der Tagungsthemen und der Auswahl der Referenten. Die Mitglieder des Beirats werden von der Mitgliederversammlung auf vier Jahre gewählt. § 7 Zur Vorbereitung ihrer Beratungen kann die Mitgliederversammlung, in eiligen Fällen auch der Vorstand, besondere Ausschüsse bestellen. § 8 Zu Eingaben i n den Fällen des § 1 Ziff. 2 und 3 und über öffentliche Kundgebungen kann nach Vorbereitung durch den Vorstand oder einen Ausschuß auch im Wege schriftlicher Abstimmung der Mitglieder beschlossen werden. Ein solcher Beschluß
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bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder; die Namen der Zustimmenden müssen unter das Schriftstück gesetzt werden. § 9
Der Mitgliedsbeitrag wird von der Mitgliederversammlung festgesetzt. Der Vorstand kann den Beitrag aus Billigkeitsgründen erlassen.
Verzeichnis der Mitglieder (Stand Ende März 2003)
Vorstand 1. Klippel, Dr. Diethelm, Professor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Universität Bayreuth, D-95440 Bayreuth 2. Jahns, Dr. Sigrid, Professor, Bommersheimer Weg 20, D-61348 Bad Homburg 3. Hahn, Dr. Hans-Werner, Professor, Universität Jena, Humboldtstraße 11, D-07743 Jena Beirat 1. Becker, Dr. Hans-Jürgen, Professor, Universität Regensburg, Universitätsstraße 31, D-93053 Regensburg 2. Boldt, Dr. Hans, Professor, Krafftgasse 1, D-79379 Müllheim 3. Kühne, Dr. Jörg-Detlef, Professor, Universität Hannover, Königswortherplatz 1, D-30167 Hannover 4. Mohnhaupt, Dr. Heinz, Professor, MPI für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, D-60457 Frankfurt am Main 5. Neuhaus, Dr. Helmut, Professor, Friedrich-Alexander-Universität, Kochstraße 4, D-91054 Erlangen 6. Neugebauer, Dr. Wolfgang, Professor, Institut für Geschichte, Am Hubland, D-97074 Würzburg Mitglieder 1. Ableitinger, Dr. Alfred, Professor, Institut für Geschichte, Heinrichstraße 26, A-8010 Graz 2. Althoff, Dr. Gerd, Professor, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20-22, D-48143 Münster 3. Asch, Dr. Ronald G., Professor, FB 2, Universität Osnabrück, Neuer Graben 19/21, D-49069 Osnabrück 4. Badura, Dr. Peter, Professor, Am Rothenberg Süd 4, D-82431 Kochel 5. Barmeyer-Hartlieb, Dr. Heide, Professor, Historisches Seminar, Universität Hannover, Im Moore 21, D-30167 Hannover 6. Battenberg, Dr. Friedrich, Professor, Karolinenplatz 3, D-64289 Darmstadt
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7. Baumgart, Dr. Peter, Professor, Universität Würzburg, A m Hubland, D-97074 Würzburg 8. Becker, Dr. Hans-Jürgen, Professor, Universität Regensburg, Universitätsstraße 31, D-93053 Regensburg 9. Becht, Dr. Hans-Peter, Stadtarchiv Pforzheim, Kronprinzenstraße 28, D-75177 Pforzheim 10. Birke, Dr. Adolf M , Professor, Universität München, Institut für Neuere Geschichte, Schellingstraße 12, D-80799 München 11. Birtsch, Dr. Günter, Professor, FB I I I Geschichte der Universität Trier, D-54286 Trier 12. Blickle, Dr. Peter, Professor, Universität Bern, Historisches Institut, Länggassstrasse 49, CH-3000 Bern 9 13. Blockmans, Dr. Wim, Professor, Rijksuniversiteit te Leiden, Postbus 9515, NL-2300 Leiden 14. Böckenförde, Dr. Ernst-Wolfgang, Professor, Türkheimstraße 1, D-79280 Au bei Freiburg 15. Boldt, Dr. Hans, Professor, Krafftgasse 1, D-79379 Müllheim 16. Borck, Dr. Heinz-Günther, Professor, Landeshauptarchiv Koblenz, Karmeliterstraße 1 - 3 , D-56068 Koblenz 17. Bosbach, Dr. Franz, Professor, Universität Bayreuth, Kulturwissenschaftliche Fakultät, D-95440 Bayreuth 18. Botzenhart, Dr. Manfred, Professor, Universität Münster/Historisches Seminar, Domplatz 20-22, D-48143 Münster 19. Brand, Dr. Jürgen, Professor, Schrägen 20, D-40822 Mettmann 20. Brandt, Dr. Hartwig, Professor, Wilhelmstraße 19, D-35037 Marburg 21. Brandt, Dr. Harm-Hinrich, Professor, Institut für Geschichte der Universität Würzburg, A m Hubland, D-97074 Würzburg 22. Brauneder, Dr. Wilhelm, Professor, Institut für Österreichische und Europäische Rechtsgeschichte, Schottenbastei 10-16, A-1010 Wien 23. Bulst, Dr. Neithard, Professor, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Universitätsstraße 25, D-33615 Bielefeld 24. Buschmann, Dr. Arno, Professor, Institut für europäische und vergleichende Rechtsgeschichte, Churfürststraße 1, A-5020 Salzburg 25. Burkhardt, Dr. Johannes, Professor, Universität Augsburg, Philosoph. Fakultät II, Universitätsstraße 10, D-86135 Augsburg 26. Butzer, Dr. Hermann, Professor, Orffstraße 3, D-30989 Gehrden 27. Carl, Dr. Horst, Privatdozent, Historisches Seminar, Universität Tübingen, Wilhelmstraße 36, D-72074 Tübingen 28. Chittolini, Dr. Giorgio, Professor, Via Chiaravelle 7,1-20122 Milano 29. Dallmeier, Dr. Martin, Fürstlicher Archivdirektor, Fürst T h u m und Taxis Zentralarchiv, Postfach 110 246, D-93015 Regensburg
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30. Dann, Dr. Otto, Professor, Universität Köln, Historisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, D-50923 Köln 31. Dilcher, Dr. Gerhard, Professor, Kuckucksweg 18, D-61462 Königstein/Taunus 32. Dippel, Dr. Horst, Professor, Fachbereich 8 Anglistik/Romanistik, Georg-Forster-Straße 3, D-34127 Kassel 33. Dölemeyer, Dr. Barbara, Professor, MPI für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, D-60489 Frankfurt am Main 34. Duchhardt, Dr. Heinz, Professor, Backhaushohl 29 a, D-55128 Mainz 35. Eckert, Dr. Jörn, Professor, Universität Kiel, Juristisches Seminar, Olshausenstraße 40, D.24098 Kiel 36. Eisenhardt, Dr. Ulrich, Professor, Feithstraße 152, D-58097 Hagen 37. Endres, Dr. Rudolf, Professor, Universität Bayreuth, D-95440 Bayreuth 38. Fenske, Dr. Hans, Professor, Historisches Seminar, Werthmannplatz, D-79085 Freiburg 39. Fiedler, Dr. Wilfried, Professor, Universität Saarbrücken, D-66041 Saarbrücken 40. Fioravanti, Dr. Maurizio, Professor, Univ. degli Studi di Firenze, Piazza Indipendenza 9,1-50129 Firenze 41. Friedrich, Dr. Manfred, Professor, Georg-August-Universität, Platz der Göttingen Sieben 3, D-37075 Göttingen 42 Frotscher, Dr. Werner, Professor, Instut für Öffentliches Recht der Philipps-Universität, Universitätsstraße 6, D-35037 Marburg 43. Gall, Dr. Lothar, Professor, Universität Frankfurt, FB 8, Senckenberganlage 31, D-60325 Frankfurt am Main 44. Gangl, Dr. Hans, Professor, Universitätsplatz 3, A-8010 Graz 45. Gotthard, Dr. Axel, Privatdozent, Universität Erlangen, Kochstraße 4, D-91054 Erlangen 46. Grawert, Dr. Rolf, Professor, Universität Bochum, Fakultät für Rechtswissenschaften, Universitätsstraße 150, D-44801 Bochum 47. Grimm, Dr. Dieter, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 11, D-10117 Berlin 48. Gusy, Dr. Christoph, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universitätsstraße 25, D-33615 Bielefeld 49. Härter, Dr. Karl, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, D-60489 Frankfurt am Main 50. Hahn, Dr. Hans Henning, Professor, Universität Oldenburg, Historisches Seminar, FB 3, D-26111 Oldenburg 51. Hahn, Dr. Hans-Werner, Professor, Universität Jena, Humboldtstraße 11, D-07743 Jena 52. Hamza, Dr. Gabor, Professor, Eötvös Lorand Universität, Egyetem ter 1-3, H-1364 Budapest 53. Hartlieb von Wallthor, Dr. Alfred, Professor, Auf den Bohnenkämpen 6, D-32756 Detmold 15 Der Staat, Beiheft 15
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Verzeichnis der Mitglieder
54. Hartmann, Dr. Peter Claus, Professor, Universität Mainz, FB Geschichtswissenschaft, Saarstraße 21, D-55099 Mainz 55. Hausmann, Dr. Jost, Fasanenweg 28, D-56179 Vallendar 56. Heckel, Dr. Martin, Professor, Lieschingstraße 3, D-72076 Tübingen 57. Herborn, Dr. Wolf gang, Institut für geschichtliche Landeskunde, A m Hofgarten 22, D-53113 Bonn 58. Heun, Dr. Werner, Professor, Universität Göttingen, Goßlerstraße 11, D-37073 Göttingen 59. Heyen, Dr. Erk Volkmar, Professor, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Domstraße 20, D-17489 Greifswald 60. Hillgruber, Dr. Christian, Professor, Universität Bonn, Institut für Öffentliches Recht, Adenauerallee 24-42, D-53113 Bonn 61. Höbelt, Dr. Lothar, Ass.-Prof. Univ.-Doz., Porzellangasse 19/4, A-1090 Wien 62. Hofmann, Dr. Hasso, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, D-10099 Berlin 63. Hoke, DDr. Rudolf, Professor, Universität Wien, Schottenbastei 10-16, A-1010 Wien 64. Hufeid, Dr. Ulrich, Privatdozent, Ruprecht-Karls-Universität, Institut für Finanz- und Steuerrecht, Friedrich-Ebert-Anlage 6-10, D-69117 Heidelberg 65. Isenmann, Dr. Eberhard, Professor, Historisches Seminar der Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, D-50923 Köln 66. Ishibe, Dr. Masakuke, Professor, Osaka International University, Department of Econ. and Pol., Hirakat-shi, Sugi 3 - 50 - 1 , J- Osaka Fu, Japan 67. Jahns, Dr. Sigrid, Professor, Bommersheimer Weg 20, D-61348 Bad Homburg 68. Janssen, Dr. Wilhelm, Professor, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Kalkstraße 14, D-40489 Düsseldorf 69. Johanek, Dr. Peter, Professor, Universität Münster, Domplatz 20-22, D-48143 Münster 70. Kampmann, Dr. Christoph, Professor, Philipps-Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C III, D-35032 Marburg/Lahn 71. Kern, Dr. Bernd-Rüdiger, Professor, Universität Leipzig, Juristenfakultät, OttoSchill-Straße 2, D-04109 Leipzig 72. Kleinheyer, Dr. Gerd, Professor, Universität Bonn, Adenauerallee 24-42, D-53113 Bonn 73. Klippel, Dr. Diethelm, Professor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Universität Bayreuth, D-95440 Bayreuth 74. Kohler, Dr. Alfred, Professor, Institut für Geschichte, Dr. Karl Lueger-Ring 1, A-1010 Wien 75. Kölz, Dr. Alfred, Professor, Hirtenweg 20, CH-8053 Zürich 76. Koselleck, Dr. Reinhard, Professor, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, D-33615 Bielefeld 77. Kotulla, Dr. Michael, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universitätsstraße 25, D-33615 Bielefeld
Verzeichnis der Mitglieder
78. Kraus, Dr. Hans-Christof, Privatdozent, Rosenbergstraße 54, D-70176 Stuttgart 79. Krieger, Dr. Karl-Friedrich, Professor, Universität Mannheim, Schloß M 404, D-68161 Mannheim 80. Kroeschell, Dr. Karl, Professor, Universität Freiburg, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Postfach, D-79085 Freiburg 81. Krüger, Dr. Peter, Professor, Universität Marburg, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C, D-35039 Marburg 82. Kühne, Dr. Jörg-Detlef, Professor, Universität Hannover, Königswortherplatz 1, D-30167 Hannover 83. Kunisch, Dr. Johannes, Professor, Universität Köln, Historisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, D-50923 Köln 84. Landau, Dr. Dr. h.c. Peter, Professor, Leopold-Wenger-Institut für Rechtsgeschichte, Universität München, Prof.-Huber-Platz 2, D-80539 München 85. Landwehr, Dr. Götz, Professor, Universität Hamburg, Rothenbaumchaussee 41, D-20148 Hamburg 86. Lanzinner, Dr. Maximilian, Professor, Universität Bonn, Lehrstuhl Neuzeit I, Konviktstraße 11, D-531133 Bonn 87. Laufs, Dr. Adolf, Professor, Institut für geschichtliche Rechtswissenschaft, Friedrich-Ebert-Platz 2, D-69117 Heidelberg 88. Lepsius, LL.M. Dr. Oliver, Professor, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Juristische Fakultät, Friedrich-Ebert-Anlage 6-10, D-69117 Heidelberg 89. Lieberwirth, Dr. Rolf, Professor, Rainstraße 3 B, D-06114 Halle (Saale) 90. Lingelbach, Dr. Gerhard, Professor, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Rechtswissenschaftliche Fakultät, D-07743 Jena 91. Link, Dr. Christoph, Professor, Universität Erlangen, Juristische Fakultät, Schillerstr. 1, D-91054 Erlangen 92. Lottes, Dr. Günther, Professor, Forschungszentrum Europäische Aufklärung e.V., Gregor-Mendel-Str. 21/22, D-14469 Potsdam 93. Lück, Dr. Heiner, Professor, Juristische Fakultät, Universitätsring 4, D-06108 Halle (Saale) 94. Luntowski, Dr. Gustav, Professor, Am Hiddelk 2, D-34519 Diemelsee 95. Mager, Dr. Wolf gang, Professor, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, D-33615 Bielefeld 96. Majer, Dr. Diemut, Professor, Gaishöllpark 6, D-77887 Sasbachwalden 97. Maleczek, Dr. Werner, Professor, Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, A-1010 Wien 98. Malettke, Dr. Dr. h.c. Klaus, Professor, Philipps-Universität Marburg, WilhelmRöpke-Straße 6 C, D-35032 Marburg 99. Mazzacane, Dr. Aldo, Professor, Via Orazio 31,1-80122 Napoli 100. Menger, Dr. Christian-Friedrich, em. Professor, Bohlweg 3, D-48147 Münster 101. Menk, Dr. Gerhard, Archivoberrat, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Friedrichstraße 15, D-35037 Marburg
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Verzeichnis der Mitglieder
102. Modeer, Dr. Kjell Α., Professor, Universität Lund, Juridicum, S-22105 Lund 1 103. Mohnhaupt, Dr. Heinz, Professor, MPI für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, D-60457 Frankfurt am Main 104. Moormann van Kappen, Dr. Olav, Professor, Faculteit der Rechtsgeleerdheid, Postbus 9049, NL-6500 KK Nijmegen 105. Moraw, Dr. Peter, Professor, Universität Gießen, Historisches Institut, OttoBehaghel-Straße 10, Postfach 111440, D-35394 Gießen 106. Murakami, Dr. Junichi, Professor, University of Tokyo, Faculty of Law, 7-3-1Hongo, Bunkyo-ku, 113 Tokyo, Japan 107. Mussgnug, Dr. Reinhard, Professor, Institut für Finanz- und Steuerrecht der Universität Heidelberg, Friedrich-Ebert-Anlage 6-10, D-69117 Heidelberg 108. Neschwara, Dr. Christian, Ass.-Prof. Univ.-Doz., Institut für österreichische und deutsche Rechtsgeschichte, Schottenbastei 10 -16, A-1010 Wien 109. Neugebauer, Dr. Wolfgang, Professor, Institut für Geschichte, Am Hubland, D-97074 Würzburg 110. Neuhaus, Dr. Helmut, Professor, Friedrich-Alexander-Universität, Kochstraße 4, D-91054 Erlangen 111. Nicklas, Dr. Thomas, Privatdozent, Friedrich-Alexander-Universität, Institut für Geschichte, Kochstraße 4, D-91054 Erlangen 112. Oexle, Dr. Otto Gerhard, Professor, MPI für Geschichte, Hermann-Foege-Weg 11, D-37073 Göttingen 113. Pape, Dr. Matthias, Privatdozent, Lindenstraße 1, D-57462 Olpe 114. Pauly, Dr. Walter, Professor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Friedrich-Schiller-Universität, D-07740 Jena 115. Peterson, Dr. Claes, Professor, University of Stockholm, Faculty of Law, S-10691 Stockholm 116. Pieroth, Dr. Bodo, Professor, Westfälische Wilhelms-Universität, Wilmergasse 28, D-48143 Münster 117. Polley, Prof. Dr. Rainer, Archivdirektor, Archivschule Marburg, Bismarckstraße 32, D-35037 Marburg 118. Prodi, Dr. Paolo, Professor, Italienisch-deutsches historisches Institut, Via S. Croce 77,1-38100 Trento 119. Putzer, Dr. Peter, Professor, Universität Salzburg, A-5101 Bergheim 311 120. Quaritsch, Dr. Helmut, Professor, Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Freiherr-vom-Stein-Straße 2, D-67324 Speyer 121. Ranieri, Dr. Filippo, Professor, Lehrstuhl für Europäisches Privatrecht, Universität des Saarlandes, Postfach 151150, D-66041 Saarbrücken 122. Robbers, Dr. Gerhard, Professor, Universität Trier, FB V: Rechtswissenschaften, Postfach 38 25, D-54286 Trier 123. Rückert, Dr. Joachim, Professor, Lehrstuhl für Juristische Zeitgeschichte und Zivilrecht, Senckenberganlage 31, D-60054 Frankfurt am Main
Verzeichnis der Mitglieder 124. Rudersdorf, Dr. Manfred, Hochschuldozent, Universität Leipzig, Lehrstuhl für Gesch. der Frühen Neuzeit, Ritterstraße 26, D-04109 Leipzig 125. Ruppert, Dr. Karsten, Privatdozent, Am Unteren Schlittberg 19, D-67354 Römerberg 126. Russocki, Dr. Stanislaw, Professor, Uniwersytet Warszawski, Instytut Historii Prawa, ul. Krakowskie Przedmiescie 26/28, PL-00 927 Warszawa 127. Scheel, Dr. Günter, Professor, A m Okerufer 23, D-38302 Wolfenbüttel 128. Schiera, Dr. Pierangelo, Professor, Via Zara 1,1-38100 Trento 129. Schilling, Dr. Heinz, Professor, Humboldt Universität, Unter den Linden 6, D-10117 Berlin 130. Schindling, Dr. Anton, Professor, Eberhard-Karls-Universität, Wilhelmstraße 36, D-72074 Tübingen 131. Schlink, Dr. Bernhard, Professor, Heilbronner Straße 3, D-10779 Berlin 132. Schmidt, Dr. Georg, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, D-07743 Jena 133. Schmidt, Dr. Peer, Professor, Philosophische Fakultät, Nordhäuser Straße 63, D-99089 Erfurt 134. Schmidt-de Caluwe, Dr. Reimund, Professor, Martin-Luther-Universität, Juristische Fakultät, Universitätsplatz 5, D-06099 Halle (Saale) 135. Schmoeckel, Dr. Mathias, Professor, Universität Bonn, Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte, Adenauerallee 24-42, D-53113 Bonn 136. Schneider, Dr. Hans, Professor, Ludolf-Krehl-Straße 44, D-69117 Heidelberg 137. Schneider, Dr. Dr. h.c. Hans-Peter, Professor, Universität Hannover, Königsworther Platz 1, D-30167 Hannover 138. Schneider, Dr. Reinhard, Professor, Aßmannshauser Str. 26, D-14197 Berlin 139. Schott, Dr. Clausdieter, Professor, Dorfstraße 37, CH-8126 Zumikon 140. Schroeder, Dr. Klaus-Peter, Professor, JuS Schriftleitung, Postfach 110 241, D-60325 Frankfurt am Main 141. Schubert, Dr. Werner, Professor, Universität Kiel, Olshausener Straße 40, D-24118 Kiel 142. Schulze, Dr. Reiner, Professor, Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 14-16, D-48143 Münster 143. Schwab, Dr. Dieter, Professor, Universität Regensburg, Juristische Fakultät, D-93040 Regensburg 144. Schütz, Dr. Rüdiger, Privatdozent, Historisches Institut, Kopernikusstraße 16, D-52074 Aachen 145. Seif, Dr. Ulrike, Professor, Universität Passau, Juristische Fakultät, Nikolakloster, Innstr. 40, D-94032 Passau 146. Simon, Dr. Thomas, Privatdozent, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, D-60489 Frankfurt am Main 147. Spieß, Dr. Karl-Heinz, Professor, Ernst Moritz Arndt Universität, Domstraße 9a, D-17487 Greifswald
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Verzeichnis der Mitglieder
148. Sprandel, Dr. Rolf, Professor, Institut für Geschichte, Am Hubland, D-97074 Würzburg 149. Stehkämper, Dr. Hugo, Professor, Am Hang 12, D-51429 Bergisch Gladbach 150. Steiger, Dr. Heinhard, Professor, Universität Gießen, Licherstraße 76, D-35394 Gießen 151. Stollberg-Rilinger, Dr. Barbara, Professor, Universität Münster, Domplatz 2022, D-48143 Münster 152. Stolleis, Dr. Michael, Professor, Universität Frankfurt, Senckenberganlage 31, D-60325 Frankfurt am Main 153. Takii, Kazuhiro, Professor, Kobe University of Commerce, 651-2197 Kobe/Japan 154. Thier, Dr. Andreas, Professor, Universität Münster, Institut für Rechtsgeschichte, Universitätsstraße 14-16, D-48143 Münster 155. Ullmann, Dr. Hans-Peter, Professor, Philosophische Fakultät, Universität Köln, Albertus-Magnus-Platz, D-50923 Köln 156. von Unruh, Dr. Georg-Christoph, Professor, Universität Kiel, D-24226 Heikendorf bei Kiel 157. Wadle, Dr. Elmar, Professor, Universität des Saarlandes, Im Stadtwald, D-66123 Saarbrücken 158. Wahl, Dr. Rainer, Professor, Institut für Öffentliches Recht, Werderring 10, D-79085 Freiburg im Breisgau 159. Weis, Dr. Eberhard, Professor, Ammerseestraße 102, D-82131 Gauting 160. Weitzel, Dr. Jürgen, Professor, Universität Würzburg, Domerschulstraße 16, D-97070 Würzburg 161. Wienfort, Dr. Monika, Privatdozentin, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Postfach 100131, D-33501 Bielefeld 162. Willoweit, Dr. Dietmar, Professor, Institut für Rechtsgeschichte, Domerschulstraße 16, D-97070 Würzburg 163. Wolf, Dr. Armin, Professor, MPI für europäische Rechtsgeschichte, Hausener Weg 120, D-60489 Frankfurt am Main 164. Wolgast, Dr. Eike, Professor, Historisches Seminar, Neue Universität, Südflügel, D-69120 Heidelberg 165. Würtenberger, Dr. Thomas, Professor, Institut für Öffentliches Recht, Postfach, D-79085 Freiburg 166. Wyduckel, Dr. Dieter, Professor, Technische Universität Dresden, Mommsenstraße 13, D-01062 Dresden 167. Zlinsky, Dr. Janos, Professor, Verfassungsgericht der Republik Ungarn, Donati u. 35-45, H-1525 Budapest