Verfassung und Öffentlichkeit in der Verfassungsgeschichte: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte vom 22. bis 24. Februar 2016 auf der Insel Reichenau [1 ed.] 9783428559978, 9783428159970

Die Begriffe ›Verfassung‹ und ›Öffentlichkeit‹ kennzeichnen normative Ordnungsformationen und zugleich tatsächliche Dyna

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German Pages 220 [221] Year 2020

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Verfassung und Öffentlichkeit in der Verfassungsgeschichte: Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte vom 22. bis 24. Februar 2016 auf der Insel Reichenau [1 ed.]
 9783428559978, 9783428159970

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DER STAAT ZEITSCHRIFT FÜR STAATSLEHRE UND VERFASSUNGSGESCHICHTE, DEUTSCHES UND EUROPÄISCHES ÖFFENTLICHES RECHT

Herausgegeben von Lothar Schilling Christoph Schönberger Andreas Thier

Beiheft 25

Verfassung und Öffentlichkeit in der Verfassungsgeschichte

Duncker & Humblot

Verfassung und Öffentlichkeit in der Verfassungsgeschichte

BEIHEFTE ZU „DER STAAT“ Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht Herausgegeben von Armin von Bogdandy, Rolf Grawert, Oliver Lepsius, Christoph Möllers, Fritz Ossenbühl, Walter Pauly, Barbara Stollberg-Rilinger, Uwe Volkmann, Andreas Voßkuhle, Rainer Wahl

Heft 25

Verfassung und Öffentlichkeit in der Verfassungsgeschichte Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte vom 22. bis 24. Februar 2016 auf der Insel Reichenau

Herausgegeben von Lothar Schilling, Christoph Schönberger und Andreas Thier

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Ochsenfurt-Hohestadt Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-6828 ISBN 978-3-428-15997-0 (Print) ISBN 978-3-428-55997-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorbemerkung Die Begriffe „Verfassung“ und „Öffentlichkeit“ verweisen je für sich auf offensichtlich komplexe Phänomene, die ihrerseits in Bezug zueinander stehen. Gemeinsam ist beiden Termini ihre inhaltliche Offenheit und ihre historische Veränderlichkeit. Als Erscheinungsformen von „Verfassung“ nimmt die Verfassungsgeschichte seit jeher nicht nur die seit 1787 schriftlich niedergelegten Grundordnungen moderner Staaten in den Blick, sondern auch Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, hausvertragliche Erbfolgeregelungen und andere (auch gewohnheitsrechtliche) fundamentale Rechtsnormen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Gemeinwesen. Mit der Vielfalt der Erscheinungsformen von „Öffentlichkeit“ hat sich die Forschung der letzten Jahrzehnte intensiv auseinandergesetzt – bis hin zur inzwischen weithin verneinten Frage, ob dieser Begriff für die Vormoderne überhaupt im Singular gebraucht werden sollte. Hinzu kommt, dass „Verfassung“ und „Öffentlichkeit“ sowohl normativ zur Bezeichnung von Sollensordnungen verwendet werden, als auch dazu dienen, tatsächliche Sachverhalte, Formationen, Praktiken und Dynamiken zu beschreiben. Wenn (jeweils als Minimaldefinition) „Verfassung“ als gegenüber der übrigen Rechtsordnung höherrangige Grundordnung politischer Gewaltübung verstanden wird und „Öffentlichkeit“ als Sphäre der Kommunikation, in der ein Austausch von Informationen und Meinungen im Zusammenhang politischer Willensbildung erfolgt, dann lassen sich vielfache Beziehungen zwischen „Öffentlichkeit“ und „Verfassung“ ausmachen. Genannt seien – in idealtypischer Verdichtung – lediglich drei: (1) Verfassung kann zur Garantie, aber auch zur Regulierung von Öffentlichkeit beitragen. Im Verfassungsstaat der Gegenwart ist damit zuallererst die Garantie der Kommunikationsfreiheiten angesprochen, aber auch die Frage nach der Publizität verfassungsstaatlichen Handelns – etwa im Hinblick auf die Öffentlichkeit parlamentarischer, gerichtlicher, administrativer oder regierungsseitiger Willensbildungen und der daraus resultierenden staatlichen Regeln und Anordnungen. In diesem Sinn kann Verfassung den normativen Rahmen von Öffentlichkeit setzen. (2) Verfassungen sind ihrerseits aber auch auf Öffentlichkeit angewiesen, um Wirkung zu entfalten und Akzeptanz zu finden. Diesem Ziel dienen Verfassungsfeste und Jahrestage von Verfassungsgebungen ebenso wie die öffentliche Auseinandersetzung mit Verfassungsnormen und -praxis. (3) Öffentlichkeit und Verfassung können auch in starkem Maße konvergieren. Dies gilt insbesondere dort, wo die normative Ordnung von politischer Herrschaft in Gestalt von Ritualen und Zeremoniellen wie etwa Krönungen, Hofversammlungen oder auch der Inauguration von Amtsträgern öffentlich und damit zugleich anschaulich wird. Die Vermutung liegt nicht fern, dass die Bedeutung solcher Formen von Performanz besonders dort wichtig ist, wo andere

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Vorbemerkung

Medien der Verfassungsvermittlung – etwa die Schrift – einen vergleichsweise geringeren Stellenwert haben. Gerade hier gibt die Art ihrer öffentlichen Inszenierung Auskunft über die jeweilige Verfassung. Diesen und zahlreichen weiteren Fragen und Überlegungen sind die nachfolgenden Beiträge gewidmet. Sie gehen zurück auf Vorträge anlässlich der Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte auf der Reichenau 2016. Dass diese Tagung und die Publikation der Beiträge möglich wurden, verdanken die Herausgeber auch ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, denen hier nochmals ausdrücklich gedankt sei. Dies gilt vor allem für Sabine Gerber (Konstanz) und Hanno Menges, MLaw (Zürich). Die Verantwortung für Fehler und Unzulänglichkeiten liegt selbstverständlich allein bei den Herausgebern. Augsburg/Konstanz/Zürich, im Februar 2020

Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis Gerd Althoff Zur ordnungsstiftenden Leistung der Rituale im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerhard Dilcher Herrschen mit und ohne Schrift. Medien, Recht und Öffentlichkeit im Ersten Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

Andreas Gestrich Öffentlichkeit und Verfassung in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

Martin Schennach Zur Gesetzespublikation in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Anna Gianna Manca Parlament und Öffentlichkeit im Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts . . . . 161 Aussprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Schlussdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Verzeichnis der Redner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Vereinigung für Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Verzeichnis der Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Zur ordnungsstiftenden Leistung der Rituale im Mittelalter Von Gerd Althoff, Münster Es ist vielleicht angemessen, am Beginn dieses Beitrags einige Gedanken darauf zu verwenden, wie es dazu kommen konnte, dass die Bedeutung von Ritualen für die Stiftung und Aufrechterhaltung von Ordnung im Mittelalter von der Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend übersehen wurde. Dies änderte sich erst in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, dann aber mit erheblicher Intensität.1 Die aber führte wiederum schnell zu Warnungen vor dem Ritual als einem ethnologischen Konzept, das sich nicht für die Erforschung des Mittelalters eigne.2 Damit ist eine wissenschaftsgeschichtlich sehr interessante Situation wenigstens angedeutet, die durch erhebliche Vorbehalte vor dem Begriff und der Sache „Ritual“ gekennzeichnet ist. Einige Bemerkungen hierzu sollen genügen. Im 19. und früheren 20. Jahrhundert dürfte das Desinteresse an Ritualen zwei Hauptgründe gehabt haben. Einmal subsumierte man Phänomene, die heute Rituale genannt werden, unter dem Begriff Zeremoniell, und dieses wiederum wurde vorrangig mit den Attributen ,starr‘ oder ,leer‘ verbunden und so abgewertet. Man war der zeremoniellen Etikette des Ancien Regime überdrüssig geworden und verachtete sie schon seit dem 18. Jahrhundert zunehmend als sinnentleerte Zurschaustellung vergangenen Glanzes. Barbara StollbergRilinger hat diesen Prozess eines erst langsamen, dann galoppierenden Funktionsverlustes der Rituale unter dem Titel „des Kaisers alte Kleider“ vor einigen Jahren für

1 Jeder Versuch einer Dokumentation dieser Entwicklung würde den hier vorgegebenen Rahmen sprengen: Einen guten Überblick über die Geschichte der Ritualforschung und ihre Intensivierung in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts bietet Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale (Historische Einführungen 16), Frankfurt/New York 2013, S. 17 ff., zu den 80er Jahren ebd. S. 36 ff.; aus anderen Blickwinkeln vgl. Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hrsg.) Geschichtswissenschaft und ,performative turn‘. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln u. a. 2003, hier insb. die Einleitung der Hrsg.; aus Heidelberger Perspektive der ,Ritualdynamik‘ vgl. Dietrich Hardt/Gerrit J. Schenk (Hrsg.) Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns, Heidelberg 2004. 2 Vgl. vor allem Phillippe Buc, The Danger of Ritual. Between Early Medieval Texts and Social Scientific History, Princeton 2001.

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das 15. bis 18. Jahrhundert beschrieben.3 Er ist jedoch für das Mittelalter noch nicht anzunehmen. Zum anderen aber betrieb man die Erforschung des Mittelalters ganz wesentlich aus einer verfassungsgeschichtlichen Perspektive; suchte den „Staat des Mittelalters“ zu profilieren. Dieser wurde gerade in Deutschland als eine goldene Vergangenheit präsentiert, die nach der napoleonischen Demütigung wieder bewusstgemacht und für den Prozess der nationalen Einigung genutzt wurde. Hierdurch wurde vieles in den Hintergrund gedrängt, was nicht in die Kategorie „Staatlichkeit“ zu passen schien. Dazu gehörten nicht zuletzt auch die Rituale, die man für „Feierlichkeiten“ hielt und damit dem schmückenden Beiwerk zuordnete.4 Als Beleg für solche Einschätzungen sei nur die Wertung aus Georg von Belows „Der deutsche Staat des Mittelalters“ von 1914 zitiert: „Man hat das Mittelalter rechtfertigen zu können geglaubt, indem man die mittelalterliche Zügellosigkeit, die man dazu übertrieb, als etwas Schönes und Edles darstellte und die Tätigkeit der nichtstaatlichen Gewalten idealisierte. Wir leugnen gar nicht, dass hier eine Rechtfertigung möglich und innerhalb gewisser Grenzen auch erreicht worden ist. Aber die starken Übertreibungen und unhistorischen Idealisierungen … sind heute eben als das erkannt, was sie sind, nämlich als Entstellungen … Erfolgreicher wird man eine Rechtfertigung (des Mittelalters) unternehmen, wenn man sein Augenmerk mehr darauf richtet, dass das Mittelalter der Ordnung fähig war, den staatlichen Rahmen kannte, staatliche Einrichtungen ausbildete und von ihnen Gebrauch machte.“5 Mit der Fokussierung auf den staatlichen Charakter der mittelalterlichen Verhältnisse, für die von Below nur einer von vielen möglichen Zeugen ist, geriet aber folgerichtig alles in den Schatten, was sich gegen diese Einordnung sperrte. Dazu gehörten auch zahlreiche symbolische Verhaltensmuster, die heute eben Rituale genannt werden. Lediglich das Zeremoniell von Amtseinsetzungen fand Interesse, da diese Ämter als Grundpfeiler staatlicher Strukturen verstanden wurden. Hier ist 3 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des alten Reiches, München 2008, bes. S. 227 – 297. 4 Diese Tendenz ist auch heute durchaus nicht völlig verschwunden; vgl. dazu aus jüngster Zeit etwa Stephen Freund, Die ostfränkisch – deutsche Königserhebung im frühen und hohen Mittelalter. Zeitgenössische Quellenaussagen und retrospektive Forschungskonstrukte, in: ders./Klaus Krüger (Hrsg.) Königtum, Papsttum und Volkssouveränität im hohen und späten Mittelalter. Studien zu Ehren von Helmut G. Walther (Jenaer Beiträge zur Geschichte 12), Frankfurt a. M. 2017, S. 9 – 59, der bei seiner ausführlichen Besprechung der Quellen zu den einschlägigen Königswahlen konsequent die zahlreichen rituellen Akte unerwähnt lässt, weil er sie offensichtlich für seine traditionelle Frage nach erbrechtlichen und wahlrechtlichen Vorstellungen für unergiebig hält. Dabei sind gerade die Königswahlen, bei denen erbrechtliche Gesichtspunkte nicht entscheidend oder vorrangig waren (Heinrich I., Heinrich II., Konrad II., Lothar von Supplingenburg, Friedrich I.) durch außergewöhnliche rituelle Formen geprägt, die für das Verständnis des Vorgangs wichtig sind. 5 Vgl. Georg von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters. Eine Grundlegung der deutschen Verfassungsgeschichte, Leipzig 2014, S. 175.

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inzwischen jedoch ein grundsätzlicher Wandel eingetreten. Man beschreibt und erklärt nicht zuletzt mit Hilfe von Ritualen nun eine Ordnung, die durch die Reduzierung auf ihren staatlichen Charakter nicht adäquat und ausreichend charakterisiert werden kann. Vielmehr beachtet man die symbolischen Praktiken und Verhaltensweisen im Zusammenleben der Menschen, mit denen Bindungen verschiedenster Art – Verwandtschaft, Freundschaft, Genossenschaft, Bruderschaft – begründet wurden; friedliches Zusammenleben oder der Weg vom Konflikt zum Frieden ermöglicht wurde. Und man stellte fest, dass am Beginn herrschaftlicher Bindungen, wie etwa der des Lehnswesens, ähnliche symbolische Handlungssequenzen standen; dass auf Hoftagen wechselseitig der Rang der Teilnehmer auf symbolische Weise anerkannt und sich wechselseitig Ehre erwiesen wurde; dass bei Begrüßung und Abschied das Gleiche zu beobachten war und etwa mit dem Gabentausch symbolisch Beziehungen gefestigt wurden. Immer wieder ist man also darauf gestoßen, dass stereotype, sich wiederholende Verhaltensmuster benutzt wurden, die man unter dem Begriff Rituale subsumieren konnte. Mit staatlichen Institutionen hatten sie aber wenig zu tun, sie waren vielmehr geeignet, die Vorstaatlichkeit mittelalterlicher Verhältnisse ins Bewusstsein zu rücken. All diese Handlungsmuster halfen aber, Ordnung zu begründen und aufrecht zu erhalten. Um diese Funktion ins Blickfeld zu rücken, musste man allerdings die bereits existierenden religionswissenschaftlichen wie ethnologisch-soziologischen Konzepte von „Ritual“ modifizieren. Der Begriff Ritual wird nämlich bis heute dadurch strapaziert, dass ihm sehr unterschiedliche Erscheinungen subsumiert werden. Ein auf politische Rituale des Mittelalters zugeschnittenes Verständnis von Ritual sei daher in aller Kürze angesprochen. Es unterscheidet sich von der Definition der religiösen Rituale wie der Rituale sog. primitiver Völker vor allem darin, dass den Ritualen keine magisch-geheimnisvolle Qualität zugesprochen wird. Unter Ritualen versteht die Mediävistik, die mit diesem Begriff arbeitet, vielmehr Verhaltensmuster, die von Akteuren in aller Regel vor Zuschauern benutzt werden, also öffentlich stattfinden. Mit ihnen werden – symbolisch verdichtet – Botschaften ausgesandt und ausgetauscht, deren Sinn der Gesellschaft bekannt ist. Deshalb stellt sich ein Wiedererkennungseffekt ein. Man benutzt „Trampelpfade der Kommunikation“, wie es der Soziologe Hans Georg Soeffner formuliert hat, die ein schnelles und sicheres Verständnis garantieren.6 Die gezeigten Handlungen markieren und bewältigen vor allem Übergänge, sie begründen Rechte und Pflichten anlässlich eines Neubeginns; bewirken den Übergang vom Konflikt zum Frieden, von Feindschaft zu Freundschaft. Sie markieren 6 Vgl. Hans Georg Soeffner, Auslegung des Alltags – der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1989, S. 177 f.

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neu begründete Verhältnisse als gleichrangige oder als solche der Über- bzw. Unterordnung. Immer aber gehen die Akteure mit dem Tun und Sprechen im Ritual die Verpflichtung ein, sich auch in Zukunft so zu verhalten, wie sie es im Ritual vorführen. Rituale bewirken somit, was sie aufführen: Sie machen einen Kandidaten zum Amtsträger; zwei Menschen zu einem Ehepaar, ihre Angehörigen zu Verwandten; einen Feind zum Freund; zwei Männer zu Lehnsherrn und Lehnsmann. Mit dem rituellen Tun haben die Akteure der Rituale versprochen, sich an all die Rechte und Pflichten in der Zukunft zu halten, die die Gesellschaft für die entsprechende Position, Stellung oder Bindung in ihren Gewohnheiten (consuetudines) vorsieht.7 Die Leistung der Rituale besteht also in einer beträchtlichen Ordnungsstiftung, auch wenn sie natürlich keine Allheilmittel sind. Ihre Wirkung kann ausbleiben, oder auch verblassen; sie können betrügerisch und heimtückisch missbraucht werden.8 Um die angedeuteten Leistungen erfüllen zu können, bedurften Rituale aber auch der intensiven Vorbereitung. Die Akteure mussten sich über den beabsichtigten Verlauf und die Aussagen des Rituals verständigen. Hierzu gab es die Verantwortlichen für Gestaltung und Ablauf des Rituals, die man mit Anleihe bei der Theatersprache als „Regisseure“ bezeichnen kann, obgleich für mittelalterliche Rituale keine „Drehbücher“ angefertigt wurden. Sehr wohl aber gab es Verhandlungen, in denen der Ablauf geplant und festgelegt wurde, wie wir noch sehen werden. Die Rituale folgten nämlich keinem starren Schema. Vielmehr wurden sie häufig genau auf die Situation zugeschnitten, die sie verändern sollten. Keine Königserhebung glich der anderen wie ein Ei dem anderen; Unterwerfungs- und Versöhnungsrituale sind in vielfältigen Variationen überliefert, um die nach dem Zeugnis einschlägiger Quellen bis ins Detail gerungen werden konnte.9 Die Genugtuungsleistungen richtete man ebenso wie die Versöhnungsgesten am Verlauf des vorherigen Konflikts aus. Rituelle Einzüge und Begegnungen waren als Manifestationen von Herrschaft ausgestaltet, die Rechte, aber auch Pflichten dieser Herrschaft in den Vordergrund stellen konnten. Sie wurden daher ebenfalls minutiös vorgeplant und abgesprochen.

7 Vgl. dazu Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003. Zu den Kontroversen um diese Einschätzungen s. auch Stollberg-Rilinger (Fn. 1), S. 193 ff. 8 Vgl. dazu Gerd Althoff, Hinterlist, Täuschung und Betrug bei der friedlichen Beilegung von Konflikten, in: Oliver Auge u. a. (Hrsg.) Bereit zum Konflikt. Strategien und Medien der Konflikterzeugung und Konfliktbewältigung im europäischen Mittelalter, Ostfildern 2008, S. 19 – 29. 9 Vgl. hierzu Gerd Althoff, Die Veränderbarkeit von Ritualen im Mittelalter, in: ders. (Hrsg.) Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 51), Stuttgart 2001, S. 157 – 176; ders., Wer verantwortete die ,artistische‘ Zeichensetzung in Investitur- und Krönungsritualen des hohen Mittelalters, in: Marion Steinicke/ Stefan Weinfurter, Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich, Köln u. a. 2005, S. 93 – 104.

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Auch sie waren sowohl auf das grundsätzliche Verhältnis der sich Begegnenden wie auf die momentane Situation abgestimmt.10 Insgesamt kann man von einem Lernprozess sprechen, durch den die mittelalterliche Gesellschaft seit der Karolingerzeit in die Lage versetzt wurde, immer mehr und immer differenziertere Aussagen auf symbolisch-rituelle Weise zu tätigen, deren Leistung darin bestand, Rechte wie Verpflichtungen zu begründen. Will man einen grundsätzlichen Unterschied mittelalterlicher und moderner Rituale betonen, liegt er sicherlich in der Tatsache begründet, dass in der Moderne die Rituale genannten Vorgänge die Veränderung der Wirklichkeit nicht bewirken, sondern nur noch anschaulich machen. Entstanden ist die Veränderung bereits zuvor und auf andere Weise. Ein Friede wird durch einen schriftlichen Friedensvertrag bewirkt, nicht durch seine feierliche Übergabe und den Handschlag von Repräsentanten der Friedenschließenden oder gar durch ihr anschließendes Festbankett. Ein Präsident erhält sein Amt durch eine Wahl und die Feststellung ihres Ergebnisses durch dafür von der Verfassung vorgesehene Institutionen, nicht durch die Inaugurationsrituale genannten festlichen Veranstaltungen der Amtseinführung.11 Das war im Mittelalter jedoch noch anders, denn die konstitutiven Akte des Friedensschlusses wurden im Ritual vollzogen: Etwa durch symbolische Genugtuungsleistungen wie den Fußfall und Versöhnungsgesten wie den Kuss oder das gemeinsame Mahl. Sie bewirkten den Frieden und benötigten keine vorweg fixierte schriftliche Grundlage. Auch ein Amtsinhaber bekam sein Amt durch rituelle Akte wie die Thronsetzung und Huldigung, Salbung und Krönung im Falle des Königs. Bei Bischof oder Herzog finden sich analoge Vorgänge wie Altar- oder Stuhlsetzung als konstitutive Elemente. Damit aber drängt sich eine Frage auf, die in der modernen Forschung auch zu kontroversen Antworten führte: Wie kann man Ordnung auf symbolischen Akten gründen, denen doch offensichtlich ein Ausmaß von Mehrdeutigkeit, an Ambiguität, anhaftet, das sie für die Aufgabe der Ordnungsstiftung disqualifiziert? Dieser Einwand ist bedenkenswert, trifft jedoch nicht den Kern des Problems.12 In ihrer grundsätzlichen Aussage sind die Rituale des Mittelalters trotz ihrer Nutzung symbolischer Ausdrucksmittel nämlich alles andere als ambig, mehrdeutig: Es ist unzweifelhaft, dass durch eine Unterwerfung oder ein gemeinsames Mahl ein 10 Vgl. dazu Gerrit Jasper Schenk, Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge im spätmittelalterlichen Reich, Köln u. a. 2003, S. 248 ff.; Gerald Schwedler, Herrschertreffen des Spätmittelalters. Formen, Rituale, Wirkungen, Ostfildern 2008, S. 318 ff. 11 Vgl. dazu Helene Basu/Gerd Althoff (Hrsg.), Rituale der Amtseinsetzung. Inszenierungen von Otto dem Großen bis Barack Obama, Würzburg 2013, bes. S. 8 ff. 12 Vgl. hierzu neuerdings Gerd Althoff, Mittelalterliche Verfassungsgeschichte und Spielregeln der Politik: ein Nachwort, in: ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, 2. Aufl., Darmstadt 2014, bes. S. 373 ff. mit einer Stellungnahme zur angeblichen Mehrdeutigkeit von Ritualen.

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Friede geschlossen, durch ein Investiturritual ein Amtsträger eingesetzt, durch die Reihenfolge einer Prozession oder die Sitzordnung eine Rangordnung fixiert wird. Diese Wirkung der Rituale ist in den Gewohnheiten der Gesellschaft fest verankert. Das Problem der Ambiguität tritt erst auf, wenn man fragt, was aus dieser Tatsache an Verpflichtungen und Rechten in der Zukunft im Einzelnen folgen soll. Darauf geben die symbolischen Handlungen des Rituals in der Tat keine ausreichenden Antworten. Dafür hatte man in der mittelalterlichen Gesellschaft aber andere Verfahren, die in der Lage waren, etwaige Unklarheiten zu beheben. Man beriet darüber, was die Gewohnheiten zu tun vorgeben und einigte sich in aller Regel, diesen Gewohnheiten zu folgen. Das tat man allerdings erst dann, wenn sich das Problem stellte. Damit beschreibe ich die mittelalterliche Herrschaftsordnung, die insgesamt bekanntlich mit sehr wenig normativ-präskriptiver Schriftlichkeit auskam, als eine Ordnung, die relativ wenige und grundsätzliche Regelungen bevorzugte, und großes Vertrauen darauf setzte, dass man Details besser später regelte, wenn ein konkreter Anlass dazu bestand. Das Dictum, „dass der Teufel im Detail steckt“, drückt eine gegenteilige Erfahrung aus, die jedoch jünger zu sein scheint, und eher moderne Mentalität wiedergibt. Grundsätzliche Regelungen lassen sich dagegen sehr wohl mittels symbolisch-rituellen Handlungen präzise kommunizieren. Diese knapp skizzierten allgemeinen Einschätzungen seien im Folgenden zunächst an einigen Beispielen aus dem Bereich der Rituale der Friedensstiftung konkretisiert, mit denen Konflikte in den Führungsschichten geschlichtet, also gütlich beigelegt wurden. Ihre Standardversion bestand aus einer Unterwerfung der rangniederen Konfliktpartei unter die ranghöhere, die als Genugtuungsleistung (satisfactio) diente und mit abgestuften Gesten der Verzeihung und Versöhnung beantwortet wurde. Mit der temporären Selbstentehrung war dann auch genug getan und der Friede verbindlich geschlossen. Auf diese Weise wurde immer die alte Ordnung wiederhergestellt. Ich möchte mit den folgenden Beispielen aber auch verdeutlichen, welche Variationsbreite die einzelnen Ausführungen dieses Rituals der Friedenstiftung durch Unterwerfung (deditio) aufweisen und dass diese Variationen jeweils auf Eigenheiten des vorhergehenden Konfliktes deuten, auf die sie sich implizit beziehen. Sie sind Ergebnisse von Verhandlungen, die Vermittler führten, denen bei der Streitschlichtung eine wesentliche Rolle, aber keine Entscheidungsbefugnis zukam.13 Ohne die Zustimmung der Parteien war eine Einigung durch Rituale nicht denkbar. Die Freiwilligkeit der Beteiligung an diesen Ritualen wird häufig betont. Das erste Beispiel: Als Kaiser Otto III. im Jahre 1001 die rebellische Stadt Tivoli in der Nähe Roms belagerte, wurde der Konflikt durch ein Unterwerfungsritual beigelegt, das in der Vita des Bischofs Bernward von Hildesheim, der als Friedensvermittler tätig gewesen war, so beschrieben wird: 13 Allg. zur Institution des Vermittlers vgl. Hermann Kamp, Friedenstifter und Vermittler im Mittelalter, Darmstadt 2001.

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„Einige Tage später zeigten sich der Herr Bernward und der Papst (Silvester II.) vor den Toren der Stadt. Die Bürger nahmen die Diener Gottes voll Freude in Empfang und führten sie ehrenvoll in ihre Stadt. Jene aber gaben nicht eher nach, als bis sie mit Gottes Hilfe alle zur friedlichen Unterwerfung unter das Gebot des Kaisers gebracht hatten. Am anderen Tag kehrten die Bischöfe zum Kaiser zurück, gefolgt von einem denkwürdigen Triumphzug. Denn alle angesehenen Bürger der Stadt folgten ihnen, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, in der Rechten ein Schwert, in der Linken eine Rute tragend, und bewegten sich so zum Palast. Dem Kaiser seien sie mit Hab und Gut verfallen, nichts ausbedungen, nicht einmal das nackte Leben. Wen er für schuldig halte, möge er mit dem Schwert hinrichten, oder wenn er Mitleid üben wolle, am Pranger mit Ruten auspeitschen lassen, (riefen sie)… Der Kaiser war voll des Lobes für die Friedensstifter, den Papst Silvester und den Bischof Bernward, und schenkte auf ihre Bitten hin den Schuldigen Verzeihung.“14

Hier haben sie sozusagen eine Standardversion des Unterwerfungsrituals einschließlich der Verzeihung und Versöhnung, die durch Vermittler vereinbart und von den Vermittlern auch erfolgreich bis zum Ende gewährleistet wurde, indem sie die Bürger Tivolis zum Kaiser begleiteten. Lediglich die von den Bürgern gewählten Gegenstände (Schwert und Rute) erweisen sich durch Vergleiche als italienische Besonderheiten, die erst später durch Friedrich Barbarossa auch nördlich der Alpen Verwendung fanden. Dass der eigentlich zu erwartende Fußfall vor dem Kaiser im Falle Tivolis nicht erwähnt wird, kann man vielleicht dadurch erklären, dass dies dem Autor zu selbstverständlich war, um es aufzuführen. Er wollte ja nicht das Ritual möglichst exakt beschreiben, sondern die Rolle seines Bischofs. Ich kontrastiere mit dieser Version eines gütlichen Friedensschlusses gleich eine extreme Demütigung eines erfolgreichen Unruhestifters, dessen Genugtuungsleistungen folgerichtig viel entehrender gestaltet wurden als diejenigen vor Tivoli und dem auch nicht vollständig verziehen wurde. Es handelt sich um die Beendigung der sog. Tübinger Fehde, die der Pfalzgraf Hugo von Tübingen gegen Herzog Welf VI. und seinen Sohn Welf VII. mehrere Jahre bis 1166 geführt hatte: „Am Fastnachtsdienstag (schreibt die Historia Welforum, also eine Darstellung der gegnerischen Konfliktpartei) unterwarf sich Hugo auf 14

Vgl. Thangmar, Vita Bernwardi episcopi Hildesheimensis, in: Georg Heinrich Pertz u. a. (Hrsg.) (MGH SS 4), Hannover 1841, S. 754 – 782, cap. 23, S. 769 f.: „Aliquot diebus exactis, domnus Bernwardus et apostolicus praefatam urbem adeunt. Cives laeti adventantes servos Dei honorifice excipiunt, urbi intromittunt; nec prius desistunt, quam omnes pacatos imperatoris ditioni Dei gratia adiuti subdunt. Postera namque die, nobili triumpho subsequente, episcopi imperatorem adeunt. Nam cuncti primarii cives praescriptae civitatis assunt nudi, femoralibus tantum tecti, dextra gladius, laeva scopas ad palatium praetendentes; imperiali iuri se suaque subactos; nil pacisci, nec ipsam quidem vitam; quos dignos iudicaverit, ense feriat, vel pro misericordia ad palam scopis examinari iubeat. … Imperator pacis consiliatores, papam et domnum Bernwardum episcopum, magnifice gratando extollit atque ad illorum nutum reis veniam tribuit.“ Übersetzung im Text zitiert nach: Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr v. Stein-Gedächtnisausgabe 22, übersetzt von Hatto Kallfelz, Darmstadt 1973, S. 316 ff. Zur Entstehungsproblematik der Vita Bernwardi vgl. Martina Giese, Die Textfassungen der Lebensbeschreibung des Bischof Bernwards von Hildesheim (MGH Studien und Texte 40), Hannover 2006.

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einem Hoftag in Ulm in Gegenwart Herzog Heinrichs des Löwen, unseres Herrn (d. h. Welfs VI.), und unter den Augen des Kaisers selbst und Herzog Friedrichs von Schwaben dem jungen Welf (VII.): er fiel ihm zu Füßen und musste es hinnehmen, gefangen und gefesselt abgeführt zu werden. So ward er bis zum Tode dieses Welf, nämlich anderthalb Jahre, in Gefangenschaft gehalten.“ Otto von St. Blasien ergänzt noch das interessante Detail, dass der Pfalzgraf seinen Fußfall dreimal wiederholen musste.15 Die für einen Adligen extrem entehrende Ausführung des Rituals – namentlich durch die Fesselung und die Gefangennahme – findet ihre plausible Erklärung aber dadurch, dass der Pfalzgraf im Konflikt selbst seinen Gegner offensichtlich auf gleichfalls extreme Weise düpiert hatte: Nämlich durch seine erfolgreiche Fehdeführung. Bei einer eigenartigen „Schlacht“ zwischen den Kontrahenten hatte der Tübinger nämlich 900 Kämpfer des Welfen gefangengenommen, während in der Schlacht nur ein Krieger gefallen war.16 Dieser Vorgang, für den wir keine Begründung hören, war wohl geeignet, die Ehre des Welfen so stark zu verletzen, dass die Genugtuungsleistungen des Gegners entsprechend extrem ausfallen mussten, um diese Scharte auszuwetzen. Solche extremen Reaktionen finden wir ansonsten nur in den seltenen Fällen von „Wiederholungstätern“, die einen gütlich durch Unterwerfung beigelegten Konflikt erneut eröffnet hatten. Dies hatte bei Einzelpersonen sogar die Folge, dass grundsätzlich keine zweite gütliche Beilegung des Konfliktes gewährt, sondern bis zur Tötung des Gegners gekämpft wurde. Ausnahmen finden sich allerdings, wenn eine ganze Stadt den Konflikt erneuerte, wie es Mailand 1162 gegen Friedrich Barbarossa tat.17 Das in diesem Fall praktizierte Ritual aber inszenierte die bedingungslose Kapitulation der Mailänder, die sich dem Kaiser auf Gedeih und Verderb auslieferten. Ich zitiere nur Auszüge aus den langen Schilderungen der Mailänder Unterwerfung vor Friedrich Barbarossa. „Da fielen nun Krieger und Volk einmütig auf ihr Antlitz, wehklagten und flehten um Erbarmen. Als hierauf einer ihrer Konsuln eine Trauerrede hielt, warf sich nach deren Schluss 15 Vgl. Historia Welforum, übersetzt u. erläutert v. Erich König (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 1), Stuttgart/Berlin 1938, cap. 31, S. 66: „In feria enim tertia capitis ieiunii sub generali curia Ulmae habita in praesentia ducis Heinrici, domini nostri, sub oculis quoque ipsius imperatoris ac Friderici ducis idem Hugo Gwelfoni iuniori ad deditionem venit ac se pedibus eius prosternens custodiae mancipari et vinctum abduci non respuit et sic in captivitate usque ad obitum ipsius Gwelfonis, per annum scilicet et dimidium, tenetur.“ Otto v. St. Blasien, Chronik, hrsg. v. Otto Hofmeister (MGH SS rer. Germ. 47), Hannover/Leipzig 1912, cap. 19, S. 22, bringt ergänzend das wichtige Detail: „Qui (sc. Hugo) tribus vicibus coram duce Welf in terram corruens, ipso suscipere dedignante, tandem receptus capitur captusque in exilium Reciam Curiensem ad castrum Nuinburg transportatur.“ 16 Vgl. Historia Welforum (Fn. 15), cap. 30, S. 64 f.; zum Kontext s. Althoff, Mittelalterliche Verfassungsgeschichte (Fn. 12), S. 60 – 73, bes. S. 68 f. 17 Vgl. dazu jetzt ausführlich Knut Görich, Friedrich Barbarossa. Eine Biographie, München 2011, S. 342 – 349.

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die Menge abermals nieder, streckte die Kreuze, die sie trug, empor und flehte unter großem Klagegeschrei im Namen des Kreuzes um Gnade. Davon wurden alle, die es hörten, heftig bis zu Tränen gerührt, aber das Antlitz des Kaisers veränderte sich nicht. Zum dritten Male redete der Graf von Biandrate als Fürsprecher für jene, seine früheren Freunde, zwang alle zu Tränen, indem er selbst das Kreuz emporhielt, und die ganze Menge sich mit ihm zugleich demütig bittend niederwarf; aber der Kaiser allein ließ sein Antlitz unbeweglich wie einen Stein.“18

Auf diese Weise wurden die Mailänder mehrere Male vorgeführt und abgewiesen und auch als Friedrich Barbarossa schließlich Gnade vor Recht ergehen ließ, wurde die Stadt vollständig zerstört und sollte für immer vom Erdboden und aus dem Gedächtnis der Menschen verschwinden. Solche extremen Variationen gab es in der Ausführung des Rituals aber nicht nur in Richtung auf eine entehrende Behandlung der sich Unterwerfenden. Man konnte bei Friedensschlüssen auch so große Rücksicht auf eine Partei nehmen, dass man ihr gar kein Unterwerfungsritual mehr zumutete, sondern die Bereitschaft zur Unterordnung und zur friedlichen Zusammenarbeit mit weniger entehrenden symbolischen Handlungen zum Ausdruck bringen ließ. Auch in solchen Fällen blieb man aber beim Medium des Rituals, veränderte es nur nachhaltig. Auf solch ehrenvolle Weise wurde etwa im Jahre 1013 der Friede zwischen König Heinrich II. und dem Polenherrscher Boleslaw Chrobry nach mehrjährigen Kämpfen geschlossen, in denen der Pole alles andere als unterlegen gewesen war. Unser Kronzeuge für die Vorgänge ist Bischof Thietmar von Merseburg, in dessen Bischofsstadt der Friedensschluss am Pfingstfest 1013 vonstatten ging, der also gewiss Augenzeuge der Vorgänge war. Aus dem benachbarten Quedlinburg hören wir dagegen nur eine kurze Mitteilung über einen traditionellen Friedensschluss: Boleslaw habe in Merseburg Frieden mit Heinrich II. dadurch geschlossen, „dass er alles Seine und sich unterwarf.“19 Thietmar bietet jedoch eine ganz andere Geschichte: Zunächst einmal berichtet er davon, dass Boleslaws Sohn Mieszko im Jahr vor dem Friedensschluss durch Verhandlungen und die Stellung von Geiseln den Abschluss des Friedens diplomatisch 18

Vgl. dazu den diesbezüglichen Brief eines Kapellans Burchard, der Augenzeuge des Geschehens war. Sein Bericht wurde in die Chronica Regia Coloniensis, hrsg. v. Georg Waitz (MGH SS rer. Germ. 18), Hannover 1880, a. 1162, S. 11: „Tunc milites et populus unanimiter in facies suas ceciderunt plorentes et misericordiam invocantes. Post haec quodam consule miserabiliter perorante, finite oration, omnis multitude rursus procidit, et cruces quas tenebat extendens, cum eiulatu magno in virtute crucis misericordiam invocavit.Unde vehementer moti sunt ad lacrimas quicumque audierunt, sed imperatoris facies non est immutata. Tercio comes Blandratensis pro illis olim amicis suis miserabiliter perorans, vim fecit omnibus, ut possint lacrimari, et ipso crucem praeferente et tota multitudine item cum ipso suppliciter procidente, set solus imperator faciem suam firmavit ut petrum.“ 19 Vgl. Die Annales Quedlinburgenses, hrsg. v. Martina Giese (MGH SS rer. Germ. in us. schol. 72), Hannover 2004, a. 1013, S. 538: „Heinricus in sancto pentecosten maxima confluente caterva Meresburg se colligens, obvium habet Bolitzlavonem cum magno apparatu diversorum munerum pacis gratia sua omnia seque dedentem.“

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vorbereitete. Hierzu gehörte mit einiger Sicherheit auch die Absprache der rituellen Akte. Es scheint, als habe der Sohn sehr erfolgreich für seinen Vater Sonderbedingungen ausgehandelt: Am Vortage von Pfingsten, so schreibt nämlich der Merseburger Bischof, „erschien Boleslaw, gesichert durch daheim zurückgehaltene Geiseln. Er wurde aufs Beste empfangen. Am heiligen Festtag selbst wurde er durch Handgang Vasall (Heinrichs), und nach der Eidesleistung diente er dem König, während dieser unter der Krone zur Kirche schritt, als Schwertträger. Am Montag versöhnte er den König durch Überreichung großer Geschenke von sich und seiner Gemahlin. Dann erhielt er aus königlicher Milde noch viel größere Gegengaben sowie das lange ersehnte Lehen und entließ seine Geiseln ehrenvoll und freundlich.“20 Diese Schilderung unterscheidet sich von der der Quedlinburger Annalen doch sehr erheblich: Von einer Unterwerfung Boleslaws ist bei Thietmar nicht die Rede. Vielmehr vermeiden die rituellen Akte, die in der Öffentlichkeit des Merseburger Pfingstfestes stattfanden, jede größere Selbsterniedrigung des Polenherrschers: Kein Barfußgang, kein Büßergewand, kein Fußfall. Stattdessen erniedrigt er sich lediglich zum Handgang, zu dem er niederknien musste, wenn der Herr saß. Und er trug dem feierlich unter der Krone zur Kirche ziehenden König dessen Schwert voraus. In der Forschung hat man dies lange als „Ehrendienst“ bezeichnet, was jedoch eine Fehleinschätzung darstellt. Es handelte sich um eine symbolische Klarstellung von Unterordnung und Dienstbereitschaft, die zuvor zweifelhaft gewesen war.21 Dieser „Dienst“ des Schwertträgers musste aber offensichtlich reichen, um das neue Verhältnis der vorherigen Feinde als Verhältnis der Unterordnung und Dienstverpflichtung zum Ausdruck zu bringen. Keine Genugtuungsleistung also für den materiellen und immateriellen Schaden, den Boleslaw durch den Konflikt angerichtet hatte, keine Selbstentehrung als Genugtuung, sondern lediglich die Bereitschaft, sich unterzuordnen und zu dienen, wurde symbolisch zum Ausdruck gebracht, und auch durch andere rituelle Akte wie den Handgang der Lehnsnahme, den Eid und den Gabentausch untermauert. Dass Boleslaw damit in einen privilegierten Kreis derjenigen aufgenommen worden war, denen man nach einem bewaffneten Konflikt die Härte eines Unterwer20

Vgl. Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung, hrsg. v. Robert Holtzmann (MGH SS rer. Germ. N. S. 9), Berlin 1935, Übersetzung nach: Thietmar von Merseburg, Chronik, hrsg. v. Werner Trillmich, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 9, Darmstadt 1957, Buch VI, cap. 90/91, S. 338 ff.: „In cuius vigilia Bolizlavus cum securitate obsidum apud se relictorum venit et optime suscipitur. In die sancto manibus applicatis miles efficitur et post sacramenta regi ad aecclesiam ornato incedenti armiger habetur. In II. feria regem magnis muneribus a se et contectali sua oblatis placavit deinde regia largitate his meliora ac multa maiora cum benefitio diu desiderato suscepit et obsides suos cum honore et laetitia remisit.“ 21 Vgl. dazu ausführlich Gerd Althoff/Christiane Witthöft, Les services symboliques entre dignité et contrainte, in: Annales 58 (2003), S. 1293 – 1320, bes. 1301 ff.

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fungsrituals ersparte, und sich mit ihren symbolischen Äußerungen der Dienstbereitschaft begnügte, kann man auch an einem Beispiel ablesen, das sich knapp 30 Jahre früher ereignete, an dem Boleslaw aber schon als Zuschauer teilgenommen hatte: Schon im Jahre 985 hatte nämlich Heinrich der Zänker seinen Frieden mit dem von ihm zunächst bekämpften Kinderkönig Otto III. dadurch schließen müssen oder dürfen, dass er beim Osterfest in Quedlinburg mit den drei anderen Herzögen als Truchsess bzw. Marschall, Mundschenk und Kämmerer dem jungen König „gedient“ hatte.22 Diese symbolische Unterordnung hatte deshalb besondere Aussagekraft, weil Heinrich der Zänker sich am Osterfest des Jahres zuvor in eben diesem Quedlinburg selbst als König hatte ausrufen und feiern lassen. Man kann und muss den Dienst daher als Inversionsritual deuten, mit dem die Wirkung des früheren Rituals getilgt wurde. Diese fünf Beispiele mögen ausreichen, um zu zeigen, dass sich die Führungsschichten im Falle der gütlichen Konfliktbeendigung – also einem ganz wesentlichen Problemfeld einer Gesellschaft ohne staatliches Gewaltmonopol – ganz auf rituelle Praktiken verließen, mit denen sie die Parteien versöhnten und die alte Ordnung wiederherstellten. Zahllose, durch die Jahrhunderte überlieferte Fälle gleicher oder ähnlicher ritueller Praktiken aus verschiedenen Ländern Europas lassen die Logik und Semantik dieser „Sprache der Rituale“ relativ deutlich erkennen. Ihre jeweiligen Ausformungen orientierten sich am Konfliktverlauf und am Rang der Beteiligten. Ab dem 12. Jahrhundert begegnen zu den Nachrichten über die Rituale in Einzelfällen auch noch schriftliche Vereinbarungen, die komplizierte Streitfragen regeln. Man hat also offensichtlich gemerkt, dass die symbolischen Aussagen der Rituale durch schriftliche Zusätze ergänzt, aber nicht ersetzt werden konnten.23 Es sei ergänzend und abschließend versucht, aus einer anderen Perspektive die verbindliche Kraft rituellen Verhaltens einsichtig zu machen: Hierzu eignen sich Beobachtungen, die zeigen, wie entschlossen mittelalterliche Zeitgenossen rituelle Aussagen verweigerten, deren Sinn ihren Vorstellungen zuwiderlief. Sie riskierten dann selbst in heiligen Handlungen lieber einen Affront und Skandal, als sozusagen rituelle Fakten entstehen zu lassen, die sie nicht akzeptierten. So wie die rituellen Aussagen der Unterwerfungs- und Versöhnungsrituale die Akteure auf das Stärkste an den geschlossenen Frieden und die Versöhnung banden, so musste man offensichtlich unter allen Umständen rituelle Aussagen vermeiden, 22 Vgl. Thietmar (wie Anm. 20), Buch IV, cap. 9, S. 122 ff.: „Celebrata est proxima paschalis sollemnitas in Quidelingaburg a rege, ubi quattuor ministrabant duces, Heinricus ad mensam, Conrad ad cameram, Hecil ad cellarium, Bernhardus equis prefuit. Huc etiam Bolislavus et Miseco cum suis conveniunt omnibusque rite peractis muneribus locupletati discesserunt.“ 23 Vgl. dazu Claudia Garnier, Zeichen und Schrift. Symbolische Handlungen und literale Fixierung am Beispiel von Friedensschlüssen des 13. Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 32 (1998) S. 262 – 287.

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die einen nicht akzeptablen Präzedenzfall schufen. In dieser Lage griffen mittelalterliche Zeitgenossen zu sehr ungewöhnlichen Mitteln, was deutlich macht, welchen Stellenwert und Verpflichtungseffekt sie symbolischen Handlungen einräumten. Dies zeigte sich etwa schlagend im Verhalten zweier Kleriker, die mit unterschiedlichen Vorstellungen an der Pforte des Klosters St. Gallen aufeinandertrafen: Bischof Ulrich von Augsburg wollte als Vermittler im Streit des St. Galler Abtes Craloh und seinem Konvent tätig werden, und ersuchte zu diesem Zweck in St. Gallen um Einlass. Hierzu hatte er den im Konvent verhassten und aus St. Gallen vertriebenen Abt gleich mitgebracht. Wie es üblich war, kam Ulrich zur Begrüßung ein Mönch entgegen, der ihm ein Evangelienbuch zum Friedenskuss reichte. Danach wollte sich der Mönch jedoch wieder entfernen, ohne auch seinem Abt Craloh die Gelegenheit zum Friedenskuss zu geben. Das tat er mit einiger Sicherheit nicht in Eigenverantwortung, sondern im Sinne und Auftrage seines Konvents. Ulrich riss daraufhin den Mönch rabiat an den Haaren herum, um ihn zu zwingen, das Evangelienbuch auch dem Abt zum Kuss zu präsentieren, worauf dieser jedoch das Buch gegen den Bischof schleuderte und verschwand.24 Damit hatte er sich in der Situation zwar alles andere als gastfreundlich verhalten, war jedoch der Logik und Verbindlichkeit rituellen Verhaltens durchaus gerecht geworden. Man gab niemandem die Gelegenheit zum Friedenskuss, mit dem man in Unfrieden lebte und weiterleben wollte. Ganz ähnlich verhielten sich die Nonnen von Gandersheim, als es zum Streit zwischen den Erzbischöfen von Mainz und den Bischöfen von Hildesheim kam, welchem Bischofssitz das Kloster zugeordnet sei. Bischof Bernward von Hildesheim wollte Hildesheims Recht auf Gandersheim dadurch demonstrativ zum Ausdruck bringen, dass er in Gandersheim die Messe feierte. Das hätte einen Präzedenzfall bedeutet, was die Gandersheimer Nonnen dadurch zu verhindern suchten, dass sie dem Bischof bei der Opferung die Gaben vor die Füße warfen und so lieber einen Abbruch der Messe riskierten – was einer Todsünde gleichkam –, als an der Entstehung eines Präzedenzfalles mitzuwirken.25 Im weiteren Verlauf des Streites klagten die Hildesheimer, dass Erzbischof Willigis von Mainz nur dadurch bei Kaiserin Theophanu erreicht habe, dass er in Gandersheim liturgische Handlungen vornehmen dürfe, „weil er in schier unglaublicher Weise darum bat.“26 In welcher Weise das geschah, wird nicht gesagt, doch ist es 24 Vgl. die Geschichte dieser Begegnung bei Ekkehard IV., St. Galler Klostergeschichten, übersetzt v. Hans F. Haefele, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 10, 4. Aufl., Darmstadt 2002, cap. 74, S. 152 ff. 25 Vgl. Thangmar, Vita Bernwardi (Fn. 14), cap. 17, S. 766: „… oblatas indignatione et incredibili furore proiciunt, saeva maledicta episcopo ingerunt.“ 26 Ebd., cap. 13, S. 764: „…vix domna Theuphanu et episcopis obtinentibus, ipso quoque ultra quam credi potest supplicante, obtinuit, ut ad principale alta re misteria ipsa die ageret.“

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mehr als eine Vermutung, dass auch er durch eine expressive, wahrscheinlich fußfällige Bitte es Theophanu unmöglich machte, seine Forderung abzuschlagen. Auch dies ist ein deutlicher Hinweis auf die Wirkmächtigkeit rituellen Verhaltens. Nicht weniger deutlich zeigte sich die Verbindlichkeit stiftende Kraft von rituellem Verhalten an den sogenannten Sesselstreitigkeiten, für die es mehrere Beispiele gibt. In Goslar kam es im Jahre 1063, „als der König ein Kind war,“ sogar zu bewaffneten Kämpfen zwischen Kriegern des Bischofs von Hildesheim und des Abtes von Fulda, weil beide den Sitz neben dem Erzbischof von Mainz beanspruchten. Beim ersten Mal – zu Weihnachten – wurde dieser Streit noch mit den Fäusten ausgetragen und durch ein Machtwort eines Herzogs geschlichtet. Das aber führte beim nächsten Pfingstfest „zu einem seit langen vorbereiteten Anschlag. Denn der Bischof von Hildesheim hatte den Grafen Ekbert mit kampfbereiten Kriegern hinter dem Altar verborgen. Als diese den Lärm der sich streitenden Männer hörten, stürzten sie rasch hervor, schlugen auf die Fuldaer teils mit Fäusten, teils mit Knüppeln ein und verjagten diese mühelos aus der Kirche.“27 Doch kamen die Fuldaer mit Waffen zurück: „Eine hitzige Schlacht entbrennt und durch die ganze Kirche hallt statt der Hymnen Anfeuerungsgeschrei und Wehklagen Sterbender.“ Die Energie, mit der man nicht nur hier einen Präzedenzfall zu verhindern suchte, der das Recht neben dem Erzbischof von Mainz zu sitzen, entschieden hätte, mag ein Indiz dafür sein, welchen Stellenwert symbolische Aussagen – hier die Abbildung der Rangordnung in der Sitzordnung – für mittelalterliche Ordnungsvorstellungen hatten. Man könnte das, was ich an zwei Bereichen rituellen Geschehens zu verdeutlichen versucht habe, noch an vielen anderen Beispielfeldern erhärten, die die moderne Forschung inzwischen aufbereitet hat.28 Das Ergebnis bliebe jedoch gleich. Lassen Sie mich daher mit einem Gedanken schließen, der einen grundsätzlichen Aspekt mittelalterlicher Ordnungsstiftung in die Überlegungen einbezieht: Nicht nur auf dem hier behandelten Feld der Rituale beobachten wir einen mittelalterlichen Hang zu sehr allgemeinen und ambigen Festlegungen, die unseren Anforderungen nicht genügen. Ich nenne nur Eidesformeln, die lediglich daraus bestehen, dass jemand verspricht: „Ich werde mich so verhalten, wie sich per rectum (richtigerweise) ein Freund gegenüber seinem Freund, ein Lehnsmann gegenüber seinem Lehnsherrn verhalten soll.“29 So wurden lange Zeiten des Mittelalters Freundschaftsbündnisse und Lehnsverhält27

Vgl. dazu Lampert von Hersfeld, Annalen, übersetzt v. Adolf Schmidt, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 13, Darmstadt 1973, a. 1063, S. 76 ff. 28 Den Versuch eines strukturierten Überblicks über die fast unüberschaubare internationale Literatur zu mittelalterlichen Ritualen bietet Marco Mostert, A Bibliography of Works on Medieval Communication (Utrecht Studies in Medieval Literacy 2), Turnhout 2012, S. 149 – 180. 29 Zur Entwicklung hin zu einer weitgehend identischen Eidesformel für die Freundschafts- und die Lehnsbindung s. bereits Gerd Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990, S. 97 – 119.

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nisse begründet. In anderen Verpflichtungsformeln findet man die Einschränkungen pro posse meo, secundum meum scire ac posse, die gleichfalls die Verpflichtungen auf sehr dehnbare Weise ambiguisieren.30 Diese Befunde sind denen sehr ähnlich, die sich auf dem Felde der Ordnungsstiftung durch Rituale beobachten lassen: Man legt sich durch symbolische Handlungen wie durch gesprochene Formeln lediglich in genereller Weise fest und regelt keine Einzelheiten, fixiert Rechte und Pflichten nicht genau. Diese Technik der Ordnungsstiftung hat zur Voraussetzung, dass alle die gleiche Auffassung teilen, was richtigerweise zu tun ist, wenn einige grundsätzliche Klärungen vorgenommen sind: Wenn die Rangordnung klar ist, wenn die Bindungen untereinander und die daraus resultierenden Rechte und Pflichten geklärt sind; wenn Frieden gestiftet ist; wenn Amtsund Funktionsträger bestimmt sind, usw. Diese Klärungen vermögen rituelle Verhaltensmuster zu leisten. Die Klärung daraus entstehender Einzelfragen aber wird Gegenstand von Beratungen, die im Mittelalter einen Großteil der politischen Aktivitäten ausmachten, und in engem Zusammenhang mit den Ritualen standen. Das zu zeigen, ist aber ein anderes Thema und benötigte einen weiteren Beitrag.

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Allg. scheint man im Mittelalter eine Mehrdeutigkeit von Abmachungen nicht für einen Nachteil gehalten zu haben, wenn sie in genereller Hinsicht Klarheit schafften; vgl. dazu Gerd Althoff, Spielregeln symbolischer Kommunikation und das Problem der Ambiguität, in: Christina Brauner/Tim Neu/Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven symbolischer Kommunikation, Köln u. a. 2013, S. 35 – 52, bes. S. 48 ff.

Aussprache Gesprächsleitung: Thier Thier: Lieber Herr Althoff, vielen herzlichen Dank für diesen faszinierenden Vortrag, der uns sehr eindrucksvoll die Fülle von unterschiedlichen Normativitäten, oder sagen wir einmal, die Vielschichtigkeit von Normativität im Mittelalter vorgeführt hat. Es ist ja bekannt, dass der eine oder andere Rechtshistoriker gesagt hat, nur ein Recht ist Recht, aber jedes Mal, wenn ich etwas von Ihnen lese oder höre, muss ich daran denken, dass es im Mittelalter doch mehr an Normativität gegeben hat, als wir zunächst denken. Es ist natürlich ganz besonders spannend, wenn man eine Krönungszeremonie betrachtet, wo wir diese Ambiguität besonders intensiv verfolgen können. Aber ich will nicht meine Position als Moderator ausnutzen, um in Zweitreferate hineinzugeraten, sondern wollte mit diesen Bemerkungen lediglich einen Übergang schaffen. Ich würde jetzt gerne die Diskussion freigeben. Ruppert: Wenn der rituale Akt selbst konstitutiv ist – und Sie haben ja gesagt, ein Friedensvertrag oder ein Abkommen wird durch den Akt selbst konstituiert – und man hat es dabei gelassen, bedeutet das aber doch, dass die Konstitution nicht selbst sehr differenziert sein konnte. Wenn man also einen Friedensschluss vereinbart hat, dass eine Hochzeit geschieht, oder dass das Land geteilt wird, diese Dinge konnte man doch nicht in das Ritual selbst hineinlegen. Also kann man nicht allein von der ordnungsstiftenden Funktion des Rituals ausgehen, sondern man brauchte schon schriftliche Ergänzungen des Rituals, wenn die Konstitution selbst differenzierter war. Ein zweites Problem sehe ich darin: Wie hat man das Problem gelöst, wenn später gezweifelt wurde, dass das Ritual Frieden herbeigeführt hat oder eine Übertragung zustande gekommen ist. Das Ritual ist ja nur dann da, wenn es vollzogen wird. Man kann ja später mit dem Ritual nichts mehr beweisen. Wie hat man dieses Problem gelöst? Schilling: Ich wollte direkt anschließen und auf ein Quellenproblem hinweisen, das an einigen von Ihnen erwähnten Beispielen, vor allem am Beispiel des von Boleslaw von Polen 1013 geschlossenen Friedens, deutlich geworden ist. Mit dem Akt selbst ist zwar die Voraussetzung dafür geschaffen, dass der befriedende Effekt erreicht wird. Aber in längerfristiger Perspektive stellt sich die Frage, wie der Akt schriftlich gedeutet wird. Da kommt es oft zu unterschiedlichen, einander widersprechenden Deutungen. Niederschlag in den Quellen findet in der Regel nicht so sehr das Verständnis der Akteure, die bei den entsprechenden Ritualen mitwirken, sondern nachträgliche Deutungen. Inwieweit wird somit womöglich nachträglich ein

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Grad an Verbindlichkeit in die entsprechenden Akte hineininterpretiert, der den Teilnehmenden nicht bewusst war? Althoff: Ihre Fragen thematisieren Überlegungen, die bei vielen Einzelfällen relevant sind. Ich fange bei Ihren ersten Bemerkungen an, Herr Ruppert. Sie sind am besten und am schnellsten mit dem Hinweis zu beantworten, dass man schon im 12. Jahrhundert selbst auf dieses Problem aufmerksam geworden ist. Man hat nämlich gemerkt, es reicht nicht aus, wenn wir allein die rituellen Akte durchführen und keine wichtigen Einzelheiten schriftlich festhalten. Deshalb treten ab dem 12. Jahrhundert in zunehmender Intensität Verträge zu den Ritualen hinzu. In den Jahrhunderten zuvor gibt es noch keinen einzigen Beleg für einen Vorgang der schriftlichen Fixierung von Rechten oder Pflichten, der die Durchführung eines Rituals ergänzt hätte. Das heißt, man kann wohl von einem Erfahrungsprozess ausgehen, dass bestimmte Einzelheiten sich nicht im Ritual ausdrücken ließen, sondern besser durch schriftliche Festlegungen fixiert wurden. Rituale regelten Verhältnisse und Beziehungen nur grundsätzlich. Was daraus im Einzelnen folgte, entschieden die Gewohnheiten. Als etwa Friedrich Barbarossa 1177 in Venedig mit Papst Alexander dem Dritten nach 16-jährigem Schisma Frieden schloss, führte man über mehrere Wochen hin rituelle und symbolische Handlungen öffentlich durch, mit denen der Kaiser seine Unterordnung wie seine Unterstützung des Papstes zum Ausdruck brachte. Aber man schloss auch einen Vertrag, der zusätzliche Einzelheiten regelte. Johannes Haller hat programmatisch formuliert: Die Feierlichkeiten können wir weglassen, entscheidend ist der Vertrag. Das ist meines Erachtens eine gravierende Fehleinschätzung. So stellte man nämlich fest, der große Sieger in Venedig ist Barbarossa, weil er im Vertrag einige Zugeständnisse erhielt, während er in den Ritualen die päpstlichen Füße küsste, Strator-Dienste leistete und damit vorgeführt wurde als treuer Sohn der Kirche, der seine untergeordnete Stellung und seine Verpflichtung zu Gehorsam akzeptierte. Wochenlang hat man dies rituell immer wieder betont. Irgendwann ist man also darauf gekommen, dass man bestimmte Dinge schriftlich fixieren musste, für die die Rituale keine Ausdrucksmöglichkeiten boten. Aber für die Frühzeit – es ist ja eine sehr überschaubare Gesellschaft, die sich kennt, die Eliten miteinander verwandt sind – hat man auf das Medium Schrift noch nicht zurückgreifen müssen. Damit bin ich bei der Frage der nachträglichen Interpretationen durch die Autoren, die uns die Geschichten überliefern, die Herr Schilling aufgeworfen hat. Zunächst einmal gilt diese Unsicherheit, ob Geschehnisse nicht verformt wiedergegeben werden, für alle berichteten Geschehnisse, nicht nur im Falle von Ritualen. Die friedenstiftende Verbindlichkeit etwa der Unterwerfungsrituale kann man aber vielleicht mit dem Hinweis deutlich machen, dass solche Rituale nicht mehrfach vollzogen wurden. Ein Konflikt wurde nur einmal auf solch gütliche Weise beigelegt. Eröffnete eine Partei den Konflikt erneut, gab es keinen zweiten Versuch einer gütlichen Beendigung. Vielmehr wurde in den wenigen Fällen, in denen so etwas vorkam, bis zur Tötung des Gegners gekämpft. Aus den vielen Fällen, in denen vom erfolg-

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reich durchgeführten Ritual berichtet wird, darf man aber ableiten, dass die früheren Gegner die Verpflichtung ernst nahmen, die sie mit der Versöhnung eingingen. Thier: Das würde dazu führen, dass Rituale politische Herrschaft tatsächlich mit Anspruch auf normative Verbindlichkeit ein Stück weit ordnen. Dass politische Herrschaft bei der Ordnungsstiftung auf Öffentlichkeit angewiesen ist. Dies nur als Unterstreichung, zu dem was Sie gesagt haben. Althoff: Das habe ich nicht ausgeführt, der Hinweis ist aber wichtig: Rituale werden immer öffentlich durchgeführt und die mittelalterliche Öffentlichkeit besteht in aller Regel aus den Vasallen, Verwandten und Freunden beider Parteien, sodass diese auch bei späteren Beratungen und Überlegungen ihr Wissen um die in solchen Ritualen eingegangenen Verpflichtungen als Argumente einbringen können und das nachweislich auch taten. Schmidt: Ich glaube nun verstanden zu haben, wie der Ritualbegriff im Mittelalter wirklich gebraucht wurde. Ich habe aber ein Problem damit, und das knüpft an die Skepsis der Frühneuzeitler an, wie sie schon geäußert worden ist. Mein Problem ist die symbolische Inszenierung und öffentliche Beglaubigung von Dingen, die zuvor ausgehandelt worden sind. Was ist daran das Ritual? Denn in diesem Fall wird ja nur etwas gezeigt, was man vorher fixiert hat. Und dass das nicht schriftlich fixiert worden war, war in dieser Gesellschaft nicht üblich und auch nicht nötig. Das erklärt auch die Geheimhaltung später. Der Kreis der Akteure wusste, was ausgehandelt worden war und verhielt sich dementsprechend. Ich sehe nicht, was dabei das Ritual ist. Dass es öffentlich inszeniert wurde, ist keine Frage. Dass es symbolisch dargestellt wurde auch. Aber ist das ein Ritual? Ich erinnere mich grob an die Definition von Jan Assmann. Althoff: In der Tat werden bei der Definition des Begriffs Ritual unterschiedliche Akzente gesetzt je nachdem, welche Empirie man im Auge hat und für welche Zeit und Kultur man den Ritualbegriff verwendet. Barbara Stollberg-Rilinger hat das ja zuletzt in ihrem Buch über Rituale sehr anschaulich beschrieben. Die von mir vorgestellten symbolischen Handlungsketten, die immer ähnliche Muster wiederholen, haben deshalb Ritualcharakter, weil sie die Verpflichtungen und Rechte begründen, die sie symbolisch verdichtet zeigen. Das jeweilige Verhalten beinhaltet das Versprechen, sich in Zukunft ebenso zu verhalten und darin liegt eine starke Verpflichtung. Es ist deshalb mit dem Begriff Ritual adäquat bezeichnet, weil es bewirkt, was es bezeichnet. Dieser öffentlichen Handlung hat die Gesellschaft des Mittelalters und auch noch der Frühen Neuzeit einen höheren Verpflichtungsgrad zugebilligt als den vorherigen geheimen oder vertraulichen Absprachen, die aber nötig waren, wenn das Ganze erfolgreich verlaufen sollte. Schmidt: Kurze Nachfrage: Ist Ritual nicht das, was sich permanent wiederholt und deswegen zum Ritual wird und nicht das, was als einmalig ausgehandelter Akt vorgeführt wird?

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Althoff: Natürlich benutzt und wiederholt man in den Ritualen Verhaltensmuster, die bekannt sind. Rituale sind an stereotype Verhaltensmuster gebunden, aber nicht sklavisch ohne jede Möglichkeit der Veränderung. Vielmehr sind die politischen Rituale des Mittelalters durch viele Variationen gekennzeichnet. Man hat sie auf bestimmte Situationen zugeschnitten, sie entweder ehrenvoller oder entehrender gestaltet, weil etwa der vorherige Konflikt eine solche Akzentuierung sinnvoll machte. Schließlich wurden im Ritual der Konfliktbeendigung Genugtuungsleistungen erbracht, die das im vorherigen Konflikt Angerichtete ausgleichen sollten. Steiger: Es geht mir um die frühen Friedensschlüsse. Sie haben uns zwei verschiedene Arten von Friedensschlüssen vorgeführt. Einmal die mit dem Landgrafen von Tübingen und Mailand, die wirklich Unterwerfung, Zerstörung, Gefangenschaft enthielten, Frieden also durch Gefangenschaft und Zerstörung. Und dann die mit Boleslaw, die offenbar auf Versöhnung gerichtet waren, Voraustragen des Schwertes, natürlich auch Unterwerfung, aber in einem anderen Grad. Was heißt da eigentlich Frieden? Wie sind diese Rituale im Verhältnis zu Frieden zu verstehen? Ist das nur Ende des Konflikts oder ist das noch mehr? Westphal: Kann man in Ritualen auch die Bedeutung theologischer Motive oder religiös-theologischer Motive finden? Inwiefern sind solche Motive konstitutiv für die Form? Althoff: Fangen wir mit der letzten Frage an. Im Prinzip ist das, was bei den Friedensschlüssen und den Unterwerfungsritualen handelnd gezeigt wird, dem sehr ähnlich, was der Sünder bei der Buße tut. Ich denke, es handelt sich hier um eine Übernahme, denn die Ritualsprache des Mittelalters ist insgesamt stark von liturgischen Einflüssen geprägt. Man denke nur an die Barfüßigkeit und das Büßergewand der sich Unterwerfenden. Ich habe davon gesprochen, dass Formen der Selbstaufgabe und der Selbstbezichtigung nonverbal und verbal benutzt werden. Das ist so nah am Bußverhalten, dass man es als Ergebnis von Einflüssen sehen muss. Abgesehen davon ist unter den Friedensvermittlern in aller Regel ein Bischof. Also jedenfalls sind die Kleriker stark beteiligt, so dass auch von daher Einfluss aus der Bußpraxis anzunehmen ist. Zu Herrn Steiger: Ich habe bewusst unterschiedliche Dinge genannt, die in einem deutlich aufgeladenen Kontext vorgeführt werden, um einen Konflikt zu beenden. Ob man von Frieden sprechen sollte, wenn der Gegner inhaftiert wird, oder wenn sogar die Stadt zerstört wird und die Bewohner woanders angesiedelt werden, darüber kann man streiten. Aber es handelt sich um eine Konfliktbeendigung auf eine gütliche Weise, die so inszeniert wird. Man mag an der Friedensqualität zweifeln, aber dass ein Konflikt mit rituellen Mitteln beendet wird, ist in all den Fällen nicht bestreitbar. Arlinghaus: Ich würde gerne in Ihrem Sinne argumentieren. Es ist vielleicht gar nicht so uneindeutig mit den Ritualen. Umgekehrt braucht man Verfassungsrechtlern nicht zu sagen, dass das schriftlich niedergelegte Verfassungsdokument so eindeutig nicht ist. Vielleicht kann man für das Mittelalter konstatieren, dass die persönlichen

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Verhältnisse, der Stand und das Ansehen wesentlich schwerer wiegen als die sachlichen Verhältnisse, die man in den Verträgen anschließend fixiert. Dann ist das, was da vorgeführt wurde, ob jemand Freund ist oder nicht, ob jemand in der Ordnung steht oder nicht, ob jemand aufgenommen wurde oder nicht, etwas für die Zeit sehr Eindeutiges. Und hier setzt man den Akzent. Wenn man das Regelwerk verschiebt auf die Frage, die uns interessiert: Wie sieht es in dem Vertrag aus, wieviel Reparationen muss der zahlen und wie lange ist das Land besetzt? Aber das ist nicht das, was in Mailand und im Mittelalter im Fokus steht. Die Frage war vielmehr, ob jemand überhaupt dazugehörte, ob er in der Ordnung steht und in welcher Position oder Rangverhältnis. Und da sind die Rituale doch sehr eindeutig. Und da kann man bei der Ritual-Definition doch sehr deutlich ansetzen. Gerade bei den Verhältnissen in Mailand, aber auch bei den anderen Geschehnissen, von denen Sie gesprochen haben, zeigen, dass es sich hier vielleicht um einen Übergangsritus handelt, der die Betroffenen aus dem Zustand des sozusagen ,aus der Welt sein‘ wieder in die Gesellschaft aufnimmt; dies war natürlich von Verhandlungen begleitet. Im Ritual scheint diese Wiedereingliederung in die Gesellschaft akzentuiert zu werden; und der Fluchtpunkt ist das Verhältnis der unterlegenen Stadt zum Herrscher. Dass dabei die Stadt zerstört wird – naja, da kann man froh sein, wenn man den Hals gerettet hat und dass man überhaupt wiederaufgenommen worden ist. Barmeyer-Hartlieb: Meine Frage ist, ob ein Vergleich mit dem englischen Rechtsdenken interessant wäre. Die mittelalterliche Konfliktbeilegung im Ritual basiert auf einer gesellschaftlichen Situation, in der Gewohnheitsrecht relativ verbindlich ist. Trotzdem, sobald der Konflikt neu aufbricht, muss neu ausgehandelt, vielleicht mit einem neuen Ritual neuer Frieden gestiftet werden. Sobald mit dem weniger Verbindlichwerden von Gewohnheitsrecht die Notwendigkeit steigt, etwas schriftlich zu fixieren und den Schritt zum Verfassungsrecht zu tun, ändert sich vermutlich auch die Bedeutung von Ritualen. Althoff: Ich fange mit der Frage von Herrn Arlinghaus an: Ich bin völlig bei Ihnen. Die starke Betonung der Ambiguität der Rituale war ja nicht mein Argument, sondern wurde in der Literatur gegen mich verwendet. Ich finde die Lösung, die ich hier vorgetragen habe, eigentlich immer noch überzeugender, dass nicht alle Einzelheiten in einem Ritual geregelt werden, sondern nur grundsätzliche Dinge. Dass ich Lehensmann bin, wird durch den Handgang klar, aber nicht, ob ich meinem Lehensherrn in drei Wochen mit allen meinen Leuten helfen muss, wenn der auf einen Italienzug geht. So etwas kann man mit symbolischen Handlungen auch kaum verbindlich darstellen. Deshalb macht man zusätzliche Verträge, um die genauen Verpflichtungen exakt abzustimmen und abzusichern. Aber es ist natürlich völlig richtig, was Sie sagen, dass das, was im Ritual ausgedrückt wird, in aller Regel sehr klar verständlich ist. Deswegen wende ich mich auch immer dagegen, wenn man entweder Magie oder Geheimnis in den rituellen Sinn hineininterpretieren will. Das ist bei religiösen Ritualen in allen Weltreligionen der Fall, aber nicht bei politischen Ritualen.

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Zu England: Im Grunde ist die Situation in England relativ ähnlich. Man kann sagen, dass die Rituallandschaft von ähnlichen Ritualen geprägt wird. Nur ist natürlich in England insofern eine andere Situation, als das Königtum einen anderen Zugriff auf den Adel hat, als das etwa im Reich der Fall ist. Das ist auch in Sizilien nochmals anders. Da gibt es also regional sehr starke Unterschiede. S. Lepsius: Sie gingen am Ende Ihres Vortrags kurz auf die Frage des Eides ein und haben dann in den zwei Beispielsfällen, die Sie brachten, auf die große Ambiguität des Inhalts dieses Eides hingewiesen und sprachen dabei in diesem Kontext von Ambiguisierung. Da wollte ich einhaken bzw. aus meiner Sicht ergänzen. Mir ist aufgefallen, dass selbst in Italien, also in einer Gegend, in der große Schriftlichkeit herrschte, noch im 14. Jahrhundert auch in den Amtseiden der Podestà immer nur die Rede davon ist, er wolle sein „officium bene et legaliter exercere“. Das wäre also ein weiteres ähnlich ambigues, inhaltliches Phänomen. Aber ich frage mich dann doch, ob es sich beim Eid nicht doch anders verhält als bei den ersten von Ihnen genannten Ritualen. Denn würde beim Eid ähnlich wie in Ihren Ritualfällen nachträglich ein genauerer Inhalt ausgehandelt bzw. schriftlich fixiert würde dies den Eindruck auslösen, alles andere, was nicht beschworen sei, müsse man auch nicht tun. Mit anderen Worten: Die Gefahr einer katalogartigen Präzisierung, die hier von Anfang gegeben ist, weshalb Eide nicht ambig sind oder ambiguisiert werden, sondern von vornherein nur sehr allgemein gefasst sein können. Ein nachträgliches Aushandeln wäre damit nicht als eine Präzisierungstechnik zu deuten, sondern ist in dem Kontext von vornherein gar nicht vorstellbar. Ich kenne auch solche zusätzlichen Schriftstücke oder Ergänzungen zu einem Amts- oder Lehenseid nicht. Deswegen wollte ich Sie speziell zum Eid als zentrales Element mittelalterlichen Rechts- und Verfassungsdenkens um Ergänzung bitten. Wer ist die Öffentlichkeit, schwört man den Eid vor Gott oder vor den Genossen, bzw. vor dem unmittelbaren Gegenüber? Kennen Sie Verhandlungen über den Inhalt des Eides? Gibt es Fälle, dass jemand speziell wegen Bruchs seines Lehenseides angeschuldigt wurde, wenn der nachträglich präzisierte Inhalt des Eides, also z. B. mit 300 Kriegern dem Kaiser nach Italien zu folgen, nicht vollständig erbracht wurde? Althoff: Sie haben Recht. Man weiß interessanterweise nicht zuletzt aus Anekdoten und aus der Literatur des Mittelalters, dass man sich sehr stark mit dem Gedanken beschäftigt hat. Wie kann man Eide so formulieren, dass sie kein Schlupfloch bieten, der Verpflichtung zu entkommen, oder auch so, dass sie zu nichts verpflichten? Es gibt relativ viele Äußerungen in der Literatur auch an ganz berühmten Stellen, z. B. im Tristan oder im Nibelungenlied, dass die Eide mehrfach umformuliert werden, damit sie bestimmte Dinge leisten, die sie dann aber doch wieder nicht leisten. Man hat über dieses Problem nachgedacht und hat zum Teil auch ganz vergnügliche Fälle konstruiert, um deutlich zu machen, wie gefährlich es ist, nicht genügend Sorgfalt auf eine Eidesformel zu legen. Davon unabhängig aber muss bewusst sein, dass viele Eidesformeln nur ansprechen, man wolle sich so verhalten, wie sich per rectum (richtigerweise) ein Freund, ein Lehnsmann, ein Verwandter verhält. Man vertraute

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in solchen Fällen vollständig darauf, dass alle die gleiche Vorstellung darüber hatten, was richtigerweise zu tun war. Das regelten eben die Gewohnheiten. Brauneder: Für die Rechtsgeschichte war und ist der Begriff der Publizität sehr wichtig, bei der Belehnung mit Fahnen, mit Zepter, mit Ringtausch, Löschen des Herdfeuers, Wiederanzünden des Herdfeuers, bis dann schließlich diese Formen durch den Bucheintrag oder den Ehevertrag ersetzt werden. Das Verhältnis zum Ritual? Sind das Rituale? Sind Publizität und Ritual zwei Kreise, die sich überschneiden? Althoff: Öffentlichkeit oder Publizität gehören konstitutiv zu einem Ritual. Sie können nicht zu Hause ohne Zuschauer in einer vertraulichen Situation Rituale durchführen, die Ordnung stiften. Wenn Sie Ordnung stiften wollen, müssen Sie in eine Öffentlichkeit gehen. Im Mittelalter ist allerdings bereits dann Öffentlichkeit gegeben, wenn Personen zusammen sind, die keine der drei Bindungen Verwandtschaft, Freundschaft oder Genossenschaft miteinander haben. Dann muss man nämlich sein Verhalten entsprechend ausrichten. Man muss auf seinen Rang und seine Ehre achten und kann nicht mehr offen sprechen. Wenn dagegen Personen zusammen sind, die verwandt oder befreundet sind oder einer Genossenschaft angehören, dann kann man offener sprechen, ohne Widerspruch gleich als Beleidigung auffassen zu müssen. Deshalb gibt es so häufig vertrauliche Vorklärungen unter Personen, die eine Beziehung zueinander haben, ehe man eine öffentliche Versammlung eines Herrschaftsverbandes riskiert, in der unterschiedliche Interessen und Meinungen für Konfliktstoff sorgen können, weil die versammelten Personen nicht durch eine Beziehung miteinander verbunden sind, die zu friedlichem Verhalten verpflichtet. Thier: Was natürlich der Bedeutung von Öffentlichkeit für Herrschaftsordnung im Sinne von Verfassung eine ganz neue Qualität geben würde, weil sie jetzt mit dieser Art der „Öffentlichkeit – Nichtöffentlichkeit“, die Sie gerade angesprochen haben, auch die unterschiedlichen Ordnungszonen – Friedenszonen, Konnotationszonen – schaffen, die für die Praxis politischer Herrschaft, für das Ausüben politischer Herrschaft ganz wesentlich werden. Das nur eine spontane Assoziation, wäre aber auch der Versuch eines Weiterdenkens. Althoff: Das ist völlig richtig. Wenn man Öffentlichkeit sagt, muss man mitdenken, wie viele entscheidende Dinge im Mittelalter in vertraulicher Situation vorbereitet werden. Es ist nichts Illegitimes, wenn man etwas vertraulich vorbereitet, um es dann öffentlich in einem Ritual verbindlich zu machen. Es ist eine ganz normale Praxis, dass man dem Herrscher oder anderen hochgestellten Personen Bitten oder Forderungen zunächst vertraulich vorbringt, meist sogar durch Fürsprecher, die ihren Teil zum Gelingen des Vorhabens beitragen, indem sie ihr Gewicht zugunsten der Sache einbringen. Thier: Das war ein gutes Schlusswort zu dieser Diskussion. Ich darf also schließen mit einem ganz herzlichen Dank für den spannenden Vortag und meinem Dank für alle Diskutantinnen und Diskutanten.

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Wir haben viel gelernt und gehört über die normative Bedeutung insbesondere des Performativen. Am Ende des letzten Vortrags und der Diskussion sind wir aber immer wieder in den Horizont der Schriftlichkeit hineingeraten, einer komplementären Schriftlichkeit mit Blick auch auf die normative Ordnung politischer Herrschaft. Es ist wahrscheinlich nicht falsch zu sagen, dass wir jetzt bei Herrn Dilcher möglicherweise auch für diesen Aspekt insbesondere Vertiefung erhalten werden. Herr Dilcher, wir freuen uns sehr auf Ihren Vortrag.

Herrschen mit und ohne Schrift Medien, Recht und Öffentlichkeit im Ersten Mittelalter Von Gerhard Dilcher, Frankfurt am Main

I. Zu Gegenstand und Fragestellung Das Tagungsthema „Verfassung und Öffentlichkeit“ gibt zwei Begriffe vor, die eine lange Geschichte haben, ihre für uns maßgebende Bedeutung aber erst in der Moderne erlangten. Eine direkte Übernahme als Arbeitstitel unserer auf das Erste Mittelalter gerichteten Studie1 würde deshalb den Blick auf die kulturelle Andersheit, auf die Alterität dieser Zeit, und damit auf die Konstellation innerhalb deren unser Problem zu sehen ist, eher verstellen als öffnen. Darum wird hier, aus Gründen die zu zeigen sind, die Dimension der Medien, nämlich von Oralität und Schriftlichkeit, als analytische Leitlinie in Bezug auf „Öffentlichkeit“ gewählt. Den Begriff „Verfassung“ in mein Thema aufzunehmen, empfahl sich nicht, weil die neuere Forschung uns hier jeder Gewissheit beraubt hat. Einst stand hierfür der „Staat des deutschen Mittelalters“ eines Georg von Below und anderer, was schon damals von Otto von Gierke unter dem germanistischen Banner von Herrschaft und Genossenschaft bekämpft wurde. Otto Brunner verbannte dann mit Berufung auf Carl Schmitt den Staatsbegriff in Bezug auf das Mittelalter und setzte auf Land und Herrschaft. Das galt lange Zeit. Heute interessiert sich eine jüngere Generation von Mediävisten wieder für Staat und Staatlichkeit,2 was natürlich Konsequenzen für die Institutionen der Verfassung hat. Ob nun, wie Heinrich Mitteis noch mein1

Der Text folgt der Vortragsfassung, ist aber an zahlreichen Stellen, auch Anregungen der Diskussion folgend, ergänzt und erweitert; vor allem sind die Abschnitte V. und VII. hinzugefügt. – Zum Konzept eines Ersten und Zweiten Mittelalters (anstelle von Früh-, Hoch- und Spätmittelalter) Gerhard Dilcher, Warum mittelalterliche Rechtsgeschichte heute?, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 110 (1999), S. 1 – 22. 2 Vgl. etwa: Walter Pohl/Veronika Weiser (Hrsg.), Der frühmittelalterliche Staat – Europäische Perspektiven, Wien 2009. Trotz des Bandtitels sprechen jedoch viele Autoren lieber von Staatlichkeit oder „Staat“ in Anführungsstrichen. Ich selber werde wegen der unausbleiblichen falschen Konnotationen für unser Thema auf den Begriff des Staates verzichten, vgl. dazu Hagen Keller, Die internationale Forschung zur Staatlichkeit der Ottonenzeit, a. a. O., S. 113 – 132. – Das Problem der „Verfassung als Bezug einer Verfassungsgeschichte“ behandelte die Tagung unserer Vereinigung 1981, s. Helmut Quaritsch (Red.), Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung, Beihefte Der Staat 6, Berlin 1983.

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te, das Lehnrecht hier die maßgebende Struktur sei, wird zweifelhaft, wenn heute nicht feststeht, ob man von Lehnswesen seit Karl dem Großen, oder doch erst seit der Zeit Friedrich Barbarossas sprechen dürfe, oder ob es sich erst um das Konstrukt spätmittelalterlicher Juristen handele.3 Auch das Problem der Königserhebung, ein zentrales verfassungsgeschichtliches Thema, ist umstritten unter den Prinzipien von Wahl- und Erbrecht. Es sei deshalb nur am Ende vergleichend herangezogen, obwohl es sowohl zum Thema Verfassung wie Öffentlichkeit in Beziehung steht. Als analytische Leitlinie habe ich deshalb nicht „Verfassung“, sondern „herrschen“ gewählt. Dazu sogleich. Auch die kulturellen Grundlagen, auf die wir für unsere Fragestellung von Schriftlichkeit und Oralität eingehen müssen, sind streitig. Für eine starke internationale Forschergruppe fand hier nur eine große „Transformation of the Roman World“ statt,4 so dass, wie ein Autor dazu spöttisch meinte5, dementsprechend der Fall Roms nie eigentlich stattgefunden habe. Auf der anderen Seite hat das Stichwort „Barbaren“ Konjunktur, als Begründung für einen Neuanfang Europas6 – der alte Gegensatz von Kontinuitäts- versus Katastrophentheorie besteht offenbar weiter. Heute gilt: Von Barbaren darf man sprechen, von Germanen lieber nicht – die Bezeichnung germanisch soll nun, nachdem man bis in die 60er Jahre historisch noch eine verfassungsgeschichtliche „germanische Kontinuität“ annahm, tabuisiert sein. Ein Historiker fasste hier auf der Reichenau vor etwa 10 Jahren das Ergebnis einer Tagung zu diesem Punkt ironisch zusammen:7 „Das Germanische verschwindet nicht, sondern es gibt es nicht. Es sei denn als Sprache, aber die Sprecher sind natürlich keine Germanen. Sie sind akkulturierte Migranten der ersten bis ich weiß nicht welcher Generation.“ Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, wie Böckenförde es einmal genannt hat, lassen grüßen!

3 Die Diskussion wurde angestoßen durch das vieldiskutierte Buch von Susan Reynolds, Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted, Oxford 1994. 4 U. a.: Hans Werner Goetz/Jörg Jarnut/Werner Pohl (Hrsg.), Regna and Gentes. The Relationship between Late Antiquity and Early Medieval Peoples and Kingdomes in the Transformation of the Roman World, Leiden/Boston 2003. 5 Chris Wickham, La chute de Rome n’aura pas lieu, in: Le Moyen Age 99 (1993), S. 107 – 126. 6 U. a. Georg Scheibelreiter, Die barbarische Gesellschaft. Mentalitätsgeschichte der europäischen Achsenzeit 5.–8. Jahrhundert, Darmstadt 1999; Karol Modzelewski, Das barbarische Europa. Zur sozialen Ordnung von Germanen und Slawen im frühen Mittelalter, Osnabrück 2011 (polnisch 2004; franz. 2006); Peter Heather, Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus, Stuttgart 2011 (englisch 2009). 7 So Reinhold Kaiser in seiner Zusammenfassung der Tagung „Von der Spätantike zum frühen Mittelalter: Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde“, S. 337, unter 3, in: Theo Kölzer/Rudolf Schieffer (Hrsg.), Von der Spätantike zum frühen Mittelalter: Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde (Vorträge und Forschungen LXX), Ostfildern 2009; Zu den Schwierigkeiten, von „Germanischem Recht“ zu sprechen, vergleiche jetzt Gerhard Dilcher, Art. „Germanisches Recht“, in: Albrecht Cordes u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, 2. Aufl., Berlin 2012, Sp. 241 – 252.

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Wir werden also gut daran tun, unsere Überlegungen, die diesen Fragen nicht ganz ausweichen können, an konkretere Problembereiche anzubinden. Darum steht als erster Begriff meines Themas das Wort „herrschen“, bewusst in verbaler Form, als Tätigkeit also. Diese zentrale Funktion innerhalb jeder Verfassung, im Englischen am ehesten mit governance zu bezeichnen, soll unsere leitende Fragestellung bilden und uns über die Medien zum Aspekt der Öffentlichkeit bringen. Herrschen soll, in Anlehnung an Max Weber8, verstanden werden als das Handeln einer zentralen Gewalt in der Weise, dass ein bekundeter Wille (ein Befehl) des oder der Herrschenden das Handeln anderer (der Beherrschten) beeinflussen will und in einem sozial relevantem Grade tatsächlich beeinflusst. Herrschaft erfordert nach Weber dafür einen Apparat, der eine sehr unterschiedliche Organisation und entsprechende unterschiedliche Beziehungen zum Herrschenden wie zu den Beherrschten haben könne. Das wirft die Frage der Legitimation von Herrschaft auf. Hier unterscheidet Weber bekanntlich zwischen charismatischer, traditionaler und rationaler Legitimation. Den am schärfsten ausgeprägten Typus entwirft er im Rahmen rationaler Legitimation als „bürokratische Herrschaft“.9 Sie ist gekennzeichnet durch fachlich, vor allem auch rechtlich geschultes Personal, hierarchische Gliederung und Schriftlichkeit, sowohl der internen Abläufe wie der Befehlsform nach außen.10 Es ist klar: Diese Form von bürokratischer Herrschaft stellt ein Gegenbild zu dem dar, was wir an Herrschaft und Herrschaftsverfassung im Ersten Mittelalter zu erwarten haben. Hier finden wir vielmehr das vor, was Weber als patriarchale und patrimoniale Herrschaft unter dem Zeichen traditionaler Legitimität entworfen hat. Damit sind wir wieder bei Otto Brunner, bei Herrschaft über und durch die Verfassung des ganzen Hauses.11 Von „herrschen“, gerade als Tätigkeit und Funktion, führt der Weg geradewegs zu den Medien. Wie vermittelt sich der herrschaftliche Befehl, von dem Weber ausgeht, um sozial wirksam zu werden? Zur bürokratischen Herrschaft gehört die Schriftform; sie bedarf nicht unbedingt einer Öffentlichkeit. Der bürokratisch-absolutistische Staat der Neuzeit kann auf diese Weise in camera und aus der Kammer, aus 8

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, hrsg. v. Johannes Winkelmann, 5. Aufl., Tübingen 1985, S. 28 – 29, 122 ff., zur bürokratischen Herrschaft bes. 126 – 130; die Herrschaftssoziologie jetzt in kritischer Ausgabe in: Edith Hanke/Thomas Kroll (Hrsg.), Herrschaft, MWG I 22/4, Tübingen 2005. 9 S. Anm. 8. Die drei Typen Webers sind bekanntlich traditionale, charismatische und rationale Legitimation von Herrschaft. Die letztere zeigt sich am reinsten als legale Herrschaft mittels bürokratischen Verwaltungsstabes, a. a. O. § 4, S. 126. 10 Manche Historiker, die den Begriff „Herrschaft“ wegen seiner Verflechtung in die einst „Neue deutsche Verfassungsgeschichte“ ablehnen (vgl. Anm. 2), sehen nicht, dass hier auch ein klar definiertes soziologisches Instrumentarium bereitliegt. 11 Otto Brunner, Land und Herrschaft, 5. Aufl., Wien 1965, Darmstadt 1973, Kap. IV: Haus und Herrschaft; Otto Brunner, Das „ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1968, S. 103 – 127.

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dem Kabinett heraus herrschen. Öffentlichkeit wird hier weitgehend in eine passive Funktion verwiesen. Im Bereich der Oralität kann dagegen auf den unmittelbaren Kontakt, die face-to-face Kommunikation, nicht verzichtet werden. Die Frage der Medien hat in letzter Zeit, auch unter dem Eindruck des gegenwärtigen Medienwandels, nicht nur Ethnologie und Poetologie (Homer), sondern auch die Rechtswissenschaft herausgefordert. Thomas Vesting hat eine Rechtstheorie der Medien (oder eine Medientheorie des Rechts) zwischen Sprache (Oralität) und Schrift mit einem weiten evolutionshistorischen Spektrum (in das aber leider das Mittelalter nicht aufgenommen ist) entwickelt,12 worauf hier nur in Kürze verwiesen werden kann. Eine Einbeziehung dieses wertvollen historisch-theoretischen Ansatzes würde den Rahmen dieser Untersuchung überschreiten. Ausgangspunkt jeder historischen Beschäftigung mit dem Thema Öffentlichkeit muss die Studie bilden, die Jürgen Habermas 1962 dem Begriff der Öffentlichkeit als einer Kategorie der sich formierenden, kritisch räsonierenden bürgerlichen Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert gewidmet hat.13 Es handele sich um eine „epochaltypische Kategorie“. Für die vorausgehende Zeit, so stellt Habermas mit Berufung auf Otto Brunner, Carl Schmitt und andere fest, gebe es allenfalls eine Öffentlichkeit ganz anderer Art, nämlich der Repräsentation von Herrschaft. Ihr fehle das Gegenüber eines Privaten, welches nämlich in der Hierarchie von Hausherrschaften keinen Platz habe. Diese Form der repräsentativen Öffentlichkeit könne deshalb nur auf Darstellung von Herrschaft zielen, nicht auf ein Gegenüber, wie es die bürgerliche räsonierende Öffentlichkeit darstellt. Die repräsentative Öffentlichkeit sei darum an gewisse Attribute der Herrschaftspersonen als Mittel der Darstellung geknüpft: Insignien, Habitus, Gestus, Rhetorik. Damit wären wir schon mitten in unserem Thema. Die Frage ist jedoch: Müssen wir für unsere Fragestellung diesen Begriff von Öffentlichkeit für die gesamte der Moderne vorausgehende Zeit akzeptieren? Ansatz zu Zweifeln bietet schon der einschlägige Artikel von Lucian Hölscher in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“.14 Er zeigt hier, dass publicus im Mittelalter nicht nur eine herrschaftsbezogene Bedeutung hat, sondern auch in der Bedeutung „gemein“, gemeinsam, englisch „common“ verwendet wird, wie schon in der Antike in res publica, was auch Habermas bemerkt. Wir sind damit, was das Mittelalter betrifft, im Bereich des Kommunalismus, der Genossenschaften. Führt uns hier der Weg über das genossenschaftliche Element der mittelalterlichen Gesellschaft zu anderen Formen der Öffentlichkeit? So wie für die rechtlich-soziale Struktur der Ge12 Thomas Vesting, Die Medien des Rechts: Sprache, Weilerswist 2011; ders., Die Medien des Rechts: Schrift, Weilerswist 2011. 13 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin 1962 u. ö. 14 Lucian Hölscher, Art. „Öffentlichkeit“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 413 – 467, hierzu bes. 415 – 419.

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nossenschaft, wie Gierke gezeigt hat,15 die Grenze von privatem und öffentlichem Recht im Mittelalter ohne Bedeutung ist, so bedürfte es für eine Öffentlichkeit im Rahmen der Genossenschaften nicht des Gegenübers eines privaten Bereiches. Genossenschaft fordert Teilhabe jedes Zugehörigen.16 Wir haben damit für die Analyse unserer Zusammenhänge eine vertikale Achse, Herrschen, und eine horizontale, in der in Genossenschaft eingebetteten Öffentlichkeit. So kann sich aus diesen beiden Dimensionen auch ein Bild von Verfassung darstellen.

II. Zur Diskussion um Rechtsbegriff, Oralität und Schriftlichkeit Am Beginn des betrachteten Zeitraums sehen wir den Eintritt germanischer Völker in den Westen des Römischen Reiches und deren Reichsgründungen. Die kunstvolle römische Reichsverwaltung mit ihrer klaren Rechtsstruktur beruhte auf einem geordneten Ämterwesen und Schriftlichkeit; Schriftlichkeit vor allem des Rechts. Das entspricht durchaus Webers Idealtypus rationaler bürokratischer Verwaltung; hinzu kommt als Merkmal der Staatlichkeit das Gewaltmonopol unter dem Zeichen der pax romana. Die einbrechenden germanisch-sprachigen „Barbaren“-Völkerschaften unter ihren Heerführer- Königen stammen dagegen aus einer ursprünglich rein oralen Kultur. Die Etablierung von Herrschaft auf dem Boden des Imperium Romanum – vor allem der Ostgoten und später der Langobarden in Italien, der Westgoten in Spanien, der Burgunder und Franken in Gallien – gelingt nur, indem die freilich schwindenden römischen Herrschaftsstrukturen und anfangs auch deren Träger, die römischen Honoratioren, hierfür genutzt werden. Allerdings tritt der germanische Adel nicht in die Rolle der spätantiken Rechts- und Verwaltungselite ein, sondern bleibt eine sich durch Abstammung und kriegerische Tugenden legitimierende, schwertführende aber weitgehend illiterate Schicht. Zu ihr gehörte auch der Herrscher selbst, oft nur primus inter pares. Der Adel beanspruchte neben dem Königtum eine Form autogener, also aus den genannten Elementen unmittelbar legitimierter Herrschaft. Man kann hier im Sinne Webers eine Verbindung charismatischer und traditionaler Herrschaftslegitimation erkennen. Die zu dem Vortrag gezeigte Helmplatte des langobardischen Königs Agilulf (um 600) zeigt meines Erachtens als Darstellung eines 15 Dazu Gerhard Dilcher, Staatsbegriff und Korporationsbildung zwischen privatem und öffentlichem Recht im Spiegel der Genossenschaftstheorie Otto von Gierkes, in: Gerhard Dilcher/Diego Quaglioni (Hrsg.), Gli inizi del diritto pubblico, 3 – Die Anfänge des öffentlichen Rechts, 3, Annali/Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, Contributi 25, Bologna/Berlin 2011, S. 797 – 826. 16 Gerhard Dilcher, Zur Geschichte und Aufgabe des Begriffs Genossenschaft, in: Gerhard Dilcher/Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey, Berlin 1986, S. 114 – 123.

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Herrschaftsanspruchs die Mischung spätantiker und barbarisch-langobardischer Elemente: Die Konfiguration eines Herrschers im Zentrum, umgeben von Genien und huldigenden wie kriegerischen Gestalten ist, wie auch die künstlerische Technik, antik, die Gestalt des Königs wie auch die übrigen Personen sind sehr hervorgehoben in langobardischer Kleidung und Barttracht, Haltung und Bewaffnung gezeigt, die Krieger stellen möglicherweise den Waffenritus der Zustimmung des Speerdings (gairethinx) dar.17 Angesichts dieser Wandlungen bleibt allein die Kirche als Raum tradierter Literalität. Der Klerus, Priester und Mönche, hatten vor allem an Bischofskirchen und in Klöstern Orte der Schulung in der Schrift, auf die das Christentum als Buchreligion für Lesung, Liturgie und Theologie, aber auch Recht angewiesen ist. Diese literale Kultur lebt im Medium des Lateins, nicht der Volkssprachen. Sowohl die romanischen wie die germanisch-deutschen Volkssprachen steigen erst mit der Wende zum Zweiten Mittelalter zu Schriftsprachen, vor allem im Bereich des Rechts, auf; eine bemerkenswerte Ausnahme bilden nur die angelsächsischen Gesetze. Die Schwelle zwischen mündlich tradierter Volkssprache und lateinischer Schriftsprache ist besonders bei den germanischsprachigen Bevölkerungen groß, wenn wir auch über die Begegnung mit der Kirchensprache eine gewisse passive Vertrautheit mit Latein unterstellen können. Im Übrigen mussten Übersetzungen von Sprache zu Sprache und vom Schriftlichen zum Mündlichen die Brücke schlagen. Erst der Sachsenspiegler Eike überträgt nach 1200 seinen lateinischen Entwurf geschlossen in eine neue deutsche Schriftsprache. Über die Welt des Mündlichen haben wir nur indirekte Quellen, sind also angewiesen auf Quellen aus dem anderen Medium, der lateinischen Schriftsprache. Das stellt eine Begrenzung nicht nur der Quellenbasis dar, sondern verzerrt auch den Zugriff auf die Welt der Oralität. Aus verständlichen Gründen, vor allem aufgrund ihrer Herkunft aus der quellenpositivistischen Schule des 19. Jahrhunderts, haben sowohl Verfassungshistoriker wie Rechtshistoriker ihr Bild der mittelalterlichen Vergangenheit lange im Hinblick auf die Schriftquellen konstruiert. In den grundlegenden Handbüchern der Rechtsgeschichte findet sich bei Schröder-v. Künßberg (1932) zwischen „Mündigkeit“ und „Mundsühne“ kein Stichwort Mündlichkeit, schon gar nicht Oralität, ebenso wenig zwischen „öffentliche Bücher“, „öffentlicher Glaube“ und „öffentliches Recht“ das Stichwort „Öffentlichkeit“. Im Lehrbuch von Heinrich Brunner/v. Schwerin (1906/1928) sieht es ähnlich aus, und ebenso noch in der deutschen Rechtsgeschichte von Hermann Conrad von 1962.18 Mündlichkeit und Öffent17 Vgl. unten die Abb. 1 auf S. 63 und die dort gegebene kurze Erläuterung. Der dort erwähnte Aufsatz gibt genaueren Aufschluss über diese viel diskutierte Darstellung. Sie sollte hier der Einstimmung in eine Zeit dienen, deren Fremdheit oft durch die Zeugnisse der uns vertrauten Spätantike überspielt wird. 18 Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl., Karlsruhe 1962, behandelt das Thema unter dem aus der Historischen Rechtsschule tradierten Begriff „Volksrecht“ und stellt als „Grundlage der Rechtsbildung“ schon für das fränkische Reich unter dem Eindruck der römischen Rechtskultur einen Übergang „vom mündlich überlieferten Gewohn-

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lichkeit werden allenfalls, in Anlehnung an liberale Prinzipien der Zeit, als Prozessmaximen erwähnt. Tagungs- und Sammelbände behandeln bis heute eher das Thema Recht und Schrift, nicht eine orale Kultur.19 Auf der Tagung des Konstanzer Mittelalter-Arbeitskreises auf der Reichenau vor etwa 10 Jahren, die das Thema „Von der Spätantike zum frühen Mittelalter. Kontinuitäten und Brüche“ behandelte, verfolgte der rechtshistorische Beitrag konsequent und gründlich die Abfolge schriftlicher Rechtsquellen, ging aber methodisch bewusst nicht über sie hinaus.20 Erst im Band der „Enzyklopädie zur deutschen Geschichte“ von Boshof wird im Nachtrag von 2010 (wohl mit etwas kritischem Unterton) festgestellt:21 Nach dem – begrüßenswerten – kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel werde die Forschungsdiskussion nunmehr beherrscht von den Schlagwörtern Oralität, Ritual, nonverbale symbolische Kommunikation, konsensuale und inszenierte Herrschaft und Spielregeln der Politik, und zwar mit dem Ziel, die „Rahmenbedingungen der mittelalterlichen Machtausübung“ von diesen Gesichtspunkten aus zu erklären. Damit sind wir bei unserem Thema, können und wollen diese Themen nicht mehr meiden. Auf diesem Wege können wir uns auch auf einige Forschungsansätze aus der Rechtsgeschichte stützen. Hermann Nehlsen stellte 1977 die Frage nach der Effektivität der frühmittelalterlichen Leges,22 also ihrer Anwendung und Bedeutung für das Rechtsleben. Das stellte die primäre Bedeutung der Schriftquellen kategorisch in Frage. Ein Historiker meinte dazu drastisch, man dürfe sich den fränkischen Richter nicht mit der Lex Salica unter dem Arm vorstellen. Das führte zu der Frage, ob Gesetzen als Schriftquellen eher eine (herrschafts-)symbolische Bedeutung zukam, gegenüber einem von mündlichen Traditionen geprägten realen Rechtsleben. Jürgen Weitzel setzte dann einen entscheidenden Anstoß zu einer Neuinterpretation des mittelalterlichen Rechts,23 indem er unter dem Stichwort „Dinggenossenheitsrecht zum schriftlich aufgezeichneten Recht“ fest (S. 128). Von einem Spannungsverhältnis zwischen beidem ist dagegen nicht die Rede. 19 So etwa der maßgebende Tagungsband des Konstanzer Arbeitskreises: Peter Classen (Hrsg.), Recht und Schrift im Mittelalter (Vorträge und Forschungen XXIII), Sigmaringen 1977, hier mit einigen Ausblicken auf Mündlichkeit bei Kapitularien (Reinhard Schneider) und Weistümern (Helmut Feigl) und der Infragestellung der Effektivität der Rechtsaufzeichnungen der Leges durch Hermann Nehlsen. 20 Harald Siems, Die Entwicklung von Rechtsquellen zwischen Spätantike und Mittelalter, in: Kölzer/Schieffer (Fn. 7), S. 245 – 286, zieht als Rechtsquellen nur schriftliche Überlieferung in Betracht. Ders., Zu Problemen der Bewertung frühmittelalterlicher Rechtstexte, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 106 (1989), S. 291 – 305, erörtert jedoch das Verhältnis von lex scripta zu ungeschriebener Gewohnheit. 21 Egon Boshof, Königtum und Königsherrschaft im 10. und 11. Jahrhundert, 3. Aufl., München 2010, hier bes. S. 118 – 119. 22 Hermann Nehlsen, Aktualität und Effektivität der ältesten germanischen Rechtsaufzeichnungen, in: Classen (Fn. 19), S. 449 – 502. 23 Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht, 2 Bde., Köln 1985. Die Differenzierungen im Bilde Weitzels in Bezug auf Zeit, Sachbereich und Region können hier natürlich nicht erfasst werden.

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schaft und Recht“ das Problem nicht von den Gesetzen, sondern von Gericht und Verfahren her anging. Als Grundstruktur erkannte er die Trennung von Rechtsbefehl des verfahrensleitenden Richters, und der inhaltlichen Rechtsfindung durch Urteiler. Darin sieht er eine Form mittelalterlicher Gewaltenteilung, durch die nicht die Machthaber die inhaltliche Interpretationsherrschaft über Recht besitzen. Die Urteiler können dabei aus der gesamten Gerichtsgemeinde kommen, oder es können deren Repräsentanten wie die fränkischen Rachinburgen oder nach der karolingischen Reform die Schöffen sein. Doch bleibt, durch die Öffentlichkeit des Gerichts, die Verbindung der Rechtsfindung mit der Überzeugung der Rechtsgemeinschaft gewahrt: Jeder Rechtsgenosse kann den Urteilsvorschlag „schelten“, eventuell mit der Folge des gerichtlichen Zweikampfes, und die Versammlung hat ausdrücklich oder stillschweigend ihre Zustimmung als „vollbort“ zu geben, bevor der Vorsitzende es als Gebot verkündet. Diese dinggenossenschaftliche Struktur weist Weitzel nach vom dörflichen Ortsgericht, wo sie bekanntlich bis weit in die Neuzeit überlebte, bis zum Grafengericht, zum Missatgericht und schließlich zum Königsgericht. Wollte der König rechtsförmig vorgehen, so war er an den Spruch der Urteiler gebunden, wie wir es prominent in dem Prozess gegen Heinrich den Löwen, mit dem Achtspruch der Urteilergremien der Lehnskurie der Reichsfürsten sowie der Schwaben seines Standes, in der berühmten Gelnhäuser Urkunde finden.24 Dass hiermit ein Herrscher ganz anderen Rahmenbedingungen unterliegt, als der theoretisch mit Souveränität und Gewaltmonopol und praktisch mit einem bürokratischen Apparat ausgestattete Fürst des frühmodernen Staates, liegt auf der Hand. Anders als beim Typus bürokratischer Herrschaft, ist in der dinggenossenschaftlichen Rechtsverfassung ein Element von Öffentlichkeit unentbehrlich: Das Gericht tagt nicht in camera mit Legitimation durch den Herrscher und durch das Gesetzbuch, sondern offen und öffentlich, am rechten Ort zu rechter Zeit, unter freiem Himmel, formell gehegt und eröffnet, als Versammlung der Rechtsgenossenschaft, als placitum, fränkisch mallus von mahal = sprechen, also als orales Ereignis.25 Die malbergischen Glossen im lateinischen Text der Lex Salica stellen sich dar als fränkische Worte der Gerichtssprache,26 wie die volkssprachlichen Wörter der anderen Leges.27 Das Recht zeigt sich im Rechtsspruch, der nach einem festen mündlichen und ritu24

Die vieldiskutierte Urkunde u. a. in Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 13. Aufl., Köln/Weimar/Wien, Nr. 42 (S. 175 – 178). 25 Vgl. J. Weitzel u. a., Art. „Ding (Thing)“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3, Zürich/ München 1986, Sp. 1058 – 1063. 26 Daniela Fruscione, Art. „Malbergische Glossen“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (Fn. 7), Bd. 3, 2. Aufl., Berlin 2016, Sp. 1210 – 1216. 27 Dazu die Beiträge in: Gerhard Dilcher/Eva-Marie Distler (Hrsg.), Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur, Berlin 2006. Weitere Aufsätze dazu in Gerhard Dilcher, Normen zwischen Oralität und Schriftlichkeit, hrsg. v. Bernd Kannowski/ Susanne Lepsius/Reiner Schulze, Köln/Weimar/Wien 2008.

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ellen Verfahrensablauf, dem Rechtsgang, von der Überzeugung der Rechtsgemeinschaft getragen wird. Der Richter als Vorsitzender hat die Verfahrensleitung und ist Träger der Banngewalt, lateinisch districtus = Zwangsgewalt, und gibt dem Urteilsspruch durch sein Rechts- und Banngebot den Durchsetzungsbefehl.28 Bann ist förmliches, wirkendes Wort, eine königliche Verbannung heißt auch extra sermonem regis ponere. Auch der Rechtsbefehl ergeht also mündlich, öffentlich, aber getrennt vom sogenannten „Finden des Rechts“. Die Legitimation für den Rechtsbefehl, die Zwangsgewalt, wird durch die Einrichtung der Grafschaftsverfassung im fränkischen Reich, dann durch die Bannleihe entlang der Lehnspyramide von oben verliehen,29 bestand daneben aber im volksrechtlichen Verfahren auch von unten aus der Gerichtsgemeinde. Hier treffen wir auf sehr alte genossenschaftliche Wurzeln von Öffentlichkeit.30 Ein frischer Rechtsbruch musste vom Verletzten, wollte er seinerseits Gegengewalt üben, durch Herbeirufen der Nachbarn „offenkundig“ gemacht werden; diese sind als Gerichtsgenossen verpflichtet, diesem „Gerüfte“ zu folgen, an Spurfolge, Haussuchung und Binden des Täters teilzunehmen und dann im folgenden Prozess als Zeugen zur Verfügung zu stehen, wobei durch die Offenkundigkeit der Tat der Beweis erleichtert ist. Notfalls ist nach dem Sachsenspiegel in Eile durch die Versammelten ein Gograf zu wählen, dessen Amt auf dem freien Willen der Landleute beruht; er hat dann das Verfahren zu führen. Die alte Legitimation von Gericht auch „von unten“, aus der Gerichtsgemeinde, wird hier deutlich. Sie umfasst notwendig Öffentlichkeit, bei der Wahl des Gografen durch Teilnahme von drei Dörfern. Doch reichten diese Wege gerichtlichen und rechtlichen Verfahrens nicht dazu aus, der gewaltsamen Rechtsdurchsetzung die Legitimation zu entziehen. Rache und Fehde bestehen neben dem Rechtsgang bis zur endgültigen Durchsetzung des Landfriedens im frühneuzeitlichen Staat.31 Parallel zum dinggenossenschatlichen Ansatz von Weitzel gab es in der Rechtsgeschichte einen weiteren Vorstoß, der unmittelbar auf die orale Form der Rechtsüberlieferung und damit auf die Rechtsinhalte zielt. Er steht unter dem Begriff „Rechtsgewohnheiten“. Karl Kroeschell und seine Schule hatten das vom begriffli28 Katrin Kastl, Art. „Bann, weltlicher“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (Fn. 7), Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 2008, Sp. 432 – 436, bes. auch Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht (Fn. 23), Sp. 1160 ff. 29 Heiner Lück, Art. „Bannleihe“, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (Fn. 7), Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 2008, Sp. 439 – 441. 30 Das Verfahren auf „handhafter Tat“ mit „Gerüfte“ und „Spurfolge“ und Ergreifen des Täters, damit Wahrung der „Offenkundigkeit“ der gewaltsamen Tat für das unmittelbar folgende Gerichtsverfahren, das dann, wenn der belehnte Richter nicht erreichbar war, vor einem eigens ad hoc gewählten „Gografen“ (Sachsenspiegel Ldr. I. 55,2) durchgeführt wird, gehört zu den klassischen Materien der rechthistorischen Germanistik, vgl. die einschlägigen Art. im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 31 Brunner, Land und Herrschaft (Fn. 11). Grundlegend schon zuvor Franz Beyerle, Das Entwicklungsproblem im germanischen Rechtsgang, Heidelberg 1915.

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chen Positivismus des 19. Jahrhunderts geprägte Rechtsverständnis für das Mittelalter nachhaltig erschüttert.32 Eine Sektion des Rechtshistorikertages 1990 gab dann dem von Kroeschell vorgeschlagenen Begriff der Rechtsgewohnheit eine methodisch-theoretische Grundlage.33 Anders als das neben einem Gesetzesrecht existierende Gewohnheitsrecht sollte „Rechtsgewohnheit“ die aus einer primären nichtschriftlichen Tradition geschöpften Rechtsüberzeugungen und normativen Vorstellungen bezeichnen. Das bedeutete eine sozial-, mentalitäts- und kulturhistorische Einbettung des Rechts, damit auch ein Brückenschlag zur allgemeinen Mediävistik, zu deren memoria-Begriff, auch zu Jan Asmanns Forschungen zum kulturellen Gedächtnis, weiterhin zu Fragestellungen der Ethnologie. In glücklicher Weise griff der Wiener Verwaltungsjurist Martin Pilch diesen Forschungsstand auf,34 um mit einem rechtstheoretischen Zugriff vom Begriff der Rechtsgewohnheiten zu einer Kritik des juristischen Normensystemdenkens vorzustoßen und damit vom Mittelalter her zu einer Allgemeinen Rechtslehre beizutragen. Dieser Brückenschlag wiederum fand erhebliche Aufmerksamkeit in der allgemeinen Mediävistik, war er doch geeignet, eine gewisse Entfremdung zwischen dieser und der Rechtswissenschaft und Rechtshistorie aufzuarbeiten.35 In dem Buch von Pilch finden sich nun auch im Register die lange vermissten Nachweise zu Öffentlichkeit, Mündlichkeit, Oralität in reichem Maße. Der Brückenschlag von Seiten der Historiker wiederum geschah vor allem durch meinen Vorredner und die Münsteraner Schule. Gerd Althoff hatte durch seine Forschungen zu den Ritualen, mit denen in der Führungsschicht des Reiches Konflikte beigelegt wurden, einen weiten, lange unbeachteten Bereich der Kommunikation beleuchtet.36 Er bestand nun weniger aus Worten, sondern vor allem aus rituellen Handlungen, die dann durch erzählende Quellen den Bereich der Schriftlichkeit erreichten. Die Rechtshistoriker nahmen, im Fall von Jürgen Weitzel durchaus kritisch, diese Herausforderung an.37 Mit dem Feld der Konfliktlösung war ihr Kompetenzbereich berührt, mit dem Stichwort der „Spielregeln“ war die Frage nach dem normativen Hintergrund der entsprechenden Handlungsmuster betroffen. Jedenfalls führte 32 Jetzt in Karl Kroeschell, Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht, Berlin 1995; Nehlsen, Aktualität und Effektivität (Fn. 22); ders., Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts bei den germanischen Stämmen, in: Karl Kroeschell (Hrsg.), Gerichtslauben-Vorträge (Symposion H. Thieme), Sigmaringen 1983, S. 3 – 16; Gerhard Köbler, Das Recht im frühen Mittelalter, Köln/Wien 1971. 33 Gerhard Dilcher, Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretisches Problem, in: ders. u. a., Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter, Berlin 1992, S. 21 – 65; auch in: ders., Normen zwischen Oralität und Schriftlichkeit (Fn. 27), S. 33 – 84. 34 Martin Pilch, Der Rahmen der Rechtsgewohnheiten, Wien/Köln/Weimar 2009. 35 Ein rechthistorisches Symposion zu Pilchs Buch mit 13 Beiträgen ist dokumentiert in: Rechtsgeschichte (Rg) 17 (2010), S. 15 – 90. 36 Hier sei nur das zuletzt erschienene Werk genannt: Gerd Althoff, Kontrolle der Macht, Darmstadt 2016, mit weiteren Nachweisen. S. a. Althoffs Aufsatz in diesem Bande. 37 Der Stand der Diskussion hatte einen ersten Niederschlag gefunden in: Albrecht Cordes/ Bernd Kannowski (Hrsg.), Rechtsbegriffe im Mittelalter, Frankfurt am Main 2002.

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das Stichwort von der „Inszenierung“ der streitbeilegenden Rituale vor Augen, dass deren Wirkung von einem Publikum, mithin von einer Form der Öffentlichkeit abhing. Dabei ergab sich eine, für die Frage von Öffentlichkeit wichtige Unterscheidung des für Entscheidungsfindung beigezogenen Kreises, nämlich sich stufenweise erweiternd von engem Beraterkreis, dem Kreis der Großen bis zur öffentlichen Versammlung.38 Wir werden dem im Laufe unserer Untersuchung öfters begegnen. Die Fragen von Recht, Ritual, Normativität, Konfliktbeilegung und der Bereich mündlicher Kommunikation des Mittelalters ist also kein wissenschaftlich unerforschter Bereich mehr. Wer daran, wie auch manche neuere Studien, vorbeigeht, steht nicht auf dem Stand der Forschung.

III. Kapitularien und Leges als Schriftrecht in einer oralen Tradition Mit diesem Wissen können wir uns wieder der Zeit des Ersten Mittelalters zuwenden. In ihm finden wir, wie wir sahen, eine Doppelwelt: Die neue, aus den germanischen Barbarenvölkern stammende Herrenschicht wie diese Völker selbst sind und bleiben für lange Zeit weitgehend in einer Kultur oraler Kommunikation. Indem sie aber in Formen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung in die Geschichte eintreten, wandern und siedeln, Reiche erobern und beherrschen, müssen sie auch normative Regeln ihres Zusammenlebens besitzen – ubi societas, ibi ius. Deren Bildung und Übung wird schon von Tacitus (Germania c. 11, 12) der Volksversammlung zugeschrieben. Die Ausübung von Herrschaft und die Errichtung von Königreichen auf dem Boden des Römischen Reiches gelingt jedoch nur durch die Verwendung der schriftkulturellen Formen und Institutionen der Spätantike. Die Kirche ist die Institution, die sich mit diesen Formen nicht nur unmittelbar verbunden hat, sondern auch das institutionelle Gefüge besitzt und auch das Personal rekrutieren und schulen kann, um die noch lebendigen Teile dieser römischen Tradition zu verwalten und weiterzugeben, für sich selbst zu nutzen und den neuen Herrschern zur Verfügung zu stellen. Es gibt deshalb in diesen neuen Reichen kein Herrschen ohne Kirche. Sie allein konnte die Voraussetzungen für eine Herrschaftspraxis zur Verfügung stellen, die über das Niveau oraler Stammesgesellschaften hinausging. Wir wollen deshalb mit der Betrachtung dessen beginnen, wie im Ersten Mittelalter mit Hilfe von Schrift Herrschaft ausgeübt wurde. Um der auch methodischen Einseitigkeit einer Orientierung an den Schriftquellen zu entgehen, soll dabei der Blick auch darauf gerichtet sein, wie auf Schriftlichkeit gestützte Maßnahmen der Herrschaft entstehen und dann in die Öffentlichkeit einer oralen Gesellschaft hineingetragen werden – nur so können sie effektiv werden. Die Bedeutung von Schrift38 Gerd Althoff, Colloquium familiare – colloquium secretum – colloquium publicum, in: Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), S. 145 – 167, auch in: ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter, 2. Aufl., Darmstadt 2014, S. 157 – 184.

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quellen kann nur in ihrem Spannungsverhältnis zur den Alltag beherrschenden oralen Tradition verstanden werden. Wie sehr auch mit der Schrift Vertraute die beherrschende Stellung der Oralität anerkannten, zeigt anschaulich die beigefügte Abbildung eines Gesetzgebungsvorganges: Der Illustrator einer Leges-Sammlung aus karolingischer Zeit stellt entsprechend dem Prolog der Lex Salica, als die Beratung dominierend, die dort genannten vier Vorsteher der Dingversammlungen (mallus) mit Redegestus und Gerichtstäben dar, während am unteren Rand ein Kleriker fast demütig das Gehörte zur Schrift bringt. Die Darstellung wird beherrscht von der Mündlichkeit des Vorganges und deren Trägern, nicht von Kirche, Schrift und Schriftgelehrten.39 Die Formulierung, die Jahrhunderte später der Chronist Rahewin für die Verschriftlichung des Rechtsspruchs auf dem Reichstag von Roncaglia 1158 gefunden hat: in scriptis narraverunt, passt auch für dieses Bild treffend. Die Kirche selbst, eine „Anstalt“, wie Gierke sie im Gegensatz zur herrschaftlichgenossenschaftlich geordneten Umwelt charakterisiert hat, bleibt grundsätzlich ein hierarchisches Gefüge, mit dem römischen Bischof als Haupt, dies allerdings zunächst mehr dem Anspruch als der Wirklichkeit gemäß. Das schriftliche Recht der Kirche wird in unterschiedlichen Sammlungen, in seltenen Handschriften tradiert, ist also nicht überall greifbar.40 Ähnlich steht es mit dem römischen Schriftrecht, von dem sich zudem ein gewohnheitsrechtliches Vulgarrecht gesondert hat. Die Bischöfe agieren eher als Teil der Reichsaristokratie denn als kirchliche Amtsträger, Konzilien und Synoden beruft der weltliche Herrscher ein. Die Pfarrorganisation als Träger der Christianisierung vor Ort findet ihre schnelle Ausbreitung durch das von Ulrich Stutz entdeckte Eigenkirchenwesen, allerdings um den Preis der Abhängigkeit der Pfarrkirche und des Pfarrers von den Grundherren, also zumeist dem örtlichen Adel.41 Dieser weiß das neue Strukturelement nicht nur als Mittel der Zehnterhebung zu schätzen, sondern auch als eine, oft die einzige Verwaltungsorganisation innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung. Doch dürfen wir uns über die literarische Bildung und kirchliche Disziplin des Pfarrklerus dieser Zeit keine zu hohen Vorstellungen machen. Der Kampf der Kirche in diesen Jahrhunderten, von der Karolingerzeit bis zur gregorianischen Reform, richtet sich gerade gegen diese Abhängigkeiten. 39 Vgl. Abb. 2 aus der karolingischen Handschrift, die genau die mehr als 300 Jahre ältere Vorstellung des Prologs der Lex Salica von mündlicher Dingverhandlung und ihrer Niederschrift darstellen will, auf S. 64 mit weiterer Erläuterung. Dazu passt die wiederum Jahrhunderte spätere Formulierung in scriptis narraverunt, die den Rechtsspruch auf dem Reichstag von Roncaglia 1158 beschreibt, vgl. unten im Text nach Fn. 67. Vorstellung und Darstellung des Vorgangs der Verschriftlichung in öffentlicher Versammlung bleiben also lange kaum verändert. 40 Die Geschichte des Kirchenrechts bis zu dem Decretum Gratiani stellt bekanntlich eine eigene, reich ausdifferenzierte Forschungslandschaft dar, die hier nicht im Einzelnen nachgewiesen werden kann. 41 Enno Bünz, Art. „Eigenkirche“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (Fn. 7), Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 2008, Sp. 1267 – 1269; Peter Landau, Art. „Eigenkirchenwesen“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 9, Berlin/New York 1982, S. 399 – 404.

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Wirkliche Orte der Schriftkultur sind demnach nur Bischofskirchen, Klöster, und die königliche Kanzlei. Diese war umgeben von der Hofgesellschaft, in der Kleriker, unter ihnen vor allem auch Bischöfe, das Bildungsniveau bestimmten. Der ungeheure Aufschwung des Bildungswesens unter Karl dem Großen, mit einem Wiederanknüpfen an die Antike, ist aufs Engste mit dem Hof und seinen Klerikerintellektuellen, mit der Stärkung der kirchlichen Verwaltungshierarchie und der Inpflichtnahme der Klöster für die allgemeine Bildung und Schriftkultur verbunden.42 Das ist ein Grund dafür, dass man in der Mediävistik von karolingischer Staatlichkeit spricht. Dies wirkte sich nämlich unmittelbar auf die Verwaltungspraxis aus. Das fränkische Reich hatte schon seit den Merowingern eine ganz eigene Praxis schriftlicher Verwaltungsanweisungen entwickelt, die Kapitularien.43 Sie finden im Reich Karls des Großen und seiner Nachfolger einen Höhepunkt an Zahl und Intensität. Mit ihrem Detailreichtum bieten sie in ihren Anordnungen ein ungewöhnlich lebensnahes Bild der Probleme, die die damalige Gesellschaft heimsuchten und die keineswegs dem römischen oder christlichen Ideal einer gut regierten Gesellschaft entsprachen. Einen großen Bestandteil stellen deshalb Ermahnungen und Anordnungen zu einer Lebensführung dar, die den christlichen Vorstellungen entsprach. Das geht von der Kirchendisziplin zur harten Unterdrückung aller heidnischen Bräuche und Glaubenspraktiken etwa im gerade eroberten Sachsen, betrifft aber auch die Zurückdrängung der mit Tötungshandlungen verbundenen Fehden. Deshalb drängte man auf eine Stärkung von Gericht und rechtlichem Austrag. Schließlich sind erwähnenswert die Anordnungen für die königlichen Grundherrschaften sowie die Sorge um die Verwaltung der Grundherrschaften allgemein.44 Sie zeigen, wie eine dem König unmittelbar unterworfene und deshalb musterhafte Gutsverwaltung auszusehen hatte. Sie nähert sich einer Form bürokratischer Herrschaft in einem kleinen Bereich, mit Ämterwesen, geregelten Zuständigkeiten, einer wenn auch nur spärlichen Schriftlichkeit. Die Kapitularien sind uns in Schriftform überliefert, teilweise als regelrechte Urkunden, teilweise als eher skizzierte Gedächtnishilfen. Ein Kapitular verlangt Befolgung alles dessen, quod vobis vel scriptum vel verbis est dictum – mündliche und schriftliche Anordnungen, also herrschaftliche Befehle, stehen nebeneinander. Insgesamt müssen wir uns die Kapitularien aber in eine Welt der Oralität eingebettet vorstellen. Typischerweise wurden die Regelungen auf einer Versammlung beraten und beschlossen, auch, damit der Konsens der Großen zur Durchsetzung der Anord-

42 Dazu Steffen Patzold, Bischöfe als Träger der politischen Ordnung des Frankenreiches im 8./9. Jahrhundert, in: Pohl/Weiser (Fn. 2), S. 255 – 268. Zur Bildungsreform und Rolle der Klöster Johannes Fried, Karl der Große, München 2013 u. ö., bes. S. 290 – 301. 43 Die Erforschung der Kapitularien stellt ebenfalls ein breites Forschungsfeld dar. Eine vortreffliche Übersicht unter Hervorhebung der hier diskutierten Gesichtspunkte Mündlichkeit und Effektivität bietet Gerhard Schmitz, Art. „Kapitularien“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (Fn. 7), Bd. 2, 2. Aufl., Berlin 2012, Sp. 1604 – 1612. 44 S. Fried (Fn. 42), S. 219 ff.: Wie wurden Grundherrschaften verwaltet?

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nungen gesichert war.45 Dazu dienten auch die großen Heeresversammlungen im Frühjahr, Märzfeld und später Maifeld. Die Anordnungen wurden dann schriftlich oder mündlich durch Königsboten – missi – in die Lande getragen, wobei ein Geistlicher und ein Weltlicher zusammenwirken sollten. An den Zielorten müssen wir uns wieder dingförmliche Versammlungen der Adressaten vorstellen, denen der Inhalt, natürlich mündlich, verkündet wurde. Ein Geistlicher war dabei zur Übersetzung eines schriftlichen lateinischen Textes in die jeweilige Volkssprache unentbehrlich. Die örtlichen Obrigkeiten – Grafen, Zentenare, auch Schöffen werden genannt – sollen dann die Umsetzung garantieren. Auch wenn der Rechts- oder Verwaltungsbefehl im Sinne Webers, teils in ermahnender teils in normativer Form, oft schriftlich gefasst ist, findet der Entstehungsakt wie auch die Mitteilung an Amtsträger und Volk in mündlicher Form statt, und zwar in einer jeweiligen überregionalen oder lokalen Versammlung in der Art eines Dings. Damit gehört die damit verbundene Öffentlichkeit zu den Existenzvoraussetzungen dieser Form des Verwaltungshandelns. Nur in diesem Rahmen kann man von einem „Herrscherbefehl“ sprechen. Gerade die Frage der Effektivität, der Umsetzung in soziale und rechtliche Wirklichkeit, kann nur aus diesem Gesichtspunkt beantwortet werden. Dies meint auch die zuvor zitierte Aussage Hincmars über die Zufriedenheit der übrigen Großen und den Eifer der Volksmenge, die für die Verwirklichung der Anordnungen notwendig sei. Jedenfalls aber zeigt die Quellengattung der Kapitularien in ungewöhnlich deutlicher Weise die Ordnungsprobleme und Konfliktfelder der damaligen Gesellschaft und den Ordnungswillen der Herrschaftsträger. Dies ist eingebettet in eine gemischt literalorale Verwaltungskultur. Schon seit den Humanisten hat die große Verdichtung von schriftlichen Rechtstexten in den Leges Barbarorum oder Volksrechten die Aufmerksamkeit auf sich gezogen.46 Unter unseren Gesichtspunkten von Herrschaft und Konfliktbeilegung, des Vorhandenseins normativer Regeln im Feld von Ritual und Recht, der Frage der Bedeutung von Schriftlichkeit und Oralität müssen sie uns beschäftigen. Die Leges sind bekanntlich – mit Ausnahme der angelsächsichen – in Latein verfasst, fügen sich also in die traditionelle Schriftkultur ein. Kleriker oder Mönche sind es also, die sie niederschreiben. Als Initiator der Gesetze wird öfters eine Herrscherpersönlichkeit genannt, die ihr zuweilen auch den Namen gibt: Etwa die burgundische Lex Gundobada, das langobardische Edikt Rotharis. Es handelt sich also um ein Herrschaftshandeln, wie bei den Kapitularien. Der Inhalt wird aber, in den Prologen oft ausdrücklich, als Aufzeichnung der Volkstradition, also der Rechtsgewohnheiten 45 Aus der Sicht der Herrschaft wird dies begründet damit, dass es nach der internen Beratung nötig sei, durch Zustimmung der Versammlung den Kreis der übrigen Großen zufrieden zu stellen und den Eifer der Volksmenge anzufachen, um die Anordnungen zu verwirklichen; Hincmar von Reims, De ordine palatii, hrsg. v. Thomas Gross/Rudolf Schieffer (MGH Fontes iuris, 3), Hannover 1980, c. 6, S. 86. 46 Dazu jetzt eine gute Übersicht in den Leges-Artikeln des Handwörterbuchs zur deutschen Rechtsgeschichte (Fn. 7), Bd. 3, Sp. 862 – 950, sowie Art. „Langobardisches Recht“, a. a. O., Sp. 624 – 637.

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bezeichnet. So berichtet ein stilisierter Prolog zur Lex Salica von drei Gerichtssitzungen an vier Thingplätzen (malli), auf denen unter vier Rechtskundigen alle Streitfälle erörtert und die Entscheidungen dann von diesen diktiert wurden.47 Bei den Langobarden berichtet der Epilog zum Edikt von einem ähnlichen Vorgang, in welchem durch Befragung das alte Recht der Langobarden ermittelt wird, Beratung und Zustimmung der Großen und Rechtskundigen folgt und schließlich das aufgezeichnete Recht durch einen kollektiven Ritualakt der Heeresversammlung per gairethinx, des „Speer-Thing“, bestätigt wird.48 Es handelt sich wohl um eine Art „Waffenrühren“ wie das nordische wapnatak, eine geräuschvolle Akklamation, wie sie schon Tacitus berichtet. Die Gesetzgebung ist also inhaltlich eine Aufzeichnung von Rechtsgewohnheiten, die öffentlich im Rahmen einer dinggenossenschaftlichen Versammlung des Volkes Anerkennung und Verbindlichkeit erlangt. Der König als Herrscher ist der Initiator und Leiter des Verfahrens, ordnet Verbesserungen an und setzt am Ende, wie bei einem dinggenossenschaftlichen Urteil, sein Rechtsgebot hinzu. Gesetzgebung wie Rechtsprechung sind iurisdictio und schöpfen aus derselben Quelle der oral überlieferten Rechtsgewohnheit. In fast allen Leges finden sich in den lateinischen Text eingefügte germanische Rechtswörter.49 Sie dienen der Verklammerung der Gesetzgebung mit der oralen volkssprachlichen Rechtspraxis und sollten wohl auch dem versammelten Volk das Recht als eigenes, als Ausdruck ihrer Identität zeigen. Dem entspricht es, dass die Leges jeweils für bestimmte benannte, namengebende Völkerschaften ergehen. Der spätkarolingische Abt Regino von Prüm zählt leges neben lingua und mores zu den Identitätsmerkmalen einer natio.50 Deshalb ergehen im fränkischen Großreich die Kapitularien universell, die Leges aber getrennt für die jeweiligen Völker: Franken, Alemannen, Baiern. Den Langobarden bleibt ihr Recht auch nach der karolingischen Eroberung ihres (weiterbestehenden) Reiches. Für die gerade unterworfenen Völker wie Friesen, Sachsen und Thüringer erlässt Karl der Große auf Reichstagen 802/03 ebenfalls je eigene Leges,51 respektiert also die rechtliche Stammesidentität auch der Besiegten. 47

Vgl. Heiner Lück, Art. „Lex Salica“, a. a. O., Sp. 924 – 940, und die Abb. 2 mit Erläuterung bei S. 64 f. 48 So der Epilog des Edikt Rotharis, c. 386. Dazu Gerhard Dilcher, „per gairethinx secundum ritus gentis nostrae confirmantes“. Zu Recht und Ritual im Langobardenrecht. Mit Exkurs: Die Agilulf-Platte als Zeugnis des langobardischen Gairethinx. in: Dilcher/Distler (Fn. 27), S. 419 – 458, auch in: ders., Normen zwischen Oralität und Schriftlichkeit (Fn. 27), S. 289 ff.; dort zum Prolog, der die Initiative des Königs hervorhebt, S. 265 ff. Vgl. auch unten Abb. 2 der Agilulf-Helmplatte. 49 Vgl. dazu Teil III, Sprache und Recht, in: Dilcher/Distler (Fn. 27), sowie Fruscione (Fn. 26). 50 Regino von Prüm, De synodalibus causis, hrsg. v. Friedrich Kurze (MGH SS rer. germ., 50), Hannover 1890, S. 129 ff.: …diversae nationes populorum inter se discrepant genere, moribus, lingua, legibus. 51 Heiner Lück, Der wilde Osten: Fränkische Herrschaftsstrukturen im Geltungsbereich der Lex Saxonum und der Lex Thuringorum um 800, in: Hans-Georg Hermann u. a. (Hrsg.), Von

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Das Herrschen durch Erlass von Leges, eine Verschriftlichung von Rechtsgewohnheiten spezifischer Völkerschaften, geschieht also im Rahmen dessen, was die Mediävistik als konsensuale Herrschaft bezeichnet.52 Es ist voll in die dinggenossenschaftliche Rechtsverfassung eingebettet, mit den sich ergänzenden Funktionen von Herrscher, von Beratung der Großen und rechtskundigen Honoratioren und Zustimmung aller in der Versammlung, dem colloquium publicum. Diese Versammlung stellt sich über lange Zeit als die Heeresversammlung der wehrhaften Freien dar. Erst die Feudalisierung setzt an diese Stelle die Heere der Ritter.

IV. Öffentlichkeit im Rahmen konsensualer Herrschaft Die Form von Öffentlichkeit, die wir dabei erkennen, stellt sich als weitreichender und andersartig dar denn die von Habermas in Bezug genommene Form repräsentativer Öffentlichkeit. Sie dient nicht nur der Darstellung des Herrschers und seiner Großen durch Insignien, Habitus, Gestus, Rhetorik, ist auch nicht nur Inszenierung von Herrschaft. Vielmehr bedeutet die Öffentlichkeit der Beratung und der Zustimmung der Versammlung einen unentbehrlichen, maßgebenden und inhaltlich bestimmenden Faktor, ein Gegenüber zur Initiative und Gebotsgewalt des Herrschers, einen Teil des dinggenossenschaftlichen Verständnisses von rechtlichem Handeln. Durch das Verfahren der Ermittlung, der Verschriftlichung und Verlesung mit der anschließenden Konsenserteilung durch die Versammlung wird erst die Verbindlichkeit und Legitimität des aufgezeichneten Rechts festgestellt. Die von Jürgen Weitzel im Anschluss an Max Weber als Gewaltenteilung bezeichnete Trennung von Rechtsfindung und Gebot53 gilt auch für diese Form der Rechtsaufzeichnung. Sie bedeutet eine Gegengewalt gegenüber der Gebotsgewalt der Herrschaft. Es handelt sich um einen in das Mittelalter getragenen Teil der schon von Tacitus bezeugten Stammesverfassungen der germanischen Völker und ihrer spezifischen tribalen Versammlungskultur, in der ja auch schon die Vorberatung der Großen ihren Platz hatte.54 Der schon von der liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, auch aus daden Leges Barbarorum bis zum ius barbarum des Nationalsozialismus. FS Hermann Nehlsen, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 118 – 131. 52 Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft, in: P. J. Heinig (Hrsg.), Reich, Regionen und Europa, FS Peter Moraw, Berlin 2000, S. 53 – 87; Gerhard Dilcher, Art. „Konsens“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (Fn. 7), Bd. 3, 2. Aufl., Berlin 2016, Sp. 109 – 117. 53 Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht (Fn. 23), Register s. v. Gewaltenteilung. 54 Tacitus beschreibt in seiner „Germania“ bekanntlich in cap. 11 und 12 die Volksversammlung (concilium) als zentrale Institution, wo sowohl politische Entscheidungen wie Rechtssachen behandelt werden. Dies stimmt mit den Aussagen anderer antiker Autoren, den Verhältnissen der Völkerwanderungszeit wie auch ethnologischen Befunden überein. Das viel diskutierte Problem des Quellenwertes der Germania des Tacitus braucht bei der Frage der Bedeutung der Versammlung darum nicht aufgerollt zu werden.

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mals aktuellen Gründen, hervorgehobene Dualismus von Herrscher und Volk prägte sich in dieser Form aus und führte zu dem erwähnten Prinzip konsensualer Herrschaft. Auch wenn Initiative des Herrschers, Beratungen im engeren Kreis, Heranziehung von Rechtskundigen vorausgingen, war der Konsens in öffentlicher Versammlung im Sinne einer Legitimität sowohl herzustellen wie darzustellen. Das Verfahren selbst war auf das Erzielen von Einmütigkeit ausgerichtet. Die Effektivität der Rechtsaufzeichnung hing dabei weit mehr von der Übereinstimmung mit dem oral geübten Rechtsbrauch als dem Gebot des Herrschers ab. Auch der Herrscherbefehl bedurfte zur Umsetzung weitgehenden und öffentlich herzustellenden Konsenses.

V. Urkunden und Privilegien als schriftliche Herrschaftsakte mit Bezug zur Oralität Mit dem Übergang der Herrschaft im ostfränkischen, also dann deutschen Reich an die sächsische und dann die salische Herrscherdynastie verschwinden die schriftlichen Herrschaftsmittel der Kapitularien und Leges. Das Mittelalter wird in Bezug auf Schriftlichkeit und Normativität bis hin zur Zeit der Staufer dunkler. Man hat von einer archaischen Epoche, auch des Rechts, gesprochen, auch von einem Schwinden karolingischer Staatlichkeit. Dagegen finden sich, versammelt in der Reihe der Diplomata der MGH, zunehmend verschriftlichte Einzelanordnungen, Präzepte, Privilegien, vor allem für Kirchen und Klöster. Sie bilden ein dichtes Netz von Herrscherhandlungen, in Schrift gegossen, deren Form als Königsurkunde, von Intitulatio und feierlicher Arenga bis zur Zeugenschaft, zu Siegel und Unterschrift, von der Kanzlei zu einer kunstvollen Form ausgebaut wird. Man kann durchaus von Ritualen der Schriftlichkeit sprechen. Adressaten sind, wie gesagt, ganz überwiegend Kirchen und Klöster, selbst Orte der Schriftlichkeit, die in ihren Archiven die Urkunden bewahren, bei Streitigkeiten und Prozessen vorweisen und gegebenenfalls auch dem König zur Bestätigung und Erweiterung vorlegen. Der König ist als Schützer, aber auch als Herrscher über die Reichskirche zu diesen Maßnahmen befugt und aufgerufen, als Schirmer der Kirche in einer herrschaftsstolzen, gewalt- und fehdegewohnten Adelswelt. Bestätigt werden hier meist Herrschafts- und Eigentumsrechte über Grundherrschaften, deren Immunität so gesichert wird. Dabei werden, anders als in den betrachteten Leges und Kapitularien, kaum inhaltliche normative Satzungen vorgenommen. Vielmehr wird stattdessen vorhandenes Recht, Stammesrecht oder ganz allgemein die geltende Gewohnheit, in Bezug genommen und bekräftigt. Hermann Krause, dem wir eine rechtshistorische Erschließung dieser Quellen verdanken, hat dies in mehreren Studien um 1960 breit entfaltet.55 Er stellt fest: So viele 55 Vor allem Hermann Krause, Königtum und Rechtordnung in der Zeit der sächsischen und salischen Herrscher, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 82 (1965), S. 1 – 98; Gerhard Dilcher, Königliche Privilegienerneuerung

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Herrschaftskreise da sind, so viele Rechtsentstehungskreise gibt es auch. Das Königtum als zentrale Herrschaft schwebt gleichsam über diesen Rechtskreisen und bemüht sich, deren Ordnung, die durch innere und äußere Gewalt und Fehden immer wieder gefährdet ist, zu festigen. In den Arengen wird gerade diese Funktion des Königtums herausgehoben und gefeiert. Sie fordert in besonderer Weise die immer wiederkehrende Anwesenheit des Königs, seines Hofes und seiner Schriftkundigen vor Ort in einer steten Reisetätigkeit – der König übt notwendigerweise sein hohes Gewerbe, wie Hermann Heimpel einst formuliert hat, im Umherziehen aus. Königsitinerare haben Verfassungscharakter. Auch der rituelle Herrschaftsantritt vollzieht sich als Königsumritt, begleitet von der Öffentlichkeit der Huldigungen. Hier haben wir sicher auch eine Form repräsentativer Öffentlichkeit. Das Handeln der Herrscher hat sich damit dem Wandel der Verfassung angepasst. Die Identität der Stämme und Völker des Reiches verblasste und damit auch deren Gemeinschaft des Rechts, wenn auch der Sachsenspiegel nach 1200 noch einmal einen Abglanz dieses Bewusstseins einer stammesbezogenen Rechtsgemeinschaft zeigt. Das Königtum folgte also mit seiner Praxis des Rechtsbefehls in Form von Privilegien und Diplomen der Auflösung der Welt in kleinere Rechtskreise. Diese Gewährung von Privilegien, ihre Wiedervorlage und Bestätigung sowie auch darauf bezügliche Rechtsverfahren geschahen in der Öffentlichkeit der Hoftage, in der Anwesenheit der lokalen und regionalen Herrschaftsschicht, sowie ihrem Anhang und vor benannten und aufgezählten Zeugen, also einer jeweils durch die Gelegenheit bestimmten, politisch aber wichtigen und für die Zeit selbstverständlichen Öffentlichkeit. Durch den Erlass von Dienst- und Hofrechten versuchten die Träger der Grundherrschaften nun seit dem 11. Jahrhundert die Ordnung ihres Bereiches durch schriftliche Normierungen zu regeln. Als deutlichstes Beispiel ragt das erwähnte Hofrecht des großen Kanonisten Bischof Burchard für die ausgedehnte Wormser Grundherrschaft hervor.56 Burchard erlässt es mit Zustimmung einer Versammlung von Klerus, Rittern und Volk; für die Durchsetzung ist die örtliche Organisation in den Dinggenossenschaften unter einem Meier zuständig. Dem Bischof geht es um Ordnung der dörflichen und städtischen Gemeinschaften durch Straffung der Herrschaft – die Kompetenzen der Ortsvorsteher werden gestärkt – vor allem aber durch Setzung von Normen: Lex erit – so heißt es in Befehlsform. Hauptanliegen ist es, die verheerenden Fehden zu unterbinden, die zu Mord und Totschlag unter der Bevölkerung geführt haben. Geregelt werden vielfältig und kirchliches Reformdenken bei Konrad III., in: Clausdieter Schott/Claudio Soliva (Hrsg.), Nit anders denn liebs und guets. Kolloqium f. K. S. Bader, Sigmaringen 1986, S. 47 – 55. 56 Gerhard Dilcher, Mord und Totschlag im alten Worms, in: Stephan Buchholz u. a. (Hrsg.), Überlieferung, Bewahrung und Gestaltung in der rechtsgeschichtlichen Forschung, FS Ekkehard Kaufmann, Paderborn 1993, S. 91 – 104; Gerhard Dilcher, Der Kanonist als Gesetzgeber: Zur rechthistorischen Stellung des Hofrechts Bischof Burchards von Worms, in: Richard H. Helmholz u. a. (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, FS Peter Landau, Paderborn 2000, S. 105 – 129.

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aber auch Fragen des Standes zwischen freien Fiskalbauern und unfreien Tagwerkern, von Familie, Erbe, Bodenbesitz. Verschärfte Repression zeigt sich darin, dass neben den traditionellen Konfliktausgleich durch Bußzahlung peinliche Bestrafungen an Leib und Leben treten sollen – ein fundamentaler Wandel, den sonst erst die Landfrieden im 12. Jahrhundert vollziehen. Schließlich wird das formelle Prozessverfahren neu geregelt. Zur Vermeidung von Meineiden werden statt des Eidhelferbeweises Gottesurteile und gerichtlicher Zweikampf angeordnet – also eher magische Entscheidungsmittel, von denen die Kirche bald danach abrücken sollte. Das Hofrecht gewährt uns also lebendigen Einblick in die Konflikte und Konfliktaustragung in dörflichen Gemeinschaften, teils im Fehdegang blutiger Gewalt, gegen die der dinggenossenschaftliche, herrschaftlich geordnete Rechtsgang gestärkt wird. Es ist ein Zeichen erhöhten Bedürfnisses nach Ordnung durch herrschaftliche Anordnung, die aber in die bestehende Ordnung oraler Öffentlichkeit eingebettet wird.

VI. Der Reichstag von Roncaglia 1158: Öffentlichkeit, Rechtsgewohnheit und Kaiserrecht 1. Zum Verlauf des Reichstages: Teilnehmer, Rituale und Öffentlichkeit Ich möchte nun auf ein Ereignis an der Wende vom Ersten zum Zweiten Mittelalter eingehen, bei dem orale und Schriftkultur aufeinanderstoßen und eine neue Rolle der Schriftlichkeit des Rechts sich ankündigt: Der Reichstag Friedrich Barbarossas auf den Feldern von Roncaglia bei Piacenza im Jahre 1158. Hier haben wir ungewöhnlich ausführliche Berichte, unter anderem durch zwei Zeitzeugen der Ereignisse: Der dem Hofe nahe Kleriker Rahewin, Fortsetzer der Barbarossa-Chronik des Bischofs Otto von Freising, und der aus der Stadt Lodi bei Mailand stammende Richter und Konsul Otto Morena.57 Ihnen, die die Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven sehen, wollen wir kritisch folgen. Rahewin erwähnt zuvor,58 wie Friederich Barbarossa nach mühevoller Befriedung Italiens alle Städte und Großen des Landes zu einem Reichstag an dem traditionellen Versammlungsort der roncalischen Felder auf den Martinstag lädt mit dem Programm, über den Landfrieden und die Feststellung der in desuetudo geratenen

57 Hier zitiert nach: Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs, hrsg. v. Franz-Josef Schmale (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Bd. XVII), 4. Aufl., Darmstadt 2000; sowie Otto Morena, Ottonis Morenae eiusdemque continuatorum Libellus de rebus a Frederico imperatore gestis, in: Franz-Josef Schmale (Hrsg.), Italische Quellen über die Taten Kaiser Friedrichs I. in Italien und der Brief über den Kreuzzug Kaiser Friedrichs I., S. 34 – 239 (ebd. Bd. XVIIa), Darmstadt 1986. 58 Rahewin (Fn. 57), Buch III, c. 57, S. 506.

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Reichsrechte durch Rechtskundige (sapientes) zu beraten. Ort und Zeit wie auch Themen werden also durch Ladung formell festgelegt. Die Schilderung des Reichstages selbst bei Rahewin beginnt59 mit der Zusammenkunft und Aufbau der Lager der im einzelnen aufgezählten Heeresgruppen, die nach ihrer Herkunft geordnet sind. So hat das Gefolge des Kaisers, also das deutsche Heer, an dem einen Ufer des Po seine Zelte aufgeschlagen, während die Gruppen der italienischen Städte großenteils auf dem anderen Ufer lagern. Während des Reichstages entwickelt sich in diesen Lagern offenbar eine weitere informelle Form der Kommunikation. Nach der formellen Tagung werden in den Zeltlagern in publico die Taten des Kaisers in Liedern gepriesen;60 dazu könnte aber auch der Diskurs über die kaiserliche Stellung aufgrund des römischen Rechts gehören, über den spätere Chroniken berichten. Der fast städtischen Form der Lager misst der Chronist hohe symbolische Bedeutung zu, da sie aus einer Tradition des Römischen Reiches stamme. Die einzelnen Gruppen stehen unter ihren Führern aus Deutschland und Italien, voran die Bischöfe, die er namentlich benennt, weiter die weltlichen Großen; dazu kommen diejenigen der italienischen Städte mit ihren Konsuln. Rahewin nennt die Versammlung placitum, conventus oder concio, auch curia generalis, Otto Morena spricht von einem colloquium maximum.61 Öffentlichkeit und Mündlichkeit bilden also deren Grundlage. Der Kaiser betreibt und präsidiert die Vorgänge der Rechtsfindung und Gesetzgebung, die in den berühmten roncalischen Gesetzen münden:62 der Feststellung der Regalien und Hoheitsrechte, dem Landfriedensgesetz, dem Lehnsgesetz, schließlich dem Privileg für die Scholaren der Universität. Zum Teil gehen diese Texte später in den Textcorpus des gelehrten Rechts ein. Nach dreitägiger Beratung mit einem engeren Kreis, vor allem von Bischöfen, eröffnet der Kaiser die Versammlung mit einer Rede, für die Italiener per interpretem, auf erhöhtem Platz sitzend, so dass er von allen gehört und gesehen werden kann.63 Hier sind also nicht nur die Großen, sondern auch ihr Gefolge, die deutschen wie italienischen Heeresgruppen angesprochen. Die Rede wird im Bericht Rahewins, vom Chronisten sicher stilisiert und mit gelehrten Zitaten gespickt, wiedergegeben; doch gibt es keinen Grund, an der Tatsache einer bedeutsamen Rede Friedrichs zu zwei59

Die Schilderung des Reichstages beginnt a. a. O., Buch IV, c. 1, S. 510. A. a. O. c. 5 am Ende, S. 520. Zu den weiteren Diskursen vgl. Barbara Frenz, Barbarossa und der Hoftag von Roncaglia (1158) in der Historiographie des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Gerhard Dilcher/Diego Quaglioni (Hrsg.), Gli inizi del diritto pubblico – Die Anfänge des öffentlichen Rechts, Annali/Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, Contributi 19, Bologna/Berlin 2007, S. 101 – 126. 61 Otto Morena (Fn. 57), S. 88, bei Anm. 67. 62 Zum vieldiskutierten Reichstag von 1158 jetzt umfassend der Tagungsband Dilcher/ Quaglioni, Gli inizi del diritto pubblico 1 (Fn. 60). Die Gesetze jetzt aufgrund der Entdeckungen von Vittore Colorni, Die drei verschollenen Gesetze des Reichstages bei Roncaglia, Aalen 1969 (ital. 1958) in der Edition MGH, Dipl. Friderici I, Nr. 237 – 243. 63 Rahewin (Fn. 57), Buch IV, c. 3 am Ende, c. 4, S. 514 – 515. 60

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feln. Sie habe die Bewunderung aller wegen ihrer Klugheit und Beredsamkeit erregt – die Rhetorik spielt also in der Versammlung eine Rolle. Der Erzbischof von Mailand, vor kurzem noch mit der Stadt Gegner des Kaisers, wird mit einer rühmenden Gegenrede zitiert – insofern sicher ganz repräsentative Öffentlichkeit. Wenn auch die Reden in der wiedergegebenen Form selbst klerikal-gebildete Stilisierungen des Chronisten sind, so entspricht ihre Hervorhebung als Teil des Versammlungsablaufs sicher einer Realität. Sie zeigt deutlich, wie politische Führerschaft in der Versammlungskultur einer oralen Gesellschaft mit der Fähigkeit zu öffentlicher Rede verbunden sein muss. In den folgenden Tagen hielt der Kaiser für alle Klageführenden aus Italien öffentlich Gericht, wozu er die vier Bologneser Rechtslehrer (magistri) Bulgarus, Martinus Gosia, Jacobus und Ugo neben anderen Rechtkundigen aus den italienischen Städten als Beisitzer berief.64 Damit agierte der Kaiser als Gerichtsherr, der gleichzeitig das römische Recht als das Recht der italischen Bevölkerung anerkennt und anwendet. Danach sollten die vernachlässigten und entfremdeten Rechte des Reiches, die Regalien, festgestellt werden; es handelte sich um die wichtigsten Streitpunkte zwischen dem Kaiser und den neu entstandenen Stadtkommunen. 2. Zwei unterschiedliche Sichtweisen: Repräsentative Öffentlichkeit oder dingenossenschaftliches Rechtsverfahren Bei diesem Gegenstand, einem der Hauptpunkte des Reichstages, der auch nach Rahewin in der Ladung ausdrücklich erwähnt war, gehen die Darstellungen unserer beiden, wohl einst anwesenden Chronisten in charakteristischer Weise auseinander. Es handelt sich um die Feststellung der durch die Entstehung und Machtergreifung der Stadtkommunen und Abwesenheit der Herrscher weitgehend entfremdeten Hoheits- und Fiskalrechte des Reiches.65 Die Kommunen berufen sich auf deren langdauernde Innehabung, also Gewohnheit. Der Kaiser kann sich hier auf die ursprüngliche Zugehörigkeit zum Reiche und die Unverjährbarkeit dieser Rechte berufen. Er hatte aber außerdem, offenbar bei einer Unterredung bei seinem vorhergehenden Italienzug 1155 mit den römischrechtlich gelehrten Professoren des im Entstehen begriffenen Rechtsstudiums in Bologna,66 Kunde von der umfassenden hoheitsrechtlichen Stellung des Kaisers in der justinianischen Kodifikation erhalten. Dies fügte sich in sein Konzept einer Renovatio Imperii. Wir dürfen also annehmen, dass die übereinstimmend von allen Chronisten berichtete Einladung und Einbeziehung der Bologneser Rechtsgelehrten von Friedrich Barbarossa als eine gezielte Maßnahme im Hinblick auf die Feststellung der Rechte des Reiches geplant war. Auch an64

Rahewin (Fn. 57), a. a. O., c. 6, S. 520. Vgl. die Beiträge in: Dilcher/Quaglioni, Gli inizi del diritto pubblico 1 (Fn. 60). 66 Der Nachweis von Winfried Stelzer, Zum Scholarenprivileg Friedrich Barbarossas (Authentica Habita), in: Deutsches Archiv 34 (1978), S. 123 – 165. 65

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dere, spätere Berichte67 erwähnen offenbar vom Hörensagen das Auftreten der Bologneser Rechtsgelehrten in hervorgehobener Weise; im Zusammenhang damit werden dann zentrale Formulierungen der spätrömischen Kaisertheorie vorgestellt (lex regia, princeps legibus solutus, lex animata in terris), die also damals bekannt und diskutiert waren, aber dann nicht in die roncalische Gesetzgebung einbezogen wurden. Da die Reichsversammlung, nach dem Sieg Barbarossas über Mailand, aber der Konsensbildung und Versöhnung dienen sollte, kam es sehr auf die Haltung und die Einbeziehung der kommunalen Führungsschichten Oberitaliens an, die ja selbst unterschiedliche politische Haltungen und Standpunkte vertraten. Es handelt sich hier um die Konsuln und iudices, die, wie auch Rahewin es darstellt, einen maßgebenden Teil der italienischen Teilnehmer bildeten. Die iudices rekrutierten sich zu dieser Zeit keineswegs aus studierten Juristen oder waren gar Rechtslehrer, wie oft unterstellt wird.68 Vielmehr gehörten sie zur rechtserfahrenen Führungsschicht der Kommunen (waren also mit Max Weber „Rechtshonoratioren“, keine Juristen), waren aber andererseits auch durch eine Ernennung seitens des Reiches legitimiert. Zu dieser sozialen Gruppe, die auch als „Konsulatsaristokratie“ bezeichnet wird, gehörten sowohl Otto Morena selbst wie auch der führende Feudist der Zeit, der Mailänder Obertus de Orto, Berater Barbarossas auf einem vorangehenden Reichstag, dessen Sohn aber erst das Bologneser Studium durchlaufen hat.69 Beide bekleiden sowohl hohe kommunale Ämter wie das eines kaiserlichen iudex. Sie stellten also von ihrem Rechtswissen wie von ihren politischen Interessen ein deutlich anderes Element dar als die Vertreter der neuen römischen Rechtsgelehrsamkeit, die sich zu dieser Zeit, wie auch das roncalische kaiserliche Privileg der Authentica Habita deutlich zeigt, in der Phase der Etablierung des Rechtsstudiums eher an den Kaiser anlehnten. Ihre Integration in die kommunale Politik vollzog sich erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts.70 Wie die nach den Funden von Vittore Colorni nunmehr genau be67

Dazu ausführlich Frenz (Fn. 60). So wird der Text von Rahewin (Fn. 57) zur Heranziehung der vier Bologneser Rechtsgelehrten (Buch IV, c. 6, S. 520, Anm. 50) in der Edition dahingehend erläutert, nach Otto Morena seien sie von 28 anderen Magistern aus Bologna begleitet gewesen. In Wirklichkeit spricht Otto Morena von 28 iudices aus 14 lombardischen Städten. 69 Zu Otto Morena in der Edition (Fn. 57), S. 8, zu Obertus de Orto: Maria Gigliola Di Renzo Villata, La formazione dei Libri feudorum, in: Il feudalesimo nell’alto medioevo, Bd. II, Spoleto 2000, S. 651 – 721, bes. 666 – 668; auch Gerhard Dilcher, Das lombardische Lehnrecht der Libri Feudorum im europäischen Kontext, in: Karl-Heinz Spieß (Hrsg.), Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und Italien im 12. und 13. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen LXXVI), Ostfildern 2013, S. 41 – 92. 70 Zu Stellung und Professionalisierung von iudices und doctores zwischen den Veränderungen der italischen Gerichtsverfassung während der Ausbildung der Kommune und Institutionalisierung des Rechtsstudiums vgl. die klassische Studie von Johannes Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert, Köln/Wien 1974. Fried sieht eine grundlegende Veränderung hin zu einem studierten Juristenstand im Dienste der Kommunen in Bologna und Modena erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts. – Zur schwankenden Legitimation der Gerichtsbarkeit und Richtenden zwischen Reichsgewalt und bürgerlicher Kommune bis zum Konstanzer Frieden 1183 Gerhard Dilcher, Die Entstehung der lombardischen Stadtkommune, Aalen 1967, S. 170 – 177. 68

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kannten Gesetze des Reichstags von Roncaglia zeigen, spiegelt sich der Gegensatz der von den Kommunen vertretenen Rechtsgewohnheiten und des von den Rechtsgelehrten vertretenen kaiserlichen Hoheitsanspruchs auch in dem gesetzgeberischen Ergebnis des Reichstags.71 Der spätere Rechtslehrer Placentinus diffamiert wegen dieser kaiserfreundlichen Haltung sogar die Genannten als miseri Bononienses, die Italien dem Kaiser unterworfen hätten. Der Hofkleriker und Hofhistoriograph Rahewin führt, wie gerade betrachtet, mit großer Sorgfalt die Abfolge ritueller, herrscherbezogener Handlungen vor Augen: Die Gerichtssitzungen des Kaisers, die Vorberatung mit einem engsten Kreis überwiegend von Bischöfen, die große, die Gesetzgebung initiierende Rede des Kaisers und die huldigende Antwortrede des Mailänder Erzbischofs. Auffällig kurz und bündig wird dann von Rahewin die Feststellung und die Resignation der Regalien an den Kaiser behandelt: Bei der Besprechung dieser Frage hätten deren Inhaber nämlich keinerlei Entschuldigung zu ihrer Rechtfertigung vorbringen können – angesichts der andauernden Diskussion zwischen der Berufung auf Rechtsgewohnheit einerseits und hoheitlichem Rechtsanspruch des Kaisers andererseits eine mehr als unwahrscheinliche Darstellung. Die genaue Aufzählung der Reichsrechte wird nun von Rahewin als Rechtsspruch allein der Mailänder (iudicaverunt) anlässlich der Rückübertragung an den Kaiser dargestellt. Das umfassendere Verfahren der Feststellung dieser Rechte, der eigentliche Kern- und Streitpunkt der Tagung, der sich in den Gesetzen selbst so deutlich niederschlägt, bleibt unbeleuchtet. Die wichtige Beteiligung der Bologneser Doktoren wird von Rahewin der vorausgehenden Gerichtssitzung über private Streitigkeiten zugeordnet, für die Feststellung der Regalien und Hoheitsrechte aber nicht erwähnt. Ganz anders die Darstellung der Szene durch den Lombarden, den rechtserfahrenen und mit kommunalen Ämtern vertrauten Otto Morena. Er stellt bei dem Verfahren zur Ermittlung der Regalien den Auftrag des Kaisers an die vier Bologneser Rechtslehrer (legis doctores, magistri) an den Anfang. Die Gelehrten werden als Urteiler (ut ipsi iudicarent) aus dem Gerichtsumstand (astantes) vom Kaiser als Gerichtsherrn berufen. Doch sie verweigern sich (!) dieser Aufgabe (se nolle hoc facere), es sei denn zusammen mit dem Rat der anwesenden Richter (alii iudices) der lombardischen Städte. Sie halten sich also nicht für hinreichend legitimiert, allein über diesen heikelsten Punkt einen Rechtsspruch zu fällen. Der Kaiser beugt sich ihrer Forderung (!) und benennt 28 anwesende iudices, zwei aus jeder Stadt. Sie sollen sich zusammen mit den Bologneser Rechtsgelehrten (wieder im Gegensatz zu den iudices als magistri bezeichnet) zur Beratung zurückziehen, die Regalien sorgfältig ermitteln und das Ergebnis unter ihrem Treueid nach bestem Wissen als Rechtsspruch öffentlich kundtun (ut ipsi iudicarent, publice dicant). So geschieht es denn auch: Vor allen Fürsten verkünden sie das Ergebnis zur Verschriftlichung (in scriptis narraverunt). Sie legten ihren Spruch also nicht, wie die Übersetzung

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Colorni (Fn. 62).

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fälschlich suggeriert,72 schriftlich dar, sondern verkünden ihn mündlich zur Aufzeichnung durch einen Schreiber, so wie wir es schon Jahrhunderte früher bei der Illustration zum Prolog der Lex Salica dargestellt fanden. Erst nachdem dies geschehen war, erhoben sich nach dem Bericht des Lombarden die den Umstand bildenden (adstantes) Bischöfe, weltlichen Großen und die Konsuln der Städte und restituierten die festgestellten Rechte in öffentlicher Versammlung – publice in ipso colloquio – in die Hand des Kaisers. Danach beschworen sie einmütig, doch auch jeder für sich, diese Übertragung im Namen ihres Treueides.73 Wir haben also zwei Berichte, die sich in der Sichtweise und dem Interessenhintergrund des Autors deutlich unterscheiden und dies gerade in Bezug auf die Beteiligung der Öffentlichkeit der Versammlung auch deutlich ausdrücken. Der Kleriker und Chronist des Hofes, Rahewin, entwirft ein Bild der Abläufe, das fast idealtypisch dem einer repräsentativen Öffentlichkeit in dem oben entwickelten Sinne entspricht: Vor dem Herrscher und der Führungsschicht werden Rituale und Handlungen „aufgeführt“, die deren Rechtsstellung legitimieren. Die Versammlung erscheint in einer passiven, für die Legitimation notwendigen, aber das Ergebnis nicht bestimmenden Funktion. Der eigentliche inhaltliche Rechtsspruch wird von Rahewin nur als Vorspiel des Mailänder Resignations-Rituals erwähnt. Ganz anders der Chronist aus dem lombardischen kommunalen Milieu. Hier wird, mit großer Genauigkeit in der Rollenzuteilung, die Feststellung der Regalien als Rechtsfindung, als Schöpfen eines Weistums in einer dingförmigen Reichsversammlung geschildert. Der Kaiser agiert als Gerichtsherr, als Inhaber der Gerichtsgewalt, der aber in die inhaltliche Rechtsfindung (die ihn aufs Höchste berührt) nicht einbezogen ist. Er darf aus dem Umstand der Dingversammlung, den adstantes, die Urteiler auswählen und berufen; doch muss bei ihnen offenbar die spezifische Rechtskunde wie auch die Akzeptanz durch die Versammlung gegeben sein. In dieser Hinsicht sahen die Bologneser Rechtsgelehrten ihre Legitimation nicht als ausreichend an und verweigern sich deshalb ausdrücklich dem Ansinnen des Kaisers (se nolle hoc facere). Die auf ihren Vorschlag in repräsentativer Zahl vom Kaiser berufenen Richter der lombardischen Städte dagegen vertreten die Rechtspraxis und repräsentieren einerseits die kommunale Welt, verfügen andererseits über eine Ernennung durch den Kaiser. Der lombardische Chronist hat eine so scharfe Absage und das Einlenken des Kaisers sicher nicht als Nebensache erwähnt, der Hofchronist diesen Punkt nicht ohne Grund zugunsten einer gefälligeren Darstellung übergangen. Das Verhalten der Rechtslehrer und dessen Erfolg ist nur vor der Öffentlichkeit der adstantes und der Konsensbedürftigkeit des Verfahrens erklärbar, die dem Vorgehen des Kaisers Grenzen ziehen. 72 Die Übersetzung zur Edition (Otto Morena [Fn. 57], S. 91) überträgt „in scriptis narraverunt“ mit „… sie … legten … sämtliche Rechte … schriftlich dar“. Das verfälscht offensichtlich den Vorgang der Übertragung aus dem Medium der Mündlichkeit in das der Schriftlichkeit. 73 Otto Morena (Fn. 57), S. 90.

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Für die größere Realitätsnähe der Darstellung von Otto Morena in diesem Punkt sprechen nicht nur die große Genauigkeit der Schilderung der Abläufe und ihre Übereinstimmung mit einem dinggenossenschaftlichen Rechtsverfahren. Vielmehr zeugt auch das gesetzgeberische Ergebnis des Reichstags, wie wir es nun nach den Funden und der Rekonstruktion von Vittore Colorni erkennen können, für ein solches Zusammenwirken der Universitätsgelehrten mit den Rechtspraktikern: Während das Regalienweistum (lex Regalia) die von der kommunalen Realität geprägte Rechtsgewohnheit mit nur wenigen römisch-rechtlichen Einschüben wiedergibt, halten die drei Definitionen von Hoheitsrechten, lex Omnis, lex Palacia und lex Tributum römischrechtlich begründete kaiserliche Rechte fest. Gerade diese sollten aber den Friedensschluss von Konstanz 1183 nicht überdauern, und die kommunale Politik zwang auch die Rechtsschulen, von diesen Texten zunehmend Abstand zu nehmen und sie aus der Rechtstradition auszuscheiden.74 Die Texte selbst und ihre weitere Geschichte dokumentieren also das Spannungsverhältnis zwischen den Rechtsstandpunkten von Kaiser und Kommunen, wie es schon in der Auseinandersetzung um die Benennung der Urteiler vor der Öffentlichkeit des Reichstages deutlich geworden war. Das Bestreben, den Konsens der Anwesenden sowie abgesicherte rechtliche Verbindlichkeit durch ein formgerechtes Verfahren zu gewinnen, erscheint als das leitende Motiv. Die darauf gerichtete Abfolge von interner Beratung bis zum colloquium publicum, auf die Gerd Althoff hingewiesen hat, erweist sich in deutlicher Form. Im Reichstag von Roncaglia haben wir einen Höhepunkt der großen öffentlichen Versammlungen, die hier das deutsche kaiserliche Heer in seinen Gruppierungen auf der einen, die Vertreter des italischen Reiches und der Städte auf der anderen Seite als Vertreter der beiden Reiche zusammenführte. Wir sehen eine Fülle öffentlicher Akte im Verlaufe der großen Versammlung: Die Rhetorik der Rede des Kaisers und der Gegenrede des Erzbischofs, die öffentliche Gerichtssitzung, die umständliche Ermittlung der Hoheitsrechte und Regalien zwischen Herkommen und römischem Kaiserrecht, die Gesetzgebung zum Landfrieden und zum Lehnrecht als edictalis lex des Kaisers, das Lehnrecht erlassen mit dem Rat der Großen, schließlich, ebenfalls unter Beratung durch die Großen des Reiches, das Privileg der Authentica Habita für Scholaren und Professoren der Rechtsschule von Bologna. Hier zeichnen sich also schon die Linien in das Zweite Mittelalter ab: Die schärfere Normierung und gemeinsame Durchsetzung der Friedensordnung durch die Landfrieden mit Sanktionen des peinlichen Strafrechts, die schärfere hierarchische Ordnung der Lehnsverhältnisse; die am römischen Recht orientierte Stellung des Kaisers und aller Fürsten, denen damit nun das scharfe Instrument des crimen lesae maiestatis zur Verfügung steht; schließlich die Verwaltung des Schatzes der justinianischen Kodifikation durch die schriftgelehrten und scholastisch-methodisch geschulten Juristen. Diese Wandlung ist nur vor dem Hintergrund einer nun schriftlich vorliegenden Rechtsordnung und eines entsprechenden Rechtsbegriffs verständlich, die auch dem weiterwirkenden oral überlieferten Recht einen anderen Stellenwert zuweisen. 74

Im Einzelnen Colorni (Fn. 62).

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VII. Zum Vergleich: Die Reichsversammlung zur Königswahl zu Kamba 1024 und der sächsische Stammestag zu Hoetensleben 1073 1. Die Königswahl als Rechtsverfahren Dass der Ablauf der ronkalischen Reichsversammlung nichts Einmaliges darstellt, sondern bestehenden Gewohnheiten und Regeln folgt, soll der kurze Blick auf ein Ereignis, das über 100 Jahre früher stattfand, belegen. Es bietet sich deshalb an, weil wir über die Königswahl Konrads II. 1024 zu Kamba durch die Chronik des Wipo einen ebenfalls ausführlichen Bericht über den Hergang haben.75 Der andersartige Gegenstand, eine Königswahl bei fehlender direkter Erbfolge, hindert nicht einen Vergleich der Versammlungsformen und der Bedeutung von Öffentlichkeit. Die Parallelen von Wahl und Kur zu einem dingförmlichen Gerichtsverfahren sind in der Literatur sowohl von Bresslau wie von Reuling angemerkt worden. Die Ladung erfolgte hier, angesichts der Thronvakanz, durch den Erzbischof von Mainz. Auch hier werden von Wipo die wichtigen Teilnehmer nicht vollständig, vielmehr nur die bedeutendsten Bischöfe, namentlich genannt. Auch hier werden die Großgruppen, nämlich die Heeresgruppen der einzelnen Volksstämme, als konstituierende Teile der Versammlung mit ihren Lagern teils rechts, teils links des Rheines aufgezählt. Die Rheininseln dagegen dienen als Orte für die intimen Beratungen einzelner Großer miteinander. Keineswegs waren aber alle Fürsten und Stämme des Reiches erschienen. Die Vertreter des italienischen Reiches konnten, wie Wipo erwähnt, wegen der Entfernung nicht teilnehmen, erschienen aber später zur Huldigung. Auch wenn die tatsächlichen Vorgänge in der Historiographie teils umstritten sind, können wir der Erzählung des Wipo (der wohl anwesend war) folgen, gibt er uns doch jedenfalls ein Bild der normativen Vorstellungen über den Ablauf einer solchen Versammlung – also das, worauf es uns hier ankommt. Der Ablauf von Beratungen im engeren Kreis hin zur Öffentlichkeit der Versammlung lässt sich auch hier beobachten. Die Wahl spitzte sich auf zwei Vettern, den älteren und den jüngeren Konrad, zu. Die Entscheidung fiel dann in einem Zwiegespräch zwischen diesen beiden, welches an einem erhöhten Ort stattfand, wo sie gesehen, aber nicht belauscht werden konnten. Wipo legt hier dem älteren Konrad ebenfalls eine längere, mit gelehrten Zitaten 75

Wipo, Gesta Chuonradi imperatoris, in: Die Werke Wipos, hrsg. v. Harry Bresslau (MGH SS rer. Germ, 61), 3. Aufl., Hannover/Leipzig 1915, S. 1 – 62. Dort die Vorbereitungen in cap. I, die Wahl in cap. II, S. 8 – 13, 13 – 20. Die Ereignisse sind übersichtlich unter Hervorhebung auch der für uns wichtigen Punkte dargestellt in: Harry Bresslau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Konrad II., Bd. 1, Leipzig 1879, bes. S. 17 – 27. Aus der reichen neueren Literatur hierzu hier nur Ulrich Reuling, Die Kur in Deutschland und Frankreich, Göttingen 1979, S. 14 – 58; bes. für unseren Zusammenhang: Sarah Thieme, ,So möge alles Volk wissen‘. Funktionen öffentlicher Beratung im 10. und 11. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 46 (2012) S. 157 – 189, hierzu bes. 173 – 180, mit bemerkenswerten Beobachtungen zur Entscheidungsrelevanz von Öffentlichkeit.

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versehene Rede in den Mund. In Wahrheit handelte es sich bei dem Zwiegespräch wohl um politische Absprachen, auf Grund deren der Jüngere dann zurücktrat. Das Einverständnis zwischen beiden wurde, für die wartende Menge sichtbar, durch einen Kuss, den der Ältere dem Jüngeren gab, rituell dargetan. Danach konnte das Verfahren ohne eigentliche Wahl weitergehen. Der Erzbischof von Mainz vollzog nun die formelle Kur in den Formen eines öffentlichen Gerichtsverfahrens in Frage und Antwort. Dem Votum des Mainzers (sententia) folgten die geistlichen Fürsten, dann unter Vorangehen des jüngeren Konrad die weltlichen, nach Stämmen geordnet. Die anwesenden Völker akklamierten lautstark, die Quelle spricht von clamor populi. Einzelne dissentierende Fürsten mit den lothringischen Anhängern des jüngeren Konrad, wie der Erzbischof von Köln und Herzog Friedrich, verließen dagegen die Stätte. Später aber sollten die abgezogenen Dissentierenden sich der Wahl durch Huldigung doch noch anschließen. Der so Gekürte erhielt nun von der Kaiserinwitwe die von ihr verwahrten Reichsinsignien. Es folgten Krönung und Huldigung in Mainz sowie das Krönungsmahl. Auf dem Wege zur Krönung aber hielt Konrad inne, um einen Bauer, eine Witwe und einen Waisenknaben mit ihrer Beschwer anzuhören und ihnen ihr Recht zuzusprechen – es erinnert daran, wie Friedrich Barbarossa sich in Roncaglia als Wahrer des Rechts legitimierte. Der Gegenstand, einerseits Königswahl andererseits Rechtsetzung, sind in Kamba und Roncaglia also unterschiedlich. Viele der Akte, die zur rechtmäßigen Festlegung der Ergebnisse führen, stellen sich aber ganz parallel dar. Wichtig ist dabei die Öffentlichkeit der Versammlung, die das Reich jeweils repräsentiert, von der man sich aber durch Nichterscheinen oder Verlassen ausschließen und so dissentieren kann. Vor ihr hat sich dann die rechtsförmige Feststellung des Ergebnisses zu vollziehen und wird durch Konsenserteilung bestätigt. In Kamba wird der „Durchbruch“ durch die öffentliche Darstellung der Einigung der beiden Rivalen erzielt. Das ermöglicht die einheitliche Kur, unter Abzug der Dissentierenden. In Roncaglia bringt der gemeinsame Spruch der Rechtsgelehrten und der Richter aus den Stadtkommunen die Entscheidung in der Frage der Regalien, auf einer Mittellinie zwischen dem Anspruch des Herrschers und der eingetretenen Usurpation durch die Städte. Der Spruch wird sodann vollzogen durch die Resignation dieser Rechte durch die Italiener in die Hände des Kaisers und deren teilweise Rückbelehnung durch den Kaiser; vor allem aber erkennt dieser über ein solches Verfahren die neue und eigentlich revolutionäre kommunale Verfassung der Städte mit der Wahl der Konsuln und Podestà durch die Bürgerschaft an. Dass ein solches ausgewogenes Ergebnis unter dem Eindruck der Anwesenheit und der Notwendigkeit der Akzeptanz durch die große Öffentlichkeit des Reichstags aus Deutschen und Italienern zustande kam, ist deutlich. Ein entscheidender Schritt war die Beauftragung der Rechtsgelehrten durch den Kaiser einerseits, auf deren Verlangen die Heranziehung der Rechtskundigen aus den Städten andererseits. Dies wäre wohl bei Verhandlungen im kleinen Kreis oder in camera so nicht geschehen.

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In den beiden hier geschilderten Reichsversammlungen ist der Hintergrund eines dinggenossenschaftlichen Verfahrens in der Rollenverteilung und im Ablauf deutlich: Eine Versammlung waffenfähiger Männer, eine Heeresversammlung, geordnet nach Völkerschaften oder Stadtbürgerschaften unter ihren Großen oder Vorstehern, mit formeller Ladung nach Zeit und Ort. Der Ranghöchste, der König/Kaiser bzw. der Erzbischof von Mainz, hat die Leitungsbefugnis und Leitungsgewalt, aber nicht die Entscheidungsgewalt inne. Nach Verhandlungen der Großen, Meinungsbildung in der mehrfach tagenden und in den Zeltlagern präsenten Versammlung und öffentlicher, rhetorisch gefärbter Rede fällt die inhaltliche Entscheidung – in Kamba durch das öffentlich sichtbare Gespräch und die Absprache der Kandidaten, in Roncaglia durch die Beauftragung sowohl der Rechtsgelehrten wie der Rechtshonoratioren der Städte. Das auf diese Weise vorbereitete Ergebnis wird als Rechtsspruch vor der Versammlung verkündet; im Fall der Königswahl durch urteilsähnlichen Spruch der Königswähler, in Roncaglia durch den Rechtsspruch der Rechtsgelehrten und rechtskundigen Städtevertreter. Ebenso öffentlich erfolgt dann die rechtsförmliche Durchführung: In Roncaglia die Resignation der Regalien in die Hände des Kaisers, in Kamba die weiteren Schritte zum Erwerb der Herrschaft durch den Gekürten, vor allem die Krönung und Huldigung in Mainz. Die Rolle des Königs als Wahrer von Recht und Gerechtigkeit, gleichzeitig auch die Anerkennung des Rechts durch den König, wird in beiden Fällen symbolisch in öffentlichen Akten vollzogen. 2. Stammesversammlung, Rechtsverfahren und Widerstandsrecht in Hoetingen 1073 Zur Bestätigung unserer Beobachtungen soll der Blick noch auf eine Stammesversammlung des 11. Jahrhunderts geworfen werden. Wir können hier den Analysen von Sarah Thieme zum sächsischen Stammestag von Hoetensleben im Jahre 1073 folgen, stehen ihre eingehenden Analysen doch unter einer zu der unseren ähnlichen Fragestellung.76 Hier geht es um den sächsischen Aufstand gegen König Heinrich IV., einen Vorgang, den Bruno von Merseburg aus sächsischer Sicht als „Idealbild öffentlicher Beratung“ (Thieme) darstellt. Genau diese normativen Vorstellungen der Zeit, an die in den chronikalischen Darstellungen appelliert wird, interessieren uns hier mehr als eine etwaige Rekonstruktion faktischer Abläufe. Nach einer conjuratio einzelnen Großer wird die Sache in einer Versammlung von Adligen und freien Bauern verhandelt, die als Heeresversammlung (milites optimi) angesprochen wird. Auch hier beginnt es mit einer Rede des Ranghöchsten, Herzog Otto von Northeim. Es geht im Grunde um die Begründung eines Widerstandsrechts gegen den als tyrannisch dargestellten König, einen Kampf pro patria et libertate. Dies wird dann untermauert durch Klagen (queremoniae) einzelner angesehener Ad76 Thieme (Fn. 75), S. 181 – 186. Die Untersuchung von Karl Leyser, Von sächsischen Freiheiten zur Freiheit Sachsens, in: Johannes Fried (Hrsg.), Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert, Sigmaringen 1991, S. 67 – 84, handelt dagegen überwiegend über den Freiheitsbegriff.

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liger und freier Grundbesitzer, schließlich trugen viele aus der Versammlung vor, welches Unrecht (iniurias) sie erlitten hätten. Fritz Kern stützt seine Darstellung des Aufstandes unter dem Gesichtspunkt des Widerstandsrechts auf Lampert von Hersfeld, der ebenfalls die Verletzung von Eigentum und Freiheit (Behandlung von Freien wie Hörige!) hervorhebt, weshalb sie pro libertate, pro legibus, pro patria zu kämpfen gedenken.77 Auf diese Weise wird die Rechtsförmlichkeit der öffentlichen Anklagen vor der Versammlung, damit auch der durchaus an die Schilderung des Tacitus anschließbare dinggenossenschaftliche Ablauf des Verfahrens, deutlich hervorgehoben. Ebenfalls ins Auge fällt die Ähnlichkeit zu dem öffentlichen Inquisitions- und Rügeverfahren, das von Karl dem Großen und seinen Nachfolgern eingeführt worden war, um Unrecht nicht ungesühnt zu lassen. Hier werden ganz deutlich die auch in Hoetensleben gerügten Rechtsbrüche in Bezug auf Eigentum und Freiheit, auf res, patrimonium und libertates zum Gegenstand der Klage gemacht.78 Es geht also um mehr als nur Beratung, nämlich um ein auf Feststellung von Recht und Unrecht gerichtetes Verfahren, das sich in diesem Fall eben widerstandsrechtlich gegen den König richtet. Indem dieser als Unterdrücker des Rechts dargestellt wird, wird er zum unrechtmäßigen Herrscher erklärt, zum Tyrannen, dem gegenüber Treuund Gehorsamspflichten entfallen. Angesichts der Tatsache, dass hier in Sachsen noch eine Stammesverfassung auf der Grundlage von bäuerlicher Freiheit und Heerespflicht zugrunde liegt, scheint dieser Zusammenhang besonders beachtlich und bietet eine Brücke von archaischeren Verhältnissen zu den Beobachtungen des Reichstages von Roncaglia.

VIII. Öffentlichkeit in der Bürgerstadt Auf der anderen Seite, im Bereich des neuen Bürgertums der Städte mit ihrer über die Konsuln nun anerkannten kommunalen Verfassung, entsteht an der Wende vom Ersten zum Zweiten Mittelalter ein neuer und ganz anders strukturierter Raum von Öffentlichkeit: Die der Bürgerversammlung als konstituierendes und entscheidendes Gremium der Kommune. Indem die städtische Kommune sich als Schwurverband, als conjuratio, begründet, ist und bleibt die öffentliche gemeinsame, meist jährlich wiederholte Eidesleistung die Verfassungsgrundlage. Schon der Friedensschluss der Mailänder mit dem Kaiser von 1158 wird nach Rahewin in einer Bürgerversammlung nach einer Rede des Grafen von Biandrate beschlossen:79 Nachdem zunächst „der eine mit Wor77 Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter, Leipzig 1914 u. ö., S. 198 – 199. 78 Dazu Thomas S. Huck, Beobachtungen zur Einleitung des Strafverfahrens in fränkischer Zeit. Am Beispiel von handhafter Tat, Inquisition und Rügeverfahren, in: Jürgen Weitzel (Hrsg.), Hoheitliches Strafen in der Spätantike und im frühen Mittelalter, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 191 ff., hierzu bes. S. 197 – 198. mit Verweis auf entsprechende Quellenstellen (… „ut iustitiam faciant de rebus et libertatibus iniuste ablatis…; …aut ablatione patrimonii, aut expoliatione libertatis.“A. a. O., Anm. 14 u. 15). 79 Rahewin (Fn. 57), Buch III, c. 50, S. 494.

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ten, der andere mit Gebärden Zustimmung oder Widerspruch“ bekundet hatte, wurde schließlich Einmütigkeit erreicht, worauf die Konsuln die Verhandlungen mit dem Kaiser aufnehmen. Das Ziel der Einmütigkeit als Ergebnis der öffentlichen Versammlung wird hier sehr gut deutlich. Es handelt sich also nicht nur um Akklamation, sondern um Meinungsbildung und Entscheidung in einem gruppendynamischen Vorgang, nicht in einer numerischen Abstimmung. Auch aus den Akten des Lombardenbundes, der sich nun gegen Barbarossa bildet, lesen wir, wie die Verhandlungsergebnisse, die Konsuln und Gesandte auswärts ausgehandelt haben, in der Vollversammlung beraten und durch „sia,-sia“-Rufe angenommen, wie auch in der Bürgerversammlung beschworen wurden.80 In den deutschen Städten, deren kommunale Verfassung sich mit nur wenig Rückstand ausbildet, wird auf dem jährlichen Schwörtag der Bürger die gegenseitige Eidesleistung des neuen Rates und der Bürgerschaft geleistet, gleichzeitig die städtischen Satzungen und Statuten angenommen und beschworen.81 Wie die ursprüngliche Kommunegründung selbst, gingen auch widerstandrechtlich begründete „Aufläufe“ gegen den Rat von Versammlungen der Bürgerschaft aus. Hier ist eine neue Verfassungsform der kommunalen Stadt, die Otto von Gierke in ihrer Verbindung genossenschaftlicher und herrschaftlicher Elemente den ersten deutschen Staat genannt hat, entstanden. Dies war nicht denkbar ohne das Vorbild von Versammlung und Öffentlichkeit der dinggenossenschaftlichen Gemeinde, welche die Bürgergemeinde vorgeformt hat. IX. Zur Wirkungsgeschichte der „tribalen Öffentlichkeit“ Zum Schluss wollen wir noch einmal nach dem Charakter der beobachteten Formen von Öffentlichkeit fragen. Sie beruhen auf einer Kultur der Versammlung, die von kleinen örtlichen Gemeinschaften über Stammesversammlungen bis zu den Reichsversammlungen reichen. Diese sind in dieser Zeit mehr als bloße herrschaftlich bestimmte Hoftage, wie sie Peter Moraw für das Spätmittelalter von dem institutionalisierten Reichstag trennt. Diese Kultur der Versammlung, so ergab unsere Untersuchung, stammt nicht aus römischer Tradition; vielmehr finden wir sie in all jenen Reichsgründungen, die von den eindringenden Barbarenvölkern auf römischem Reichsboden gegründet wurden. Angesichts der oben angesprochenen Vorgeschichte der deutschen Diskussion kann hier ein europäischer Ausgriff den Blick erweitern. Der englische Mediävist Chris Wickham bestätigt nachdrücklich in Bezug auf die Tradition von placita, mallus und insgesamt judicial assemblies „the traditional view that they are the clearest

80 Gerhard Dilcher, Lega lombarda und Rheinischer Städtebund, in: Europa e Italia. Studi in onore di Giorgio Chittolini, Firenze 2011, S. 155 ff., bes. hierzu 166 – 171. Die Urkunden sind gesammelt in: Cesare Vignati, Storia diplomatica della Lega lombarda, Milano 1867. 81 Karl Siegfried Bader/Gerhard Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte, Berlin u. a. 1999, Sachregister s. v. Schwörtag, Auflauf.

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example of the very few Germanic influences on post- Roman political practice“.82 Also doch germanische Kontinuität, allerdings nicht wie bei Walter Schlesinger des Elementes Herrschaft,83 sondern der Konsensbedürftigkeit durch die Versammlung? Chris Wickham sieht darin das allgemeine Prinzip, die Akte der Herrschenden durch Zustimmung des Volkes zu legitimieren. Die öffentliche Versammlung wiederum beruhe auf dem Recht und der Pflicht aller Freien zum Heeresdienst und zur Anwesenheit im Gericht, dem placitum der Quellen. Erst dadurch entstehe Legitimation, die also der Öffentlichkeit, des „public space“ bedurft habe. Wickham sieht dies als durchgehende Struktur nicht nur in den Nachfolgestaaten des Frankenreichs einschließlich Italiens, sondern auch des angelsächsischen Englands. Indem er auf die Verbreitung der Bezeichnung placitum, altenglisch gemot, germanisch thing für dasselbe Phänomen hinweist, kann er diese Gemeinsamkeit auch auf den skandinavischen Norden bis zum isländischen Allthing erstrecken. Karol Modzeleweski hat darüber hinaus in seinem Barbaren-Buch kürzlich darauf hingewiesen, wie ganz ähnliche Versammlungsstrukturen die Grundlage der Verfassungen der germanischen, der slawischen wie der baltischen Völkerschaften bildeten.84 Wir können also unter Bezugnahme auf diese Forschungen schließen, dass diese Versammlungskultur und die mit ihr verbundene Öffentlichkeit eine notwendige Struktur der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung von Völkerschaften mit tribaler Verfassung sind. Dies hat, unter Heranziehung von ethnosoziologischen Erkenntnissen, bis heute am gründlichsten und klarsten der Historiker Reinhard Wenskus in seinem Werk „Stammesbildung und Verfassung“ beschrieben.85 Gemeinsame Beratung und Entscheidung, auch angesichts der Machtstrukturen in diesen Gesellschaften, war wohl unabdingbar und unentbehrlich unter den Voraussetzungen oraler Kommunikation wie auch eines fehlenden Durchsetzungsstabes. Nicht zum wenigsten berichten uns ja bereits Tacitus wie Caesar von diesen Versammlungen als der verfassungsmäßigen Grundstruktur der germanischen Stämme und Völkerschaften. Angesichts dieser unübersehbaren Verbindung der stammesrechtlichen Frühformen mit den mittelalterlichen Versammlungsstrukturen, vom örtlichen Ding, der Landsgemeinde bis zum Reichstag, ist es wohl berechtigt, von einer Form einer „tribalen Öffentlichkeit“ zu sprechen und damit die Verbindung zu einem internationalen ethnosoziologischen und anthropologischen Diskurs zu schlagen. Sie würde dann typologisch neben die zuvor erwähnten Formen einer, der Moderne zuzuordnenden räsonierenden bürgerlichen Öffentlichkeit und einer dieser vorangehenden ständisch-repräsentativen Öffentlichkeit treten. 82

Chris Wickham, Public Court Practice: The Eighth and Twelfth Centuries Compared, in: Stefan Esders (Hrsg.), Rechtsverständnis und Konfliktbewältigung. Gerichtliche und außergerichtliche Strategien im Mittelalter, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 17 – 30, das Zitat 19. 83 So in der quellenreichen Studie von Walter Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte, in: ders., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, Bd. 1, Göttingen 1963, S. 9 – 52. 84 Modzelewski (Fn. 6). 85 Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. 2. Aufl., Köln/Wien 1977. Sein Ansatz wird in vieler Hinsicht von Modzelewski (Fn. 6) weitergeführt.

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Diese Form tribaler Versammlungs-Öffentlichkeit lässt sich gleichzeitig als Ausdruck genossenschaftlicher Formen verstehen und unter diesem Aspekt von der Frühzeit bis ins spätere Mittelalter verfolgen. Nicht zufällig zeigten sich in den großen, von uns betrachteten „politischen“ Versammlungen (sächsische Widerstandsbewegung in Hoetensleben, Königswahl in Kamba, Rechtsweistum und Gesetzgebung in Roncaglia) die Strukturen des älteren dinggenossenschaftlichen Verfahrens: Verfahrensleitung durch einen Inhaber von Herrschaftsautorität, Finden eines Spruches durch Urteiler aus der Versammlung, einmütige Billigung durch die Versammlung. Widerspruch kann sich während der Beratung, danach aber nur noch durch Abspaltung von der Willensgemeinschaft äußern. Es gilt also das Einstimmigkeitsprinzip. Dies entspricht der Form der „älteren“ Genossenschaft, die unmittelbar aus der Vielheit ihrer Mitglieder besteht und keine danebenbestehende Form einer Körperschaft gefunden hat; erst innerhalb einer solchen können dann Mehrheitsentscheidungen stattfinden.86 Angesichts eines solchen ganzheitlichen Verbandes, der als solcher sein Handeln bestimmt, ist eine Unterscheidung in öffentlich und privat nicht vollziehbar. Das Handeln des Verbandes geschieht in der Versammlung, öffentlich, von allen Genossen, ursprünglich allen waffenfähigen freien Männern, mitgestaltet. Danach kehrt jeder in den Kreis kleinerer und alltäglicherer Genossenschaften, die aber auch nicht „privat“ sind, zurück: Nachbarschaft, Haus und Verwandtschaft, Gefolgschaft oder Lehnsverband, Dorf oder Stadt. Die Feststellung von Otto Gierke, dass die römisch rechtliche Trennung von ius publicum und ius privatum die herrschaftlich-genossenschaftlich bindende Ordnung des Ersten Mittelalters nicht erfasst, sondern erst selbst entsprechende Bildungen schaffen müsse, um greifen zu können, bewährt sich auch hier. Öffentlichkeit als Form von Kommunikation unter Anwesenden ist Voraussetzung von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung in Kulturen ohne durchgehende Schriftlichkeit und darauf gegründete Verwaltungsstäbe. Chris Wickham fragt hier weiter nach den Wandlungen und dem Weiterwirken dieser Öffentlichkeitsstrukturen seit dem 11. Jahrhundert, also dem, was die revolution féodale in Frankreich bedeutete, für Italien die neue kommunale Herrschaftsstruktur. Hier sieht er ein Weiterwirken und eine Kontinuität in der Wandlung des placitum zum parlamentum – das ja auch, können wir hinzufügen, den Bezug zur Oralität im Namen trägt. Ähnliche Gedanken verfolgt die neueste Studie von Levi Roach für das angelsächsische England; er stellt dies unter die unser Thema zentral berührenden Begriffe Kingship and Consent, Assemblies and the State in the Early Middleages.87 Roach votiert dafür, die von der klassischen liberalen „Whig Interpretation“ und noch von Felix Liebermann verfolgte, danach aber durch kontinuitätskritische Ansätze zum Erliegen 86 Gut hervorgehoben von Bernd Schildt, Art. „Genossenschaft“, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (Fn. 7), Bd. 2, 2. Aufl., Berlin 2012, Sp. 103 – 110, bes. unter II. 1. und 2. Zu Gierkes Theorie der Wandlung von mehr personaler zu mehr körperschaftlicher Organisation vgl. Dilcher, Staatsbegriff und Korporationsbildung (Fn. 15). 87 Levi Roach, Kingship and Consent in Anglo-Saxon England, 871 – 978. Assemblies and the State in the Early Middle Ages, Cambridge 2013. Ich danke Daniela Fruscione für den wichtigen Hinweis.

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gekommene verfassungsgeschichtliche Fragestellung wieder aufzunehmen, inwieweit die Versammlungskultur der angelsächsischen Zeit eine Fortsetzung in der Geschichte des englischen Parlamentarismus in anglo-normannischer Zeit gefunden habe. Die Gedanken von Wickham und Roach bringen eine beachtliche geographische und thematische Erweiterung unseres Problems, auf die hier hingewiesen, der aber nicht mehr nachgegangen werden kann. Unsere Frage nach der Öffentlichkeit führt uns also in eine aktuelle verfassungsgeschichtliche Debatte, eine Art Paradigmenwechsel in Bezug auf die Wirkung von Strukturen oraler Gesellschaften auf die politische Geschichte des Okzidents. Die spezifische westliche Verfassungsgeschichte der Moderne gewinnt damit Hintergründe aus der Formung des nach-antiken Europas durch die Integration barbarischer Stammesgesellschaften im Ersten Mittelalter, die ihrerseits lebendige und weiterwirkende Strukturen in die neuen Herrschafts- und Reichsbildungen einbringen.

Abb. 1: Die Agilulf-Platte: Ein Barbarenkönig in spätantiker Bildkomposition. Abb. nach Jean Hubert/Jean Porcher/W. Fritz Volbach (Hrsg.), Frühzeit des Mittelalters. Verlag C. H. Beck, München 1968, Abb. 271

Erläuterung zu Abb. 1 Die wohl als Krönung eines Helmes gedachte Platte zeigt laut Inschrift den Langobardenkönig Agilulf (590 – 610 n. Chr.). Der Herrscher wird dargestellt im Rahmen einer spätantiken Vorbildern nachempfundenen Konfiguration, jedoch in langobardischer Haartracht und Kleidung, thronend mit Redegestus und Schwert, inmitten zweier hochbewaffneter Krieger, umgeben von siegverheißenden Genien und huldigenden und Kronen darbringenden Gestalten, ebenfalls in langobardischer Tracht. Die Darstellung lässt sich deuten als Legitimation seines zunächst allein durch die Königswitwe vermittelten Herrschaftsantritts. Die Mittelszene, der Herrscher umgeben von zwei mit Speeren bewaffneten langobardischen Kriegern, lässt sich deuten

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als die Zustimmung der Heeresversammlung mit dem Ritual des gairethinx (dazu Dilcher, in: Dilcher/Distler (Fn. 27), S. 449 – 458, mit weiterer Lit.).

Abb. 2: Die Aufzeichnung der Lex Salica. Modena, Biblioteca Capitolare, Cod. O. I.2, Fol. 11v. Lit. Hubert Mordek, Frühmittelalterliche Gesetzgeber und iustitia in Miniaturen weltlicher Rechtshandschriften, in: La giustitia nell’Alto Medioevo (Settimane di Studio del Centro Italiano di Studi sull’ Alto Medioevo XLII) Spoleto 1995, t. 2, S. 997 ff., bes. S. 1036 – 1040.

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Erläuterung zu Abb. 2 Nach dem Liber legum des Abtes Lupus von Ferrières (ca. 805 – ca. 862) für den Markgrafen Eberhard von Friaul. Die Darstellung illustriert den § 2 des Prologes zur Lex Salica, nach welchem vier ausgewählte Rechtskundige auf drei Thingversammlungen (per tres mallos convenientes) „… omnes causarum origines sollicite discuciendo tractantis de singulis iudicium decreverunt hoc modo“. Die Abbildung stellt die mündliche Beratung, markiert durch Redegestus, der auf einer Bank mit Gerichtsstäben und Schwert sitzenden rechtskundigen Thingvorsitzenden anschaulich als den dominierenden Vorgang dar, während der Kleriker aufmerksam zuhörend um die Niederschrift des von den Vieren Gesagten (dictaverunt) bemüht ist. Die Kirche übt hier mit ihrer Schriftkunde gegenüber der oralen Feststellung der Rechtsgewohnheit eine dienende Funktion aus. Eine ähnliche Darstellung in der Handschrift betrifft die Lex Ribuaria, während für andere Leges entsprechend den Prologen oft Herrscher als Gesetzgeber dargestellt sind.

Aussprache Gesprächsleitung: Thier Thier: Vielen Dank, Herr Dilcher, für einen eindrucksvollen und für mich jedenfalls enorm inspirierenden Vortrag. Das eine und das andere, einzelne Hintergründe, kannte ich, kannten viele von uns, aber in dieser Verbindung war es doch sehr neu. Vor allem aber für den Horizont unserer Tagung haben Sie sehr wichtige Funktionsformen von Öffentlichkeit und auch sehr wichtige und spannende Kontinuitätslinien von Mündlichkeit herausgearbeitet, wenn Sie mir dieses Urteil gestatten wollen. Ich bin sehr gespannt auf die Diskussion, die ich damit eröffnen möchte. Brauneder: Vielleicht nur eine kleine Nebenbemerkung: Gibt es nicht einen schönen bildhaften Übergang von der Oralität zur Schriftlichkeit in den Bildern der Handschriften des Sachsenspiegels? Da habe ich ja in den Bildern das offenkundig oral Durchgeführte, durch Sprache Ausgedrückte und natürlich den Text. Dilcher: Dem kann ich nur zustimmen. Da werden Handlungen gezeigt, Rituale auch, um offenbar, das haben die Forschungen von Frau Schmidt-Wiegand in letzter Zeit gezeigt, einem Laienpublikum den schriftlichen Text verständlicher zu machen. Das ist in der Tat ein sehr schönes Beispiel und zeigt auch, wie noch später, das liegt ja hundert Jahre nach Abfassen des Sachsenspiegels zurück, dieses Bedürfnis der Vermittlung von Schriftlichkeit in einer oralen Welt unverändert vorhanden war. Schönberger: Herr Dilcher, das ist ja eine große Erzählung, die sehr beeindruckt. Bei mir hat sie allerdings folgende Frage aufgeworfen: Wenn man sagt, wir haben im Grunde eine germanische Versammlungstradition, die sich in immer neuen Formen transformiert hat bis zum modernen Parlamentarismus, dann ist die Frage: Wann treten die Transformationen auf, und reden wir dann wirklich immer noch über dasselbe, unabhängig davon, was sich transformiert hat? Mir ist diese Frage am stärksten problematisch geworden bei Ihrer These, dass wir letztlich von diesen Thing-Versammlungen zum modernen Parlamentarismus unterwegs sind. Die Frage, die sich aus der Parlamentarismus-Historie aufdrängt, ist die folgende: Wer sind die omnes, die dort vertreten sein sollen? In dem Augenblick, in dem wir es mit Wahlvorgängen zu tun haben, in dem Augenblick, in dem also diejenigen, die dort sind, nicht kraft Geburt oder kraft Amtes dort sind, sondern irgendjemanden vertreten, der nicht da ist: Können wir das wirklich noch mit dieser Thing-Tradition beschreiben, oder taucht etwas anderes auf? Mich würde Ihre Perspektive darauf interessieren. Würden Sie sagen, das ist immer noch die Fortsetzung dieser Versammlungstradition? Aber müsste man nicht stärker fragen: Wer versammelt sich denn da? Und gibt es

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nicht erhebliche Unterschiede bei dem Personal, das sich da versammelt, und der Funktion, die es bei seiner Anwesenheit dort erfüllt? Das wird durch ihre große Erzählung – man versammelt sich und dadurch wird Legitimität hergestellt – vielleicht doch etwas zu sehr überdeckt. Dilcher: Meine Erzählung geht ja nur bis ins 12. Jahrhundert. Für die weitergehenden Kontinuitätsthesen habe ich bewusst Engländer zitiert. Mit denen müssen Sie sich dann auseinandersetzen. Aber man sieht, wie parallel in allen Reichen, die auf diesen Völkerwanderungsgründungen beruhen, ein Versammlungswesen besteht, sowohl in der kleinen Gemeinde, wo es ja mit Dorfgerichten unter der Linde sich bis ins 19. Jahrhundert zum Teil hält, bis hin zu Reichsversammlungen, die später zum Hoftag und Reichstag werden. Dann wäre interessant ein Vergleich mit Byzanz, das dieselbe römische und kirchliche Tradition wie der Westen hat, aber nicht diese eindringenden Barbarenvölker mit ihrer Versammlungstradition. Soviel ich weiß, ist es hier ganz anders, und so auch im Vergleich mit anderen Kulturen. Soviel ich weiß, gibt es im arabisch-muslimischen Raum auch eine Beratungskultur. Wenn man das als ein ethnologisches Element sieht, erscheint das auch selbstverständlich. In der europäischen Geschichte kommen dann aber völlig andere verwandelnde Kräfte hinzu, vor allem im 18. Jahrhundert, die zu einem repräsentativen Parlamentarismus führen. Ich befürworte nicht eine Kontinuitätsthese in diesem eingleisigen Sinne, aber doch die Anfrage, ob Rechtsgewohnheiten der Konsensbedürftigkeit nicht maßgeblich sind für die europäische Geschichte des Parlamentarismus. In der ursprünglichen Versammlung sind alle Freien, also alle politisch Berechtigten teilnahmeberechtigt. Das gilt sowohl in den Reichsversammlungen als auch in den Thing-Versammlungen. Für diesen Zusammenhang aber müsste man am Begriff der Repräsentation entlang forschen. Thier: Der Punkt scheint mir zu sein: Konsens plus Öffentlichkeit in Versammlungen. Das ist wohl das Entscheidende. Ruppert: Der Gedanke ist mir gerade durch die Frage gekommen: Man muss es schon kritisch sehen. Man kann die Unterschiede, die Zusammenhänge, den Kontext nicht unterschlagen. Sonst zieht man Kontinuitätslinien, die vielleicht nicht stimmen. Aber ich finde, dass eine gewisse europäische Tradition, die durchaus bis in die Völkerwanderungszeit zurückreicht, man schon klar akzentuieren kann, wenn man den Typus der orientalischen Despotie, den Herr Wittfogel herausgearbeitet hat, als Gegenbeispiel nimmt. Dann kann man schon sehen, welche Bedeutung das hatte, dass die politischen Entscheidungen in Europa immer durch Versammlungen und öffentlich gefallen sind. Das finde ich einen ganz wichtigen Gesichtspunkt, der das Wesen der europäischen Politik ausmacht. Hillgruber: Vielleicht kann ich direkt anknüpfen. Zusammengefasst geht es im Versammlungswesen des ersten Mittelalters um Öffentlichkeit, aber auch um Konsensstiftung: Rechtsbegründung durch Konsens. Da wollte ich gerne nachfragen. Hat dieses Versammlungswesen eher rituellen Charakter? Ist das eine Form, in der Herrschaft ausgeübt wird, oder würden Sie eher sagen, dass diese Versammlungen tat-

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sächlich die Funktion hatten, erst die Legitimation für die Herrschaftsausübung zu vermitteln. Sie haben es ja überschrieben mit „herrschen“. Meine Frage: Wer herrscht eigentlich hier? Herrscht auch diese Versammlung als Repräsentant der Großen oder von wem auch immer? Wo würden Sie die Akzente sehen? Stärker im öffentlichen Zelebrieren von Herrschaftsausübung oder in der echten Teilhabe an dieser Herrschaftsausübung? Dilcher: Das ist schwierig und wird auch von Fall zu Fall und von Herrscher zu Herrscher und von Versammlung zu Versammlung verschieden sein, weil das in einer situativen Position geschieht. Mir ging es darum nachzuweisen, dass es sich nicht nur um ein Zustimmungsritual wie z. B. in einer Diktatur handelt, sondern etwa die Langobarden hätten sicher ein stark romanisiertes Edikt Rotharis nicht mit dem gairethinx in der Heeresversammlung im Jahre 643 angenommen. Bei Barbarossa auf dem Reichstag von Roncalia 1158 hätten die Doktoren, mit denen er vorher bei Bologna privat konferiert hatte, ihm sicher aufgrund Ihrer Texte viel mehr Kaiserrechte zugebilligt, aber sie wussten, in der Versammlung geht das hier nicht durch, wir verlieren auch unser Ansehen, wenn wir so etwas sagen. Wir brauchen dazu die Vertreter der Städte und damit die Bezugnahme auf die Formen der Gewohnheit. Das Erfordernis der Zustimmung der Versammlung hat also meiner Ansicht nach eine Wirkung, weil der Herrscher gerade in der Versammlung nicht alleine herrscht. Es handelt sich um eine kommunikative Situation inmitten einer Vielzahl von Menschen. Arlinghaus: Vielen Dank, Herr Dilcher, für diesen anregenden Vortrag. Vor allem diese dritte Öffentlichkeit, die Sie aufgemacht haben, diese tribale Öffentlichkeit, das fand ich äußerst anregend. Kern meines Anliegens ist folgende Frage: Ich würde doch gerne bei dieser tribalen Öffentlichkeit auf Unterschiede zur modernen Öffentlichkeit hinweisen wollen, die meines Erachtens doch sehr deutlich sind, und den Finger in die Wunde legen, wie das vorhin schon getan wurde. Wo ist eigentlich der Umschwung? Ist dieser Umschwung nicht so radikal, dass man – selbst wenn man vorsichtig formuliert – kaum noch Kontinuität erkennen kann? Denn das entscheidende Moment bei den Versammlungen ist doch, dass diese Versammlungen an der Entscheidung teilhaben, wenn ich das richtig verstanden habe. Wir hörten das im Vortrag von Herrn Althoff, der angedeutet hat, dass im Grunde diejenigen, die bei den Ritualen zuschauen, meistens in zweiter Reihe stehen und meistens Anhänger von den Leuten sind, die sich da gerade prügeln – ritualisiert oder wie auch immer. Und bei Ihnen ist es bei den Versammlungen ja ähnlich. Vielleicht darf ich aus Ihren Werken zitieren, wenn ich mich richtig erinnere: Diese Gerichtsöffentlichkeiten scheinen zudem auch noch hierarchisch gegliedert zu sein. Wir haben den Richter, der die Versammlung leitet, wir haben die Schöffen, wir haben einen Umstand, der zustimmt, aber doch eher in Form von Fußscharren oder was auch immer, sodass wir einerseits den Punkt haben, alle entscheiden mit, aber eben in hierarchisierter Form. Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich das falsch verstanden habe. Das haben wir doch im modernen Gericht, im modernen Parlament so nicht vorliegen. Da ist die räsonierende Öffentlichkeit dem Gericht eindeutig gegenübergestellt. Wir haben Zeitungen, die das Vorgehen beobachten und kontrollieren; wir haben Publi-

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kum im Saal sitzen, das aus einer Beobachterperspektive kontrollieren soll, aber explizit nicht mitzuwirken hat. Und beim Parlament ist es genauso. Die Abgeordneten entscheiden, aber die oben im Zuschauerraum sitzen, bestimmen eben gerade nicht mehr. Meines Erachtens ist das ein sehr wesentlicher Unterschied. Ein zweiter Unterschied ist diese hierarchische Mitarbeit am Entscheidungsfindungsprozess. Das ist in der Wirtschaft nicht anders zu denken, dass es Büros gibt, die ein Sagen haben, und da gibt es andere Büros, die nicken dürfen. Auch diese Hierarchisierung. Entweder sind Sie parlamentarischer Abgeordneter oder Schöffe beim Gericht, oder Sie sind es nicht, und dann sind Sie außen vor und räsonieren. Ich würde schon meinen, aber das wäre eben die Frage, dass der Unterschied so groß ist, dass ich Schwierigkeiten hätte, auch über den Konsensbegriff eine Kontinuität zu finden. Denn den Konsensbegriff haben wir weder im heutigen Gerichtswesen noch im Parlament. Es gibt keinen Konsens mit der räsonierenden Öffentlichkeit, im Gegenteil, und auch nicht im Parlament. Was das Parlament oder Gericht entscheidet, ist ja in der publizierenden Öffentlichkeit wie auch beim Stammtisch höchst umstritten. Dilcher: Ich bitte alle hier Versammelten, mich nicht als Vertreter einer extremen Kontinuitätstheorie zwischen tribaler Öffentlichkeit und modernem Parlamentarismus zu zitieren. Mein Hauptanliegen war, dass am Anfang dieser Geschichte hier etwas steht, nämlich die tribale Versammlungskultur, und dass dies nicht dem entspricht, was Habermas mit Otto Brunner und Carl Schmitt als repräsentative Öffentlichkeit einer ständischen Gesellschaft bezeichnet, und was dann durch die moderne Öffentlichkeit abgelöst wurde. Dies sind nicht die einzigen historischen Formen der Öffentlichkeit, die wir aus unserer europäischen Geschichte kennen. Soviel dazu. Über alles andere muss man weiter diskutieren. Thier: Ich fürchte, ein wenig bin ich daran schuld gewesen, weil ich in meiner Überleitung und in der Anmoderation von Kontinuitätslinien sprach, und ich fürchte, damit habe ich ohne es zu wollen ein gewisses Label gesetzt, für das Sie jetzt in die Haftung genommen worden sind. Verzeihen Sie bitte. Dilcher: Die Frage ist glaube ich, ob zwischen dem geschilderten Versammlungskonsens und einer späteren ständischen Konsensbildung mit dem Herrscher Verbindungen vorhanden sind. In der Französischen Revolution muss dann der Herrscher plötzlich diese Stände wieder einberufen. Dieser Rückgriff auf die ständische Versammlung zeigt, dass eben der moderne Parlamentarismus nicht einfach aus einer ideologisch begründeten Gegenbewegung gegen den Absolutismus hervorgegangen ist, sondern auch auf älteren Traditionen der Mitwirkung und Zustimmung beruht. Althoff: Auch von mir ganz herzlichen Dank, weil Sie Themen angesprochen haben, mit denen ich bisher nicht richtig klar gekommen bin. Aus Zeitgründen vielleicht nur die eine Frage: Gibt es nach Ihren Kenntnissen im Zusammenhang von Herrschen, Versammeln und Öffentlichkeit Anhaltspunkte dafür, dass der Herrscher diese Verfahren bestimmen kann, dass er die Fäden in der Hand hat, was Öffentlichkeit angeht, oder dass er sich doch regionalen Gewohnheiten anpassen muss. Anders

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ausgedrückt: Sorgt er oder andere für Öffentlichkeit; bestimmt er oder andere die Tagesordnungspunkte, die thematisiert werden. Dilcher: Sein Vorgehen hängt sicher von den lokalen Bedingungen, Vorstellungen und Traditionen ab. Beim Reichstag von Roncaglia handelt es sich um ein colloquium maximum, das deutsche und italienische Teilnehmer umfasst. Sie verstehen sich als Teilnehmer einer Versammlung des deutsch-italienischen Reiches, sie identifizieren sich mit dieser Art von Versammlungskultur und besitzen auf dieser Grundlage die Legitimation zur Mitwirkung, und sei es durch Konsenserteilung. Thier: Natürlich stellt sich die Frage, wenn ich das in Bündelung der vielen Fragen und Anregungen sagen darf: Ab wann treten Fragen des Prozedere, des Verfahrensrechts in den Vordergrund und wie gestaltet sich so etwas. Und so habe ich auch Ihre Frage, Herr Arlinghaus, verstanden. Brand: Warum in die Ferne schweifen, denn das Gute liegt so nah. Wenn wir auf das Schweizer Ufer schauen, haben wir z. B. in Appenzell, in Außerrhoden bis 1997 und noch heute in Innerrhoden, diese Tradition, die angesprochen wurde. Montesquieu hat gesagt, die Freiheit kommt aus den Wäldern Germaniens. Darüber wird immer gelacht, aber dort sind natürlich die Wurzeln. Und die dritte Bemerkung ist die: Konsens verleiht immer Legimitation. Deshalb hält man sehr lange daran fest, dass konsensual entschieden wird. Das hat man vor allem in modernen Bewegungen, z. B. bei den Grünen gesehen. Kaum waren sie gegründet, wurde immer darauf hingewiesen: „Wir haben alles im Konsens entschieden.“ Und wir sehen dasselbe auch in der Europäischen Union. Konsensentscheidungen verleihen Legitimation. Tacitus hat ja genau beschrieben, dass der Konsens sehr oft fingiert war. Da wurde abgestimmt, und zwar in der Weise, dass mit den Schwertern oder mit den Spießen – so wie Sie es geschildert haben – gegen die Schilde geklopft wurde. Und dann kommt der entscheidende Satz bei Tacitus: Dies geschieht in der Weise, dass das Geräusch der Mehrheit diejenigen, die dagegen sind, überstimmt. Und diese Tradition des fingierten Konsenses finden wir in den Handwerksgenossenschaften oder sonstigen Kooperationen bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts. Es gibt darüber Quellen, wie abgestimmt wurde, z. B. bei den Solinger Messerschmieden oder bei den Remscheider Kleingewerbetreibenden, und das hatte auf das Korporationsrecht ziemliche Auswirkungen. Verwundert äußerte sich der vorsitzende Rat aus Düsseldorf: „Das ist doch recht komisch. Wenn jemand am lautesten schreit, wird seine Meinung als Konsens festgeschrieben.“ Aber die Linie, dass einer Entscheidung die Legitimation verliehen werden soll, haben wir allerdings auch im Mehrheitsprinzip. Es kommt dann erst durch den Papst zur Geltung, wodurch es ganz offiziell anerkannt wird. Aber in den Etagenstrukturen, zu denen ich die Kooperation mal rechnen will, haben wir das fingierte Konsensprinzip sehr lange erhalten. Dilcher: Dass bei diesem Vorgang Rangverhältnisse, soziale Verhältnisse, auch gruppendynamische Verhältnisse eine Rolle spielen, ist ganz klar. Das unterscheidet sie von einem mathematisch hergestellten Mehrheitswillen. Für gewisse Situationen, z. B. die Königswahl, bleibt die Möglichkeit, sich zu entfernen, abzuziehen, wenn

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man sich dem Konsens nicht unterwerfen will. Das ist eine Alternative, die in der Regel dem als Gottesurteil verstandenen Kampf die Entscheidung zuschiebt. Manca: Herr Dilcher, vielen Dank für Ihren höchst interessanten Vortrag. Sie haben, so wie es mir scheint, mit einem ganz spezifischen, historisch-bestimmten Begriff von Öffentlichkeit bzw. öffentlicher Sphäre gearbeitet, auf dessen Gebrauchsbedingungen ich gerne zurückkehren würde. Wenn ich es richtig verstanden habe, führten Sie ganz am Anfang aus, dass von der öffentlichen Dimension einer politischen Szene so wie jener von Ihnen uns hier plastisch dargestellten, nur dann die Rede sein kann, wenn rund um den Herrscher nicht ausschliesslich Verwandte oder Gefolgsleute von ihm in Erscheinung treten. Um von einer öffentlichen Dimension sprechen zu dürfen, muss es also einen bestimmten Abstand zwischen dem Attraktionspunkt der politischen Szene (in Ihrem Fall dem Herrscher) und den ihn umgebenden Leuten geben, die das Publikum ausmachen. Im Laufe Ihres Vortrages haben Sie sich ausserdem bemüht, hinzuzufügen, dass bei der Handhabung vom Öffentlichkeitsbegriff in Ihrem mittelalterlichen Zusammenhang unterschiedliche Gebrauchsbedingungen zu beachten sind, als es in der modernen Geschichte gemeinhin üblich ist. Sie kamen so auf eine öffentliche Dimension zu sprechen, welche aber von jeder Öffentlichkeit abgekoppelt werden kann; als ob das Bestehen der Ersten von dem der Zweiten trennbar sei. Meine Frage zu diesem Punkt wäre nun, ob man überhaupt von der Möglichkeit des Bestehens einer öffentlichen Dimension ohne Publizität ausgehen darf, ohne zugleich aus der öffentlichen Szene selbst das Publikum wegzustreichen, dessen Gegenwart erst erlaubt, von einer öffentlichen Dimension des Inszenierten zu reden. Für das 19. Jahrhundert z. B. wäre eine solche begrifflich-heuristische Trennung zwischen öffentlicher Dimension eines Ereignisses und Öffentlichkeit/Publikum meines Erachtens unanwendbar. Wie es von Habermas gezeigt worden ist, setzt die Anwendung des Terminus Öffentlichkeit nicht nur die öffentliche Dimension eines Ereignisses, sondern auch die damit untrennbar verbundene, wenn auch nur stillschweigende Gegenwart eines politischen Adressaten. Es wäre nämlich für das 19. Jahrhundert unmöglich, von einer Öffentlichkeit zu sprechen, ohne damit auf die Gegenwart einer mehr oder weniger entwickelten und selbstbewussten öffentlichen Meinung Bezug zu nehmen. Natürlich sieht diese öffentliche Meinung ganz anders aus, als die Leute, die in Ihrer Darstellung den Herrscher umgeben. Das Publikum bzw. die öffentliche Meinung des 19. Jahrhunderts ist prinzipiell nicht bloss da, um dem Herrscher Gehorsam und Konsens zu vermitteln, sondern um aktiv und mehr oder weniger effektiv politische Kontrolle auszuüben und darauf aufzupassen, dass sowohl der monarchisch-dynastische Herrscher als auch das Parlament sich nicht über die Grenze ihrer Macht hinwegsetzen. Hingegen scheint es bei Ihrer mittelalterlichen Inszenierung so zu sein, als ob es keine echte politische Diskontinuität/ Distanz zwischen öffentlicher Meinung bzw. Publikum einerseits und Herrschaft andererseits bestünde, als ob die etablierte Macht nur ihre untergeordneten Gefolgsleu-

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te anzusprechen bemüht wäre, und schliesslich, als ob es trotzdem möglich wäre, von einer öffentlichen Dimension der Machtinszenierung zu reden. Dilcher: Sie gehen auf den Habermas’schen Begriff der modernen Öffentlichkeit zurück. Ich wollte ja gerade sagen, dass es einen anderen, älteren gibt. Habermas hat für die ältere Zeit dann nur den Begriff von Öffentlichkeit der repräsentativen, der ständischen Gesellschaft. Ich wollte einen dritten Typ danebenstellen. Dieser darf deshalb nicht den Regeln, die Sie für die moderne Öffentlichkeit aufstellen, folgen, sonst wäre es kein anderer Typ. Es wäre unsinnig, wenn ich behaupten würde, dass die moderne bürgerliche Öffentlichkeit in den Wäldern Germaniens entstanden wäre. Thier: Man könnte den Unterschied vielleicht so beschreiben, dass im 19. Jahrhundert die Konsensberechtigten unendlich viel mehr sind, weil es das gesamte Volk oder die öffentliche Meinung ist. Im Falle von Herrn Dilchers tribaler Öffentlichkeit ist die Gruppe der Konsensberechtigten unendlich viel kleiner, weil es im Prinzip nur „große Herrschaftsberechtigte“ sind, und viele andere, die selber Herrschaft ausüben, fallen völlig heraus. Darauf könnte man sich vielleicht einigen. Manca: Mir fällt es schwer zu akzeptieren, dass von einer öffentlichen Dimension der Machtdarstellung bzw. -inszenierung auch dann die Rede sein kann, wenn sie keine Öffentlichkeit stiftet und kein Publikum auch nur ansatzweise vorausgesetzt wird. Als ob die Machtausübung sich in einem Kreisschluss drehte oder drehen könnte. Wenn dem wirklich so gewesen wäre, hätte man es vielleicht auch nicht nötig gehabt, irgendwelche öffentliche Machtinszenierungen zu veranstalten. Thier: Das hängt dann davon ab, wie man Öffentlichkeit beschreibt. Dilcher: Wenn Sie Öffentlichkeit so definieren, haben Sie Recht. Schmidt: Ich schlage vor, dass wir uns morgen um halb zehn treffen und dieses allgemeine Problem der Kontinuität und die Fragen zur Öffentlichkeit diskutieren, und nicht mit diesen Anfragen Herrn Dilcher belästigen, der uns eigentlich etwas ganz anderes sagen wollte, nämlich dass es eine Versammlungstradition im europäischen Rechtssystem gibt, die sich grundsätzlich von okzidentaler Herrschaft absetzt und die die Grundlage der europäischen Kultur geworden ist. Thier: Wenn ich darauf direkt – vielleicht im Einvernehmen mit meinen Kollegen – antworten darf: Ich denke wir werden in ungefähr 10, 15 Minuten ein wunderbares semi-öffentliches Forum haben, wo wir genau diese Fragen diskutieren können. Ich habe noch eine Meldung von Oliver Lepsius gesehen, dann habe ich noch notiert die Herren Wahl, Brauneder, Schennach. Wahl: Ich möchte auch zu diesem dritten Typ der tribalen Öffentlichkeit sprechen. Ich habe mich gemeldet, als Sie mit Herrn Hillgruber darüber diskutiert haben, ob es bei diesem Typ um eine Art Teilhabe geht. Sie haben in Ihrem Vortrag sehr pointiert gesagt, dass die Versammlungen ein Bestandteil der Herstellung von Entscheidungen und nicht nur ein Teil ihrer Darstellung waren. Auch wenn ich dem zustimmen kann, bleibt die Frage, ob wir Beispiele kennen, bei denen eine Versammlung tatsächlich

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Vorschläge oder den vorgelegten Text umgeworfen hat? In Betracht kommt dies nicht bei allen Formen der Entscheidungsprozesse. Ausgenommen müssen z. B. die Fälle sein, in denen der Herrscher seine Sendboten ausgeschickt hat; denn in diesen Fällen muss der Text oder die Norm schon endgültig feststehen. Hier informiert der Sendbote die Versammlung über den Text oder er erklärt ihn. Die Teilnehmer der Versammlung mögen kritisieren oder gemurrt haben und der Sendbote mag den Herrscher vom Unwillen der Versammlung oder einiger Teilnehmer in Kenntnis gesetzt haben. Bei diesem Verfahrensablauf und bei dieser Abfolge der Schritte kann am Text nichts mehr geändert worden sein. Deshalb meine generelle Frage, ob es in anderen Feldern Beispiele für die Änderung oder Neufassung eines solchen vom „Herrscher“ schon verabschiedeten Textes gibt. Den denkbaren Einfluss der Versammlung wird man bei den Fällen suchen können, in denen ein Text oder eine Proklamation nur unter Mitwirkung einer Versammlung entschieden werden kann. Aber solche Einflüsse werden sich wohl meist im informellen und inoffiziellen Rahmen abgespielt haben. Dass es der Vorschlagende riskiert, in der formellen Versammlung eine Niederlage zu erleiden, wird wohl eher selten vorgekommen sein. Informelle Einflüsse im Vorfeld nachzuweisen, die es wohl immer wieder gegeben hat, dürfte schwierig sein, so dass unser Wissen darüber beschränkt sein wird. Ein Beispiel für indirekte Einwirkungen, die sich im Vorfeld abgespielt haben, dürfte der von Herrn Dilcher gerade erwähnte Fall des Hoftags von Roncaglia sein. Barbarossa hatte in Vorgesprächen von den sachverständigen Professoren eine beträchtliche Anzahl von zusätzlichen Kaiserrechten zugesprochen erhalten. Zugleich waren dem Kaiser die Widerstände der lombardischen Städte deutlich. Dass der Kaiser zurückwich, um die Gefahr einer sichtbaren Niederlage in der Versammlung zu vermeiden, ist die eine und die politisch kluge Alternative. Hätte man sich auch einen Ablauf gemäß den formellen Positionen vorstellen können, dass der Kaiser die Vorschläge formell vorgelegt hätte und die Städte dann ebenso formell widersprochen hätten? Dilcher: Wir können die bei der Wahl Anwesenden zu dieser Frage nicht befragen. Ich meine, wir müssen Herrn Althoff folgen, der gezeigt hat, wie sich diese Verfahren zur Entscheidungsfindung aufbauen und von einem kleineren zu einem größeren Kreis getragen werden und auf diese Weise eine immer größere Autorität gewinnen, so dass ein Widerspruch durch die Art des Verfahrens ausgeschlossen sein soll. Wahl: Man braucht den Widerspruch auch nicht, weil er im Verfahren quasi schon abgearbeitet ist. Dilcher: Ja, man sieht ja hier, wie Barbarossa davon absieht, die vier Professoren damit zu beauftragen, ein römisch-rechtliches Rechtsgutachten zu machen. Vielmehr sind die Konsuln der Städte dazu beizuziehen. Diese sagen dann, wir müssen es so machen, wie wir es immer gemacht haben. Die Städte behalten so ihre Rechte und der Kaiser darf nicht einfach alleine verfügen. Dieses Ergebnis beruht auf dem Verfah-

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ren, das heißt der Gegenwart und der Konsensbedürftigkeit durch die große Reichsversammlung. Was ich noch zu der Möglichkeit eines Widerspruchs sagen wollte: Jürgen Weitzel hat darauf hingewiesen, dass es in der Ding-Verfassung die Urteilsschelte gibt, und zwar vor einer „Rechtskraft“ durch das Rechtsgebot oder den Bann des Vorsitzenden. Man kann also sagen – als Partei oder auch als Mitglied der Rechtsversammlung – ich halte dieses Urteil für falsch. Dann muss ein Gottesurteil, ein gerichtlicher Zweikampf zwischen den Vertretern der beiden Rechtsmeinungen stattfinden – ähnlich wie bei der gespaltenen Königwahl. So konnte man mit Einsatz von Ehre, Gesundheit und Leben Widerspruch einlegen. Brauneder: Ich möchte noch einmal zur Oralität und Schriftlichkeit kommen. Zu einem Scharnier aus einer späteren Zeit. Das ist mir ganz klar. Ursprünglich wurde in den Weistümern Frage und Antwort protokolliert. Das war die ursprüngliche Form. Was geschieht, wenn bei uns eine Kuh gestohlen wird? Dann wird jemandem die Hand abgehackt. Da gibt es kein Protokoll von einem Zwischenruf, was geschieht mit Linkshändern. Protokolliert wird nur das Ergebnis. Zur Versammlung noch ein kurzes Wort: Es waren nie alle. Da treffen sich die Hausvorstände und rundherum steht das Gesinde, die Knechte und Mägde, haben aber selber kein Stimmrecht, parallel zur Galerie im heutigen Parlament. Diejenigen, die in diesen Gremien das Sagen haben, das waren nie alle. Das waren in der Frühzeit auch nur die waffenfähigen Männer. Es gibt eine Zwischenstufe, wo es so ein bisschen polarisiert wurde, im 19. Jahrhundert haben wir Phasen von beschränktem Wahlrecht. Schennach: Ich finde dieses Narrativ der Herstellung von Konsens in einer Öffentlichkeit in tribalen Versammlungsformen sehr ansprechend und überzeugend. Mir drängt sich vor dem Hintergrund des vorangegangenen Vortrags von Herrn Althoff eine Frage auf: Bei Herrn Althoff ging es um Rituale der symbolischen Inszenierung von Herrschaft vor einem Forum, das im Wesentlichen aus Rezipienten besteht, die die vorher von – in Ihrer Terminologie – Regisseuren ausgehandelten Rituale mitverfolgen, ohne aber aktiv gestaltend und konsensstiftend teilzunehmen. Das ist bei Ihnen bei diesen tribalen Versammlungen ganz anders, da hier das konsensstiftende ein wesentliches Element ist. Und teilweise überschneiden sich doch die zeitlichen Untersuchungshorizonte von Herrn Althoff und von Ihnen durchaus. Haben wir es jetzt mit unterschiedlichen Formen von Öffentlichkeit zu tun oder mit Übergängen? Weil die Alternative, dass Heeresversammlungen, auf denen leges ausgehandelt und legitimiert werden, nur eine akklamierende Funktion hätten, würden Sie wohl eher zurückweisen. Sind das nicht unterschiedliche Formen der Öffentlichkeit? Einmal konsensorientiert mitgestaltend, einmal rezipierend passiv teilhabend? Dilcher: In den Arbeiten von Herrn Althoff geht es um offene Konfliktschlichtung zwischen König und Adeligen außerhalb eines Gewaltmonopols. In einer Gerichtsversammlung dagegen hat ja der Vorsitzende, das kann der König sein, der Graf oder ein Schuldheiß, durch seine Banngewalt eine Art Gewaltmonopol, soweit sich die Parteien in das Verfahren begeben haben. Eine Partei kann aber sagen, ich bestehe auf Fehde und gehe nicht vor Gericht. Wer sich aber in das Verfahren begeben

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hat, unterwirft sich damit in gewisser Weise dem Rechtsverfahren. Das ist in den Konfliktfällen, die Herr Althoff behandelt hat, anders. Weiterhin würde ich sagen, das Publikum im Rahmen der Konfliktschlichtung von Herrn Althoff ist die Hofgesellschaft, innerhalb deren es vor allem um Rangverhältnisse geht, während das Publikum in diesen großen Versammlungen bis hin zum örtlichen Ding davon unterschiedlich ist. Es sind nicht nur die Großen, sondern zunächst alle Freien, die das Recht haben, teilzunehmen. Ich meine, dass es sich bei Reichsversammlung wie örtlichem Ding so verhält: Man muss wissen, was man der Versammlung für deren Akzeptanz und Zustimmung zumuten kann. Bei den Ritualen müssen die Formen vertraut sein und beim Rechtsverfahren muss die Überzeugung da sein, dass es sich im Rahmen des überlieferten Rechts der Rechtsgewohnheit bewegt. Althoff: Ich würde denken, dass die Schwierigkeiten oder scheinbaren Unterschiede sich zumindest teilweise auch auflösen. Wir haben unterschiedliche Fälle, die in solchen Versammlungen behandelt werden. Wenn es z. B. darum geht Frieden zu stiften, ist meines Wissens nie eine große Versammlung eines ganzen Stammes oder des ganzen Reiches damit beschäftigt, sondern es werden Vermittler gesucht. Und dann sind zwei Leute damit beschäftigt, mit den Parteien nach einer Lösung zu suchen, der alle zustimmen. O. Lepsius: Ich möchte noch einen anderen Begriff einführen, nämlich den Begriff Kompromiss. Es gibt Versammlungen, die nicht auf das Erzielen von Konsensen ausgerichtet sind. Parlamente etwa sind in keiner Weise auf Konsense ausgerichtet. Ich würde sagen, moderne Versammlungen haben keinen Konsenszweck, sondern dienen der Kompromissfindung. Der Konsens ist eine privatrechtliche Handlungsform (Vertragsschluss), aber keine hoheitliche, öffentlich-rechtliche (Mehrheitsentscheidung). Das für mich Interessante ist, dass wir im frühmittelalterlichen Diskurs offensichtlich Versammlungen vor uns sehen, die keine Konsensorientierung haben und – jetzt bin ich geneigt, bei Herrn Althoff mehr hineinzudeuten, als er selbst zulässt – in den ritualisierten Versammlungen eher Kompromissforen erkennen. Ließen sich so manche Differenzen so aufschlüsseln? Öffnete sich mit dieser Perspektive nicht auch eine Brücke zu der doch immer wieder durchbrechenden Kontinuitätsthese, zu der ich mit Herrn Dilcher sagen würde: Die Kontinuität liegt nicht beim Erzielen von Konsensen, sondern die moderne Entwicklung ist das Entstehen von Kompromissformen. Wir leben in der Moderne nicht in einer Konsensgesellschaft, sondern unter der Erwartung von Kompromissen. Zu diesem Zweck organisieren wir dann die entsprechenden Versammlungen. Thier: Spannende Frage. Wenn wir jetzt noch die Kirche hinzunehmen würden, würde man dem Recht geben müssen. Dilcher: Das leuchtet mir sehr ein und darüber werde ich noch nachdenken müssen. Das macht den Unterschied zu den modernen Formen sehr deutlich, denn hier sind Konsense in einem sehr weiten Sinne und in einem gruppendynamischen Prozess möglich, während der Kompromiss in einem kleinen Kreis stattfindet. Aber ich akzeptiere das und muss das noch ein bisschen verarbeiten.

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O. Lepsius: Kompromiss heißt, ich muss das Ergebnis nicht billigen. Der Konsens hingegen verlangt innerliches Billigen. Das ist der große Unterschied. Althoff: In jedem Fall sprechen Sie ein wichtiges Problem an. Ich weiß aber nicht, ob das Wort „Kompromiss“ das richtige ist, weil bei diesen Konfliktlösungen immer die freiwillige Zustimmung beider Parteien nötig ist und es kann niemand zu einem Kompromiss zwingen. Und bei Kompromiss schwingt ja mit, dass jemand mal den Knoten durchhaut oder die Entscheidungsbefugnis hat, um zu sagen, ihr macht das jetzt so und nicht anders. Und das ist bei Fällen, in denen es um Konflikte und ihre gütliche Beilegung geht, nicht möglich, und ich würde auch noch die Vorstellung des Mittelalters betonen, dass gottgewollte Herrschaft ja zum Konsens führt und dass eigentlich nur Dissens und Kompromisse nötig sind, wenn Gott dem Teufel die Möglichkeit gegeben hat, Unfrieden zu stiften. Das Mittelalter ist viel konsensorientierter als die Moderne. Thier: Ich glaube, das ist ein sehr gutes Schlusswort. Ich erlaube mir trotzdem noch einen Punkt in Antwort auf Oliver Lepsius stärker zu machen, und zwar aus dem Bereich der kirchlichen Rechtskultur. Es ist ein Punkt, der sehr stark das Votum von Herrn Althoff unterstützt: Wir haben seit sehr früher Zeit im Kontext der Kirche das Ideal der Unanimitas, der Einmütigkeit. Das ist ein klares Pro für das Argument von Konsensualität, Einmütigkeit, Zustimmung. Denn allein in der Einmütigkeit, so hat Gregor der Große das einmal gesagt, liegt gewissermaßen die göttliche Präsenz. Das ist das Eine. Es gibt ein Zweites: Wir sehen in der kirchlichen Rechtskultur etwa seit dem 12., 13. Jahrhundert im Bereich der Wahl, im Bereich des institutionellen Entscheidens, als Verfahren die electio per compromissum. Das ist der zweite Punkt. Auf den dritten Punkt möchte ich abschließend nur hinweisen: Wir sehen aber auch schon in der kirchlichen Rechtskultur das Rechnen mit dem Dissens, und zwar im Zusammenhang mit der Entstehung des Majoritätsprinzips. Wir sehen dabei, dass in diesen institutionellen Versammlungen oder in dieser institutionellen Öffentlichkeit die Kirche, die ja die Meisterin des Institutionellen ist (Sie haben selber darauf hingewiesen), sehr früh anfängt mit dem Dissens zu rechnen und deshalb das Majoritätsprinzip als Kollisionsregel übernimmt. Ich möchte schließen. Zunächst vielen Dank an die Diskutantinnen und Diskutanten für die vielen hilfreichen Inputs auch und gerade an den Vorstand. Ich möchte aber nicht schließen ohne einen ganz großen Dank an Sie, lieber Herr Dilcher.

Öffentlichkeit und Verfassung in der Frühen Neuzeit Von Andreas Gestrich, London Die Öffentlichkeit von Parlamentsverhandlungen gehörte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu den grundlegenden Forderungen liberaler Verfassungsbewegungen – und wurde von deren Gegnern entsprechend scharf bekämpft.1 Für Friedrich Gentz, den schärfsten Kritiker der frühliberalen Bestrebungen in Deutschland, hätte sie den „Untergang aller öffentlichen Ordnung“ bedeutet.2 In der Frühen Neuzeit waren die Verhandlungen von Parlamenten oder Ständen definitiv keine öffentlichen Angelegenheiten und schon gar kein irgendwie verfassungsmäßig verbrieftes Recht. Eine solche Involvierung einer ,breiten Öffentlichkeit‘ in die ,limitierte‘ politische Öffentlichkeit ständischer Beratungen wurde von diesen frühneuzeitlichen Repräsentationsorganen auch gar nicht angestrebt.3 Im Gegenteil, selbst in England beriefen sich im 17. Jahrhundert Ober- und Unterhaus noch auf ihre alten Parlamentsprivilegien, die die Öffentlichkeit von den Beratungen des Parlaments ausschlossen. Diese Privilegien zielten allerdings weniger auf die Geheimhaltung von Staatsdingen, als vielmehr auf den Schutz der freien Rede im Parlament.4 Abgeordnete sollten für Äußerungen im Parlament nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Das bezog sich primär auf Kritik an der Politik oder der Person des Monarchen, aber auch auf mögliche Konflikte mit anderen Parlamentsmitgliedern, die aus 1 Vgl. als knappen Überblick z. B. Christoph Jahr, Parlament, ,Publicität‘ und Versammlungsöffentlichkeit. Überlegungen zur politischen Theorie und historischen Praxis in Deutschland bis 1933, in: Otfried Jarren/Kurt Imhof/Roger Blum (Hrsg.), Zerfall der Öffentlichkeit?, Wiesbaden 2000, S. 39 – 48, hier v. a. 39 – 41. 2 Zit. nach Bruno Bauer, Geschichte der constitutionellen und revolutionären Bewegungen im südlichen Deutschland in den Jahren 1831 – 1834, Bd. 1, Charlottenburg 1845, S. 6. 3 Das Problem der Mehrdeutigkeit des Begriffs „öffentlich“/„publicus“ in der Frühen Neuzeit ist schon vielfältig dargestellt worden. Maßgeblich ist immer noch Lucian Hölscher, Art. ,Öffentlichkeit‘ in Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 413 – 467; ders., Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979. Ein guter Überblick auch bei Esther-Beate Körber, Öffentlichkeiten der frühen Neuzeit. Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618, Berlin/New York 1998, S. 1 – 22. 4 Zu dem breiten Feld des Staatsgeheimnisses mit umfassendem Literaturverzeichnis vgl. Bernhard W. Wegener, Der geheime Staat. Arkantradition und Informationsfreiheit, Göttingen 2006.

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einer offenen Rede im Parlament besonders dann erwachsen konnten, wenn diese Kritik öffentlich wurde. Die Lizenz politische Kritik zu üben, die eigentliche Funktion moderner politischer Öffentlichkeit, setzte in der Frühen Neuzeit im Prinzip noch einen Schutzraum voraus. Mit dem Privileg der freien Rede hatte in England nicht die allgemeine Öffentlichkeit von Politik, sondern der Ausschluss der Öffentlichkeit von politischen Debatten seit dem 14. Jahrhundert gewissermaßen Verfassungsrang. Parlamentarier konnten sich bis ins 20. Jahrhundert auf diese alten Privilegien berufen.5 Bereits in der Frühen Neuzeit nützten diese Parlamentsprivilegien allerdings wenig, zumindest nicht gegen die Neugier der entstehenden kommerziellen Presse. Der englische Rechtswissenschaftler und Parlamentsabgeordnete John Selden stellte 1628 fest, dass die Nachrichten über den Gang der Verhandlungen des Parlaments überall im Druck bei den Buchhändlern zu haben seien.6 Der amerikanische Historiker Chris R. Kyle zeigte in einer Untersuchung zum Verhältnis zwischen Parlament und Öffentlichkeit in England in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, wie porös die Wände des englischen Parlaments schon in dieser Zeit waren. Bereits unter den frühen Stuarts hatte sich das Parlament vom Empfänger von Nachrichten aus den herrschenden Gruppen und vom Archiv ihrer politischen Anliegen zu einer Institution gewandelt, über die eben diese Nachrichten und Anliegen auch ins Land verbreitet wurden.7 Anhand dieses kurzen Blicks auf das englische Parlament und dessen gespanntes Verhältnis zur Medienöffentlichkeit lassen sich drei allgemeine Perspektiven auf den Zusammenhang zwischen Verfassung und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit ausmachen. Sie sollen hier einleitend als Thesen formuliert und im Folgenden dann genauer diskutiert werden: 1. wird an dem hier angedeuteten Spannungsverhältnis von limitierter Parlamentsbzw. Ständeversammlungsöffentlichkeit und breiter Medienöffentlichkeit deutlich, dass es notwendig ist, zwischen verschiedenen Öffentlichkeitsbegriffen bzw. Sozialformationen und Funktionen von Öffentlichkeit zu unterscheiden. 2. zeigt das englische Beispiel, dass man sich nicht nur mit dem steigenden Einfluss einer breiteren politischen Öffentlichkeit auf die Gesetzgebung und Verfassung 5 Mit dem Ruf „I spy strangers“ konnten englische Abgeordnete bis ins 20. Jahrhundert den Ausschluss der Öffentlichkeit von den Sitzungen verlangen – also noch lange, nachdem die Präsenz von Publikum und Medienberichterstattung aus dem Parlament zugelassen und zur Regel geworden waren. Zum Privileg des Ausschlusses der Öffentlichkeit aus dem englischen Parlament vgl. Thomas Erskine May, A Treatise Upon the Law, Privileges, Proceedings and Usage of Parliament, London 1844, S. 76 – 82 u. S. 162 – 164. Ein knapper Überblick auch bei Jürgen Wilke, Auf langem Weg zur Öffentlichkeit: Von der Parlamentsdebatte zur Mediendebatte, in: Jarren/Imhof/Blum (Fn. 1), S. 23 – 38, hier v. a. 24 – 26. 6 Robert C. Johnson et al. (Hrsg.) Commons Debates and Lords Proceedings 1628, 6 Bde., New Haven 1977 – 1983, Bd. 2, S. 411 f., zit. nach Chris R. Kyle, Theatre of State. Parliament and Culture in Early Stuart England, Stanford 2012, S. 1. 7 Kyle (Fn. 6), S. 88.

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eines Landes beschäftigen muss, sondern auch mit dem Gegenteil. Verfassungsmäßig reguliert wurde in der Frühen Neuzeit weniger die Einbeziehung als vielmehr der Ausschluss der Öffentlichkeit von Informationen über und Teilhabe an den Kompetenzbereichen der staatlichen Exekutive und der ständischen Gremien. 3. sieht man daran jedoch auch, dass sich bereits im 17. Jahrhundert in Europa eine über kommerziell vertriebene Medien integrierte Medienöffentlichkeit zu etablieren begann, die sich trotz der verfassungsmäßigen garantierten Geheimhaltung der Parlamentsdebatten und der ohnehin geheimen staatlichen Politik vieler Informationen aus diesem Bereich bemächtigen, sie verbreiten und teilweise auch öffentlich diskutieren konnte. Man muss man danach fragen, was diese Zugänglichkeit von Informationen für die politische Partizipation breiterer Bevölkerungskreise bedeutete und wie solche Partizipation realisiert werden konnte.

I. Formationen von Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit In seiner klassischen Abhandlung über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ hatte Jürgen Habermas die Herausbildung einer über die Gegenstände des allgemeinen Interesses kritisch räsonierenden Öffentlichkeit an den Aufstieg des Bürgertums gebunden. Paradigmatisch versuchte er dies an den Diskussionen des englischen Parlaments zu zeigen. Demgegenüber seien frühere Formen der Öffentlichkeit in der frühneuzeitlichen Feudalgesellschaft im Wesentlichen auf die „repräsentative“ öffentliche Darstellung von Macht der Fürsten beschränkt geblieben.8 Die intensive Auseinandersetzung der Forschung mit dieser These hat jedoch gezeigt, dass Habermas’ dichotome Gegenüberstellung zu einfach ist. Das englische Parlament des 18. Jahrhunderts entsprach nicht dem Habermas’schen Idealbild, und herrschaftskontrollierende und -legitimierende Funktionen einer breiteren, über die Ständevertretungen hinausgehenden politischen Öffentlichkeit gab es durchaus auch schon früher. Das war per se kein Privileg einer bürgerlichen Öffentlichkeit.9 Das wird auch deutlich an Esther-Beate Körbers Analyse von politischer Kommunikation und Öf8 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage, Frankfurt a. M. 1990, S. 52 – 72. 9 Die Zahl der Auseinandersetzungen mit Habermas’ Thesen auch aus der Sicht der Geschichte der Frühen Neuzeit ist kaum mehr zu überblicken. Meine eigenen Kommentare dazu sind – mit weiteren Hinweisen auf die neuere internationale Literatur – zusammengefasst in Andreas Gestrich, Jürgen Habermas’ Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit: Bedeutung und Kritik aus historischer Perspektive, in: Clemens Zimmermann (Hrsg.), Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten und Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2006, S. 25 – 40, und ders., The early-modern state and the rise of the public sphere. A systems-theory approach, in: Massimo Rospocher (Hrsg.), Beyond the Public Sphere: Opinions, Publics, Spaces in Early Modern Europe (16th–18th centuries), Bologna/Berlin 2012, S. 31 – 52.

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fentlichkeit im Herzogtum Preußen im 16. und 17. Jahrhundert. Sie identifizierte in ihrer Untersuchung drei voneinander abgrenzbare Öffentlichkeitssphären: Zum einen ist dies die Öffentlichkeit der Sphäre der Macht. Sie umfasste den Hof, die Ständeversammlungen, aber auch die in Entscheidungen ad hoc einbezogenen und dazu beitragenden Gelehrten Räte oder – in der Regel juristischen – Fakultäten an Universitäten.10 Am anderen Ende des Spektrums frühneuzeitlicher Öffentlichkeiten sieht Körber eine nicht oder nicht primär ständisch limitierte Öffentlichkeit, die zumindest manche Neuigkeiten aus verschiedenen Politikbereichen über die Medien erfahren konnte. Dazu gehörten auch performative Akte der Verkündigung von Entscheidungen durch mündliche Bekanntmachungen in der Kirche oder an anderen Orten. Körber bezeichnet diese breite Öffentlichkeit als „Öffentlichkeit der Informationen“ oder „Informationsöffentlichkeit“, die Dinge mehr zur Kenntnis nimmt, als dass sie sie in irgendeiner Weise beeinflussen konnte oder genaue Details von Entscheidungsprozessen erfuhr.11 Zwischen diese beiden Öffentlichkeitsformen platzierte Körber jedoch noch eine dritte, die sie als „Öffentlichkeit der Bildung“ oder „Bildungsöffentlichkeit“ bezeichnet. Sie unterwarf, auf der Basis von Informationen aus den beiden anderen Öffentlichkeitsbereichen und ohne dazu verpflichtet oder berechtigt zu sein, Fragen der Politik und des öffentlichen Lebens einem kritisch-moralischen Diskurs. Dies lässt sich besonders an den politisch brisanten Diskussionen um Religionsfragen gut verfolgen.12 Greift man diese von Körber entwickelte Dreiteilung einmal auf, so bleiben für das Verständnis frühneuzeitlicher politischer Öffentlichkeiten und deren Stellung im Verfassungsgefüge der europäischen Gesellschaften dennoch zwei Dinge hervorzuheben: Zum einen sind die Grenzen zwischen diesen Öffentlichkeitsbereichen alles andere als eindeutig und starr. Politische Repräsentationsorgane der Frühen Neuzeit, die Ständevertretungen, waren sicher keine Parlamente im modernen Sinne, in denen sich die politische Vertretung im Prinzip gleicher Bürger vollzieht. Gabriele Haug-Moritz formulierte dies in Bezug auf die württembergischen Stände prägnant: „Als Repräsentanten des Landes Sorge für das Landeswohl zu tragen, hieß freilich nicht, die eigene Funktion in Abhängigkeit vom Willen des Volkes zu definieren, sondern sie abgeleitet aus der eigenen Rechtsstellung als bevorrechtigte Korporation als ,Vormünder‘ eines unmündig gedachten Volkes auszuüben.“13 Sie waren aber 10

Körber (Fn. 3), S. 7 f., 53 – 166. Körber (Fn. 3), S. 17 – 21, 297 – 364. 12 Körber (Fn. 3), S. 13 – 17, 167 – 296. 13 Gabriele Haug-Moritz, Öffentlichkeit und ,gute Policey‘. Der Landschaftskonsulent Johann Jacob Moser als Publizist, in: Andreas Gestrich/Rainer Lächele (Hrsg.), Johann Jakob Moser. Politiker – Pietist – Publizist, Karlsruhe 2002, S. 27 – 40, hier 37. Vgl. zur Differenz zwischen frühneuzeitlichen Ständevertretungen und modernen Parlamenten auch die prägnante Darstellung von Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale des Konsenses? Ständische Partizipation im frühneuzeitlichen Europa. 4. Gerald Stourzh-Vorlesung zur Geschichte der Menschenrechte und der Demokratie 2012. E-text: https://gerald-stourzh-vorlesungen.univie. 11

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auch kein ausschließlicher Teil der Exekutive, sondern konnten – anlassbezogen – auch zu wichtigen Mittlerinstanzen für eine breitere politische Beteiligung werden. Die Kritik der Bildungsöffentlichkeit und die Anschlusskommunikationen, die sich aus den politischen Informationen ergaben, die ein allgemeines Publikum erreichten, konnten daher im politischen Prozess durchaus eine Rolle spielen. Nicht kontinuierlich, aber okkasionell konnte auch von der von Körber als „Informationsöffentlichkeit“ zusammengefassten breiteren Bevölkerung durchaus politischer Einfluss eingefordert werden – nicht zuletzt dadurch, dass man im Prinzip vorhandene verfassungsmäßige Rechte und Spielräume entsprechend aktivierte und nutzte.14 Zum anderen ist für das Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit wichtig, dass diese drei ,Teilöffentlichkeiten‘ seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts zunehmend durch ein rasch expandierendes Mediensystem integriert wurden, das alle drei Ebenen bediente und von allen genutzt wurde. Die „Macht-Öffentlichkeit“ benützte häufig die gedruckte Presse und andere Printmedien für im Prinzip interne Kommunikationen. Das gleiche tat die „Bildungsöffentlichkeit“. Dadurch potenzierte sich mit der Zunahme der Zahl von Zeitungen und Zeitschriften die Menge (nicht notwendig die Qualität) prinzipiell zugänglicher Informationen aus den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft und Politik. Der Zugang zu diesen gedruckten Informationen wurde über den Markt, d. h. den Preis, gesteuert und nicht über ständische Zugangskriterien.15 Diese Spannung zwischen der Vielschichtigkeit frühneuzeitlicher Öffentlichkeit und der zunehmenden Integration durch ein gemeinsames Mediensystem legt es nahe, nach den Grenzen der verschiedenen Öffentlichkeitsschichten zu fragen, nach ihrer Durchlässigkeit und nach der Rolle des Mediensystems als Katalysator für die zunehmende öffentliche Diskussion verfassungsrechtlich relevanter Fragen und damit letztlich auch für politische Partizipation.

ac.at/fileadmin/user_upload/p_%20gerald_stourzh/vortraege/2012.pdf [Zuletzt abgerufen am 25. 10. 2016]. 14 In Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, hatte ich eine ähnliche Gliederung frühneuzeitlicher Öffentlichkeit wie Körber vorgeschlagen, aber der „Informationsöffentlichkeit mehr ,Handlungsmacht‘ eingeräumt (höfische Öffentlichkeit als Welt des Adels und der Herrschaftsträger, die Gelehrtenrepublik und ,das Volk‘ als Form der „plebejischen Öffentlichkeit“ in Anschluss an E. P. Thompson). Die Gliederung von Körber ist etwas ,griffiger‘, in den einzelnen Kategorien vielleicht auch etwas differenzierter und sehr stark aus dem konkreten Beispiel der politischen Praxis in Preußen abgeleitet. Die aktive Rolle der Informationsöffentlichkeit bleibt aber etwas unterbelichtet. Das mag allerdings auch an den spezifischen Verhältnissen in Preußen liegen. 15 Zum Mediensystem des Alten Reiches vgl. v. a. den Sammelband Johannes Arndt/Esther-Beate Körber (Hrsg.), Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600 – 1750), Göttingen 2010; außerdem Johannes Arndt, Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. Die publizistische Darstellung politischer Konflikte im Heiligen Römischen Reich 1648 – 1750, Göttingen 2013, S. 53 – 240. Vgl. auch Körber (Fn. 3), S. 355.

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II. Möglichkeiten und Grenzen der Macht-Öffentlichkeit Am 2. September 1819 debattierte die württembergische Ständeversammlung die Frage, ob sie ihre Sitzungen öffentlich machen könne. Der gewählte Abgeordnete für Öhringen, Heinrich Kessler, meinte: „Der König habe erklärt, dass Öffentlichkeit der Grundsatz seiner Regierung seyn solle, er werde sie daher sicher auch den Ständen gewähren.“ Der Freiherr von Ow antwortete darauf: „Da die Stände durchaus kein Geheimniß haben, so finde er auch für diese keine Bedenklichkeit in dem Antrage.“16 In den Augen des Freiherrn von Ow waren die Stände offensichtlich dazu da, Gesetze, nicht aber Politik zu machen. Sie hatten daher keine Geheimnisse und benötigten auch keinen Ausschluss der Öffentlichkeit.17 Dies war eine ziemlich einfache Wahrnehmung der Dinge, die weder den Problemen, um die es dann in den Debatten der liberalen Verfassungsreformen des 19. Jahrhunderts ging, noch den frühneuzeitlichen Ständetagen und deren Funktionen wirklich gerecht wurde. Im 19. Jahrhundert sollte der Zugang der Stände zu vertraulichen Informationen aus der Regierung zum Zweck ihrer Kontrolle bekanntlich rasch zu einer der zentralen Forderungen liberaler Politiker werden. Carl von Rotteck brachte diese Forderung 1830 in seinem Lehrbuch des Vernunftrechts auf den Punkt, dass Landstände das „Recht der Kenntnisnahme von allem, was im Staate vorgeht oder ist“, besäßen und dass die Regierungen den Landständen daher nichts verheimlichen dürften, sondern ihnen auf Verlangen alle Informationen und Dokumente zugänglich zu machen hätten.18 Die Unterschiede zwischen den Parlamenten des 19. Jahrhunderts und den frühneuzeitlichen Ständetagen sind natürlich erheblich. Aber es gab auch in der Frühen Neuzeit Konfliktkonstellationen, die durchaus in diese Kontexte von parlamentarischem Informationsrecht, kritischem Räsonnement und Verwaltungskontrolle eingeordnet werden können. Dazu gehörte besonders die Aufgabe der Ständetage im Hinblick auf die Abstellung von Gravamina – und damit auch ihr Recht auf bestimmte Informationen und auf Kritik.19 Allerdings: Kritik am Landesherrn war in der stän16

Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Würtemberg im Jahr 1819. Amtlich hrsg. durch die beyden Secretaire der Stände-Versammlung Procurator Feuerlein und Dr. Schott, Stuttgart 1819, S. 43. 17 Zum Begriff des Geheimnisses vgl. auch Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis (Fn. 3), S. 124 f.; Gestrich (Fn. 14), S. 34 – 68; vgl. kritisch dazu (wenn auch nicht immer den Kern der Argumentation treffend) Wegener (Fn. 4), S. 34 – 38; Michael Stolleis, Arcana imperii und ratio status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts, Göttingen 1980. 18 Carl von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 2, Stuttgart 1830, S. 244. 19 Die Literatur zu ständischen Konflikten und ihrer Bedeutung für politische Öffentlichkeit und Partizipation ist inzwischen kaum mehr überschaubar. Zentral ist immer noch Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300 – 1800, 3. Aufl., München 2012. Zu dem im Folgenden erwähnten Mecklenburg vgl. auch Michael Busch, Machtstreben, Stan-

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disch strukturierten Welt der Frühen Neuzeit und ihres auf die Beachtung der Ehre der Autoritäten ausgerichteten Normsystems heikel. Das hatte, wie eingangs gezeigt, für England gegolten, und es galt natürlich erst recht für das Reich. Der Reichsrechtler Johann Jacob Moser widmete diesem Problem des Rechts der Stände auf Kritik an der Regierung 1775 ein eigene Abhandlung „Von der landschaftlichen Personen Sicherheit, und denen ihnen Schuld gegebenen Amts-Verbrechen“ und schrieb dazu: „Die Freyheit reden und schreiben zu dörfen, wie es die Umstände erforderen, muss den Land-Ständen ungekränckt verbleiben, und sie müssen zwar allerdings sich nicht gegen den der Herrschafft schuldigen Respect verliehren: Aber es lauffet auch nicht gegen solchen Respect, wann man die Sachen vorstellet, wie sie seynd, und, wann man gegen böse Ministers und andere Ratgebere, oder schädliche Leute, sich namentlich beschweret.“20

Moser wusste, wovon er schrieb, denn er hatte selbst mit dem Württembergischen Herzog aufgrund seiner Kritik an der Regierung sehr unangenehme Erfahrungen gemacht, die ihm fünf Jahre Festungshaft eingetragen hatten.21 Eine kritische Auseinandersetzung mit der fürstlichen Politik war gefährlich und auf jeden Fall nur möglich, wenn der Respekt vor dem Herrscher gewahrt blieb und Kritik nicht zum Gegenstand einer über die Medien vermittelten Berichterstattung oder gar Debatte wurde. Die breite Öffentlichkeit im Sinne von Körbers Informationsöffentlichkeit musste daher theoretisch von solchen kritischen Diskussionen ausgeschlossen bleiben und die Ständevertreter selbst eine Vertraulichkeit in politischen Angelegenheiten wahren, damit sie offen diskutieren bzw. schreiben konnten. Wenn sie unter diesen Bedingungen handelten, genossen kritische Ständevertreter sogar in den deutschen Territorien einen gewissen Schutz des Reiches, auch wenn es hier immer eine breite Grauzone gab und der Kaiser in Konfliktfällen um die Redefreiheit von Ständeversammlungen keineswegs immer auf deren Seite stand. Moser führt selbst einige Beispiele für Konflikte zwischen Herrschaft und Ständen an, bei denen Reichshofrat und Kaiser die Kritiker in Schutz nahmen. Ein Beispiel waren die Auseinandersetzungen zwischen Ständen und Landesherren in Mecklenburg im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert. Im Jahr 1672 befahl der Kaiser den Herzögen desbewusstsein, Streitlust. Landesherrschaft und Stände in Mecklenburg von 1755 bis 1806, Köln/Weimar/Wien 2013. Zu der Ambivalenz der frühneuzeitlichen Ständevertretungen als Teil oder Gegenspieler von Regierungen vgl. z. B. Horst Kruse, Stände und Regierung – Antipoden? Die calenbergisch-göttingischen Landesstände, 1715 – 1802, Hannover 2000, oder Annette von Stieglitz, Landesherr und Stände zwischen Konfrontation und Kooperation. Die Innenpolitik Herzog Johann Friedrichs im Fürstentum Calenberg 1665 – 1679, Hannover 1994. 20 Johann Jacob Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, deren Landständen, Unterthanen, Landes-Freyheiten, Beschwerden, Schulden und Zusammenkünfften. […], Frankfurt a. M./Leipzig 1769 (Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 13, Neudr. 1967). Bd. 13,2, S. 1510. Zit. auch bei Eric Hilgendorf, Entwicklungsgeschichte der parlamentarischen Redefreiheit in Deutschland, Frankfurt a. M. 1991, S. 24 (mit modernisierter Schreibweise und inkorrekter Seitenangabe). 21 Zu Mosers Konflikten vgl. Peter Wilson, Johann Jacob Moser und die württembergische Politik, in: Gestrich/Lächele (Fn. 13), S. 1 – 25, sowie Andreas Gestrich, Moser als politischer Gefangener, ebd., S. 41 – 55.

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„gegen der Landschaft Deputierte zum großen und engeren Ausschuss, oder andere ihre Bediente, nichts Tätliches zu verhängen, oder vorzunehmen, selbst oder durch andere; in keinerlei Weise noch Wege“.22 In Ostfriesland dagegen kam es 1722 wegen eines offensichtlich renitenten Schreibens einiger Landesdeputierter an den Landesherren zu einem nachhaltigen Konflikt, der zu Gunsten des Landesherren entschieden wurde. In dem an den Reichshofrat gelangten Konflikt führte der Fürst an, „wie ungereimt es sei, dass die Landes-Stände prätendieren dürfen, dass sie auf Landtagen reden, tun und handeln dürfen, was sie nur wollen, ohne dass dem Landesherrn darüber die geringste Judikatur zukomme; nicht anders als wenn die ostfriesischen Landtage eine Exemtion von aller Subjektion gegen den Landesherren mit sich bringen, und eine Freistatt aller Lizenz und allen Mutwillens seien.“23 Der Reichshofrat ermahnte die Stände unter Androhung von Strafen, sich solche Unbotmäßigkeiten nicht wieder zu Schulden kommen zu lassen.24 Das Recht der Landstände auf Kritik war also prekär. Aber es herrschte bei den Ständevertretungen doch allgemein die Auffassung, dass sie zu Kritik an Missständen der Regierung berechtigt und letztlich auch verpflichtet seien. Sie konnten somit während der Frühen Neuzeit durchaus eine kritische politische Öffentlichkeit darstellen, die über die Repräsentation eigener Sonderinteressen hinausging und die Interessen des Landes, also breiterer Schichten, in die Diskussionen über Politik und Gesetzgebung einbrachte. und dabei auch kritisch gegen Regierung und Herrschaft Stellung nehmen konnten. In den ständisch stark hierarchisierten Kommunikationszusammenhängen des Reiches konnte direkte Herrschaftskritik – auch der Ständevertretungen – allerdings gefährlich werden, vor allem, wenn die Informationen über die Medien an eine breitere Öffentlichkeit gelangten. Anders als in England, wo 1689 in der Bill of Rights schließlich kodifiziert wurde, dass die Rede im Parlament grundsätzlich straffrei bleibt, kam eine solche Rechtsentwicklung in Deutschland erst im 19. Jahrhundert auf den Weg.25

III. Verfassungsfragen in der „Informationsöffentlichkeit“ Die ,Porosität‘ der Wände vieler Ständeversammlungen und vor allem des Regensburger Reichstages ließ manche Details aus den im Prinzip geschlossenen Bereichen der „Machtöffentlichkeit“ an die „Informationsöffentlichkeit“ gelangen. 22 Johann Jacob Moser, Von der landschaftlichen Personen Sicherheit, und denen ihnen Schuld gegebenen Amts-Verbrechen, in: ders., Abhandlungen verschiedener Rechts-Materien; auch andere brauchbare und angenehme Nachrichten, und Anmerkungen, Leipzig 1775, 5. Stück, S. 5 – 58, hier 15, zit. nach Hilgendorf (Fn. 20), S. 19. 23 Moser (Fn. 20), S. 40 – 46, zit. nach Hilgendorf (Fn. 20), S. 20. 24 Vgl. Hilgendorf (Fn. 20), S. 20. 25 Zur Entwicklung der parlamentarischen Redefreiheit in England bzw. Großbritannien vgl. den kurzen Überblick bei Hilgendorf (Fn. 20), S. 1 – 6.

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Aber interessierte sich diese überhaupt für Verfassungsfragen? Welche Rolle spielten verfassungsrechtlich relevante Konflikte in der täglichen Berichterstattung der Presse oder anderen Medien? Im 17. und 18. Jahrhundert waren im Reich Auseinandersetzungen zwischen den Landesherren, die auf die Steigerung ihrer Macht und der Effizienz ihrer Verwaltungen aus waren, und den Landständen, die ihre Mitwirkungsrechte an der Regierung des Landes verteidigten, an der Tagesordnung. Andreas Würgler hat in einer wegweisenden Studie über „Unruhen und Öffentlichkeit“ gezeigt, wie intensiv die Presse im Reich über derartige Vorgänge berichtete.26 Der Fortgang solcher Konflikte, bei denen es sich ja vielfach um Verfassungskonflikte handelte, war fast täglich in den Zeitungen zu verfolgen.27 Am Beispiel des bereits erwähnten Streits zwischen Herrschaft und Ständen in Mecklenburg, die schließlich zur Suspendierung Herzog Karl-Leopolds von Mecklenburg-Schwerin durch den Kaiser führten, lässt sich die Involvierung der Informationsöffentlichkeit gut verfolgen. In seiner Untersuchung zu „Herrschaftskontrolle und Öffentlichkeit“ im Alten Reich hatte Johannes Arndt anhand dieses Konflikts gezeigt, wie dessen stufenweise Eskalation mit einer allmählichen Intensivierung auch der Presseberichterstattung und des öffentlichen Interesses einherging. Den Versuch des Herzogs, die Militärmacht des Landes massiv auszubauen, die de facto Unterwerfung der Hansestadt Rostock und seine demonstrative Missachtung der Mitspracherechte der primär adeligen Stände des Landes beantworteten diese mit einer Gegenstrategie, die auch die Öffentlichkeit einbezog.28 Zunächst wurde die Auseinandersetzung mit Hilfe sogenannter Deduktionen geführt, also ausführlichen Darlegungen der rechtlichen und historisch-politischen Aspekte der jeweiligen Positionen.29 Die nächste Eskalationsstufe waren dann Klagen vor den kaiserlichen Gerichten. Nachrichten über den Konflikt gelangten allerdings nur mit einer gewissen Verzögerung in die Tagespresse. Arndt erklärt diesen mehrfach festgestellten Befund damit, dass es immer einer gewissen „Aktivierungsenergie“ bedurfte, bis die Presse solche Auseinandersetzungen überregional relativ breit und kontinuierlich verfolgte. Der Nachrichtenwert musste entsprechend hoch sein. Dann aber wurde meist sehr ausführlich berichtet. Die in Halle gedruckte Zeitung „Wöchentliche Relation“ 26 Andreas Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert, Epfendorf 1995. 27 Würgler (Fn. 26), S. 330. 28 Zu den Ursachen und dem Verlauf des Konflikts vgl. Arndt (Fn. 15), S. 431 – 466. 29 Deduktionen wurden entweder von den Kontrahenten bei Juristen in Auftrag gegeben, manchmal preschten diese auch selbst mit solchen Veröffentlichungen vor, um sich bei Hof ins Gespräch für Posten oder eine Belohnung zu bringen. Zu der Quellengattung der Deduktionen vgl. Arndt (Fn. 15), S. 267, mit Bezug auch auf Konrad Repgen, Der Westfälische Friede und die zeitgenössische Öffentlichkeit, in: Historisches Jahrbuch 117 (1997), S. 38 – 83, hier 52. Zu den ,freien Autoren‘ von solchen politisch-juristischen Tendenzschriften vgl. Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806, Mainz 1998, S. 25 – 29. Vgl. auch Arndt (Fn. 15), S. 141 f.

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zum Beispiel informierte genau über die Details des Mecklenburgischen Konfliktes, die Gerichtsverfahren, die Reichsexekution gegen den Herzog oder über dessen Versuche, am Reichstag Verbündete zu finden. Die Berichterstattung in der „Wöchentlichen Relation“ war angereichert mit dem Abdruck von Dokumenten und Briefen, vor allem Material, das wohl in Regensburg zirkulierte.30 Parallel zur Berichterstattung in der Tagespresse wurde der Mecklenburgische Konflikt zum Gegenstand von Abhandlungen in den im 18. Jahrhundert in wachsender Zahl publizierten historischpolitischen Zeitschriften. Dort waren eine noch detailliertere Analyse von Dokumenten und eine rechtliche Bewertung des Falles möglich.31 Insgesamt ist nach Arndts Analysen in der Presse flächendeckend eine ziemlich klare Stellungnahme für die Sache der Stände und eine Delegitimierung des Herzogs zu erkennen. Das hing natürlich auch damit zusammen, dass sich Karl Leopold am Ende gegen Stände und Kaiser gestellt hatte. Eine explizite Verteidigung des Herzogs in der Presse wäre daher politisch auch nicht opportun gewesen. Der mecklenburgische Konflikt, der schließlich in einer Reichsexekution und der Absetzung des Herzogs endete, war sicher ein besonderer Fall. Aber auch weniger spektakuläre Konflikte, z. B. um Fragen der Reichskonstitution, wurden in den Medien der Zeit relativ breit thematisiert. Arndt analysierte in seiner Studie als Beispiele für genuine Verfassungskonflikte unter anderem die Berichterstattung zu den Auseinandersetzungen zwischen Chur-Bayern und Chur-Pfalz um die Führung des Reichsvikariats, d. h. um die Führung des Reiches zwischen dem Tod eines Kaisers und der Neuwahl seines Nachfolgers, und zu der Übertragung der neunten Kurwürde auf den Herzog von Braunschweig-Lüneburg. Zu beiden Themen wurden zahlreiche Deduktionen im Druck verbreitet. In der Reichsvikariatsfrage, die sich von der Mitte des 17. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinzog,32 erschienen bereits zu dem nach dem Tod Kaiser Ferdinands III. im Jahr 1657 ausgebrochenen Streit 19 nachweisbare Deduktionen, an die sich in den folgenden Reichsvakanzen zahlreiche weitere Veröffentlichungen anschlossen.33 Auch diese, mit der jeweils nächsten Kaiserwahl immer wieder an Aktualität gewinnenden Konflikte fanden den Weg in die Tagespresse, allerdings mit deutlich geringerer Intensität als die Auseinandersetzungen in Mecklenburg. Dennoch kamen hier am Ende auch geheime interne Dokumente des Hauses Wittelsbach, etwa ein Vertrag aus dem Jahr 1724, mit dem der Zwist zwischen den beiden Linien beigelegt werden sollte, ans Tageslicht. Nach dem Tod Kaiser Karls VI. wurde in einigen Zeitungen indirekt darauf verwiesen, in einer Zeitschrift, der „Neuen Europäischen Fama“, wurde auf zehn Seiten sogar der komplette Text des offiziell geheimen Vertrags abgedruckt.34 30

Vgl. Arndt (Fn. 15), S. 467 – 479. Vgl. ebd., S. 479 – 490. 32 Zur Problematik dieser Kontroverse, die aus der Übertragung der Kurwürde an Herzog Maximilian I. von Bayern nach der Reichsacht gegen Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz 1623 entstanden war, vgl. Arndt (Fn. 15), S. 261 – 267. 33 Arndt (Fn. 15), S. 267. 34 Vgl. ebd., S. 281 – 289. 31

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Eine ähnliche Konzentration der Berichterstattung und Diskussion auf den Bereich der Deduktionen und historisch-politischen Zeitschriften lässt sich auch an einer Debatte und einem Quellenkorpus beobachten, das besonders von Wolfgang Burgdorf erschlossen wurde: den Schriften und Medienberichten zur Reform der Reichsverfassung, die vor allem im 18. Jahrhundert auf den Markt gelangten.35 Die Debatte um die Reform der Reichsverfassung intensivierte sich besonders seit dem Siebenjährigen Krieg und kulminierte gegen Ende des Reiches in der Auseinandersetzung über einen Standardtext für kaiserliche Wahlkapitulationen. In diesen wurden jeweils die schriftlich fixierten oder nach dem Reichsherkommen beobachteten Reichsgrundgesetze bestätigt. Die jeweils gültigen Wahlkapitulationen waren mithin zentrale Verfassungstexte, die aber bei jeder Kaiserkrönung in Teilen doch neu auszuhandeln waren. Durch eine Fixierung des Textes der Wahlkapitulationen wären wesentliche Teile der Reichsverfassung dauerhaft kodifiziert und damit, so Burgdorf, gewissermaßen eine Konstitutionalisierung des Reiches erzielt worden.36 Die Debatten lassen sich allerdings nicht allein auf die Frage der Wahlkapitulationen beschränken. Burgdorf konnte zeigen, dass es in der Frühen Neuzeit und besonders seit dem Westfälischen Frieden eine kontinuierliche öffentliche Auseinandersetzung um Fragen der Verfassung des Reiches und ihrer Reform gab, und für den Zeitraum zwischen 1648 und 1806 weit über 500 diesem Thema gewidmete Druckschriften identifizieren und analysieren.37 Diese Auseinandersetzungen und die Berichterstattung darüber verblieben jedoch im Großen und Ganzen im Bereich der akademischen Debatten im doppelten Sinne des Wortes. Es handelte sich zum einen um theoretische Gedanken, von denen wenige in die Praxis umgesetzt wurden. Zum anderen interessierten solche gelehrten juristisch-politischen Abhandlungen das Gros der Zeitungsleser – zumindest aus der Sicht der Verleger – so wenig, dass sie deren Nachrichtenwert nicht hoch genug einschätzten, um darüber regelmäßig oder überhaupt zu berichten. Deduktionen und Beiträge in gelehrten juristischen oder auch politischen Zeitschriften erreichten zwar die Macht- und auch die Bildungsöffentlichkeit, aber kaum die allgemeine Informationsöffentlichkeit. Viele dieser Schriften zur Reichsreform wurden über einen zentralen Ort der Politik im Reich, den Reichstag in Regensburg, verbreitet. Der seit 1653 verstetigte Reichstag in Regenburg war nicht nur das wichtigste Forum der politischen Beratung und Entscheidung im Reich, sondern auch der Nachrichtenproduktion über Reichsangelegenheiten, internationale Politik und interne Angelegenheiten einzelner Ter35

Burgdorf, Reichskonstitution und Nation (Fn. 29). Vgl. dazu auch Wolfgang Burgdorf, Protokonstitutionalismus. Die Reichsverfassung in den Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser, 1519 – 1792 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 94), Göttingen 2015, sowie die Quellenedition in ders. (Bearb.), Die Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser, 1519 – 1792, Göttingen 2015. 37 Zu der Vielzahl und vielfältigen Art der Quellen vgl. Burgdorf, Protokonstitutionalismus (Fn. 36), S. 21 – 26. 36

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ritorien. Während die Beratungen in Regensburg – zumindest theoretisch – in ein starres Rangschema getrennter Ständekurien eingezwängt und damit auch ähnlichen Kommunikationsregeln und Öffentlichkeitsrestriktionen unterworfen waren wie die ständischen Beratungen in den Territorien, drang auch von den hinter verschlossenen Türen geführten Verhandlungen der einzelnen Kurien viel nach außen, und für Geld waren in Regensburg letztlich alle Informationen zu haben.38 Beratungsprotokolle der Kurien, Denkschriften und viele Informationen über die inneren Angelegenheiten des Reiches und die internationale Politik fanden so auch über die „Drehscheibe Regensburg“ Eingang in die Medienberichterstattung des Reichs und der internationalen Presse, wobei die teilweise sehr spezialisierten juristischen Gutachten und Streitschriften auch des Regensburger Alltagsgeschäftes wie die Schriften zur Reichsreform eher ein beschränktes Publikum interessiert haben dürften.39 Im Gegensatz dazu war der Nachrichtenwert zentraler Elemente des Verfassungszeremoniells im Reich allerdings sehr hoch. Das lässt sich nicht nur, aber ganz besonders gut an den ausführlichen Berichten über Königswahlen und Krönungsakte in Frankfurt ablesen. Darüber wurde in allen Zeitungen immer ausführlich berichtet. Bei der Wahl Josephs II. zum römischen König am 27. März 1764 in Frankfurt etwa wurde keineswegs nur über Pomp und Zeremoniell im Sinne der Habermas’schen „repräsentativen Öffentlichkeit“ berichtet, sondern detailliert auch über verschiedene verfassungsrechtliche Hintergründe wie z. B. die Tatsache, dass das Faktum der Wahl auf einem Kollegialtag der Kurfürsten im Januar entschieden und die Wahlkapitulation im März vor der eigentlichen Wahl ausgehandelt werden musste.40 Nach erfolgtem Abschluss dieser Verhandlungen konnte man auch die einzelnen Stufen und Details des Rechtsakts der Wahl und der Krönung (bis hin zur notariellen Aufzeichnung der Eide der Kurfürsten) in der Presse verfolgen. Selbst im Wienerischen Diarium, der offiziösen Zeitung des Wiener Hofes, war zu lesen, dass mit Ausnahme der geistlichen Kurfürsten alle anderen Kurfürsten gar nicht mehr selbst zur Kaiserkrönung nach Frankfurt gekommen waren, sondern sich 38 Zu den realen Verfahren vgl. u. a. Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider: Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008, S. 202 – 207. 39 Vgl. Susanne Friedrich, Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700, Berlin 2007, hat die Funktion des Reichstags für die Berichterstattung im Reich und in der internationalen Presse sowie die Regensburger Informationskanäle detailliert herausgearbeitet. 40 Vgl. z. B. die Berichterstattung des Wienerischen Diarium zu dem Kollegialtag, die neben umfangreicher Darstellung von anreisendem Personal und Zeremoniell durchaus, wenn auch knapp über das Recht der Kurfürsten, eine Wahl zu Lebzeiten des amtierenden Kaisers einzuleiten – oder auch nicht einzuleiten – sowie über das Ergebnis der Beratungen informierte. Vgl. Wienerisches Diarium, 11. Januar 1764, S. 4 f., 25. Februar 1764, S. 2 – 4 u. 9 f., sowie 29. Februar 1764, S. 3, die Nachricht aus Frankfurt vom 20. Februar: „Dem vernehmen nach ist nun die Frage: ob? entschieden und mit Ja ausgefallen, daß demnach auf diesem Churfürstl. Collegial=tag bald andere wichtige, und erfreuliche Handlungen folgen werden.“ Zum gesamten Vorgang der Wahl auch Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider (Fn. 38), S. 233 – 239.

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durch ihre Bevollmächtigten hatten vertreten lassen,41 und dass die Vertreter der protestantischen Fürsten der dem Wahlakt vorgeschalteten Messe nur phasenweise beiwohnten, sie vor dem Abendmahl verließen und erst zum Wahlakt in den Dom zurückkehrten.42 Etwas kaschiert wurde in der Zeitungsberichterstattung allerdings, dass der Kaiser bei dem anschließenden Festmahl im Römer nur mit den drei geistlichen Kurfürsten gespeist hatte und die Plätze der weltlichen Kurfürsten und Fürsten leer geblieben waren, da deren Vertreter, die sogenannten Wahlgesandten, nicht mit dem Kaiser in dem Saal speisen durften.43 Obwohl einerseits nicht abzustreiten ist, dass gerade im Bereich der Zeremoniellberichterstattung und nicht zuletzt auch vom Wiener Hof viele Nachrichten verbreitet wurden, deren Nachrichtenwert gering war und die eher zur Kategorie der ,Ablenkungsöffentichkeit‘ gerechnet werden müssen, so zeigt eine genauere Lektüre zeitgenössischer Zeitungen, dass man andererseits von sehr vielen politischen Vorgängen aus öffentlich verfügbaren Medien eine detailliertere Kenntnis erhalten konnte, als von Historikern lange gemeinhin angenommen wurde. Besonders die Arbeiten von Würgler und Arndt konnten sehr überzeugend darlegen, dass die mediale Berichterstattung und Möglichkeit, wenn man es wollte, doch erstaunlich viele Details über politische Vorgänge zu erfahren, zentral waren, um auf allen Ebenen der Öffentlichkeit „Verständigung über politische Prozesse zu ermöglichen“. Diese Verständigung resümiert Arndt abschließend auch unter dem Begriff des ,Aushandelns‘ – „ein[em] Sammelbegriff, der unterschiedliche Prozesse der asymmetrischen Kommunikation über Machtangelegenheiten und Gemeinwohl zusammenfasst“.44 In diesem Sinne ist mediale Berichterstattung und die Information breiter, nicht direkt zum Bereich der Herrschaft oder einer privilegierten Bildungsöffentlichkeit gehörender Bevölkerungskreise wesentlich mehr als nur leere Informationszeremonie, sondern Teil politischer Legitimationsprozesse und Voraussetzung auch für politische Handlungsfähigkeit.

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Wienerisches Diarium, Nr. 29, v. 11. April 1764, S. 3, die Nachricht aus Frankfurt v. 2. April 1764. Man erfuhr allerdings die Gründe dafür nicht: Die Fürsten wollten die mit dem Zeremoniell der Kaiserkrönung verbundene Aktivierung der Erbämter, d. h. die Bedienung des Kaisers beim Mahl etc., auf keinen Fall ausführen, da sie damit ihre Unterordnung unter den Kaiser deutlich zur Schau gestellt hätten. 42 Wienerisches Diarium, Nr. 28 v. 7. April 1764, S. 2, die Nachricht aus Frankfurt v. 29. März 1764. 43 Vgl. Wienerisches Diarium Nr. 30 v. 14. April 1764, Beilage: „Beschreibung der Feyerlichkeiten, welche an dem Krönungstag des Röm. Königs Majest. den 3. April 1764 zu Frankfurt vor = und nach der Krönung beobachtet worden“, S. 3. Zum ganzen Vorgang sowie zu Goethes bekannter Beschreibung dieser Szene vgl. Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider (Fn. 38), S. 242 – 244. 44 Arndt (Fn. 15), S. 505 f. Zum Begriff des ,Aushandelns‘ mit Bezug auf Wolfgang Reinhard, Zusammenfassung. Staatsbildung durch ,Aushandeln‘?, in: Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 429 – 438.

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IV. Beteiligung der Öffentlichkeit im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren Abschließend soll dieser Frage der Spielräume des ,Aushandelns‘ in der Frühen Neuzeit, also der verfassungsmäßig vorgesehenen Einflussmöglichkeiten breiterer Bevölkerungskreise auf politisch-administrative Entscheidungen nachgegangen werden. Das Feld, an dem man solche Prozesse – und die Auseinandersetzungen um mögliche Mitwirkungsrechte – am besten beobachten kann, ist der Bereich der Gesetzgebung. Die Frage des Mitwirkungsrechts der Stände an den Gesetzgebungsverfahren der Territorien des Reiches gehörte im 17. und 18. Jahrhundert zu den umstrittenen, aber zeitgenössisch wie in der modernen Historiographie intensiv untersuchten Fragen der Reichsgeschichte. Schon zeitgenössisch gab es die beiden extremen Positionen: einerseits die Position der völligen Unabhängigkeit des Herrschers, dessen Souveränität sich, wie Bodin es formulierte, besonders in seiner unumschränkten Gesetzgebungsgewalt manifestiere;45 andererseits die von Reichsrechtlern wie Johann Jakob Moser, der immer wieder betonte, dass im Reich kein Fürst eine unumschränkte Herrschaftsgewalt besäße und daher immer einer Mitwirkung von Ständen an Gesetzgebungsverfahren bedürfe. „Kein Teutscher Landes Herr“, schreibt Moser, „hat einen ohnumschränkten Gewalt“.46 Zwischen diesen beiden Polen entfaltete sich im 17. und 18. Jahrhundert eine außerordentlich vielgestaltige Praxis, deren zentrales Charakteristikum war, dass sie von Territorium zu Territorium unterschiedlich ausfiel. Diese Vielgestaltigkeit lässt sich, wie Zeitgenossen wie Moser und die moderne Rechtsgeschichte gleichermaßen beobachtet haben, in eine gewisse Typologie der Gesetzgebungsverfahren bringen. In der Theorie gab es Gesetze, die auf Anregung der Stände erarbeitet und erlassen wurden, solche, die mit ihrem gutachterlichen Rat verfasst wurden, sowie Gesetze, die nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Stände in Kraft treten konnten. Dazu kamen Verträge und Vergleiche, die gleichberechtigt zwischen Ständen und Landesherren ausgehandelt wurden und grundlegende Angelegenheiten regelten. Sie wurden als sogenannte Landtagsabschiede veröffentlicht. In der Praxis hatten die Landesherren an diesen Formen der ständischen Mitwirkung bekanntlich kein Interesse. Sie beriefen die Stände meist jahrelang nicht ein, versuchten sie ganz auszuschalten oder regierten, wie z. B. in Württemberg, allenfalls 45

Vgl. zu der bekannten Position Bodins für den vorliegenden Kontext z. B. Heinz Mohnhaupt, Die Mitwirkung der Landstände an der Gesetzgebung. Argumente und Argumentationsweisen in der Literatur des 17. Jahrhunderts, in: FS Sten Gagnér, München 1991, S. 249 – 264, hier 252. Vgl. dazu mit den gleichen Bezugnahmen und ausführlicher Andreas Würgler, Desideria und Landesordnungen. Kommunaler und landständischer Einfluß auf die fürstliche Gesetzgebung in Hessen-Kassel 1650 – 1800, in: Peter Blickle u. a. (Hrsg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, München 1998, S. 149 – 207, hier 154. 46 Johann Jakob Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, deren Landständen, Unterthanen, Landes-Freyheiten, Beschwerden, Schulden und Zusammenkünften […], Frankfurt a. M./Leipzig 1769, S. 1146, zit. nach Würgler, Desideria und Landesordnungen (Fn. 45), S. 154 f. (Der Satz steht bei Moser als Kapitelzusammenfassung in einer Marginalie).

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mit einem ständischen Ausschuss. De facto erlosch der Einfluss der Stände allerdings selten ganz. Und über diesen ständischen Einfluss gab es immer auch eine indirekte Beteiligung einer breiteren Öffentlichkeit. Dies hat vor allem Andreas Würgler in verschiedenen Arbeiten gezeigt. Der Weg ging über die Desideria oder Gravamina der Landschaft, die bei Landtagen vorgelegt wurden, oder zum Teil auch über Suppliken, die direkt an den Landesherrn eingereicht wurden. Diese Quellengattung ist in den letzten zwei Jahrzehnten intensiver ins Blickfeld der Frühneuzeitforschung geraten – als Dokumente, in denen Individuen und Gemeinden oder auch andere Körperschaften sich an die Herrschaft wenden und Beschwerden oder Forderungen vorbringen konnten. Das Recht, mit solchen Eingaben bei der Herrschaft vorstellig zu werden, war praktisch ein verfassungsmäßiges Grundrecht. Besonders Eingaben von Gemeinden und anderen Korporationen leiteten häufig solche politischen Aushandlungsprozesse ein – in deren Verlauf die Petitionen selbst auch oft in die Öffentlichkeit gelangten.47 In einer Untersuchung zu Hessen-Kassel konnte Würgler zeigen, dass die im späten 17. und im 18. Jahrhundert von der Ritterschaft oder den Städten vorgelegten Gravamina fast ausnahmslos zu Gesetzgebungsverfahren führten – und zwar in einer Form, die diesen Beschwerden Rechnung trug. An dem hessischen Beispiel konnte außerdem gezeigt werden, dass die Formulierung von Gravamina und kollektiven Suppliken, die dem Landesherrn vorgelegt wurden, in aller Regel auf breiten Diskussions- und Abstimmungsprozessen auf örtlicher oder regionaler Ebene basierten. In städtische Gravamina waren in aller Regel auch Anregungen aus dem jeweiligen Umland, das nicht offiziell auf den Landtagen vertreten war, eingegangen. Würgler kommt daher zu dem Schluss, dass in einem Territorium wie Hessen-Kassel die Gesetzgebung normativ auch ein Monopol des Fürsten gewesen sein mag, „nicht aber praktisch. Von 1650 – 1800 hatten die Landstände in Hessen-Kassel erheblichen Anteil an der staatlichen Ordnungs- und Gesetzgebungstätigkeit“.48 Ähnliche Befunde wurden auch bereits für andere Territorien herausgearbeitet.49 Das Instrument der Gravamina und Suppliken hat zusammen mit der Möglichkeit, Auseinandersetzungen zwischen Herrschaft und Ständen oder unterschiedliche Rechtsinterpretationen auch vor das Reichskammergericht zu bringen, zu einer erheblichen Kommunikationsverdichtung über Fragen der lokalen sowie der Landes47 Vgl. Helmut Neuhaus, „Supplizieren und Wassertrinken sind jedem gestattet“. Über den Zugang des Einzelnen zum frühneuzeitlichen Ständestaat, in: FS Quaritsch, Berlin 2000, S. 475 – 492; Rosi Fuhrmann/Beat Kümin/Andreas Würgler, Supplizierende Gemeinden, Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung, in: Blickle u. a. (Hrsg.), Gemeinde und Staat (Fn. 45), S. 267 – 324; Andreas Würgler, Bitten und Begehren. Suppliken und Gravamina in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung, in: Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hrsg.), Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert), Berlin 2005, S. 17 – 52. 48 Würgler, Desideria und Landesordnungen (Fn. 45), S. 206. 49 Vgl. z. B. Martin P. Schennach, Gesetz und Herrschaft. Die Entstehung des Gesetzgebungsstaates am Beispiel Tirols, Köln/Weimar/Wien 2010.

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und Reichspolitik auf allen Ebenen der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit, auch in der von Körber als eher passiv wahrgenommenen Informationsöffentlichkeit, geführt.

V. Zusammenfassung Was lässt sich auf der Grundlage dieser knappen Beobachtungen und der Zusammenfassung einiger wichtiger neuerer Studien festhalten über das Verhältnis von Verfassung und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit? Fünf Punkte sollen hier abschließend hervorgehoben werden: Es gab in der Frühen Neuzeit ein komplexes Verhältnis zwischen Ständevertretungen und einer breiteren Öffentlichkeit. Der physische Ausschluss dieser Öffentlichkeit bedeutete nicht, dass es keine inhaltliche Einflussnahme auf die Beratungen der Stände oder auch von Regierungsinstitutionen aus den Kreisen der allgemeinen Bevölkerung gegeben hätte. Die Gravamina und Suppliken machen dies deutlich. Dies waren keine Formen kontinuierlicher, sondern eher anlassgebundener Partizipation, aber dass diese Kanäle bei Bedarf aktiviert werden konnten, war als ,Verfassungswissen‘ allgemein und dauerhaft präsent. Die kontinuierlich steigende Verbreitung von Printmedien in der Frühen Neuzeit und ihre Vernetzung zu einem Mediensystem verwandelte die eher okkasionellen und örtlich begrenzten politischen Öffentlichkeiten zu einer überregionalen und internationalen permanenten Sphäre der Informationsöffentlichkeit. Zeitungen und Deduktionen wurden an zahlreichen Stellen auch gesammelt. Die gedruckten Informationen des frühneuzeitlichen Mediensystems waren zudem bei Bedarf auch erneut abrufbar, mit zusätzlichen Informationen vergleichbar und daher offen für kritische Reflexion. Die Medien fungierten daher gewissermaßen auch als ein öffentliches Archiv. Auch wenn frühneuzeitliche Öffentlichkeit durch Formen des abgestuften Zugangs zu politischer Information und Partizipation und durch diskontinuierliche Formen der Verständigung und des Aushandelns gekennzeichnet war, so ist dennoch deutlich, dass kritische Öffentlichkeit im Sine des qualitativen Öffentlichkeitsbegriffs von Habermas’ räsonierendem Publikum der bürgerlichen Öffentlichkeit keine grundsätzlich neue Erscheinung des ausgehenden 18. Jahrhunderts und der sogenannten bürgerlichen Gesellschaft war. In verschiedenen Vorformen und Spielarten gab es deliberative, rationale Öffentlichkeiten auch schon in den Jahrhunderten davor. Das Beispiel der Kaiserkrönung zeigte, dass es eine wichtige Interaktion nicht nur zwischen politischen Beratungen und Medienberichterstattung, sondern auch zwischen politischem Zeremoniell und der Presse gab. In den Zeitungsberichten wurden

Öffentlichkeit und Verfassung in der Frühen Neuzeit

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diese im Detail festgehalten, von der „Anwesenheitsöffentlichkeit“ (Schlögl)50 der performativen Akte entkoppelt und einer breiten Informationsöffentlichkeit ,mediatisiert‘ zugänglich gemacht. Die Breite der Beschreibungen zentraler Staatszeremoniells in der Presse mag auch den Versuch widerspiegeln, die Kluft zwischen Anwesenheits- und Medienöffentlichkeit zu überbrücken und das Zeremoniell somit auch aus der Distanz erfahrbar zu machen. Öffentlichkeit und Verfassung waren mithin auch in der Frühen Neuzeit auf verschiedenen Ebenen und über verschiedene Informations- und Teilhabemodi und rechte miteinander verzahnt. Die Dynamik des Mediensystems der Frühen Neuzeit muss als ein ganz wesentlicher Katalysator dafür angesehen werden, dass sich diese Verflechtungen im Laufe des 18. Jahrhunderts soweit verdichteten, dass die Forderung nach Öffentlichkeit von Parlamentsberatungen und nach Transparenz staatlichen Handelns zu zentralen Verfassungsforderungen frühliberaler Bewegungen werden konnten. Es war nicht das vollständige Fehlen politischer Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit, das diese Forderungen ausgelöst hatte, sondern die Erfahrung, dass okkasionelle und regional beschränkte Öffentlichkeitsformen über die Medien ausweitbar waren und eine Nation als ganze erreichen und am politischen Prozess beteiligen konnten.

50 Vgl. Rudolf Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155 – 224.

Aussprache Gesprächsleitung: Schilling Schilling: Eines ist sehr deutlich geworden. Wenn wir von der Formel quod omnes tangit sprechen, müssen wir uns nicht nur fragen, wer denn omnes sind, sondern auch, was aprobari debet bzw. approbetur meint. Welche Formen und Verfahren der Beteiligung sind möglich? Im Laufe der Frühen Neuzeit ist fraglos eine Differenzierung der Formen der Beteiligung an im weitesten Sinne die Verfassung betreffenden Entscheidungen erfolgt – unter anderem durch die Ausdifferenzierung des Mediensystems. Zu dieser Entwicklung liegen inzwischen nicht zuletzt von Ihnen vielfältige Beiträge vor, die es erlauben, die Vielfalt der Formen der Beteiligung genauer ins Auge zu fassen, gegeneinander abzugrenzen, aber auch in ihrem Zusammenspiel zu erfassen. Schmidt: Herr Gestrich, vielen Dank für die hochdifferenzierte Darstellung dieses Problems von Verfassung und Öffentlichkeit. Ich frage mich manchmal, ob man es sich nicht künstlich kompliziert macht und nicht vielleicht doch mit dem Habermas’schen Begriff der räsonierenden oder kritischen Öffentlichkeit weiterkäme. Meine Frage ist: Sind die Stände wirklich Teil der Öffentlichkeit oder gehören sie nicht in die andere Sphäre, über die die Öffentlichkeit berichtet, nachdenkt, einen Diskurs führt? Wenn man die Flugschriften anschaut, würde das meines Erachtens besser das Modell erklären zwischen den Normen, die gesetzt werden und in die dasjenige, was in der Öffentlichkeit diskutiert wird, mit eingeht, aber davon unabhängig gibt es einen öffentlichen Diskurs. Wie sagt der Parlamentarier immer: Stimmen Sie mir zu? Gestrich: Teils, teils. Sie sprechen mit der Frage, ob die Stände Teil der Öffentlichkeit sind, zwei Problemkontexte an, die zu unterschiedlichen Antworten auf Ihre Frage geführt haben. Es gibt in der Forschung die berechtigte Tendenz, dass die Stände auf die Seite der Regierung zu schlagen sind. Dies lässt sich zum Teil sogar mit sozialhistorischen Argumenten untermauern. Wenn man z. B. die württembergische Seite nimmt, wissen wir, dass es durch ihre soziale Zusammensetzung eine extrem enge Verflechtung zwischen Ständen und Regierung gibt. Die familiaritas zwischen Ständen und Regierung ist in Württemberg extrem eng. Es ist hier daher auch aus diesen soziologischen Gründen kaum möglich, zwischen Regierung und einer sie kontrollierenden ständischen Öffentlichkeit zu unterscheiden. Das ist aber der Sonderfall eines Landes, das keinen landsässigen Adel hat. Sieht man dagegen Ständevertretungen an, die in sich sozial differenzierter sind, wenn man in den Ständevertretungen also Vertreter des Adels und der Städte hat, die Regierungen aber deutlich

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vom Adel dominiert werden, dann wird es schon komplizierter, diese alle in eine Kategorie einzuordnen und zur Regierung zu zählen. Aus der Sicht eines Zeitgenossen wie Johann Jakob Moser, der Syndikus und Mitglied des Ausschusses einer nicht mehr funktionierenden Ständevertretung war, blieb sogar die rudimentäre Ständevertretung in Württemberg noch eine Institution, die gegen die absolute Gewalt des Herrschers und – in Klammer: damit auch seiner Regierung – stand. Ich bin daher zu dem Schluss gekommen, dass der Vorschlag von Esther Beate Körber, einfach von Machtöffentlichkeit zu reden und ihr die Stände zuzurechnen und sie damit in einer dieser Ambivalenz zu lassen, nicht ganz falsch ist. Der zweite Teil Ihrer Frage: Klar, es gibt dieses räsonierende Publikum und ich hatte auch in meiner eigenen Habilitationsschrift versucht, herauszuarbeiten, dass dieses kritische politische Räsonnement über das entstehende Fach des Staatsrechts und über die in diesem Zusammenhang aufkommenden politischen Zeitschriften, Zeitungskollegs und Quelleneditionen an die Universitäten kommt. Es entstand dadurch eine sehr komplexe, qualitativ argumentierende, nicht unbedingt, aber häufig auch im Bereich der Regierung tätige oder irgendwie tangential damit verbundene Öffentlichkeit. Das war eine gebildete Öffentlichkeit, die sich für viele Dinge interessierte und Politik auch kritisch wahrnahm. Wenn zum Beispiel lange Berichte über die Gründe von Kriegserklärungen in der Presse stehen, muss es jemand gelesen, muss es jemanden interessiert haben. Das heißt, es muss auch eine interessierte politische Öffentlichkeit über den engen Bereich der gelehrten Zeitschriftenleser hinausgegeben haben. Was aber Habermas’ Modell einer räsonierenden Öffentlichkeit anbetrifft, so ist das Problem, dass die strikte Trennung, die Habermas zwischen Regierung und Zivilgesellschaft macht, sehr künstlich ist und gerade für Deutschland so nicht funktioniert. An den Reformdiskursen des 18. Jahrhunderts, die z. B. Burgdorf behandelt hat, sieht man, dass die Personen, die sich auch regierungskritisch äußern, aus regierungsnahen Kreisen kommen. Die kategorische Trennung zwischen Öffentlichkeit auf der einen Seite und Regierung auf der anderen funktioniert so einfach nicht. Selbst das Mediensystem, die Zeitungen, sind ein Instrument, das nur mit der Duldung und Beförderung der Herrschaft existieren kann. Man kann nicht jeden Tag eine Zeitung herausgeben, wenn der Landesherr das nicht duldet. Man kann ein einzelnes subversives Flugblatt machen, aber eine regelmäßige Zeitung kann man nicht ohne staatliche Tolerierung herausgeben. Das ist meines Erachtens ein ganz wichtiger Aspekt des Zusammenwirkens von Staat und Gesellschaft bei der Entstehung einer räsonierenden politischen Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit. Schilling: Es geht in diesem Zusammenhang auch immer um Rollenzuschreibungen und Rollenselbstzuschreibungen – und es gibt geradezu virtuose Rollenwechsel. Als Beispiel sei an Voltaire erinnert, der an einem Tag als Repräsentant der kritischen Öffentlichkeit auftritt, um am nächsten Tag seine engen Beziehungen zum französischen Hof spielen zu lassen. Das eine schließt das andere nicht aus. Aber es sind unterschiedliche Rollen, die man einnimmt.

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Schmidt: Die Durchlässigkeit ist selbstverständlich. Eine strikte Trennung wäre völlig verfehlt. Aus juristischen Gründen diese Trennung zu machen, um die beiden Sphären besser auseinanderhalten und erklären zu können, scheint auch mir logisch. Andererseits sollte man die Menge der Flugschriften bedenken, die oft aufeinander reagierten und so eine nationale Öffentlichkeit generierten. Grothe: Ich möchte eine Frage stellen, die sich auf die Begrifflichkeit bezieht. Sie haben ja von Körber die Dreidimensionalität der Öffentlichkeit übernommen: Machtöffentlichkeit, Bildungsöffentlichkeit, Informationsöffentlichkeit, wobei Sie den mittleren Begriff mehr oder weniger haben fallen lassen. Ich habe generell Zweifel, ob diese drei Begriffe geeignet sind, das zu beschreiben, was man in den Quellen findet. Ist es nicht eventuell besser, von einer landständischen oder ständischen Öffentlichkeit zu reden und von einer Medienöffentlichkeit, was eher abbildet, wer beteiligt ist an diesen Vorgängen, an dieser Öffentlichmachung. Macht ist ein ganz vielschichtiger Begriff, und Bildung ist sowieso ein viel zu differenzierter Vorgang, als dass man ihn anwenden kann auf eine Art Öffentlichkeit. Ist es eine gebildete Öffentlichkeit, oder ist es der Zweck, der damit erreicht werden soll? Von daher ist mir diese Begrifflichkeit unklar. Nun kann man sagen, sie ist von Körber und nicht von Ihnen. Aber Sie haben sie ja zum Teil übernommen. Insofern mache ich Sie jetzt haftbar dafür. Gestrich: Ich habe lange damit gekämpft, ob ich den Begriff von Körber so übernehmen soll. In meiner eigenen Arbeit habe ich es nicht getan, sondern habe strikt zwischen einer höfischen Öffentlichkeit, einer ständischen, und einer Medienöffentlichkeit getrennt, also in etwa so, wie Sie dies vorgeschlagen haben. Ich habe aber unter anderem in Reaktion auf die Problematik, die in der Frage von Herrn Schmidt aufkam, zu welcher Sphäre die Stände gehören, gedacht, dass der Begriff der Machtöffentlichkeit nicht ganz schlecht ist und eine gewisse Synthetisierung von uneindeutigen Institutionen oder Akteuren erlaubt. Ich habe das auch nicht ganz ohne Bedenken gemacht. Es gibt mittlerweile so viele Versuche, ein System für die frühneuzeitliche Öffentlichkeit zu entwickeln, wie es Schriften dazu gibt. Was ich mit dem Körberschen Begriff der Informationsöffentlichkeit, mit der durch das Mediensystem integrierten Öffentlichkeit, übernommen habe, liegt quer zu den anderen, auf Institutionen bezogenen Öffentlichkeitsformen. Insofern ist diese Abgrenzung problematisch. Ich sehe, was Sie meinen, und teile Ihre Bedenken weitgehend. S. Lepsius: Mich beschäftigt die Diskrepanz, die Sie aufgezeigt haben, zwischen der eher geringen Relevanz der Zeremonien und der erheblichen Berichterstattung über dieselben in den Blättern, also das relativ große Interesse der Presseöffentlichkeit. Ich hätte dazu zwei Thesen: Wenn diese neuen Zeitschriften als Medien über derartige Zeremonien berichten, dann könnte es daran liegen, dass man dafür eine eigene Augenzeugenschaft der jeweiligen Autoren in Anspruch nehmen kann, während in anderen Artikeln doch nur die gesamten Informationen, die man in Regensburg gegen Geld kaufen kann, im Grunde eins zu eins abgedruckt werden, es sich also um Dokumente, nicht Berichte handelte. Oder die andere These wäre: Es ist einfa-

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cher über Personen zu berichten, innerhalb der Logik dieser Medien, als über Sachfragen. Können Sie noch Näheres über die Logik dieser neuen Medien und ihren Beitrag zur Herstellung einer Öffentlichkeit ausführen? Gab es Autorennamen, die ihre Beträge kennzeichneten? Ist es diesen frühen Berichterstattern überhaupt wichtig, eigene Recherchebeiträge als solche zu kennzeichnen und sich damit hervorzutun? Was kann man über die Leser sagen? Wer hat sich diese Zeitschriften als Käufer oder Abonnent gehalten, wer hat darüber diskutiert? Kann man herausfinden, ob sich überhaupt jemand durch diese langweiligen Dokumentenanhänge über die verfassungsgeschichtlichen Aspekte der Krönung durchgearbeitet hat? Gestrich: Sie beziehen sich auf meine Darlegung der Diskrepanz zwischen dem geringen Interesse der Reichsstände an der Teilnahme an der Kaiserkrönung in Frankfurt und der intensiven Zahl der Berichterstattung. Ich habe das Wienerische Diarium zitiert, das relativ kaisernah, hofnah war und auch vom Hof gut mit Informationen versorgt wurde. Meine Vermutung bei den Anhängen ist, dass es sich um Berichte handelt, die vom Hofmarschall konzipiert wurden. Sie enthalten so detaillierte Informationen, dass sie mit diesem Amt zumindest abgestimmt worden sein müssen. Interessiert das jemanden? Das ist natürlich eine Frage, die man auf zwei Weisen beantworten kann. Der Bericht über die Kaiserkrönung im Wienerischen Diarium hat einen ersten, kürzeren Teil auf Seite 2 der Zeitung und dann gibt es Anhänge mit ausführlichen Beschreibungen zu den Ereignissen in Frankfurt. Es gibt also eine Kurz- und eine Langversion. In der Langversion steht: Der zieht vor dem ein, und der hat so und soviel Bedienstete. Das sind Fragen, die sich der Adel anschaut. Das glaube ich schon. Das ist das offizielle öffentliche Dokument über einen zeremoniellen Akt, bei dem im Zweifelsfall Präzedenzen und ähnliche im politischen Zeremoniell relevante Dinge festgelegt wurden. Für mich interessant ist an diesen ausführlichen Zeitungsberichten, dass das, was bisher Anwesenheit voraussetzte und nur in Frankfurt zu sehen war, über den Druck nun eine große Reichweite erhält. Damit wird die okkasionelle und lokale Begrenzung, die der symbolischen Kommunikation inhärent war, für einen großen Kommunikationsraum geöffnet. Wer die Zeitungen liest und über ihre Inhalte diskutiert, darüber weiß man bei unterschiedlichen Zeitungen unterschiedlich genau Bescheid. Über die Auflagenhöhen und die Distribution von manchen Zeitungen findet man aus manchen Jahren mal Listen. Die Zeitungen sind schon im 18. Jahrhundert regional sehr breit vertrieben worden. Wir wissen z. B., dass man um die Wende zum 18. Jahrhundert an Hamburger Kiosken weit über 10 Tageszeitungen aus dem ganzen Reich kaufen konnte. Das ist wichtig, denn interessant war schon immer auch der Vergleich von Zeitungen. Was über eine Herrschaft in der einen Zeitung nicht geschrieben wird, darüber steht irgendwo anders etwas in der Zeitung. Kaffeehäuser und Wirtshäuser dienten auch noch als Multiplikatoren. Es gibt schöne Dokumente, in denen sogar dörfliche Zeitungsbezugsgemeinschaften beschrieben wurden: Der Dorfschultes hat eine Zeitung und gibt sie weiter an den Lehrer usw. Also ein Lesezirkel, der die Bezugskosten für die Einzelnen senkte und die Zahl der Leser pro Exemplar multiplizierte.

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Althoff: Ich habe viel gelernt aus Ihrem Vortrag und möchte nur fragen, ob die Notwendigkeit zur Geheimhaltung, zum Ausschluss von Öffentlichkeit, vielleicht gar nicht in erster Linie durch die verhandelten Sachen und Themen bedingt war, sondern durch das Problem, dass sich die Kommunizierenden eine kontroverse Kommunikation, die unter Umständen sogar im Streit endete, gar nicht leisten konnten, weil diese wie im Mittelalter immer noch mit dem Spannungsfeld von Ehre und Beleidigung kollidierte. Das größte Hindernis einer freien Kommunikation war, dass vor Zuhörern sich Leute, wenn sie ranggleich oder rangunterschiedlich waren, nicht widersprechen konnten oder sich gar im Streit Argumente um die Ohren schlagen konnten. Es wird schon im Mittelalter der Ruf erhoben, man solle doch rationabiliter argumentieren, d. h. lediglich alle sachlichen Argumente auf den Tisch bringen. Das ging aber nur, wenn eine Situation der familiaritas, der vertrauten Nähe, herrschte. Das hat dazu geführt – und ich habe das Gefühl gehabt, in Ihren Jahrhunderten galt das auch noch – dass man alles umformulieren musste. Man musste Forderungen als Bitten kaschieren, man musste Kritik als Mahnung umschreiben, und Zugeständnisse von Seiten der Herrschaft als gnädiges Gewähren. Das hat die ganze Diskussion entscheidend bestimmt. Ich hatte das Gefühl, das galt auch noch in Ihren Zeiten. Gestrich: Vieles war im 18. Jahrhundert genauso, wie Sie es beschrieben haben. Kritik wurde von den Herrschern und anderen oft als Beleidigung interpretiert. Das sieht man an den von mir angeführten Konflikten. Ich gehe aber zuerst noch einmal zu dem Beispiel des englischen Parlaments zurück. Es gab dort viele Konflikte, die daraus entstanden, dass der König nachträglich hörte – er war ja gar nicht selbst anwesend – dieser oder jener habe im Parlament das und das über ihn oder die Regierung gesagt. Dadurch fühlte er sich beleidigt und verfügte, diese Person zu verhaften. Dadurch entstanden Konflikte zwischen Parlament und Krone, die zum einen dazu führten, dass das Recht auf freie Rede Verfassungsrang erhielt und der englische König nicht ins englische Unterhaus darf. Das letzte Mal wurde im englischen Parlament die alte Intervention um Nichtmitglieder aus dem Saal zu entfernen, der Ruf „I spy strangers“, eingesetzt, um Edward VII., der auf der Zuschauertribüne saß, aus dem Saal zu bringen. Es führte zum anderen zu der Sitte, dass im englischen Parlament keine Namen von Parlamentariern genannt werden. Die Anrede für andere Parlamentarier lautet immer „the honorable member“. Das hat diesen Beleidigungshintergrund und ist etwas, was bis heute als Sitte beibehalten wurde. Niemand wird mit Namen angeredet. Ihre Beobachtung bezieht sich sicher auch auf das von mir angeführte Beispiel der friesischen Stände. Auch Stände mussten, wenn sie vom Herrscher etwas wollten, dies in entsprechend untertäniger Form kommunizieren. Wenn diese Form verletzt wurde, hatte das Folgen und spielte auch bei eventuellen Gerichtsverfahren vor den Reichsgerichten eine Rolle. Trotz eventueller Sympathie für die Inhalte der landständischen Beschwerden stellte sich dann auch der Kaiser auf die Seite des Landesherrn. Die Frage, ob die Inhalte das Primäre waren oder die formalen Aspekte der Kommunikation: Ich würde sagen, die Regelungen kommen aus diesem Ehrkontext

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heraus und sind keine Folge der Gegenstände der Beratungen, also ob über Feuerversicherung oder Krieg geredet wird. Ruppert: Ich habe eine Verständnisfrage. Ich kann mir nicht genau vorstellen, wie dieses Pressesystem funktioniert hat, das Sie für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts und das 18. Jahrhundert dargestellt haben. Wie haben die denn ihre Nachrichten bekommen? Wie erfährt eine Zeitung in Württemberg, was in Mecklenburg los war? Gibt es nur lokale, oder gibt es reichsweite Zeitungen und wie kommen sie an ihre Informationen? In dem Zusammenhang ist mir aufgefallen, wenn man unter Verfassung auch politisches System versteht, dann ist eine ausgesprochen wichtige Quellengattung die Literatur. Wenn man in Deutschland hinschaut: Die schärfste und die früheste Kritik am Ständesystem, am Hofsystem und an der Adelsgesellschaft, wird in der Literatur geäußert. Das wäre eine Quellengattung, die man unbedingt mitberücksichtigen müsste. Gestrich: Das Rückgrat dieses Pressewesens, das ab dem 17. Jahrhundert entstand, also von kontinuierlich und in regelmäßigen Intervallen oder sogar täglich gedruckten Zeitungen, war die Reichspost. Die hohe Geschwindigkeit, die die Nachrichtenübermittlung mit der Thurn-und-Taxis-Post erreicht hat, ermöglichte eine ziemlich aktuelle Berichterstattung. Die enge Verbindung zwischen Reichspost und Presse kann man auch daran sehen, dass viele der frühen Zeitungsherausgeber Postmeister waren. Sie hatten das Privileg kostenlos Briefe mit der Reichspost zu transportieren. Das senkte die Portokosten und damit auch die Produktionskosten ganz erheblich. Wenn man sieht, wie Johann Jakob Moser, Johann Christian Lünig unter anderem sich beschwert haben, wieviel Geld sie privat in ihre Korrespondenz investieren mussten, um an die ganzen Dokumente und Nachrichten zu gelangen, die sie publizieren wollten, merkt man, dass die Portokosten einen erheblichen Teil der Produktionskosten solcher Publikationen darstellten. Bei den zum Teil schon täglich erscheinenden Zeitungen wäre dies besonders ins Gewicht gefallen. Die Postmeister haben sich teilweise bei der Herausgabe von Zeitungen mit Druckern zusammengetan. Drucker haben ein anderes Interesse. Sie haben Druckerpressen, die ausgelastet werden sollen. Wenn man Bücher druckt, dann hat man vielleicht keinen Nachfolgeauftrag mehr, wenn das Buch gedruckt ist. Wenn sie die regelmäßigen Zeitungen herausgeben, haben sie eine Grundauslastung ihrer Pressen. Nochmals zur Bedeutung der Post: Die Nachrichten werden so gesetzt, wie die Postkurse einlaufen. Deshalb stehen Nachrichten aus einem Ort eigentlich immer am gleichen Ort, an der gleichen Stelle in der Zeitung. Wenn eine Zeitung alle zwei, alle drei Tage erscheint, dann erscheinen jeweils die Nachrichten aus den Orten von den Postkursen, die in diesem Zeitraum ankommen. Zur zweiten Frage: Es gibt bereits eine erstaunlich weite Spannbreite von Kritik an Staats- und Regierungsdingen, die in akademischen Schriften formuliert wird. Sie ist weitgehend ungefährlich, weil sie meist in lateinisch verfasst ist. Auf jeden Fall unterliegt sie einer weniger scharfen Zensur als z. B. Zeitungen. Auch die Literatur ist

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in der Tat ein wichtiger Ort der Kritik und des Räsonnements quer durch die Frühe Neuzeit hindurch. Ruppert: Die hatte noch Möglichkeiten, die die Presse nicht hatte. Die musste genehmigt werden, musste privilegiert werden. In der Literatur wurden Verhältnisse in der Antike geschildert oder an italienischen Höfen, und jeder Zuschauer in Deutschland wusste, wer gemeint war. Da konnte man Dinge sagen, die man in der Presse nicht sagen konnte. Gestrich: Klar. Das klassische Beispiel in der englischen Literatur ist Swifts „Gulliver’s Travels“. Das ist kein Kinderbuch, sondern eine bitterböse Satire auf den englischen Hof und die britische Rolle im Spanischen Erbfolgekrieg. In England konnte man das drucken, weil es seit dem Ende des 17. Jahrhunderts keine Vorzensur gab. Die wurde 1694 abgeschafft. Man musste sich aber dennoch bei kritischen Druckerzeugnissen vor einer Strafverfolgung auf der Grundlage des sogenannten Libel Acts, also vor einer Verleumdungsklage, fürchten. Swifts Buch ist daher zunächst anonym erschienen. Also selbst in relativ liberalen Verhältnissen wie in Großbritannien war auch in der Literatur scharfe Kritik, wenn sie unter die Haut ging, nicht ganz ohne Gefahr. Westphal: Herzlichen Dank, aber ich glaube, es gibt ein paar Fragen, die differenziert betrachtet und beantwortet werden müssen. Wenn man sich die Presse oder die Medienlandschaft des Alten Reichs bis beispielsweise 1648 ansieht, ist es etwas anderes, als wenn man auf die zweite Hälfte des 17. oder auch auf das 18. Jahrhundert schaut. Die zahlreichen aufklärerischen Journale und Intelligenzblätter und die historisch-politischen Abhandlungen stellen für die Medienlandschaft der Frühen Neuzeit einen Quantensprung dar. Deswegen ist es nicht ratsam, die Frühe Neuzeit unter medialen Aspekten insgesamt zu bewerten. Bitte erlauben Sie aber auch den Hinweis, dass im 17. Jahrhundert das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im Bereich der Zeitungen führend ist, nicht etwa England. Auch im 18. Jahrhundert bleibt das Reich führend, wenn man die Quantität zugrunde legt. Dieses Phänomen hat seine Wurzeln im politischen System. Durch die Vielfalt der Territorien herrscht eine rege Medienkonkurrenz. Es entsteht vielerorts eine Fülle von Journalen und weiteren Medien. Im alten Reich sehen wir eine ganz andere Medienlandschaft als beispielsweise in Frankreich, wo man eine sehr stark gesteuerte, ja man darf sagen „von oben“ gesteuerte Medienlandschaft vorfindet. In beiden Fällen spielt die Korrelation von politischem System und Medienlandschaft eine ganz wichtige Rolle. Persönlich finde ich die Medienlandschaft im Reich aufgrund der Konkurrenzverhältnisse viel spannender. Vor diesem Hintergrund nun meine konkrete Frage: Was hält das Heilige Römische Reich Deutscher Nation eigentlich zusammen? Das ist die große Frage – und es gibt zahlreiche Antworten. Sie reichen über Institutionen zu Personal usw. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob es nicht auch das Wissen über die Verfassung ist, die im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation durch die Medienlandschaft so stark verbreitet ist wie in keinem anderen europäischen Land dieser Epoche. Gemeint ist das Wissen über die Verfassung, auch jenes über die Mechanismen der Ver-

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fassung, wie funktioniert sie auf Reichsebene, wie auf der territorialen Ebene? Eminent wichtig ist zum Beispiel das Wissen darüber, wie ein einzelner Untertan im Rahmen dieser Reichsverfassung seine Belange vortragen und was er auf dem Rechtsweg bewirken kann. Dies leitet schon über zum nächsten Punkt, zu den Prozessen an den höchsten Gerichten des Alten Reiches. Lange diskutierte die Forschung die Frage, woher die Untertanen ihr Wissen in Bezug auf diese doch komplex anmutende Materie bezogen, ergo: Woher wusste man, an welchen Gerichten man klagen konnte und an welche Instanzen man sich in welcher Form zu wenden hatte. Die Schlagworte „Juristen“ und „Beratungsaufgaben“ alleine tragen nicht. Dieser monokausale Ansatz wäre zu einfach. Dass der Adel über dieses Wissen in Bezug auf die Institutionen verfügte, um seine Interessen zu wahren, ist evident. Doch woher weiß ein Bauer, ein Bürger aus der Stadt oder ein Untertan im Kollektiv mit jeweils spezifischen Problemen und Belangen, aber dem gemeinsamen Wunsch Recht zu erhalten, ob er sich nach Wien oder Wetzlar wenden soll? Ob er vielleicht in Wetzlar größere Chancen hat als in Wien? Hierbei, beim Wissen über die Verfassung, ist die sehr stark ausdifferenzierte Medienlandschaft des Reiches ein zentraler Faktor. Gestrich: Ich gebe Ihnen in allen Punkten Recht, Frau Westphal. Ich habe die Entwicklung der Medien hier in der Tat nur in sehr groben Strichen skizziert. Zwischen 1607, wo wir mit dem Straßburger Aviso die erste gedruckte Zeitung überliefert haben, und dem ausgehenden 18. Jahrhundert, in dem es nochmals eine rasante Entwicklung in der Presselandschaft gab, ist natürlich viel passiert. Aber schon 1680 gibt es immerhin in Leipzig eine Tageszeitung, die wirklich täglich erscheint. Das Wienerische Diarium erschien drei Mal die Woche. Und wie im Reich jedes Land, das etwas auf sich hielt, eine eigene Universität hatte, so hatte auch fast jedes Territorium am Ende des 18. Jahrhunderts seine eigene Zeitung. Mein etwas maliziöser Verdacht war immer, dass die Ursachen für diese rasche Ausbreitung des Zeitungswesens im Reich auch darin lagen, dass sich die Informationsverbreitung dann besser kontrollieren ließ. Man konnte mit einer einheimischen Zeitung das Informationsbedürfnis der Bevölkerung stillen, aber konnte die Nachrichten gleichzeitig auch zensieren. Das wird zumindest die Hoffnung der Obrigkeiten gewesen sein. Meistens hatten die Drucker und die Presseherausgeber die Schere auch ohnehin schon im Kopf. Wir wissen allerdings, dass die Zensur – die Zensurforscher haben das wirklich gut herausgearbeitet – in Deutschland de facto nicht funktioniert hat, weil es in den Zeitungen der Nachbarterritorien doch immer Nachrichten über irgendwas gab, das im eigenen Land in der Tageszeitung nicht publiziert werden konnte. Das leitet auch über zu Ihrer anderen Frage bzw. Bemerkung: Was hält das Reich zusammen? Das Wissen über die Verfassung? Mit meinem Hinweis auf die Arbeit von Würgler, dass man in der Zeitung ständig etwas über Konflikte und über die Möglichkeiten, Konflikte zu verarbeiten, lesen konnte, war enthalten, dass Verfassungswissen oder Verfahrenswissen bei Gerichtsprozessen in der Bevölkerung sehr verbreitet war. Das war kein Arkanwissen. Es ist mittlerweile ja auch akzeptiert, dass die Möglichkeiten, sich an die Reichsgerichte zu wenden, zur Stabilität des Reiches mit beigetragen haben. In der Untersuchung von Würgler, die ich zitiert hatte,

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wo es um Hessen-Kassel ging, hat er ebenfalls die Bedeutung des Wissens um diese Verfassungs- und Verfahrensfragen herausgearbeitet: Dass man Anliegen vorbringen und diese in den Gesetzgebungsprozess einbringen konnte; dass man gleichzeitig das Recht hatte, wenn es Unterschiede in der Gesetzesinterpretation gab und darüber zu Konflikten kam, diese mit mehr oder weniger guter Aussicht auf eine halbwegs zeitgemäße Erledigung in ein Rechtsverfahren einzubringen. Dies hat mit Sicherheit stabilisierend gewirkt. Das trifft sich mit dem, was Burgdorf für die Reichsreformen herausgearbeitet hat. Im Prinzip wollte man das Reich funktionsfähig halten. Es gab eine intellektuelle Elite – ob es bei allen diesen Vorschlägen immer die intellektuelle Elite war, sei hier dahingestellt – aber es gab zumindest einen breiten Kreis akademisch gebildeter Autoren, die sich sehr kontinuierlich und ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend mit der Frage beschäftigten, wie man im Reich den Karren am Laufen halten könne. Was im Prinzip auch schon einer stärkere Verfassungsmäßigkeit, der Entwicklung einer dauerhaften Verfassung des Reiches oder einer Überarbeitung der bisherigen Regelungen bedurft hätte. Schilling: Noch zu Beginn der Revolutionszeit gab es viele, die sagten, wozu brauchen wir eine Revolution. Wir haben doch eigentlich alles. Gestrich: Die Zwangsläufigkeit des Auseinanderbrechens des Reiches wird ja deshalb von vielen – und wie ich denke: zu Recht – in Frage gestellt. Schennach: Beim Stichwort Gravamina und der Forschung von Herrn Luther schließt sich meine Frage an, die sich auf den Konnex von Medien, Gravamina und Gesetzgebungsprozess bezieht. Sie haben recht, auch in Bezug auf Herrn Würgler herausgearbeitet, wie wichtig Gravamina für die Initialisierung von Gesetzen sind, ebenso für den Rückkoppelungsprozess aus dem Implementationsvorgang, was ja auch ländlichen Herrschaften selbst in Territorien, wo sie nicht über Landstandschaft verfügten, indirekt die Möglichkeit gab, Interessen zu ventilieren. Wenngleich man, glaube ich, hier materienspezifisch differenzieren muss: Forstrecht, Jagdrecht, Zölle, Mauten, das sind Materien, wo Gravamina nicht fruchten können. Man muss auch zeitlich differenzieren. Was Herr Würgler für Hessen-Kassel im 18. Jahrhundert herausarbeitet, ist in anderen Territorien seit dem 17. Jahrhundert allmählich am Aufkommen. Meine Frage bezieht sich hier auf die Rolle der Medien mit dem Aufkommen von Zeitungen und Diarien: Kommt es hier tatsächlich zu einer Berichterstattung auf der doch sehr kleinteiligen Ebene der landständischen Gravamina, werden hier bestimmte Gravamina herausgegriffen und diskutiert? Und wenn es zu einer solchen Berichterstattung kommt, sind hier dann Parteinahmen für den Landesherren, für die landständischen Positionen greifbar? Kommt es hier zu einem qualitativen Sprung bei der Behandlung der Gravamina durch die allenfalls vorhandene parallele mediale Berichterstattung? Gestrich: Gravamina als solche finden meines Wissens den Weg nicht oder nur ganz selten in die Presse, sondern erst Konflikte. Wenn Gravamina auf dem Landtag gelöst wurden, fand man darüber auch keine Berichterstattung in der Presse, da diese eben nicht über die Details ständischer Beratungen berichten konnte. Um pressegän-

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gig zu werden, musste der Konflikt so eskalieren, dass es in irgendeiner Weise zu Unruhen kam. Diese stellten in gewisser Weise selbst Öffentlichkeit her und waren beobachtbar, so dass darüber berichtet werden konnte. Arlinghaus: Die erste Frage bezieht sich auf den mehr oder weniger explizit von Ihnen formulierten Umschwung im 17. Jahrhundert. Da scheint sich ja – 10 Jahre früher, 10 Jahre später, je nachdem, wohin man schaut – doch in der öffentlichen Meinung und mit dem Problem der Tageszeitungen einiges zu tun. Ich frage mich, warum. Große technische Veränderungen im Bereich der Druckerpresse gelangten erst Ende des 18. Jahrhunderts oder Anfang des 19. Jahrhunderts zum Durchbruch. Man arbeitet also im 17. Jahrhundert noch mit den gleichen technischen Mitteln wie im 16., aber offenbar passiert damit etwas anderes. Wenn Sie formulieren könnten, woran das liegen könnte, wäre ich Ihnen dankbar. Zweite Frage: Es gibt einerseits den Habermas’schen Vorschlag „Öffentlichkeit versus privat“ zu denken, dann gibt es den Vorschlag von Ihnen „Öffentlichkeit versus geheim“ zu konzipieren. Aber jetzt hat Ihr Vortrag mit dem Stichwort Machtöffentlichkeit nochmal einen anderen Akzent gesetzt. Sie, Herr Schilling, haben gleich eingangs darauf hingewiesen: Die Frage wäre, wer ist eigentlich beteiligt? Wenn ich Herrn Althoff richtig verstanden habe, war das ja in seinen Bespielen auch so: Öffentlichkeit sind die, die weder familiares sind noch zur Genossenschaft gehören. Also die Frage ist, ob man bei Öffentlichkeit, wenn man versucht, die Unterscheidung schärfer zu machen, nicht weiterkäme, wenn man sich fragt, wer unmittelbar an den Prozessen beteiligt sein und einwirken kann und wer nicht. Der modernen Öffentlichkeit wird diese Mitwirkungsmöglichkeit ja nicht gewährt. Wir haben vermittelte Einwirkungsmöglichkeiten über Wahlen usw. Und natürlich ist es für den Richter heute nicht uninteressant, wenn er einen Fall hat, ob und wie dazu in der Öffentlichkeit debattiert wird. Das beeinflusst sicherlich auch seine Entscheidung. Aber de facto ist eine Beeinflussung gerade nicht vorgesehen und das scheint mir über weite Strecken – um das Stichwort Machtöffentlichkeit aufzugreifen – in der Vormoderne des zweiten 18. Jahrhunderts genau anders zu sein. Wenn ich das überspitzt formulieren darf, Ihr Stichwort Gravamina aufgreifend: Selbst der absolutistische Staat sieht eine stärkere Beteiligung von Öffentlichkeit vor als die Demokratie heute, weil letztere darauf verweisen kann, dass ja in zwei Jahren Wahlen sind. Da kann der Bürger dann machen, was er will, aber jetzt entscheidet der Richter, jetzt entscheidet das Parlament. Gestrich: Nochmals zum Medienumschwung. Es ist der Wechsel von einem Medium, das bereits in der Form von handschriftlichen Zeitungen existiert hat, zur gedruckten Zeitung. Vor dem Aufstieg der gedruckten Presse gab es bereits ein sehr weit verbreitetes handschriftliches Zeitungssystem, bei dem die Nachrichtenunternehmer Hilfskräfte zur Vervielfältigung eingesetzt hatten. Wir wissen das von Nürnberg, wo sich Studenten durch das Abschreiben von Zeitungen Geld verdienten. Das war für die Verleger teuer und aufwendig. Die gedruckten Zeitungen waren daher billiger und verbreiteten sich weiter und schneller. Aber auch diese handschriftlichen

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Zeitungen existierten bis weit ins 18. Jahrhundert hinein weiter. Es gibt bei der Ablösung von Medien immer diese Überlappungen. Es löst nie ein System das andere sofort ab. Die handgeschriebenen Zeitungen hatten eine gewisse Dignität. Man meinte, dass man dadurch mehr erfahren könne, also auch Dinge, die nicht durch die Zensur der gedruckten Zeitungen gegangen wären. Ich habe allerdings ein schönes Dokument im württembergischen Staatsarchiv gefunden, in dem der Herzog fragte, warum er eigentlich diese ganzen handschriftlichen Zeitungen bezahlen solle, wo in den gedruckten doch das Gleiche drinstehe. Und sie waren billiger. Dann fiel in diese Zeit auch der Ausbau der Reichspost und damit auch die erwähnten kommerziellen Interessen der Postmeister, die in Kombination mit den Druckern in diesen Nachrichtenmarkt eindrangen. Damit ändert sich die Herausgeberschaft der Zeitungen. Wie die Postmeister an ihre Informationen kamen, ist eine andere Frage. Das Nachrichtensystem lief häufig über die Agenten oder Residenten, die sich die diplomatischen Vertretungen gehalten hatten. Die Verstetigung der Diplomatie ist ebenfalls ein Hintergrund für den in der Frühen Neuzeit kontinuierlich zunehmenden Nachrichtenfluss. Häufig haben sich Botschaftssekretäre Geld verdient, indem sie handschriftliche Zeitungen publizierten oder auch als Beilagen zu diplomatischen Berichten versandten. Die gedruckten Zeitungen griffen teilweise auf solche Berichte zurück. Die Frage der Öffentlichkeit: Wer darf teilnehmen? Das greift ja noch einmal die Frage von Herrn Schmidt auf. Ich glaube, die Crux ist, dass man aufgrund der unterschiedlichen Machtverhältnisse, aber auch aufgrund von Territorium zu Territorium unterschiedlicher Sozialstrukturen keine Antwort geben kann, die auf alle Verhältnisse zutrifft. Im Reich haben wir klarere Berechtigungsstrukturen, da wir wissen: Die Kurfürsten machen dieses und die Fürsten jenes und haben auch das Recht dazu. In den Einzelterritorien ist das schwieriger. Arlinghaus: Wenn man das von den Machtverhältnissen her anschaut ist klar, dass man von Jahrzehnt zu Jahrzehnt und von Territorium zu Territorium unterscheiden muss. Aber es gibt ja – und darauf hat Frau Westphal hingewiesen – die allgemeine Vorstellung, dass man z. B. nach Wetzlar gehen kann. Das heißt nicht, dass jeder Bauer das macht oder dass jeder Bauer das kann. Das ist ja nicht die Frage. Aber es gibt dann vielleicht, um das zu übertragen, nicht die allgemeine Vorstellung davon, dass man – wie in der Moderne – eher passiv auf dem Zuschauerrang sitzt und sich ärgert oder freut, je nachdem was da grade passiert, und gegebenenfalls Plakate malt, sondern dass man tatsächlich am Entscheidungsprozess, hierarchisch gegliedert und unterschiedlich, beteiligt ist. Es mag sein, dass die unteren Stände da herausfallen. Es wäre ja nicht überraschend, dass die unteren Stände bei den Leuten, die tatsächlich entscheiden, gar nicht auf dem Radar sind. Gestrich: Die Antwort fällt unterschiedlich aus, je nachdem, wen Sie fragen und wer über welches Territorium gearbeitet hat. Wenn Sie Herrn Eckle fragen, kriegen Sie ganz spezifische Antworten. Wenn Sie Herrn Schmidt fragen, kriegen Sie eine andere Antwort. Interessant scheint mir vor allem zu sein, wie weit die Stände

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ihre Konflikte treiben und wann sie einfach klein beigaben. Im württembergischen gingen die Ständekonflikte relativ weit und es wurde mit hohem Einsatz um die Frage der Mitwirkung gespielt. Diese Fragen gingen hier bis auf die Dorfkanzel, wo Pfarrer in der Predigt dazu – direkt oder indirekt – Stellung nahmen und damit auch die breitere Bevölkerung einbezogen. In anderen Fällen liefen die Dinge sehr viel schneller aus und man arrangierte sich sehr viel schneller. Schönberger: In Fortführung unserer Diskussion möchte ich fragen: Häufig wird beim Öffentlichkeitsbegriff eine Innen-außen-Beschreibung suggeriert. Dann ist die Öffentlichkeit das, was außen passiert, und innen ist irgendetwas anderes. Das hat Habermas so gemacht, das hat aber auch Koselleck so gemacht. Eigentlich, finde ich, haben Sie uns sehr eindrücklich vorgeführt, warum das so nicht klappt. Die Frage ist aber, ob man diesen Bereich der Machtöffentlichkeit nicht noch genauer ausdifferenzieren könnte. Wie wird Öffentlichkeit als Ressource genutzt durch diejenigen, die in irgendeiner Weise Berechtigte im System sind? Das scheint mir doch das Interessante zu sein. Wann wird diese Ressource genutzt und für welche Zwecke? Was wollen die Insider dadurch erreichen? Die Zwecke können ja sehr unterschiedlich sein. Das kann Rationalisierung sein, das kann Legitimitätserzeugung sein oder zumindest Legitimitätssurrogaterzeugung. Man kann das mal nach außen spielen, man kann es aber auch sein lassen. Das alte Frankreich würde da sehr viele Beispiele dieser Art bereitstellen, wo über Bande gespielt werden kann. Also wäre meine Frage: Müsste man nicht stärker Öffentlichkeit auch als Ressource begreifen? Ressource für diejenigen, die als Akteure in irgendeiner Weise auch innerhalb des Machtsystems stehen und die Möglichkeit von Öffentlichkeit nutzen. Gestrich: Ich hatte in meiner eigenen Arbeit versucht ein Modell zu entwerfen, bei dem ich von den Höfen ausgegangen bin. Bei den Höfen ist die primäre Öffentlichkeit eine internationale Öffentlichkeit. Sie drucken und senden Abhandlungen hin und her, warum sie z. B. einen Anspruch auf diesen oder jenen Thron haben. Sie benützen dafür die Öffentlichkeit als Adressaten und gewissermaßen auch als relevanten Richter. Das ist ähnlich, wenn es um Fragen ihrer Ehre geht. Diese können sie nur im Kontext der anderen Höfe als der für sie primär relevanten Öffentlichkeit verteidigen. Auf einer anderen Ebene, die sich nach innen richtet, gibt es eine ähnliche Funktionalisierung von Öffentlichkeit. Wenn es um z. B. um unpopuläre Steuererhebungen ging, konnte es schon sein, dass man in der Öffentlichkeit gezielt Dinge oder bestimmte Gruppen ansprach, um die eigene Position zu stärken. Dafür konnte man die Druckmedien oder auch andere Medien wie z. B. die Predigt, die auf der Kanzel verlesen wurde, nutzen. Es macht sicher Sinn, im Einzelfall zu fragen: Warum kam das in die Presse? Wen wollte man damit eigentlich ansprechen, mobilisieren oder auf seine Seite bringen? Brauneder: Danke nicht nur für den Vortrag, sondern auch für die Diskussion, und dass die Veranstalter vielleicht das Glück haben, entfallene Referate zur Verfügung zu stellen. 1839 erschien in der Deutschen Vierteljahreschrift ein sehr pointierter Artikel über die neuen Stände, die sich in Deutschland ausgebildet hätten, und zwar mit

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Hilfe der Lesevereine. Und die Lesevereine halte ich für wichtiger als die Kaffeehäuser, schon deswegen, weil sich die Leservereine organisiert haben. In der Bonner Lese z. B. heißt es in den Statuten: Rang kommt gar nicht in Anschlag. Das trifft im Prinzip für alle Lesevereine zu. Ganz egal, ob hoher Adel, niederer Adel oder Bürger, sie sind alle gleichberechtigt. Eine besondere Rolle spielt in Wien die Zensur, die in Österreich relativ stark ist. Aber Zensur heißt nicht nur verboten. Bei einem Leseverein steht mir die gesamte Literatur zur Verfügung. Es stehen, soweit es geht, alle Zeitungen zur Verfügung. Da ist man bestens informiert. Lesemitglieder, die waren in England und in Paris und vielleicht in Stuttgart in den Parlamenten und berichten in Wien, wo es vor 1848 kein Parlament gibt: Wir haben hier etwas Tolles erlebt. Man will doch meinen, diese Grenzen zwischen Öffentlichkeit, die hier artikuliert worden sind, vermischen sich die nicht? Und zwar nicht erst 1840, sondern 1840 blickt man schon auf eine zurückliegende Entwicklung zurück. Ich schätze, die Lesevereine in Deutschland entstehen um 1750 und haben eine ganz große Verbreitung. Das darf man nicht unterschätzen. Auch im ländlichen Gebiet, nicht im Dorf, sondern in Kleinstädten. Wenn man sich das vorstellt: In der Hofgesellschaft, in der berufsständischen, in der landständischen Gesellschaft sitzen oft die gleichen Familienvertreter. Sie sitzen bei Hof, haben Hofstellen inne, sitzen draußen als Statthalter, sie gehen in die Lesegesellschaften, treffen sich mit den Bürgerlichen. Da verwischen sich allmählich die Grenzen. Und es ist kein Zufall, als in Wien 1848 die Revolution ausbricht durch diese Verzahnungen. Es ist sozusagen die kombinierte Öffentlichkeit von all diesen Facetten. Gestrich: Der Aufstieg der Assoziationen generell, aber auch der Lesegesellschaften ist unbestreitbar ein sehr wichtiges Element. Sie hatten gewisse Vorläufer. In den Logen der Freimaurer wurden diese ständischen Grenzen zumindest der Intention nach ja auch aufgehoben. Das wurde im Prinzip auch in die von Ihnen aufgezeigte Richtung interpretiert. Wie hoch deren Einfluss zu veranschlagen ist, ist eine andere Debatte. Was Sie mit den Starhembergs angesprochen haben, ist das Problem, über das wir vorher auch schon debattierten: Dass man in der Frühen Neuzeit nicht immer genau zwischen einer Öffentlichkeit, die regierungsfern ist, und der Regierung unterscheiden kann. Nehmen wir als Beispiel die Mittwochsgesellschaft in Berlin. Wer sitzt in solchen Aufklärungsgesellschaften? Ute Daniel hat in einem Aufsatz gefragt: Wie bürgerlich war eigentlich bürgerliche Öffentlichkeit? Sie hat solche Gesellschaften auf ihre soziale Zusammensetzung hin analysiert und kam zu dem Ergebnis: Das war ganz gemischt. Es befanden sich viele Adelige oder geadelte Beamte und Regierungsmitglieder darunter. Thier: Ich würde gerne anknüpfen an einen Begriff, den Herr Brauneder gestern in die Diskussion eingeführt hat und der dazu beitragen kann, dass wir Ihren eindrucksvollen Vortrag in Zusammenhang mit den anderen Vorträgen stellen können. Herr Brauneder hat gestern auf den Topos Publizität hingewiesen. Wir haben gestern in den Vorträgen gesehen, wie Publizität als eine Öffentlichkeit erscheint, mit der normative Wirkung, vielleicht sogar normative Verbindlichkeiten, ausgelöst werden. Sie haben uns heute eine andere Öffentlichkeit vorgeführt bis hin zu dem, was man als

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Verfassungstheater bezeichnet und fast schon als Dinner for one mit Rückgriff auf die Arbeiten von Frau Stollberg-Rilinger. Das ist eine Art Publizität, die funktionslos geworden ist, so scheint mir. Die Öffentlichkeit, die Sie uns vorgeführt haben, gerade für das 18. Jahrhundert, wenn ich das mit den Punkten zusammenführe, die Frau Westphal angeführt hat (was hält das Reich zusammen?), da scheint mir Öffentlichkeit als Ressource ganz wichtig zu sein, wenn ich auf die Zeremonienberichte blicke. Wenn man fragt, was hält das Reich zusammen, und versucht, das mit Öffentlichkeit zusammenzubringen, muss man ein drittes Element hinzunehmen. Ich nenne das einmal Diskurse. Wir haben einen Öffentlichkeitsdiskurs, über den haben wir hier nicht gesprochen. Das sind die Juristen, Rechtsphilosophen, Staatsphilosophen, eine intellektuelle Elite. Da haben wir die sehr massive Präsenz von Reichsrecht, das offensichtlich identitätsstiftend wirkte. Das ist aber nur one part. Denn dann haben wir – und das fand ich an Ihrem Beitrag so interessant und mich würde interessieren, ob Sie dem zustimmen können – diese gigantischen Zeremonialberichterstattungen, was ja teilweise auch schon losgeht im 16. und 17. Jahrhundert mit riesigen emblematischen Krönungszugsdarstellungen, die auch massenhaft verkauft werden. Da sehen wir eine neue Funktion von Zeremoniell. Im Mittelalter ist Zeremoniell, Krönungsordines, Grundlage von Herrschaft, es konstituiert noch Verbindlichkeit, konstituiert Herrschaft. In der Frühen Neuzeit, Frau Stollberg-Rilinger hat das sehr eindrücklich gezeigt, sehen wir, dass dieses Zeremoniell funktionslos geworden ist im Hinblick auf die Konstituierung politischer Herrschaft. Es schafft – das wäre eine sehr gewagte These – politische kollektive Identität. Durch die Medien, diese Massenmedien, die Sie uns vorgeführt haben, die Zeitungen, verbreitet sich das sehr. Dadurch entsteht eine Art sekundäre Öffentlichkeit. Meine Frage ist, ob Sie sich dem anschließen können. Gestrich: Nicht voll. Ich würde die Bedeutung von performativen Akten für die Legitimitätsstiftung nicht unterschätzen. Wenn Obama bei seinem Amtseid einen Fehler macht, muss er ihn wiederholen. Wenn die Königswahl nicht ordnungsgemäß abläuft und die Kurfürsten sich nicht gegenseitig den Eid abnehmen, dann ist da was falsch gelaufen und dann ist die Legitimität einer Wahl im Zweifelsfall fraglich. Thier: Das ist kein Zeremoniell, das ist Verfassungsrecht. Wahl ist harte Normativität. Gestrich: Aber Sie müssen die Eide in einer bestimmten Form und vor einer bestimmten Person leisten. Das ist genau festgelegt und jeder weiß, ob es ordnungsgemäß abläuft oder nicht. Wenn es nicht ordnungsgemäß abläuft, würde ich den Effekt nicht unterschätzen. Das Dinner for one ist eine Sache, aber es gibt andere harte symbolische Elemente, die in vielen politischen Zusammenhängen nicht verhandelbar sind oder nicht ohne Konsens geändert werden können. Steiger: Können Sie ausmachen, nachdem der andere Vortrag ausgefallen ist, wann bestimmte Arkana in die Öffentlichkeit kommen? Sie haben sehr viel von formellen Prozessen gesprochen. Sie haben vorhin die Botschaftssekretäre erwähnt. Wo

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fängt die Medienöffentlichkeit an? Sie haben immer wieder das Interesse der Medien an der Veröffentlichung aus bestimmten Gründen betont. Gestrich: Dinge gelangen an die Öffentlichkeit erstens, wenn jemand bestechlich ist, zweitens, wenn jemand ein Interesse daran hat, dass sie in die Öffentlichkeit gelangen. Das ist häufig der Fall. Ich habe einen Fall untersucht, wo ein Vertrag, der im Entstehen war, an die Presse gelangt ist, weil eine Seite eine Interpretationsform dieses Vertrags testen wollte. Ich bin auf mein Habilitationsthema gekommen, weil ich mich gefragt habe, warum haben die Diplomaten bereits im frühen 18. Jahrhundert von ihren Regierungen so viel Bestechungsgeld für die Presse bekommen? Ich bin in Wiener Akten auf die Summen, die die Diplomaten für Pressebestechung anforderten, gestoßen. Es muss ein Interesse daran gegeben haben, Dinge in der Öffentlichkeit zu lancieren. Schmidt: Das Zeremoniell spielt eine entscheidende Rolle. Aber worüber wir reden ist ein papierenes Zeremoniell, das kollektive Identität stiftet. Ob die Dinge so abgelaufen sind, ist höchst unwahrscheinlich, dafür könnte ich zig Beispiele bringen. Wo einfach diktiert wird: So ist das abgelaufen. Und das ist die Wirklichkeit, die wir heute sehen. Das ist papierene Wirklichkeit, und das ist tradierte Wirklichkeit. Da bin ich sehr skeptisch. Gestrich: Völlig d’accord. Aber von der Aufmerksamkeit oder der Bedeutung her argumentiert: Wenn bei bestimmten Anlässen Sachen falsch laufen, dann würde das auffallen. Bei der Papierform: Wenn es anders abgelaufen ist, müsste es konsensual geändert werden, damit es öffentlich anders dargestellt werden kann. Einseitig, weiß ich nicht. Was ist sonst der Sinn des Verhandelns über diese Dinge? Schmidt: Das meine ich nicht, sondern ich meine die vielen papierenen Karussellfahrten, die Aufzüge beim Kaiser. Wer würde denn protestieren, der nicht dabei war, der aber an zweiter Stelle steht. Gestrich: Dem würde ich zustimmen. Westphal: Man muss hier, glaube ich, die Gattungsspezifika von Festbeschreibungen berücksichtigen. Hier geht es darum, den ephemeren Charakter von Festen zu verstetigen und für die Nachwelt festzuschreiben. Und dann ist es nicht Abbild der Realität, sondern von Mustern. Gestrich: Da diese Beschreibungen in der Regel aus den Hofmarschallsämtern kamen, sind sie eine Abbildung der Planung, die zwischen den Parteien abgesprochen ist. Schilling: Ich begrüße Sie zum zweiten Teil des heutigen Programms. Wir werden ein Thema vertiefen, das im Vortrag von Herrn Gestrich verschiedentlich angeklungen ist. Da ging es um den Zusammenhang von Öffentlichkeit und Gesetzgebung. Hier wird diese Fragestellung besonders unter dem Gesichtspunkt der Publikation in den Blick genommen werden. Herr Schennach, den ich nicht vorstellen muss, weil er Mitglied der Vereinigung ist und seine eindrucksvolle wissenschaftliche Vita allen zugegangen ist, ist dafür in besonderem Maße ausgewiesen. Er ist zugleich

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ein Idealmitglied unserer Vereinigung, insofern als er zugleich promovierter Historiker und promovierter Rechtshistoriker ist, als er Archivarien kennt und das Recht kennt. Er ist ein Referent, der das Thema Gesetzespublikationen in der Frühen Neuzeit wie kaum ein anderer konzise vorstellen kann.

Zur Gesetzespublikation in der Frühen Neuzeit Von Martin Schennach, Innsbruck

I. Einleitung „Auf wieviel Arten nun die Menschen etwas zu wissen bekommen können, auf soviel Art kan auch ein Gesetz promulgiret werden, weil es gleich viel ist, auf was Weise der Zweck der Gesetze erhalten wird. Wann nun in einem Lande durch die Fundamental-Gesetze kein besonderer modus promulgandi beliebet ist, so stehet es dem Regenten allerdings frey, welchen er erwehlen will.“1 Bei diesem Zitat handelt es sich um einen die Gesetzespublikation thematisierenden Auszug aus Adam Friedrich Glafeys „Recht der Vernunfft“ von 1746, der damit kein Einzelfall ist: Regelmäßig behandeln auch Schriftsteller des „ius publicum“ das herrscherliche „ius leges promulgandi“, und zwar herkömmlicherweise im Rahmen der Ausführungen zur „potestas legislatoria“. Freilich befassten sich nicht nur zeitgenössische Juristen und, wie noch darzulegen sein wird, frühneuzeitliche Gesetzgeber intensiv mit dem Themenkomplex der Gesetzeskundmachung. Die historiographische Auseinandersetzung mit ihren Formen und Funktionen sowie mit der Entwicklung der Gesetzespublikation hat eine bis in das Jahr 1903 zurückreichende Tradition. Damals erschien ein grundlegendes Werk von Josef Lukas2, und seit damals setzte sich die wissenschaftliche Beschäftigung sowohl im Rahmen der Rechtsgeschichte als auch der Geschichtswissenschaft fort, wobei sich die einschlägigen Forschungen in den letzten zwei Jahrzehnten signifikant verdichteten. Dabei waren und sind die unterschiedlichsten Perspektiven auf die Themenstellungen vertreten: druck-, medien- und kommunikationsgeschichtliche Arbeiten3, rechtshistorische Annäherungen speziell im Kontext von Ar1

Adam Friedrich Glafey, Recht Der Vernunfft. Worinnen Die Lehren dieser Wissenschafft auf feste Gründe gesetzt, und nach selbigen, die in Welt-Händeln, auch unter denen Gelehrten vorgefallenen Streitigkeiten erörtert werden, 3. Aufl., Frankfurt a. M./Leipzig 1746, § 30, S. 13 – 14. 2 Josef Lukas, Über die Gesetzes-Publikation in Österreich und dem Deutschen Reiche. Eine historisch-dogmatische Studie, Graz 1903; vgl. auch Eduard Hubrich, Entwicklung der Gesetzespublikation in Preußen, Greifswald 1918. 3 Josef Pauser, Amtsdrucksachen des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum Druck von amtlichen Druckschriften anhand der Wiener Offizinen von Johann Winterburger, Johann Singriener d. Ä., den Singriener’schen Erben und Johann Singriener d. J., Master Thesis Univ.

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beiten zur Gesetzgebungs- und Verwaltungsgeschichte4, aber auch mikro- und erfahrungsgeschichtliche Fragestellungen5. Eine besonders hervorgehobene Rolle spielten in den letzten zwei Jahrzehnten die Forschungen zur „guten Policey“: So wurden bei der Analyse der Policeygesetzgebung des Ancien Régime sowohl die vielfältigen Kundmachungsformen von frühneuzeitlichen Gesetzen ausführlich abgehandelt als auch die Beweggründe für das frequente Wiederholen und Einschärfen von Normen analysiert.6 Ausgehend von den Arbeiten zur „guten Policey“ wurde dem PublikatiWien 2015; Falk Eisermann, Auflagenhöhen von Einblattdrucken im 15. und frühen 16. Jahrhundert, in: Volker Honemann u. a. (Hrsg.), Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, Tübingen 2000, S. 143 – 178; Saskia Limbach, Tracing Lost Broadsheet Ordinances Printed in Sixteenth-Century Cologne, in: Flavia Bruni/Andrew Pettegree (Hrsg.), Lost Books. Reconstructing the Print World of PreIndustrial Europe, Leiden u. a. 2016, S. 486 – 503; Andrea Hofmeister-Hunger, Pressepolitik und Staatsreform. Die Institutionalisierung staatlicher Öffentlichkeitsarbeit bei Karl August von Hardenberg (1792 – 1822), Göttingen 1994; etwas außerhalb des zeitlichen Untersuchungshorizonts Harm von Seggern, Herrschermedien im Spätmittelalter. Studien zur Informationsübermittlung im burgundischen Staat unter Karl dem Kühnen, Stuttgart 2003, S. 48 – 52, 227 – 269; ders., Zur Publikation von Münzordnungen im 15. Jahrhundert, in: Paul Herold/ Karel Hruza (Hrsg.), Wege zur Urkunde – Wege der Urkunde – Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters, Köln 2005, S. 205 – 233; Filippo de Vivo, Information and Communication in Venice. Rethinking Early Modern Politics, Oxford 2007, S. 128 – 136. 4 Vgl. z. B. Martin P. Schennach, Gesetz und Herrschaft. Die Entstehung des Gesetzgebungsstaates am Beispiel Tirols, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 613 – 636; Wilhelm Brauneder, „Gehörige Kundmachung“ – entschuldbare Rechtsunkenntnis, in: FS Clausdieter Schott, Bern u. a. 2001, S. 15 – 26; Dietmar Willoweit, Gesetzespublikation und verwaltungsinterne Gesetzgebung in Preußen vor der Kodifikation, in: Gerd Kleinheyer/Paul Mikat (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsgeschichte. Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, Paderborn 1979, S. 601 – 619; Jean-Marie Cauchies, La législation princière pour le comté de Hainaut, Ducs de Bourgogne et premiers Habsbourg (1427 – 1506). Contribution à l’étude des rapports entre gouvernants et gouvernés dans les Pays-Bas à l’aube des temps modernes, Bruxelles 1982, S. 181 – 238; Stefan Ruppert, Die Entstehung der Gesetz- und Verordnungsblätter. Die Bekanntmachung von Gesetzen im Übergang vom Spätabsolutismus zum Frühkonstitutionalismus, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Juristische Zeitschriften. Die neuen Medien des 18.–20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1999, S. 67 – 108. Einführend Armin Wolf, Art. „Publikation von Gesetzen“, in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 4. Bd., Berlin 1990, Sp. 85 – 92. Einen gelungenen Überblick bietet Gerald Kohl, Art. „Gesetzespublikation“, in: Enzyklopädie der Neuzeit 4, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 734 – 736. 5 Vgl. Lothar Schilling, Gesetzgebung und Erfahrung, in: Paul Münch (Hrsg.), „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte, Berlin/Boston 2001, S. 401 – 411; André Holenstein, „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach), Teilbd. 1, Epfendorf 2003, S. 191 – 242. 6 Vgl. u. a. Martin P. Schennach, Jagdrecht, Wilderei und „gute Policey“. Normen und ihre Durchsetzung im frühneuzeitlichen Tirol, Frankfurt a. M. 2007, S. 151 – 156; Karl Härter, Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat, 2 Teilbde., Frankfurt a. M. 2005, hier Teilbd. 1, S. 221 – 247; Thomas Dehesselles, Policey, Handel und Kredit im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1999, S. 54 – 59; Achim Landwehr, Die Rhetorik der „guten Policey“, in: Zeitschrift für historische Forschung 30 (2003), S. 251 – 287 (259 –

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onsvorgang überdies im Kontext von jenen theoretischen Annäherungen Platz eingeräumt, die Herrschaft in der Frühen Neuzeit nicht mehr als unilateral-etatistisch ausgerichteten Vorgang mit der Obrigkeit und ihren Vertretern auf der einen und der Masse der Untertanen als Zielobjekten herrscherlichen Handelns auf der anderen Seite verstehen, sondern die mannigfaltigen Interaktions- und Austauschprozesse zwischen „oben“ und „unten“ betonen.7 Dieses Konzept von Herrschaft als multipolarem, dynamischem und komplexem Kommunikationsprozess scheint sich idealtypisch im Vorgang der Normpublikation widerzuspiegeln, der als integraler Bestandteil des „zirkuläre[n] kommunikative[n] Prozess[es]“8 der Normimplementation gedeutet werden kann. Wissenschaftsgeschichtlich instruktiv ist die Beobachtung von Pascale Cancik, wonach die Entwicklung der Gesetzespublikation aus juristischer und geschichtswissenschaftlicher Perspektive tendenziell unterschiedlich gesehen werde: Juristen und juristisch sozialisierte Rechtshistoriker neigten demnach dazu, die Entwicklung im Sinne einer Rationalisierung, Ökonomisierung und Verrechtlichung als Erfolgsgeschichte zu lesen, während sie Historiker eher als Verlustgeschichte im Sinne einer Einbuße an Öffentlichkeit werten, indem der Staat zunehmend auf die unmittelbare Kommunikation mit den Normadressaten verzichte.9

264); Philipp Dubach, Gesetz und Verfassung. Die Anfänge der territorialen Gesetzgebung im Allgäu und im Appenzell im 15. und 16. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 262 – 277; Karl Härter, Gesetzgebungsprozess und gute Policey. Entstehungskontexte, Publikation und Geltungskraft frühneuzeitlicher Policeygesetze (PoliceyWorkingPapers 3. Working Papers des Arbeitskreises Policey/Polizei im vormodernen Europa, Frankfurt a. M. 2002). E-text: http:// www.univie.ac.at/policey-ak/pwp/pwp_03.pdf [letzter Zugriff am 6. Mai 2006]; Holenstein (Fn. 5), S. 191 – 233; Alexandra Brück, Die Polizeiordnung Herzog Christians von Braunschweig-Lüneburg vom 6. Oktober 1618, Frankfurt a. M. 2003, S. 54 – 56. 7 Vgl. z. B. Stefan Brakensiek/Corinna von Bredow/Birgit Näther (Hrsg.), Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014; Stefan Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit als Epoche, München 2009, S. 395; Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005; Markus Meumann/Ralf Pröve, Die Faszination des Staates und die historische Praxis. Zur Beschreibung von Herrschaftsbeziehungen jenseits teleologischer und dualistischer Begriffsbildungen, in: dies. (Hrsg.), Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses, Münster 2004, S. 11; Heinrich Kaak/Martina Schattkowsky, Einführung, in: dies. (Hrsg.), Herrschaft. Machtentfaltung über adligen und fürstlichen Grundbesitz in der Frühen Neuzeit, Köln/Wien/ Weimar 2003, S. VII; Stefan Brakensiek, Lokale Amtsträger in deutschen Territorien der Frühen Neuzeit. Institutionelle Grundlagen, akzeptanzorientierte Herrschaftspraxis und obrigkeitliche Identität, in: Asch/Freist (Fn. 7), S. 49; skeptisch Michael Hochedlinger, Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit. Vorbemerkungen zur Begriffs- und Aufgabengeschichte, in: ders./Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit, Wien/Köln/München 2010, S. 21 – 85 (84 – 85). 8 Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft (Fn. 7), S. 404. 9 Pascale Cancik, Verwaltung und Öffentlichkeit in Preußen. Kommunikation durch Publikation und Beteiligungsverfahren im Recht der Reformzeit, Tübingen 2007, S. 155 – 156.

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II. Die Behandlung der Gesetzespublikation durch die Rechtswissenschaft 1. Das frühneuzeitliche „ius publicum“ a) Allgemeines So intensiv die Kundmachungspraxis in den letzten beiden Jahrzehnten in unterschiedlichen Territorien untersucht worden ist, so insuffizient ist bislang die Darstellung der Behandlung des Fragenkomplexes durch die frühneuzeitliche Rechtswissenschaft.10 Zunächst ist hier die Lehre vom „ius publicum“ zu nennen,11 deren Vertreter das herrscherliche „ius leges promulgandi“ herkömmlicherweise im Kontext der „potestas legislatoria“ behandelten. Letztere gliedere sich nämlich, so die bis in das 18. Jahrhundert herrschende Ansicht, unter anderem in das „ius condendi, abrogandi, interpretandi leges“ und eben auch in das „ius promulgandi leges“,12 wenngleich Letzteres nicht durchgehend von allen Autoren gleichermaßen erwähnt wird.13 Die Ausführungen der Staatsrechtslehre werden ab der zweiten Hälfte des 18. Jahr-

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Diese wird vornehmlich thematisiert bei Bernhard Diestelkamp, Einige Beobachtungen zur Geschichte des Gesetzes in vorkonstitutioneller Zeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), S. 385 – 420 (410 – 412); Heinz Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Régime, in: Ius Commune 4 (1972), S. 188 – 239 (208 – 209) (Nachdruck in: ders., Historische Vergleichung im Bereich von Staat und Recht. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt a. M. 2000, S. 221 – 273); nur kurz Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 176; Hubrich (Fn. 2), S. 12 – 15; am ausführlichsten ist diesbezüglich Cancik, Verwaltung und Öffentlichkeit (Fn. 9), S. 186 – 195 sowie (mit umfassenderer Fragestellung) Pascale Cancik, Aufklärung und Rechtsdurchsetzung. Der Diskurs über die Kommunikation der Gesetze, in: Andreas Bauer/Karl H. Welker (Hrsg.), Europa und seine Regionen. 2000 Jahre Rechtsgeschichte, Wien 2007, S. 497 – 522 (500 – 507); Bernd Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen, Tübingen 2004, S. 214 – 223; Johannes Michael Scholz, Der brandenburgische Landrechtsentwurf von 1594. Eine Studie zur Rechtssetzungslehre der Rezeptionszeit, Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, Köln/ Wien 1973, S. 78 – 80. 11 Vgl. insbesondere Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 – 1800, München 1988; Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin 1997. 12 Siehe z. B. Wiguläus Xaverius Aloysius von Kreittmayr, Grundriß des Allgemeinen, Deutsch- und Bayrischen Staatsrechts, Zweyter Theil von dem deutschen Staatsrecht, München 1770, S. 151; Dietrich Hermann Kemmerich, Introductio ad ius publicum Imperii Romano-Germanici, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1744, S. 1448; siehe auch die kurze Bemerkung bei Anonymus, Der Kluge Beamte/oder Informatorium Juridicum Officiale, Das ist: Unterricht/ wie sich ein Beamter in denen seiner Herrschafft zukommenden hohen Landes- und Territorial-gerechtsamen regalien und Herrlichkeiten …. verhalten/sich aber selbst dabey ausser Verantwortung setzen könne, Nürnberg 1701, S. 282: „Die Macht/Edicta und Mandate anzuschlagen und zu publiciren/hat ein Verwandtschafft mit dem Jure LL. Condendi, und ist ein signum Superioritatis.“ 13 Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 136 – 137.

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hunderts durch die Polizeywissenschaft14 und in den österreichischen Ländern schließlich durch die politische Gesetzeskunde15 ergänzt, die dem Prozedere der Promulgation freilich nicht mehr aus einer primär rechtsdogmatischen, sondern aus einer pragmatisch-anwendungsorientierten Perspektive Rechnung tragen. Sie behandeln die Kundmachung nicht mehr im Zuge der Auseinandersetzungen mit dem Gesetzesbegriff und dessen konstitutiven Elementen, sondern im Zusammenhang mit Problematiken der Normdurchsetzung und den Aufgaben der Mittel- und Lokalbehörden.16 Unter „der Promulgation, oder Bekanntmachung eines Gesetzes versteht man eine dem Herkommen gemäße ausdrückliche Handlung, wodurch ein Gesetz zur förmlichen Wissenschaft derjenigen gebracht wird, welche dasselbe verbinden soll“17. Mit diesen Worten wird der Vorgang der Gesetzeskundmachung im ausgehenden 18. Jahrhundert in Carl Friedrich Häberlins „Repertorium des Teutschen Staats- und Lehnrechts“ definiert, wobei „Publikation“ und „Promulgation“ synonym verwendet werden. Die fehlende begriffliche Differenzierung von „Publikation“ und „Promulgation“ ist in der Frühen Neuzeit gängig.18 Erst um 1800 kommt es hier mit der von Frankreich ausgehenden Verbreitung des sogenannten „formellen Publikationsprinzips“ zu einer strikten Trennung.19 Als Promulgation wird nunmehr 14 Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 1 (Fn. 11), S. 366 – 393; ferner Naoko Matsumoto, Polizeibegriff im Umbruch. Staatszwecklehre und Gewaltenteilungspraxis in der Reichs- und Rheinbundpublizistik, Frankfurt a. M. 1999; Johann Christian Pauly, Die Entstehung des Polizeirechts als wissenschaftliche Disziplin. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt a. M. 2000. 15 Zur politischen Gesetzeskunde und ihrer Bedeutung vornehmlich in Österreich vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Bd.: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800 – 1914, München 1992, S. 227 – 228. 16 Siehe die Literaturhinweise in Kap. IV. 17 Carl Friedrich Häberlin, Art. „Promulgation der Gesetze“, in: Repertorium des Teutschen Staats- und Lehnrechts […], 4. Teil, Leipzig 1795, S. 297 – 300 (298). 18 Vgl. z. B. Johann Georg Walch, Philosophisches Lexicon. Darinnen die in allen Theilen der Philosophie, als Logic, Metaphysic, Physic, Pneumatic, Ethic, natürlichen Theologie und Rechts-Gelehrsamkeit, wie auch Politic fürkommenden Materien und Kunst-Wörter erkläret, und aus der Historie erläutert; die Streitigkeiten der älteren und neueren Philosophen erzehlet, die dahin gehörigen Bücher und Schriften angeführet, und alles nach alphabetischer Ordnung vorgestellet worden, mit nötigen Registern versehen, Leipzig 1733, S. 2070; Johann Heinrich Zedler (Hrsg.), Art. „Offenbahrung des Gesetzes“, in: Grosses vollständiges Universallexikon Aller Wissenschaften und Künste welches bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden …, Bd. 25, Halle/Leipzig 1740, Sp. 873; ebenso noch bei Karl Theodor Gutjahr, Entwurf des Naturrechts, Leipzig 1799, S. 155. 19 Vgl. Bernd Wunder, Vom Intelligenzblatt zum Gesetzblatt. Zur Zentralisierung innerund außeradministrativer Normkommunikation in Deutschland (18./19. Jahrhundert), in: Erk Volkmar Heyen (Hrsg.), Informations- und Kommunikationstechniken der öffentlichen Verwaltung, Baden-Baden 1997, S. 29 – 82 (30); Markus Alexander Plesser, Jean Étienne Marie Portalis und der Code civil, Berlin 1997, S. 59, Fn. 9; Hubrich (Fn. 2), S. 7 – 9; Herbert Wehrhahn, Die Verkündung und das Inkrafttreten der Gesetze in Frankreich 1789 und danach, in: FS Carlo Schmid, Tübingen 1965, S. 213 – 297 (213); oberflächlich bleibt Timo Holzborn,

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im Anschluss an die französische Lehre (wobei regelmäßig auf die Ausführungen von Jean-Étienne Portalis verwiesen wird) der Ausfertigungsbefehl des Fürsten – in Frankreich mithin Napoleons – verstanden, wonach „das Gesetz in das Gesetzesbülletin einzutragen, von den Unterthanen zu beobachten, und von den Behörden zu vollziehen sey“20. Erst durch die Promulgation erhalte das bereits existierende Gesetz Authentizität, d. h. hierdurch werde seine verbindliche Fassung fixiert. Darüber hinaus werde das Gesetz potentiell vollstreckbar, doch sei für die generelle Verbindlichkeit – „auf dass das Gesetz allgemein verbinde“ – noch „nothwendig, dass die Promulgation des Gesetzes den Unterthanen bekannt sey“21. Dies wiederum geschehe durch die Veröffentlichung im entsprechenden Kundmachungsorgan, in Frankreich somit im „Bulletin des Lois“ und in den zunächst das französische Exempel imitierenden Rheinbundstaaten in mit der entsprechenden Wirkung ausgestatteten Gesetzesblättern.22 Regelmäßig wurde dabei mit Rücksicht auf den Zeitraum des Postlaufs bei der Versendung des Kundmachungsorgans eine gewisse, üblicherweise in Tagen zu messende Zeit der Legisvakanz angeordnet.23 Allerdings setzte sich diese generelle Differenzierung zwischen „Publikation“ und „Promulgation“ in den deutschen Staaten auch in den kommenden Jahrzehnten nicht durch, vielfach blieb es bei der synonymen Verwendung der beiden Termini.24 Geschichte der Gesetzespublikation – insbesondere von den Anfängen des Buchdrucks um 1450 bis zur Einführung von Gesetzblättern im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 3. 20 Ignaz von Rudhart, Controversen im Code Napoleon, 1te Abtheilung, Würzburg 1815, S. 4. Siehe z. B. auch Theodor von Haupt, Theoretisch-Praktischer Commentar des Napoleonischen Gesetzbuches. Mit besonderer Rücksicht auf die für die Departements der Elb-Mündungen, der Weser-Mündungen und der Ober-Ems, als offiziell bestimmte Ausgabe von Daniels, und die in diesen Departements ehedem geltenden Gesetze, 1. Bd., Hamburg 1811, S. 5: Die Publikation sei „der Akt, wodurch ein promulgirtes Gesetz dem Volke bekannt gemacht wird. In andern Gesetzgebungen sind Promulgation und Publikation eines Gesetzes ein und derselbe Akt […].“; Karl Salomo Zachariä, Handbuch des französischen Civilrechts, Bd. 1, 2. Aufl., Heidelberg 1811, S. XXXI – XXXV; Ludwig Frey, Lehrbuch des französischen Civilrechts, Bd.1, Mannheim 1840, S. 83 – 85. 21 Rudhart (Fn. 20), S. 5 – 6. 22 Rudhart (Fn. 20), S. 5 – 7; Wehrhahn (Fn. 19). 23 Karl Franz Ferdinand Bucher, Systematische Darstellung des im Koenigreich Westphalen geltenden Napoleonischen Privatrechtes, Bd. 1, Halle/Berlin 1809, S. 69 – 70. 24 Siehe z. B. Carl Georg Wächter, Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, Bd. 2: Allgemeine Lehren, Stuttgart 1842, S. 24 – 25: „Damit aber der Gesetzesentwurf wirklich Gesetz werde, und als Gesetz gelte, dazu gehört, daß der König das Gesetz in gehöriger Form verkündet. Erst durch diese vom Könige ausgegangene förmliche Bekanntmachung (Publication oder Promulgation des Gesetzes) bekommt das Gesetz seine Existenz und Gültigkeit.“; Johann August Ludwig Fürstenthal, Art. „Promulgation der Gesetze, Promulgatio Legum“, in: Real-Encyclopädie des gesammten in Deutschland geltenden gemeinen Rechts, oder Handwörterbuch des römischen und deutschen Privat-, des Staats-, Völker-, Kirchen-, Lehn-, Criminal- und Proceß-Rechts, Bd. 2, Berlin 1827, S. 679 – 680 (679); Johann Friedrich Ludwig Goeschen, Vorlesungen über das gemeine Civilrecht. Aus dessen hinterlassenen Papieren herausgegeben von Albrecht Erxleben, Bd. 1: Einleitung und allgemeiner Theil, Göttingen 1838, S. 57.

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Die frühneuzeitliche Staatsrechtslehre betrachtete im Anschluss an das Corpus Iuris Civilis (Cod. 1, 14, 9; Nov. 66, Cap. 1) fast durchgehend die Kundmachung als Wirksamkeits- und Geltungsvoraussetzung und zählte sie zu den konstitutiven Elementen des Gesetzesbegriffs.25 Darin unterscheidet sie sich im Übrigen von manchen modernen Rechtshistorikern, die im Rahmen der Beschäftigung mit den historischen Erscheinungsformen des Gesetzes keineswegs durchgehend die Publikation als Wesenselement ansprechen.26 Nur wenn ein legislativer Akt zur Kenntnis der Normadressaten gelange, vermöge er seine verhaltenssteuernde Funktion zu entfalten.27 Dementsprechend wird in der erfolgten Publikation regelmäßig ein konstitutives Element des Gesetzes erblickt: Die Feststellung Christian Ulrich Detlev von Eggers aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert „Lex itaque non habet vim obligandi, nisi facta promulgatione“28 brachte daher nur einen Gemeinplatz der herrschenden Lehre auf den Punkt, wenngleich sich die Aussagen in Nuancierungen unterschieden. Teils wurde – wie schon die Aussage von Eggers andeutet – postuliert, dass ein nicht kundgemachtes Gesetz zwar gelte, jedoch keine Bindungswirkung entfalten könne.29 Teils wurde statuiert, dass eine nicht promulgierte Norm schlichtweg der Gesetzesqualität entbehre,30 wie dies unter anderem Franciscus Suarez schon im beginnenden 17. Jahrhundert konstatierte.31 Eine solche Einschätzung trat ab dem 17. Jahrhundert freilich zunehmend in Konkurrenz zur Lehre von der fürstlichen voluntas als ausschließlichem Geltungsgrund des Gesetzes;32 hier war ein Widerspruch zu umgehen, indem zwar die Existenz und grundsätzliche Geltung des Gesetzes aufgrund des ge25 Vgl. für andere Samuel Pufendorf, Elementorum Jurisprudentiae universalis Libri II. […], 9. Aufl., Cambridge 1672, S. 176 – 177; siehe auch Cancik, Verwaltung und Öffentlichkeit (Fn. 9), S. 186; Mohnhaupt, Potestas legislatoria (Fn. 10), S. 208 – 209. 26 Vgl. mit jeweils weiteren Literaturhinweisen Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 176; Willoweit (Fn. 4), S. 603; sehr explizit im Sinne der Unverzichtbarkeit einer Publikation Hans Schlosser, Rechtsgewalt und Rechtsbildung im ausgehenden Mittelalter, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 100 (1983), S. 9 – 52 (32). 27 Siehe nur Balthasar Meisner, Dissertatio de legibus in quattuor libellos distributa […], Wittenberg 1616, S. 294: „Jam qui secundum normam agere debet, illius notitia carere nequit. Quomodo enim civis conformabit actus suos regulae, quae penitus ignorat.“ 28 Christian Ulrich Detlev von Eggers, Lehrbuch des Natur- und allgemeinen Privatrechts und gemeinen Preussischen Rechts, 4 Bde., 1. Theil, Berlin 1797, S. XLIV. 29 Vgl. z. B. auch in diesem Sinne Gerhard von Stökken, Dissertatio de potestate legislatoria quam […] praeside […] Gerhardo von Stökken […] subjicit Gabriel Talientschger, Straßburg 1669, S. 88 – 89 („Leges autem nisi promulgatae obligare non dicuntur.“). 30 In diesem Sinne z. B. August von Leyser (Praeses)/Friedrich August Fischer (Defendent), Dissertatio De Libero Principis In Legum Promulgatione Arbitrio, Wittenberg 1751, S. XVI: „Omnis lex publicationem pro natura et essentia sua requirit.“ 31 Franciscus Suarez, Tractatus de legibus ac deo legislatore, Neapel 1872, Erstauflage Coimbra 1612, S. 47: „Ergo donec promulgetur, non est vera lex, ac subinde promulgatio est de ratione legis.“ 32 Vgl. Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 130 – 136; Thomas Simon, Geltung. Der Weg von der Gewohnheit zur Positivität des Rechts, in: Rechtsgeschichte 7 (2005), S. 100 – 137 (102); Mohnhaupt, Potestas legislatoria (Fn. 10), S. 191, 199, 206.

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setzgeberischen Willens anerkannt wurden, die Verbindlichkeit für die Untertanen jedoch an die Publikation geknüpft wurde.33 Ungeachtet dieses oberflächlichen Befunds der Unabdingbarkeit der Kundmachung für die Existenz respektive die Verbindlichkeit eines Gesetzes werden im Einzelnen von der frühneuzeitlichen Rechtswissenschaft erhebliche Unterschiede gemacht. Letztlich wird nur bei Polizeygesetzen – die freilich den quantitativ mit Abstand größten Teil der frühneuzeitlichen Gesetzesproduktion ausmachten – am Erfordernis der Publikation vorbehaltlos festgehalten: Denn diese seien tatsächlich inhaltlich sehr unterschiedlich ausgestaltet und überdies im Zeitenlauf Änderungen unterworfen, weshalb es „keine gegründete Vermuthung“ geben könne, dass „man die Policey-Gesetze von selbst wissen werde“34. Anders verhält es sich beim Naturrecht und zumindest partiell beim Privat- und Strafrecht. Naturrechtliche Rechtssätze würden, so schon Samuel Pufendorf, jedem geläufig sein, der sich seiner Vernunft bedienen könne, und bedürften daher keiner weiteren Publikation, um ihre Verbindlichkeit zu entfalten.35 Zum Teil wurde eine grundsätzliche Rechtskenntnis auch im Bereich des Straf- und Zivilrechts vorausgesetzt: Diese würden, wie es der österreichische Jurist Dominik Kopetzky noch 1823 ausdrückt, ebenfalls zu jenen Gesetzen zählen, die „jedem, welcher auch nur den gemeinen Vernunftgebrauch besitzt, von selbst einleuchten“. Sie „bedürften eigentlich keiner ausdrücklichen Bekanntmachung des Gesetzgebers im Staate, und gegen diese gilt keine Entschuldigung der Unwissenheit, weil sie jedem von selbst bekannt seyn können und sollen“36. Darauf wies beispielsweise Kreittmayr im Zusammenhang mit dem Codex juris bavarici criminalis von 1751 hin, bei dessen Erlass sich die Diskussion entsponnen habe, ob die bloße Drucklegung ausreiche oder noch eine Kundmachung durch weitere Anstalten – erwähnt wurde namentlich die Verkündung durch den Gerichtsboten – erfor33 Dies blieb aber durchaus umstritten, vgl. z. B. Friedrich Christoph Jonathan Fischer, Lehrbegrif (!) sämtlicher Kameral- und Polizeyrechte. Sowol von Teutschland überhaupt, als insbesondere von den Preußischen Staaten, 2. Bd., Frankfurt a. d. O. 1785, S. 175: „Ein Gesetz kömmt durch die förmliche Kundmachung erst zu seiner rechtlichen Existenz.“ In diesem Sinne im Übrigen auch modern Willoweit (Fn. 4), S. 604; Hubrich (Fn. 2), S. 4. 34 Johann Heinrich Gottlob Justi, Grundsätze der Policey-Wissenschaft in einem vernünftigen, auf den Endzweck der Policey gegründeten, Zusammenhange und zum Gebrauch Academischer Vorlesungen, 2. Aufl., Göttingen 1759 (Erstauflage 1756), S. 309. 35 Pufendorf (Fn. 25), S. 176 – 177. Ganz ähnlich noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts Karl Josef Hüttner, Über die rückwirkende Kraft der Gesetze. Zur Erläuterung des § 5 des Oesterreichischen bürgerlichen Gesetzbuches, Wien/Triest 1817, S. 31: „Anders aber verhält sich die Sache, wenn der Regent ein natürliches Privat-Rechtsgesetz durch Promulgation zu einem positiven erhebet. Denn, da ein solches Gesetz schon durch die bloße Vernunft erkennbar ist, und nicht in dem erklärten Willen des Regenten den alleinigen Grund seiner verbindlichen Kraft hat, sondern vielmehr jeden schon vor der Promulgation rechtlich verpflichtete, so äußert ein solches Gesetz seine verbindliche Kraft nicht erst von dem Tage der Promulgation.“ Vgl. im Übrigen auch Diestelkamp (Fn. 10), S. 412. 36 Dominik Kostetzky, Practische Regeln zur Auslegung und Anwendung der (Civil-, Criminal- und politischen) Gesetze. Größten Theils aus dem Commentaren über die österreichischen Gesetze selbst zusammengestellt und erläutert, Wien 1823, S. 35.

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derlich sei. Mit Blick auf die Publikationspraxis bei früheren Kriminalgesetzen und den Adressatenkreis des Strafgesetzbuchs wurde schließlich der Druck in Buchform als hinreichend erachtet. Schließlich sei der Codex „lediglich für die Obrigkeiten zu mehreren Unterricht, nicht aber für die Maleficanten geschrieben […], als welchen ihres Orts genug seyn kann, daß ihnen die Strafmäßigkeit ihrer bösen That nicht unbekannt seye“. Es sei im Bereich des Kriminalrechts nach Kreittmayr somit vorauszusetzen, dass die verbotenen und strafrechtlich sanktionierten Handlungen bekannt seien.37 Daneben werden weitere Sonderfälle regelmäßig eigens behandelt. Die komplexe Kundmachung der Reichsgesetze spiegelt die Verfassungsordnung des Reichs wider.38 Zunächst übersandte der Erzbischof von Mainz in seiner Eigenschaft als Reichserzkanzler die Reichsgesetze an die Reichsstände, die sie ihrerseits in ihren Territorien publizierten, wozu sie reichsrechtlich – soweit dem nicht wie im Fall der österreichischen Länder Privilegien entgegen standen – verpflichtet waren.39 Bindungswirkung gegenüber den Untertanen der Reichsstände entfalteten Reichsgesetze erst mit ihrer Promulgation in den Territorien. Dem Reichshofrat und dem Reichskammergericht wurden die Reichsgesetze ebenfalls durch den Mainzer Erzbischof intimiert, ein zeitgleich übersandtes kaiserliches Reskript befahl ihnen sodann die Beachtung. Bei der Behandlung von Fragen der Gesetzespublikation wurde vom frühneuzeitlichen „ius publicum“ aufgrund der Affinität von Gesetzen und Privilegien40 fallweise auch die Problematik der gehörigen Kundmachung von Privilegien mit Bindungswirkungen gegenüber Dritten erörtert. Hier obliege es demjenigen, der „ein Privilegium erlanget, […] zu besorgen, daß es zu anderer Leute Wissenschaft gelange, mithin die, so unwissend darwider handeln, in keine Straffe verfallen […]“41. In Übereinstimmung mit der Rechtspraxis wurde somit bei einzel- und gruppenspezi37 Wiguläus Xaverius Aloysius von Kreittmayr, Anmerkungen über den codicem juris Bavarici criminalis, worinn derselbe sowohl mit den gemeinen, als ehemalig-statutarischen Criminal-Rechten genau collationirt […], 2. Aufl., München 1774, S. 2. 38 Siehe hierzu Häberlin (Fn. 17), S. 297 – 298; Joseph Anton Vahlkampf, Reichskammergerichtliche Miscellen, 1. Bd., 1. Heft, Wetzlar 1805, S. 60 – 63 (jeweils mit Hinweisen auf ältere Literatur); Friedrich Wilhelm Tafinger, Institutiones jurisprudentiae cameralis. Sectio I et II, 2. Aufl., Tübingen 1775, S. 619 – 621; Wolfgang Adam Lauterbach, Collegium theoretico-practicum Pandectarum. Pars I, Tübingen 1707, S. 1 – 2. Vgl. auch die modernen Ausführungen bei Holzborn (Fn. 19), S. 37 – 44. 39 Siehe auch Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 753 – 754, 759 – 760; Heinz Mohnhaupt, Gesetzgebung des Reichs und Recht im Reich vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Barbara Dölemayer/Diethelm Klippel (Hrsg.), Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit, Berlin 1998, S. 83 – 108 (95). 40 Vgl. rezent mit weiteren Literaturhinweisen Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 153 – 155; Heinz Mohnhaupt, Grundlinien in der Geschichte der Gesetzgebung auf dem europäischen Kontinent vom 16. bis 18. Jahrhundert. Ein experimenteller Überblick, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 28 (2006), S. 124 – 174 (159). 41 Leyser/Fischer (Fn. 30), S. X. Siehe im Übrigen auch den Hinweis bei Hubrich (Fn. 2), S. 13 – 14, 28 – 29.

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fischen, privilegial zugestandenen Begünstigungen oder Ausnahmen vom allgemeinen Gesetzesrecht die Kundmachung vom Aussteller des Privilegs ressourcensparend auf den Empfänger ausgelagert,42 der freilich nur die unmittelbar Betroffenen in Kenntnis zu setzen hätte (z. B. im Fall eines Druckprivilegs die Buchhändler auf der Leipziger Buchmesse).43 Im Zusammenhang mit dem Gewohnheitsrecht wurde, offensichtlich in Analogie zur Konstruktion der stillschweigenden Zustimmung des Gesetzgebers als Geltungsgrund des Gewohnheitsrechts, die These einer „promulgatio tacita“ entwickelt,44 die sich allerdings im rechtswissenschaftlichen Diskurs nicht durchzusetzen vermochte.45 b) Rechtsfolgen der Publikation Über die Rechtsfolgen der förmlichen Publikation bestand – trotz Divergenzen in Details – weitgehende Einigkeit: Aus der Kundmachung resultierte die Verbindlichkeit des Gesetzes für die Normadressaten, und es werde „die Gültigkeit eines promulgirten Gesetzes so lange vermuthet […], bis das Gegentheil erwiesen ist“46. Eine herausragende Bedeutung kommt in diesem Kontext der Frage zu, ob die Bindungswirkung einer kundgemachten Norm aus der gehörigen Publikation resultiere oder ob auf die individuelle Kenntnis abzustellen sei. Auch in diesem Punkt fielen die Antworten der frühneuzeitlichen Rechtswissenschaft weitgehend homogen aus. In der Leyser’schen Dissertation über die Gesetzeskundmachung wird diese Problematik anhand eines Exempels entwickelt: Nachdem 1719 im Kurfürstentum Sachsen die Strafe für Diebstähle ab einer Wertgrenze von zwölf Talern verschärft und mit dem Tode bedroht worden war, verteidigte sich ein einschlägig Angeklagter damit, dass ihm dieses Mandat nicht zur Kenntnis gebracht worden sei. Diese Verteidigungsstrategie, die zumindest die Verhängung der Todesstrafe ausgeschlossen hätte, führte zu entsprechenden Erhebungen, die freilich ergaben, dass das entsprechende Mandat sehr wohl vom Dorfschulzen des Heimatorts bei einer Gemeindeversammlung gehörig kundgemacht worden war.47 Tatsächlich stellte die Rechtswissenschaft nicht auf die nachweisliche individuelle Kenntnisnahme des Gesetzgebungsaktes ab, sondern nur auf die ordnungsgemäße Kundmachung vor Ort. Ob der Normadressat diese – aus welchen Gründen auch immer – versäumt hatte, war unerheblich.48 Nur vereinzelt konzedierten Rechtswissenschaftler die schuldbefreiende Wirkung einer unverschuldeten Abwesenheit bei einem vorgesehenen mündli42

Vgl. Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 178 – 179. Leyser/Fischer (Fn. 30), S. IX. 44 Glafey (Fn. 1), § 33, S. 14. 45 Ablehnend hierzu Fürstenthal (Fn. 24), S. 679. 46 Häberlin (Fn. 17), S. 297. 47 Leyser/Fischer (Fn. 30), S. VI – VIII. 48 Siehe z. B. Suarez (Fn. 31), S. 48 – 49; Gutjahr (Fn. 18), S. 155. 43

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chen Kundmachungsakt, beispielsweise durch Krankheit oder reisebedingte Abwesenheit, sahen jedoch für diesen Fall eine Beweislastumkehr vor: Der sich darauf Berufende müsse beweisen, dass ihm eine Teilnahme nicht möglich war.49 Wer sich dementsprechend darauf berief, ein publiziertes Gesetz nicht gekannt zu haben, hatte die „Vermuthung wider sich, und es kann ihm die Unwissenheit nicht zum Vortheil gereichen. Läugnet der jedoch überhaupt, daß das Gesetz auf die gehörige Art bekannte gemacht worden sey, so muß der Gegentheil den Beweis der geschehenen Promulgation führen“50. Tatsächlich führten entsprechende Einwände der nicht erfolgten Kundmachung – und dies legen auch die erwähnten Ausführungen Leysers nahe – in der Praxis zu Erhebungen, ob denn das betreffende Mandat womöglich tatsächlich an der Peripherie nicht gehörig kundgemacht worden sei.51 Einen Sonderfall stellte die Konstellation dar, der zufolge ein Gesetz zwar das erste Mal gehörig promulgiert worden war, in der Folgezeit jedoch aufgrund der Nachlässigkeit der lokalen Obrigkeiten die periodisch vorgeschriebene neuerliche Verlesung unterblieb. Hier neigte die Lehre zur Ansicht, zumindest soweit die nur sporadischen Angaben dies erkennen lassen, das Unterlassen der angeordneten neuerlichen Kundmachung als für die Bindungswirkung unerheblich zu erachten, da eine solche Anordnung gleichsam nur ein Entgegenkommen des Gesetzgebers sei.52 Die Formel „damit sich niemand mit der Unwissenheit entschuldigen möge“ umschreibt somit die zentrale Zielsetzung der frühneuzeitlichen Publikation und gehörte zum Standardformular der Gesetzesurkunde.53 Unter Umständen wurde bei den lokalen Obrigkeiten mit Hinweis auf Regressmöglichkeiten ihre Pflicht zur entsprechenden Promulgation eingeschärft: Strafen für Gesetzesverstöße, die aufgrund ihrer Versäumnisse bei der Kundmachung nicht verhängt werden könnten, würden bei ihnen eingehoben.54 Die Überwachung der Amtsführung von Lokalbeamten schloss regelmäßig als wesentliches Element die Überprüfung der pflichtgemäßen Kundmachung von Mandaten und Patenten ein, widrigenfalls Strafen nicht nur angedroht, sondern auch (im Wiederholungsfall in durchaus beträchtlicher Höhe von mehreren Talern) verhängt wurden.55 49 Vgl. ausnahmsweise in diesem Sinne der Kanonist Vitus Pichler, Jus canonicum, secundum quinque Decretalium tituolos Gregorii Papae IX. explicatum. Exhibens Succincta, et Clara methodo omnes materias in Scholis tractari, & in Praxi quotidiana frequentiùs occurrere solitas, nobilioresque Controversias, ex Jure Naturali, Divino, Canonico, imò & Civili solidè decisas, […], Ravenna/Venedig 1741, S. 18. 50 Häberlin (Fn. 17), S. 297. 51 Siehe z. B. Tiroler Landesarchiv (Innsbruck), Kopialbuch „An die Fürstliche Durchlaucht“, Bd. 82, fol. 154v – 156v, 1663 März 28; ferner Härter, Policey und Strafjustiz (Fn. 6), Bd. 1, S. 223. 52 Vgl. Julius Eduard Hitzig, Annalen der deutschen und ausländischen Kriminalrechtspflege, Bd. 17, Altenburg 1841, S. 80 – 82. 53 Vgl. Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 630. 54 Siehe z. B. Supplementum Codicis Austriaci, pars II, Wien 1752, S. 262 – 263. 55 So in Tiroler Landesarchiv, Buch Tirol, Bd. 22, fol. 322, 1645 April 7.

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2. Polizeywissenschaft und politische Gesetzeskunde Wie erwähnt, wenden sich die Polizeywissenschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die (österreichische) politische Gesetzeskunde der Gesetzespublikation aus einer anderen Perspektive zu als die frühneuzeitliche Lehre vom „ius publicum“. Hier geht es nicht um die abstrakten, rechtsdogmatischen Fragen der Gesetzesgeltung und der Verbindlichkeit, sondern um die Zielsetzung einer möglichst effizienten und umfassenden Normimplementation, für die eine möglichst weitflächige Kenntnis der Polizeygesetze förderlich erschien. Entsprechend ausführlich widmen sich die einschlägigen Werke der Darstellung der unterschiedlichen – freilich von Land zu Land im Einzelnen leicht divergierenden56 – Publikationsmethoden und heben insbesondere hervor, für welche Gesetzestypen welches Kundmachungsprozedere speziell anzuraten sei. Dabei berücksichtigt man durchaus, namentlich in Werken der politischen Gesetzeskunde, die schließlich nicht nur den anzustrebenden Idealzustand abbilden, sondern überdies die geltende Rechtslage wiedergeben sollen, den normativen Rahmen und die Publikationspraxis. Daher wird der (auch administrative) Ablauf des standardisierten Publikationsvorganges genau dargestellt, darüber hinaus freilich ebenso auf speziellere Arten der Kundmachung, beispielsweise bei einem zahlenmäßig eingeschränkten Adressatenkreis oder bei der Notwendigkeit der regelmäßigen Normwiederholung, hingewiesen.57

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Die Kundmachungsweise müsse so „den individuellen Verhältnissen jedes Staates gemäss bestimmt werden“: Wilhelm Joseph Behr, System der angewandten allgemeinen Staatslehre oder der Staatskunst (Politik), Zweyte Abtheilung: Die Staatsverwaltungslehre, Frankfurt a. M. 1810, S. 88. 57 Vgl. z. B. Josef Kropatschek, Oestreichs Staatsverfassung, vereinbart mit den zusammengezogenen bestehenden Gesetzen, zum Gebrauche der Staatsbeamten, Advokaten, Oekonomen, Obrigkeiten, Magistraten, Geistlichen, Bürger und Bauern, zum Unterrichte für angehende Geschäfftsmänner, Bd. 1, Wien 1795, S. 264 – 286; Franz Josef Schopf, Die Obrigkeiten in den innerösterreichischen Provinzen, deren Wirkungskreis und Amtshandlungen mit besonderer Rücksicht auf Steiermark, Graz 1844, S. 69 – 77; Joseph von Winiwarter, Handbuch der Justiz- und politischen Gesetze und Verordnungen, welche sich auf das in deutschen Provinzen der Oesterreichischen Monarchie geltende allgemeine bürgerliche Gesetzbuch beziehen, Bd. 1, 2. Aufl., Wien 1835, S. 23 – 27; Dominik Kostetzky, System der politischen Gesetze Böhmens, zum bequemen Gebrauch für den Geschäfts- und Privatmann, Theil 2, Bd. 1, Die Polizey und Sicherheitssachen, 1. Abt.: Landespolizey, Prag 1817, S. 12 – 21; Johann Ludwig Ehrenreich von Barth-Barthenheim, Das Ganze der österreichischen politischen Administration mit vorzüglicher Rücksicht auf das Erzherzogthum Oesterreich unter der Enns. In systematisch geordneten Abhandlungen, Bd. 1, Wien 1838, S. 7 – 14; vergleichsweise kurz hingegen Johann Tschinkowitz, Darstellung des politischen Verhältnisses der verschiedenen Gattungen von Herrschaften zur Staatsverwaltung, zu ihren Beamten und Unterthanen in der k. k. österreichischen Monarchie, mit besonderer Berücksichtigung auf die Provinzen Steyermark, Kärnthen und Krain. Ein nothwendiges Handbuch für alle politischen Behörden, besonders für Kreiscommissäre, Bezirks- und Landbeamte, dann Herrschaftsbesitzer und Verwalter, Erster Theil, Graz 1827, S. 412.

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Die Promulgation wird dabei nicht nur als Voraussetzung, sondern bereits als wesentlicher Aspekt des Implementationsvorgangs wahrgenommen:58 Der Akt stelle für die Obrigkeit schon „eines der vorzüglichsten Mittel“ dar, „die Wirksamkeit und Befolgung […] [der Polizeygesetze] zu erzielen“, indem aus diesem Anlass der „bestimmte Zweck eines jeden Polizey-Gesetzes […] überzeugend und einleuchtend dargestellt werden“ solle, „damit jedes Individuum im Staate dasselbe als ein Mittel zu seinem eigenen Zwecke und Vortheile betrachte und benutze“59.

3. Die Kanonistik Auch die Kanonistik behandelt den Themenkomplex der Gesetzeskundmachung ausführlich, wenngleich nahezu ohne Interdependenz zur weltlichen Staatsrechtslehre. Die Grundpositionen sind durchaus vergleichbar, insbesondere hinsichtlich des Postulats, dass die Verbindlichkeit des positiven Gesetzes eine entsprechende Promulgation erfordere.60 Umstritten war wie schon im „ius publicum“ die Frage, ob die Kundmachung zu den Essentialia des Gesetzesbegriffs gehöre und daher in Ermangelung einer Publikation kein Gesetz vorliege oder ob das schon vorher existente Gesetz erst dadurch seine Verbindlichkeit erlange.61 Freilich lassen sich unabhängig davon gewisse Partikularitäten greifen, die die Kanonistik von der Staatsrechtslehre unterscheiden. So ist bei Kirchenrechtswissenschaftlern die Anknüpfung an mittelalterliche Traditionsstränge deutlich ausgeprägter als im Bereich des weltlichen Rechts, was angesichts der Formulierung wesentlicher kirchenrechtlicher Lehrsätze und normativer Grundlagen im Mittelalter nicht überrascht. Zudem erfährt die Frage nach der Notwendigkeit der Kundmachung als Geltungsgrund tendenziell eine viel ausführlichere Behandlung, indem durchgehend zwischen göttlichem bzw. natürlichem und vom Menschen geschaffenem positivem Recht unterschieden wird. Bei göttlichem Recht bedürfe es keines eigenen Promulgationsvorgangs, da Gott als „Dominus animae et spiritus“ den Menschen die Kenntnis des göttlichen Rechts schon eingepflanzt habe (in diesem Zusammenhang wird die Wendung von der „promulgatio interna“ verwendet).62 58

Siehe auch Cancik, Aufklärung und Rechtsdurchsetzung (Fn. 10), S. 507. Anonymus, Grundsätze der Polizeywissenschaft, Bd. 1, Wien 1816, S. 46. 60 Siehe z. B. Nicolò Mazzotta, Theologia moralis, Bologna 1754, S. 26; Bonifacius Maria Grandi, Cursus Theologicus […], Bd. 2, Ferrara 1692, S. 341; Pichler (Fn. 49), S. 18 („Deinde Lex est locutio Principis obligare volentis ad subditos directa: sed locutio haec nequit esse sine signo manifestativo voluntatis obligandi, nec est completa, nisi sit apta percipi ab audientibus: ergo lex vera in ratione Legis non est, quae manifestata & promulgata non est.“). Für das Mittelalter siehe die Hinweise bei Richard Potz, Die Geltung kirchenrechtlicher Normen. Prolegomena zu einer kritisch-hermeneutischen Theorie des Kirchenrechts, Wien 1978, S. 89, 98. 61 Siehe z. B. Petrus Collet, Institutiones theologicae […], 6. Aufl., Paris 1774, S. 193 (wobei hier Collet nicht seine eigene Meinung, sondern nur eine mögliche Ansicht wiedergibt). 62 Juan de Salas, Tractatus de legibus, in primam secundae S. Thomae, Lyon 1611, S. 273. 59

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Zudem musste für das katholische Kirchenrecht die Frage nach der gehörigen Kundmachung angesichts der geographischen Weite des normativ zu durchdringenden Raums eine besondere Herausforderung darstellen. Nach einer kurzen Zusammenfassung der kirchenrechtlichen Bestimmungen wird von den Kanonisten regelmäßig das Standardprozedere bei der Publikation von Kirchengesetzen dargestellt, das nicht die Kundmachung an das Kirchenvolk von der Kanzel aus in den Mittelpunkt rückt, sondern die sogenannte „publicatio Romana“:63 Diese erforderte den Anschlag der Gesetze an zwei der römischen Basiliken; anschließend traten sie, sofern nichts Abweichendes angeordnet wurde, in den cisalpinischen Diözesen nach einer Legisvakanz von zwei Monaten, in den transalpinischen Kirchenprovinzen nach vier Monaten in Kraft.64 Die Art der Bekanntgabe der Normen an das Kirchenvolk vor Ort wird von den Kanonisten hingegen regelmäßig nicht behandelt, sehr wohl allerdings die intensiv erörterte Frage, ob die „publicatio Romana“ als Kundmachung ausreichend sei oder ob zusätzlich noch eine weitere Promulgation in den jeweiligen Diözesen erfolgen müsse. Diese Thematik wurde überaus kontrovers und ausführlich diskutiert,65 wobei tendenziell die Anschauung überwog, dass eine Publikation allein in Rom hinreichend sei.66 Die eine Kundmachung ebenfalls an der Peripherie fordernde Novelle 66 sei, da es sich ja um eine Vorschrift des Corpus Iuris Civilis handle, im Kirchenrecht nicht analog anzuwenden. Allfällige Einschränkungen des räumlichen Geltungsbereichs (insbesondere auf Italien) würden weiters, wie die kuriale Praxis zeige, in päpstlichen Gesetzen ausdrücklich statuiert; ebenso werde stets expressis verbis festgehalten, wenn eine Kundmachung in den Diözesen angeordnet werde – in derartigen Fällen handle es sich freilich um Ausnahmen von der Regel; das übliche Fehlen entsprechender Anweisungen belege, dass die „publicatio Romana“ ansonsten ausreichend sei. Dies schließe natürlich nicht aus, dass päpstliche Rechtssetzungsakte den Nuntien und Bischöfen übersandt würden, damit diese sie dem Kirchenvolk zur Kenntnis bringen könnten, doch sei dies eben für die Geltung respektive Verbindlichkeit nicht maßgebend. Darüber hinaus schien in Rom als der Hauptstadt der Christenheit mit ihren dort anwesenden diplomatischen Gesandten, Pilgern, Händlern und Geistlichen die Diffundierung des Wissens um die neu kundgemachten Normen auch bei einer Beschränkung auf die „promulgatio Romana“ gewährleistet. Als besonders problematisch bei der Kundmachung an der kirchlichen Peripherie als Geltungserfordernis wurde der Umstand angesehen, dass in diesem Fall ein widerstrebender weltlicher Fürst nur allzu leicht das 63

Oberflächlich bleiben die einschlägigen Ausführungen bei Holzborn (Fn. 19), S. 14 – 16. Vgl. z. B. Pichler (Fn. 49), S. 18; Salas (Fn. 62), S. 273 – 274; Mazzotta (Fn. 60), S. 26. 65 Vgl. die Hinweise auf die unterschiedlichen Autoren und ihre Positionierung in diesem Punkt bei Joseph Biner, Apparatus eruditionis ad jurisprudentiam praesertim ecclesiasticam […]. Pars I: de jure in genere, 3. Aufl., Augsburg/Freiburg i. Br. 1754, S. 18. 66 Die folgenden Ausführungen beruhen auf den abundanten Darlegungen bei Biner (Fn. 65), S. 17 – 25; Ignatius Neubauer, Theologia dogmatico-polemico-scholastica. Tractatus secundus: De legibus, Würzburg 1766, S. 172 – 182. Kurzgefasst findet sich diese Position regelmäßig, z. B. bei Bartholomaeus Mastrius de Meldula, Theologia moralis […], Venedig 1709, S. 41. 64

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Inkrafttreten von Kirchengesetzen in seinem Herrschaftsbereich willkürlich verhindern könnte. Ein „Placetum regis“ als Voraussetzung für die Publikation in gewissen Diözesen wurde zwar anerkannt, jedoch als Ausnahme im Sinne eines Privilegs bzw. Indults des Heiligen Stuhls für bestimmte Fürsten angesehen. Eine weitere Frage wurde in der frühneuzeitlichen Kanonistik im Anschluss an mittelalterliche gelehrte Diskussionen ebenfalls weitaus ausführlicher behandelt als im weltlichen „ius publicum“. Diese betraf die Problematik, ob zusätzlich zur Promulgation noch die Anerkennung des kirchlichen Gesetzes durch die Normadressaten erforderlich sei,67 was von zahlreichen Kanonisten (wenn auch nicht unumstritten und bis in das 19. Jahrhundert mit abnehmender Tendenz) noch immer bis zu einem gewissen Grad bejaht wurde.68 Demgegenüber hatte sich die voluntas-Theorie, wonach der Wille des Gesetzgebers alleiniger Geltungsgrund des Gesetzes sei, in der Staatsrechtslehre schon im 17. Jahrhundert durchgesetzt, und die Akzeptanztheorie wurde (sofern sie noch überhaupt angesprochen wurde) definitiv verworfen.69

III. Materielle und formelle Publikation Die Kanonistik bedient sich der offensichtlichen juristischen Fiktion, dass die „publicatio Romana“ die so verkündete Norm potenziell der gesamten Christenheit bekannt macht, auf die tatsächliche Gesetzeskenntnis des Adressatenkreises wird nicht abgestellt. Teils wird ausdrücklich festgehalten, dass die aus welchen Gründen auch immer resultierende und damit gegebenenfalls auch unverschuldete Gesetzesunkenntnis nach der gehörig vollzogenen Kundmachung nicht von der Gesetzesbindung befreie, weshalb bei Verstößen eine Strafverhängung möglich sei.70 Ähnlich verhält es sich mit anderen Ausprägungen frühneuzeitlicher Publikation. Auch hier wird – wie dies Pascale Cancik ebenfalls treffend hervorgehoben hat – bezeichnenderweise nicht (wie in der historischen Literatur vielfach zumindest missverständlich formuliert) auf die tatsächliche Rechtskenntnis des Individuums abgestellt, sondern nur auf die potenzielle Zugänglichkeit der „gehörig kundgemachten“ Gesetze für die Gesamtheit der Rechtsunterworfenen. Aus dieser Perspektive heraus verwirft Cancik die bislang gängige Differenzierung zwischen der sogenannten „materiellen“ und „formellen“ Publikation als nicht zielführend.71

67

Siehe z. B. Mazzotta (Fn. 60), S. 26 – 27. Potz (Fn. 60), S. 99 – 131. 69 Siehe auch Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 130 – 136, und (mit Blick auf die Gesetzgebungspraxis) 447 – 450; Mohnhaupt, Potestas legislatoria (Fn. 10), S. 199. 70 Vgl. ausführlich zu diesem Problem z. B. Eugen Worel (Praeses)/Alexius Langhans (Defendent), Jus scriptum et non scriptum […] sive Tractatus theologicus canonico-moralis, De Constitutionibus, Rescriptis, & Consuetudine […], Altprag 1725, S. 119 – 125; ebd., S. 123 zahlreiche Hinweise auf einschlägige kanonistische Literatur. 71 Ausführlich Cancik, Verwaltung und Öffentlichkeit (Fn. 9), S. 155 – 204. 68

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Diese theoretische Unterscheidung zwischen formeller und materieller Publikation geht auf Georg Lukas zurück und war seither und bis zu den Arbeiten Canciks (und darüber hinaus) für die juristische wie (rechts)historische Forschung prägend.72 Bei ersterer beschränke sich der Gesetzgeber darauf, einen spezifischen formellen Akt zu setzen – üblicherweise die Veröffentlichung einer Norm in einem staatlichen Gesetzesblatt oder in einem sonstigen amtlichen Publikationsmedium –, der potenziell sämtlichen Normadressaten die Möglichkeit eröffnet, sich über den Norminhalt kundig zu machen. Verbunden damit ist die juristische Fiktion, dass alle derart gehörig kundgemachten Normen generell bekannt seien; der Normadressat wird somit verpflichtet, sich mit den für ihn maßgeblichen Rechtsvorschriften vertraut zu machen. Das Prinzip der formellen Gesetzespublikation begründet somit, um eine Formulierung Josef Pausers aufzugreifen, „eine Holschuld des Rechtsunterworfenen“, wohingegen die materielle Gesetzespublikation eine „Bringschuld“ des frühmodernen Staates darstelle:73 Der Gesetzgeber müsse hier konkrete Maßnahmen wie die öffentliche Verlesung der Gesetzestexte oder den Anschlag von Mandaten an frequentierten Orten wie Kirchentüren, Gerichtsgebäuden oder Stadttoren ergreifen, um eine effektive Kenntnisnahme der Norm durch die Öffentlichkeit zu gewährleisten. Diese materielle Publikation erforderte somit im Vergleich zur späteren formellen einen größeren Ressourceneinsatz. Sie war jedoch angesichts der in der frühneuzeitlichen (speziell ländlichen) Gesellschaft noch limitierten Literalität und der vergleichsweise gering ausgeprägten administrativ-herrscherlichen Raumdurchdringung die im Ancien Régime gängige Publikationsmethode. Zur vermeintlich grundlegenden Zäsur kam es erst im Gefolge der Französischen Revolution, als in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts das „Bulletin des lois de la République“ eingeführt und mit der Wirkung der formellen Publikation ausgestattet wurde. Von Frankreich seinen Ausgang nehmend, trat die formelle Publikation im Verlauf des 19. Jahrhunderts, bei den mit Frankreich verbündeten Rheinbundstaaten beginnend, seinen Siegeszug an.74 Dass die Einführung eines „Bulletin des lois“ auch von den Zeitgenossen nicht als Zäsur, sondern als Fortschreibung einer nur adaptierten staatlichen Kommunikation mit den Normadressaten betrachtete wurde, vermögen die Ausführungen von JeanÉtienne Portalis in seinem „Exposé des motifs de la loi relative à la publication, aux effets et à l’application des lois en général“ aus dem Jahr 1803, das den (unter anderem die Gesetzespublikation behandelnden) „Titre préliminaire“ des Code civil er72 Siehe hierzu wissenschaftsgeschichtlich Cancik, Verwaltung und Öffentlichkeit (Fn. 9), S. 159 – 164. Auch nach dem Erscheinen von Canciks Arbeit wird teilweise an der Differenzierung festgehalten, vgl. z. B. noch Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 613 – 614. 73 Beide Zitate aus Josef Pauser, Die österreichischen gesamtstaatlichen Gesetzblätter 1849 – 1940. E-text: http://alex.onb.ac.at/rgb_info.htm [letzter Zugriff am 28. 08. 2019]. Zur Differenzierung siehe im Übrigen auch Holenstein (Fn. 5), S. 192. 74 Hierzu ausführlich Wunder (Fn. 19); Ruppert (Fn. 4), S. 86 – 89; Cancik, Verwaltung und Öffentlichkeit (Fn. 9), S. 175 – 182; siehe schon Lukas (Fn. 2); Holzborn (Fn. 19), S. 151 – 162.

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läutert,75 besonders deutlich vor Augen zu führen.76 Auf den kommunikativen Aspekt als Kern der Gesetzeskundmachung machte Portalis expressis verbis aufmerksam: „Entre la loi et le peuple pour qui elle est faite, il faut un moyen ou un lieu de communication“77. Die Abhandlung ist zudem insofern von besonderem Interesse, als dort schon zu einem frühen Zeitpunkt von einer „publication matérielle, si on peut s’exprimer ainsi“78, die Rede ist und dabei auf die Kundmachungsmethode mittels Anschlags und Verlesung abgezielt wird, ohne dass freilich der komplementäre Begriff der „formellen Kundmachung“ schon Verwendung findet. Als Nachteil des Verfahrens wird dabei von Portalis speziell die Abhängigkeit von Willen und Arbeitseinsatz lokaler Obrigkeiten angesehen, die aus Widerstreben oder Bequemlichkeit das Inkrafttreten in ihren Zuständigkeitsbereichen verhindern könnten.79 Im Übrigen wurde die bis in die neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts gepflogene Art der Publikation – einschließlich der Eintragung der Gesetze in die Register der jeweiligen Parlements80 – auch in doppelter Hinsicht als Ausdruck der verfassungsrechtlichen Struktur des Ancien Régime gesehen: Mit der Registereintragung sei die notwendige Kontrolle der Gesetze auf ihre Vereinbarkeiten mit regionalen „leges fundamentales“ verbunden, und die Verlautbarung vor Ort durch mündliche Verkündung und Anschlag sei insofern besonders relevant gewesen, als der fürstliche Gesetzgeber vorrevolutionärer Zeiten Gesetze im Geheimen ausgearbeitet hätte, das Gesetz daher bei der (deshalb notwendigen) Kundmachung vor Ort „comme l’éclair qui sort du nuage“ auf die Bevölkerung herabgefahren sei.81 Hierfür gebe es nach der Revolution keinen Anlass mehr, da der Gesetzgebungsprozess einschließlich der maßgeblichen Diskussionen unter den Augen und unter Teilhabe der (medialen) Öffentlichkeit verlaufe.82 Überhaupt hätten frühere Gesetzgeber angesichts der offensichtlichen Unmöglichkeit, alle Individuen durch den Kundmachungsvorgang effektiv zu erreichen, ebenfalls mit einer „présomption de droit“ gearbeitet, „équivalente à une certitude, que la loi a été connue de tous, après l’observation des formes admises pour sa

75

Von den hier maßgeblichen „Motifs de la loi relative à la publication, aux effets et à l’application des lois en général“ existieren eine ganze Reihe zeitnah erschienener Druckfassungen, siehe z. B. Code civil des Français, suivi de l’exposé des motifs, sur chaque loi, présenté par les orateurs du gouvernement. […], 2. Bd: Contenant la discussion des titres, De la publication des lois; […], Paris 1804. Hier zitiert nach Désiré Dalloz/Armand Dalloz (Hrsg.), Répertoire méthodique et alphabétique de législation, de doctrine et de jurisprudence […], Bd. 30, 2. Aufl., Paris 1853, S. 37 – 43, Anm. 3. 76 Zu den Staatsratsdebatten über den Artikel 1 des Code civil und zu den damals in Betracht gezogenen Varianten siehe Plesser (Fn. 19), S. 59 – 62; ferner Wehrhahn (Fn. 19), S. 280 – 285. 77 Dalloz/Dalloz (Fn. 75), S. 38. 78 Dalloz/Dalloz (Fn. 75), S. 41. 79 Dalloz/Dalloz (Fn. 75), S. 41. 80 Vgl. Wunder (Fn. 19), S. 32; Wehrhahn (Fn. 19), S. 222 – 232. 81 Dalloz/Dalloz (Fn. 75), S. 38. 82 Dalloz/Dalloz (Fn. 75), S. 38.

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publication“83. Auch aus dieser Perspektive stelle die Umstellung auf eine Publikation im „Bulletin des lois“, die gleichermaßen mit einer entsprechenden Rechtsfiktion arbeite, keine Zäsur dar. Die Argumente von Portalis waren zu diesem Zeitpunkt keineswegs originell oder neu; ähnliche Ansichten waren schon im Zuge der Vorarbeiten zum Code civil ventiliert worden. Eines der Mitglieder des Tribunats, Jacques Thomas Lahary, hatte so vor Portalis von der „publication matérielle et locale“ gesprochen und diese als auf die spezifischen Bedürfnisse des Ancien Régime abgestimmt verworfen,84 während sich andere Stimmen mit Verve hervorgehoben hatten, „que la publication matérielle peut seule donner au Gouvernement l’assurance qu’il a rempli le devoir de faire connaître la loi“85. Die Wortmeldungen um 1800 in Vorbereitung der Eingangsartikel des Code civil als auch die Formulierung von der „materiellen Publikation“ machen deutlich, dass hiermit keine grundlegende Zäsur intendiert war, sondern nur die Umstellung auf ein zeitadäquateres Kommunikationsmedium, zumal sich die Redaktoren des Code durchaus bewusst waren, dass die Gesetzespublikation schon zu Zeiten des Ancien Régime mit der Rechtsfiktion einer allgemeinen Kenntnisnahme gearbeitet hatte und keinesfalls auf die tatsächliche Gesetzeskenntnis abgestellt worden war.

IV. Kundmachungstechniken 1. Mündliche Verkündigung („Berufung“) und Anschlag der Gesetzesurkunde Es möge das Mandat „durch ainen yeden pharrer oder prediger an der cannzl vor anfanngs der predig in gannzer versamlung offennlich verlesen, verkündt und nachmalen an die kirchenthürn und anndere ort, da in stetten und fleckhen die maist versamlungen unnserer underthanen sein, angeschlagen werden“86 : Mit diesen Worten wird in einem 1524 für Tirol erlassenen Policeymandat die Kundmachung des betreffenden Gesetzes angeordnet. Es beschreibt damit die zwei in der Frühneuzeit gängigsten Techniken der Normenpromulgation, nämlich die mündliche Verkündung („Berufung“) sowie den Anschlag einer Gesetzesurkunde an öffentlichen, möglichst stark frequentierten Orten.

83

Dalloz/Dalloz (Fn. 75), S. 40. Code civil des Français, suivi de l’exposé des motifs, sur chaque loi, présenté par les orateurs du gouvernement. […], Bd. 9: Discussion de l’an X. Discussion sur le titre préliminaire […], Paris 1810, S. 176 – 191, Zitat S. 183. 85 Procès-verbaux du conseil d’état, contenant la discussion du projet de Code civil. Années IX et X. Paris 1803, S. 11. 86 Tiroler Landesarchiv, Von der Fürstlichen Durchlaucht 1523 – 1526, fol. 52v –53r, 1524 Jan. 26. 84

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Als Orte der mündlichen Gesetzespublikation kamen periodisch abgehaltene Taidinge, Gemeinde- oder Gerichts- respektive Bürgerversammlungen, öffentliche Plätze vor Rathäusern, Gerichtsgebäuden oder Kirchen in Frage.87 Für Jahrhunderte stellte die Frage einer möglichen Berufung eines Gesetzes in der Kirche oder gar von der Kanzel durch den Geistlichen einen Anlass für wiederholte Dispute zwischen geistlicher und weltlicher Obrigkeit dar.88 Unproblematisch gestaltet sich diese bei frühneuzeitlichen Policeygesetzen, die im weitesten Sinn auf die Herstellung eines obrigkeitlicherseits als „gottgefällig“ qualifizierten Lebenswandels der Bevölkerung abzielten.89 Bei andere Lebensbereiche regelnden Normen wie Materien der Medizinal- oder Wirtschaftspolicey oder auch Strafgesetzen kam es hingegen immer wieder zu Konflikten und gegebenenfalls Kompromisslösungen.90 Für die österreichischen Länder wurde beispielsweise noch unter Joseph II. statuiert, dass die Todesstrafe androhende Strafgesetze nicht in der Kirche von der Kanzel durch den Pfarrer, sondern vor der Kirche durch den Gerichtsdiener kundzumachen seien.91 Später ging man in Österreich dazu über, die Kanzelpublikation auf jene Fälle zu beschränken, in denen sie expressis verbis angeordnet wurde.92 Das Spektrum der Erscheinungsformen der mündlichen Gesetzeskundmachung war freilich überaus groß. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts bemerkte der öster87 Siehe auch Härter, Policey und Strafjustiz (Fn. 6), Bd. 1, S. 225; Heinz Lieberich, Die Anfänge der Polizeigesetzgebung des Herzogtums Baiern, in: FS Spindler, München 1969, S. 307 – 378 (319); Matthias Weber, Die schlesischen Polizei- und Landesordnungen der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 166; Ulinka Rublack, Frühneuzeitliche Staatlichkeit und lokale Herrschaftspraxis in Württemberg, in: Zeitschrift für historische Forschung 24 (1997), S. 347 – 376 (353); de Vivo, Information and Communication (Fn. 3), S. 128 – 130. 88 Die Publikation von der Kanzel wird in historischen Darstellungen regelmäßig erwähnt, vgl. z. B. Wilhelm Janssen, „… na gesetze unser lande …“. Zur territorialen Gesetzgebung im späten Mittelalter, in: Dietmar Willoweit (Red.), Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 21./22. März 1993, Berlin 1984, S. 7 – 40 (33); Härter, Gesetzgebungsprozess und gute Policey (Fn. 6), S. 13; Brück (Fn. 6), S. 55; Hofmeister-Hunger (Fn. 3), S. 114; Holenstein (Fn. 5), S. 208; Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, S. 149. 89 Siehe z. B. Bettina Günther, Die Behandlung der Sittlichkeitsdelikte in den Policeyordnungen und der Spruchpraxis der Reichsstädte Frankfurt am Main und Nürnberg im 15. bis 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2004, S. 34 – 35. 90 Die Problematik wird schon thematisiert bei Lothar Schilling, Policey und Druckmedien im 18. Jahrhundert. Das Intelligenzblatt als Medium policeylicher Kommunikation, in: Karl Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 413 – 452 (430); ders., Gesetzgebung und Erfahrung (Fn. 5), S. 407; Martin P. Schennach, Zuschreiben von Bedeutung. Publikation und Normintensität frühneuzeitlicher Gesetze, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 125 (2008), S. 133 – 180 (149 – 150); ders., Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 622 – 623. 91 Vgl. Johann Thomas Edler von Trattner, Sammlung der Kaiserlich-Königlichen Landesfürstlichen Gesetze und Verordnungen in Publico-Ecclesiasticis vom Jahre 1782 bis 1783, 2. Theil, Wien 1784, Nr. 66. 92 Vgl. Schopf (Fn. 57), S. 76 – 77.

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reichische Statistiker Joseph Marx von Liechtenstern, dass die „Verlautbarung selbst […] äusserst verschieden“ geschehe, und dass „die Formalitäten dabey […] nicht überall genau vorgeschrieben“93 seien. In Einzelfällen, namentlich bei einer angespannten Sicherheitslage oder besonders umstrittenen Materien, wurden sogar Dorfvorsteher oder Gerichtsdiener damit beauftragt, einzeln von Haus zu Haus zu gehen und das betroffene Gesetz den Bewohnern individuell einzuschärfen. Fallweise bediente man sich dabei noch im beginnenden 19. Jahrhundert in Österreich der Hauseigentümer, denen Gesetze besonders bekannt gemacht wurden, die hierüber eigene Register zu führen und die Inhalte anschließend den Hausbewohnern zu kommunizieren hatten.94 Bereits Jahrzehnte vorher hatte der Polizeywissenschaftler Johann Heinrich Ludwig Berg darauf hingewiesen, dass es sich bei manchen Gesetzen wie Stadtpolizeyordnungen empfehle, dass man „einer jeden Familie in der Stadt ein gedrucktes Exemplar davon einhändigen läßt“95. Unter Joseph II. bezog man in den österreichischen Ländern die für die Erfassung der wehrfähigen Mannschaft zuständigen und für die Rekrutenstellung mitverantwortlichen Werbebezirkskommissäre in den Vorgang der Gesetzeskundmachung mit ein, da diese als Militärangehörige auch grundherrschafts- und gemeindeübergreifend tätig werden und somit als zusätzlicher Kommunikationskanal dienen konnten.96 Nicht bei allen Gesetzen war aufgrund ihres auf bestimmte, abgrenzbare Bevölkerungsgruppen eingeschränkten persönlichen Geltungsbereichs die allgemeine Publikation an die Gesamtheit der Untertanen notwendig. In der Frühen Neuzeit sind daher durchgehend Formen einer zielgruppenspezifischen Gesetzeskundmachung nachweisbar, bei denen sich die Promulgation auf die von den Gesetzen betroffenen Personenkreise respektive deren Repräsentanten beschränkte.97 Zünfte oder Handwerke tangierende Regeln wurden so den Zunftmeistern bzw. den Handwerksmeistern, Gerichtsordnungen neben dem Gerichtspersonal den Anwälten oder spezifische 93 Joseph Marx von Liechtenstern, Ueber das Studium der Statistik, in: Archiv für Geographie und Statistik, ihre Hilfswissenschaften und Litteratur 1 (1801), S. 1 – 16, 95 – 109, 230 – 241, 273 – 298, 325 – 356 (232 – 233). Summarisch bleibt Wilhelm Brauneder, Die Donau-Monarchie als mehrsprachiger Rechtsraum, in: Ellen Bos/Kálmán Pócza (Hrsg.), Rechtssysteme im Donauraum. Vernetzung und Transfer, Baden-Baden 2014, S. 69 (70). 94 Vgl. Kostetzky, Practische Regeln (Fn. 36), S. 36; Winiwarter (Fn. 57), S. 25. 95 Johann Heinrich Ludwig Berg[ius], Art. „Policeygesetze“, in: Policey- und CameralMagazin, in welchem nach alphabetischer Ordnung die vornehmsten und wichtigsten bey dem Policey- und Cameralwesen vorkommende Materien nach richtigen und vernünftigen Grundsätzen practisch abgehandelt und durch landesherrliche Gesetze und hin und wieder wirklich gemachte Einrichtungen erläutert werden, Bd. 7, welcher N bis R enthält, Frankfurt a. M. 1773, S. 105 – 120 (115). 96 Vgl. Handbuch der kaiserl. königl. Gesetze, Bd. 3, 1. Abt., enthält die die Verordnungen vom 1ten May 1785, bis 1ten May 1786, Salzburg 1786, S. 437 (437 – 438). 97 Siehe schon Kostetzky, Practische Regeln (Fn. 36), S. 36; ders., System (Fn. 57), S. 18; Justi (Fn. 34), S. 311; Berg[ius] (Fn. 95), S. 113 – 114; ferner Härter, Gesetzgebungsprozess und gute Policey (Fn. 6), S. 12; Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 629; ders., Zuschreiben von Bedeutung (Fn. 90), S. 157; Holzborn (Fn. 19), S. 54; de Vivo, Information and Communication (Fn. 3), S. 130 – 131.

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medizinalpolizeyliche Regelungen den Ärzten gesondert zur Kenntnis gebracht. Zuweilen entschied sich der Gesetzgeber freilich auch in derartigen Fällen für eine parallel veranstaltete Kundmachung an die Allgemeinheit, zumal wenn mit einer legislativen Regelung ein Schutzzweck zugunsten Dritter, d. h. über den Kreis der unmittelbar berührten Personen hinaus verbunden war. Ein Beispiel par excellence stellen die Gerichtstaxen und -sporteln betreffenden Gesetze dar, die grundsätzlich nur das Gerichtspersonal betrafen, allerdings das Publikum vor der eigenmächtigen Einhebung überzogener Gebühren durch das richterliche und sonstige Personal schützen sollten und daher weitflächig kundgemacht wurden.98 Mit Blick auf den technischen und administrativen Rahmen der frühneuzeitlichen Gesetzespublikation führte die Einführung des Drucks zur Vervielfältigung der Mandate zu einer Vereinfachung und damit Beschleunigung des Verfahrens.99 Im Bereich der weltlichen Gesetzgebung kommt es auf Reichsebene nach noch sehr verhaltenen Ansätzen unter Friedrich III. erstmals unter Maximilian I. zu einer intensiveren Nutzung der neuen Technik,100 die parallel mit der signifikanten Zunahme legislativer Akte um 1500 auch bereits in größeren Territorien wie Bayern oder den österreichischen Ländern sowie in größeren Reichsstädten wie Köln zur Anwendung kommt.101 In kleineren Ländern wie beispielsweise dem Hochstift Augsburg verzögerte sich die Einführung der Drucktechnik zwecks Kundmachungserleichterung hingegen noch um mehrere Jahrzehnte, der Gebrauch verdichtete sich hier oftmals erst im 18. Jahrhundert.102 Aber auch noch andere Faktoren als nur die Größe des Territoriums, die sich ja direkt proportional zur Zahl der benötigten Mandate verhält, wie die Existenz einer Druckerei am Sitz der Zentralbehörden oder zumindest in dessen unmittelbarer Nähe beeinflussen die weitflächige Durchsetzung des Mandatsdrucks. Wenig überrascht zudem die Faustregel, dass umfangreichere Gesetze wie Landrechte oder Malefizordnungen früher gedruckt werden als Einzelgesetzgebungsakte in Form von Einblattdrucken.103 Mit der Intensivierung der Gesetzgebung wurde zunehmend 98

sen).

Vgl. Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 629 (mit weiteren Literaturhinwei-

99 Vgl. die Auflistung der frühesten nachweisbaren Gesetzesdrucke in den einzelnen europäischen Staaten bei Armin Wolf, Gesetzgebung in Europa 1100 – 1500. Zur Entstehung der Territorialstaaten, 2. Aufl., München 1996, S. 30 – 31; siehe auch Holenstein (Fn. 5), S. 212 – 213. 100 Vgl. Pauser, Amtsdrucksachen (Fn. 3), S. 40 – 41; Eisermann (Fn. 3), S. 160 – 161, 168; Friedrich Waldner, Quellenstudie zur Geschichte der Typographie in Tirol bis zum Beginne des XVII. Jahrhundertes. Ein Beitrag zur tirolischen Culturgeschichte (Separatabdruck), Innsbruck 1888, S. 24; Adolf Schmidt, Amtliche Drucksachen im 15. Jahrhundert, in: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 59 (1911), Sp. 348 – 361 (353 – 355). 101 Robert Giel, Politische Öffentlichkeit im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Köln (1450 – 1550), Berlin 1998, S. 91 – 95; Schmidt (Fn. 100), Sp. 355 – 358. In Bayern griff man erstmals 1488 auf die neue Technik zurück, vgl. Lieberich (Fn. 87), S. 320. 102 Vgl. Schilling, Policey und Druckmedien (Fn. 90), S. 415. 103 Die sächsisch-thüringische Landesordnung von 1482 stellt so ein sehr frühes Beispiel für einen Gesetzesdruck dar, vgl. Peter Moraw, Über Landesordnungen im deutschen Spät-

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genau geregelt, welche Behörde den Druck zu veranlassen und wer die Kosten zu tragen hatte.104 Die grundsätzliche administrative Vorgangsweise – die Expedition der zunächst handschriftlich in einzelnen Exemplaren vervielfältigten Mandate durch die landesfürstliche Kanzlei, Aushändigung an reitende oder laufende Boten, die sie den lokalen Obrigkeiten oder Grundherrschaften überstellten, wo die Gesetzesurkunden ihrerseits abgeschrieben wurden – hatte sich nachweislich schon in den vorangegangenen Jahrzehnten herausgebildet.105 Selbst die Kundmachung von Gesetzen nicht nur durch mündliche „Berufung“ vor Ort, sondern durch den Anschlag des Gesetzestextes beispielsweise an Kirchentüren oder Gerichtsgebäuden ist schon früher belegt. Nur war eine solche Publikation durch kumulativen Anschlag der Gesetzesurkunde vor der Einführung des Drucks ein Ausnahmefall und Gesetzen vorbehalten, deren herausragende Bedeutung durch die mit dem Anschlag verbundene symbolische Raumdurchdringung hervorgestrichen werden sollte. Nach der Durchsetzung des Einblattdrucks wurde die Publikation durch den Anschlag bei Gesetzen mit einem allgemeinen Adressatenkeis (je nach Territorium unterschiedlich rasch) zum Regelfall.106 Dies darf aber seinerseits nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kundmachung durch bloße mündliche „Berufung“ unter Verzicht auf das Anschlagen des Textes bei als weniger zentral angesehenen Mandaten durchaus erhalten blieb. Dies erklärt auch die in ein und demselben Land auszumachenden, massiven Schwankungen der Auflagehöhen, die sich beispielsweise in Österreich unter der Enns im 16. Jahrhundert je nach Kundmachungsweise im Rahmen einer Bandbreite von 50 bis 1000 Exemplaren bewegten.107 Das Zustellungsprozedere von den Zentral- bzw. Landesbehörden an die zur Kundmachung berufenen lokalen Obrigkeiten wurde freilich im Verlauf der Früh-

mittelalter, in: Heinz Duchhardt/Gert Melville (Hrsg), Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln u. a. 1997, S. 187 – 201 (193); Schilling, Policey und Druckmedien (Fn. 90), S. 414. 104 Ausführlich Schopf (Fn. 57), S. 72 – 73. 105 Hierzu und zum Folgenden Schennach, Gesetz und Herrschaft (wie Fn. 4), S. 616 – 618. 106 Vgl. Härter, Policey und Strafjustiz (Fn. 6), 1. Bd., S. 229 (mit dem Hinweis, dass in Kurmainz die Kundmachung mittels Anschlags erst im 18. Jahrhundert üblich wurde); Dubach (Fn. 6), S. 266. 107 Vgl. Pauser, Amtsdrucksachen (Fn. 3), S. 81 – 90; zur oberösterreichischen (Tirol und die Vorlande umfassenden) Ländergruppe Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 619; weitere Beispiele für Auflagenhöhen bei Giel (Fn. 101), S. 92 – 93; Holenstein (Fn. 5), S. 212 – 213; Härter, Gesetzgebungsprozess und gute Policey (Fn. 6), S. 16; ders., Policey und Strafjustiz (Fn. 6), Bd. 1, S. 230; Weber (Fn. 87), S. 170 – 171; Eisermann (Fn. 3), S. 164 – 165, 171 – 172; ebd., S. 168 die wichtige Feststellung: „Aber aus der Auflagenhöhe allein läßt sich nicht auf die Publikationsform und auf die angestrebte Öffentlichkeitswirkung schließen: Eine hohe Auflage ist nicht unbedingt ein Indiz für eine Adressierung an die Allgemeinheit, eine niedrige Auflage deutet nicht zwingend darauf hin, daß sie nur für einen ausgewählten Adressatenkreis bestimmt war.“

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neuzeit zunehmend bürokratisiert und verrechtlicht.108 Um 1500 war es nur in Ausnahmefällen und in größeren Territorien üblich, dass Lokalbeamte an der Peripherie den Erhalt der Gesetze und/oder die von ihnen vorgenommene Promulgation durch Unterschriftsleistung und Beifügen des Datums bestätigen mussten, so dass die erfolgte Publikation genau nachvollzogen werden konnte.109 In den folgenden Jahrhunderten wurde der Vorgang immer genauer rechtlich determiniert, womit einerseits die mit der Zustellung beauftragten Boten und die Amtleute an der Peripherie diszipliniert wurden, andererseits in eventu ohne langwierige Erhebungen der Nachweis der stattgefundenen Kundmachung erbracht werden konnte. Im ausgehenden 18. Jahrhundert war beispielsweise in Österreich der Zustellungsvorgang von den Kreisämtern über die Grundherrschaften bis hin zu den einzelnen Gemeinden sowie die dabei zu verwendenden Bestätigungsformulare genauestens geregelt – bis in kleinste Details wie die Beschaffenheit der zum Transport durch die kreisämtlichen Boten zu verwendenden Ledertaschen.110 In immer mehr Ländern wurde zudem den lokalen Behörden und Amtleuten, gegebenenfalls sogar den Bürgermeistern oder den zur Kundmachung einzelner Gesetze berufenen Hauseigentümern aufgetragen, eigene Register bzw. Bücher (sogenannter „Befehlbücher“) zwecks Evidenthaltung der promulgierten Gesetze anzulegen und die Normtexte ihrerseits sorgfältig aufzubewahren.111 In mehrsprachigen Gebieten der österreichischen Monarchie wurden Einzelgesetze spätestens ab 1787 grundsätzlich zweisprachig gedruckt, und zwar „auf einer Spalte in der deutschen, und auf der andern Seite in der Landes-Sprache“.112 Zuwei108

Zu Preußen Hubrich (Fn. 2), S. 14 – 35; Holzborn (Fn. 19), S. 137 – 140. Vgl. Schennach, Zuschreiben von Bedeutung (Fn. 90), S. 143. Siehe auch in Hinweis bei Härter, Policey und Strafjustiz (Fn. 6), 1. Bd., S. 234, wonach lokale Obrigkeiten in Kurmainz ab dem 17. Jahrhundert „bei einigen Policeygesetzen“ die erfolgte Kundmachung zu bestätigen hatten; ferner Ursula Löffler, Dörfliche Amtsträger im Staatswerdungsprozess der Frühen Neuzeit. Die Vermittlung von Herrschaft auf dem Lande im Herzogtum Magdeburg, 17. und 18. Jahrhundert, Münster 2005, S. 208. 110 Vgl. Ignaz de Luca (Bearb.), Politischer Codex, oder wesentliche Darstellung sämmtlicher, die k. k. Staaten betreffenden, Gesetze und Anordnungen im politischen Fache, 4. Bd., Wien o. J., S. 320 – 322. 111 Vgl. z. B. zeitgenössisch Fischer (Fn. 33), S. 177; Kostetzky, Practische Regeln (Fn. 36), S. 36; ders., System (Fn. 57), S. 12 – 15; de Luca (Fn. 110), S. 321, bringt das Muster eines einschlägigen Formulars, auf dem die involvierten Behörden die Zustellung der zur Kundmachung erhaltenen, gedruckten Gesetze bestätigen mussten. Zur Verpflichtung der Hauseigentümer siehe Winiwarter (Fn. 57), S. 25: „[…] daß jeder Hauseigenthümer […] gehalten sey, ein Register zu halten, in welchem der Inhalt des Patentes mit wenigen Worten und das Datum aufgezeichnet, die richtig geschehene Zustellung und Mittheilung aber von allen Inwohnern mit ihrer Unterschrift so bestätigt zu finden seyn muß, damit dieses Register jederzeit auf Verlangen vorgewiesen werden könne.“ Speziell für Baden-Durlach Holenstein (Fn. 5), S. 196 – 207; siehe auch Gestrich (Fn. 88), S. 149 – 150; in Kurmainz musste beispielsweise die Vornahme der Publikation durch die Amtleute ab 1611 schriftlich bestätigt werden, vgl. Härter, Gesetzgebungsprozess und gute Policey (Fn. 6), S. 9 und 20. 112 Vgl. Ignaz Maucher, Darstellung der Quellen und Literatur der österreichischen Strafgesetzgebung über Verbrechen, mit Rücksicht auf die deutsche Strafrechtswissenschaft und 109

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len wurde dies den Obrigkeiten noch zu späteren Zeitpunkten ausdrücklich aufgetragen, beispielsweise in der Untersteiermark 1826.113 In Tirol erschien auch das Provinzialgesetzblatt seit 1814 zweisprachig, wobei auf der einen Seite die deutsch-, auf der gegenüberliegenden Seite die italienischsprachige Fassung abgedruckt war.114 Freilich hatten schon zuvor lokale Obrigkeiten in zweisprachigen Gebieten die gedruckte deutschsprachige Fassung für die mündliche „Berufung“ in die jeweils andere Landessprache übersetzt, wie sich zumindest für Tirol seit dem 16. Jahrhundert nachweisen lässt.115 Für die böhmischen Länder war 1754 festgelegt worden, dass deutsch- und slawischsprachige Fassungen der Gesetze mittels „Anschlags“ kundzumachen waren.116 2. Weitere Kommunikationstechniken In der Frühneuzeit wurde der Publikationsvorgang weiterentwickelt und optimiert, unter anderem durch die Einführung neuer kommunikativer, das Medium Druck nutzender Techniken: Waren bildliche Darstellungen schon im 16. Jahrhundert bei Münzmandaten und Münzordnungen der Regelfall,117 wurde diese gleichsam didaktische Annäherung im 18. Jahrhundert häufiger eingesetzt, so um landwirtschaftliche Schädlinge, verbotene Waffen oder giftige Pflanzen abzubilden.118 Eine Illustration des Norminhalts stellte auch das Aufrichten von „Zigeunertafeln“

Gesetzgebung, Wien 1849, S. 18, Anm. 18. Siehe auch den Hinweis bei Wilhelm Brauneder, Die Übersetzungen von Gesetzen in der Habsburgmonarchie (sic), S. 3 – 4. E-Text: http:// www.andrassyuni.eu/pubfile/de-46 - 7-di-wp-brauneder-ubersetzungen-von-gesetzen-final.pdf [letzter Zugriff am 18. September 2016]; Michaela Wolf, Die vielsprachige Seele Kakaniens. Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 142. Bei Kodifikationen war der mehrsprachige Druck schon zuvor gängig gewesen; nur hier war auch ausdrücklich hervorgehoben worden, dass bei Auslegungsdifferenzen die deutsche Fassung die authentische sei, vgl. Brauneder, Gehörige Kundmachung (Fn. 4), S. 5 – 12; ders., Die Donau-Monarchie (Fn. 93), S. 73 – 74; zur späteren Änderung dieser Vorschrift auch Mertens (Fn. 10), S. 263 – 264. 113 Vgl. Schopf (Fn. 57), S. 43. 114 Vgl. die Provinzialgesetzessammlung für Tyrol und Vorarlberg 1814 ff. Zur Mehrsprachigkeit von Gesetzen in der Habsburgermonarchie ab 1849 ausführlich Wolf (Fn. 112), S. 142 – 165. 115 Schennach, Zuschreiben von Bedeutung (Fn. 90), S. 149; ders., Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 621 – 622. Auch in der Republik Venedig lässt sich in nicht-italienischsprachigen Gebieten schon im 17. Jahrhundert die zweisprachige Kundmachung nachweisen, vgl. de Vivo, Information and Communication (Fn. 3), S. 134 – 135. 116 Johann Luksche, Das alte und neue Recht Mährens und Schlesiens k.k. österr. Antheils nach der Ordnung des bürgerlichen Gesetzbuches, Erster Theil: § 1 bis 285, Brünn 1818, S. 74. 117 Vgl. auch Giel (Fn. 101), S. 94. 118 Härter, Gesetzgebungsprozess und gute Policey (Fn. 6), S. 18; ders., Policey und Strafjustiz (Fn. 6), Bd. 1, S. 232 – 233.

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oder „-stöcken“ dar, die seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert in Grenznähe die im Territorium drohenden Strafen für vagierendes Volk darstellten.119 Im 18. Jahrhundert kam es zudem – je nach Größe und medialer Infrastruktur des Territoriums zeitlich versetzt – zu einer Multiplikation der Kommunikationskanäle. Offizielle Gesetzessammlungen, die freilich noch nicht mit der Wirkung formeller Publikation ausgestattet waren,120 erschlossen einen zusätzlichen Informationskanal, wobei für die österreichischen Länder die ab 1780 bzw. 1790 erscheinende Justizund politische Gesetzessammlung genannt werden können,121 deren Jahrgänge von der Obersten Justizstelle revidiert und nach Erteilung der kaiserlichen Sanktion gedruckt wurden.122 Sie stellen ein ab dem 18. Jahrhundert – je nach Größe des Territoriums und Intensität und Frequenz der landesfürstlichen Gesetzgebung – weitverbreitetes Phänomen dar.123 Allerdings wiesen schon Zeitgenossen auf die Problematik hin, dass derartige Gesetzessammlungen schon aus Platzgründen – um sie nicht „zu einer unbehandelbar voluminösen als unbequemen Citationen-Compilation anwachsen [zu] lassen“124 – nur als zentral erachtete Straf- und Privatrechtsnormen bzw. politische Gesetze enthielten, jedoch bei weitem nicht vollständig waren. Hinzu traten in Österreich die ab 1819 herausgegebenen Provinzialgesetzsammlungen für die einzelnen Länder.125 Die von der Justiz- und politischen Gesetzessammlung gelassenen Lücken versuchten eine Reihe von privat veranstalteten Zusammen119

Vgl. Härter, Gesetzgebungsprozess und gute Policey (Fn. 6), S. 18. Vgl. auch Willoweit (Fn. 4), S. 604 – 605; Marc Raeff, The Well-ordered Police State. Social and Institutional Change through Law in the Germanies and Russia 1600 – 1800, New Haven/London 1983, S. 47 – 48; Ruppert (Fn. 4), S. 74 – 78; Holenstein (Fn. 5), S. 234 – 241; Holzborn (Fn. 19), S. 135 – 137. 121 Siehe hierzu auch Schopf (Fn. 57), 77 – 78 („Es haben ferner auch noch Authenticität folgende zeitweise im Druck erscheinende von den Staatsbehörden besorgt werdende Gesetzsammlungen […].“ (Zitat ebd, S. 77); ferner Josef Pauser, Landesfürstliche Gesetzgebung (Policey-, Malefiz- und Landesordnungen), in: ders./Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, Oldenburg 2004, S. 216 (238 – 239); Brauneder, Die Donau-Monarchie (Fn. 93), S. 70. 122 Vgl. Anton Hye, Bemerkungen über die Methode bei Sammlungen von Nachtragsgesetzen zu schon bestehenden Gesetzbüchern – mit nächster Beziehung auf solche NovellenCompilationen zu dem österreichischen Gesetzbuche über Verbrechen vom 3. September 1803, in: Zeitschrift für österreichische Rechtsgelehrsamkeit und politische Gesetzkunde 1841, S. 160 – 186 (182 – 183). 123 Für Preußen siehe nur Hofmeister-Hunger (Fn. 3), S. 605; für Bayern Christoph Bachmann, „[…] tuen kund, allen, die dies hörend oder sehend lesen […]“: das Churbaierische Intelligenzblatt als Medium zur Verbreitung normativer, administrativer und politischer Informationen, in: Oberbayerisches Archiv 137 (2013), S. 193 – 220; allgemein Wunder (Fn. 19); Gerald Kohl, Art. „Gesetzessammlung“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart 2006, Sp. 737 – 738. 124 Hye (Fn. 122), S. 183 – 184. 125 Eine Übersicht über offizielle wie über privat veranstaltete Gesetzessammlungen für die österreichische Monarchie liefert Pauser, Landesfürstliche Gesetzgebung (Fn. 121), S. 244 – 250 120

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stellungen zu schließen, von denen die von Joseph Kropatschek initiierte und ab 1786 veröffentlichte (dabei Gesetze ab 1740 wiedergebende) Gesetzessammlung die bedeutendste war.126 Diese wurde sogar „in der Praxis usuell für halbofficiell gehalten“, was sich sowohl aus der amtlichen Stellung der Herausgeber als juristische Beamte (nach Kropatschek waren dies Wilhelm Gerhard Goutta und schließlich Franz Xaver Pichl) als auch aufgrund des Hinweises Kropatscheks auf den ihm kaiserlicherseits erteilten Auftrag und auf die ihm von den jeweiligen Hofstellen zur Verfügung gestellten Druckvorlagen ergibt.127 Neben derartigen allgemeinen, generell chronologisch angelegten Gesetzessammlungen gab es, in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts einsetzend, eine Reihe von komplementären Sammlungen, die auf einzelne Rechtsmaterien wie Sanitätsgesetze oder Berggesetze beschränkt waren.128 Die Herausgabe von Gesetzessammlungen aufgrund privater Initiative war freilich schon vor dem Kropatschekschen Opus zu beobachten, setzte im ausgehenden 17. Jahrhundert ein und hatte im ab 1704 herausgegebenen sechsbändigen (und durch mehrere, bis 1777 erschienene Ergänzungsbände komplettierten) „Codex Austriacus“ einen prominenten Vorläufer.129 Derartige Handreichungen sollten – in Österreich wie in anderen Ländern130 – sowohl dem Beamtenstand als auch der breiteren Öffentlichkeit Behelfe an die Hand geben, um sich angesichts der im Gefolge zahlloser Einzelgesetzgebungsakte und Sonderordnungen zunehmend unübersichtlicher werdenden Rechtsordnung besser zu orientieren. Die Problematik, der sie gegensteuern sollten, wird bereits im ersten Band des „Codex Austriacus“ konzis zum Ausdruck gebracht: Selbst der Rechtskundige könne sogar erst in jüngerer Zeit publizierte „Mandata, Generalia, Patenten / Edicta, Decreta“ „entweder gar nicht / oder doch sehr schwärlich / auch nicht ohne lange Zuewartung / und mit grosser zu deren Auffsuchung erforderlichen Bearbeitung zu Handen“131 bringen. Demselben, nunmehr allerdings ausschließlich behördeninternen Informationszweck dienten zahlreiche, auf Ebene der Zentral-, Mittel- und Unterbehörden angelegte Normalien- und Patentsammlungen, die durch Indices erschlossen wurden und heute in den entsprechenden Archiven aufbewahrt werden.132 126

Vgl. Pauser, Landesfürstliche Gesetzgebung (Fn. 121), S. 238. Ignaz Maucher, Sistematisches (!) Handbuch des österreichischen Strafgesetzes über Verbrechen und der auf dasselbe sich beziehenden Gesetze und Verordnungen, Erster Theil, Wien 1844, S. 20. 128 Vgl. Pauser, Landesfürstliche Gesetzgebung (Fn. 121), 248 – 249. 129 Pauser, Landesfürstliche Gesetzgebung (Fn. 121), S. 235 – 238 und 244 – 245. 130 Siehe z. B. Holenstein (Fn. 5), S. 605 – 610. 131 Codicis austriaci ordine alphabetico compilati pars prima. Das ist: Eigentlicher Begriff und Innhalt/Aller Unter Deß Durchleuchtigisten Ertz = Hauses zu Oesterreich […] Außgangenen und publicirten/In das Justiz und Politzey Wesen […] Einlauffenden Generalien/Patenten/Ordnungen/Rescripten/Resolutionen/Edicten/Decreten/und Mandaten […]. Wien 1704, unpaginierte „Anmerckung an den günstigen Leser“. 132 Siehe z. B. Wilfried Beimrohr, Das Tiroler Landesarchiv und seine Bestände, Innsbruck 2002, S. 98 – 99; Ignaz Zibermayr, Das oberösterreichische Landesarchiv in Linz im Bilde der Entwicklung des heimatlichen Schriftwesens und der Landesgeschichte, 2. Aufl., Linz 1950, 127

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Einen weiteren Kommunikationskanal zur Verbreitung von Gesetzesinhalten in einer breiteren Öffentlichkeit stellten schließlich die im 18. Jahrhundert aufkommenden Intelligenzblätter dar, die als „typisches Produkt absolutistischer Informationspolitik“133 unter anderem zumindest ausgewählte Gesetze entweder im Volltext oder auszugsweise respektive in Kurzfassung wiedergaben.134 Nachdem im Heiligen Römischen Reich erstmals 1722 in Frankfurt am Main ein entsprechendes Publikationsorgan ins Leben gerufen worden war, trat dieses Medium in den folgenden Jahrzehnten seinen Siegeszug im Reichsgebiet an, wo 1803 bereits 183 einschlägige Periodika gezählt wurden.135 Die Intelligenzblätter, die im Übrigen nahezu ausschließlich die rascheren Veränderungen unterworfenen Policey- bzw. politischen Gesetze behandelten, boten im Vergleich zum bloßen Anschlag der Gesetzesurkunde an der Peripherie den zusätzlichen Vorteil, dass der Abdruck des Gesetzestextes mit Erläuterungen über die Zielsetzungen verbunden werden konnte, wodurch man die Akzeptanz der Gesetzgebungsakte zu erhöhen hoffte.136 Allerdings stellten die nahezu exponentielle Zunahme der Gesetzesproduktion im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus und die immer mehr Lebensbereiche mit immer größerer Regelungsdichte und Regelungstiefe erschließende legislative Tätigkeit eine Herausforderung für das materielle Publikationsprinzip dar. Die mit der letztlich gescheiterten Herausgabe eines österreichischen „politischen Kodex“ beauftragte Gesetzgebungskommission kam beispielsweise zum Schluss, dass zwischen 1740 und 1815 in der österreichischen Monarchie 40.000 Policeygesetze erlassen worden seien.137 Josef Pauser ist für Österreich unter der Enns für den Zeitraum von 1740 bis 1790 auf rund 3.600 Gesetze gekommen.138 Es liegt auf der Hand, dass angesichts dieser Gesetzgebungsdichte das idealtypische StandardprozeS. 324; Georg Grüll, Die Patentsammlung des Johann Stefan Krackowitzer, in: FS Alfred Hoffmann, Tübingen/Basel 1964, S. 308. Vgl. auch den interessanten zeitgenössischen Hinweis bei Luksche (Fn. 116), S. 62. 133 Gestrich (Fn. 88), S. 150. 134 Hierzu allgemein Schilling, Policey und Druckmedien (Fn. 90); Wunder (Fn. 19); Bachmann (Fn. 123); Holenstein (Fn. 5), bes. S. 226 – 230; Ruppert (Fn. 4), S. 78 – 84. Lothar Schilling, Die Karlsruher und Bruchsaler Wochenblätter des 18. Jahrhunderts als ,öffentliche Policeyanstalten‘, in: Sabine Doering-Manteuffel/Josef Mancˇ al/Wolfgang Wüst (Hrsg.), Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich, Berlin 2001, S. 295 – 333 (313 – 315). 135 Vgl. Schilling, Policey und Druckmedien (Fn. 90), S. 422; Wunder (Fn. 19), S. 43. 136 Die Erläuterung des Anlasses erfolgte vielfach freilich auch unabhängig davon in der Narratio der Gesetzesurkunde; vgl. hierzu auch Joseph von Sonnenfels, Über den Geschäftsstil. Die ersten Grundlinien für angehende österreichische Kanzleybeamten, 2. Aufl., Wien 1785, S. 398 – 410. Siehe im Übrigen auch Härter, Gesetzgebungsprozess und gute Policey (Fn. 6), S. 17; Cancik, Aufklärung und Rechtsdurchsetzung (Fn. 10), S. 515 – 517. Zum Anliegen, Gesetze nicht nur zu erlassen, sondern umfassend zu erläutern, siehe auch HofmeisterHunger (Fn. 3), S. 115 – 117. 137 Vgl. Stephan Wagner, Der politische Kodex. Die Kodifikationsarbeiten auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts in Österreich 1780 – 1818, Berlin 2004, S. 208. 138 Pauser, Landesfürstliche Gesetzgebung (Fn. 121), S. 238.

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dere der Kundmachung durch mündliche Berufung und kumulativ durch Anschlag zum Ausnahmefall werden musste und zielgruppenspezifische und damit ressourcenschonende Kundmachungsformen immer größere Bedeutung gewannen. Auch Lokalbeamten fiel es zunehmend schwer, den Überblick über die Normproduktion zu behalten, wobei man in Österreich durch die halbjährlich erfolgende Herausgabe „chronologischer Extrakte“ gegensteuern wollte und den Obrigkeiten vor Ort eine Orientierungshilfe an die Hand gab, die innerbehördlich die Gesetzeskenntnis verbessern sollte.139

V. Gesetzespublikation und Normimplementation „Policeygesetze werden zu dem Ende gegeben und publiciret (!), daß sie sollen beachtet werden. Man würde sich sehr irren, wenn man es bey der Publication bewenden lassen und sich versprechen wollte, daß nur jedermann denenselben nachleben werde.“140 Mit dieser Betonung des Konnexes von Gesetzeskundmachung und -durchsetzung, die der Policeywissenschaftler Johann Heinrich Berg Ende des 18. Jahrhunderts äußerte, stand er nicht alleine da. Dass eine „allgemeine und oft wiederholte gemeinfaßlich ausgedrückte Kundmachung“ eine essenzielle Voraussetzung für eine erfolgreiche Normimplementation sei, hatte schon Johann Gottlieb Justi einige Jahrzehnte zuvor betont.141 Tatsächlich mochten die von den Obrigkeiten ergriffenen Maßnahmen zur Sicherstellung einer möglichst breitflächigen Gesetzeskenntnis im Sinne einer „materiellen Gesetzespublikation“ evidente Nachteile haben, namentlich die Ressourcenintensität, das unter Umständen zeitversetzte Inkrafttreten der Gesetze aufgrund der räumlichen Entfernung und die potenzielle Lückenhaftigkeit der Geltung bei Nachlässigkeit lokaler Obrigkeiten, die es an der „gehörigen Kundmachung“ fehlen ließen.142 Gleichwohl war der Vorgang der „materiellen Gesetzespublikation“ aus der Sicht der Zeitgenossen auch mit Vorteilen verbunden, die den Zusammenhang mit der Normdurchsetzung vor Augen führen. Da die mündliche Verkündung regelmäßig in Gegenwart eines Lokalbeamten geschah, konnte sich dieser bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt anhand der Reaktion der Zuhörerschaft einen Eindruck von der voraussichtlichen Akzeptanz eines Gesetzes durch die Adressaten verschaffen, diesen an die vorgesetzte Behörde rückmelden, was seinerseits einen Rückkoppelungseffekt mit anschließenden Maßnahmen zur Durchsetzung auslösen konnte.143 Eine dieser Wechselwirkungen der Promulgation 139

Pauser, Landesfürstliche Gesetzgebung (Fn. 121), S. 237 – 238. Berg[ius] (Fn. 95), S. 115. 141 Justi (Fn. 34), S. 46. Auf Justi geht schon ein Cancik, Verwaltung und Öffentlichkeit (Fn. 9), S. 190 – 191. 142 Vgl. auch Schilling, Policey und Druckmedien (Fn. 90), S. 431 – 432. 143 Vgl. auch Schennach, Jagdrecht, Wilderei und „gute Policey“ (Fn. 6), S. 154; Michaela Hohkamp, Herrschaft in der Herrschaft. Die vorderösterreichische Obervogtei Triberg von 140

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mit der Gesetzesanwendung hat bereits Justi mit dem Schlagwort der Republikation von Gesetzen angedeutet: Hatten die Behörden den Eindruck einer nur nachlässigen Rechtsanwendung gewonnen, reagierten sie hierauf – wie noch näher darzulegen sein wird – oftmals mit der Anweisung zu einer neuerlichen Kundmachung.144 Darüber hinaus konnte die Publikation namentlich bei Polizeygesetzen ebenfalls ihrer Erläuterung dienen, um die Implementationschancen zu erhöhen und die Normadressaten auf diese Weise pädagogisch zur Befolgung anzuhalten.145 Solche ad hoc angebrachten Erklärungen der Zielsetzungen einer polizeylichen Regelung konnten deren Nutzen für die Gemeinschaft und das Individuum nochmals unterstreichen, zumal sich in diese Richtung gehende Ausführungen in der Narratio einer Gesetzesurkunde häufig auf den summarischen Hinweis auf bestehende Missstände als Anstoß für die vorgenommene Regulierung beschränkten.146 Dies erforderte freilich bei der mündlichen Verkündung einen auf den Verständnishorizont des Publikums abgestimmten Normtext.147 Bei kurzen, aus nur wenigen Sätzen bestehenden Gesetzen war ungeachtet der in der Frühneuzeit häufig komplexen Syntax die Möglichkeit des grundsätzlichen Textverständnisses durch die Rezipienten noch nicht beeinträchtigt. Herausfordernder gestaltete sich hingegen die lautstarke „Berufung“ umfangreicherer Ordnungen, die wohl regelmäßig die Aufnahmefähigkeit der Zuhörerschaft zu überfordern drohte. Für diese musste der Norminhalt daher aufbereitet werden. Bisherige Forschungen lassen erkennen, dass eine derartige Überarbeitung von ausführlicheren Gesetzen vor der mündlichen Verkündung offensichtlich oft vorkam, wobei dieser Schritt üblicherweise zu den Aufgaben der lokalen Obrigkeiten gehörte. Zuweilen wurden freilich von den Zentralbehörden selbst auf der Grundlage der ausführlichen gedruckten Gesetze eigene „Extrakte“ oder „Rufzettel“ angefertigt, in Einzelfällen wurden sogar sowohl eine Kurzfassung zur Verkündung und eine Langfassung für den internen Gebrauch gedruckt. Wie schon bei frühneuzeitlichen umfassenden Ordnungen, die nicht immer in extenso verlesen wurden, begnügte sich zumindest der österreichische Gesetzgeber offensichtlich auch bei den Kodifikationen des 18. Jahrhunderts an der Peripherie mit der Kundmachung des bloßen Faktums der Erlassung des Gesetzbuchs, ohne dass auf den Inhalt im Einzelnen eingegangen wurde. Zu Recht hob Franz von Zeiller hervor, dass die „Anheftung oder Ablesung eines vollständigen Gesetzbuches an öffentlichen Orten“ – und im Übrigen gemäß Zeiller gleichermaßen „die Kundmachung

1737 bis 1780, Göttingen 1998, S. 107 und 110; de Vivo, Information and Communication (Fn. 3), S. 131 – 134. 144 Vgl. Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 630 – 632. 145 Freilich wurde den Obrigkeiten in den österreichischen Ländern noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrmals in Erinnerung gerufen, dass sie „den ihnen zukommenden Verordnungen nichts eigenwillig beizusetzen“ hätten, vgl. Schopf (Fn. 57), S. 71. 146 Siehe hierzu die Literaturhinweise in Fn. 136. 147 Zum Folgenden Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 621 – 622.

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durch öffentliche Blätter“ – „eine wirkungslose Ziererey“ wären.148 Die Publikation erfolgte dabei häufig durch den Anschlag und die mündliche Berufung des einen integralen Bestandteil des Gesetzes darstellenden „Publikationspatents“. Allerdings gab es gleichermaßen sehr ausführliche Einzelgesetzgebungsakte, bei denen ungeachtet der Länge den Obrigkeiten ausdrücklich aufgetragen wurde, dass die Verlesung eines Mandats jedenfalls „von Wort zu Wort“ zu erfolgen habe und eine verkürzte inhaltliche Wiedergabe unstatthaft sei. Dies war, wie noch darzulegen sein wird, ein klares Indiz für die dem Gesetz seitens des Gesetzgebers zugesprochene besondere Bedeutung.149 Wenn die Überlieferungslage in Dorf- oder Gerichtsarchiven sehr günstig ist, lässt sich fallweise rekonstruieren, welcher Text anlässlich derartiger „Überarbeitungen“ konkret kundgemacht wurde. Zuweilen lässt sich überdies die Anfertigung von Kompilationen bzw. Kompendien nachweisen, wenn lokale Amtsträger vor Ort gleichgelagerte Polizeygesetze verkürzt zusammenfassten.150 Diese wurden partiell in Gerichtsbücher eingetragen oder verschriftlichten Weistümern beigefügt, was eine längere diskursive Präsenz durch wiederholtes Einschärfen und In-Erinnerung-Bringen entsprechender Normen gewährleistete. Diese Adaption von Gesetzen an der Peripherie in Vorbereitung der mündlichen Verkündung, die den Publikationsvorgang optimieren und der Aufnahme- und memotechnische Fähigkeit der Adressaten Rechnung tragen sollte, jedoch unter Umständen zu einer nur vergröberten Wiedergabe der normativen Regelung führen konnte, ist bis in das 18. Jahrhundert verbreitet. Der Kommunikationssituation der mündlichen „Berufung“ sind auch sprachliche Spezifika wie die Verwendung der zweiten Person Plural zur direkten Ansprache der Untertanen geschuldet. Dem schon angesprochenen Gedanken der Belehrung und Unterweisung der Normadressaten trägt überdies die fallweise auszumachende, sehr ausführliche Schilderung der Entstehungsgeschichte und des Anlasses eines Gesetzgebungsaktes Rechnung. Nicht zuletzt stellte die Publikation für den Landesfürsten ein geeignetes Forum der Selbstinszenierung als treusorgender Gesetzgeber dar,151 insbesondere wenn mit einem Gesetz Gravamina abgeholfen oder auf anderen Wegen an den Herrscher herangetragene Missstände abgestellt werden sollten.

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Franz von Zeiller, Eigenschaften eines bürgerlichen Gesetzbuches, Jährlicher Beytrag zur Gesetzkunde und Rechtswissenschaft in den Oesterreichischen Erbstaaten, 1806, S. 40 (62). 149 Vgl. Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 621. 150 Siehe auch Härter, Policey und Strafjustiz (Fn. 6), Bd. 1, S. 225 – 226. 151 Vgl. auch Schilling, Gesetzgebung und Erfahrung (Fn. 5), S. 406.

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VI. Gesetzespublikation und variable Normintensität 1. Allgemeines Schon die bisherigen Ausführungen haben dargelegt, dass es nicht die eine Ausprägung der materiellen Gesetzespublikation gab, sondern vielmehr auch in ein und demselben Territorium vielfältige Abstufungen und Erscheinungsformen auszumachen sind, die seitens der zuständigen Zentralbehörden wohlüberlegt eingesetzt (und daher, sofern die archivalische Überlieferungslage entsprechende Aussagen überhaupt zulässt, auch im Vorfeld eines legislativen Aktes jeweils angesprochen) wurden. Für welche Form der Publikation man sich in concreto entschied, hing von mehreren Faktoren ab: 1. Von der dem Gesetzgebungsakt seitens des Gesetzgebers zugeschriebenen Bedeutung: Angesichts der frühneuzeitlichen, vornehmlich durch das Anschwellen der Policeygesetzgebung bedingten Normenflut war es unabdingbar, die Ressourcen sowohl der zur Implementation berufenen Obrigkeiten als auch das limitierte Aufnahmepotenzial der Normadressaten zu fokussieren und als besonders relevant wahrgenommene Gesetzgebungsakte schon durch den besonderen Publikationsmodus hervorzuheben. 2. Vom Umfang des Gesetzes: Die Anforderungen an den Publikationsprozess sind bei einem nur wenige Zeilen umfassenden, einen einzelnen Lebenssachverhalt regelnden Mandat ganz andere als bei einem im Format 50 x 80 cm vervielfältigten, eng bedruckten Gesetzestext oder bei einer umfassenden Landes- und Policeyordnung. 3. Vom Adressatenkreis: War dieser ein allgemeiner oder hatte man vornehmlich eine vom Gesetz besonders betroffene Zielgruppe im Blick? Unter anderem durch den Modus der Publikation konnte der Legislator Gesetzen eine unterschiedliche Relevanz zuschreiben und sowohl den Obrigkeiten an der Peripherie als auch den Untertanen vermitteln.152 Dabei war das Signalisieren, dass bestimmten Normen eine besondere Bedeutung zukommen solle, die sie aus der Vielzahl von Edikten, Patenten und Mandaten hervorhob, in der Frühen Neuzeit nicht zuletzt eine praktische Notwendigkeit. Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert hatte die legislative Tätigkeit in allen Reichsterritorien des Reichs massiv zugenommen. Parallel zu diesem Vorgang der normativen Verdichtung hatten auch die landesherrlichen Behörden hinsichtlich ihrer Personalstände und Kompetenzen expandiert. Auf Ebene der Lokalverwaltung war in diesem Zeitraum zwar ebenfalls ein gewisser personeller Zuwachs zu verzeichnen, doch blieb dieser deutlich hinter der Ausweitung der Zentralbehörden zurück, was angesichts der steigenden Zahl zu vollziehender Gesetze bei gleichzeitig limitierten administrativen Ressourcen zu einer Schwer152 Zum Konzept der variablen Normintensität vgl. Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 739 – 750; Schennach, Zuschreiben von Bedeutung (Fn. 90).

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punktsetzung und Fokussierung zwang.153 In diesem Zusammenhang war den Amtsträgern und Normadressaten zu vermitteln, welchen Gesetzen besondere Beachtung zuteilwerden sollte. Eine zentrale Rolle bei dieser Zuschreibung von Bedeutung – für die vor einigen Jahren der Begriff der „variablen Normintensität“ geprägt wurde154 – spielte die Art der Gesetzespublikation. Dass es Gesetze gab, deren Implementation seitens des Gesetzgebers und der Zentralbehörden als besonders bedeutsam angesehen wurde, die gleichsam als besonders „wichtig“ etikettiert und in entsprechend nachdrücklicher Weise kundgemacht wurden, ergibt sich nicht nur aus den behördenintern angestellten Überlegungen, auf welche Weise im Einzelfall ein Gesetz zweckmäßigerweise publiziert werden sollte (was freilich eine entsprechend gute archivalische Überlieferungslage erfordert).155 Auch die historische Forschung hat zwischenzeitlich erkannt, dass es speziell bei den Policeygesetzen solche gab, denen eine besondere Bedeutung zugemessen wurde. Ansatzweise wurde diese variable Bedeutungszuschreibung auch mit dem Vorgang der Gesetzeskundmachung in Verbindung gebracht. So konstatiert beispielsweise Andreas Gestrich, dass „[j]e nach Bedeutung des Inhalts“ eines Gesetzes von der Verkündung von der Kanzel durch den Pfarrer abgesehen wurde und die Berufung „durch den Schultheißen oder Amtmann vor dem Kirchengebäude oder auf dem Rathaus“156 als ausreichend erachtet wurde. Lothar Schilling hebt hervor, dass „in manchen Territorien bis in das 18. Jahrhundert in erster Linie jene Policeygesetze gedruckt [wurden], denen (wie den Landes- und Policeyordnungen) besonders hohe normative Dignität zukam“157 oder die rasch in großen Auflagezahlen verfügbar sein mussten. Ebenso wird bei Karl Härter greifbar, dass die „Wichtigkeit“ eines Gesetzes und die Art der Kundmachung offensichtlich in Beziehung standen, indem als bedeutsam erachtete Gesetze mehrmals bzw. regelmäßig in periodischen Abständen publiziert und so ins Gedächtnis der Normadressaten gebracht werden sollten.158 Achim Landwehr betont im Zusammenhang mit der Republikation von Gesetzen, dass „durch Wiederholung bestimmte, medial vermittelte Informationen überhaupt erst als bedeutsam eingestuft werden.“159 Wie Gestrich hebt Härter hervor, dass vornehmlich Policeygesetze konfessionell-religiösen Inhalts oder jene, „die als besonders wichtig erachtet wurden“160, von der Kanzel herab promulgiert wurden. Der Konnex zwischen der Bedeutungszuschreibung und dem Publikationsmodus wird freilich in zeitgenössischer rechts- und polizeywissenschaftlicher Literatur zum Teil deutlich stärker akzentuiert. Justi führte beispielsweise aus, dass, wenn „die 153

Vgl. auch Schilling, Gesetzgebung und Erfahrung (Fn. 5), S. 411. Erstmals bei Schennach, Zuschreiben von Bedeutung (Fn. 90). 155 Vgl. Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 624 – 626. 156 Gestrich (Fn. 88), S. 149. 157 Schilling, Policey und Druckmedien (Fn. 90), S. 415. 158 Härter, Gesetzgebungsprozess und gute Policey (Fn. 6), S. 24 – 25. 159 Landwehr, Die Rhetorik der „guten Policey“ (Fn. 6), S. 264. 160 Härter, Gesetzgebungsprozess und gute Policey (Fn. 6), S. 13.

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neuen Gesetze von großer Wichtigkeit“ seien, „so pfleget man zuweilen zu verordnen, daß die Publication von der Canzel drey Sonntage nacheinander wiederhohlet wird, damit es um desto eher zu jedermanns Wissenschaft gelangen und das Volk darauf desto aufmerksamer werden möge“161. Ebenso differenziert er zwischen der allgemeinen und zielgruppenspezifischen Kundmachung. Erstere sei „unter Trompeten-Schall oder Trommel-Schlag“ nur „in wichtigen Dingen“ notwendig; bei „Sachen, die nicht so wichtig sind, ist es zu Vermeidung der Versäumnis in der Arbeit genug“162, wenn man diese nur den primär Betroffenen zur Kenntnis bringe. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts heben sowohl der Staatsrechtler Richard Mohl als auch der Privatrechtswissenschaftler Carl Georg Wächter für Württemberg hervor, dass „besonders wichtige Verordnungen“ nicht nur im Regierungsblatt und durch hinzutretende materielle Publikationshandlungen, sondern jedenfalls auch durch „öffentliche Verlesung […] an den Sonntagen“163 publiziert werden müssten. Einen Konnex zwischen der einem Gesetz geschriebenen Wichtigkeit und der äußeren Form stellen wiederum österreichische Juristen in den Jahrzehnten um 1800 her. Sie wiesen darauf hin, dass bei „wichtigen allgemeinen Anordnungen“ Patente erlassen werden; „diese beginnen mit dem Titel des Landesfürsten, er wird darin als zu dem Volke sprechend eingeführt und sie sind mit der Unterschrift und dem Siegel desselben versehen“164, weiters werden sie vom Obersten Kanzler, dem Hofkanzler, dem Vizekanzler und von einem weiteren (dem referierenden) Hofrat mitgefertigt und auch in dieser Form gedruckt.165 Andere Gesetze wurden hingegen in der Form sogenannter Hofdekrete von den jeweils inhaltlich zuständigen Hofstellen in deren Namen kundgemacht, wenngleich ihnen kaiserliche Entschließungen (Handbillette) respektive Kabinettsschreiben zugrunde lagen.166 Die grundsätzliche Entscheidung, dass nur „in den wichtigsten Angelegenheiten“ Gesetze vom Herrscher selbst unterzeichnet werden sollten (was in weiterer Folge bei der Publikation mittels „Anschlags“ drucktechnisch auszuweisen war), war zwar erst zur Mitte des 18. Jahrhunderts ergangen.167 Allerdings wurde mit der damaligen Festlegung nur der schon in den Jahrhunderten zuvor bestehende Usus modifizierend fortgeschrieben. 161

Justi (Fn. 34), S. 310. Justi (Fn. 34), S. 311. 163 Zitate nach Richard Mohl, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg. Erster Theil: Das Verfassungsrecht, Tübingen 1829, S. 192; Wächter (Fn. 24), S. 25, Anm. 7, weist darauf hin, dass neben der Veröffentlichung im Regierungsblatt „wichtigere Gesetze in den Gemeinden noch besonders verlesen“ würden. 164 Maucher, Darstellung (Fn. 112), S. 18. 165 Vgl. auch Barth-Barthenheim (Fn. 57), S. 9. Siehe hierzu auch Sonnenfels (Fn. 136), S. 387 – 389; er verweist auf den (noch) uneinheitlichen Sprachgebrauch und definiert Patente als die im „Namen des Regenten meistens für alle, oder doch mehrere Provinzen des Staates“ erlassenen Gesetze, in denen der Monarch selbst „redend eingeführt“ werde (Zitate ebd., S. 388 – 389). 166 Siehe auch Kostetzky, System der politischen Gesetze Böhmens (Fn. 57), S. 12 – 13. 167 Vgl. den Hinweis bei Schopf (Fn. 57), S. 69. 162

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Gerade bei der Publikation durch Anschlag zeigen sich im 16. und 17. Jahrhundert zumindest in jenen Territorien, für die einschlägige Untersuchungen vorliegen, fein ziselierte Abstufungen in der äußeren Gestaltung des zum Anschlag bestimmten Gesetzesdrucks.168 Das Spektrum reichte vom großformatigen, alle äußeren Merkmale einer feierlichen Urkunde aufweisenden Gesetz bis hin zum im äußeren Erscheinungsbild überaus schlichten Mandat. Die Entscheidung für die eine oder andere Publikationsart war ein mediales und drucktechnisches Mittel, die dem legislativen Akt zugeschriebene und im wahrsten Sinne des Wortes versinnbildlichte Bedeutung an die Normadressaten zu übermitteln,169 unter anderem durch folgende herstellungstechnischen und inhaltlichen, in ihrer Kombination aussagekräftigen Varianten: Wird für die erste Zeile bzw. die ersten beiden Zeilen (den Herrschernamen) eine größere Schrift sowie eine Initiale verwendet? Wird der kleine, mittlere oder große Herrschertitel angeführt? Welches Format weist der Urkundendruck selbst auf? Ist ein aufgedrücktes Wachssiegel unter Papier vorhanden oder begnügt man sich mit einer drucktechnischen Wiedergabe eines Kreises mit der darin platzierten Buchstabenkombination „L. S.“ (für „locus sigilli“)? Handelt es sich gegebenenfalls um das kleine oder das große Herrschersiegel? Sind die Gegenzeichnung und der Ausfertigungsvermerk auf jedem einzelnen Druck original? Handelt es sich bei der Unterschrift um jene des Vorstands bzw. Präsidenten der ausfertigenden Behörde oder um jene des Landesfürsten selbst? Handelt es sich um eine eigenhändige Signatur des Landesfürsten, einen Unterschriftenstempel oder eine drucktechnische Wiedergabe des Namens?170 Zeitgenossen waren sich der sich aus der Urkundengestaltung resultierenden Abstufungen sehr bewusst, und entsprechend intensiv wurden derartige Fragen unter Umständen im Vorfeld eines Gesetzgebungsaktes thematisiert, beispielsweise wenn die „oberösterreichische“ Regierung mit Sitz in Tirol dem regierenden habsburgischen Landesfürsten, Erzherzog Ferdinand II., 1567 empfahl, bestimmte Mandate „sonnderlichen umb merers ansehens willen unnder derselben aigen signatur verfertigen unnd ausgeen zu lassen“171. Und auch die Normadressaten wussten im Zusammenhang mit dem „Anschlag“ der Gesetze um die Relevanz der äußeren Merkmale bei der Gestaltung des Gesetzesdrucks. So war man zum Beispiel nach dem Anfall der oberösterreichischen Ländergruppe an die kaiserliche Hauptlinie der Habsburger aus verwaltungsökonomischen Gründen davon abgegangen, jeden zum Anschlag bestimmten Druck einer Gesetzesurkunde eigens mit einem Wachssiegel unter Papier zu versehen und die Besiegelung durch einen bloßen graphischen Hinweis zu ersetzen. Nach den ersten Erfahrungen empfahl die Innsbrucker Regierung den Wiener Zentralstellen, nach Möglichkeit wieder zum bisherigen Usus zu168 Das Folgende nach Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 624 – 628; Schennach, Zuschreiben von Bedeutung (Fn. 90). 169 Vgl. Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 625 – 627. 170 Hierzu auch Pauser, Amtsdrucksachen (Fn. 3), S. 33. 171 Zit. nach Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 626.

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rückzukehren: Man bemerke, dass die Bevölkerung „wider jenige mandata, welche mit dem kayserlichen sigillo nit verfertigt worden, nur den spoth“ treibe.172 Bei dieser keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden Auflistung muss man sich vergegenwärtigen, dass es im Verlauf der Frühneuzeit natürlich zu Entwicklungen kam; die Formensprache der Gesetzespublikation entwickelte sich gleichsam experimentierend in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts, während das 18. Jahrhundert zumindest in den großen und mittleren Territorien aus verwaltungsökonomischen Gründen zu einer Standardisierung und einer gewissen Reduktion der Formenvielfalt der Gesetzesurkunde fand, indem beispielsweise die eigenhändige Unterschrift, Gegenzeichnung und der Fertigungsvermerk offensichtlich durchgehend durch gedruckte Namen ersetzt wurden. Abstufungen in der äußeren Erscheinung der Gesetzesurkunden je nach zugeschriebener Wertigkeit des betreffenden Normenkomplexes blieben aber gleichwohl erhalten und lassen sich auch noch außerhalb der österreichischen Länder am Ende der Frühneuzeit ausmachen. So zeigt auch, um eines von zahllosen Beispielen herauszugeben, das Patent zwecks Einführung des Allgemeinen Preußischen Landrechts in Ansbach und Bayreuth vom November 1795 alle Charakteristika einer feierlichen Herrscherurkunde, die im Wesentlichen den zuvor für die österreichischen Patente dargelegten äußeren und inneren Merkmalen entsprechen: So stechen unter anderem die Verwendung des Großen Titels bei der Intitulatio, die drucktechnische Hervorhebung des Herrschernamens, der Hinweis auf die eigenhändige Unterschrift des Monarchen, die druckgraphische Wiedergabe des Siegels und die Gegenzeichnungen ins Auge.173 Bis zum Abgehen von der materiellen Publikation durch den Anschlag der Gesetzesurkunde signalisiert so das Festhalten an dieser Kundmachungsmethode schon visuell den herrscherlichen Rechtssetzungsanspruch gegenüber den Normadressaten. Ebenso wie bei der Publikation mittels „Anschlags“ konnte die einem Gesetz zugemessene Bedeutung durch vielfache Mechanismen bei der mündlichen Verkündung kommuniziert werden.174 So war neben der schon angesprochenen und auch von inhaltlichen Aspekten bestimmten Wahl des Orts der Kundmachung durchaus aussagekräftig, ob die „Berufung“ nur durch den Gerichtsdiener bzw. Schergen oder in Präsenz des Grundherren, Pfarrers, Amtmanns, Richters oder Pflegers vorgenommen wurde. Umgekehrt wurde den Grundherrschaften in den österreichischen Ländern noch im ausgehenden 18. Jahrhundert eingeschärft, dass die Promulgation „in keinem Fall“ einem Vertreter des Wirtschaftsamts zu überlassen sei (das unter anderem mit der Einhebung der grundherrschaftlichen Abgaben beauftragt war),

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Zit. nach Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 627. Königlich Preussisches Patent wegen Einführung des allgemeinen Landrechtes und der neuen allgemeinen Gerichts- und Prozeß-Ordnung in den Fränkischen Fürstenthümern. De dato Berlin, den 29sten November 1795. 174 Vgl. Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 620 – 624 und 748. 173

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„damit dem Volke keine Gelegenheit zum Mißtrauen gegeben werde“175 ; dieser Hinweis illustriert ex negativo, dass die Anwesenheit oder das Fehlen von Amtsleuten seitens der Untertanen durchaus registriert wurde. Dasselbe gilt für die Frage, ob die mündliche Verkündung von Trommelschlag oder Trompetenschall einbegleitet wurde und vor allem, ob sie zwecks Einschärfung von vornherein mehrmals zu wiederholen war. Gewisse Gesetze, denen besondere Relevanz zugeschrieben wurde und die daher immer wieder aktualisiert werden sollten, waren regelmäßig mehrmals hintereinander oder in periodischen Abständen (z. B. vierteljährlich oder jährlich) zu republizieren.176 Neben den unmittelbar mit der Publikation verbundenen Mechanismen zur Vermittlung der Normintensität eines Gesetzes gab es noch weitere kommunikative Techniken, die den lokalen Obrigkeiten die Bedeutung eines Gesetzgebungsaktes aus der Sicht der vorgesetzten Behörden verdeutlichen konnten, wobei an dieser Stelle nur beispielhaft auf die Festschreibung von Berichtspflichten über die Implementation und deren Erfolge hingewiesen sei. Wie präsent durch den Publikationsvorgang vermittelte Bedeutungszuschreibungen noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren, zeigen die im Vorfeld mit dem 1809 erlassenen bayerischen „Gesetz über die Staatsverbrechen“ angestellten, ausführlichen Überlegungen. Zwar gelange das Gesetz durch die „öffentlichen Verkündung zur allgemeinen Kenntnis“, doch es verlösche danach „allmählig in dem Gedächtnis zahlloser Menschen und den Heranwachsenden wird zur Entschuldigung des nicht gewußten Gesetzes Anlaß gegeben, wenn solches nicht öfters in Erinnerung gebracht wird.“ Daher sei eine regelmäßige Wiederholung unabdingbar; diese müsse aber „mit einer die Wichtigkeit der Sache erhöhenden Feyerlichkeit verbunden seyn und an einem Tage vor sich gehen, der ohnehin allgemein festlich und der Nation als ein Jahrtag eines glücklichen Ereignisses feyerlich wäre.“ Hierzu wurde der 1. Januar als Jahrtag der Erhebung Bayerns zum Königreich in Betracht gezogen: „An diesem Festtage der baierischen Nation sollte jeder Seelsorger aller Religionen gehalten seyn, das Volk auf diese wichtige Epoche des Vaterlandes in einer kleinen Anrede zu erinnern und hiemit die Vorlesung des königl. Edikts über die Bestrafung des Staatsverraths zu verbinden. Ein von ihm und den untergebenen Gemeindeführern unterzeichnetes sehr kurzgefaßtes Protokoll sollte an das einschlägige Landgericht eingesendet … werden.“177 Wenngleich dieses Vorhaben letztlich nicht realisiert wurde, erfolgte die Veröffentlichung des Gesetzes doch nicht nur im Gesetzblatt – obwohl dieses nach französischem Vorbild schon seit mehreren Jahren mit der Wirkung einer formellen Publikation ausgestattet war.178 Vielmehr wurde das „Gesetz 175 Johann Nepomuk Müller, Handbuch der Gesetze. […] Für jeden Geschäftsmann, besonders aber für herrschaftliche Beamte brauchbar, Graz 1841, S. 189; siehe auch schon (samt Erläuterung des Kontextes dieser Anweisung) Kropatschek (Fn. 57), S. 281. 176 Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 748 und 630 – 636. 177 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Ministerium des Äußeren, Position 6981, 1809 September (ohne nähere Datierung). 178 Lukas (Fn. 2), S. 136 – 137; Ruppert (Fn. 4), S. 89; Wunder (Fn. 19), S. 60 – 65.

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über die Staatsverbrechen“ darüber hinaus als Einzelblatt gedruckt, „an öffentlichen Orten angeheftet, in den Gemeindeversammlungen verlesen und vor den Kirchenthüren verkündet“.179 2. Variable Normintensität und symbolische Gesetzgebung Das Konzept einer (maßgeblich, aber keineswegs ausschließlich) durch den Publikationsmodus zum Ausdruck gebrachten abgestuften Normintensität soll im Übrigen ausdrücklich nicht auf die Reaktivierung der Theorie einer primär „symbolischen Gesetzgebung“ in der Frühneuzeit hinauslaufen.180 Die Behauptung einer variablen Bedeutungszuschreibung impliziert eben nicht, dass all jene Mandate, denen keine besondere Relevanz zuteilwurde, nicht auf Umsetzung angelegt waren und ausschließlich oder auch nur vorrangig der Inszenierung von Herrschaft dienten. Tatsächlich waren wohl nach der Intention des frühneuzeitlichen Gesetzgebers – wie sich anhand des behördeninternen Schriftverkehrs zweifellos ausmachen lässt – grundsätzlich alle erlassenen Gesetze auf Durchsetzung angelegt,181 zumal die Missachtung herrschaftlicher Normen in der zeitgenössischen Wahrnehmung auf eine „verkleinerung [der] […] lantsfürstlichen hocheit undt reputation“182 hinausgelaufen wäre. Dessen ungeachtet erforderte der Verwaltungsalltag das Festschreiben von Vollzugsschwerpunkten und das Setzen von Prioritäten, die Untertanen wie Amtsleuten – unter anderem durch ein breites Spektrum unterschiedlicher Modi der Gesetzeskundmachung – zu vermitteln waren. Eine der dabei zur Verfügung stehenden Optionen war die wiederholte Kundmachung von Gesetzen, die sich nahtlos in die Annahme abgestufter Normintensität einfügt und die nicht, wie dies Jürgen Schlumbohm nahelegte, als Beleg ihrer vermeintlichen „Unwirksamkeit“ zu interpretieren ist.

179 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Ministerium des Äußeren, Position 6981, 1809 September 10. 180 Hierzu vor allem Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühmodernen Staates?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 647 – 663. Zur Revision seiner Thesen samt weiterführenden Literaturhinweisen Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 615 – 616; Karl Härter, Sozialdisziplinierung durch Strafe? Intentionen frühneuzeitlicher Policeyordnungen und staatlicher Sanktionspraxis, in: Zeitschrift für historische Forschung 26 (1999), S. 365 – 379; Härter, Policey und Strafjustiz (Fn. 6), Bd. 1, S. 236 – 245. 181 Siehe auch Achim Landwehr, „Normdurchsetzung“ in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 146 – 162 (149). 182 Vgl. schon Schennach, Gesetz und Herrschaft (Fn. 4), S. 744.

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VII. Schluss Eine rechtshistorische Betrachtung der Gesetzespublikation hat folglich mehrere Aspekte zu berücksichtigen: Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten der Kundmachung in der Frühen Neuzeit hat man es nicht mit einer „Öffentlichkeit“ als Normadressat zu tun, sondern – wie die Analyse zielgruppenspezifischer Promulgation vor Augen geführt hat – mit multiplen, sich personell freilich vielfach überschneidenden Foren und Formen von Öffentlichkeit. Neben der Beschäftigung mit den konkreten frühneuzeitlichen Praktiken und Techniken der Kundmachung, die stets in engem Konnex mit der Gesetzesimplementation gesehen werden sollten, sind ferner die rechtswissenschaftlichen Diskurse rund um Fragen der Publikation miteinzubeziehen. Zudem ist im Anschluss an Pascale Cancik die bislang dominierende dichotome Gegenüberstellung von „materieller“ und „formeller“ Publikation kritisch zu hinterfragen, da hier wie dort jeweils unterschiedliche Publikationshandlungen – hier der „Anschlag“ bzw. die mündliche, generelle respektive zielgruppenspezifische Verkündung, dort die Veröffentlichung im Gesetzblatt – jeweils mit der Fiktion einer allgemeinen Gesetzeskenntnis verbunden wurden. Freilich wird es angesichts der Ressourcenbindung durch die materielle Publikation verständlich, warum die formelle Publikation nach ihrer Einführung im revolutionären Frankreich im 19. Jahrhundert auch in den deutschen Staaten Verbreitung fand.183 Den Anfang machten um 1810 die Rheinbundstaaten und Preußen – hier wurde expressis verbis statuiert, dass „die bisherige Publikation allgemeiner Gesetze weder an sich den vorgesetzten Zweck gehörig erreicht, noch den Gebrauch und die Übersicht erleichtert“184 habe. Im Gefolge der Revolution 1848/49 setzte sich das Prinzip dann weitflächig, aber keineswegs vollständig durch.185 Der Übergang zur formellen Publikation hatte nicht nur verwaltungsökonomische Gründe, sondern diente überdies der Rechtssicherheit, indem nunmehr ein verbindliches Datum des Inkrafttretens vorgeschrieben wurde. Dieses musste zunächst durchaus noch nicht einheitlich sein. Zuweilen kam es bei dessen Fixierung zu Abstufungen je nach Entfernung eines Verwaltungssprengels vom Regierungssitz;186 in anderen Fällen war, sofern keine abweichende Regelung im jeweiligen Gesetz getroffen wurde, eine einheitliche Zeit der Legisvakanz vorgesehen, die im großflächigen Kaisertum Österreich nach der Einführung des „Reichsgesetz- und Regierungsblattes“ 1849 beispielsweise zunächst 29 Tage betrug.187 Im Übrigen bedeutete die 183 Vgl. die Auflistung bei Lukas (Fn. 2), S. 135 – 206; Ruppert (Fn. 4), S. 89 – 95; Mertens (Fn. 10), S. 221. 184 Zit. nach Hubrich (Fn. 2), S. 36 (Sperrdruck der Vorlage weggelassen). 185 Württemberg beispielsweise hielt bis zum beginnenden 20. Jahrhundert an der materiellen Publikation fest, siehe Lukas (Fn. 2), S. 167 – 168; Holzborn (Fn. 19), S. 163. 186 Vgl. Lukas (Fn. 2), S. 174 – 182. 187 Vgl. Lukas (Fn. 2), S. 180; Gerhard Silvestri, Die deutschsprachigen Gesetzblätter Österreichs. Eine Bibliographie, Berg am Starnberger See 1967, S. 7.

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Einführung der formellen Publikation nicht notwendigerweise, dass fortan keine materiellen Publikationshandlungen mehr gesetzt wurden. Gerade bei als besonders wichtig erachteten, weite Teile der Bevölkerung betreffenden Gesetzen wurde kumulativ zur Kundmachung im Gesetzesblatt eine Publikation mittels Anschlags und zuweilen sogar noch durch mündliche Berufung angestellt.188 Im Unterschied zur Frühneuzeit kam dieser Kundmachung vor Ort freilich keine rechtliche Bedeutung mehr zu, sondern sie diente nur mehr der möglichst weitflächigen Informationsvermittlung. Die Publikation im gedruckten Gesetzblatt blieb nicht der Endpunkt: Im Zuge der jüngeren technischen Umwälzungen tritt zunehmend eine EDV- und internetgestützte Publikation der authentischen Fassung von Gesetzen an die Stelle der gedruckten Gesetzblätter. In Österreich wird beispielsweise das Bundesrecht seit 2004, das Landesrecht seit 2015 durchgehend im Rechtsinformationssystem des Bundes publiziert. Die gesetzliche Vorschreibung eines unentgeltlichen Zugriffs auf die elektronische Publikationsplattform sowie das Recht jedes Normadressaten, unentgeltlich Ausdrucke des Bundesrechts aus dem Rechtsinformationssystem zu erhalten (§ 9 Abs. 1 – 2 Bundesgesetzblattgesetz), sollen einen möglichst niederschwelligen Zugang für breite Bevölkerungsteile gewährleisten.

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Vgl. Ruppert (Fn. 4), S. 92; Lukas (Fn. 2), S. 150 – 168; Mertens (Fn. 10), S. 222 – 223.

Aussprache Gesprächsleitung: Schilling Schilling: Sie haben einen wichtigen Punkt zum Schluss angesprochen. Auch Öffentlichkeit und öffentliche Bekanntheit beruhen auf Fiktionen. Die Veränderungen, denen diese Fiktionen unterliegen, aber auch die sich ändernden Wege und Verfahren, sie zu konstruieren, verdienen besonderes Interesse. Thier: Vielen Dank für einen reichen Überblick. Ein Kommentar und eine Frage: Die Bemerkung zielt darauf, dass wir die Bedeutung von Gesetzespublikationen im Sinne von Publizität, wenn ich nochmals auf den Ausdruck von Herrn Brauneder zurückgreifen darf, Publizität als ganz elementare Publizität in ihrer normativen Bedeutung, sehr schön in der gelehrten Kanonistik sehen. Ich komme deswegen darauf, weil auf kanonistische Restmaterien angespielt worden ist. Das Argument bei der Polizeiordnung, dass man sich nicht darauf soll berufen können, dass man das Gesetz nicht gekannt habe, findet sich bereits in der Kanonistik. Das diskutieren die Kanonisten etwa seit dem 12. Jahrhundert. Es geht los mit Gratian, ist teilweise auch schon vorher unter dem Stichwort Entschuldigung, Verbotsirrtum und Ähnlichem präsent. Das klingt jetzt schrecklich juristisch, ich weiß. Ich schaue auch ganz vorsichtig in Richtung der Historikerinnen und Historiker. Man muss aber zur Kenntnis nehmen, dass es für die Kanonisten, die Kirchenrechtler, eine ganz elementare Sache war, dass jemand nicht einer Sünde bezichtigt werden konnte, wenn er gar nicht wusste, dass er etwas falsch gemacht hat. Von daher entwickelt sich eine relativ hochdifferenzierte Lehre des Irrtums. Das Ganze führt dann nebenbei gesprochen zu interessanten Phänomenen, nämlich in puncto Rückwirkung. Für mich war es interessant zu sehen, dass sich dieser Topos Verbotsirrtum, Unkenntnis usw. relativ lange hält. Damit komme ich zu meiner Frage – dem elementaren Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit im Sinne von Publizität, Normenkenntnis, Verbindlichkeit. Dieser Zusammenhang zwischen konkreter Publikation und Verbindlichkeit verschwindet dann irgendwann. Wir haben heute allgemein einen abstrakten Publikationstatbestand. Wann würdest Du den Übergang sehen? Dann zu einer anderen Sache: Du hast den passant Gesetzessammlungen angesprochen. Haben diese Gesetzessammlungen nicht eine unglaubliche Bedeutung als Wissensspeicher und als Strukturierung von Rechtswissen? Wie siehst Du die Bedeutung von diesen privaten Gesetzessammlungen, und zwar wohlgemerkt vor dem, was nach 1800 steht. Ich frage das vor einem kirchlichen Hintergrund. Wir sehen im kirchenrechtlichen Kontext seit der Spätantike die Entstehung von solchen Normensammlungen. Deshalb bin ich etwas überrascht, dass das ein bisschen in den Hintergrund getreten ist.

Aussprache

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Schennach: Der Hinweis auf die Kanonistik ist absolut zutreffend. Man hätte das auch noch bei der Legistik ausführen können, wo sich auch ein entsprechender Diskussionsstrang bis in die Neuzeit zieht. Nur wäre das darstellungstechnisch ein gewisses Problem. Es gibt natürlich mehrere diskursive und damit auch potentiell wissenschaftliche Stränge. Das eine wäre der rechtswissenschaftliche Diskurs, der der Kanonistik, der der Legistik, der der frühneuzeitlichen Rechtswissenschaften dann auch in ihrer Ausdifferenzierung. Hier hätte man dann auch noch über die Ausführungen von Polizeywissenschaftlern in extenso oder auch über das jus publicum ab dem 16. Jahrhundert sprechen können. Hier ist das Problem, dass das den Rahmen des Vortrages gesprengt hätte. Dieses Umstandes muss man sich bewusst sein, doch entsprach die Beschränkung auf die Publikationspraxis mit ihren Abstufungen meiner Intention und war der Themenstellung dieses Forums geschuldet, da hier die Öffentlichkeit nicht nur als rechtliches Konstrukt, sondern auch faktisch greifbar wird. Es war eine bewusst gewählte Schwerpunktsetzung. Dass hier mehrere parallele Stränge zu berücksichtigen sind, liegt auf der Hand. Die Bedeutung von Gesetzessammlungen als Wissensspeicher, als Handreichung auch für die Behörden, mit dem Ziel der Strukturierung der Rechtsordnung, der Übersichtlichmachung der Rechtsordnung, ist meines Erachtens nicht zu unterschätzen. Und offensichtlich sind diese auf eine gewisse Marktlücke vorgestoßen, was am Erfolg entsprechender Unterfangen, sei es in Preußen, sei es in Österreich, festgemacht werden kann. Die Bedeutung war sicherlich für Rechtsanwender, für ein juristisch gebildetes Publikum viel größer, als es für den großen Kreis der Bevölkerung war. Das Zielpublikum waren ganz klar die Gelehrten oder die praktischen Rechtsanwender, das können auch Beamte ohne juristische Schulung gewesen sein. Insofern ist es wichtig, dass es nicht unmittelbar zum Kontext der Gesetzespublikation zählt, sondern dass das ein zusätzlicher Informationskanal war. Zur dritten Frage des Konnexes von Publizität, Normenkenntnis und Verbindlichkeit: Auch hier, glaube ich, muss man unterschiedliche Stränge unterscheiden. Zunächst den rechtswissenschaftlichen Diskussionsstrang: Erst durch Publizität gewinnt eine Norm Verbindlichkeit, da gibt es den Übergang nicht. Da ist es relativ früh schon eine communis opinio. Mit Blick auf die Publikationspraxis hat meines Erachtens Frau Cancik eine ganz weise Bemerkung in ihrem Werk gemacht: In der Frühen Neuzeit steht wohl mehr der praktische Aspekt der faktischen Kundmachung im Vordergrund. Überlegungen über die normativen Folgen des Kundmachungsvorgangs rücken erst relativ spät bzw. situationsbezogen-kasuistisch in den Blickpunkt. Wobei nach Frau Cancik – und durchaus überzeugend – im ausgehenden 18. Jahrhundert, als sich die Normen über die Wirkungen der Gesetzespublikationen verdichten, ein Wechsel auszumachen sei. Es gibt somit eine doppelte Sicht: Hier der wissenschaftliche Strang, wo schon früh der Brückenschlag hergestellt wird – nur eine publizierte Norm entfalte Verbindlichkeit und werde wirksam. Auf der anderen Seite gibt es die verwaltungspraktische Ebene, wo Ende des 18. Jahrhunderts die Zäsur anzusetzen sei. Polley: Ich bedanke mich herzlich für Ihren hochinteressanten Vortrag. Ich kann eine Brücke zu einem früheren Forschungsthema von mir schlagen, nämlich zur Ver-

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eidigung der männlichen Bevölkerung des Kurfürstentums Hessen nach erreichtem 18. Lebensjahr auf die Verfassungsurkunde vom 5. Januar 1831 (§ 156), der eine Verlesung des Textes durch die Kreisräte in den Kirchen vorausging. Kommentatoren der Verfassung fassten diese als einen Vertrag zwischen dem Fürsten, seinem Hause und dem Volke in allen Schichten auf, wobei die Eidesleistung die allgemeine Verpflichtung begründete, die Verfassung in ihrer Gesamtheit und in allen ihren einzelnen Teilen aufrecht zu erhalten. In der Tat ein bemerkenswertes Zeugnis von Öffentlichkeit in der Rechtskultur. Ich möchte hier noch auf das von Ihnen geschilderte penibel anmutende System der Publikationsmethoden gegenüber der Bevölkerung durch Verlesung von Gesetzgebungsakten durch Amtsleute oder Pastoren in Kirchen zu sprechen kommen. Man stellt sich dabei verwundert die Frage, ob für den normalen Untertanen jeweils der Zusammenhang der neuen Regelung mit der bereits bestehenden Gesamtrechtslage in dem Territorium verständlich war. Die allgemeine Rechtslage in dem Territorium beruhte ja zumeist auf oft ungeschriebenem Gewohnheitsrecht und auf dem gemeinen römisch-kanonischen Recht. Letzteres war schon wegen der lateinischen Sprachkultur nur studierten Juristen oder Altphilologen bekannt und begreiflich, nicht aber breiteren Bevölkerungsschichten. Da sich Ihre Betrachtungen vor allem auf territoriale Verhältnisse stützen, möchte ich auch noch die oberste Stufe der Organe des Heiligen Römischen Reiches ansprechen. Wie wurden die Reichsschlüsse kundgemacht? Der Kaiser hatte ja nicht die Möglichkeit, sie selbst in den einzelnen Reichsterritorien zu verbreiten. Er bedurfte der Hilfe der Landesherren, welche diese nach mir bekannten Beispielen durch Insertion der Reichsregelung in eigene Verlautbarungen leisteten. Von Wichtigkeit war auch die Praxis, dass der die Schlüsse des Reichstages zusammenfassende Reichsabschied am Ende des Reichstages in voller Versammlung des Kaisers und Reichs verlesen wurde. Danach wurde ein Exemplar hiervon dem Reichshofrat, ein weiteres der von Kurmainz bestellten Reichskanzlei und eine vidimierte Abschrift dem Reichskammergericht eingehändigt. Ich will auch noch eine Brücke zum französischen Rechtswesen schlagen, wo die Registrierung der königlichen Ordonnanzen durch die alten französischen Parlamente, insbesondere durch das berühmte Pariser Parlament, der übliche Weg ihrer Veröffentlichung und der Begründung ihrer Gesetzeskraft war. Ich hoffe, dass meine Ausführungen zum Rahmen des Vortragsthemas einigermaßen passen. Schennach: Der Hinweis auf die französischen Parlamente und die dortige Registrierungsnotwendigkeit ist eine wertvolle Ergänzung und gänzlich zutreffend. Hinsichtlich der Reichsgesetze haben Sie auch den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich habe das aus Zeitgründen weglassen müssen. Aber natürlich konnten auch die Reichsschlüsse nicht unmittelbar vom Kaiser in den einzelnen Territorien kundgemacht werden, sondern diese wurden in gedruckter Form den Reichsständen kommuniziert, und hier bestand die Notwendigkeit der Transformation, wenn ich diesen modernen Begriff heranziehen darf, in territoriales Recht. Das konnte in Form eines In-

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serts geschehen, das entsprechend eingeleitet wird: „Hier wird kundgemacht die Reichshandwerksordnung, die von Wort zu Wort lautet“, und dann kommt als Insert der entsprechende Text. Oder es wurde auch materiell transformiert. Da haben Sie ganz recht. Reichsgesetze werden zunächst den Reichsständen mitgeteilt. Hier erfolgt dann die Kundmachung durch die Reichsstände auf territorialer Ebene. Die Skurrilität der Kundmachungsbemühungen angesichts der weitgehenden Dominanz von Gewohnheitsrecht stimmt natürlich gerade für den Bereich der Privatrechtsordnung. Es gibt auch nur sehr wenige Gesetzgebungsakte, die das Privatrecht berühren, das ja bis ins 18. Jahrhundert zu einem ganz erheblichen Teil auf Gewohnheitsrecht basiert, hier besteht auch nicht die Notwendigkeit der Einschärfung. Das Interessante ist, selbst wenn das Gewohnheitsrecht im Wesentlichen als schriftlich fixierende Gesetze erlassen wird, wie z. B. beim bayerischen Landrecht von 1518, dann begnügt man sich mit der Bekanntgabe des Erlasses des entsprechenden Gesetzes, ohne im Einzelnen auf den Inhalt einzugehen. Man muss sich vor Augen halten, dass diese Publikationsmethoden vor allem im Bereich der Polizeygesetzgebung von Bedeutung sind; durchaus auch in deutlich reduzierter Form für den Bereich des Strafrechts. Aber selbstverständlich: Im Bereich des Privatrechts, wo Gewohnheitsrecht von Relevanz ist oder aber das römisch-gemeine Recht subsidiär gilt, besteht diese Notwendigkeit nicht. Insofern fällt dort auch die Notwendigkeit der Gesetzespublikation, von einzelnen Regelungen in Mandatsform abgesehen, weg. Westphal: Ich bedanke mich sehr für diesen Vortrag. Er erinnert mich an eine Diskussion, die wir 1997 und folgende in der Geschichtswissenschaft hatten, ausgelöst durch den Aufsatz „Gesetze, die nicht durchgesetzt werden“ von Jürgen Schlumbohm. Es ist eine enorme Diskrepanz zwischen Norm und Praxis feststellbar. Das heißt, die Normen, die publiziert werden, werden tatsächlich nicht durchgesetzt oder umgesetzt. Die Auseinandersetzung mit dieser These habe ich vermisst. Es war für mich immer sehr einsichtig, dass die Publikation dieser Gesetzestexte eigentlich nur dazu gedient habe, um den Herrscher, die Obrigkeit als Gesetzgeber zu installieren. Also deutlich zu machen, dass sie berechtigt sind, Gesetze zu verabschieden. Durch die Publikation wird das perpetuiert. Es geht also letzten Endes um die Legitimation der Herrschaft. Dieser wichtige Aspekt ist hier ein wenig verlorengegangen. Wäre dem nicht so, wäre weder die Gesetzesfülle im ausgehenden 18. Jahrhundert noch die ständige Wiederholung der Publikation dieser Gesetzestexte erklärbar. Vielmehr würde die Praxis in eine ganz andere Richtung gehen. Sehen Sie hierin eine Koppelung oder eine Entkoppelung? Was sagen Sie zu dieser These? Schennach: Ich glaube, man muss zwei Bereiche differenzieren. Die Schlumbohm’sche These einerseits, die meines Erachtens und auch vor dem Hintergrund der Forschungen von Herrn Härter einfach als überholt angesehen werden muss, dass es eine rein symbolische Gesetzgebung gab. Von Gesetzen, die keinen Geltungsanspruch hatten in dem Sinne, dass sie nicht durchgesetzt werden sollten, sondern, genau wie Sie es zum Ausdruck gebracht haben, der Inszenierung des Gesetzgebers dienen sollten. Erstens: Das würde sehr augenfällig, wenn Gesetze nicht durchgeführt, aber dauernd republiziert würden, das Scheitern der landesfürstlichen

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Macht und Durchsetzungsmöglichkeiten zeigen. Das wäre, wenn man den Gedanken von Herrn Schlumbohm weiterdenkt, geradezu kontraproduktiv. Und das ist zweitens auch etwas, was im zeitgenössischen behördeninternen Diskurs immer wieder betont wird: Natürlich ist jedes Gesetz auf Durchsetzung angelegt, weil die öffentliche Missachtung landesherrlicher Gesetze – und hier bringe ich ein sinngemäßes Quellenzitat – eine Verkleinerung der landesherrlichen Reputation und Autorität bewirken würde. Insofern symbolische Gesetzgebung: Nein, und das auch vor dem Hintergrund der Recherche zur guten Polizey der letzten zwei Jahrzehnte! Das, was Schlumbohm als Zeichen für die Geltungsschwäche oder fehlende Umsetzbarkeit interpretiert hat, nämlich die dauernde Republikation, lässt sich viel plausibler erstens mit dieser Notwendigkeit einer variablen Bedeutungszuschreibung erklären und zweitens mit der Notwendigkeit, in einer eben doch noch zu recht beträchtlichen Teilen illiteraten Gesellschaft die Normen präsent zu halten. Das ändert sicherlich nichts daran, und jetzt komme ich zum zweiten Teil, dass zwischen der Norm und der Praxis Differenzen auszumachen sind; dass vielfach die Lokalbeamten von der Vielzahl von Gesetzen überfordert waren oder notwendigerweise ihre Ressourcen zielgerichtet einsetzen mussten, dass es hier Unterschiede im Ausmaß der Implementation gab und geben musste. Die Frage ist, ob man das als Defizit betrachtet oder ob man nicht zum Schluss kommt, dass derartige unterschiedliche Grade der Gesetzesimplementation durchaus auch heute noch gegeben sein können. Auch hier kommt es beim Grad der Durchsetzung eines Gesetzes nicht zuletzt darauf an, wieviel Ressourcen eingesetzt werden. Die Schlumbohm’sche These ist hier meines Erachtens schon längst überholt, ungeachtet der nicht von der Hand zu weisenden Tatsache, dass eine Diskrepanz zwischen Norm und Praxis in der Neuzeit auszumachen ist; das ist durchaus plausibel, aber letztlich nichts, was nicht auch heutzutage noch beobachtbar wäre. Simon: Zur Durchsetzung: Ein Gesetz wird durchgesetzt, wenn Verstöße dagegen sanktioniert werden. Und die Sanktionierungstätigkeit des frühmodernen Staates ist ja durchaus intensiv. Insofern unternimmt der frühneuzeitliche Staat tatsächlich große Anstrengungen, seine Gesetze auch durchzusetzen. Die Vorstellung von Schlumbohm, einem beträchtlichen Teil der frühneuzeitlichen Policeygesetzgebung sei lediglich symbolischer Wert zugekommen, beruht auf der Annahme, dass ein Gesetz erst dann „durchgesetzt“ sei, wenn sich jedermann daran hielte, wenn also alle Normadressaten ihr Verhalten daran ausrichten, so dass die tatsächliche Verhaltenspraxis der Normadressaten dem Gesetz entspricht. Definiert man aber „Normdurchsetzung“ in diesem Sinne, dann wird es wohl kaum irgendwelche Gesetze geben, die jemals „durchgesetzt“ wurden – die moderne Gesetzgebung eingeschlossen. Das Überholverbot vor unübersichtlichen Stellen zählt sicherlich zu den elementarsten Verboten der StVO, dennoch gehört diese Form straßenverkehrsrechtlicher Delinquenz bis heute geradezu zum Verkehrsalltag und es gibt ständig Todesopfer. Aber deshalb wird wohl kaum jemand auf die Idee kommen, das Überholverbot gem. StVO sei vom Gesetzgeber rein symbolisch gemeint. Oder noch handgreiflicher: Seit dem hohen Mittelalter stehen Gewaltdelikte unter Strafe. Dennoch gibt

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es bis heute das Faktum einer verbreiteten Gewaltkriminalität. Die kausale Verknüpfung von Normsetzung und Normeinhaltung ist ein völlig realitätsfremder Maßstab für „Normdurchsetzung“. Man kommt hier nur weiter, wenn man auf den Zusammenhang von Normsetzung und faktischer Sanktionierung von Normverstößen abstellt. Schennach: Die aber durchaus abgestuft sein kann. Simon: Ich darf kurz noch zu meiner eigentlichen Frage kommen: Eigentlich unterstreicht dein Vortrag den Unterschied zwischen materiellem und formellem Publikationsprinzip. In dem Beispiel am Anfang deines Vortrages prüft das Gericht, ob man dem Angeklagten den Einwand mangelnder Kenntnis des Gebots, gegen das er verstoßen hat, abschneiden kann oder nicht. Schon daran sieht man, wie weit das von einem formellen Publikationsprinzip entfernt ist, bei dem sich ja die Vorstellung, dass es beim Delinquenten auf die tatsächliche Kenntniserlangung der in Frage stehenden Vorschrift ankomme, auf einen nur noch mikroskopisch wahrnehmbaren Rest verflüchtigt hat und zur reinen Fiktion geronnen ist. Jedenfalls dann, wenn man es mit dem frühzeitlichen Rechtsdenken vergleicht, wo dem Grundsatz, – er kommt aus der Kanonistik, wie wir gerade von Andreas Thier gehört haben – dass man ein Gesetz gegenüber einem Adressaten oder Delinquenten nur dann in Stellung bringen kann, man ihn also nur dann belangen kann, wenn man davon ausgehen kann, dass er das Gesetz kennt. Eben dieser Gesichtspunkt spielt heute praktisch keine Rolle mehr. Dass man diesen Befund durch die klare begriffliche Gegenüberstellung von materiellem und formellem Publikationsprinzip auf den Nenner bringt, finde ich richtig. Grundlegende Entwicklungslinien werden durch das Herausstellen klarer Begrifflichkeiten deutlicher erkennbar. Der Einwand, dass es im Einzelnen dann doch gewisse Relativierungen gibt, lässt sich auch gegenüber Begriffen wie etwa der „Konfessionalisierung“, der „Säkularisierung“ oder der „Modernisierung“ erheben, aber deswegen behalten derartige Begriffe doch ihren Wert. Denn der „Mainstream“, also der große Entwicklungsfluss, kommt ja letztlich doch recht gut in solchen Begriffen zum Ausdruck. Schennach: Es war nicht meine Intention, diesen Gegensatz zwischen materieller und formeller Publikation zu zementieren. Ich kann die Argumentation von Frau Cancik durchaus nachvollziehen. Ich möchte nochmals herausheben: Auf einer Publikation beruhen letztlich beide. Auch wenn vor Ort die mündliche Berufung, der Anschlag des Gesetzes vorgenommen wurden, wird davon ausgegangen, dass mit diesem Akt – den man genauso als einen formellen Akt betrachten und bezeichnen kann wie die Kundmachung von einem Gesetz in einem amtlichen Gesetzblatt –, dass mit diesem Akt der mündlichen Berufung und des Anschlags die Gesetzeskenntnis bei den jeweiligen Gerichtsinsassen bzw. Gemeindebewohnern vorausgesetzt werden kann. Denn hier kommt es tatsächlich, sobald dies erfolgt ist, eben nicht mehr auf die individuelle Möglichkeit der Kenntnisnahme an. Wenn einer einwendet: Ich war da ja gar nicht da bei diesem Taiding, bei dieser Bürgerversammlung, ich konnte dort auch gar nicht anwesend sein – dann wird nur darauf abgestellt:

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Die Publikation hat trotzdem stattgefunden. Man hätte anwesend sein müssen. Aber selbst wenn er wegen Krankheit oder Reise nicht anwesend war, es kommt auch hier nicht auf die individuelle Kenntnisnahme, sondern auf die Möglichkeit der Kenntnisnahme an. Insofern scheint mir der Gegensatz zur formellen Publikation nicht so groß, zumal man ja auch heute diesen Einwand erheben kann – ich nehme an in Deutschland ist das gleich wie in Österreich: Geschwindigkeitsbegrenzungen werden kundgemacht unter anderem durch das Straßenschild. Wenn das vergessen wurde aufzustellen, dann … Gestrich: Ich finde die Veröffentlichung von Gesetzgebung auch aus mediengeschichtlichen Gesichtspunkten faszinierend und bin einmal der Überlappung der Veröffentlichung von Gesetzen in Handschrift und im Druck in Württemberg nachgegangen. Die dicken Folianten mit handschriftlich abgeschriebenen Gesetzen und Verordnungen, die dann in die Gemeinden getragen und dort verlesen wurden – daran kann man sehen, mit wie vielen Gesetzen und in welchem Takt die Gemeinden mit diesen Informationen ,beschallt‘ wurden. Nach meiner vagen Erinnerung war das jede Woche einmal. Nicht immer unbedingt von der Kanzel, aber doch fast jede Woche von der Kanzel. Zwei kurze Fragen: Aus dem Württembergischen ist mir auch in Erinnerung, dass man die Landesordnungen, so etwas wie ein Digest der wichtigsten Gesetze, auch einmal jährlich verlesen werden mussten. Ist das eine Erklärung zu der Frage, wie man eigentlich an das Wissen der alten, schon lange nicht mehr verlesenen Gesetze kam? Es gibt aber auch Territorien, in denen die Landesherren an diesen Zusammenstellungen, diesen Gesetzessammlungen kein Interesse und ihre Publikation nicht befördert hatten. Es wurde sogar als ein subversiver Akt angesehen, solche Rechtssammlungen zusammenzustellen. Ich kann den Begründungszusammenhang dafür nicht mehr nachvollziehen. Wissen Sie dazu etwas? Schennach: Vielen Dank für die Erwähnung von Württemberg. Zu den Landesordnungen: Das ist territorial unterschiedlich. Zum Teil werden sie auf Taidingen zur Gänze verlesen, zum Teil nur in Ausschnitten, zum Teil als Extrakte und Zusammenfassungen. Hier sind unterschiedliche Ausprägungen der Publikation je nach Territorium und je nach Umfang des Gesetzes oder Gesetzesbuches auszumachen. Dass es in Württemberg zur Gänze verlesen wurde, für diesen Hinweis danke ich. Gestrich: Ob sie zur Gänze verlesen wurden, das weiß ich nicht. Schennach: Gesetzessammlungen als Gegenstand der Kritik an der Obrigkeit erscheinen mir auf den ersten Blick nicht so plausibel, weil das ja auch intern die Gesetzeskenntnis verbessern soll und der Druck einer Gesetzessammlung im Allgemeinen durch den jeweiligen Landesherren privilegiert ist. Woher ich dieses Phänomen kenne, ist der Druck der Landesfreiheiten in Landhandfesten. So etwas wurde unter Umständen nicht gern gesehen, weil das die Möglichkeit an die Hand gab, dass unter Umständen ein Rechtsbestand, der auch der Hegung der landesherrlichen Gewalt dienen oder zumindest so instrumentalisiert werden konnte, publik werden konnte. Eine solche kritische Sicht auf den Druck von Landesfreiheiten ist mir geläufig.

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Schönberger: Noch eine etwas verallgemeinernde Frage. Ich verstehe Ihre Faszination für das archivalische Material in seiner großen Vielschichtigkeit und die unterschiedlichen Publikationsformen. Aber das Interesse dafür kann doch eigentlich nur aktiviert werden, wenn man es koppelt mit der Durchsetzungsforschung. Also wenn man fragt: Hat die unterschiedliche Publikationsform auch irgendeine Relevanz? Auf welche Akteure ist sie bezogen, ändert sich etwas, wenn diese oder jene Form gewählt wird, ist es eine tatsächliche Änderung oder ist es eine Änderung in der Vorstellung der Akteure? Erst wenn wir darüber mehr wissen, so meine ich, macht die Buntheit oder das besondere Interesse an der Buntheit Sinn. Ansonsten finden wir einfach nur Vielfalt vor. Ab und zu hat der Landesherr unterschrieben, und dann hielt man es offenbar für besonders wichtig. Aber eine besondere Erkenntnis außer derjenigen, dass man eine Norm durchsetzen wollte und hoffte, dass die Unterschrift des Landesherrn diese Durchsetzung begünstigt, ist damit ja noch nicht gewonnen. Deshalb meine Frage nach der stärkeren Verbindung mit der Implementationsforschung. Schennach: Das kann und soll man auch verbinden. Das ist schwieriger. Das habe ich allerdings mit Blick auf das Tiroler Quellenmaterial, das Gegenstand meiner Habilitationsschrift war, auch gemacht oder zumindest versucht zu machen. Hier kann man ganz klar sagen: Je nachdem, wie die äußere Form der Publikation gestaltet ist, dementsprechend intensivieren sich tatsächlich auch die Durchsetzungsbemühungen und wurden diese auch seitens der Zentralbehörden entsprechend intensiver überwacht. Es geht nicht nur – das ist hier etwas zu kurz gekommen – um die äußere Form der Gesetzespublikation, sondern hier werden unterschiedliche Maßnahmen gesetzt: Dass Berichtspflichten statuiert werden, dass Visitationen vorgenommen werden. Diese Visitationen zielen dann vor allem auf die Durchsetzung jener Gesetze ab, die regelmäßig eingeschärft werden sollen. Hier sieht man die Parallelität der Implementationsbemühungen in ihrem Zusammenhang mit dem Publikationsmodus. Das musste aus Zeitgründen bei mir zu kurz kommen. Brauneder: In den Publikationen gibt es genügend Beispiele, dass die nebeneinander herlaufen. Das hast Du, glaube ich, auch gesagt. Zu den Gesetzessammlungen privater Natur würde ich die Justizgesetzsammlung und die politische eigentlich nicht rechnen. Das sieht man am jeweiligen Titelblatt. Da ist der kleine kaiserliche Adler darauf. Das ist das typische Merkmal für offizielle Sammlungen wie z. B. offizielle ABGB-Ausgaben. Zur Publikation ist sehr viel gesagt worden, wobei doch oft hundert Jahre dazwischenliegen. Da ändert sich natürlich manches. Dass die Publikation von Gesetzen offenbar nicht so wichtig ist, zeigen die Landrechtsentwürfe in den österreichischen Ländern. Die werden befolgt, ohne je sanktioniert worden zu sein, ohne je publiziert worden zu sein. Das ändert sich im Absolutismus. Und das Letzte: Wie sind eigentlich die schriftlichen Publikationsinstrumente unten angekommen? Ich frage deswegen, weil ich das Glück hatte, auf dem Dachboden eines aufgelassenen Schweinestalls ein Konvolut in die Hand zu bekommen mit grobem Spagat zusammengeheftet und in unterschiedlichem Format und zu meiner großen Überraschung mit der eigenhändigen Unterschrift von Karl VI., von Maria The-

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resia, Reste der Wachssiegel. Das war der allerletzte Rest einer grundherrschaftlichen Kanzlei in der Nähe von Melk. So kam das unten an. Mit der eigenhändigen Unterschrift des Landesfürsten! Schennach: Die Wichtigkeit der Empfängerüberlieferung ist gar nicht genug zu betonen. Hinsichtlich der Ausführungen zum Landrechtsentwurf ist auch der Brückenschlag zu dem möglich, was Thomas Simon ausgeführt hat, nämlich zum konsensualen Rechtsgeltungsverständnis. Falls das missverständlich formuliert war: Die Justizgesetzessammlung und die politische Gesetzessammlung habe ich als offiziöse Gesetzessammlungen angesprochen; anders der Codex Austriacus, der nur privat getragen wird. Mußgnug: Darf ich mit drei Fragen den Faden weiterspinnen in die konstitutionelle Zeit? Erstens: Ist die Gesetzespublikation, die in der konstitutionellen Zeit am Ende des Gesetzgebungsverfahrens steht, konstitutiv für das Inkrafttreten der Gesetze nach der der Regel „Was nicht publiziert ist, gilt nicht“? Diese Frage gewann Gewicht, als das NS-Regime dem „Führerwillen“ zum allgemeinverbindlichen Gesetz aufblähte. Dem haben einige – vor allem Werner Weber – dadurch die Spitze abzubrechen versucht. Wenn sie den Führer schon als Gesetzgeber anerkennen mussten, so hielten sie doch am Verkündungsgebot der klassischen Gesetzgebungslehre fest. Sie wollten den Führerwillen daher nur dann als Gesetz gelten lassen, wenn der Führer ihn im Reichsgesetzblatt – also gleichsam ex cathedra – verkündete; ohne förmliche Verkündung dagegen sollte auch der Führerwille nicht zum Gesetz aufsteigen. Für diese Sicht der Dinge unterlagen nur die Gesetzgebungshoheit und das Gesetzgebungsverfahren dem freien Zugriff des Verfassungsgebers, nicht aber auch das als überpositives Merkmal des Gesetzes verstandene Publikationserfordernis. Gab es dafür Vorläufer? Wenn ich mich recht erinnere, äußerte sich das ALR sehr deutlich in diesem Sinne. Kennen Sie auch außerpreußische Beispiele? Schennach: Es gibt sehr wohl die theoretische Diskussion des Geltungsgrundes des Gesetzes und hierfür gibt es durchaus Stimmen; das hat Herr Mohnhaupt in seinem Artikel über den historischen Gesetzesbegriff herausgearbeitet, dass ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert immer deutlicher der Wille des Landesfürsten als Gesetzgeber als ausschließlicher Geltungsgrund des Gesetzes herausgearbeitet wird. Was natürlich auch implizieren würde, dass die Kundmachung, die Publikation nicht ausschlaggebend ist. Aber dennoch hat die herrschende Lehre ungeachtet der Bedeutung des Willens des Gesetzgebers als Geltungsgrund der Gesetze an der Notwendigkeit der Publikation festgehalten. Langer Rede kurzer Sinn: Es gibt frühe Beispiele für diese Diskussion: Entsteht die Geltung des Gesetzes durch den Willen des Gesetzgebers oder erst durch die Publikation? Mußgnug: Zweite Frage: Im 19. Jahrhundert entwickelten sich Publikationsformeln, die als Beleg für die Korrektheit des Gesetzgebungsverfahrens von Wichtigkeit waren. In Baden lautete die Verkündungsformel zum Beispiel „Mit Zustimmung Unsrer getreuen Stände haben Wir beschlossen und verordnen wie folgt: …“. Das

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lebt fort. Angepasst an das Grundgesetz verkündet der Bundespräsident zustimmungsbedürftige Bundesgesetze heute mit der Formel „Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen“; nicht zustimmungsbedürftigen Gesetzen fügt er die Schlussformel hinzu „Die verfassungsmäßigen Rechte des Bundesrats sind gewahrt“. Weiß man, wie diese Formeln entstanden sind? Sind sie typisch für den Konstitutionalismus? Oder gab es sie schon im 18. Jahrhundert? Wo Landstände an der Gesetzgebung beteiligt waren, müssten sie eigentlich auf solche Bestätigungen ihrer Mitwirkung Wert gelegt haben. Schennach: Die von Ihnen angesprochenen Formeln „mit Zustimmung des Reichstags“ oder wie immer das jeweilige Parlament heißen mochte, sind für den Konstitutionalismus bezeichnend. Das heißt aber nicht, dass es nicht schon vorher ein typisches Formular der Gesetzesurkunde gegeben hätte, im Rahmen dessen ab dem 16. Jahrhundert durchaus auf die erfolgte Zustimmung der Landstände hingewiesen werden kann. Aber dass es sich bei der Gesetzesurkunde um eine Urkunde handelt, die ein bestimmtes Formular aufweist, ist eine Konstante, und dieses Formular entwickelt sich weiter. Wobei ich hier von Formular als Fachterminus der Diplomatik spreche, das liegt auf der Hand. Aber derartige Einzelformeln sind natürlich für die konstitutionelle Zeit maßgeblich. Mußgnug: Dritte Frage: Sie sprachen davon, dass der Kenntnis des Gesetzesadressaten vom Inhalt des Gesetzes und seiner Anordnungen große Bedeutung für dessen Geltung beigemessen worden ist. Das moderne Staatsrecht hält sich dabei allerdings nicht lange auf. Die Geltung der Gesetze wird nicht davon berührt, ob die Bürger sie kennen; das fällt lediglich bei den für Gesetzesübertretungen vorgesehenen Sanktionen ins Gewicht und wird selbst in diesem Zusammenhang sehr zurückhaltend beurteilt. Daher gehe ich grundsätzlich davon aus, dass es unerheblich ist, ob die Gesetzesadressaten die Gesetze kennen; Einkommensteuer müssen sie auch dann zahlen, wenn sie vom Einkommensteuergesetz nie etwas gehört haben. Den Ausschlag gibt allein, dass das Gesetz korrekt publiziert worden ist, so dass seine Adressaten es zur Kenntnis nehmen können; ob sie diese Möglichkeit nutzen, ist gleichgültig; es genügt, dass sie diese Möglichkeit hatten. Darin macht, wie gesagt, nur das Strafrecht eine Ausnahme. Aber auch hier kommt es primär nicht auf die Kenntnis des Gesetzes an, sondern auf seine Existenz und seine Publizität. Der Dieb muss wissen, dass er nicht stehlen darf; weiß er das nicht, so schützt ihn das nicht vor Strafe. Das hat die Lehre vom Verbotsirrtum sehr fein ausdifferenziert; den Grundsatz „Unkenntnis schützt vor Strafe nicht“ hat sie jedoch keineswegs aufgehoben; sie hat ihn nur angemessen modifiziert. Den Grundsatz „Unkenntnis schützt vor Steuern nicht“ hat es nie gegeben. Vor Steuern, mit denen wir nicht haben rechnen können, schützt uns lediglich das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot. Wie sah es damit in der Vergangenheit aus? Schennach: Im österreichischen Verwaltungsstrafverfahren gibt es in ganz ausgeprägten Randbereichen des besonderen Verwaltungsrechts die Möglichkeit, dass die Unkenntnis des Gesetzes, wenn sie nicht auf Verschulden des Betreffenden beruht,

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schuldbefreiend wirkt und tatsächlich die Strafverhängung ausschließt. Aber das sind absolute Ausnahmefälle des besonderen Verwaltungsrechts. Ansonsten kann ich summarisch verweisen auf das, was ich hoffe gesagt zu haben: Wenn die Publikation vor Ort in der vorgeschriebenen Form, sei es durch Berufung, sei es durch Anschlag stattgefunden hat, ist davon auszugehen, dass jeder das Gesetz kennen muss. Schönberger: Wir schreiten jetzt chronologisch ins 19. Jahrhundert voran und ich freue mich sehr, dass Frau Manca zu uns sprechen wird. Frau Manca ist Mitglied unserer Vereinigung, so dass ich sie nicht ausführlich vorstellen muss. Ich will aber erwähnen, dass Frau Manca eine Expertin der italienischen Verfassungsgeschichte ist und insbesondere auch der deutschen Verfassungsgeschichte. Sie hat ein sehr schönes Buch über Preußen und den preußischen Verfassungsbegriff als verfassungsgeschichtliches Problem geschrieben und auch über das deutsche Kaiserreich gearbeitet. Ihr Vortrag wird das Parlament behandeln, und dabei den Versuch machen, deutsche und italienische Erfahrungen vergleichend zu verarbeiten und in unser Thema einzubinden. Frau Manca, wir freuen uns auf Ihren Vortrag.

Parlament und Öffentlichkeit im Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts Von Anna Gianna Manca, Trient

I. Einführung Bestimmungen, die das Prinzip der Öffentlichkeit der Kammerverhandlungen festlegen, waren in fast allen deutschen1 und europäischen Verfassungen des langen 19. Jahrhunderts enthalten. Nur die Öffentlichkeit der Kammerverhandlungen konnte für das ,Volk‘ gewährleisten, dass die Abgeordneten die zentralen politischen Funktionen, durch die Gesetzgebung Volk und Gesellschaft in den Staat zu integrieren und die Regierung politisch zu kontrollieren, wirklich erfüllten. Nur durch sie konnten sich die Wähler vergewissern, dass die vom Parlament verabschiedeten Gesetze wirklich im Einklang mit der öffentlichen Meinung standen2. Es konnte aller-

1 Anna Gianna Manca, Öffentlichkeit und Organisation der Parlamentsarbeit im konstitutionellen Deutschland (1815 – 1918): Plenum, Ausschüsse und Fraktionen, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 29 (2007), S. 215 – 239, hier 221 – 223; Jörg-Detlef Kühne, Volksvertretungen im monarchischen Konstitutionalismus (1814 – 1918), in: Hans-Peter Schneider/ Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, Berlin/New York 1989, S. 49 – 100, hier 93; Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im „System Bismarck“ 1871 – 1890, Düsseldorf 2009. 2 Jürgen Habermas, Storia e critica dell’opinione pubblica, Roma-Bari 1977, S. 101 f., 105 (deutsche Ausgabe: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuausg. Frankfurt 1990, zuerst Neuwied 1962). Habermas entnahm seinen Begriff der repräsentativen Öffentlichkeit aus Carl Schmitt, Verfassungslehre, München 1928, ND Berlin 1965; s. dazu Hartmuth Becker, Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, 2. Aufl., Berlin 2003. Dass „Schmitts Äußerungen zum Phänomen Öffentlichkeit [sich] nur verstreut in seinen Veröffentlichungen finden“, hat Kai Burkhardt, in: ders. (Hrsg.), Carl Schmitt und die Öffentlichkeit. Briefwechsel mit Journalisten, Publizisten und Verlegern aus den Jahren 1923 bis 1983, Berlin 2013, S. 16 – 17, neulich hervorgehoben. Zur Begriffsgeschichte von Öffentlichkeit und öffentlich s. die Einträge von Lucian Hölscher und Hasso Hofmann in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 413 – 467; zur Systematik des Begriffs s. weiter Leo Kissler, Parlamentsöffentlichkeit: Transparenz und Artikulation, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) (Fn. 1), S. 993 – 1020. Die „öffentliche Kommunikation von Parlamenten in den Mittelpunkt“ stellen Andreas Schulz/ Andreas Wirsching (Hrsg.), Parlamentarische Kulturen in Europa. Das Parlament als Kommunikationsraum, Düsseldorf 2012, wo auf die unersetzliche legitimierende Rolle der Kommunikation für die Parlamente hingewiesen wird; hierin s. auch Werner J. Patzelt, Das Par-

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dings auch vorkommen, dass die Öffentlichkeit der Verhandlungen nicht schon unmittelbar durch die Verfassung, sondern erst durch die Geschäftsordnungen der Kammern eingeführt wurde. Unter den Begriff der Öffentlichkeit der Parlamentsarbeit hat man seit Beginn der Epoche moderner Repräsentation im Wesentlichen drei Dinge gefasst: den freien Zugang zur Zuschauertribüne für alle, die Freiheit der Presse, die Parlamentsprotokolle im Wortlaut zu veröffentlichen, sowie das Recht, aus den Sitzungen frei zu berichten3. Mit demselben Begriff bezeichnete man also häufig verschiedene Dinge bzw. verschiedene Grade von Öffentlichkeit. Darüber hinaus war die in der Verfassung bzw. in der Geschäftsordnung einer Volksvertretung verankerte Gewährleistung der Öffentlichkeit der Parlamentsdebatten allein keine Garantie für die Transparenz des Gesetzgebungsprozesses. Diese hing nämlich in beträchtlichem Maß von der tatsächlichen Praxis ab, wie genau die Volksvertretung die ,Vorberatung‘ eines Gesetzentwurfs bzw. Antrages und deren eigentliche ,Beratung‘ im Plenum, die schließlich mit einer Abstimmung endete, im Verhältnis zueinander organisierte. Schon gleich nach ihrer Konstituierung befanden sich die modernen Repräsentativversammlungen in der Situation, sich zwischen zwei verschiedenen Typen von parlamentarischen Geschäftsordnungen entscheiden zu müssen, die sich mit der Zeit herauskristallisiert hatten4. Nach dem französischen Modell (Art. 45 der Charta von 1814 u. Art. 39 der Verfassung von 1830) wurde die Versammlung in viele Abteilungen unterteilt, die manchmal auch als Sectionen bezeichnet wurden. Es handelte sich um Zusammenschlüsse einer jeweils identischen Anzahl von Abgeordneten, die unabhängig von der politischen Zusammensetzung der Gesamtversammlung gebildet wurden, d. h. kein repräsentatives Abbild der Versammlung darstellten. Aufgrund der offensichtlichen praktischen Schwierigkeit, innerhalb einer zu großen Gruppe effizient und schnell zu arbeiten, delegierte die Gesamtversammlung an sie die Vorbereitung der Themen, die Gegenstand der Plenarsitzungsdebatten sein sollten. Da diesen Untereinheiten der Versammlung ein relativ hohes Maß an Autonomie zugestanden wurde, entzog man durch diese Delegation eine sehr bedeutende Phase des Gesetzgebungsprozesses der Kontrolle der Öffentlichkeit. Das englische Modell der parlamentarischen Geschäftsordnung, das im Unterschied zum französischen nicht vollständig niedergeschrieben war und zumindest lament als Kommunikationsraum. Funktionslogik und analytische Kategorien, a. a. O., S. 45 – 73. 3 Robert von Mohl, Die Geschäftsordnungen der Ständeversammlungen, in: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik. Monographien. Bd. 1: Staatsrecht und Völkerrecht, Graz 1962 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe Tu¨ bingen 1860), S. 304 – 312; zur so gemeinten Frage der Öffentlichkeit im deutschen Kaiserreich Biefang (Fn. 1), S. 66 – 96, 141 – 150. 4 Bruno Dechamps, Macht und Arbeit der Ausschüsse. Der Wandel der parlamentarischen Willensbildung, Meisenheim am Glan 1954, der neben den zwei Systemen auch das amerikanische und das deutsche in Betracht zieht.

Parlament und Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts

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zum Teil auf Gewohnheit beruhte (wie im Übrigen der Großteil des englischen Verfassungsrechts), etablierte demgegenüber das Plenum als zentralen Ort der Parlamentsverhandlungen und gewährleistete damit ein höheres Maß an Öffentlichkeit. Nach dem englischen Geschäftsordnungsrecht konnte nur im Plenum, wo die Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse in jedem Moment deutlich erkennbar waren, entschieden werden, wie man sich zu den eingebrachten Gesetzentwürfen oder Anträgen verhalten wollte. Nur das Plenum konnte entscheiden, ob die Vorlagen zur weiteren Bearbeitung an eine bestimmte Kommission weitergeleitet oder von der Tagesordnung genommen werden sollten, und vor allem, falls die Befassung einer Kommission beschlossen wurde, ob die Vollversammlung selbst die Rolle einer solchen Kommission wahrnehmen wollte, welche in England in diesen Fällen als committee of the whole house bezeichnet wurde. Im letzteren Fall war allen Abgeordneten gleichermaßen die Möglichkeit eröffnet, tiefere Kenntnis davon zu erlangen, was im Folgenden Gegenstand der öffentlichen Debatte und der Beschlüsse der Vollversammlung sein sollte. Zum einen wurde so der für Kommissionsmitglieder sonst so typische Erwerb fachspezifischer Kompetenzen verhindert, der zur Verselbständigung der Kommissionen führt, weil ihre Mitglieder gegenüber dem Rest der Versammlung eine gewisse Überlegenheit in der Sachkompetenz besitzen; zum anderen wurde aber auch die Transparenz der Entscheidungsfindung im Gesetzgebungsprozess weithin begünstigt und erhöht5. Im Grundsatz orientierten sich die modernen deutschen Repräsentativversammlungen am französischen Modell, übernahmen jedoch auch einige Elemente aus dem englischen Modell6. Im Königreich Italien wurde allerdings praktisch ganz dem parlamentarischen Organisationsmodell Frankreichs gefolgt, obwohl man hier auch in Fragen der parlamentarischen Geschäftsordnung ständig auf das hochgelobte Modell England verwies. Jenseits aller starren historiographischen Unterscheidungen zwischen dem sogenannten monarchisch-parlamentarischen Königreich Italien und den monarchisch-konstitutionellen Staaten Deutschlands7 ist nämlich hier wie dort, so lautet meine These, tatsächlich dieselbe Tendenz zur Verheimlichung bzw. Entziehung der Öffentlichkeit der parlamentarischen Arbeit festzustellen. Im Folgenden werde ich mich zunächst auf die Entwicklung und die praktische Umsetzung der preußisch-deutschen Vorschriften über die Öffentlichkeit der Parlamentsarbeit konzentrieren (II.); danach werde ich auf die Entwicklung und die prak5

Erst am Anfang des 19. Jahrhunderts kann man auch in England die Bildung der ersten Parlamentsausschüsse (select committees) beobachten (Andreas Wirsching, Parlament und Volkes Stimme. Unterhaus und Öffentlichkeit im England des frühen 19. Jahrhunderts, Göttingen 1990, S. 75). 6 Kühne (Fn. 1), S. 94 – 95; Gerald Kretschmer, Geschäftsordnungen deutscher Volksvertretungen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) (Fn. 1), S. 291 – 331. 7 Zur Infragestellung dieser traditionellen Unterscheidung sei hier auf Anna Gianna Manca, Il Sonderweg italiano al governo parlamentare: a proposito delle acquisizioni della più recente storiografia costituzionale italiana, in: Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 33/34 (2004/05), S. 1285 – 1333, verwiesen.

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tische Umsetzung der entsprechenden Verfassungs- und Geschäftsordnungsvorschriften der italienischen Abgeordnetenkammer eingehen (III.); zuletzt werde ich versuchen, eine vergleichende Schlussfolgerung zu ziehen.

II. Die Öffentlichkeit der parlamentarischen Arbeit in Preußen und im deutschen Kaiserreich Die moderne Repräsentativverfassung Preußens vom 31. Januar 1850 garantierte in umfassender Weise – zusammen mit dem Recht jeder Kammer, „ihren Geschäftsgang und ihre Disziplin durch eine Geschäftsordnung“ zu regeln (Art. 78) – die Öffentlichkeit der Arbeit beider Kammern (Art. 79). Die Freiheit, wahrheitsgetreue Parlamentsberichte abzudrucken, war schon seit Beginn der konstitutionellen Epoche zur üblichen Praxis geworden und wurde auch für Preußen durch § 38 des grundsätzlich illiberalen Pressegesetzes vom 12. Mai 1851 bestätigt8. Auch die Geschäftsordnung der zweiten preußischen Kammer vom 28. März 1849, die bis 1862 formal unverändert blieb9, wurde auf der Grundlage der Geschäftsordnung der Frankfurter Nationalversammlung vom 29. Mai 1848 entworfen, welche das französische System der Abteilungen rezipiert hatte. Im Unterschied zur Frankfurter Regelung wurde allerdings in Preußen die sehr bedeutende Neuerung eingeführt, dass die Gesetzesvorberatung zwar ausnahmsweise auch noch in den Abteilungen und im Zentralausschuss erfolgen konnte, sie jedoch in der Regel von den Ausschüssen durchzuführen war, in deren Zusammensetzung sich das Kräfteverhältnis der einzelnen Fraktionen proportional widerspiegeln konnte und sollte10. Zu diesem Zweck wurden, neben dem schon bestehenden Ausschuss, der sich mit Petitionen zu befassen hatte (Petitionskommission), weitere sieben ständige Ausschüsse eingerichtet. Entgegen dem Wortlaut der Geschäftsordnung oblag diesen und nicht mehr den Abteilungen die Durchführung der so genannten Vorberatung11. Die Abteilungen bestanden zwar weiter, doch blieb ihnen de facto neben der Aufgabe der Wahlprüfung (§ 3 ff. GO von 1849) nur die Befugnis zur Wahl der Ausschussmitglieder (§ 19 GO von 1849) vorbehalten, und auch diese bald nur noch im formalen Sinne. 8

Anna Gianna Manca, Costituzione e amministrazione della monarchia prussiana (1848 – 1870), Bologna 2016, S. 112 – 114, hier 113. 9 August Plate, Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, ihre Geschichte und ihre Anwendung. Unter Berücksichtigung der Geschäftsordnung und der Gewohnheiten des Deutschen Reichstages. Mit Textabdrücken der Geschäftsordnungen des Deutschen Reichstages und des Preußischen Herrenhauses, 2. Aufl., Berlin 1904, S. 4 ff. 10 Plate (Fn. 9), S. 5. 11 Plate (Fn. 9), S. 4 – 5, 25, 50; Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848 – 1850, Düsseldorf 1977, S. 501.

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1862 wurde allerdings eine Änderung der GO des preußischen Abgeordnetenhauses verabschiedet, wonach das Plenum entscheiden konnte, vorab einen Teil seiner Arbeitslast direkt auf die Ausschüsse zu übertragen; gleichzeitig räumte man den Ausschüssen außerdem die Möglichkeit ein, dem Plenum nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich Bericht zu erstatten. Auf diesen Weg übernahmen die Ausschüsse auch im formalen Sinne die Aufgabe der „ersten Vorberatung“ der Gesetzentwürfe, welche die geschriebene Geschäftsordnung bis dahin den Abteilungen vorbehalten hatte. Für die Abteilungen wurde die Pflicht zur Wahl der Ausschussmitglieder noch einmal bestätigt, obwohl sie ihr in der Praxis schon seit langer Zeit nicht mehr nachkamen12. Neben der formalen Beseitigung der Gesetzesvorberatungsaufgabe der Abteilungen führte die Geschäftsordnung der preußischen Abgeordnetenkammer von 1862 die sehr bedeutende Möglichkeit einer so genannten Vorberatung im ganzen Haus ein. Im Vorfeld der Plenardebatte und neben der inzwischen obligatorisch gewordenen Vorberatung im Ausschuss war nun auch eine Vorberatung der Gesetzentwürfe im Plenum, also im öffentlichen Rahmen, vorgesehen. Im Falle von besonders bedeutenden Gesetzentwürfen sollte sich die Kammer sofort und klar dazu äußern können. Wenn das Plenum und nicht der Militärausschuss 1862 die Gelegenheit gehabt hätte, sich unmittelbar nach Vorlage der Heeresgesetzentwürfe zum tragenden Prinzip der Militärreform zu äußern, wäre vielleicht der Verfassungskonflikt nicht so heftig ausgebrochen bzw. hätte sich vielleicht nicht so lange hingezogen, so lautete damals das Plädoyer für die Einführung der neuen Geschäftsordnungsvorschriften13. Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses war in ihrer geänderten Fassung von 1862, welche die Öffentlichkeit der Plenardebatte besonders aufwertete, weit davon entfernt, in ihrer Wirkung nur auf den preußischen Staat beschränkt zu bleiben. Als Preußen 1867 zum Hegemonialstaat des Norddeutschen Bundes aufstieg, wurde die preußische GO von 1862 mit nur wenigen Änderungen auch vom sich konstituierenden Norddeutschen Reichstag übernommen. Auf der Grundlage der preußischen Geschäftsordnung von 1862 und zwar durch „Vorberatung im Plenum“ wurde auch die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom sich konstituierenden Norddeutschen Reichstag verabschiedet14. Das geschah innerhalb kaum sechs Wochen und ausschließlich aufgrund von Plenardebatten, d. h. ohne auf die vorbereitende Tätigkeit einer Verfassungskommission zurückzugreifen, welche im Gegensatz dazu 1848/49 in Frankfurt am Werk gewesen war. Auf ihre Einrichtung hatten besonders die Nationalliberalen vergeblich gedrängt. Der Verzicht auf die Kommissionsvorberatung hatte einen Bedeutungsaufschwung der Fraktionen innerhalb der norddeutschen Volksvertretung sowohl zur 12

Plate (Fn. 9), S. 10 – 11, 50; Dechamps (Fn. 4), S. 57, 59. Plate (Fn. 9), S. 12, 51. 14 Karl Christian Eduard Hiersemenzel, Die Verfassung des Norddeutschen Bundes erläutert mit Hilfe und unter vollständiger Mittheilung ihrer Entstehungsgeschichte, Berlin 1867, S. X – XI. 13

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Bedingung als auch zur Folge; auf sie entfiel praktisch die gesamte Arbeit der Verfassungsvorberatung. Den informellen Kontakten zwischen den Fraktionsführungen wurden damit jener vorbereitende Meinungsaustausch und jene unverzichtbaren Aushandlungen und Kompromissfindungen überlassen, die gewöhnlich hinter den verschlossenen Türen der Kommissionen stattfinden. Die Geschäftsordnung, die man zunächst provisorisch aus Preußen übernommen hatte, wurde auch vom ordentlichen Norddeutschen Reichstag am 10. September 1867 beibehalten. In den darauffolgenden Monaten wurden allerdings zentrale Anträge auf Änderung der Geschäftsordnung in den Reichstag eingebracht, welche 1868 zu einer Neufassung führten. Die neue Geschäftsordnung des Norddeutschen Reichstags trat am 12. Juni 1868 endgültig in Kraft. In die neue Geschäftsordnung wurden sehr innovative Verfahrenselemente eingeführt, welche im Gegensatz dazu der Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses fremd blieben und die eine noch entschiedenere Annäherung an die im englischen Parlament angewandte Geschäftsordnung bezweckten. Ich beziehe mich hier insbesondere und vor allem auf das System der drei Lesungen bei der Beratung der Gesetzentwürfe, welches ein grundlegendes Merkmal des Geschäftsordnungsrechts der modernen Volksvertretungen bis in unsere Tage geblieben ist15. Mit der GO-Reform von 1868 erhielten die Debatten im Plenum eine viel größere Rolle als zuvor; den Kommissionen hingegen verblieb im Gesetzgebungsprozess nur eine begrenztere Rolle, die allein zwischen der ersten und der zweiten Lesung zum 15

Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867 – 1870, Düsseldorf 1985, S. 357. Bis 1868 folgte man nämlich bei der Gesetzesberatung folgendem Verfahren: 1) Plenarberatung über die „geschäftliche Behandlung“ des Gesetzentwurfs, 2) Vorberatung in einer Kommission oder ausnahmsweise „Vorberatung im ganzen Hause“ oder gar keine Vorberatung, schließlich 3) „Schlußberatung im ganzen Hause“, in deren Verlauf man sich sowohl mit den Grundprinzipien des Gesetzentwurfes als auch mit den einzelnen Artikeln beschäftigte, um letztendlich mit der Abstimmung zu schließen (Julius Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, Berlin/Leipzig 1915, S. 65 – 66). Mit dem 1868 eingeführten System der drei Lesungen verlegte sich „der Schwerpunkt der Verhandlungen aus den Kommissionen, deren Vorberatung bis dahin die Regel gebildet hatte, in das Haus“ (a. a. O., S. 63 f.; Plate (Fn. 9), S. 14). Insbesondere sollte die erste Lesung aus einer allgemeinen öffentlichen Debatte im Plenum über die Grundprinzipien des Entwurfs, seine Beweggründe, seine Aktualität und Ausführbarkeit sowie schließlich über die weitere Vorgehensweise bestehen. Zwischen erste und zweite Lesung trat dann die Arbeit der Ausschussberatung hinter verschlossenen Türen, und in der zweiten Lesung kehrte man dazu zurück, im Plenum die einzelnen Artikel des zu beratenden Entwurfs auf der Grundlage der von den Ausschüssen geleisteten Arbeit öffentlich zu diskutieren. In der dritten Lesung, die auf der Grundlage der Neufassung des Gesetzentwurfs gemäß den Vorgaben der zweiten Lesung stattfand, nahm man erneut die Diskussion über seine tragenden Prinzipien und Ziele auf, um dann zur Abstimmung zunächst Artikel für Artikel, dann über den Entwurf in seiner Gesamtheit überzugehen (Hatschek, a. a. O., S. 66; Ludwig von Rönne, Das Staats-Recht des Deutschen Reiches, Bd. 1, 2. Aufl., Leipzig 1876, ND Kronberg/Ts. 1975, S. 285 – 286; Jürgen Jekewitz, Ein ritualisierter historischer Irrtum. Zur Herkunft, Ausgestaltung und Notwendigkeit von drei Lesungen im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren, in: Der Staat 15 (1976), S. 537 – 552, hier 548 – 549).

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Tragen kam. Durch die Reform wollten die Nationalliberalen das Plenum als wichtigsten Ort der Kommunikation mit dem Volk und der Gesellschaft in den Vordergrund rücken, sowie – besonders durch die Wiederaufnahme der öffentlichen Debatte über den Gesetzentwurf nach der zweiten Lesung – den Reichstag in seiner Gesamtheit als Ort der Vermittlung und des politischen Kompromisses aufwerten. Über die GO des Reichstags des Norddeutschen Bundes von 1868 schrieb der große liberale Staatsrechtler Ludwig von Rönne im Jahr 1876: „Die neue Geschäftsordnung […] geht davon aus, daß die Plenarversammlung als der natürliche und berufene Hauptträger der gesetzgeberischen Berathung und Beschlußfassung anzusehen sei, und daß daher die leitenden Gesichtspunkte für jede Frage nicht durch Abtheilungen und Kommissionen zu Tage zu fördern seien, sondern unmittelbar aus der Meinungsäußerung und Debatte der Gesammtheit zu erwachsen habe; es soll der Wille der Gesammtheit gefunden werden, unter lebendiger Theilnahme und Wechselbeziehung aller Mitglieder, nicht mittelst bureaukratischer, ressortmäßiger Gliederung. Die Kommissionen sollen nur als Ausnahme fortbestehen zur Bewältigung des gesetzgeberischen Details“16. Schon in der Endphase des Norddeutschen Bundes wurde jedoch sehr bald deutlich, dass es nicht die Plenarsitzung war, die aus der drastischen Beschränkung der Rolle der Kommissionen tatsächlich einen Vorteil zog. Hinsichtlich der Qualität der technischen Abfassung der Gesetze ließ das Plenum oft einiges zu wünschen übrig, da es wegen der ihm aufgebürdeten Masse an Gesetzgebungsarbeit häufig an den Grenzen seiner Möglichkeiten arbeiten musste. Eine Zunahme an funktionaler Bedeutung erlangten vielmehr die Fraktionen, ihre Spitzen, die Mehrparteienkomitees sowie der Seniorenkonvent, und zwar nicht nur, wie bereits in Preußen, bei der Bestimmung der Zusammensetzung der Kommissionen, sondern auch bei der Aufstellung der Rednerliste für die Plenardebatte17. In der Praxis stand es dem Seniorenkonvent zu, darüber zu bestimmen, wie viele Vertreter die einzelnen Fraktionen in die Kommissionen entsenden konnten – eine Praxis, die sich auch im Reichsparlament ziemlich schnell durchsetzte, obwohl § 26 der parlamentarischen Geschäftsordnung bestimmte, dass die Kommissionsmitglieder von den Abteilungen zu wählen waren. Nur die Zusammenstellung der Kommissionen 16

Von Rönne (Fn. 15), S. 284. Der Seniorenkonvent war eine Art Konferenz der Fraktionsführer, welche die Vertrauensleute aller Fraktionen versammelte und sich in Preußen schon gegen Mitte der 1860er Jahre durchgesetzt hatte, aber noch für einige Jahre mit keinem Wort erwähnt wurde (s. dazu Plate (Fn. 9), S. 229; Wolf-Dieter Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, Berlin 1968, S. 33 – 34). Der Seniorenkonvent übernahm faktisch sehr bald äußerst bedeutende Funktionen wie die Planung der Parlamentsarbeit, die Festlegung der Reihenfolge der Plenarreden, die Verteilung der Kammerämter und, last but not least, die Festlegung der Zusammensetzung der Kommissionen. Auch in der Geschäftsordnung des norddeutschen Reichstags von 1868 fand er – wie im Übrigen die Fraktionen – keinerlei Erwähnung (s. Harald Franke, Vom Seniorenkonvent des Reichstages zum Ältestenrat des Bundestages, Berlin 1987, S. 46 – 50; Klaus Friedrich Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, Berlin 1966, S. 35 – 36). 17

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durch den Seniorenkonvent konnte in der Tat garantieren, dass sie einen ,wahrheitsgetreuen Spiegel‘ des Plenums darstellten, praktisch eine Plenarversammlung in verkleinerter Dimension. Die Geschäftsordnung des Reichstags des Norddeutschen Bundes, die aus der Reform von 1868 hervorgegangen war, wurde mit nur einigen leichten Änderungen, die im Wesentlichen auf eine Verbesserung des Systems der drei Lesungen gerichtet waren, auch vom ersten Reichstag des gerade gegründeten (zweiten) Deutschen Reichs am 21. März 1871 übernommen, um dann wieder zu Beginn jeder Legislaturperiode bestätigt zu werden18. Genauso wie ihre Vorgängerin verschwieg die Geschäftsordnung des Reichsparlaments die Existenz der Fraktionen und des Seniorenkonvents, die aber in Wirklichkeit die hauptsächlichen Triebkräfte des politisch-parlamentarischen Lebens und der Ort der tatsächlichen Entscheidungsfindung waren. Auf einzelstaatlicher Ebene wurden die Fraktionen zum ersten Mal durch die Geschäftsordnung der Zweiten Kammer Württembergs vom 12. August 1909 anerkannt. Auf Reichsebene erfolgte diese Anerkennung hingegen noch später erst mit der Geschäftsordnung des Weimarer Reichstags, die ihnen explizit die Aufgabe der Kommissionsbildung zuwies. In kaiserlicher Zeit war das Prinzip der Öffentlichkeit der Parlamentsarbeit sowohl durch Artikel 22 der Reichsverfassung als auch durch Artikel 36 der Geschäftsordnung für den Reichstag verbindlich festgelegt. Eine weitere Garantie für die Öffentlichkeit der Arbeit des Reichstags bot Artikel 26 der Reichsverfassung, indem er die Versammlung vor willkürlichen Vertagungen seitens der Staatsspitze schützte. Im Prozess der Reichsgesetzgebung (Art. 5 der RV), an dem Reichstag und Bundesrat gleichberechtigt beteiligt waren, war aber der Grad der Öffentlichkeit der Arbeit nicht immer identisch. Er war nämlich nicht nur abhängig vom innerhalb des Reichstags notwendigen Wechselspiel zwischen der Arbeit im Plenum und derjenigen in den sogenannten ,Dunkelkammern‘ der Kommissionen ab, sondern auch von dem Umstand, dass der Bundesrat sich praktisch in jedem Moment zur ,privaten‘ Debatte hinter verschlossene Türen zurückziehen konnte19. Der Grad der Öffentlichkeit des Gesetzgebungsprozesses war jedenfalls höher, wenn der Gesetzentwurf vom Reichstag ausging und solange er sich dort in der Beratung befand, wohingegen er ziemlich niedrig war, wenn der Entwurf vom Bundesrat stammte. In diesem Fall wurden die Gesetzentwürfe (bzw. die Anträge, Petitionen, Interpellationen) zuerst im Bundesrat entsprechend der Natur der Institution in 18 S. Geschäftsordnung für den Reichstag vom 10. Februar 1876, in: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851 – 1900, 3. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1986, S. 423 – 434. 19 S. z. B. Revidierte Geschäftsordnung für den Bundesrat vom 26. April 1880, in: Huber (Hrsg.) (Fn. 18), S. 417 – 422, hier 422 (§ 26); dazu Manfred Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus im Wilhelminischen Reich, Düsseldorf 1973, S. 109 – 112. Die Reichsverfassung enthielt „keine Bestimmung darüber, ob die Sitzungen des Bundesrats öffentlich oder geheim“ sein sollten (von Rönne (Fn. 15), S. 210 – 211).

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streng vertraulichen Sitzungen diskutiert und erst danach vom Reichskanzler, der dem Bundesrat vorstand, an den Reichstag oder genauer an dessen Präsidenten zur Beratung überwiesen. Der Bundesrat konnte nämlich trotz seiner Natur als Kollegialorgan nicht zur öffentlichen Diskussion verpflichtet werden. Die öffentlichen Plenumsdebatten des Reichstags, die doch von der geltenden Geschäftsordnung besonders aufgewertet worden waren, liefen aber Gefahr, ins Leere zu laufen, wenn sie nicht angemessen vorbereitet wurden. Für vertrauliche Informationen und vertrauliche Beratungen eigneten sich in besonderer Weise die Kommissionen. In ihnen mussten alle Parteien proportional zu ihrer Wahlstärke vertreten sein, und an ihren Beratungen nahmen gewöhnlich gemäß § 29 der RT-Geschäftsordnung auch Regierungsvertreter oder deren Kommissare mit beratender Stimme teil. Die Reichstagsabgeordneten konnten hingegen nicht den Bundesratsversammlungen beiwohnen. Nach den §§ 26 ff. der Geschäftsordnung des Reichstags konnten sowohl ständige Kommissionen als auch ad hoc konstituierte Ausschüsse zur Beratung bestimmter Gesetzentwürfe eingerichtet werden. In der „Reichstagswirklichkeit“ des Kaiserreichs entwickelte sich jedoch kein System ständiger Kommissionen: Von den lediglich sechs durch die Geschäftsordnung vorgesehenen ständigen Ausschüssen (Geschäftsordnung, Petitionen, Handel und Gewerbe, Finanz und Zölle, Justiz, Reichshaushalt) waren nicht alle immer existent. Vielmehr zog man es vor, immer neue, sogenannte Fach- oder Sonderkommissionen zu bilden. Nicht weniger als elf ständige Kommissionen arbeiteten hingegen kontinuierlich innerhalb des Bundesrats20. Die Epoche der ausgedehnten Plenardebatten und damit des Triumphs der Öffentlichkeit und Transparenz der Parlamentsarbeiten, auf die der Wortlaut der Reichstagsgeschäftsordnung viel Wert legte, war tatsächlich von sehr kurzer Dauer. Der durch die Reichstagsgeschäftsordnung der Parlamentsarbeit ,auferlegte‘ verhältnismäßig hohe Grad an Öffentlichkeit erwies sich sehr bald als unhaltbar. Die zwischen der ersten und der zweiten Lesung stattfindende Ausschussarbeit erlangte ein immer höheres Gewicht und vor allem größere Selbständigkeit, während die erste und dritte Lesung demgegenüber immer formelhafter wurden. Mit der zentralen Bedeutung, welche die zweite Lesung und damit die Vorberatung in der Kommission gewann, vermischte man erneut auf unumkehrbare Weise das reine englische Geschäftsordnungsmodell mit den charakteristischen Zügen des französischen Modells. Die Distanz zwischen den schriftlich fixierten Rechtsnormen und der wirklichen Verfassung des Reichstags wurde immer größer. Auf diese Weise nahm die so genannte „deutsche Variante“ des englischen Modells eine immer festere Form an.

20 Norbert Ullrich, Gesetzgebungsverfahren und Reichstag in der Bismarck-Zeit unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Fraktionen, Berlin 1996, S. 117.

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III. Die Öffentlichkeit der parlamentarischen Arbeit im Königreich Italien Charakteristisch für die Geschichte der italienischen Abgeordnetenkammer des langen 19. Jahrhunderts ist die anhaltende Tendenz, anders als im kaiserlichen Reichstag die gesetzgeberische Parlamentsarbeit innerhalb der sogenannten Uffici (oder Bureaux im Französischen, Abteilungen bzw. Sektionen im Deutschen) zu konzentrieren. Diese Tendenz war in Italien, wie mir scheint, sehr stark historisch bestimmt und bedingt, genauso wie es im deutschen Kaiserreich die umgekehrte Entwicklung der Aufwertung der Plenums- bzw. Fraktionsarbeit war. Die Aufrechterhaltung der formalen parlamentarischen Organisation in Bureaux entsprach einer ganz bestimmten Auffassung einer innerlich ,einheitlichen‘ und ohne Parteien organisierten parlamentarischen Repräsentation der liberalen Führungselite und verfestigte diese gleichzeitig. Im monarchisch-konstitutionellen sogenannten „Einklassen-Staat“ Piemont/Italien21 von 1848 bis 1919 haben sich praktisch zwei Hauptschattierungen der liberalen ,Partei’ an der Macht friedlich abgewechselt und jeweils die Führungseliten gestellt, nämlich die sogenannte Historische Rechte und die Historische Linke22. Das Beharren auf dem Bureauxsystem und der Nichtöffentlichkeit der parlamentarischen Arbeit trug nämlich dazu bei, vor der Öffentlichkeit so lange wie möglich die Existenz einer viel breiteren Palette repräsentationswürdiger parteipolitischer Gruppierungen (hauptsächlich zunächst Demokraten, später Katholiken und Sozialisten) zu verbergen. Auf diese Weise wurden auch die politischen Voraussetzungen und gleichzeitig die stabilisierende Wirkung des Zensuswahlrechts und des Mehrheitswahl- und Einerwahlkreissystem bis 1919 gefestigt. Erst zu diesem Zeitpunkt (1919) wurde nämlich das Verhältniswahlrecht eingeführt23, das zum einen die bis dahin unsichtbare Zersplitterung der liberalen Partei offenbarte und zum anderen die unabweisliche Stärke der sozialistischen und katholischen Fraktionen klar in Erscheinung treten ließ. Das Statuto Albertino, wie die meisten der europäischen Verfassungen des 19. Jahrhunderts, hatte in seinem Artikel 52 die Öffentlichkeit der parlamentarischen Sitzungen als Regel und die Nichtöffentlichkeit als Ausnahme vorgesehen24. Ande-

21

Massimo Severo Giannini, Il pubblico potere. Stati e amministrazioni pubbliche, Bologna 1986, S. 35 ff. 22 S. in diesem Sinne Gaspare Ambrosini, La trasformazione del regime parlamentare e del governo di gabinetto, in: Rivista di diritto pubblico, 1922, Parte I, S. 187 – 200, hier 195. 23 S. Gesetz Nr. 1401 vom 15. August 1919, „concernente modificazioni alla legge elettorale politica“, in: Gazzetta Ufficiale Nr. 195 vom 16. August 1919. 24 Art. 52: „Le sedute delle Camere sono pubbliche. Ma quando dieci membri ne facciano per iscritto la domanda, esse possono deliberare in segreto“; s. dazu Francesco Racioppi/ Ignazio Brunelli, Commento allo Statuto del Regno, Bd. 3: Dall’art. 48 all’art. 84 ed ultimo,

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rerseits hatte das Statuto in seinem Artikel 55 bestimmt, dass „jede Gesetzesvorlage zuerst den Bureaux [Uffici bzw. Giunte in den Quellen] zur Beratung zugestellt werden soll[te], in denen sich jede Kammer zwecks der Erledigung der gesetzgeberischen Vorarbeiten zu unterteilen hat[te][…]“25. Die neun italienischen Bureaux der Abgeordnetenkammer waren zahlenmäßig gleich stark und wurden ohne Berücksichtigung der politischen Zusammensetzung des Plenums gebildet. Genauso wie die französischen Abteilungen wurden sie durch Los bestimmt, um dann im Geheimen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu verhandeln. Die Beratung innerhalb der Bureaux unterlag keinen geschriebenen Regeln26. Sie waren zuerst mit 1/3, später mit nur neun ihrer Mitglieder beschlussfähig. Ihre Befürworter hoben hervor, dass sie auch den schüchternen Deputierten die Möglichkeit boten, sich innerhalb eines kleineren und geschützteren Kreises zu Wort zu melden bzw. zwanglos auch mit den Kollegen ins Gespräch zu kommen, die ihnen politisch fern waren. Alle Bureaux, deren Mitglieder zuerst jeden Monat, später alle zwei Monate neu bestimmt wurden, hatten sich mit jeder Gesetzesvorlage zu beschäftigen. Nach der Beratung hatte jede Abteilung die Pflicht, aus ihrer Mitte einen Wortführer als Kommissarius zu bestimmen und ihn in das Zentralbureau bzw. eine ad hoc bestimmte Kommission zu entsenden, welche dann einen Bericht zu verfassen hatte, der als Grundlage für die Diskussion im Plenum dienen sollte. Erst hier im Plenum fing die eigentliche öffentliche parlamentarische Debatte über die Leitlinien und die einzelnen Artikel der Gesetzesvorlage an, die dann zu einer Abstimmung führte. Die ad hoc gebildete Kommission bzw. das Zentralbureau hatten von vornherein keine besondere Fachkompetenz im Sachbereich der Gesetzesvorlage. Es konnte darüber hinaus häufig vorkommen, dass der Bericht eher der Meinung der Kammerminderheit als derjenigen der Kammermehrheit Ausdruck verlieh. Die Arbeitsweise der Kammern in undurchsichtigen Bureaux war schon von Cavour heftig kritisiert worden, der die aus Frankreich eingeführten Bureaux als zum Geist und zum Zweck der repräsentativen Institutionen in Widerspruch stehend betrachtete27. Sie wurde aber auch 1857 von Cesare Balbo in seinem Buch ,Della moTorino 1909, S. 54 – 69, und insb. S. 58, wo auf den ähnlich lautenden Artikel 33 der belgischen Verfassung hingewiesen wird. 25 Art. 55: „Ogni proposta di legge debb’essere dapprima esaminata dalle Giunte che saranno da ciascuna Camera nominate pei lavori preparatorii. Discussa ed approvata da una Camera, la proposta sarà trasmessa all’altra per la discussione ed approvazione e poi presentata alla sanzione del Re./Le discussioni si faranno articolo per articolo“; s. dazu Racioppi/ Brunelli (Fn. 24), S. 92 – 122. 26 Mario Mancini/Ugo Galeotti, Norme ed usi del Parlamento italiano, 2. Aufl., Roma 1891, S. 216; Racioppi/Brunelli (Fn. 24), S. 98 – 103. 27 S. Camillo Benso von Cavour, Il regolamento della Camera dei deputati, in: Il Risorgimento, I, N. 111, 6. Mai 1848; Romolo Astraldi/Francesco Cosentino, I nuovi Regolamenti del Parlamento italiano. Storia, esposizione, raffronti, interpretazioni, Roma 1950, S. 41, 46; Romolo Astraldi, Il diritto parlamentare italiano nel regolamento delle assemblee legislative, in: Il centenario del Parlamento. 8 maggio 1848 – 8 maggio 1948, hrsg. v. Segretariato Generale della Camera dei Deputati, S. 369 – 397, hier 384, (Anm. 2).

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narchia rappresentativa in Italia‘ als ein ,device‘, ein Werkzeug, „zur Störung und Behinderung der repräsentativen Maschine“ kritisiert28. Das französische Bureauxsystem war in der Tat nicht gerade am zweckmäßigsten für die Etablierung einer parlamentarischen Regierung englischer Prägung bzw. einer Kabinettsregierung29, wie man sie damals in Italien nannte30. Die Arbeitsweise der Kammer in Bureaux, mit der sie der Abbildung des Mehrheitswillens keine Relevanz beimaß, beförderte nämlich die Tendenz der italienischen Abgeordnetenkammer zum sogenannten assemblearismo, d. h. zu einer unklaren Abgrenzung der Kammermehrheit von der Minderheit und zu einer Überbewertung der führenden Rolle von einzelnen charismatischen Persönlichkeiten31. Der assemblearismo, der ein wesentliches Merkmal des italienischen Parlamentarismus war, hat spätestens ab 1883 die Vorbedingung für das Entstehen des sogenannten trasformismo gebildet. Der höchst unpraktische und nicht unumstrittene Verweis des Statuto Albertino auf die Gesetzesvorberatung innerhalb der Bureaux, der von der ersten provisorischen subalpinischen Geschäftsordnung von 1848 aufgenommen worden war, fand Aufnahme auch in die italienische GO von 186332. Das Bureauxsystem mit allen seinen Unzweckmäßigkeiten und Defiziten hinsichtlich der Öffentlichkeit hielt sich in der italienischen Abgeordnetenkammer im Wesentlichen unverändert bis zum 28. November 186833. Zu diesem Zeitpunkt wurde nämlich die Geschäftsordnung einigen Veränderungen unterzogen, deren Hauptanliegen neben der Einführung einer ständigen Kommission zur Wahlprüfung die Aufhebung des Bureauxsystems und die Einführung des englischen Systems der Vorberatung im ganzen Haus an dessen Stelle war. Der größte Vorteil dieses neuen Modells lag vor allem darin, dass sich nun schon bei der Gesetzesvorberatung im Plenum klären ließ, ob die Gesetzesvorlage die Unterstützung der Kammermehrheit hatte oder nicht. 28 S. Cesare Balbo, Della monarchia rappresentativa in Italia, saggi politici di Cesare Balbo. Della politica nella presente civiltà. Abbozzi del medesimo autore, Firenze 1857, S. 338. 29 So Racioppi/Brunelli (Fn. 24), S. 97. 30 Manca, Il Sonderweg italiano (Fn. 7), passim. 31 S. in diesem Sinne schon Luigi Palma, Una questione urgente parlamentare. Il Regolamento della Camera dei deputati, in: „Nuova Antologia“ XXX (1875), S. 685 – 716, besonders 686, wo Palma erklärte, unter den Hauptgründen der Defizite der italien ischen Kammer sei: „la mancanza nelle parti politiche di un ordinamento, per il quale la Camera sia divisa in due partiti disciplinati: l’uno sostenitore del Ministero (…), l’altro avente idee opposte, e disposto a seguire l’indirizzo di un capo riconosciuto, come vediamo essere il Leader dell’Opposizione nella Camera dei Comuni inglese“. Zum ,assemblearismo‘ des italienischen Parlaments s. auch Andrea Manzella, Il parlamento, Bologna 1977, der ihn auch durch die GO von 1900 gefördert sah. 32 Zu dem immerwährenden provisorischen Charakter der italienischen GO, s. Luigi Lacchè, La lotta per il regolamento: libertà politiche, forme di governo e ostruzionismo parlamentare. Dalle riforme Bonghi al regolamento Villa del 1900, in: Giornale di storia costituzionale 15 (2008), S. 33 – 52. 33 Atti del Parlamento Italiano (API), Camera dei deputati, Sitzung vom 24.–28. November 1868, S. 8063 – 8144.

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Wie oben gezeigt, hatte im selben Jahr das englische System der öffentlichen Vorberatung im ganzen Hause auch in die GO des Reichstags des Norddeutschen Bunds Eingang gefunden, und zwar als erste Etappe des Systems der drei Lesungen34. Im Gegensatz zu Deutschland wurde aber in Italien das englische System der Vorberatung im ganzen Hause vor seiner Einführung wesentlich modifiziert, um sozusagen den italienischen Zuständen angepasst zu werden. Die erste Lesung der Gesetzesvorlage sollte nämlich im Plenum nicht in öffentlicher Sitzung, sondern in geheimer Sitzung stattfinden, und zwar innerhalb eines sogenannten privaten Ausschusses des ganzen Hauses (Comitato privato dell’intera Camera). Die zweite Lesung sollte genauso wie früher geheim innerhalb einer Kommission stattfinden, welche vom Comitato privato ausgewählt oder ad hoc gebildet wurde. Die Debatte sollte sich hier ganz frei entwickeln können, da sie von keiner Vorschrift begrenzt wurde. Die Kommission hatte nur einen Schriftführer zu wählen, der die Aufgabe der Protokollführung wahrnahm; darüber hinaus oblag ihr die Pflicht, dem Haus Bericht zu erstatten35. Die dritte Lesung sollte genauso wie früher öffentlich im Plenum stattfinden, wo sich sowohl die allgemeine als auch die artikelweise Debatte über die Gesetzesvorlage zum dritten Mal wiederholte36. Nachdem die wesentlichen Merkmale der GO-Reform von 1868 dargestellt worden sind, fällt es nicht schwer festzustellen, dass erstens die Debatte im ganzen Hause in Italien, anders als in England oder im deutschen Reichstag, nicht wirklich öffentlich war. Zweitens machte es die in der Kammer gewöhnlicherweise sehr hohe Abwesenheitsquote37 schwierig, die für die Beschlussfähigkeit des privaten Ausschusses des ganzen Hauses erforderlichen Zahl von Anwesenden (30 Abgeordnete) zu erreichen. Die hohe Abwesenheitsquote, zusammen mit den noch wenig entwickelten Parteigrenzen innerhalb des Plenums, trug drittens dazu bei dass die Gesetzesvorberatung im privaten Ausschuss oft auf eine vermeintliche Ausrichtung der Kammer hindeutete, die sich später in der nachfolgenden Gesetzesberatung innerhalb der Kommission bzw. des Plenums nicht bestätigte. Das italienische System des privaten Ausschusses des ganzen Hauses tendierte daher insgesamt dazu, die überkommenen Defizite der Bureaux fortzuschreiben statt sie abzuschaffen. Die weiterhin sehr begrenzte, auf dem Altar der Freiheit 34

S. oben bei Fn. 15. S. Mancini/Galeotti (Fn. 26), S. 228 ff.; nach den Verfassern hätte die geheime Kommissionsdebatte auch ,privat‘ genannt werden können, da keine Vorschrift ausser bloße Opportunitätsgründe in der Tat die Kommission davon abhalten konnte, die ,processi verbali‘ von ihren Sitzungen (Kommissionsberichte) zu veröffentlichen bzw. bekanntzugeben. 36 Zum Verfahren des Comitato privato Palma (Fn. 31), S. 706. 37 Roberto Martucci, Storia costituzionale italiana. Dallo Statuto Albertino alla Repubblica (1848 – 2001), Roma 2002, S. 79 – 82. 35

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der liberalen Abgeordneten geopferte Öffentlichkeit der Parlamentsarbeit ging so mit deren Undurchschaubarkeit, Unberechenbarkeit und Ineffizienz einher. Das System des privaten Ausschusses des ganzen Hauses (Comitato privato dell’intera Camera) hielt ohnehin nur vier Jahre bis zum 30. April 1873. Zu diesem Zeitpunkt wurde es u. a. von denselben Personen, d. h. den zur sogenannten Rechten gehörenden Abgeordneten, abgeschafft, die es im Jahr 1868 eingeführt hatten, allerdings dieses Mal mit der entscheidenden Hilfe der Abgeordneten der linken Opposition38. Das damit reproduzierte Defizit an Öffentlichkeit der parlamentarischen Arbeit konnte damals kaum durch die Zulassung von Zuschauern auf die Tribüne des Plenarsaals oder aber durch die Veröffentlichung von offiziellen stenographischen Berichten ausgeglichen werden. In dieser Hinsicht ist es sicher sehr bedeutsam, dass der Abgeordnete Sineo noch am 3. Dezember 1872 nach Art. 52 des Albertinischen Statuts der Abgeordnetenkammer eine Resolution vorlegte, mit der er zwei Bitten an das Haus richtete, damit „die Feinde des konstitutionellen Systems das bestehende Öffentlichkeitdefizit zum Schaden der Nationalrepräsentation nicht weiter auszunutzen vermochten“. Sineo schlug dabei konkret vor, erstens die Zuschauertribüne durch eine Umstrukturierung des Plenarsaals im Palazzo Montecitorio dem Publikum zugänglicher zu machen, und zweitens alle Gemeinden und öffentlichen Büchereien regelmäßig mit den stenographischen Berichten der Verhandlungen der Abgeordnetenkammer zu versorgen39. 38 S. API, Camera dei deputati, 11. Legislaturperiode, Sitzung vom 30. April 1873, S. 6050, über das Ergebnis der geheimen Wahl über den Kommissionsantrag für die Abschaffung des Comitato generale: Anwesende 226, Mehrheit 109; für 175; gegen 41. In der Sitzung vom 28. April 1873, a. a. O., S. 5863, wies der Abgeordnete Michelini auf die Teilnahme beider liberalen Parteien an der Unterstützung des Kommissionsantrages für die Abschaffung des Comitato hin. Gegen die einfache Rückkehr zum Bureauxsystem sprachen sich besonders einige Deputierte der Linken wie z. B. Francesco Crispi aus (a. a. O., Sitzung vom 29. April 1873, S. 5991 – 5995, besonders 5992). Unter den Abgeordneten der Rechten nannte Francesco Crispi Lanza, Andreucci, Dina, D’Ondes Mari, Minghetti, Tenca und Massari. Crispi wurde in dieser Angelegenheit auch von Parteigenossen wie z. B. Ercole im Stich gelassen, welche, seit eh und je erklärte Feinde des Bureauxsystems gewesen waren. Ercole, Abgeordneter der Linken, erklärte im Plenum ganz offen, mit der Rechten gegen das System des Comitato privato aus dem Grund stimmen zu wollen, dass es sogar Regierungen geholfen habe, am Ruder zu bleiben, welche auf gar keine Unterstützung der Kammermehrheit zählen konnten (a. a. O., Sitzung vom 29. April 1873, S. 5997). Ercole bezog sich dabei auf das rechte Ministerium von (Giovanni) Lanza (14. Dezember 1869 – 10. Juli 1873), dem das 2. Ministerium Minghetti (10. Juli 1873 – 18. März 1876) folgte. Bei der erfolgreichen Abschaffung des Comitato privato im Jahre 1873 ist natürlich auch die Rolle jener 92 Deputierten nicht zu unterschätzen, die mit der 11. Legislaturperiode zum ersten Mal in die gewählte Kammer eingetreten waren und die noch keine Erfahrung mit den Bureaux hatten sammeln können (s. a. a. O., Sitzung vom 29. April 1873, S. 5989, 5991). 39 S. API, Camera dei deputati, 11. Legislaturperiode, Sitzung vom 3. Dezember 1872, S. 3503.

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Tatsächlich war von den vielen Tribünen des Plenarsaals sowohl der Abgeordnetenkammer als auch des Senats nur eine einzige „der genuinen Vertretung des Publikums“ vorbehalten. Die übrigen waren hingegen für den Königshof, das diplomatische Korps, die Mitglieder der anderen Kammer, die Ministerien, die Offiziere, die Richter, die ehemaligen Kammermitglieder oder die nationale und internationale Presse reserviert40. Was die stenographischen Berichte der Verhandlungen der Abgeordnetenkammer anbelangt, so konnte man noch 1909 im klassischen Verfassungskommentar von Racioppi/Brunelli von der „nicht immer vermeidlichen Verspätung“ lesen, mit der „die offiziellen stenographischen Berichte dem Publikum zur Verfügung gestellt werden“41. Nur dank der Pressetribüne und dank der Tageszeitungen war nach Racioppi und Brunelli das parlamentarische System den Bürgern näher gebracht worden42. Noch in der Sitzung vom 17. 2. 1890 wurde der Kammerpräsident Giuseppe Biancheri aufgefordert, die Veröffentlichung der stenographischen Berichte der Abgeordnetenkammer zu beschleunigen – allerdings ohne Erfolg43. In einem Bericht der GOKommission vom 30. November 1918 wurde das Haus nochmals darum gebeten, die stenographischen Sitzungsberichte innerhalb von drei Tagen den Abgeordneten und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Die Frage, ob die Nichtöffentlichkeit der italienischen Parlamentsarbeit eine der Grundlagen oder sogar die Vorbedingung des 1883 innerhalb des liberalen Lagers zwischen der Historischen Rechten und der Historischen Linken neu geschlossenen Bündnisses dargestellt hat, möchte ich hier dahingestellt lassen. Es ist aber nicht von 40

S. Racioppi/Brunelli (Fn. 24), S. 59 – 60. Nach Racioppi/Brunelli gab es für das Publikum im Sitzungssaal Comotto des Palazzo di Montecitorio, wo die Deputiertenkammer ab dem Jahre 1870 untergebracht war, gut 745 Plätze, davon 465 Sitzplätze; die Tribünenplätze reduzierten sich allerdings nach der Übersiedlung der Deputiertenkammer in die Via della Missione von 1900 bis 1918 auf „ganz wenige Plätze“ (a. a. O., S. 60). 41 Racioppi/Brunelli (Fn. 24), S. 63. Die Deputiertenkammer ab 1879 und der Senat ab 1882 sahen sich verpflichtet und genötigt, jeden Abend sogenannte „summarische“, nicht offizielle Berichte zu veröffentlichen, die hauptsächlich den Journalisten behilflich sein sollten; außerdem ließ die Abgeordnetenkammer jeden Abend von einem ihrer Beamten einen „telegraphischen“ Bericht herstellen und durch die Agenzia Stefani im ganzen Königreich verbreiten (a. a. O., S. 62). 42 Racioppi/Brunelli (Fn. 24), S. 63. Den Journalisten stand meistens auch das Verdienst zu, das Geheimnis der Kommissionsverhandlungen und -beschlüsse zum Zweck der Volksaufklärung zu brechen (a. a. O., S. 64), obwohl es in Art. 10 vom Presseedikt von 1848 streng verboten worden war, den geheimen Kammerverhandlungen und -resolutionen Öffentlichkeit zu geben, ausser falls dies von denselben Kammern genehmigt war (a. a. O., S. 67). 43 Der Kammerpräsident sah sich infolge des Antrages genötigt, die Frage mit dem Ministerpräsidenten Francesco Crispi (sein 2. Ministerium dauerte bis 1891) zu besprechen. Als letzterer antwortete, seine Minister hätten sich mit ihm dazu verpflichtet, innerhalb von vier Tagen die Druckfahnen ihrer parlamentarischen Reden zurückzusenden, wurde vom Kammerpräsidenten eine Resolution der Kammer vorgelegt, womit die Parlamentarier sich zur Erfüllung derselben Pflicht der Minister bereit erklärt hätten; die Resolution fand aber keine Erledigung (Mario Mancini/Ugo Galeotti, Norme ed usi del Parlamento italiano, Prima Appendice, Roma 1891, 102 S., hier S. 19).

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der Hand zu weisen, dass ein ernsthafter Versuch zur Abschaffung des Bureauxsystems auch während der Regierungszeit der Linken, d. h. nach der sogenannten „parlamentarischen Revolution“ von 1876, kaum unternommen wurde44. Im Gegenteil konnte das Bureauxsystem auch während der linken Regierung der 70er- und 80er-Jahre (Crispi kam im April 1887 an die Macht) zumindest aufgrund gewisser Beharrungskräfte weitere Unterstützer gewinnen. Nach und nach nahm man von der Idee einer grundlegenden GO-Reform zur Herstellung einer größeren Öffentlichkeit der parlamentarischen Arbeit Abstand. Auch die Errichtung einer ständigen Kommission für Geschäftsordnungsfragen am 20. 12. 1886 vermochte an diesem Status kaum noch etwas zu ändern. Etwas Bewegung kam nur noch mit der GO-Änderung vom 18. April 1888 in die Debatte, welche auf einen Antrag des Abgeordneten der Rechten Ruggero Bonghi, seit jeher ein Feind des Bureauxsystems, zurückging. Durch diese Änderung wurde nämlich das System der drei Lesungen mit einer ersten Lesung im ganzen Hause eingeführt, allerdings als fakultative Option neben dem herkömmlichen Bureauxsystem. Ab 1888 existierte so für die Gesetzesberatung neben dem alten Bureauxsystem auch das System der drei Lesungen, das eine Aussprache des Plenums in öffentlicher Sitzung über die Leitlinien der Gesetzesvorlage vorsah45. Neben diesen zwei Haupttypen der Gesetzesvorberatung wurde darüber hinaus in Italien, dessen intellektuelle Elite es oft dafür rühmte, dass es das Land des „Eklektizismus“ sei46, auch ein drittes System geschaffen, und zwar das amerikanische System der Sonder- und Fachkommissionen. Sie wurden aber in Form von ständigen Ausschüssen eingeführt; ihnen konnte auch entgegen Artikel 55 des Statuto die Gesetzesvorberatung anvertraut werden; sie verhandelten natürlich geheim47. 44

Gerade in diese Zeit fällt hingegen der vom Referenten Corbetta verfassten Kommissionsbericht, der erstaunlicherweise noch einmal das Bureauxsystem befürwortete (für den Bericht von Corbetta, der am 22. November 1877 dem Plenum vorgelegt wurde und der in der Tat eine hochwissenschaftliche europäisch-vergleichende Abhandlung zum Thema Geschäftsordnung darstellt, s. API, Camera dei deputati, 13. Legislaturperiode, Sessione 1876 – 1877, Reihe Documenti, vol. VIII, n. IV-bis). Unter den vielen in Corbettas Bericht vorgeschlagenen GO-Änderungen war sogar die Nichtöffentlichkeit der Verhandlungen der ständigen Kommission für Wahlprüfungen. 45 Diese Kompromisslösung wurde mit einer sehr knappen Mehrheit von 115 zu 92 Stimmen eingeführt (Astraldi/Cosentino (Fn. 27), S. 46). S. ausserdem Racioppi/Brunelli (Fn. 24), S. 113 – 114. Die Möglichkeit, zwischen den zwei Hauptsystemen der Gesetzesvorberatung (Bureaux oder drei Lesungen) wählen zu können, wurde später nur von der italienischen, aus königlicher Ernennung hervorgehenden Ersten Kammer (Senat), und zwar erst ab dem 22. Februar 1900 vorgesehen (Astraldi (Fn. 27), S. 374, 383). 46 Mancini/Galeotti (Fn. 26), S. 212. 47 Unter diesen ständigen Kommissionen waren aber nur zwei zur Vorberatung von Gesetzesvorlagen zuständig, nämlich die Budgetkommission und, ab Dezember 1887, die Commissione per l’esame delle tariffe doganali e dei trattati di commercio (Kommission für Handelsverträge und Zölle); die übrigen, und zwar die Commissione per Regolamento interno (Kommission für Geschäftsordnungsfragen), Giunta delle elezioni (Kommission für Wahlprüfung), Commissione per le petizioni (Kommission für Petitionen), Commissione per

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Die Transparenz der parlamentarischen Kammerarbeit, die in Großbritannien durch ein ausgeprägtes Zweiparteiensystem und das System der Gesetzesvorberatung durch das commitee of the whole house ermöglicht und gefördert wurde, wurde in Italien dadurch überaus erschwert, dass man sich hier noch nicht einmal für ein einheitliches Gesetzesvorberatungssystem entscheiden konnte. Die Stellungnahme des Kammerpräsidenten vom 8. 2. 1890, nach der der Weg der Vorberatung durch die Bureaux stets einzuschlagen sei, wenn die Antragsteller nicht ausdrücklich drei Lesungen in der Kammer verlangt hatten, ließ aber deutlich werden, dass die Kammermehrheit am liebsten weiter nur das Bureauxsystem angewendet hätte. Das System der drei Lesungen, so wie es in der GO von 1891 und dann auch formal in der GO vom 1. Juli 1900 vorgesehen war, erledigte sich de facto allmählich48, obwohl Racioppi und Brunelli in ihrem Commento allo Statuto del Regno noch 1909 schrieben, dass „le maggiori simpatie teoriche sono pel sistema delle tre letture, come quello che non sottrae ma riserba all’assemblea – qual corpo politico – il primo giudizio complessivo sopra ogni proposta“49. Die GO von 1900, die schon vor der genauso entscheidenden wie verspäteten Reform von 1920 erste, wenn auch nicht hinreichende Schritte zur Repräsentation der parlamentarischen Minderheit innerhalb der Ausschüsse unternahm50, traf zumindest Vorkehrungen für den Fall, dass sich die Kommissionsvorberatung in die Länge zogen. In diesem Fall durfte nämlich das Plenum die Diskussion der Gesetzesvorlagen wieder an sich ziehen. Die Vorschrift, nach der die Beratung über den Haushalt der Kammer nicht mehr in geheimer sondern in öffentlicher Kommissionssitzung stattfinden sollte, ließ sich hingegen nicht umsetzen51. Das zweifellos sehr niedrige Maß an Öffentlichkeit der italienischen Parlamentsarbeit reicht allein indes sicher nicht aus, um den Übergang zu erklären von der Abl’esame dei decreti registrati con riserva dalla Corte dei Conti (Kommission für die Prüfung der mit Vorbehalt von der Rechnungskammer registrierten Erlasse) und die Commissione di vigilanza sulla Biblioteca della Camera (Kommission zur Aufsicht über die Kammerbibliothek) dienten hingegen dazu, die Funktionsfähigkeit der Kammer zu gewährleisten (Racioppi/ Brunelli (Fn. 24), S. 105). Die Verhandlungen dieser ständigen Kommissionen, die erst 1863 eingeführt wurden (Mancini/Galeotti (Fn. 26), S. 219), waren, genauso wie die der Bureaux, nicht öffentlich. Unter ihnen am wichtigsten war natürlich die Budgetkommission (Giunta del Bilancio); mit ihren ab 1882 36 Mitgliedern (Mancini/Galeotti (Fn. 26), S. 221) unterteilte sie sich in verschiedene (5 bzw. 7) Unterkommissionen (je eine für jede der Hauptverwaltungsbranchen) (5 nach Racioppi/Brunelli (Fn. 24), S. 106; 7 nach Mancini/Galeotti (Fn. 26), S. 223), die auch ihren eigenen Berichterstatter zu wählen hatten (Racioppi/Brunelli (Fn. 24), S. 106). 48 Astraldi/Cosentino (Fn. 27), S. 47; Astraldi (Fn. 27), S. 382. 49 Racioppi/Brunelli (Fn. 24), S. 113. 50 Racioppi/Brunelli (Fn. 24), S. 105 – 106; zuvor war die Gewährleistung der Rechte der Minorität fast nur bei der Wahl der Budgetkommissionsmitglieder eine allgemein beachtete Gewohnheit: s. auch Mancini/Galeotti (Fn. 26), S. 222. Zur GO von 1900 als „Wendepunkt der italienischen Verfassungsgeschichte“ s. Lacchè (Fn. 32), S. 44. 51 Zur diesbezüglichen Kammerresolution vom 12. Dezember 1907 s. Racioppi/Brunelli (Fn. 24), S. 68; dazu s. auch Astraldi/Cosentino (Fn. 27), S. 61.

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geordnetenkammer von 1914, die mehrheitlich neutral war, zu derjenigen von 1915, die sich demgegenüber für den Kriegseinsatz aussprach und die Kriegskredite bewilligte. Erst nach dem Kriegsende sollte ein Entwicklungsprozess beginnen, der den Parteien im Parlament und dem Parlament im politischen System eine größere Bedeutung zumaß und damit auch verstärkt die Transparenz der parlamentarischen Arbeit in den Blick nahm. Die grundlegende GO-Reform vom 26. Juli–6. August 1920, durch die die Auslosung der Abgeordneten auf Bureaux abgeschafft und stattdessen die Organisation aller Abgeordneten in politisch homogenen Fraktionen festgeschrieben wurde, verfehlte trotzdem nochmals das Ziel, den Öffentlichkeitgrad der Kammerarbeit zu steigern. Indem nämlich diese Kammer-GO die entscheidende gesetzgeberische Vorarbeit und sogar die Kontakte mit den Regierungsmitgliedern bzw. Regierungskommissaren ohne Ausnahme den ständigen Fachkommissionen anvertraute, entzog auch sie die parlamentarische Arbeit weiterhin der unbegrenzten Öffentlichkeit des Plenums. Anscheinend galt es, die Öffentlichkeit auch im neuen Parteien- und Mehrklassenstaat weiterhin auf Abstand zu halten.

IV. Schlussfolgerung Im konstitutionellen Königreich Italien wurde die Nichtöffentlichkeit der parlamentarischen Arbeit durch deren Konzentration auf die sogenannten Uffici (Kammerabteilungen bzw. Bureaux) lange aufrechterhalten, während diese in Preußen/ Deutschland relativ früh ihre Rolle für die innere Organisation des Parlaments einbüßten. In Deutschland haben die Abteilungen sehr bald ihren Platz zu Gunsten der Plenumsarbeit und der sich innerhalb der Kommissionen durchsetzenden Fraktionen räumen müssen. Die durch die liberale Führungselite gebremste italienische Entwicklung vom de facto bestehenden Zweiparteiensystem zu einem Vielparteienstaat – eine Entwicklung, welche erst nach dem Ersten Weltkrieg zum Tragen kam – hatte zur Bedingung bzw. Folge, dass die veralteten und ,unpolitischen‘ Bureaux hier wesentlich länger wirken konnten, als es der Volksvertretung eines echten Vielparteienstaates entsprochen hätte, der auf einer modernen, eindeutig und öffentlich sich entfaltenden Dialektik zwischen Mehrheits- und Minderheitsparteien fußt. Der unbezähmbare Verdacht, dass das konstitutionelle Italien kein positives Verhältnis und stattdessen eine ,historisch‘ bestimmte Gleichgültigkeit gegenüber dem Wert der Öffentlichkeit des parlamentarischen Geschäftsgangs hegte, bestätigt sich umso deutlicher durch den Umstand, dass auch dann, als man sich endlich für eine neue, modernere italienische Kammer-Geschäftsordnung entschied (Juli–August 1920), wiederum sehr stark auf die politische Rolle der ,dunklen‘ ständigen Kommissionen und der in ihnen proportional vertretenen Fraktionen und nicht auf jene des Plenums gebaut wurde. Auch die Tatsache, dass die Kammergeschäftsordnung von 1920 mit nur wenigen Änderungen von der neuen Abgeordnetenkammer nach dem Zweiten Welt-

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krieg in ihrer ersten Sitzung vom 8. Mai 1948 wieder beschlossen wurde, spricht insoweit für eine erstaunlich pragmatische Kontinuität der Verfassungsgeschichte Italiens. Dieselbe Gleichgültigkeit gegenüber dem Öffentlichkeitsgrundsatz weist die preußische und deutsche Geschichte im langen 19. Jahrhundert demgegenüber nicht auf; die schon damals und bis heute weitgehend blühende verfassungshistorische und verfassungspolitische Literatur zum Thema Öffentlichkeit und Parlament, auf die ich hier nicht eingehen kann, weist eindeutig in diese Richtung. Auch die These von B. Dechamps, nach der die Öffentlichkeit der Plenarberatungen dort, wo das Parlament, wie es im deutschen Kaiserreich der Fall war, ohnehin nicht direkt und aktiv an der politischen Willensbildung und an der Staatslenkung beteiligt ist, nicht unbedingt der technisch und qualitativ höheren Arbeit von ,dunklen‘ ständigen Kommissionen geopfert werden muss, vermag nur eine ex post-Rechtfertigung dafür zu liefern, dass sich im kaiserlichen Reichstag kein System von ständigen Fachkommissionen entwickelt hat52. Seine Behauptung, „die Verlagerung der parlamentarischen Arbeit aus den Plenarversammlungen in die Ausschüsse [sei] eng mit der politisch bedeutsamsten Entwicklung in den parlamentarischen Demokratien, […] mit der Bildung der Parteifraktionen verknüpft“53 gewesen, trägt aber in keiner Weise der allgemeineren historischen Tatsache Rechnung, dass es im Europa des langen 19. Jahrhunderts auch Länder wie das Königreich Italien gab, wo ein andauernder Ausschluss von der Öffentlichkeit der Parlamentsarbeit auch unabhängig von der „Verlagerung […] der parlamentarischen Arbeit […] in von ihnen gebildete Ausschüsse“54 existierte. Darüber hinaus scheint alles darauf hinzudeuten, dass eine gewisse Bevorzugung des nichtöffentlichen Handelns der Parlamente kein strukturbedingtes Wesensmerkmal des monarchisch-konstitutionellen Zeitalters gewesen, sondern auch für die nachfolgenden parlamentarischen Demokratien typisch geblieben ist. Die These Isensees, nach der „der politische Einigungsprozess durch Kompromissfindung […] in der kritischen Entscheidungsphase keine Publizität“ verträgt55, scheint nach wie vor nicht an Überzeugungskraft verloren zu haben. Was sich hingegen je nach Epoche und nationalen Besonderheiten zu ändern scheint, ist eher die Empfänglichkeit der öffentlichen Meinung für das Thema der Nichtöffentlichkeit parlamentarischer Arbeit. Die große Aufmerksamkeit, welche diese Frage in der politischen Debatte Deutschlands in den letzten Jahrzehnten weiterhin erfahren hat, zeigt, dass hier, anders als in Italien, die Öffentlichkeit der Parlamentsarbeit nach wie vor eine brennende Streitfrage bildet. 52

Dechamps (Fn. 4), S. 58 f. Dechamps (Fn. 4), S. VII. 54 Dechamps (Fn. 4), S. 1. 55 Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, Heidelberg 1992, S. 104 – 163, hier 145. 53

Aussprache Gesprächsleitung: Schönberger Schönberger: Herzlichen Dank, Frau Manca, für Ihren sehr instruktiven Vortrag. Sie haben uns sehr schön vorgeführt, wie zwei Länder behaupten, England zu rezipieren, und am Ende doch etwas ganz anderes machen, nämlich die parlamentarische Öffentlichkeit, die das System in England so stark kennzeichnet, auf unterschiedliche Weise wieder aushebeln. Das ist mein erster, stärkster Eindruck von Ihrem Referat. Ich darf um Wortmeldungen bitten. Wahl: Ihr Referat hat sich durch die Vielfalt der behandelten Aspekte ausgezeichnet. Insbesondere haben Sie auf die Bedeutung des „Unterbaus“ der Parlamente aufmerksam gemacht und gezeigt, dass das Prinzip der Öffentlichkeit bedeutsame Binnenvarianten hat. Zu den interessanten Regelungsvarianten gehört die Art der internen Gliederung durch Sektionen, die ihrerseits durch das Los gebildet wurden. Relevant ist auch, ob diese Untereinheiten öffentlich tagen oder nicht. Die Bedeutung dieser Einzelelemente wird vor allem dann deutlich, wenn in den Untereinheiten die Hauptarbeit der Gesetzgebung geleistet wird, diese aber nicht öffentlich tagen. Am wichtigsten bleibt wohl die traditionelle Unterscheidung zwischen einem Arbeitsparlament und einem Diskussionsparlament. Ein Arbeitsparlament zeigt sich am anschaulichsten an einer seiner Folgen. Wenn nämlich die Diskussionen in den Ausschüssen einen hohen Stellenwert haben, bleiben bei den Plenardebatten viele Sitze leer, was in der Öffentlichkeit häufig zu einer wenig sachgemäßen Pauschalkritik führt. Demgegenüber ist das englische Parlament seinem Selbstverständnis und seinem Verhalten nach ein Diskussionsparlament; wichtige Fragen müssen im Plenum diskutiert werden, die häufigen Fragestunden sind ein Forum der politischen Auseinandersetzung. Gegenüber dieser üblichen Charakterisierung muss dann gefragt werden, wo die auch im englischen Parlamentarismus notwendige Detailarbeit z. B. an speziellen Gesetzesbestimmungen geleistet wird. Richtig aber ist, dass es unterschiedliche Schwerpunkte im Verhältnis von öffentlicher Debatte und Sacharbeit in kleinen Kreisen gibt. Zu Recht haben Sie auch darauf verwiesen, dass in diesen Modellen auch andere Grundentscheidungen im Staatsleben zum Ausdruck kommen, so insbesondere das Wahlrechtssystem. So sind die Willensbildung und die Abstimmungen in den Ausschüssen bei einem Mehrheits-Wahlsystem einfacher zu bewältigen, weil es ein klares Gegenüber gibt, während bei einem Verhältniswahlrecht die dadurch zumeist bewirkte Vielfalt von Fraktionen die Meinungsbildung erschwert. Darüber hinaus haben Sie als weiteren Faktor zu Recht den Grad der Anerkennung der Parteien und Fraktionen genannt. Die Wertschätzung der Fraktionen

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ist im 19. Jahrhundert überall in Italien und Deutschland nicht sehr groß. Gemeinsam ist die Vorstellung, dass da eine Anzahl von Abgeordneten, eine Anzahl von Individuen, zusammenkommen, die miteinander reden und aus diesen Diskussionen das richtige Ergebnis entstehen lassen. Dafür, dass das Parlamentsleben strukturiert sein muss, eben auch durch Fraktionen, dafür gibt es wenig Einsicht. Insgesamt würde ich die Qualifizierung als Moderne nicht davon abhängig machen, ob es Vorberatungen gab oder nicht, sondern ich möchte auf die Grundvorstellung vom Parlament abstellen, ob das Parlament eher debattieren oder Sacharbeit leisten soll. An dieser Grundeinstellung richtet sich dann auch die Organisation des „Unterbaues“ ab. Manca: Vielen Dank, Herr Wahl, für Ihren Kommentar. Sie haben natürlich Recht, wenn Sie meinen, dass in einem politischen System viel wichtiger ist, was die Regierung tut, als wie und wo das Parlament debattiert. Im sehr unstabilen Gleichgewicht des monarchisch-konstitutionellen Systems kann man allerdings aus den parlamentarischen Geschäftsordnungsfragen vieles darüber entnehmen, ob und inwieweit das Parlament um eine stärkere Stellung der Regierung gegenüber ringt, oder aber sich mit der prinzipiell stärkeren Einflussmöglichkeit der Regierung mehr oder weniger willentlich zufriedengibt. Selbst in einem parlamentarischen Regierungssystem wie dem der heutigen Republik Italien sind die parlamentarischen Geschäftsordnungsfragen des Öfteren unmittelbarer Ausdruck dessen, wie viel Raum das Parlament der freien Regierungsentscheidung einzuräumen bereit ist. Sie sagen also normalerweise sehr viel über das Verhältnis zwischen (parlamentarischen) Mehrheitsparteien und Regierung, d. h. über die Regierungsform, aus. Was Ihre Frage bezüglich der Vorbereitungsarbeit der Gesetzesentwürfe in England anbelangt, habe ich z. T. schon eine Antwort darauf gegeben, als ich vom englischen Modell sprach und sagte, dass hier die Hauptarbeit im Plenum geleistet wurde. Natürlich kann man im Fall des parlamentarischen Systems Englands, wo der Wille der Parlamentsmehrheit normalerweise jenem der Regierung entsprach, davon ausgehen, dass hier die Geschäftsordnungsfragen nicht so sehr ein Zankapfel zwischen Parlament und Regierung dargestellt haben, wie es in den kontinentalen konstitutionellen Systemen des 19. Jahrhunderts üblich war. Wahl: Aber die fünfzig Paragraphen müssen auch diskutiert werden. Manca: Ja. Im englischen parlamentarischen System stellte sich aber das Problem nicht so aufdringlich wie in anderen konstitutionellen Ländern, dass es so viele Parteien gab, die sich untereinander verständigen mussten, um eine Regierungskoalition auszudrücken. Prinzipiell stellte der ordentliche Weg der Gesetzgebung in einer parlamentarischen Regierung ganz andere Probleme als in einer konstitutionellen. Bei der Letzteren genauso wie im Reichstag des zweiten Reiches sind auch daraus weitere Probleme entstanden, dass man innerhalb von Kommissionen diskutiert hat, die allerdings nicht ständig waren. Im Reichstag wurden nämlich immer neue Kommissionen ad hoc gebildet, d. h. zur Diskussion eines bestimmten Gesetzentwurfes, die aber letztendlich geschlossen bzw. aufgelöst wurden. Damit konnte innerhalb des

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Reichstags die wichtige Arbeit der Gesetzesvorberatung in Kommissionen erledigt werden, ohne dass letztere allerdings als Gegenleistung irgendein Recht auf eine unmittelbare politische Kontrolle der Regierung beanspruchen konnten, wie es hingegen bei ständigen Kommissionen eines parlamentarischen Regierungssystems systemkonform ist. Der Reichstag konnte und sollte seinen Beitrag zur Gesetzgebung geben, auf keinen Fall konnte er aber dafür das Recht beanspruchen, die Regierung effektiv zu kontrollieren. Schönberger: Für das englische System muss man hinzufügen, dass es die Kommissionsarbeit durchaus kennt, aber zu einem späteren Zeitpunkt. Am Anfang setzt es darauf, dass das gesamte Haus die Grundlinien eines Gesetzentwurfs diskutiert und dann viel später Detailarbeit geleistet wird. Im deutschen System neigt man hingegen dazu, sofort in die Kommissionsarbeit einzusteigen. Schilling: Vielen Dank für den sehr anregenden Vortrag. Ich muss gestehen, dass ich mit begrenzter Kenntnis an dieses Thema herangehe und sehr viel bei Ihnen gelernt habe. Ich frage mich, inwieweit in dem, was Sie uns vorgestellt haben, nicht doch auch gewisse vormoderne Strukturen wirksam sind. Meine Frage ist insbesondere, ob nicht gerade die begrenzte Öffentlichkeit der Arbeit in den Büros eine Meinungs- und Konsensbildung über klienteläre Beeinflussungssysteme begünstigt hat, und ob darin einer der Gründe liegen könnte, weshalb – wie Sie es zum Schluss gesagt haben – im Parlament die Bereitschaft, ins Plenum zu gehen und Öffentlichkeit herzustellen, nicht allzu groß war. Manca: Im Königreich Italien hat es sowohl Deputierte der Linken als auch der Rechten gegeben, die für das Bureauxsystem eingetreten sind. Nur aus diesem Grund ist es zu erklären, dass es sich trotz der allgemein bekannten Defizite so lange, und zwar fast ununterbrochen von 1848 bis 1919, hat aufrechterhalten können. Ihre These, Herr Schilling, teile ich völlig. Die über alle Parteischattierungen hinweg immer wieder verbreitete Meinung, dass die Arbeit innerhalb der Bureaux den großen unersetzlichen Vorteil bat, dass die Deputierten mit Kollegen anderer Meinung persönlich und kontinuierlich ins Gespräch kommen konnten, und dass sie dadurch die Möglichkeit geboten bekamen, über eine bestimmte Fragestellung zu einer Synthesis zu kommen, die nicht pauschal der Meinung der jeweiligen parlamentarischen Mehrheitspartei entsprach, wurde natürlich von den meisten Deputierten praktisch in die Bereitschaft umgesetzt, innerhalb der Bureaux ständig auf der Suche nach Kompromissen zu gehen, somit unterschwellig gegen die Etablierung eines klaren Zweiparteien-Systems arbeitend. Innerhalb der nichtöffentlichen Kommissionsarbeit fiel es natürlich leichter, jene Kompromisse zwischen der Rechten und der Linken hinter den Kulissen zu schließen, die für eine lange Zeit den Stempel des Transformismus auf das politische Leben des italienischen Königreichs aufgedrückt haben. Grothe: Vielen Dank, Frau Manca. Ich denke, man muss sich vor Augen halten, dass das Prinzip der Öffentlichkeit der Parlamentsverhandlungen ganz zentral ist. Das ist das prinzipiell Neue im Konstitutionalismus, bei dem es gleichwohl Durchbrechungen gab. Einmal gab es die Ausschüsse, die nicht öffentlich tagten. Es gab

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Protokolle davon, aber die wurden nicht veröffentlicht. Dann gab es die Möglichkeit, praktisch in allen deutschen konstitutionellen Staaten, geheime Sitzungen zu beantragen. Oft wurde von den Landtagskommissaren, also von den Vertretern der Regierung, gerade wenn es um heikle Punkte ging, wenn es um Verkündigungen des Landesherren in Sitzungen ging, eine geheime Sitzung beantragt. Dann wurde der Verlauf nur noch ganz grob für die Öffentlichkeit protokolliert und die geheime Sitzung wurde ausführlich, inoffiziell oder in den Akten, aufgezeichnet. Überhaupt zur Frage des Landtagsprotokolls: Es ist sehr wichtig zu wissen, dass in Zeiten, in denen die Karlsbader Beschlüsse gelten, diese Landtagsprotokolle unzensiert veröffentlicht werden. Das ist ein zentrales Moment … Manca: Entschuldigen Sie, Herr Grothe, was heißt unzensiert? Grothe: Nicht der Zensur unterworfen. Man hat Landtagsprotokolle in der Zeit unzensiert, also frei veröffentlicht, während man Druckschriften, jedenfalls die kürzeren, einer Vor- und Nachzensur unterworfen hat, und von daher ist das ein zentrales Moment. Trotzdem gibt es, auch von Regierungsseite angestrengt, Diskussionen über den Druck von Landtagsverhandlungen – beispielsweise wegen der Kosten, beispielsweise hinsichtlich der Frage, das haben Sie für die italienische Seite angesprochen, wegen der Verzögerung des Drucks. Dass sie dann erst Wochen später erscheinen und damit zu spät in die öffentliche Diskussion gelangten, muss man auch sehen. Übrigens die erste Wiedergabe von Parlamentsprotokollen ist bereits im späten 18. Jahrhundert in Württemberg erfolgt – ganz interessant im vorkonstitutionellen Zeitalter, aber damit beispielgebend. Das als Zusatzbemerkungen. Eine Frage noch: Sie haben erwähnt, wenn ich mich nicht verhört habe, dass die Ausschüsse in der preußischen Geschäftsordnung von 1849 nach Fraktionen zusammengesetzt werden. Erstens stellt sich für mich die Frage: Ist in der Geschäftsordnung wirklich der Begriff „Fraktion“ zu lesen, und zweitens was ist genau gemeint? In dem Sinne gibt es ja keine Fraktionen, wie wir sie heute kennen. Wir haben ja nicht einmal Parteien. Wir haben bestimmte politische Richtungen, die sich dann und wann zusammenfinden. Aber das wechselt in der Zeit. Man hat keine festen Strukturen. Kommt der Begriff „Fraktion“ vor, und was ist genau gemeint? Können vielleicht ständische Gliederungen gemeint sein und gar nicht Fraktionen im modernen Sinn? Manca: Die preußische Geschäftsordnung von 1849 setzte zwar nicht fest, dass die Kommissionen als Spiegel der politischen Zusammensetzung des Hauses zu bilden waren. Es hat sich eine Art von Zwiespalt zwischen der geschriebenen Geschäftsordnung und der Praxis entwickelt, und das ist in Preußen ähnlich wie in Frankfurt passiert. In der Geschäftsordnung des Frankfurter Parlaments war nur vorgesehen, dass die Abteilungen gebildet werden sollten. Erst mit der Zeit haben sich ganz spontan jene Gebilde entwickelt, die wir Fraktionen nennen, also die Parteien im Parlament. Die Fraktionen haben sich allmählich vom Plenum verselbständigt, ohne dass aber die schriftliche Geschäftsordnung davon Notiz nähme. Dasselbe ist auch mit der preußischen Geschäftsordnung passiert, die die Fraktionen erstmal nicht anerkannt hat und nur von durch das Los gebildeten Abteilungen redete.

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Das Schweigen der Geschäftsordnung über die Fraktionen hatte zur Folge, dass die Parteiangehörigkeit der meisten preußischen Kammerredner bis ungefähr 1866 nicht direkt aus offiziellen Kammerquellen zu ermitteln ist. Zu dem Zweck können allerdings die Zeitungsberichte der parlamentarischen Arbeiten von großem Nutzen sein; auch aus den stenographischen Berichten beider Kammern kann man die Fraktionszugehörigkeit der Abgeordneten je nach der behandelten Frage mehr oder weniger klar ohne große Mühe entnehmen. Schönberger: Im Grunde passiert das nachher im Reichstag genauso wieder. Im Reichstag hat man das Abteilungsmodell in der Geschäftsordnung übernommen. In der Praxis ist aber etwas ganz anderes passiert: Es bildeten sich die Fraktionen, und auf dem Umweg über den Ältestenrat traten faktisch die Ausschüsse mit parteipolitischer Zusammensetzung an die Stelle der Abteilungen, die ihre Bedeutung weitgehend verloren. Manca: Die Entwicklung in Preußen ist ziemlich ähnlich wie im Reich. Es gibt einen Zwiespalt zwischen schriftlicher Geschäftsordnung und Praxis, aber bei der Bildung von Kommissionen wusste man immer ganz genau, dass deren Mitglieder kraft der Parteizugehörigkeit und auf der Basis der jeweiligen Parteistärke auszuwählen waren. Gestrich: Ich habe eine Frage zur Situation in Frankreich. In den Büros ist das per Los bestimmt worden. Mir ist nicht ganz klar geworden, wie genau im deutschen Bereich festgelegt wird, wer in welche Kommission kommt. Ist das von oben festgelegt worden, oder ist das auch später, wenn es Parteien gibt, von den Parteien nominiert worden? Manca: Praktisch waren es die Fraktionsführer, die das bestimmten. Schon in den 60er-Jahren und vor allem in den Briefwechseln zwischen Abgeordneten derselben Fraktion ist häufig von dem Seniorenkonvent die Rede, d. h. von einem Gremium, das von dem Fraktionsführer gebildet war. Mit diesem Begriff, der aber lange offiziell bzw. in den stenographischen Berichten nicht vorkam, war die Versammlung gemeint, wo sich die Fraktionsführer untereinander darüber verständigten, wer in eine bestimmte Kommission hingehen sollte und wer nicht. Im Preußen der 50er-Jahren sind natürlich unter Fraktionsführer noch nicht die Führer einer modern organisierten Partei zu verstehen. Als solche gab es damals wie bekannt nur die katholische Partei, die eine richtige Parteiorganisation hatte, während bis zum Anfang der 70erJahre die anderen Fraktionen eher Honoratiorenparteien waren und blieben. Die Kommissionsbildung wurde gewöhnlich vom Seniorenkonvent bestimmt, wurde aber auch dem Kammerpräsidenten manchmal überlassen. Brauneder: Sie haben den Blick auf etwas gelegt, was heute ein bisschen ungewöhnlich ist. Diese Abteilungen. In der Diskussion geht es ein bisschen durcheinander mit den Bezeichnungen. Zum einen die Kommission, zum anderen die Abteilungen. Da muss man aber ganz strikt unterscheiden. Die Abteilung ist eigentlich ein Miniparlament. Diesem Miniparlament werden Beratungsgegenstände zugewiesen, und zwar ohne fachlichen Hintergrund. Im Reichstag in Österreich 48/49 waren die

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zwölf Abteilungen nach den Gouvernements-Bezirken zu besetzen. Also nach den großen Verwaltungssprengeln. Nicht nach den Ländern. Das geht nicht nach Los. Dahinter steckt auch ein bisschen die Abwehr von Fraktionen. Da sollen sich die Fraktionen nicht widerspiegeln, das soll etwas Objektives sein. Verhandlungsgegenstände werden nach Los diesen Abteilungen zugewiesen. Eine Abteilung kriegt die Strafgesetzbuchnovelle, die andere Abteilung kriegt Steuersachen. Davon unabhängig kann es auch Fachausschüsse geben. Leider ist das für das österreichische Parlament nicht erforscht. Es gab eine Historikerin, die sich vorgenommen hat, diese Abteilungen zu durchforsten. Sie ist dann leider in die Zeitgeschichte abgedriftet. Ob das nicht eine dieser Maßnahmen ist, die Fraktionen, die Parteien anzuhalten, durch Redeordnungen, durch Sitzordnungen. In diesem Zusammenhang hat Herr Wahl gesagt, es gibt das Diskussionsparlament und das Arbeitsparlament. Ich würde sagen, es gibt noch eine ganz andere Form des Parlaments, nämlich das Zustimmungsparlament. Wir müssen uns fragen: Wo kommen denn eigentlich die konkreten Paragraphen her, die beschlossen werden? In Österreich ist es so, 80 % der Vorlagen sind Regierungsvorlagen, dann 15 % verdeckte Regierungsvorlagen, die nur formal Initiativanträge sind. Auf die Weise müssen die Regierungsvorlagen nicht durch die Gremien zur Begutachtung, durch die Autofahrervereinigung und so etwas. Mit einem Initiativantrag kann man das vermeiden. Was passiert jetzt? Das Parlament stimmt den Vorlagen der Regierung, der Koalitionsregierung, welche immer das ist, zu. Das sind dieselben politischen Kräfte. Aber was kann die nationale Gesetzgebung machen? Irgendeinen Fehler kann man korrigieren, aber inhaltlich doch sehr wenig. Aber Arbeitsparlament? Wenn die Ränge, wenn die Reihen der Abgeordneten leer sind? Zumindest in Wien. Woanders soll es anders sein. Wenn wir uns diesen Parlamentsbetrieb ansehen, dürfen wir nicht vergessen, dass er ganz massiv in Konnex steht mit der Regierung, mit dem Kabinett. Manca: Was Sie, Herr Brauneder, für den Fall Österreich ausführen, kann ich auch für die konstitutionelle Monarchie Italiens bestätigen. Es gibt Historiker, die festgestellt haben, dass mehr als 90 % der Gesetzesvorlagen von der Regierung stammten, nicht vom Parlament. Schönberger: Vielleicht muss man aber noch zwei Aspekte berücksichtigen. Wir reden in beiden Fällen, die Sie behandelt haben, noch nicht über ein voll ausgebildetes parlamentarisches Regierungssystem. In Italien schon ein bisschen mehr, in Deutschland noch nicht. Und wir reden in beiden Fällen über ein System vor der Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Vor diesem Hintergrund macht die Technik, Abteilungen zu haben, die nach dem Zufallsprinzip verteilt werden, durchaus Sinn. Man denkt noch nicht an vollorganisierte Massenparteien unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts. In Frankreich hat sich dieses System ja auch nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts noch lange gehalten. Interessant ist der deutsche Reichstag des allgemeinen Männerwahlrechts. Man versucht es rechtlich weiter mit den Abteilungen, aber praktisch klappt das nicht. An die Stelle treten in der Praxis der Ältestenrat und die Ausschüsse.

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Brauneder: In Österreich vor der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts 1907. Ab 1867 gibt es keine Abteilungen. Steiger: Ich denke, man müsste doch, da das Thema Öffentlichkeit und Verfassung heißt, mal sehen, was dies für eine Verfassung ist. Genau dies ist nämlich der Punkt. Sie reden ja über den Konstitutionalismus, und nicht über den demokratischen Parlamentarismus. Deswegen stimmt der Vergleich mit England nicht ohne weiteres. Wir haben jedenfalls hier in Deutschland 1918 einen gewissen Bruch gehabt, der sich angekündigt hat seit der Krise 1910. Aber ich frage mich auch, welche Funktion hat die Öffentlichkeit im Konstitutionalismus. Die wandelt sich zwischen 1870 und 1918, Sie können auch schon Preußen seit 1850 nehmen. Es ist doch so, dass zunächst nicht die Kontrollen, sondern die Gesetzgebung die Aufgabe des Parlaments ist. Dass man nachher diskutiert über das, was die Regierung so macht, ist doch nicht Kontrolle. Kontrolle ist, wenn ich auch die Möglichkeit habe das zu sanktionieren. Und die Versuche dazu sind bis 1918 gescheitert. Man hat es versucht. Aber letzten Endes stehen sich Parlament und Regierung im Deutschen Reich 1870 noch gegenüber. Das ändert sich 1918, indem die Regierung aus dem Parlament kommt. Das mag zwar sehr schwierig gewesen sein, aber damit ändert sich doch die Funktion der Öffentlichkeit des Parlaments. Zudem kriegen wir in Deutschland zwei neue Parteien, die ganz anders organisiert sind als die alten Parteien, nämlich die SPD und das Zentrum. Wir haben hier auf einmal zwei Parteien, die als politische Kraft gezielt im vorparlamentarischen Raum wirken wollen, und sich dann zur Wahl stellen. Insofern ist auch das, was Sie, Herr Schönberger, vorhin sagten und was schon ein paarmal anklang, von Bedeutung: Der Übergang zum allgemeinen Wahlrecht, was nur die Männer über 25 betraf, aber immerhin schon ein gewaltiger Fortschritt war. Das verändert notwendigerweise im Laufe der Zeit die Funktion der Öffentlichkeit und führt letzten Endes auch zu Möglichkeiten der Kontrolle. Aber die verwirklichen sich faktisch allenfalls mit der Berufung des Prinzen Max von Baden zum Reichskanzler, als die Regierung mehr oder weniger von der Lage im Reichstag her bestimmt wird. Ich denke wir müssen mehr darauf achten, welche Funktion eine Öffentlichkeit des Parlaments und damit eine Öffentlichkeit innerhalb der Verfassungsordnung insgesamt hat. Das führt natürlich zum Arbeitsparlament. Und wenn das Parlament die Regierung stellt, dann muss es auch arbeiten. Wenn es sogar noch so weit kommt, alles Mögliche zu kontrollieren bis hin zum Bundeswehreinsatz von zehn Leuten in einer AWACS-Maschine in Albanien, dann hilft nix anderes, als dass man sich mal hinsetzt und etwas tut. Dann hat man keine Zeit mehr, um im Parlament zu diskutieren, sondern dann werden Fraktionsstellungsnahmen abgegeben, die sind für das Protokoll. Entschuldigung, aber das regt mich ziemlich auf. Das ist ja auch keine Öffentlichkeit mehr, es hört ja auch keiner zu. Manca: Herr Steiger, meinen Sie, dass das Parlament über die Gesetzgebung hinaus auch die politische Kontrolle der Regierung nur dann bekommt, wenn das allgemeine Wahlrecht eingeführt ist, die Massenparteien ins Parlament auch offiziell als Fraktionen einbeziehen und die Regierung von den Mehrheitsparteien gebildet wird? Meinen Sie damit vielleicht, dass von einer echten parlamentarischen politischen

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Kontrolle und damit von einem Arbeitsparlament nur in einem parlamentarischen Regierungssystem wie dem Weimarschen die Rede sein kann? Steiger: Nein, es wird auch vorher debattiert. Aber es hat keine Kontrolle, weil es keine Sanktionsmacht hat. Manca: Herr Steiger, auf Anhieb und prinzipiell wäre ich sehr geneigt, Ihrer Unterscheidung zwischen einem konstitutionellen Redeparlament und einem parlamentarischen Arbeitsparlament zuzustimmen. Ich kann allerdings den Tatbestand nicht außer Acht lassen, dass Weimar kein voll ausgebildetes parlamentarisches Regierungssystem dargestellt hat. Auch in Weimarer Zeit genauso wie in konstitutioneller Zeit konnte nämlich das Parlament weder die Regierung noch einzelne Minister entlassen und daher vermochte es keine unmittelbare politische Kontrolle über die Regierung auszuüben. Steiger: In Weimar gab es ständig Misstrauensvoten oder freiwillige Rücktritte, wenn Misstrauen drohte. Echte Misstrauensvoten gab es ganz wenige. Man trat eben schon vorauseilend zurück. Genau das wollte das Grundgesetz verhindern, indem es gesagt hat, wir müssen uns einen neuen Bundeskanzler wählen. In Preußen war es ein bisschen anders mit den Regierungswechseln. Schönberger: Das Arbeitsparlament ist bei uns aber nicht im parlamentarischen Regierungssystem, sondern gerade im konstitutionellen Dualismus entstanden. Und es ist dann später beibehalten worden, als man zum parlamentarischen Regierungssystem übergegangen war. Und deswegen sind wir heute in so einer merkwürdigen Mischform. Aber es ist jedenfalls nicht so, dass das Arbeitsparlament aus dem parlamentarischen Regierungssystem heraus entstanden wäre. Das zeigt das britische Beispiel sehr schön. Dort hat man früh die parlamentarische Regierungsweise entwickelt und gerade deshalb bis heute kein ausgeprägtes Arbeitsparlament. Steiger: Der Dualismus soll im zweiten Reich entstanden sein? Schönberger: Von der Anlage her auf jeden Fall. Es ist dieser Dualismus, der zu einem Parlament führt, das sich in die Einzelheiten verbeißt. Wenn ich die Regierung nicht übernehmen kann, fange ich an, im Detail zu arbeiten. Viele Berichte aus dem Kaiserreich zeigen das. So verbeißen sich die Abgeordneten etwa sehr in Einzelheiten des Haushalts, weil sie die Regierung ansonsten nicht unter Kontrolle haben. Grothe: Ich wollte zu dem Zustimmungsparlament bemerken: Man muss vor Augen haben den Vormärz, also vor 1848. Da war es so, dass nur in einer einzigen Verfassung überhaupt das Gesetzesinitiativrecht des Parlaments festgehalten war, nämlich beim Kurfürsten von Hessen. Ansonsten gab es das gar nicht. Und selbst da ist es interessanterweise nicht genutzt worden. Es sind alles immer Regierungsvorlagen, über die wir da diskutieren, aber es gibt keine Gesetzesinitiative, und in anderen Verfassungen ist es gar nicht verbürgt. Von daher sind die Zustände völlig andere als heutzutage. O. Lepsius: Parlamente sind sehr dynamische Organe und haben deswegen keinen klaren kompetenziellen Zuschnitt. Wir sollten nicht versuchen, dem Parlament eine

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Primärfunktion zuzuweisen. Parlamente hatten im Lauf der Geschichte immer mehrere unterschiedliche Funktionen: Wahl, Kontrolle, vor allem auch Artikulation – Öffentlichkeit hat uns ja besonders interessiert – und schließlich auch Rechtserzeugung. In keiner dieser Funktionen hat das Parlament aber eine alleinige Zuständigkeit. Andere Organe betreiben auch Rechtserzeugung, andere üben auch Kontrolle aus, andere wählen auch oder betreiben Artikulation. Deswegen sollte man nicht ein Parlament negativ beurteilen, wenn es zu wenige Gesetzesvorlagen einbringt. Entscheidender wäre, welchen tatsächlichen Einfluss Parlamente auf die Rechtserzeugung haben. Nicht prozentual ist die Gesetzesvorlage erheblich; interessanter ist die Anzahl der Änderungsvorschläge, die aus dem Parlament gekommen sind. Was ist tatsächlich der parlamentarische Einfluss auf die Rechtserzeugung? Dieser Einfluss lässt sich nicht rein statistisch-quantitativ erheben, sondern kann auch Ergebnis der Artikulationsfunktion sein. Das ist im Übrigen ein Prozess, der sich mit der Zeit wandelt, in den Ländern unterschiedliche Ausprägungen findet und von der Zusammensetzung des Organs bestimmt wird. Wenn wir eine homogene Körperschaft betrachten wie z. B. im Englischen Unterhaus um 1850, dann fehlten dort die Interessenkonflikte. Die Mitglieder des Unterhauses hatten keine Interessenkonflikte. Sie entstammten der gleichen Schicht, sie übten die gleiche Funktion aus, waren in ihren Grafschaften auch Exekutivorgan und übernahmen Rechtsprechungsfunktionen. Sie vereinten die Gewalten in der Region und waren die Repräsentanten der Region in diesem hoheitlichen Allzuständigkeitsbereich im Unterhaus. Welchen Interessenkonflikt sollten die Mitglieder des Unterhauses denn haben? Das sind alles feine Herren, die keine Parteien brauchen. In dem Moment aber, in dem über eine Wahlrechtsreform aus dem homogenen Repräsentativkörper ein nicht mehr homogener gemacht wird, werden Klassen und Interessen relevant; Proportionalität spielt plötzlich eine Rolle. Und wer Interessenkonflikte vor sich sieht, braucht auch eine andere Untergliederung des Parlamentes, um damit organisatorisch umgehen zu können. Die Konflikte spiegelt das Parlament dann in der Selbstorganisation wider. Die weiteren Auswirkungen auf Kontrolle, Rechtserzeugung und Artikulation sind damit auch klar. Daher würde ich schon meinen: Das Wahlrecht, also die Zusammensetzung der Repräsentativkörperschaft, ist der entscheidende Faktor, der für die genauere Ausgestaltung der Funktionen und der Kompetenzen des Parlaments ausschlaggebend ist. Man sieht das auch schön in der gesamteuropäischen Entwicklung, wie sich Parlamente funktional ändern durch eine Wahlrechtsreform. Am britischen Modell sehen wir, wie das Parlament ja ursprünglich kein Legislativorgan war und durch kontinuierliche Wahlrechtsreformen zu einem Legislativorgan geworden ist unter Verzicht auf andere Funktionen. Denn Parlament umfasste ursprünglich ja auch das Oberhaus, und damit eine Rechtsprechungsfunktion. Die Regierung war eine Art Exekutivausschuss des Unterhauses. Dieses Arrangement der Funktionen verschwindet im 20. Jahrhundert bis hin zu den Verfassungsreformen in Großbritannien in den letzten 30 Jahren. Erst kürzlich wurde mit der Verselbständigung des U. K. Supreme Court erstmals die Gewaltenteilung in Großbritannien eingeführt. Vorher hatte es die nicht gegeben, von Vorformen ab Mitte des 19. Jahrhunderts abgesehen.

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Manca: Herr Lepsius, Ihre Ausführungen, wonach die parlamentarische Gesetzgebungsfunktion im deutschen konstitutionellen Regierungssystem wie auch im englischen Unterhaus des 19. Jahrhunderts Nebensache gewesen sei, vermag ich aus italienischer und deutscher historiographischer Sicht nicht zu teilen. Die Parlamente haben historisch ihren Ursprung gerade in der Notwendigkeit bzw. in dem Willen, den monarchischen Herrscher außer bei der Steuererhebung bei der Gesetzgebung zu beschränken. Selbst der Anspruch auf eine möglichst weite öffentliche Dimension der parlamentarischen Repräsentation ergab sich unmittelbar aus der Primärnotwendigkeit, der bis dahin unbeschränkten königlichen Machtvollkommenheit bei der Gesetzgebung einen Riegel vorzuschieben. Soweit ich weiß, gilt das auch für Großbritannien vor jenen Wahlrechtsreformen des 19. Jahrhunderts, die in der Tat bei dem Durchgang der englischen Monarchie zum parlamentarischen Regierungssystem Pate gestanden haben. Ihre Überlegungen über die Nachrangigkeit/Überflüssigkeit der Gesetzgebungsfunktion in einem angeblich konfliktfreien Parlament des 19. Jahrhunderts haben mich an die Ausführungen über die Parlamentsfunktionen vom großen italienischen rechtspositivistischen Staatsrechtler Vittorio Emmanuele Orlando erinnert, der darüber nach der italienischen Wahlreform von 1882 schrieb, die Zahl der Wahlberechtigten in Italien von circa 2 % auf circa 8 % der männlichen Bevölkerung ansteigen ließ. Auch Orlando, der Vater des italienischen Rechtspositivismus, meinte, die Gesetzgebung sei nur eine unter den vielen Funktionen der parlamentarischen Institution. Seiner Meinung nach war die Hauptfunktion des Parlaments auch nicht die öffentliche Repräsentation des Volkes, sondern eher die Auswahl der führenden Klasse, eine Aufgabe, die es zum Zweck der notwendigen Personifizierung und Aktivierung der juristischen Staatspersönlichkeit zu erfüllen hatte. In Orlandos Auffassung stellt auch das Wahlrecht konsequent kein Recht, sondern ein Privileg dar, das nur den Leuten zugestanden werden sollte, die aus Zensusoder Bildungsgründen imstande waren, es zum Vorteil des Staates zu handhaben. Orlando sprach in einer Zeit, in der nur die Leute wählen konnten, die schreiben und lesen konnten und ein bestimmtes Geldquantum an direkten Steuern an die Staatskasse fließen ließen; das waren nach 1882 kaum 8 % der männlichen Bevölkerung und nach der großen Wahlrechtsreform von 1912 kaum 23 %. Da die Hauptfunktion des Parlaments nach Orlando nicht die Gesetzgebung, sondern die Auswahl der führenden Klasse war, konnten und sollten sich die Abgeordneten nach der Wahl von ihren Wählern endgültig lossagen, um sich ihrem parlamentarischen Mandat im Namen eines angeblich undifferenzierten ganzen Volkes frei innerhalb eines paziszierten organischen Staates widmen zu können. An eine solche organische Auffassung des Parlaments und des Staates erinnerten mich Ihre Überlegungen, Herr Lepsius, für die ich allerdings bisher keine historische Basis in meinen Forschungen finden konnte. In jedem Parlament, auch vor der Einführung des allgemeinen Wahlrechts, hat es immer Leute gegeben, die für bestimmte politische Ziele gekämpft haben, und Leute, die sich dagegen gestemmt haben und deren Alltag politische Konflikte gekennzeichnet haben. Das konfliktfreie Parlament, sowohl der ersten als auch der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann legitimerweise als Ideal bestimmter staatsorganischer Juristen Realitätsgehalt beanspruchen, es entsprach aber nicht

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der Realität. Dass im Parlament alle einer Meinung gewesen seien, scheint mir eher eine Legende zu sein. Selbst die Meinung des Parlaments, welche sich durchgesetzt hat, entspricht immer der Meinung einer im Inneren mehr oder weniger ausdifferenzierten Mehrheit. Vor allem im deutschen und italienischen konstitutionellen Zeitalter hat die Gesetzgebung auf keine Weise eine nur sekundäre Rolle unter den Parlamentsfunktionen gespielt und das nicht zuletzt aus dem Grunde, dass in konstitutioneller Zeit als Gesetze im eigentlichen Sinn nur jene galten, welche das Parlament genehmigt hat. In einem solchen Zusammenhang hat das Parlament durch die Gesetzgebung gleichzeitig und unabhängig von anderen parlamentarischen Kontrollmitteln (wie Petitionen, Interpellationen oder Untersuchungskommissionen) die Regierung kontrolliert, wenn auch ohne sie politisch sanktionieren zu können. Schönberger: Herr Lepsius meint, glaube ich, etwas anderes. Er meint, dass bestimmte gesellschaftliche Konflikte auf Grund der sehr kleinen Elite, die im Parlament saß, dort nicht abgebildet wurden und deshalb dort der Eindruck einer größeren Einheitlichkeit entstand. Es geht also nicht darum, dass keine Konflikte da waren, sondern dass sie im Parlament nicht widergespiegelt wurden. Thier: Lieber Oliver Lepsius, ich möchte widersprechen. Ich möchte dem, dass gesellschaftliche Strukturkonflikte im Parlament nicht abgebildet wurden, insofern widersprechen, als sich das abbildet entlang der Parteienstellungen. O. Lepsius: Um 1850 habe ich gesagt. Da gab es noch keine Parteien. Thier: Dazu ein Gegenbeispiel: 1850 gibt es die ersten Fraktionen. Die ersten Parteien fangen in Deutschland sogar 1830 an. Im preußischen Abgeordnetenhaus siehst Du relativ schnell wieder, dass das rheinische Bürgertum gegen den „agrarischen“ Osten streitet. Das ist eine Konstante, die hält sich lange. Ich spreche dabei nur von Preußen, aber das lässt sich wahrscheinlich auch woanders nachweisen. Ich kenne Ähnliches für die Schweizer Bundesversammlung genau um diese Zeit. 1850, in der Zeit eines starken Liberalismus, eines bürgerlichen Liberalismus, der im Nationalrat des Schweizer Bundes ziemlich massiv gegen die katholischen Konservativen und deren soziales Milieu vorgeht. Ich sehe allerdings Deinen Punkt, den ich aber noch stärker machen würde: Du hast von Wahlrecht gesprochen. Ich würde gerne auf die Rolle der Mandatsträger selber gehen, also auf das freie Mandat. In dem Moment, in dem wir den Übergang von der Ständeversammlung mit dem gebundenen Mandat zum freien Mandat haben (das ist ein Pattern, das haben wir europaweit), in dem Moment verändert sich etwas. Es verändert sich in den Parlamenten ganz gewaltig etwas. Werden sie freier? Formieren sich die Interessen neu? Das ist eine Sache, die wir auch mit Blick auf die Öffentlichkeit nochmals bedenken müssten. Das war meine erste Bemerkung. Meine zweite Bemerkung ist eine Frage an Sie: Es ist auch der Versuch, Ihren Vortrag in den Horizont unseres Gesamtthemas reinzuholen. Ich hatte die Wahrnehmung für das 19. und 20. Jahrhundert. Mit Blick auf Öffentlichkeit haben Parlamente grundsätzlich im 19. Jahrhundert eine wesentliche Funktion. Sie sind eine Art funktionelle Bündelung von Öffentlichkeit, der öffentlichen Diskussion zumindest, des öffentlichen Aufgreifens und des öffentlichen Re-

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dens über bestimmte Themen. Man sieht, sie können damit der Regierung auch sehr unangenehm werden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Bismarck, während der Kontroverse um die großen Wirtschaftsreformen in den späten 1870er-Jahren. Der Reichstag geht Bismarck furchtbar auf die Nerven. Was macht er? Er gründet den Volkswirtschaftsrat. Er gründet ein eigenes Phänomen, um im Meinungsbildungsprozess ein neues Forum zu schaffen und um den Reichstag als Forum von Öffentlichkeit zu entmachten. Diese Bedeutung als Forum von Öffentlichkeit scheint mir eine ganz wichtige Funktion der Parlamente zu sein, die aber im ausgehenden 19. Jahrhundert, bei dem, was wir heute als die Entstehung des politischen Massenmarktes bezeichnen, dann ihrerseits wieder schwerer durchführbar wird, weil die Parteien sehr stark durch die Massenmedien und die Nutzung von Massenmedien ihre Diskurse aus dem Parlament hinaus verlagern. Dass es in der Schweiz unter den Bedingungen der direkten Demokratie dann nochmals ganz anders funktioniert, sehen wir seit langer Zeit: Hier wird diese Art von Öffentlichkeit aus den Parlamenten herausverlagert und Öffentlichkeit manifestiert sich auch und gerade in Form von Volksinitiativen und Referenden. Das ist eine ganz spannende Geschichte, die Konkurrenz zwischen Parlament und direkter Demokratie. Da wird Öffentlichkeit anders konstituiert. Ich weiß nicht, ob Sie dem zustimmen können. Manca: Herr Thier, Sie haben auf die vorkonstitutionelle Zeit und dabei auf die Rolle bzw. die Art des Mandats der Deputierten in vorkonstitutioneller Zeit Bezug genommen. Möchten Sie ihren Gedanken dahin führen, dass die Deputierten in konstitutioneller Zeit mehr auf Öffentlichkeit eingestellt gewesen sind als vorher? Thier: Sie sind mehr bereit, die Öffentlichkeit in ihr Kalkül zu nehmen. Es macht einen Unterschied, ob ich als Mitglied des Standes der Städte in einem Landtag sitze, oder ob ich als Andreas Thier, Wahlkreis 1 Zürich Stadt, in einem Rat sitze. Manca: Das Wahlsystem spielt dabei natürlich eine große Rolle. Thier: Durch die Wahlrechtsänderung ändern sich auch die Abgeordnetenrollen. Und durch die Änderung der Abgeordnetenrollen ändert sich auch die Parlamentsstruktur und die Rolle und Generierung und die Funktion von Öffentlichkeit. Schönberger: Was machen wir denn nun mit dem Punkt von Herrn Steiger? In gewisser Weise könnten wir vielleicht sagen, wir reden bei der Mitte des 19. Jahrhunderts über ein kurzes Intervall. Es ist die kurze Honeymoon der Öffentlichkeit im Konstitutionalismus als liberale Gegenöffentlichkeit. Danach kommt die Massendemokratie, es kommt das parlamentarische Regierungssystem, und dann kommen wir an den Punkt, an dem Herr Steiger sagt: Was für eine Öffentlichkeitsfunktion wird denn heute vom Parlament tatsächlich noch ausgeübt? Steiger: Nochmals zu der Artikulationsfunktion. Die bestreite ich ja nicht. Die haben wir ja noch. Sie haben es sehr deutlich gemacht, Herr Thier. Wir haben die früher schon außerhalb des Parlaments auch gehabt. Heute haben wir sie bei Anne Will. Herr Bosbach wird nicht zugelassen, seine abweichende Meinung im Plenum

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zu äußern, wenn der Lambert das doch tut, kriegt er Ärger mit seiner Fraktion, also muss Herr Bosbach zu Anne Will gehen. Hillgruber: Ich wollte auf die Kontrollfunktion zurückkommen: Kontrolle durch Herstellung von Öffentlichkeit. Herrn Steigers These war ja, dass es an dieser Kontrollfunktion hapert in Zeiten des Konstitutionalismus, weil die Regierung nicht vom Parlament abhängig ist. Aber das schließt Ausübung von Kontrolle durch Ausübung von Öffentlichkeit nicht aus. Klassische Beispiele dafür sind das Zitier- und Interpellationsrecht. Daher meine Frage an Sie, Frau Manca: Sehen Sie diese Instrumente als in besonderer Weise geeignet, um Kontrolle auszuüben durch Herstellung von Öffentlichkeit? Sind sie in den Verfassungen den Konstitutionalismus schon vorhanden? Gibt es schon ein Zitier- und Interpellationsrecht? Also die Notwendigkeit für Regierungsmitglieder auf Verlangen des Parlaments zu erscheinen und Rede und Antwort zu stehen? Das wäre ein starkes Indiz dafür, dass es bereits eine effektive Kontrollfunktion gibt, die in mancherlei Hinsicht sogar stärker ist als diejenige von heute, weil wir damals diesen klaren Antagonismus oder Dualismus haben von Parlament versus Regierung, während Kontrolle heute eine Aufgabe ist, die im besten Fall die parlamentarische Opposition erfüllt, wenn sie sich ihrer denn annimmt. Manca: Prinzipiell gab es schon das Interpellationsrecht. Die Abgeordneten konnten die Minister fragen, Rede und Antwort im Parlament zu stehen. Schönberger: Für Deutschland muss man sagen, dass es das Zitierrecht auf Reichsebene nicht gab. Das ist erst in Weimar als Reaktion auf das vorherige Fehlen in der Bismarckverfassung eingeführt worden. Und das Interpellationsrecht gab es nur im Rahmen des Geschäftsordnungsrechts, wodurch immer die Frage aufkam, ob die Regierung durch parlamentarisches „Innenrecht“ überhaupt rechtlich zur Antwort verpflichtet werden konnte. Brauneder: Bitte lesen Sie Arthur Schnitzler, Professor Bernhardi. Da wird ein Minister interpelliert, weil Professor Bernhardi sich fehlverhalten hatte. Steiger: Aber wenn ich an meine eigenen Arbeiten erinnere, hat Herr Schönberger recht. Sie mussten das Interpellationsrecht allmählich durchsetzen. Es war nicht ursprünglich in der Verfassung vorgesehen. Ruppert: Da würde ich die These von Herrn Hillgruber unterstreichen. Gerade die Parlamente des Vormärzes sind enorme Kontrollinstanzen in dem Sinne, dass sie Interpellationsrecht durchsetzen und ganz enorm nutzen. Und sie haben auch Sanktionsmöglichkeiten. Dem Fürsten den Militäretat zusammen zu kürzen, und das hat ihn immer sehr geärgert. Weiter haben wir die Sanktionsmöglichkeit seinen Schlossbau zu hintertreiben, das ärgert ihn noch mehr. Und in Bayern sind bestimmt zwischen 1817 und 1870 bis zur Reichsgründung 6 oder 7 Regierungen vom Parlament gestürzt worden von dem konstitutionellen Parlament gegen den Willen des Königs. Da kann man nicht sagen, sie haben keine Kontrollmöglichkeit. Das lag unter anderem daran: Erstens versteht sich der Landtag und die Ständeversammlung als eine gemeinsame Opposition, die der gesamten Regierung gegenübersteht. Das ist Dualismus und da

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ist die Kontrolle ganz scharf. Und erst als sich das durch Wahlrechtsänderungen, die 1848 zum Teil schon einsetzen, Richtung Parteien und Fraktionen hin entwickelt, ändert sich das. Der klassische Landtag des Vormärzes versteht sich insgesamt als Repräsentation der Gesellschaft, die Vorhut der Gesellschaft und die Kontrolle der Regierung, die völlig gegenüber ist. Barmeyer-Hartlieb: Wenn wir die Verfassungssituation in Preußen vom späten 19. Jahrhundert her zurückgehend betrachten, so müssen wir feststellen: Auch da, wo es noch keine parlamentarische Regierung gibt, kann ein Minister nicht dauernd gegen das Parlament regieren. Bismarck hat mehrmals Neuwahlen durchführen lassen, ohne dass die politische Zusammensetzung seinen Intentionen passte. Danach argumentierte er mit der berühmten Lücke in der Verfassung, für die das Parlament ihm schließlich Indemnität erteilt, ohne dass damit das Problem rechtlich eindeutig geklärt war. Auch aus finanziellen Gründen konnte selbst ein Bismarck nicht dauernd erklären, das ist in der Verfassung nicht vorgesehen, machen wir also einfach weiter mit der Gesetzgebung und Steuererhebungen wie vorher. Fazit: Auch im Konstitutionalismus ist die Regierung nicht unabhängig von der im Parlament ausgeübten Kontrolle. Noch einen Schritt weiter zurück im 19. Jahrhundert: Auch die preußischen Provinzial-Landtage vor 1848, die die Problematik vor sich sahen, dass das Verfassungsversprechen des preußischen Königs nicht eingelöst wurde, durften offiziell die Verfassungsfrage nicht diskutieren. Aber das bricht im Vormärz nach 1830 auf, was man besonders in Westfalen feststellen kann. Man macht die Verfassungsfrage zum Diskussionsgegenstand, um so die politischen Mitsprachemöglichkeiten des Parlaments auszuweiten bzw. einzufordern. Das ist immer auch eine politische Situation. Wie weit es möglich ist, eine Verfassung auf Druck der parlamentarischen Diskussion zu verändern, hängt von der jeweiligen politischen und selbstverständlich finanziellen Gesamtsituation ab – schließlich ist das Budgetrecht das effektivste Druckmittel jedes Parlaments – und davon ist jede Regierung abhängig, auch die vorkonstitutionelle. Manca: Die preußische Verfassung kannte allerdings auch Steuererhebungen unabhängig von der Genehmigung des Parlaments (Art. 100, Preußische Verfassungsurkunde von 1850). Auf diesem Weg konnte Bismarck die sogenannten Einigungskriege auch unabhängig von der Parlamentsgenehmigung von finanziellen Mitteln führen. Schönberger: Jetzt haben wir ganz verschiedene Aspekte behandelt und sind jedenfalls auf höherem Niveau verwirrt. Vielen Dank nochmals.

Schlussdiskussion Impulsreferat: Dilcher Dilcher: Gerne bin ich bereit, einige Überlegungen als Einleitung für die Schlussdiskussion hier darzulegen. Daran liegt mir besonders, weil die beiden ersten Referate, von Herrn Althoff und mir, sonst etwas isoliert im Gesamtzusammenhang der Tagung stehen würden. Die weiteren Referate der Tagung wenden sich ja dann schon der Frühen Neuzeit und der Moderne zu, zumal das verbindende Referat über die Symbolizität zwischen altständischer und neuständischer Öffentlichkeit wegen Krankheit des Referenten ausfallen musste. Dadurch gab es so etwas wie eine thematische Lücke vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit. Eine Frage, die mich bewegt, ist also das Problem, wie sich verbindende Linien zum Thema durch die verschiedenen Perioden hindurch ziehen lassen. Wie ich schon in der Diskussion zu meinem Referat betont habe, habe ich dabei starke Vorbehalte gegen den Begriff der Kontinuität. Es handelt sich ja nur um ein Erklärungsmodell, ein Konstrukt des Historikers mit der Gefahr der Überinterpretation, vor allem der Unterstellung von gradlinigen Kausalitäten, von Identitäten, wo es um komplexe Zusammenhänge geht. Beginnen wir mit den im Laufe der Tagung verwendeten und herausgearbeiteten Begriffen von Öffentlichkeit. Für die meisten war Ausgangspunkt die Arbeit von Habermas, die die Entstehung einer bürgerlichen, kritisch-räsonierenden Öffentlichkeit zum Gegenstand hat. Diese ist Teil der bürgerlichen Gesellschaft und empfindet sich damit im Gegensatz zum Staat, entsprechend dem liberalen Trennungsmodel. Habermas selbst grenzt diese Form mit Berufung auf Otto Brunner und Carl Schmitt von der repräsentativen Öffentlichkeit der Ständegesellschaft mit dem verfassungsmäßigen Hintergrund des ganzen Hauses, also nicht des Individuums, ab. Ich habe nun versucht das Licht auf eine dritte Form, nämlich der tribalen Öffentlichkeit zu lenken, welche nach meiner Auffassung aus der Frühzeit der Stammesgesellschaften tief in das Mittelalter hineinragt. Damit stehen drei strukturell bis in ihre sozialen Grundlagen sehr verschiedene Formen von Öffentlichkeit nebeneinander. Eine einfache Form von Kontinuität, als substanzielle Dauer, kann es also schon deshalb nicht geben, wohl aber durchaus Wirkungszusammenhänge, deren Analyse aber auf verschiedene Kontexte und Funktionen gerichtet sein muss. Diese Zusammenhänge könnten dann durchaus ein Charakteristikum der europäischen Geschichte, der Geschichte des Westens ausmachen, was aber nur eine vergleichende Betrachtung erweisen kann. Der in der Diskussion einmal aufgetauchte Topos der „orientalischen Despotie“ weist darauf hin. Die von mir angesprochene These englischer Verfas-

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sungshistoriker auf eine Verbindung der frühen angelsächsischen Versammlungskultur zur Ausbildung des Parlamentarismus könnte hier einen Ansatz bilden. 1.) Grundlegend scheint mir zu sein, dass es sich bei dem Verhältnis von Herrschaft oder Staat zur Öffentlichkeit, welcher Form auch immer, um ein Verhältnis von Innen und Außen handelt. Ausübung von Herrschaft, als Grundstruktur von Verfassung geschieht von einem inneren Zentrum der Macht. Dieses Machtzentrum muss jedoch mit dem Außen der „Gesellschaft“ in irgendeiner Weise in Beziehung treten, um wirken zu können. Die Frage nach einer Öffentlichkeit scheint mir darauf hinaus zu laufen, wie weit dieses „Außen“ organisiert ist und bei Entscheidungen oder Maßnahmen der Machtausübung als mitwirkendes Kollektiv handeln kann. In dem Vortrag von Herrn Gestrich wurde für die Frühe Neuzeit deutlich, dass es zwei solcher kollektiver „Ringe“ um das Machtzentrum der Herrschaft gab: Einmal eine Ständevertretung wie das britische Parlament oder die Landtage, zum anderen die kritische Berichterstattung über die Arbeit der Ständevertretung an eine breitere Öffentlichkeit. Die Ständevertretung ist dadurch einerseits eine Form von Öffentlichkeit, andererseits auch Gegenstand von Öffentlichkeit. 2.) Schon das eben genannte Beispiel zeigt, wie sehr es für die Bestimmung von Öffentlichkeit auf die zur Verfügung stehenden und benutzten Medien ankommt. Eine ganz oder überwiegend auf das Medium der Oralität angewiesene Gesellschaft bedarf dessen, was die Ethnologen eine face-to-face-Kommunikation nennen. Auch die Kommunikation über die Darstellung im Ritual als Handlung und Symbol bedarf des unmittelbaren Kontaktes. Daneben gibt es aber die Weitergabe eines Wissens auch als mündliche Nachricht oder Gerücht. Während der Tagung wurde in diesem Sinne dargelegt, dass „man es wusste“, dass auch bäuerliche Gemeinden die Möglichkeit hatten vor dem Reichskammergericht zu klagen. Wie sehr dann die Herstellung von Öffentlichkeit durch Handschrift, dann aber durch Druck bestimmt wurde, braucht hier nur erwähnt zu werden. Die Reformation wäre nicht ohne Flugschriften denkbar, die räsonierende bürgerliche Öffentlichkeit nicht ohne Zeitungen. 3.) Aus dem vorangehenden ergibt sich, dass das, was wir als Öffentlichkeit bezeichnen, sehr verschiedene Funktionen besitzen kann, mehr aktiv oder mehr passiv. Die am meisten passive ist die bloße Entgegennahme, die aktivste ist die Zustimmungsbedürftigkeit. Dazwischen kann es viele Schattierungen geben, die etwa von der Institutionalisierung eines Gremiums und seiner Verfahrensweise abhängen. Ein Beispiel für letzteres ist der Übergang von einem informellen Konsens zu einem numerisch ausgedrückten Mehrheitsprinzip. In der Regel wird es nicht nur um Darstellung von Herrschaft gehen, sondern auch um Zustimmung, Einbeziehung von Kritik, um Kontrolle oder Entscheidung. Dabei sind auch gruppendynamische Prozesse im Auge zu behalten, wie das für die Versammlungskultur bezeugte „Murren“. Man könnte also sagen, es gibt kein Herrschen ohne Öffentlichkeit. Deren Gegenspieler ist aber eine Verwaltung, ein „Erzwingungsstab“ (Max Weber) mit Durchsetzungsmacht. Das findet sein Extrem im Absolutismus, mehr noch in modernen totalitären Regimen. Selbst zu deren Ergänzung wird aber immer wieder Öffentlichkeit

Schlussdiskussion

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als eine Ressource für Akzeptanz und als deren Grundlage, die Vermittlung von Kenntnis herangezogen, von der Verkündigung von karolingischen Kapitularien oder neuzeitlichen Policeyordnungen bis hin zum Gesetz- und Verordnungsblatt. Stärker noch ist die Funktion von Öffentlichkeit als Legitimitätsressource. Sie kann reichen von widerspruchsloser Akzeptanz bis zu formeller Zustimmung. Die frühen Formen wurden in meinem Vortrag deutlich, etwa im langobardischem gairethinx; deutlich wird diese Funktion auch, wenn in den Krisensituationen des Ancien Regime und des Absolutismus der Herrscher die Ständevertretung einberuft (Frankreich) oder eine Verfassung mit einer Volksvertretung erlässt (Deutscher Konstitutionalismus). Zum Schluss möchte ich andeuten, an welchen Punkten sich Linien innerhalb des Wandels von Institutionen und Funktionen durchziehen lassen, also gewisse formale Kontinuitäten bestehen. Eine solche Linie lässt sich an dem Stichwort Versammlung festmachen. Als ethnologischer Sachverhalt, der auch für die frühen germanischen Stämme und Völkerschaften gilt, lässt sich festhalten, dass sich diese Verbände erst durch regelmäßige Versammlungen als solche konstituieren. Indem sich innerhalb eines solchen Verbandes Herrschaftsverhältnisse herausbilden, geht dann daraus der die politische Theorie des Mittelalters beherrschende Dualismus von Herrscher und Volk hervor. Bekanntlich hat sich daraus schon im Mittelalter die Theorie einerseits der Herrschersouveränität, andererseits der Volkssouveränität gebildet. Daran knüpft sich dann das Problem der Repräsentation des Volkes. Eine weitere Linie lässt sich an dem Stichwort „Tag“ festmachen. Etwas versteinert zeigt sich dies darin, dass heute der Bundestag in einem Gebäude namens Reichstag tagt. Das sehr alte Wort „Tag“ bezeichnet aber, wie uns das Grimmsche Wörterbuch lehrt, seit alter Zeit auch die rechtsförmliche Versammlung, die als Thing entweder zu einem festen Termin oder durch Ladung zu einem „gebotenen“ Tag stattfinden sollte. Das Wort Tag bedeutete dabei nicht nur einen festen Termin, sondern auch Öffentlichkeit, Zugänglichkeit, bei Licht und unter freiem Himmel. Das gilt bekanntlich noch heute in der benachbarten Schweiz für die Versammlung der Landsgemeinde, die die waffenfähigen Männer vereinte. In den mittelalterlichen Städten, wo sich aus der Bürgerschaft eine Ratsregierung gebildet hatte, fand dann am rituellen „Schwörtag“ eine Vollversammlung der Inhaber des Bürgerrechts statt, bei der im wechselseitigem Zuschwören von Rat und Bürgerschaft die Herrschaft neu errichtet und das Stadtrecht erneuert und reformiert wurde. Im überschaubaren Bereich der Stadt (wie der Landsgemeinde) hält sich also die Öffentlichkeitsform der Vollversammlung aller politisch voll Berechtigten. Wir können also sehr unterschiedliche Stufen der Institutionalisierung der Versammlung und der Rationalisierung der Entscheidungsfindung feststellen. Entlang dieser Linie der Veränderung scheinen mir zwei Brüche bemerkbar zu sein: Der erste von der „offenen“ Versammlung aller Berechtigten und Träger der politischen Verfassung, etwa der waffenfähigen Männer, der mit Bürgerrecht Ausgestatteten zur

198

Schlussdiskussion

Versammlung von Personen mit dem Anspruch der Repräsentation (auf Grund ständischer Geburt „sind sie das Land“). Der zweite Bruch bestünde dann darin, dass das Volk ohne ständische Abstufung und ständige Repräsentation, die Herrschaft durch Wahlen ausübt und damit einen Verfassungsraum eigener Öffentlichkeit bildet. Dies ist der revolutionäre Bruch zur modernen Demokratie. Die konstitutionelle Monarchie wäre dann eher eine Übergangsform, in der aber der alte institutionelle Gegensatz von Herrscher und Volk kaum noch existiert. Schilling: Vielleicht einen Satz zur völlig zu Recht festgestellten Lücke zwischen dem Beginn des zweiten Mittelalters und dem 17. Jahrhundert: Das ist eine Zeit, die wir hier in der Tat weniger behandelt haben. Womöglich haben wir uns im Bestreben, die Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit nicht überzubetonen, nun allzu sehr auf den Übergang von Vormoderne zur Moderne kapriziert. Zumal das 16. Jahrhundert wegen der „Medienrevolution“ von großer Bedeutung für unser Thema ist, doch schien uns eine gewisse Konzentration auf thematische Schwerpunkte sinnvoller als der Versuch einer möglichst flächendeckenden Behandlung der Problematik. Ich eröffne die Diskussion. Gestrich: Ich möchte nur mit zwei Punkten auf Ihre sehr schöne Zusammenfassung antworten. Eine Konfusion der Diskussion um den Begriff der Öffentlichkeit kommt meines Erachtens daher, dass man den Begriff immer im Singular gebraucht. Vor allem in vormodernen Zeiten kommt man jedoch nicht mit einem Begriff von Öffentlichkeit im Singular weiter. Deshalb hat sich sowohl in der Mediävistik als auch in der Frühneuzeitforschung der Plural eingebürgert, wobei man Öffentlichkeiten, und zwar deren Verbindungen untereinander, durchaus ins Auge fasst, aber gleichzeitig anerkennt, dass es sich um teilweise sehr distinkte Einheiten mit ihren jeweils eigenen Kommunikationsformen handelt. Eine Frage, von der ich mir überlegt hatte, ob ich sie in meinem Vortrag ansprechen soll oder nicht, ist die, ob man für die Erklärung des Strukturwandels von Öffentlichkeit in der Moderne eventuell mit einem Ansatz, den Luhmann vorgeschlagen hat, weiterkommt. Das ist eine Sicht auf Öffentlichkeit, die von der Durchsetzung funktionaler Differenzierung von Gesellschaften her argumentiert. Wenn man Öffentlichkeit mit Luhmann rein formal als Kommunikationsprozesse untersucht, dann ergibt sich die Frage, ob ständisch limitierte Öffentlichkeiten durch die Öffentlichkeiten von Funktionssystemen abgelöst werden, wobei es dann im Hintergrund noch einmal eine umfassende Öffentlichkeit gibt? Man kann das an der Wissenschaft, aber auch an der Politik, also an den verschiedenen Luhmann’schen Funktionssystemen zeigen, die sich als in sich relativ geschlossene Kommunikationssysteme beschreiben lassen, die von sich aus alle nicht dazugehörigen Kommunikationsakte als irrelevant ausgrenzen. Das ist vielleicht ein ganz interessanter Ansatz, wie man das Problem der multiplen Öffentlichkeiten in der Moderne in den Griff bekommen kann. Thier: Vielen herzlichen Dank, Herr Dilcher. Ich würde gerne auf einen Punkt zurückgreifen, der für Herrn Brauneder eine Art basso continuo gewesen ist. Stichwort

Schlussdiskussion

199

„Publizität“ und „Öffentlichkeit“, um davon ausgehend auf ein Phänomen hinzuweisen, das mir sehr stark deutlich geworden ist auf dieser Tagung: Es geht mir um das Oszillieren von Öffentlichkeit zwischen einerseits Normativität – das geht dann in den Bereich der Publizität – und Öffentlichkeit vor allem im frühen Mittelalter, wo die Öffentlichkeit ganz entscheidend ist, um normative Verbindlichkeit zu schaffen. Denken wir an die Rituale, wo es ganz entscheidend ist, dass Rituale sich in der Öffentlichkeit vollziehen, damit Publizität entsteht und damit auch normative Verbindlichkeit eintritt. Dann – wenn ich jetzt versuche den Kreis zu schließen – der Beitrag von Herrn Vorländer1, bei dem wir gesehen haben, wie in der Moderne Öffentlichkeit dazu benutzt wird, gewissermaßen Normativität zu verstärken oder zu implementieren. So habe ich das wahrgenommen. Im Verfassungsbild werden Normativitätsansprüche, in der Sakralisierung werden neue Schichten von Normativität angesprochen, aber es wird letztlich auf bereits bestehende, von anderer Quelle, vom Verfassungsgeber herkommende Normativität verwiesen und sie wird verstärkt. Auf dieses Oszillieren oder meinetwegen auch Verändern der Funktion von Öffentlichkeit würde ich gerne noch hingewiesen haben. Arlinghaus: Vielen Dank, Herr Dilcher. Diese aufzeichnende Funktion, das ist glaube ich bisher etwas unterbelichtet gewesen während der Tagung. Dass man schaut, welche Funktionen hat eigentlich Öffentlichkeit, das ist ein weiterführender Gedanke, an dem man konzeptionell sehr viel entwickeln kann. Vielleicht darf ich auf einen Punkt verweisen: die Legitimitätsressource Öffentlichkeit. Wenn man die Moderne als funktional differenzierte Form der Gesellschaft beschreibt, dann gewinnt die Legitimität innerhalb des politischen Systems stark institutionalisierte Verfahrensformen, also Wahlen oder Ähnliches. Während, und das weiß ich jetzt nicht, das müssen mir die Juristen sagen, mein Eindruck doch ist, dass die Öffentlichkeit in der Moderne doch stärker hinübergleitet in eine Kontrollfunktion, die Legitimität doch primär durch diese Verfahren generiert wird. In der Vormoderne hätten wir dann eine andere Differenzierungsform vorliegen. Das ist glaube ich in Ihrem Vortrag, Herr Dilcher, mit den tribalen Differenzierungen, aber auch bei den Dingen, die Herr Althoff mit seinen familiären bzw. genossenschaftlichen Elementen hier angesprochen hat, deutlich geworden. Und da spielt Legitimität, weil hier die ,Öffentlichkeit‘ mitentscheidet, noch einmal eine andere Rolle. Die Frage wäre: Inwieweit wäre für die Moderne Öffentlichkeit tatsächlich eine Legitimitätsressource oder inwieweit sie eine imaginierte Kontrollressource darstellt, gerade auch beim Gericht. Man beobachtet, da wird nicht gemauschelt, was sicher auch Legitimität schafft. In der Vormoderne verschiebt sich der Regler Richtung Legitimitätsressource, weil zumindest die Fiktion besteht, dass da das Publikum unmittelbar mitentscheidet. Brand: Ganz kurz: Die Kontinuität ist doch gegeben zwischen Herrn Dilcher und Herrn Vorländer. Der amerikanische Präsident schwört immer unter freiem Himmel. Er schwört nie im Capitol. Und Herr Dilcher, ich würde das gerne nochmal ergänzen. Das Wort „tagen“ hängt auch damit zusammen, dass man eben keine Räume hatte, in 1

Dieser Beitrag ist im vorliegenden Band nicht enthalten.

200

Schlussdiskussion

denen man sich versammeln konnte, dies konnte nur bei Tag geschehen. Und deswegen war der Begriff, den man in der DDR benutzt hat, „Volkskammer“, so verräterisch. Die Gerichtslaube war ja so ausgestaltet, dass man sich vor Regen schützte und dass man gleichzeitig die Öffentlichkeit miteinbezog, dagegen steht die abgeschottete „Kammer“ immer für obrigkeitliche Macht: „Volkskammer“ oder „Kammersänger“. Die amerikanische Tradition ist eben anders als die englische. Die englische Königin sitzt auch unter Dach und Fach, wenn sie dann die Rede, die ihr vorgezeichnet ist, verliest. Aber der amerikanische Präsident ist draußen auf der Terrasse. Und das Volk, der „Umstand“ sozusagen, ist dabei und „tagt“. Schilling: Das ist ein wichtiger Aspekt: Die Vorstellung, die Symbolisierung von Transparenz, um jeglichen Verdacht der Abschließung von vornherein auszuräumen. Grothe: Wenn wir von Kontinuitäten in der Verfassungsgeschichte sprechen, dann ist uns völlig klar, dass man selbstverständlich auch die Brüche in den Blick nehmen sollte. Worüber wir kontinuierlich geredet haben, wird gewöhnlich mit dem Begriff der Verfassungspraxis belegt. Hier zeigen sich Kontinuitäten viel eher als abrupte Brüche. Früher hatte man immer folgendes Bild: Verfassung war zum einen normative Ordnung und zum anderen Verfassungswirklichkeit, also die praktische Umsetzung der Verfassung. Und worüber wir gesprochen haben, angefangen von den Referaten über das frühe Mittelalter bis hin zu dem, was Herr Vorländer uns gezeigt hat, ist doch die Tatsache, dass die Norm im Außenbild der Verfassungsgeschichte immer sehr stark dominiert. Wenn man über Verfassungsgeschichte vorträgt, dann sagen die Studenten häufig: Das ist völlig trocken, da geht es nur um Verfassungs- und Gesetzestexte. In Wirklichkeit reden wir gerade auch in diesem Kreis immer stärker über die Umsetzung, die Aneignung der Verfassung und alles das, was die Verfassungspraxis, das Handeln „in Verfassung“ ausmacht. Und das ist auch das Spannende und über die Norm Hinausweisende, dass man sich anschaut: Worin besteht eigentlich die Verfassungspraxis? Das können Rituale oder Diskurse sein, und das kann die Darstellung der Verfassung in der Öffentlichkeit sein. Um das Ganze abzuschließen: Gerade heute ist es wichtig, wie wir eine Verfassung, also in Deutschland unser Grundgesetz, erfahrbar machen können. Dies ist möglich durch die Verfassungspraxis, die sich im Handeln verschiedener Staatsorgane zeigt, aber auch in dem, wie sich die Bevölkerung zur Verfassung verhält, in dem wir Verfassung leben und gestalten. Dieses Verfassungspraktische wird vor allem von den Politikern derzeit immer wieder betont, und es wird gefordert, dass wir die Verfassung greifbar und anschaulich machen und darauf immer wieder zu sprechen kommen, um sie dynamisch weiterzuentwickeln. Ich glaube, das ist der Beitrag und der Auftrag der Vereinigung für Verfassungsgeschichte, durch eine öffentlichkeitswirksame wissenschaftliche Darstellung diesen Aspekt in die Debatte hineinzutragen und zu verstärken. Insofern finde ich die Idee von Herrn Vorländer und Herrn Lepsius ganz spannend, wie man Verfassungspraxis darstellen kann – ob über das Internet oder vielleicht auch in einem Museum. Darauf kommt es heutzutage mehr denn je an.

Schlussdiskussion

201

Schilling: Ich denke, die Frage nach den Orten, an denen jeweils die Verfassung festgemacht werden kann, ist von zentraler Bedeutung. Dabei leuchtet ein, dass dies im Falle unserer föderalen Verfassungstradition nicht so selbstverständlich und sinnfällig erfolgen kann wie in Paris oder in Washington, wo die Orte von vornherein vorgegeben sind. In der Bundesrepublik erfolgen die Feiern am 3. Oktober jeweils an wechselnden Orten, die sich entsprechend weniger einprägen. Ein Grundgesetzzentrum müsste man dann freilich schon irgendwo allozieren. Das würde mit Sicherheit ein interessanter Aushandlungsprozess. Hillgruber: Ich denke, wir haben sehr viel über den Begriff der Öffentlichkeit nachgedacht. Wir haben auch, aber eher kursorisch, über Gegenbegriffe nachgedacht. Privatheit, aber auch die Sphäre des Geheimnisses. Das kam allerdings aufgrund des Umstands, dass ein Referent ausgefallen ist, etwas zu kurz. Es kam aber auch ein Stück weit in der Diskussion und in Ihrem Vortrag, Herr Vorländer, zum Vorschein, dass wir bei aller Betonung der Öffentlichkeit und ihrer Funktionen, Legitimation und Kontrolle, auch die Sphäre des Geheimnisses oder des Geheimnisvollen, nicht vernachlässigen dürfen, von der ebenfalls Legitimation ausgeht. Bei dem Verfassungsgericht, wir haben das ja gerade besprochen, sind die roten Roben im Grunde eine Institution, die das Publikum ja überhaupt nicht versteht. Es versteht nicht, was da passiert, wenn der Urteilstenor vorgelesen und auch im Fernsehen übertragen wird. Kaum einer versteht es, selbst Politiker missverstehen nicht selten die Entscheidung, wenn sie nur den Tenor zur Kenntnis nehmen. Trotzdem, oder gar gerade deshalb, das wäre die These, hat die Institution einen Nimbus, genießt sie ein Ansehen wie keine der Institutionen, die sich selbst der Transparenz verschrieben haben. Es stellt sich daher die Frage, ob sich Transparenz nicht selbst delegitimiert, weil sozusagen der Vorhang auf ist und man sieht, wie Politik stattfindet, was sich da tatsächlich abspielt. Wenn man das nicht so genau weiß, ist das vielleicht viel besser. Das könnte die Erklärung sein. Jedenfalls sollten wir das als Gegenbild zur Öffentlichkeit nicht aus den Augen verlieren und noch einmal sehr genau analysieren, was auch das Geheimnis beiträgt zu den Dingen, die uns hier umgetrieben haben, namentlich, ob nicht auch darin eine Legitimationsressource liegt. Das wäre jedenfalls auch ein schönes Thema: Arcana imperi. Ich will vielleicht noch eine halbscherzhafte Bemerkung machen: Als ich Ihr Referat hörte, Herr Dilcher, und Sie sagten, wir sind im frühen Mittelalter in der Phase der Oralität und des Tribalismus, da habe ich mich gefragt, ob wir mit der gegenwärtigen Phase der nächsten Völkerwanderung auch insoweit wieder dort angekommen sind. Mit Recht wollen viele Bürger wissen, was sich da im Innenministerium oder im Kanzleramt abgespielt hat bei der Entscheidung über die Öffnung der Grenzen. Mittlerweile hat ja das Innenministerium klargestellt: Es gibt gar keine schriftliche Anordnung. Es hat offenbar nur eine mündliche Anordnung gegeben. Es sieht also fast so aus, als ob die bürokratische Herrschaft in Deutschland ein Ende gefunden hat und wir zur – angesichts des zwischenzeitlichen erreichten Fortschritts der Verschriftlichung – eher zweifelhaften – Rechtskultur der Oralität zurückgekehrt sind. Es gibt eben vielleicht noch ganz andere Kontinuitäten oder Umbrüche, die uns in andere Sphären verset-

202

Schlussdiskussion

zen. Herr Vorländer, Sie haben gesagt: Es herrscht Demokratie, es herrscht aber auch Zeit. Herrscht politisch – zumindest in Deutschland – nicht erstaunlich viel Kontinuität – über die Zeit hinweg? Dabei könnte man sich auch wieder fragen, ob nicht auch dies legitimationsstiftend wirkt. Also da sind noch viele offene Fragen, die man auch in den Blick nehmen könnte und sollte. Schilling: Bevor wir ins Geschichtsphilosophische abgleiten, möchte ich auf die Zeit verweisen. Die Zeit, die allerdings in der Tat ein interessanter Faktor ist mit Blick auf die Wirkung von Verfassung, die Legitimität von Dauer. Mit Sicherheit ist keine Öffentlichkeit ohne irgendeinen Gegenbegriff möglich. Wenn wir vom Sakralen gesprochen haben, haben wir ja auch von einer Dimension gesprochen, die sich bestimmten Transparenzvorstellungen eindeutig entzieht. Die Sakralität einer Verfassung oder die Versuche einer Sakralisierung zielen darauf, ihr eine Aura zu geben, die gerade nicht durch Transparenz gekennzeichnet ist. Jetzt haben wir zeitlich einen Horizont erreicht, in dem ich gehalten wäre, die Diskussion abzuschließen, obwohl ich den Eindruck habe, wir hätten Vieles noch sagen sollen und können. Aber das ist vielleicht am Ende einer solchen Tagung nicht das schlechteste Fazit. Wenn Fragen eröffnet und Fragen gestellt werden, ist das allemal besser, als wenn letzte Antworten gegeben werden. Die wollen wir nicht, die haben wir nicht – insofern mögen wir alle glücklich sein. Ich wünsche Ihnen jetzt schon eine gute Heimreise und danke Ihnen ganz herzlich für Ihre rege Mitdiskussion.

Verzeichnis der Redner Althoff:

24 ff., 69 f., 75 f., 98

Arlinghaus:

26 f., 68 f., 103 f., 199

Barmeyer-Hartlieb: 27, 193 Brand:

70, 199 f.

Brauneder:

29, 66, 74, 105 f., 157 f., 184 ff., 192

Dilcher:

66 ff., 195 ff.

Gestrich:

94 ff., 156, 184, 198

Grothe:

96, 182 f., 187, 200

Hillgruber:

67 f., 192, 201 f.

O. Lepsius:

75 f., 187 f., 190

S. Lepsius:

28, 96 f.

Manca:

71 f., 181 ff.

Mußgnug:

158 f.

Polley:

151 f.

Ruppert:

23, 67, 99 f., 192 f.

Schennach:

74, 102, 151 ff.

Schilling:

23 f., 94 ff., 150, 182, 198, 200 ff.

Schmidt:

25, 72, 94, 96, 108

Schönberger:

66 f., 105, 157, 160, 180 ff.

Simon:

154 f.

Steiger:

26, 107 f., 186 f., 191 f.

Thier:

23 ff., 66 ff., 106 f., 150, 190 f., 198 f.

Wahl:

72 f., 180 f.

Westphal:

26, 100 f., 108, 153

Vereinigung für Verfassungsgeschichte Satzung §1 1) Die Vereinigung für Verfassungsgeschichte stellt sich die Aufgabe: a) Wissenschaftliche Fragen aus der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, durch Referate und Aussprache in Versammlungen ihrer Mitglieder zu klären; b) Forschungen in diesem Bereich zu fördern; c) auf die ausreichende Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte im Hochschulunterricht sowie bei staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken. 2) Sie verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung in ihrer jeweils gültigen Fassung. 3) Sitz der Vereinigung ist Frankfurt am Main.

§2 Gründungsmitglieder der Vereinigung sind diejenigen Personen, die zur Gründungsversammlung am 4. 10. 1977 in Hofgeismar eingeladen worden sind und schriftlich ihren Beitritt erklärt haben.

§3 1) Mitglied der Vereinigung kann werden, wer a) auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, seine Befähigung zu selbständiger Forschung durch entsprechende wissenschaftliche Veröffentlichungen nachgewiesen hat und b) an einer Universität bzw. gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschule oder Hochschuleinrichtung als selbständiger Forscher und Lehrer, an einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut als selbständiger Forscher oder im Archivdienst tätig ist. 2) Das Aufnahmeverfahren wird durch schriftlichen Vorschlag von drei Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Ist der Vorstand einstimmig der Auffassung, dass die Voraussetzungen für den Erwerb der Mitgliedschaft erfüllt sind, so verständigt er in einem Rundschreiben die Mitglieder von seiner Absicht, dem Vorgeschlagenen die Mitgliedschaft anzutragen. Erheben mindestens fünf Mitglieder binnen Monatsfrist gegen die Absicht des Vorstandes Einspruch oder beantragen sie mündliche Erörterung, so beschließt die Mitgliederversamm-

206

Vereinigung für Verfassungsgeschichte – Satzung

lung über die Aufnahme. Die Mitgliederversammlung beschließt ferner, wenn sich im Vorstand Zweifel erheben, ob die Voraussetzungen der Mitgliedschaft erfüllt sind. 3) In besonders begründeten Ausnahmefällen kann Mitglied der Vereinigung auch werden, wer die Voraussetzungen nach Abs. 1 lit. b nicht erfüllt. In diesem Falle wird das Aufnahmeverfahren durch näher begründeten schriftlichen Vorschlag von fünf Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Über die Aufnahme entscheidet nach Stellungnahme des Vorstandes die Mitgliederversammlung mit 2/3-Mehrheit der anwesenden Mitglieder.

§4 Die ordentliche Mitgliederversammlung soll regelmäßig alle zwei Jahre an einem vom Vorstand bestimmten Ort zusammentreten. In dringenden Fällen können außerordentliche Versammlungen einberufen werden. Auf Verlangen von 1/3 der Mitglieder ist der Vorstand verpflichtet, eine außerordentliche Mitgliederversammlung unverzüglich einzuberufen. Auf jeder ordentlichen Mitgliederversammlung muss mindestens ein wissenschaftlicher Vortrag mit anschließender Aussprache gehalten werden.

§5 Der Vorstand der Vereinigung besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Stellvertretern. Die Vorstandsmitglieder teilen die Geschäfte untereinander nach eigenem Ermessen. Der Vorstand wird am Schluss jeder ordentlichen Mitgliederversammlung neu gewählt; einmalige Wiederwahl ist zulässig. Der alte Vorstand bleibt bis zur Wahl eines neuen Vorstandes im Amt. Zur Vorbereitung der Mitgliederversammlung kann sich der Vorstand durch Zuwahl anderer Mitglieder verstärken. Auch ist Selbstergänzung zulässig, wenn ein Mitglied des Vorstandes in der Zeit zwischen zwei Mitgliederversammlungen ausscheidet.

§6 Der Beirat der Vereinigung besteht aus fünf Mitgliedern; die Mitgliederzahl kann erhöht werden. Der Beirat berät den Vorstand bei der Festlegung der Tagungsthemen und der Auswahl der Referenten. Die Mitglieder des Beirats werden von der Mitgliederversammlung auf vier Jahre gewählt.

§7 Zur Vorbereitung ihrer Beratungen kann die Mitgliederversammlung, in eiligen Fällen auch der Vorstand, besondere Ausschüsse bestellen.

§8 Zu Eingaben in den Fällen des § 1 Ziff. 2 und 3 und über öffentliche Kundgebungen kann nach Vorbereitung durch den Vorstand oder einen Ausschuss auch im Wege schriftlicher Ab-

Vereinigung für Verfassungsgeschichte – Satzung

207

stimmung der Mitglieder beschlossen werden. Ein solcher Beschluss bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder; die Namen der Zustimmenden müssen unter das Schriftstück gesetzt werden.

§9 Der Mitgliedsbeitrag wird von der Mitgliederversammlung festgesetzt. Der Vorstand kann den Beitrag aus Billigkeitsgründen erlassen.

Verzeichnis der Mitglieder (Stand 24. Februar 2020) Vorstand 1. Gosewinkel, Dr. Dieter, Professor, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Reichpietschufer 50, D 10785 Berlin, [email protected], [email protected] 2. Lepsius, LL. M., Dr. Oliver, Professor, Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected] 3. Oestmann, Dr. Peter, Professor, Universität Münster, Institut für Rechtsgeschichte, Universitätsstrasse 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected]

Beirat 1. Arlinghaus, Dr. Franz-Josef, Professor, Gustav-Adolf-Straße 17, D 33615 Bielefeld, [email protected] 2. Asch, Dr. Ronald G., Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Werthmannplatz, KG IV, D 79085 Freiburg, [email protected] 3. Hausmann, Dr. Jost, Oberarchivrat, Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Fasanenweg 28, D 56179 Vallendar, [email protected], [email protected] 4. Kannowski, Dr. Bernd, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Universitätsstraße 30, D 95447 Bayreuth, [email protected], [email protected] 5. Polley, Professor Dr. Rainer, Archivdirektor, Archivschule Marburg, Bismarckstraße 32, D 35037 Marburg, [email protected] 6. Simon, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected]

210

Verzeichnis der Mitglieder

Mitglieder 1.

Althoff, Dr. Gerd, Professor, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20 – 22, D 48143 Münster, [email protected]

2.

Amend-Traut, Dr. Anja, Professor, Universität Würzburg, Lehrstuhl für Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Bürgerliches Recht, Domerschulstraße 16, D 97070 Würzburg, [email protected]

3.

Arlinghaus, Dr. Franz-Josef, Professor, Gustav-Adolf-Straße 17, D 33615 Bielefeld, [email protected]

4.

Asch, Dr. Ronald G., Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Werthmannplatz, KG IV, D 79085 Freiburg, [email protected]

5.

Asche M.A., Dr. Matthias, Professor, An der Wublitz 27, D 14542 Werder (Havel) OT Töplitz-Leest, [email protected]

6.

Badura, Dr. Peter, Professor, Am Rothenberg Süd 4, D 82431 Kochel, [email protected]

7.

Barmeyer-Hartlieb, Dr. Heide, Professor, Auf den Bohnenkämpen 6, D 32756 Detmold, [email protected]

8.

Battenberg, Dr. J. Friedrich, Professor, Hessische Historische Kommission, Karolinenplatz 3, D 64289 Darmstadt, [email protected]

9.

Baumgart, Dr. Peter, Professor, Frankenstraße 176, D 97078 Würzburg, [email protected]

10.

Becht, Dr. Hans-Peter, Professor, Universität Stuttgart, Historisches Institut, Neuere Geschichte, Keplerstraße 17, D 70174 Stuttgart, [email protected], [email protected]

11.

Becker, Dr. Hans-Jürgen, Professor, Karl-Fischer-Weg 2, D 93051 Regensburg, [email protected]

12.

Birtsch, Dr. Günter, Professor, Bachwies 16, D 54296 Trier/Filsch, [email protected]

13.

Blockmans, Dr. Wim, Professor, Rijksuniversiteit te Leiden, Postbus 9515, NL 2300 Leiden, [email protected]

14.

Boldt, Dr. Hans, Professor, Krafftgasse 1, D 79379 Müllheim, [email protected]

15.

Borck, Dr. Heinz-Günther, Professor, Karthäuserhofweg 22, D 56075 Koblenz, [email protected]

16.

Brand, Dr. Jürgen, Professor, Schragen 20, D 40822 Mettmann, [email protected]

Verzeichnis der Mitglieder

211

17.

Brandt, Dr. Harm-Hinrich, Professor, Sonnenrain 10, D 97234 Reichenberg, [email protected]

18.

Brandt, Dr. Peter, Professor, FernUniversität in Hagen, Dimitris-Tsatsos-Institut für Europäische Verfassungswissenschaften, D 58084 Hagen [email protected]

19.

Brauneder, Dr. DDr. h. c. Wilhelm, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected]

20.

Bulst, Dr. Neithard, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Universitätsstraße 25, D 33615 Bielefeld, [email protected]

21.

Burgdorf, Dr. Wolfgang, Professor, Ludwig-Maximilians-Universität München, Historisches Seminar, Geschwister-Scholl-Platz 1, D 80539 München, [email protected]

22.

Burkhardt, Dr. Johannes, Professor, Universität Augsburg, Philosophische Fakultät II, Universitätsstraße 10, D 86135 Augsburg, [email protected]

23.

Buschmann, Dr. Arno, Professor, Universität Salzburg, Institut für europäische und vergleichende Rechtsgeschichte, Churfürststraße 1, A 5020 Salzburg, [email protected]

24.

Butzer, Dr. Hermann, Professor, Moltkestraße 4, D 30989 Gehrden, [email protected]

25.

Cancik, Dr. Pascale, Professor, Universität Osnabrück, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Martinistraße 12, D 49069 Osnabrück, [email protected], [email protected]

26.

Carl, Dr. Horst, Professor, Universität Gießen, FB 04 Historisches Institut, Neuere Geschichte II, Otto-Behaghel-Straße 10/C1, D 35394 Gießen, [email protected]

27.

Chittolini, Dr. Giorgio, Professor, Via Cabrini Madre 7, I 20122 Milano, [email protected]

28.

Collin, Dr. Peter, Dozent, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hansaallee 41, D 60323 Frankfurt/Main, [email protected]

29.

Cordes, Dr. Albrecht, Professor, J. W. Goethe-Universität Frankfurt, Fachbereich Rechtswissenschaft, Institut für Rechtsgeschichte, Theodor-W.-Adorno Platz 4, D 60629 Frankfurt/Main, [email protected]

30.

Dilcher, Dr. Gerhard, Professor, Kuckucksweg 18, D 61462 Königstein/Taunus, [email protected]

31.

Dippel, Dr. Horst, Professor, Glosterstraße 5, D 21735 Jork, [email protected]

212

Verzeichnis der Mitglieder

32.

Dreier, Dr. Horst, Professor, Lehrstuhl für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht, Domerschulstraße 16, D 97070 Würzburg, [email protected]

33.

Eisenhardt, Dr. Ulrich, Professor, Tückingschulstraße 39 E, D 58135 Hagen

34.

Enders, Dr. Christoph, Professor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staats- und Verfassungslehre, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 21, D 04109 Leipzig, [email protected]

35.

Fenske, Dr. Hans, Professor, Kardinal-Wendel-Straße 45, D 67346 Speyer

36.

Fioravanti, Dr. Maurizio, Professor, Università degli Studi di Firenze, Facoltà di Giurisprudenza, Dipartimento di Scienze Giuridiche, Via delle Pandette 32, I 50127 Firenze, [email protected], [email protected]

37.

Friedeburg, Dr. Robert von, Bishop Grosseteste Universität, Longdales Road, Lincoln LN1 3DY, Lincolnshire, England, [email protected]

38.

Fröschl, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Geschichte, Universitätsring 1, A 1010 Wien, [email protected]

39.

Frotscher, Dr. Werner, Professor, Universität Marburg, Fachbereich Rechtswissenschaft, Institut für Öffentliches Recht, Universitätsstraße 6, D 35032 Marburg, [email protected]

40.

Gaillet, Dr. Aurore, Professor, Universität Toulouse 1 Capitole, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, 30 avenue Emile Dewoitine, F 31200 Toulouse, [email protected]

41.

Gall, Dr. Lothar, Professor, Universität Frankfurt, Historisches Seminar FB 8, Grüneburgplatz 1, D 60323 Frankfurt/Main, [email protected]

42.

Gerber, Dr. Stefan, Dozent, Universität Jena, Historisches Institut, Forschungsstelle für Neuere Regionalgeschichte Thüringens, Fürstengraben 13, D 07743 Jena, [email protected]

43.

Gosewinkel, Dr. Dieter, Professor, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Reichpietschufer 50, D 10785 Berlin, [email protected], [email protected]

44.

Gotthard, Dr. Axel, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Departement für Geschichte, Kochstraße 4, D 91054 Erlangen, [email protected]

45.

Grimm, Dr. DDr. h. c. Dieter, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Unter den Linden 11, D 10117 Berlin, [email protected]

46.

Grothe, Dr. Ewald, Professor, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Archiv des Liberalismus, Theodor-Heuss-Straße 26, D 51645 Gummersbach, [email protected], [email protected]

Verzeichnis der Mitglieder

213

47.

Grypa, Dr. Dietmar, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Professur für Neuere und Neueste Geschichte, Bayerische Landesgeschichte, Am Hubland, D 97074 Würzburg, [email protected]

48.

Gusy, Dr. Christoph, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte, Universitätsstraße 25, D 33615 Bielefeld, [email protected]

49.

Hahn, Dr. Hans Henning, Professor, Universität Oldenburg, Institut für Geschichte, Postfach 2503, D 26111 Oldenburg, [email protected], [email protected]

50.

Hahn, Dr. Hans-Werner, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, D 07743 Jena, [email protected], [email protected]

51.

Hamza, Dr. Gabor, Professor, ELTE, Római Jogi Tanszék, Egyetem ter 1 – 3, H 1053 Budapest, [email protected]

52.

Härter, Dr. Karl, Professor, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hansaallee 41, D 60323 Frankfurt/Main, [email protected]

53.

Hartmann, Dr. Bernd J., Professor, Universität Osnabrück, Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Martinistraße 12, D 49078 Osnabrück, [email protected]

54.

Haug-Moritz, Dr. Gabriele, Professor, Universität Graz, Institut für Geschichte, Attemsgasse 8/III, A 8010 Graz, [email protected]

55.

Hausmann, Dr. Jost, Oberarchivrat, Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Fasanenweg 28, D 56179 Vallendar, [email protected], [email protected]

56.

Heyen, Dr. Erk Volkmar, Professor, Universität Greifswald, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Domstraße 20, D 17489 Greifswald, [email protected]

57.

Hille, Dr. Martin, Dozent, Universität Passau, Innstraße 25, D 94032 Passau, [email protected]

58.

Hillgruber, Dr. Christian, Professor, Universität Bonn, Institut für Öffentliches Recht, Adenauerallee 22 – 22, D 53113 Bonn, [email protected]

59.

Höbelt, Dr. Lothar, Professor, Porzellangasse 19/4, A 1090 Wien, [email protected]

60.

Hofmann, Dr. Dr. h. c. Hasso, Professor, Christoph-Mayer-Weg 5, D 97082 Würzburg, [email protected]

61.

Hoke, DDr. DDr. h. c. Rudolf, Professor, Postgasse 19, A 1010 Wien

214

Verzeichnis der Mitglieder

62.

Hufeld, Dr. Ulrich, Professor, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Holstenhofweg 85, D 22043 Hamburg, [email protected]

63.

Isenmann, Dr. Eberhard, Professor, Universität zu Köln, Historisches Seminar, AlbertusMagnus-Platz, D 50923 Köln, [email protected]

64.

Jestaedt, Dr. Matthias, Professor, Universität Freiburg, Institut für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie, Abt. 3 – Rechtstheorie, Schillerstraße 1, D 79085 Freiburg/Breisgau, [email protected], [email protected]

65.

Jouanjan, Dr. Olivier, Professor, Université de Strasbourg, Faculté de Droit, Sciences Politiques et Gestion, 11, Avenue du Maréchal Juin, B.P. 68, F 67046 Strasbourg cedex, [email protected]

66.

Kaiser, LL. M., Dr. Anna-Bettina, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, D 10099 Berlin, [email protected]

67.

Kampmann, Dr. Christoph, Professor, Philipps-Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C III, D 35032 Marburg/Lahn, [email protected]

68.

Kannowski, Dr. Bernd, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Universitätsstraße 30, D 95447 Bayreuth, [email protected], [email protected]

69.

Kempny, Dr. Simon, Professor, Universität Bielefeld, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Steuerrecht, Universitätsstraße 25, D 33615 Bielefeld, [email protected]

70.

Kern, Dr. Bernd-Rüdiger, Professor, Universität Leipzig, Juristenfakultät, Burgstraße 27, D 04109 Leipzig, [email protected], [email protected]

71.

Kersten, Dr. Jens, Professor, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Politik und Öffentliches Recht, Professor-Huber-Platz 2, D 80539 München, [email protected]

72.

Kleinheyer, Dr. Gerd, Professor, Universität Bonn, Fachbereich Rechtswissenschaft, Adenauerallee 24 – 42, D 53113 Bonn

73.

Kley, Dr. Andreas, Professor, Universität Zürich, Rechtswissenschaftliches Institut, Rämistrasse 74/34, CH 8001 Zürich, [email protected]

74.

Klippel, Dr. Diethelm, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Universitätsstraße 30, D 95440 Bayreuth, [email protected]

75.

Kohl, Dr. Gerald, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected]

Verzeichnis der Mitglieder

215

76.

Kohler, Dr. Alfred, Professor, Universität Wien, Institut für Geschichte, Dr. Karl-LuegerRing 1, A 1010 Wien, [email protected]

77.

Kotulla, M.A., Dr. Michael, Professor, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, D 33615 Bielefeld, [email protected], [email protected]

78.

Knorring, Dr. Marc von, Dozent, Universität Passau, Philosophische Fakultät, Neuere und Neueste Geschichte, Innstraße 25, D 94032 Passau, [email protected]

79.

Kraus, Dr. Hans-Christof, Professor, Universität Passau, Philosophische Fakultät, Neuere und Neueste Geschichte, Innstraße 25, D 94032 Passau, [email protected]

80.

Kroeschell, Dr. Dr. h. c. Karl, Professor, Fürstenbergstraße 24, D 79102 Freiburg/Breisgau

81.

Krüper, Dr. Julian, Professor, Ruhr-Universität Bochum, Juristische Fakultät, Universitätsstraße 150, D 44801 Bochum, [email protected]

82.

Kühne, Dr. Jörg-Detlef, Professor, Universität Hannover, Juristische Fakultät, Königswortherplatz 1, D 30167 Hannover, [email protected], [email protected]

83.

Lanzinner, Dr. Maximilian, Professor, Heinbogenstrasse 2a, D 85356 Freising, [email protected]

84.

Leonhard, Dr. Jörn, Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Rempartstraße 15 – KG IV, D 79085 Freiburg, [email protected]

85.

Lepsius, LL. M., Dr. Oliver, Professor, Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected]

86.

Lepsius, Dr. Susanne, Professor, Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Gelehrtes Recht, Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht, Professor-Huber-Platz 2, D 80539 München, [email protected]

87.

Liebrecht, Dr. Johannes, Professor, Universität Zürich, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Rämistrasse 74/2, CH 8001 Zürich, [email protected]

88.

Lingelbach, Dr. Gerhard, Professor, Universität Jena, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Carl-Zeiß-Straße 3, D 07743 Jena, [email protected]

89.

Löffler, Dr. Bernhard, Professor, Universität Regensburg, Institut für Geschichte, Lehrstuhl für Bayerische Landesgeschichte, Universitätsstraße 31, D 930453 Regensburg, [email protected]

216

Verzeichnis der Mitglieder

90.

Lück, Dr. Heiner, Professor, Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät, Universitätsring 4, D 06108 Halle (Saale), [email protected]

91.

Lundgreen, Dr. Christoph, Professor, Technische Universität Dresden, Bürohaus Zellescher Weg 17, D 01062 Dresden, [email protected]

92.

Luntowski, Dr. Gustav, Professor, Am Hiddelk 2, D 34519 Diemelsee

93.

Manca, Dr. Anna Gianna, Professor, Università degli Studi di Trento, Dipartimento di Filosofia, Storia e Beni Culturali, Via Santa Croce 65, I 38100 Trento, [email protected]

94.

Marquardt, Dr. Bernd, Professor, Calle 128b, No. 72 – 80, casa 3, Bogotá D.C., Colombia, [email protected]

95.

Masing, Dr. Johannes, Professor, Universität Freiburg, Institut für Öffentliches Recht V, Platz der Alten Synagoge 1, D 79085 Freiburg, [email protected]

96.

Meinel, Dr. Florian, Professor, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Domerschulstraße 16, D 97070 Würzburg, [email protected]

97.

Menk, Dr. Gerhard, Archivoberrat, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Friedrichstraße 15, D 35037 Marburg, [email protected], [email protected]

98.

Modeer, Dr. Kjell A., Professor, Universität Lund, Juridicum, SE 22105 Lund 1, [email protected]

99.

Mohnhaupt, Dr. Heinz, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hansaallee 41, D 60323 Frankfurt/Main, [email protected]

100. Möllers, Dr. Christoph, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Unter den Linden 6, D 10099 Berlin, [email protected] 101. Mußgnug, Dr. Reinhard, Professor, Keplerstraße 40, D 69120 Heidelberg, [email protected] 102. Müßig, Dr. Ulrike, Professor, Universität Passau, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht sowie Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Juridicum, Innstraße 39, D 94032 Passau, [email protected] 103. Murk, Dr. Karl, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Friedrichstraße 15, D 35037 Marburg 104. Neitmann, Dr. Klaus, Professor, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Zum Windmühlenberg, D 14469 Potsdam, OT Bornim, [email protected] 105. Neschwara, Dr. Christian, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected]

Verzeichnis der Mitglieder

217

106. Neugebauer, Dr. Wolfgang, Professor, Humboldt-Universität Berlin, Philosophische Fakultät I, Institut für Geschichtswissenschaften., Geschichte für Preußen, Unter den Linden 6, D 10099 Berlin, [email protected] 107. Neuhaus, Dr. Helmut, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Neuere Geschichte I, Fichtestraße 46, D 91054 Erlangen, [email protected] 108. Nilsén, Dr. Per, Professor, Lund University, Faculty of Law, Box 207, SE 221 00 Lund, [email protected] 109. Oestmann, Dr. Peter, Professor, Universität Münster, Institut für Rechtsgeschichte, Universitätsstrasse 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected] 110. Olechowski, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected] 111. Pahlow, Dr. Louis, Professor, Universität Frankfurt, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Rechtsgeschichte, Zivilrecht und Gewerblicher Rechtsschutz, Campus Westend, Grüneburgplatz 1, D 60323 Frankfurt/Main, [email protected], [email protected] 112. Pape, Dr. Matthias, Dozent, RWTH Aachen, Historisches Institut, Theaterplatz 14, D 52056 Aachen, [email protected], [email protected] 113. Pauly, Dr. Walter, Professor, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie, Carl-Zeiß-Straße 3, D 07743 Jena, [email protected] 114. Pelizaeus, Dr. Ludolf, Professor, Université Jules Verne Picardie, UFR de Langues et Cultures étrangères, Rue des Francais libres, F 80080 Amiens Cedex, [email protected], [email protected] 115. Peterson, Dr. Claes, Professor, Stockholms universitet, Juridiska institutionen, Universitetsvägen 10c, Södra huset, Frescati, S 10691 Stockholm, [email protected] 116. Pieroth, Dr. Bodo, Professor, Universität Münster, Institut für Öffentliches Recht und Politik, Universitätsstraße 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected] 117. Polley, Professor Dr. Rainer, Archivdirektor, Archivschule Marburg, Bismarckstraße 32, D 35037 Marburg, [email protected] 118. Reiter-Zatloukal, Dr. Ilse, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected]

218

Verzeichnis der Mitglieder

119. Robbers, Dr. Gerhard, Professor, Universität Trier, FB V – Rechtswissenschaften, Institut für Rechtspolitik, Postfach 3825, D 54286 Trier, [email protected] 120. Rückert, Dr. Joachim, Professor, Universität Frankfurt, Lehrstuhl für Juristische Zeitgeschichte und Zivilrecht, Postfach 111932, D 60054 Frankfurt/Main, [email protected] 121. Rudersdorf, Dr. Manfred, Professor, Universität Leipzig, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Beethovenstraße 15, D 04107 Leipzig, [email protected], [email protected] 122. Ruppert, Dr. Karsten, Professor, Am Unteren Schlittberg 19, D 67354 Römerberg, [email protected] 123. Schennach, DDr. Martin P., Professor, Universität Innsbruck, Institut für Römisches Recht und Rechtsgeschichte, Innrain 52, A 6020 Innsbruck, [email protected] 124. Schenk, Dr. Tobias, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Minoritenplatz 1, A 1010 Wien, [email protected] 125. Schlegelmilch, Dr. Arthur, Professor, FernUniversität in Hagen, Institut für Geschichte und Biographie, Villa Bechem, Feithstraße 152, D 58097 Hagen, [email protected] 126. Schlinker, Dr. Steffen, Professor, Universität Würzburg, Juristische Fakultät, Domerschulstraße 16, D 97070 Würzburg, [email protected] 127. Schmidt, Dr. Georg, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, D 07743 Jena, [email protected] 128. Schmidt-De Caluwe, Dr. Reimund, Professor, Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät, Universitätsplatz 5, D 06108 Halle/Saale, [email protected] 129. Schmoeckel, Dr. Mathias, Professor, Universität Bonn, Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte, Adenauerallee 24 – 42, D 53113 Bonn, [email protected], [email protected] 130. Schneider, Dr. Reinhard, Professor, Aßmannshauser Straße 26, D 14197 Berlin 131. Schönberger, Dr. Christoph, Professor, Universität Konstanz, Fachbereich Rechtswissenschaft, Universitätsstraße 10, Fach D-110, D 78457 Konstanz, [email protected] 132. Schubert, Dr. Werner, Professor, Universität Kiel, Juristisches Seminar, Leibnizstraße 6, D 24118 Kiel, [email protected] 133. Schulte, Dr. Petra, Professor, Universität Trier, FB III, Mittelalterliche Geschichte, Olewiger Straße 171, D 54295 Trier, [email protected]

Verzeichnis der Mitglieder

219

134. Schulze, Dr. Dr. h. c. Reiner, Professor, Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected], [email protected] 135. Schütz, Dr. Rüdiger, Professor, Am Burgberg 24, D 52080 Aachen, [email protected] 136. Schwab, Dr. Dr. h. c. Dieter, Professor, Riesengebirgstraße 34, D 93057 Regensburg, [email protected] 137. Simon, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected] 138. Stauber, Mag. Dr. Reinhard, Professor, Universität Klagenfurt, Institut für Geschichte, Universitätsstraße 65 – 67, A 9020 Klagenfurt, [email protected] 139. Stickler, Dr. Matthias, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, D 97074 Würzburg, [email protected] 140. Stollberg-Rilinger, Dr. Barbara, Professor, Universität Münster, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Domplatz 20 – 22, D 48143 Münster, [email protected] 141. Stolleis, Dr. Dr. h. c. mult. Michael, Professor, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hansaallee 41, D 60323 Frankfurt/Main, [email protected] 142. Stuchtey, Dr. Benedikt, Professor, Philipps-Universität Marburg, Geschichte und Kulturwissenschaften, Neueste Geschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6, D 35032 Marburg, [email protected] 143. Takii, Kazuhiro, Professor, International Research Center for Japanese Studies, 3 – 2 Goryo Oeyama Nishikyo, Kyoto 610 – 1192, Japan, [email protected] 144. Thier, M.A., Dr. Andreas, Professor, Universität Zürich, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Rämistrasse 74/11, CH 8001 Zürich, [email protected], [email protected] 145. Vormbaum, Dr. Thomas, Professor, FernUniversität in Hagen, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 21, D 58097 Hagen, [email protected] 146. Wahl, Dr. Rainer, Professor, Hagenmattenstraße 6, D 79117 Freiburg, [email protected] 147. Waldhoff, Dr. Christian, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht, Unter den Linden 6, D 10099 Berlin, [email protected], [email protected] 148. Wall, Dr. Heinrich de, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Kirchenrecht, Staats- und Verwaltungsrecht, Hindenburgstraße 34, D 91054 Erlangen, [email protected]

220

Verzeichnis der Mitglieder

149. Walther, Dr. Helmut G., Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Mittelalterliche Geschichte, Fürstengraben 13, D 07743 Jena, [email protected] 150. Weiß, Dr. Dieter J., Professor, Ludwig-Maximilians-Universität München, Historisches Seminar, Institut für Bayerische Geschichte, Geschwister-Scholl-Platz 1, D 80539 München, [email protected] 151. Weinke, Dr. Annette, Dozent, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehrstuhl Professor Dr. Norbert Frei, Fürstengraben 13, D 07743 Jena, [email protected] 152. Westphal, Dr. Siegrid, Professor, Lürmannstraße 25, D 49076 Osnabrück, [email protected] 153. Wiederin, Dr. Ewald, Professor, Universität Wien, Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected] 154. Wienfort, Dr. Monika, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät I, Institut für Geschichtswissenschaften, Friedrichstraße 191 – 193, D 10117 Berlin, [email protected] 155. Will, LL. M., DDr. Martin, Professor, EBS Universität für Wirtschaft und Recht, Lehrstuhl für Staatsrecht, Verwaltungs-, Europarecht, Recht der neuen Technologien sowie Rechtsgeschichte, Gustav-Stresemann-Ring 3, D 65189 Wiesbaden, [email protected] 156. Willoweit, Dr. Dietmar, Professor, Unterer Dallenbergweg 11, D 97082 Würzburg, [email protected] 157. Winkelbauer, Dr. Thomas, Professor, Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Universität Wien, Universitätsring 1, A 1010 Wien, [email protected] 158. Wißmann, Dr. Hinnerk, Professor, Universität Münster, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insb. Verwaltungswissenschaften, Kultur- und Religionsverfassungsrecht, Wilmergasse 28, D 48143 Münster, [email protected] 159. Wittreck, Dr. Fabian, Professor, Universität Münster, Institut für Öffentliches Recht und Politik, Bispinghof 24/25, D 48143 Münster, [email protected] 160. Wolgast, Dr. Eike, Professor, Universität Heidelberg, Historisches Seminar, Grabengasse 3 – 5, Postfach 105760, D 69047 Heidelberg, [email protected] 161. Würtenberger, Dr. Thomas, Professor, Universität Freiburg, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Forschungsstelle für Hochschulrecht, Belfortstraße 20, D 79085 Freiburg, [email protected] 162. Wüst, Dr. Wolfgang, Professor, Beim Grönacker 34, D 90480 Nürnberg, [email protected], [email protected]