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German Pages 304 [305] Year 2021
DER STAAT ZEITSCHRIFT FÜR STAATSLEHRE UND VERFASSUNGSGESCHICHTE, DEUTSCHES UND EUROPÄISCHES ÖFFENTLICHES RECHT
Herausgegeben von Dieter Gosewinkel Oliver Lepsius Peter Oestmann
Beiheft 27
Vom Reichsbewusstsein zum Verfassungspatriotismus Zusammengehörigkeit durch Rechtsregeln
Duncker & Humblot
Vom Reichsbewusstsein zum Verfassungspatriotismus
BEIHEFTE ZU „DER STAAT“ Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht Herausgegeben von Armin von Bogdandy, Rolf Grawert, Oliver Lepsius, Christoph Möllers, Fritz Ossenbühl, Walter Pauly, Barbara Stollberg-Rilinger, Uwe Volkmann, Andreas Voßkuhle, Rainer Wahl
Heft 27
Vom Reichsbewusstsein zum Verfassungspatriotismus Zusammengehörigkeit durch Rechtsregeln Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte auf der Zeche Zollverein (Essen) vom 17. – 19. Februar 2020
Herausgegeben von Dieter Gosewinkel, Oliver Lepsius und Peter Oestmann
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Ochsenfurt-Hohestadt Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-6828 ISBN 978-3-428-18323-4 (Print) ISBN 978-3-428-58323-2 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ferdinand Kramer Vom Rechtsbewusstsein zum Verfassungspatriotismus. Zusammengehörigkeit durch Rechtsregeln. Staatsbildung durch Verfassungsgebung in Bayern . . . . . . .
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Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Monika Wienfort Staatsbildung ohne Verfassung: Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Kley und Tim Segessemann Konstitutionalisierung zwischen lokaler Macht und bündischem Anspruch: Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl Ubl Maurinus gegen die Agenten des Fiskus. Die Lex Salica in einem Prozess um Freiheit aus der Zeit Ludwigs des Frommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Claudia Garnier Zugehörigkeit(en) und rituelles Handeln: Die Stiftung der mittelalterlichen Stadtgemeinschaft durch Eide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Georg Schmidt Vaterlandsliebe und Verfassungspatriotismus im frühneuzeitlichen Deutschland 167 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Anja Amend-Traut Reichsverband als Rechtsverband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Florian Meinel „Verfassungsfeinde“. Zur Herausbildung einer politischen Formel in der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
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Inhaltsverzeichnis
Abschlussdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Verzeichnis der Redner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Vereinigung für Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Verzeichnis der Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
Vorbemerkung Zum 19. Mal erscheint die Dokumentation der seit 1977 – in der Regel alle zwei Jahre – veranstalteten Tagungen der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in der Reihe der Beihefte der Zeitschrift „Der Staat“. Dieser Band geht auf die vom 17. bis 19. Februar 2020 in der Zeche „Zollverein“ in Essen veranstaltete Tagung zum Thema „Vom Reichsbewusstsein zum Verfassungspatriotismus. Zusammengehörigkeit durch Rechtsregeln“ zurück und enthält sämtliche dort gehaltenen Vorträge, die die Autorinnen und Autoren für den Druck überarbeitet und mit Fußnoten versehen haben. Abgedruckt werden auch die Aussprachen zu den einzelnen Vorträgen. Die Tagung fand noch in unbeschwerter Präsenz und in maskenlosem wissenschaftlichen Austausch statt, bevor kurz danach die massiven Corona-Beschränkungen persönliche Begegnungen weitgehend zum Erliegen brachten. Wir danken den Autorinnen und Autoren für die gute Zusammenarbeit bei der Drucklegung dieses Bandes. Außerdem danken wir Anna Katzy-Reinshagen (Berlin) sowie Vanessa Breiholz, Martina Pohlkötter und Marianna Strauch (Münster) für ihre Mithilfe bei den redaktionellen Arbeiten zur Herstellung der Druckfassungen der mitgeschnittenen Diskussionen. Dem Herausgebergremium von „Der Staat“ ist für die Aufnahme der Dokumentationen der Tagungen der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in ihre Beihefte-Reihe ebenso vielmals Dank zu sagen wie dem Verlag Duncker & Humblot für die Drucklegung. Berlin und Münster, im Januar 2021
Dieter Gosewinkel, Oliver Lepsius, Peter Oestmann
Vom Rechtsbewusstsein zum Verfassungspatriotismus. Zusammengehörigkeit durch Rechtsregeln Staatsbildung durch Verfassungsgebung in Bayern Von Ferdinand Kramer, München
I. Einleitung Im Jahr 1824 feierte man vielerorts in Bayern das 25. Regierungsjubiläum von Max I. Joseph, seit 1799 Kurfürst von Pfalzbayern, seit 1806 König von Bayern.1 Denkmäler wurden errichtet. Feierstunden vor allem der Bürgerschaft in den Städten und Gottesdienste auch in den Dörfern sind überliefert. Thematisiert wurden dabei Herrschertugenden, das Band der Treue zwischen den Bayern und ihrem König sowie vor allem, als herausragende Tat des Fürsten, die Verfassung von 1818 und von dieser explizit die Grund- und Freiheitsrechte, die etwa in Landsberg am Lech am Hauptplatz der Stadt auf Schildern eigens ausgewiesen wurden.2 Das Herrscherjubiläum wurde so auch zu einer Verfassungsfeier.3 In zwei zeitgenössisch publizierten Bänden, gewidmet der „baierischen Nation“, wurden die vielfältigen Aktivitäten dokumentiert.4 Ein reger bayerischer Landespatriotismus erscheint vor allem auf Herrscherhaus, König und Verfassung bezogen. Auch wenn man den panegyrischen und performativen Charakter der Feiern und der entsprechenden Druckschriften nicht verkennen darf, so wird man doch als Frage davon ableiten, inwieweit die Verfassung nicht nur für das staatliche Konstrukt und das staatlich-politische Handeln, sondern auch für die bürgerschaftliche Akzeptanz des Staatsbildungspro1 Simone Mergen, Monarchiejubiläen im 19. Jahrhundert. Die Entdeckung des historischen Jubiläums für den monarchischen Kult in Sachsen und Bayern, Leipzig 2005, S. 55 – 112, 330 – 331 (Auflistung zeitgenössischer Publikationen). 2 Anton Lichtenstern, Der Konstitutionsstein im Englischen Garten, in: Landsberger Geschichtsblätter (2010), S. 60 – 63; ders., Der Konstitutionsstein im Englischen Garten in Landsberg am Lech, in: Bayernspiegel 6 (2011), S. 6 – 10. 3 Joseph von Miller, Ode zur Feier der fünf und zwanzigjährigen Regierung Seiner Königlichen Majestät von Baiern Maximilian Joseph mit Anhang einer Ode auf den allerhöchsten Regierungs-Antritt vom 16. Februar 1799 und den feierlichen Einzug in hiesige Residenz, München 1824; Denkmal auf den 16. Februar 1824 als dem frohen Tag der Jubelfeyer der 25-jährigen glorreichen Regierung Sr. Majestät des Königs Maximilian Joseph I. von Baiern, Memmingen 1825, S. 79. 4 Baiern am 16. Februar 1824. Nach offiziellen Berichten, 2 Bde., München 1824.
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zesses des neuen Bayern wenige Jahre nach dem revolutionären Umbruch in Europa von Bedeutung war? Joseph von Miller, einflussreicher Jurist in München, war als Sohn eines Müllers 1769 im Kurfürstentum Bayern des späten Barocks geboren. Über den Patronatsherren seiner Heimatpfarrei kam er an die Klosterschule nach Polling, von dort ans renommierteste Gymnasium des Landes nach München, dann an die Universität Ingolstadt, wo er 1793 im Recht promovierte. Fortan war er in München als Advokat tätig, wurde für die höchsten Gerichte des Landes zugelassen und stieg zum ProminentenAnwalt auch für den König, die Familien Thurn und Taxis, die Löwenstein oder die Wertheimer auf, nicht ohne auch Bauern aus der Nachbarschaft seines Herkunftsdorfes Walleshausen zu vertreten.5 Miller wurde nobilitiert und vom König in eine Vorberatungs-Kommission für die Erarbeitung einer neuen Gerichtsordnung berufen, wobei er sich gegen die Öffentlichkeit von Verhandlungen wandte und sehr dezidiert gegen Anselm von Feuerbach6 und Georg Ludwig Maurer7 Stellung bezog. Miller leitete seine diesbezüglichen Positionen vor allem von der Bayerischen Verfassung von 1818 ab, die er als Geschenk des Königs verstand. Sie enthalte genug demokratische Elemente, man müsse weder auf monarchische noch aristokratische eifersüchtig sein.8 Miller empfand in den 1820er Jahren sichtlich Unbehagen über den starken Einfluss und die damit verbundenen Dynamiken, die von Kräften aus den neuen bayerischen Landesteilen im öffentlichen und politischen Geschehen Bayerns ausgingen und plädierte für mehr Selbstbewusstsein der Altbaiern. Für ihn war die Verfassung nicht nur Symbol für das dem König zu verdankende neue Ansehen Bayerns in der Welt – „hoch geacht steht aufs neue, Der Baier vor der ganzen Welt“, so Miller –,sondern offensichtlich auch ein konservativ wirkender Stabilisator für Staat und Gesellschaft nach Abschluss des Staatsbildungsprozesses: „Kaum war dein Reich nun fest gegründet, und aller Wittelsbacher Werth, als die Verfassung laut verkündet, welch Völkerglück Dein Herz begehrt“, so formulierte er in einer Ode 1824.9 Demnach werden divergierende Positionen im neuen Bayern deutlich, die freilich nach dem Abschluss des Staatsbildungsprozesses mit der Verfassung zusammengehalten werden sollten, was im Folgenden zu prüfen ist.
5 Pankraz Fried, Walleshausens berühmte Söhne: Dr. Wiguläus Hundt 1514 – 1588, Dr. Joseph von Miller 1769 – 1834, in: Walter Brandmüller, Walleshausen – das kleine Polling, Weißenhorn 1985, S. 84 – 89. 6 von Miller, Kritische Beleuchtung der von Feuerbach’schen Grundsätze über Öffentlichkeit und Mündlichkeit und gleiche Gerichtsverfassung nebst Anhang über die Mittel zur Vereinfachung und Beförderung der Rechtspflege in Bayern, München 1825. 7 von Miller, Rhapsodien über des königlich-baierischen Staats-Prokurators am königlichen Bezirksgerichte in Frankenthal Herrn Georg Ludwig Maurer mit dem ersten Preise gekrönte Geschichte des altgermanischen und namentlich altbaierischen öffentlich mündlichen Gerichts-Verfahrens etc. in Hinsicht auf die Wiedereinführung desselben bei den Deutschen, München 1824. 8 von Miller (Fn. 7), S. 16. 9 von Miller (Fn. 3), S. 6.
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II. Tendenzen der Forschung Die zahlreichen Verweise auf die Verfassung beim Herrscherjubiläum 1824 beziehen sich stets auf die bayerische Konstitution von 1818, die mit der Einberufung der Ständeversammlung 1819 fortan das öffentliche Leben und die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit und des Parlamentarismus in Bayern entscheidend mitbestimmte. Blickt man dagegen in die Historiographie zu Bayern in jener Epoche, dann fällt vor allem auf, dass die Jahre 1799 und 1806 profiliert werden. Das Jahr 1799 mit dem Herrschaftsantritt Max IV. Joseph wird dabei stärker hervorgehoben als 1806, als das Land territorial erhebliche Erweiterungen erfuhr und nicht nur die später so geschätzte Königswürde, sondern auch die Souveränität erhalten hat. Die vergleichsweise scharfe, in Abgrenzung zum 18. Jahrhundert gezogene historiographische Trennlinie 1799 hat auch in der neueren Geschichtsschreibung Nachwirkungen, bzw. manche Bestätigung erfahren.10 Das liegt auch daran, dass zum einen die Forschung etwa durch Andreas Kraus und Ludwig Hammermayer mit Perspektiven auf die Aufklärung sich besonders auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts konzentrierte.11 Andererseits widmete sich vor allem Eberhard Weis mit seinen breit angelegten Forschungen den Reformen des leitenden bayerischen Staatsministers, Maximilian von Montgelas, der 1799 mit dem Herrscherwechsel in München von Kurfürst Karl Theodor zu Max III. Joseph an die Hebel der Macht gekommen ist.12 Die Kontinuitäten und Diskontinuitäten bzw. Transformationsprozesse von der zweiten Hälfte des 18. in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in Bayern wurden eher vereinzelt explizit untersucht.13 Die Eigenarten der spezifischen Konzentration auf die Reform- bzw. Staatsbildungsprozesse in Bayern in der Ministerzeit des zum Teil in Nancy und Straßburg ausgebildeten Montgelas, auch in seiner Instrumentalisierung, gleichsam als Expost-Emanzipation zu Preußen mit den Stein-Hardenbergschen-Reformen14 oder 10 Andreas Kraus, Geschichte Bayerns, 3. Aufl. München 2004; Max Spindler (Hrsg.), Handbuch der Bayerischen Geschichte, IV, 1, 1. Aufl. München 1974, 2. Aufl. hg. v. Alois Schmid, München 2003. 11 Kraus, Die historische Forschung an der Churbayerischen Akademie der Wissenschaften 1759 – 1806, München 1959; ders., Die naturwissenschaftliche Forschung an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1978; Ludwig Hammermayer, Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 2 Bde., München 1983. 12 Eberhard Weis, Montgelas. Eine Biographie 1759 – 1838, 2 Bde., München 2005. 13 Weis, Deutschland und Frankreich um 1800. Aufklärung, Revolution, Reform, München 1990; Reinhard Stauber, Der Zentralstaat an seinen Grenzen. Administrative Integration, Herrschaftswechsel und politische Kultur im südlichen Alpenraum 1750 – 1820, Göttingen 2001; Hans-Peter Ullmann, Staatsschulden und Reformpolitik, Göttingen 1986. 14 Weis, Hardenberg und Montgelas. Versuch eines Vergleichs ihrer Persönlichkeiten und ihrer Politik, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs, München 1997, S. 3 – 20; Paul Nolte, Staatsbildung und Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 1800 – 1820, Frankfurt 1990.
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nach 1945 als Beitrag zum nach Europa zugewandten Ausgleich mit Frankreich oder als Legitimation für die Staatlichkeit Bayerns in deutschen und europäischen Kontexten, außerdem für die innere staatliche Integration des regional vielfältigen Freistaates oder gar für den staatsreformerischen Anspruch in der Amtszeit von Ministerpräsident Edmund Stoiber, als Montgelas mit einem überlebensgroßen Denkmal am Münchner Promenadeplatz teilweise zum Leitbild propagiert wurde, wären eine eigene historiographische Reflexion wert, die hier nicht geleistet werden kann.15 Wichtig erscheint jedenfalls für den Kontext von „Staatsbildung durch Verfassungsgebung“ eine längere zeitliche Perspektive auch auf die Zeit vor 1799 zu eröffnen. Das gebietet schon die Biographik nicht nur des eingangs genannten „Nebendarstellers“ Joseph von Miller, sondern vor allem der maßgeblichen Akteure in diesem Staatsbildungsprozess in Bayern, die vielfach wie König Max I. Joseph, der leitende Minister Maximilian von Montgelas, der für die Verfassungsfragen besonders einflussreiche Geheime Referendär Georg Friedrich von Zentner16 und Finanzminister Johann Wilhelm von Hompesch in den 1750 und 1760er Jahren, also deutlich vor der Französischen Revolution, im Wesentlichen sozialisiert worden waren. Finanz- und später Justizminister Theodor von Morawitzky war gar 1735 zur Welt gekommen und hatte für Kurbayern, für das 1778/79 vereinigte Pfalzbayern und schließlich auch für das Königreich Bayern bis zu seinem Tod 1810 hohe Ämter bekleidet.17 Über die Biographik hinaus bietet ein Blick auf zeitgenössische Diskurse in ihren politischen Kontexten einen Ansatzpunkt, um Motive und Elemente von „Staatsbildung“ und Transformationsprozessen im Verfassungsleben zu erkennen.
III. Staatsrechtliche Grundlagen und Politik Bayern war im 18. Jahrhundert nach wie vor ein Lehen des Reichs,18 was die zeitgenössische Staatsrechtslehre in ihren Diskussionen um den Souveränitätsbegriff nicht in Zweifel zog.19 Entsprechend wird verständlich, dass beim Frieden von Preßburg im Dezember 1805 das Ende aller Lehensabhängigkeit einen hohen Stellenwert 15 Vgl. Katharina Weigand/Jörg Zedler (Hrsg.), Montgelas zwischen Wissenschaft und Politik. Krisendiagnostik, Modernisierungsbedarf und Reformpolitik in der Ära Montgelas und am Beginn des 21. Jahrhunderts, München 2009. 16 Franz Dobmann, Georg Friedrich Freiherr von Zentner als bayerischer Staatsmann in den Jahren 1799 – 1821, Kallmünz 1962. 17 Die Protokolle des bayerischen Staatsrats 1799 bis 1817, Bd. 1, bearb. v. Reinhard Stauber u. Mitarbeit von Esteban Mauerer, München 2006, S. 30 – 38; Jörn Leonhard, Staatsbildung und Reformpolitik. Reitzenstein und Montgelas – eine Doppelbiographie, in: Armin Kohnle/Frank Engehausen/Frieder Hepp/Carl L. Fuchs (Hrsg.), „… so geht hervor eine neue Zeit.“ Die Kurpfalz im Übergang an Baden 1803, Heidelberg 2003, S. 73 – 86. 18 Hans Rall, Kurbayern in der letzten Epoche der alten Reichsverfassung 1745 – 1801, München 1952. 19 Wolfgang Quint, Souveränitätsbegriff und Souveränitätspolitik in Bayern. Von der Mitte des 17. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1971, S. 53 – 99.
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hatte und mit der Souveränität Bayerns verbunden wurde.20 Zuvor holte bei jedem Herrscherwechsel in Bayern ein Emissär in Wien die entsprechende Lehensurkunde mit der Garantie der Rechte des Landes ab.21 Auch wenn Tagebuchaufzeichnungen verschiedener Autoren aus dem Umfeld des Münchner Hofes im 18. Jahrhundert – sieht man vom Kaisertum des Wittelsbachers Karl Albrecht ab – Kaiser und Reich kaum Aufmerksamkeit widmeten,22 so lebte in Bayern auch nach Karl Albrechts Tod 1745 und dem seiner Witwe bzw. Kaiserin Maria Amalie 175623 oder auch durch die Erinnerung an Kaiser Ludwig den Bayern24 ein Reichsbewusstsein insoweit fort, als immer wieder die Frage der Loyalität zu Kaiser und Reich nicht ohne Skrupel im Raum stand. Denn das spezifisch wittelsbachische Verhältnis zum Reich war geprägt von Ambivalenz und konfliktreichen Wechselbeziehungen zum Kaiserhaus und territorialen Nachbarn und verwandten Haus Habsburg-Österreich. Diese traten seit den 1760er Jahren mit der bayerischen Erbfolgefrage – als die in den 1740er Jahren geschlossenen Ehen der Wittelsbacher Kurfürsten in Bayern und der Pfalz über Jahrzehnte kinderlos geblieben waren – und dann durch die unter Beteiligung des Wiener Hofes betriebene Infragestellung der Existenz Polens 1772 durch die europäischen Großmächte immer mehr ins Bewusstsein. Der Antagonismus zu Habsburg-Österreich wurde seit 1778 mit dem brüsken Einmarsch kaiserlicher Truppen in Bayern im Bayerischen Erbfolgekrieg, bei der Vereinigung von Pfalz und Bayern, bei Ländertauschprojekten 1778 und 1784/85 und noch einmal 1799 nach dem Tod des Kurfürsten Karl Theodor sowie beim Krieg 1805 letztlich an der Seite Napoleons gegen Österreich zu einer zentralen Herausforderung für das Land.25 In der Folge traten spätestens seit den 1770er Jahren faktisch Transformationen von Verfassungsgefüge und Staatlichkeit, demnach Prozesse der Staatsintegration und -bildung immer stärker in den Vordergrund, sei es in konkreter Form etwa durch Hausverträge der Wittelsbacher in der Pfalz und Bayern, durch einen gesamt-
20 Rolf Kießling/Anton Schmid (Bearb.), Die bayerische Staatlichkeit, Bd. 2, München 1976, S. 36 – 37. 21 Stefan Pongratz, Adel und Alltag am Münchener Hof. Die Schreibkalender des Grafen Johann Maximilian IV. Emanuel von Preysing-Hohenaschau (1867 – 1764), Kallmünz 2013, S. 245 – 255. 22 Barbara Kink, Adelige Lebenswelt im 18. Jahrhundert. Die Tage- und Ausgabenbücher des Freiherrn Sebastian von Pemler (1718 – 1772), München 2007; Pongratz (Fn. 21); Markus Ch. Müller, Ein Gelehrter am Münchener Hof. Die Tagebücher des Andreas Felix von Oefele (1706 – 1780), Kallmünz 2020. 23 Britta Kägler, Frauen am Münchener Hof (1651 – 1756), Kallmünz 2011, S. 63 – 64. 24 Karl Murr, Das Mittelalter in der Moderne. Die öffentliche Erinnerung an Kaiser Ludwig den Bayern im Königreich Bayern, München 2008, S. 52 – 65. 25 Markus Junkelmann, Napoleon und Bayern. Eine Königskrone und ihr Preis, Regensburg 2014, S. 39 – 46.
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wittelsbachischen Fideikommiss,26 oder sei es dadurch, dass die Vereinigungsfrage durch eine Verschmelzung der beiden Kurfürstentümer zu einem Kurfürstentum Pfalzbayern angestrebt und im Frieden von Teschen dann auch vorgesehen wurde.27 Mit der Vereinigung der zahlreichen wittelsbachischen Lande wurden vielfältige Reform- und Integrationsmaßnahmen notwendig, die mit der Bildung einer Obersten Landesregierung 177928 und dann mit einer Ministerialorganisation 1799 die Spitze der Landesverwaltung und auch die über Jahrhunderte entwickelte staatsrechtliche Ordnung des Landes berührten, wenn etwa immer wieder die Landschaft mit ihren Freibriefen betroffen war.29 Rasch auftretende Konflikte zwischen dem seit 1778 neuen Landesherrn Karl Theodor und den Landständen – erst sieben Jahre nach Herrschaftsantritt in Bayern erfolgte die Erbhuldigung – bekamen eine neue Qualität, eskalierten bisweilen zu Verfassungskonflikten.30 Überall im Land, bis in die Marktflecken, erkennen wir eine Mobilisierung der „alten Rechte“.31
IV. Aspekte des öffentlichen Diskurses Begleitet wurden diese außen- und innenpolitischen Herausforderungen von einem vielfältigen öffentlichen Diskurs um die staatsrechtlichen Grundlagen des Landes. Im Oktober 1778 forderte die pfalzbayerische Regierung das Zensurkollegium auf, über alle „die Lands-Verfassung, oder das politische Fach einschlagenden Druckschriften“ den Geheimen Rat zu informieren.32 Der Verfassungsdiskurs ist erkennbar etwa in der philosophischen Klasse mit Historikern und Juristen der 1759 26 Rall, Die Hausverträge der Wittelsbacher: Grundlagen der Erbfälle von 1777 und 1799, in: Hubert Glaser (Hrsg.), Wittelsbach und Bayern, Bd. 3: Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat, München 1980, S. 13 – 48. 27 Adolf Unzer, Der Friede von Teschen. Ein Beitrag zur Geschichte des bayerischen Erbfolgestreites, Kiel 1903; Georgij A. Nersesov, Rußland, die Bayerische Erbfolge und der Friede von Teschen. Übersetzt aus dem Russischen und kommentiert von Claus Scharf, München 2021. 28 Caroline Gigl, Die Zentralbehörden Kurfürst Karl Theodors in München 1778 – 1799, München 1999, S. 252 – 306. 29 Edition: Gustav von Lerchenfeld, Die altbaierischen landständischen Freibriefe mit den Landesfreiheitserklärungen, München 1853. 30 Jutta Seitz, Die landständische Verordnung in Bayern im Übergang von der altständischen Repräsentation zum modernen Staat, Göttingen 1999, S. 55 – 209. 31 Z. B. Georg W. Panzer, Versuch ueber den Ursprung und Umfang der Landständischen Rechte in Baiern. Ein Beitrag zum Baierischen Staatsrechte. Erste Abtheylung 1798; siehe die Auflistung zeitgenössischer Publizistik bei Seitz (Fn. 30), S. 321 – 325; Winfried Müller, Im Vorfeld der Säkularisation. Briefe aus bayerischen Klöstern 1794 – 1803/1812, Köln 1989; Elisabeth Able, Ein kurbayerischer Markt in der Epoche des Reformabsolutismus. Vohburg an der Donau 1745 – 1799, München 2008, S. 92 – 94. 32 Michael Schaich, Staat und Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung, München 2001, S. 157.
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gegründeten Bayerischen Akademie der Wissenschaften33 oder bei den 1776 in Ingolstadt entstandenen Illuminaten34 sowie einer gar republikanischen Opposition in Bayern 1800 – 180235. Fritz Zimmermann und Jutta Seitz haben für Bayern im späten 18. Jahrhundert an die 100 Druckschriften und Flugblätter ausfindig gemacht, die sich mit Verfassungsfragen im Land auseinandersetzen.36 Vor allem hatte sich im Umfeld und mit Bezug auf die Rolle der bayerischen Landstände eine Verfassungsdiskussion entwickelt, die auf Fragen der Repräsentation des Landes, etwa auch mit Blick auf die in der Landschaft nicht vertretenen Bauern bzw. Untertanen, auf die Privilegien des Adels und der Kirche sowie auf die Kompetenz in Finanzsachen und Fragen der inneren Verwaltung ausgerichtet war. Sie brachte seit 1765 und verstärkt in den 1790er Jahren auch die Einberufung des Gesamtlandtages ins Gespräch,37 nachdem dies zuletzt 1669 der Fall gewesen war und seit der Zeit nur noch ein Ausschuss mit dem Landesfürsten die notwendigen Geschäfte betrieb.38 Auch Montgelas verweist im Ansbacher Memoire 1796, damals in Diensten des in Bayern erbberechtigten, aber auf der Flucht befindlichen Herzogs von Zweibrücken, auf diese Verfassungsdiskussion im Zusammenhang mit den Ständen, nimmt selbst dazu aber inhaltlich nur insofern Stellung, als er von der Notwendigkeit einer Anpassung an die Gegebenheiten des Jahrhunderts sprach.39 Da die Landschaft faktisch auch durch das Reichsrecht geschützt war, verwundert es nicht, dass er die Wirksamkeit und Organisation der landesherrlichen Verwaltung in den Vordergrund rückte, die die Verfassung insofern berührte, als etwa die Landessteuerverwaltung in der Hand der Stände lag. Franz von Krenner, Geheimer Referendär im Finanzministerium in der Regierung von Montgelas, und die Landstände selbst edierten ab 1803 die „Baierischen Landtagshandlungen“ und machten damit die historische Rolle der Landstände präsent.40 Gerade auch aus der Debatte um die 33 Alexander Ecker, Recht und Rechtsgeschichte in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von 1759 bis 1827, Regensburg 2004, S. 163 – 166. 34 Richard Van Dülmen, Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation, Stuttgart 1975; Reinhard Markner/Monika Neugebauer-Wölk/Hermann Schüttler (Hrsg.), Die Korrespondenz des Illuminatenordens, 2 Bde., Tübingen 2005 – 2013; Helmut Reinalter (Hrsg.), Der Illuminatenorden (1776 – 1785/87). Ein politischer Geheimbund der Aufklärungszeit, Frankfurt a. M. 1997. 35 Sieglinde Graf, Bayerische Jakobiner? Kritische Untersuchungen sogenannter „jakobinischer“ Flugschriften aus Bayern am Ende des 18. Jahrhunderts, in: ZBLG 41 (1978), S. 17 – 171, hier S. 161. 36 Seitz (Fn. 30), S. 215 – 219, 321 – 325, hier 217; Graf (Fn. 35) Jahrhundert), S. 17 – 171; Fritz Zimmermann, Bayerische Verfassungsgeschichte vom Ausgang der Landschaft bis zur Verfassungsurkunde von 1818, München 1940. 37 Seitz (Fn. 30), S. 219. 38 Seitz (Fn. 30), S. 43 – 53. 39 Das „Ansbacher Memoire“ Übersetzung, in: Bayern entsteht. Montgelas und sein Ansbacher Memoire von 1796, hg. v. Michael Henker, Margot Hamm und Evamaria Brockhoff, Augsburg 1996, S. 22 – 36, hier S. 28. 40 Joachim Wild, Quellenlage zum Alten Landtag, in: Walter Ziegler (Hrsg.), Der Bayerische Landtag vom Spätmittelalter zur Gegenwart, München 1995, S. 127 – 139, hier S. 134 –
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Rolle der Stände entwickelte sich in Bayern die Frage nach einer „Nationalrepräsentation“ und mündete unter anderem in die Forderung: „Soll Baiern eine neue Constitution erhalten, so müssen alle Individuen der Nation dabey concurrieren; keine Klasse des Volkes kann übergangen werden, wenn die Constitution verbindlich für sie seyn soll.“41 Ein Bündel zum Teil sehr unterschiedlicher Motive und Elemente moderner Staatsbildung wird entlang der verschiedenen Protagonisten in den Diskursen seit den 1760er bzw. 1770er Jahren sichtbar. Faktisch ließ die Hungerkrise Anfang der 1770er Jahre, die Auflösung des in Bayern starken Jesuitenordens 1773, die Erbfolgekrise und die Vereinigung zahlreicher Wittelsbacher Territorien 1778/79 früh, vor der Französischen Revolution, tiefgreifende Veränderungen und Integrationsprozesse notwendig erscheinen. Der seit den späten 1770er Jahren stark wachsende öffentliche Diskurs ging im Wesentlichen davon aus, dass Bayern eine historisch entwickelte landständische Verfassung hatte. Diese galt als reformbedürftig, nur vereinzelt war auch der Ruf nach einer neuen einheitlichen Verfassung zu vernehmen. Zudem ist erkennbar, dass sich seit 1778 wegen des Einmarsches kaiserlicher Truppen in Bayern und wegen der Ländertauschprojekte eine wachsende politische Öffentlichkeit zum Teil in Opposition zum neuen Kurfürsten Karl Theodor und zu Kaiser Joseph II.42 mit einem Landes- und Staatsbewusstsein artikulierte, das sich vom Herrscherhaus emanzipierte, wobei das Land gleichzeitig die Dynastie der Wittelsbacher brauchte, um die eigenständige territoriale Existenz zu wahren.43 Als weitere Motive des vielschichtigen Diskurses sind erkennbar: Sicherung der fürstlichen Herrschaftsposition und Souveränität, auch durch erweiterte Legitimation wie Treue44 und Anhänglichkeit der Baiern an das Herrscherhaus und damit auch Aufwertung der Untertanen; Infragestellung der Privilegien des Adels und der Kirche; Sicherung der staatlich-territorialen Existenz und Integrität im Reich und im europäischen Umfeld; territoriale Erweiterung durch Vereinigung von pfälzischen und bayerischen Territorien und deren Integration, aber auch allgemeine Reformbedürftigkeit angesichts konkreter Probleme; Reformideen der Aufklärung wie etwa von den Illuminaten pro-
137. Krenner selbst weist 1803 in der Vorrede zum ersten Band der Baierischen Landtagshandlungen darauf hin, dass die Edition „… für das Studium der inneren Staatsverfassung in Bezug auf das Verhältniss der Landstände zu der Regierung geschieht“. 41 Über die Quellen des wachsenden Mißvergnügens in Baiern, ein Nachtrag zu der Abhandlung über den Werth und die Folgen der ständischen Freyheiten, 1799, S. 181 – 182. 42 Schaich (Fn. 32); Wolfgang Piereth, Bayerns Pressepolitik und die Neuordnung Deutschlands nach den Befreiungskriegen, München 1999. 43 Vgl. Karl O. von Artin, Bayerns Weg zum souveränen Staat. Landstände und konstitutionelle Monarchie 1714 – 1818, München 1976, S. 113 – 119. 44 Vgl. Murr, Treue im Zeichen des Krieges. Beobachtungen zu einem Leitmotiv bürgerlicher Identitätsstiftung im Königreich Bayern (1806 – 1918), in: ders./Buschmann/Nikolaus (Hrsg.), Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne, Göttingen 2008, S. 109 – 149.
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pagiert.45 Schließlich ist auch im öffentlichen Diskurs die Auseinandersetzung mit und die Deutung des Geschehens in Amerika46, Frankreich47 und England48 erkennbar.
V. „Vollständiger Zusammenhang“, Grundrechte, Souveränität: Verfassung von 1808 Politische Rahmenbedingungen und Diskurse veränderten sich dann seit den 1790er Jahren insofern, als bald nach Inkrafttreten der Verfassung der USA 1788 die Französische Revolution Europa erschütterte und in Bayern mit der absehbaren Machtübernahme Max I. Joseph 1799 anders als etwa in Sachsen ein Herrscherwechsel möglich wurde.49 Fortan rückte im neu gebildeten Staatsrat als Leitungsgremium des Landes die Arbeit an neuen staatsrechtlichen Grundlagen und Diskussionen über die mögliche Erarbeitung einer Verfassung in die engere Spitze des Landes.50 Außerdem stieß die neue Regierung mit einer ganzen Reihe von landesherrlichen Edikten, etwa zur Toleranz, zum Behördenaufbau und anderen Reformen an, die faktisch die bisherige Verfasstheit des Landes weiter veränderten.51 Schließlich stellten die internationale Lage in Europa mit dem Ausgreifen Napoleons und Bayerns Bündnis mit ihm, auch im Rheinbund, sodann die territorialen Erweiterungen Bayerns sowie die Verfassungsumbrüche im Reich mit dessen Ende intensivierte Anforderungen: Landesintegration, Herrschaftsstabilisierung und die Konsolidierung der in Transforma45
Ferdinand Kramer, Bavaria: Reform and Staatsintegration, in: German History 20, 3 (2002), S. 354 – 372; ders., Bayern, in: Werner Buchholz (Hrsg.), Das Ende der Frühen Neuzeit im „Dritten Deutschland“ (HZ Beiheft 37), München 2003, S. 5 – 24. 46 Rainald Becker, Nordamerika aus süddeutscher Perspektive. Die Neue Welt in der gelehrten Kommunikation des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 2012, S. 325 – 328; vgl. Martin Ott, Salzhandel in der Mitte Europas. Raumorganisation und wirtschaftliche Außenbeziehungen zwischen Bayern, Schwaben und der Schweiz 1750 – 1815, München 2013, S. 236 – 237. 47 Ludwig Maenner, Bayern vor und in der Französischen Revolution, Stuttgart 1927; Holger Böning (Hrsg.), Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des 18. Jahrhunderts, München 1992. 48 Leonhard Lenk, Das Modell England in der bayerischen Verfassungsdiskussion zwischen 1770 und 1818, in: Gesellschaft und Herrschaft. Forschungen zu sozial- und landesgeschichtlichen Problemen vornehmlich in Bayern, München 1969, S. 271 – 299. 49 Weis, Pfalz-Bayern, Zweibrücken und die Französische Revolution, in: Jürgen Voss (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution, München 1983, S. 118 – 131. 50 Die Protokolle des bayerischen Staatsrats 1799 bis 1817, bearb. v. Reinhard Stauber u. Mitarbeit von Esteban Mauerer, München 2006, 42, 149 (Protokoll vom 10. 9. 1799). 51 Maria Schimke (Bearb.), Regierungsakten des Kurfürstentums Bayern 1799 – 1815, München 1996, Helmut Neuhaus, Auf dem Weg von „Unsern gesamten Staaten“ zu „ Unserem Reich“. Zur staatlichen Integration des Königreiches Bayern zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Wilhelm Brauneder (Hg.), Staatliche Vereinigung: Fördernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte, Berlin 1998, S. 107 – 126.
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tion befindlichen Staatlichkeit rückten in den Vordergrund.52 Und es verstärkte sich ein finanzielles Motiv: Pfalzbayern stand ohnehin belastet von hohen Schulden nun auch mit Kriegskosten und der Übernahme von Verbindlichkeiten mediatisierter Herrschaften trotz der Einnahmen aus der Säkularisation vor dem Staatsbankrott. Die Staatsfinanzen und -kredite waren aber durch das Steuer-Erhebungs- und -Verwaltungsrecht der Stände von diesen abhängig. Mit einer neuen Verfassungsordnung würde man auch vollen Zugriff auf die Finanzen bekommen, so ein Kalkül der bayerischen Regierung.53 Mit der außenpolitisch möglichen Erlangung der Souveränität Bayerns zum Jahresende 1805 im Frieden von Preßburg, dann dem Ende des Alten Reiches 1806 schien der Weg frei, die Verfassungsfrage systematisch anzugehen. Jedenfalls drängte eine der dynamischsten Persönlichkeiten in der Landesspitze, Georg Friedrich Zentner, nun darauf, während Montgelas zunächst noch einmal zögerte.54 Dabei spielte auch eine Rolle, dass mit Blick auf die Stände in den neuen Landesteilen, etwa in Tirol, doch auch Vorsicht geboten schien.55 Ausschlaggebend wurde dann wohl ein Gespräch von Montgelas und Napoleon Ende November 1807 in Mailand, kurz nachdem jener die Verfassung für das Königreich Westphalen ausgearbeitet hatte und danach strebte, dass im Rheinbund entsprechende Prinzipien zur Geltung kommen sollten bzw. der Rheinbund eine Verfassung erhalten sollte. Fortan wollte auch Montgelas eine rasche Verfassungsgebung für Bayern, einerseits, um den inzwischen übermächtigen Napoleon mit seinen Wünschen nicht vor den Kopf zu stoßen, und andererseits aber auch, um damit ein Instrument zu entwickeln, das einem erweiterten Einfluss des Rheinbundes56 bzw. Napoleons in Bayern und einem entsprechenden Souveränitätsverlust zuvorkommen konnte.57 In wenigen Wochen wurde nun die Verfassung ohne Rücksprache mit Paris erarbeitet58 und erlassen, wobei man sich zwar an der Westfälischen Verfassung orientierte, aber doch ganz
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Walter Demel, Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/08 – 1817. Staats- und gesellschaftspolitische Motivationen und Hintergründe der Reformära in der ersten Phase des Königreichs Bayern, München 1983. 53 Hans-Peter Ullmann, Staatsschulden und Reformpolitik. Die Entstehung moderner öffentlicher Schulden in Bayern und Baden 1780 – 1820, Bd. I, Göttingen 1986, S. 127 – 132. 54 Hermann Rumschöttel, Die Entstehung der Konstitution, in: Alois Schmid (Hrsg.), Die bayerische Konstitution von 1808. Entstehung-Zielsetzung-Europäisches Umfeld, München 2008, S. 211 – 228, hier S. 215 – 217. 55 Margot Hamm, Die bayerische Integrationspolitik in Tirol 1806 – 1814, München 1996, S. 132. 56 Hartwig Brandt/Ewald Grothe (Hrsg.), Rheinbündischer Konstitutionalismus, Frankfurt 2007. 57 Quint (Fn. 19), S. 235 – 238; Schimke (Bearb.), (Fn. 51), S. 37 – 40. 58 Protokoll der Geheimen Staatskonferenz vom 20. Januar 1808 und vom 13. Februar 1808 (www.bayerischer-staatsrat.de; eingesehen am 27. 11. 2020); Esteban Mauerer, Die „Konstitution für das Königreich Baiern“ vom 1. Mai 1808, in: Michael Stephan, Bayerns Anfänge als Verfassungsstaat. Die Konstitution von 1808, München 2008, S. 11 – 22.
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wesentlich auf bayerische Reformedikte zurückgriff.59 Es ging gleichermaßen um die Wahrung, Stärkung und Fortentwicklung der bis dahin erreichten Staatsbildung und der gerade errungenen Souveränität.60 Die Verfassung von 180861, die bislang erlassene Edikte aufgriff und künftige vorab integrierte, rundete das bisherige Reformwerk ab und bündelte es.62 Die Formulierungen der Präambel zeigen, dass es in hohem Maße um Effizienz und um Konsolidierung des neuen staatlichen Gebildes ging. Da ist die Rede von „Erreichung der vollen Gesamtkraft“ oder „durch organische Gesetze einen vollständigen Zusammenhang zu geben“, oder von „dem Ganzen feste Haltung und Verbindung, und jedem Theile der Staatsgewalt die ihm angemessene Wirkungskraft nach Bedürfnissen des Gesamt-Wohls zu verschaffen.“63 Die ab dem 1. Mai gültige Verfassung garantiert Grundrechte (Sicherheit der Person, des Eigentums, Gewissens- und Pressefreiheit) im Rahmen der Gesetze. Vor allem aber regelt sie den Aufbau und Funktionen der Landesverwaltung mit der Einteilung des Landes in 15 Kreise und kündigt außerdem ein einheitliches Straf- und Zivilrecht an, wobei nur ersteres 1813 realisiert wurde. Sie hebt sämtliche anderen bzw. „besonderen Verfassungen“ (sic!), Privilegien, Erbämter und landschaftliche Korporationen im Königreich auf. Sie verdrängt damit konkurrierende Herrschaftsträger und macht den Weg frei für weitergehende Vereinheitlichungen in einem Land, das aus vielfältigen territorialen Traditionen zusammengefügt worden war, auch wenn das Herzogtum bzw. Kurfürstentum Bayern mit dem Haus Wittelsbach und mit der im Familienvertrag von 1777 festgelegten Residenzstadt München den traditionsstiftenden Kern bieten würde. Die Verfassung sieht zudem statt der bisherigen „landschaftlichen Verfassungen“64 eine mindestens einmal jährlich vom König einzuberufende „Nationalrepräsentation“ bzw. „ReichsVersammlung“ oder „Reichsrepräsentation“ vor, die sich in Wahlen aus der Gruppe 59 Weis, Montgelas, Bd. II: Der Architekt des modernen Bayerischen Staates 1799 – 1838, München 2005, S. 374 – 387. 60 Michael Doeberl, Rheinbundverfassung und baierische Konstitution, München 1924; Demel (Fn. 52), S. 331 – 337; Weis (Fn. 59), Bd. I, S. 380. 61 Axel Kellmann/Patricia Drewes, Die süddeutschen Reformstaaten (Bayern, Württemberg, Baden), in: Peter Brandt/Martin Kirsch/Artur Schlegelmilch (Hrsg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel, Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006, S. 714 – 784. 62 Auflistung der Edikte bei Rumschöttel, Die Entstehung der Verfassung, in: Alois Schmid (Hrsg.), (Fn. 54), S. 224 – 225; Karl Möckl, Der moderne bayerische Staat. Eine Verfassungsgeschichte vom aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende der Reformepoche, München 1979. 63 Konstitution für das Königreich Bayern (1. Mai 1808), in: Kießling/Schmid (Bearb.), (Fn. 20), S. 73 – 79; Alfons Wenzel, Bayerische Verfassungsurkunden. Dokumentation zur Bayerischen Verfassungsgeschichte, 4. Aufl. 2002; Scan des handschriftlichen Originals mit Unterschriften von Max Joseph, Montgelas, Morawitzky u. Hompesch, in: www.bavarikon.de/ object/GDA-OBJ-00000BAV80000796 (eingesehen am 26. 11. 2020); Möckl (Fn. 62), S. 73 – 79. 64 Verordnung über die Auflassung der landschaftlichen Korporationen (1. Mai 1808), in: Kießling/Schmid (Bearb.), (Fn. 20), S. 79.
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der 200 höchsten Grundsteuerzahler mit sieben Mitgliedern aus jedem Kreis rekrutieren sollte.65 Mit der Verfassung von 1808 waren demnach ältere „Verfassungen“ abgelöst und damit der entscheidende Durchbruch zu einem modernen Verfassungsleben in Bayern erreicht, in einem Moment, als nach dem Ende des Alten Reiches und mit Napoleons revolutionärem Umbruch der europäischen Territoriallandschaft eine trotz des Rheinbundes kaum absehbare politische Großwetterlage entstanden und für Bayern die Herausforderung territorialer bzw. staatlicher Integration besonders stark war. Blickt man auf die zeitgenössische Rezeption der bayerischen Verfassung von 1808, dann erkennt man, dass sie mehr Beachtung fand, als das später lange in der Historiographie der Fall war, zumal sie auch in den damals zu Bayern, später zu Österreich gehörenden Gebieten in Salzburg, Tirol und Vorarlberg relevant wurde. Diese Verfassung wurde mit den dort formulierten Grundrechten und begleitenden Edikten vor allem in den Bereichen Verwaltung und Recht wirkungsvoll, für die Menschen im Land ein bis in den Alltag reichendes Element moderner Verwaltungs- und Rechtsstaatlichkeit, auch wenn das angekündigte einheitliche Strafrecht erst 1813 und das Zivilrecht faktisch erst mit dem BGB folgen sollten. Die lange Zeit geringe Beachtung der Verfassung von 1808 hat vor allem mit der nicht realisierten Nationalrepräsentation und mit der Überlagerung durch die folgende Verfassung von 1818 und deren Gültigkeit bis 1918 zu tun. Die Erhebung in Tirol ab 1809, die sich ein um das andere Mal ändernde außenpolitische und Kriegslage und die damit einhergehenden territorialen Veränderungen haben die Realisierung der Nationalrepräsentation letztlich verhindert. Man wird auch nicht fehl in der Annahme gehen, dass die ab 1806/08 staatsabsolutistische bayerische Regierung die erweiterten Handlungsspielräume ohne Stände, aber auch ohne Nationalrepräsentation in der akuten innen- und außenpolitischen Krisensituation erhalten wollte.66
VI. „Gesamtvereinigung“, Staatsbürger, Verfassung 1818 Mit dem Wiener Kongress und später nach den Verträgen zur Pfalz 1816 stellte sich die Lage neu dar. Jetzt wurde der territoriale Bestand international abgesichert, das benachbarte Österreich als übergroßer Nachbar und Spitze des Deutschen Bundes war scheinbar wieder in voller Macht. Wieder sollte eine Verfassung der Selbstbehauptung der Souveränität Bayerns und seines Monarchen sowie der Konsolidierung des neuen Staates dienen.67 Die Regierung Max I. Joseph hat parallel zur absehbaren Niederlage Napoleons 1814 eine Kommission eingerichtet und eine Verfassung ausarbeiten lassen, die obwohl in der Grundausrichtung konservativer, als Fortsetzung des Verfassungswerkes von 1808 legitimiert und ohne öffentliche Debat65
Konstitution (Fn. 63), S. 77. Vgl. Demel (Fn. 52). 67 Doeberl (Fn. 60). 66
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te als Werk des „ebenso freyen als festen Willens“ des Königs schließlich am 26. Mai 1818 erlassen wurde.68 Der König verpflichtet sich und seine Nachfolger „nach der Verfassung und den Gesetzen des Reichs zu regieren“69 und einen entsprechenden Schwur zu leisten. Beamte und Neubürger sollten einen Eid auf König und StaatsVerfassung ablegen. Die Verfassung sichert an vorderster Stelle die Grundrechte der „Staatsbürger“, ein Begriff, den schon die Verfassung von 1808 kannte und der nun festgeschrieben wurde.70 Das Königreich Baiern wird „in der Gesamtvereinigung aller ältern und neuern Gebiethsteile“ als „souveräner monarchischer Staat nach den Bestimmungen der gegenwärtigen Verfassungs-Urkunde“ definiert. Etabliert wird eine Ständeversammlung mit zwei Kammern. Die Reichsräte versammeln Mitglieder des königlichen Hauses, des hohen Adels, ausgewählte Bischöfe und vom König ernannte Vertreter bzw. hohe Würdenträger etwa aus den Universitäten. Die Mitglieder der Kammer der Abgeordneten werden auf der Basis eines hohen Zensus nach ständischen sowie Berufsgruppen gewählt.71 Vor allem in der Kammer der Reichsräte wird – gleichsam als Referenz an das Legitimitätsprinzip – der vormals reichsunmittelbare Adel in den neubayerischen Gebieten integriert. Die Abgeordneten werden in den Kreisen gewählt, so dass aus allen Landesteilen Mitglieder des Landtags vertreten sein werden. Trotz der genannten Einschränkungen der Wahl entwickelte sich hier von der ersten Sitzung an eine bemerkenswerte Dynamik des frühparlamentarischen Lebens und öffentlichen Diskurses, auch weil die ständischen Gruppierungen in sich keineswegs homogen waren.72 Als der Landtag seine Arbeit aufnahm und Probleme des Landes offenlegte, hat dies zunächst den König derart verärgert, dass er selbst die Verfassung wieder in Frage stellte. Vor allem Kronprinz Ludwig hat dem widersprochen. Er hatte schon im Vorfeld von 1808 auf eine Verfassungsgebung hingewirkt und diese auch seit 1817 wieder stark unterstützt. Mit dem Kronprinzen, der sich zunehmend erfolgreich gegen Montgelas in der Landesspitze positionierte, waren zwei Argumente in die Verfassungsgebung verstärkt eingebracht worden. Ludwig wies früh darauf hin, dass der neue Staat Einheit nur durch Teilhabe des Volkes gewinnen könne. Entspre-
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Weis, Zur Entstehungsgeschichte der bayerischen Verfassung von 1818. Die Debatten in der Verfassungskommission, in: ZBLG 39 (1976), S. 413 – 444; Konstitution (Fn. 63). Mai, S. 80. 69 Konstitution (Fn. 63). Mai, S. 80 – 93; Verfassung 1818, Titel X, §1. 70 Konstitution (Fn. 63). Mai, S. 84. 71 Josef Leeb, Wahlrecht und Wahlen zur Zweiten Kammer der bayerischen Ständeversammlung im Vormärz (1818 – 1845), Bd. 1, Göttingen 1996, S. 62 – 107. 72 Dirk Götschmann, Bayerischer Parlamentarismus im Vormärz. Die Ständeversammlung des Königreichs Bayern 1819 – 1848, Düsseldorf 2002, S. 395 – 398; Hubert Ostadal, Die Kammer der Reichsräte in Bayern von 1819 bis 1848. Ein Beitrag zur Geschichte des Frühparlamentarismus, München 1968, S. 63 – 70; Bernhard Löffler, Die bayerische Kammer der Reichsräte 1848 – 1918. Grundlagen, Zusammensetzung, Politik, München 1996.
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chend würde auch der Thron gefestigt.73 Und im Geflecht der europäischen Großmächte, zumal im deutschen Dualismus, würde sich Bayern als mittlere Macht als moderner Verfassungsstaat einen eigenen Stellenwert bzw. Renommee erarbeiten können.74 Dieses Argument steht parallel zu seinen schon früh Aufsehen erregenden kulturpolitischen Initiativen, die insbesondere mit dem royalen Ausbau der Hauptund Residenzstadt München Identität und deutsche sowie europäische Geltung gleichermaßen zum Ziel hatten. Ludwig plante auch einen repräsentativen Bau für die Ständeversammlung, was allerdings nicht realisiert werden konnte.75
VII. Bayerische Nation, Reich, Verfassung und Symbole Dies führt uns zum Schluss zu Fragen der Begrifflichkeit und Symbolik der Verfassungen als Element der Staatsbildung. Seit dem 18. Jahrhundert ist in Bayern vielfach von der „baierischen Nation“ die Rede, bezogen auf das Kurfürstentum Bayern, erschlossen vor allem aus der Geschichte Bayerns, die mit den Aktivitäten des Hofbibliothekars Andreas Felix Oefele und dann der Bayerischen Akademie der Wissenschaften seit 1759 ein neues wissenschaftliches Fundament gewann.76 Auch im literarischen Diskurs finden wir den Begriff in wachsendem Maße.77 In München werden seit 1806 das „Baierische Nationalblatt“ und die „Baierische Nationalzeitung“ herausgegeben. Der Begriff der „baierischen Nation“ findet sich besonders auch im Umfeld der Königserhebung, die in Verbindung mit den fortan vielfach genutzten weiß-blauen Rauten zu einer verstärkten Identifikation mit Fürst und Staat beitragen sollte, gerade auch in den neubayerischen Gebieten.78 Wie für die Benennung der Hofbibliothek bekannt ist, gab es in Bayern dann immer wieder Kontroversen um die Begriffe, ob National- oder Hofbibliothek, wobei mit „national“ auch „republi73 Heinz Gollwitzer, Ludwig I. von Bayern. Eine politische Biographie, München 1986, S. 218. 74 Gollwitzer (Fn. 73), S. 224. 75 Gollwitzer (Fn. 73), S. 222. 76 Kraus, Bayerns Geschichte als Selbstfindung der Nation. Die bayerische Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit und die Epoche der „fremden Herrscher“, in: Dieter Albrecht (Hrsg.), Forschungen zur Bayerischen Geschichte, Frankfurt a. M. 1993, S. 115 – 134; ders. (Fn. 11); Müller (Fn. 22). 77 Wilhelm Haefs, Aufklärung in Altbayern. Leben, Werk und Wirkung Lorenz Westenrieders, Neuried 1998, S. 106 – 134; Walter Demel, Landespatriotismus und National: Bewusstsein im Zeitalter der Aufklärung und Reformen, in: Archivalische Zeitschrift 88 (2006), S. 79 – 97. 78 Kramer, Fest, Symbol, politisches Programm. Die Feierlichkeiten zur Annahme der Königswürde in Bayern, in: Alois Schmid (Hrsg.), 1806 – Bayern wird Königreich. Vorgeschichte, Inszenierung, Europäischer Rahmen, Regensburg 2006, S. 127 – 145; ders., Bayerns Erhebung zum Königreich. Das offizielle Protokoll zur Annahme der Königswürde am 1. Januar 1806 (mit Edition), in: ZBLG 68 (2005), S. 815 – 834.
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kanisch“ assoziiert wurde. Letztlich firmierte sie dann als „Königliche Hof- und Staatsbibliothek“.79 Bei der ab 1811 errichteten Oper setzte sich faktisch die Benennung „Königliches Hof- und Nationaltheater“ durch.80 Interessanterweise findet sich in den bayerischen Verfassungen der Begriff „Nation“ nur 1808 für die „NationalRepräsentation“ als Vertretung des Landes, ansonsten ist er in den Verfassungstexten nicht im Gebrauch. Dagegen haben vorrangig die Begriffe „Staat, Volk, Vaterland“ und vor allem auch der Begriff „Reich“ Verwendung erlangt. Die zusammengeführten Archive des Landes wurden 1812 als „Königliches allgemeines Reichsarchiv“ bezeichnet. Ähnlich wie bei der Verwendung des Nationsbegriffs fehlen uns differenziertere Analysen zur Verwendung des Begriffes „Reich“ in jenen Jahren in Bayern. Denkbar wäre die schlichte Abkürzung von „Königreich“, mit Betonung von Rang und Souveränität, zudem womöglich auch als eine Anspielung auf das Alte Reich bzw. als selbstbewusste Emanzipation davon. Nicht wirklich klar ist auch, ab wann der für Bayern verwandte Nationsbegriff von der „teutschen Nation“ gleichsam überlagert wurde.81 Früh sind solche Elemente bei Kronprinz Ludwig zu erkennen, der die „teutsche Nation“ unter anderem in emotionaler Abgrenzung zu Frankreich hervorhob.82 Symbolisch propagierte die bayerische Regierung ab 1806 parallel zur Königsproklamation die Farben weiß-blau als alle Landesteile verbindendes Symbol. Überall in Bayern trugen die Menschen im Januar 1806 nach der Proklamierung der Königswürde weiß-blaue Kokarden. Aus der wittelsbachischen Tradition wurden die weißblauen Rauten zum Landessymbol für das ganze neue Bayern.83 Parallel wurde die Königserhebung, die man im Januar 1806 allenthalben im Land feierte, als alte, bayerische Würde ausgewiesen, die nun lediglich zu erneuern war. Es fehlt jeder Verweis auf Frankreich, wie das etwa bei der Königsproklamation in Württemberg zu erkennen ist. In Bayern wurde demnach die neue Königswürde
79 Franz Kaltwasser, Bayerische Staatsbibliothek. Wechselndes Rollenverständnis im Lauf der Jahrhunderte, Wiesbaden 2006, S. 32 – 37; ders., Von der „Bibliotheque du Roi“ in Paris über die „Churfürstliche Hof- und Nationalbibliothek“ in München zur „Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz“: über die Namen großer Forschungsbibliotheken, in: Daniela Lülfing (Hrsg.), Tradition und Wandel, Berlin 1995, S. 67 – 81. 80 Katharina Meinel, Für Fürst und Vaterland. Begriff und Geschichte des Münchner Nationaltheaters im späten 18. Jahrhundert, München 2003; Claudia Ulrich, Das königliche Hofund Nationaltheater unter Max I. Joseph von Bayern. Vorgeschichte, Entwicklung und Wirkung eines öffentlichen Theaters, München 2000. 81 Murr (Fn. 24), S. 169 – 183; Piereth (Fn. 42), S. 217 – 226. 82 Heinz Gollwitzer, Ludwig I. von Bayern. Eine politische Biographie, München 1986, S. 156 – 161; Hans-M. Körner, Staat und Geschichte im Königreich Bayern 1806 – 1918, München 1992, S. 252 – 272; für die spätere Entwicklung Manfred Hanisch, Für Fürst und Vaterland. Legitimitätsstiftung in Bayern zwischen Revolution 1848 und deutscher Einheit, München 1991; Barbara Six, Denkmal und Dynastie. König Maximilian II. auf dem Weg zu einem Bayerischen Nationalmuseum, München 2012. 83 Kramer (Fn. 78), S. 140 – 141.
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durch Kontinuitätsanspruch legitimiert.84 Dagegen findet sich für die Landstände in den vom König erlassenen Verfassungen von 1808 und 1818 – anders als in den im Umfeld der Landstände entwickelten Verfassungsdiskussionen – kein solcher dezidierter historischer Kontinuitäts- und Legitimationsverweis, auch wenn von „vorangehenden besonderen Verfassungen“ die Rede ist. Vor allem 1808 wurden mit Aufhebungsverfügungen der landständischen Verfassungen deutliche Schnitte vollzogen, wenn gleich unmittelbar eine neue Nationalrepräsentation für das gesamte Land folgen sollte. Wohl wäre aus der Perspektive der Regierung ein Kontinuitätsverweis bei den Ständen eher eine Belastung für den Souveränitätsanspruch von König und Regierung sowie für die Integration des Landes gewesen. Ohnehin sind symbolische Praktiken im Umfeld und Nachgang der Verfassungsverkündung 1808 bislang nicht erkennbar. Sie wurde unscheinbar im Regierungsblatt veröffentlicht.85 Dies sollte sich dann 1818 ändern. Noch im Jahr 1818 war eine bronzene Lade für die Verfassung geschaffen worden, auf der ein Quader mit weiß-blauen Rauten verziert angebracht ist. Zur Feier des ersten Jahrestags der Verfassung wurde im Jahr 1819 ein Konstitutionstaler geprägt und verbreitet, der auf der einen Seite den Kopf des Königs, auf der anderen Seite einen Würfel mit der Aufschrift „Charta Magna Bavariae“ zeigt. Dieser Würfel liegt auf einem Rautentisch.86 Die Seiten des Würfels sollten die „Gleichheit“ der Bürger als zentralen Anspruch der Verfassung symbolisieren, gleichzeitig galt der Quader als Sinnbild für „Festigkeit“.87 Die Verfassung wurde in einer rechteckigen bronzenen Lade aufbewahrt, die getragen von Löwenfiguren, mit „Magna Charta Bavariae“ beschriftet und mit einem oben liegenden weiß-blauen Würfel vollendet ist.88 Schließlich ließ sich der König wohl noch 1818 porträtieren, stehend, im königlichen Ornat, neben ihm am Tisch auf einem Kissen mit weiß-blauem Rautenwappen die Verfassung, auf die er seine Hand legt, dahinter die Krone.89 Mit der Verfassung von 1818 ging das Königreich in die symbolpolitische Offensive, jährlich würden sich Verfassungsfeiern wiederholen. Allerdings sollten diese der bayerischen Regierung zum Teil entgleiten, wie 1832 die Er-
84 Alois Schmid, Die bayerische Königspolitik im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: ders. (Hrsg.), (Fn. 78), S. 36 – 37. 85 Königlich-baierisches Regierungsblatt, XII Stück, München, Mittwoch den 25. Mai 1808, S. 986 – 1000. 86 Konstitutionstaler auf die Verfassung von 1818, in: www.bavarikon.de/object/bav:BSBCMS-0000000000003187 und www.bavarikon.de/object/SMM-OBJ-0000000000182887 (eingesehen am 28. 11. 2020). 87 Vgl. Stephan Deutinger, Tendit ad aequum. Geschichte und Bedeutung der Devise der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in: ZBLG 92 (2009), S. 359 – 380. 88 Charta Magna Bavariae, in: Johannes Erichsen/Katharina Heinemann (Hrsg.), Bayerns Krone 1806. 200 Jahre Königreich Bayern, München 2006, S. 272 – 279, Abbildung S. 279. 89 Charta (Fn. 88), Abbildung S. 272; Hubert Glaser (Hrsg.), Wittelsbach und Bayern, Bd. 3: Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat, München 1980.
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eignisse in Gaibach und vor allem in Hambach zeigten.90 Jedenfalls trug die Verfassung zur Aktivierung von bürgerlichem politischen Engagement bei.
VIII. Resümee Staatsbildung durch Verfassungsgebung, diesen Zusammenhang wird man für Bayern bejahen und dabei den vorangehenden öffentlichen Diskurs und politischen Transformationsprozess in Verbindung mit außen- und territorialpolitischen Veränderungen und mit der Herausforderung der inneren Integration seit 1778 beachten. Durch die Bayerische Erbfolge und die folgende Vereinigung von Pfalz und Bayern hatte sich schon vor der Französischen Revolution eine eigene Dynamik in Verfassungsfragen entwickelt. Pfalzbayern hatte vor dem großen Umbruch in Europa Integrationserfahrung mit komplementären staatsrechtlichen Diskursen und Auseinandersetzungen. Das mag trotz Verfassungsgebung von Oben eine beachtliche Akzeptanz des Verfassungswerkes erleichtert haben. Krone und Verfassung mit staatsbürgerlichen Rechten und frühparlamentarischen Partizipationsformen sollten sich wechselseitig legitimieren. So erklärt sich auch das eingangs geschilderte 25. Herrscherjubiläum im Jahr 1824 mit den zahlreichen Verweisen auf die Verfassung und den darin garantierten Grund- und Freiheitsrechten als herausragende Leistung des Herrschers. Das führt uns zur abschließenden Frage, inwieweit die Staatsbildung durch Verfassung gelingen konnte. Blickt man in die Ständeversammlung bzw. den Landtag oder auf die Kontroversen, die der eingangs genannte Joseph von Miller austrug, dann erkennt man, dass von der ersten Ständeversammlung 1819 an die Erwartung einer Weiterentwicklung der Verfassung Thema war. Die Trennung von Justiz und Verwaltung, Gerichtsverfassung und Rechtssetzung, Infragestellung verbliebener Privilegien des Adels, Erweiterungen von Wahlrecht und Kompetenzen des Landtags waren von Anfang an Gegenstand von Forderungen und Kontroversen, was dann im Vormärz vielfach Ausdruck fand und 1848/49 zur Weiterentwicklung der Verfassung führte, später vor allem durch Wahlrechtsreformen. Erst mit den Reformbeschlüssen bei Ende des 1. Weltkrieges sollte die Verfassung zur parlamentarischen Monarchie transformiert werden. Mit der unmittelbar darauf folgenden Revolution 1918 wurde sie obsolet. Bei Fragen der inneren Integration des neuen bayerischen Staates zeigten sich nach der Übernahme neuer Landesteile ab 1806 in den nachmals österreichischen Landen und in Franken sowie vereinzelt in Schwaben auch Kräfte, die eine ambivalente Haltung zu den Reformen einnahmen, die auf der Verfassung von 1808 beruh90 Michael Kißener, Das Hambacher Fest 1832. Ein Ort der Demokratie? Ein bayerischer Erinnerungsort?, in: Kramer (Hrsg.), Orte der Demokratie in Bayern (ZBLG 81) 2018, S. 121 – 128; Georg Seiderer, Gaibach, Vom Verfassungs- zum Freiheitsfest, in: ebda., S. 105 – 120.
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Ferdinand Kramer
ten. In Franken, Schwaben und in der Pfalz spitzen sich im Vormärz und 1848/49 Probleme zu. Die Problematik wurde in der Pfalz in den Weimarer Jahren und zuletzt 1945/46 noch einmal virulent und trug letztlich zur Abtrennung von Bayern bei. Sieht man von der Pfalz ab, hat sich die seit den 1770er Jahren in Transformation befindliche, insbesondere 1808 und dann 1818 mit Verfassungen konsolidierte bayerische Staatlichkeit in dem 1816 gefundenen neuen territorialen Zuschnitt behauptet. Dabei blieb in Staatlichkeit und politischer Kultur Bayerns die Integration der unterschiedlichen Landesteile eine Daueraufgabe.
Diskussion Karsten Ruppert: Herr Kramer, das Problem mit der Verfassungsgebung 1818 ist für die Dynastie natürlich, dass eine gewisse Rivalität bei der Identifikation entsteht. Bisher war in Bayern die Identifikation mit dem Staatsgebilde über die Dynastie möglich. In dem Moment, in dem eine Verfassung entsteht, gibt es im Hinblick auf die Identifikation eine Rivalität der Institutionen, einerseits die Dynastie, andererseits die Verfassung. Sie haben ganz kurz gesagt, man habe sich gegenseitig gestritten oder ergänzt. Jetzt wäre meine Frage: Hat bei der Verfassungsgebung diese Überlegung eine Rolle gespielt? Hat man gesehen, dass der Dynastie eine gewisse Rivalität erwächst mit der Verfassung? Ergänzend dazu die Frage: Kann man in Bezug auf das Zusammengehörigkeitsgefühl erkennen, ob die Identifikation der Bevölkerung außerhalb der ehemaligen kurbayerischen Gebiete mehr über die Verfassung geht und im Kurbayerischen mehr über die Dynastie? Ferdinand Kramer: Schwer zu sagen, weil man den Zusammenhang fast nur über den öffentlichen Diskurs nachvollziehen kann und dieser zeigt nach 1818 häufig König und Verfassung in Parallele, auch mit bekannten Bildern, der König im Ornat mit der Hand auf der Verfassung. Nur vereinzelte Stimmen am Rande 1848/ 49 gehen schon in eine republikanische Richtung und stellen damit implizit auch die bestehende Verfassung in Frage. Generell zeigen die mir bekannten Quellen König bzw. Dynastie und Verfassung in Verbindung, auch weil die Verfassung in der Regel als Geschenk des Königs dargestellt wird und so untrennbar vom Monarchen erscheint. Man kann auch fragen, ob man in den 1820er Jahren den König gleichsam „mahnen“ wollte; er soll an seine Errungenschaft erinnert und damit weiter auf seine Verfassung verpflichtet werden. Womöglich kommt daher der starke appellative Impetus 1824 zum 25. Herrscherjubiläum Max I. Joseph. Man darf zudem nicht vergessen, auch für die Menschen in Altbaiern bedeutet die Erhebung zur Königswürde eine neue Form der Identifikationsmöglichkeit mit einer höheren Würde. Ähnliche Argumentationsmuster finden wir in Schwaben und in Franken, auch in den Reichsstädten. Es ist im Übrigen auch so, wie Karl Murr gezeigt hat, dass deswegen der wittelsbachische König und Kaiser Ludwig der Bayer im späten 18. und dann vor allem im 19. Jahrhundert stark instrumentalisiert wird, weil er im Mittelalter zahlreiche Privilegien für die Reichsstädte vergeben hat und auch weil er mit dem Papst schwere Konflikte austrug, so dass er eine hohe Integrationskraft für neubayerische evangelische Landesteile haben konnte. Und dann hatte er auch noch den gleichen Namen wie der Kronprinz und spätere König Ludwig I., sodass er massiv als Erinnerungsfigur genutzt wird. Man kann für Bayern Dynastie und Verfassung zunächst kaum getrennt voneinander interpretieren, auch wenn es sicherlich Nuancen gibt.
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Peter Oestmann: Ich habe eine Frage zu der Kontinuität zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert. Sie hatten im ersten Teil Ihres Vortrags gesagt, die Zeitgenossen seien davon ausgegangen, dass Bayern im 18. Jahrhundert eine Verfassung gehabt habe, die sei nur reformbedürftig gewesen. Vor der Theorie der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ und der Sattelzeit frage ich mich, ob das gleiche Wort vor 1800 etwas Anderes bedeutet haben kann als nach 1800. Also wenn die Zeitgenossen über Verfassung reden, meinten sie vielleicht einmal Verfasstheit im Sinne der Beschreibung, wie der Staat aussieht, und danach meinten sie ein Gesetz mit einer Verfassungsurkunde oder redeten sie wirklich von derselben Sache? Können Sie in Ihren Quellen den Sprachwandel erkennen? Oder würden Sie sagen, das stimmt gar nicht, diese Theorie mit der Sattelzeit? Ferdinand Kramer: Das ist eine große Frage. Aber ich würde sagen, spätestens seit den Entwicklungen mit der Unabhängigkeit der USA und der Französischen Revolution ist der Verfassungsbegriff des späten 18. Jahrhunderts und der des frühen 19. Jahrhunderts nicht mehr so divergent. Die Eliten in Bayern nehmen sehr wohl wahr, was da in Übersee und noch mehr dann in Frankreich passiert ist. Man tut sich im 19. Jahrhundert in Bayern noch schwer, die USA anzuerkennen, weil sie revolutionären Ursprungs sind. Der Verfassungsbegriff ist spätestens mit der Entwicklung der USA und dann natürlich mit der Entwicklung in Frankreich in der Welt. Er rührt eindeutig aus dem 19. Jahrhundert. Interessant ist auch, dass die Verfassung von 1808 von der Aufhebung aller Verfassungen spricht. Georg Schmidt: Herr Kramer, vielen Dank für den Vortrag. Wenn wir von Verfassungspatriotismus reden, dann meinen wir ja auch, dass die existierende Verfassung in irgendeiner Form geliebt wird oder sagen wir einfach, eine Loyalität zu ihr vorhanden ist, oder es wird für sie aktiv eingetreten oder etwas in dieser Richtung. Wie ist denn das in Bayern? Lieben die Bayern ihre teilweise skurrilen Herrscher, die es im 19. Jahrhundert ja gibt, oder lieben sie wirklich ihre Verfassung? Ferdinand Kramer: Viele Quellen zu den Königen haben einen panegyrischen Charakter, insofern ist eine Einschätzung nicht immer einfach. Bei einer breiten grundsätzlichen Loyalität finden sich doch auch immer wieder kritische Stimmen. Bei den Feiern zum Herrscherjubiläum 1824 steht beides auf dem Podest, König und Verfassung. Thematisiert wird dabei ganz auffällig auch die Verfassung. Interessanterweise werden 1824 auch Verfassungsquader in einzelnen Städten aufgestellt. Dies ist bekannt für Landsberg am Lech und für Dillingen an der Donau. Liebe zur Verfassung? Schaut man auf Leute wie Joseph von Miller, ein sozialer Aufsteiger und Advokat in München in dieser Zeit, dann erkennt man, dass die Verfassung einen hohen Stellenwert auch für das Selbstbewusstsein der Eliten hat. Bayern hat dank der Verfassung ein neues positives Image in der Welt, ein modernes Land, das sich in Europa sehen lassen kann und mit dem man sich identifiziert. Ewald Grothe: Erste Frage: Die Verfassung von 1808 hat ja möglicherweise deswegen nicht so viel Anklang gefunden, weil sie so französisch inspiriert war. Vorbild war wohl auch die westfälische Verfassung. Und Bayern war eben dann auch Mit-
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glied des Rheinbundes, der französisch dominiert war. Das hat möglicherweise eine größere Popularität verhindert, aber auch natürlich die Tatsache, dass keine Nationalrepräsentation, Sie erwähnten das, zustande gekommen ist. All das mag die Entstehung eines Verfassungspatriotismus erschwert haben. Wie würden Sie das einschätzen? Zweite Frage: Sie sprachen ganz am Ende von einer Doppelloyalität, die man in einem föderativen Staat zum jeweiligen Bundesland und dann auch zum Zentralstaat habe. Im 19. Jahrhundert haben wir ja eine ähnliche Konstellation. Wir haben die Einzelstaaten und wir haben einen Deutschen Bund oder ein ersehntes Reich. Ich habe einmal bei Jacob Grimm festgestellt, dass man bei ihm einen doppelten Patriotismus feststellen kann. Er sagt nämlich, seine Heimat sei Hessen und er hänge an Hessen und gleichzeitig möchte er aber wie fast alle Liberalen im 19. Jahrhundert vor 1871 ein einheitliches Reich. Würden Sie sagen, dass es eine Art doppelten Patriotismus auch in Bayern gegeben hat? Ferdinand Kramer: Sie kennen die Thesen von Dieter Langewiesche unter dem Schlagwort der „föderativen Nation“. Darin findet sich viel Zutreffendes, wobei man in Bayern differenzieren sollte. Es bestehen große Unterschiede in Franken, Schwaben und Altbaiern. Franken und Schwaben standen mit Reichsstädten usw. in ganz anderen reichischen Traditionen als das Kurfürstentum Bayern; in Mittelfranken kommt mit den Hohenzollern als Burggrafen von Nürnberg auch noch die dynastische Komponente hinzu und es kommt das protestantische Element als die vermeintlich „deutsche Konfession“ in die Interpretamente des 19. Jahrhunderts. Deswegen ist die Frage, wieweit man „deutsch“ wird, auch eine Frage der inneren Integrationsfähigkeit Bayerns. Das ist eine schwierige Balance, die bis heute in Bayern eine Rolle spielt. Wie weit kann man sich national deutsch positionieren, um auch im Inneren Bayerns zu integrieren, und ab wann verletzt dies womöglich die stärker in Altbaiern verankerten eigenstaatlichen Traditionen? Diese Balance zu finden, ist schwierig, eine Herausforderung der politischen Kultur in Bayern seit dem 19. Jahrhundert. Deswegen braucht es auch eine ganze Reihe ständiger Integrationsanstrengungen. Das ist zum Verständnis wichtig. Was nun diese Problematik mit Frankreich anbelangt: Um 1808 ist es in der Tat so, dass es für die bayerische Regierung und den Monarchen schwierig ist, adäquat damit umzugehen. Wir haben uns bei der 200-JahrFeier von 1806 – 2006 intensiver mit diesen Dingen beschäftigt, auch mit der Königsproklamation am 1. Januar 1806. Da entwickelt sich folgende aufschlussreiche Szene: Napoleon ist in München, seine Frau schon seit ein paar Wochen, dazu die ganze Entourage des Siegers von Austerlitz. Aber die Königsproklamation vollziehen die Bayern ohne Napoleon, obwohl er im gleichen Gebäude ist. In einem kleinen Nebenzimmer der Residenz treten zehn Leute zusammen, es wird das Königreich Bayern proklamiert und dann auf den Straßen verkündet. Napoleon, Frankreich, tauchten im Text der Proklamation und in den Legitimationen und Begründungen für die Königswürde nicht auf. Anders als in Württemberg. Ich denke schon, dass den Verantwortlichen in Bayern bewusst ist, dass man diese Legitimation eben nicht von Napoleons Gnaden bekommen oder ableiten darf. Deswegen bemüht
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man ein historisches Argument. Man wollte eine vormalige Königswürde Bayerns wiederaufleben lassen. Das zeigt die Ambivalenz des Verhältnisses zu Frankreich. Wenn man das diplomatische Ringen Bayerns in jenen Jahren betrachtet, dann geht es um Interessenpolitik und Souveränität, wie dies Preußen, Österreich und andere auch betreiben. Freilich: Treitschke und andere haben das später aufs Übelste diskreditiert, weil in deren Augen nur Großmächte und Preußen Interessenpolitik betreiben durften. Die Formulierungen Treitschkes zur Königserhebung von 1806 sind auch im Vokabular vom Übelsten. Zur Interessenpolitik Bayerns gehörte der ambivalente Umgang mit Frankreich. Napoleon hat ja viel dafür getan, um Bayern nachhaltig zu gewinnen. Er hat den Kronprinzen an sich persönlich herangelassen. Er hat ihn nach Paris eingeladen, länger als ein halbes Jahr. All diese Bemühungen hatten freilich das Gegenteil zur Folge. Dieser junge Ludwig entwickelte massive Aversionen gegen Frankreich, was sich dann später auch in der politischen Kultur Bayerns artikuliert hat. Im Übrigen er, der so souveränitätsbewusst war, hat verkannt, dass ein geschwächtes Frankreich eben auch eine geschwächte bayerische Souveränität zur Folge haben konnte. Das hat er erst später erkannt, da gibt es Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren nach seinem Rücktritt 1848. Dann merkt er plötzlich, dass seine Kulturpolitik mit dieser antifranzösischen, deutsch-nationalen Komponente sein bayerisches Souveränitätsbestreben konterkariert hat. Da gibt es eine Tagebuchnotiz, er würde in seiner Residenz keine Kaiser mehr an die Wand malen lassen. Plötzlich, angesichts der deutschen Nationalbewegung, merkt er nach und nach, dass da Kräfte in Gang gesetzt worden sind, die sich nur noch bedingt einfangen lassen. Dann entwickelt man das Narrativ der Doppelloyalität oder der zwei Vaterländer als Bayer und Deutscher. Matthias Jestaedt: Herr Kramer, ich würde ganz gern die Frage von Herrn Oestmann noch einmal aufgreifen und etwas anders wenden. Sie haben von der Verfassung stets, wenn ich das richtig verstanden habe, im generischen Singular gesprochen. „Die Verfassung“ – was meinen Sie damit? Ist damit lediglich ein Symbol im politischen Diskurs gemeint? Ein Symbol beispielsweise von Modernität? Oder ein besonderes neues Symbol von Legitimität? Oder geht es doch eher in einem strenger juristischen Sinne um das Ensemble höchstrangiger Rechtsregeln, die – wie alles Recht im Übrigen – als soziales Steuerungsmedium dienen? Und wenn letzteres der Fall sein sollte: Können Sie Evidenzen für bestimmte oder gar für alle Regelungen „der Verfassung“ liefern, dass und in welcher Weise sie als Rechtsregeln sensu stricto die Zusammengehörigkeit oder Zugehörigkeit bestimmt oder befördert haben? Oder war „die Verfassung“ doch eher bloß eine Idee oder ein Konzept, auf die oder das man im politischen Diskurs im Singular referieren konnte? Ferdinand Kramer: Auf jeden Fall ist die Verfassung ein Symbol und gleichzeitig ein Referenzpunkt für die Fortentwicklung des Rechts, was sich in manch öffentlicher Kontroverse etwa zur Mündlichkeit von Verfahren oder auch in Diskussionen im Landtag nachvollziehen lässt. Vor allem im Umfeld der Beamtenschaft, wo Recht vollzogen wird und wo man Recht in der Praxis fortentwickelt, da ist die Verfassung weit mehr als eine rhetorische Figur oder symbolhaftes Phänomen. Auch dafür ist
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Joseph von Miller ein interessantes Beispiel, weil er als Advokat aus der Praxis kommt. Wenn man später Max von Seydel und andere Staatsrechtler Bayerns ansieht, dann hat die Verfassung wohl unzweifelhaft zum Stolz bayerischer Juristen beigetragen. Aus dieser Verfassung leitete man eine starke Rechtsstaatlichkeit ab und entwickelte diese fort, etwa mit den Bemühungen um die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit und anderes mehr. Johannes Burkhardt: Unser Tagungsprogramm möchte Zusammengehörigkeit als ein Mittel der Staatsbildung über die Verfassung, Zusammengehörigkeit als ein Mittel der Staatsbindung thematisieren. Jetzt habe ich aber den Eindruck gewonnen, zumindest in der Anfangszeit ist die Verfassung für Bayern auch ein Mittel der Trennung, eigentlich etwas sehr Sezessionistisches, das dann nachher wieder eingefangen wird, aber eher durch die Person des Monarchen als durch die Verfassung selbst. Ist diese Verfassungsbildung auch in diesem Sinne, dass man Abstand nimmt vom Reich und der deutschen Gesamtstaatlichkeit, zu verstehen? Ich möchte diesen Eindruck an einem Beispiel konkretisieren. Ich war Direktor des Fuggerarchivs im Nebenamt, und dort befindet sich eine Staatsschrift „Germaniens Wiederkehr“, ein Verfassungsentwurf nach der Auflösung des Reiches im Vorfeld des Wiener Kongresses, wo ein deutscher Verfassungsentwurf gebracht wird, der sich an die alte Reichsverfassung anlehnt, aber auch moderne Züge herübernimmt. Bayern, das ist nicht bayernkritisch oder bayernfeindlich, hätte auch einen Platz darin. Diese anonyme Schrift war im München jener Zeit extrem unwillkommen. Nachher stellte sich heraus, der Verfasser war der Fürst Anselm Maria Fugger, der natürlich unter der Mediatisierung litt und praktisch gerne das Reich aufrechterhalten hätte, aber in modernisierter Form. Er wurde geschnitten, praktisch sein ganzes Leben lang, und bekam fast bis an sein Ende keinen Job mehr im neuen Königreich Bayern. Darum meine Frage: Sie haben gezeigt, dass es doch auf eine bayerischdeutsche Doppelstaatlichkeit hinauslaufen würde, wie im Alten Reich – ist das richtig so, habe ich das richtig verstanden? Ferdinand Kramer: Mit Blick auf das Reich zeigen sich manche Ambivalenzen. Grundsätzlich ist von einer Reichsloyalität auszugehen. Schließlich hatte man im 18. Jahrhundert mit Karl Albrecht einen Kaiser gestellt. Entgegen der Tradition wurde für die Witwe das Frauenzimmer nicht verkleinert, sondern bis zu deren Tod 1756 in vollem Umfang erhalten. Die Kaiserin sollte offensichtlich das wittelsbachische Kaisertum weiter symbolisieren. Reichsloyalität spielt als politisches Leitbild eine Rolle. Auch bei den Verträgen von 1805, als sich Bayern letztlich dann Frankreich anschließt, ist dies nicht so selbstverständlich, wie es ex post erscheint. Es spielt die Loyalität zum Reich immer noch eine Rolle in der Entscheidungsfindung. Aber es gibt eben die Interessen des Hauses Habsburg, die sich ein um das andere Mal gegen Bayern gerichtet hatten. Die Menschen denken historisch in dieser Zeit. Österreich war von Bayern gelöst worden, es folgte Tirol an die Habsburger. Dann hat man 1505 die Gerichte Kufstein, Kitzbühel und Rattenberg verloren, 1779 das Innviertel verloren. Immer wieder hatte sich der größer werdende Nachbar,
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der eben auch an der Spitze des Reiches stand, an Bayern bedient. Insofern gab es in Bayern ein ambivalentes Verhältnis zur Reichsspitze. Und die vorangegangene, dem Reich gegenüber gleichgültige Interessenpolitik Preußens und Österreichs sind Vorbild 1805. Wien war mit militärischen Erpressungsversuchen in München aufgetreten, so dass die Loyalität überstrapaziert wurde, zumal Napoleon auch übermächtig in Europa positioniert war. Und dann gibt es mit der Souveränität, mit der Erhöhung zum Königreich auch eine – heute würde man sagen – Identitätspolitik, die dann mit weiß-blau als Nationalfarben und dergleichen mehr betrieben wird. In jenen Jahren, auch in der Königsproklamation, ist vielfach von der bayerischen Nation die Rede. Allerdings wurde diese Identitätspolitik später vom Kronprinzen zum Teil durch andere Phänomene wie der Walhalla überlagert. Die Berufung preußischer Gelehrter, sogenannter „Nordlichter“, nach München konterkarierte nicht zum geringsten die eigene Identitätspolitik im 19. Jahrhundert in München. Bisweilen verkennt Politik, wie eng Staatspolitik und Kulturpolitik miteinander zusammenhängen, auch wenn sie in der Wirkung selten synchron verlaufen. Wenn man, auf den heutigen Fall übertragen, Frau Grütters immer mehr Mittel in die Hand gibt und damit eben doch auch Deutungskontexte von der kommunalen und Länderebene auf die nationale Ebene verschoben werden, dann ist dies auch ein Vorzeichen für weiterreichende Machtverlagerung nach Berlin und zum Bund. Solche Phänomene kennen wir in der Geschichte vielfach und Ähnliches ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Bayern zu beobachten. Später übrigens, 1855, wird dann das Bayerische Nationalmuseum eben als Nationalmuseum bezeichnet, als die Dinge schon gelaufen waren, als die deutsche Nationalbewegung über die bayerische „Nationalbewegung“ hinwegging. Rainer Polley: Ich möchte zum großen bayerischen Staatsmann Maximilian Joseph Graf von Montgelas noch eine Frage stellen, die sich auf die Herkunft seiner Familie bezieht. Bei den zeitgenössischen preußischen Staatsmännern Karl August Fürst von Hardenberg und Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein könnte ich die familiäre und räumliche Herkunft dieser zentralen Persönlichkeiten schildern. Aber bei Montgelas setzt mein Wissen aus. Woher stammt seine Familie? Die sprachliche Seite des Namens deutet nicht auf eine altbaierische Herkunft hin, sondern auf eine Nähe zu Frankreich, die zum Beispiel beim Herzogtum Pfalz-Zweibrücken gegeben wäre. Und danach noch die Frage, ob die Verdienste und das Ansehen von Montgelas in Bayern bis heute in einer Denkmalkultur Ausdruck gefunden haben. Hat seine Familie über Söhne und Enkel in der weiteren Entwicklung des Königreichs Bayern bis 1918 noch eine Rolle gespielt? Dankeschön. Ferdinand Kramer: Montgelas stammt aus Bayern. Er heißt Maximilian, weil Max III. Joseph sein Taufpate war. Die Wurzeln der Familie liegen in Savoyen. Er besuchte ab dem 5. Lebensjahr die Schule in Nancy und später die Universität in Straßburg. Also, Montgelas ist ein in Frankreich sozialisierter Altbaier, ab 1776 in Ingolstadt und München, wird dann wohl Illuminat und muss deswegen seinen Dienst für den pfalzbayerischen Kurfürsten Karl Theodor 1785 aufgeben, geht
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nach Zweibrücken und kommt über die erneute Erbfolge im Haus Wittelsbach 1799 zurück nach München als leitender Minister von Kurfürst Max IV. Joseph, ab 1806 König Max I. Die Frage ist insofern interessant, weil sie eben für das Nachleben von Montgelas und die historische Reputation durchaus Bedeutung hatte. Solange Frankreich als Erbfeind galt, war allein der Klang des Namens Montgelas schon verdächtig. Dann kam eine Um-Bewertung Montgelas‘ vor allem durch einen meiner Vorgänger, Michael Doeberl, Anfang des 20. Jahrhunderts in Gang. Doeberl dachte sehr vom bayerischen Staat und sehr stark auch von der Ministerialelite Bayerns her. Montgelas‘ Reformen haben die Beamten und die Ministerialverwaltung in Bayern stark gemacht. Der Politologe Alf Mintzel hat einmal geäußert, die CSU sei die erste politische Kraft in zwei Jahrhunderten gewesen, die im Machtgefüge von Verwaltung und Politik wieder die Oberhand gewonnen hätte. Und dann gibt es bezüglich des Montgelas-Bildes eine jüngere Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg etwa mit Eberhard Weis, dem Biographen von Montgelas. Da hat man einerseits die Emanzipation der süddeutschen Traditionen der deutschen Geschichte gegen die preußische, dominante Interpretation der deutschen Geschichte betont. Franz Schnabel hat diesbezüglich erhebliche Wirkung in München hinterlassen. Andererseits sehen wir eine Öffnung gegenüber den europäischen Nachbarn, die nach 1945 in der bayerischen Historie eine wichtige Rolle spielte. In meinem Fach, der Landesgeschichte, wird an der Kommission für Bayerische Landesgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ein Auslandsstipendium eingerichtet, so dass dem wissenschaftlichen Nachwuchs lange Forschungsaufenthalte in europäischen Nachbarländern ermöglicht werden. Eberhard Weis war in Frankreich. Dann kam in der jüngsten Zeit die Instrumentalisierung von Montgelas für die Reformpolitik in der Ära von Ministerpräsident Stoiber mit einem überlebensgroßen Denkmal am Münchener Promenadeplatz. Wobei auch interessante Widersprüche zu entdecken sind: Die Regierung Stoiber hat damals Entstaatlichung, Autonomisierung der Universitäten, Verkauf von Staatsbesitz etc. propagiert, während Montgelas, der besonders von Finanzminister Kurt Faltlhauser verehrt wurde, das Gegenteil getan hat. Er hat mit Mediatisierung und Säkularisation verstaatlicht. Bei Montgelas gab und gibt es vielfältige Formen der Instrumentalisierung. Auch Nachfahren spielen dabei eine Rolle. Und es gibt die Montgelas-Gesellschaft, die dezidiert bayerischfranzösische Verbindungen pflegt. Michael Kotulla: Herr Kramer, ich habe Bedenken mit Blick auf das Zustandekommen der 1808er Verfassung. Sie stellen dies so dar, als handelte es sich hierbei quasi um einen selbstbestimmten Akt Bayerns, also des Königs und Montgelas. War es nicht vielleicht doch eher so, dass man, als Folge der Mailänder Gespräche, in Bayern einfach, wir würden heute vielleicht sagen „Muffensausen“ bekam? 1807 war die westfälische Verfassung quasi als „Vorbild“ für die Rheinbund-Staaten in Paris formuliert und erlassen worden. War es nicht doch eher so, dass Bayern – gerade erst Souveränität gewinnend und ein moderner Staat werdend – einfach fürchtete, eine ebensolche Verfassung aus Paris diktiert zu bekommen? (Erster Punkt). Daran anschließend der zweite Punkt: Mich stört ein wenig, dass die Rolle des Rheinbundes
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hierbei gar nicht zum Tragen kommt. Immerhin sieht die Rheinbundakte nur eine innere Souveränität der Rheinbundmitglieder vor. Nach außen gibt es diese Souveränität bekanntlich nicht. Mit Blick auf letztere ist es allein der „Protektor“ Napoleon, der die Maßregeln vorgibt. Aber ist es nicht gerade die den Monarchen von der Rheinbundakte im Innern zugestandene Souveränität, die es auch rechtlich erlaubt, sich etwa über bisherige ständische Strukturen hinwegzusetzen? Gerade diese Souveränität räumt dem Landesherrn die Befugnis ein, auch alte wohlerworbene Rechte und ähnliches zu ignorieren. In Bezug auf die 1818er Verfassung erscheint mir das von Ihnen Geschilderte etwas zu „patriotisch“. Ich glaube, dass diese Verfassung aus der Not heraus geboren ist. Der bayerische König hat ein Problem: Er ist, um es ganz salopp zu sagen, pleite! Die napoleonischen Kriege haben das Land nahezu vollends zerrüttet. Überdies hat man durch Säkularisierung, Mediatisierung und als Folge der Kriegsgewinne durch Napoleon viele Gebiete hinzugewonnen. Hier bestehen nach wie vor denkbar unterschiedliche Loyalitäten, die nun erst einmal unter dem Dach des Königtums zusammengefasst werden müssen. Das heißt, im nachnapoleonischen Bayern kann – mit Ausnahme in den alten bayerischen Kernlanden – von einer einheitlichen bayerischen Staatsstruktur überhaupt keine Rede sein. Bezweckt angesichts dessen der Konstitutionserlass nicht doch letztlich nur die Vereinheitlichung von Verwaltungsund Staatsstruktur, soll diese Verfassung nicht gerade darauf bezogen eine Art „Integrationsfaktor“ sein? Kurzum, ich glaube, die 1818er Verfassungsgebung hat vergleichsweise wenig damit zu tun, dass man in Bayern plötzlich so etwas wie ein „WirGefühl“ entdeckt oder dass der König zeigen möchte, welch moderner Herrscher er ist. Er wird einfach von den Umständen getrieben. Ferdinand Kramer: Zur ersten Frage: Ohne Zweifel gibt es auch Handlungszwänge, die aus der außenpolitischen Konstellation kommen. Ob es Napoleon unmittelbar ist oder ob es dann der Rheinbundkontext ist – in der Sache ist dies unstrittig. Aus der von Eberhard Weis angestoßenen Edition der Staatsratsprotokolle ist inzwischen gut nachvollziehbar, dass 1799 die Arbeit an einem Staatsgrundgesetz beginnt und dass daran Leute arbeiten, die schon in der Zeit um die 1770/80er Jahre an diesen Diskussionen beteiligt sind und noch Anfang des 19. Jahrhunderts in der Landesverwaltung aktiv sind. Man wird auch nicht verkennen, dass die Vereinigung von Bayern und der Pfalz in einem wittelsbachischen Gesamtfideikommiss und einem Kurfürstentum 1779 schon zahlreiche staatsrechtliche Fragen aufgeworfen hat und im Übrigen auch zu einer politischen Integrationsleistung herausgefordert hat, nicht nur mit Blick auf die rheinische Pfalz, sondern auch auf das Fürstentum Pfalz-Neuburg und die pfälzischen Besitzungen in der Oberpfalz. Es gibt demnach einen eigenständigen Verfassungsdiskurs und eigenständige Verfassungspläne und dann auch ganz unstrittig Handlungsdruck durch die außenpolitischen Konstellationen. Bei 1808 spielt sicherlich auch der Friede von Preßburg eine Rolle mit dem Ende aller Lehensbeziehungen und der vollen Souveränität für Bayern, so wie es die beiden deutschen Großmächte genießen. Insofern sind damit ab 1805 auch andere innere Vorausset-
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zungen gegeben. 1818 würde ich die Situation ähnlich beurteilen: Innen-, außen- und auch finanzpolitische Motive fließen ineinander. Heide Barmeyer-Hartlieb: Herr Kramer, ich würde schon gern am Begriff der Sattelzeit festhalten. Für diese Umbruchzeit gilt, dass überkommene Begriffe einen anderen Inhalt bekommen. Das gilt auch für den Verfassungsbegriff. Sie haben ganz allgemein auf die Jahre zwischen 1799 und 1818 ausgegriffen, ohne besondere Berücksichtigung der jeweiligen Situation. Die Verfassungsdiskussion wird zwar fast überall geführt. Aber dann ist es umso wichtiger, sich die jeweilige Situation genau anzusehen. Zur Klärung dessen, was unter Verfassung in dieser Zeit zu verstehen ist, würde ich erst einmal lieber die Frage nach der Herrschaftslegitimation stellen. Deren Infragestellung hat vielfache miteinander verschränkte Gründe: Amerikanische und Französische Revolution, aber auch die beginnende industrielle Revolution und Bevölkerungsveränderungen. Wenn dann wie in Bayern neue Gebiete zum Staatsgebiet hinzukommen, dann kann eine geschriebene Verfassung als Ausweis von Modernität für neue Bevölkerungskreise attraktiv werden und als Integrationsmaßnahme dienen. Ich denke, man muss wirklich sehr genau die jeweilige Situation ansehen. Ich kenne die Verhältnisse im kleinen Lippe. Da steht dieses Problem neuer Gebiete nicht an, aber die Frage der Verfasstheit und der Herrschaftslegitimation gleichwohl. Hinzu kommt, dass dort eine Frau die Regentschaft innehat. Sie versteht sich selbstbewusst als Wahrerin der Interessen der Dynastie, und sobald dynastische Herrschaftslegitimation von der Bevölkerung infrage gestellt oder brüchig wird, muss eine neue Legitimation gefunden werden. In der Situation nach 1808 will diese in manchem an absolutistischen Vorstellungen orientierte Fürstin, die effektiv regieren will, den Widerstand der alten Stände dadurch brechen, dass sie eine dritte Kurie einführen will, mit der neue Bevölkerungsteile an der Herrschaft beteiligt werden, die dann aus Dankbarkeit ihr gegenüber vermutlich weniger selbstbewusst auftreten. Das kann man nicht einfach als modern bezeichnen, aber es ist eine Form neuer Herrschaftslegitimation. Sie wird dafür angegriffen: Sie sei eine Anhängerin der Revolution und Frankreich-hörig – so behaupten ihre reaktionären Gegner aus den alten Ständen, die durch eine dritte Kurie ihre Privilegien gefährdet sehen. Pauline will aber eigentlich nur ihre alte dynastisch orientierte Herrschaft legitimieren und befestigen. Diese Gemengelage der Interessen ist vielleicht verwirrend. Aber es entspricht der allgemeinen Situation der Sattelzeit. Die Situation Bayerns mit neuen Gebieten und das Jahr 1818/19 (Karlsbad) mit dem Einsetzen der Reaktion ist eine besondere. Also: Ich denke, man muss sich immer sehr genau die Situation ansehen. Und bezogen auf den Wandel der Begriffe in dieser Zeit: Wenn man beginnt, legitime Verfassung nur noch auf der Grundlage einer geschriebenen Verfassung zu akzeptieren und nicht mehr entsprechend älteren Vorstellungen durch monarchisches Prinzip, letztlich von Gottes Gnaden legitimiert begreift, dann ist der Schritt zum modernen Verfassungsbegriff getan. Anna Gianna Manca: Zunächst einmal vielen Dank, Herr Kramer, für Ihren interessanten Vortrag. Diesbezüglich drängen sich mir allerdings zwei Fragen auf, die ich gerne an Sie stellen möchte. Wenn ich richtig verstanden habe: Sie haben
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ganz am Anfang Ihres Referats von „demokratischen Zügen“ der bayerischen Verfassung von 1808 gesprochen. Wären Sie so nett, mir zu erklären, in welchem Sinn Sie das meinten? Und nun meine zweite Frage an Sie: Kann man wirklich Ihrer Meinung nach die Verfassung von 1808 eine Verfassung nennen? Stellte sie nicht eher, genauso wie im Allgemeinen die napoleonischen ,Verfassungen‘, nur ein Organisationsstatut dar, welches nämlich letzten Endes nur auf die Etablierung und Befestigung eines modernen Beamtenstaates (mit einem soliden Verwaltungsapparat, einer straffen Beamtenhierarchie und einer straffen Unterordnung beider an die Regierungsgewalt) abzielte? Um diese Frage zu beantworten, müsste man sich vielleicht am besten auf die Ebene der Verfassungswirklichkeit stellen und von hier aus die Frage beantworten, was wirklich von den Vorschriften dieser Verfassung umgesetzt wurde? Ferdinand Kramer: Diese Frage ist durchaus berechtigt, weil ein zentrales Element der Verfassung von 1808, eine Nationalrepräsentation, nicht realisiert worden ist. Allerdings habe ich keine Indizien dafür, dass ex ante zu unterstellen ist, dass sie nie realisiert werden sollte. Es waren wohl die Wandlungen der politischen, militärischen und territorialen Verhältnisse in Europa, die das schwierig gemacht haben, auch weil z. B. in Tirol dann der Aufstand oder Freiheitskampf losbrach. Ansonsten denke ich, wenn man wesentliche Elemente sieht, die Grundrechte, die institutionellen Interaktionsformen, die Verwaltung und die Rolle des Monarchen, dann enthält sie eine ganze Reihe zentraler Elemente einer Verfassung im Sinne des Konstitutionalismus. Im Wesentlichen hatte ich eigentlich den Eindruck, dass die Forschung der letzten Jahre bis hin zur Hans-Ulrich Wehler die Verfassung von 1808 im europäischen Vergleich aufgewertet hat. Ich wollte noch mal zurückkommen auf die demokratischen Züge. Das war nicht ex ante, sondern ex post im Diskurs. Als sich Joseph von Miller gegen die drängenden Kräfte, die seit 1819 im Landtag bzw. in der Ständeversammlung sind, artikulierte, sagte er – sozusagen in Verteidigung der Verfassung –, sie hätte schon genug demokratische Elemente, man müsse nicht auf monarchische und aristokratische Elemente in dieser Verfassung eifersüchtig sein. Das ist eine Wahrnehmung und Sprache der 1820er Jahre. Bei der Problematik der Begrifflichkeit und spezifischer Phasen habe ich versucht, die jeweiligen politischen Kontexte zu berücksichtigen. Formulierungen wie die „Verteidigung aller Individuen des Landes“ noch im 18. Jahrhundert deuten doch ins 19. Jahrhundert voraus. Man kann diesen Diskurs und den Verfassungsbegriff in dem Moment kaum mehr voneinander trennen, nachdem die amerikanische Verfassung und die französische Verfassung entstanden waren. Reinhard Mußgnug: Der integrative Charakter der Verfassung ist sicher sehr hoch zu veranschlagen. Das gilt für Baden, mein Heimatland, noch mehr als für Bayern, weil in Baden die dynastische Legitimation des Großherzogs auf besonders tönernen Füßen gestanden hat. In diesem Zusammenhang bewegt mich in besonderem Maße die Frage, was aus der integrativen Kraft der Verfassungsgebung danach im realen Verfassungsleben geworden ist. Ich sehe nur drei Jahrzehnte der großen Enttäuschung. Die Landtage mussten rasch entdecken, was die Verfassungen nicht enthal-
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ten haben: keine Pressefreiheit, kein Initiativrecht, kein Selbstverwaltungsrecht, kein Selbstversammlungsrecht, kein Budgetrecht, dafür massive Eingriffe des Deutschen Bundes, so dass ich im Konstitutionalismus des Vormärz eher eine Epoche der Enttäuschung sehe, in der die frühkonstitutionelle Monarchie im Volk stets der Kritik und der Entfremdung ausgesetzt gewesen ist. Oder sehe ich das falsch? Ferdinand Kramer: Ja, ich sehe das ähnlich. Deswegen ist es auch so notwendig, dass dieses zweite Integrationselement dabei ist. Diese Dualität, die da gespielt wurde in dem bayerischen Verfassungsdiskurs bei den Verfassungsfeierlichkeiten und bei diesem Herrscherjubiläum usw., die bedingen einander und deswegen habe ich Joseph von Miller eingeführt, der die Verfassung als konservativ-stabilisierendes Element gegen die weiter treibenden Kräfte verstand. Und die Integrationsfunktion darf man auch nicht nur territorial sehen, sondern auch vor dem Hintergrund, dass man z. B. in der Kammer der Reichsräte die vormaligen reichsunmittelbaren Adelsherrschaften integrieren konnte und damit auch Personenkreise und Räume integrieren konnte. Sicher ist von Anfang an eine Dynamik auf Weiterentwicklung erkennbar, die dann aber in Bayern ab den 1830er Jahren überlagert wird. König Ludwig I. ist revolutionstraumatisiert, war ein Flüchtling in jungen Jahren. Die Revolutionsangst führte dann eben auch zu Verhärtungen, gerade auch gegenüber dem Landtag. Ich sehe trotzdem nicht die Verfassung in Frage gestellt. Wir haben jetzt z. B. neuere Studien von Hannelore Putz über die Kunstpolitik des Königs. Da gibt es dann einen heftigen Konflikt zwischen dem Landtag und dem König, weil der Landtag die Bewilligung des Geldes für Bauprojekte verwehrte. Dieser Verfassungskonflikt wird dann geregelt über ein spezifisches Budget für den König und dann zahlt er es aus seiner Kasse. Aber Ludwig I. legt auch selbst in dieser Krisensituation noch Wert darauf, die Verfassung nicht zu verletzen. Die Integrationsleistung wird sicher schwächer. Das kommt 1848 dann zum Ausdruck. Da sieht man gerade im fränkischen, im pfälzischen und im schwäbischen Raum, dass die Integrationsleistung von Verfassung und König auch an Grenzen stieß. Oliver Lepsius: Wir sind am Ende einer langen Aussprache. Bayern ist ein faszinierender Gegenstand. Und dazu würde ich selber gerne noch, gestatten Sie mir, zwei Sätze sagen. Bayern ist unbedeutend als Territorialverband, sagen wir um 1800. München spielt keine signifikante Rolle im Reich. Militär können sie sich nicht leisten. Industrie haben sie keine. Drei Salinen im Salzburger Umland, ein bisschen Salzwirtschaft, das ist alles. Arm, unbedeutend. Was bedeutend ist, sind die Wittelsbacher. Die haben die Kurwürde. Die haben Territorien am Rhein. Die haben am Rhein und in der Pfalz Einnahmen. Und das Interessante finde ich, und das ist ja in Ihrem Vortrag auch deutlich zum Ausdruck gekommen, Herr Kramer, dass sich die Wittelsbacher, die ja kein bayerisches, sondern ein deutsches Herrschergeschlecht sind, auf einmal auf einen Territorialverband Bayern konzentrieren, der 1806 viel größer geworden ist und Gebiete umfasst, von denen die Wittelsbacher nie zu träumen gewagt haben. Und ihre anderen Territorien konnten sie dann aufgeben, das hat natürlich auch mit dem Aussterben der Seitenlinien zu tun, dass die Wittelsbacher vom Rhein an die Isar wandern. Und dafür ist natürlich die Verfassung
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wichtig, denn Montgelas ist vielleicht der erste, der ein Territorialverständnis von Bayern populär macht – obwohl er selbst zunächst nicht in Bayern gelebt hat. Er ist zwar in München geboren, aber aufgewachsen in Nancy und dann war er ewig in der Pfalz, in Zweibrücken beschäftigt. Das brannte im Krieg alles nieder und war alles recht ärmlich. Und 1799 kommt er mit dem Zweibrückener Thronerben nach München. Montgelas hatte Altbaiern zuvor nur wenig erlebt, aber immer von seinem Bayern geträumt. Montgelas war ein idealistischer Bayer. Und dieser Idealismus wird dann plötzlich real durch Napoleon, der Bayern ergänzt um Gebiete, die völlig unbayerisch sind: Oberfranken, Unterfranken, Nürnberg und andere Freie Reichsstädte. Wer ein stolzer Bürger von Nürnberg ist, der tauscht das, Königswürde hin oder her, nicht durch einen bayerischen Untertanen ein – wenn er nicht wenigstens eine Verfassung kriegt, die ein Mindestmaß an Rechten gewährleistet. Und deswegen würde ich schon sagen, da springe ich Herrn Kramer vollkommen bei, auch gegen Einwürfe aus dem Auditorium, dass die bayerische Verfassung eine staatsbildende, integrative ist. Denn sie hat die Dynastie umorientiert auf einen vorher für sie gar nicht erreichbaren Territorialverband und sie hat Herrschaftsunterworfene, die alles Mögliche waren, aber bestimmt keine Bayern waren, sondern in den Städten freie Republikaner oder reichsorientierte Franken, umorientiert auf Bayern. Und deswegen ist Bayern eine Schaffung des Rechts und keine Schaffung der Tradition, wie es heute verkauft wird mit Maibäumen und Lederhosen und Laptop und was dazu gehört. Das ist das moderne public-relations-Bayern. Das ist eine andere Erfolgsgeschichte.
Staatsbildung ohne Verfassung: Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Von Monika Wienfort, Berlin Wieso überhaupt sollen „Rechtsregeln“ fähig sein, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu generieren: Funktioniert das nicht weit besser mit einer gemeinsamen Herkunft, mit Ursprungs- oder anderen Geschichtsmythen, mit entscheidenden Schlachten der Kriegsgeschichte, mit einer gemeinsamen Sprache und Literatur und mit der Berufung auf Geistesheroen wie Shakespeare, Goethe oder Cervantes? Infrage kommen auch „nationale“ Überlegenheitsgefühle oder Gemeinschaft stiftende Opferrhetoriken, geteilte Erfahrungen von Triumph und Trauma. Für Preußen nach 1800 würde das vor allem bedeuten: die Erinnerung an Friedrich den Großen und der Aufstieg zur europäischen Großmacht im 18. Jahrhundert, die Folgen der deprimierenden Niederlage von Jena und Auerstedt 1806 oder die Entstehung des Mythos der Königin Luise als „Widerständlerin“ gegen Napoleon. Die Frage lautet damit, ob Recht in politisch-kulturellen Kontexten zu einer kollektiven Identität beitragen und, wenn man das bejaht, in welcher Weise es wirken kann.1 Unter die „Rechtsregeln“, die das Zusammengehörigkeitsgefühl von Öffentlichkeiten oder die Identität von politischen Einheiten formen oder wenigstens beeinflussen können, fallen vorrangig geschriebene Verfassungen. Für das Grundgesetz scheint das trotz zahlreicher Änderungen bis heute zu gelten, aber auch für die Verfassung der USA, die durch Amendments ergänzt wird. Selbstverständlich ist diese bedeutende Rolle für staatliche Gemeinschaften allerdings nicht: Großbritannien verfügt bis heute weder über eine geschriebene Verfassung noch ein klassisches Gesetzbuch, und für Frankreich hat der Zivilrechtler Jean Carbonnier in den „Lieux de memoire“ in den 1980er Jahren behauptet: „In nicht einmal zwei Jahrhunderten hat das Land mit Gleichmut mehr als zehn verschiedene Verfassungen ertragen (nicht mitgezählt die Senatskonsulte, Zusatzakte und Manifeste von Übergangsregierungen). Seine wahre Verfassung ist der Code civil – wahr nicht im formalen Sinn des Wortes, sondern im materiellen, um eine bei den Publizisten geläufige Unterscheidung zu übernehmen.“ 1 Vgl. als Beispiele Dieter Borchmeyer, Goethe, in: Etienne Francois/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1, München 2001, S. 187 – 206; Dirk Mellies/Pawel Migdalski, Schlacht im Teutoburger Wald und Schlacht bei Cedynia. Schlachten als nationale Gründungsmythen, in: Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hrsg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte Bd. 3, Paderborn 2012, S. 108 – 127; Birte Förster, Der Königin Luise-Mythos. Mediengeschichte des ,Idealbilds deutscher Weiblichkeit‘, 1860 – 1960, Göttingen 2011, bes. zum Wilhelminismus S. 157 – 268.
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Und er fährt im Anschluss fort: „Der Code civil rekapituliert die Ideen, um die sich die französische Gesellschaft seit der Revolution gesammelt hat.“2 Das aufgeklärte Gesetzbuch Napoleons mit dem Schutz des Privateigentums, der Gewerbefreiheit und der Trennung zwischen Kirche und Staat entsprach mit seiner Berufung auf das Erbe der Revolution von 1789 insbesondere den sozialen Interessen gewerblich selbständiger Männer, die den Kern des französischen Bürgertums des 19. Jahrhunderts bildeten. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums, beim alten Adel, den Legitimisten und der katholischen Kirche hat der Code civil freilich weniger Begeisterung ausgelöst. Vor allem die Französinnen haben im Übrigen das sehr patriarchalische Ehe- und Familienrecht zu spüren bekommen, das unter der Überschrift „Schutz der Familie“ die Rechte von Ehemännern und Vätern gegenüber Frauen und Kindern deutlich hervorhob.3 Die Bundesrepublik verfügt mit dem BGB ebenfalls über ein sehr weit ausstrahlendes bedeutendes Zivilgesetzbuch, von dem aber niemand als „gemeinschaftsbildend“ im gesellschaftlichen Sinn spricht. Seine Jubiläen werden jedenfalls eher im kleinen Kreis gefeiert. Prinzipien und Details des Gesetzbuches sind in der nicht-juristischen Öffentlichkeit nahezu unbekannt. Vermutlich kann man daraus schließen, dass ein Gesetzbuch nur dann als identitätsstiftend betrachtet werden kann, wenn entweder überhaupt keine Verfassung existiert oder die Verfassung nicht entsprechend stabilisierend wirkt und sei es vor allem deshalb, weil sie zu oft ersetzt worden ist.4
I. Ausgangspunkte Preußen blieb in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „vorkonstitutionell“. Erst nach der Revolution 1848/49 gelang der Schritt zum Verfassungsstaat. In der politischen Geschichte Preußens „zwischen Restauration und Revolution“ kommen die Verfassungsversprechen des Königs prominent vor. Die Geschichte einer preußischen Verfassungsgebung begann dabei in der Reformzeit, als die Pläne des Staatskanzlers Hardenberg, wenigstens die sog. „Notabeln“ an der gesamtstaatlichen Politik zu beteiligen, scheiterten. 1815 mit der „Verordnung über die zu bildende Re2 Jean Carbonnier, Der Code civil, in: Pierre Nora (Hrsg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 159 – 178, hier 174 f. 3 Alfons Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert – zwischen Tradition und Pandektenwissenschaft, Liberalismus und Etatismus, Frankfurt a. M., 2. Aufl. 1995; JeanLouis Halpérin, Husbands, Wives, and Judges in Nineteenth Century France, in: Willibald Steinmetz (Hrsg.), Private Law and Social Inequality in the Industrial Age. Comparing Legal Cultures in Britain, France, Germany, and the United States, Oxford 2000, S. 123 – 136. Zur Politik der Einführung in den Rheinbundstaaten und den Interessensgruppen Elisabeth Fehrenbach, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht – die Einführung des Code Napoleon in den Rheinbundstaaten, Göttingen 1974. 4 Eine weit verbreitete Festschrift zum Jubiläum 2000 gab es m. W. nicht. Vgl. als Beispiel einer Würdigung Dieter Schwab, Das BGB und seine Kritiker, in: ZNR 22.2000, S. 325 – 357.
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präsentation des Volks“ und 1820 im Staatsschuldengesetz kündigte der Monarch zwar eine Verfassung in diesem Sinn an. Aber obwohl eine immer größer werdende bürgerliche Öffentlichkeit lautstark eine gesamtstaatliche Repräsentation forderte, blieb die Umsetzung aus. Sowohl König Friedrich Wilhelm III. als auch sein Sohn und Nachfolger Friedrich Wilhelm IV. verweigerten sich dieser Forderung und hielten an Formen der Beamtenherrschaft bzw. an persönlichen Ratgebern fest. Preußen blieb bürokratisch-halbabsolutistisch organisiert, gelenkt von mehr oder weniger reformorientierten Beamten.5 Über die Entstehung einer politischen Verfassungsbewegung hinweg blieb das „Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten“ von 1794 geltendes Recht. Es überlebte auch den Zusammenbruch des Staates 1806 und den Wiederaufstieg in den Kreis der europäischen Mächte beim Wiener Kongress 1815. Es sprach von Preußen im Plural und gab sich damit als Produkt eines frühneuzeitlichen „composite state“ zu erkennen. „Die preußischen Staaten“ wurden weiterhin von der Dynastie zusammengehalten, behielten aber traditionelle rechtliche Eigenarten. Gleichzeitig dokumentierte das Gesetzbuch den Willen zur Einheit: Ein Recht und ein Gesetzbuch, das Zivilrecht und Strafrecht umfasste, sollten im Prinzip für sehr unterschiedliche Landesteile gelten. Dabei war in der Frühen Neuzeit ein Zustand großer Rechtszersplitterung charakteristisch. In manchen Bereichen des Zivilrechts, z. B. im ehelichen Güterrecht, Erbrecht oder Bodenrecht, stellten sich die Verhältnisse äußerst kleinteilig dar. Hinzu kam eine große Vielfalt in einer kaum vereinheitlichten Gerichtsverfassung, die zur Konkurrenz zahlreicher Gerichte führte.6 Staatsbildung als Thema der Geschichtswissenschaft wurde für Europa lange dominant von der historischen Frühneuzeitforschung betrieben. Es ging dabei nicht um beliebige Staatsformen, sondern um den „modernen Staat“. Man vermutete dessen Wurzeln in Europa wesentlich zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. Die europäische Frühneuzeitgeschichte hat in den letzten Jahren den recht erfolgreichen Versuch gestartet, wenigstens die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts gleichsam zurück in die Frühe Neuzeit zu holen, und auch die Revolution von 1848 eher als letzten Akt der Vormoderne denn als Aufbruch in die Gegenwart zu begreifen. Für eine Spezialisierung auf das 19. Jahrhundert scheint dieser Trend nicht von Vorteil, zumal auf der anderen Seite die Erforschung des 20. Jahrhunderts den Beginn der relevanten „Hochmoderne“ um das Jahr 1880 festsetzt. Solche Periodisierungsfragen sind nicht ganz so müßig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, weil sie historiographische Konsequenzen haben. Dass heute für das 19. Jahrhundert in der deutschen Geschichte nicht mehr vom „Sonderweg“ im Sinn einer Teleologie, einer gradlinigen Entwicklung, die auf den Nationalsozialismus weist, gesprochen wird, ist auch der Auflösung traditioneller Chronologien in der europäischen und Globalgeschichte 5 Jonathan Sperber, Rhineland Radicals. The Democratic Movement and the Revolution of 1848/49, Princeton 1991. 6 Als neueste Gesamtdarstellung mit einer „Wiederbelebung“ der Sonderwegsthese vgl. Hartwin Spenkuch, Preußen – eine besondere Geschichte. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648 – 1947, Göttingen 2019, zu den Regionen S. 86 – 108.
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und entsprechenden empirischen Untersuchungen, z. B. zur Bürgertumsgeschichte, zu verdanken.7 Lange Zeit erschien „Staatsbildung“ in den Geschichtswissenschaften als ein funktionalistischer Begriff, mit dem als Agenten vor allem Institutionen des Staates in den Blick genommen wurden: die Monarchie, das Militär, die Verwaltung (weniger die Justiz), denen man gern einen im Fall Preußens besonderen, eben „preußischen“ Geist, zuschrieb. Hinzu trat – untergeordnet – die „Gesellschaft“, vor allem Adel und Bürgertum, Medien und Öffentlichkeit. „Staatsbildung“ ist oft sehr zentralstaatlich und abgehoben gedacht worden, namentlich für Preußen. Sebastian Haffner hat einmal von der „abstrakten Staatlichkeit“ Preußens gesprochen. Heute wird diese „kalte Funktionalität“ von Bereichen und institutionellen Akteuren in der historischen Forschung als einseitig begriffen und verstärkt nach „Aushandlungsprozessen“ gesucht, die auch nichtstaatliche Akteure stärker in den Blick nehmen. Aus der Perspektive des Rechts könnte es nun um das Rechtsbewusstsein breiter Bevölkerungsgruppen oder noch kulturalistischer, um „Rechtsliebe“ oder „Rechtstreue“ gehen. Letztlich verweisen diese Bemühungen auf Formen einer Erfahrungsgeschichte, die nicht mehr primär die Entstehung von Gesetzen erforscht, sondern mit neuen Quellen an Implementation und Rezeption von Recht interessiert ist. Statt einer Ideengeschichte des Rechts im Kontext „abstrakter Staatlichkeit“ geht es dann um eine Darstellung und Interpretation von sozialen Praktiken des Rechts.8 Für Preußen sind traditionell das Militär und die Verwaltung als vorrangig für die Staatsbildung betrachtet worden. Für das Militär als staatsbildende Kraft sprechen der Aufstieg Preußens von einer Regionalmacht der Frühen Neuzeit zur (wenn auch zunächst kleinsten) europäischen Großmacht 1815 sowie das im 18. und 19. Jahrhundert eindrucksvolle Zahlenverhältnis zwischen Armee und Bevölkerung, welches das preußische Heer relativ zur Bevölkerung zur größten Armee in Europa machte. Das Motiv blieb übrigens in Gestalt des „Prussian Militarism“, der im Beschluss der Alliierten zur Auflösung Preußens 1947 genannt wird, bis zum Ende dieses Staates erhalten. Für die „Verwaltung“ stehen im Grunde zunächst die leitenden Politiker, sowohl Monarchen als auch Minister. Dem Aufbau der Verwaltung und der Funktion und Kompetenzen von Ämtern (z. B. dem Landrat) gelten seit der Grün7 Karen Hagemann/Simone Lässig (Organizers), Discussion Forum: The Vanishing Nineteenth Century in European History?, in: Central European History 51.2018, No 4, S. 611 – 695. Als einflussreichstes Werk im letzten Jahrzehnt vgl. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009; als Bilanzen der Bürgertumsforschung Peter Lundgreen (Hrsg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums, Göttingen 2000; Hans-Werner Hahn/Dieter Hein (Hrsg.), Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf -Vermittlung – Rezeption, Köln 2005. 8 Vgl. die umfassendere Darstellung bei Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999; Sebastian Haffner, Preußen ohne Legende, München, 2. Aufl. 1981, S. 191. Zur neuen Emotionsgeschichte vgl. Birgit Aschmann, „Das Zeitalter des Gefühls“? Zur Relevanz von Emotionen im 19. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.), Durchbruch der Moderne. Neue Perspektiven auf das 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2019, S. 83 – 118.
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dung der Acta Borussica vielfältige Forschungsinteressen, die das „spezifisch Preußische“ erkennen wollen. Von regionalen und provinzialen Themen ständisch-politischer Dimension, z. B. den häufig in der Forschung als wirkungslos deklarierten Provinziallandtagen im Vormärz, wissen meist nur Spezialisten.9 Wenn man diese Institutionen und Bereiche, in der die Staatsbildung meist verortet wird, ansieht, kann man unschwer erkennen, dass sämtliche Bereiche in einem weiteren Sinn von Rechtsregeln geprägt sind. Auch die „absolute Monarchie“ hatte ein Recht der Thronfolge (männliche Primogenitur), für das Militär zählte die Wehrpflichtgesetzgebung, für die Regierung wurden Ämter und Kompetenzen auf unterschiedlichen Hierarchieebenen festgelegt. Schließlich prägte die Zensur den für die politische Bewegung zentralen Bereich von Medien und Öffentlichkeit im Preußen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auch wenn die jüngere Forschung die praktische Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse nach 1819 als eher wenig durchschlagskräftig einschätzt.10 Lässt man die Bereiche politischer Kultur einmal beiseite und betrachtet das Recht im engeren Sinn, dann kann man sich im Zusammenhang einer Vorstellung von Staatsbildung als Homogenitätsproduktion für Territorien und Einwohnerschaft auf die Modi „Zersplitterung“ einerseits und „Vereinheitlichung“ andererseits beziehen. Wie ging man in Preußen mit der traditionellen Zersplitterung um und welche Faktoren wirkten vereinheitlichend? Kann man von einer Staatsbildung durch Recht, hier durch das „Allgemeine Landrecht“ sprechen? Im folgenden Teil wird die Wahrnehmung des Allgemeinen Landrechts als einheitsstiftendem Gesetzbuch in den Auftaktjahrzehnten des 19. Jahrhunderts verfolgt. Nach der territorialen Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress 1815 traf das Landrecht in der neu zu Preußen gekommenen Rheinprovinz auf einen Rivalen, nämlich auf das „Rheinische Recht“ und damit den französischen Code civil. Diesem „Rheinischen Recht“ und der Gerichtsverfassung mit öffentlichem und mündlichem Verfahren und Geschworenengerichten gilt der nächste Teil. Im letzten Abschnitt geht es um Probleme der preußischen Gerichtsverfassung, namentlich die Patrimonialgerichte, mit dem Blick auf die Durchsetzung der staatlichen Justizhoheit und
9 Vgl. zum „Ende“ Preußens Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang, 1600 – 1947, München 2006, S. 764 – 773. Zur Rolle des Militärs Peter Baumgart u. a. (Hrsg.), Die Preußische Armee zwischen Ancien Regime und Reichsgründung, Paderborn 2008; Werner Schubert, Preußen im Vormärz. Die Verhandlungen der Provinziallandtage von Brandenburg, Pommern, Posen, Sachsen und Schlesien sowie – im Anhang – von Ostpreußen, Westfalen und der Rheinprovinz (1841 – 1845), Frankfurt a. M. 1999; Roland Gehrke, Landtag und Öffentlichkeit. Provinzialständischer Parlamentarismus in Schlesien 1825 – 1845, Köln/Wien/ Weimar 2009, S. 196 – 199, zur Debatte um die Kodifizierung des schlesischen Provinzialrechts um 1830. 10 Umfassend zur Zensur in Preußen im Vormärz jetzt Bärbel Holtz, Preußens Zensurpraxis von 1819 bis 1848 in Quellen, 2 Hbde. (Acta Borussica. Neue Folge 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat), Berlin 2015.
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dem damit verbundenen Übergang vom Stand zur Klasse als wesentlichem gesellschaftlichen Ordnungsprinzip.
II. Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten Das ALR von 1794 ist von den Juristen des 19. Jahrhunderts und den Kommentatoren im 20. Jahrhundert oft als „janusköpfig“ beschrieben worden. Unübersehbar konservierte es frühneuzeitliches ständisches Recht. Der Adel galt als „der erste Stand im Staat“ und durfte keinem bürgerlichen Erwerb nachgehen. Bürgerliche waren vom Erwerb von Rittergütern ausgeschlossen. Die „Erbuntertänigkeit“ zahlreicher Gutseinwohner als Bindung an die Scholle (das Rittergut) blieb bis zum Oktoberedikt 1807 bestehen. Adlige Männer durften bei Androhung des Adelsverlusts keine Ehen mit Frauen des „niederen Bürgerstandes“ eingehen. Auch im Strafrecht wirkten sich die Standesunterschiede aus. Strafen für die adligen Eliten fielen milder aus (z. B. Festungshaft) und für die Beleidigung Höherstehender stand ein erhöhtes Strafmaß zur Verfügung.11 Das Gesetzbuch galt zu Beginn nur subsidiarisch und damit blieb weiterhin lokales und regionales Recht in Geltung. Der Wandel vollzog sich gelegentlich beinahe unbemerkt: Als 1815 in den wiedergewonnenen Gebieten rechts des Rheins (z. B. in Kleve und Essen, allerdings nicht im Generalgouvernement Berg) das Allgemeine Landrecht wieder eingeführt wurde, blieben die Provinzialrechte außer Kraft. Gegen die nur „hinkende“ gesamtpreußische Universalität wurden der Kodifikation an sich, vor allem den Rahmentexten, die Naturrecht und Aufklärung atmeten, von Beginn an zukunftsweisende und „vereinheitlichende“ Wirkungen zugesprochen: Ein Gesetzbuch mit überregionalem und gesamtstaatlichem Geltungsanspruch machte die Entwicklung vom Gesetzesstaat zum Rechtsstaat zumindest möglich.12 11
Bei Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution: Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, (1967), Sonderausg. Stuttgart 1987, S. 31, ist von „rechtsstaatlichen Absichten“ die Rede. Vgl. Gerhard Dilcher, Die janusköpfige Kodifikation. Das preußische allgemeine Landrecht (1794) und die europäische Rechtsgeschichte, in: Zeitschrift für europäisches Privatrecht 3 (1994), S. 446 – 469; Klaus Luig, Das Privatrecht im „Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, in: Archiv für die civilistische Praxis 194.1994, S. 521 – 542; Detlef Merten, Die Rechtsstaatsidee im Allgemeinen Landrecht, in: Friedrich Ebel (Hrsg.), Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, Berlin 1995, S. 109 – 38, zu den „rechtsstaatlichen Anfängen“, bes. 112. Zur Ehegesetzgebung für den Adel (für adlige Frauen bestand insofern kein rechtliches Problem, als sie ihren Adel durch Eheschließung mit einem bürgerlichen Mann selbstverständlich verloren) vgl. Lieselotte Jelowik, Die standesungleiche Ehe in Preußen im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 17.1995, S. 177 – 200. 12 Otto Hintze, Preußens Entwicklung zum Rechtsstaat (1918), in: Gerhard Oestreich (Hrsg.), Otto Hintze. Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preußens, Göttingen 1967, S. 97 – 163. Hintze dehnte in diesem
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Der Übergang neuer Gesetzgebung in die Rechtspraxis lässt sich am Besten im Detail beobachten. Das Nichtehelichenrecht des ALR bietet ein Beispiel, das den rechtlichen Wandel zugunsten der wirtschaftlichen Versorgung von Müttern und Kindern durch den gerichtlich festgestellten Kindsvater demonstriert. Im Hintergrund standen allerdings weniger Interessen am Wohlergehen von Frauen und Kindern als die Bevölkerungspolitik und das Bemühen um Entlastung der Armenfürsorge. Dabei beriefen sich die Berufungsrichter um 1800 in einem unübersichtlichen Rechtsgebiet und bei generell geringer Neigung zur Zitierung genauer Rechtsnormen immerhin in 42 % der Fälle explizit auf das ALR. Im Gegensatz zur immer wieder bemühten Feststellung der bloßen Subsidiarität des ALR blieb die Nennung von provinzialen Rechten in den gerichtlichen Urteilen selten. Im Ergebnis hielten die Richter das ALR für anwendbar und wandten es an, z. B. indem sie die neuen Normen für die Ableistung eines Eides zugrunde legten. Um 1800 gelang dem Kammergericht damit in 74 % der Fälle einer Feststellung der Vaterschaft, die Unterhaltsforderungen begründete.13 Die Anpassung der Juristen oder „des juristischen Publikums“ an das Landrecht konnte damit sehr zügig vonstattengehen. Allerdings wird das nicht in sämtlichen Rechtsgebieten der Fall gewesen sein. Friedrich Carl v. Savignys berühmte Formulierung einer abschätzigen Bewertung – „in Form und Materie eine solche Sudeley“ – scheint jedenfalls kaum repräsentativ für die preußische Richterschaft. Zu dieser „konservativen“ Kritik, die am historisch gewachsenen Gemeinen Recht festhalten wollte und die Savigny seinem Schwager Achim v. Arnim, der das Landrecht schätzte, privat als Kampfansage sandte, traten „progressive“ Stimmen wie Johann Georg Schlosser und Ernst Gottlob Morgenbesser, die im Landrecht inhaltlich vor allem die Bestätigung der frühneuzeitlichen Privilegienwelt sahen und mehr Wandel forderten.14 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts orientierte sich das Rechtsstudium in den deutschen Staaten an der Vermittlung von „Grundlagen“, worunter man primär „deutText den Beobachtungszeitraum der Acta Borussica mit Blick auf die Trennung von Verwaltung und Justiz sowie auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit auf das 19. Jahrhundert bis zu Rudolf Gneist aus. Vgl. Wolfgang Neugebauer, Otto Hintze. Denkräume und Sozialwelten eines Historikers in der Globalisierung, 1861 – 1940, Paderborn 2015. Für den Wissensstand um 1900 vgl. Edgar Löning, Gerichte und Verwaltungsbehörden in Brandenburg-Preußen, Halle 1914; Adolf Stölzel, Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung dargestellt im Wirken seiner Landesfürsten und obersten Justizbeamten, 2 Bde., Berlin 1888. Zu den ersten Erfahrungen richterlicher Praxis vgl. Hans Hattenhauer, Preußens Richter und das Gesetz (1786 – 1814), in: ders./Götz Landwehr (Hrsg.), Das nachfriderizianische Preußen 1786 – 1806, Heidelberg 1988, S. 37 – 65. 13 Fabian Schroth, Praxistest für das ALR. Das Nichtehelichenrecht des Preußischen Allgemeinen Landrechts in der Rechtsprechung des Kammergerichts 1794 – 1803, Frankfurt a. M. 2016, S. 74, 78, 119, 141. 14 Zur Historischen Rechtsschule vgl. Joachim Rückert, Die Historische Rechtsschule nach 200 Jahren – Mythos, Legende, Botschaft, in: JuristenZeitung 65.2010, S. 1 – 9; Friedrich Carl v. Savigny an Achim v. Arnim, 22. 11. 1816, in: Adolf Stoll, Friedrich Karl v. Savigny. Professorenjahre in Berlin 1810 – 1842, Berlin 1929, S. 210.
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sches“ bzw. römisch-gemeines Privatrecht, Strafrecht sowie Staats- und Kirchenrecht verstand. Der Wechsel des Studienorts war erwünscht und üblich. Wenn möglich sollten die angesehensten Studienorte um 1800, Göttingen, Jena und Halle, im Studienverlauf erscheinen. Schon aufgrund dieser Mobilität war eine Ausbildung primär im preußischen Recht nicht zu erwarten. In Halle fanden sich seit 1791 regelmäßig Vorlesungen zum preußischen (Privat-)recht im Veranstaltungsangebot. Erst 1819 bot Savigny an der Berliner Universität zum ersten Mal eine Landrechtsvorlesung an und erfüllte damit die Erwartungen an die nun führende preußische Landesuniversität. Seit der Reformzeit war es zwingend geworden, überwiegend an einer Landesuniversität zu studieren, weil Landesrecht prüfungsrelevant und für eine Anstellung im Staatsdienst zur Voraussetzung wurde.15 Das Wissen über das Landrecht und vor allem seine permanenten Ergänzungen und Änderungen verbreitete sich aber auch über Preußen hinaus. In den späteren 1820er Jahren lobte die „Allgemeine Literatur-Zeitung“, die in Halle erschien und zu den wichtigsten Rezensionsorganen in Deutschland gehörte, auch Publikationen zum Landrecht ausdrücklich. Die von höheren Richtern herausgegebenen Bände mit den Ergänzungen zum Landrecht ordnete der Verfasser einer Besprechung im wesentlichen chronologisch, in eine erste Entstehungsphase, die Reformzeit 1806 – 1813 und schließlich die Jahre nach 1815. Das Landrecht wurde bis zur Revolution von 1848 tatsächlich häufig geändert. Sachenrecht, Eheschließungs- und Ehescheidungsrecht, Vormundschaftswesen, Erläuterungen zum Adels- und Bürgerstand, die Vorschriften für Universitäten und Studenten oder die Verhütung von Hehlerei erfuhren jeweils mehr oder weniger umfangreiche Anpassungen. Mit der Zusammenstellung dieses bunten Straußes wurde aber immerhin „der wirklichen Anwendung der Gesetze der Weg gebahnt“.16 Auch für die Juristen als Geschäftsmänner des Rechts ging es um eine Sammlung der Gesetze, der richterlichen Entscheidungen und um die Veröffentlichung der Entscheidungen. Seit 1810 erschien als amtliches Verkündungsblatt die „Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten“, die sich schon im Titel an das Allgemeine Landrecht anlehnte: „In Betracht, dass die bisherige Publication allgemeiner Gesetze weder an sich den vorgesetzten Zweck gehörig erreicht, noch den Gebrauch und die Übersicht erleichtert“, wandte sich die neue Publikation an sämtliche „oberen und unteren Staatsbehörden“, einschließlich der Magistrate und Gemeinden, höheren Offiziere, Landräte, Superintendenten, Patrimonialgerichte und Domänenbeamten. Das Einführungspatent verfügte damit, dass sämtliche staat15 Jan Schröder, Zur Entwicklung der juristischen Fakultäten im nachfriderizianischen Preußen (1786 – 1806). Am Beispiel von Halle im Vergleich mit Göttingen, in: Hattenhauer/ Landwehr (Hrsg.) Preußen, S. 259 – 303, hier S. 267 Anm. 58. Verzeichnis der Vorlesungen, welche von der Universität zu Berlin im Winterhalbenjahre 1819 – 1820 (…), in: https://www. digi-hub.de/viewer/image/DE-11-001716960/5/LOG_0003/, abgerufen am 17. 6. 2020; Christian Wollschläger (Hrsg.), F. C. v. Savigny, Landrechtsvorlesung 1824, 2 Halbbde., Frankfurt a. M. 1994/1998. 16 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, 229, Dez. 1827, S. 385.
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lichen Funktionsträger die Gesetzsammlung halten mussten. Wenn man so will, definierte sich die Reichweite des preußischen Staates „in der Fläche“ in der Liste der durch ihre Ämter Verpflichteten.17 Erst 1831 wurde für das Preußische Obertribunal die Anlegung eines Präjudizienbuches angeordnet, „um durch dasselbe die so nöthige Einheit in den Entscheidungen zu erhalten“. Die Senate des Obertribunals sollten Protokollbücher führen und „Spruchrepertorien“ anlegen, die nach den Titeln und Abschnitten des ALR zu ordnen waren. Bis zum Ende der 1840er Jahre wurde das Unternehmen allerdings zunehmend unübersichtlich, da bereits mehr als 2000 Präjudizien gezählt wurden. Der erste Band der „Entscheidungen des geheimen Obertribunals“ erschien 1837. Die Präjudizien wiederum erschienen gedruckt erst 1849, also schon im Zeichen der Revolution und der Umgestaltung der Gerichtsverfassung. Hier hofften die Herausgeber, „damit einem dringenden Bedürfnis (…) abgeholfen zu haben.“18 Am 14. März 1840, also wenige Monate vor dem Regierungsantritt König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen im Juni desselben Jahres, an den sich beträchtliche liberale Hoffnungen knüpften, erschien in der gemäßigt liberalen „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ ein Artikel anlässlich des 100. Geburtstages des ehemaligen Präsidenten des Geheimen Obertribunals, Heinrich Dietrich v. Grolman. Und darin hieß es: „Ein Spiel des Zufalls, dass der oberste preußische Richter drei Menschenalter erleben, drei Generationen überleben muß! (…) Er war schon Richter, als wir noch kein preußisches Recht hatten, als nach römischem, nach Provincialgesetzen und nach Gewohnheiten erkannt wurde. Er erlebte die ersten Versuche einer preußischen Gesetzgebung, darauf die Anfertigung unserer Gerichtsordnung und unseres Landrechts. Aber sie sollen ihm sein Leben hindurch fremd geblieben seyn. Als Präsident citierte er lieber die leges der Pandekten, als die Paragraphen des allgemeinen Landrechts. Und als Greis mußte er es erleben, dass beide Werke sich schon überlebt hatten, dass unsere Gesetzgebungscommission schon lange Jahre an der Revision unserer Proceßordnung wie unseres Gesetzbuches arbeitet.“
Abgesehen davon, dass eine umfassende Reform in Gestalt der Gesetzrevision nicht gelang, wird die Identifikation mit „unserem“ preußischen Recht in der Abgrenzung von einem Juristen, der schließlich selbst an der Ausarbeitung des Landrechts beteiligt gewesen war, sehr deutlich. Der Artikel beschäftigt sich im Folgenden übrigens mit den Auswirkungen solcher Juristen-Langlebigkeit angesichts der zeitgenössischen „Juristenschwemme“. Für die Überfüllungskrise wurde zwar
17 Königliche Verordnung über die Erscheinung und den Verkauf der neuen GesetzSammlung, in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, No. 1, 27. Oktober 1810. 18 Entscheidungen des Geheimen Obertribunals, Berlin 1837 ff.; Vorwort, in: Seligo/ Kuhlmeyer/Wilke I (Hrsg.), Die Präjudicien des Geheimen Obertribunals (zu Berlin) seit ihrer Einführung im Jahre 1832 bis zum Schlusse des Jahres 1848, nach der Paragraphenfolge der Gesetzbücher geordnet, und mit einem alphabetischen Sachregister versehen, Berlin 1849, S. V, VIII.
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nicht das Landrecht verantwortlich gemacht, mit ihm assoziiert wurde aber eine professionelle Einstellung, die den Beobachter nicht begeisterte: „Von der Bürger’schen Zeit an gingen unsre meisten Dichter aus dem Juristenstande hervor, aus den Advocatenschulen, hieß es, die Demagogen und Frondeurs. Solide Eltern sollen jetzt der Furcht ganz enthoben sein, dass ihre Söhne der Genialität sich hingeben. Man behauptet, dass unsere jungen Juristen, sobald sie die Universität verlassen, keinen anderen Gedanken nähren, als an eine Anstellung, und wo möglich zugleich an eine dereinstige Pensionierung, wenn sie dienstunfähig werden. Das wäre ein großer Triumph. Wenn unsre neuste politische Erziehung die Poesie in unsern Jünglingen ganz todt gemacht hätte. (…) Wenn auch soliden Eltern eine rechtschaffene Freude darüber nicht zu verargen ist, so zweifle ich doch, ob der Staat immer der Ansicht bleiben wird, das gute Lastträger seine besten Bürger sind. Es möchte die Zeit kommen, wo man alles drum gäbe, wieder Feuer in die Adern zu gießen.“19
Der Artikel behauptete ausdrücklich nicht, dass das Landrecht und die Prozessordnung für die mangelnde politische Leidenschaft der Juristen verantwortlich waren. Aber immerhin wird der Eindruck von Gewöhnung und Anpassung an das Gesetzbuch, von Akzeptanz und Veralltäglichung vermittelt.
III. Das Rheinische Recht und die Geschworenengerichte In der Verfassungsbewegung, die sich nach dem Übergang der linksrheinischen Gebiete an Preußen vor allem im Rheinland und in Ostpreußen entwickelte, spielten das Recht und die Gerichtsverfassung eine zentrale Rolle. Einerseits wollte das am Rhein tonangebende Wirtschaftsbürgertum (der rheinische Adel war vergleichsweise schwach) mit dem Code civil, dem Code penal, dem Handelsgesetzbuch und den Prozessordnungen ein Recht behalten, das zu einer Eigentümergesellschaft gut passte, die an einem funktionalen Vollzug von Verträgen, aber auch an einem strafrechtlichen Schutz von Besitz besonders interessiert war. Im Code civil gab es keine Stände mehr. Er bot zumindest für besitzende Männer einen deutlichen Zuwachs an Gleichheit vor dem Gesetz, interpretierte die Ehe als Vertrag, führte die Zivilehe ein und half damit z. B. gemischtkonfessionellen und bireligiösen Paaren. Das französische Gesetzbuch favorisierte ein gleiches Erbrecht für die Nachkommen, liberalisierte das Bodenbesitzrecht und die Aufteilung der Allmenden. Auch die Gleichstellung der Juden machte Fortschritte. Das Bemühen des Heidelberger Juristen Heinrich Zoepfl in den 1840er Jahren, den Code Napoleon zumindest teilweise als „germanisch“ zu charakterisieren und damit seine Akzeptanz zu erhöhen, wies jedenfalls auf die andauernde Beliebtheit hin.20 19
Augsburger Allgemeine Zeitung, 14. März 1840. Schubert, Das französische Recht in Deutschland zu Beginn der Restaurationszeit (1814 – 1820), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Germanistische Abteilung 94.1977, S. 129 – 184. Zu Zoepfl vgl. Verena Peters, Der „germanische“ Code civil. Zur Wahrnehmung des Code civil in den Diskussionen der deutschen Öffentlichkeit, Tübingen 2018, S. 91. 20
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Es ist kein Wunder, dass sich die Abneigung Savignys auch gegen diese Kodifikation richtete. Gemeinsam mit dem hannoverschen Staatsmann August Wilhelm Rehberg, der sich öffentlichkeitswirksam gegen den Code civil äußerte, sprach der Gegner der Gesetzbücher vom Code Napoleon als „überstandener politischer Krankheit“ und plädierte für eine Rückkehr zum Recht der vorrevolutionären Zeit. Die Feinde des Code Napoleon orientierten sich an religiösen Grundlagen gesellschaftlicher Ordnung, bevorzugten traditionelle Autoritäten und die Unterschiede von Geburtsständen. Mit dem gesellschaftlichen Wandel, der das Rheinland in der Umbruchszeit um 1800 deutlich säkularer und bürgerlicher gemacht hatte, waren solche Vorstellungen kaum in Einklang zu bringen.21 Einerseits schwächte der Code civil die Stellung des Vaters gegenüber den Kindern durch ein niedrigeres Volljährigkeitsalter und weniger Zugriffsmöglichkeiten auf das Vermögen des Kindes. Andererseits stärkte das Familienrecht die Position von Männern, wenn es die Rechtsfolgen eines Ehebruchs im Ehescheidungsverfahren für Männer und Frauen unterschiedlich regelte und die gerichtliche Erforschung der Vaterschaft eines nichtehelichen Kindes untersagte, das damit meist ohne väterlichen Unterhalt blieb. Zugunsten eines bürgerlichen Familienideals einheitlicher Willensbildung wurden Ansprüche von Frauen und Kindern zurückgedrängt. Der Code civil wurde durch ein Strafrecht ergänzt, das deutlich härtere Strafen bei Eigentumsdelikten ermöglichte. Auch Kapitalverbrechen wurden scharf geahndet, so dass die Gerichte zwischen 1818 und 1854 deutlich mehr Todesurteile pro Kopf der Bevölkerung aussprachen als in anderen preußischen Landesteilen. Immerhin wirkte das Bestätigungsrecht des Königs in diesen Fällen überwiegend auf eine Milderung zu Gefängnisstrafen hin.22 Beinahe mehr noch als die Bestimmungen des materiellen Rechts setzten sich die begüterten Rheinländer für die Gerichtsverfassung ein, für die Geschworenengerichte, für die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens, für das Notariat. In der Folge von Anselm v. Feuerbachs Behandlung der Geschworenengerichte entwickelte sich in zahlreichen deutschen Staaten eine justizpolitische Debatte, die die Geschworenengerichte in politische und nationale Zusammenhänge band. Politisch sah man die Geschworenengerichte vor allem im Zusammenhang des Schutzes vor staatlichen Beamten, der klassischen Beamtenwillkür, gegen die der frühe Liberalismus vor allem kämpfte. Das „nationale“ Argument verortete die Geschworenengerichte (vor allem des englischen Typs) in einer „germanischen“ Welt, die den schriftlichen Inquisitionsprozess als römischrechtlich und „fremd“ zurückwies. Die rheinischen Geschworenengerichte setzten sich im Übrigen aus den höchstbesteuerten Bürgern zusammen und vertraten im Selbstverständnis die ökonomischen und sozialen Inter21
Friedrich Carl v. Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S. 135. Zeitgenössisch einflussreich: August Wilhelm Rehberg, Über den Code Napoleon und dessen Einführung in Deutschland, Hannover 1814. 22 Jürgen Herres, Köln in preußischer Zeit 1815 – 1871, Köln 2012, S. 80. Zur Härte der Verfolgung von Eigentumsdelikten vgl. Dirk Blasius, Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität, Göttingen 1976, S. 115 – 26, zur Zusammensetzung der Gerichte 117.
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essen von „mittleren Ständen“, jedenfalls in der Abgrenzung von Adel und Beamten einerseits, von den Unterschichten andererseits.23 Blickt man auf die politische Dimension dieser Verhältnisse, wird sichtbar, dass sich die preußische Regierung in Berlin zunächst um eine Ausdehnung des Landrechts und der preußischen Gerichtsverfassung auf das Rheinland bemühte, weil sie eine Rechtsvereinheitlichung als Garanten der Staatsintegration ansah. Mit der Einsetzung einer Immediat-Justizkommission 1816, welche die Einzelheiten prüfen und Vorschläge für die Beibehaltung von „französischen“ Normen machten sollte, verhielt man sich politisch vorsichtig. Im Rheinland wiederum bildete sich ein starkes Defensivbündnis der besitzenden und gebildeten Bürger, die ein nicht mehr ständisches Recht und die Partizipation in der Gerichtsverfassung verteidigen wollten. Befeuert durch den konfessionellen Unterschied und die Verbreitung liberaler Verfassungsideen bot das Rheinische Recht einen Ort der Identifikation, einen Ort der Opposition. Mit dem „Niederrheinischen Archiv für Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtspflege“ und dem „Archiv für das Civil- und Criminalrecht der Königlich-Preußischen Rheinprovinzen“ seit 1820 schufen sich die rheinischen Juristen erfolgreiche mediale Verteidigungsinstrumente.24 Aber auch die Gegner des Rheinischen Rechts mobilisierten öffentlich: Die „Jahrbücher für die Preußische Gesetzgebung, Rechtswissenschaft und Rechtsverwaltung“ des Geheimrats Karl Albert v. Kamptz druckten seit 1816 in Berlin Artikel und Rezensionen, die sich für die Einführung des Allgemeinen Landrechts in der Rheinprovinz einsetzten. Der Kampf ging zumindest auf den ersten Blick zugunsten der Rheinländer aus: Die Zentrale in Berlin entschloss sich, auf die (dann nicht erfolgte) Gesetzrevision zu warten. Das Rheinische Recht blieb bis 1900 erhalten. Preußen verzichtete auf die Übertragung seines Gesetzbuches, und das Rheinland der 1840er Jahre wurde zur Hochburg der liberalen und demokratischen Opposition.25 Bei näherer Betrachtung allerdings wird das Bild ambivalenter. Erstens existierten auch innerhalb der Rheinprovinz Probleme der Rechtszersplitterung weiter. Noch auf dem Rheinischen Provinziallandtag 1845 wandte sich die Stadt Wesel ohne Erfolg an den Monarchen mit der Bitte, den eximierten Gerichtsstand abzuschaffen und 23 Ernst Landsberg, Das rheinische Recht und die rheinische Gerichtsverfassung, in: Joseph Hansen (Hrsg.), Die Rheinprovinz 1815 – 1915, Bonn 1917, S. 149 – 195, mit einer ausführlichen Darstellung der preußischen Justizpolitik; Karl-Georg Faber, Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution. Probleme der rheinischen Geschichte von 1814 bis 1848 im Spiegel der zeitgenössischen Publizistik, Wiesbaden 1966, S. 145 – 156. 24 Schubert (Fn. 20), S. 159, zu den Äußerungen von rheinischen Gerichten, Rechtsanwälten und Notaren sowie der Städte (also insgesamt überwiegend Juristen) zur Beibehaltung des Rheinischen Rechts und der Gerichtsverfassung 1816 – 1819. 25 Faber (Fn. 23), bes. S. 131 (zur Zusammensetzung der Immediat-Justizkommission und dem Einfluss von Heinrich Gottfried Wilhelm Daniels). Vgl. zur politischen Kultur im Rheinland James M. Brophy, Popular Culture and the Public Sphere in the Rhineland, 1800 – 1850, Cambridge 2007.
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das öffentliche und mündliche Verfahren einzuführen, um die Einheit mit den linksrheinischen Gebieten der Provinz herzustellen. Zweitens waren die rheinischen Gerichte zwar weit überwiegend mit gebürtigen Rheinländern und Experten für das französische Recht besetzt, die die Rechtsprechung dominierten. Die Justiz-Kommission berief aber auch „Altpreußen“ ins Rheinland, die das Allgemeine Landrecht repräsentieren sollten. Drittens haben Untersuchungen zur Rechtspraxis gezeigt, dass die Unterschiede materiell weniger ausgeprägt waren als gedacht. Das Landrecht wirkte weniger ständisch-rückständig und das Rheinische Recht weniger progressiv-bourgeoisieunterstützend, als man in der politischen Debatte gemeint hat. Das Interesse am Schutz privaten Eigentums wurde jedenfalls von „französischen“ wie „preußischen“ Gesetzbüchern und den sich anschließenden verfahrensrechtlichen Regeln durchaus geteilt.26 Kooperation und Fusion zwischen dem Rheinland einerseits und Preußen als Gesamtstaat andererseits überwogen dementsprechend nicht, existierten aber in praktischen Zusammenhängen. Ein erneuter Vorstoß zur Einführung des Allgemeinen Landrechts in der Rheinprovinz scheiterte im Rheinischen Provinziallandtag 1826. Die Befürchtungen der preußischen Zentrale, dass die Rheinländer nicht nur liberale Ziele, sondern auch einen demokratischen Radikalismus unterstützen würden, waren allerdings letztlich unbegründet. Dass die Regierung Camphausen/ Hansemann, das gesamtpreußische „Märzministerium“, 1848 an die Einführung des Rheinischen Rechts im Gesamtstaat gedacht hat, ist doch weniger aussichtsreich und wohl mehr Symbolpolitik gewesen.27 In der Revolution 1848 brach der Gegensatz wieder auf und wurde repolitisiert. Die „Neue Rheinische Zeitung“ als führendes Blatt der Revolution im Rheinland beschäftigte sich mit dem Potential des Landrechts, die Revolution niederzuschlagen und warnte: „muß irgend ein Anschein, ein entfernter Schimmer von einer Möglichkeit, das Allgemeine Landrecht (dieses gefügige Landrecht mit noch gefügigern Richtern) anzuwenden, auf jede Gefahr hin aufgespürt werden.“ Der Ruf des Landrechts als bürokratisch-autoritär und der Richter als willfährige Subsumtionsautomaten schuf im rheinischen Bürgertum einmal mehr eine öffentlich geäußerte Anhäng-
26 Schubert (Fn. 9), S. 488; Hans-Peter Haferkamp, Der Rheinische Appellationsgerichtshof zwischen dem Rheinland, Frankreich und Preußen – Überlegungen anhand der Rheinischen Judikatur zu Art. 1133 CC, in: ders./Margarete Gräfin von Schwerin (Hrsg.), Das Oberlandesgericht Köln zwischen dem Rheinland, Frankreich und Preußen, Wien/Köln/Weimar 2019, S. 15 – 34. Christina von Hodenberg, Die Partei der Unparteiischen. Der Liberalismus der preußischen Richterschaft 1815 – 1848/49, Göttingen 1996, S. 204 f. zur Abschwächung der Verpflichtung zur Zahlung von Besitzwechselabgaben der Bauern durch das Obertribunal; 248 f. zu milden Urteilen des Oberlandesgerichts Breslau in Demagogenprozessen in den 1820er und 1830er Jahren. 27 Zum Ministerium Camphausen/Hansemann vgl. Rüdiger Hachtmann, Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Berlin 1997, S. 289 – 291. Zu den Auseinandersetzungen im Rheinland mit dem preußischen Steuer- und Verwaltungsstaat vgl. Sperber (Fn. 5).
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lichkeit an das Rheinische Recht und förderte ein politisch-soziales Zusammengehörigkeitsgefühl rheinischer Bürgermänner.28 Die politische Polarisierung änderte aber nichts an der Akzeptanz von Inhalten. Am besten wird das im Strafrecht erkennbar. Der 1843 vorgestellte Entwurf für ein neues Strafgesetzbuch für den Gesamtstaat, der sich inhaltlich an den Code penal anlehnte, konnte im Vormärz zwar nicht durchgesetzt werden. Das änderte sich nach 1848, im neuen Verfassungsstaat Preußen: 1851 trat das neue einheitliche Strafgesetzbuch in Kraft: ein erster Triumph für das Interesse an gesamtstaatlicher Rechtsvereinheitlichung und „französischem“ oder „rheinischen“ materiellem Recht.29
IV. Die Patrimonialgerichtsbarkeit als Zäsur des Übergangs vom Stand zur Klasse Bereits die zeitgenössischen Kommentatoren gingen davon aus, dass das Landrecht trotz seiner „ständischen Durchtränkung“ spätestens mit den Reformen nach 1806 die soziale Transformation der Stände- zur Klassengesellschaft in den östlichen Provinzen moderierte. Reinhart Koselleck hat diesen Übergang in seinem Buch über „Preußen zwischen Reform und Revolution“ aus der Sicht der Historiker überraschend im Recht und nicht in der Ökonomie verortet, dabei aber nicht primär das Landrecht, sondern die mit ihm allerdings verwobene Gerichtsverfassung betrachtet. Die zersplitterte Gerichtsverfassung wiederum wurde von den zeitgenössischen Juristen primär als Hindernis für die Durchsetzung der staatlichen Justizhoheit gesehen. Koselleck drückte den Zusammenhang folgendermaßen aus: „Der Schritt vom Stand zur Klasse war tatsächlich nur über die niedergelegte Hürde der Patrimonialgerichtsbarkeit möglich.“30 Die Auseinandersetzung um die Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit in Preußen in der Reformzeit und danach, die von Stein befürwortet, aber von Hardenberg angesichts der Opposition von König und Adel dann doch nicht umgesetzt wurde, kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Grob gesprochen 28
Neue Rheinische Zeitung. Nr. 171, Köln, 17. Dezember 1848. Zweite Ausgabe. Zur „Neuen Rheinischen Zeitung“ vgl. Heinz Boberach, Presse und Revolution 1848/49 im Rheinland, in: Stephan Lennartz/Georg Mölich (Hrsg.), Revolution im Rheinland. Veränderungen der politischen Kultur 1848/49, Bielefeld 1998, S. 47 – 61, hier S. 57 f. 29 Faber (Fn. 23), S. 175. 30 Koselleck (Fn. 11), S. 547, vgl. ähnlich 92: „Praktisch war der Fortbestand der exemten Foren an die Existenz der Patrimonialgerichte gebunden, deren Inhaber zwangsläufig einer anderen Instanz unterworfen sein mußten als ihre eigenen Untertanen.“ Vgl. Monika Wienfort, Patrimonialgerichte in Preußen. Ländliche Gesellschaft und bürgerliches Recht, Göttingen 2001.
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wurde das Ende der Privatgerichte von etatistisch denkenden Beamten und im Vormärz vom politischen Liberalismus gefordert, der diese als feudales Relikt, als verhasstes Vorrecht der Junker sah, das die ländliche Gesellschaft vor allem im preußischen Osten der Herrschaft des Adels, nicht des Staates, unterwarf. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass sich auch die ständisch-konservativen Gegner einer Reform der Justizverfassung auf das Allgemeine Landrecht beriefen. In der Debatte der 1820er Jahre verfasste Friedrich Alexander Ludwig v.d. Marwitz namens der konservativen adligen Großgrundbesitzer in Brandenburg einen Antrag gegen die beabsichtigte Aufhebung der Kriminalgerichtsbarkeit. Diese Aufhebung wurde von vielen kleineren Grundbesitzern durchaus gewünscht, weil die Strafjustiz Kosten verursachte, aber keine Erträge einbrachte. Marwitz verteidigte den gegenwärtigen Zustand mit dem Verweis auf „a) die alte Verfassung“, „b) das allgemeine Landrecht, welches außer dem Titel von der Erb-Untertänigkeit, der als aufgehoben zu betrachten ist, in denen noch gültigen vom Adel, von der Gerichtsbarkeit, vom Bauernstande usw. den Grundherren von dem Eingesessenen deutlich unterscheidet“. Der großgrundbesitzende Adel wollte sich zur Wahrung seiner Rechte also nicht bloß auf die „alte Verfassung“, sondern auch auf das Allgemeine Landrecht berufen. Marwitz‘ Lesart des ALR, die dem Adel erlauben sollte, „Obrigkeit“ zu bleiben, änderte nichts daran, dass die Verwaltung der privaten Gerichtsbarkeit im Vormärz durch eine Flut von staatlichen Verordnungen massiv verändert wurde.31 Angesichts der Weigerung König Friedrich Wilhelms IV. auch noch in den 1840er Jahren, die Abschaffung der Privatgerichte ernsthaft anzugehen, blieb Justizministerium und hohen Richtern nur der mühsame Weg unaufhörlicher Verwaltungsanweisungen, Visitationen und die Verhängung von Strafen. Damit konnte man seit den 1830er Jahren zwar erreichen, dass eine Anzahl kleiner – häufig bürgerlicher – Rittergutsbesitzer wegen der Kosten die Patrimonialgerichtsbarkeit freiwillig an den Staat abtrat, aber insgesamt war dem Institut damit nicht beizukommen. Der Adel und sogar mancher bürgerliche Rittergutsbesitzer schätzten die GerichtsherrenEhre selbst dann, wenn damit überdurchschnittlich viele Schwierigkeiten und durchaus auch Kosten verbunden waren. Außerdem blieb mit den Patrimonialrichtern eine ständische Zwischengruppe erhalten, die sowohl der staatlichen Aufsicht als auch dem Gerichtsherrn als Arbeitgeber unterstand.32 Die Gerichtsherrschaft brachte übrigens den Status der Eximierten mit sich und hier gewannen die Rittergutsbesitzer wiederum andere Verbündete. Es handelte sich bei den Eximierten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht bloß um adlige 31 Marwitz’ Antrag gegen Aufhebung der Kriminalgerichtsbarkeit der Grundherren (1824), in: Friedrich August Ludwig von der Marwitz. Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der Befreiungskriege, hrsg. v. Friedrich Meusel, Bd. 2.2., Berlin 1913, S. 364 f. Vgl. zu Marwitz Ewald Frie, Friedrich August Ludwig von der Marwitz 1777 – 1837. Biographien eines Preußen, Paderborn 2001. 32 Wienfort, Richter am Patrimonialgericht im 19. Jahrhundert, in: Gerald Kohl/Ilse ReiterZatloukal (Hrsg.), RichterInnen in Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Wien 2014, S. 51 – 61.
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(und zunehmend bürgerliche) Rittergutsbesitzer, sondern auch um die höheren Beamten, die „Intelligenz“, Richter und Verwaltungsbeamte, auch Rechtsanwälte und Ärzte. Der Staat wies damit auch seinen Beamten den Gerichtsstand der Eximierten zu, denn schließlich konnte er nicht auf die Staatsunmittelbarkeit seiner eigenen Diener verzichten. Diese Eigenschaft des Gerichtsstandes als zentralem Unterscheidungsmerkmal von „Staatsbürgern“ und „Stadtbürgern“ bedeutete gleichzeitig, dass der Übergang vom Stand zur Klasse in Preußen mit der Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit und des eximierten Gerichtsstands in der Revolution 1848/49 erreicht war. Koselleck machte damit eine säkulare gesellschaftliche Entwicklung nicht an ökonomischen Verhältnissen oder der Ausbildung eines bürgerlichen Gruppen-Selbstbewusstseins fest, sondern an der Existenz eines separierenden Gerichtsstandes, der das „Volk“ (auch die Stadtbürger) einerseits von den grundbesitzenden adligen Eliten und den Staatsständen andererseits schied.33
V. Funktionen von Recht in Preußen Für das frühneuzeitliche Preußen kann man wie für andere europäische Staaten von Lokalität, Kleinteiligkeit und „Zersplitterung“ (ein Begriff, der bezeichnenderweise von einer Einheitlichkeit aus gedacht ist) im Recht und auch in der Gerichtsverfassung sprechen. Insofern stellte sich das Bild kurz vor der Revolution von 1848/ 49 bereits deutlich anders dar. Mit den Jahrzehnten schuf das Allgemeine Landrecht als Gesetzbuch mehr Einheitlichkeit in der Rechtsprechung. Die Juristen lernten es bereits im Studium kennen, die hohen Gerichte veröffentlichten ihre Entscheidungen nicht mehr nur für das „juristische Publikum“, die Richter wandten das Landrecht in ihren Entscheidungen an. Im Großen und Ganzen bewerteten es die Zeitgenossen pragmatisch und wenig emotional. Wohl nur einer Minderheit unter den Juristen, geführt von Savigny, galt es in seiner Kasuistik als Verwirrung stiftend, unelegant und gegenüber den intellektuellen Ansprüchen des Römischen Rechts als unterlegen.34 Diejenigen Juristen, die das Recht als Brotberuf wählten, konnten sich solchen Hochmut nicht leisten. Im Preußen des Vormärz war nach den nicht eingelösten Verfassungsversprechen des preußischen Königs in der politischen Öffentlichkeit dauernd von einer Konstitution und einer parlamentarischen Versammlung die Rede. Eine Auffassung, man habe doch mit dem Landrecht die liberalen Bedürfnisse erfüllt, findet sich nicht. Dieser Befund wiederum lässt manche Bewertungen der 1950er bis 1980er Jahre, das Landrecht sei Konstitutionsersatz gewesen, doch zumindest zweifelhaft erscheinen. Im preußischen Rheinland wiederum, wo die Verfas33 Koselleck (Fn. 11), S. 547. Zu den Eximierten in Preußen vgl. Karlheinz Muscheler, Die Schopenhauer-Marquet-Prozesse und das preußische Recht, Tübingen 1996, S. 34. 34 Vgl. als Beispiele Gustav Alexander Bielitz, Abhandlungen zur Erläuterung der preußischen Gesetze, 2. Heft, Erfurt 1832, S. 29; den Bericht der Münchener Politischen Zeitung, 18. 4. 1837, S. 578 über eine Sitzung der bayerischen Kammer der Abgeordneten.
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sungsbewegung im Vormärz ihre besondere Hochburg besaß, verteidigten Unternehmer und Kaufleute ein Recht, dass die Kultur ungeteilten Eigentums auch gegen den einen Staat hochhielt, der die Abschaffung von Privilegien verweigerte. Schließlich haben die Urteile der rheinischen (und bayerischen, badischen) Geschworenengerichte, besonders die Freisprüche bei Anklagen wegen Hochverrat und bei Pressevergehen, das Recht deutlich politisiert.35 Bedenkt man, dass der Code penal harte Strafen bei Eigentumsdelikten vorsah, die vor allem von Mitgliedern der Unterschichten begangen wurden, dann besaß das Rheinland ein Strafrecht und eine Gerichtsverfassung, welche die politischen Vorstellungen des Bürgertums privilegierten. Daher der „Kampf um das Rheinische Recht“, in dem das ALR trotz der zahlreichen Änderungen auch noch in den 1820er und 1830er Jahren vergleichsweise „feudal“ wirkte. Der preußische Staat entschied sich schließlich mit Blick auf die „Gesetzrevision“, vorerst mit der Rechtskonkurrenz zu leben, hier das Landrecht, da das Rheinische Recht. Selbst unter dem Dach des Deutschen Kaiserreichs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts konnte diese Differenz noch weiterexistieren, freilich moderiert durch das Handelsgesetzbuch und die Reichsjustizgesetze. Ohne Patrimonialgerichte war der preußische Staat nach 1849 zum alleinigen Herrn der Gerichtsbarkeit geworden. Wenn das Recht in Gestalt eines Zivil- oder Strafgesetzbuches primär zur Moderierung von gesellschaftlichen Interessengegensätzen dient, dann ist es wohl zu viel verlangt, dass es von der Bevölkerung „geliebt“ wird oder man „ihm treu bleibt“. Aber in Preußen behob in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Konstitution die legitimatorischen Defizite der gesellschaftlichen Ordnung nicht. Die Verfassung des Deutschen Kaiserreichs von 1871 orchestrierte einen Staatenbund, in dem die Bürgerrechte in die Sphäre der Einzelstaaten verwiesen wurden. Die preußische Verfassung im Kaiserreich fiel in der zeitgenössischen Öffentlichkeit besonders durch ein privilegienbewusstes Herrenhaus sowie das Dreiklassenwahlrecht auf. Beide Elemente wirkten auf die primär Begünstigten bzw. Benachteiligten (den großgrundbesitzenden Adel, das Wirtschaftsbürgertum hier, die Arbeiterschaft und Sozialdemokraten dort) zwar identitätsbildend, allerdings in gegenseitig abgrenzender Weise. Das Allgemeine Landrecht hatte schließlich lange vor dem Ende des preußischen Staates ausgedient und wurde im Jahr 1900 durch das BGB abgelöst, das wiederum die Systembrüche des 20. Jahrhunderts in bemerkenswerter Weise überstand.36
35 Faber, Recht und Verfassung. Die politische Funktion des Rheinischen Rechts im 19. Jahrhundert, Köln 1970. 36 Thomas Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867 – 1914: Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994; Hedwig Richter, Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert, Hamburg 2017; Hartwin Spenkuch, Das preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der ersten Kammer des Landtags 1854 – 1918, Düsseldorf 1998.
Diskussion Christian Waldhoff: Ich bin kein Experte für das Preußische Allgemeine Landrecht. Da viele Rechtshistoriker im Raum sind, frage ich also mit ganz vielen Vorbehalten: Das Allgemeine Landrecht galt doch in zahlreichen Landesteilen wegen seiner Subsidiarität zunächst nicht. Das betraf nach meiner Erinnerung nicht nur etwa das Rheinland, sondern auch andere Landesteile, sodass es meines Erachtens schwierig sein müsste, Vereinheitlichungstendenzen durch das Allgemeine Landrecht erkennen zu wollen. Ein Zweites: Durch die preußischen Reformen will die Verwaltung im zurechtgestutzten Preußen den Staat reorganisieren. Die reformfreudige Verwaltung muss diese Reformmaßnahmen gegen die Justiz abschirmen, weil die Justiz zu dieser Zeit in der Tendenz eher konservativ ist und Reformen konterkariert. Das kehrt sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts dann aber relativ schnell wieder um. Für die Rechtsdurchsetzung der Verwaltung habe ich das einmal untersucht. Dort kann man relativ klar zeigen, dass die moderne Verwaltungsvollstreckung, dass Selbsttitulierungsrecht der Verwaltung, wie wir es heute nennen würden, entsteht, indem die Justiz außenvorgehalten wird. Die Verwaltung setzt die Reformen selbst durch. Denn wäre die Justiz mit der Durchsetzung betraut worden, wären diese Reformen wahrscheinlich noch erfolgloser gewesen, als sie es vielleicht ohnehin zumindest auf der Durchsetzungsebene waren. Das von Ihnen behandelte Thema kann man selbstverständlich verschiedenartig konfigurieren. In meiner Wahrnehmung ist das normale Narrativ, dass gerade die Verwaltung und nicht die Rechtsprechung der große Vereinheitlichungsfaktor in Preußen war. Dies nicht als Identifikationsfaktor im Sinne von Liebe und Treue zur Verwaltung, sondern als technokratische Struktur, die dann in relativ großer Einheitlichkeit die disparaten preußischen Landesteile überzog (auch wenn noch lange im 19. Jahrhundert nach einem berühmten Diktum der Staat „beim preußischen Landrat aufhörte“). Monika Wienfort: Ich fange mit der Einheitlichkeit an. Dies stimmt, das Landrecht gilt subsidiarisch. Nicht aber im Strafrecht. Dort gilt es vollständig und unmittelbar. Zu Beginn gilt es im Rheinland sowie in einigen neuerworbenen Landesteilen nicht. Die empirische Untersuchung von Straf- und Zivilprozessen zeigt jedoch, dass obwohl das Landrecht formal subsidiarisch gilt, die Juristen sich immer stärker darauf beziehen. Dies erfolgt zunächst in abgrenzender Weise. Sie müssen die Landrechtsparagraphen nennen, um dann das lokale Gewohnheitsrecht mit einem anderen Inhalt anzuführen. Im Laufe der 1830er/1840er Jahre beziehen sich die Juristen dann immer stärker auf die bis dahin erfolgten Änderungen des Landrechts. Das Gewohnheitsrecht lernen sie im Studium nicht kennen. Die Einheitlichkeit entsteht also eher durch den Vollzug in der Rechtspraxis, weniger im Wege einer programmatischen Ankündigung.
Diskussion
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Zu den preußischen Reformen: Die Verwaltung ist sicherlich stark miteinzubeziehen. Da ich das Recht betrachten wollte, habe ich die Verwaltung ausgeblendet. Das Recht wird im Wesentlichen durch die Gerichte in Gestalt des Allgemeinen Landrechts verkündet. Aber auch die Verwaltung besteht aus Juristen. Die Verwaltungsjuristen nehmen denselben Ausbildungsweg. Dabei beschäftigen sie sich mit dem Allgemeinen Landrecht und denken zunehmend in seinen Strukturen. Vielleicht mitunter aus dem Grund – durchaus gegen alle Vorwürfe, dass es kasuistisch, langweilig und wenig anspruchsvoll sei –, dass seine Rechtsanwendung leichter ist, als sich mit Savignys relativ anspruchsvollen Ableitungen von Gewohnheitsrecht und historischem Recht zu beschäftigen. Es gibt auch in der Verwaltung mit ihren klaren Reformzielen die Idee, mittels der Reform des Allgemeinen Landrechts diese Modernisierung zu bewerkstelligen. Faktisch sind die preußischen Reformgesetze formal und rechtlich Modifikationen des Landrechts. Zu den Justizjuristen möchte ich nur einen Satz sagen: Tatsächlich ist es so, dass in der Verwaltung große Gegensätze zwischen den einzelnen Ministerien und teilweise auch noch in der Ebene darunter vorhanden sind. Ein Beispiel: Das Innenministerium gilt für weite Teile des Vormärz als besonders konservativ, besonders ständisch orientiert. Jedenfalls würden wir sagen, dass es eher auf Savignys Seite einzuordnen wäre, während das Justizministerium in dem Sinne als modern gilt, dass es an einer einheitlichen Verwaltung interessiert ist. Somit gibt es auf der Ebene der Ministerien sehr gravierende Auseinandersetzungen und Kämpfe. Daher kann man sagen, dass das Justizministerium durch die kaum zu erwartende Chance der Revolution von 1848 seine Möglichkeit nutzt, die Privatgerichte abzuschaffen. Insofern werden aus der Sicht der Justizministerialjuristen akzeptable Verbesserungen der Gerichtsverfassung erreicht. Peter Oestmann: Ganz herzlichen Dank. Ich habe drei Anmerkungen. Die erste: Ich bin nicht 100-prozentig sattelfest mit der subsidiären Geltung des Allgemeinen Landrechts. Ich glaube, es gab dort eine Vorschrift, dass das Allgemeine Landrechte durch Provinzialgesetzbücher überlagert werden kommen. Ein solches Provinzialgesetz gab es jedoch nur in der Provinz Posen. Das bedeutet, dass das Allgemeine Landrecht in Wirklichkeit unmittelbar und nicht subsidiär galt. Daneben gibt es dieses bekannte Zitat von Savigny: „Das Allgemeine Landrecht ist nach Form und Inhalt eine Sudeley.“ Jedenfalls hat er das seinen Studenten erzählt, vielleicht sogar in seiner Landrechtsvorlesung. Die Studenten haben bei ihm die Methode der historischen Rechtsschule gelernt und sind dann von der Universität aus in ihrem Beruf tätig gewesen. Ich bin kein Experte der preußischen Praxis, aber ich frage einfach: Ist das Ideal nicht Rechtvereinheitlichung durch Wissenschaft gewesen? Man kann das Recht auch ohne Gesetzgebung vereinheitlichen, indem alle die gleiche Methode benutzen. Savigny sagt gerade, wir brauchen eine gute Ausbildung, wir brauchen gute Gesetze, und es reicht vollkommen die Rechtsquellenlage, die es vor 1800 gab. Es besteht kein Modernisierungsbedarf. Die Rechtsangleichung erfolgt dann ohne den Staat. Übernehmen die Studenten dies, kann das die Praxis prägen. Das frage ich mich jetzt einfach nur. Die dritte ist ein Punkt, welcher Sie ganz stark unterstützen
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könnte. Daher habe mich gewundert, warum Sie diesen nicht genannt haben: Zu der Zeit, in der das Allgemeine Landrecht kodifiziert wurde, gab es volkspädagogische Bemühungen, die kurzen Druckausgaben möglichst billig zu verkaufen, damit viele Leute das Allgemeine Landrecht kennenlernen. Man wollte doch dieses Gesetz richtig populär machen. Monika Wienfort: Das lässt sich am einfachsten beantworten: Ja, das gibt es. Jedoch ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts davon nicht mehr viel zu spüren. Es ging in diesem Vortrag stärker darum, die Jahrzehnte nach 1800 zu verfolgen. Die Zeit der Volkspädagogik war dann schon vorüber. Ich würde sagen, dass es dann in die Mühlen der Ebene der alltäglichen Rechtsprechung und der Anwendung bei den Juristen ging. Provinzialgesetzbücher gab es tatsächlich nicht. Die Mehrheit der Gerichtsurteile, die ich mir aus verschiedenen Rechtsbereichen angesehen habe, geht jedenfalls zu Beginn, ob nun subsidiarisch durch die Provinzialgesetzgebung modifiziert oder nicht, davon aus, dass es nur eine subsidiarische Geltung gibt. Später beginnt eine Phase der ausdrücklichen Unterscheidung zwischen Landrecht und Gewohnheitsrecht. Diese geht dann in den 1820er und 1830er Jahren mit der weitergehenden Reformtätigkeit verloren. Was hat Savigny bewirkt, wenn er über das Landrecht gelesen hat? Das ist nicht so leicht zu beantworten. Es gibt zwar die Mitschriften. In denen kommen ausdrückliche Negativurteile aber nicht vor. Eher sind es vorsichtige Bemühungen mit der Tendenz, man könnte, wenn man das Recht wissenschaftlich bearbeitet, auch zu diesen oder jenen Urteilen kommen. Es liegt vielleicht daran, dass ich in der praktischen Arbeit mit Gerichtsakten eher mit Juristen ohne wissenschaftlichen Ehrgeiz zu tun hatte. In Praxis sehe ich wenig historische Rechtsschule und intellektuell ansprechende Auslegungen, sondern eher die Neigung, sich buchstäblich an die Paragraphen zu halten. Albrecht Cordes: Zunächst einmal herzlichen Dank für den ausgesprochenen witzigen und spritzigen Vortrag. Es war ein Vergnügen, Ihnen zuzuhören. Sie haben mit Ihrer Schlussthese, aber auch mit dem Frankreich-Beispiel das Gegenteil von dem gesagt, was diese Tagung eigentlich vorhat. Es ist kein Wunder, dass eine Vereinigung für Verfassungsgeschichte gerne hören und sagen möchte, dass Verfassung zur Zusammengehörigkeit beiträgt. Die Anschlussfrage wäre jetzt, können Sie irgendwelche Faktoren entdecken, wo das wirklich so sein könnte? Oder welche Bedingungen innerhalb oder außerhalb erfüllt sein müssen und wo dieses Desintegrative und Trennende eher zum Vorschein kommt? Wahrscheinlich eng damit verbunden ist die Frage nach den Faktoren, die zur Gemeinschaftsbildung führen können. Die haben wir sowohl bei Ihnen als auch bei der Einführung von Dieter Gosewinkel gehört. Im 1. Semester meines ersten Proseminars in Geschichte war dabei immer die Rede von Integrationsideologien. Lässt sich irgendwie abmessen oder vergleichen, welche Rolle und welches Gewicht Verfassung im Vergleich zu diesen anderen Integrationsideologien spielen kann? Gibt es da methodische Ansätze?
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Monika Wienfort: Genau genommen habe ich nicht bestritten, dass Verfassungen ein Zusammengehörigkeitsgefühl stiften können. Ich habe nur gefragt, wie man das messen will. Das ist, so glaube ich, offensichtlich schwierig. Ich hatte es insofern leicht, als ich mich mit einer Epoche beschäftige, in der es keine geschriebene Konstitution gab. Daher habe ich mich eher gefragt, was stattdessen unter dem Oberbegriff „Recht“ integrierend hätte wirken können. Da war meine Bilanz nicht ganz negativ. In populären Zeitungen und Zeitschriften, z. B. in der Jenaer Literaturzeitung, wurde von der einheitsstiftenden Wirkung des preußischen Rechts gesprochen. Die Juristen in der Rechtsprechung, also die Justizjuristen auch kleinerer und unbedeutenderer Gerichte, gehen zunehmend dazu über, dieses Recht anzuwenden, und von den Rechtssuchenden wird das auch akzeptiert. Zumindest gibt es keinen allgemeinen Aufschrei, indem die Leute schon deshalb in Revision gingen, weil sie finden, dass das Allgemeine Landrecht in keiner Weise maßgeblich sein sollte. Wie heute auch versuchen Kläger, ihre Interessen und Möglichkeiten vor Gericht vorher abzuschätzen. Zusammengehörigkeitsgefühle an sich sind ein schwieriger Untersuchungsgegenstand. Die Emotionengeschichte ist als Feld methodisch schwierig, weil man als Historikerin selbstverständlich immer nur die Äußerungen über Emotionen betrachten kann, nicht aber die Emotionen selbst. Diese kann ich nicht einmal in der Gegenwart an lebenden Menschen auf methodisch einwandfreie Weise untersuchen. Für das 19. Jahrhundert muss man sich darauf beschränken, Praktiken der Zusammengehörigkeit zu untersuchen. Michael Kotulla: Frau Wienfort, ich habe mich gefragt, ob man den Vortrag nicht ganz anders hätte aufziehen müssen. Das gilt umso mehr, wenn man nach einer Verfassung als staatlicher Grundordnung für Preußen fahndet. Dann ist das Allgemeine Landrecht schwerlich das richtige Beispiel. Wir haben ja auch schon gehört, dass dieses nicht uneingeschränkt in allen Landesteilen der preußischen Monarchie gilt. Gleichsam als „Konkurrenz“ existiert etwa im Rheinland das französische Recht. Wäre es nicht vielleicht sinnvoller gewesen, sich zu fragen, was es mit den königlichen Verfassungsversprechen auf sich hat? Ich denke etwa an das des preußischen Königs von 1815, welches man offenbar für wichtig genug hält, um die Bevölkerung für den neuen, wiedererstarkenden preußischen Staat gewinnen zu können. – Mehr noch: Wie wäre es beispielsweise mit den Provinziallandtagen gewesen, die es seit den 1820er Jahren und bis zum Jahr 1848 schließlich in allen Provinzen gibt? Hier hat man zumindest auf einer etwas unter dem Gesamtstaat liegenden Ebene eine sehr wohl, ich sage mal „verfassungsrechtlich“ organisierte, fast föderale Struktur. Wie wäre es weiterhin mit den Oberpräsidenten gewesen, die im Zweifelsfalle das Bindeglied zwischen den Provinzen und Berlin bilden? Man könnte das hier von mir Vermisste jetzt x-beliebig fortsetzen. Ich glaube, die verfassungsstaatlichen Strukturen sind in Preußen – wenngleich es eine Verfassungsurkunde erst seit 1848 und die endgültige dann 1850 gibt – auch schon in den 1820er/1830er Jahren zu erkennen – jedenfalls viel deutlicher als im Allgemeinen Landrecht! Danke.
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Monika Wienfort: Also, um es kurz zu machen. Über die Verfassungsversprechen finden Sie gewiss unzählige Darstellungen in der konventionellen politischen Geschichte. Ich dachte eigentlich nicht, dass ich das nochmal wiederholen sollte. Tatsächlich interessant sind die Provinziallandtage. Sie sind lange völlig ignoriert worden. Ihre Existenz wurde mit der Begründung übersehen, dass sie allein eine beratende Funktion gehabt haben. Die Petitionen, die dort vorgebracht worden sind, die Beratungen, die dort geführt worden sind, letztlich hätte das alles zu nichts geführt. Ich würde das anders sehen. Die Provinziallandtage waren öffentliche Foren für die Ansichten, Meinungen, Forderungen und Wünsche verfassungspolitischer Art. Aber auch Foren in ganz vielen anderen Rechtsbereichen wie zum Wegerecht, zum Straßenbaurecht, zum Wasserbaurecht und Feuerschutz, Gewerbepolitik etc. Tatsächlich sind die Provinziallandtage sehr interessante Untersuchungsfelder, um zu sehen, was die gewöhnlichen Preußen bewegt hat, wenn sie mit dem Recht, sei es in Gestalt der Verwaltung oder in Gestalt der Justiz, in Kontakt gekommen sind. Es gab unter anderem auch sehr viele Forderungen nach der Reform der Gerichtsverfassung. Das ist also tatsächlich wichtig. Für die Oberpräsidenten gilt dasselbe wie für die Verfassungsversprechen. Susanne Lepsius: Mir hat sehr gut gefallen, dass Sie auch auf den Vollzug des Allgemeinen Landrechts durch die Juristen hingewiesen haben und ebenso auf die Studien dazu. Zu einer Ihrer Antworten, nämlich zur Konkurrenz zwischen Justiz- und Innenministerium und dass dort unterschiedliche Juristen tätig waren, möchte ich eine Anmerkung machen. Und zwar diejenige, dass die Referendarausbildung in Preußen zweigeteilt war und es keine einheitliche Referendarausbildung gab. Es gab die Justizjuristen und es gab die Verwaltungsjuristen. Demgegenüber existierte in Süddeutschland ein anderes Modell. Nach meinem Kenntnisstand waren es typischerweise – ich weiß nicht, was die neueren Studien dazu sagen – in Preußen eben eher Adelige, die dann in den Verwaltungsjuristendienst gingen und dann wahrscheinlich auch im Innenministerium tätig waren. Die Justizjuristen rekrutierten sich aus dem städtischen Bürgertum mit dem entsprechenden Hintergrund. Wenn das stimmen sollte, würde das natürlich die Frage aufwerfen, ob wir überhaupt von einer Vorstellung im preußischen Apparat ausgehen können, das heißt von einer einheitlichen Vorstellung vom Recht oder von einem einheitlichen Rechtsvollzug oder, ob wir nicht von einer massiven Konkurrenz an der Spitze der Ministerien wie in den Stäben ausgehen müssen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass das Fehlen einer geschriebenen Verfassung dann ja auch keine Justizgrundrechte gewährleistet hat. Was der Kollege Waldhoff als modern beschrieben hat, die Selbsttitulierung der Finanzverwaltung, heißt natürlich, dass auch kein Rechtsschutz gegen staatliche Bescheide und Maßnahmen besteht. Auch in der Hinsicht bot Preußen ein anderes Modell, das nämlich generell keinen unabhängigen Verwaltungsrechtsschutz vorsah. Ich kann hieraus keine konkrete Frage bilden, aber ich möchte natürlich das Problem anreißen, ob man nicht – auch wenn man jenseits der Anwendung des Allgemeinen Landrechts die Implementation anderer Normen in den Blick nimmt – nur die halbe
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Wahrheit des Justizvollzuges in den Blick nimmt und den Administrativvollzug übersieht. Monika Wienfort: Das ist selbstverständlich vollkommen richtig. Tatsächlich lässt sich relativ leicht zeigen, dass die Adeligen mehrheitlich den Verwaltungsdienst wählten, sofern sie diese Wahl hatten. Zunehmend hing der berufliche Werdegang mit Examensergebnissen zusammen. Das war für manche Adelige nicht ganz so einfach. Auf der anderen Seite findet man überwiegend bürgerliche Juristen in der Justiz. Ich gebe zu bedenken, dass der Adel in Preußen nur etwa 0,9 % der Bevölkerung ausmachte. Das bedeutet, dass die Prägekraft der Adeligen in der Masse nicht so groß gewesen sein dürfte, in den hohen Positionen, z. B. im Innenministerium, aber selbstverständlich schon. Dort wirkten gerade auch Adelige, die in besonderer Weise ständischen Vorstellungen anhingen. Nebenbei bemerkt, erkannte man hier das Allgemeine Landrecht durchaus an, weil es ständische Rechte enthielt, die durch die Reformgesetzgebung abgeschmolzen wurden. Konservative Juristen mochten es gerade deshalb, weil es beispielsweise im Vergleich zum Code civil, welcher kurzen Prozess mit den ständischen Unterschieden gemacht hatte, weniger einschneidend war. In der Politik und den höheren Rängen der Ministerien blieb der Unterschied zwischen Adel und dem Bürgertum wichtig. Dabei gab es jedoch auch Bürgerliche, die ständisch dachten, ebenso wie Adelige, die sich sehr gleichheitsbewusst verhielten. Die Landräte sind natürlich auch überwiegend Adelige. Aber schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts treten Adelige als Karrierebeamte auf. Manche sind als vermögenslose Adelige aufgestiegen und müssen im Staatsdienst reüssieren. Ihre Loyalität zu ständischen Adelsidealen ist daher begrenzt. Ewald Grothe: Frau Wienfort, auch von mir herzlichen Dank für Ihren sehr kurzweiligen Vortrag. Ich fand es sehr amüsant, wie Sie es gemacht haben. Im Grunde genommen haben Sie ja über die Integration durch das Recht gesprochen. Dabei haben Sie – was Sie eben näher ausgeführt haben – die Verfassungsfrage in den einzelnen Provinzen kurz erwähnt. Ich möchte das, was Sie gerade gesagt haben, noch einmal unterstreichen. Es ist ja nicht nur bedeutsam, welche Materien in den Provinziallandtagen nun diskutiert werden. Auch das ist wichtig. Aber es geht ja noch weiter. Die Provinziallandtage werden gewählt, das heißt es gibt Wahlkämpfe. Dabei finden nicht nur ausführliche Diskussionen nur über die Petitionen statt, sondern auch über viele andere Materien. Politiker wie Hansemann und Camphausen gehen im Grunde genommen durch die Schule der Provinziallandtage. Dann treten sie in die 48er-Revolution ein und mischen dort richtig in den Parlamenten mit, wo sie eine Menge Einfluss haben. Die Politik in Preußen ist meiner Meinung nach ohne die Provinziallandtage gar nicht denkbar. Die Frage, die sich mir stellt, lautet, ob es mit den Provinzen eine Art von Teilstaaten gibt, da man ja keine gesamtstaatliche Verfassung hat? Und gibt es aufgrund dieser teilstaatlichen Verfassungen gewissermaßen Teilidentitäten? Für das Rheinland haben Sie das mit Verweis auf das Rheinische Recht ausgeführt. Aber es gibt ja in den anderen Provinzen wie in Westfalen auch einen Provinziallandtag, eben in allen Provinzen, welche ebenso wichtig sind. Schließlich kommt es erst 1847 zum Vereinigten Landtag. Und dort sieht man, dass
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im Grunde genommen in Vorform eine parlamentarische Debatte stattfindet. Sind es also die Teilidentitäten in Preußen, welche sich dann zu einem Gesamtstaat zusammenfinden, den es ohne Verfassung dann doch gibt? Kommt es so zu einer Staatsbildung auf quasi föderaler Grundlage? Monika Wienfort: Man kann zumindest seit den 1840er Jahren beobachten, dass diese Provinziallandtage durchaus immer politischer werden. Die Verfassungsversprechen sind ja nur ein Thema, mit dem sie ihre Forderungen nach einer Gesamtrepräsentation äußern. Dann entwickeln sich bestimmte Polarisierungen: Die sogenannten Flügelprovinzen, das Rheinland und Ostpreußen, äußern sich vielfach liberal. Das ist kein Wunder, wenn man die soziale Zusammensetzung der Landtage betrachtet. In Ostpreußen gibt es eine breite Schicht liberal orientierter Bauern, die neben den liberalen Städtern stehen. Auf der anderen Seite gibt es natürlich die konservativen Provinzen, an der Spitze Schlesien – wenn man das so ausdrücken will – als die „feudalste“ Provinz mit einem sehr ausgeprägten adeligen Großgrundbesitz. Auch Brandenburg macht sich nicht gerade verdächtig, besonders liberal zu sein. Im Vereinigten Landtag fand diese Politisierung ein Forum mit denselben Personen. Damit ist gemeint, dass die dezidiert Liberalen aus dem Rheinland oder Ostpreußen auf dem Vereinigten Landtag vertreten sind, genauso wie Teile der sehr konservativen Adelsgruppen aus Schlesien oder Brandenburg. Insofern treffen diese Gruppen dort zusammen. Ich wäre aufgrund der doch eher kurzen Dauer des Vereinigten Landtages und der folgenden Dynamisierung in der Revolution eher skeptisch, ob es sich schon um ein modernes Parlament gehandelt hat. Aber ich gebe Ihnen vollkommen Recht, dass die Revolutionäre ihre Politik in den Provinziallandtagen gelernt haben. Dort haben sie die parlamentarischen Verfahren kennengelernt, sie haben gelernt, sich Wahlen zu stellen, sich politisch zu äußern und Gruppen zu bilden. Ferdinand Kramer: Wir denken immer sehr stark in Richtung Rechtsvereinheitlichung als Grundlage für Integration und Zugehörigkeit. Müsste man nicht – vielleicht auch wegen des Themas unserer Tagung – einmal fragen, ob Integration nicht auch durch Respekt vor Pluralität oder Organisation von Pluralität entsteht? Sieht man nicht, wenn man auf die Habsburger-Monarchie schaut oder auf die Pfalz in Bayern oder eben auf das preußische Modell Integration durch Vielfalt und Respekt vor Vielfalt? Monika Wienfort: Ich habe zumindest versucht zu sagen, dass das als autoritär geltende Preußen letztlich die Koexistenz des rheinischen Rechts akzeptiert. Man hätte sich das vielleicht auch anders vorstellen können. Aber es ist doch relativ klar, dass sich die Gruppen in Berlin, die es politisch für richtig halten, den rheinischen Bürgern ihr Recht zu lassen, dieses dann am Ende auch durchsetzen. Insofern gibt es zumindest eine Akzeptanz von Vielfalt. Es gibt damit, wie sich später noch zeigen wird, eine auf Dauer angelegte Zweigleisigkeit. Man kann 1840 noch nicht wissen, dass das BGB tatsächlich erst 1900 kommen wird. Besonders im Liberalismus, der nationale Einheitsforderungen aufstellt und sich damit auch eine Vereinheitlichung der
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Gerichtsverfassungen mit Geschworenengerichten wünscht, hat man vielleicht Hoffnungen, dass es schneller geht. An einer allgemeinen Tendenz zur Akzeptanz von Vielfalt kann man zweifeln. Ein Gegenbeispiel ist die Polenpolitik Preußens. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die nationalen und sprachlichen Eigenarten der Polen noch anerkannt. Im Kaiserreich wurde dann rabiat die Anpassung gefordert und eine Assimilierungspolitik verfolgt. Im Hinblick auf die Polenpolitik kann jedenfalls nicht gelten, dass man sich im späteren 19. Jahrhundert mit der Vielfalt der katholischen renitenten Polen besser abfand als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dieter Gosewinkel: Monika, herzlichen Dank für diesen wirklich sehr instruktiven Vortrag. Ich habe zwei Fragen: Die eine Frage bezieht sich noch einmal auf den Vergleich mit dem Code civil. Liegt hier nicht ein über die einzelnen deutschen Staaten und auch über Frankreich hinausgehendes, fast gemeineuropäisches Phänomen vor, welches Dieter Grimm mit dem Wort „Privatrechtsakzessorietät der Verfassung“ benannt hat? Liegen nicht die wirklichen Fortschritte im Verfassunggebungsprozess in der sehr stark in die Gesellschaftsordnung hineinreichenden Privatrechtsordnung? Liegen die Verfassungen nicht über der Privatrechtsordnung? Nutzen sie diese nicht gerade aus? Ist also das, was wir hier diskutieren, nämlich Preußisches Allgemeines Landrecht und Code civil, als Privatrecht eher privatrechtliche Gesellschaftsordnung? Liegt gewissermaßen, wenn man von Fortschritten in der Vereinheitlichung und dem Stiften von Zusammengehörigkeit durch Recht spricht, nicht der große Fortschritt zunächst im Privatrecht? Und, das wäre meine zweite Frage: Ändert sich denn etwas in der Mitte des 19. Jahrhunderts? Was bedeuten dann die preußische und die oktroyierte Verfassung? Verschiebt sich da das Gewicht zwischen diesen beiden Normbeständen im Hinblick auf die Stiftung von Zusammengehörigkeit im sich langsam weiterentwickelnden preußischen Verfassungsstaat? Monika Wienfort: Ich stelle zunächst fest, dass ich eine Erweiterung des Themas vornehmen muss, wenn ich über die preußische Verfassung nach 1848 spreche. Ich will aber zunächst noch einmal etwas zum Code civil sagen. Ganz bestimmt stellt der Code civil das ideale Gesetzbuch einer bürgerlichen Eigentümergesellschaft dar. Das Allgemeine Landrecht klingt dagegen, besonders, wenn man sich mit den Familienrechtsteilen beschäftigt, früh wohlfahrtsstaatlich, mit einer stärkeren Einwirkungsmöglichkeit des Staates. Demgegenüber ist der Code civil eher ein Gesetzbuch, welches zum Manchesterliberalismus passt. Jedenfalls ist es kein Wunder, dass dieses rheinische Bürgertum, das unternehmerisch tätig ist, so viel Anhänglichkeit an den Code civil entwickelt. Im Rheinland sehen die Bürger, dass die Ideen, die der Code civil vertritt, ihren Interessen entgegenkommen. Meine Mahnung oder meine Warnung am Schluss sollte eher bedeuten, dass in der Rechtspraxis die Unterschiede zwischen den Gesetzbüchern nicht überall so groß gewesen sind. Ob man darin Fortschritte sieht, ist nicht leicht zu beurteilen. HistorikerInnen reden ja nicht mehr von Fortschritt, sondern von Aushandlungsprozessen. Für die geschiedene Frau unter dem Code civil, welcher man Ehebruch vorwirft, ist das mit dem Fortschritt so eine Sache. Es gibt durchaus Gruppen, die in
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dem ein oder anderen Rechtssystem Verluste verzeichnen. Ändert sich etwas mit der preußischen Verfassung und der politischen Ordnung nach 1849, wenn man die Revolutionswirren beiseitelässt? Der Verfassungsstaat sichert nicht nur allgemein Rechte und Freiheiten, sondern bedeutet für manche Adelsgruppen einen Wiedergewinn an Sicherheit, z. B. für die Mitglieder des Preußischen Herrenhauses. Die großen Grundbesitzer, im Wesentlichen in den östlichen Provinzen, profitieren von der neuen politischen Ordnung ausdrücklich. Von daher wird, und das bildete ja den Schluss meines Vortrages, am Ende das Dreiklassenwahlrecht tatsächlich zu dem, was man am ehesten sieht, wenn man an Preußen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts denkt. Die Ablehnung des Dreiklassenwahlrechts durch die Sozialdemokratie bestimmt die Haltung zum Staat maßgeblich mit. Matthias Pape: Zu der Frage, warum denn der preußische Staat es hingenommen hat, dass in der Rheinprovinz das französische Recht weitergegolten hat, möchte ich noch eine kleine Anmerkung machen. Die Rheinprovinz war innerhalb Preußens die wirtschaftlich stärkste und technisch fortschrittlichste Provinz. Der preußische Staat hat, neben Schlesien, vor allem aus der Rheinprovinz die höchsten Steuereinnahmen gezogen und deswegen auch keine Konfrontation mit dem rheinischen Wirtschaftsbürgertum in Kauf nehmen wollte. Man hat in Berlin gesehen, dass man auf die Wirtschaftskraft des Großbürgertums in der Rheinprovinz angewiesen war und hat insofern dann auch beim rheinischen Recht nachgegeben. Es gibt ein geflügeltes Wort des Kölner Bankiers Abraham Schaaffhausen, der 1815 gesagt hat, als die Preußen an den Rhein kamen: „Da heiraten wir in eine arme Familie hinein.“ Das zeigt dieses Spannungsverhältnis gut auf. Ich würde hier also stark auf den wirtschaftlichen Faktor abheben, der zu einem Nachgeben in Berlin geführt hat. Das soll eine kleine Anmerkung zu der Frage sein, warum in Preußen diese Zweigleisigkeit des Rechts bestanden hat. Monika Wienfort: Vollkommen richtig. Ich würde nur wiederum ergänzen, dass es nicht nur wirtschaftliche Eigenarten waren, sondern durchaus auch politisches Selbstbewusstsein, dass das rheinische Bürgertum aus der französischen Zeit mitgenommen hat. Es war daher nicht ausschließlich die wirtschaftliche Stärke der Rheinprovinz für dieses Selbstverständnis verantwortlich. Oliver Lepsius: Ganz herzlichen Dank allen Diskutanten, ganz herzlichen Dank Frau Wienfort. Der Vortrag war spannend und vielfältig. Vor allem ist deutlich geworden: Wenn wir nicht nach verfassungsrechtlichen, sondern nach einfachrechtlichen Integrationsmechanismen fragen, dann gelangt die Institution der Gerichtsbarkeit in den Blick. Damit eröffnet sich uns ein Quellenbestand, nämlich Prozessakten. Die Gerichtspraxis rückt so in den Blick. Wenn wir hingegen nach Verfassungen fragen, dann können wir in diesen Jahrzehnten keine praktische Seite des Rechts erforschen; es gibt keinen entsprechenden Quellenbestand. Stattdessen haben wir einen Theoriediskurs, wir haben einen politischen Diskurs. Aber wir haben natürlich kein Prozessschrifttum, wir haben keine Praktiker, wir kriegen sozusagen keine Ergebnisse. Und Ergebnisse sind natürlich für Juristen besonders in-
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teressant. Wir Verfassungshistoriker sind generell verfassungsorientiert und mit der Verfassungsorientierung geht dann eine Kasteiung in der weiteren Forschung einher, anders als wenn man einfachrechtlich orientiert ist und auf Quellen aus der Praxis zurückgreifen kann. Umgekehrt privilegiert eine einfachrechtliche Orientierung allerdings die preußische Perspektive. Insofern ist es schon plausibel, dass man sich in der Preußenforschung aufs Zivilrecht kapriziert. Weil da natürlich viel mehr Prozesse geführt werden, als wenn man die Verwaltung nimmt. Denn dort herrscht wie bei der Verfassung wieder das Quellenproblem, dass man die praktische Dimension eben nicht in Akten wiederfinden kann, wie es für die Gerichtspraxis möglich ist.
Konstitutionalisierung zwischen lokaler Macht und bündischem Anspruch: Schweiz Von Andreas Kley und Tim Segessemann, Zürich
I. Herkunft Die Vorstellung eines Bundes zwischen Volk und Gott erscheint im Alten Testament, in Form des Bundes des Volkes Israel mit seinem Gott Jahwe.1 Allerdings ist die etymologische Herkunft des Begriffs „Bund“ im Alten Testament ungeklärt und trägt nichts zur inhaltlichen Bestimmung bei.2 Wesentlicher sind deshalb die Überlieferungen der Bündnisse zwischen den Gemeinwesen der Antike, namentlich des alten Griechenlands. Diese Bündnisse haben nicht den Charakter moderner Staatenverbindungen, sondern können höchstens als ideengeschichtliche Vorläufer angesehen werden. Ob sie die politische Ideengeschichte zu Recht als Vorläufer betrachtet, spielt keine Rolle. Fakt ist, dass etwa Montesquieu, Jean-Jacques Rousseau oder die Autoren der Federalist Papers3 mit den antiken Bündnissen operierten und sie als Argumente für eine bevorzugte Regierungsform verwendeten. Die Zwecke der Bünde oder Bündnisse sind unterschiedlich und hängen von den konkreten Umständen ab. Die Schaffung von gemeinsamen Regeln bedingt eine Einigung. Der Bund basiert auf übereinstimmenden Willensäußerungen und stellt einen Vertrag dar. Im Bereich der mittelalterlichen Territorialherrschaften bildeten sich Bündnisse heraus, die man als Vorläufer der völkerrechtlichen Verträge sehen kann. Die Bündnisse betreffen die gemeinsame militärische Verteidigung oder den Warenaustausch. Die Verteidigungs- und Handelsbündnisse setzen ein Regelwerk voraus, dem sich zwei oder mehrere Herrschaftsträger unterstellen. Sie sind länger1 Fritz Stolz, Bund, Religionsgeschichtlich, in: Hans Dieter Betz et al. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 1. Bd., 4. Aufl., 1998, Sp. 1861. 2 Jan Christian Gertz, Bund im Alten Testament, RGG (Fn. 1), Sp. 1862; J. Wayne Baker, The Covenantal Basis for the Development of Swiss Political Federalism. 1291 – 1848, in: Publius, Communal and Individual Liberty in Swiss Federalism, 23/2 (1993), S. 19, versucht, wenig überzeugend, dem Schweizer Föderalismus eine alttestamentliche Grundlage zu geben. 3 Z. B. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Übersetzung von Erich Wolfgang Skwaraa 2000, S. 125; James Madison, XVIII. Artikel, in: Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter, herausgegeben, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Angela Adams und Willi Paul Adams, 1994, S. 104 m. w. H.
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fristig angelegt und wollen einen Raum des gegenseitigen Vertrauens zur Erreichung des angestrebten Zwecks schaffen. Derartige Bünde sind seit dem Mittelalter wirksam und können zusammen mit den Städtebündnissen des antiken Griechenlands als Impulsgeber der modernen staatsrechtlichen Bundesidee angesehen werden. Gestützt auf die antiken Vorbilder entwarf Montesquieu in seinem Esprit des Lois die „république fédérative“. Die Menschen haben eine Verfassungsart erdacht, „die alle inneren Vorzüge einer republikanischen Regierung mit der äußeren Macht einer Monarchie vereinte: Ich meine die ,république fédérative‘. Diese Regierungsform ist ein Vertrag, durch den mehrere politische Gemeinwesen dahin übereinkommen, Bürger eines größeren Staates zu werden, den sie bilden wollen. Sie ist eine Gesellschaft von Gesellschaften, die eine neue bilden, die sich durch den Anschluss weiterer Mitglieder vergrößern kann, bis ihre Macht für die Sicherheit aller Verbündeten ausreicht.“4 Die amerikanische Revolution hat diese Idee von seinem „Orakel“, wie sie Montesquieu bezeichnete, angenommen. In den USA entstand der erste Bund in Form der „Articles of Confederation“ vom 1. März 1781.5 Dieser erwies sich als zu lose und wenig wirksam. Die amerikanische Unionsverfassung von 1787 verstärkte die Beziehungen der Bundesglieder und schuf den Bundesstaat. In Frankreich setzte sich aus der Monarchie heraus der Zentralismus durch. Die Republik blieb ein Zentralstaat und führte zur rabiaten Ausmerzung der Bewegung der Föderalisten.6 Deren Ideen betrachtete man als gefährlich und unterdrückte sie gewaltsam. Die Alte Eidgenossenschaft kannte die bündische Verbindung von territorialen Gliedern organisatorisch in Form der Tagsatzung. Der Begriff der „Eidgenossenschaft“ erschien erstmals im Bund von 1351 der Orte Uri, Schwyz, Unterwalden und Luzern mit Zürich7 und bezeichnet die abstrakte Qualität des beschworenen Bundes. Dieser schafft zwar nicht ein festeres Band, das die Glieder umschließt, aber der Singular verstärkt das Selbstverständnis des geschlossenen Vertrags. „Die erstaunliche Verwendung des Begriffs Eidgenossenschaft, zumal im Sinne der Vorstellung von einem einzigen Bund, stützt sich […] auf den außergewöhnlichen, weil unbefristeten und räumlich geschlossenen Charakter des Bündnissystems […]. Dadurch unterscheidet sich das Eidgenössische von den zahlreichen Bündnissen […] des Spätmittelalters.“8
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Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1. Bd., 1992, S. 180. Herbert Schambeck/Helmut Widder/Marcus Bergmann (Hrsg.), Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, 2. Aufl., 2007, S. 139. 6 Mona Ozouf, Föderalismus, in: François Furet/Mona Ozouf, Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, 1. Bd., 1996, S. 49. 7 Ewiger Bund der Stadt Zürich mit den vier Waldstätten vom 1. Mai 1351, in: Hans Nabholz/Paul Kläui, Quellenbuch zur Verfassungsgeschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Kantone von den Anfängen bis zur Gegenwart, Aarau 1947, S. 14. 8 Andreas Würgler, Die Tagsatzung der Eidgenossen, 2013, S. 22; siehe auch ders., Eidgenossenschaft, in: Historisches Lexikon der Schweiz, 4. Bd., Basel 2005, S. 114. 5
Konstitutionalisierung zwischen lokaler Macht und bündischem Anspruch: Schweiz 69
Die mögliche Bindungskraft der Bundesvorstellungen wurde im 18. Jahrhundert stark geschwächt. Am Ausgangspunkt des letzten konfessionellen Krieges seit der Reformation, des Zweiten Villmergerkrieges von 1712, stand ein Konflikt zwischen dem Fürstabt von St. Gallen und dem teilweise reformierten Toggenburg, das sich gegen den Abt erhob. Die protestantischen Orte sahen die Chance, in den Toggenburger-Konflikt einzugreifen, um damit die Vormacht der katholischen Orte zu brechen. Sie instrumentalisierten den Aufstand der Toggenburger Untertanen, um in der Eidgenossenschaft die Hegemonie zu erhalten. Der Versuch gelang; die Berner und Zürcher siegten an verschiedenen Schlachtplätzen, zuletzt am 26. Mai 1712 in der Nähe von Bremgarten im Aargau. Im Friedensvertrag vom 11. August 1712 erzwangen die Berner und Zürcher die konfessionelle Parität, und sie beendeten die Vorherrschaft der katholischen Orte. Der Friede führte zu Verlusten an Territorien und an Einfluss der Katholiken und entfremdete die beiden Konfessionen grundlegend. Nach dem Zweiten Villmergerkrieg von 1712 war die 13-örtige Eidgenossenschaft innerlich blockiert. Mit einigem Recht beurteilte ein Abgeordneter am Kongress der dreizehn nordamerikanischen Staaten in Philadelphia die Eidgenossenschaft so: „The Swiss and Belgic Confederacies were held together not by any vital principle of energy but by the incumbent pressure of formidable neighbouring nations.“9 Die Kantone besuchten die Tagsatzungen im 18. Jahrhundert nur schwach, am wichtigsten waren die Beratungen der Geschäftsberichte zu den gemeinsamen Untertanengebieten, und diese förderten paradoxerweise die Eidgenossenschaft und bewahrten einen letzten Rest des bündischen Denkens. Die Vertragsgrundlage war schwach und spottete jeder Idee einer vertraglichen und freiwillig eingegangenen Bindung. Die Kantone standen 1798 trotz des „Bundesgeflechts“10 allein da. Die verzweifelte Lage zeigte sich, als nach dem letzten Zusammentreten der Tagsatzung Ende 1797/Anfang 1798 in Aarau eine Bundesbeschwörung erfolgte.11 Diese fand am 25. Januar 1798 statt und war die erste ihrer Art seit der Reformation.12 Sie war Ausdruck der Schwäche der Eidgenossenschaft und kam dadurch zustande, dass Europa durch den Wegfall Österreichs das Gleichgewicht verlor, was die Stellung der Schweiz tangierte. Den feierlichen Worten folgten gerade keine Taten. Gemeinsame Abwehrmaßnahmen konnten nicht mehr ergriffen werden, jeder Kanton blieb sich selbst überlassen. Als im März 1798 das revolutionäre Frankreich Bern, den mächtigsten Kanton, angriff, zogen sich die verbündeten Innerschweizer Kantone mit folgenden Worten vor dem Angriff zurück: „dass ihr Sinn und Gedanke allezeit gewesen, mit fester Schweizertreue, mit freudiger Aufopferung alles Bluts, bis auf den letzten Mann ihren lieben
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Votum vom 20. 7. 1787 im Kongress von Philadelphia, in: Notes of Debates in the Federal Convention of 1787 reported by James Madison, New York/London 1984, S. 161. 10 Hans Conrad Peyer, Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Zürich 1978, S. 84. 11 Siehe zum Schwur in diesem Heft: Claudia Garnier, Zugehörigkeit(en) und rituelles Handeln. Die Stiftung von Gemeinschaft durch Eide. 12 Andreas Kley, Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 4. Aufl., Bern 2020, S. 217 m. w. H.
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Eidgenossen von Bern zur Hand und Hülf zu stehen; wie sie denn davon bis auf diese Stunde sattsam und redendsten Beweis von sich gegeben haben!“13 Frankreich errichtete nach der Eroberung der Schweiz die als Einheitsstaat konzipierte Helvetische (Schwester-)Republik. Sie bedeutete einen Bruch mit der Vergangenheit und war ohne französische Stützung nicht lebensfähig. Wesentlich war nicht die Einführung der Idee des Einheitsstaates als vielmehr der grundlegenden Postulate der Französischen Revolution wie Volkssouveränität, Freiheit, Gleichheit, Demokratie, das Prinzip der Gewaltenteilung und der geschriebenen (rechtsstaatlichen) Verfassung. Diese Ideen sollten die Zeit der französischen Intervention überleben und später in der Regeneration in den Kantonen und schließlich mit der Bundesverfassung von 1848 in der gesamten Schweiz Wirksamkeit entfalten. Nach dem absichtsvollen Rückzug der französischen Truppen im Sommer 1802 kam es in den Kantonen zu konterrevolutionären Aufständen. Napoleon bot seine Vermittlung (médiation, Mediation) an. Er sagte in der Consulta am 10. Dezember 1802 in Paris: „Die Schweiz gleicht keinem anderen Staate, teils infolge der Begebenheiten, die sich darin seit Jahrhunderten zugetragen haben, teils wegen ihrer geographischen und topographischen Lage, teils wegen der verschiedenen Sprachen und Religionen und wegen der außerordentlichen Verschiedenheit in Sitten und Gebräuchen, die zwischen ihren verschiedenen Bestandteilen herrscht. Die Natur hat euch zum Staatenbunde bestimmt; die Natur zu besiegen, versucht kein vernünftiger Mann.“14 Die Mediationsakte enthielt die 19 Kantonsverfassungen mit je 20 Artikeln, und das Kapitel 20 bildete die „Bundesverfassung“. Die Akte stellte damit die bisherigen Kantone wieder her und erhob die einstigen Untertanengebiete zu selbständigen und gleichberechtigten Kantonen. Die Bundesverfassung in der Mediationsverfassung verbot in Art. 3 die Untertanenverhältnisse wie auch Privilegien aller Art. Diese Bestimmung sollte zehn Jahre später zu reden geben. Im Gegensatz zur Alten Eidgenossenschaft bestand nun eine einheitliche Bundesakte, der Bund hatte zudem eine festere Struktur erhalten. Die Mediationsakte konstituierte einen Staatenbund mit bundesstaatlichen Elementen15 oder sogar einen Bundesstaat16. Für letztere These spricht Art. 12 der Bundesverfassung, welcher den Kantonen alle Gewalt zuweist, „die nicht ausdrücklich der Bundesbehörde übertragen ist“. Es handelt sich um eine eigentliche Bundesstaatsklausel, wie sie auch im 10. Verfassungszusatz der amerikanischen Unionsverfassung ausgesprochen ist. Zudem besaß die Tagsatzung in Bundesangelegenheiten die Entscheidungskompetenz mit (zum Teil qualifiziertem) Mehrheitsentscheid. Insofern kann man von bundesstaatlichen Organisationselementen sprechen. Nach der Niederlage Napoleons im Oktober 13
Johannes Dierauer, Die Geschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 4. Bd., 1912, S. 503 m. w. H. 14 Wilhelm Oechsli, Geschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert, 1. Bd., 1903, S. 423. 15 Alfred Kölz, Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien vom Ende der Alten Eidgenossenschaft bis 1848, Bern 1992, S. 152. 16 Jakob Schollenberger, Das Bundesstaatsrecht der Schweiz, 2. Aufl., 1920, S. 9.
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1813 bei der Völkerschlacht von Leipzig verlangten die Großmächte, dass Napoleons Mediationsakte aufgehoben werde. Die Tagsatzung zögerte nicht und fasste am 29. Dezember 1813 den entsprechenden Beschluss.17 Damit war der Weg frei für die Umgestaltung der politischen Ordnung.
II. Ausprägung der bündischen Idee in der frühesten Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts Die Neugestaltung der politischen Ordnung der Schweiz nach 1813 erwies sich als schwierig. Die „Schweiz“ war mangels eigenen Willens außerstande, überhaupt etwas zu bewirken. Es gab gar keine „Schweiz“, sondern nur ein von den europäischen Großmächten bereitgehaltenes Gefäß, den „corps helvétique“18. Die Kantone waren zerstritten, uneinig über die Zukunft. Dadurch gab es keinen übergreifenden, alle Kantone umfassenden schweizerischen Willen. Die Mächte legten die Stände der Alten Eidgenossenschaft zusammen mit den ungeliebten neuen Mediationskantonen (St. Gallen, Graubünden, Thurgau, Tessin, Waadt) und einer Beigabe (Wallis, Neuenburg und Genf) in dieses Gefäß. Sie hatten sich dort zu vertragen und zu diesem Zweck einen Bundesvertrag abzuschließen. Die Konsensbildung kam nur durch Druck zustande, denn die Vorstellungen waren diametral entgegengesetzt. In Bezug auf die später hochgelobten bündischen Ideen bestand ebenfalls keinerlei Konsens. Die europäischen Großmächte bezeichneten die Schweiz in den Verträgen der Jahre 1815/16 als „Bundesstaat“, wie das die Tagsatzung auch selbst tat.19 Das war freilich ein Sprachgebrauch ohne dahinterstehende völker- oder staatsrechtliche Theorie. Ebenso bezeichneten sich die Kantone im Rahmen des Bundesvertrags als Eidgenössischer „Bundesverein“, oder sie werteten den Vertrag als „Bundesverfas17
Simon Kaiser/Johannes Strickler, Geschichte und Texte der Bundesverfassungen der schweizerischen Eidgenossenschaft, Bern 1901, Teil B., S. 152. 18 Fn. 113. 19 Uebersetzung der vorstehenden, die Eidgenossenschaft betreffenden Artikel des am 20. November 1815 zu Paris von Oesterreich, Rußland, England, Preußen und ihren Verbündeten, mit Frankreich abgeschlossenen und unterzeichneten Definitiv-Tractats, in: Offizielle Sammlung der das Schweizerische Staatsrecht betreffenden Aktenstücke, der in Kraft bestehenden Eidgenössischen Beschlüsse, Verordnungen und Concordate, und der zwischen der Eidgenossenschaft und den benachbarten Staaten abgeschlossenen besondern Verträge (Offizielle Sammlung), 1. Bd., Zürich 1820, S. 108 (Art. 1, 109); Uebersetzung des vorstehenden Vertrags zwischen Sr. Maj. dem König von Sardinien, der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Canton Genf (vom 16. Merz 1816), in: Offizielle Sammlung, 1. Bd., S. 173 (Art. 7, 189); Uebersetzung der vorstehenden Uebergabs-Urkunde, der an den Canton Genf abgetretenen Gemeinden der Landschaft Gex (vom 20. August 1816), in: Offizielle Sammlung, 1. Bd., S. 204 (206).
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sung“.20 Man kann dahinter nicht mehr sehen als die Fortschreibung der bündischen Vorstellungen aus der Alten Eidgenossenschaft und vor allem der Mediationsakte. Der Bundesvertrag war eine Überarbeitung der napoleonischen Mediationsakte und übernahm deren Struktur.21 Die frühen staatsrechtlichen Autoren der nach 1815 europäisch erneuerten Schweiz konnten angesichts dieser Lage keine klare Begrifflichkeit oder sogar eine überzeugende bündische Theorie durchsetzen. Paul Usteri folgte in seinem Handbuch des schweizerischen Staatsrechts22 dem offiziellen, uneinheitlichen Sprachgebrauch. Er fasste die Eidgenossenschaft des Bundesvertrags als Bundesstaat auf. Sein Handbuch ist zwar eine Textausgabe des damals geltenden Rechts, aber dessen Titel und das Vorwort behandeln die Eidgenossenschaft als einen Staat mit verfassungsmäßiger Ordnung. Eduard Henke betonte 1824, dass die Alte Eidgenossenschaft „nur einen Staatenbund, nicht einen Bundesstaat“ gebildet habe.23 Der aus Deutschland geflohene Ludwig Snell (1785 – 1854) hat den Begriff aufgenommen und 1837 mit seinem Handbuch verbreitet. Danach ist die Eidgenossenschaft unter dem Bundesvertrag von 1815 ein Staatenbund. Snell unterscheidet das Völkerbündnis, den Staatenbund und den Bundesstaat. Der Bundesstaat grenze sich gegen den Staatenbund ab erstens durch den größeren Umfang der Kompetenzen der Zentralgewalt, und zweitens beruhe der Bundesstaat auf einer unauflöslichen Verfassung und der Staatenbund lediglich auf einem kündbaren Vertrag.24 Den Schlusspunkt in der Debatte über die Rechtsnatur des Bundesvertrags von 1815 setzte der Berner Professor Friedrich Stettler mit seinem Bundesstaatsrecht von 1847.25 Stettler wandte sich vom Radikalismus ab und vertrat vor der Umwälzung von 1847/ 48 konservative Ansichten. Er hielt die gewaltsame Auflösung des Sonderbundes für vertragswidrig und opponierte gegen die Berner Kantonsregierung. Diese antwortete darauf mit seiner Entlassung.26 Stettler analysierte den Bundesvertrag. Er hob 1847 20 „Eidgenössischer Bundesverein“, Forum des zu belangenden Schuldners. Erläuterung des am 8. July 1818 bestätigten Konkordats vom 15. Juny 1804. Vom 21. July 1826, in: Offizielle Sammlung der das Schweizerische Staatsrecht betreffenden Aktenstücke, der in Kraft bestehenden Eidgenössischen Beschlüsse, Verordnungen und Konkordate, und der zwischen der Eidgenossenschaft und auswärtigen Staaten abgeschlossenen besondern Verträge (Offizielle Sammlung), 2. Bd., Zürich 1838, S. 109; „Bundesverfassung“, Zoll- und Handelsvertrag zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Königreich Württemberg. Abgeschlossen in Zürich, den 30. September 1825, in: Offizielle Sammlung, 2. Bd., S. 120 (130). 21 Oechsli, (Fn. 14), 2. Bd., 1913, S. 399. 22 Paul Usteri, Handbuch des Schweizerischen Staatsrechts, 2. Aufl., Aarau 1821. 23 Eduard Henke, Oeffentliches Recht der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Kantone der Schweiz, Aarau 1824, S. 124, 138, 178. 24 Ludwig Snell, Handbuch des Schweizerischen Staatsrechts, 1. Bd., Zweite Lieferung, das 2. bis 5. Buch enthaltend, Zürich 1837, S. XX–XXII. 25 Friedrich Stettler, Das Bundesstaatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft gemäß den Entwicklungen seit dem Jahre 1798 bis zur Gegenwart, Bern/St. Gallen 1847. 26 Friedrich Haag, Die Sturm- und Drang-Periode der bernischen Hochschule, 1834 – 1854, Bern 1914, S. 245.
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hervor, dass der Bundesvertrag auf Wachstum und Entwicklung angelegt sei. Seit 1815 habe „eine mannigfache Vervollständigung der Bundesverhältnisse stattgefunden, und der Bund dadurch den Beweis seiner inneren Lebenskräftigkeit und seiner Fähigkeit zur selbstständigen fortschreitenden Entwicklung an den Tag gelegt“27. Er operierte in der Begrifflichkeit des Staatsrechts, ließ aber die Frage der Rechtsnatur dieses komplexen Gebildes offen. Stettler forderte für die Revision das Einstimmigkeitsprinzip und widersprach der vorherrschenden und militärisch obsiegenden Meinung, der Sonderbund verletze den Bundesvertrag und müsse deshalb aufgelöst werden. Im Ergebnis kann man feststellen, dass weder politisch-ideologisch noch rechtlich das Ausmaß, die Tragweite und die Belastbarkeit der bündischen Strukturen klar waren. Die Schaffung des neuen Bundesvertrags von 1815 konnte unter diesen Voraussetzungen nur mit Konflikten und dank europäischem Druck gelingen.
III. Zürich und Bern als Gegenpole Mit dem Sturz der Mediationsordnung begannen die Stände der Eidgenossenschaft, ihre politischen Ordnungen unterschiedlicher auszugestalten. Es entstand ein „föderalistisches Nebeneinander“28 von zusehends verschiedenartigen Verfassungen. Die divergierenden politischen Auffassungen bildeten das Hindernis auf dem Weg zum Bundesvertrag von 1815 und sorgten nach dessen Inkrafttreten für Spannungen unter den Kantonen. In der Regel werden die 19 Kantonsverfassungen der Mediationszeit in drei Typen eingeteilt. Es sind dies die fünf „neuen“ Kantone Aargau, St. Gallen, Tessin, Thurgau und Waadt, die sieben „einst aristokratischen“ Städtekantone Basel, Bern, Freiburg, Luzern, Schaffhausen, Solothurn und Zürich sowie die sieben „alten Bergdemokratien“ Appenzell, Glarus, Graubünden, Schwyz, Unterwalden, Uri und Zug.29 Mit dem Abzug Napoleons aus der Schweiz 1813 entwickelte sich eine neue Bruchlinie zwischen zwei mächtigen Städtekantonen um die Deutungshoheit in der Eidgenossenschaft: Bern und Zürich. Ersteres steht für die alte und letzteres für die neue Schweiz. Für die Patrizier der Stadt Bern keimten mit der Niederlage Napoleons „Hoffnungen zur Aufhebung der ihnen wegen dem drükenden Einfluss des fränkischen Machthabers je länger je mehr verhassten Mediationsregierung, und zur Rükkehr alter, ihnen stets theuer und unvergesslich gebliebener Institutionen“30. Gemeint war die 27
Stettler (Fn. 25), S. 68. Thomas Maissen, Geschichte der Schweiz, Baden 2010, S. 218. 29 Eduard His, Geschichte des neuern Schweizerischen Staatsrechts, 1. Bd., Basel 1920, S. 208. 30 So Gottfried von Mülinen, Sohn des Altschultheissen und Vorsitzenden der Standeskommission von Bern (N. F. v. Mülinen), zitiert in: Wolfgang Friedrich von Mülinen, Das Ende der Mediation in Bern, Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern, 22/2 (1913 – 1915), S. 1 (10). 28
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Restauration der bis 1798 geltenden aristokratischen Ordnung, welche die Partei der sogenannten „Unbedingten“ oder eben Reaktionäre anstrebte. Um Stabilität bemüht, verkündete die Tagsatzung in Zürich am 18. November 1813, dass die Mediationsakte weiterhin Bestand habe. Die Berner Regierung entschied darauf kurzerhand, die Proklamation der Tagsatzung nicht zu publizieren, und zwar mit folgender Begründung: „Als bernische Magistraten müssen Wir es für die wahre und einzige Politik des Cantons und heilige Pflicht seiner jeweiligen Regenten ansehen, die Ansprüche auf die durch Gut und Blut der Vorfahren erworbenen, von ganz Europa schon vor Jahrhunderten als rechtmäßig anerkannten Rechte zu behaupten, [und] die durch fremde Gewalt geschehenen Verstückelungen zu vindiciren […].“31 Mit den „Verstückelungen“ ist wohlgemerkt die Schaffung der fünf „neuen“ Kantone durch die Mediationsakte von 1803 gemeint. Deren Status sollte schon bald zum Zankapfel der Verhandlungen um den Bundesvertrag werden (siehe unten Ziff. IV.). Kurz darauf hob der Große Rat Berns eigenmächtig die Mediationsakte auf und erließ am 23. Dezember 1813 ein Rundschreiben, welches später als „Unglückliche Proklamation“ bekannt werden sollte. Die Proklamation verkündete, dass „der vormalige Canton Bern und desselben rechtmäßige, einzig durch fremde Gewalt gestürzte, Regierung in alle ihre wohlhergebrachten Rechte zurück tritt“32. Die Reaktionäre hatten sich – vorerst – durchgesetzt. Wie sahen diese alten Institutionen und wohlhergebrachten Rechte Berns aus? Die aristokratische Ordnung des Ancien Régime war seit 1643 durch eine geschlossene Anzahl regimentsfähiger Familien geprägt. Neue Burgerfamilien konnten ab 1790 faktisch nur Regierungsmitglieder stellen, falls ein anderes Geschlecht ausgestorben war. Aus diesem erlesenen Kreis von regimentsfähigen Familien war wiederum nur ein Bruchteil effektiv als Regenten tätig. Als Erkennungsmerkmal durften letztere von diesem Zeitpunkt an das Prädikat „von“ im Namen tragen, in Nachahmung des monarchischen Adels Europas.33 Auch nach der Mediation war die Oligarchie stark ausgeprägt. Ab Januar 1814 stellten gerade einmal 14 Patrizierfamilien die Hälfte der ersten 200 Stadtberner im kantonalen Großrat, während das zweite Hundert aus 66 weiteren Stadtfamilien stammte.34 Der Landbevölkerung gehörten lediglich 99 Mitglieder des Großrats an, wobei ein Wahlkollegium von Patriziern sich seine Kollegen vom Lande aussuchen konnte.35 Die Exekutive des Kleinen Rates bestand fast ausnahmslos aus Patrizierfamilien, nämlich 19 von 21 Mitglie31
Helvetia. Denkwürdigkeiten für die XXII Freistaaten der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 8. Bd., Aarau 1833, S. 489. 32 Revidirte Sammlung der Gesetze und Dekrete des Grossen und Kleinen Rathes der Stadt und Republik Bern, vom 10ten Juny 1803 bis 21sten September 1815, 2. Bd., Bern 1823, S. 266; Abschied über die Verhandlungen der eidgenössischen Versammlung zu Zürich vom 27. Christmonat 1813 bis den 11. Hornung 1814, S. 7; Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2/1887, S. 87. 33 His (Fn. 29), S. 330. 34 Beat Junker, Geschichte des Kantons Bern seit 1798, 1. Bd., Bern 1982, S. 234. 35 His (Fn. 29), 2. Bd., Basel 1929, S. 49.
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dern.36 Diese elitäre Ordnung fand naturgemäß nicht nur Anhänger. Eine Rebellion bei Interlaken im Berner Oberland schlug die Berner Regierung im August 1814 gewaltsam nieder, und sie klagte die Anstifter des Hochverrats an.37 Mit der Ausarbeitung einer formellen Verfassung ließ sich der Kanton Bern in der Folge viel Zeit. Praktisch drängte sich dies nicht auf, da – zumindest nach Ansicht der Reaktionäre – mit der Reaktivierung der alten Ordnung die Verfassungsfrage geklärt schien. Die Berner zierten sich aber nicht zuletzt aufgrund ihrer andauernden Forderung, die ehemaligen Untertanengebiete wieder in ihr Gebiet zu integrieren. Die „Unglückliche Proklamation“ von 1813 wurde im Volksmund schnell als solche bekannt, weil sie die Miteidgenossen – allen voran den Aargau und die Waadt – unnötig brüskierte und die herablassenden Berner letztlich um ihren Einfluss in der sogenannten „langen Tagsatzung“ des darauffolgenden Jahres brachte. Erst nach dem Beitritt zum Bundesvertrag begann der Kanton Bern mit der Erarbeitung einer neuen Kantonsverfassung.38 Diese verkündete die Berner Regierung am 21. September 1815 als „Urkundliche Erklärung“39. Das Wort „Verfassung“ ist im Dokument bewusst nicht erwähnt, stammt diese Textsorte doch aus der Französischen Revolution, für welche die Berner Patrizier nicht viel übrig hatten.40 Eine „Erklärung“ hat überdies den Vorteil, dass sie nicht ausgehandelt werden muss, sondern einseitig verkündet wird und schlicht zu akzeptieren ist. Bei Hinterlegung der „Urkundlichen Erklärung“ bei der Tagsatzung hielt der Kanton Bern zudem schriftlich fest, er habe „nie eine in systematischem Zusammenhang geschriebene Konstitutionsurkunde gehabt“; demnach sei Berns alte Verfassung nach dem Ende der Mediation „im Wesentlichen wiederhergestellt worden“41. Die neue „Verfassung“ war mit jener des Ancien Régime identisch. Sowohl in Stil und paternalistischem Ton als auch inhaltlich passte sie in die Restaurationszeit.42 Außer der Handels- und Gewerbefreiheit waren keine Freiheitsrechte vorgesehen. Die politische Vertretung blieb höchst elitär. Wählbar als Repräsentanten der Stadt waren nach wie vor nur Angehörige der regimentsfähigen Familien. Die Landbevölkerung war weiterhin stark unterrepräsentiert. Das Wahlorgan, ein Kollegium aus Mitgliedern des Großen und des Kleinen Rats, wandte das Verfahren der Selbstergänzung an. Die Macht konzentrierte sich auf die Exekutive. Sie be-
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Junker (Fn. 34), 2. Bd., Bern 1990, S. 196. His (Fn. 35), S. 49. Bezeichnenderweise rehabilitierte die Berner Regenerationsregierung die Verurteilten bereits 1832. 38 Bekanntestes Mitglied der Kommission, welche die Verfassung entwarf, war Karl Ludwig von Haller, dessen Schrift „Restauration der Staatswissenschaft“ der Epoche ihren Namen gab. 39 Hans Nabholz/Paul Kläui, Quellenbuch zur Verfassungsgeschichte, Aarau 1940, S. 225; Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 10/1896, S. 346. 40 Junker (Fn. 36), S. 198. 41 Kölz (Fn. 15), S. 187. 42 Kölz (Fn. 15), S. 187. 37
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sorgte alle Geschäfte, die nicht dem Großen Rat übertragen waren, und verfügte über ein jährliches Abberufungsrecht gegenüber dessen Mitgliedern.43 Bern wehrte sich erfolgreich dagegen, dass die Tagsatzung und die Mächte am Wiener Kongress die „Urkundliche Erklärung“ genehmigten. Dennoch übten die Monarchen Europas erheblich Druck auf die Berner aus, die Verfassung weniger oligarchisch auszugestalten.44 Dieser Druck war im Fall von Zürich entbehrlich. Die Verfassungskommission konzipierte die Verfassung als Fortsetzung der napoleonischen Vermittlungsverfassung. Die Stadt Zürich blieb im Großen Rat übervertreten. Die alliierten Minister hatten daran nichts auszusetzen, und die Verfassung konnte nach der Genehmigung des Großen und Kleinen Rats am 25. Juni 1814 beschworen werden.45 Bereits unter der Mediationsakte war es der Kanton Zürich gewesen, der die oligarchischen Auswüchse des bernischen Staatsrechts kritisierte. So hatte Zürich beispielsweise seit 1810 regelmäßig die Berner Regelungen zum Entzug des Bürgerrechts bemängelt und Änderungen vorgeschlagen, welche Bern schließlich im Juli 1813 „in bundesbrüderlicher Gesinnung“ annahm.46 Obschon die restaurative Verfassung des Zunft-Stadtorts jener von Bern glich, gab es bedeutende Unterschiede. Diese lassen bereits erahnen, weshalb Zürich in der Regeneration der 1830er Jahre eine Pionierrolle innerhalb der Eidgenossenschaft einnehmen sollte (siehe unten Ziff. V.). Augenfällig ist zunächst eine doppelte Gleichheitsgarantie aller Bürger bezüglich politischer Rechte sowie „in Absicht auf Gewinn und Erwerb“, also eine gleiche Handels- und Gewerbefreiheit.47 Auch in Zürich war die Ratsfähigkeit beschränkt, allerdings auf breiterer, demokratischerer Grundlage. Einschränkend wirkte nicht etwa die Zugehörigkeit zu einem Familiengeschlecht, sondern das Erfordernis der Zunftmitgliedschaft. Wobei dies nach der Mediationsordnung gerade nicht die Zunftordnung des Ancien Régime bedeutete. Zunft hieß nämlich unter der neuen Kantonsverfassung nichts anderes als Wahlkreis.48 Eine „Zunftverfassung“ alter Standesordnung konnte nach der Mediationszeit in Zürich nicht mehr Fuß fassen. So machte Regierungsrat Ludwig Meyer von Knonau den Gesandten von Österreich und Russland klar, dass die dem Volke „1789 zugestandene Gleichheit der Rechte“ nicht mehr entrissen werden
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Kölz (Fn. 15), S. 188. His (Fn. 35), S. 49. 45 His (Fn. 35), S. 56. 46 His (Fn. 29), S. 126 m.w.H. In der Mediation war das Bürgerrecht je nach Kanton separat geregelt; das helvetische Bürgerrecht existierte nur dem Namen nach, siehe His (Fn. 29), S. 117. 47 Art. 2 und 3 Kantonsverfassung Zürich vom 11. Juni 1814, in: Neue officielle Sammlung der Gesetze und Verordnungen des Standes Zürich, 1. Bd., Zürich 1821, S. 21. 48 Kölz (Fn. 15), S. 192. 44
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könne.49 Die Verfassung vereinfachte das Wahlrecht und schaffte den Zensus für das aktive Stimmrecht ab.50 Zumindest de iure waren die Landbürger den Städtern in Zürich gleichrangig. Das Volk wählte etwas weniger als die Hälfte der Mitglieder des Großen Rats in direkter Volkswahl. Die Kandidaten, die in der Volkswahl gescheitert waren, gelangten aufgrund des Kooptationsprinzips oft durch Selbstergänzung dennoch in den Großen Rat.51 Ähnlich wie in Bern fehlte eine klare Trennung von Kleinem und Großem Rat, indessen bildete letzterer ein viel stärkeres politisches Gegengewicht als in Bern.52 Darin lag der Hauptunterschied zur Berner Politik im Jahre 1814. Sie war bei weitem nicht so einseitig bestimmt, wie dies unter den reaktionären Aristokraten der Fall war. Die Zürcher Kantonsverfassung war das Resultat einer Reihe von parteiübergreifenden Kompromissen. Ihrem Inkrafttreten am 25. Juni 1814 war – im Gegensatz zur hastigen Verkündung der „Unglücklichen Proklamation“ von Bern – eine politische Debatte vorausgegangen. Insbesondere Bürgermeister Hans von Reinhard stemmte sich gegen das Unterfangen jener, die ihre Feudalrechte verloren hatten und versuchten, eine privilegierte Zunftverfassung wiederherzustellen. Er wusste geschickt zwischen den Ansprüchen und Interessen von Stadt und Landschaft zu vermitteln.53 Dasselbe diplomatische Geschick als Vermittler stellte Reinhard als Präsident der eidgenössischen Tagsatzung von 1814/1815 unter Beweis. Die am Beispiel von Bern und Zürich angeführten Gegensätze kantonaler Verfassungen – und wir sprechen hier noch von prinzipiell ähnlich strukturierten „Städte-Kantonsordnungen“ – deuten die Konflikte an, welche die Verhandlungen des neuen Bundesvertrags prägen und erheblich erschweren würden. Ein erfolgreicher Abschluss bedurfte daher erheblicher auswärtiger Interventionen.
IV. Zusammengehörigkeit mittels europäischem Zwang Der Impuls zu einem neuen Bündnisvertrag, der die Mediationsakte ersetzen sollte, ging von den alliierten Mächten Österreich, Russland, Preußen und Großbritannien aus, welche den Mediator Napoleon aus der Schweiz vertrieben hatten. Die Eidgenossenschaft hatte zwar von Kaiser Napoleon die Anerkennung der Neutralität verlangt. Er gab dem Anliegen statt, aber angesichts der militärischen Entwicklung
49 Anton Largiadèr, Geschichte von Stadt und Landschaft Zürich, 2. Bd., Erlenbach-Zürich 1945, S. 93. 50 Largiadèr (Fn. 49), S. 95. 51 Kölz (Fn. 15), S. 192. 52 Largiadèr (Fn. 49), S. 96. 53 Largiadèr (Fn. 49), S. 92. In der Restauration verlor die Landbevölkerung auch in Zürich faktisch an Einfluss, aber Petitionen vom Land (insbesondere aus Stäfa oder Wädenswil) zur Beibehaltung der Rechte aus der Mediation zeitigten offensichtlich Wirkung.
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war diese Anerkennung hinfällig geworden,54 denn der Einmarsch der alliierten Truppen stand unmittelbar bevor. Angesichts dieser Lage lud der Zürcher Hans von Reinhard in seiner Funktion als Landammann der Schweiz am 20. Dezember 1813 die 19 Kantone zur Versammlung der Tagsatzung ein. Bern hielt sich grundsätzlich von der Versammlung fern. Getreu dem Prinzip der „Unglücklichen Proklamation“ wollte Bern die Mediationszeit als hinfällig behandeln. Der Graf von Lebzeltern (Metternichs Gesandter in Zürich) schrieb zu Handen der alten Orte an Reinhard: „L’Acte de médiation et la Constitution qui en résulte étaient l’œuvre d’une force étrangère […] incompatibles avec les principes adoptés par la grande conféderation européenne et avec l’indépendance et le bonheur de la Suisse.“55 Dem Berner Führungsanspruch kam Reinhard darauf ein Stück weit entgegen. Er berief eine Versammlung der alten Orte ein, auf dass diese einen Bundesentwurf verfassten, in dem die Mediationskantone aufgenommen werden konnten. Die daraus resultierende „Übereinkunft“ des 29. Dezember 1813 sah vor, dass fortan „keine mit den Rechten eines freien Volkes unverträglichen Unterthanenverhältnisse hergestellt werden sollen“56. Die Übereinkunft entwarfen neun der 13 alten Orte, da Bern, Freiburg, Solothurn und Graubünden der Versammlung fernblieben. Die vier Mediationskantone Aargau, Waadt, St. Gallen und Thurgau traten ihr noch am selben Tag bei. Die vier alten Orte, die der Verhandlung ferngeblieben waren, sträubten sich dagegen. Der Kanton Freiburg, welcher den Bernern gefolgt war, ließ Reinhard in einem Schreiben wissen: „Der alte ehrwürdige Bund der XIII Orte steht wieder in voller Kraft und Wirkung da. [… Dieser könne] bestimmen, wie und unter welchem Verhältnisse die andern Landschaften dem alten Vereine beigestellt werden sollen.“57 Das hinderte Freiburg nicht daran, der Übereinkunft dennoch beizutreten.58 Unter diesen Vorzeichen begann die Arbeit der „langen Tagsatzung“ am 6. April 1814. Es herrschte ein Konflikt über die ganz grundsätzliche Frage, von welchen Mitgliedern der auszuarbeitende Bundesvertrag getragen werden sollte und ob diese einander gleichgestellt sein würden. Hans von Reinhard hatte als Repräsentant des Vorortes Zürich erneut das Präsidium der Tagsatzung inne. Entsprechend gab er sich im Vorfeld neutral. Gegenüber Lebzeltern und dessen russischem Pendant Capodistria erklärte er die Haltung der Tagsatzung als „placée dans une position impartiale entre l’ordre de choses ancien et celui qui finit“59. Davon wollten die Diplomaten freilich nichts wissen, sahen sie doch die Übereinkunft vom 29. Dezember 1813 als bindend an: „Après avoir formellement reconnu au nom des hautes puissances alliées l’As54 Werner Näf, Die Eidgenössische Versammlung in Zürich (27. Dezember 1813 bis 11. Februar 1814), Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern, 44/2 (1957 – 1958), S. 535 (537); Abschied 1813/1814 (Fn. 32), S. 45. 55 Abschied 1813/1814 (Fn. 32), S. 34. 56 Abschied 1813/1814 (Fn. 32), S. 53. 57 Abschied 1813/1814 (Fn. 32), S. 28. Siehe S. 11 für das Votum des Kantons Bern. 58 Abschied 1813/1814 (Fn. 32), S. 31. 59 Schreiben des 4. Januar 1814, Abschied 1813/1814 (Fn. 32), S. 39.
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semblée des XIX cantons comme la seule vraie représentation de la Suisse à leurs yeux, il est impossible aux sous-signés d’admettre le retour de l’ancienne forme de représentation.“60 Die Aussage der Minister war klar. Eine Rückkehr zum alten Bund der 13 war ausgeschlossen. Wohl ahnend, dass damit die schweizerischen Streitereien noch nicht beendet waren, verlangten sie von Reinhard, über die Verhandlungen des Bundesvertrags au courant gehalten zu werden: „Cet ouvrage devant fixer les bases des relations futures de la Suisse, est trop important et pour cet Etat et pour les Puissances, pour que nous ne soyons pas appelés à y vouer un intérêt profond et direct.“61 In seiner Eröffnungsrede als Tagsatzungspräsident nahm Reinhard bereits eine klarere Linie ein. Interessanterweise wechselte er dabei in seine Nebenrolle als Zürcher Abgeordneter. „Zürich“, führte er aus, habe „seine Zuversicht auf den Zeitpunkt der vollen Vereinigung gesetzt, dass zugleich mit derselben der alte eidgenössische Sinn und Geist, der nur in dem Zusammenhalten aller Glieder sich äußern kann, wieder neu aufleben und sich wirksam erzeigen werde“62. Er stellt also die Versammlung der 19 Kantone als legitimen Nachfolger der alten Ordnung dar. In derselben Ansprache nimmt er zudem in fast überschwänglich positiven Tönen Bezug auf den ausländischen Druck. „Selbst die äußern Einwirkungen der hohen Mächte erscheinen als wohlthätig, um die von ihnen selbst geschlagene Wunde zu heilen. Sie üben Geduld, da, wo hohe Zwecke und das Beispiel aller Nationen zu einem raschen Geschäftsgang berechtigen würden. Sie wollen die Schweiz in ein ehrenvolles Verhältnis gegen das Ausland und in einen gewährleisteten Zustand ihrer Unabhängigkeit in Beziehung auf diejenigen Staaten setzen, denen sie durch ein einseitiges System seit langen Jahren entfremdet war. Aber nun ist die Zeit vorhanden, wo die Aufforderungen dringlicher werden […].“63 Reinhard bringt somit zu Beginn der Session die Sichtweise der alliierten Mächte geschickt ein. Die Zeit drängt, denn beim Projekt des Bundesvertrags geht es nicht nur um die Rekonstituierung der Schweiz, sondern um die Einordnung derselben in das Machtsystem der europäischen Monarchen. Trotz dieser Signale sollten die Gesandten der Monarchen in ihren Sorgen bald bestätigt werden. Kaum hatte die Debatte begonnen, kritisierte der Kanton Bern nämlich die Konstituierung der Tagsatzung, welche die Mächte vorgeschlagen hatten. Er sehe im Vorschlag der Monarchen „ledigerdingen eine Anerkennung der gegenwärtigen Existenz der durch die Vermittlungsakte im Jahre 1803 in der Schweiz aufgestellten XIX Kantone“64. Allein „aus Achtung und Deferenz für den Willen der hohen alliirten Mächte“ sei Bern der „Einladung der bevollmächtigten Minister“ gefolgt,
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Schreiben des 2./14. Februar 1814, Abschied 1813/1814 (Fn. 32), S. 41. Schreiben des 25. Januar/6. Februar 1814, Abschied 1813/1814 (Fn. 32), S. 68. 62 Abschied der am 6. April 1814 zu Zürich versammelten und am 31. August 1815 daselbst geschlossenen außerordentlichen eidgenössischen Tagsatzung, 1. Bd., Beilage A, S. 1. 63 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 1. Bd., Beilage A, S. 2. 64 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 1. Bd., S. 53. 61
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„die Tagsatzung der XIX Orte sofort zu besuchen“.65 Bern implizierte damit, dass die neue Ordnung im Begriff sei, ebenso fremdbestimmt zu werden wie jene der Mediation. So würde es nicht einer gewissen Ironie entbehren, dass die Einladung der fremden Diplomaten offenbar überzeugender gewesen sei als jene des eidgenössischen Tagsatzungspräsidenten. Den Vertretern des Kantons Aargau, welcher seine Existenz der Mediationsakte verdankt, war klar, was Bern damit beabsichtigte. Sie fragten rhetorisch: „Welche Dauer würde wohl ein Staatenbund versprechen, in welchem jeder Staat seiner Konvenienz wegen seine Gränzen zum Nachtheil des Mitverbündeten ausdehnen dürfte?“66 Genau dies suchte der Kanton Bern zu erreichen. Er hält an seinen Ansprüchen auf das Territorium der ehemaligen Untertanengebiete Aargau und Waadt fest. Dazu verlangt er die Streichung der Klausel aus der Übereinkunft vom 29. Dezember 1813, welche die Abschaffung aller Untertanenverhältnisse vorsieht (§ 8 des Bundesvertragsentwurfs). Dabei kommt die aristokratische Haltung der Berner Patrizier klar zum Vorschein: § 8 habe „einen revolutionären Anstrich. Er beschränkt die Souveränität der Kantone; […] Soll dadurch verstanden werden: es gebe keine Unterthanen? das hieße mit andern Worten so viel sagen: jeder Staatsbürger sey souverän.“67 Über Monate zogen sich die Territorialstreitigkeiten zwischen Bern und den ehemaligen Untertanengebieten hin. Während Bern die Unabhängigkeit der Waadt unter „billigen Bedingungen“ in Betracht ziehen will, sei aufgrund der „zuverlässigen Anhänglichkeit eines großen Theils der Bewohner des bernischen Aargaues“ ein Verzicht auf „brüderliche Wiedervereinigung“ dort nicht denkbar.68 Pikiert wies der Aargau die „so unerwartete als auffallende Erklärung von Seite der Gesandtschaft des löblichen Standes Bern“69 zurück und ersuchte um den Schutz der europäischen Mächte. „Die wiederholten Erklärungen der bevollmächtigten Minister der verbündeten Mächte gehen übereinstimmend von dem gleichen Grundsatze der Integrität der XIX Kantone aus; und als […] die Verfassung für den gesammten Kanton Aargau vollendet und sanktioniert worden, ertheilten hochdieselben bei diesem Anlasse auf’s neue die offizielle und feierliche Versicherung der Selbstständigkeit und Integrität dieses Kantons als Mitglied des neuen Schweizerbundes.“70 Der Aargau appelliert dabei nicht nur an die Rechtssicherheit, sondern argumentiert auch, dass nicht Napoleon, sondern die antinapoleonischen Monarchen für die neue Ordnung verantwortlich seien. Es ist kein Zufall, dass mit Albrecht Rengger und Frédéric César La65 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 1. Bd., S. 53. Eine Abschrift des „Einladungsschreibens“ an Bern, unterzeichnet von Graf Capodistria, dem Ritter von Lebzeltern und dem Baron von Chambrier, findet sich in: Casimir Folletête, Les origines du Jura bernois, Porrentruy 1888, S. 42. 66 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 1. Bd., S. 56. 67 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 1. Bd., S. 65. 68 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 1. Bd., S. 126. 69 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 1. Bd., S. 128. 70 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 1. Bd., S. 165. Ähnlich die Contre-Déclaration des Standes Waadt, S. 167.
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harpe ein Aargauer und ein Waadtländer wohl den größten Anteil daran hatten, die alliierten Mächte im Frühjahr 1814 zu überzeugen, eine Versammlung der 19 Kantone zu unterstützen.71 Der Konflikt drohte die Tagsatzung vollends zu blockieren. Die Diplomaten der alliierten Mächte waren sichtlich genervt angesichts dieser „Ablenkungen“ und intervenierten undiplomatisch mit der sogenannten „insolenten Note“72 des 13. August 1814: „[…] une malheureuse complication avec les prétentions territoriales, formées par quelques cantons, est venue distraire les esprits et confondre les objets“. Die Mächte hatten kein Interesse, mit den Einzelkantonen zu verkehren, weshalb die Einigung für sie unabdingbar war: „Aucun canton, quel qu’il soit, ne saurait par luimême fixer l’attention des grands Etats de l’Europe; ce n’est et ce ne peut être que sous la figure d’un corps fédératif, que la Suisse entière les intéresse.“ Die Schweizer Streithähne, so die Minister, sollen schließlich den Pflichten nachkommen, welche sie ihren Befreiern schulden: „une juste gratitude envers leurs généreux libérateurs rachetant par un redoublement de zèle et de loyauté dans l’achèvement du pacte fédéral tout le temps perdu“. Tagsatzungspräsident Reinhard mahnte darauf die Kantone in einem Kreisschreiben, dass angesichts der Eröffnung des Wiener Kongresses jedes weitere Zuwarten die Abhängigkeit vom Ausland erhöhe: „Die Blicke des Auslands sind auf die Schweiz gerichtet, und die Aussicht, dass, wenn der schweizerische Bundesverein dermalen nicht zu Stande kommt, die Konstituierung der Eidgenossenschaft kaum mehr von ihr abhangen, dass man ohne sie über ihr Schicksal entscheiden werde, entwickelt sich mit jedem Tage mehr.“73 Den Mächten verkündete er hoffnungsvoll, dass die Arbeiten zum Bundesvertrag bald abgeschlossen sein würden: „La Diète éprouve une vive satisfaction de pouvoir annoncer à Vos Excellences, qu’elle a maintenant de justes motifs d’espérer que les incertitudes et les discussions sur le pacte fédéral touchent enfin à leur terme.“74 Reinhards Bemühungen fruchteten zunächst nicht. Als die Tagsatzung die zweite Session beschritt, drohte bereits wieder deren Vertagung. Nach wie vor waren sich die Stände uneinig bezüglich Territorialfragen. Einige Kantone wollten die Beratungen des Wiener Kongresses abwarten, wiederum andere äußerten den Wunsch, dem Bundesvertrag nicht beizutreten.75 Unter anhaltendem Druck der Alliierten rang sich am 9. September 1814 eine Mehrheit der Stände von 11 2/2 Stimmen dazu durch, den 71 Marie-Claude Jequier, F. C. Laharpe, le canton de Vaud et Berne en mars 1814, Cahiers Vilfredo Pareto, 22/23 (1970), S. 45; Walther von Wartburg, Albrecht Rengger, in: Argovia. Jahresschrift der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau, 65 (1953), S. 60 (72). 72 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 1. Bd., S. 156. Diese treffende Bezeichnung stammt von Carl Hilty, in seiner umfassenden Darstellung, Die lange Tagsatzung, in: Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2/1887, S. 42 (230). 73 Schreiben des 16. August 1814, Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 1. Bd., S. 163. 74 Schreiben des 16. August 1814, Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 1. Bd., S. 164. 75 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 2. Bd., S. 6.
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Bundesvertrag anzunehmen.76 Freiburg und Bern traten dem Bund erst drei Tage später, am 12. September 1814, bei. Am selben Tag beschloss die Tagsatzung, Wallis, Neuenburg und Genf in den Bund aufzunehmen. Am darauffolgenden Tag traten diese drei Stände bei und erweiterten den Bund auf 22 Mitglieder.77 An diesem Vorgang war entscheidend, dass eine Mehrheit der vorher getrennten Lager der alten und der modernen Schweiz dem Bund zugestimmt hatte.78 Das Verbot der Untertanengebiete gelangte schließlich als § 7 in den Bundesvertrag: „Die Eidgenossenschaft huldiget dem Grundsatz, dass so wie es, nach Anerkennung der XXII. Cantone, keine Unterthanen-Lande mehr in der Schweiz giebt, so könne auch der Genuss der politischen Rechte nie das ausschließliche Privilegium einer Classe der Cantons-Bürger seyn.“ Bern hatte sich fügen müssen. Diese Mehrheit für den Bundesvertrag und die Zustimmung von Bern und Freiburg kam nur dadurch zustande, dass die Tagsatzung mit 14 2/2 Stimmen am 8. September 1814 auch die Schiedsübereinkunft vom 16. August 181479 zum unzertrennlichen Bestandteil des Bundesvertrags erklärte80. Diese Übereinkunft verschob die Regelung der offenen Gebietsfragen auf später. Sie enthielt das Potential, dass die alten Kantone die getroffenen Regelungen nachträglich wieder rückgängig machten. Die Gefahr eines Bürgerkrieges war weiterhin nicht gebannt. Der Wiener Kongress strich die Übereinkunft vom 16. August 1814 in seiner Erklärung zur Schweiz vom 20. März 1815 und stellte die widerstrebenden Kantone vor vollendete Tatsachen. Wenig überraschend entschied die Tagsatzung infolge der Annahme des Bundesvertrags: „Die erste Mittheilung geht gegen die Herren Minister der hohen alliierten Mächte.“ Dabei solle ausdrücklich der Dank ausgesprochen werden für die („insolente“) Note der Minister vom 13. August, die zur „Ausgleichung der obwaltenden Differenzien […] wesentlich […] beigetragen habe“81. In ihrem Antwortschreiben konnten es die alliierten Diplomaten (die sich darin mit dem Titel „gardiens de la paix“ schmücken) nicht lassen, daran zu erinnern, wie sehr die Differenzen zwischen den Kantonen die Geduld der Monarchen strapaziert hatte. Ungläubig fragten sie, ob dies das Ende der innerschweizerischen Anfeindungen bedeute: „Les soussignés pourront-ils voir aujourd’hui finir cet échange continuel d’inculpations, de menaces sourdes, d’armements ouverts, dont quelques cantons molestèrent le passage d’un pacte à l’autre?“82 Diese Note zeigt aber auch, dass das Eingreifen der Mächte und Reinhards Gespür für die Machtverhältnisse einen Bürgerkrieg verhindert hatten. 76 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 2. Bd., S. 85; Oechsli (Fn. 21), S. 148. Einige Kantone, darunter die Waadt, formulierten angesichts Entschädigungsforderungen Berns (Abschied 1814/1815 [Fn. 62], 2. Bd., S. 95) Vorbehalte. 77 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 2. Bd., S. 14. 78 Oechsli (Fn. 21), S. 148. 79 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 1. Bd., S. 157. 80 Oechsli (Fn. 21), S. 149. 81 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 2. Bd., S. 13. 82 Schreiben des 16. September 1814; Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 2. Bd., S. 15.
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Die Tagsatzung ernannte am 12. September 1814 die eidgenössischen Gesandten zum Kongress in Wien: Hans von Reinhard, Präsident der Tagsatzung, Johann von Montenach, Staatsrat des Kantons Freiburg, und Johann Heinrich Wieland, Bürgermeister des Kantons Basel.83 Ein Schreiben des stellvertretenden Tagsatzungspräsidenten an die Gesandten zeigte bald, dass im Bund noch keine Ruhe eingekehrt war: „Die Schwäche, die Uneinigkeit, die wirkliche Zerrüttung und so viele bevorstehende, noch größere Gefahren entspringen alle aus einer Quelle, aus den Ansprachen einiger Stände an andere, welche die Schweiz durch eigene Mittel weder ausgleichen, noch beseitigen kann.“84 Dass die Beschwörung des Bundesvertrags nicht unmittelbar erfolgte, war nicht auf die Auseinandersetzungen zwischen den Ständen zurückzuführen. Vielmehr war man von den Verhandlungen am Wiener Kongress abhängig. Die Schweizer Gesandten überbrachten den Antrag, „im Namen der vereinigten Minister der hohen Mächte, die sich mit den Angelegenheiten der Schweiz beschäftigen“, die Beschwörung zu verschieben. Es sei diesen nämlich „selbst bei dem besten Willen“ unmöglich, „innert so kurzer Zeit eine Erklärung des Kongresses über die Begehren der Tagsatzung auszufertigen“.85 Erst am 20. März 1815 erfolgte die Erklärung der Kommission der alliierten Diplomaten, die sich in Wien mit der Schweiz befasste. Sie hatte aus Sicht der Tagsatzung jene Fragen geregelt, „welche die Kantone bei der Unmöglichkeit, dieselben friedlich unter sich auszutragen, stillschweigend [!] dem Kongress zu endlicher Beendigung überlassen hatten“86. Die Erklärung regelte im Detail Gebietsstreitigkeiten zwischen den Kantonen (Bern wurde z. B. mit dem Jura und der Stadt Biel entschädigt) und legte die auszubezahlenden Entschädigungssummen fest.87 Obschon die Schweizer Gesandtschaft gegenüber dem Kongress vereinzelt Vorbehalte angebracht hatte (etwa bezüglich dem Veltlin) und die Tagsatzung ihre Diplomaten mit der Ausfertigung eines Schlussberichts beauftragte, wurde dieser „niemals eingereicht, und dürfte wahrscheinlich nie abgefasst worden sein“88. Als die Tagsatzung zur Annahme der Wiener Erklärung schritt, unterstrich ihr Präsident die Wichtigkeit dieser Abstimmung nachdrücklich, indem er daran erinnerte, „dass die Sicherstellung der politischen Existenz der Schweiz und ihrer innern und äußern Verhältnisse von einer allseitigen Annahme dieser Verhandlungen wesentlich abhänge“89. Die Eidgenossen hatten sich den Großmächten zu fügen. Die Erklärung des Kongresses des 20. März 1815 hatte unter anderem die Gewährung der Neutralität der Schweiz in einem separaten, formellen Akt in Aussicht gestellt. Auf die ungeduldige Nachfrage seitens der Tagsatzung erwiderten die europä83
Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 2. Bd., S. 45. Schreiben des 4. November 1814; Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 2. Bd., S. 60. 85 Schreiben des 20. Dezember 1814; Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 2. Bd., S. 121. 86 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 3. Bd., S. 50. 87 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 3. Bd., S. 40. 88 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 3. Bd., S. 50. 89 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 3. Bd., S. 58. 84
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ischen Diplomaten, die entsprechende Erklärung werde erst in der Schlussakte publiziert. Die Schweiz solle es nicht auf sich nehmen, dieses wichtige Dokument selbst auszuarbeiten: „Ils [die Monarchen] ont jugé qu’il fût plus convenable et même plus avantageux à la Suisse, de s’en rapporter aux lumières des Ministres assemblés au Congrès, que de prendre sur eux sans une nécessité absolue la rédaction définitive d’une déclaration aussi importante et aussi délicate.“90 Diese Haltung zeigte abermals die paternalistische Einstellung der europäischen Mächte sowie die schweizerische Abhängigkeit von deren „Fahrplan“. Die Monarchen Europas verknüpften kurzerhand den Bundesvertrag mit der Schlussakte des Wiener Kongresses. Napoleons Herrschaft der 100 Tage verdeutlichte dies. Dieses Zwischenspiel zögerte die Verabschiedung der Schlussakte des Kongresses hinaus. Kaum war Napoleon zurück, gelangten die alliierten Minister an die Tagsatzung mit dem Begehren, „dass sie den festen Entschluss fasse, mit dem seit dem 20. März bestehenden französischen Gouvernement in keinerlei Art von Verbindungen oder Verhältnissen zu treten“91. Darüber hinaus forderten die Minister die Tagsatzung dazu auf, die Grenzen der Schweiz gegen den „Usurpator“ zu verteidigen.92 So konnte die Beschwörung des Bundesvertrags erst am 9. August 1815 erfolgen – fast ein Jahr nach dessen Annahme.93 Wie um den Kreis der langen Tagsatzung zu vollenden, stand an diesem Tag wie zu Beginn Zürich im Zentrum des Geschehens. Nicht von ungefähr nahm es die Gesandtschaft des Kantons Bern auf sich, im Namen der Versammlung der Regierung des Gastgebers und Vorortes Zürich „den wärmsten Dank zu bezeigen und dieselbe zu versichern, dass alle Gesandtschaften darin die alterprobte freundeidgenössische Denkungsart des für das Wohl der gesammten Schweiz so thätigen Standes Zürich und seiner würdigen Regierung erkennen und in vollem Werthe schätzen“94. Trotz dieser Freundschaftsbekundungen verhandelte man die Territorialansprüche Berns über die Beschwörung des Bundesvertrags von 1815 hinaus mit Österreich weiter. Der rege Briefwechsel mit Metternichs Minister betreffend die Zuordnung der „bischöflich-baselschen Lande“ bezeugt dies klar.95 Insbesondere die „Aristokraten“ des Kantons Bern hielten eine enge Beziehung zum kaiserlich-königlichen Hof in Wien aufrecht.
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Schreiben des 18. Juli 1815; Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 3. Bd., S. 81. Schreiben des 2. April 1815; Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 3. Bd., S. 235. Talleyrand, der französische Gesandte in Wien, doppelte am 4. April gleich nach (S. 236). 92 Schreiben des 6. Mai 1815; Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 3. Bd., S. 243. 93 Details des Protokolls der Feierlichkeiten: Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 3. Bd., S. 115. 94 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 3. Bd., S. 118. 95 Abschied 1814/1815 (Fn. 62), 3. Bd., S. 675. 91
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V. Der eigene Weg zur Bundesverfassung von 1848 Im Gegensatz zum aristokratisch anmutenden Bern konnte sich in den neuen Kantonen das demokratische und aufklärerische Denken behaupten. Als erster Kanton nahm das Tessin am 4. 7. 1830 eine neue liberale Verfassung an, welche Gewaltentrennung und ein allgemeines Wahlrecht vorsah. Doch auch Zürich, das bereits die Restauration gemäßigt begangen hatte, ist als Vorbote der Regeneration zu sehen. Der Kanton nahm in der liberalen Entwicklung der 1830er Jahre eine leitende Stellung ein. Schon 1829 schützte Zürich gesetzlich die Freiheit der Presse, und dank entsprechenden Bestimmungen für die Wirtschaftsordnung florierten Handel und Gewerbe.96 Die Liberalen in Zürich, die bereits 1814 eine beachtliche Minderheit im Großen Rat gestellt hatten, setzten sich langsam durch. Friedrich Ludwig Keller, Präsident des Großen Rates sowie des Zürcher Obergerichts, war in dieser Bewegung führend gewesen. Nebst progressiven Juristen übten auch Publizisten (allen voran Paul Usteri in der Neuen Zürcher Zeitung) Kritik an der Kantonsregierung.97 Die Juli-Revolution in Paris, die ihren Ursprung ebenfalls in Forderungen nach Pressefreiheit hatte, stieß die Zürcher Bewegung zusätzlich an. Sie erreichte 1831 auch Bern, wo sie das Patrizierregime stürzte und eine Volkswahl eines Verfassungsrats durchführte. Dieser errichtete in der regenerierten Berner Kantonsverfassung eine demokratische Staatsorganisation. Auf die Entstehung und Bildung der regenerierten Kantonsverfassungen hatte der Deutsche Ludwig Snell (1785 – 1854) einen überragenden Einfluss. Er war 1827 aus Deutschland vor politischer Verfolgung nach London und dann nach Zürich geflohen. Hier entwickelte er sich zu einem einflussreichen Theoretiker der liberalen und radikalen Partei.98 Aus seiner Feder stammten 1830 die „Ansichten und Vorschläge in Betreff der Verfassung und ihrer Veränderung“ (später bekannt als „Küsnachter Memorial“) und Anfang 1831 der „Entwurf einer Verfassung nach dem reinen und ächten Repräsentativsystem, das keine Vorrechte noch Exemtionen kennt, sondern auf der Demokratie beruht“99. Das Nebeneinander konservativer und regenerierter Kantone musste zu Spannungen führen. Zum einen war klar, dass die Regenerationsbewegung auf eine Revision des Bundesvertrags von 1815 in liberalem Sinne hinwirkte, was die konservativen Kantone nicht wollten. Dabei vergrößerte das Fehlen von Revisionsbestimmungen im Bundesvertrag noch die Schwierigkeiten. Und zum anderen konnten sich die regenerierten Kantone ihrer neuen Ordnung nicht sicher sein, wenn in anderen Kantonen noch Restaura96
His (Fn. 35), S. 74. Largiadèr (Fn. 49), S. 109. 98 Stefan G. Schmid, Ein zweites Vaterland. Wie Ludwig Snell Schweizer wurde, in: Isabelle Häner (Hrsg.), Beiträge für Alfred Kölz, Zürich 2003, S. 263; ders., Snell, Ludwig, in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 515. 99 Text abgedruckt in: Andreas Kley, Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 1. Aufl., Bern 2004, S. 219. 97
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tionsregime herrschten, die weiterhin mit dem konservativen Österreich sympathisierten. Also verbanden sich Luzern, Zürich, Bern, Solothurn, St. Gallen, Aargau und Thurgau im sogenannten Siebnerkonkordat vom 17. 3. 1832 zur gegenseitigen Garantie der neuen Kantonsverfassungen. Die nicht regenerierten Kantone Uri, Schwyz, Unterwalden, Basel-Stadt und Neuenburg reagierten auf die Herausforderung und vereinigten sich 1832 im zunächst geheim gehaltenen Sarnerbund. Die Vertreter dieser Kantone blieben im folgenden Jahr der Tagsatzung fern, unter Hinweis auf ihr erst jetzt bekannt gegebenes Sonderbündnis. Die Tagsatzung interpretierte den Sarnerbund, nicht aber den Siebnerbund, als Verstoß gegen § 6 des Bundesvertrags von 1815, wonach unter den einzelnen Kantonen keine für den allgemeinen Bund oder die Rechte anderer Kantone nachteiligen Verbindungen geschlossen werden dürften, und löste den Sarnerbund auf. In die Zeit zwischen 1831 und 1835 fielen mehrere gescheiterte Versuche zur Revision des Bundesvertrags. Die Errichtung liberaler Demokratien in einzelnen Kantonen erlaubte die Erprobung neuer Freiheiten und Rechte. Was also, so mussten sich die Anhänger des Liberalismus fragen, spricht dagegen, dieselben liberalen Staatsideale auch auf Bundesebene zu realisieren? 1832 beauftragte die Tagsatzung in Luzern eine Kommission mit dem Entwurf einer Verfassung mit Legislative, Exekutive und Judikative auf Bundesebene. Die Abfassung des kommentierenden Berichts übertrug die Kommission dem gebürtigen Italiener und 1810 eingebürgerten Genfer Pellegrino Rossi (1787 – 1848, Professor in Genf, Tagsatzungsabgeordneter von Genf, als Premierminister des Kirchenstaates in Rom ermordet). Dieser Entwurf100 versuchte der Pattsituation zwischen föderalistisch eingestellten Konservativen und bundesstaatlich bzw. zentralistisch orientierten Liberalen Rechnung zu tragen. Der Entwurf fand keine Mehrheit in der Tagsatzung. Wie zuvor in der langen Tagsatzung von 1814/1815 drohten die Arbeiten im Streit der Kantone zu versanden. Alexis de Tocqueville kommentierte die Situation treffend: „Die Tagsatzung ist eine Regierung, die nichts von sich aus beschließt, sondern sich darauf beschränkt, das zu realisieren, was zweiundzwanzig andere Regierungen je einzeln beschlossen haben; eine Regierung, die, was auch immer komme, nichts entscheiden, nichts einplanen, nichts ausrichten kann. Man kann sich keine Kombination vorstellen, die besser geeignet wäre, die natürliche Trägheit einer föderalen Regierung zu steigern und deren Schwächen in Demenz zu verwandeln.“101 Regulatorische Lücken des Bundesvertrags schlossen die Kantone mittels Konkordaten und Staatsverträgen. Ein Geflecht aus solchen Konkordaten überlagerte die bundesrechtliche Grundordnung, um „auf diesem Wege der allseitig empfundenen Unvollkommenheit des Bundesvertrags in eidgenössischem Sinn und Geist 100
Urkundenbeilagen zum Repertorium der Abschiede der eidgenössischen Tagsatzungen aus den Jahren 1814 bis 1848, 2. Bd., Bern 1876, S. 685 (Nr. 3, S. 704 – 747). 101 Alexis de Tocqueville, Bericht über die Demokratie in der Schweiz [15. 1. 1848], in: ders., Kleine politische Schriften, 2006, S. 163 (174).
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nachzuhelfen“102. Dies betraf gesamtschweizerische Angelegenheiten und damit solche des Bundes, etwa Niederlassungsverhältnisse, den Wechsel der Religion, die Ehe zwischen konfessions- und kantonsverschiedenen Personen, die Strafverfolgung, das Erbrecht, die Kantonsangehörigkeit und die Heimatlosigkeit, das Söldnerwesen, die Angleichung der inneren Zölle, die Frachtfuhr und den Warentransport, Maß und Gewicht oder das Postwesen. Die Konfessionalisierung vertiefte die Gräben zwischen den Kantonen. Die konservativen Kantone hatten eine katholische Bevölkerung, wogegen die Regenerationskantone mehrheitlich protestantisch orientiert waren. Das Papsttum reagierte seit den 1830er Jahren pointiert auf die Französische Revolution und die Wiederbelebung ihrer Ideen in der liberalen Bewegung. Dadurch verschärfte sich der innerschweizerische Konflikt. Der Beginn dieser Entwicklung ist mit dem Jahr 1834 anzusetzen, als sich sieben zu dieser Zeit liberale Kantone (Luzern, Bern, Solothurn, Basel-Landschaft, Aargau, Thurgau und St. Gallen) in den Badener Artikeln auf die Wahrung staatlicher Rechte gegenüber der Kirche verständigten. 1841 beschloss der Aargau, seine Klöster aufzuheben („Klosterstreit“). Als Reaktion darauf berief die konservative Luzerner Regierung 1844 die Jesuiten nach Luzern. Im November 1847 entluden sich die vordergründig religiösen Spannungen über die politische Verfassung im Sonderbundskrieg. In diesem rangen die protestantischliberalen Kantone die sieben katholischen nieder, die einen geheimen Sonderbund untereinander abgeschlossen hatten. Dieser Krieg dauerte keine vier Wochen und bestand praktisch in nur einem größeren Gefecht. Mit 78 Toten und 260 Verwundeten auf eidgenössischer Seite und 50 Toten und 175 Verwundeten beim Sonderbund103 waren die Verluste in diesem Bürgerkrieg im Vergleich zum Sezessionskrieg der USA niedrig. Dies war auf das schonende Vorgehen des eidgenössischen Truppenführers Dufour zurückzuführen. Er vermied bewusst übermäßiges Blutvergießen und mahnte seine Soldaten: „[…] man muss von Euch sagen können: Sie haben tapfer gekämpft, wo es Not tat, aber sie haben sich menschlich und großmütig gezeigt.“104 Die Politik war sich bewusst, dass eine stabile neue Ordnung nur geschaffen werden konnte, wenn diese den verschiedenen Interessen zwischen Bund und Kantonen sowie zwischen Siegern und Verlierern des Sonderbundskriegs gebührend Rechnung trug. Der Widerstand Englands und die sich abzeichnende Pariser Februarrevolution von 1848 verhinderten ein Eingreifen Preußens und der katholischen Mächte Europas in die Schweizer Auseinandersetzungen. Mit der militärischen und politischen Niederlage der Sonderbundskantone war der Weg frei für eine Revision des Bundesvertrags von 1815. Eine Kommission der Tagsatzung entwarf zwischen Februar und Juni 1848 die neue Bundesverfassung. Das Plenum nahm den stark an den Rossi-Plan 102 Gustav Vogt, Revision der Lehre von den eidgenössischen Konkordaten, ZBJV 1864/65, 1. Bd., S. 201 (206). 103 Kley (Fn. 12), S. 244. 104 Edgar Bonjour, Die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates, Basel 1948, S. 278.
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angelehnten Entwurf mit wenigen Änderungen an. Dabei konnten die Befürworter eines liberalen Bundesstaates die günstige Gelegenheit nutzen, dass die europäischen Mächte selbst noch immer mit revolutionären Unruhen in ihren eigenen Ländern beschäftigt waren. Noch am 18. Januar 1848 hatten Frankreich, Preußen, Österreich und Russland sich in einer diplomatischen Note gegen jede Revision des Bundesvertrags von 1815 gewandt und unverhohlen mit militärischer Intervention gedroht.105 Die Tagsatzung ließ sich dadurch nicht beeindrucken und wies in einer Erklärung vom 15. Februar 1848 die Einmischungsversuche zurück. Der Bundesvertrag von 1815 als solcher sei von den europäischen Mächten niemals garantiert worden.106 Die hingegen garantierte Neutralität sei an keine Bedingungen in der staatlichen Organisation geknüpft, und die Schweiz werde einen Angriff auf ihre Neutralität nicht dulden. Die Übernahme der politischen Ideen der Französischen Revolution, welche über die regenerierten Kantonsverfassungen der 1830er Jahre Eingang in geltendes Verfassungsrecht gefunden hatten, wollte man wegen der negativen Erfahrungen in der Helvetik nicht offenlegen. So bildete sich später der Mythos, die direkte Demokratie sei eine Erfindung der Alten Eidgenossenschaft und auf dem Rütli und in den Landsgemeinden entstanden.107 Aus demselben Grund war die Rückkehr zum Einheitsstaat der Helvetik undenkbar. Auch die rein kantonalen Systeme von 1803 oder 1815 kamen aufgrund der dargelegten Problematik der dauernden politischen Blockaden nicht in Frage. Man fand einen pragmatischen Kompromiss in einem national-kantonalen System, das seinen augenscheinlichsten Ausdruck im Zweikammerparlament nach US-amerikanischem Vorbild fand.108 Durch die Bestellung einer verfassunggebenden Kommission aus der Mitte der Kantone deutete die Tagsatzung zudem an, dass jene Träger der neu zu schaffenden Souveränität des Bundes sein sollten. Ein unabhängiger Verfassungsrat hingegen hätte von Beginn weg das Volk allein als Souverän und damit den Bund als Einheitsstaat erscheinen lassen. Die Schaffung des Bundesrats (als Regierung) ist nur vordergründig eine Absage an das bisherige Vorortsystem. Nach diesem System hatten einige wichtige Kantone (zuletzt Luzern, Bern und Zürich) das Privileg, „ihre Kantonal-Regierung der Eidgenossenschaft als Bundesregierung“109 zur Verfügung zu stellen. Das Vorortsystem blieb trotz Schaffung des Bundesrates in gewisser Weise erhalten. Die Bundesversammlung wählte bis 1998 fast ausnahmslos stets drei Mitglieder, die das Bürgerrecht des Kantons Zürich, Bern und Waadt (Luzern wurde also 105
Bonjour (Fn. 104), S. 310. So die Antwortnote der h. Tagsatzung an die Mächte, vom 15. Februar 1848, verfasst von Dr. Jonas Furrer, in: Alexander Isler, Bundesrat Dr. Jonas Furrer, 1805 – 1861. Lebensbild eines schweizerischen Republikaners, Winterthur 1907, S. 61. 107 René Pahud de Mortanges, Schweizerische Rechtsgeschichte, 2. Aufl., Zürich/St. Gallen 2017, S. 73, 227. 108 Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung vom 8. 4. 1848, erstattet von der Revisionskommission, S. 44. 109 Bericht (Fn. 108), S. 65. 106
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ersetzt) hatten. Der erneuerte Vorort der drei politisch wichtigsten Kantone blieb also erhalten. Der Bundesrat als Kollegialbehörde sollte zudem die Schweizer Abneigung gegenüber Monokratien (Monarchien und Diktaturen) ausdrücken.110 Die Gleichrangigkeit der Kantone stand im Gegensatz zu 1813 bis 1815 nicht mehr zur Diskussion. Die Annahme der Bundesverfassung erfolgte nicht nach dem Einstimmigkeits-, sondern nach dem Mehrheitsprinzip. Da der Bundesvertrag von 1815 keine Revisionsbestimmungen enthielt, stellte sich die Frage, wie er durch eine neue Verfassung ersetzt werden könnte. Uri, Schwyz und Unterwalden vertraten, ebenso wie zuvor die europäischen Großmächte, den Standpunkt, dazu sei Einstimmigkeit erforderlich. Dies ließ sich rechtlich vertreten, hätte aber die Revision verunmöglicht. Die Bundesverfassung 1848 legte in Artikel 1 ihrer Übergangsbestimmungen fest, die Kantone sollten sich „auf die durch die Kantonalverfassungen vorgeschriebene, oder – wo die Verfassung hierüber keine Bestimmung enthält – auf die durch die oberste Behörde des betreffenden Kantons festzusetzende Weise“ aussprechen. Die Tagsatzung sollte dann über die Inkraftsetzung der Bundesverfassung entscheiden (Art. 2 Übergangsbestimmungen BV 1848). In der Folge lehnten die Kantone Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Zug, Appenzell Innerrhoden, Tessin und Wallis, also die meisten Sonderbundskantone, die neue Bundesverfassung ab. Die anderen Kantone stimmten zu, freilich nicht immer gestützt auf ein Volksmehr. Der inzwischen radikal dominierte Große Rat des ehemaligen Sonderbundskantons Freiburg zog es vor, den Verfassungsentwurf angesichts der herrschenden Stimmungslage gar nicht erst dem Volk vorzulegen. Im Kanton Graubünden beschloss die große Mehrheit der Gemeinden die Annahme der Verfassung. Und der Kanton Luzern rechnete die Nichtstimmenden kurzerhand zu den Annehmenden. Verlässliche Angaben über die Stimmenverhältnisse gibt es nicht. Die Tagsatzungskommission schätzte, dass bei einer Stimmbeteiligung von rund 55 % knapp 170.000 Ja-Stimmen etwa 72.000 Nein-Stimmen gegenüberstanden, was eine Ja-Mehrheit von 70 % ergab. Die Tagsatzung machte die Rechnung einfacher. Sie stellte in der Annahmeerklärung fest, dass die annehmenden Kantone 1.897.887 Einwohner zählten. Die Tagsatzung erklärte somit am 12. September 1848 die neue Bundesverfassung mit den Stimmen von 16 Kantonen und 2 Halbkantonen für angenommen.111 Es ergab sich eine fiktive Mehrheit von 86 %. Da es sich bei der Bundesverfassung nicht um eine eigentliche Revision des Bundesvertrags von 1815 handeln konnte, sondern um einen Akt originärer Verfassunggebung, erachtete man eine Mehrheit der Annehmenden als genügend und verzichtete auf das Erfordernis der Einstimmigkeit. 110
Bericht (Fn. 108), S. 65. Amtliche Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12. September 1848 bis zur Einführung der revidierten Bundesverfassung vom 29. Mai 1874, alte Folge, 1. Bd. (1850), S. 36. Dies geschah auf den Tag genau 34 Jahre später, nachdem eine Mehrheit der Kantone den Bundesvertrag und die Neuaufnahme von Wallis, Neuenburg und Genf in die Eidgenossenschaft akzeptiert hatte (siehe oben unter Ziff. IV. bei Fn. 77). 111
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Den Fortschritt in Richtung der Bundesstaatsgründung 1848 ordnete nicht das Ausland oder die Tagsatzung an, sondern kam aus den Kantonen; von unten nach oben, wie dies nachhaltigen politischen Entwicklungen eigen ist. Die damalige Eidgenossenschaft äußerte zum ersten Mal im 19. Jahrhundert ihren politischen Willen. Jonas Furrer, der erste Bundespräsident der Schweiz, lässt das Schweizervolk sagen: „Diese Bundesverfassung ist unter den manchen, die unser Vaterland seit 50 Jahren besaß, die erste, welche rein ist von jedem fremden Einfluss; es darf mit Stolz sagen: Wir sind das einzige Volk in Europa, welches in dieser sturmbewegten Zeit in Ruhe und Frieden und auf dem gesetzlichen Wege das schwierige Werk seiner politischen Umgestaltung durchgeführt hat.“112
VI. Erste Voraussetzung der Nationenbildung: Tätige Solidargemeinschaft Das kollektive Selbstbewusstsein der Schweiz betont die Willensnation und setzt diese in einen Gegensatz zur Kulturnation. Diese Sichtweise missachtet die historischen Tatsachen und die bis in die Gegenwart spürbare latente Spannung zwischen den drei Sprachgemeinschaften der Schweiz. Das Land bildet, nuanciert ausgedrückt, eine Willensnation, aber dieser Wille war zunächst im Wesentlichen europäischer Herkunft. Die monarchischen Großmächte Europas ließen den „corps helvétique“113 fortbestehen und gestalteten dessen politische Struktur um. Der Wiener Kongress lieferte die Grundlage dafür, dass die moderne Schweiz gegen den Willen der (alten) Kantone entstehen konnte. Die Schweiz ist in einem wörtlichen Sinne eine Willensnation. Freilich war es ursprünglich nicht der überwiegende Wille der Schweizer Stände (Kantone) oder des Volkes, sondern der Wille der europäischen Mächte. Man darf die Entstehung der modernen Schweiz im Rahmen des Wiener Kongresses als Manifestation eines europäischen Willens verstehen. Die Schweizer Kantone hatten 1813 bis 1815 keinen Plan, sie verfolgten reine Partikularinteressen und dachten nicht an die Schweiz oder die „Eidgenossenschaft“. Die Zusammenfassung der Schweizer Kantone zu einem staatsrechtlichen Gebilde war ein Kunstwerk, das in seiner Existenz bedroht blieb. Die monarchischen Großmächte, namentlich Russlands Zar Alexander I., forderten die Schaffung einer Schweiz und konnten sich gegen die alten Stände (Kantone), namentlich Bern, durchsetzen. Unter den Theoretikern der Nationenbildung ragt Ernest Renan (1823 – 1892) heraus. Er sah im Vortrag „Was ist eine Nation?“ zwei Motive, die eine Nation ausma112
Isler (Fn. 106), S. 60. So die Bezeichnung in der Déclaration du Congrès de Vienne concernant les affaires de la Suisse du 20 mars 1815, in: Offizielle Sammlung der das Schweizerische Staatsrecht betreffenden Aktenstücke, Zürich 1820, S. 50 (50, Ingress) = Wilhelm Grewe (Hrsg.), Fontes Historiae Iuris Gentium, Bd. 3/1: 1815 – 1945, Berlin/New York 1992, S. 134 (134). 113
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chen. Erstens besteht in der Gegenwart eine „große Solidargemeinschaft“, die das gesellschaftliche Leben zu einer greifbaren Einheit zusammenfügt: „Die Existenz einer Nation ist […] ein Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt, so wie die Existenz eines Individuums eine dauernde Bestätigung des Lebensprinzips ist.“114 Zweitens stammt aus der Vergangenheit eine heroische Erzählung, die das „soziale Kapital“ bildet, „auf dem man eine nationale Idee gründet“115. Die Schweiz ist ein Musterbeispiel für das Motiv der Solidargemeinschaft. Sie ist eine Nation, die zunächst auf dem Willen der fünf Wiener Kongressmächte beruhte. Jahrzehnte später, nach der erfolgreichen Gründung des Bundesstaates und der Totalrevision der Bundesverfassung 1874, integrierten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die alte und die moderne Schweiz und die beiden Konfessionen zu einem gemeinsamen Willen, der diesen Staat befürwortete und die Vorentscheide des Wiener Kongresses sowie die seitherige Entwicklung konkludent billigte. Namentlich die Verfassung von 1874 bot der Minderheit der romtreuen Katholiken Instrumente, um sich im Bundesstaat zu beteiligen und Einfluss zu erhalten. Das Gesetzesreferendum ermöglichte es den Katholiken immer wieder, Vorhaben der protestantisch-liberalen Mehrheit zu stoppen. Das geschah etwa im Fall des „vierhöckrigen Kamels“116, als am 11. Mai 1884 das Volk vier Gesetzes- und Beschlussvorhaben ablehnte. Die protestantisch-liberale Mehrheit anerkannte die Katholiken als Machtfaktor und wählte Ende 1890 den ersten katholisch-konservativen Bundesrat. Der Marsch der Katholiken durch die Institutionen begann und setzte sich im 20. Jahrhundert fort. Die liberalen Kräfte mussten den Katholiken 1891 ein weiteres Zugeständnis machen, indem sie widerwillig der Einführung der Volksinitiative auf Teilrevision der Verfassung zustimmten. Die Verfassung normierte die Regeln der politischen Willensbildung, und gerade diese zeigten der Minderheit, dass sie diesen Willen des Staates in wichtigen Fragen mitbestimmen konnte. Die Verfassungsnormen ermöglichten und unterstützten die Integration der Katholiken. Am Ende entstand aus dem Kompromisswerk der beiden Verfassungen von 1848 und 1874 eine schweizerische Willensnation.
VII. Zweite Voraussetzung der Nationenbildung: Eine heroische Erzählung dient der Abwehr Die Nationalstaaten gaben sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts heroische Erzählungen, die im Sinn von Renan als das reiche Erbe einer glorreichen Vergangenheit „die“ Nation von den übrigen Nationen abhob. So verfasste Carl Hilty im Auftrag des Bundesrates eine populäre Schrift zur Sechshundertjahrfeier des Bundesbriefes im Jahr 1891. Die heroische Geschichtsschreibung der Bundesverfassungen seit 1291 114 Ernest Renan, Was ist eine Nation?, in: ders., Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften, Wien/Bozen 1995, S. 41 (57). 115 Renan (Fn. 114), S. 56. 116 Kley (Fn. 12), S. 286.
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verband geschickt die Idee der Selbstregierung, wie sie seit Rousseau die Aufklärung postulierte, mit nationalkonservativem Denken. Der an der Universität Basel lehrende Österreicher Edmund Bernatzik blickte von außen auf die Schweiz und nahm 1893 in Hiltys Schrift einen übertriebenen, künstlichen Heroismus und dessen Gefahren wahr.117 Da Hilty zur Erfüllung der „einzigartigen Mission der Schweiz“ eine „gewisse nationale Abschließung“118 forderte, fürchtete Bernatzik, dass „wir ja die interessante Perspective zu gewärtigen“ hätten, „im Herzen Europas ein kleines China entstehen zu sehen. Die Ansichten des Verfassers [Carl Hilty] würden jedenfalls hermetischer wirken als die große Mauer, welche das Reich der Mitte gegen die ,Fremdlinge‘ abschließt. In diesem Falle dürften sich dann im chinesischen Reich einige erprobte Maßregeln finden lassen, welche die ,nationale Abschließung‘ des zukünftigen Reiches der Mitte sehr zu fördern geeignet wären, als Tracht, Sitten, den Zopf nicht zu vergessen!“119 Die von Hilty geforderte Abschließung zeigt, dass die bündischen Vorstellungen das Land noch immer nicht genügend zusammenhielten. Vielmehr bedurfte man der europäischen Monarchien als eines Feindbildes. Dessen Abwehr sollte Einheit und Zusammengehörigkeit schaffen. Die Einigung des Volkes durch künstliche Feindbilder wirkte während des Ersten Weltkriegs nicht. Schon vor Kriegsausbruch neigte die Deutschschweizer Bevölkerung den Mittelmächten und die französischsprachige der Entente zu.120 Die Schweizer Regierung suchte die Spannungen schon bei Kriegsbeginn zu übertünchen, indem sie in einem Aufruf an das Schweizervolk vom 5. August 1914 schrieb: „Hinter den Behörden steht das Schweizervolk in bewunderungswürdiger Einigkeit und Geschlossenheit.“121 Dies war freilich eher Wunsch denn Realität. Schon 1914 bestand ein Graben zwischen Deutsch und Welsch, der den Zusammenhalt des Landes bedrohte. Der Bundesrat erließ am 1. Oktober 1914 erneut einen Aufruf, in dem er zu Mäßigung und Zurückhaltung aufrief und insbesondere die Presse aller Parteirichtungen ermahnte. Das Gemeinsame beschrieb er so: „Wir erblicken das Ideal unseres Landes in einer über den Rassen und Sprachen stehenden Kulturgemeinschaft. Zuerst und allem weit voraus sind wir Schweizer, erst in zweiter Linie Romanen und Germanen. Höher als alle Sympathien […] steht uns das Wohl des einen, gemeinsamen Vaterlandes; ihm ist alles andere unterzuordnen.“122 Der Aufruf zeigte keine Wirkung, die Spannungen dauerten an. Der Schriftsteller Carl Spitteler (1845 – 1924, Nobelpreis 1919) hielt am 14. Dezember 1914 im Rahmen der im gleichen Jahr ge117 Edmund Bernatzik, Zur Literatur des schweizerischen Staatsrechts, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 35 (1893), S. 271, wo Hilty auf den S. 300 – 313 besprochen wird. 118 Carl Hilty, Die Bundesverfassungen der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Zur sechsten Säcularfeier des ersten ewigen Bundes vom 1. August 1291 geschichtlich dargestellt im Auftrage des Schweizerischen Bundesrathes, Bern 1891, S. 4. 119 Bernatzik (Fn. 117), S. 310. 120 Kley (Fn. 12), S. 306. 121 Amtliche Sammlung der Eidgenössischen Gesetze 1914, S. 362. 122 Amtliche Sammlung der Eidgenössischen Gesetze 1914, S. 510.
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gründeten Neuen Helvetischen Gesellschaft in Zürich den viel beachteten und in Zeitungen veröffentlichten Vortrag „Unser Schweizer Standpunkt“123, in dem er zu Geschlossenheit und überlegtem Handeln aufrief. Er empfahl den divergierenden Welsch- und Deutschschweizern Mäßigung. Spitteler erklärte den nationalen Zusammenhalt zu einer Aufgabe der Politik. Die meisten Zeitungen des Landes druckten die Rede ab, sie wirkte mäßigend. Allerdings erzürnte sie die unverbrüchlichen Parteigänger der Entente bzw. der Mittelmächte. Der Absatz von Spittelers Büchern in Deutschland nahm stark ab. Die Spannungen blieben latent erhalten und nahmen im Laufe des Krieges wieder zu. Es hatte sich gezeigt, dass die Bindungskräfte nicht so stark waren. Die auf heroischer Erzählung gegründeten Feindbilder waren ab 1930 wirksamer. Der nationalsozialistischen Bedrohung antwortete die offizielle Schweiz mit der „geistigen Landesverteidigung“. Das schweizerische Staatsdenken sollte durch Feierlichkeiten und schweizerische Kultur gefördert werden. Das Muster hatte bereits Carl Hilty 1891 vorgegeben, und die Regierung legte es neu auf. Die geistige Landesverteidigung sollte das friedliche Zusammenleben der Sprachkulturen und „Rassen“ (wie es damals hieß) darstellen.124 Das Vorhaben gelang, und es wehrte die faschistische Propaganda im In- und Ausland ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sich die „geistige Landesverteidigung“ nahtlos auf den Kommunismus und dessen kollektivistische Ideologie anwenden. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 ist der Kommunismus als feindliche Ideologie und damit als Abgrenzungsmuster irrelevant geworden.125 In der Schweiz suchte man deshalb einen Ersatz für den abhanden gekommenen nützlichen Feind, der so viel zur Einigung und zur Stärkung des Bundes beitrug. Die europäische Integration übernahm die Rolle der Einheitsstiftung durch Feindbilder. Sie ließ sich verdeckt mit dem historischen Bewusstsein verbinden, wonach Europa schon im 19. Jahrhundert der Schweiz „übel“ mitspielte. Aktuell hadert die Schweiz mit ihrer Stellung in Europa. Das ist gefährlich und kann nur funktionieren, wenn die Landesteile die gleiche Furcht vor Europa empfinden. Als am 6. Dezember 1992 Volk und Kantone den Beitritt zum EWR-Vertrag ablehnten,126 setzten die beiden Parlamentskammern je eine Verständigungskommission ein. Die Erinnerung an den Graben zwischen Deutsch und Welsch im Ersten Weltkrieg und an die Rede von Spitteler erwachte. Die Kommissionen veröffentlichten einen gemeinsamen Bericht und schlugen im Wesentlichen drei Maßnahmen vor.127 Erstens sollte die lau123 Rede von Carl Spitteler vom 14. 12. 1914: Unser Schweizer Standpunkt, Vortrag, gehalten in der Neuen Helvetischen Gesellschaft, Gruppe Zürich, am 14. Dezember 1914, Zürich 1915; oder ders., Gesammelte Werke, 8. Bd.: Land und Volk, Zürich 1947; S. 577; NZZ Nr. 1670, 2. Mittagblatt, vom 16. 12. 1914; Nr. 1674, 2. Morgenblatt, vom 17. 12. 1914. 124 Kley (Fn. 12), S. 324. 125 Kley (Fn. 12), S. 411. 126 Kley (Fn. 12), S. 374. 127 Verständigungskommissionen des National- und Ständerates „… das Missverhältnis soll uns bekümmern“, Bericht der Kommissionen vom 22. Oktober 1993, BBl 1994 I 17 – 53.
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fende Totalrevision der Verfassung das Land revitalisieren, zweitens 1998 eine Jubiläumsfeier 150 Jahre Bundesstaat stattfinden, und drittens sollte der Bund eine weitere Landesausstellung – nach derjenigen von 1964 in Lausanne – durchführen. Der Bund setzte diese drei Maßnahmen erfolgreich um, namentlich nahmen Volk und Stände die neue Bundesverfassung 1999 an. Der Graben zwischen Deutsch und Welsch schloss sich. Das war weniger auf die drei Maßnahmen zurückzuführen als vielmehr auf die mit der Europäischen Union abgeschlossenen bilateralen Verträge I und II. Diese bildeten eine tragfähige Ersatzlösung, aber sie bedürfen wegen der Weiterentwicklung des europäischen Rechts aktuell der Erneuerung.128 Die Zukunft des in Aussicht genommenen institutionellen Abkommens zwischen der Schweiz und der Europäischen Union ist offen.
128 Bericht des Bundesrates vom 7. 6. 2019 über die Konsultationen zum institutionellen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union.
Diskussion Johannes Liebrecht: Andreas, vielen Dank. Du hast stark darauf abgehoben, dass die eigentliche Nationalstaatsbildung erst im späten 19. Jahrhundert zu verorten ist. Es gab andererseits schon früher ganz starke nationalstaatliche Rhetoriken, doch sind diese nach deiner Einschätzung nicht wirklich tragend gewesen. Wir hatten hier ja vor ungefähr einer Stunde das einfache Recht bereits kurz in der Diskussion gestreift: Haben die Diskussionen um das Obligationenrecht und um ein HGB, das es in der Schweiz nie gab, hat das Selbstverständnis, dass „wir, die Schweizer“ ein Handelsgesetz nicht bräuchten, weil „wir alle so egalitär“ seien, dabei irgendeine Rolle gespielt? Das tritt in den 60er Jahren auf, und später wird es ausdrücklich gesagt. Der Stolz der schweizerischen Öffentlichkeit liest sich mindestens in der Botschaft dazu ab: Kein anderes Land kenne so wenige soziale Unterschiede wie wir, die Schweizer, heißt es da – Pio Caroni hat das einmal beschrieben. Würdest du sagen, dass diese Selbstwahrnehmung als ein egalitäres oder ein sehr fortschrittliches Land in Europa – jung gegründet, aber dann so schnell nach vorne strebend –, dass diese Selbsterfahrung möglicherweise ein gemeinsamkeitsstiftendes und insofern nationalstaatsmitbegründendes Moment gewesen sein könnte? Andreas Kley: Dankeschön, Johannes. Ein Stück weit schon, aber das ist natürlich auch Ideologie. Wer hat von der Gleichheit gesprochen, wer hat gesagt, dass wir gleich sind? Das waren eben nur die Stimmberechtigten und die Bessergestellten, oder? Es gab ja auch sehr weitreichende Stimmrechtsausschlüsse in dieser Demokratie. Das muss man wissen. Arbeitnehmer, Knechte und Fahrende konnten nicht stimmen. Das war noch weit davon entfernt, ein allgemeines Stimm- und Wahlrecht zu sein. Ich würde sagen, als Ideologie, wenn man es glaubt, hat es vielleicht geholfen. Der Gleichheitsdiskurs kommt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen mit der Befreiungsgeschichte, etwa auch Wilhelm Tell, langsam auf. Jetzt erscheinen diese sehr guten Täuschungen, die es möglich machen, dass die Leute das für sich akzeptieren. Simon Kempny: Wir hatten ja heute schon einmal den Fall, dass die Schweiz als dem nördlicheren Teil des ehemaligen Heiligen Reiches vorangehend dargestellt ward, und so ist es ja im Grunde auch mit der Bundesstaatswerdung. Als ich ein bisschen über die Paulskirche arbeitete, wurde mir schnell klar, dass man in Frankfurt immer sehr genau auf die schweizerische Entwicklung schaute. Manche Vorschriften, gerade über den interkantonalen Verkehr – in der Paulskirche ist es dann der zwischen den Einzelstaaten –, sind einander im Wortlaut durchaus ähnlich. Das ist unter anderem deshalb spannend, weil sich später in jenem Bereich die schweizerische politische Praxis von dem Wortlaut sehr weit entfernt hat, bis man das 1999 dann ab-
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geräumt und den Wortlaut an die tatsächliche Übung angeglichen hat. Ich denke da an die Verträge, die zwischen den Kantonen möglich seien und inwieweit der Bund da mitzureden habe. Das lässt dann einige Hypothesen auch über die Paulskirche zu, was natürlich Kaffeesatzleserei ist, aber Spaß macht. Mich interessiert einmal die andere Frage: Inwieweit hat man denn in der Schweiz die – „restdeutsche“ klingt jetzt böse – sagen wir mal: die „Frankfurter“ Entwicklung verfolgt? Inwieweit war man sich darüber im Klaren, dass man Gegenstand scharfer und teilweise bewundernder Beobachtung sei? Also inwieweit hat man sozusagen die eigene Fernwirkung wahrgenommen? Andreas Kley: Das ist eine gute Frage, aber ich bin überfragt. Ich habe wenig über die Rezeption der Bundesverfassung in Deutschland gelesen. Die Rezeption wird behindert, weil die ausländischen Monarchien 1848 kritisch auf die Schweiz geschaut haben. Sie haben mit Intervention gedroht. Namentlich Österreich hat die Meinung vertreten, die Bundesverfassung von 1848 würde die Wiener Kongressakte und den von den europäischen Mächten garantierten Bundesvertrag von 1815 verletzen. Zur Intervention kam es nicht, weil 1848 in ganz Europa Revolutionen ausgebrochen sind. Für die Schweizer war das ein günstiger Moment, um die Bundesverfassung einzuführen. Ihre Frage könnte zu einer sehr interessanten Forschung führen. Georg Schmidt: Ja, Herr Kley, vielen Dank. Ich kann da gleich anschließen. Im deutschsprachigen Raum außer der Eidgenossenschaft wird auch noch im 18. Jahrhundert dieses Gebilde, wie auch immer man es beschreiben will, hochgeschätzt, weil gesagt wird, dort wird Einheit erzeugt und gelebt, trotz kultureller Pluralität bis hin zu den Sprachen. Das wird dann schön ausgeschmückt, ohne dass das jemand überprüft, denn wer kann es überprüfen, etwa in Frankfurt oder Hamburg? Es ist auch nicht notwendig, die Eidgenossenschaft steht neben dem Reich mit seinen Streitigkeiten. Das ist das eine. Wie aber ist das in der Eidgenossenschaft selbst, also in der Schweiz, wird da der Begriff Patriotismus, der im 18. Jahrhundert sehr stark in der Diskussion ist, überhaupt nicht für diesen Gesamtverbund rezipiert, wird er nur für die Kantone rezipiert? Muss man nach Ihrem Vortrag sagen, dass die Schweiz ein Beispiel für einen Verfassungspatriotismus ist, der dadurch zustande gekommen ist, dass es die von außen aufgezwungene Willensnation gegeben hat und diese nun verfassungsrechtlich festgelegt ist? Andreas Kley: Ja, vielen Dank, Herr Schmidt, für die wichtige Frage. Natürlich nein, das wäre falsch so. Es gibt schon im 18. Jahrhundert diesen gesamtschweizerischen Patriotismus. Beispielsweise wird im Kanton Aargau 1761/62 als ein Klub von Patrioten die Helvetische Gesellschaft gegründet. Die Auslandschweizer in Paris gründen den Club helvétique de Paris. Sie kritisieren das Ancien Régime in der Schweiz und wünschen eine freiheitliche, liberale Gesamtschweiz. Im 19. Jahrhundert wird das intensiv gepflegt durch die sogenannten „Eidgenössischen Feste“. Es gibt den eidgenössischen Turnverein, den Sängerverein und den Schützenverein. Diese organisieren im Abstand von einigen Jahren große Feste, eben die „Eidgenössischen“, auf denen sich vorwiegend die liberale Schweiz trifft. Hier erscheinen vor
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allem auch Parlamentarier und Regierungsmitglieder von den Kantonen und vom Bund und halten politische Reden. Da versammelt sich die Schweiz physisch. Da kann man erleben, dass es eine ganzheitliche Schweiz gibt. Der in der Aufklärungszeit entstandene gesamtschweizerische Patriotismus wird stark und mündet in die Nationenbildung ab 1870. Auch staatsseitig übernehmen etwa 1891 die Verantwortlichen des Bundes diese Bewegung, indem sie nämlich die 600-Jahr-Feier des Bundesbriefes von 1291 in Brunnen und die gleichzeitige 700-Jahr-Feier der Gründung der Stadt Bern mitorganisieren. Daraus entsteht ab 1899 die Feier des 1. August, die 1993 zu einem eigentlichen Nationalfeiertag erweitert wird. Claudia Garnier: Herzlichen Dank, ich habe eine ganz neue und überaus sympathische Schweiz kennengelernt. Meine Frage zielt auf die Herkunft des bündischen Gedankens. Sie haben den theologischen und den philosophischen Diskurs gestreift. Meine Frage zielt auf den historischen Diskurs und auf die Urkunde von 1291. Sie begründet eine Confoederatio, in der man sich auf Hilfe und Unterstützung contra omnes, also gegen alle, und auf interne Mechanismen der Friedenswahrung verständigt. In diesem Zusammenhang haben sie Usteri angeführt. Ist das derselbe Usteri, der auch über die mittelalterliche Schiedsgerichtsbarkeit gearbeitet hat? Andreas Kley: Nein, der von mir erwähnte Paul lebte von 1768 bis 1831, wogegen der Autor des Werks über die Schiedsgerichtsbarkeit im 13. bis zum 15. Jahrhundert Emil Usteri war, der von 1898 bis 1983 lebte. Beide gehören aber der großen Zürcher Bürgerfamilie an. Claudia Garnier: Vielen Dank. Meine Frage zielt auf die historische Identitätsbildung und darauf, welche Rolle die Vorlage der Urkunde von 1291 spielt; nicht, um den politischen Alltag und eine Verfassung zu strukturieren, aber um Identität zu stiften. Sie haben das Thema im Vortrag kurz angedeutet, etwa mit der Erwähnung von Volksfesten usw. Ich stelle mir jedoch die Frage, inwieweit die Urkunde von 1291 in diesem Zusammenhang reflektiert wird. Und dann eine ganz kurze Informations-/Wissensfrage: Ab wann spricht man von der Confoederatio Helvetica als Staatsbezeichnung? Dankeschön. Andreas Kley: Danke vielmals für beide Fragen. Von der Confoederatio Helvetica spricht man ab dem 18. Jahrhundert in Verträgen, die die Eidgenossenschaft insbesondere mit Frankreich abgeschlossen hat. Die erste Frage ist wichtig. Ich habe das Thema im Referatstext beschrieben, aber jetzt ausgelassen. Dieser berühmte Bundesvertrag von 1291 hat für Schweizer Ohren einen guten Klang, was sich sogar daran zeigt, dass ein österreichisches Bier mit „1291“ benannt ist. Der Bundesvertrag von 1291, man muss sich das vor Augen führen, wurde 1724 erstmals im Staatsarchiv von Schwyz registriert. Und ab 1760 wurde er überhaupt erst einem größeren Publikum bekannt. Im 19. Jahrhundert schon haben kritische Historiker den Wert dieses Vertrags in Zweifel gezogen. So ist es bis heute geblieben. Es gibt zum Bundesvertrag keine begleitenden Dokumente. Er hat auch keine Siegel, keine Unterschriften, kein Datum, es gibt keinerlei Kontextwissen. Man kann jetzt frei spekulieren, es sei nur ein Entwurf gewesen. Vielleicht ist er viel wichtiger gewesen, aber alles ist verloren-
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gegangen: Wir wissen nichts über den berühmten Bundesvertrag von 1291. Damit ist er eine gute Projektionsfläche. Die Geschichtswissenschaft begann sich vermehrt auf „Quellen“ abzustützen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat die Bundesversammlung, also die beiden Kammern des Bundesparlaments, beschlossen, dass 1291 das Referenzjahr für den zu feiernden Geburtstag der Eidgenossenschaft sein sollte. Gegenüber den Einwänden der Historiker waren die Politiker immun. Sie sagten, man wolle einen Feiertag und ein Fest haben. Dabei gehe es nicht um historische Wahrheit, sondern um das Feiern. Dafür sei der Bundesbrief der genau richtige Anlass. Das Konkurrenzdatum war der Burgenbruch des 8. November 1308, ein Datum, das von Aegidius Tschudi im Weißen Buch von Sarnen überliefert ist. Wollte man historisch genau sein, müsste man den ersten Bundesvertrag von 1315 feiern. Sie sehen, hier findet eine Mythenbildung zum Zwecke der nationalen Einigung statt. Wenn Sie heute die Leute auf der Straße befragen, glauben viele, dass das Jahr 1291 das Gründungsjahr der Schweiz sei. Im Ausland ist es ja ähnlich verlaufen. Der 14. Juli in Frankreich oder der 4. Juli in den USA wurden im Zug der Nationenbildung je etwa hundert Jahre später zu einem Feiertag erkoren. Rainer Polley: Ich habe noch eine Frage zu den von Ihnen bereits angesprochenen konfessionell-religiösen Verhältnissen in den Schweizer Orten/Kantonen in historischer Zeit. Vor kurzem konnte ich mir in einem Marburger Kino den schönen Film von Stefan Haupt aus dem Jahre 2019 über Zwingli in Zürich ansehen. Dargestellt wurde auch das Lebensende des Reformators bei seiner Mitwirkung als Feldprediger im militärischen Kampf gegen seine katholischen Gegner. Dass im 16./17. Jahrhundert Glaubensstreitigkeiten so energisch ausgefochten wurden, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Dass aber noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts der von Luzern angeführte Sonderbund katholischer Kantone zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit der letztlich siegreichen übrigen Schweiz führte, ist bemerkenswert und beflügelt die Frage nach den Auswirkungen der Konfessionszugehörigkeit auf die Rechtsstellung des einzelnen Bürgers in den katholischen, aber auch in den protestantischen Kantonen. Ich denke hierbei besonders an das Recht zur Bekleidung öffentlicher Ämter. Andreas Kley: Dankeschön für die interessante Frage. Wenn wir die Katholiken und Protestanten nehmen, gab es formal keine Differenzierungskriterien. Sie wurden gleich behandelt, d. h., wenn man im richtigen Kanton war, im Kanton seiner Konfession, gab es keine Probleme. Also wiederum Trennung: Man trennt die Leute, und es gibt keine Probleme. Es ist schon ein viel komplexeres Ganzes. Die Trennung war abgrundtief und schied die romtreuen Katholiken von den Protestanten und den liberalen Katholiken. Ich habe das für ein spezielles Thema untersucht, nämlich die Universitätslandschaft. Wie hat sich das Personal der Universitäten entwickelt? Es ist faszinierend zu sehen, dass es formal keine Rechtsvorschriften gibt, wer Professor werden darf. Die ideologisch „gefährlichen“ Fachgebiete wie Geschichtswissenschaft, Staatsrecht, Literaturwissenschaft und Germanistik wurden konfessionell aufgeteilt. An den protestantischen Universitäten, etwa in Basel, Bern oder Zürich, war es bis etwa 1965/1970 ausgeschlossen, dass ein Katholik Professor wurde. Ich
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weiß das von einem pensionierten Kollegen, Thomas Fleiner, der in Freiburg/ Schweiz Professor war. Er ist in Zürich als Katholik aufgewachsen. Übrigens ist er ein Großneffe von Fritz Fleiner und entstammt einem Zweig der Fleiner-Familie, der zum Katholizismus konvertiert ist. Thomas Fleiner hatte in Zürich studiert und dissertiert. Als er Professor Werner Kägi, seinen Doktorvater, fragte, er würde gerne habilitieren, sagte dieser: „Sie können das als Katholik in Zürich nicht machen.“ Thomas Fleiner geht in der Folge nach Freiburg, habilitiert sich dort und wird Privatdozent und Professor. Man muss die Studenten durch liberal und demokratisch denkende Professoren ausbilden. Mit dem an der Universität erworbenen liberalen und demokratischen Geist tragen sie den Staat mit. In der Universität Zürich sagte man gerne, sie sei zwar erst 1833 gegründet worden, in Europa aber die erste Universität gewesen, die nicht die Kirche oder ein Monarch gegründet hat, sondern eine Republik. Die Aussage trifft zu, aber es waren Kaderschmieden für die neue liberale und vom Protestantismus geprägte Republik. Die Universitäten waren zunächst, verständlicherweise, nicht objektive Lehranstalten, um die Wahrheit zu erforschen. Nein, das waren Ausbildungsstätten, um eine Beamtenschaft zu erhalten, die der Republik dient. Die Schweizer Studenten, die in Italien, Frankreich und Deutschland studiert hatten, wurden durch Monarchien geprägt und besaßen deshalb einen „falschen“ politischen Geist. Diese nichtdemokratische Ausbildung der Schweizer Studenten wollte man nicht mehr, das war die eigentliche Ursache für die Gründung der schweizerischen Universitäten. Johannes Burkhardt: Als Frühneuzeitler bin ich jetzt sehr verwirrt, denn nach meinem Geschichtsbild war das ja alles nicht prinzipiell anders in der Frühen Neuzeit und damit kein nachträgliches Verfassungsoktroi im 19. Jahrhundert. In den Berner Quellenheften, in denen der Westfälische Friede, eine der ersten deutsch-lateinischen Editionen aus den 1950er Jahren, die man bequemlicherweise immer noch gerne benutzt, wird der Schweizer Artikel, die Basler Exemption vom Reichskammergericht, im Anhang eigens besprochen, mit Literatur dafür oder dagegen, ob das bedeutet, dass die Schweiz ein Staat wird wie gleichzeitig die Niederlande. Denn es ist ja eine Zeit der Staatsbildungen. Einige von diesen Forschern sagen nun, das ist sozusagen aus Versehen passiert, weil es gar nicht mit dieser Absicht gemacht ist. Sie wollten nur nicht zahlen fürs Reichskammergericht. Andere sagen nein, nein, das ist aber daraus geworden. Wiederum andere sagen nein, das ist doch alles schon viel früher geschehen, schon seit dem 16. Jahrhundert. Im Grunde haben sie sich ja vom Reich getrennt und damit praktisch Staatlichkeit, Eigenstaatlichkeit ausgebildet und sie haben ja auch untereinander kooperiert in der Zeit, wenn sie nicht gerade Religionskriege geführt haben. Da gibt es ja die Kappelerkriege im 16. Jahrhundert, dann die bei uns weniger bekannten Villmergerkriege am Anfang des 18. Jahrhunderts noch einmal. Aber jeder Krieg, jeder Religionskrieg muss ja auch wieder mit Frieden enden, also gibt es ja auch die Kappeler Friedensschlüsse und die Villmerger Friedensschlüsse, die aber doch nicht internationale Friedensschlüsse sind, sondern offenbar Wiedervereinigungen innerhalb eines Bundes, der sich zusammengehörig gefühlt hat. Ich weiß auch, dass es zum Beispiel in den Reichstagsakten nach
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1648 Briefe an die Schweizer gibt, sie möchten uns als nahverwandte Nachbarn doch bitte bei der Abwehr der Franzosen helfen. Damit werden sie auch als Einheit bereits angesprochen. Also, da bin ich jetzt etwas durcheinander: Spielt denn tatsächlich – es gibt nicht das Dokument, das das festhält, aber das gibt es bei vielen Staatsbildungen nicht in der Frühen Neuzeit, da gilt auch Gewohnheitsrecht usw. –,wenn im 19. Jahrhundert darüber diskutiert wird, diese Vergangenheit überhaupt keine Rolle? Tschudi zum Beispiel hat ja bereits Tell im 16. Jahrhundert, wenn ich mich recht erinnere, aufgebaut, auch als einheitsstiftende Leitfigur. Und Silvia Serena Tschopp, eine Kollegin bei uns in Augsburg, hat mal einen Vortrag gehalten über die Pfadabhängigkeit der Schweizer Entwicklung für eine bestimmte Form der Demokratie. Da geht sie auch bis ins 16. Jahrhundert zurück. Spielt diese Tradition denn gar keine Rolle im 19. Jahrhundert? Mussten die Schweizer wirklich von außen zur Einheit gezwungen werden? Andreas Kley: Nur ganz kurz. Sie möchten ja sicher mal zum Essen. Selbstverständlich spielt das eine Rolle, jene Zeit. Aber ich beziehe mich jetzt in meinen Aussagen praktisch auf die ganze Thematik der Verfassungsgebung. Wenn man die Flugschriften, Kampfschriften und die parlamentarischen Debatten, die protokolliert sind, anschaut, erscheinen sie vergangenheitsarm. Die Vergangenheit spielt praktisch keine Rolle. Es gibt nur sanfte Andeutungen, dass man einiges nicht mehr will, aber es ist keine Vergangenheitsarbeit geleistet worden. Diese Debatten sind ab 1830 betreffend die neuen Verfassungen geführt worden. Ein Thema ist es zweifellos schon gewesen. Der Zweite Villmergerkrieg hat in der Konsequenz die Eidgenossenschaft lahmgelegt. Die Katholiken sind unterlegen und haben ihre Mehrheitsposition verloren. Die Folge dieser Situation war eine allgemeine gegenseitige Gleichgültigkeit. Man hat sich nicht mehr miteinander beschäftigt. Mit der Folge, dass 1798 die Franzosen gekommen sind. Dem stand kein Wille entgegen. Matthias Pape: Ich möchte an die Bemerkungen von Frau Garnier und Herrn Burkhardt anknüpfen und das Argument der Nationalitätsbildung in der Schweiz durch patriotische Geschichtsschreibung seit den 1770er Jahren unterstützen und an ein berühmtes Werk erinnern, an Johannes von Müllers „Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft“. Das Werk ist in der Schweiz und dann auch in Deutschland in mehreren Bänden seit 1786 erschienen. Das Werk hat durch seine Rhetorik und die zündenden Vorreden den Schweizer Patriotismus und in napoleonischer Zeit den deutschen Patriotismus gestärkt. Ich habe das in meiner Dissertation näher dargelegt. Müllers Werk hat in der Schweiz ganz stark national integrierend gewirkt. Müller hat in seiner Schweizer Geschichte den Aegidius Tschudi verarbeitet und das Gründungsjahr 1291 und den Wilhelm Tell-Mythos wie kein anderer Geschichtsschreiber förmlich sakralisiert. Und dieses Werk hat tief in das 19. Jahrhundert hineingewirkt. Cotta druckte die Neuausgabe von Müllers Sämtlichen Werken in 40 Bänden in den 1830er Jahren. Das ist eine Geschichtsschreibung, die vom späten 18. bis ins mittlere 19. Jahrhundert hinein große Wirkung entfaltet hat und die – wenn ich die Literatur richtig gelesen habe – das Zusammengehörigkeitsgefühl der Kan-
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tone gestärkt hat. Also gibt es, meine ich, das Element einer Geschichtsschreibung, die in der Schweiz national integrierend gewirkt hat. Andreas Kley: Ich kann nur unterstützen, was Sie sagen. Man sieht das in der historischen Rechtsschule in der Schweiz. Es gibt zahlreiche Werke aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den einzelnen Kantonen, etwa zu Luzern, Glarus und Zürich. Sie beziehen sich exakt auf diese patriotische Geschichtsschreibung. Es gibt auch eine ganze Reihe derartiger Werke aus dem 16. Jahrhundert, etwa Erdbeschreibungen und Landschaftsbeschreibungen der Schweiz. Diese werden in den Werken der historischen Rechtsschule verarbeitet, ganz im Sinne des organischen Wachstums der staatlichen Rechtsordnung. Auf jeden Fall spielt das eine Rolle und mündet in der patriotischen Bewegung, die von der Aufklärungsseite herkommt. Historische Rechtsschule und liberale Aufklärungsideen unterstützen sich am Ende gegenseitig. Ferdinand Kramer: Meine Frage bezieht sich nochmal auf die Diskussion um den Bund und zwar in Verbindung mit Fragen der Macht. Werden denn Fragen der Macht parallel mitdiskutiert? Faktisch bedeutet ja ein System des föderalen Bundes auch Diversifizierung von Macht. Und wenn wir auf das Europa dieser Epoche schauen, dann können wir eine gewaltige Machtverlagerung über Mediatisierungs- und Säkularisationsprozesse in die Zentren der künftigen Nationalstaaten bzw. der verbleibenden oder neuen Staaten erkennen. Die Schweiz geht da ja offensichtlich einen anderen Weg. Die Diversifizierung von Macht spielt da eine größere Bedeutung. Deswegen würde mich interessieren, ob da Macht als Diskussionsfaktor eine Rolle spielte? Und dann will ich auch nach dem Verständnis von Nation fragen. In Deutschland zumal, aber auch anderen Orts, gibt es trotz des Charakters der „föderativen Nation“ diese Debatte um den Letztwert und die Sakralisierung des Nationalen bzw. des Nationalstaats. Nimmt denn das in der Schweiz ähnliche Formen an? Diese völlige Überhöhung des Nationalen und des Nationalstaats? Andreas Kley: Die Machtfrage kommt in Form der Verwirklichung der eigenen Interessen zum Ausdruck. Macht als solche wird nicht thematisiert. Sie kommt versteckt zum Zug, indem Institutionen aufrechterhalten werden, die die eigene Machtposition stützen. So gab es 1814/15 eine Art Parteigruppe von Kantonen, die die alte Eidgenossenschaft wiedereinführen wollten. Die Machtfrage wird in der politischen Philosophie deutlich. Wenn man schaut: Rousseau macht schöne Äußerungen oder auch Montesquieu über die république fédérative. Beide haben die alte These behandelt, wonach nur die Monarchien fähig seien, Machtstaaten zu sein. Eine Republik könne das nicht, außer mehrere kleine Republiken bildeten selber einen Bund. In der politischen Diskussion in der Schweiz wird die Machtfrage mit Praxis unterlegt. Bei der Überdehnung des Nationalstaates oder des Nationalen kommt es zu gewaltigen, unglaublichen Überhöhungen. Und zwar, das habe ich weggelassen, findet diese im 20. Jahrhundert statt. Im Ersten Weltkrieg droht die Abspaltung der französischen Schweiz. Später, ab den 1930er Jahren, kommt als Bindemittel das Feindbild „Drittes Reich“. Von 1948 bis 1989 löste der Kommunismus den Faschismus als Feindbild ab. Die in Bildung und Wissenschaft unterbreiteten Abgrenzungsmerkmale gegen die
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Feindbilder gehen bis ins Skurrile. Der Zürcher Geographielehrer an der höheren Töchterschule sowie ETH- und Universitätsdozent Emil Egli (1905 – 1993) machte vor dem Zweiten Weltkrieg geographisch-geistige Überlegungen, um die nationale Eigenart der Schweiz zu schützen. Egli unternahm allen Ernstes den Versuch, einen besonderen Menschentypus, den „homo alpinus helveticus“, zu identifizieren. Dabei ging er von der Hypothese aus, dass die Landschaft, welche eine menschliche Lebensgemeinschaft umgebe, Bestandteil der seelischen Substanz dieser Menschen werde. Die Konsequenzen dieser besonderen Kraft der schweizerischen Landschaft seien einschneidend: Was auf Schweizer Boden trete, werde umgewandelt. Es werde der rassischen Mischungsorder unterstellt. Man sei in der Schweiz darüber nicht erstaunt, nachdem nachgewiesen sei, dass selbst die für starr gehaltene Schädelform durch Umweltwirkung sehr rasch sich ändere. Soweit Emil Egli mit den wundersamen Einwirkungen des Schweizer Bodens auf die Menschen. Die Abgrenzung um jeden Preis endete im Jahr 1989 abrupt. Aber auch hier gibt es eine schweizerische Spezialität. Die Schweiz hat wohl als einziger Staat der Welt den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gefeiert, und zwar mit den sogenannten Diamantfeiern. Weshalb kommt man auf diese Idee? Das sind Vorstellungen einer exzessiven Abgrenzung, die man nur schwer verstehen kann. Sie begreifen auch, dass der Verlust der Feindbilder gravierende geistige Auswirkungen hat. Die eher rechtsstehenden politischen Kräfte in der Schweiz weisen die Aufgabe des Feindbildes der Europäischen Union zu und haben – wie Sie sicher wissen – damit einen gewissen Erfolg: Der europäischste Staat in Europa, die Schweiz, ist paradoxerweise nicht Mitglied der Europäischen Union. Anja Amend-Traut: Abgesehen von diesen eher kuriosen Elementen nochmal zurück zu einem anderen Punkt. Wir haben in dem vorangegangenen Vortrag das erste Mal über die Rechtsprechung als integratives Element nachgedacht. Welche Rolle spielt das denn für die Eidgenossenschaft? Wenn Sie da vielleicht kurz, auch wenn das wahrscheinlich ein eigenes Referat sein könnte, Stellung nehmen würden. Andreas Kley: Die Rechtsprechung spielt eine sehr große Rolle für die Integration im 19. Jahrhundert. Und zwar wird hier ein spezieller Weg beschritten. Mit der Bundesstaatsgründung geht es zunächst darum, die großen konfessionellen Konflikte zu regulieren. Zum Beispiel bildet die Ehescheidung von konfessionsverschiedenen Personen im 19. Jahrhundert ein größeres, grundsätzliches Problem. Die Bundesverfassung von 1848 hat für diese und weitere schwierige Fragen eine spezielle Verfassungsgerichtsbarkeit eingeführt. Die heftigen Streitigkeiten konnte aber nicht ein Gericht entscheiden, vielmehr setzte die Verfassung das Parlament selbst als Rechtsprechungsinstanz ein. Man konnte Beschwerde an die Regierung, den Bundesrat, einlegen. Als zweite Instanz haben die beiden Parlamentskammern fungiert. Das ist damals nicht falsch gewesen, denn diese heiklen Fragen konnte nur das mächtigste, vom Volk direkt gewählte Organ entscheiden. Ab 1874 ist man darangegangen, dem neugeschaffenen ständigen Bundesgericht diese Kompetenzen allmählich zu übertragen. Die letzten Kompetenzen in verfassungsrechtlich heiklen Fragen, die den politischen Organen zustanden, wurden erst etwa 1990 von der Bundesversamm-
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lung auf das Bundesgericht übertragen. Es war also ein gut hundertjähriger Prozess, der hier stattgefunden hat. Heute ist das Gericht akzeptiert. Die Rechtsprechung durch die politischen Behörden hat für diese ganz grundlegenden Fragen wichtige Arbeit geleistet und sich von Fall zu Fall vorgearbeitet.
Maurinus gegen die Agenten des Fiskus Die Lex Salica in einem Prozess um Freiheit aus der Zeit Ludwigs des Frommen Von Karl Ubl, Köln 1. Der Begriff „Volksrecht“ wird in der rechtshistorischen Forschung schon seit längerem nicht mehr verwendet. Die Gründe dafür sind vielfältig und können hier nur angedeutet werden.1 Zum einen war der Begriff Teil eines systematisch begründeten Gegensatzes von Volks- und Königsrecht, der aus den juristischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts hervorging. Dieser Gegensatz wurde bereits von Heinrich Brunner in Zweifel gezogen, weil alle Kodifikationen, die man als Volksrechte charakterisierte, auf königliche Initiative zurückgingen und von königlichen Interessen geformt wurden.2 Zum anderen suggeriert der Begriff des Volksrechts die Homogenität der frühmittelalterlichen Gesetzgebung, die in der älteren Forschung auf den Einfluss der germanischen Völker und ihrer Rechtsgewohnheiten zurückgeführt wurde. Nachdem jedoch die Idee des germanischen Rechts dekonstruiert und im gleichen Zuge der dauerhaften Prägung durch das römische Recht größeres Gewicht beigelegt worden war, kam auch die Vielfalt und Heterogenität der frühmittelalterlichen Gesetzgebung stärker in den Blick.3 Nach dem Ende des weströmischen Reichs wurde in den neu entstandenen Königreichen auf verschiedenste Weise mit Gesetzgebung und Kodifikation experimentiert.4 Wie Franken in Nordgallien, Goten in Italien oder in Spanien das römische Erbe aufgriffen, an ihre Bedürfnisse anpassten und für ihre Zwecke einsetzten, wird durch den begriff „Volksrecht“ verdeckt. 1 Clausdieter Schott, Der Stand der Leges-Forschung, in: Frühmittelalterliche Studien 13 (1979), S. 29 – 55, hier S. 31. 2 Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, Berlin 21906, S. 417 f. 3 Karl Kroeschell, Germanisches Recht als Forschungsproblem, in: ders. (Hrsg.), Festschrift für Hans Thieme zu seinem 80. Geburtstag, Sigmaringen 1986, S. 3 – 19; Alexander C. Murray, Germanic Kinship Structure. Studies in Law and Society in Antiquity and the Early Middle Ages (Studies and Texts 65), Toronto 1983. 4 Patrick Wormald, The Leges Barbarorum: law and ethnicity in the post-Roman West, in: Hans-Werner Goetz/Jörg Jarnut/Walter Pohl (Hrsg.), Regna and gentes: the relationship between late antique and early medieval peoples and kingdoms in the transformation of the Roman world (The transformation of the Roman world 13), Leiden 2003, S. 21 – 53; Karl Ubl, Das Edikt Theoderichs des Großen. Konzepte der Kodifikation in den post-römischen Königreichen, in: Hans-Ulrich Wiemer (Hrsg.), Theoderich der Große und das gotische Königreich in Italien (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 102), München 2020, S. 223 – 238.
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Die historische Forschung ist daher dazu übergegangen, möglichst neutral und generisch von „leges“ oder von „law books“ (Rechtsbüchern) zu sprechen. Gleichwohl war die Verbindung des Rechts mit ethnischer Identität im frühen Mittelalter keine rechtliche Fiktion, sondern hatte auch für die einfache Bevölkerung jenseits königlicher Rechtspolitik eine erhebliche Bedeutung. Dies zeigt sich besonders deutlich in einem Rechtsstreit um persönliche Freiheit, der im Jahr 815 vor dem Grafengericht von Autun ausgetragen wurde und der den Besitz des Fiskalguts Perrecy-les-Forges betraf.5 Die darüber aufgezeichnete Urkunde steht im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung. Sie hat sich erhalten, weil Perrecy später durch eine Schenkung Ludwigs des Frommen an den Grafen Eckhard von Mâcon gelangte, der es seinerseits dem Kloster Saint-Benoît-sur-Loire (Fleury) schenkte.6 Im Chartular des Klosters ist eine Abschrift der Urkunde überliefert. Nach dem Inhalt der Urkunde verlief der Rechtsstreit folgendermaßen: Der Advokat Fredelus trat vor Graf Theoderich von Autun und die Schöffen und erhob Klage gegen Maurinus, den er als Hörigen des königlichen Fiskalguts von Perrecy identifizierte. Fredelus handelte im Auftrag eines gewissen Childebrand, dessen Familie den Fiskalbesitz seit den Zeiten Pippins des Jüngeren als Leihegut im Namen des Königs verwaltete. Nach der Behauptung des Klägers war der Vater von Maurinus mit Namen Madalenus bereits ein Höriger Kaiser Karls des Großen gewesen. Beim Tod Karls seien Vater und Sohn in den Besitz des neuen Kaisers Ludwigs des Frommen übergegangen. Maurinus erkannte vor Gericht jedoch den Stand der Unfreiheit nicht an und behauptete, Zeugen könnten die eigene Freiheit und die seines Vaters bezeugen. Daraufhin wurde er befragt, unter welchem Recht er lebe. Maurinus bekannte sich zum Recht der Franken, der Lex Salica.7 Der Kläger Fredelus appellierte daraufhin an den Kaiser, um den Gegenbeweis nach dem Gesetz führen zu können. Das Gericht entschied, dass Fredelus 40 Tage bis zum nächsten gräflichen Gerichtstag Zeit habe, Zeugen für seinen Rechtsanspruch beizubringen. Andernfalls müsse er das Recht des Maurinus auf Freiheit anerkennen. Die Urkunde ist das älteste Zeugnis für das formelhafte Bekenntnis zum eigenen Recht vor Gericht (professio iuris) und wurde daher wiederholt für die Geschichte der Personalität des Rechts herangezogen.8 Zuletzt analysierte Patrick Wormald 5 Recueil des chartes de l’abbaye de Saint-Benoît-sur-Loire, ed. Maurice Prou/Alexandre Vidier, Paris 1900 – 1907, 1. Bd., S. 24 – 26. 6 Die Besitzgeschichte ist außerordentlich gut dokumentiert: Brigitte Kasten, Erbrechtliche Verfügungen des 8. und 9. Jahrhunderts. Zugleich ein Beitrag zur Organisation und zur Schriftlichkeit bei der Verwaltung adeliger Grundherrschaften am Beispiel des Grafen Heccard aus Burgund, in: Zeitschrift für Rechtgsgeschichte, german. Abt. 107 (1990), S. 236 – 338; Olivier Bruand, La gestion du patrimoine des élites en Autunois. Le prieuré de Perrecy et ses obligés (fin IXe–Xe siècle), in: Régine Le Jan u. a. (Hrsg.), Les élites et la richesse au haut Moyen Âge, Turnhout 2010, S. 233 – 250. 7 „Tunc interrogatum fuit jam dicto Maurino sub quale lege vivebat et ipsus sibi a lege salica adnunciabit.“ Recueil des chartes de l’abbaye de Saint-Benoît-sur-Loire, S. 25. 8 Louis Stouffe, Étude sur le principe de la personnalité des lois depuis les invasions barbares jusqu’au XIIe siècle, Paris 1894, S. 32 und S. 93; Rudolf Hübner, Gerichtsurkunden der
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auf wenigen Seiten den Fall des Maurinus und verglich ihn mit verwandten Urkunden der Karolingerzeit.9 Wormald interessierte sich in erster Linie für das Verhältnis zwischen Rechtspraxis und Gesetzgebung und für die Effektivität des Schriftrechts. In der Nachfolge von Hermann Nehlsen10 zog er in Zweifel, dass sich Maurinus auf die Lex Salica als Schriftrecht bezogen habe. Wie in anderen Urkunden sei mit solchen Formulierungen nur vage auf das mündliche Gewohnheitsrecht der Franken verwiesen worden. An anderer Stelle habe ich dafür plädiert, den starken Gegensatz von Schriftrecht und mündlichem Gewohnheitsrecht für die Franken zu überdenken und neben der Effektivität auch andere Funktionen von Rechtsaufzeichnungen in Betracht zu ziehen.11 Die Deutung Wormalds ist noch in anderen Hinsichten unvollständig. Er vernachlässigt die substantielle Veränderung gegenüber den zeitgenössischen Musterdokumenten, die als Vorlage für die Urkunde dienten. Nicht der Angeklagte Maurinus, sondern die Agenten des Fiskus bekommen die Möglichkeit, den Anspruch mit Zeugen zu beweisen. Zudem übersieht Wormald den politischen Kontext. Der Prozess fand zu einem Zeitpunkt statt, als Kaiser Ludwig der Fromme kurz zuvor eine Kampagne gegen unrechtmäßigen Freiheitsentzug begonnen hatte, um die Ungerechtigkeiten aus der Zeit seines Vaters rückgängig zu machen. Nur vor diesem Hintergrund, so die These dieses Beitrags, ist es möglich, die Besonderheiten des Prozesses richtig einzuordnen. Im Kontext der Fragestellung dieses Sammelbandes ist auffällig, auf welche Weise in dem Prozess die ständische mit der ethnischen Zugehörigkeit verquickt ist. Um die Freiheit des Maurinus zu überprüfen, wurde zuerst danach gefragt, nach welchem Recht er lebe. Maurinus bekannte sich nicht etwa zum burgundischen oder zum römischen Recht, sondern zum Recht der Franken, obwohl er einen lateinischen Namen trug12 und im Bereich des burgundisch-römischen Rechtsraums lebte.13 Warum glaubte er mit der Berufung auf das fränkische Recht seinen Anfränkischen Zeit I, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, german. Abt. 12 (1891), S. 1 – 118 (Nr. 217); Heinrich Brunner, Zeugen- und Inquisitionsbeweis der karolingischen Zeit, in: ders., Forschungen zur Geschichte des deutschen und französischen Rechtes. Gesammelte Aufsätze, Stuttgart 1894, S. 88 – 247, hier S. 121 – 123. 9 Patrick Wormald, The Making of English Law. King Alfred to the Twelfth Century. 1: Legislation and its Limits, Oxford 2001, S. 77 – 79. 10 Hermann Nehlsen, Zur Aktualität und Effektivität der ältesten germanischen Rechtsaufzeichnungen, in: Peter Classen (Hrsg.), Recht und Schrift im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 23), Sigmaringen 1977, S. 449 – 502. 11 Karl Ubl, Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs. Die Lex Salica im Frankenreich (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 9), Ostfildern 2017. 12 Marie-Thérèse Morlet, Les noms de personne sur le territoire de l’ancienne Gaule du VIe au XIIe siècle. 2: Les noms latins ou transmis par le latin, Paris 1972, S. 77. 13 Vgl. Stefan Esders, Römische Rechtstradition und merowingisches Königtum. Zum Rechtscharakter politischer Herrschaft in Burgund im 6. und 7. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 134), Göttingen 1997; zur Überlieferung römischrechtlicher Handschriften aus Autun bzw. Burgund vgl. Pierre Ganivet, L’„épitome de Lyon“. Un témoin de la réception du Bréviaire dans le Sud-Est de la Gaule au VIe siècle?, in: Bruno Dumézil/Michel Rouche (Hrsg.), Le Bréviaire d’Alaric. Aux origines du Code civil
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spruch auf persönliche Freiheit begründen zu können? Warum war die Frage der ständischen Freiheit von der Frage der ethnischen Zugehörigkeit abhängig? Und wie kam es überhaupt dazu, dass im Frankenreich unterschiedliche Rechtsordnungen nebeneinander Geltung besaßen? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich zuerst in sehr groben Strichen die historischen Entwicklungen skizzieren, welche die einzigartige Form von Rechtspluralismus hervorgebracht haben, die das Frankenreich prägte. In einem zweiten Teil werde ich darlegen, wie dieser Rechtspluralismus unter Karl dem Großen einerseits zur Rechtfertigung des imperialen Selbstverständnisses genutzt, andererseits aber durch die neue Form der Kapitulariengesetzgebung in Frage gestellt wurde. Zuletzt werde ich auf den Rechtsstreit des Maurinus zurückkommen und mit Bezug auf die Kampagne Ludwigs des Frommen eine Erklärung für die Vermengung von ständischer und ethnischer Zugehörigkeit anbieten. 2. Das Frankenreich unterschied sich von den anderen Königreichen des frühen Mittelalters durch eine besondere Form des Rechtspluralismus.14 Die Könige der Westgoten, Ostgoten und Burgunder benutzten das Recht zur Staatsbildung. Sie erließen Konstitutionen, die in unterschiedlichem Ausmaß auf römisches Recht zurückgriffen und die für das gesamte Territorium ihrer Herrschaft Geltung beanspruchten. Später organisierten sie die Konstitutionen in Rechtsbüchern und befahlen ihre Einhaltung im gesamten Königreich. Daneben beließ man das römische Recht weiterhin in Geltung, sofern es nicht zum neuen königlichen Recht in Widerspruch stand. Bei den Westgoten und Burgundern wurden eigens Kodifikationen des römischen Rechts aufgezeichnet, um in dieser Hinsicht Rechtssicherheit zu gewährleisten. Ein Volksrecht ist daraus nicht entstanden. Das Frankenreich nahm dagegen aus zwei Gründen eine andere Entwicklung: Erstens entstand die Kodifikation bei den Franken unter besonderen historischen Bedingungen. Während bei Ostgoten, Westgoten und Burgunder zuerst Konstitutionen entstanden, die dann in Kodifikationen zusammengefasst wurden, stand bei den Franken mit der Lex Salica eine Kodifikation am Anfang. Dieses Rechtsbuch wurde auch nicht auf dem Höhepunkt der Emanzipation vom römischen Reich als ein Monument der staatlichen Souveränität niedergeschrieben wie bei den anderen poströmischen Königreichen, sondern in einer Situation der militärischen Defensive, als die Franken in den 470er und frühen 480er Jahren von den Westgoten aus dem (Cultures et civilisations médiévales 44), Paris 2008, S. 279 – 328; Alain Dubreucq, Le Bréviaire d’Alaric de Couches-les-Mines et l’influence aquitaine en Burgondie, in: ebd., S. 161 – 178. 14 Der folgende Überblick beruht auf meinem in Anm. 11 zitierten Buch. Einen neueren Überblick werden im Druck befindliche Aufsätze von Stefan Esders und Helmut Reimitz bieten, die mir die Autoren dankenswerter Weise zur Verfügung stellten: Legalizing ethnicity: The remaking of citizenship in post-Roman Gaul (6th–7th centuries), in: Els Rose/Cédric Brélaz (Hrsg.), Civic Identity and Civic Participation in Late Antiquity and the Early Middle Ages (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 31), Turnhout 2021; Diversity and convergence: the accommodation of ethnic and legal pluralism in the Carolingian Empire, in: Walter Pohl (Hrsg.), Empires and Communities in the Post-Roman and Early Islamic World (im Druck).
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Zentrum Galliens vertrieben wurden. In dieser Zeit der Defensive war es geboten, sich auf die eigenen Traditionen zu besinnen und das fränkische Gewohnheitsrecht festzuschreiben. Rom konnte nach dem Untergang des Kaisertums im Westen und dem Rückzug aus Gallien nicht mehr als Bezugspunkt dienen. Zu diesem Zeitpunkt ließ entweder Childerich oder sein Sohn Chlodwig die Lex Salica als ein Monument der Alterität aufzeichnen: Die Franken übernahmen nicht römisches Recht, sondern zeichneten ein barbarisches Gewohnheitsrecht auf, das die Alterität der Franken akzentuierte. Das Rechtsbuch war somit an die Franken gerichtet und sollte einen Hort fränkischer „Freiheiten“ festschreiben: Franken genießen darin ein hohes Wergeld, sie sind weder körperlicher Strafe noch einem Gerichtsurteil durch Überführung und Zeugenbeweis unterworfen und müssen sich nicht einer königlichen Strafgewalt unterordnen. Das Königtum tritt im Rahmen des Rechtsbuchs überhaupt nicht als Ordnungsmacht auf, vielmehr glänzt es in der Stilisierung der Normen durch Abwesenheit, obwohl die spezifischen Interessen des Königs durchaus berücksichtigt werden. Die Lex Salica gibt sich als eine Aufzeichnung fränkischen Rechts durch fränkische Richter. Der später aufgezeichnete Prolog schreibt das Rechtsbuch dem gemeinschaftlichen Beschluss der Franken und ihrer Großen zu, die „vier Männer aus dem Volk mit den Namen Wisogast, Arogast, Salegast und Widogast ausgewählt haben, die auf drei Gerichtsversammlungen zusammenkamen, alle Ursachen von Rechtsfällen sorgfältig berieten und über die einzelnen das Urteil beschlossen.“15 Die Lex Salica hat die Form eines Volksrechts, bei dem der König vollkommen in den Hintergrund tritt. Aus dieser historischen Entstehungssituation ergab sich, dass der merowingische König nicht eine Kodifikation in römischer Form, sondern ein Volksrecht der Franken aufzeichnen ließ. Der zweite Grund für die Entwicklung des Rechtspluralismus im Frankenreich hängt mit dem Ineinander von Eroberung und Integration zusammen, das die fränkische Expansion im 6. Jahrhundert kennzeichnete.16 Die Frankenkönige erweiterten das Territorium weit über das ursprüngliche Siedlungsgebiet der Franken im Nordosten Galliens hinaus und errichteten ein Großreich, das sich von den Pyrenäen bis zur Elbe erstreckte. Bereits der Reichsgründer Chlodwig setzte ein Beispiel, indem er nach dem Sieg über den König der Römer Syagrius mit den verbliebenen römischen Truppen Nordgalliens ein Bündnis einging und ihnen die Beibehaltung ihrer Rechtsordnung zusicherte.17 Derselbe Pragmatismus lag der Integration des westgotischen
15 Pactus legis Salicae, prol., ed. Karl August Eckhardt (MGH LL nat. Germ. 4/1), Hannover 1962, S. 3; vgl. Wolfgang Haubrichs, Namenbrauch und Mythos-Konstruktion. Die Onomastik der Lex-Salica-Prologe, in: Uwe Ludwig (Hrsg.), Nomen et fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag (Ergänzungsbände zum RGA 62), Berlin 2008, S. 53 – 80. 16 Vgl. hierzu Esders/Reimitz, Legalizing ethnicity. 17 Vgl. Stefan Esders, Nordwestgallien um 500. Von der militarisierten spätrömischen Provinzgesellschaft zur erweiterten Militäradministration des merowingischen Königtums, in:
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und des burgundischen Reichs in Gallien zugrunde. Obwohl Chlodwig die Westgoten im Jahr 507 auf dem Schlachtfeld besiegte und ihren König Alarich II. töten ließ, blieb die Kodifikation der ehemaligen Feinde in Geltung. Der Name Alarichs II. prangte in den folgenden Jahrhunderten in allen Handschriften des Rechtsbuchs über dem Prolog, obwohl der König von den Chronisten der Zeit als Feind der Franken und als Anhänger des homöischen Christentums diffamiert wurde.18 Bei der Eroberung des Burgunderreichs sind die Franken genauso vorgegangen. Was König Gundobad als Liber constitutionum für Burgunder und Römer veröffentlicht hatte, wurde im Frankenreich als Lex Gundobada zum Recht der Burgunder, auch wenn Gundobad als Häretiker galt. Dieser Pragmatismus spielte sich im Laufe des 6. Jahrhunderts ein, wurde aber erst ein Jahrhundert später reflektiert und zum Prinzip der rechtlichen Organisation des Frankenreichs erhoben. Im Rechtsbuch für die Kölner Franken, der Lex Ribuaria, verordnete der König: „Wir verkünden aber, dass innerhalb des Gaus Ribuarien Franken, Burgunder, Alemannen und Leute anderer Herkunft, die vor Gericht angeklagt wurden, so antworten, wie es das Recht des Ortes enthält, wo sie geboren sind.“19 Jeder Einwohner des Frankenreichs konnte somit die Beachtung seines Geburtsrechts einfordern, auch wenn er sich fern von seiner Heimat aufhalten sollte. Bei der Einsetzung von Amtsträgern befahl der merowingische König regelmäßig die Einhaltung des Rechts der jeweils ansässigen ethnischen Gruppe: „Das ganze Volk, das unter deiner Leitung und Regierung lebt, seien es Franken, Römer, Burgunder oder Angehörige anderer Nationen, sollst du gemäß ihrem Recht und ihrer Gewohnheit auf dem richtigen Weg lenken.“20 Mitte des 8. Jahrhunderts fasste der Prolog der Lex Baiuvariorum den Rechtspluralismus des Frankenreiches kurz und bündig zusammen: „Jedes Volk wählt seine eigene Rechtsordnung aus der Gewohnheit.“21 3. Das Frankenreich hatte somit bis in die Zeit Karls des Großen keine eigene, das gesamte Territorium umspannende Rechtsordnung. Die Könige bildeten zwar das Recht der Franken in wenigen ergänzenden Kapiteln fort, erließen aber nur in AusMischa Meier/Steffen Patzold (Hrsg.), Chlodwigs Welt. Organisation von Herrschaft um 500 (Roma aeterna 3), Stuttgart 2014, S. 339 – 361. 18 Bruno Saint-Sorny, La fin du roi Alaric II: le roi arien, objet d’une damnatio memoriae sous les Mérovingiens?, in: Michel Rouche/Giles Constable (Hrsg.), Auctoritas. Mélanges offerts à Olivier Guillot, Paris 2006, S. 193 – 204. 19 „Hoc autem constituimus, ut infra pago Ribuario tam Franci, Burgundiones, Alamanni seu de quacumque natione commoratus fuerit, in iudicio interpellatus sicut lex loci contenet, ubi natus fuerit, sic respondeat.“ Lex Ribuaria 35, 3, ed. Franz Beyerle/Rudolf Buchner (MGH LL nat. Germ. 3/2), Hannover 1954, S. 87. 20 „Omnis populus ibidem commanentes tam Franci, Romani, Burdungionis vel reliquas nationis, sub tuo regimine et gubernatione degant et moderentur et eos recto tramite secundum lege et consuetudine eorum regas.“ Formulae Marculfi I 8, ed. Karl Zeumer (MGH Formulae), Hannover 1886, S. 48. 21 „Deinde unaquaque gens propriam sibi ex consuetudine elegit legem.“ Lex Baiuvariorum, prol., ed. Ernst von Schwind (MGH LL nat. Germ. 5/2), Hannover 1926, S. 200.
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nahmefällen Gesetze kirchlichen Inhalts, die für das ganze Königreich Wirkung entfalten sollten.22 Die Merowinger achteten vielmehr auf die Anerkennung der regionalen Rechtsordnungen, die als Ausdruck ethnischer Zugehörigkeiten betrachtet wurden. Die Karolinger nahmen an dieser Rechtspolitik keine Änderungen vor, als sie 751 die Merowinger vom Königtum verdrängten. Der erste karolingische König Pippin der Jüngere sicherte 759 bei der Eroberung von Narbonne den gotischen Bewohnern der Stadt ihr Recht zu, wenn sie sich nach der Vertreibung der sarazenischen Besatzung ergeben sollten.23 Karl der Große verfuhr auf die gleiche Weise bei der Niederwerfung der Sachsen. Nachdem er drei Jahrzehnte gegen sie Krieg geführt und sie durch Hinrichtungen, Deportationen und Zwangstaufen niedergerungen hatte, veranlasste er die Aufzeichnung des sächsischen Gewohnheitsrechts in der Lex Saxonum.24 Karl der Große ging noch konsequenter vor als seine merowingischen Vorgänger, indem er nach der Kaiserkrönung in den Jahren 802/803 die Verschriftlichung aller Volksrechte veranlasste.25 In diesen Jahren entstanden nicht nur die Lex Saxonum, sondern auch das Rechtsbuch der Friesen, das Rechtsbuch der Thüringer und das Rechtsbuch der Schwaben.26 Diese Konsequenz Karls des Großen erklärt sich zum einen aus den Zielen der karolingischen Bildungsreform, die in vielen Bereichen eine Aufwertung der Schriftsprache und des Geschriebenen herbeiführte. Zum anderen wurde damit auch das imperiale Selbstverständnis Karls des Großen zum Ausdruck gebracht, der sich auf diese Weise als christlicher Herrscher über eine Vielzahl von Völkern in Szene setzen konnte.27 Unter Karl dem Großen war somit der Zustand erreicht, dass alle Völker des neuen Imperiums über ein eigenes schriftliches Rechtsbuch verfügten. Dennoch darf diese Tatsache nicht über den hohen Abstraktionsgrad dieser Volksrechte hinwegtäuschen. Die rechtspolitische Leitidee, jedem Volk ein eigenes Rechtsbuch zuzubilligen, bedeutet nicht, dass tatsächlich innerhalb der Territorien 22 Zu diesem Unterschied vgl. Karl Kroeschell, Recht und Gericht in den merowingischen „Kapitularien“, in: La giustizia nell’alto Medioevo (secoli V–VIII) (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 42), Spoleto 1995, S. 737 – 765. 23 Chronicon Moissiacense, in: Walter Kettemann, Subsidia Anianensia. Überlieferungsund textgeschichtliche Untersuchungen zur Geschichte Witiza-Benedikts, seines Klosters Aniane und zur sogenannten „anianischen Reform“. Mit kommentierenden Editionen der Vita Benedicti Anianensis, Notitia de servitio monasteriorum, des Chronicon Moissiacense/Anianense sowie zweier Lokaltraditionen aus Aniane, Duisburg (Diss.) 2000, S. 36. 24 Matthias Springer, Die Sachsen, Stuttgart 2004, S. 219 – 250. 25 Einhard, Vita Karoli c. 29, ed. Georg Waitz/Oswald Holder-Egger (MGH SS rer. Germ. 25), Hannover/Leipzig 1911, S. 33. 26 Zum Recht der Schwaben vgl. Karl Ubl, Recht in der Region. Die Rezeption von leges und capitula im karolingischen Alemannien, in: Jürgen Dendorfer u. a. (Hrsg.), 817 – Die urkundliche Ersterwähnung von Villingen und Schwenningen. Alemannien und das Reich in der Zeit Kaiser Ludwigs des Frommen (Veröffentlichung des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 83), Ostfildern 2016, S. 207 – 223. 27 Ubl, Sinnstiftungen, S. 174 – 194.
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eine rechtliche Gleichförmigkeit bestand. Wie uns die lange Diskussion über ethnische Identitäten im frühen Mittelalter gelehrt hat, sind Völker situative Zuschreibungen, die auf einer spezifischen Weltsicht beruhen, in der soziale Gruppen nach ethnischen Identitäten geordnet werden. Zuletzt hat Walter Pohl eindringlich die prekäre Natur der Ethnizität hervorgehoben und ihre Stabilisierung auf die Überlappung ethnischer Identität mit anderen Identitäten zurückgeführt wie Religion, Reich und städtischen oder regionalen Gemeinschaften.28 Auch das Recht spielte meines Erachtens bei der Stabilisierung ethnischer Identitäten eine erhebliche Rolle. Die Lex Salica hat die prekäre Einheit der Franken, die im 4. Jahrhundert noch als eine Sammlung unterschiedlicher älterer Völker verstanden wurden, mit einer eigenen Rechtsidentität überwölbt und gestärkt.29 In der Praxis blieb dagegen eine Vielfalt erhalten, die auf eine unterschiedlich starke Aneignung oder Veränderung römischrechtlicher Traditionen zurückgeht und die uns in den Urkunden und Formelsammlungen entgegen tritt.30 Der hohe Abstraktionsgrad der Volksrechte kommt am deutlichsten in der Lex Frisionum zum Ausdruck, deren Entstehungsprozess in der unfertig gebliebenen Kodifikation sichtbar geblieben ist.31 Der Prozess der Niederschrift des friesischen Rechts wurde vom fränkischen Königtum angestoßen. Als Vorlage zog man die Lex Alamannorum heran, um einen Katalog von Normen bereitzustellen, anhand derer die Rechtskundigen von Friesland befragt werden konnten. Bei der Befragung traten allerdings deutliche Unterschiede zutage. Die Redaktoren der Lex Frisionum kamen zu dem Schluss, dass sich die Bußzahlungen in Ost-, West- und Mittelfriesland deutlich unterscheiden. Auch zwischen den Rechtskundigen wurden Diskrepanzen erkennbar. Das Rechtsbuch gab die divergierenden Stellungnahmen zweier Rechtskundiger, Wlemundus und Saxmundus, zu Protokoll. Da es nicht zu einer abschließenden Redaktion des friesischen Rechts kam, blieben diese Ungereimtheiten stehen. Was in anderen Rechtsbüchern in geglätteter Fassung auf uns gekommen ist, erweckt somit den Eindruck einer rechtlichen Gleichförmigkeit, die in der Praxis wohl kaum bestanden hat. Die Volksrechte des Frankenreichs waren nützliche Konstruktionen, da sie der Rechtspolitik der Frankenkönige entsprungen sind. Das Frankenreich beruhte auf der Anerkennung der Eigenständigkeit der Völker, deren Territorien durch gentile Rechtsbücher stabilisiert wurden. 28
Walter Pohl, Introduction. Strategies of Identification: A Methodological Profile, in: Gerda Heydemann/ Walter Pohl (Hrsg.), Strategies of Identification. Ethnicity and Religion in Early Medieval Europe (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 13), Turnhout 2013, S. 1 – 64. 29 Ubl, Sinnstiftungen, S. 67 – 89. 30 Vgl. Alice Rio, Legal practice and the written word in the Early Middle Ages. Frankish Formulae, c. 500 – 1000, Cambridge 2009; Alexandre Jeannin, Vigor actorum. La mise en forme romanisante de la pratique, in: Soazick Kerneis (Hrsg.), Une histoire juridique de l’Occident: IIIe–IXe siècle: le droit et la coutume, Paris 2018, S. 249 – 300. 31 Harald Siems, Studien zur Lex Frisionum (Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 42), Ebelsbach 1980.
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Dem Königtum blieben in dieser Rechtsordnung kaum Handlungsspielräume. Betrachtet man den Inhalt der unter Karl dem Großen aufgezeichneten Rechtsbücher, ist eine königliche Rechtspolitik nur ganz am Rande erkennbar.32 Was vielmehr aufgezeichnet wurde, war das jeweilige Gewohnheitsrecht, wie es von Kommissionen auf der Grundlage von nur undeutlich erkennbaren Vorlagen erfragt worden war. Selbst die Vereinheitlichung der Münzprägung durch Karl den Großen, die wie kaum ein anderes Beispiel die Effektivität königlicher Reformpolitik veranschaulichen kann33, schlägt sich in den Rechtsbüchern der Nordostprovinzen des Frankenreichs nicht nieder. Thüringer, Sachsen und Friesen bezeichneten weiterhin die umlaufenden Münzen mit unterschiedlichen Begriffen und verwendeten verschiedene Recheneinheiten. Die Idee des gentilen Rechts schloss somit den König von aktiven Eingriffen in die Rechtsordnung weitgehend aus. Damit konnte sich Karl der Große, der weit reichende Pläne der Reform von Recht, Kirche und Bildung hegte, nicht zufriedengeben. In seinen Anfangsjahren entwickelte er daher eine neue Form der Normsetzung, die in der Forschung als Kapitulariengesetzgebung bezeichnet wird.34 Der Fachterminus Kapitularien hat deshalb seine Berechtigung, weil Karl nicht auf Dauer geltende Gesetze verabschieden, sondern ein flexibles Instrument der Durchsetzung von Maßnahmen schaffen wollte, das ihm ermöglichte, eine regelmäßige und zweiseitige Kommunikation zwischen dem Hof und seinen regionalen Amtsträgern zu etablieren. Dafür prägte Karl der Große in seinem ersten normgebenden Text den Begriff capitulare, mit der üblicherweise eine Liste von Kapiteln oder ein Legationsmandat bezeichnet wurde. Die Kapitularien nennen in seltenen Fällen den Urheber oder das Datum der Normgebung, sondern bestehen meistens nur aus einer Liste von Satzungen ohne Kontextinformationen. Die Schriftform war ein bloßes Hilfsmittel für die weitgehend mündliche Verkündigung der Satzungen auf den königlichen Reichsversammlungen und den lokalen Gerichtstagen. Was den Inhalt der Kapitularien anbelangt, legte sich Karl der Große keine Einschränkung auf. Die Kapitularien betrafen rechtliche, administrative, kirchliche, moralische und erzieherische Belange ebenso wie hochpolitische Angelegenheiten. Je mehr Kapitularien die karolingischen Herrscher aufzeichnen und verbreiten ließen, desto deutlicher zeichnete sich eine eigene königliche Rechtsordnung ab. 32 Ausführlich hierzu Karl Ubl, The Limits of Government: Wergild and Legal Reforms under Charlemagne, in: Lukas Bothe/Stefan Esders/Han Nijdam (Hrsg.), Wergild, Compensation, and Penance. The Monetary Logic of Early Medieval Conflict Resolution [im Druck]. 33 Simon Coupland, Charlemagne and his Coinage, in: Rolf Große/Michel Sot (Hrsg.), Charlemagne. Les temps, les espaces, les hommes. Construction et déconstruction d’un règne (Collection Haut Moyen Âge 34), Turnhout 2018, S. 427 – 451. 34 Vgl. Hubert Mordek, Karolingische Kapitularien, in: ders. (Hrsg.), Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 4), Sigmaringen 1986, S. 25 – 50; Jennifer Davis, Charlemagne’s Practice of Empire, Cambridge 2015, S. 278 – 289; mit anderen Akzenten: Steffen Patzold, Wie regierte Karl der Große?, Köln 2020. Eine vollständige Bibliographie unter https://www.capitularia. uni-koeln.de.
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Dieser Prozess begann schon in der Zeit Karls des Großen, erreichte aber unter Ludwig dem Frommen eine neue Dimension.35 Es entwickelte sich ein eigenes Genus der Kapitularien, innerhalb dessen die Texte aufeinander Bezug nehmen, Themen weiterentwickeln und ältere Regelungen verändern. Die gentile Rechtsordnung blieb dabei als Substrat erhalten, auf das sich die Kapitularien regelmäßig bezogen, wenn die konkrete Umsetzung vor Ort an die jeweils geltenden Rechtsbücher angebunden wurde. Darüber hinaus begannen die Amtsträger Sammlungen von Kapitularien anzulegen, da die Herrscher von ihnen erwarteten, über die neuesten Verordnungen des Kaisers informiert zu sein.36 Diese Sammlungen hatten in der Regel weder eine strikt chronologische noch eine sachliche Ordnung, sondern spiegelten die Interessen und die Kenntnisse einzelner Amtsträger wider. Daraus entwickelte sich eine bunte Vielfalt von heterogenen Sammlungen. Im Jahr 827 nahm sich der Abt Ansegis von Fontenelle dieses Problems an und schuf eine Sammlung von Kapitularien Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, die er nach kirchlichen und weltlichen Angelegenheiten gliederte.37 Sie fand kurze Zeit später die Anerkennung Ludwigs des Frommen und verdrängte im Lauf des 9. Jahrhunderts weitgehend die lokalen Kompilationen. In der Sammlung des Ansegis war kein Platz mehr für ein gentiles Recht. Vielmehr forderte er in der Einleitung, die Kapitularien der Könige wie eine lex zu behandeln. Damit hatte sich im 9. Jahrhundert das herausgebildet, was andere Nachfolgereiche wie diejenigen der Burgunder, der Ost- und Westgoten bereits unmittelbar nach dem Ende des weströmischen Reiches erreicht hatten: eine königliche Rechtsordnung, die für das gesamte Reichsgebiet Geltung beanspruchte. Die Idee des gentilen Rechts lebte im 10. Jahrhundert nur in der Rechtspraxis Italiens weiter. Dort war es nach der Eroberung Karls des Großen und der massiven Einwanderung von Franken, Alemannen und Baiuwaren üblich geworden, vor Gericht das Bekenntnis zur eigenen gentilen Rechtsordnung zu verlangen, die sogenannte professio iuris.38 Die von mir eingangs erwähnte Urkunde ist eines der frühesten Zeugnisse einer professio iuris und darüber hinaus eines der wenigen Beispiele 35
Ubl, Sinnstiftungen, S. 193 – 219. Vgl. Hubert Mordek, Fränkische Kapitularien und Kapitulariensammlungen, in: ders., Studien zur fränkischen Herrschergesetzgebung. Aufsätze über Kapitularien und Kapitulariensammlungen ausgewählt zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 2000, S. 1 – 53; Philippe Depreux, Charlemagne et les capitulaires. Formation et réception d’un corpus normatif, in: Rolf Große/Michel Sot (Hrsg.), Charlemagne, S. 19 – 41. 37 Gerhard Schmitz, „… pro utile firmiter tenenda sunt lege“. Bemerkungen zur Brauchbarkeit und zum Gebrauch der Kapitulariensammlung des Ansegis, in: Dieter R. Bauer u. a. (Hrsg.), Mönchtum – Kirche – Herrschaft 750 – 1000. Josef Semmler zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1998, S. 213 – 229; Die Kapitulariensammlung des Ansegis, ed. Gerhard Schmitz (MGH Capit. N. S. 1), Hannover 1996. 38 Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 396 – 398; François Bougard, La justice dans le Royaume d’Italie de la fin du VIIIe siècle au début du XIe siècle (Bibliothèque des Ecoles Françaises d’Athènes et de Rome 291), Roma 1995; Esders/Reimitz, Diversity and Convergence. 36
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des 9. Jahrhunderts außerhalb Italiens.39 Damit kehre ich zur Leitfrage meines Beitrags zurück: Warum wurde im burgundischen Autun ein Rechtsbekenntnis vom angeklagten Maurinus verlangt? 4. Der Prozess war mit dem oben erwähnten Gerichtstag, der an einem Freitag im Dezember 815 stattfand, nicht zu Ende. Nachdem Maurinus die Zugehörigkeit zum Fiskalgut von Perrecy zurückgewiesen und auf seiner persönlichen Freiheit gemäß der Lex Salica beharrt hatte, rief der Kläger Fredelus den Kaiser an, damit er seine Klage gemäß den Gesetzen beweisen dürfe. Daraufhin wurde dem Kläger Fredelus auferlegt, auf dem nächsten Gerichtstag nach 40 Nächten entweder den Anspruch mit Zeugen zu beweisen oder die Klage zurückzuziehen. Die Entscheidung erfolgte nicht auf dem nächsten Gerichtstag, sondern erst 16 Monate später. Im April 817 traf der Kläger Fredelus in der Stadt Autun erneut auf den vermeintlichen Unfreien Maurinus. Die Verhandlung wurde dieses Mal vor dem Vizegraf Blitgarius geführt. Fredelus brachte zwölf Zeugen vor. Nach „eingehender Untersuchung“ legten sie die Hände auf den Altar der Abteikirche Saint-Jean und leisteten den folgenden Eid: „Wir sahen Madalenus, den Vater dieses Maurinus, wie er im Dienst von Hildebrand und Fredelonus als Unfreier diente. Und als der Herr Karl starb und dem Herrn Ludwig denselben Besitz hinterließ, übertrug er ihn als Unfreien. Und deswegen muss Maurinus nach den Gesetzen mehr ein Unfreier des Hildebrand und des Fredelonus von ihrem Leihegut Perrecy sein als ein Freier. So uns Gott helfe und dieser Heilige, sind wir wahrhaftige Zeugen und leisten ein wahres Zeugnis über den genannten Maurinus.“40 Die Berufung auf das Recht der Franken war somit für Maurinus nicht von Erfolg gekrönt. Desto dringender stellt sich die Frage, warum der Streit um Freiheit mit der Zugehörigkeit zum gentilen Recht verknüpft wurde. Um das Dokument richtig einordnen zu können, ist zunächst auf seine enge Verwandtschaft mit dem Formular für Prozesse um Freiheit hinzuweisen. Bereits in der frühesten Formelsammlung aus Angers ist ein solches Formular überliefert, in dem auf Klage und Widerspruch (interpellatio und denegatio) der Eid des Angeklagten mit 12 Eidhelfern folgt.41 Wie im Prozess des Maurinus werden dafür zwei Dokumente bereitgestellt: eine Gerichtsurkunde und ein Protokoll über den Eid (notitia). Dieses Formular ist aber noch deutlich an spätrömischen Vorbildern orientiert, weil der Angeklagte in seinem Eid auf die römischrechtliche Frist der Verjährung Bezug nimmt. Er wies die Klage erfolgreich zurück, indem er die Freiheit von Knechtschaft
39 Walther Kienast, Studien über die französischen Volksstämme des Frühmittelalters (Pariser historische Studien 7), Stuttgart 1968, S. 151 – 159. 40 „Quod nos vidimus Madaleno, genitore ipsius Maurino, in servicio Hildebranno vel Fredelono servire ad servo, et quando domnus Karolus moriens dereliquit domno Ludovico ad servo de ipso vestito dimisit, et pro haec Maurinus legibus plus debet esse servus Hildebranno vel Fredelono de suum beneficium de Patriciaco quam ingenuus adessere. Sic deus nos adjutor sit et iste sanctus, nos veri testes sumus et verum testimonium de jam dicto Maurino perportamus.“ Recueil des chartes de l’abbaye de Saint-Benoît-sur-Loire, Nr. 11, S. 27. 41 Formulae Andecavenses 10 a+b, MGH Formulae, S. 8.
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für den Zeitraum von 30 Jahren für sich beanspruchte.42 Allein die folgende Bekräftigung durch den Verwandteneid dürfte erst innerhalb des Frankenreichs entstanden sein.43 Spätere Formelsammlungen aus dem Bereich des fränkischen Rechts fassen das Verfahren in eine einzige Gerichtsurkunde zusammen.44 Daneben wird das Formular erweitert, indem die sogenannte Gerichtshalterformel inseriert und die Anwesenheit von Schöffen erwähnt wird. Dem fränkischen Recht entsprechend fällt der Bezug auf die Verjährung nach 30 Jahren weg. Der Kläger macht seinen Anspruch vielmehr mit der Behauptung geltend, bereits ein Elternteil des Angeklagten habe Dienste als Unfreier geleistet. Darüber hinaus enthält der Widerspruch des Angeklagten einen Verweis auf das fränkische Recht. Im Eid soll er sich als „frei nach der Lex Salica“45 oder als „ingenuus et Salicus“46 bekennen. Die zwölf Eidhelfer müssen ebenso fränkischer Herkunft sein und sollen teils aus der mütterlichen, teils aus der väterlichen Verwandtschaft genommen werden. Sie haben also nicht nur die Funktion der Unterstützung des Eides, sie bezeugen auch die Freiheit der Eltern des Angeklagten, da sie selbst frei und eidfähig sein mussten. Diese Formulare beruhen auf der Geltung des Prinzips der „ärgeren Hand“, das sich im spätantiken römischen Recht herausgebildet hatte und in allen Nachfolgereichen des frühen Mittelalters fortdauerte.47 Dieses Prinzip besagt, dass ein Elternteil unfreier Herkunft ausreicht, um die Nachkommen dem Stand der Unfreien zuzuord42
Zum Hintergrund vgl. Stefan Esders, Der Verjährungstitel des Liber iudiciorum (L.Vis. X, 2) und die politischen Implikationen des Ersitzungsgedankens im Westgotenreich, in: Ignacio Czeguhn u. a. (Hrsg.), Wasser – Wege – Wissen. Eine Annäherung an das Studium der Wasserkultur von der römischen Antike bis zur islamischen Zeit (Berliner Schriften zur Rechtsgeschichte 8), Baden-Baden 2018, S. 57 – 86. 43 Zum klassischen römischen Recht besteht freilich keine Verbindung: Miriam Indra, Status quaestio. Studien zum Freiheitsprozess im klassischen römischen Recht (Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge 64), Berlin 2011. Zu Eidhelfern vgl. Stefan Esders, Der Reinigungseid mit Helfern. Individuelle und kollektive Rechtsvorstellungen in der Wahrnehmung und Darstellung frühmittelalterlicher Konflikte, in: ders. (Hrsg.), Rechtsverständnis und Konfliktbewältigung. Gerichtliche und außergerichtliche Strategien im Mittelalter, Köln 2007, S. 55 – 77. 44 Formulae Salicae Bignonianae 7, MGH Formulae, S. 230 = Formulae Salicae Merkelianae 32, ebd., S. 253. Das Vorgehen bei der Klage gegen einen Kolonen unterscheidet sich nicht: Cartae Senonicae 20, ebd., S. 194. 45 Formulae Salicae Lindenbrogianae 21, MGH Formulae, S. 282. 46 Formulae Salicae Merkelianae 28, MGH Formulae, S. 252. 47 Auch Prinzip der „deterior conditio“ genannt. Vgl. Wulf Eckart Voß, Der Grundsatz der „ärgeren Hand“ bei Sklaven, Kolonen und Hörigen, in: Okko Behrends (Hrsg.), Römisches Recht in der europäischen Tradition. Symposion aus Anlaß des 75. Geburtstages von Franz Wieacker, Ebelsbach 1985, S. 117 – 184. Für Bayern: Carl I. Hammer, A Large-Scale Slave Society of the Early Middle Ages. Slaves and their Families in Early Medieval Bavaria, Aldershot 2002, S. 30. Das Prinzip „partus sequitur ventrem“ galt in dieser Zeit folglich nicht, anders: Janet Nelson, Dispute settlement in Carolingian West Francia, in: Wendy Davies/Paul Fouracre (Hrsg.), The Settlement of Disputes in Early Medieval Europe, Cambridge 1986, S. 45 – 64, hier 51.
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nen. In manchen Formularen wurde dieses Prinzip sogar so weit ausgedehnt, dass bereits die unfreie Herkunft eines Großvaters oder einer Großmutter für den Beweis der Unfreiheit ausreichte.48 Aus diesem Grund war es erforderlich, die Freiheit sowohl von sechs Zeugen der väterlichen als auch von sechs aus der mütterlichen Verwandtschaft zu beweisen. In einem Kapitular Ludwigs des Frommen wird diese Praxis dahingehend verändert, dass acht Zeugen von derjenigen Seite stammen müssen, bei der die Klage eine unfreie Herkunft behauptet.49 Dies muss als eine Erschwernis für den Angeklagten betrachtet werden. In der Formelsammlung von Sens aus der Zeit um 820 ist diese Neuerung umgehend aufgegriffen worden.50 Die Gerichtsurkunde im Prozess des Maurinus lehnt sich zum Teil wörtlich an die Formelbücher an. Der große Unterschied besteht jedoch darin, dass in den Formularen jeweils der Angeklagte selbst die Chance auf Beweis durch den Verwandteneid bekam. Dies entsprach der fränkischen Gerichtsverfassung, in der die Überführung von freien Franken durch Gegenzeugen nicht vorgesehen war. Auch wenn die Lex Salica keine ausdrückliche Regelung hierzu enthält, bestätigen Rechtsquellen des 9. Jahrhunderts dieses Prinzip. In der Ewa ad Amorem, einem Rechtsbuch für die Franken im Grenzgebiet zu Sachsen und Friesen, heißt es: „Wenn jemand einen freien Mann zum Dienst einklagt, schwöre er mit 12 Menschen aus seinen nahen Verwandten auf Reliquien und erweise sich so als frei oder er falle in Knechtschaft.“51 Eine Erweiterung zur Lex Salica aus der Zeit Ludwigs des Frommen enthält die ausdrückliche Regelung, dass eine Überführung in Prozessen um Erbschaft und um Freiheit nicht möglich ist.52 Maurinus durfte jedoch nach seinem Widerspruch nicht gemeinsam mit seinen Zeugen den Eid leisten, vielmehr forderte das Gericht nach der Appellation an den Kaiser den Kläger auf, zwölf Zeugen für die Unfreiheit des Maurinus beizubringen und ihn so des unwahren Zeugnisses zu überführen. Warum kam es zu dieser Umkehr der Beweispflicht? 5. Der Grund für die Bevorzugung des Klägers liegt in dem Status von Perrecy als Fiskalbesitz. Karl der Große erteilte wiederholt den Auftrag an seine Amtsträger, mit
48 Formulae Salicae Bignonianae 7, MGH Formulae, S. 230; Formulae Salicae Lindenbrogianae 21, MGH Formulae, S. 282; Formulae Senonenses recentiores 5, MGH Formulae, S. 212. 49 Capitula incerta c. 2, ed. Alfred Boretius (MGH Capit. 1), Hannover 1883, S. 315. Genau die umgekehrte Regelung (nur vier Zeugen von der vermeintlich unfreien Seite) überliefert das Italienische Fragment c. 2: Pactus legis Salicae. 1/2: Systematischer Text, ed. Karl August Eckhardt (Germanenrechte N. F. 1), Göttingen 1957, S. 366. 50 Formulae Senonenses recentiores 2 und 5, MGH Formulae, S. 211 f. 51 „Si quis hominem ingenuum ad servitium requirit, cum 12 homines de suis proximis parentibus in sanctis iuret et se ingenuum esse faciat aut in servitutem cadat.“ Ewa ad Amorem 12, ed. Rudolf Sohm (MGH Fontes iuris 6), Hannover 1883, S. 118. 52 „Contra suum caput et contra suam hereditatem non debet homo accipere testes.“ Italienisches Fragment c. 8, S. 370. Vgl. Heinrich Brunner/Claudius von Schwerin, Deutsche Rechtsgeschichte 2, Berlin 21928, S. 516.
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den Mitteln der Inquisitio den Besitz des Königs festzustellen und zu sichern.53 Als Kaiser machte er sogar die Wahrung des Fiskalbesitzes zum Teil des Treueides, den im Jahr 802 alle Einwohner des Frankenreichs auf den neuen kaiserlichen Titel leisten mussten.54 Damit griff er auf ein fiskalpolitisches Instrument zurück, das sich aus dem spätantiken Zentralstaat herleitet und welches im merowingischen Frankenreich nur ganz sporadisch in den Quellen begegnet. Die Inquisitio in Fiskalsachen hatte vor allem eine Besserstellung des Fiskus vor Gericht zur Folge: Der Amtsträger durfte Zeugen vor Gericht vorladen und auch gegen ihren Willen zur Aussage unter Eid verpflichten. Eine Anfechtung des Zeugnisses durch Zweikampf oder Gegenzeugnis war nicht möglich. Wie einfach es war, auf dieser Grundlage Personen wieder in den Stand der Unfreiheit zu drängen, zeigt ein früheres Dokument, an dem Fredelus als Zeuge beteiligt war.55 Im Jahr 796 war er zugegen, als der Vogt Moses vor den königlichen Missi Ansbertus und Hildebrandus einen Mann mit Namen Dodo anklagte, der die persönliche Freiheit für sich in Anspruch genommen hatte. Moses machte geltend, dass Dodo ein Unfreier sei und dem Fiskalgut Jeu im Gau von Autun angehöre. Auf Befragung konnte Dodo der Klage nichts entgegensetzen und warf sich dem Vogt zu Füßen. Eine Überführung war damit nicht mehr notwendig, fand aber in gleichartigen Fällen bei Widerspruch des Angeklagten statt.56 Das Vorrecht der fiskalischen Inquisitio erklärt daher die Umkehr der Beweispflicht im Fall des Maurinus. Man kann sich leicht vorstellen, wie dieser prozessuale Vorteil die königlichen Amtsträger zum Missbrauch geradezu ermutigte. Dass dem tatsächlich so war, belegt eine Vielzahl von Quellen aus dem Umfeld von Karls Sohn Ludwig dem Frommen. Der Dichter Ermoldus Nigellus berichtet darüber am eindrücklichsten in seiner Darstellung von Ludwigs Herrschaftsantritt im Jahr 814: „Gleich Sendboten erwählt er zu schicken sie über das Land hin, deren Wandel erprobt, denen getreu ist das Herz …, dass sie geschwind durchwandern die weiten Gebiete der Franken, dass sie Gerechtigkeit dort schaffen zugleich und Gericht. Denen, die drängte der Vater und drückender Dienst in des Vaters Zeit mit Bestechung und Trug, sollten sie Nachlass verleihen. O wie viel und treffliche Männer, die drückte das raue Recht und das goldene Gesetz, käuflich für schnöden Gewinn, hat er, der Mächtige befreit und ihnen die Ehre der Freiheit, seinem Vater zu Lieb, wieder von neuem verschafft. Und mit der eigenen Hand vollzieht er die Schenkung zu Urkund, dass allzeit sie danach halten sich könnten zu Recht. Während der kriegerische Vater die Reiche erwarb mit den Waffen, stets war auf Kriege bedacht, sinnend
53 Capitulare missorum specialia c. 19, MGH Capit. 1, S. 101; Capitula missorum in Theodonis villa datum secundum, generale c. 3, ebd., S. 122; Capitula Karoli magni c. 4, ebd., S. 143. Vgl. Stefan Esders, Die römischen Wurzeln der karolingischen inquisitio in Fiskalsachen, in: Claude Gauvard (Hrsg.), L’enquête au moyen âge (Collection de l’École française de Rome 399), Rom 2008, S. 13 – 28. 54 Capitulare missorum generale c. 4, MGH Capit. 1, S. 92. 55 Recueil des chartes de l’abbaye de Saint-Benoît-sur-Loire, Nr. 9, S. 23 f. 56 Siehe unten Anm. 69 – 72.
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auf diese allein, da wuchs auf dieses Übel in dichten Ähren gar vielfach. Du kamest darauf, Ludwig, und mähtest es ab.“57
Diese Worte waren nicht leere Panegyrik. Aus den frühen Kapitularien Ludwigs wissen wir, dass er sich für die Wiederherstellung von zu Unrecht entzogener Freiheit einsetzte. In jedem einzelnen Fall sollten die königlichen Kontrolleure, die missi dominici, auf ihren Reisen durch das Frankenreich überprüfen, ob Prozesse um Freiheit rechtmäßig vonstatten gegangen waren.58 Ludwig nahm auch seine eigenen Fiskalbeamten ins Visier, wenn sie Personen ohne Grund in die Unfreiheit gedrängt hatten. Solches Unrecht sollte sofort rückgängig und dem Kaiser bekannt gemacht werden. Daneben führte Ludwig besondere Vorsichtsmaßnahmen ein: Bei Prozessen um Freiheit durfte der Graf den Angeklagten nicht durch den Bann zum Erscheinen vor Gericht zwingen, sondern er musste sich an die Regeln der Parteiladung halten, wie sie in der Lex Salica festgelegt waren.59 Zudem konnte ein solcher Prozess nur im Heimatpagus des Angeklagten durchgeführt werden, weil allein dort informierte Zeugen zur Verfügung standen.60 Ludwig der Fromme bemühte sich somit um den Schutz von Personen, die zu Unrecht ihrer Freiheit verlustig gegangen waren. Das Vorrecht der Inquisitio in Fiskalsachen bestätigte er jedoch ebenso in seinen frühen Kapitularien.61 Die Urkunden bezeugen die Wirkung dieser Kampagne Ludwigs des Frommen. In die Formulae imperiales, eine Formelsammlung vom Hof des Kaisers, wurde eine ganze Reihe von Musterurkunden aufgenommen, in denen Ludwig die Wiederherstellung von persönlicher Freiheit verfügte. Die Nr. 14 der Formulae imperiales nimmt direkt auf die Aussendung der Königsboten nach dem Tod des Vaters 57
„Eligit extemplo missos, quos mittat in orbem, quorum vita proba sit, generosa fides, … qui peragrent celeres Francorum regna per ampla, justitiam faciant judiciumque simul, quos pater aut patris sub tempore presserat urguens servitium relevent munere sive dolo. O quantos qualesque viros, quos aspera jura lexque aurata premit atque potens precio, liberat ipse potens et libertatis honorem praestat habere sui Caesar amore patris. Atque suis manibus praefirmat munere chartas, degere quis cuncto tempore jure queant. Belliger ipse pater cum regna adquireret armis, intentus bellis assiduusque foret, tum vitium hoc passim spissis succrevit aristis; set tamen adveniens mox, Hludowice, secas.“ Edmond Faral, Ermold le Noir: Poème sur Louis le Pieux et epîtres au roi Pépin (Les classiques de l’histoire de France au Moyen Age 14), Paris 1932, S. 64 – 66; deutsche Übersetzung nach: Thomas G. Pfund/Wilhelm Wattenbach, Ermoldus Nigellus Lobgedicht auf Kaiser Ludwig und Elegien an König Pippin (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 32), Leipzig 21888, S. 31 f. 58 Capitula missorum c. 1 – 2, MGH Capit. 1, S. 288. Die historiographischen Quellen bestätigen dies: vgl. Annales regni Francorum a. 814, ed. Friedrich Kurze (MGH SS rer. Germ. 6), Hannover 1895, S. 141; Thegan, Gesta Hludowici imperatoris c. 13, ed. Ernst Tremp (MGH SS rer. Germ. 64), Hannover 1995, S. 194. 59 Capitula legi addita c. 2, MGH Capit. 1, S. 268. 60 Capitula legi addita c. 4, ebd., S. 268; Capitula legibus addenda c. 12, ebd., S. 283 f. 61 François Louis Ganshof, Les réformes judiciaires de Louis le Pieux, in: Comptes-rendus des séances de l’Académie des inscriptions et belles-lettres 1 (1965), S. 418 – 427; Britta Mischke, Kapitularienrecht und Urkundenpraxis unter Ludwig dem Frommen (814 – 840), Bonn 2013, S. 57 – 61.
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Bezug und begründet die Kampagne mit seiner Sorge um sein eigenes Seelenheil und um das seines Vaters. Die Gesandten hätten alle Taten „bösartiger Grafen, Richter und Königsboten“ genau untersucht und seien dabei auf den Fall eines Mannes aufmerksam geworden, der zu Unrecht in die Unfreiheit gedrängt worden war.62 Seine Person und seine Familie sollten von nun an von jedem Joch des Dienstes befreit sein und die alte Freiheit zurückerlangen. Weitere Urkunden aus den Formulae imperiales zeigen, dass Ludwig auch nicht vor der Überprüfung seines eigenen Fiskalbesitzes Halt machte. In Nr. 9 gab er der Klage eines gewissen Engelbert Recht, der behauptete, dass seine Großmutter Angelia vom Amtsträger Hildulf zu Unrecht als Unfreie für den Fiskalbesitz in Remiremont beansprucht worden war.63 Vermutlich war dies zur Zeit Karls des Großen geschehen. Die Verantwortung des verstorbenen Kaisers wird ausdrücklich in der Urkunde Nr. 51 festgehalten, in der es um die Zugehörigkeit einer Familie zum Fiskus Andernach ging.64 In beiden Fällen konnte erst eine Inquisition durch Königsboten den unterdrückten Personen Abhilfe schaffen. 6. Der Fall des Maurinus kam im Dezember 815 vor Gericht, als Ludwig der Fromme schon fast zwei Jahre im Amt war. Die Aussendung der missi dominici, welche Prozesse um Freiheit überprüfen sollten, hatte bereits stattgefunden. Die beteiligten Personen wussten mit Sicherheit von diesen neuen Entwicklungen, wenn sie nicht selbst sogar zur Gruppe der damit betrauten Amtsträger gehörten. Der Gerichtsvorsitzende Graf Theoderich von Autun zählte zur Familie der Wilhelmiden, die mit den Karolingern weitläufig verwandt war.65 Fredelus waltete seines Amtes als Vogt (advocatus) von Childebrand aus der Familie der Nibelungen, die von Pippin dem Mittleren abstammten und die seit der Zeit Pippins des Jüngeren im Besitz des Fiskalguts von Perrecy waren.66 Man wird daher annehmen können, dass diese neue Situation zur Verunsicherung vor Ort geführt hat: Wie konnte man vermeiden, bei der Vindikation von Unfreien einen Fehler zu begehen und sich den Zorn des neuen Kaisers zuzuziehen? Und wie konnte man am besten die rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, die durch die Erlasse der karolingischen Herrscher geschaffen worden waren? Die Aussagen des Maurinus, sein Vater sei von Geburt frei gewesen, er habe als Freier unter der Lex Salica gelebt und könne dies durch Zeugen beweisen, hätten dem Prozess ein schnelles Ende gesetzt. Sowohl die fränkischen Rechtsbücher als auch die Urkundenformulare aus der Praxis zeigen, dass es auf diese Weise möglich 62
Formulae imperiales 14, MGH Formulae, S. 296; Regest dieser und der folgenden Urkunden bei Die Urkunden Ludwigs des Frommen, ed. Theo Kölzer (MGH DD Kar. 2), Hannover 2016, 2. Bd., S. 1186 f. Vgl. Mischke, Kapitularienrecht, S. 156 f. 63 Formulae imperiales 9, MGH Formulae, S. 293 f. 64 Formulae imperiales 51, ebd., S. 324 f. 65 Christian Lauranson-Rosaz, Les Guillelmides: une famille de l’aristocratie d’empire carolingienne dans le Midi de la Gaule (VIIIe–Xe siècles), in: Laurent Macé (Hrsg.), Entre histoire et épopée: les Guillaume d’Orange (IXe–XIIIe siècles), Toulouse 2006, S. 45 – 84. 66 Léon Levillain, Les Nibelungen historiques et leurs alliances de famille, in: Annales du Midi 49 (1937), S. 295 – 408 und 50 (1938), S. 5 – 66.
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war, Klagen über die persönliche Freiheit abzuwehren. Der Kläger Fredelus ließ aber den Zeugenbeweis nicht zu, indem er an den Kaiser appellierte, damit „er es den Gesetzen gemäß beweisen dürfe.“67 Was genau mit dieser Formulierung gemeint ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Hatte Fredelus tatsächlich mit dem Kaiser oder dem Königsgericht Kontakt aufgenommen oder hatte er sich nur bei den Königsboten rückversichert? Vielleicht ist die Einschaltung des Kaisers oder seiner Amtsträger für die lange Verzögerung des Prozesses verantwortlich, der erst 16 Monate später mit dem Eid der zwölf Zeugen beendet wurde. Sicher ist jedoch, dass damit dem Kläger die Überführung durch Inquisitionszeugen ermöglicht werden sollte, obwohl dieses Instrument in den Herrschererlassen nur den Königsboten übertragen worden war. Die Schöffen ließen dies schon am ersten Gerichtstag zu und erlaubten den Agenten des Fiskus die Überführung mit Zeugen. Die Appellation an den König reichte aus, um Maurinus die Möglichkeit eines Beweises durch Verwandteneid zu entziehen, die ihm nach dem fränkischen Gewohnheitsrecht zugestanden hätte. Welchen Sinn hatte dann die Berufung auf die Lex Salica, wenn das Verfahren von vornherein im Sinne des Klägers manipuliert wurde? Hier ist es notwendig, die Sichtweise des Maurinus von der des Gerichtsschreibers zu unterscheiden. Aus der Perspektive des Maurinus bedeutete das Bekenntnis zur Lex Salica die Inanspruchnahme der besonderen Vorrechte des fränkischen Rechts. Er wollte als freier Franke behandelt werden, der dazu berechtigt war, seine Behauptung der eigenen Freiheit mit zwölf Zeugen aus seiner Verwandtschaft zu beweisen, ohne befürchten zu müssen, durch Gegenzeugen der Unwahrheit überführt zu werden. Aus der Perspektive des Urkundenschreibers, eines gewissen Ermembertus, stellten sich die Dinge anders dar. Er fertigte seine Niederschrift im Auftrag der Agenten des Fiskus an und wollte daher in erster Linie die Legitimität des Verfahrens herausstellen. Die Frage nach der rechtlichen Zugehörigkeit ist aus der Sorge um ein ordnungsgemäßes Verfahren zu erklären, nachdem Kaiser Ludwig der Fromme eine Kampagne gegen unrechten Freiheitsentzug durch königliche Amtsträger initiiert hatte. Mit der förmlichen Appellation an den Kaiser und der Wahrung der Fristen zwischen der Verhandlung und der Eidleistung achteten die Mächtigen äußerst penibel auf die Rechtsförmigkeit des Verfahrens, um sich nicht der Kritik durch die Boten des Kaisers auszusetzen. Wie wichtig die Perspektive des Schreibers zu nehmen ist, zeigt sich an einem zweiten Fall, der im März 818 wieder vor dem Gericht des Grafen Theoderich von Autun verhandelt wurde und der durch denselben Kleriker Ermembertus protokolliert wurde.68 Fredelus beschuldigte einen Mann namens Adelardus, seiner Dienstpflicht gegenüber dem Fiskalgut von Perrecy nicht nachzukommen, obwohl sein Vater Adalbertus bereits zur Zeit Pippins des Jüngeren zu den Hörigen des Königs gezählt hatte. Vater und Sohn seien dann gemeinsam in das Eigentum Karls des Großen und Ludwigs des Frommen gelangt. Dieses Mal wird Adelardus jedoch nicht 67 „Et ipsus Fredelus in ipsa causa domno imperatore sibi reclamavit quod legibus adprobare petebat.“ Recueil des chartes de l’abbaye de Saint-Benoît-sur-Loire, Nr. 10, S. 25. 68 Ebd. Nr. 12, S. 28 f.
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nach seinem Rechtsstand befragt. Der Angeklagte kommt überhaupt nicht zu Wort. Selbst die Leugnung des Sachverhalts wird nicht in die Urkunde aufgenommen, obwohl ohne sie gar keine Überführung notwendig gewesen wäre. Auch eine förmliche Appellation an den Kaiser war offenbar nicht mehr nötig, um Adelardus für den Fiskalbesitz zurückzugewinnen. Stattdessen urteilte das Gericht sofort, dass der Kläger Fredelus auf dem nächsten Gerichtstag in 40 Nächten Zeugen stellen müsse, damit er „gemäß der Lex Salica“ seine Behauptung beweise. Die Lex Salica erscheint jetzt nicht mehr als Garantie für das Recht des Angeklagten, sondern als Rechtfertigung für die Überführung des Angeklagten durch den Inquisitionsbeweis. Nach 16 Monaten traf man sich erneut in Autun. Das Protokoll hält fest, dass neun Zeugen die Unfreiheit des Adelardus beeidet hatten. Die Berufung auf die Lex Salica erfüllte somit ganz unterschiedliche Zwecke. Wie Wormald richtig erkannte, nahm Maurinus nicht auf einen spezifischen Abschnitt des fränkischen Rechtsbuchs Bezug, sondern auf das Gewohnheitsrecht der Franken. Ich bin jedoch der Meinung, dass „Lex Salica“ nur deshalb als eine Metonymie für legitimes Gewohnheitsrecht stehen konnte, weil es ein schriftliches Rechtsbuch gab, das die Vorrechte der freien Franken strikt von dem Stand der Unfreien abgrenzte.69 Noch Jahrhunderte nach der ersten Aufzeichnung um das Jahr 500 erfüllte es diese Funktion, nachdem es durch die Bemühungen Karls des Großen im ganzen Reich verbreitet und sogar ins Fränkische übersetzt worden war. Im Prozess des Adelardus trifft dagegen die Beobachtung Wormalds nicht zu. Vielmehr begegnet die Lex Salica als Rechtfertigung für den Inquisitionsbeweis, obwohl dieses Beweismittel erst vor wenigen Jahren durch die Kapitularien Karls des Großen eingeführt worden war und dazu diente, das fränkische Gewohnheitsrecht auszuhebeln. Gemeinsam ist diesen beiden Verwendungszwecken nur eines: In beiden Fällen steht der Verweis auf die Lex Salica als ein Kürzel für die Rechtmäßigkeit des Verfahrens. Es ist bemerkenswert, dass sowohl die Mächtigen als auch die Machtlosen an das idealisierte Recht der freien Franken appellierten. 7. Eine Analyse des Prozesses gegen Maurinus wäre unvollständig, wenn er nicht noch abschließend zu anderen Prozessen dieser Art aus den ersten beiden Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts in Bezug gesetzt würde. Die erste Anwendung einer Inquisitio ist für das Jahr 802 in Passau bezeugt. Vor den Königsboten Arn von Salzburg und Kiselhard stritten im Jahr 802 zwei Angeklagte ihre Unfreiheit ab und wurden nach einer Inquisition als Hörige der Passauer Bischofskirche identifiziert.70 Erzbischof Arn war als Missus noch an einem weiteren Fall beteiligt, bei dem der Angeklagte aber sofort seine Unfreiheit anerkannte.71 In einem ganz anderen Teil des Frankenreichs, in Poitiers, saß 815 ebenso ein Königsbote einem Prozess über Unfreiheit vor, bei dem zwei Brüder eine Freilassungsurkunde vorlegten, die jedoch als Fäl-
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Ubl, Sinnstiftungen, S. 67 – 97. Die Traditionen des Hochstifts Passau Nr. 54, ed. Max Heuwieser, München 1930, S. 46. 71 Ebd. Nr. 50, S. 43 f.
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schung zurückgewiesen wurde.72 In Freising wurde 818 dasselbe Verfahren vor dem Grafengericht angewandt, ohne dass Königsboten anwesend gewesen wären.73 Diese Prozesse zeigen, wie schnell die neue Möglichkeit der Inquisition in der Praxis eingesetzt, aber auch modifiziert und ausgeweitet wurde. Bereits der erste Fall betrifft nicht Fiskal-, sondern Kirchengut. Dass vorwiegend Konflikte über Unfreie der Kirche bezeugt sind, liegt an der Dominanz kirchlicher Archive, die aufgrund der institutionellen Kontinuität unsere einzige Quelle für solche Verfahren sind. Bischöfe und Äbte sahen sich offenbar vor dem Hintergrund der Gleichstellung von Kirchenbesitz mit Fiskalbesitz zur Anwendung der Inquisition berechtigt.74 Zudem wurden solche Prozesse schon bald nicht mehr in Gegenwart von Königsboten geführt, sondern vor dem Grafengericht. In dieser Hinsicht ist der Prozess gegen Maurinus also keine Ausnahme. Die Prozesse um Unfreiheit erwecken somit den Eindruck einer enormen Flexibilität des rechtlichen Rahmens. Nach Alice Rio ist diese Flexibilität ein allgemeines Kennzeichen der Unterscheidung von Freiheit und Unfreiheit im Frankenreich. Prozesse seien zwar häufig mit Bezug auf den Status der Eltern und Großeltern geführt worden, in der Realität sei die biologische Abstammung aber weniger ausschlaggebend gewesen als die gegenwärtigen Machtverhältnisse im Hier und Jetzt.75 Rio interpretiert die Prozesse folglich als eine Art von Stellvertreterkonflikte, bei denen eigentlich über die zu leistenden Abgaben und Dienste gestritten wurde: „Legal status, in this context, was an ideal proxy through which to fight over minute differences in internal estate hierarchy and the distribution of duties.“76 Für den Prozess gegen Maurinus ist eine ähnliche Konstellation anzunehmen. Gleichwohl wird man die rechtlichen Argumente nicht als vollkommen unwesentlich beiseite schieben dürfen. Es standen sich zwei Rechtsauffassungen diametral gegenüber, die paradoxerweise beide vom karolingischen Königtum sanktioniert waren: Die Herrscher garantierten einerseits allen Franken die Geltung ihrer Rechtsordnung, führten aber andererseits neue Instrumente wie den Inquisitionsbeweis ein. Maurinus machte für sich das traditionelle Vorrecht des Verwandteneids geltend, das durch viele Quellen aus der Zeit um 800 als fränkisches Gewohnheitsrecht bezeugt wird und das anderen Angeklagten nachweislich zur Freiheit verhalf. Die Agenten des Fiskus griffen dagegen auf das 72
Chartes de l’abbaye de Nouaillé de 678 à 1200 Nr. 10, ed. Pierre de Monsabert, Poitiers 1936, S. 17 f.; vgl. Capitula Francica c. 7, MGH Capit. 1, S. 215; Capitula legi Salicae addita c. 11, ebd., S. 293. 73 Die Traditionen des Hochstifts Freising. 1: 744 – 926, Nr. 401, ed. Theodor Bitterauf, München 1905, S. 344 – 346; vgl. ebd. Nr. 514, S. 437 f. 74 Brunner, Zeugen- und Inquisitionsbeweis, S. 163 – 166. 75 „Although constant appeals were made by both lords and dependants, in order to bolster their arguments in disputes, to the principle of the biological reproduction of status from parent to child, this was probably less determinant in dictating the outcome of conflicts than the particular state of play of power relations in the here and now.“ Alice Rio, Slavery after Rome, 500 – 1100, Oxford 2017, S. 209. 76 Ebd., S. 197.
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neue Mittel der Inquisition zurück, das eigentlich königlichen Missi vorbehalten war und das die Machtbalance zu ihren Gunsten verschob. Zum Schluss stellt sich die Frage, ob die älteste professio iuris etwas mit dem zu tun hat, was in der Forschung als rechtshistorische Errungenschaft des Personalitätsprinzips diskutiert wird. Die letzte monographische Studie stammt aus der Feder von Simeon L. Guterman, der die Meinung vertrat, die Anerkennung des nationalen Rechts sei ein wesentlicher Markstein in der Entwicklung des „Western Constitutionalism“ gewesen.77 Die fränkischen Könige hätten die Herrschaft des Rechts anerkannt, indem sie jeder Person auch außerhalb ihrer Heimat das Privileg gewährten, ein Verfahren nach ihrem gentilen Recht in Anspruch nehmen zu können und nur vor Richtern und Zeugen aus derselben Volksgruppe gerichtlich belangt zu werden. Damit schloss sich Guterman einem Ursprungsnarrativ an, das in der Rechtsgeschichte eine lange Tradition hat und auch gegenwärtig eloquente Fürsprecher findet, die die spezifisch europäische Tradition der Rechtsstaatlichkeit in Entwicklungen von langer Dauer verankern.78 Wenn man alleine die Rechtspolitik der fränkischen Könige in den Blick nimmt, mag eine solche Perspektive überzeugend wirken. Die Bindung an ein höheres Recht, die für vormoderne Gesellschaften charakteristisch ist79, nahm im Frankenreich eine besondere Form an: Das Königtum akzeptierte nicht nur die Unterstellung unter das göttliche Recht, sondern auch die Bindung an den gentilen Rechtspluralismus. Das Rechtsverständnis des Maurinus speiste sich aus diesen Vorstellungen. Vor den Agenten des Fiskus bot ihm dies dennoch keinen Schutz, weil die Herrscher mit den Kapitularien eine Rechtsordnung schufen, die sich in Spannung zur ethnischen Pluralität befand und die dazu benutzt werden konnte, die daraus abgeleiteten Ansprüche außer Kraft zu setzen.
77 Simeon L. Guterman, The Principle of the Personality of Law in the Germanic Kingdoms of Western Europe from the Fifth to the Eleventh Century, New York 1990, S. 166. Die Arbeit beruht auf einer von Charles H. McIlwain 1944 betreuten Doktorarbeit. Zum Einfluss dieser Schule vgl. Karl Ubl, McIlwain and Constitutionalism. Ursprung, Wandel und Bedeutung eines Forschungskonzepts, in: Viator Multilingual 42 (2011), S. 321 – 342. 78 James Q. Whitman, The World Historical Significance of European Legal History. An Interim Report, in: Heikki Pihlajamäki/Markus D. Dubber/Mark Godfrey (Hrsg.), The Oxford Handbook of European Legal History, Oxford 2018, S. 3 – 22; Karl Ubl, „Nach Rom“ oder „vor dem Boom“? Neue Forschungen zur Rechtskultur des Frühmittelalters, in: Historische Zeitschrift 309 (2019), S. 397 – 410. 79 Habermas spricht von „Legeshierarchie“: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992, S. 96.
Diskussion Albrecht Cordes: Ihr Vortrag hat deutlich vor Augen geführt, wie schmerzlich der Verlust für die Rechtsgeschichte ist, dass sie sich mit diesen Dingen nicht mehr beschäftigt. Erstens weil wir jetzt nicht mehr in der Lage sind, dieser Mythenbildung, die dort schon wieder betrieben wird, nachdem eigentlich in den 60er Jahren durch Kroeschell und Konsorten ordentlich aufgeräumt worden war, entgegenzutreten. Mein zweiter Punkt ist vielleicht noch wichtiger in Anbetracht der Tatsache, dass Ihr Material so reich ist an Beispielen für Sprachenvielfalt, Rechtspluralismus und unterschiedliche Rechtsquellengattungen mit unklarer normativer Kraft und auch in Anbetracht der für diese Tagung entscheidenden Frage, ob das Recht hier konstitutive Wirkung für die Zusammengehörigkeit einer Gruppe bietet oder nicht. Denn genau dazu habe ich eine Frage: Ihre Hauptthese haben sie en passant vorausgesetzt. Was lässt Sie denken, dass es wirklich das Recht ist – hier die Lex Salica – die eine ansonsten eher heterogene Bevölkerungsgruppe enger zusammenfasst? Es könnte doch auch sein, das sage ich ohne nähere Kenntnis der fränkischen Geschichte, dass es gerade andersherum ist: Eine Gruppe hat schon ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, welches dann durch einen bestimmten Rechtstitel verstärkt wird. Zum Schluss noch zwei ganz kurze Bemerkungen: Die Formeln entstammen einer alten Tradition im Frühmittelalter von der Antike aus. Man denkt an die Actiones im römischen Recht, aber Ihr Material hat mich auch an die writs im frühen englischen Recht erinnert. Gibt es Ihrer Kenntnis nach vielleicht außer dieser phänotypischen Ähnlichkeit auch eine genetische Verbindung? Karl Ubl: Zur ersten Frage des Zusammenhalts der Franken: Die Franken sind noch im 4. Jahrhundert häufig gar nicht als Franken bezeichnet worden, sondern nach den verschiedenen kleineren Volksgruppen, die eigentlich das Substrat gebildet haben. „Die Franken“ entstehen als ein neuer Name im 3. Jahrhundert und verbinden verschiedene Volksgruppen, die bei Tacitus und in anderen Quellen vorkommen, zu einer übergeordneten Einheit. Aber bis 455 tauchen immer noch viele andere Namen auf. Im 6. Jahrhundert wird nun mehr von den Franken gesprochen. Dieser Name hat gewissermaßen den Sieg davon getragen über diese eigentlich älteren Volksnamen, die in demselben Raum bestanden haben. Und zur Einheit der Franken: Es gibt keine Spezifik, keine Mythenbildung in dieser frühen Zeit. Die sogenannte Trojasage entsteht erst im 7. Jahrhundert. Es gibt also keine historischen Narrative über die Herkunft der Franken. Es gibt keine spezifischen Waffen, spezifische Ausrüstungsgegenstände oder spezifische Trachten, die die Franken auszeichnen. Das Einzige was sie auszeichnet, ist das Recht. Das Recht besagt, dass die Franken ein erhöhtes Wergeld beanspruchen können und dass sie bestimmte rechtliche Privilegien haben,
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nämlich nicht dem königlichen Strafgericht unterliegen, nicht vor Gericht überführt werden können, sondern sich selbstständig erst durch einen Eid vor Gericht unterordnen. Diese sehr eigene Rechtsordnung, die kein anderes Volk, keine andere Gruppe in der Zeit um 500 für sich in Anspruch nimmt, diese vollkommen nichtrömische Rechtsordnung, begegnet nur bei den Franken. Das wird sehr stark mit fränkischer Identität zusammengebracht. Genau das sehen wir in den verschiedenen Begleittexten der Lex Salica, im Epilog, in den Prologen: Dass hier erstmals eine Art Ursprungserzählung über die Franken entsteht. Insofern gibt es für mich viele verschiedene Anzeichen dafür, dass sich die Identität der Franken um das Recht kristallisiert und dass Narrative, wie diese Trojasage etc., sekundäre Entwicklungen sind. Wenn die Lex Salica im späten 5. Jahrhundert entstanden ist, die Begleittexte im Laufe des 6 Jahrhunderts, dann sind das sehr frühe Entwicklungen. Nun zur zweiten Frage des Verhältnisses der Formulare zu den writs in England: Dazu ist mir nichts bekannt. Ich sehe diese Formulare eher als eine Hinterlassenschaft des spätrömischen Provinzialrechts. Die frühesten Formulare, etwa das erste Formular, in dem eine vindicatio in servitutem auftaucht, sind im 6. Jahrhundert noch ganz stark im römischen Umfeld entstanden und beinhalten noch sehr viele römische Rechtsbegriffe. Es ist wichtig, dass sie aus diesem Kontext entstanden sind. Über die Wirkung weiß ich nichts und ich glaube auch nicht, dass es dazu Forschungen gibt. Das wäre auf jeden Fall eine interessante Fragestellung. Anja Amend-Traut: Ich habe eine Frage bezüglich des dritten Teils Ihres Vortrages, in dem Sie diese Formelsammlung erwähnt haben: Mich interessiert, von wann das von Ihnen angesprochene erste Formular stammt. Zweitens möchte ich eine kleine Anmerkung machen. Ich kenne mich in der fränkischen Zeit nicht sonderlich gut aus, aber bei Ihrer Schilderung der unterschiedlichen Rechtsquellen der einzelnen ethnischen Gruppen ist mir in Erinnerung gekommen, dass auch den Wergeldkatalogen eine starke Abgrenzung zwischen einzelnen Volksstämmen zu entnehmen ist. So fiel etwa in der Lex Ribuaria eine Sanktion unterschiedlich danach aus, welcher ethnischen Gruppe das Opfer angehörte. Die geringste Wertschätzung erfuhren dabei die Römer. Ich frage mich, ob das nicht auch damit zusammenhängt, dass sich hier die einzelnen ethnischen Gruppen gleichsam rechtlich voneinander abgegrenzt haben – und zwar ganz bewusst und nicht allein durch das Korpus der Rechtsquelle insgesamt und als solcher, sondern insofern auch inhaltlich diesen Pluralismus durch die ethnisch differenzierten Wergeldkataloge betont haben. Mit der abgestuften Anerkennung von Individuen haben sich also einzelne Volksstämme, wie womöglich auch die Franken, ganz bewusst von anderen ethnischen Gruppen im Hinblick auf ihren jeweiligen rechtlichen Status ausdrücklich abgegrenzt. Karl Ubl: Zur ersten Frage bezüglich der Formularsammlungen: Diese beginnen im späten 6. Jahrhundert. Die erste Formularsammlung stammt aus Angers, Westfrankreich, und es ist ein Erfolgsmodell im 6./7. Jahrhundert. Es gibt Dutzende solcher Sammlungen und Formelbücher. Woher genau die Ursprünge dieser Formel-
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sammlungen stammen, dazu gibt es unterschiedliche Meinungen in der Forschungsliteratur. Ich würde die römische Herkunft betonen. Bei Ihrer zweiten Frage zur Abgrenzung würde ich Ihnen vollkommen zustimmen. Diese Abgrenzung dient dem – ein Historiker hat das mal so genannt – ethnic engineering. Das ist vielleicht ein etwas problematischer Begriff, aber die Staffelung der Wergeldbeträge nach ethnischer Herkunft dient der Stabilisierung dieser ethnischen Zuschreibung. Natürlich entspricht das nicht immer der Realität, sondern es ist Rechtspolitik, die sich darin widerspiegelt. Simon Kempny: Ich habe zuerst eine Wissensfrage: Gab es in einem solchen wie dem von Ihnen dargestellten Prozess für den Richter bindende Beweisregeln? Etwa in Bezug auf Eideshelfer? War dann die Frage entschieden, wenn jemand zwölf Zeugen bot, die tatsächlich zeugten, oder gab es so etwas, was man heute als „Gegenbeweis“ oder dergleichen bezeichnen würde? Das ist die prozessgeschichtlich interessierte Frage. Die andere Frage betrifft unser Stichwort der Zusammengehörigkeit durch Rechtsregeln: Ich fand den Gedanken spannend, dass man im Prozess zunächst – so würde man heute sagen – das Personalstatut oder dergleichen abfragte: Was bist du, was wohnt dir an Recht inne? Wenn ich da an Bernd Kannowskis Antrittsvorlesung denke, zu diesen oft pauschal „dem germanischen Recht“ zugeschriebenen Worten – hier scheint das wirklich so zu sein. Dazu meine Frage: Wird auf irgendeine Weise – für uns noch erkennbar – zeitgenössisch reflektiert, dass ja auch dies einem gemeinsamen Rechtsanwendungsrecht unterworfen sein muss, dass ein gemeinsames Prozessrecht eine Zusammengehörigkeit darstellt? Denn es verhält sich ja so: Wenn ganz unterschiedliche Menschen zu Gericht kommen, die sich dann beide diesem Verfahrensschritt stellen müssen, also sagen, woher sie kommen, welches Recht sie mitbringen oder was ihnen anhaftet, und sie sich dem dann unterwerfen, dann gehören beide zumindest durch diese Überklammer auf gewisse Weise zusammen. Der andere Schritt wäre ja gewesen, man schlägt den Anderen tot. Auch wenn innerhalb des Frankenreiches partikulares – Juristen würden heute sagen: – Sachrecht gilt, ist doch dieses gemeinsame Kollisionsrecht etwas, was Zusammengehörigkeit von Rechtsgenossen darstellt. Wird dieser Gesichtspunkt erörtert? Karl Ubl: Ich fange mit der zweiten Frage an: Zur Reflexion dieser Kollisionsregeln kommt es erst sekundär. Ordnungen entstehen im 6. Jahrhundert, erst im 7. Jahrhundert reflektiert man darüber. Spezifische Kollisionsregeln entstehen dann vor allem im Kapitularienrecht der Karolinger im 9. Jahrhundert, wo man ganz genau festlegt, in welchen Fällen jeweils das Recht des Angeklagten oder des Klägers gilt usw. Dieses Königsrecht der Karolinger entsteht über diesen gentilen Rechtsordnungen und verdrängt diese allmählich. Zur anderen Frage, der Verfahrensfrage nach den Zeugen: Vor Ludwig dem Frommen ist in der Regel nach dem Beweis der Prozess beendet. Wenn also etwa in einem Fall der Angeklagte zwölf Zeugen stellt – die aus seiner eigenen Familie kommen und schon dadurch, dass sie eidfähig sind, ihre Freiheit demonstrieren – um seine
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Freiheit zu bestätigen, dann ist der Prozess beendet. Umgekehrt, im Verfahren über Fiskalgut, ist es, wenn der Kläger zwölf Zeugen auswählt, die das beeiden; dann ist das Verfahren auch beendet. Es gibt keinen Gegenbeweis. Erst Ludwig der Fromme hat 819 den Gegenbeweis in bestimmten Fällen erlaubt. Dabei kommt es indes zu einem Problem: Was passiert, wenn Eid gegen Eid steht? Daher hat Ludwig der Fromme das Gottesurteil sehr stark begünstigt. Das Gottesurteil wurde zu einem sehr starken Element im fränkischen Verfahren im 9. Jahrhundert, weil in einem solchen Fall, dass sich zwei Zeugen oder Eide widersprechen, letztlich nur zwei Lösungsmöglichkeiten bestehen. Entweder kann man den Zweikampf wählen oder das Gottesurteil. Das ist eine Entwicklung unter Ludwig dem Frommen. Georg Schmidt: Ich habe eine Frage, die in die ähnliche Richtung geht wie diejenige von Herrn Cordes, der schon die Frage nach der Henne und dem Ei gestellt hat. Rechtspluralismus bezieht sich auf irgendeine systemische Größe, sonst wäre Pluralismus ein sinnloser Begriff. Was ist die übergeordnete Einheit, in der dieser Rechtspluralismus möglich ist? Karl Ubl: Die übergeordnete Einheit ist das Königtum. Der König inszeniert sich als Herrscher über Völker und erkennt die Rechtsordnungen vor Ort an. Das Königtum kommt dazu aber letztlich nur durch eine Art von Pragmatismus. Diese Idee des Rechtspluralismus hat nicht schon von Anfang an bestanden, gewissermaßen in den Köpfen der fränkischen Könige, als sie um 500 herum das Frankenreich gründeten. Vielmehr ist es ein allmählicher Prozess der Eroberung und Integration, der sich im Laufe des 6. Jahrhunderts vollzieht und womit die fränkischen Könige sehr pragmatisch umgehen, anders als andere Reiche. Indem die fränkischen Könige sehr pragmatisch mit den Eroberungen umgehen, entwickelt sich ein Prinzip. Das ist eine personale Ordnung und in dem Sinne keine Rechtsordnung. Monika Wienfort: Ich würde gerne wissen, ob diese friedliche Koexistenz zwischen dem Königsrecht und den gentilen Rechten sich auch irgendwann in Form von Hybridität entwickeln kann? Ist es denkbar, dass man in einem gentilen Recht eine Regelung aus einem anderen Recht übernimmt, weil sie den sozialen, ökonomischen, politischen Gegebenheiten als besonders gut entsprechend erscheint, oder bleiben diese Trennungen erhalten? Karl Ubl: Das ist eine sehr wichtige Frage. Natürlich handelt es sich immer um hybride Rechte. Es ist eine Rechtspolitik, die dahintersteht. Man sieht es z. B. in der Lex Frisionum: Der König schickt Amtsträger nach Friesland, welche die Lex Alamannorum in der Hand haben, und nach dem Bußenkatalog der Lex Alamannorum werden dann die Rechtskundigen dort befragt. Ein anderes Beispiel: Die Lex Baiuvariorum übernimmt erhebliche Normenbestände aus dem westgotischen Recht ins bajuwarische Recht. Viele Bestandteile des bajuwarischen Rechtes sind wiederum identisch mit dem alemannischen Recht. Es gibt ständig Austauschprozesse. Es ist eben nicht so, dass jede Rechtsordnung spezifisch sein muss, vielmehr werden sie in spezifischen Rechtsbüchern zusammengebunden. Aber die Normenbestände an
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sich leiten sich aus ganz unterschiedlichen Traditionen ab. Da gibt es einen ständigen Austausch, ständige Hybridität. Susanne Lepsius: Ich habe auch eine Frage zu dieser sehr spannenden Professio Iuris, denn die scheint uns ja mitten hinein zu führen in die Thematik, dass sogar bei der einfachen Bevölkerung eine Vorstellung davon vorhanden war, einer bestimmten, persönlichen Rechtsordnung zu unterliegen. Aber meine Frage geht dahin, ob das nicht vielleicht ein Trugschluss ist, dass wir dabei sehr stark von materiell-rechtlichen Vorstellungen ausgehen. War es nicht doch eher die Vorstellung von unserem Maurinus, dass er von Seinesgleichen abgeurteilt wird? Also dass es eher darum geht, eine Art Jury von potenziell wohlgesinnten Personen aus einem näheren Umfeld zusammenzustellen, die einem dann hoffentlich die Freiheit verschaffen? Ich bin ein bisschen stutzig geworden bei Deinem Beispiel der Zwölf-Zeugen-Regelung, das in eine andere Richtung geht. Denn wenn unserem potenziell Freizulassenden klar gewesen wäre, sich nach der Lex Salica mit zwölf Zeugen freischwören zu dürfen, was müssen wir dann daraus für eine Folgerung ziehen, dass das Gericht sich in die andere Richtung entschieden hat? Glaubte es ihm nicht, dass er der Lex Salica unterliegt? Hat es das Gericht anders gesehen, war ihm das nicht klar? Wieso kommt es dann zu dieser Verschiebung der Beweislast? Eine andere Frage: Gehen wir davon aus – wie wir es normalerweise in der Rechtsgeschichte tun – es ist immer eine Bevorzugung, wenn man sich freischwören kann. Mit Eineid, mit Dreieid oder zu siebt. Aber zwölf sind ja schon relativ viele: Es ist gar nicht so einfach, zwölf Zeugen beizubringen, die für einen selbst oder für die jeweilige Rechtsposition sprechen. Mir fällt dazu ein, dass es ja im Decretum Gratiani diese 64-Zeugenregelung gab, um einen Bischof zu überführen. Es ist relativ offensichtlich, dass bei dieser Anforderung die Überführung des Bischofs unmöglich wird, obwohl man als Ankläger sozusagen den Zug zum Beweis hat. Deswegen diese doppelte Frage, ob wir vielleicht zu materiell-rechtlich denken, dass unser guter Maurinus auch diese Details wusste – wenn er also sagt: salisches Recht, dann weiß er, das heißt zwölf Zeugen – oder ob es nicht einfach darauf ankam, von fränkischen Saliern als Zeuge beurteilt zu werden? Karl Ubl: Das ist eine spannende Frage, die mitten ins Herz der Interpretation dieser Urkunde führt. Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Ich stelle mir das vor Gericht als eine Inszenierung vor. Es sind ja meistens Inszenierungen. Wir haben zwar Urkunden, aber diese sind eine Verformung des Gerichtsverfahrens, daher wissen wir nicht, wie das Verfahren wirklich abgelaufen ist. Trotzdem, so lautet meine These, ging es den Gerichtsvorsitzenden darum, möglichst rechtskonform zu handeln; deshalb haben sie Maurinus gefragt, nach welchem Recht er lebe. Es sollte alles legitim aussehen. Natürlich geht es aber um Machtinteressen. Wir wissen, dass dieser Vorsitzende – aus der Familie der Nibelungen stammt. Die Mächtigen versichern sich ihres Besitzstandes, wollen das aber möglichst rechtsförmig tun. Deshalb zu Deiner Frage: Ich stimme zu, dass es sich nicht nur um materiell-rechtliche Dinge handelt,
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sondern es auch darum geht, wie man so ein Verfahren möglichst legitim aussehen lässt. Daneben gibt es die andere Möglichkeit: Man kann dem Maurinus auch die „agency“ zuschreiben. Es gibt diese Boten, die 814 im ganzen Frankenreich herumreisen, die Ludwig der Fromme ausgeschickt hat, um Freiheitsprozesse zu überprüfen. Und dann versucht Maurinus, sich dadurch Freiheit zu verschaffen; deswegen kommt es überhaupt zu einem Prozess, nämlich indem er jetzt ablehnt, unfrei zu sein. Und deshalb müssen sie ihn jetzt überführen. Das sind zwei unterschiedliche Interpretationen des Falls. Man kann letztlich nicht ganz entscheiden, wie es zu diesem Gerichtsfall gekommen ist, aber die Idee, dass dieser Maurinus auch „agency“ hat, das finde ich irgendwie ganz verlockend. Ich glaube, da geht es letztlich genau um diese Inszenierung. Bei der Professio Iuris bin ich ganz Deiner Meinung. Es geht nicht um materielles Recht, sondern vor allem darum, sich im Gerichtsverfahren möglichst Vorteile zu verschaffen, indem man nur durch Personen seines eigenen Standes und seiner eigenen Herkunft überführt wird. Es ist nicht etwa so, dass wenn ein Franke in Italien die Professio Iuris ablegt und kundtut, dass er fränkischer Herkunft ist, direkt nach dem Gesetzbuch der Lex Salica gegriffen wird. Vielmehr möchte man mit der Bekundung seiner Herkunft sagen, man wolle nur von Seinesgleichen beurteilt werden. Es gab noch einen Punkt in Deiner Wortmeldung, den ich sehr interessant fand: Warum kommt es bei den zwölf Zeugen zu einer Beweisumkehr? Das lässt sich klar durch den Inquisitionsbeweis erklären. Es handelt sich eben nicht um den Sklaven einer Privatperson, sondern um den Sklaven des Königs. Bei einem solchen kann man die Inquisitio vollziehen, der Kläger kann mit zwölf eigenen Leuten das für sich beweisen, was in seinem Interesse liegt. Es kommt also zu dieser Beweislastumkehr, weil es sich um Fiskalgut handelt und Karl der Große bei Fiskalgut die neuen Beweisregeln eingeführt hat. Petra Schulte: Wie tiefgehend müssen die Rechtskenntnisse einer Person sein, um sich mit dem Recht zu identifizieren? Wird dann nicht Recht oder werden dann nicht Rechtsordnungen letztendlich auf ganz wenige Schlagworte reduziert? Und ist es dann vielleicht nicht ausschließlich der Gedanke der Freiheit, der so in den Köpfen herrscht und der dann auch im Prozess angewandt wird? Also: Wieviel weiß man von dem Recht, mit dem man argumentiert und arbeitet? Karl Ubl: Wunderbare Frage, über die ich die nächste halbe Stunde referieren könnte – über das Rechtswissen im 9. Jahrhundert. Man darf die Leute nicht unterschätzen. Ich weiß das u. a. aus meiner Untersuchung zum Inzestverbot: Es kommt ein neues Inzestverbot auf, nämlich das der Taufpatenschaft. Dann gibt es sofort Leute, die das instrumentalisieren, um eine Scheidung von ihrer Frau zu erreichen. Es gibt im 9. Jahrhundert sonst kaum Scheidungsmöglichkeiten, aber wenn man nachweist, dass man verwandt ist, dann ist es zulässig. Einige Leute sind dabei besonders erfinderisch. Sie übernehmen die Taufpatenschaft über eines ihrer Kinder, die Taufpatenschaft eines Verwandten ihrer Ehefrau, und führen das dann als Schei-
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dungsgrund an. Die Bischöfe hingegen protestieren. Sie sagen, man dürfe das nicht gelten lassen, schließlich ginge es eigentlich nur um die Scheidung. Das zeigt, dass neue Rechtsregeln sehr schnell bekannt waren. Man darf ebenfalls nicht unterschätzen, dass auch Unfreie sich solcher neuen Instrumente bedienen. Auch dafür gibt es eine Reihe von Beispielen. In dem konkreten Fall bin ich ganz Deiner Meinung. Die Lex Salica ist ein Symbol für fränkische Freiheit. Zwar wurde die Lex Salica im späten 5. Jahrhundert aufgezeichnet und ist 300 Jahre später noch in Geltung. Das heißt indes nicht, dass sie noch in ursprünglicher Fassung gilt. Es ist vielmehr ein Gewohnheitsrecht, das aufgezeichnet worden ist, und sich in 300 Jahren enorm gewandelt hat. Die Lex Salica ist in mancher Hinsicht zwar immer noch ein Orientierungspunkt, in ganz wenigen Hinsichten auch noch im 9. Jahrhundert. Wir wissen aus verschiedenen Quellen, dass die Lex Salica immer noch eine gewisse Beachtung findet. Aber im Großen und Ganzen hat sich das Gewohnheitsrecht natürlich weiterentwickelt. Und was hier – wenn man sich zur Lex Salica bekennt – gemeint ist: Man will fränkische Freiheit für sich reklamieren. Diese Rechtsbücher sind alle letztlich Aufzeichnungen von Gewohnheitsrecht. Und dieses Gewohnheitsrecht hat sich fortentwickelt. Dadurch werden diese Rechtsbücher natürlich zu einem gewissen Teil obsolet. Für die Lex Salica kann man also nach über 300 Jahren sagen: Zum großen Teil ist das ein Gewohnheitsrecht, das einmal gegolten hat, nämlich Ende des 5. Jahrhunderts, aber sich in der Zwischenzeit enorm verändert hat. Albrecht Cordes: Nochmal zu dem Punkt, den Frau Schulte genannt hat: Inwieweit ist das Bewusstsein vorhanden, zu einer Rechtsgemeinschaft zu gehören, was natürlich die Voraussetzung dafür ist, dass das Recht diese Gemeinschaft konstituiert? Wenn man den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels glauben kann, dann gehört diese Zugehörigkeit zu einem bestimmten Recht eng zusammen mit einer bestimmten Haartracht, mit einer bestimmten Kleidung und auch mit bestimmten Formen des „Beweisleistens“, also wie man die Finger hält, ob man drei Finger hochhält oder eine ganze Hand und Ähnliches. Da könnte man vielleicht Recht in einem Kontext von bestimmten Verhaltensweisen sehen, also kulturelles Verhalten einschließlich Recht. Das wäre eine mögliche weitere Antwort dazu. Vielleicht im Zusammenhang damit steht die für mich sehr bemerkenswerte Freiheit im Umgang mit Rechtsänderungen. Eigentlich kann man sich dieses Identitätsstiftende nur gut vorstellen, wenn das Recht auch halbwegs konstant bleibt. Aber dann kommt Karl daher und ändert zugunsten des Fiskalguts auf einmal die Beweisvorrechtsregel. Es ist doch bemerkenswert – ich schaue zu Johannes Liebrecht –, wenn man sich an der Vorstellung festhält, das gute alte Recht sei doch das stabilste Recht. Wir sehen hier an mehreren Stellen, dass das Recht nicht nur in Bewegung ist, sondern aktiv und absichtlich geändert wird. Das ist der eine Punkt. Und der andere Punkt ist da in diesem panegyrischen Text von dem Nigellus, wo Ludwig dem Frommen gesagt wird: Endlich hast Du mit dieser nur auf das harte, strenge Recht gegründeten Rechtspolitik deines Vaters gebrochen und hast Gnade walten lassen. Da ist
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Recht auf einmal nicht die von uns konnotierte positive Ordnung unseres Gemeinlebens, sondern es ist ein scharfes, oft auch zu grausames Schwert. Das muss dann durch Milde ausgeglichen werden. Karl Ubl: Das sind interessante Beobachtungen, die ich erstmal verdauen muss. Eingriffe ins Recht sind alltäglich im Frankenreich. Auch was das Kirchenrecht angeht, wird ständig am Recht gearbeitet. Das trifft genauso auf das weltliche Recht zu. Gerade solche Dinge, die Karl der Große verändert hat – wie die Einführung der Inquisitio oder die Münzreform –, das sind Dinge, die sich sofort in der Praxis niedergeschlagen haben. Bei der Münzreform hat Karl es zwar selbst in der Hand gehabt, weil die Münzprägung in königlicher Hand war. Das wurde wirklich durchgehend umgesetzt werden. Bei der Inquisitio hingegen waren Viele begeistert, dass sie das neue Instrument in der Hand hatten und es sofort ausgenutzt haben, um es für ihre eigenen Interessen einzusetzen. Wir wissen ganz gut über diesen Punkt Bescheid. Das Ficalgut Perrecy war im 7. Jahrhundert im Besitz des Erzbischofs von Bourges und ging dann als Lehen an die Familie der Nibelungen. Die Familie der Nibelungen stammt von Pippin dem Mittleren ab und hat dieses Lehen vermutlich von Karl Martell bekommen, das dann über 150 Jahre im Besitz dieser Familie blieb. Wenn sie dann für den König den Sklaven in die Unfreiheit zurück zwingen, geschieht das natürlich in ihrem eigenen Interesse, da sie dieses Lehen wirklich schon dauerhaft innehaben. Erst in der Zeit Karls des Kahlen wird dann wieder darum prozessiert. Wegen dieses Prozesses zwischen dem Erzbischof von Bourges, der wieder auf die alten Besitztümer zurückgreifen will, wissen wir über diese Besitzgeschichte gut Bescheid. Diese Inquisitio war ein mächtiges Instrument und das wurde natürlich sofort verwendet. Dieter Gosewinkel: Ich glaube, dass Ihr Vortrag durch die Art der intensiven Quellenvorstellung ein sehr schönes Beispiel dafür ist, wie wir hier über die verschiedenen Rechtsepochen hinweg gut miteinander reden können. Ich habe zwei kurze Bemerkungen. Zuerst eine Wissensfrage. Sie sprachen davon, dass das Königtum wenig Einflussmöglichkeiten auf die Formulierung der Rechtsaufzeichnung gehabt habe. Können Sie kurz etwas dazu sagen, wer das warum aufgezeichnet hat? Die zweite Bemerkung betrifft die systematische Einordnung Ihres Themas. Volksrecht und ethnische Identität – was war vorher da: zunächst ein ethnisches Zusammengehörigkeitsgefühl, das da kodifiziert wurde, oder umgekehrt? Ich vermute, dass das Ganze komplizierter abläuft, dass es ineinandergreift, dass es wechselnde Phasen gibt, dass Aufzeichnungs- und Normativierungsvorgänge abgelöst werden durch solche Prozesse, in denen ethnische Zugehörigkeit wieder stärker wird und umgekehrt. Vielleicht können Sie etwas zu diesem von mir vermuteten Wechselzusammenhang sagen. Und in dem Zusammenhang ist Ihre Bemerkung über die Franken sehr wichtig. Die Franken als Einheit, als politisch existenter Verband, existierten offenbar vornehmlich, und vielleicht sogar ausschließlich durch das Recht. Das wäre ein interessantes Beispiel für die Stiftung eines politischen Verbandes durch Recht,
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und zwar ungeachtet ethnischer Verschiedenheiten, die dem zugrunde liegen. Vielleicht teilen Sie das, vielleicht nicht. Karl Ubl: Das sind noch zwei hochinteressante Fragen. Wie entstehen die Leges? Das ist ganz unterschiedlich. Ich habe das Beispiel der Lex Frisionum gebracht. Der König schickt Kommissare nach Friesland und die befragen dort die Richter. Diese haben natürlich gewisse Vorlagen, mit denen sie kommen, in Friesland etwa die Lex Alamannorum. Damit werden die Richter befragt, damit hat man einen gewissen Katalog, weil man natürlich nicht das gesamte Recht aufzeichnen kann. Es ist immer nur eine Auswahl des Gewohnheitsrechts. Bei anderen Rechtsbüchern ist das anders verlaufen. Bei der Lex Baiuvariorum ist vor allem der Herzog an der Aufzeichnung des Rechts beteiligt, das Königtum wird vollkommen außen vor gelassen. Aber das schließt nicht aus, dass manche königlichen Erlasse wiederum in diese Volksrechte eingegangen sind, wenn sie von Nutzen waren. Zum Beispiel gilt ein ganz bestimmter Teil der Lex Baiuvariorum als merowingisches Königsgesetz, weil es offensichtlich irgendwie auf eine ältere Vorlage zurückgreift, die von merowingischen Königen erlassen wurde. Das ist eine These von Heinrich Brunner gewesen, die aber immer noch eine gewisse Überzeugungskraft hat. Und auch in der Lex Ribuaria, das ist das Recht der Kölner Franken, sind Konstitutionen des Königs eingeflossen. Das merkt man an der Formulierung. Die ganze Lex wird objektiv formuliert, ohne dass es einen Sprecher gibt, und dann gibt es einzelne Paragraphen, die mit „hoc constituimus“ formuliert werden. Es ist offensichtlich eine königliche Konstitution, die man übernommen hat. Wie dieses eine Beispiel aus der Lex Ribuaria, das ich zitiert habe. Zur zweiten Bemerkung, also ethnischer Identität, Wechselbezug, Dynamik, politische Einheit: Da bin ich ganz auf Ihrer Seite. Das ist natürlich ein dynamischer Prozess. Die politische Einheit der Franken im 5. Jahrhundert gibt es in dem Sinne nicht. Vor Chlodwig gibt es verschiedene Könige und es gibt diesen gemeinsamen Frankennamen. Vielleicht waren diese Könige auch untereinander verwandt, das weiß man nicht so recht. Diese Franken agieren zum Teil in ganz unterschiedlichen Regionen. Die einen in der Nähe von Paris, die anderen in der Nähe von Köln, eine dritte Gruppe in Trier an der Mosel usw. Man weiß gar nicht, wie die miteinander zusammenhängen. Bei dieser Einheit, die dann hergestellt wird, spielt das Recht eine wichtige Rolle, weil es hier festschreibt, dass die Franken sich eben nicht römischem Recht unterwerfen. Alle anderen, die Burgunder, die Goten, übernehmen alle mehr oder weniger römisches Recht in der provinzialrömischen Form. An der einzelnen barbarischen Gewohnheit wird noch weiter festgehalten, wie bei den Burgundern am Zweikampf. Aber im Prinzip verwenden sie das römische Recht. Warum sollte man auch nicht das römische Recht verwenden? Das machen alle. Die Franken aber sagen: Nein, wir zeichnen etwas auf, was vollkommen anders ist. Ein Rechtsbuch, das zum Teil aus diesen Malbergischen Glossen besteht, also aus fränkischen Rechtsbezeichnungen, und das überhaupt keinen Einfluss römischen Rechts erkennen lässt, obwohl es in Latein formuliert ist. Da gibt es keine Spur römischen Rechts. Das ist im 5. Jahrhundert ein außergewöhnliches Statement. Es gibt keine andere Gruppierung, die den Akzent so stark auf „Wir sind anders“ setzt, „Wir verwenden
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nicht das römische Recht als Instrument der Staatsbildung“. Und natürlich verändert sich das im Laufe des 6. und 7. Jahrhunderts. Es gibt Zeiten, in denen die Lex Salica von der Bildfläche verschwindet. Später wird sie von den Karolingern wieder aus der Schublade hervorgezogen. Die Karolinger haben versucht, im 8. Jahrhundert ihren eigenen Aufstieg über gemeinsames Handeln der Franken zu legitimieren; dabei wird die Lex Salica plötzlich wieder interessant. Davor aber gibt es Zeiten, in denen das Rechtsbuch nahezu aus dem Repertoire der Identitätsvorstellungen verschwindet. Es gibt auf jeden Fall eine unglaubliche Dynamik. Es sind Jahrhunderte, über die wir hier sprechen. Das darf man nicht unterschätzen. Obwohl wir so wenig Quellen haben, hat auch im Mittelalter ein Jahr 365 Tage und es geschieht unglaublich viel. Peter Oestmann: Was wir aus dem Vortrag lernen können ist, dass wir wirklich – jetzt auch zum Schluss der Diskussion – nochmal gesehen haben, dass Recht Zusammengehörigkeit stiftet, welche Bedeutung diese Rechtsaufzeichnung haben kann, dass wir aber gleichzeitig daran denken müssen: Wir reden über eine Ausnahme. In dem frühen Mittelalter sind die Franken zwar für uns immer am interessantesten, weil das der Kern dieses Reiches ist, das entsteht. Aber deren Recht war nun gerade anders als das Recht der anderen Stämme dieser Zeit. Insofern habe ich ganz viel gelernt. Ganz herzlichen Dank für Ihren Vortrag. Herzlichen Dank für die Diskussion.
Zugehörigkeit(en) und rituelles Handeln: Die Stiftung der mittelalterlichen Stadtgemeinschaft durch Eide Von Claudia Garnier, Vechta „Seht hier, besinnt wohl, was ihr tut, schwört nicht fälschlich um zeitlich Gut, denn Gott, der Herr, der weiß das wohl, im letzten Gericht er es urteilen soll.“1
Diese Worte schmücken an prominenter Stelle das „Weseler Gerichtsbild“, das eine Eidleistung vor dem örtlichen Richter in Szene setzt. Die Stadt Wesel hatte im Jahr 1493 von Herzog Johann von Kleve die Erlaubnis erhalten, das tägliche Gericht in den Räumen des Rathauses abzuhalten. Die alte Gerichtsstätte, die beengt und wenig repräsentativ auf einem Platz zwischen Kirchhof und Fischmarkt lag, sollte künftig nur noch für Angelegenheiten über „Leben und Blut“ genutzt werden. Da der neue Gerichtssaal angemessen ausgestattet werden sollte, gab die Stadt bei dem ortsansässigen Maler Derick Baegert (um 1440 nach 1515) ein Bildnis in Auftrag, das die Gerichtsbarkeit und die Legitimation der städtischen Obrigkeiten zum Inhalt hatte. Das Bild zeigt im oberen Bereich unmittelbar unter dem Leitspruch den Stadtrichter, der im Kreis der Schöffen mit seiner Rechten auf das göttliche Gericht als eigentliche Instanz der Entscheidung verweist. Der Weltenrichter ist in der charakteristischen Form der Deësis präsentiert – ein aus dem byzantinischen Kulturkreis stammendes und seit dem 13. Jahrhundert auch im nordalpinen Raum verbreitetes Bildmotiv, das Christus mit Maria und Johannes dem Täufer zeigt. Das Spruchband über dem Weseler Richter mit dem oben zitierten Vers weist den Eid als zentrale Handlung aus und droht mit der göttlichen Strafe bei Missachtung. Diesem Appell ist auch die Darstellung des Schwörenden verpflichtet. Zu seiner Rechten ist der Staber ins Bild gesetzt, dessen Funktion bereits in den Rechtsspiegeln des 13. Jahrhunderts dokumentiert ist und der für die korrekte Ableistung des Eides Sorge trug: Zum einen sprach er die Formel vor, damit die Gültigkeit des Vorgangs nicht an der falschen
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Beate Zumkley, Das Weseler Gerichtsbild „Die Eidesleistung“ von Derick Baegert. Quellengeschichtliche und technologische Studie zu einem Gemälde des 15. Jahrhunderts (Weseler Museumsschriften 20), 1988, S. 55: „Siet hier besynt wael wat gii du˚ it / suert nyet valselick um tytlick gu˚ et / want got die heer die weit dat wael / Int leste gericht it ordellen saell.“
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Wortfolge scheiterte.2 Zum anderen präsentierte er ein Reliquiar als Eidobjekt. Der Schwörende selbst, dargestellt mit dem charakteristischen Handgestus, befindet sich im Widerstreit zwischen Wahrheit und Meineid, die durch Engel und Teufel personifiziert sind. Während der Teufel zum Betrug aufruft,3 droht der Engel mit dem Verlust des Seelenheils: „Schwör nicht fälschlich, was ihr tut, ihr verliert das ewige Gut.“4 Durch den Vollzug des Eides appellieren die Beteiligten an eine übergeordnete Instanz, die als Zeuge ebenso fungiert wie sie Übertretungen straft. Der Eid gilt daher, so die vielzitierte Formulierung Heinrich Brunners, als eine „bedingte Selbstverfluchung“, weil er die Möglichkeit devianten Verhaltens antizipiert und bei Verstoß mit entsprechenden Konsequenzen droht.5 Die Komposition und die Anlage der einzelnen Sequenzen des „Weseler Gerichtsbildes“ verdichten sich zu einer zentralen Aussage: Vom Reliquienschrein, der in der exakten Bildmitte und unmittelbar neben der Schwurhand positioniert ist, besteht eine direkte Verbindung zum irdischen Richter, der wiederum auf Christus als ewigen Richter verweist. So erscheinen die himmlischen Mächte als Adressaten des Eides und Sachwalter der Wahrheit gleichermaßen. Das „Weseler Gerichtsbild“ stellt zwar eines der bekanntesten seiner Art dar, doch Ansichten des Jüngsten Gerichts existierten in zahlreichen Rathäusern des Alten Reichs. An exponierter Stelle erinnerten sie an die höchste Rechts- und Legitimationsinstanz und stellten so einen direkten Bezug zwischen der kommunalen und der göttlichen Ordnung her.6
I. Eidrituale als Grundlage städtischer Gemeinschaftsbildung Das „Weseler Gerichtsbild“ präsentiert einen sogenannten assertorischen (bekundenden) Eid (iuramentum assertorium), der sich vom promissorischen (gelobenden) Eid (iuramentum promissum) unterscheidet. Während der bekundende Eid vor Gericht zur Absicherung einer Aussage auf die Vergangenheit gerichtet ist, zielt der ge-
2 Frank Eichler, Rechtsbücher und die Mündlichkeit des mittelalterlichen Rechts, in: Schwabenspiegel-Forschung im Donaugebiet, in: Elemér Balogh (Hrsg.), Konferenzbeiträge in Szeged zum mittelalterlichen Rechtstransfer deutscher Spiegel (Ius saxonico maideburgense in Oriente 4), 2015, S. 137 – 158 (139). 3 Zumkley (Fn. 1), S. 56: „Hald up die hant wilt u nyet scamen swert in alre duuel name(n).“ („Halt hoch die Hand, wollt Euch nicht schämen, schwört in aller Teufel Namen“). 4 Zumkley (Fn. 1), S. 55: „Swer niet valselick wat ghi duet gi verliest got dat ewighe guet.“ 5 Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1, 2. Aufl. 1906, S. 257. 6 Eine ähnliche Funktion erfüllte die Darstellung eines Sternenhimmels an den Decken der Gebäude. Antje Diener-Staeckling, Der Himmel über dem Rat. Zur Symbolik der Ratswahl in den mittelalterlichen Städten (Studien zur Landesgeschichte 19), 2007, S. 65 – 67; 83 – 86.
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lobende Eid auf die Zukunft.7 Promissorische Eide verschiedenster Form konstituierten soziale und politische Gruppen des Mittelalters, hielten ihren Zusammenhalt regelmäßig aufrecht und bildeten ein engmaschiges Netz wechselseitiger Verpflichtungen. Sie begründeten in Form von Lehns-, Gefolgschafts- oder Amtseiden Herrschaftsbeziehungen, waren also vertikal ausgerichtet. Paolo Prodi, der in der jüngeren Vergangenheit zentrale Arbeiten zu diesem Thema vorlegte, bezeichnet den politischen Eid gar als „Sakrament der Herrschaft“, so der Titel seiner magistralen Studie von 1997. Dieses Sakrament sei „die Handlung, der heilige Akt, auf den sich die Objektivierung des Rechts gründet.“ Der Eid sei „Hersteller und Urheber von Recht“, weil er in einem Akt den Zusammenhalt symbolisiere, dessen sich die Mitglieder der verschiedensten Gemeinwesen und Sozialverbände verpflichtet sahen.8 Neben herrschaftlich-vertikalen schufen Eide auch genossenschaftliche, also horizontale, Bindungen und begegnen etwa in politischen Allianzen, Freundschaften und (Schwur)Einungen (coniurationes). 9 Indem die Gruppen nach innen durch Normen und Verfahrensregeln den Zusammenhalt sicherten, gestalteten sie nicht nur einen eigenen Rechts- und Friedensbereich, sondern sie wandten sich gleichzeitig gegen all jene, die nicht in den Zusammenschluss eingebunden waren.10 Dass der niederrheinische Tafelmaler Derick Baegert den Schwur zum zentralen Sujet seiner Darstellung machte, ist wenig erstaunlich. Denn der Eid bildete in seinen unterschiedlichen Formen die konnektive Struktur der städtischen Gemeinschaft. Dem Schwur kam nicht nur vor Gericht eine zentrale Bedeutung zu, sondern er gilt in Form der coniuratio für die Stadt als konstitutiv. Geschworene Einungen zur Wahrung des Friedens und gemeinsamer Interessen existierten zwar seit dem Frühmittelalter. Im Rahmen der kommunalen Entwicklung des Hochmittelalters kam ihnen indes eine besondere Funktion zu, sie können gewissermaßen als Keimzelle der Stadtverfassung gelten. Pointiert brachte dies der Jurist Nikolaus Wurm auf 7
Jürgen Weitzel, Artikel: Eid, in: HRG, Bd. 1, 2. Aufl. 2008, Sp. 1249 – 1263; Paolo Prodi, Der Eid in der europäischen Verfassungsgeschichte (Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge 33), 1992, S. 6 f. 8 Paolo Prodi, Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 11), 1997, S. 30 f. 9 Otto Gerhard, Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zum Problem der sozialgeschichtlichen Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter, in: Berent Schwineköper (Hrsg.), Gilden und Zünfte. Kaufmännische und gewerbliche Genossenschaften im frühen und hohen Mittelalter (Vorträge und Forschungen 29), 1985, S. 151 – 214; ders., Gilde und Kommune. Über die Entstehung von ,Einung‘ und ,Gemeinde‘ als Grundformen des Zusammenlebens in Europa, in: Peter Bickle (Hrsg.), Theorien kommunaler Ordnung in Europa (Schriften des historischen Kollegs. Kolloquien 36), 1996, S. 75 – 97; ders., Friede durch Verschwörung, in: Johannes Fried (Hrsg.), Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 43), 1996, S. 115 – 150. Die Aufsätze sind ebenfalls zugänglich in: Andrea von Hülsen-Esch/Bernhard Jussen/Frank Rexroth (Hrsg.), Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, 2011. 10 Dies betont etwa Oexle, Frieden durch Verschwörung (Fn. 9). S. 125.
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den Punkt, der sich um 1400 der Kodifikation des Liegnitzer Stadtrechts widmete. Er definierte eine Stadt nicht nur als exakt eingegrenzte Siedlung, „die gemawert ist und becynnet und mit graben, toren, tormen, weickhawsern befestent“ sei. Für ihn galt die Stadt vor allem als Einung (eynunge).11 Durch regelmäßige Eide versicherten sich die Bewohner ihres Zusammenhalts, so dass das Stadtrecht – so Wilhelm Ebel in seiner 1958 erschienenen und noch immer grundlegenden Studie über den Bürgereid – „auf immer wiederholter eidlicher Selbstbindung der Bürger, auf einer coniuratio reiterata,“ beruhte.12 Die Stadtgemeinden entstanden teilweise in Konflikten um die kommunale Autonomie, teilweise jedoch auch in Kooperation mit ihren Stadtherren. Im Verlauf des 12. Jahrhunderts fand die politische Partizipation der Bürger ihren Niederschlag in unterschiedlichen Institutionen, von denen der Stadtrat als das wichtigste Gremium gilt.13 Seit dem 13. Jahrhundert war die Eidleistung aufs Engste mit der Wahl der Stadtrats verbunden, so dass sich ein idealtypischer Ablauf rekonstruieren lässt: Der Neubesetzung des Rats folgte seine Legitimierung durch die Gemeinde. Während sich die Ratsherren auf ein gerechtes Regiment verpflichteten, hatten die Bürger Treue, Gehorsam und die Einhaltung der städtischen Rechtsordnung zu schwören.14 In den süddeutschen-oberrheinischen Städten etablierten sich sogenannte Schwörtage als regelmäßige kollektive Eide der Gemeinde, in deren Rahmen die städtischen Satzungen verlesen und beschworen wurden. Im Verlauf der Frühen Neuzeit entwickelten sie sich zu zentralen Veranstaltungen im kommunalen Festkalender.15 Aus den niederdeutschen Gebieten sind zwar regelmäßige Verkündungen der 11
Hans-Jörg Leuchte (Hrsg.), Das Liegnitzer Stadtrechtsbuch des Nikolaus Wurm. Hintergrund, Überlieferung und Edition eines schlesischen Rechtsdenkmals (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 25), 1990, S. 24. 12 Wilhelm Ebel, Der Bürgereid als Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterlichen Stadtrechts, Weimar 1958, S. 15; Gerhard Dilcher, Bürgerrecht und Bürgereid als städtische Verfassungsstruktur, in: Rainer Christoph Schwinges (Hrsg.), Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des Alten Reichs (1250 – 1550) (ZHF. Beih. 30), 2002, S. 83 – 97. 13 Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150 – 1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, 2012, S. 327 – 372. 14 Eberhad Isenmann, Die städtische Gemeinde im oberdeutsch-schweizerischen Raum (1300 – 1800), in: Peter Blickle/André Holenstein (Hrsg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa, 1991, S. 191 – 262 (195 – 197); Dietrich W. Poeck, Rituale der Ratswahl. Zeichen und Zeremoniell der Ratssetzung in Europa (12.–18. Jahrhundert) (Städteforschung A/60), 2004, S. 179 – 181, 291 – 299; Diener-Staeckling (Fn. 6), S. 161 f., S. 185 – 187; Uwe Goppold, Politische Kommunikation in den Städten der Vormoderne. Zürich und Münster im Vergleich (Städteforschung A/74), 2007, S. 177 – 187. 15 Ebel (Fn. 12), S. 11 – 31; Rainer Jooß, Schwören und Schwörtage in süddeutschen Reichsstädten. Realien, Bilder, Rituale, in: Hermann Maué (Hrsg.), Visualisierung städtische Ordnung. Zeichen – Abzeichen – Hoheitszeichen, 1993, S. 153 – 168; Sonja Heim, Der Schwörtag in Augsburg im Spätmittelalter, in: Rolf Kießling (Hrsg.), Neue Forschungen zur Geschichte der Stadt Augsburg, 2011, S. 7 – 61; Laurence Buchholzer-Rémy, Schwörtage sans Schwörbriefe? Le serment collectif à Colmar (XIIIe siècle – époque moderne), Revue d’Alsace 140 (2014) S. 9 – 40; Anne Christina May, Schwörtage in der Frühen Neuzeit. Ursprünge, Erscheinungsformen und Interpretationen eines Rituals, 2019.
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städtischen Statuten dokumentiert, die indes nicht zwingend mit der Beeidung verbunden sein mussten.16 Eide verbanden unterschiedliche Handlungsebenen miteinander. Zum Ersten wurden sie durch stark formalisierte Sprechakte begründet; zum Zweiten waren standardisierte Eidobjekte von zentraler Bedeutung, mittels derer der Inhalt der Aussage nicht nur verbal, sondern auch visuell zum Ausdruck gebracht wurde. Der Eid verlangte zum Dritten stets die körperliche Präsenz der Schwörenden, und ihre Bewegungen folgten zumeist einer festgelegten Choreographie. Da Eide stark normierte, in Wort, Sprache und Bewegung sowie durch zeitliche und örtliche Rahmungen standardisierte Handlungen waren, zeigen sie enge Berührungspunkte zu Ritualen.17 Wenngleich die Ritualforschung, die sich in den vergangenen Dekaden außerordentlich dynamisch entwickelt hat, je nach Fachdisziplin und Erkenntnisinteresse noch immer divergierende Begriffsbestimmungen bereithält, so existieren zumindest weitgehend anerkannte Definitionskriterien. Rituale gelten allgemein als bewusste, zielgerichtete und in ihrer Ausführung stark formalisierte Handlungen. Sie werden visualisiert durch Zeichen, Gesten oder auch komplexe Abfolgen, die symbolisch einen Inhalt zum Ausdruck bringen. Mitunter finden sie an festgelegen Orten zu verbindlichen Terminen statt und bedienen sie sich in ihrer Ausführung bestimmter Objekte, so dass Performanz und Materialität eine gleichermaßen wichtige Rolle spielen. Auf diese Weise vermögen Rituale komplexe Verhältnisse und Verbindlichkeiten auf einen symbolischen Akt zu reduzieren.18 Im Unterschied zu gewohnheitsmäßigen Handlungen, etwa Alltagsroutinen, stiften sie einen Sinn und folgen einem Ziel. Aus
16 Ebel (Fn. 12), S. 31 – 37; Gudrun Gleba, Der mittelalterliche Bürgereid und sein Zeremoniell. Beispiele aus norddeutschen Städten, in: Hermann Maué (Hrsg.), Visualisierung städtische Ordnung. Zeichen – Abzeichen – Hoheitszeichen, 1993, S. 169 – 175; Bernd Kannowski, Bürgerkämpfe und Friedebriefe. Rechtliche Streitbeilegung in spätmittelalterlichen Städten (Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte 19), 2001, S. 112 – 115; vgl. jetzt auch Antje Diener-Staeckling, „Verbriefte Teilhabe der Bürger“ – Schwörbriefe als Verfassungsdokumente in der mittelalterlichen Stadt, in: Olivier Richard/Gabriel Zeilinger (Hrsg.), Politische Partizipation in den spätmittelalterlichen Städten am Oberrhein. La participation politique dans les villes du Rhin supérieur à la Fin du Moyen Âge (Studien des Frankreichzentrums 26), 2017, S. 149 – 173. 17 Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale (Historische Einführungen 16), 2013, S. 103 – 105, 117 – 120. 18 Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, 2. Aufl. 2013; ders., Rules and rituals in medieval power games: a German perspective (Medieval law and its practice 29), Leiden u. a. 2019; Dietrich Harth/Dietrich/Gerrit Jasper Schenk (Hrsg.), Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns, 2004; Burkhard Dücker (Hrsg.), Das Ursprüngliche und das Neue. Zur Dynamik ritueller Prozesse in Geschichte und Gegenwart (Performanzen 13), 2008; Barbara Stollberg-Rilinger/ Tim Neu/Christina Brauner (Hrsg.), Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation, 2013; Andreas Büttner/Andreas Schmidt/Paul Töbelmann (Hrsg.), Grenzen des Rituals. Wirkreichweiten – Geltungsbereiche – Forschungsperspektiven (Norm und Struktur 42), 2014.
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dieser Perspektive gilt der Eid, so Barbara Stollberg-Rilinger, als „performativer ritueller Akt par exellence: Er bewirkt, was er symbolisch ausdrückt.“19 Im Ritual des Eides – so könnte man es an dieser Stelle formulieren – spiegelte sich das Selbstverständnis der städtischen Gemeinschaft, der Eid konfigurierte Zugehörigkeit(en) auf unterschiedlichen Ebenen. Diese Zusammenhänge herauszuarbeiten, ist das Ziel der folgenden Ausführungen. Da eine Bestandsaufnahme sämtlicher kommunaler Schwurformen einen einzelnen Aufsatz überfrachten würde, nimmt dieser Beitrag exemplarisch Eidleistungen im Rahmen der Wahl und Einsetzung der Stadträte in den Blick. Das Interesse gilt zunächst dem charakteristischen Zeichenreservoir, das mit Blick auf Gesten, Bewegungen und Eidobjekte streng normiert war.20 In einem nächsten Schritt dokumentieren Fallbeispiele, in welcher Form kollektiv geleistete Eide Identität und Zugehörigkeit innerhalb der Gemeinde zu stiften vermochten.
II. Der Eid der Ratsherren: Körper und Objekte Die Eide der neu gewählten und in ihr Amt eingesetzten Ratsherren waren in mehrfacher Hinsicht standardisiert: Zeit und Ort der Handlung waren ebenso normiert wie die Choreographie des Schwurs sowie die benutzten Objekte. Als wichtigste Eidobjekte galten vom 8. bis zum 13. Jahrhundert Reliquien. Wurde der Schwur zunächst an den Altären oder den Gräbern der Heiligen geleistet, erleichterten Reliquiare, die mit überschaubarem Aufwand von Ort zu Ort transportiert werden konnten, den Vorgang. Da den Partikeln der Heiligen dieselbe Macht und Wirkkraft wie dem gesamten Körper oder gar seiner Begräbnisstätte beigemessen wurden, erwiesen sich Reliquieneide als besonders praktikable Form. Darüber hinaus konnten – je nach Anzahl der verwendeten Reliquienkästchen – auch mehrere Heilige in die Pflicht genommen werden.21 Angelehnt an die Praxis der Reliquieneide diente etwa dem Lübecker Rat die sogenannte „Eidkapelle“ als Schwurobjekt. Nachdem sich die Ratsherren in der Marienkirche versammelt hatten, begaben sie sich zum Rathaus, um im 19 Stollberg-Rilinger (Fn. 17), S. 104; André Holenstein, Rituale der Vergewisserung. Der Eid als Mittel der Wahrheitsfindung und Erwartungsstabilisierung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Edgar Bierende/Klaus Oschema/Sven Bretfeld (Hrsg.), Riten, Gesten, Zeremonien. Gesellschaftliche Symbolik in Mittelalter und Früher Neuzeit, 2008, S. 229 – 252. Zum Verhältnis von Recht und Ritual vgl. Heinz Duchhardt/Gert Melville (Hrsg.), Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und früher Neuzeit (Norm und Struktur 7), 1997; Gerhard Dilcher, Mittelalterliches Recht und Ritual in ihrer wechselseitigen Beziehung, in: Frühmittelalterliche Studien 41 (2007), S. 297 – 316. 20 Allgemein zur Bedeutung der Rituale bei der Amtseinsetzung Marion Steinicke/Stefan Weinfurter (Hrsg.), Investitur- und Krönungsrituale. Herrschereinsetzungen im kulturellen Vergleich, 2005; Helene Basu/Gerd Althoff (Hrsg.), Rituale der Amtseinsetzung. Inauguration in verschiedenen Epochen, Kulturen, politischen Systemen und Religionen, 2015. 21 Lothar Kolmer, Promissorische Eide im Mittelalter (Regensburger historische Forschungen 12), 1989, S. 236 – 238.
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Ratssaal ihren Amtseid auf dieses Objekt abzulegen. Bei der „Eidkapelle“ handelte es sich um einen kleinen Schrein, der eine Kirche darstellte, deren Wände die Apostel und deren Dach Christus, flankiert von zwei Heiligen, zeigten. Vor dieser „Eidkapelle“ hatten die Ratsleute paarweise niederzuknien und unter Berührung des Objekts den Schwur zu leisten. Die Konsequenzen eines Meineids hielt ein Schriftzug, der den Dachfirst schmückte, eindringlich vor Augen: „Os, quod iniqua iuraverit, occidit animam domini.22 Eine ähnliche Funktion erfüllte in Lüneburg der sogenannte „Schwurblock“, der mit Bildnissen des Heiligen Georgs und Johannes des Täufers sowie Darstellungen der Kreuzigung und des Jüngsten Gerichts geschmückt war.23 Zunehmende Bedeutung erlangte im ausgehenden Mittelalter der Eid auf das Evangelium.24 Dies mag dem allgemeinen Anstieg der Schriftlichkeit ebenso wie der Tatsache geschuldet sein, dass durch die zunehmende Literalisierung mehr der kostbaren Codices zur Verfügung standen. Eine der berühmtesten Verfügungen stellt in diesem Zusammenhang ohne Zweifel jene der Goldenen Bulle von 1356 dar, nach der die Kurfürsten vor der Königwahl in der Frankfurter Bartholomäus-Kirche am Altar einen Eid auf das Johannes-Evangelium abzulegen hatten. Warum der Schwur ausgerechnet auf das Johannes-Evangelium geleistet werden sollte, erklärt die Goldene Bulle implizit. Der Text beginne mit den Worten „In principio erat verbum“ – also mit einer Formulierung, die auf die Bedeutung und Wirkung des Eides als verbindlichem Sprechakt bezogen werden konnte.25 Eine ähnliche Funktion erfüllten im kommunalen Bereich Eidbücher, die entsprechende Formeln sowie erbrachte Eidleistungen dokumentierten.26 Zu nennen ist etwa das zwischen 1398 und 1400 entstandene Eidbuch des Kölner Rats, auf dessen Schwurbild die neuen Ratsherren ver22 Poeck (Fn. 14), S. 179 f. Allgemein Stefanie Rüther, Prestige und Herrschaft: zur Repräsentation der Lübecker Ratsherren in Mittelalter und Früher Neuzeit (Norm und Struktur 16), 2003. 23 Stefanie Rüther, Herrschaft auf Zeit. Rituale der Ratswahl in der Vormodernen Stadt, in: Barbara Stollberg-Rilinger u. a. (Hrsg.), Spektakel der Macht. Rituale im alten Europa. 800 – 1800. Katalog zur Ausstellung, 2008, S. 33 – 37 (36). 24 Kolmer (Fn. 21), S. 238 f.; Olivier Richard, Objekte bei städtischen Eidleistungen im Mittelalter, in: Sabine von Heusinger/Susanne Wittekind (Hrsg.), Die materielle Kultur der Stadt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Städteforschungen A/10), 2019, S. 95 – 120 (103 – 106). 25 Die Goldene Bulle vom 10. Januar und 25. Dezember 1356, in: MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. Bd. 11. Dokumente zur Geschichte des Deutschen Reiches und seiner Verfassung 1354 – 1356, bearb. von Wolfgang D. Fritz, 1992, S. 535 – 633, II, 2 (576): „Peracta quoque missa huiusmodi, omnes illi electores (…) accedant ad altare, in quo missa eadem extitit celebrata, ubi principes electores ecclesiastici coram ewangelio beati Iohannis ,In principio erat verbum‘, quod illic ante ipsos poni debebit, manus suas pectori cum reverentia superponant, seculares vero principes electores dictum ewangelium corporaliter manibus suis tangant (…). Et archiepiscopus Maguntinensis formam iuramenti eis dabit et una cum ipsis (…) iuramentum prestabunt vulariter (…).“ 26 Laurence Buchholzer-Remy/Olivier Richard, Die städtischen Eidbücher im spätmittelalterlichen Elsass. Erste Erschließungen der Quellen, in: Laurence Buchholzer-Remy u. a. (Hrsg.), Neue Forschungen zur elsässischen Geschichte im Mittelalter, 2012, S. 177 – 196; Richard (Fn. 24), S. 110.
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pflichtet wurden. Obwohl es sich um städtisches Schriftgut handelte, wurde auch hier der transzendente Bezug durch die Darstellung des Gekreuzigten hergestellt.27 Wie den Eidobjekten selbst kam auch der Gestik der Akteure eine zentrale Bedeutung zu. Die frühe Form erfolgte durch die direkte Berührung der jeweiligen Objekte durch die Schwurhand. Im Verlauf des 13. Jahrhunderts wurde die Hand zunehmend über Gegenstände gehalten.28 Festgelegt war ebenso die Position der Finger, von denen dem Sachsenspiegel zufolge Zeige- und Mittelfinger waagerecht und die übrigen gekrümmt an bzw. seit dem 13. Jahrhundert über das Eidobjekt gehalten wurden.29 Schließlich setzten sich die „Eide mit erhobenen Händen“ durch. Mit dem Verweis, ein Schwur sei „elevatis manibus“ geleistet worden, wird eine der verbreitetsten Gebärden des späten 13. und 14. Jahrhunderts beschrieben, die am Ende des Mittelalters schließlich alle anderen Gesten verdrängte. Dass die erhobene Hand zum Himmel auf Gott und die Heiligen verwies und eine direkte Verbindung zu den Zeugen des Eides herzustellen versuchte, ist eine mögliche Erklärung.30 Karl von Amira interpretierte die Geste als „Abbreviatur des Eidritus“, da bei diesen Handlungen der Verweis auf Reliquien oder andere heilige Gegenstände fehle und die Schwörenden den unmittelbaren Bezug zu den himmlischen Mächten gesucht haben könnten.31 Lothar Kolmer führte eine pragmatische Erklärung an: Eide auf Gegenstände konnten nur durch Einzelne oder bestenfalls überschaubare Gruppen abgelegt werden. Für kollektive Schwurleistungen größerer Personenverbände eigneten sich Eidobjekte kaum.32 Wie indes Ratsdarstellungen zeigen, bedienten sich auch Gruppe überschaubarer Größe der „Eide mit erhobenen Händen“. Sie ist dargestellt im Stadtbuch von Iglau, das seine Entstehung dem zwischen 1360 und 1369 als Stadtschreiber wirkenden Johannes von Gelnhausen verdankt.33 Das erste Blatt des Stadtbuchs zeigt den Rat, der den Schwur mit erhobenen Händen leistet. Die Finger weisen direkt zum Gekreuzigten. Während direkt unter Christus der Hinweis auf die Gerechtigkeit für das städtische Regiment positioniert ist („Juste iudicate filii hominum“), findet sich darunter in goldenen Lettern der Wortlaut des Schwurs: „Wir sweren gote vnd unserm fursten vnd arm vnd reich eyn recht czu stercken vnd eyn vnrecht czu
27 Christoph Friedrich Weber/Christoph Dartmann, Rituale und Schriftlichkeit, in: Barbara Stollberg-Rilinger u. a. (Hrsg.), Spektakel der Macht. Rituale im alten Europa. 800 – 1800. Katalog zur Ausstellung, 2008, S. 51 – 61 (51 f.). 28 Kolmer (Fn. 21), S. 243. 29 Ruth Schmidt-Wiegand, Mit Finger und Zunge. Formen des Schwörens in Text und Bild des Sachsenspiegels, in: Eva Schmitsdorf/Nina Hartl/Barbara Meurer (Hrsg.), Lingua Germanica. Studien zur deutschen Philologie. FS Jochen Splett, 1998, S. 255 – 262. 30 Kolmer (Fn. 21), S. 241 – 243. 31 Karl von Amira, Die Handgebärden in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Abhandlungen 23,2, 1905, S. 161 – 263 (228). 32 Kolmer (Fn. 21), S. 243. 33 Poeck (Fn. 14), S. 291 – 294, sowie ebd., Abb. 21.
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krenken“.34 In ähnlicher Form ist der Ratseid im Rechtsbuch der Stadt Olmütz aus dem beginnenden 15. Jahrhundert ins Bild gesetzt.35 Seit dem 14. Jahrhundert wurden die dortigen Ratsherren jährlich am Laurentiustag, also am 10. August, bestimmt. Die Darstellung des Olmützer Rechtsbuchs zeigt, wie die Ratsherren ihre Schwurhand unter Christus als Weltenrichter erheben. Ihr Eid, der in der Ratsstube abgelegt wurde, folgte einem festgelegten, dem eben zitierten Iglauer Schwur ähnelnden Wortlaut: „Wir sweren gote und dem reiche und unserm herrn, armen und reichen, die zu der state gehoren, daß wir das recht wellen meren und das unrecht weren“.36 Nicht nur für die Gesten und Objekte, sondern auch für die Choreographie der Eidleistung existierten unterschiedlich Formen. Während die Lübecker, wie eben dargestellt, paarweise ihren Eid leisteten, legte etwa der Speyerer Rat mit insgesamt 28 Vertretern seinen Schwur in Siebenergruppen ab.37 Die Handlungen wurden nicht nur performativ und materiell gestaltet, sondern auch akustisch begleitet. Nicht nur zu Ratswahl, sondern auch zum Eid des Gremiums ertönten die Glocken. So dekretierte die Osnabrücker Ratswahlverfassung, die Sate von 1348, dass sich die Bürger der Stadt am Tag nach Neujahr zur Ratswahl zu versammeln hatten, „wanne men de clocken lut“.38 Die Sate war die Folge innerstädtischer Unruhen, bei denen strittige Partizipationsansprüche verschiedener Gruppierungen zur Disposition standen. Sie dokumentierte ein daraus resultierendes Wahlverfahren, das in einem komplexen Ablauf alle Ansprüche gleichermaßen zu berücksichtigen suchte. Ihr Text wurde jährlich verlesen, während die in einem überaus komplizierten Verfahren bestimmten Wahlmänner einen Eid ablegten.39 In einigen Städten existierten Glocken, die ausschließlich der Verkündung von Ratsangelegenheiten dienten – so etwa der radmanne clocken in Bremen.40 Sie besaßen zum einen eine praktisch-informative Funktion, weil sie alle Beteiligten zusammenriefen.41 Zum anderen markierte ihr Schall auch Herrschaftsansprüche, da durch die Reichweite des Glockenklangs Rechtsräume definiert werden konnten.42 Dies dokumen34
Ebd., S. 291. Ebd., S. 295 – 299, sowie ebd., Abb. 14. 36 Ebd., S. 297, Anm. 45. 37 Urkunden zur Geschichte der Stadt Speyer, hrsg. von Alfred Hilgard, 1885, Anhang I, S. 473 – 476 (475): „Und sollent ouch die ratherren die hende legen uffe die heiligen und sollent swern (…)“. 38 Das älteste Stadtbuch von Osnabrück, hrsg. von Erich Fink (Osnabrücker Geschichtsquellen 4), 1927, Nr. 34, S. 35 f. (35). 39 Da sich die Akteure anschließend die Hände zum Zeichen des friedlichen Einvernehmens reichten, entwickelte sich die Bezeichnung „Handgiftentag“. Vgl. Poeck (Fn. 14), S. 67 – 74. 40 Bremisches Urkundenbuch, Bd. 5, hrsg. von Diedrich R. Ehmck/Wilhelm v. Bippen, 1902, Nr. 356, cap. 2, S. 370. 41 Elsbeth Lippert, Glockenläuten als Rechtsbrauch, 1939. 42 Gerald Schwedler, Untrügliche Zeichen von Veränderung. Glocken, Gemeinschaftsformierung und spätmittelalterliche Stadtaufstände am Beispiel von Chemnitz und Braunsberg, 35
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tiert etwa die Praxis der Ratswahl und -vereidigung in Speyer. Hier setzten die Zünfte nach aufreibenden Konflikten in den 1320er Jahren und anschließenden Schiedsverhandlungen die politische Mitsprache durch, die ihren Ausdruck in einer geänderten Ratsverfassung fand.43 Das Gremium setzte sich fortan aus je 14 Vertretern der Zünfte und des Patriziats zusammen und sollte jährlich am Dreikönigstag bestimmt werden.44 Die so entstandene Mischverfassung fand ihren symbolischen Ausdruck im neu gestalteten Ratseid. War der Schwur bislang in der Kapelle des Georgs-Spitals abgelegt worden, so erfolgte die Handlung nun unter dem Glockengeläut der Laurentius-Kapelle.45 Diese hatte in den Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle gespielt, da dort teilweise die Vertreter des alten Rates von den Zünften gefangen gehalten wurden. Der Klang ihrer Glocke geleitete nach der Umstrukturierung des Rats nicht nur die Bürger und die städtischen Funktionsträger zum Eid in die Laurentiuskapelle, sondern er erinnerte auch jährlich an den Erfolg der Handwerker im Kampf um die Partizipation am Stadtregiment. Daher dienten die Glocken der LaurentiusKapelle nicht nur der Kommunikation und Information, indem sie die städtische Gemeinschaft zum Eid zusammenriefen. Sie definierten gewissermaßen als akustisches Symbol für das Selbstverständnis des neuen Stadtrats, in dem sich die Zünfte eine maßgebliche Partizipation gesichert hatten. Das Schwurritual konstituierte die Gruppe des Stadtrats und verpflichtete sie auf die im Wortlaut des Eides formulierten Amtsaufgaben. Die Eide, die durch formalisierte Sprechakte und Gesten begründet und die Verwendung bestimmter Objekte normiert waren, bildeten gewissermaßen den performativen Rahmen. Gleichzeitig stellte der Appell an die heiligen Helfer den Bezug zur sakralen Legitimationsbasis her und band das künftige Wirken der Ratsherren in die göttliche Weltordnung ein. Die für das Amt konstitutive Bedeutung des Eides belegt nicht zuletzt die Tatsache, dass die Formulierung „im Eid sitzen“ als Synonym für die Amtszeit fungieren konn-
in: Martin Clauss u. a. (Hrsg.), Lautsphären des Mittelalters. Akustische Perspektiven zwischen Lärm und Stille (Archiv für Kulturgeschichte. Beih. 89), 2020, S. 271 – 290. 43 Ernst Voltmer, Von der Bischofsstadt zur Reichsstadt. Speyer im Früh- und Hochmittelalter (10. bis Anfang 15. Jahrhundert), in: Geschichte der Stadt Speyer, Bd. 1, 2. Aufl. 1983, S. 249 – 368, S. 324 – 327. Allgemein zur Entwicklung des Gremiums vgl. ders., „Zwölf Männer, nach deren Beschluss die Stadt regiert werden soll.“ Der Speyerer Rat im Mittelalter, in: 800 Jahre Speyerer Stadtrat, 1999, S. 27 – 80; Kannowski (Fn. 16), S. 125 f. 44 Urkunden Speyer (Fn. 37), Anhang VIII, S. 499. 45 Ebd., Nr. 397, S. 326: „Ouch sollent die (…) eht unde zwentzig ratman alle iar nu unde iemerme ewiclichen uf den nehesten dag nach dem zwo(e)lften dage uf dem hove zu˚ Spire mit gelu(e)ter glocken offenlich den rat sweren, als biz her ir gewonheit was zu˚ sweren zu˚ sante Georien capellen, unde sol dar nach alle die gemeinde aller burgere und inwonu˚ ngere zu˚ Spire offenlich sweren zu˚ den heiligen hinder die vorgenanten eht unde zwentzig ratman, in gehorsam zu˚ sinne ane widerrede unde daz gerichte der stedte getrulich unde ernstlich zu˚ schirmenne und zu˚ haltenne, ane alle geverde (…)“. Vorlagen zur Formulierung des Eides (ebd., Anhang I, S. 473 – 476).
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ten.46 Von Bedeutung ist indes nicht nur der Eid also solcher, sondern ebenso die Tatsache, dass er im kommunalen Schriftgut – etwa den Stadtbüchern – an prominenter Stelle präsentiert und aufwendig ins Bild gesetzt wurde. Das Wechselverhältnis von Ritual und Dokument, von Performanz und Schriftlichkeit, kommt indes noch deutlicher im Rahmen der kollektiven Eidleistung der Gemeinde im Anschluss an die Ratswahl zum Ausdruck.
III. Der Eid der Bürger: das Ritual im Dokument – das Dokument im Ritual Der Schwur der Bürger war aufs Engste mit den Wahlen des Stadtrats verbunden, da die kommunale Gemeinschaft durch den Wechsel ihrer Funktionsträger neu gestaltet wurde. Er erfüllte zwei Funktionen: Zum einen wurde die Gemeinde auf die entsprechenden städtischen Normen verpflichtet, die in diesem Zusammenhang häufig verlesen wurden; zum anderen versprachen die Bürger Treue und Gehorsam gegenüber dem neuen Rat.47 Der standardisierte Wortlaut wurde in der Regel vor der Ableistung des Eides vorgelesen, damit seine Gültigkeit nicht an der falschen Wortfolge scheiterte.48 Obgleich der Schwur idealerweise freiwillig vollzogen werden musste, bestand für die Bürger keine Möglichkeit, sich dem Ritual zu entziehen. Die Abwesenheit wurde ebenso sanktioniert wie die Störung durch unangemessenes Verhalten wie Trunkenheit, Zwischenrufe oder Lärm.49 Die Strafen für diese Verstöße konnten von Geldbußen bis hin zum Stadtverweis reichen. Die Stadt Luzern drohte etwa denjenigen mit einer fünfjährigen Verbannung, die während des Eides ohne Erlaubnis des Rats sprachen.50 Mitunter wurde auch zwischen unbeabsichtigtem Versäumnis und Fernbleiben als Zeichen der Konfrontation unterschieden. Während 46 Bremisches Urkundenbuch, Bd. 4, hrsg. von Diedrich R. Ehmck/Wilhelm v. Bippen, 1886, Nr. 227, S. 295: „zitten in den eden“; ebd., S. 296: „in den ede sittet“. Dazu Poeck (Fn. 14), S. 157. 47 Ebel (Fn. 12), S. 24. 48 So etwa der Wortlaut des Speyerer Eides, dessen Formulierung der Stadtschreiber vorgab. Urkunden Speyer (Fn. 37), Anhang I, S. 475: „Dar umbe so hebent uf die hende alle, und swerent und sprechent deme schriber nach. So stabet danne der schriber in den eyt alsus: Wir sullen der stetde von Spire getruwe und holt sin, und die stad und die burgere von schaden warnen, also verre wir kunnen oder mogent, und wollent den burgermeistern und dem rate gehorsam sin ane widerrede, und wollent daz gerichte unser stetde helfen schirmen, also ez beschriben ist, getruwelichen, also bitden wir uns got helfen alle heiligen“. 49 Jooß (Fn. 15), S. 156; Olivier Richard, Eidverweigerung und politische Partizipation in oberrheinischen Städten im 15. Jahrhundert, in: ders./Gabriel Zeilinger (Hrsg.), Politische Partizipation in den spätmittelalterlichen Städten am Oberrhein. La participation politique dans les villes du Rhin supérieur à la Fin du Moyen Âge (Studien des Frankreichzentrums 26), 2017, S. 39 – 62. 50 Jeanette Rauschert, Herrschaft und Schrift, Strategien der Inszenierung und Funktionalisierung von Texten in Luzern und Bern am Ende des Mittelalters, 2006, S. 104 f.
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sich etwa der Züricher Bürger Merkly Frey, der den Eid im Jahr 1381 verschlafen hatte, zwar vor dem Rat verantworten musste, jedoch nicht bestraft wurde, gingen die städtischen Obrigkeiten mit denjenigen, die sich bewusst distanzierten, mit den oben genannten Strafen hart ins Gericht.51 Hatten zunächst ausschließlich die Bürger den Eid zu leisten, so wurde der Schwur seit dem 15. Jahrhundert auch anderen städtischen Gruppen abverlangt. In einigen oberrheinischen Städten mussten auch die Handwerksknechte jährlich schwören: so in Basel ab 1417, in Straßburg ab 1473 und in Freiburg ab 1494. Die Stadtgemeinden griffen dabei zu unterschiedlichen Distinktionsmaßnahmen. In Freiburg wurde etwa den Zunftknechten ein separater Termin zugewiesen. Während der allgemeine Schwurtag am Johannistag, also am 24. Juni erfolgte, hatten die Zunftknechte am 1. August ihren Eid zu leisten.52 In vielen Fällen, in denen sich die kollektiv geleisteten Eide zu einem komplexen Ritual verdichteten, standen die Entwicklungen in engem Zusammenhang mit signifikanten Veränderungen der Stadtverfassung. Diese resultierten zumeist aus innerstädtischen Unruhen, in deren Verlauf die politischen Machtverhältnisse neu ausgehandelt und in einer geänderten Ratsverfassung dokumentiert wurden. In der Regel handelte es sich um Auseinandersetzungen zwischen den etablierten Ratsgeschlechtern einerseits und den Zünften andererseits, die seit der Mitte des 14. Jahrhunderts politisches Mitspracherecht einforderten.53 Die Kontroversen um eine angemessene Partizipation der Handwerker führten zu mitunter blutigen Kämpfen. Die dramatischsten Gewaltausschreitungen sind für Braunschweig überliefert, als die „Große Schicht“ des Jahres 1374 acht Ratsherren das Leben kostete und die übrigen mit ihren Familien zum Verlassen der Stadt zwang.54 Auch wenn die Auseinandersetzungen in den meisten anderen Städten weniger gewaltsam geführt wurden, prägten die aus ihnen erfolgten Verfassungsänderungen dennoch nachhaltig das kommunale Selbstverständnis. Besonders gut dokumentiert sind diese Zusammenhänge für die oberdeutschen und oberrheinischen Reichsstädte, von denen aufgrund der außerordentlich guten Quellenbasis exemplarisch Ulm und Straßburg in den Blick genommen werden sollen. Nachdem in Straßburg der Zugang zum Rat zunächst ausschließlich dem Patriziat, vornehmlich den Familien Müllenheim und Zorn, vorbehalten war, fanden nach
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Richard (Fn. 49), S. 56, mit dem Hinweis auf: Susanna Burghartz, Leib, Ehre und Gut. Delinquenz in Zürich Ende des 14. Jahrhunderts, Zürich 1990, S. 169. 52 Richard (Fn. 49), S. 45 – 47. 53 Grundlegend Kannowski (Fn. 16); Peter Johanek, Bürgerkämpfe und Verfassung in den spätmittelalterlichen deutschen Städten, in: Hans Eugen Specker (Hrsg.), Einwohner und Bürger auf dem Weg zur Demokratie. Von der antiken Stadtrepublik zur modernen Kommunalverfassung, 1997, S. 45 – 73. 54 Matthias Puhle, „Hüter der alten Ordnung“? Die Hanse und die Große Schicht von Braunschweig 1374 – 1380, in: Rudolf Holbach/David Weiss (Hrsg.), Vorderfflik twistringhe unde twydracht. Städtische Konflikte im späten Mittelalter (Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft 18), 2017, S. 197 – 208.
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den Unruhen des Jahres 1332 erstmals auch Vertreter des Handwerks Aufnahme.55 Die neue Zusammensetzung des Gremiums und das Wahlverfahren wurden zwei Jahre später (1334) in einem brieff fixiert.56 Alle Beteiligten verpflichteten sich auf die Einhaltung der Abmachung durch einen Schwur „mit erhobenen Händen“.57 Dieser Eid sollte jährlich mit der Wahl des neuen Rates abgelegt werden.58 Dass die regelmäßige Wiederholung des Schwurs in der zeitgenössischen Wahrnehmung bemerkenswert erschien, legt der Kommentar des örtlichen Chronisten Fritsche Closner nahe, der notierte: „Und mahtent einen brief, noch deme man sollte sweren alle jor, daz vormals nüt gewonheit was“.59 Im 19. Jahrhundert wurde die Urkunde aufgrund der konstitutiven Bedeutung des Eides als Schwörbrief bezeichnet – dieser Begriff ist bis heute etabliert.60 Im Verlauf der folgenden anderthalb Jahrhunderte entstanden in Straßburg fünfzehn weitere Schwörbriefe, deren letzter im Jahr 1482 verfasst wurde und bis zur Französischen Revolution gültig blieb.61 Die unterschiedlichen Versionen, die den ursprünglichen Text nicht als Ganzes verwarfen, sondern Einzelverfügungen korrigierten oder ergänzten, resultierten aus Veränderungen der Stadtverfassung wie etwa neuen Vorgaben für die Ratswahl. Teilweise reagierten sie auch auf soziale Unruhen, wie sie etwa
55 Martin Alioth, Gruppen der Macht. Zünfte und Patriziat im 14. und 15. Jahrhundert, Bd. 1, S. 278 – 286; Sabine von Heusinger, Die Zunft im Mittelalter. Zur Verflechtung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in Straßburg (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beih. 206), 2009, S. 169 – 179. 56 Die Chroniken der oberrheinischen Städte. Straßburg, Bd. 2 (Die Chroniken der deutschen Städte 9), 1871, Beilagen, Nr. 1 (Schwörbrief von 1334 October 17.), S. 932 – 935. Diener-Staeckling (Fn. 16), S. 149 f.; May (Fn. 15), S. 33 – 37. 57 Die Chroniken der oberrheinischen Städte. Straßburg, Bd. 2 (Fn. 56), Beilagen, Nr. 1 (Schwörbrief von 1334 October 17.), S. 933 f. „Disen vorgeschriben brief und alle die artickel daran geschriben stant und ieglichen sunderlingen hant wir die vorgenanten zwein meister und der vorgeschriben ammannmeister, der rat zu˚ Strazburg, die ritter und knehte, die burger, die antwerke und die gemeinde arme und riche gesworn an den heiligen stet zu˚ habende mit ufgehepten henden eweklich (…)“. 58 Die Chroniken der oberrheinischen Städte. Straßburg, Bd. 2 (Fn. 56), Beilagen, Nr. 1 (Schwörbrief von 1334 October 17.), S. 933: „Und so man disen brief alle jare sweren stet zu˚ habende, wenne ein rat abegaut, darnach in den ahte dagen so der nuwe rat gesworn het“. 59 Fritsche (Friedrich) Closener’s Chronik, in: Die Chroniken der oberrheinischen Städte. Straßburg, Bd. 1 (Die Chroniken der deutschen Städte 8), 1870, S. 125. 60 Zu den Schwörbriefen vgl. Richard Olivier/Benoît-Michel Tock, Des chartes ornées urbaines, Les Schwörbriefe de Strasbourg (XIVe-XVe siècles), in: Bibliothèque de l’école des chartes 169 (2011), S. 109 – 128; Richard (Fn. 24), S. 110 – 115. 61 Der Schwörbrief von 1482: L’Alsace au siècle de la réforme. 1482 – 1621. Textes et documents, hrsg. von Jean Lebeau/Jean-Marie Valentin, Nancy 1985, S. 18 – 21; Kristin Zech, Le „Schwörbrief“ de 1482. L’origine et les conséquences de l’exclusion du Grand conseil pour les baigneurs de Strasbourg, in: Revue d’Alsace 140 (2014) S. 59 – 78. Zu Rolle des Schwörbriefs für die Verfassungsstruktur Straßburgs vgl. von Heusinger (Fn. 55), S. 208 – 211.
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im Pestpogrom des Jahres 1349 eskalierten.62 Während zunächst kein verbindlicher Tag existierte, wurde im Jahr 1382 der Sonntag nach Erhardi (8. Januar) als Termin der für den Eid des Rates und der darauffolgende Sonntag als allgemeiner Schwurtag festgelegt.63 Seit diesem Zeitpunkt fand die Zeremonie vor dem Straßburger Münster statt,64 während der Akt zuvor an verschiedenen Orten – unter anderem im bischöflichen Garten – vollzogen worden war.65 Seit der Ratsordnung von 1433 erfolgte die Wahl am ersten Donnerstag eines Jahres, der als Churmorgen bezeichnet wurde.66 Der darauffolgende Dienstag fungierte als Schwörtag, bei dem der Stadtschreiber den Schwörbrief verlas und die Bürger seine Verfügungen beeideten.67 Ein ähnlicher Zusammenhang zwischen der Änderung der Ratsverfassung und der Entwicklung des Schwurtages ist in Ulm zu rekonstruieren. Hier etablierte sich die Praxis des jährlichen Eides in der Mitte des 14. Jahrhunderts.68 Den Ursprung bildete eine Sühne, die am 31. Juli 1345 nach Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen des Patriziats und den Zünften zum Abschluss kam: Die Streitparteien beschworen bei den Heiligen mit erhobenen Händen ihre Gemeinschaft und den kommunalen Frieden.69 Die Übereinkunft präzisierten sie durch einige Verfügungen, die künftiges Einvernehmen sichern und für seinen Zeitraum von zunächst fünf Jahren gelten sollten. Ebenso wie die allgemeine Bereitschaft zum Frieden wurden auch
62 Die Chroniken der oberrheinischen Städte. Straßburg, Bd. 2 (Fn. 56), Beilagen, Nr. 2 (Schwörbrief von 1349 Februar 18.), S. 936 – 938; ebd., Nr. 3 (Schwörbrief von 1371 Januar 20.), S. 938 – 939; von Heusinger (Fn. 55), S. 180 – 186. 63 Karl Theodor Eheberg, Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt Straßburg, Straßburg 1899, Nr. 2, S. 2: „(…) und sol och der nuwe rate alle iare darnach, so er gekosen ist, sweren uf der pfaltzen an dem nehsten sunnedage nach sant Erhartztage; und sol man ouch in den nehsten achte tagen nach demselben sunnendage, alse der rate uf der pfaltzen gesworen hat, vor dem munster sweren“. 64 Die Chronik des Jakob Twinger von Königshofen, in: Die Chroniken der oberrheinischen Städte. Straßburg, Bd. 2 (Fn. 56), S. 782: „(…) also der brief seit dem man alle jor swert vor dem münster zu˚ haltende“. Auch der letzte Schwörbrief von 1482 legt diesen Platz fest: „… und sol man ouch disen brieff alle jor vor dem munster sweren stete zu halten“. (L’Al sace au siècle de la réforme [Fn. 61], S. 20) 65 Fritsche (Friedrich) Closener’s Chronik (Fn. 59), S. 130, zum Jahr 1349 mit dem Verweis auf den Schwur in deme garten. 66 Poeck (Fn. 14), S. 23. 67 Eheberg (Fn. 63), Nr. 23, S. 83 – 88. 68 Der Begriff „Schwörtag“ ist in Ulm jedoch erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts überliefert. Dazu Wolf Henning Petershagen, Schwörpflicht und Volksvergnügen. Ein Beitrag zur Verfassungswirklichkeit und städtischen Festkultur in Ulm (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 29), 1999, S. 86. 69 Ulmisches Urkundenbuch, hrsg. von Friedrich Pressel, Bd. 2, 1898, Nr. 280, S. 279 – 282 (280): „(…) und hant (…) zu den heiligen gelert eid gesworn mit u˚ f erhaben handen stete ze haltent und ze haltende ungevarlich waz wir erdenken künnen und mügen da von frientschaft zuht und frid richen und armen gemeinlichen bekomen mag“. Dies gelobten zunächst die Patrizier den Handwerkern und danach die Handwerker den Patriziern. Petershagen (Fn. 68), S. 30 – 32.
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diese Absprachen beeidet.70 Diese Sühne, die einen konkreten Konflikt beendete, diente vermutlich noch im selben Jahr als Grundlage für die Fixierung der städtischen Verfassung, die den Zünften nicht nur die Partizipation am Stadtregiment, sondern auch die Mehrheit im Rat verbriefte. Dieses später als „Kleiner Schwörbrief“ bezeichnete Dokument fixierte das Wahlverfahren der Zunftmeister, die Modalitäten ihrer Aufnahme in den Rat sowie allgemein die Regularien für die Wahl des Rats und des Bürgermeisters. Ebenso bestimmte es den Georgentag, den 23. April, als Termin der jährlichen Wahlen, denen ein Schwur der Bürger auf das Dokument („uff disen brief“) folgen sollte.71 Nachdem sich erneute Auseinandersetzungen zwischen Patriziat und Zünften entladen hatten, in deren Verlauf die Handwerker ihre Dominanz weiter ausbauen konnten, etablierte sich der „Große Rat“. Seine Zusammensetzung sicherte den Zünften, deren Vertreter nun ein Dreiviertel des Gremiums bildeten, eine deutliche Mehrheit. Diese neue Ratsverfassung wurde im Jahr 1397 im „Großen Schwörbrief“ fixiert.72 Fortan fanden die Ratswahlen einen Monat vor dem Georgentag statt, so dass der Tag selbst ausschließlich dem Eid vorbehalten sein sollte. Am Georgentag hatte die Gemeinde dem Rat und dem Bürgermeister Treue und Unterstützung zu geloben, während die kommunalen Funktionsträger ebenso einen Eid abzulegen hatten. Ebenso wurden in diesem Zusammenhang alle Änderungen der städtischen Statuten beschworen, wie aus einer im Jahr 1376 fixierten Vorschrift abzuleiten ist. Sie dekre70 Ulmisches Urkundenbuch, Bd. 2 (Fn. 69), Nr. 280, S. 282: „Und also han wir alle burger, die niht der antwerch sint, und wir alle burger der antwerch also gemeinlich mit ein ander und zu ein ander alle vorgescriben gesetzt zu den heiligen gelert eide gesworn stete ze haltend und ze habend von nu dem nehsten sant Michels tag und dannan über diu nehsten fünf jar (…)“. 71 Das rote Buch der Stadt Ulm, hrsg. von Carl Mollwo (Württembergische Geschichtsquellen 8), Stuttgart 1905, Art. 192, S. 108 – 111 (110 f.): „Und also han wir der burgermaister, der rat und alle burger, die nit der zunft noch der antwerk sint, und wir die zunftmaister und alle burger der zunft und der antwerk, also gemainlich rich und arm, alle mit ainander ze den hailigen gelert aid uff disen brief gesworn ze halten und ze vollfu(e)ren ungevarlich allez, daz hie vor an disem brief geoffnet und geschriben ist, daz ouch aller jerclich ie uff sant Georien tag, so diu nu(e)werung geschiht, ie geschehen sol.“ Dazu Kannowski (Fn. 16), S. 108 f.; May (Fn. 15), S. 30 – 32; Petershagen (Fn. 68), S. 32 – 37. Zum „Roten Buch“ vgl. ebd., S. 57. 72 Das rote Buch der Stadt Ulm (Fn. 71), Anhang VII, S. 258 – 264; zum Schwörtag S. 263 f.: „Und also haben wir geordnot, daz alle vorgeschriben endrung und verkerung nu˚ furbaz mer ze Ulme ewiklich und ouch alleja(e)rlich beschehn sol in ainem monat, dem nehsten vor sant Gorigentag ana alle geverde. Doch sullen die zunftmaister und ratgeben von den burgern und von der gemainde, dez grossen und dez klainen ratz und och die burger, die niht der ra(e)te noch der zunfte sind, und alliu gemainde gemainlich, der zunfte und antwerk usserhalb der ra(e)te allwegen uf sant Georigentag sweren ainem burgermaister und den ra(e) ten aller vorgeschribnen sache getriulich bigestendig beraten und beholfen ze sind, ane alle geverde. So sol ain burgermaister uf diselben zite herwiderumbe och sweren ainen gelerten aide zu˚ den hailigen mit ufgebotten vingern ain gemain man ze sind richen und armen uf alliu gelichiu gemainiu und redlichiu ding ane alle geverde“; Dorothea Reuter, Der Große Schwörbrief. Verfassung und Verfassungswirklichkeit in der Reichsstadt des Spätmittelalters (1397 – 1530), in: Hans Eugen Specker (Hrsg.), Die Ulmer Bürgerschaft auf dem Weg zur Demokratie. Zum 600. Jahrestag des Großen Schwörbriefs. Begleitband zur Ausstellung, 1997, S. 119 – 150; Petershagen (Fn. 68), S. 39 – 43; May (Fn. 15), S. 32 f.
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tierte, dass alle Neuerungen der Stadtverfassung vier Wochen vor dem Georgentag zu beschließen seien, damit sie am Schwurtag selbst beeidet werden konnten.73 Die veränderte zeitliche Rahmung, die sämtliche inhaltliche Entscheidungen wie die Ratswahlen und den Erlass von Statuten deutlich vom Eid separierte, legt den Rückschluss nahe, dass dem Schwurritual eine verstärkte Bedeutung zukam. Diese schlug sich in einer feierlichen Ausgestaltung des Aktes nieder: Am Georgentag präsentierten sich der amtierende Bürgermeister und der Rat auf „dem Gang“. Es handelte sich vermutlich um eine Art Gerüst oder Empore vor der Heilig-Kreuz-Kapelle. Vor der Gemeinde verkündete der scheidende Bürgermeister den Namen seines Nachfolgers und ließ den Schwörbrief verlesen. Daran schloss sich seine Aufforderung an die Gemeinde an, seine Einhaltung zu beeiden. Auch Wortfolge der Schwurs gab der scheidende Bürgermeister vor: „also hebent uff und sprech mir ein Jeder nach: Als ich mit Worten beschaiden bin und des verlesen brieff innhallt, das ich das hallten und thun woll getrewlich und ungevarlich, also bitt Ich mir Gott zu helffen.“ Im Anschluss wies er seinem Nachfolger an: „Burgermeister, so werdent ir schwörn ein gemainer Mann zu sein reichen und armen uff alle gleiche gemaine und redliche sing ob alle geverde“. Den Abschluss bildete der Eid des neu gewählten Bürgermeisters. „Alls ich mit Worten beschaiden bin unnd der Brieff innhalt das ich das thun wolle getrewlich und ungeverlich. Also bitt Ich mir Gott zu helffen“.74 Sowohl in Straßburg als auch in Ulm kam den Schwörbriefen im Ritual eine konstitutive Bedeutung zu, da sie der Gemeinde präsentiert und verlesen wurden. Für Straßburg wurde darauf verwiesen, dass nur Passagen der Urkunde vorgetragen wurden. Die Verlesung des gesamten Textes erfolgte bereits im Vorfeld, am Sonntag vor dem Schwörtag, in den jeweiligen Stuben der Straßburger Zünfte. Es ging, so Olivier Richard, „eher darum, das Originaldokument zu sehen als es zu hören.“75 Daher erfüllte der Schwörbrief am Tage der Eidesleistung weniger eine informative, sondern eher repräsentative Funktion.76 Für Ulm konstatierte Bernd Kannowski, dass „die Urkunde als körperlicher Gegenstand im Vordergrund stand: Der Schwörbrief stellte einen festen Bestandteil eines Rechtsrituals dar, das Ergebnis und Symbol durch die Zünfte erkämpfter Mitbestimmung war.“77 Dass von der Urkunde als Ritualobjekt eine besondere Wirkung ausging, von der auch die Verbindlichkeit des Urkundeninhalts abgeleitet wurde, zeigt sich etwa auch an Unmutsbekundungen der Beteiligten, wenn schadhafte Dokumente oder keine Originale benutzt wurden. Als in Luzern etwa im Jahr 1431 statt 73 Das rote Buch der Stadt Ulm (Fn. 71), Art. 172, S. 91: „(…) waz aber daz wer, daz man verkern oder mindern oder meren wo(e)lt, daz sol und mag man wol tu˚ n in vier wochan vor sant Georien tag (…)“. 74 Zitiert nach Jooß (Fn. 15), S. 155. 75 Richard (Fn. 24), S. 111. 76 Rauschert (Fn. 50), S. 27 – 49 (47), bezeichnet die Schwörbriefe als „materialisiertes Symbol der Rechtsgültigkeit der Sprechhandlung“. 77 Kannowski (Fn. 16), S. 157 f.
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des Schwörbriefs eine Abschrift verwendet wurde, verweigerten einige Bürger den Eid.78 Dass eher die Aura des Objekts selbst und weniger die Information über seinen konkreten Inhalt am Schwurtag zur Disposition stand, belegt auch ein pragmatischer Kompromiss aus Basel im Jahr 1503. Nachdem die Stadt im Jahr 1501 der Eidgenossenschaft beigetreten war, fanden Rat und Bischof zunächst keinen Konsens über die daraus resultierenden Änderungen der Stadtverfassung (Handfeste). Daher verlas man beim Schwörtag die aus dem 13. Jahrhundert stammende Version, die längst von den politischen Entwicklungen überholt war: „Der Inhalt der Handfeste war nicht mehr rechtsverbindlich, was zählte, waren ihre performativen Qualitäten.“79 Die die städtische Verfassung repräsentierenden Urkunden wurden auf diese Weise zum Eidobjekt, das keine genuin sakrale, sondern nunmehr eine kommunale Provenienz aufwies. Diese Entwicklung, in deren Zusammenhang auch die oben angeführten Eidbücher und Stadtbücher stehen,80 bedeutete indes keine Säkularisierung der Schwurrituale. Ganz im Gegenteil: Auch das kommunale Schriftgut und die entsprechenden Eidformeln stellten in Wort und Bild einen transzendenten Bezug her. Die für das kommunale Selbstverständnis zentralen Texte ersetzten daher nicht das traditionelle Eidritual, sondern ihnen kam eine additive Funktion zu. Zu konstatieren ist ebenfalls, dass die ursprünglich auf denselben Zeitpunkt angelegten Abläufe der Ratswahl und des Kollektivschwurs zeitlich separiert wurden. In Straßburg lagen zwischen Ratswahl und Eid vier Tage, in Ulm sogar vier Wochen. Es drängt sich die Annahme auf, dass dem Eidritual selbst eine höhere Bedeutung zugemessen und für den Vorgang aus diesem Grund ein exklusiver Tag reserviert wurde. Mit diesem Befund korrespondiert die Tatsache, dass das Ereignis gleichzeitig an Stellen verlegt wurde, die einer möglichst großen Menge leicht zugänglich waren. Zu erinnern ist etwa an die Tribüne vor der Heilig-Kreuz-Kapelle in Ulm. Der Höhepunkt der ausladenden Gestaltung der Schwörtage wurde indes erst in der Frühen Neuzeit erreicht, als sogar eigene Gebäude, die sogenannten „Schwörhäuser“, für diesen Vorgang errichtet wurden.81 78
Rauschert (Fn. 50), S. 141 f., mit dem der Fall der Gemeinde Weggis, die der Stadt Luzern als Inhaberin der Vogteirechte den Schwur verweigerte, weil die benutzten Urkunden Löcher gehabt hätten. 79 Christoph Friedrich Weber, Vom Herrschaftsverband zum Traditionsverband? Schriftdenkmäler in öffentlichen Begegnungen von bischöflichen Stadtherren und Rat im spätmittelalterlichen Basel, in: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 449 – 491 (483); vgl. auch ders., Dauer und Wandel, Identität und Schriftgebrauch in der symbolischen Kommunikation des Spätwebermittelalters. Das Beispiel der öffentlichen Begegnungen im Basler Herrschaftsverband, in: Stefanie Rüther (Hrsg.), Integration und Konkurrenz: symbolische Kommu nikation in der spätmittelalterlichen Stadt (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 21), 2009, S. 19 – 36. 80 Siehe oben bei Fn. 27. 81 Zum Ort der Eidleistung Petershagen (Fn. 68), S. 119 – 122. Die Bürger von Ulm versammelten sich ab 1612 im Schwörhaus, das die Heilig-Kreuz-Kapelle ersetzte. Dazu Jooß (Fn. 15), S. 156. Ähnliche Gebäude existierten auch in Reutlingen (ebd., S. 161 – 163) und Schwäbisch Gmünd (ebd., 163 – 165).
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Der Etablierung der Schwörtage lagen jedoch nicht zwingend Dokumente in Form der Schwörbriefe zugrunde.82 So wurde etwa in Esslingen der Schwörtag im Jahr 1376 im Rahmen der sogenannten Regimentsordnung institutionalisiert.83 Diese enthielt die Regularien zur Wahl der Zunft- und kommunalen Ämter und endete mit der Verpflichtung, dass an jedem Sonntag vor Jakobi der Bürgermeister der Gemeinde einen Eid und im Anschluss die Gemeinschaft dem Bürgermeister einen Schwur abzulegen hatten.84 Der Verfassung vorangegangen war ein kaiserliches Privileg, in dem Karl IV. im September 1375 der Stadt den Erlass von Gesetzen gestattete.85 In diesem Zusammenhang dekretierte die Kommune zunächst einen Straferlass gegen diejenigen, die gegen die Gesetze verstoßen sollten.86 Ebenso verpflichtete man die Gemeinde auf wechselseitige Einhaltung von Friede und Freundschaft.87 Auf den regelmäßigen Schwur, bei dem auch die kommunalen Gesetze verlesen wurden, verweist in Esslingen auch das spätere Statutenbuch von 1491, aus dem zu erfahren ist, dass „die nacheschriben Satzungen gemacht und damit geordndet habe, das die alle Jar, so ain Burgermaisterer weltet wirdt, offentlich verkundt und von unns allen zu hallten geschworen werde“.88 Ähnlich wie in Ulm versammelte man sich auch in Esslingen seit dem 14. Jahrhundert vor dem sogenannten „Schwörhaus“.89
IV. Die Stadtgemeinschaft im Spiegel ihrer Eidrituale Im Schwur und seiner rituellen Ausgestaltung konfigurierten sich die Zugehörigkeiten der städtischen Bevölkerung auf unterschiedlichen Ebenen. Die Eide der 82
Vgl. Buchholzer-Rémy (wie Fn 15). Jooß (Fn. 15), S. 158 – 161; Otto Borst, Geschichte der Stadt Esslingen am Neckar, 1977, S. 145 f. 84 Urkundenbuch der Stadt Esslingen, Bd. 2, bearb. von Adolf Diehl, 1905, Nr. 1421, S. 144 – 147 (145 f.): „Und wenn denne derselbe sunnentag kumet, sol grosser und clainer rat zesamen komen und darzu diu gemainde uberal rich und arme und sulen dieselben da offenlich lutbaren und kunden, welhi sie erwelt haben ze richtern und ze ratherren, und dieselben rihter und ratherren sulen och dem geriht und dem rat sweren ungevarlich alz sitte und gewohnlich ist. Und uff denselben tag, so sol denne der nuw rat (…) welent ainen burgermaister (…). Derselbe erwelt burgermaister sol ouch denn sweren, der stat und dem lande und darzu richen und armen das beste und daz wagste zu tund an gevarde, und demselben nuwen burgermaister sol denn ouch uff denselben tag baidiu clainer und grosser rat und alle burger die under dehainem burgermaister sint und darzu diu gemainde uberal rich und arme sweren zu den hailigen undertenig und gehorsam ze sinde (…)“. 85 Ebd., Nr. 1414, S. 140 – 142. 86 Ebd., Nr. 1419, S. 143. 87 Zum Begriff der Freundschaft als „Leitbegriff des Stadtregiments“ vgl. Kannowski (Fn. 16), S. 147 – 159. 88 Jooß (Fn. 15), S. 159. 89 Ebd., S. 161. 83
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Stadträte stellten ihre sakrale Legitimation her und banden ihr künftiges Wirken in die göttliche Weltordnung ein. Die Eide der Stadtbevölkerung in Form der coniuratio reiterata wirkten gleichermaßen gemeinschafts- und herrschaftskonstituierend, weil der Schwur nicht nur die Kommunität bekräftigte, sondern durch das Treue- und Gehorsamsversprechen gegenüber dem Rat ebenso ein hierarchisches Verhältnis konstituierte. Auf diese Weise schufen die Schwurrituale kollektive Identitäten, die retrospektiv wie prospektiv gleichermaßen wirkten. Sie verorteten erstens die Handelnden in einem zeitlichen Rahmen: Jeder Schwur besaß einen chronologisch exakt zu bestimmenden Ursprung, der durch einen erstmaligen Vollzug definiert sein konnte. In der Regel handelte es sich um ein normbildendes Ereignis, das die Rechtsgemeinschaft geformt hatte. Dies konnte etwa die Fixierung einer (neuen) Ratsverfassung sein, die jährlich verlesen und vollzogen wurde. Der retrospektive Blick auf den gemeinschaftsstiftenden Vorgang entwickelte sich zum integralen Bestandteil des Eidrituals. Als Bezugspunkte der Erinnerung dienten Orte, die man mit bestimmten Ereignissen verband – erinnert sei an die Laurentius-Kapelle in Speyer – oder Schwurobjekte städtischer Provenienz. Auf die Weise fungierten etwa die Schwörbriefe, die an prominenter Stelle in den Eidritus eingebunden wurden, als Symbole des Stadtrechts. Die Handlungen begründeten zweitens Einheit und Zusammenhalt zwischen den schwörenden Individuen. In diesem Kontext verpflichteten sich die Akteure auf bestimmte Werte und Normen, denen ihr Verhalten zu folgen hatte. Auf diese Weise schufen die Eide ein auf die Zukunft ausgerichtetes Bewusstsein. Die Teilhabe am Schwur integrierte nicht nur die Funktionsträger, sondern auch diejenigen, die zwar schwören durften, selbst aber nie Aussicht auf die Ausübung eines Amtes hatten. Der Eid, so formulierte es Jörg Rogge, „konstituierte nicht nur die Herrschaftsrelation zwischen Obrigkeit und Gemeindemitgliedern, sondern generierte außerdem Kohäsion und Konsens in der Bürgerschaft.“ Das Schwurritual nivellierte zwar keine sozialen und ökonomischen Unterschiede, es ermöglichte jedoch „ein Gemeinschaftserlebnis (…), das spezifische kollektive Gefühle, eine kollektive Identität bei den Individuen auslöste.“90 Die so erzeugte nach innen ausgerichtete Identität generierte gleichzeitig Alterität, da sich die Schwörenden von Personen abgrenzten, die nicht an den Handlungen partizipieren wollten oder durften. Daher war es nur folgerichtig, dass denjenigen, die sich dem Eid verweigerten oder das Versprechen brachen, der Ausschluss aus der Gemeinschaft angedroht wurde. Die inkludierende Kraft des Eides wandte sich bei Verstößen gegen die Delinquenten, so dass die Exklusion aus der städtischen Gemeinschaft eine beinahe zwingende Konsequenz war. Der Straßburger Schwörbrief von 1334 verfügte etwa, dass derjenige, der seine Verfügungen missachtete, 90
Jörg Rogge, Stadtverfassung, städtische Gesetzgebung und ihre Darstellung in Zeremoniell und Ritual in deutschen Städten vom 14. bis 16. Jahrhundert, in: Giorgio Chittolini/ Peter Johanek (Hrsg.), Aspetti e componenti dell’identità urbana in Italia e in Germania (secoli XIV – XVI). Aspekte und Komponenten der städtischen identität in Italien und Deutschland (14. – 16. Jahrhundert), Bologna 2003, S. 193 – 226 (211).
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seine Rechte verlieren und auf ewig der Stadt verwiesen werden sollte.91 Vergleichbare Sanktionen sah das Osnabrücker Stadtbuch vor, das denjenigen die Vertreibung aus der Stadt mit ihren Familien androhte, die den Bürgereid verweigerten.92 Dass sich die städtische Acht, die Missetäter je nach Umfang des Vergehens temporär oder sogar dauerhaft der Kommune verwies, als Sanktion etablierte, verwundert daher kaum.93 Aus dieser Perspektive kann der Ausschluss als Inversion der Gemeinschaftsbildung betrachtet werden. Mitunter bedienten sie sich die rituellen Ausdrucksformen der Exklusion ähnlicher Formen wie die der Gemeinschaftsstiftung. Wie etwa die Glocken der Stadt zu den Schwörtagen läuteten, so erklangen sie ebenfalls, wenn Geächtete der Stadt verwiesen wurden. In Freiburg etwa wurden die Delinquenten durch Glockengeläut aus der Stadt und der Gemeinschaft ausgeschlossen: „die rechtlos sint ze Friburg, vnd belütet sint mit der gloggen“.94 Wer sich der integrativen Kraft des Eides verweigerte und gegen die durch ihn begründeten Rechtsregeln verstieß, verlor aus dieser Perspektive den Anspruch auf die Teilhabe an der Kommunität: im Diesseits, wie die eben angeführten Straßburger Satzungen bestimmten, und im Jenseits – wie es das Gerichtsbild im Rathaus von Wesel seinen Betrachtern vermittelte.
91 Die Chroniken der oberrheinischen Städte. Straßburg, Bd. 2 (Fn. 56), Beilagen, Nr. 1 (Schwörbrief von 1334 October 17.), S. 934: „(…) wer och der wer der wider disen vorgeschriben brief deite oder wider deheinen artickel der daran geschriben stat (…) und daz küntlich würde gemachtet meister und rat (…), der sol meineidig sin und sol sin burcreht verlorn haben und sol niemer me zu˚ Strazburg noch in den burcban komen (…)“. 92 Stadtbuch von Osnabrück (Fn. 38), Nr. 11, S. 22: „(…) wer ed (…), de des eydes nicht doen en wolde, (…) de zolde entwiken uthe Osenbrugge mit wyve unde myt kinderen unde he numermeer mit uns to wonene eder bynnen Osenbrugge to komene myt willen unde witscop des rades to Osenbrugge“. 93 Isenmann (Fn. 13), S. 514 f.; Gerd Schwerhoff, Vertreibung als Strafe. Der Stadt- und Landesverweis im Ancien Régime, in: Sylvia Hahn (Hrsg.), Ausweisung, Abschiebung und Vertreibung in Europa. 16. – 20. Jahrhundert. Innsbruck 2006, S. 48 – 72; Franz Arlinghaus, Inklusion – Exklusion. Funktion und Formen des Rechts in der spätmittelalterlichen Stadt. Das Beispiel Köln (Norm und Struktur 48), 2018, S. 306 – 325. 94 Urkundenbuch der Stadt Freiburg im Breisgau, hrsg. von Heinrich Schreiber, Bd. 2, Freiburg i. Br. 1829, Nr. 563, S. 145. Dazu auch Claudia Garnier, Weder husen noch hofen – weder mit kouffen noch mit verkouffen. Städtische Konflikte und Achtverfahren im ausgehenden Mittelalter, in: Rudolf Holbach/David Weiss (Hrsg.), Vorderfflik twistringhe unde twydracht. Städtische Konflikte im späten Mittelalter (Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft 18), 2017, S. 69 – 82.
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Derick Baegert, Weseler Gerichtsbild „Die Eidesleistung“ (1493/94) (Städtisches Museum Wesel)
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Diskussion Jürgen Brand: Vielen Dank für diesen schönen Vortrag, der nochmal die Ikonografie sehr schön gezeigt hat und auch die konstitutive Wirkung des Eides. Was mir ein bisschen zu kurz kam, war die Gefahr, die im Eid liegt. Also, Wilhelm Ebel hat ja gesagt, der Eid ist das Gefährlichste aller Geschäfte, und Hans Hattenhauer hat das damit begründet, dass er gesagt hat, das ist eine bedingte Selbstverfluchung. Und in dem Augenblick, das haben Sie ja schön geschildert, wenn sich jemand dem Eid verweigert, dann liegt die Vermutung nahe, dass er schon einen anderen Eid geschworen hat. Und diese anderen Eide begleiten uns ja seit frühester Zeit: Hincmar von Reims, Albert von Metz, bis in die Reichszunftordnung von 1731, da wird den Handwerkern verboten zu schwören. Warum? Weil auch da natürlich dieses zauberische Pattex einer Gemeinschaftsbildung dann wirkte und das verband ja dann dieses Pattex, dieses Klebemittel, mit dem Jüngsten Gericht als Endpunkt, das haben Sie ja mehrfach auch erwähnt. Es verband natürlich auch diese andere Coniuratio untereinander und Coniuratio und Conspiratio sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille und der Kollege Kley aus der Schweiz ist ja nicht umsonst stolz, dass er für die Eidgenossenschaft gesprochen hat. Das sind nämlich diejenigen, die gewonnen haben. Die anderen sind Verschwörer und kriegten den Kopf ab. Und diese Ambiguität des Eides ist wirklich faszinierend: wie man überall, also in jedem Jahrhundert, Dutzende von Schwörverboten in den Urkunden findet und gleichzeitig Aufforderungen zum Eid. So nach dem Motto „Willst du nicht mein Bruder sein, dann…, also du musst mit mir schwören“. Das ist eine ganz ambivalente Situation. Auch für die armen Bürger, die dann da, das haben Sie ja schön gezeigt, aufgefordert wurden, zu schwören. Wenn Sie aber bei ihrer Genossenschaft, sei es im Handwerk oder einer anderen Genossenschaft schon geschworen hatten, dann waren Sie natürlich genauso gebunden wie bei dem Bürgereid. Claudia Garnier: Herr Brand, vielen Dank. Ja, der Eid ist natürlich für den städtischen Raum eine ubiquitäre Erscheinungsform. Denn nicht nur die Stadt selbst ist eine Schwurgemeinschaft, sondern die Stadt begibt sich auch nach außen in Schwurgemeinschaften. Sie ist eingebunden in Städtebünde und Landfrieden. Diese bilden gewissermaßen eine Kaskade von Schwurgemeinschaften, die nach außen gerichtet sind. Im Inneren der Stadt ist eine vielfältige Verflechtung von Eiden zu rekonstruieren. In Straßburg gibt es zum Beispiel sogar einen Eid für die Kommission, die für die Beschauung der städtischen Pferde zuständig ist. Der Eid ist also allgegenwärtig. Am Anfang meines Vortrags habe ich betont, dass die Vorbehalte gegen den Eid vor allem dadurch kamen, dass eine Gemeinschaft – wie auch immer sie konfiguriert sein mag und aus welchen Gründen sie sich zusammenschließen mag – durch ihren Zusammenschluss nach innen gleichzeitig exkludierend nach außen wirkt. Ich denke,
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dass dies der Grund dafür ist, dass dem Eid unter bestimmten politischen Verhältnissen und in bestimmten konkreten Situationen die negative Ausrichtung in Form der Conspiratio anlastet. Siegrid Westphal: Ganz herzlichen Dank für den schönen Vortrag und den Einblick in ganz andere Formen von Identitätsstiftung. Zwei Fragen habe ich ganz konkret. Zum einen würde mich das Verhältnis zwischen individueller Eidesleistung beim Bürgereid oder unter anderem beim Bürgereid und sozusagen zur kollektiven Eidesleistung interessieren. Steckt da vielleicht der Gedanke dahinter, dass auch der kollektive Eid immer noch wieder eine Erneuerung des individuell geleisteten Eides ist, also ist das auch sozusagen nochmal eine jährliche Wiederholung des individuellen Eides? Und die zweite Frage, die mich interessiert, betrifft die Identitätsstiftung. Sie haben jetzt die nach innen gerichtete Identitätsstiftung über diese kollektive Eidesleistung in den Blick genommen und das auch gleichzeitig als Ausgrenzungskriterium benannt. Jetzt haben wir aber doch ganz unterschiedliche Stadtverfassungen. Unter anderem haben wir ja auch einfach Reichsstädte, Mediatstädte, wir haben auch Hansestädte, jetzt wirkte das alles wie eins. Wird aber hier nicht Identitätsstiftung nach den unterschiedlichen Stadtverfassungen auch ganz unterschiedlich hergestellt? Also es muss ja in einer Reichsstadt durchaus eine andere Identität vorhanden sein als in einer Mediatstadt. Und die Hansestädte müssen auch noch über die Identitätsstiftung nach innen, ja im Grunde auch noch eine Identitätsstiftung in den Verbund herstellen. Also wie bekommen Sie diese Problematik in ihr Thema noch hinein? Das wäre eine Ergänzung vermutlich. Claudia Garnier: Für ihre Ergänzung bin ich Ihnen sehr dankbar. Mir ging es in meinem Vortrag zunächst darum, den Eid grundsätzlich als Ritual darzustellen und noch nicht auf die spezifischen Rechts- und Verfassungsformen der Städte einzugehen, die natürlich überaus wichtig sind. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass sich die kollektiven Schwörtage gerade in den süddeutschen Reichsstädten etabliert haben und für die frühe Neuzeit sehr gut erforscht sind, da sie ein besseres zeitliches Untersuchungsfeld als das ausgehende Mittelalter bietet. Sie haben natürlich Recht, dass man neben den Reichstädten auch einen Blick auf die übrigen Verfassungsformen der Städte werfen muss. Im norddeutschen Bereich etwa spielte die kollektive Eidleistung eine wesentlich geringere Rolle. Hier stand vor allem der Eid der Bürgermeister beziehungsweise der Eid der Stadträte, der entsprechend performativ ausgestaltet wurde, im Fokus. Ich gebe Ihnen Recht, dass man die jeweilige Bedeutung des Eides in Abhängigkeit von den städtischen Verfassungsformen präzisieren muss. Zur Frage nach dem Verhältnis von individuellem und kollektivem Eid: Zunächst spielte der individuelle Eid eine zentrale Rolle. So fixierten etwa die Schwörbriefe, wer überhaupt schwören durfte. Interessant ist in dieser Hinsicht der Straßburger Schwörbrief, der in seinen verschiedenen Versionen das Alter der Schwurberechtigten veränderte. Dieses Beispiel zeigt, wie Rechtsregeln modifiziert und angepasst wurden. Gleichzeitig war es wichtig, dass alle beim Schwörtag anwesend waren. Die Städte verwandten im 15. Jahrhundert eine unglaubliche Energie darauf, dies
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auch sicherzustellen. Teilweise delegierten sie die Verantwortung für die Präsenz am Schwörtag auch auf die nachgeordneten Vereinigungen, z. B. auf die Zünfte. So wurde etwa in den Straßburger Zunftstuben nicht nur der Schwörbrief verlesen, sondern auch die Anwesenheit aller Zunftmitglieder nachgehalten. Abwesende wurden mit Sanktionen belegt. Fast alle Stadtrechte sahen vor, dass diejenigen, die sich der Eidleistung entzogen, mindestens eine pekuniäre Strafe zu leisten hatten. Zudem existierten weitere Instrumentarien der persönlichen sozialen Kontrolle. Schwörende sollten etwa dem Rat melden, wenn diejenigen, die beim Schwörtag neben ihnen standen, zwar anwesend waren, aber keinen Eid leisteten. Auch Störungen des Eidrituals etwa durch Lärm oder gar Musik wurden sanktioniert. Die Städte versuchten also, den performativen Vorgang des Schwörtages bestmöglich abzusichern. Diese Maßnahmen dokumentieren die wichtige Bedeutung des kollektiven Eides, in den die Individuen eingebunden waren. Rainer Polley: Durch meine Eigenschaft als Archivar möchte ich Ihnen auch ganz herzlich danken für die wunderschönen Dokumente, die Sie auch im Rahmen Ihres Vortrages hier gezeigt haben. Also die Straßburger Schwörbriefe von 1400 sind ja ein Kunstwerk, ganz wunderschön. Sie haben diese Thematik nun in einer Zeit dargestellt, von der man eigentlich auch diese ganzen Prinzipien „Eid, die Bedeutung des Eides“ sehr erwartet. Mir fällt allerdings praktisch noch eine ganz besondere Erscheinung ein, über die ich vor 40 Jahren mal einen längeren Aufsatz geschrieben habe. Ich weiß auch gar nicht mehr so ganz, was ich da alles so formuliert habe, aber ein ganz großer Sprung war vom Spätmittelalter zum Jahre 1831, denn da ist die kurhessische Verfassung erlassen worden, 1831, eine der bedeutendsten Verfassungen des 19. Jahrhunderts, auch so von der Modernität. Und in einem Artikel dieser Verfassung steht dann – und das habe ich dann mal geschildert, wie das in den ganzen Städten und Dörfern abgelaufen ist – musste die Bevölkerung praktisch, also das musste vorgelesen werden, diese Verfassung, und dann wurde die Bevölkerung vereidigt auf diese Verfassung, wobei es eben im katholischen Bereich manchmal auch Schwierigkeiten gab in Bezug auf die Religionsverhältnisse, also es hat auch Verweigerungen gegeben, ich weiß nicht mehr ganz genau. Also der Kollege Grote, der wäre auch ein ganz kompetenter Kenner, ich vermisse ihn nur heute leider dabei, der das auch noch hätte ausführen können. Ich schicke Ihnen nochmal einen Sonderdruck, vielleicht lässt sich da sogar da sogar noch eine Brücke in das 19. Jahrhundert schlagen. Danke schön. Claudia Garnier: Vielen Dank, Herr Polley. Vielleicht erlauben Sie mir noch einen Sprung vom Jahr 1831 ins Jahr 2009. Erinnern Sie sich an den Amtseid, den der US-Präsident Barack Obama geleistet hat und der wiederholt werden musste? Denn Obama wurde der Wortlaut des Eides vom Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs vorgelesen. Dieser setzte in der Wortfolge des Eides jedoch das Wort „faithfully“ an die falsche Stelle. Daraufhin wurde der Amtseid am nächsten Tag in der korrekten Wortfolge wiederholt. Dies als Anmerkung für die Longue durée der performativen Bedeutung des Eides.
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Simon Kempny: Das knüpft auch schön an, also diese eigenständige Bedeutung dieses performativen Aktes, dieses Schauspiels. Da hätte ich eine Nachfrage: Wie eng sah man das mit der Präsenzpflicht bezüglich der nicht Eidesfähigen? Also man könnte sich ja vorstellen, dass das auch irgendeine Rolle spielte, weil die ja irgendwo als Bürger zweiter Klasse auch unterworfen sind, sie dürfen halt nur nicht mitwirken. Aber wenn die sehen, ach die, die uns vorgesetzt sind, die verpflichten sich da selbst, dann betrifft uns das ja erst recht. Das könnte also sozial stabilisierend wirken, wenn man die auch beizieht. Also das wäre die eine Frage und die andere Frage bezieht sich auf den kollektiven Bürgereid, diese Coniuratio reiterata, soweit durchgeführt, also offenbar eher im süddeutschen Raum: Wird die üblicherweise gesamthaft abgelegt, wie auf dem Ulmer Bild zu erkennen oder gab es da wie bei den Ratsherrenamtseiden auch vielfältige Erscheinungsformen nacheinander nach Namensaufruf, in Kleingruppen oder zunftweise? Das würde mich noch interessieren. Claudia Garnier: Vielen Dank. Ich beginne mit Ihrer letzten Frage zum Detailablauf. In den Dokumenten wird immer wieder darauf verwiesen, dass der Eid vorgelesen und mit erhobenen Händen, die ich im Vortrag auch angesprochen habe, geleistet wurde. Ich gehe davon aus, dass sein Wortlaut von allen Anwesenden kollektiv nachgesprochen wurde und dass alle den Ablauf kannten. Eben habe ich bereits erwähnt, dass die Organisation des Ablaufs den nachgeordneten Institutionen, z. B. den Zünften, überantwortet wurde. Diese leiteten ihre Mitglieder genau an. Ihre weitere Frage bezog sich auf diejenigen, die zwar in der Stadt lebten, aber keinen Bürgereid leisten durften. Im 15. Jahrhundert entwickelten die Städte umfassende Bemühungen, auch diese Personengruppen eidlich zu verpflichten. Dies zeigt sehr deutlich, wie sich der bürgerliche Gemeinschaftseid zu einem Schwur, der einer Obrigkeit geschuldet war, entwickelte. Fast alle Personen, die in der Stadt lebten, mussten einen Eid ableisten, auch Knechte und Hintersassen. In Freiburg waren es dann sogar auch die Frauen, die jedoch nicht schwören, sondern nur geloben durften. Dies zeigt, dass alle, die in der Stadt lebten, in den Eid eingebunden wurden. Teilweise wurden sie in den Schwörtag selbst integriert und konnten mit den Bürgern den Eid leisten. Teilweise gab es auch separate Schwörtage für diese Gruppen, die an anderen Stellen und zu anderen Terminen stattfanden. Die Varianzen waren vielfach. Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass man im 15. Jahrhundert versuchte, das Instrumentarium des Eides auch auf alle anderen Bevölkerungsgruppen in der Stadt auszudehnen. Karsten Ruppert: Ja, ich wollte eigentlich genau die gleiche Frage stellen wie der Vorredner, aber ich wollte da auch nochmal unterstreichen: Wir sprechen ja von der Gemeinschaftsbildung und der Evozierung eines Gemeinschaftsgefühls durch den Eid, aber Ihr Vortrag hat ja auch implizit zumindest gezeigt, dass der Eid auch exkludierend ist und zwar in der Stadtgemeinschaft selbst. Die Amtsträger werden ja ganz deutlich abgehoben von den anderen durch die Eidschwörung und das andere Problem, was ich auch gesehen habe, war, wie repräsentativ war denn der Eidschwur der Bürgergemeinschaft? Weil ja, wie sie sagten – es waren ja auch große Gruppen ausgeschlossen zunächst einmal. Die Frauen schwörten ja nicht mit und wie war es mit den Juden, die durften ja doch sicherlich auch nicht mitschwören, und inwiefern
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waren die denn dann auf die Verpflichtungen, die die anderen durch den Eid eingegangen waren, verpflichtet, wenn sie nicht mitschworen? Claudia Garnier: Das ist ein ganz wichtiger Hinweis. Teile Ihrer Frage habe ich partiell bereits beantwortet. Der Eid schuf selbstverständlich hierarchische Verhältnisse. Er beruhte zum einen auf dem Gemeinschaftsgedanken der Coniuratio, aber zum anderen konstituierte er auch ein hierarchisches Verhältnis. Indem die Bürger dem Stadtrat Gehorsam und Treue gelobten, entstand ein obrigkeitliches Verhältnis. Aus diesem Grund habe ich in meinem Vortrag auch nicht die etablierte Unterscheidung zwischen vertikalen und horizontalen Eiden betont. Sie ist meines Erachtens idealtypisch und wird der Rechtspraxis nur bedingt gerecht. Karl Ubl: Ich habe mal eine Frage zu dem wunderschönen Bildmaterial, das du mitgebracht hast. Inwiefern kann man denn davon ausgehen, dass die Dinge wirklich so stattgefunden haben, also gibt es schriftliche Quellen, die das so bestätigen, oder sind da andere Bilddokumentationen eingegangen, die zu diesen Darstellungen geführt haben? Claudia Garnier: Aus einzelnen Dokumenten habe ich im Vortrag zitiert. Sie zeigen, dass die Formen des Eides und seine Ableistung in den entsprechenden Ratsverfassungen dokumentiert waren. Grundsätzlich denke ich, dass die bildlichen Darstellungen exakt den Moment präsentierten, der für den Zusammenhalt entweder des Stadtrats als Obrigkeit oder für die gesamte Stadt konstitutiv war. Er symbolisierte gewissermaßen pars pro toto die Stadtverfassung. Wichtig erscheint mir bei den bildlichen Darstellungen auch der entsprechende transzendente Bezug des Eides, etwa durch die Dartstellung des Kreuzes. Petra Schulte: Ich würde gerne noch einen dritten Begriff hinzufügen. Also wir haben Eid, wir haben Gemeinschaft und indirekt angesprochen die Stadtverfassung. Würdest du sagen, dass die Stadtverfassung unabhängig vom Eid besteht oder wird sie nicht gerade immer wieder durch die jährlichen Eide oder durch die Wiederholungen der Eide konstituiert? Also letztendlich: Müssen wir nicht tatsächlich darüber nachdenken: Was ist eine Stadtverfassung oder was macht eine Stadtverfassung und was macht eine städtische Verfassung aus, was sind die Grundbedingungen und nochmals wiederholt die Frage: Existiert sie unabhängig vom Eid? Claudia Garnier: Ich würde sagen: Nein, die Stadtverfassung existierte nicht ohne den Eid. Denn der Eid war die konstitutive Handlung, die diese Stadtverfassung überhaupt erst begründete. Auch die Tatsache, dass man so nachdrücklich kontrollierte, dass auch jeder diesen Eid leistete, veranlasst mich dazu, den Eid als zentrale Handlung für die Begründung der Stadtverfassung anzusehen. Verweisen möchte ich an dieser Stelle auf Wilhelm Ebel, der in seiner Studie zum Bürgereid für das späte Mittelalter die inhaltliche Bedeutung und Funktion der Schwörtage in Frage stellt und sie eher als inhaltsleere Routine, Schau und leeres Spektakel wertet. Dieser Meinung bin ich nicht. Denn wenn man in Rechnung stellt, wie die Städte die Teilnahme
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kontrollierten und nachhielten, kann ich in den Schwörtagen kein inhaltsleeres Prozedere sehen. Daher erachte ich den Eid als konstitutiv und die Stadtverfassung in dieser Zeit ohne den Eid als schlecht denkbar. Ich würde sogar überspitzt sagen: Der Eid ist die Stadt. Andreas Kley: Frau Garnier, herzlichen Dank für Ihren Vortrag. Er war sehr interessant. Sie haben ja hervorgehoben diesen performativen Akt, der muss funktionieren, er ist exakt reglementiert und ich interessiere mich für die Frage: Wann misslingt der Eid oder was setzt er sonst noch voraus? Offenbar eine funktionierende Infrastruktur, einen Rechtsraum, eine Stadtverfassung, die effektiv lebt, und der Eid ist quasi dann nur noch die Bestätigung für etwas, was funktioniert. Jetzt habe ich ein Gegenbeispiel und frage Sie auch nach anderen Gegenbeispielen, wo das nicht funktioniert hat. In meinem Referat habe ich es nicht gesagt, aber am Ende der alten Eidgenossenschaft kam es zu einer Bundesbeschwörung kurz vor dem Einmarsch der Franzosen. Am 25. 1. 1798 gab es anlässlich einer Tagsatzung eine Bundesbeschwörung, die Franzosen waren im Anmarsch und man hat die Tagsatzungsabgeordneten und die Bevölkerung von Aarau schwören lassen auf den Bund, auf die alte Eidgenossenschaft bzw. auf die vielen Verträge. Das hat eben bekanntermaßen nicht funktioniert bzw. das Gebilde ist quasi am Schluss endgültig auseinandergebrochen, war auch vorher schon gelöst. Also der Eid kann diese sehr wichtige Leistung Herrschaftsstabilisierung und Gemeinschaftsbildung nur erfüllen, wenn das eigentlich schon da ist. Der Eid ist nichts Zusätzliches, was hilft, sondern wir machen den Eid, der ist schon da und der soll weiter bestehen bleiben. Es ist eigentlich der Wunsch, es soll weitergehen. Mich würde es interessieren, ob Sie auch Beispiele vom Scheitern der Eidesformel haben. Claudia Garnier: Natürlich setzte der Eid die Übereinstimmung mit dem Inhalt des Versprechens voraus. Wer damit nicht konform ging, leistete keinen Eid. Gescheiterte Eidrituale gab es durchaus. Wenn ich dies auf den Themenbereich meines Vortrages beziehe, scheiterten sie teilweise an der performativen Ausgestaltung. Dies war etwa der Fall, wenn nicht das Original, sondern eine Abschrift des Schwörbriefs vorgelegt oder wenn ein schadhaftes Dokument benutzt wurde. Aus dem Raum Luzern existiert ein Beispiel von Ortschaften, die den Schwur verweigerten, weil die Urkunde Löcher hatte. Die Aura des Objekts war daher entscheidend. Bei diesen Beispielen für gescheiterte Eide ging es jedoch letzten Endes um die Form und nicht um die zugrunde liegende Rechtsfigur selbst. Reinhard Mußgnug: Ich wollte darauf hinweisen, dass es zu dem Bürgereid in der freien Stadt als Gegenstück die Erbhuldigung in den Untertanenbereichen gab. Die Erbhuldigung war wohl konstitutiv für die Untertaneneigenschaft. Sehen Sie Querverbindungen vom Bürgereid der Stadt zu der Erbhuldigung in dem Sinne, dass die Stadt ihre Freiheit – von der Untertänigkeit – dadurch bestätigt, dass sie ein Gegenritual zu dem Untertänigkeitsritual der Erbhuldigung begründet? Ich glaube, das war für die Stadt sehr wichtig zu zeigen, dass man auch seine Huldigung hat und dass das eine ganz andere ist, als die in einer Mediatstadt.
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Claudia Garnier: Ich stimme Ihnen zu. Für die Städte war die Positionierung gegenüber dem Stadtherrn stets eine Herausforderung. Ich denke etwa an den herrscherlichen Adventus in die Reichsstädte, der durch ganz ähnliche performative Akte gestaltet wurde, die das Verhältnis symbolisch zum Ausdruck brachten. Hier sehe ich ebenfalls deutliche Parallelen. Die Städte mussten sich in diesem Ritual gegenüber dem Stadtherrn positionieren. Es wurde intensiv verhandelt, wie weit die städtischen Funktionsträger dem einziehenden Stadtherrn entgegengehen mussten, was sie ihm darboten, wie sie ihn ehrten oder auch nicht ehrten. Dieses Ritual war ein ebenso sensibler Bereich wie der innerstädtische Schwörtag auch. Peter Oestmann: Man sagt ja immer, die Stadt sei eben diese Keimzelle der frühmodernen Staatlichkeit, und für die Entstehung von Staatlichkeit ist für mich persönlich immer die Landfriedensbewegung sehr wichtig. Und darum würde mich interessieren, welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede Sie sehen zwischen so einem Landfriedenseid und so einem städtischen Eid. Beim Landfrieden geht es ja immer stark um die Abwehr von Gewalt, da geht es immer um Strafe, wenn Menschen gegen Friedensgebote verstoßen und so weiter. Was ist denn der Inhalt von diesem städtischen Eid? Gibt es viele Ähnlichkeiten zum Landfrieden oder geht es stärker um städtisch-spezifische Sachen? Claudia Garnier: Meine Antwort haben Sie im Grunde in Ihrer Frage mitformuliert. Landfrieden wurden nicht um des Friedens willen erlassen bzw. man fand sich selten zu Landfriedenseinigungen zusammen, wenn es keine akute Gefährdung gab. Landfriedensbünde wurden ja stets vor dem Hintergrund konkreter Konflikte geschlossen, so dass man sich gemeinsam positionierte. Peter Oestmann: Die werden aber im 15. Jahrhundert lückenlos geschlossen, seit den 1470er Jahren werden sie alle drei Jahre wiederholt. Claudia Garnier: Aber man reagierte auch immer auf bestimmte Herausforderungen. Darin sehe ich den Unterschied zwischen dem Landfriedens- und dem städtischen Eid. Die Stadt verstand sich als eine Coniuratio, als eine eidliche Verbindung nach innen. Die Landfrieden waren meiner Meinung nach eher nach außen gerichtet. Hinzu kommt, dass Städte ebenfalls in diese Landfrieden eingebunden waren. Oftmals griffen die Landfriedenspartner auch massiv in die innerstädtischen Konflikte ein. Die in meinen Fallbeispielen bearbeiteten Urkunden waren teilweise besiegelt von Schiedsrichtern, die aus verbündeten Städten stammten und in der Stadt des Landfriedenspartners die Konflikte regelten. Zwischen der innerstädtischen Eidund Rechtsgemeinschaft und dem Landfrieden nach außen existierte ein enges Wechselverhältnis. Dieter Gosewinkel: Je länger ich Ihnen aufmerksam und auch fasziniert zugehört habe, desto klarer wurde mir das alte banale Faktum, dass Zugehörigkeit gleichzeitig auch Nicht-Zugehörigkeit etabliert. Das wurde eben sehr deutlich, auch durch die vielfältigen Fragen, die gestellt wurden. Die Zugehörigkeit durch Eidbekräftigung die Sie rekonstruiert haben, bedeutete gleichzeitig immer auch – und zwar gezielt – den Ausschluss bestimmter Personen. Meine erste kleine Frage würde lauten, inwie-
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weit wurde die Eidunfähigkeit, dies bezog sich wahrscheinlich häufig auf Frauen, auf Juden, auf fahrendes Volk vermutlich, wie stark also die Eidunfähigkeit unterschieden wurde von der Eidunwilligkeit. Offensichtlich wurden die Gruppen ja verschieden behandelt. Das wäre das eine und das andere ist: Ich habe mich gefragt, ob es andere Formen vielleicht von rechtsbekräftigter Zugehörigkeit gab, die nicht beschworen wurden und deswegen eine geringere rechtliche und symbolische Bedeutung hatten. Das heißt, der Stellenwert des Stadteides bzw. Ratseides und städtischen Bevölkerungseides, den Sie vorgestellt haben, war sehr hoch. Gab es andere Formen von rechtlich bekundeter und konstituierter Zugehörigkeiten, die dem gegenüber niederrangig waren, so dass man die besondere Bedeutung des Eides dadurch erkennen kann? Und schließlich gab es vermutlich, das haben Sie ja auch gesagt, Loyalitätskonflikte, also diejenigen, die vorher schon einen Eid geschworen hatten, wollten den nicht schwören und wurden sanktioniert. Traten diese Loyalitätskonflikte nicht zunehmend dann auf, wenn bestimmte Gruppen migrierten, wanderten, von einer Stadt in die andere und wieder zurück usw.? Wo war sozusagen der häufigste Punkt von Loyalitätskonflikten, die Zugehörigkeiten hervorriefen, die besonders gewichtig durch Eide begründet waren? Claudia Garnier: Konflikte zeichneten sich ab, wenn es um die Frage ging, wie die städtische Obrigkeit gebildet wurde, wer in den Rat gewählt werden durfte und wer den Rat bestimmen durfte. Eines meiner zentralen Fallbeispiele hat gezeigt, dass in diesen Situationen der Eid eine wichtige Rolle spielte. Teilweise wiederholten die Städte den kollektiven Eid, gewissermaßen außercurricular außerhalb des eigentlich anberaumten Schwörtages, wenn es zu Konflikten gekommen war. Zu innerstädtischen Auseinandersetzungen gibt es aus Frankfurt einige Beispiele, bei denen man den Eid wiederholen ließ, um sich der Form und Wirksamkeit dieses Instruments zu versichern. Diese Beispiele hat etwa Jörg Rogge für das 15. Jahrhundert herausgearbeitet. Ebenso verweist Olivier Richard darauf für die oberrheinischen Städte. Ihre Frage, wie Zugehörigkeiten ohne Eid gesichert wurden, lässt sich wie folgt beantworten: Ich hatte bereits ausgeführt, dass man gerade im 15. Jahrhundert versuchte, alle Gruppen in die Schwurrituale einzubinden. Auch dem Adel versucht man teilweise, den Bürgereid abzuverlangen, um auf diese Weise die Rechtskontrolle zu sichern. Dies ging mit dem Wandel der Funktion des Eides einher, der zunehmend ein hierarchisches, ein obrigkeitliches Verpflichtungsverhältnis fixierte und eben nicht mehr die Coniuratio der Bürger, die er in seinem Ursprung ausdrückte. Daran schließt sich Ihre Frage nach dem Unterschied zwischen eidunwillig und eidunfähig an. Zum einen versuchte man auch diejenigen einzubinden, die eigentlich eidunfähig waren. Frauen hatte ich eben bereits angesprochen. Zum andern gab es jedoch auch Eidunwillige. Bei der Eidunwilligkeit differenzierte man zwischen beabsichtigter und unbeabsichtigter. Susanna Burghartz hat das schöne Beispiel eines Züricher Bürgers namens Merkly Frey angeführt, der den Schwörtag verschlafen hatte. Er musste sich zwar vor dem städtischen Rat verantworten, wurde jedoch nicht bestraft. Dieser Fall zeigt deutlich den Unterschied zwischen der unbeabsich-
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tigten Eidunwilligkeit und der beabsichtigten, die als eine konkrete Absage gegen die städtische Ordnung zu verstehen war. Jürgen Brand: Ganz kurz vor dem Mittagessen und passend zu Ihrer Frage der Einbindung durch untereidliche Rituale. Da gibt es im Handwerk die sogenannten Gelage, die wir heute noch bei Köln, bei Kölsch, bei Gaffelbier kennen – da wurde das sog. Dienstbier gebraut, und wir haben es ja auch heute noch im allgemeinen Sprachgebrauch: „Das ist nicht mein Bier“. In dem Augenblick, wo ich das nicht abgetrunken habe, ist es nicht für mich verbindlich, weil man dem Eid aus dem Weg gehen wollte, und dann traf man sich in den sog. Trinkstuben. Das waren keine geselligen Kneipen, sondern das waren formale Akte, die dort abgehalten wurden und wir haben es auch noch in dem Spruch „Die Sache ist gegessen“ und bei der Henkersmahlzeit. Also Essen und Trinken haben durchaus auch rechtliche Bedeutung unterhalb des Eides. Claudia Garnier: Ich stimme Ihnen zu. Denn genau diese Gruppen wurden auch in die Pflicht genommen, wenn es darum ging, die regelkonforme Abhaltung des kollektiven Eides umzusetzen. Eben habe ich in der Diskussion bereits erwähnt, dass die Schwörtage in den Zunftstuben vorbereitet wurden und die Zunftmitglieder gemeinsam zum Eid gingen. Peter Oestmann: Wir bedanken uns bei Frau Garnier, und ich möchte bei dieser Gelegenheit auch sagen, dass es wichtig ist, bei der Verfassungsgeschichte nicht immer nur an Staaten und große Verbänden zu denken, sondern man hat es auch immer mit kleineren Gebieten zu tun. Es gibt eben auch die Verfassungsgeschichte der Stadt. Das muss man im Kopf behalten, und daher ist es gut, dass wir darüber diskutiert haben. Ganz herzlichen Dank für den Vortrag!
Vaterlandsliebe und Verfassungspatriotismus im frühneuzeitlichen Deutschland Von Georg Schmidt, Jena
I. Vorbemerkung Ob deutscher Verfassungspatriotismus geschichts- und nationsvergessen ist und zu keinen emotiven Bindungen führt, wurde und wird diskutiert. Quellen, die zur Liebe und zum aktiven Einsatz für das Vaterland des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation aufrufen, sind reichlich vorhanden; sie dürfen nicht als bloße Rhetorik abgetan werden. Da es eine Geschichte, „wie es eigentlich gewesen“,1 nicht gibt, und der Wunsch nach einer objektiven Erzählung selbst als regulative Idee an Grenzen stößt, sind präzise Fragestellungen wichtig, um im hermeneutischen Zirkel, dem Erkenntnisinstrument der Geistes- und Kulturwissenschaften, zu nachvollziehbaren und plausiblen Ergebnissen zu kommen. Wenn aber nur gefunden wird, wonach gesucht wurde, muss der Ausgangspunkt klar definiert sein. Dies geschieht hier mit folgender Hypothese: - Reichspatriotismus war Verfassungspatriotismus und beides waren Krisenindikatoren. Wenn selbsternannte Patrioten an die Liebe zum Vaterland appellierten, schien ihnen dessen Ordnung in Gefahr. Gefordert wurde dann aktives Eintreten für das von Grundgesetzen konstituierte und als Vaterland verstandene Reich deutscher Nation. Genau genommen wird damit eine Tautologie postuliert, denn der im 18. Jahrhundert neu auftauchende Patriotismusbegriff zielte als Produkt der Aufklärung und als Verallgemeinerung des älteren Sprachgebrauchs von „Patria“ und „Patrioten“ in erster Linie auf das reflektierte, von der Vernunft gewollte und weniger auf das durch Geburts- oder Wohnort vorgegebene Vaterland. Es handelte sich um eine „auf das Gemeinwesen bezogene moralisch-politische Gesinnung“.2 Cicero hatte bereits zwischen der Patria naturae, dem heimatlichen Ort der Vorfahren, und der Patria civitatis
1 Leopold von Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, 3. Aufl. 1985, S. VII. 2 Rudolf Vierhaus, Patriotismus – Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: ders. (Hrsg.), Deutschland im 18. Jahrhundert, 1987, S. 96 (108). Vgl. Robert von Friedeburg (Hrsg.), ,Patria‘ und ,Patrioten‘ vor dem Patriotismus, 2005.
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als einer für Freiheit und Gerechtigkeit sorgenden Respublica getrennt.3 Zu den im ausgehenden Mittelalter von den Humanisten neu akzentuierten patriotischen Tugenden gehörte es, freiwillig und unter Verzicht auf eigene Vorteile für das politisch organisierte Vaterland einzutreten, um das Wohlbefinden und Zusammengehörigkeitsgefühl aller Bürger zu steigern. Die Leidenschaft der Patrioten richtete sich auf die Patria, die ihnen Freiheit und Partizipationsmöglichkeiten bot.4
II. Reichsgrundgesetze und deutsches Vaterland Die Geschichte des Verfassungspatriotismus in Deutschland beginnt mit den Leges fundamentales, die um 1500 das Heilige Römische Reich in ein solches der deutschen Nation verwandelten.5 König Maximilian I. und die Reichsstände handelten die Verträge aus, die als Gründungsdokumente des frühneuzeitlichen ReichsStaates gelten dürfen. Diese schufen eine deutsche Nation, die zwar auch sprachlich-kulturell bestimmt war, sich aber primär und im Unterschied zu den älteren Stände-, Studenten-, Kaufmanns- oder Konzilsnationen politisch von den anderen Nationen abgrenzte.6 Der Konstituierungsprozess eines Reichs deutscher Nation hatte mit der Goldenen Bulle begonnen, die 1356 sieben Kurfürsten kreierte.7 Unter ihnen befand sich auch der König von Böhmen, der aber außer seiner Beteiligung an der römischen Königswahl wenig vom Reich wissen wollte.8 Seit 1626 rückte das nunmehr habsburgisch regierte Böhmen zwar wieder enger an das Reich deutscher Nation heran, besaß aber bis zur Readmission der böhmischen Kur 1708 weder Sitz noch Stimme auf dem Reichstag.9 Auch die oberitalienischen und schweizer Lehensgebie3
Vgl. Alexander Schmidt, Vaterlandsliebe und Religionskonflikt. Politische Diskurse im Alten Reich (1555 – 1648), Leiden/Boston 2007, S. 14. 4 Reinhart Koselleck, Patriotismus. Gründe und Grenzen eines neuzeitlichen Begriffs, in: Friedeburg, (Fn. 2), 535 (536). 5 Vgl. auch zum Folgenden Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit, 1999; Ders., Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert, 2009. 6 Peter Moraw, Bestehende, fehlende und heranwachsende Voraussetzungen des deutschen Nationalbewusstseins im späten Mittelalter, in: Joachim Ehlers (Hrsg.), Ansätze und Diskontinuitäten deutscher Nationsbildung im Mittelalter, 1989, S. 99; Heinz Thomas, Sprache und Nation. Zur Geschichte des Wortes „deutsch“ vom Ende des 11. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Andreas Gardt (Hrsg.), Nation und Sprache, 2000, S. 47; Schmidt, Geschichte (Fn. 5), S. 28@36. 7 Ulrike Hohensee u. a. (Hrsg.): Die Goldene Bulle. Politik – Wahrnehmung – Rezeption, 2 Bde., 2009. 8 Alexander Begert, Böhmen, die böhmische Kur und das Reich vom Hochmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches. Studien zur Kurwürde und staatsrechtlichen Stellung Böhmens, 2003, S. 273. 9 Volker Press, Böhmen und das Reich in der Frühen Neuzeit, in: Bohemia 35 (1994), S. 63 (72).
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te ignorierten den neuen, staatlich „verdichteten“ Reichs-Staat;10 sie gehörten zu keinem der zehn Reichskreise, die diesen regional untergliederten.11 Es gab zwar einen burgundischen Kreis, weil auch hier die Habsburger herrschten, doch der burgundische Vertrag von 154812 und der Westfälische Frieden belegen die große Distanz dieser Gebiete vom frühneuzeitlichen deutschen Reich.13 Im späten Mittelalter hatten sich die politisch-staatlichen Verhältnisse in Mitteleuropa weitgehend geklärt. Die Königreiche wurden – im Westen früher, im Norden und Osten später – unabhängig vom Führungsanspruch des Kaisers. Wenn dieser sich nun auf die deutsche Nation berief, wollte er die Reichsstände zu Kriegen in den peripheren Lehensgebieten und gegen die Türken motivieren. Sie aber verwiesen auf die regelungsbedürftigen inneren Zustände im Reich nördlich der Alpen.14 Die Trennung zwischen einem deutschen Kernreich, das gegen die Türken verteidigt werden musste, und den Kriegen in Burgund oder Oberitalien führte zu den Grundgesetzen, die wie der Ewige Landfrieden, die Handhabung Friedens und Rechtens, die Regiments-, Kammergerichts-, Steuer- und Kreisordnungen nördlich der Alpen galten. Sie schufen seit dem Wormser Reichstag 1495 ein Gefüge komplementärer Mehrebenenstaatlichkeit,15 in dem fast durchweg deutsch gesprochen wurde16 und das in den Quellen, den politischen Texten und Korrespondenzen sowie der Publizistik, als „Teutschland“ und „geliebtes Vaterland“ bezeichnet wurde.17
10 Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490, 1985. 11 Vgl. Wolfgang Wüst, Die Reichskreise als föderale und regionale Elemente der Reichsverfassung (1500 – 1806), in: Dietmar Willoweit (Hrsg.), Föderalismus in Deutschland. Zu seiner wechselvollen Geschichte vom ostfränkischen Königtum bis zur Bundesrepublik, 2019, S. 147; Winfried Dotzauer, Die deutschen Reichskreise (1383@1806). Geschichte und Aktenedition, 1998, bes. S. 390. 12 Lothar Gross/Robert Lacroix (Hrsg.), Urkunden und Aktenstücke des Reichsarchivs Wien zur reichsrechtlichen Stellung des burgundischen Kreises, 2 Bde., Wien 1945, Nr. 445. 13 Georg Schmidt, Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, 2. Aufl. 2018, S. 608 ff. 14 Alfred Schröcker, Die deutsche Nation. Beobachtungen zur politischen Propaganda des ausgehenden 15. Jahrhunderts, 1974. 15 Schmidt, Geschichte (Fn. 5), S. 33@44. 16 Wolfgang Burgdorf, Protokonstitutionalismus. Die Reichsverfassung in den Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser 1519@1792, 2015, S. 102@115. 17 Neue und vollständigere Sammlung der Reichsabschiede, Tl. 3, Frankfurt a. M. 1747, S. 17. Georg Schmidt, „der teutschen nation, unserm geliebten vatterlandt“. Sprache und Politik Karls V. im Umfeld des Augsburger Reichstags, in: Friedrich Edelmayer u. a. (Hrsg.), Plus ultra. Die Welt der Neuzeit. FS Alfred Kohler, 2008, S. 123; Alexander Schmidt, Ein Vaterland ohne Patrioten? Die Krise des Reichspatriotismus, in: Georg Schmidt (Hrsg.), Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität, 2010, S. 35 (36).
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Dieses deutsche Restreich war – Voltaire hatte recht – weder heilig, noch römisch, noch ein Reich,18 kein monarchisch regierter Protonationalstaat wie die meisten seiner Nachbarn, aber auch kein Monstrum, sondern ein politisches Gemeinwesen sui generis, ein strukturell nicht angriffsfähiges System sich ergänzender Mehrebenenstaatlichkeit, das die mittelalterliche Reichstradition nicht ablegen konnte, weil unter anderem der Anspruch auf das Kaisertum darauf beruhte.19 Die Kontinuität suggerierende Fiktion der Translatio imperii, nach der die Deutschen das römische Reich fortsetzten, und die Goldene Bulle, deren zeremonielle Vorschriften bei Wahl- und Krönung penibel eingehalten wurden,20 verschleierten die tiefe staatsrechtliche Zäsur an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Justus Möser, Osnabrücker Staatsmann, Publizist und Anwalt politischer Kleinräumigkeit,21 erkannte die damit verbundene Problematik und forderte 1780 einen „neuen Plan der deutschen Reichsgeschichte“. Um die emotionale Bindung an das Reich zu stärken, sollte die Erzählung seiner Geschichte nicht irgendwann im Mittelalter, sondern mit dem Ewigen Landfrieden und der Konföderation von 1495 beginnen. Dann könne man alles Weitere als „Verbesserungen und Verschlimmerungen des neuen Systems“ darstellen und so „die Vervollkommnerung der damit zum Grundgesetze des neuen Reichs gemeinschaftlich angenommenen Formel“ schnell erkennen. Dies lasse jeden, „der sein jetziges deutsches Vaterland kennen will, sogleich auf die rechte Bahn geraten und darauf mit Vergnügen wandeln“. Möser erkannte überdies, dass sich auch die Einheit dieses konstituierten Reichs nicht von selbst ergab und empfahl eine entsprechende Narration. „Solange wir aber den Plan unserer Geschichte […] nicht zur Einheit erheben, wird dieselbe immer einer Schlange gleichen, die in hundert Stücke zerpeitscht, jeden Teil ihres Körpers […] mit sich fortschleppt.“22 Mösers geniale Idee eines neuen, seit 1495 durch Grundgesetze verfassten Reiches – heute hätte er in Anlehnung an die Weimarer, Bonner und Berliner vielleicht rückwirkend von einer Wormser Republik gesprochen – hätte dieses sicher nicht vor dem Untergang gerettet, dessen historiographische Marginalisierung im 19. Jahrhundert jedoch erschwert. Die Grundgesetze hatten ein auch horizontal verknüpftes, 18 „Ce corps qui s’appelait et qui s’appelle encore le saint empire romain n’était en aucune manière ni saint, ni empire“, Voltaire, Essai sur les Moeurs, 1. Bd. 1, S. 683. Zit. n. Ute van Runset, Voltaires Deutschlandbild, in: Ernst Hinrichs u. a., „Pardon, mon cher Voltaire …“. Drei Essays zu Voltaire in Deutschland, 1996, S. 49 (57 und 76). 19 Georg Schmidt, Deutsche Freiheit statt Monarchisierung. Die föderale Einheit im Alten Reich, in: Willoweit (Fn. 11), S. 163. 20 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, „Die Puppe Karls des Großen“. Das Heilige römische Reich deutscher Nation als praktizierter Mythos, in: Otto Depenheuer (Hrsg.), Der Mythos als Schicksal, 2009, S. 25 (64). 21 Georg Schmidt, Justus Mösers deutsche Republik, in: Marin Siemsen u. a. (Hrsg.), Justus Möser im Kontext, 2015, S. 3. 22 Justus Möser, Vorschlag zu einem neuen Plan der deutschen Reichsgeschichte, in: Justus Mösers sämtliche Werke, Bd. 7, 1954, S. 130.
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nicht mehr nur auf den Kaiser bezogenes Reichsgefüge konstituiert, das sich auf den Reichstagen formierte.23 Es aktualisierte seine Verfassung seit 1519 mit den Wahlkapitulationen – Wolfgang Burgdorf spricht in diesem Kontext vom Protokonstitutionalismus – und mit dem Augsburger Religions- sowie dem Westfälischen Frieden. Dieses Heilige Römische Reich deutscher Nation umfasste etwa das Gebiet des heutigen Deutschlands und Österreichs. Vor allem der Reichspublizistik ist es zu verdanken, dass die Einheit des ReichsStaates in der Vielheit reichsständischer Staatswesen nicht vergessen wurde. Diese um 1600 entstandene juristische Disziplin widmete sich dem öffentlichen Recht der Deutschen und hat mit ihren unzähligen Kompendien viel dazu beigetragen, dass das Reichsrecht wahrgenommen und angewandt wurde und sich darüber hinaus ein Reichsbewusstsein entwickeln konnte. Der Tübinger Jurist Christoph Besold nannte das Reich schon vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges eine „respublica composita“. Er wollte andeuten, „daß mehrere ,gentes’ mit verschiedenen ,leges’ gleichwohl zu ,unum corpus politicum’ mit ,unum imperium’ verbunden sein können“.24 Die Vorstellung vom Reich als einem Staat über Staaten vertraten Staatsrechtler wie Ludolph Hugo25 oder auch Gottfried Wilhelm Leibniz, der unter dem Namen Caesarinus Furstenerius nachwies, dass die Unterordnung der Fürsten unter den Kaiser sie nicht zu dessen Untertanen machte.26 Johann Stephan Pütter fand schließlich die Formel des „aus Staaten zusammengesetzten Staat[es]“.27 Der in der historischen Forschung umstrittene Begriff Reichs-Staat findet sich auf frühneuzeitlichen Buchtiteln,28 im Zedler, dem deutschen Universallexikon des 18. Jahrhunderts,29 und in der Zusammensetzung „Reichsstaatsrecht“.30 Was dem 23
Thomas Felix Hartmann, Die Reichstage unter Karl V. Verfahren und Verfahrensentwicklung 1521@1555, 2017. 24 Ulrich Schlie, Johann Stephan Pütters Reichsbegriff, 1961, S. 43. 25 Ludolf Hugo, Zur Rechtsstellung der Gebietsherrschaft in Deutschland, übersetzt von Yvonne Pfannenschmid, 2005. 26 Kuno Fischer, Gottfried Wilhelm Leibniz. Leben, Werke und Lehre (1920), ND 2017, S. 139. 27 Johann Stephan Pütter, Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürsten-Rechte, Bd. 1, Göttingen 1777, S. 189. 28 Johannes Sylverius Germanus [Christian Heinrich Krebs], Teutscher Reichs-Staat oder: Ausführliche und umständliche Beschreibung des Heil. Römisch. Reichs Teutscher Nation […] vermehret durch Christoph Laurent. Bilderbeck, Leipzig/Frankfurt 1709; K. E. Mangelsdorff (fortgesetzt von Christian Daniel Voss), Allgemeine Geschichte der europäischen Staaten, Heft 16: Der deutsche Reichs-Staat, Halle/Leipzig 1804. 29 Zedler, Universallexikon, 43. Bd. 4, Halle/Leipzig 1745, Sp. 202. 30 Georg Schmidt, Das frühneuzeitliche Reich – komplementärer Staat und föderative Nation, in: Historische Zeitschrift 273 (2001), S. 371. Zur Kritik: Heinz Schilling, Reichs-Staat und frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem, in: ebd. 272 (2001), S. 377; Matthias Schnettger (Hrsg.), Imperium Romanum – irregulare corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, 2002.
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in der Theorie so vorbildhaften Reichs-Staat im Vergleich zu seinen Nachbarn fehlte, war ein stehendes Heer und eine wirkungsvolle Exekutive und aufgrund dieses Mangels auch ein Amor patriae, der Herrscher und Beherrschte einte. Welcher Marcus Curtius stürze sich – so fragte jedenfalls Möser – für das Reichssystem in den Abgrund?31 Seine Heldentat zur Rettung Roms galt als Muster eines guten Bürgers, der sich freiwillig mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln für das Gemeine Wohl, für das Recht und die Freiheit seiner Patria einsetzt.32 „Vaterland“ war freilich eine schillernde Kategorie, die ohne erläuternden Zusatz auch synonym mit Heimat gebraucht wurde und von einem Dorf, einer Stadt oder einer Region, über ein Fürstentum bis zum Reich, der Christenheit, der Welt oder dem Himmel nahezu alle Orte bezeichnen konnte.33 Der Reichs-Staat als politisch bestimmtes Vaterland konkurrierte zudem mit der ebenfalls um 1500 von den Humanisten neu kreierten, Dialekte und landsmannschaftliche Zugehörigkeiten überwölbenden deutschen Sprach- und Abstammungsnation. Sie wurde bereits in der Frühen Neuzeit wie eine anthropologische Grundkonstante gehandhabt, obwohl auch sie eine Schöpfung aus aktuellen Bedürfnissen war. Die deutschen Humanisten projizierten aus Prestigegründen ihre ethnisch-kulturellen Vorstellungen von Deutschheit weit zurück in die germanische Vergangenheit. Sie erfanden die „Teutschen“ als ein „streitbar volck“, das unmittelbar nach der Sintflut entstanden sei.34 Imaginiert wurde eine durch ihr Alter den romanischen Nationen ebenbürtige, aufgrund der postulierten eigenen Tugenden und Verdienste überlegene deutsche Patria.35 Ihr konnten sich unabhängig von den staatlich-herrschaftlichen Verhältnissen auch die deutschsprachigen Bewohner in Böhmen, in der Schweiz, im Elsass, im Baltikum oder in Siebenbürgen zurechnen. Von diesen „Deutschen“ unter anderer Herrschaft forderte niemand, sich aktiv mit Steuern oder Militärdiensten für das allgemeine Wohl des Reichs-Staats einzusetzen. Für die um die Kulturbedeutung der Deutschen besorgten Gelehrten bildeten jedoch alle Deutschsprechenden die deutsche Nation. Der Leipziger Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched wollte deren Vaterlandsliebe durch kulturelle Teilhabe wecken. Die „patriotischen Leser“ sollten ihm mitteilen, was zur Ergänzung oder Verbesserung seiner literarischen Nachrichten dienen könne.36 31 Justus Möser, Über die deutsche Sprache und Poesie, in: ders., Patriotische Phantasien, 1986, 296 (299). 32 Vgl. Quentin Skinner, Liberty before Liberalism, 1998. 33 Vgl. A. Schmidt (Fn. 17), S. 12 f. 34 Sigismundus Meisterlin, Eine schoene Chronik und Hystoria wye nach der Synndtfluß Noe Die teütschen/das streitpar volck jren anfang enpfangen haben […], Augsburg 1522. VD 16 M 2299 (05. 03. 2020). 35 Caspar Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, 2005. 36 Daniel Fulda, Zwischen Gelehrten- und Kulturnationalismus. Die „deutsche Nation“ in der literaturpolitischen Publizistik Johann Christoph Gottscheds, in: Schmidt, Nation (Fn. 17), S. 267 (270 und 279 f.).
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In der Frühen Neuzeit gab es eine politisch und eine kulturell geformte deutsche Nation und niemand wollte daran etwas ändern. Alle Deutschen orientierten sich im Umgang mit Fremden nicht an den politischen, sondern an den gleichen essentiellen, ethnischen und kulturellen Mustern. Die landsmannschaftliche oder mundartliche Unterschiede überbrückende Schriftsprache und die daraus abgeleitete Vorstellung einer gemeinsamen Deutschheit wirkten ein- und ausgrenzend. Dies zeigte sich beispielsweise während des Augsburger Reichstags 1547/48, als Kaiser Karl V. eine Schiedsstelle im Rathaus einrichten ließ, die jeder, „der sey Hispanier, Italianer, Burgundier oder Teütscher“ anrufen konnte, wenn er sich „der sprachen, trachten oder klaidung halben“ belästigt fühlte. Den Tätern, die mit ihren Ausgrenzungen ja auch Karls V. übergreifende Idee von einem Universalreich in Frage stellten, drohten empfindliche Strafen, „wie sich gegen „aufruerigen, aufwiglern und meutmachern gebürt“.37 Viele Reichsfürsten, insbesondere die protestantischen, verstanden sich im klassischen republikanischen Sinn als Bürger und Mitregenten des Reichs-Staates, nicht als Untertanen eines Monarchen. Sie waren erbrechtlich legitimiert, regierten ihre Länder selbstständig und von Gottes Gnaden. Ihr Recht dazu leiteten sie von der Germanorum libertas ab, über die Tacitus berichtet und die Ulrich von Hutten als deutsche Freiheit popularisiert hatte.38 In der Reformationszeit nutzten die Protestanten diesen Topos und schmiedeten daraus ein verfassungsrechtliches Leitmotiv, nach dem der gewählte Kaiser an seine Wahlkapitulation und die anderen Grundgesetze gebunden war. Er war ein Primus inter pares, kein Monarch.39 Ohne Zustimmung der Reichsstände durfte er nur seine Reservatrechte ausüben. Überschritt er seine Befugnisse, wurde er zum Feind des Vaterlandes, entsetzte sich selbst seines Amtes, und es war die patriotische Pflicht der Stände, ihn auf den rechten Weg zurückzuzwingen. Herrschaft war im Reichs-Staat nie an einem Punkt konzentriert, sondern wurde dezentral ausgeübt und durch Herrschaft und Recht kontrolliert. Die Deutschen hatten auf diese Weise – so die zum Mythos geronnene Ableitung – ihre ursprüngliche Freiheit bewahrt. Ihr Reich war nie vollständig von einer fremden Macht, auch nicht vom eigenen Kaiser unterworfen worden; es gehorchte nur den selbstgegebenen Gesetzen. Diese Kontinuität eines freien Reichs war ein Wert an sich. Wer sie durch die Unterstützung fremder Mächte oder einer monarchischen Herrschaft bedrohte, war ein Reichsfeind, den alle Liebhaber des Vaterlandes zur Räson bringen mussten.
37 Deutsche Reichstagsakten jüngere Reihe, 18. Bd. 1: Der Reichstag zu Augsburg 1547/ 48, hrsg. v. Ursula Machoczek, 2006, Nr. 31, S. 205 f. 38 Georg Schmidt, Die Idee „deutsche Freiheit“. Eine Leitvorstellung der politischen Kultur des Alten Reiches, in: ders. u. a. (Hrsg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400@1850), 2006, S. 159. 39 Ders., Freiheit, Pluralität und Frieden. Überlegungen zur deutschen Reformationsgeschichte, in: Wolfgang J. E. Weber u. a. (Hrsg.), Faszinierende Frühneuzeit. FS Johannes Burkhardt, 2008, S. 75.
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Der „patriotische Konstitutionalismus“40, den nicht nur die Protestanten, sondern häufig auch bayerische Regierungen gegen die Habsburger aufriefen, blockierte die monarchischen Ambitionen von Kaisern wie Karl V. oder Ferdinand II. Der Schmalkaldische Bund hatte 1546 seine Rüstungen nicht nur mit dem Schutz von Gottes Wort, sondern auch mit „des Heiligen Reichs Deutscher Nation, unsers Vaterlands Wolfart, Freiheit und Libertet“ begründet.41 Doch die Frontstellung war in inneren Kriegen uneindeutig, weil auch der Kaiser die mobilisierenden Formeln vom geliebten Vaterland und der deutschen Freiheit beanspruchte, da nur er die Ordnung und Sicherheit des Reiches gewährleisten könne.42 Im Dreißigjährigen Krieg wiederholte sich dieser Deutungskampf. Nun wurden neben dem Papst und den Spaniern insbesondere die Jesuiten beschuldigt, die deutsche Freiheit vernichten zu wollen, um eine habsburgische Universalmonarchie zu errichten. Der schlesische Dichter Daniel von Czepko band bezeichnenderweise 1632 das deutsche Vaterland nicht etwa an Sprache und Kultur, sondern an Freiheit und Recht, stellte aber fest, dies ist „uns aber nun und wir ihm unbekannt“.43 Alle Patrioten sollten für Recht und Freiheit eintreten. Die Deutschen – da waren sich die meisten Publizisten einig – hatten diesen Krieg selbst verschuldet, weil sie „gerne unteutsch seyn, Ewr Vaterland veracht/Und habt in Teutschland ein unteutsches Teutschland bracht“, wie Justus Georg Schottel in seiner Lamentatio Germaniae 1640 formulierte.44 Doch was hieß das für einen deutschen Patrioten? Sollte er an der Seite des Kaisers die fremden Eindringlinge bekämpfen oder mit deren Hilfe die Reichsverfassung gegen die Dominanz der Habsburger verteidigen? Der in schwedischen Diensten stehende Bogislaw Philipp von Chemnitz erklärte den Prager Frieden von 1635 für „contra imperii libertatem & contra patriam“.45 Unter dem Pseudonym Hippolithus a Lapide band er die Staatsräson des Reiches an dessen freiheitliche Verfassung. Da die Habsburger die Macht besäßen, jederzeit gegen sie zu verstoßen und die Freiheit zu beenden, müssten sie aus dem Reich verbannt und dieses ohne sie organisiert werden. Während Thomas Hobbes in England einen Leviathan forderte, der die negative Freiheit vor Übergriffen schützte, fürchtete Chemnitz um die positive Freiheit46, um die politische Mitwirkung und Kontrolle, die von den Habsburgern ausgehebelt werden könne. Das Reich sollte nach Chemnitz 40
A. Schmidt (Fn. 3), S. 95. Abdruck der Verwarungs Schrifft der Chur und Fürsten …, Augsburg 1546. VD 16 E 4617 (05. 03. 2020). 42 Georg Schmidt, „Teutsche Libertät“ oder „Hispanische Servitut“. Deutungsstrategien im Kampf um den evangelischen Glauben und die Reichsverfassung, in: Luise Schorn-Schütte (Hrsg.). Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, 2005, S. 166. Vgl. zum Hintergrund mit einer anderen Bewertung: Heinz Schilling, Karl V. Der Kaiser, dem die Welt zerbrach, 2020. 43 Zit. n. Albrecht Schöne (Hrsg.), Das Zeitalter des Barock, 1988, S. 747. 44 Zit. n. A. Schmidt (Fn. 3), S. 368. 45 Vindiciae Secundum Libertatem Germaniae, 2. Aufl. 1636. Zit. n. ebd., S. 383. 46 Zur Begrifflichkeit Isaiah Berlin, Freiheit. Vier Versuche, 2006. 41
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eine reine Aristokratie sein: Nicht der Kaiser, sondern die auf dem Reichstag versammelten Reichsstände stünden über dem positiven Recht und seien der Reichsgesetzgeber.47 Johann Heinrich Gottlob von Justi, der 1761 im Auftrag Preußens die deutsche Übersetzung der Dissertatio besorgte, sprach im Übrigen vom Reichs-Staat.48 Der Westfälische Frieden vertrieb nicht die Habsburger, schrieb jedoch die alte deutsche Freiheit fest. Der umstrittene Topos blieb unerwähnt, die mit ihm verbundenen Rechte wurden einzeln fixiert. Zudem fügte der Friedensvertrag den ReichsStaat so in das Staaten- und Mächtegefüge Alteuropas ein, dass er auf legalem Weg nicht monarchisch beherrscht werden konnte. Diese multilaterale Garantieregelung war kein gegen den Willen von Kaiser und Reich erzwungener deutscher Souveränitätsverlust, sondern eine zwischen allen Beteiligten konsensual vereinbarte Garantie des mitteleuropäischen Status quo – eine diplomatische Großtat.49 Für Leibniz befand sich jedoch das deutsche Vaterland, er sprach vom Reich oder von Deutschland, in einer Agonie. Nur ein Bündnis der Reichsstände könne den Kaiser und Frankreich davon abhalten, es zu unterjochen: Es sei die Pflicht aller „redlichen Teutschen, gewissenhaften, ihr Vaterland liebenden und um Ehre und Nachrede bei der Nachwelt sich bekümmernden Gemütern“ eine solche Allianz zu verwirklichen.50 Patrioten müssten ihr Vaterland nicht nur lieben, sondern dafür sorgen, „wie dessen Glückseligkeit“ durch „wohlüberlegte Vorschläge und deren getreuliche Vollstreckung befördert werde“.51 Samuel Pufendorf hatte kurz zuvor das Reich in staatsrechtlicher Hinsicht zu einem irregulären Corpus oder Monstrum erklärt, weil es nicht dem aristotelischen Kategoriensystem entspreche.52 Er betrachtete die Reichsstände als selbständige Herrscher und deren lehensrechtliche Abhängigkeit vom Kaiser als bloßes Zeremoniell. Deutscher war für ihn allerdings, wer politisch im „Imperium Germanicum“ organisiert war.53 Aufgrund der europäischen Konstellation müssten die Deutschen jedoch – das war seine Lehre aus dem Dreißigjährigen Krieg – nicht selbst für ihre Sicherheit sorgen. Dies übernähmen notgedrungen die Nachbarn: Sie könnten nicht 47
Hippolithi a Lapide, Dissertatio de ratione status in imperio nostro Romano Germanico, 2. Aufl. Freistadt, 1647. 48 Hippolithi a Lapide, Abriß der Staats-Verfassung, Staats-Verhältniß, und Bedürfniß des Röm. Reichs Deutscher Nation, nebst einer Anzeige der Mittel zur Wiederherstellung der Grund-Einrichtung und alten Freyheit nach dem bisherigen Verfall, Bde. 1 – 3, Koblenz 1761. 49 Georg Schmidt, Der Westfälische Frieden – ein multilateraler Reichsgrundgesetzvertrag?, in: Gabriele Schneider u. a. (Hrsg.), Verfassung und Völkerrecht in der Verfassungsgeschichte: Interdependenzen zwischen internationaler Ordnung und Verfassungsordnung, 2015, S. 11. 50 Zit. n. Horst Dreitzel, Zehn Jahre „Patria“ in der politischen Theorie in Deutschland: Prasch, Pufendorf, Leibniz, Becher 1662 bis 1672, in: Friedeburg (Fn. 2), S. 367 (444). 51 Zit. n. ebd., S. 454. 52 Bernd Roeck, Reichsherkommen und Reichssystem. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reichs in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, 1984, S. 28 ff. 53 Dreitzel (Fn. 50), S. 392 f.
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zulassen, dass das Reich vom Kaiser oder einem anderen König monarchisch beherrscht werde, weil dieser dann so mächtig werde, dass er ganz Europa seine Gesetze diktieren könne. Tatsächlich wurde König Ludwig XIV. von Frankreich nicht zum Universalmonarchen, und Kaiser Karls VI. auf sein nominelles spanisches Königtum gestützte Weltreichpläne platzten wie Seifenblasen. Als er 1719/20 dem preußischen König Friedrich Wilhelm I. eine Verdrehung der „forma regiminis Germaniae in dem Teutschen Vaterland“ vorwarf, wenn dieser glaube, im Reich „statum in statu“ errichten zu können54, arrangierte man sich. Die beiden Wittelsbacher Kurfürsten erfuhren allerdings im Spanischen Erbfolgekrieg und König Friedrich II. von Preußen im Siebenjährigen Krieg, dass der Reichs-Staat kein Papiertiger war, wenn gegen dessen Räson oder den Landfrieden massiv verstoßen wurde. Fürsten, die gegen die Interessen und die Integrität des Reichs-Staats handelten, mussten zum Wohl des Vaterlandes zur Räson gebracht werden. Mindermächtigen Reichsständen drohten dann die Reichsacht und Kreisexekutionen, mächtigen Loyalitätsermahnungen. Auch wenn diese verpufften, zeigte doch häufig der öffentliche Druck die gewünschte Wirkung – zum Beispiel bei Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der 1685 deswegen sein Bündnis mit Ludwig XIV. aufgab.55 „Ohne reichspatriotische Anleihen […] ließ sich zwischen 1674 und 1714 keine politische Position legitimieren. Für ,teutsch‘ galt allein die ,Sprache‘ des Reichspatriotismus“.56 Äußere Bedrohungen festigten die innere Geschlossenheit, doch im 18. Jahrhundert fehlten diese. Die Türken waren abgedrängt und die Franzosen nicht mehr der mächtige Erz- und Erbfeind wie ehedem. Wenn heute von „ständischer“ oder „deutscher Libertät“ die Rede ist, wird damit meist – den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts folgend – eine auf Privilegien gestützte chaotische Kleinteiligkeit, staatliche Zersplitterung und politische Ohnmacht verbunden.57 Die deutsche Freiheit stand in der Frühen Neuzeit jedoch für eine angeblich unbändige Freiheitsliebe, die nicht-monarchische Herrschaft in einem föderativ organisierten Reichs-Staat und eine weitreichende Meinungs-, Glaubens-, Eigentums- und Bewegungsfreiheit. Die Reichsverfassung verknüpfte im Idealfall die natürliche, die politische und die bürgerliche Freiheit so miteinander, dass die eine nicht gegen die andere ausgespielt werden konnten. Die 1648 in den Religionsartikeln garantierten positiven Freiheitsrechte galten teilweise auch für Frauen, aber nicht für Juden, Sinti, Sektierer oder Fremde. Sie standen nicht allen Bewohnern des Reiches ohne Ansehen der Person zu, aber sie galten für die übergroße Mehrheit unabhängig von Stand, Konfession und Wohnort. Da diese Freiheitsrechte Verfassungs54
Zit. n. Karl Borgmann, Der deutsche Religionsstreit der Jahre 1719/20, 1937, S. 80. Schmidt, Geschichte (Fn. 5), S. 225. 56 Martin Wrede, Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg, 2004, S. 554. 57 Jürgen Brand, Die Idee des Reiches seit 1806 oder: ein deutscher Wiedergänger zwischen Traum und Wirklichkeit, in: Der Staat 58 (2019), S. 101 (113). 55
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rang besaßen, waren sie vor den Reichsgerichten einklagbar und konnten von den einzelnen Reichsständen nicht außer Kraft gesetzt werden. Sie gehören zum Wurzelwerk der Menschen- und Freiheitsrechte. In den 1730er Jahren publizierte Johann Gottfried von Meiern die Akten des Westfälischen Friedenskongresses, und er urteilte prägnant: „So grosse Ursachen nun das gesamte Deutsche Reich und Vaterland hat, diesen Frieden-Schluß […] als das heiligste Gesetz und Grund-Veste seiner äusserlichen Glückseeligkeit anzusehen, so gegründet ist auch die Pflicht und Schuldigkeit eines jeden patriotisch gesinneten Deutschen, den Zweck seiner Wünsche darinnen bestehen zu lassen, daß nie ein Tüttel oder Buchstabe von diesem herrlichen Gesetz vergehen“ möge.58 Friedrich Schiller nannte 1792 das Reichsgrundgesetz Westfälischer Frieden „das interessanteste und charaktervollste Werk der menschlichen Weisheit und Leidenschaft“.59 Dem ist nur hinzuzufügen, dass dieses Grundgesetz über anderthalb Jahrhunderte galt und die Vorstellung entstehen ließ, der Westfälische Friede sei eine immerwährende Ordnung. Auch die Untertanen-Bürger nutzten die Reichsverfassung und stritten vor den Foren des Reichs-Staates für ihre Rechte. Sie bezeichneten sich dabei als klagende reichsuntertänige Gemeinde, als Reichsuntertanen oder Reichsbürger,60 und sie verhielten sich auch im Widerstand diszipliniert. Der Kampf für ihre Rechte und das Gefühl, fair behandelt zu werden, stärkte ihr Vertrauen in die Gesetze und die Verfassung des Reichs-Staates, mit denen sie sich identifizieren konnten, weil sie auch ihnen bescheidene Mitgestaltungsmöglichkeiten boten. Kirchengebete, Reichsgesetze und Reichssteuern, die Umschriften und Bilder der Münzen, der überall auftauchende Doppeladler, die Trauerzeiten beim Tod eines Kaisers, das meinungsbildende Schrifttum, die Zeitungen und Lieder sowie die Gespräche über Neuigkeiten konfrontierten Bauern und Bürger zwangsläufig und beinahe ständig mit Kaiser und Reich. „Germanien“ ist das „Herz von Europa“. Mit diesen Worten begann der Berliner Kriegsrat und Statistiker Johann Adolf Friedrich Randel 1792 seine „Summarische Übersicht von Deutschland“. Die Reichsverfassung sei es, „die bey allem getheilten Interessen im Inneren, und den Anomalien eines freyen Kaiserreichs von verbündeten sehr ungleichen Staaten, sich nicht nur Jahrhunderte mit immer erneuter Festigkeit erhielt; sondern auch Kraft dieser Selbständigkeit, die Freyheit von Europa, das Gleichgewicht der Politik – kurz, das Wohl des menschlichen Geschlechts sichert –: […] welches Hochgefühl für den Deutschen, einer solchen Nation anzugehören!!“ 58 Johann Gottfried von Meiern, Acta Pacis Westphalicae Publica…, Tle. 1@6, Hannover/ Tübingen 1734 – 36, hier Tl. 6, S. 1019 f. 59 Friedrich Schiller, Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs, in: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. 4, 7. Aufl. 1988, S. 363 (745). 60 Jean-François Noël, Das Reichsbewusstsein des einfachen Volkes im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in trivium 14 (2013), S. 1 (6). http://journals.openedition.org/trivium/4618 (06. 05. 2019).
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Die Reichsverfassung garantiere, nicht einem „einzigen Regierungshaupte unterworfen“ zu sein und „keine einzige Hauptstadt, keine Flotten, und keine Besitzungen in beiden Indien“ zu haben. Das „politische Mosaik“ sichere die „goldene Mittelmäßigkeit und Freyheit“.61 Dieses Lob ist bemerkenswert, denn es kam aus Preußen. Es zeigt, dass die integrierende Reichsverfassung auch hier und noch am Ende des 18. Jahrhunderts Bewunderer besaß. Für die mindermächtigen Reichsstände gehörte der Reichspatriotismus ohnehin zum Überlebensprinzip. Nicht jeder gebrauchte allerdings die Sprache der alten Patrioten so formvollendet wie Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha und Altenburg. Im Zuge der Fürstenbundpolitik erklärte er Carl August von SachsenWeimar-Eisenach, er glaube, „kräftigere Maßregeln“ ergreifen zu müssen, um sich nicht „willig dem Joche darbieten […], das unseren Schultern droht […]. Noch fließt deutsches Blut in meinen Adern, und gerne werde ich’s fürs Vaterland vergießen; auch lieber unter den Trümmern der Reichsverfassung mein Grab suchen und finden, als mich untätig und kleinmütigerweise unter ein schändliches Joch schmiegen“. Notwendig sei, „daß wir deutsche Fürsten eine Armee auf die Beine stellen […], um unsere Länder, unsere Personen von dem Joche des Josephs zu sichern“, denn nur dann bestehe Hoffnung für „unsere Freiheit und die Beibehaltung der Reichskonstitution“.62
III. Verfassungspatriotismus und deutscher Nationalgeist Appelle zum Reichspatriotismus hatten im späteren 18. Jahrhundert Konjunktur, weil der Reichs-Staat offensichtlich immer weniger funktionierte.63 Jeder sollte nun die revitalisierten alten Werte und Tugenden wie Klugheit, Tapferkeit oder Redlichkeit zum Wohl des Ganzen und der Freiheit einbringen. Als Patriot trat der Bürger, andere Identitäten hinter sich lassend, dem Gemeinwesen direkt gegenüber und ermächtigte sich selbst, dessen Wohl zur Richtschnur seines Handelns zu machen.64 Zwar wurde auch die unreflektierte, gefühlsmäßige Leidenschaft für Haus und Heimat, Geburts- und Wohnort als Patriotismus bezeichnet, doch prinzipiell markierte der Begriff das reflektierte und freiwillige Eintreten für das Gemeinwohl des politisch bestimmten Vaterlandes. Patrioten sollten so etwas wie säkulare Heilige
61 Johann Adolph Friedrich Randel, Summarische Uebersicht von Deutschland, in: Deutsche Monatsschrift 1792. Bd. 1, S. 282 (282 f. und 288 f.). 62 Ernst II. an Carl August, 1785, Febr. 24, in: Hans Tümmler (Hrsg.), Politischer Briefwechsel des Herzogs und Großherzogs Carl August von Weimar, Bd. 1, 1954, S. 131 f. 63 Vgl. mit anderer Bewertung A. Schmidt, Vaterland (Fn. 3), S. 48. 64 Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation, 3. Aufl. 2013, S. 80.
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sein, alle Staatsbürger als ihresgleichen betrachten, Fremde nicht verachten und sich uneigennützig für das Ganze engagieren. In Flugschriften erinnerte die personifizierte Germania, die Teutschine oder die Deutschland ihre Kinder, wenigstens einen Teil ihrer Schuld gegenüber dem Vaterland zu begleichen, das ihnen Luft und Nahrung, Güter und Freunde, auch Erziehung und Wohlstand gegeben habe. 1673 forderte beispielsweise die Teutschland: „Ich bin eure Mutter/ dann in Teutschland seyd ihr erzeugt: in Teutschland seyd ihr auferzogen! […] die Teutsche […] Freyheit/ muß durchs Schwerd erhalten seyn/ drum auf/ alle redliche Teutsche Patrioten/ auf/ auf/ eure Freyheit stehet auf dem Spiel/ lasset euch/ solche zu erhalten/ keine Gefahr abschrecken.“65 Sie sollten in diesem Fall den Reichs-Staat und die deutsche Freiheit gegen den Despoten Ludwig XIV. von Frankreich verteidigen.66 Der Kampfaufruf richtete sich an Soldaten, Bürger und Untertanen, vor allem aber an die armierten Fürsten und generell an die Führungsschichten. Als Patrioten war es ihre Aufgabe, das Vaterland zu schützen, ausländische Dienste zu quittieren und sich nicht jenen Kräften zur Verfügung zu stellen, die gegen den Reichs-Staat agierten. Der selbsternannte Kosmopolit Christoph Martin Wieland verlangte Mitte der 1780er Jahre Verfassungspatriotismus. „Wenn unsere dermahlige gesetzmäßige Konstituzion das einzige ist, was uns Deutsche zu einer Nazion macht, und wenn sie augenscheinlich der Grund unsrer wesentlichsten Vortheile ist: was kann denn also deutscher Patriotismus anders sein, als Liebe der gegenwärtigen Verfassung des gemeinen Wesens und aufrichtiges Bestreben, zu Erhaltung und Vervollkommnung derselben beyzutragen, was jeder nach seinem Stande, Vermögen und Verhältnisse zum Ganzen dazu beyzutragen fähig ist.“67 Für Wieland schützte die Reichsverfassung auch vor der Revolution. Er wandte sich gegen den Voluntarismus, mit dem sich Patrioten ein deutsches Vaterland konstruierten. In seiner Vorrede zum zweiten Teil von Schillers „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ rief er 1792 alle Schriftsteller auf, „die heilige Flamme der Vaterlandsliebe in jedem deutschen Herzen“ zu entzünden, um die „Einwohner Germani-
65 Teutsch-Lands Klag- Straf- und Ermahnungs-Rede/ An seine untreuen und verrätherischen Kinder/ Sambt Beyfügung Einer Aufmunterung der redlichen Teutschen Patrioten zu Ergreiffung der Waffen/ wider des Kaysers/ und des Reichs in demselben der Zeit tyrannisirende Feinde, 1673, unpaginiert. 66 A. Schmidt (Fn. 17), S. 65 ff. 67 Christoph Martin Wieland, Patriotischer Beitrag zu Deutschlands höchstem Flor (1780), in: Ders., Sämmtliche Werke, Bd. 15: Vermischte Prosaische Aufsätze, hrsg. v. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1795, S. 335 (361). Den erläuternden Zusatz zu diesem erstmals 1780 im Teutschen Merkur erschienenen Beitrag erarbeitete Wieland 1785/86. Anke Waldmann, Reichspatriotismus im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, in: Otto Dann u. a. (Hg.), Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches, 2003, S. 19 (41, Anm.). Für Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, 2000, S. 45, ist dies der erste Beleg für das, „was man heute deutschen ,Verfassungspatriotismus‘ nennt“.
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ens in der That in Einen lebendigen Staatskörper zu vereinigen“.68 Die Ruhe im deutschen Vaterland beweise viel „für die gute Seite unserer Konstituzion, und für den Respekt, welchen sowohl Regenten als Unterthanen gegen die Gesetze tragen“.69 Er bezog sich ausdrücklich nicht auf die unzureichende Praxis, wo manches im Argen liege.70 Solange aber die Reichsverfassung bestehe, werde „kein großes policirtes Volk in der Welt einen höhern Grad menschlicher und bürgerlicher Freiheit genießen und vor allgemeiner auswärtiger und einheimischer, politischer und kirchlicher Unterjochung und Sklaverey sicherer seyn“.71 Für Wieland lag die Majestät nicht beim Volk, sondern „in dem Gesetze“, das nicht „der allgemeine Wille des Volks, sondern der Ausspruch der allgemeinen Vernunft ist“.72 Revolutionen seien dort der falsche Weg, wo die Verfassungen alle notwendigen Verbesserungen erlaubten.73 Diese Ansicht teilte auch Freiherr Franz Wilhelm Spiegel zu Diersberg, Kurator der Bonner Universität. Er erläuterte in einer Festansprache 1789, dass die Reichsverfassung die beste aller denkbaren Regierungsformen ermögliche, weil sie dem Menschen „am wenigsten von seiner natürlichen, am wenigsten von seiner politischen, und gar nichts von seiner bürgerlichen Freiheit“ nehme. Was die Revolution in Frankreich mit Gewalt gebracht habe, sei in Deutschland längst verwirklicht.74 Die Erfurter Akademie lobte 1792 einen Preis für die beste Antwort auf die Frage aus, „wodurch das deutsche Volk von den Vortheilen seiner vaterländischen Verfassung belehret“ werden könne.75 Die Teilnehmer forderten das aktive Eintreten für die Reichsverfassung, die – wenn sie besser befolgt werde – das Fortleben des Bewährten garantiere und den Umsturz blockiere, der nur ins Chaos führen könne. Die Deutschen gewännen nur dann „ein gemeinschaftliches Interesse, wenn sie einsehen, daß die Staatsverfassung das Fundament ihres Wohlstandes ist, und daß sie durch keine andere so glücklich, so ruhig und so sicher leben können“.76
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Christoph Martin Wieland, Vorrede zu: Historischer Calender für Damen für das Jahr 1792 von Friedrich Schiller, in: Friedrich Schiller, Werke und Briefe, Bd. 7, hrsg. v. Otto Dann, 2002, S. 820 (832). 69 Ders., Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: Der neue Teutsche Merkur, 1793, Heft 1, S. 3 (24). 70 Ebd., S. 45 f. 71 Wieland, Patriotischer Beitrag zu Deutschlands höchstem Flor veranlasst durch einen im Jahr 1780 gedruckten Vorschlag diesen Namens, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 30, Leipzig 1840, S. 349 (365). 72 Ders., Kosmopolitische Adresse an die Französische Nazionalversammlung, in: Teutscher Merkur, Okt. 1789, S. 24 (57 f.). 73 Ders., (Fn. 69), S. 3. 74 Joseph Hansen (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution 1780 bis 1801, Bd. 1, 1931, S. 478. 75 Andreas Klinger, Die „deutsche Freiheit“ im Revolutionsjahrzehnt 1789@1799, in: Schmidt, (Fn. 38), 447 (451). 76 Anonym, Ueber den Verfall der Vaterlandsliebe in Deutschland, 1795, S. 192.
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Louis de Beausobre, Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin, hatte Patriotismus 1762 als Liebe zum Vaterland definiert, zu einer „Gesellschaft, deren Glieder unter einerley Gesetzen leben und von einem Oberherrn regiert werden“. Wie in einer Familie empfänden die Patrioten eine „lebhafte Liebe“ untereinander und für das Ganze. Das treibe sie an, alle Kräfte für das Gemeinwohl aufzuwenden, wenn ihre Opfer dem Staat nutzten. Patriot könne aber nur sein, wer alle Staatsbürger liebe, nicht einzelne Menschen oder Gruppen, weil er sie besser kenne und ihre Gewohnheiten teile.77 Sein Patriotismus bezog sich offensichtlich auf Preußen und berücksichtigte die besondere Situation der Hugenotten. Ihnen waren 1685 im Edikt von Potsdam unter anderem alle Rechte zugesichert worden, die auch die ansässige Bevölkerung genoss. Überdies durften sie Gottesdienste in französischer Sprache halten und eine eigene Schiedsgerichtsbarkeit für Konflikte untereinander aufbauen; Streitigkeiten mit „Deutschen“ sollten paritätisch besetzte Schiedsstellen regeln.78 In der Praxis verwalteten sich die französischen Gemeinden in Preußen selbst. Die Hugenotten wurden zwar bei der Aufnahme in die Zünfte oder beim Zugang zum Gemeineigentum vielfach diskriminiert, doch dies behinderte weder ihren wirtschaftlichen Erfolg noch ihren sozialen Aufstieg.79 Für sie hieß Patriotismus zunächst der Kampf gegen Ludwig XIV. und dies führte zur Identifikation mit den Aufnahmeländern, die das gleiche Feindbild hegten.80 Im 18. Jahrhundert sahen sich die Hugenotten als Vermittler französischer Kultur. 1779 erklärt einer ihrer Prediger Preußen zum Vaterland der Réfugiés, die französische Patrioten im preußischen Staat seien.81 Die hugenottische Geschichtsschreibung verband in Deutschland geschickt kulturelles Sendungsbewusstsein mit der Loyalität zu den Hohenzollern und dem Eintreten für die Vaterländer, die sie aufgenommen hatten und in denen sie lebten.82 Die Hugenotten fühlten sich selbst nicht als Deutsche, sondern als Bürger eines Fürstenstaates, für dessen Ordnung sie eintraten, weil er ihnen ihren Glauben und ihre Freiheit sicherte. Dies galt ähnlich für die Lausitzer Sorben, die allen „Sprachverdrängungs- und Eindeutschungsversuchen“ bis etwa um 1800 widerstanden,83 sowie für die slowenisch, italienisch oder französisch sprechenden Minderheiten 77
Louis de Beausobre, Rede über den Patriotismus, 1762. VD 18 11000236 (12. 02. 2020). https://www.potsdamer-toleranzedikt.de/transkription-des-edikt-von-potsdam1685/ (7. 3. 2020). Vgl. Matthias Asche, Neusiedler im verheerten Land. Kriegsfolgebewältigung. Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus, 2006, S. 417@426. 79 Vgl. zusammenfassend Barbara Dölemeyer, Die Hugenotten, 2006. 80 Susanne Lachenicht, Hugenotten in Europa und Nordamerika. Migration und Integration in der Frühen Neuzeit, 2010, S. 455 f. 81 Ebd., S. 461. 82 Asche (Fn. 78), S. 651. 83 Hartmut Zwahr, Die Lausitzer Sorben in der Frühen Neuzeit, in: Joachim Bahlcke (Hrsg.), Die Oberlausitz im frühneuzeitlichen Mitteleuropa. Beziehungen – Strukturen – Prozesse, 2007, S. 387 (389). 78
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im Reichs-Staat. Der um den Anspruch der deutschen Literatur besorgte Gottsched forderte, das „armselige“ und „boshafte Volk“ der Sorben endlich einzudeutschen.84 Ob sich bei Hugenotten, Sorben und Slowenen oder bei den Sinti und Roma Reichspatriotismus feststellen lässt, wäre noch zu untersuchen. Am ehesten ist das bei den Juden zu vermuten, denn es waren Kaiser und Reich, die sie vor Willkür und Gewalt schützten. Immanuel Kant verlangte unterdessen keine „väterliche, sondern eine vaterländische Regierung“, denn patriotisch ist die „Denkungsart, da ein jeder im Staat […] das gemeine Wesen als den mütterlichen Schoß, oder das Land als den väterlichen Boden […] betrachtet, nur um die Rechte desselben durch Gesetze des gemeinen Willens zu schützen […] sich für befugt hält“.85 Voraussetzung für diesen Patriotismus war die Herrschaft der Gesetze und ein freies Gemeinwesen, weil angeblich nur hier die Tugend freiwilliger Hingabe und selbstloser Opferung entstehen konnte. Ein Anonymus kam 1798 zu dem Schluss: „Der Patriot lebt eigentlich nur für die Verfassung“. Es heiße die heilige Empfindung des Patriotismus herabwürdigen, wenn man darunter nur eine Gewöhnung an den Boden, an Flur, Hütte und Haus verstehe.86 Das war der Grundtenor der aufklärerischen Reichs- und Universalhistorie. Auch sie huldigte einem, so Reinald Becker, „in Reichspatriotismus gehüllten ,Verfassungspatriotismus‘“.87 Damit schien eine in allen Milieus wirkende Vergesellschaftungsutopie gefunden, die zum Kampf gegen die Immobilität der ständischen Gesellschaft und gegen revolutionäre Umbrüche beitragen konnte. Schriftsteller und Gelehrte begründeten mit der Reichsverfassung und dem auf ihr fußenden Patriotismus die deutsche Vorreiterrolle auf dem Weg zur Weltbürgergesellschaft.88 Der Oldenburger Jurist und Publizist Gerhard Anton von Halem ergänzte freilich, dass die Deutschen nur deswegen „mehr wie irgendeine Nation Weltbürger“ seien, weil es „fast kein Deutsches Vaterland“ gebe. Er beschrieb, was viele bemängelten: Die Deutschen, insbesondere der gemeine Mann, fühlten sich nur ihren Provinzen oder Fürstentümern, nicht aber dem Ganzen verpflichtet. Das erschien wiederum den aktiven Patrioten paradox, denn die Reichsverfassung, nicht despotisch regierende Fürsten garantierten Freiheit und Recht. Sie wollten durch die Erzählung und Versinnbildli84
Zit. n. Fulda (Fn. 36), S. 283. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, 4. Aufl. 1983, S. 125 (146). 86 H., Von der Erziehung zum Patriotismus, in: Jahrbücher der preußischen Monarchie, 1798, Bd. 2, S. 312 und S. 405 (408). https://archive.org/details/bub_gb_vdYpAAAAYAAJ/pa ge/n455/mode/2up/search/von+der+Erziehung+zum+Patriotismus (12. 02. 2020). 87 Reinald Becker, Der Westfälische Friede als Epocheneinschnitt? Reflexe in süddeutschen Universalhistorien des 18. Jahrhunderts, in: Wolfgang Wüst (Hrsg.), Der Dreißigjährige Krieg in Schwaben und seinen historischen Nachbarregionen: 1618@1648@2018, 2019, S. 321 (348). 88 Vgl. Andrea Albrecht, Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800, 2005; Sigrid Thielking, Weltbürgertum. Kosmopolitische Ideen in Literatur und politischer Publizistik seit dem achtzehnten Jahrhundert, 2000. 85
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chung des Reichs-Staates und seiner Geschichte den Nationalgeist entfachen und Reichspatriotismus zum Allgemeingut machen. Halem betonte auch die Wechselwirkungen von Kosmopolitismus und Patriotismus. Er wandte sich gegen alle, die „idealische weltbürgerliche Republiken“ stifteten. Sie könnten niemanden überzeugen „und man spottet obendrein der Repräsentanten, die niemand repräsentieren“. Er war sich sicher: „Vernünftige Staatsbürger müssen wir werden, bevor wir eines ächten Cosmopolitismus empfänglich sind.“89 Auch Gotthold Ephraim Lessing wandte sich in „Ernst und Falk“, dem Gespräch über Freimaurerei, gegen die Idee einer Weltbürgerrepublik, weil nicht alle Menschen in einem einzigen Staat leben könnten. Sie blieben Deutsche, Franzosen oder Spanier. Die bürgerliche Gesellschaft erzwinge die fortwährende Unterteilung in weniger große Teile, denn „die Menschen sind nur durch Trennung zu vereinigen“.90 Sie benötigten überschaubare politische, gesellige, kulturelle und sozial-ständische Einheiten, um die Willensbildung organisieren und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können. Der deutsche, weltbürgerlich imprägnierte Patriotismus erhob den hohen Anspruch, nicht nur für das eigene Gemeinwesen, sondern für die ganze Menschheit zu wirken. Auch der Kosmopolit brauchte ein Vaterland: Nicht, weil er sich gefühlsmäßig dem Land verbunden fühlte, wo er geboren war oder lebte, sondern weil dessen Sitten, Gebräuche und Verfassung, für die Entwicklung der Menschheit wichtig sein konnte. Patriotische Weltbürger achteten deshalb im Unterschied zu Nationalisten auf die Vorzüge anderer Staaten und Nationen, und sie distanzierten sich vom eigenen Vaterland, wenn es gegen Vernunft und Menschenrechte verstieß oder Angriffskriege führte. Der evangelische Theologe Wilhelm Abraham Teller unterschied 1793 zwischen dem von der Natur eingepflanzten, dem gebildeten und dem sich bildenden Patriotismus. Die erste Form sei angeboren, die zweite beruhe auf der Sprache, der Verfassung und den Interessen des Vaterlandes – betreffe also die Staatsbürger. Der noch nicht ausgebildete Patriotismus tangiere diejenigen, denen ein fremdes Land als ständiger Aufenthaltsort diene. Nehme man sie freundlich auf, würden sie, vom Weltbürgersinn geleitet, rasch heimisch werden.91 Für Teller ist Patriotismus eine Bringschuld von Neuankömmlingen und Ansässigen. In der Deutschen Monatsschrift führte der preußische Konsistorialrat Christian Samuel Ludwig von Beyer im gleichen Jahr die losen Fäden des Patriotismusdiskurses zusammen. Vaterlandsliebe sei nur wertvoll, wenn sie eine „Folge, Wirkung und besondere Äußerung des Kosmopolitismus ist“. Ansonsten könne sie ins Verderben 89
Alle Zitate n. Christina Randig, Aufklärung und Region. Gerhard Anton von Halem (1752 – 1819), 2007, S. 135 f. 90 Gotthold Ephraim Lessing, Ernst und Falk. Gespräche über Freymäurer (1778), in: ders., Werke, Bd. 8, 1989, S. 451 (464). 91 W. A. Teller, Über Patriotismus, in: Berlinische Monatsschrift 22 (1793), S. 431.
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führen.92 Beyer warnte vor dem Weg, den Friedrich Meinecke ein Jahrhundert später als deutschen Pfad zum Nationalstaat zeichnete: vom Weltbürgertum über die Kulturnation zur Staatsnation oder – schärfer akzentuiert – vom patriotischen Weltbürger des 18. zum Nationalisten des 19. Jahrhunderts.93 Dass diese Abstraktion etwas ausblendete, zeigen sowohl der auf den Reichs-Staat und dessen Verfassung bezogene deutsche Patriotismus als auch die Nationalgeistsuche, die Friedrich Carl von Moser im Auftrag des Wiener Hofes vornahm.94 Moser machte gegen den preußischen Patriotismus mobil und beschwor im Anschluss an Montesquieu einen deutschen Nationalgeist. „Wir sind ein Volk […] zu einem gemeinschaftlichen großen Interesse der Freiheit verbunden.“95 Es fehle freilich die „allgemeine Vaterlandsliebe“, obwohl es den Gedanken, der „das wahre oder das geglaubte National-Interesse in sich faßt“96 mit der Freiheit gebe, denn der Deutsche sei „im Bunde und Schutz der Gesetze frei“97. Die Bewahrung dieser Freiheit müsse vom Kaiser an bis auf den letzten denkenden Deutschen Mann „ein National-Gedanke“ sein.98 Mosers Vorstellungen stießen auf Kritik. Der hessen-homburgische Rat Friedrich Carl Casimir von Creutz warf ihm vor, sein unter gleichen Gesetzen, einem Gerichtsstand und einer Verfassung lebendes Volk schlösse Nichtdeutsche ein, in anderen Staaten lebende Deutsche aber aus. Er meinte wohl die Inklusion von Hugenotten, Juden und anderen Minderheiten sowie die Exklusion derjenigen, die irgendwo auf der Welt Deutsch sprachen oder die er wie Dänen und Schweden kurzerhand vereinnahmte, weil sie einen ursprünglich deutschen Dialekt sprächen. Listig fragte er, ob „jene teutsche[n] Emigranten nunmehr Russen“ seien, oder, „wenn ein gewisser grosser Staat sich vom Reiche losrisse“, ob „seine Bürger alsdenn auf[hörten], zur teutschen Nation zugehören?“99 Moser erwiderte kühl, sein Maßstab sei das historisch gewordene, in Reichskreise gegliederte Deutschland, das den Reichsgesetzen gehorche. Die Deutsch-Schweizer gehörten nicht dazu, weil sie dessen Gesetze, Verfassung und Gerichtsstand ablehnten. Die Frage, welche Freiheit die Deutschen „zu einem Interesse“ verbinde und wer deren Feind sei, beantwortete Moser mit: „die 92 C. S. L. von Beyer, Ueber Kosmopolitismus und Patriotismus, in: Deutsche Monatsschrift 1795, Bd. 1, S. 223 (227 f.). 93 Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, 1908. 94 Georg Schmidt, Friedrich Meineckes Kulturnation. Zum historischen Kontext nationaler Ideen in Weimar-Jena um 1800, in: Historische Zeitschrift 284 (2007), S. 597. 95 Friedrich Carl von Moser, Von dem deutschen Nationalgeist (1766), ND 1976, S. 5. 96 Ders., Patriotische Briefe, in: ders., Patriotische Briefe und Reliquien, Frankfurt a. M. 1767, S. 20 (24 f.). 97 Ders. (Fn. 95), S. 12. 98 Ders., Briefe (Fn. 96), S. 34. 99 [Friedrich Carl Casimir von Creutz], Versuch einer pragmatischen Geschichte von der merkwürdigen Zusammenkunft des deutschen Nationalgeistes und der politischen Kleinigkeiten auf dem Römer in Frankfurt, Frankfurt a. M. 1766, S. 3 f.
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deutsche Freyheit“ und „ein jeder […], der wider die unsere Freyheit begründende und erhaltende Reichsgesetze handelt“.100 Mosers Nationalgeist war Verfassungspatriotismus, war das Eintreten für die deutsche Freiheit und die Loyalität zum durch Grundgesetze formierten ReichsStaat. Nur dieser konnte Träger einer reflektierten Vaterlandsliebe in weltbürgerlicher Perspektive sein, despotisch regierte Fürstenstaaten konnten dies nicht.101 Die deutsche Freiheit machte den Unterschied auch zu anderen Staaten aus. Sie sollte, so der Appell Mosers, die Herzen der Nation erreichen und die nötigen Leidenschaften wecken.102
IV. Ausblick Patriotismus bezeichnete im 18. Jahrhundert das aktive Eintreten für das gemeine Beste des politisch organisierten Vaterlandes, das Recht und Freiheit sichert. Der zu den Frühromantikern zählende Georg Philipp Friedrich von Hardenberg gen. Novalis hielt „Staatsverkündiger, Prediger des Patriotism“, für notwendig, um wahren Republikanismus, also Vaterlandsliebe, entstehen zu lassen.103 Darum ging es auch Johann Gottlieb Fichte, als er 1808 in seiner 14. Rede an die deutsche Nation die Zuhörer daran erinnerte, dass sie noch „ein sichtbares Zeichen ihrer Einheit, ein Reich und einen Reichsverband gesehen“ und Stimmen vernommen hätten, „die von dieser höheren Vaterlandsliebe begeistert waren“.104 Andere Autoren hatten den Reichs-Staat als Vaterland bereits vor dessen Auflösung abgeschrieben und die Einheit Deutschlands allein an die Sprache gebunden oder die Fortentwicklung zur Weltbürgernation empfohlen.105 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts rückte der romantische Nationalismus106 mit der organischen, angeblich schon immer vorhandenen und deswegen natürlichen Einheit pathetischer Gefühle und Leidenschaften ins Zentrum der nationalstaatlichen Projektionen. Die scheinbar unvergängliche Volks- und Kulturnation, die angebliche Homogenität und Größe des mittelalterlichen Reiches oder die deutsche Sprachge100
Ebd., S. 8. A. Schmidt, Vaterland (Fn. 3), S. 43. 102 Notker Hammerstein, Das politische Denken Friedrich Carl von Mosers, in: Historische Zeitschrift 212 (1971), S. 316 (332 ff. und 338). 103 Novalis Werke, hrsg. und kommentiert von Gerhard Schulz, 2001, S. 535. Vgl. Jonas Maatsch, „Gesetz der Liebe“. Novalis‘ Gesellschaftsideal als ein Kommunitarismus avant la lettre, in: Klaus Ries (Hrsg.), Romantik und Revolution. Zum politischen Reformpotential einer unpolitischen Bewegung, 2012, S. 247 (256). 104 Johannes Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, 2019, S. 189. 105 A. Schmidt (Fn. 17), S. 60 ff. 106 Klaus Ries, „Romantischer Nationalismus“ – Anmerkungen zu einem vernachlässigten Idealtypus, in: ders. (Fn. 103), S. 221@246. 101
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meinschaft sollten die Basis des angestrebten Nationalstaates bilden. Ernst Moritz Arndt forderte 1813 das maximale Vaterland – soweit die deutsche Zunge klingt.107 Turnvater Friedrich August Jahn schrieb 1810 ins Gästebuch der Wartburg: „Überall, wo die deutsche Zunge redet, sehnt man sich nach einem Deutschen Reiche.“108 Auf dem Altar des Vaterlandes109 erschien nun ein ethnisch-kulturell abgegrenztes, potentielles deutsches Staatsvolk in einem Staatsgebiet unter einer Staatsregierung. Doch das nationalstaatliche Vaterland für biologische Deutsche gab und gibt es nicht. Allein die Vorstellung provozierte aber vielleicht den von Gelehrten und Publizisten wie dem Historiker Friedrich Rühs oder dem Philosophen Jakob Friedrich Fries geschürten neuen Antisemitismus110 – ein Vorbote des Rassismus, der in Deutschland bis heute das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft schwer belastet. Im 19. Jahrhundert gab es freilich auch andere Stimmen. In der Paulskirche schlug der Abgeordnete Wilhelm Jordan bei der Grundrechtsdebatte folgende Formulierung vor: „Jeder ist ein Deutscher, der auf dem deutschen Gebiet wohnt […]. Die Nationalität ist […] bestimmt durch den politischen Organismus, durch den Staat.“111 Und der Historiker Theodor Mommsen hielt 1880 fest, „so wenig, wie die Nachkommen der französischen Colonie in Berlin in Deutschland geborene Franzosen sind, so wenig sind ihre jüdischen Mitbürger etwas anderes als Deutsche“.112 Das Bismarckreich war jedoch nicht nur der viel zitierte verspätete, sondern gemessen an den lancierten Vorstellungen ein unvollständiger Nationalstaat mit beargwöhnten ethnischen Minderheiten. Die Folgen sind bekannt. Der Weimarer Republik fehlte es an vielem, vor allem aber an Verfassungspatrioten. Das Deutungsmuster des deutschen Sonderwegs hat den Mythos von der alternativlosen preußischen Mission umcodiert. Nun endet sie nicht mehr im glanzvollen wilhelminischen Nationalstaat, sondern in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und der Shoa oder – erfolgreich gewendet und mit Heinrich August Winkler – im Westen.113 Der Grundgesetzgeber schuf eine freiheitlich-demokratische und föderative Grundordnung. Deutscher ist, wer – angeboren oder erworben – die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Das Grundgesetz kennt keine „Bio-Deutschen“; es schützt das Leben, die körperliche und seelische Integrität aller sich in seinem Geltungsbereich 107
Ernst Moritz Arndt, Des Deutschen Vaterland, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Deutschland! Deutschland?, 2002, S. 213 f. 108 Zit. n. Brand, Idee (Fn. 57), S. 101. 109 Hasko A. Zimmer, Auf dem Altar des Vaterlandes. Religion und Vaterland in der deutschen Kriegslyrik des 19. Jahrhunderts, 1971. 110 Vgl. abwägend Klaus Ries, Wort und Tat. Das politische Professorentum der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert, 2007, S. 261 f. und 273@278. 111 Franz Wigard, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1848/1849, S. 737. 112 Theodor Mommsen, Auch ein Wort über unser Judentum, Berlin 1880, S. 5. urn:nbn:de:kobv:517-vlib-6261 (26. 02. 2020). 113 Zuerst Winkler (Fn. 67).
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aufhaltenden Menschen und verbietet ethnische oder kulturelle Diskriminierungen. Wer dagegen verstößt, stellt sich selbst außerhalb der Verfassungsordnung, die der Bundesrepublik Deutschland den Weg zu den westlichen Werten und in die Gemeinschaft europäischer Staaten gebahnt hat. Das Grundgesetz ist ein Erfolgsmodell und seine mehr als 70jährige Kontinuität ein Wert an sich. Die Probe aufs Exempel, ob die Loyalität zu dieser Verfassung ein Surrogat für Nationalbewusstsein sein kann, steht noch aus. Die Mehrheit der Deutschen hält bisher und aus guten Gründen – beim Fußball ist das anders – merklich Distanz zu nationalen Symbolen und Aufwallungen. Sie überlässt dieses Feld damit einem rechten Rand, der teilweise offen rassistische Ziele verfolgt und gewaltbereit ist. Dagegen könnte ein nicht nur gelebtes, sondern auch öffentlich gefeiertes Engagement für das Grundgesetz Europa davon überzeugen, dass Deutschland mehr als Wirtschaftskraft in das gemeinsame Haus einbringt. Darum ging es Dolf Sternberger, der die emotionalen Defizite gegenüber der alten Bundesrepublik mit Verfassungspatriotismus heilen wollte. Auch sein Appell war ein Indikator für eine Bewusstseinskrise und für die Sorge, dass aufgrund der strukturellen Umbrüche nach 1968 und dem sich abzeichnenden Bedeutungsverlust der Nationalstaaten die deutsche Identität zwischen einem neuem Nationalismus und der voranschreitenden europäischen Integration zerrieben werden könne.114 Jürgen Habermas folgte ihm, rückte aber die Vernunft noch stärker ins Zentrum. Explizit benannte er die westlichen Werte, die Menschen- und Bürgerrechte, als Aufgabe des Grundgesetzes, um den Weg zu einer europäischen Verfassung offen zu halten.115 Er hielt Verfassungspatriotismus für den „einzige[n] Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet“.116 Thea Dorn hat in ihrem „Leitfaden für den aufgeklärten Patrioten“ davor gewarnt, „Volk“ nur politisch zu verstehen, weil dies dem Gefühlshaushalt der Bürger „keine Heimat mehr bietet“.117 Sie sollten Verfassungspatrioten sein, wollten aber auch ihre Verbundenheit mit den kulturellen Leistungen der Deutschen ausdrücken. Warum sollte dies im Zeichen eines Verfassungspatriotismus nicht möglich sein? Er könnte die Pathosformeln und die nur schwer operationalisierbare Nationalkultur einhegen, um zu verhindern, dass ein offen zur Schau gestellter (Hoch-)Kulturpatriotismus den Verdacht nährt, die Muster wiederbeleben zu wollen, mit denen der Erste Weltkrieg als Kampf der deutschen Kultur gegen die westliche Zivilisation ausgegeben wurde.118 114 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2008, bes. S. 51. 115 Vgl. Rebekka Fleiner, Die drei Dimensionen des Verfassungspatriotismus – Sternberger Revisited, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 42 (2013), S. 407. 116 Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, in: Die Zeit 1986, Nr. 29. https://www.zeit.de/1986/29/ei ne-art-schadensabwicklung/komplettansicht (08. 12. 2019). 117 Thea Dorn, deutsch, nicht dumpf. Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten, 2018, S. 258. 118 Vgl. dazu Adolf von Harnack u. a., Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge, 1917.
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Sternbergers Verfassungsvaterland ist kein mystisch oder mythisch vorgegebener, sondern ein politisch zu gestaltender Ort,119 der ohne Blut und Boden und ohne ewige Zugehörigkeitsfloskeln auskommt. Er ist deswegen aber nicht kulturell beliebig, sondern abhängig von der Loyalität und Solidarität der Bürger. Sternberger war klüger geworden, hatte er doch 1949 das Grundgesetz in einem Brief an Hannah Arendt ein schwächliches Bonner Machwerk genannt.120 Den Verfassungspatriotismus verankerte er sogar historisch, wählte mit Thomas Abbt allerdings eine nur scheinbar unverdächtige Autorität.121 Dieser hatte im Siebenjährigen Krieg empfohlen, sich dem Vaterland zu unterwerfen, dessen Gesetze einem von der Freiheit nur das entzögen, was zum Besten des Staates nötig sei. Das schien eine untadelige Referenz. Doch Abbt forderte eben auch den Tod für das selbstgewählte preußische Vaterland Friedrichs II. – eine sezessionistische Monarchie mit despotischen Zügen.122 Dies und die Horaz-Adaption einer unhinterfragten Opferung war nicht vermittelbar. Auch Habermas räumte später die kulturelle Selbstverständlichkeit ein, die ein politisch aufgegebener Ort mit sich bringt: Die Bürger müssten sich die Verfassung „aus dem geschichtlichen Kontext ihrer jeweils eigenen nationalen Geschichte zu Eigen machen“.123 Er variierte damit das Böckenförde-Diktum: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“.124 Böckenförde verwies später auf die gelebte Kultur, die auf Christentum, Humanismus und Aufklärung basiere.125 Warum er Verfassungspatriotismus als geschichtslos ablehnte, bleibt sein Geheimnis. Als Erfolgsgeschichte bietet das Grundgesetz beste Voraussetzungen für einen bewussten Patriotismus, der sich nicht in Pathosformeln erschöpft. Er könnte den dumpfen Nationalismus, der mit Rassismus einhergeht, öffentlich in die Schranken 119
Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus (1979), in: ders., Verfassungspatriotismus, hrsg. v. Peter Haungs u. a., 1990, S. 13; ders., Verfassungspatriotismus (1982), in: ebd., S. 17. Vgl. Peter Molt, Abschied vom Verfassungspatriotismus, in: Die politische Meinung, Februar 2006, S. 29; Volker Kronenberg, Die Verfassung als Vaterland? Deutscher Patriotismus und die Perspektive einer weltoffenen Nation, S. 147 (152). https:// www.kas.de/c/document_library/get_file ?uuid=e97d0be6 - 7680 - 841a-dafa-ede1 c8e07238&groupId=252038 (08. 12. 2019). 120 Hannah Arendt/Dolf Sternberger, „Ich bin Dir halt ein bißchen zu revolutionär“. Briefwechsel 1946 bis 1975, hrsg. v. Udo Bermbach, 2019, S. 116. 121 Sternberger (1982) (Fn. 119), S. 21 ff. Vgl. Dorn, deutsch (Fn. 117), S. 282. 122 Thomas Abbt, Vom Tode für das Vaterland, Berlin 1761. 123 Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: ders./Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, u. a. 7. Aufl. 2007, S. 15 (25). Vgl. Erhard Denninger, „Die Rechte der Anderen“. Menschenrechte und Bürgerrechte im Widerstreit, in: Kritische Justiz 42 (2009), S. 226. 124 Ernst Walter Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, 1976, S. 42 (60). 125 Interview mit E. W. Böckenförde, 4. Nov 2010. http://www.fr-online.de/kultur/debat te/-freiheit-ist-ansteckend-/-/1473340/4795176/-/index.html (9. 12. 2019).
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weisen. Der in der Frühen Neuzeit übliche Verweis auf die nie verlorene deutsche Freiheit zeigt, dass eine geschickte Narration der Verfassungsgrundsätze das symbolische Kapitel schafft, an dem überständisch, überregional und überkonfessionell Adel und Gelehrte, Bürger und Untertanen teilhaben konnten. Ein auf das Grundgesetz und die Freiheit gerichteter Patriotismus, der sich politisch zu Europa und der Welt hin öffnet, besitzt eine historische und nationale Tiefendimension. Er schließt die Werte und Errungenschaften ein, die Deutschland über Jahrhunderte hinweg kulturell geprägt haben, und ist alles andere als die „radikale Negierung von Fernerinnerung“,126 die etwa Karl Heinz Bohrer vor allem Habermas unterstellte. Bohrer wollte die ältere deutsche Geschichte vor dem Absolutheitsanspruch der „Naherinnerung“ retten. Dabei übersah er, dass ein reflektierter Verfassungspatriotismus die Brücke sein kann, die fernerinnernd das Heute mit dem Damals verbindet, ohne die unmittelbare Vorvergangenheit auszuklammern. Ganz im Gegenteil: Vom erhöhten Standpunkt der Brücke aus ist das tiefe Tal und der Weg vom angeblichen Opfer- zum Tätervolk, zum Nazi-Regime und Holocaust präziser zu bestimmen. Dabei zeigt sich, in welche Schieflagen die bloße Naherinnerung führt, und dass jene, die nach 1945 mit Thomas Mann meinten, „daß der Begriff der ,Nation‘ selbst, in einer geschichtlichen Verbundenheit mit dem der Freiheit, in Deutschland landfremd ist“ und die deutsche Freiheitsidee für „völkisch-antieuropäisch“ halten,127 dem borussisch-obrigkeitsstaatlichen Geschichtsbild aufgesessen sind. Die Brückenkonstruktion bedingt jedoch, dass die beiden Enden in eine sinnvolle Beziehung gebracht werden. Mit aktuellen Staatstheorien lassen sich dem ReichsStaat angemessene Einsichten für heute abgewinnen.128 Die alte deutsche Freiheit, das politische Mehrebenengefüge des Reichs und die durch Verträge entstandene, föderativ organisierte deutsche Nation gehören zu den historischen Voraussetzungen des Grundgesetzes und bieten reichlich Möglichkeiten zur selbstreferentiellen Vergewisserung. Verfassungspatriotismus ist weder geschichtslos noch nationsvergessen.
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Karl Heinz Bohrer, Ekstasen der Zeit. Augenblicke, Gegenwart, Erinnerung, 2003,
Thomas Mann, Gesammelte Werke, Bd. 11, 2. Aufl. 1974, S. 1137. Vgl. Georg Schmidt, Brücken schlagen, Analogien bilden. Überlegungen zur historischen Selbstvergewisserung des modernen Staates, in: Olaf Breidbach u. a. (Hrsg.), Laboratorium Aufklärung, 2010, S. 19. 128
Diskussion Christian Waldhoff: Wenn Reichspatriotismus Verfassungspatriotismus war und damit Rechtspatriotismus, kommt die Frage auf, die Frau Schulte heute früh gestellt hat: Wie sieht es mit der Rechtskenntnis aus? Müsste man nicht – und da bin ich als Jurist epochenübergreifend skeptisch – immer über breite Rechtskenntnis, breite Verfassungskenntnis als Voraussetzung für derartigen Patriotismus nachdenken, müsste man nicht stärker auf Schutzerfahrungen im Sinne von gelingendem Recht abstellen? Ich meine mich zu erinnern, dass vor allem die kleinen Reichsstände, etwa die freien Reichstädte, das Reich hochgehalten haben, weil sie nur dadurch Schutz erlangen konnten. Wenn man dann den ganz großen Bogen zum Grundgesetz schlägt, ergibt sich Folgendes: Zu Beginn der 1950er Jahre wäre ein Verfassungspatriotismus im Hinblick auf das Grundgesetz schon deshalb undenkbar gewesen, weil die Schutzerfahrung durch das Grundgesetz noch fehlte. Das Bundesverfassungsgericht beginnt erst Ende der 1950er Jahre, vor allem dann ab den 1960er und 70er Jahren, sich als Bürgergericht zu gerieren, das erkennbaren Freiheitsschutz für die Bürger produziert. Dadurch erhält es seine Aura, sein Ansehen. Müsste man daher nicht die Schutzerfahrung im Sinne von gelingendem Recht, von gelingender Verfassung, vielleicht noch stärker betonen? Georg Schmidt: Ich stimme Ihnen voll und ganz zu. Ich konnte das hier nur in einem Nebensatz erwähnen. Wenn ich mir ansehe, wie die deutschen Untertanen vor den Reichsgerichten ihre Rechte inklusive der deutschen Freiheit eingeklagt haben und mit welchen Kenntnissen sie dort auftraten – natürlich angeleitet von Advokaten, oft von den sogenannten Winkeladvokaten –, dann zeigt sich, dass ein Grundwissen über die Reichsverfassung vorhanden war. Die Bauerndelegierten in Wien oder Wetzlar haben sich untereinander ausgetauscht. Sie wussten ganz genau, wie vor den Gerichten argumentiert werden musste, damit diese zumindest eine einstweilige Verfügung erließen. Dem Beklagten musste dazu am Besten irgendeine Art von Gewaltanwendung unterstellt oder nachgewiesen werden. Sie haben völlig Recht, die kleineren Reichstände waren natürlich auf diesen Reichs-Staat viel mehr angewiesen als die großen, aber die großen konnten auf ihn – vielleicht mit Ausnahme der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – auch nicht verzichten, und sie wollten das auch nicht. Sie haben beispielsweise auf dem Reichstag in Regensburg ihre Plätze eingenommen und dort mit dafür gesorgt, dass das Reich die Lösungen schuf, die gebraucht wurden. Dazu gehörte etwa die heute schon erwähnte Handwerksordnung von 1731 oder die Frage, ob das Reich nach außen ein merkantilistisches Gebilde war, das bei Hungersnöten die Grenzen schloss. Auch hier wurden pragmatische Regelungen gefunden: Grenzen dort schlie-
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ßen, wo dies möglich war, Grenzen nicht schließen, wo es aufgrund der politischen Verhältnisse unmöglich war, wie zu den außerreichischen Gebieten Preußens und Österreichs. Florian Meinel: Ich möchte Ihnen die Freude an der historischen Stabilität dieser begrifflichen Zuordnung von Patriotismus und unserer Verfassungsidee nicht verderben, aber mir ist zumindest aufgefallen, dass der politische Kontext, in dem diese Quellen situiert sind, bei Ihnen keine sehr große Rolle spielt. Und damit meine ich zunächst einmal vor allem die völlige Auswechslung des Kontexts zwischen der Zeit vor 1750 und danach. Denn vorher scheint es mir so zu sein, dass der Kontext immer ein konfessioneller ist. Der Appell an das Reich ist doch zumindest immer auch der Appell aus konfessionellen Territorien auf Institutionen, die konfessionell nicht festgelegt sind. Daher ja auch diese Verknüpfung des Reiches mit dem Recht. Daher ebenso die Verknüpfung von Institutionen, die nicht festgelegt sind, mit einem Recht, das konfessionell nicht festgelegt ist, bis hin in die Entscheidungsverfahren hinein; dann aber wird in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Kontext völlig ausgewechselt, weil auf einmal der Appell an das Reich und seine Verfassung von Frankreich als eine politische Alternative zu einer ganz anderen Thematik forciert wird, nämlich zu einer revolutionären Verfassung. Das ändert doch eigentlich das, was damit politisch gemeint ist, sehr stark. Man könnte in Abwandlung eines bekannten Satzes sagen: Wenn zwei Verfassungspatrioten das Gleiche sagen, dann meinen sie nicht unbedingt dasselbe. Georg Schmidt: Ich möchte dem aus vielen Gründen widersprechen. Die konfessionelle Auffassung vom Reich vor 1750 ist eine Sicht, sie ist aber längst nicht immer die entscheidende. Ich habe gesagt, die evangelischen Fürsten seien mehr auf der Seite der Reichspatrioten zu finden gewesen, doch das katholische Bayern schloss sich ihnen oft an, um die Macht der Habsburger Kaiser zu begrenzen. Es gibt viele Beispiele, bei denen der konfessionelle Kontext für die Organisation des Reichs-Staates keine entscheidende Rolle spielt, vor allem beim Widerstand gegen die monarchischen Ambitionen Karls V. und Ferdinands II. Wir blicken zu sehr durch die Brille der Konfessionalisierung auf das Reichsgeschehen. Allerdings wurde auch im Siebenjährigen Krieg das konfessionelle Argument noch einmal funktionalisiert; es funktionierte aber nicht. Und es hat letztlich auch im Dreißigjährigen Krieg nicht funktioniert. Nun zum zweiten Punkt: Die deutschen Intellektuellen, die die Französische Revolution zunächst begrüßt hatten, wandten sich in der Zeit des Terreur von ihr ab und verwiesen auf die deutsche Verfassung, die die Möglichkeit biete, auf einem evolutionären Weg viele der Errungenschaften zu erreichen, die das französische Volk auf einen Schlag durchsetzen wollte. Die deutsche Verfassung ließ sich angeblich fortentwickeln, ohne jene Gefahren, die mit Revolutionen einhergehen, wie Krieg, Chaos, Terror etc. Zusammenfassend lässt sich der deutsche Verfassungspatriotismus daher als eigene Linie konstruieren. Jede historische Erzählung ist eine Konstruktion, die eine Problemstellung in den Mittelpunkt stellt. Verfassungspatriotis-
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mus ist eine zu rekonstruierende Linie, die seit der Reformationszeit die Reichspolitik prägte. Wenn Möser den Beginn des zu seiner Zeit noch existierenden Reiches auf 1495 datierte, so wollte er die verfassungsrechtliche Kontinuität unterstreichen. Nicht die Konfession, der Bruch des Ewigen Landfriedens war das Argument, mit dem das Reich zum Siebenjährigen Krieg gegen Friedrich II. gerufen wurde. Johannes Burkhardt: Wenn mehrere Frühneuzeithistoriker und auch noch Reichsexperten in einem Raum sitzen, dann wartet man die ganze Zeit drauf, wo hake ich jetzt ein, wo sehe ich etwas ganz anders? Das ist hier gar nicht der Fall, und ich kann mich nur freuen über diesen wunderbaren Vortrag, herzlichen Dank. Und auch über den großartigen Bogen: Reichspatriotismus ist Verfassungspatriotismus, der eine sehr einleuchtende Brücke in die Gegenwart oder auch in die Nachkriegsorganisation in Deutschland schlägt. Ich würde noch ergänzend etwas sagen, und eine weitere Akzentuierung vorschlagen: Ergänzend würde ich gern aus einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit den Kollegen Volker Depkat und Jürgen Overhoff auf eine parallele historische Perspektive hinweisen. In den Schulbüchern der Nachkriegszeit haben die Amerikaner uns zu einem Grundgesetz verholfen, insbesondere die föderale Struktur gehe darauf zurück. Das müsste man, wie Sie auch selbst sagen, Herr Schmidt, alles genauer untersuchen, auch mal unter diesem historischen Gesichtspunkt. Wir wissen auch, dass umgekehrt die amerikanische Verfassung bei der Gründung der Vereinigten Staaten auf die deutsche Reichsverfassung am stärksten reflektiert hat. Montesquieu und Benjamin Franklin haben sich sogar in Deutschland kundig gemacht, wie Föderalismus eigentlich funktioniert. Denn man wollte ja eine föderale Verfassung entwickeln. Da gibt es also auch einen Rückbogen. Somit komme ich nochmal zum Föderalismus. Das eine, und das sehe ich vollkommen ein, ist, dass man über die libertäre Struktur des Reiches den gesetzmäßigen Freiheitsbegriff hier hineinbekommt, der heute etwas ist, das uns allen nahe liegt. Der andere Aspekt aber sind für mich die föderalen Institutionen. Diese scheinen mir besonders wichtig zu sein; denn die unglaubliche Resilienz der Reichsverfassung, die durch nichts zu erschüttern war und immer wieder hergestellt wurde, besteht schlicht auch darin, dass die ganze institutionelle Struktur des Reiches erhalten bleibt– sowohl die verschiedenen Ebenen, die einzelnen Reichsländer, als auch die übergreifenden Institutionen und die Besonderheit dieser Art des Föderalismus, dass die „Partikularen“, die Glieder des Reiches selbst in den Reichsinstitutionen wie Reichstag usw. vertreten sind und den Gesamtstaat mitsteuern. Genauso schicken sie ihre Leute in die Reichsgerichte und die Reichskreise. Vielleicht müsste man noch stärker Institutionen in dem populären Verständnis von Institutionen herausstellen, nämlich als Organisationen, als Gremien usw., die manchmal auf verborgenen Wegen bis in die Gegenwart wirken. Der Reichstag schlägt z. B. zwar nicht so sehr zum Bundestag, wohl aber zum Bundesrat einen Bogen. Das wäre nur mein Ergänzungsvorschlag. Georg Schmidt: Vielen Dank, die Blumen nehme ich gerne an. Bei dem, was Sie gerade ausgeführt haben, möchte ich einen Punkt unterstreichen. Man hat ja auch gesagt, dass das Reich vorbildlich sei, weil es nicht eine einzige Hauptstadt gab, son-
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dern derer viele. Der Kaiser saß in Wien, der Reichstag in Regensburg, der zweite Mann im Staat, also der Erzkanzler, in Mainz, das Reichskammergericht in Wetzlar – vorher war es in Speyer. Das lässt sich weiterführen: Die Legstätten, die Finanzzentren des Reiches, waren vorrangig Leipzig und Frankfurt, die Primates des Reichs waren die Erzbischöfe von Magdeburg und Salzburg etc. Karsten Ruppert: Bei den Autoren, die Sie zitiert haben, war auffallend, dass es Ständevertreter waren, Intellektuelle, Juristen, Schriftsteller. Also alles Männer, die sich auf der Ebene des Reiches bewegen. Jetzt möchte ich meine ergänzende Frage dazu stellen: Gibt es auch zahlreichere und triftigere Belege über den Reichspatriotismus unterhalb dieser Ebene? Wie ist das bei den Untertanen gewesen? Waren die auch reichspatriotisch? Gibt es da ebenfalls reichspatriotische Äußerungen und gab es vielleicht eine Konkurrenz zwischen dem Landespatriotismus und dem Reichspatriotismus? Georg Schmidt: Das Argument mit den Untertanen ist ja eigentlich immer die Keule, die gegen die Wirksamkeit von Ideen gerichtet wird und Zweifel an der Rechtsanwendung formulieren soll. Das Problem ist, dass die Untertanen viel weniger schreiben als Intellektuelle. Die Flugschriften und Journale, die ich als Quellen heranziehe, wandten sich unmittelbar an einen Leserkreis, der nicht nur aus Gelehrten und fürstlichen Räten bestand, sondern durchaus auch aus Handwerkern und in den Dörfern vor allem aus den Wirten, die lesen konnten und vorlasen. Folglich ist das Wissen dieser Texte auch in den Kreisen des gemeinen Mannes durchaus präsent. Das zeigen auch die sogenannten Volkslieder. Was hier thematisiert wurde, lässt erahnen, wie das Wissen um die Reichsverfassung bis ins letzte Dorf im Thüringer Wald gelangte. Flugschriften konnten die Wanderhändler über weite Entfernungen transportieren. Zudem hatte in Deutschland die Zensur einen schweren Stand, weil das, was in dem einen Land nicht veröffentlicht werden durfte, beim Nachbarn publiziert und dann über die Grenze hinweg verkauft wurde. Das politische Wissen diffundierte in die unteren Schichten, wir können dies nur nicht präzise nachweisen. Auch wie die Bauerndelegierten vor den Reichsgerichten argumentierten, wissen wir nur aus den Protokollen juristisch vorgebildeter Schreiber. Was die Bauern wirklich sagten, bleibt unbekannt, wir wissen nur, was die Juristen daraus gemacht haben. Zweiter Punkt: Landespatriotismus ist selbstverständlich wichtig. Hessen und Mecklenburg hat Robert von Friedeburg intensiv erforscht. Er zeigt sehr schön, wie sich der Landespatriotismus im 17. Jahrhundert entwickelte. Das ist eine Analogie zu dem, was ich als Reichspatriotismus bezeichnet habe. Christoph Gusy: Herr Schmidt, es war hoch interessant, die Diskursgeschichte zum Thema Verfassungspatriotismus zu hören. So hat man das noch nicht gehört. Meine Frage geht dahin, was man aus diesen Diskursen über das Reich und seine Verfassung lernen kann. Dabei muss ich zugeben, dass ich, wenn ich das bunte Kaleidoskop Ihrer Zitate sehe, z. T. etwas skeptisch werde. Gleich am Anfang hatten Sie gesagt, Reichspatriotismus, Verfassungspatriotismus bedeutet also hier, dass man sich politisch engagiert, dass man für die Veränderung des Reichs aktiv wird.
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Aber das war den Einzelnen im Reich kaum möglich, weil sie praktisch durch die Einzelstaaten ständig militarisiert waren. War Verfassungspatriotismus dann die Überwindung der Verfassung? Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Die religiösen Minderheiten appellierten an das Reich und seine Verfassung gegen ihre Unterdrückung in den Einzelstaaten, nicht durch das Reich. Andere wandten sich gegen die Einzelstaaten. Umgekehrt agierten allerdings die Verfassungspatrioten in den Einzelstaaten, also diejenigen, die von den einzelstaatlichen Regierungen inspiriert waren, die Hofschreiber usw. Diese argumentierten gegen ihre Fremdbestimmung durch andere Staaten, also anders ausgedrückt: für den Erhalt ihrer besonderen Rechte, gegen die jetzt gerade die Bürger, die sich religiös unterdrückt fühlen, argumentierten. Man kann also den offenen Begriff sehr gegensätzlich verwenden. Ich habe das Gefühl, dass das auch der Fall war, was den Erkenntniswert des Begriffs für Verfassung und Reich möglicherweise etwas schmälert. Haben Sie da Konkreteres anzubieten oder war das Reich und seine Verfassung letztlich nichts anderes als der Nachfolgestaat von Utopia, so dass man sagen muss „Ja, wir wissen alles über ihn, wir wissen nur eines ganz genau, nämlich, dass es ihn gar nicht gab“. Ideal, nur nicht vorhanden. Georg Schmidt: Herr Gusy, vielen Dank für diesen Einwand, der in gewisser Weise natürlich berechtigt ist. Unser Wissen über das Reich stammt vor allem von der Reichspublizistik. Sie hat das Reich gedanklich strukturiert und so konstruiert, dass es verstanden wurde. Das ist ein Reich, wie es aufgrund realer Vorgaben wie den „Fundamentalgesetzen“ sein sollte. Dieser Idealtypus unterscheidet sich vom Realtypus. Aber wie groß waren die Abweichungen oder durften sie sein, damit ein Möser oder die Reichspublizisten den Weg in die Kanzleien als Nachschlagewerke fanden? Die Räte benötigten dieses Wissen, um in der realen Welt nicht über den Tisch gezogen zu werden. Daraus folgt, dass die Abweichungen zwischen Ideal und der reichischen Wirklichkeit nicht so groß sein konnten, dass die gewiss idealisierenden Deutungen keinen Sinn mehr gemacht hätten. Das ist das Argument, das ich immer gebrauche, wenn ich über Untertanenunruhen rede: Wenn der Gang vor die Reichsgerichte grundsätzlich mit einem Urteil zugunsten der Obrigkeit geendet hätte, dann hätte es diese Verfahren nicht mehr gegeben. Aber die Reichsverfassung hat dafür gesorgt, dass auch die Untertanen die Chance besaßen, Recht zu bekommen. „Recht“ ist ja wiederum eine Konstruktion, die akzeptiert und durchgesetzt werden muss. Ähnlich würde ich mit der Reichsverfassung argumentieren, die nicht eins zu eins umgesetzt worden ist, auch nicht so, wie die Mösers oder Pütters sich das vorstellten. Doch es gab diesen Reichs-Staat, dessen Ordnungen sich die Reichsstände verpflichtet fühlten und die es nicht einfach hinnahmen, wenn die stärkste Militärmacht mitten im Frieden Sachsen überfiel, weil sie wussten, dass ansonsten die Schutzgarantien des Reiches nichts mehr wert gewesen wären. Wie gut oder schlecht die miserabel ausgebildete Reichsarmee war, darüber kann man zwar viel diskutieren, aber es gab sie nicht nur auf dem Papier. Ferdinand Kramer: Herr Schmidt, wenn ich es aus der bayerischen Perspektive sagen darf, dann gibt es natürlich manche Fragen: Privilegium de non appellando, non evocando. Da ist dieses Reich meilenweit weg. Wir haben jetzt die letzten
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Jahre vier Tagebücher aus dem 18. Jahrhundert sehr umfangreich ausgewertet; das Reich ist praktisch nicht da, nur der Graf von Preising holt einmal die Lehnsurkunde für seinen neuen Landesherren ab. Insofern muss man die Landschaft im Reich wohl sehr differenziert sehen. Im Übrigen, da gebe ich Ihnen recht, lassen sich die Kategorien als Landespatriotismus überall finden. Interessant finde ich hierbei den Aspekt der Organisation der Macht. Denn die deutsche Libertät bedeutet auch, Macht gegen den Kaiser zu stellen, etwa Karl V. Das zieht sich in Bayern durch bis in die Landesverfassung 1946 – die Länderverfassungen entstanden im Übrigen zuerst, vor dem Grundgesetz. Auch geht es um Organisation von Macht. Schon 1871 in den Debatten im bayerischen Landtag heißt es, dieses Reich wird Europa zur Explosion bringen, dieser Kontinent vertrage nicht so viel Machtkonzentration. Im Kern ist das eine ähnliche Argumentation wie gegen Karl V. Die gleiche Argumentation taucht 1946 und 1949 wieder auf. Es geht nicht um Föderalismus als solchen oder um bayerische Eigenstaatlichkeit, sondern es geht vor allem um die Europaverträglichkeit der Macht in der Mitte. Daher die Frage: Wird in den verfassungspatriotischen Diskursen so etwas deutlich erkennbar? Diese kontinentale Machtkonzentration, die im Potential in der Mitte Europas liegt? Georg Schmidt: Ja, es wird deutlich. Dazu zwei Beispiele: Leibniz und Pufendorf. Beide schrieben nach dem Dreißigjährigen Krieg in einer Situation, in der sich die Dinge noch klären mussten. Pufendorfs Position ist eindeutig: Das Reich ist zwar ein Monstrum, weil es den aristotelischen Kategorien nicht entspricht, funktioniert aber. Um die Sicherheit muss man sich keine Sorgen machen, denn wenn es jemand erobern oder sich untertan machen will, wird ganz Europa dieses Reich verteidigen – wir haben das im Dreißigjährigen Krieg gesehen. Die anderen Mächte müssen einschreiten, weil sie nicht zulassen können, dass das Reich monarchisch beherrscht wird. Daneben steht Leibniz‘ Position: Die jetzige Organisation wird nicht ausreichen, wir müssen selbst für die Verteidigung etwas tun. Diese muss aber so organisiert werden, dass der Kaiser nicht mit Mitteln der Reichsstände in die Lage versetzt wird, diese und die deutsche Freiheit zu unterdrücken. Dazu sind Allianzen notwendig. Jürgen Brand: Eine kurze Frage: Sehen Sie eine Parallele zu dem von Herrn Kley beschriebenen Prozess der Einwirkung auf die Verfassung in der Schweiz zu deren Gunsten und dem Einfluss der Alliierten bei der Schaffung des Grundgesetzes? Das Grundgesetz ist schließlich nicht ganz autonom geschaffen worden, man muss ja nur mal in die Entstehungsgeschichte schauen. Die andere Sache ist vielleicht, nochmal dem genius loci hier etwas Tribut zu zollen. In der Agonie des Reiches 1803 wurde dieses Territorium, das Fürstentum Essen, Stift Essen, und die kleine Abtei Werden säkularisiert und von Preußen in Besitz genommen. Dann brach ein förmlicher Aufstand aus, den die Preußen nur durch Einsatz des Militärs brechen konnten. Schließlich riefen die Bauern 1803/04 das Reichskammergericht an, welches entschied, dass Preußen den Rechtsweg eröffnen musste.
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Preußen gehorchte. Das ist wahrlich beeindruckend: Hier gab es einige Tausend Einwohner, und diese kleinen Leute erhielten tatsächlich Schutz vor dem Reichskammergericht. In dem Augenblick, als der Bote des Reichskammergerichts in Werden eintrat, lief das Volk auf die Straßen und machte sich über die preußischen Truppen her. Das zeigt in Hinblick auf das Rechtsbewusstsein, dass das Volk an das Reich glaubte und auch an seine Institutionen, weil der Kaiser dahinter stand. Das wird auch im Einzelnen geschildert, das kann man nachlesen. Georg Schmidt: Zur zweiten Frage: Selbstverständlich. Das Reichskammergericht gab es 1803 noch, es urteilte auf der Basis des Reichsrechts und der Reichsverfassung. Auch die Säkularisierung musste nach Recht und Gesetz durchgezogen werden. Wo das nicht der Fall war, musste eingeschritten werden. Auch als Wetzlar preußisch wurde, konnte das Reichskammergericht nicht einfach aufgelöst werden. Der nächste Punkt ist heikel: Einwirkung von außen auf die Verfassung. Der Mythos besagt, dass 1648 dem Reich eine Verfassung aufgedrungen wurde und die Analogie mit Versailles 1919 beflügelte die historiographische Vorstellung einer deutschen Opferrolle. Deutschland war angeblich das Schlachtfeld und der Spielball fremder Mächte. Das ist einfach falsch. Aus der Sicht von 1648 gab es die Angst der Anderen vor einem übermächtigen habsburgischen Kaiser. Das sollte ausgeschlossen werden. Die Angst Frankreichs und Schwedens vor einem unter dem Kaiser geeinten und zusammen mit Spanien agierenden Reichs-Staat war sehr groß. Die Umkehr dieser Verhältnisse zur Opferrolle der Deutschen, denen Unrecht geschehen sei und die deswegen stark sein müssten, hatte fatale Folgen für Europa. Peter Oestmann: Ich möchte vor Verklärungen warnen, wenn es um Kammerboten geht. Es gibt viele Berichte, dass Kammerboten irgendwo ein Mandat zustellen wollten, dann aber an der Grenze abgefangen und zusammengeschlagen wurden und dieses Urteil aufessen mussten. Danach sind sie wieder zurückgefahren nach Speyer, oder nach Wetzlar. Das gab es jedenfalls auch, und darüber haben sie ihre Relationen verfasst. Monika Wienfort: Ich habe immer gut verstanden, dass man zu einer Geschichtsschreibung, die vor allen Dingen sehr lange Staatsbildung ist und in den Territorien und Einzelstaaten verortet war, einen Gegenpol finden wollte und jetzt das Reich in den Mittelpunkt stellt. Aber von einer alleinigen Analyse der Reichspublizistik bin ich nicht überzeugt. Meine Frage ist deshalb: Gibt es auch europäische Kommentatoren, die Wieland und Möser entsprechend gelesen haben? Kann man den in diesen Schriften gefundenen Patriotismus auch finden, wenn man in anderen Ländern liest? Für wie überzeugend halten Franzosen, Polen, Russen, Engländer, diese Form der Publizistik oder Werbung für das Reich? Georg Schmidt: Zu Polen und Russland kann ich im Moment nichts sagen, wohl aber zu den Franzosen. Ich erinnere an den Abbé St. Pierre oder an Rousseau, die das deutsche Modell als ein taugliches Mittel für Europa priesen. Sie sagten in einem etwas anderem Kontext, diese Form von Staatlichkeit hat Zukunft. Insofern wurde das deutsche Modell dort positiv rezipiert. Es gibt inzwischen auch eine Tradition
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französischer Geschichtsschreibung, die sich mit dem Alten Reich sehr intensiv beschäftigt, und die auch für die deutsche Geschichtsschreibung wichtige Dinge erforscht, z. B. das Reichsbewusstsein des 18. Jahrhunderts. Ich erinnere an Jean-François Noël. Es gab zeitgenössische französische Staatsrechtler, die sich etwa im Dreißigjährigen Krieg oder auch im 18. Jahrhundert intensiv mit der Reichsgeschichte beschäftigt haben, natürlich vor allem mit dem Elsass und den Verhältnissen dort. Diese Wissenschaftler erkennen, dass das deutsche System funktioniert hat, vor allem, dass es anders war als die französische Monarchie. Von den Amerikanern hat Herr Burkhardt vorhin berichtet. Sie beschäftigten sich mit Blick auf ihre eigene Verfassung mit der Reichsverfassung. In den Lexika der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielt das Reich – und auch die deutsche Freiheit – noch eine wesentliche Rolle. Danach verkam die deutsche zur ständischen Freiheit, zu Zersplitterung und Kleinstaaterei. Anna Gianna Manca: Sie haben von der Unvollständigkeit des zweiten Reiches gesprochen. Ist das richtig? Was meinten Sie damit? Georg Schmidt: Das war nur der Hinweis darauf, dass das wilhelminische Kaiserreich gemessen an den eigenen Ansprüchen – ein Staatsvolk, eine Staatsregierung, ein Staatsgebiet – ein unvollständiger, nicht nur ein verspäteter Nationalstaat war. Rainer Polley: Ich möchte etwas zum Reichspatriotismus der unteren Bevölkerung bemerken. Im Rahmen meiner früheren Tätigkeit im Hessischen Staatsarchiv Marburg als Dezernent für den Sprengel Fulda hatte ich auch mit Ortschaften evangelisch gewordener reichsritterschaftlicher Familien zu tun, welche später unter Beibehaltung der Konfession an das katholische Hochstift Fulda veräußert worden sind. Hierbei bin ich auf bewegende Trauerpredigten evangelischer Pastoren nach dem Tode Kaiser Karls VI., Josephs II. und Leopolds II. aufmerksam geworden. Ich sah mich danach veranlasst, die Edition einer Predigt mit folgendem Titel zu versehen: „Fuldische Dorftrauer um Kaiser Leopold II. Zur ,Heiligkeit‘ des Alten Reiches und des römisch-deutschen Kaisers im späten 18. Jahrhundert“, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 35 (1985), S. 160 – 175. Susanne Lepsius: Sie haben bei Ihren Quellen die großen Namen der Reichspublizistik genannt, und wir haben in der Diskussion – ich habe leider Ihren Vortrag nicht hören können – auch auf die Zugänglichkeit der Reichsinstitutionen und der Rechtsprechung hingewiesen. Ich möchte eine Bemerkung hinzufügen: Es gibt noch eine dritte Quellengattung, die man vielleicht für diesen Reichspatriotismus und die Frage, die aufkam – wie weit gab es den Reichspatriotismus im 18. Jahrhundert noch, oder war das eher ein Mythos, eine Utopie? – heranziehen kann. Dafür möchte ich auf die Universitäten verweisen. Bis zum Untergang des Alten Reiches gibt es viele, viele kleine deutschen Universitäten, an denen nach wie vor Dissertationen erschienen sind, diese 18-seitigen Dingelchen, in denen sehr häufig überraschende Aufgaben gestellt wurden und Themen bearbeitet wurden. So z. B. Heinrich Leopold Wagner, der 1776, im Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, eine Dissertation in Straßburg verfasst hat über die Abänderbarkeit der Goldenen
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Bulle, und feststellte, dass das nur mit Zustimmung der Stände möglich ist, nicht durch die Kurfürsten allein. Heinrich Leopold Wagner ist zwar nicht allzu bekannt, aber er wurde dann ein Sturm-und-Drang-Literat. Viel besser bekannt hingegen ist sein Freund Johann Wolfgang von Goethe, der auch in Straßburg promoviert wurde. Im Hause Goethe wurde in der Jugend durch den Hauslehrer die Goldene Bulle theatralisch an die Jugend vermittelt, so wurde etwa der Einzug des Kaisers inszeniert. Natürlich handelt es sich auch um einen Elitendiskurs, aber eine andere Art von Elitediskurs, nicht gerade Spitzenjuristen – Heinrich Leopold Wagner, Johann Wolfgang von Goethe –, sondern ein anderes Milieu, vielleicht auch ein spezifisches Milieu verfasste solche Dissertationen. Gerade in Straßburg, das ja seit 1681 französisch war, gab es Professoren, die nach wie vor im späten 18. Jahrhundert Doktorarbeiten zu solchen Themen verfertigen ließen. Georg Schmidt: Das Reich war Gegenstand der Reichspublizistik und des Rechtsdiskurses. Es gibt einen alten Streit darüber, ob die Goldene Bulle ein Privileg nur für die Kurfürsten war oder diese das ganze Reich repräsentierten. Schon im 16. Jahrhundert waren die Reichsfürsten der Ansicht, dass sie ebenfalls gemeint waren, wenn es um Partizipationsrechte im Reich ging. Die Kurfürsten haben ihre Vorrechte allerdings bis zum Ende des Alten Reiches zäh verteidigt. Peter Oestmann: Gut, sehr schön. Damit sind wir am Ende eines langen Vormittags angekommen. Jetzt sind wir wirklich schön ins Gespräch gekommen über die Epochen hinweg, haben etwas gehört über das Mittelalter, jetzt über die frühe Neuzeit. Ganz herzlichen Dank an Herrn Schmidt für den Vortrag und an alle Diskutanten.
Reichsverband als Rechtsverband Von Anja Amend-Traut, Würzburg
I. Einleitung Der Naturrechtler Samuel Pufendorf beschrieb in seinem 1667 unter dem Pseudonym Severinus de Monzambano erschienenen Reisebericht eines Venezianers an seinen Bruder das Heilige Römische Reich als „irregulare aliquod corpus et monstro simile“, d. h. einen irregulären Körper, einem Ungeheuer ähnlich.1 Eine verwandte Andeutung findet sich in Goethes Faust, 1. Teil, weit über hundert Jahre später am Ende des Alten Reichs, bearbeitet, als Frosch in Auerbachs Keller in Frage stellt: „Das liebe Heil’ge Röm’sche Reich, Wie hält’s nur noch zusammen?“2 Diese zwei Schlaglichter aus unterschiedlichen Epochen geben Anlass, auf einen wichtigen Punkt hinzuweisen: Entgegen dieser Jahrhunderte übergreifenden Einmütigkeit der Kritik ist doch bei der Suche nach Antworten auf die Frage, wie der Reichsverband als Rechtsverband ausgestaltet war, zu berücksichtigen, dass sich für das Zeitalter der Frühen Neuzeit vermutlich kein einheitlicher Befund feststellen lassen wird; jedenfalls war das Bestreben insbesondere der mächtigeren Reichsstände nach Unabhängigkeit, d. h. auch und gerade nach rechtlicher Eigenständigkeit, im zeitlichen Verlauf unterschiedlich stark ausgeprägt. Aber gerade dieser Verlauf ist kennzeichnend für die Frühe Neuzeit, „worin zugleich die epochale Einheit der Geschichte der frühneuzeitlichen Reichsverfassung besteht.“3 Bei seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Reichsverfassung brachte Pufendorf gleich mehrere Aspekte zum Ausdruck, die verdeutlichen, wie schwer fassbar 1 Samuel von Pufendorf, Severini de Monzambano Veronensis De Statu Imperii Germanici ad Laelium Fratrem Dominum Trezolani, Liber Unus, Halae Magdeburgicae 1703, Cap. VI, § 9, S. 340. Eine deutsche Übersetzung liegt von Horst Denzer, Samuel von Pufendorf. Die Verfassung des deutschen Reiches, Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, 4, 1994, vor, hier Cap. VI, § 9, S. 198 f. 2 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Tübingen 1808. Dieser hatte selbst Rechtswissenschaften studiert, war als Praktikant am Reichskammergericht gewesen, und reflektierte das Reich und den Rechtsverband selbst kritisch, v. a. in seinem Werk „Dichtung und Wahrheit“. Näher dazu zusammenfassend Hartmut Schmidt, Der Rechtspraktikant Goethe. Erweiterte und veränderte Fassung des Vortrags vom 30. März 1993 im Stadthaus am Dom zu Wetzlar, Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 15, 1993. 3 Helmut Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, Enzyklopädie Deutscher Geschichte, 42, 2. Auflage 2003, S. 3.
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dieses „Alte Reich“ schon für Zeitgenossen war.4 Ohne sich hier auf das im Übrigen unergiebige Unterfangen einzulassen, das Reich in moderne verfassungsrechtliche Kategorien einzuordnen, soll hier I. kurz skizziert werden, wie dieser Reichsverband ausgestaltet war und dann II. das Hauptaugenmerk auf die juristischen Aspekte unter Berücksichtigung der ambivalenten Interessen innerhalb des Reichsverbands gerichtet werden.
II. Reichsverband Der Staatsrechtler Johann Jacob Moser beschreibt das soeben schon als „Ungeheuer“ verunglimpfte Reich in seinem „Neuen Teutschen Staats-Recht“ als „einen einigen Staats-Cörper“, und es sei „kein einiger Herr und kein einiges Land oder Gebiet in Teutschland, welches nicht zu disem Teutschen Reich gehörete. Sie machen, nach der Sprache derer Reichs-Grund-Geseze, ein Reich aus …, dessen samtliche Theile unter einem gemeinschaftlichen Regenten und Oberhaupt … stehen, und die unter sich unzertrennlich verbunden seynd.“ Die einzelnen Länder seien nicht von einander unabhängig und souverän, sondern „kein Teutscher Regent, er seye wer er wolle, in nichts und niemalen, ganz souverain ist; indeme auch die Landes-Hoheit und deren wichtigste Stücke allemal der Majestät oder Ober-Herrschafft des Kaysers und des Reichs unterworffen bleiben.“5 Schon hier sei betont, dass zu diesen wichtigsten Stücken übrigens vor allem auch die Jurisdiktionsgewalt zählte. Alle Stände zusammen bildeten nach Moser – womöglich in Anlehnung an das von Pufendorf skizzierte Bild – „unum Corpus“6, der freilich durch das Reichsoberhaupt vervollständigt wurde und der durch wechselseitige Obligationen miteinander verwoben war: Das lehensrechtlich ausgestaltete Herrschafts- und Organisationsprinzip des Mittelalters mit seinem charakteristischen do ut des zwischen dem römischen König als oberstem Lehensherr und seinen Lehensleuten behielt seine Bedeutung, wenn auch in zunehmend abgeschwächter Form, bis zum Ende des Alten
4 Zur zeitgenössischen Diskussion um Pufendorfs Theorie Bernd Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte 112, Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 4, 1984, hier v. a. S. 36 – 74. 5 Johann Jacob Moser, Neues Teutsches Staats-Recht, 3. Theil, Von denen Kayserlichen Regierungs-Rechten und Pflichten, 1. Theil, Stuttgart 1773, 1. Cap., § 4, S. 3. Zur Ideengeschichte des Staatsbegriffs s. auch Robert von Friedeburg, Luthars Vermächtnis. Der Dreißigjährige Krieg und das moderne Verständnis von Staat im Alten Reich, 1530er bis 1790er Jahre (Studien zur europäischen Geschichte 320), 2020. 6 Moser (Fn. 5), 1. Cap., § 7, S. 7.
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Reichs im Jahr 1806.7 Durch die eidliche Selbstverpflichtung der Reichsglieder nicht nur gegenüber dem römischen König, sondern auch gegenüber dem Reich selbst, blieb dieses in seiner Bestandskraft von Regentschaftswechseln unberührt. Das von den Kurfürsten zu wählende Reichsoberhaupt wiederum hatte seinerseits in Wahlkapitulationen, die sich seit Karl V. etabliert hatten, sämtliche Reichsgrundgesetze, die Privilegien der Reichsstände und die Territorialstruktur des Reiches zu bestätigen, und verpflichtete sich gegenüber den Reichsständen und Kurfürsten, diverse Mitspracherechte in allen Reichsangelegenheiten einzuräumen.8 Dabei stellten die Reichsstände die Reichsorganisation selbst insgesamt kaum in Frage, die mit der auf dem Reichstag zu Worms 1495 angestoßenen und im Verlauf des 16. Jahrhunderts weiter verfolgten Reichsreform trotz einiger Rückschläge immerhin drei Reichsinstitutionen zu etablieren vermochte, die sich über 300 Jahre als tragfähig erweisen sollten und gerade für das Reich als Rechtsverband von entscheidender Bedeutung waren, nämlich das Reichskammergericht, die Reichskreise und der Reichstag. Die generelle Akzeptanz der Reichsorganisation durch die Reichsstände war v. a. dadurch bedingt, dass sie ihre eigene partikularstaatliche Legitimation hiervon ableiteten. Ihre landesherrliche Stellung und Autorität nämlich war durch ihre reichsrechtliche Stellung als Reichsunmittelbare begründet, die ihnen verfassungsrechtlich zugewiesen worden war.9 Diese für Europa einmalige Konstruktion barg – ungeachtet ihrer prinzipiellen Anerkennung durch die Reichsstände – aber auch großes Reibungspotential bei 7
Der Reichshofrat wurde in seiner Funktion als Reichslehenskanzlei bis zur Niederlegung der Kaiserkrone, wenngleich wohl seit Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr intensiv, frequentiert. Zum Quellennachweis DRW XI, Sp. 664, im Übrigen Johann Jakob Moser, Einleitung zu dem Reichs-Hof-Raths-Proceß, Theil 3, VI. Von Reichs-Lehen, Franckfurth/Leipzig 1742, Theil 4, VI. Rest der Materie von Reichs-Lehen, ebd. 1737, ders., Neues Teutsches Staats-Recht, 9. Theil, Von der Teutschen Lehens-Verfassung. Nach denen Reichs-Gesezen und dem Reichs-Herkommen, wie auch aus denen Teutschen Staats-Rechts-Lehrern, und eigener Erfahrung …, Franckfurt/Leipzig 1774, Theile 1 und 2. Unter dem Aspekt der Symbolgeschichte hat das Reichslehenswesen Barbara Stollberg-Rilinger, Die Investitur mit den Reichslehen in der Frühen Neuzeit, 2009, S. 1 – 24, https://www.leibniz-publik.de/de/fs1/ob ject/display/bsb00084152_00003.html (zuletzt besucht am 27. 04. 2020) beleuchtet. 8 Moser (Fn. 5), 1. Cap., § 8, S. 8. Exemplarisch sei auf die Verpflichtung auf Kaiser und Reich in Art. 8 am Ende des Westfälischen Friedens von 1648 hingewiesen, wo es heißt, dass jeder Reichsstand „der Röm. Käys. May. vnd dem Reiche obligirt ist.“, in: Friedens-Schluß/ So von der Römischen Käyserlichen / Vnd [und] Aller-Christl. Königl. Mayst. Mayst. Als auch Deß Heyl. Römischen Reichs Extraordinari-Deputirten, vnd [und] anderer Chur: Fürsten vnd [und] Ständ Gevollmächtigten … zu Münster in Westphalen / am 24/14. Octobris Im Jahr 1648 … vnderschrieben vnd [underschrieben und] bekräfftiget …, Frankfurt 1649, und Art III und XL der Wahlkapitulation Ferdinands III., Regensburg, v. 24. 12. 1636, OeStA/ HHStA AUR (Allgemeine Urkundenreihe), 1636 XII 24, abgedruckt bei Wolfgang Burgdorf (Bearb.), Die Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser 1519 – 1792, Quellen zur Geschichte des Heiligen Römischen Reiches 1, 2015, S. 129 (131, 148). 9 Zur Bedeutung der hierfür maßgeblichen Wormser Reichsmatrikel siehe Johannes Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517 – 1617, 2002, S. 180.
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der inhaltlichen Ausgestaltung und v. a. bei der Grenzziehung zwischen den jeweiligen Macht- und Zuständigkeitsbereichen des Kaisers und der Landesherren. Auf verfassungsrechtlicher Ebene etwa gab es hinsichtlich der eben erwähnten Wahlkapitulationen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts Versuche, eine Capitulatio Perpetua zu etablieren, die letztlich scheiterten – nur eine von vielen legislativen Bemühungen, die Opfer des politischen Tauziehens zwischen dem Reichsoberhaupt und Gliedern des Reichs waren.10 Das System ungleicher Bundesgenossen, von dem Pufendorf sprach (systema sociorum inaequali foedere),11 stand vor der Schwierigkeit, dass einzelne Reichsstände12 in ihm einerseits ihre Freiheit gegenüber dem Kaiser abzusichern versuchten, andererseits eben diese auf territoriale Unabhängigkeit bestehenden Reichsstände gemeinsame Interessen mit anderen vertraten, für die sie zweckmäßigerweise an einem Strang ziehen mussten. Zu diesen Interessen zählten – um hier nur drei Punkte zu nennen – nicht weniger, als den Protestantismus gegenüber dem Katholizismus sicherzustellen, dass Frieden durch Recht gesucht wird, und das gemeine Wohl aufrechtzuerhalten, d. h. für das Reich und seine Untertanen wirtschaftlichen Wohlstand zu erzielen bzw. zu festigen. Die Verfolgung dieser gemeinsamen Interessen erfolgte durch die mitverantwortliche Einbindung der Stände in vielfältigen Gremien: d. h. auf legislativer Ebene vor allem in Form der beratenden Ausschüsse bei Gesetzgebungsvorhaben des Reichs, auf judikativer Ebene durch die Besetzung des Reichskammergerichts. Vornehmlich aus letztgenanntem Handels- bzw. wirtschaftlichen Bereich sollen Beispiele herangezogen werden, um an ihnen zu illustrieren, inwieweit sich die verfassungsrechtlichen Vorgaben in der Praxis widerspiegeln, d. h. inwieweit sie durch die Adressaten Anerkennung fanden, sie sich als tragfähig erwiesen und welche etwaigen Folgeprobleme hieraus resultierten. Die getroffene Auswahl konzentriert sich bewusst nicht auf konfessionelle Aspekte, da diese bereits vielfältiger Gegenstand historischer wie verfassungsrechtshistorischer Betrachtungen waren, die sich auf das ambivalente Verhältnis innerhalb des Reichsverbands fokussieren; die hier konsultierten handels- und wirtschaftsrechtlichen bzw. fiskalischen Aspekte dagegen wurden bislang nur eher sporadisch konsultiert, obgleich sie für den Erhalt und Wohlstand des Reiches von kaum zu überschätzender Bedeutung waren. Zwar war man noch im 16. Jahrhundert eher skeptisch gegenüber Handel und Gewerbe, doch spätestens seit Mitte des 17. Jahrhunderts war die Nützlichkeit von Handel und Wandel auch in das Bewusstsein des Reichs und der Territorien getreten.13 Dieser Gesin10
Projekt einer beständigen Wahlkapitulation von 1671, OeStA/HHStA RK Wahl- und Krönungsakten 21d-2. Einzelheiten dazu bei Neuhaus (Fn. 3), 13 f., 87 f. m. w. N. 11 Pufendorf (Fn. 1), S. 343. 12 Eine pauschale Einordnung der Reichsstände ist nicht möglich; die flächenmäßig größeren bzw. politisch mächtigeren unter ihnen entsagten vor allem im 18. Jahrhundert ihre Loyalität gegenüber dem Reich, während mittlere und kleine auf den Reichsverband existenziell angewiesen waren. 13 Zu einzelnen Facetten dieses aufblühenden Tätigkeitsfeldes zusammenfassend m. w. N. Johannes Burkhardt, Die Entdeckung des Handels. Die kommerzielle Welt in der Wissens-
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nungswandel, der sich schlagwortartig mit der Wende vom gemeinschädlichen zum gemeinnützlichen „Commercium“ beschreiben lässt, zeichnet sich, wie noch zu zeigen sein wird, auch innerhalb des Rechtsverbands ab.
III. Rechtsverband Der von Moser beschriebene Zusammenhalt des Reichskörpers galt vornehmlich „in lege“.14 Wie auch hier angedeutet, band die theoretische Literatur die Staatsraison zur Erhaltung der „Harmonie“ im Reich an das Recht. Das meinte vor allem die Bewahrung des ausbalancierten Verhältnisses zwischen den einzelnen Reichsgliedern als vornehmste Aufgabe der Staatsraison.15 Zwar fehlte es dem Reich an einer eigenen systematischen Verfassung. Doch das ausgewogene Beziehungsgeflecht fand seinen verfassungsrechtlichen Niederschlag vor allem in älteren Verfassungsdokumenten, in Friedensschlüssen und Wahlkapitulationen, die sämtlich dazu genutzt wurden, den Reichsgliedern die Befolgung ihrer jeweiligen Partizipationsrechte zuzusichern: Die Rechte der Reichsstände gegenüber dem Kaiser und in ihren eigenen Territorien waren zunächst in der Goldenen Bulle als wichtigstem Teil der Reichsverfassung verbrieft. Im Osnabrücker Friedensvertrag (Instrumentum Pacis Osnabrugensis, IPO) wurden sodann die hergebrachten Grundsätze festgeschrieben, mit denen ein Ausgleich zwischen Kaiser und Reichsständen bestätigt bzw. wiederhergestellt werden sollte. In Art. VIII, 1 IPO heißt es dazu ganz grundsätzlich, es sollten „alle vnd jede Chur:Fürsten vnd Stände deß Reichs / bey jhren vralten Gerechtigkeiten / Vorzügen / Freyheit / Privilegien / hoher Lands-Obrigkeit / so wol in Geistlichen: als Weltlichem Exercitio, Herrschafften / Regalien / vnd dieser aller Possession, krafft gegenwärtiger Transaction, dergestalt bestättigt vnd bekräfftigt seyn / daß sie von niemands / vnter was Schein es auch jmmer seyn möge / de facto davon turbirt werden können noch sollen“.16 Neu auf den Thron berufene Kaiser, wie etwa auch Ferdinand III. im Jahr 1636, sicherten in ihren Wahlkapitulationen den Reichsstänordnung der Frühen Neuzeit, in: ders./Helmut Koopmann/Henning Krauß (Hrsg.), Wirtschaft in Wissenschaft und Literatur. Drei Perspektiven aus historischer und literaturwissenschaftlicher Sicht, Augsburger Universitätsreden, 23, 1993, S. 5 (15). 14 Moser (Fn. 5), 1. Cap., § 7, S. 7. 15 Zur Auseinandersetzung der Reichspublizistik mit dem Staatsinteresse siehe Roeck (Fn. 4), S. 76 – 80. 16 Friedens-Schluß/ Wie solcher Von der Römischen Käyserlichen / Auch Königl. Schwedischen Mayst. Mayst. So dann Deß Heyl. Römischen Reichs Extraordinari-Deputirten vnd [und] anderer Chur: Fürsten vnd [und] Ständ Gevollmächtigten vnd [und] Hochansehenlichen Herren Abgesandten zu Oßnabrück den 27ten. Julij vnd [Julii und] 6ten Augusti / Im Jahr 1648. auffgericht vnd [und] verglichen / vnd [und] daselbsten 24/14. Octobris in offentlicher Versamblung vnderschrieben vnd [underschrieben und] bekräfftiget / auch den 25/15. eiusdem solenniter publicirt worden / &c. Auß dem wahren Original, wie es bey dem CurMäyntzis. Reichs-Directorio deponirt worden/ ins Teutsche versetzt, Franckfurt, 1649, Art. VIII, 1, S. 52 f.
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den ihre althergebrachten Rechte zu, wonach Gesetze, „so yezo gemacht oder künftiglich durch Unnß, mit ihrer, der Churfürsten unnd Fürsten, auch annderer Ständten deß Reichs Rhat möchten ufgericht werden …“17 Ging es hier also hauptsächlich um die Wahrung eines status quo und präsentiert sich das Reich insoweit als „defensiver Rechtsverband“18, musste es umgekehrt als Schwächung empfunden werden, wenn einzelne überkommene Rechte abgewandelt bzw. modifiziert wurden. In diesem Lichte werden einzelne Gegenstände zu bewerten sein, die im Folgenden zur näheren Betrachtung herangezogen werden. Zu den wichtigsten Regierungsmaterien überhaupt, für die Regelungen über die Zuständigkeit bzw. Verantwortlichkeit im Reich getroffen werden mussten, zählten, wie soeben bereits angedeutet, die Gesetzgebung und die Rechtsprechung.
1. Legislativer Rechtsverband a) Verfassungsrechtliche Grundlagen Was die Gesetzgebung betrifft, waren für sie wie für die übrigen iura comitialia die im Reichstag stimmberechtigten Reichsstände und Freien Städte mitwirkungsberechtigt. Erstmals offiziell wurden die Reichsgesetzgebung wie auch andere Komitialrechte sodann in den Westfälischen Friedensverträgen – wenn auch nicht vollständig – aufgezählt.19 Was die Legislative betrifft, sollte im Hinblick auf deren Beachtung, Zustandekommen und Änderung an den bisherigen Verhältnissen festgehalten werden. Danach wirkten bei der Reichsgesetzgebung die im Reichstag stimmberechtigten Reichsstände und Freien Städte mit dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches zusammen; nur gemeinsam konnten sie reichsweit geltende Gesetze auf den Weg bringen. Doch wie genau war dieses Procedere ausgestaltet, welche Mehrheitsverhältnisse waren hierbei entscheidend? Wie der Reichstag selbst formierte sich auch das auf ihnen ausgetragene Verfahren im Wesentlichen in der Regierungszeit Maximilians I. Für Abstimmungen im Reichstag bedeutete dies, dass man zunächst noch dem 17 Art. XL der Wahlkapitulation Ferdinands III., Regensburg, 24. Dezember 1636, OeStA/ HHStA AUR 1636 XII 24, abgedruckt bei Burgdorf (Fn. 8), S. 148. 18 So die Kapitelüberschrift bei Roeck (Fn. 4), S. 75 – 81 und bes. S. 78. 19 Zu den hier nicht behandelten Komitialrechten zählten die Entscheidung über Krieg und Frieden und die Bündnis- und Außenpolitik, vgl. Art. VIII, 2, IPO (Fn. 16), S. 53: „Sie sollen / ohne Einrede / … deß Iuris suffragij in allen deß Römischen Reichs-Sachen / fürfallenden Berathschlagungen / fürnemblich da Gesetze zu machen oder außzulegen / Kriege zu decretiren / Tribut ankünden / Soldaten zu werben vnd zu verpflegen / newe Vestungen in der Stände Herrschafften / im Namen deß Reichs / vffzurichten / auch die Alten mit Besatzungen zu versehen / wie auch / wo Friede oder Bündnussen zu machen / vnd was dergleichen Sachen mehr zu verrichten seyn / vnd solle dieses / oder dergleichen hinführo weiter nit geschehen / oder jemaln zugelassen werden / es seye dann von sämptlichen Ständen vff einem freyen Reichs-Tage bewilligt.“
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überkommenen Konsensideal Rechnung trug, das sowohl ein Einvernehmen unter den Reichsständen als auch im Verhältnis zum Kaiser erforderte. Dies dürfte vermutlich – neben anderen inhaltlichen Faktoren – auch eine Ursache dafür gewesen sein, warum sich die so genannte „Monopoldiskussion“ so in die Länge zog,20 bei der um das Verbot großer Handelsgesellschaften gerungen wurde, die seit dem späten 15. Jahrhundert zu wirtschaftlicher Macht aufgestiegen und für die wirtschaftlichen Missstände im Reich verantwortlich gemacht worden waren.21 Nachdem die Verhandlungen hierüber bereits im Jahr 1519 aufgenommen worden waren, wies zehn Jahre später ein kaiserlicher Vertreter erstmals darauf hin, „das der minst deil dem merern nach ordnung des h[eiligen]reichs folgen“ müsse.22 Erst von da an setzte sich das Majoritätsprinzip allmählich für Abstimmungen durch. Der mit einem reichseinheitlich geltenden Gesetz potentiell einhergehende politische Machtverlust wog schwer und verhinderte in der Geschichte des Alten Reichs auch nach Etablierung des Majoritätsprinzips eine Vielzahl von Gesetzen, die durchaus zweckmäßig und förderlich gewesen wären. Beispielhaft sei hier auf ein einheitliches System von Maßen und Gewichten, die Einführung eines einheitlichen Höchstzinssatzes in Höhe von 5 % und verbraucherschützender Maßnahmen – u. a. Höchstpreisregelungen für die Grundnahrungsmittel Wein, Bier, Brot und Fleisch und Sanktionen gegen Fälschungen einzelner Gewürze –23 hingewiesen, Bestimmungen, die im Zuge der Reichspoliceyordnung von 1530 dazu gedacht waren, den Handel im Reich zu fördern.24 Doch blieb es bei dieser gutgemeinten Absichts20 Dazu insgesamt Thomas Felix Hartmann, Die Reichstage unter Karl V. Verfahren und Verfahrensentwicklung 1521 – 1555, Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 100, 2017. Zum Beschlussverfahren generell, wenngleich auch stark vereinfacht, Burkhardt, Reformationsjahrhundert (Fn. 9), S. 190 f. 21 Eine zusammenfassende Schilderung der Geschehnisse findet sich bei Anja AmendTraut, Wirtschafts- und Handelspolitik Kaiser Karls V. im Heiligen Römischen Reich. Strukturelemente und rechtliche Grundlagen, in: Ignacio Czeguhn/Heiner Lück (Hrsg.), Kaiser Karl V. und das Heilige Römische Reich. Normativität und Strukturwandel eines imperialen Herrschaftssystems am Beginn der Neuzeit, „Weiße Reihe“ der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, voraussichtlich 2021. 22 Zitiert nach Hartmann (Fn. 20), S. 232. Zu dieser Entwicklung ebd, S. 223 – 233, 326 f. Kritisch zur These Hartmanns, dass eine lineare Entwicklung vom Konsensprinzip zur Majorität beobachtet werden könne, Axel Gotthard, Rezension zu Hartmann, ZRG.GA 136 (2019), S. 502 (503). 23 Zum Entwurf siehe schon Historische Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe 2, 2. Bd. (RTA JR 2), 2. Auflage 1962, S. 332, hier S. 342, 345 f., 354 – 356, 359 – 361; Reformation guter Policey, zu Augsburg von 1530, in: Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, 4 Theile, Franckfurt am Mayn 1747, hier Teil I – II, S. 332 – 345, hier Tit. XXV., § 2, S. 340, Tit. XXVI. – XXX., S. 341 – 343. 24 Zum Entwurf siehe schon den RTA jR 2 (Fn. 23), S. 342, 345 f., 354 – 356, 359 – 361; Reformation guter Policey, zu Augsburg von 1530, in: Neue Sammlung (Fn. 23), Teil I – II, S. 332 – 345, hier Tit. XXV., § 2, S. 340, Tit. XXVI. – XXX., S. 341 – 343. Näher zur Wirt-
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erklärung, die noch einer näheren Ausgestaltung bedurft hätte, die aber letztlich nicht mehrheitsfähig war. b) Partikularistische Interessen und sie schützende Mechanismen – salvatorische Klauseln, Insinuation, Subkollektationsrecht Wie schwierig sich selbst dann, wenn ein Gesetz auf dem Reichstag beschlossen worden war, das weitere Verfahren bis zu dessen Anwendbarkeit gestaltete, lässt sich schon an der sehr überschaubaren Zahl von Reichsgesetzen ablesen, die tatsächlich im gesamten Reich zur Umsetzung gelangten, wie dies etwa für die Reichspoliceyordnungen oder die Constitutio Criminalis Carolina der Fall ist. Letztere ist auch ein Beispiel dafür, wie langwierig das Gesetzgebungsverfahren selbst im Erfolgsfall war: Bereits im Jahr 1498 wurde auf dem Reichstag zu Freiburg im Breisgau beschlossen, das Strafverfahren für das gesamte Reich einheitlich zu regeln. Doch erst über 30 Jahre später, auf dem Augsburger Reichstag im Jahr 1530, wurde die Peinliche Halsgerichtsordnung beschlossen, und weitere zwei Jahre später, am 27. Juli 1532, auf dem Reichstag in Regensburg ratifiziert.25 Ungeachtet ihrer anerkannten Zweckmäßigkeit stimmten die Reichsstände dem Gesetz nur zu, nachdem man sich auf die Einfügung einer salvatorischen Klausel verständigt hatte, wonach die Carolina gegenüber den Partikularrechten der Reichsstände nur subsidiäre Geltung entfaltete. In den Augen der Reichsstände war die Gefahr, dass die eigene Gerichts- und Gesetzgebungshoheit ansonsten durch die Kassation territorialer Rechte geschwächt werden könnte, zu groß.26
schaftspolitik zur Zeit Karls V. Amend-Traut, Wirtschafts- und Handelspolitik Kaiser Karls V. (Fn. 21). 25 Der Band von Friedrich-Christian Schroeder (Hrsg.), Die Carolina. Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs von 1532, Wege der Forschung 626, 1986, vereinigt ältere Beiträge zum Thema, zuletzt den vom Herausgeber selbst von 1980, S. 305. Eine umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung neueren Datums fehlt, weshalb noch immer auf die ältere Literatur hierzu verwiesen werden kann, darunter Julius Friedrich Malblank, Geschichte der peinlichen Gerichtsordnung von Kaiser Karl V., Nachdr. der Ausg. Nürnberg 1782, Bibliothek des Deutschen Strafrechts. Alte Meister 33, 1998. Eine knappe Zusammenfassung liefert Klaus Geppert, Die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. (die „Carolina“). Wissens- und Nachdenkenswertes zu einer Rechtsquelle aus dem Jahre 1532, Juristische Ausbildung (JURA) 2015, S. 143. 26 „Doch wollen wir durch dise gnedige erinnerung Chuorfürsten Fürsten vnd Stenden / an jren alten wolherbrachten rechtmessigen vnnd billichen gebreuchen / nichts benommen haben“, am Ende der Vorrede, aus: Des allerdurchleuchtigsten großmechtigsten vnüberwindtlichsten Keyser Karls des fünfften: vnnd des heyligen Römischen Reichs peinlich gerichts ordnung / auff den Reichsztägen zuo Augspurgk vnd Regenspurgk / inn jaren dreissig / vnd zwey vnd dreisssig gehalten / auffgericht vnd beschlossen, Mainz 1532. Tatsächlich galt diese Subsidiarität nur eingeschränkt, denn der Klausel ging zum einen die Grundaussage voraus, wonach die strafrechtliche Relevanz künftig auch nach gemeinem Recht, d. h. neben dem Partikularrecht auch nach der Carolina, beurteilt würde. Zum anderen zählte der darauffolgende Art. 218 eine ganze Reihe partikularrechtlicher „missbreuche und
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Weitere Aspekte, denen bei der Zustandsbeschreibung des Reichs als Rechtsverband zentrale Bedeutung zukommt, sind die Insinuation von Reichsgesetzen und die damit zusammenhängenden Möglichkeiten, ihre Befolgung auf territorialer Ebene gerichtlich durchzusetzen und sie zu vollstrecken.27 Nur für den Fall ihrer Bekanntmachung konnte die Missachtung von Reichsgesetzen auch von reichsständischen Gerichten geahndet werden. Als Beispiel hierfür sei auf die Reichsmünzordnung von 1559 hingewiesen, mit der man mit Rücksicht auf den „gemeinen Nutzen“ versuchte, nicht autorisierte Münzstätten zu verbieten und die zunehmende Absenkung des Silberanteils der umlaufenden Münzen und damit eine Inflation abzuwehren. Zur Verwirklichung der mit der Ordnung verfolgten Ziele war u. a. vorgesehen, unter der Aufsicht der zehn Reichskreise Kreismünzstätten einzurichten, in denen generell alle Stände eines Kreises ihr Geld münzen lassen sollten. Zwar hatten einige Reichsglieder, wie etwa Frankfurt, die Münzordnung bereits ein Jahr später insinuiert und es kam in der Folgezeit zu einigen Gerichtsverfahren gegen die später so genannten Kipper und Wipper.28 Doch insgesamt gestaltete sich die Umsetzung des Reichsgesetzes als überaus schwierig. Die immer wieder an die kaiserliche Hofkammer gelangten Klagen Einzelner über Verstöße gegen die Reichsmünzordnung und die unzähligen reichsrechtlichen Wiederholungen der dort enthaltenen Verbote und Anweisungen bis zur Kipper- und Wipperzeit der 1620er Jahre sind beredtes Zeugnis für die Schwächen des Systems. Diese wurden selbst von der Bevölkerung wahrgenommen und öffentlich kritisiert. In einer Zeitungsmeldung aus dem Jahr 1623 heißt es dazu: „Man berathschlaget starck wie in dem Müntzwesen und andern sachen Remedirung geschehen möchte/ aber im Effect geschicht nichts“.29 Dieser Missstand war darauf zurückzuführen, dass etliche münzende Reichsstände zunächst nicht den gemeinen, sondern ihren eigenen Nutzen verfolgten, indem sie von einer Insinuation der Münzordnung solange absahen, als sie selbst von den fiskalisch einträglichen Münzverschlechterungen profitierten. Erst geraume Zeit später nahmen sie selbst minderwertiges Geld durch Steuerzahlungen und andere Abgaben ein, wodurch auch sie von böse vnuernünfftigen gewohnheyten, so an etlichen orten vnd enden gehalten werden“ auf, die durch das nunmehr vorrangige Reichsrecht verdrängt wurden. 27 Zur Insinuation im Überblick Wolfgang Sellert, Art. Insinuation, in: Albrecht Cordes/ Heiner Lück/Dieter Werkmüller/Christina Bertelsmeier-Kirst (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 2. Auflage 2011, Sp. 1256. Zur Voraussetzung der Insinuation für die gerichtliche Anwendung Bernd Wulffen, Richterliches Prüfungsrecht im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation des 18. Jahrhunderts, 1968, S. 38 – 40. 28 Einzelheiten hierzu bei Anja Amend-Traut, „Geld regiert …“ Frühneuzeitliche Geldpolitik im Lichte zeitgenössischer Rechtsprechung, in: FS Jürgen Weitzel, 2014, S. 367 (383). Zu der Verkündung der einschlägigen münzrechtlichen Normen über Frankfurt hinaus Thomas Christmann, Das Bemühen von Kaiser und Reich um die Vereinheitlichung des Münzwesens. Zugleich ein Beitrag zum Rechtsetzungsverfahren im Heiligen Römischen Reich nach dem Westfälischen Frieden, Schriften zur Rechtsgeschichte, 41, 1988, S. 172. 29 Wöchentliche Zeitung auß mehrerley örther, Hamburg 1623, Nr. 12, 2: Wien 1623 III 3, nach Ulrich Rosseaux, Die Kipper und Wipper als publizistisches Ereignis (1620 – 1626). Eine Studie zu den Strukturen öffentlicher Kommunikation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 67, 2001, S. 395.
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den Münzverschlechterungen betroffen waren und begannen, ein eigenes Interesse an der Verbesserung des Münzwesens zu entwickeln. Ebenso zählte der Bereich der Steuer- und Zollerhebung zu den Komitialrechten.30 Wie auch die bereits erwähnten policeyrechtlichen Pläne zur Handelsförderung sollte sich die Reform des Zollwesens, die zur Unterhaltung des Reichsregiments und des Reichskammergerichts durchgeführt werden sollte, als bloße Absichtserklärung erweisen. Zwar gelang es auf den Reichstagen zu Nürnberg 1524 und zuletzt Speyer 1529, einen gemeinsamen Willen zu politischem und wirtschaftlichem Zusammenhalt mit Unterstützung Karls V. zu artikulieren; immerhin für jeweils zwei Jahre verständigten sich Kurfürsten, Fürsten und Stände einerseits und der kaiserliche Statthalter andererseits darauf, jeweils die Hälfte der zur Unterhaltung der beiden Reichsorgane anfallenden Kosten zu tragen.31 Doch die einheitliche Ordnung eines 4 %igen Reichszolls auf Waren und Güter, „die aus oder in das reich Teutscher nation geen“, scheiterte am Widerstand der Handelsstädte,32 die insbesondere vorbrachten, der Einfuhrzoll treffe deren Wirtschaftsleben empfindlich.33 In einem Schreiben an Kaiser Karl V. vom 06. 02. 1523 beschwerten sich die auf dem Nürnberger Reichstag anwesenden Städtevertreter über den Zoll wegen dessen Gemeinschädlichkeit.34 Es ist bezeichnend, dass der Einfluss der Reichsstädte auf die politischen Geschicke des Reichs während ihrer wirtschaftlichen Blütezeit, in der die Finanzkraft der in ihnen beheimateten großen Handelsgesellschaften auf kreditsuchende Landesherrn und das Reichsoberhaupt gleichermaßen Druck auszuüben vermochte, besonders groß war. Dieses Gewicht sollte erst nach 1648 mehr und mehr abnehmen.35 Und schließlich stand der Kaiser auch in anderen fiskalischen Beziehungen in stetiger Konkurrenz um finanzielle Ressourcen, wie dies etwa die Forschung jüngst im Hin30
IPO (Fn. 16), Art. VIII, 2, S. 53. RA 1524, in: Neue Sammlung (Fn. 23), Teil I – II, S. 252 – 261, hier § 1, S. 253 f., RA 1529, in: Neue Sammlung, ebd., S. 292 – 301, hier § 27, S. 298. 32 Zum Entwicklungsgang der Zolldebatte zusammenfassend Historische Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe 3, 3. Band (RTA jR 3), 2. Auflage 1963, S. 555, und Nr. 108,S. 622 – 641. Außerdem dazu Wilhelm Roscher, Über die Blüthe deutscher Nationalökonomik im Zeitalter der Reformation, in: Historisch philologische Berichte der K. sächsischen Gesellschaft v. 12. Dec. 1861, Leipzig 1861, S. 145 (98 f.). 33 Dazu insbesondere Clemens Bauer, Conrad Peutingers Gutachten zur Monopolfrage, Archiv für Reformationsgeschichte 45 (1954), S. 1 und S. 145, hier S. 150 f., wo auch eine diesbezügliche städtische Eingabe wiedergegeben ist, und 1523 z. T. wörtlich wiederholt, RTA jR 3, ebd., Nr. 109, S. 641 – 644. Siehe auch Heinrich Lutz, Conrad Peutinger. Beiträge zu einer politischen Biographie, Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg, Schriftenreihe des Stadtarchivs Augsburg, 9, 1958, Neudruck 2001, S. 214 f., August Kluckhohn, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften und Monopole im Zeitalter der Reformation, in: Historische Aufsätze dem Andenken an Georg Waitz, 1886, S. 666 (688, 690 f.). 34 ISG Ffm., Reichssachen II, Nr. 631. Zu den Verhandlungen hierüber auf dem Speyerer Städtetag und dem Ergebnis hinsichtlich des Zollprojekts siehe Kluckhohn (Fn. 33), S. 691 – 699. 35 Neuhaus (Fn. 3), S. 84 f. m. w. N. 31
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blick auf die Bundesgründungen und die Geldmittel der oberdeutschen Kreise festgestellt hat.36 Andere fiskalische Abgaben konnten dagegen erfolgreich umgesetzt werden: Das gilt vor allem für die Römermonate, für die ein hohes Maß an Steuerbereitschaft bestand. Letztere lässt sich auf den Grundkonsens der Reichsstände über die Friedenspolitik nach innen und außen – dies gilt vor allem für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts – zurückführen.37 Ungeachtet dessen blieben die Widerstände der Reichsstände gegen den Kammerzieler, der mit dem Augsburger RA von 1548 – nach andauernden Widerständen der Reichsstände – als Steuer zur Finanzierung des Reichskammergerichts eingeführt worden war, bis zum Ende des Alten Reichs groß. Bewilligt wurde er überhaupt nur, nachdem sich die an sich steuerpflichtigen Reichsstände ein Subkollektationsrecht ausbedungen hatten, das ihnen ermöglichte, die Abgabe auf ihre Untertanen umzulegen. Gegen diese Abgabe wurde nicht allein Zahlungsunfähigkeit wegen wirtschaftlicher Nöte ins Feld geführt. Protestantischen Ständen missfiel es, für ein dem katholischen Reichsoberhaupt unterstehendes Gericht aufkommen zu müssen, wie man vor dem Hintergrund des einer Steuer innewohnenden Elements der Regelmäßigkeit generell argwöhnte, obrigkeitliche Autorität wie politische Souveränität einzubüßen. Zahlreiche vom Reichsfiskal initiierte und vor dem Reichskammergericht ausgetragene Verfahren zur Frage ihrer Landsässigkeit geben Auskunft darüber, wie sich Reichsstände rechtsförmlich gegen ihre Steuerpflichtigkeit – meistenteils erfolglos – zur Wehr setzten. Allen voran seien hier die wiederholten Zahlungseinstellungen Brandenburg-Preußens erwähnt, die das Reichskammergericht über weite Teile des 18. Jahrhunderts beschäftigte. Dass hier um übergeordnete, prinzipielle Machtverhältnisse gerungen wurde und nicht um die finanzielle Belastung als solche,38 belegen die bereits erwähnte Subkollektation wie auch die Tatsache, dass die tatsächliche Belastung durch den Kammerzieler kaum mehr als 1 % der einzelnen Etats der Stände ausmachte. Der hier zum Ausdruck kommende Widerstand 36 Fabian Schulze, Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg. Kriegsfinanzierung und Bündnispolitik im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, bibliothek altes Reich 23, 2018, S. 324. 37 Näher dazu Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, 1978. 38 Dass es bei diesen durch den Reichsfiskal angestrengten Verfahren gegen Reichsstände, die mit ihren Matrikularbeiträgen und der Zahlung von Reichssteuern in Verzug waren, v. a. um das Verhältnis der kaiserlichen Zentralgewalt gegenüber partikularen Bestrebungen ging, hat Bernhard Diestelkamp schon für das 16. Jahrhundert festgestellt, Bernhard Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: FS Adalbert Erler, 1976, S. 435 (439 ff.). Gleiches gilt übrigens auch für Verfahren des Reichsfiskals wegen fremder Kriegsdienste oder Unterstützung des Reichsfeindes, ebd., S. 441. Zur Zuständigkeit des Reichskammergerichts in fiskalischen Sachen, die die RKGO von 1555 festschrieb siehe auch schon Winfried Schulze, Reichskammergericht und Reichsfinanzverfassung im 16. und 17. Jahrhundert, Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, 6, 1989, insbes. S. 8, 14 – 16.
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versinnbildlicht vielmehr sowohl das schwindende Ansehen des Reichskammergerichts als Reichsinstitution und damit die bröckelnde Anerkennung des Reichsverbands überhaupt, als aber auch ein neues, sich von dem bisherigen Selbstverständnis als Bestandteil des Reichs lösendes Bild. Ab 1740 begannen die beiden größten Territorialkomplexe des Reiches, die habsburgischen Erblande und Brandenburg-Preußen, immer mehr aus dem Reichsverband herauszuwachsen. Österreich erwarb nach dem Sieg über die Türken große Gebiete jenseits der Reichsgrenze, wodurch sich der Schwerpunkt der habsburgischen Politik zwangsläufig nach Südosten verlagerte. Ähnlich verhielt es sich mit Brandenburg-Preußen, auch hier lag ein Großteil des Territoriums außerhalb des Reiches. Doch bis zu dieser Zeit, da sich das Ende des Reichs durch zunehmende Rivalität und auch Veränderungen im Denken der Zeit bereits abzuzeichnen begann, realisierte die Einführung des Kammerzielers ein einheitliches Steuersystem, dem sich die Mehrzahl der Reichsangehörigen unterordnete und die damit ihre verfassungsrechtlich verpflichtende Stellung im Reichsverband anerkannten.39 Hieran wird deutlich, dass das Gebiet des Finanzwesens insgesamt ein anschauliches Beispiel für das ambivalente Verhältnis zwischen Kaiser und Reichsständen ist, das mithilfe rechtlicher Instrumente ausbalanciert wurde und alle Beteiligten zum Verbund zusammenschweißte; das Reichsoberhaupt war gezwungen, sich Steuern bewilligen zu lassen, um Reichsangelegenheiten wahrnehmen zu können. Umgekehrt trugen die Reichsstände die Verantwortung zur Finanzierung von Reichsinstitutionen und Maßnahmen zum Schutz aller gegen Angriffe von außen auf das Reich. Die Überwachung und (Selbst-)Kontrolle der ordnungsgemäßen Steuerleistungen lag wiederum in den Händen von Amtsträgern, die die Reichsstände zuvor eigens im Rahmen ihrer Möglichkeiten zur politischen Teilhabe mittels Reichsgesetzen bzw. Reichsabschieden installiert hatten: den Reichspfennigmeister und den Reichsfiskal. Sie wiederum disziplinierten die Reichsstände zur Einhaltung der zuvor beschlossenen Reichsmatrikel von 1521 auf der Grundlage der ebenfalls als Reichsgesetz verabschiedeten RKGO von 1555 mit ihren Bestimmungen zur Fiskalgerichtsbarkeit.40 c) Reichskammergerichtsordnungen, Reichspoliceyordnungen Freilich würde es zu kurz greifen, die Elemente unerwähnt zu lassen, bei denen das Reich und seine Glieder harmonischer und geschlossener als Rechtsverband in Erscheinung treten. So schwierig es insbesondere im fiskalischen wie handels- und 39 Zusammenfassend dazu m. w. N. Anja Amend-Traut, Kammerzieler, in: HRG, 2. Auflage, Berlin 2012, Sp. 1567. 40 Der römischen kays. maiestat und gemeiner stende des heiligen reichs angenommene und bewilligte cammergerichtsordnung, zu befürderung gemeines nutzens auß allen alten cammergerichtsordnungen und abschieden auf dem reichßtag zu Augspurg anno 1548 von newem zusammengezogen, gemehrt und gebessert und auf jetzigem reichßtag, zu Augspurg anno 1555 gehalten…, Titel XV. und XVI.
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wirtschaftsrechtlichen Bereich war, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, so unproblematisch gelang dies auf dem unverfänglicheren Gebiet des Verfahrensrechts. Etliche Stadt- und Landrechte verweisen auf reichsrechtliche Verfahrensregeln, namentlich solche der Reichskammergerichtsordnungen, und übernehmen sie mangels eigener Vorschriften.41 Hier überwogen offensichtlich Praktikabilitätserwägungen gegenüber dem Misstrauen und der Gefahr eines Identitäts- bzw. Machtverlusts. Ähnliches gilt v. a. für die Reichspoliceyordnung von 1577, die in der Folgezeit die Grundlage für die Ordnungs- und Wohlfahrtsgesetze der Territorien bilden sollte. d) Ersatzgesetzgebung Die beiden höchsten Gerichte im Alten Reich, auf die noch näher einzugehen sein wird, steuerten den bereits geschilderten Schwächen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens durch den Erlass ihrer Gemeinen Bescheide als „Ersatzgesetzgebung“ entgegen.42 Als Anordnungen zur Regelung des Prozessrechts hatten sie zwar vordergründig verfahrensrechtlichen „Kleinkram“ im Auge.43 Doch ebenso wie die Normen zum Kameralprozess Vorbild für die unterinstanzlichen Verfahren in den Territorien waren, dürften auch die Gemeinen Bescheide prozessualen Inhalts über ihre vielfältigen Publikationen rezipiert worden sein und damit zur Konsolidierung des Rechtsverbands beigetragen haben. Neben prozessrechtlichen Fragen befassten sich die Gemeinen Bescheide auch mit Themenkomplexen, die weitere Rückschlüsse auf die Stärkung des Reichsverbands durch die Arbeit der beiden Höchsten Gerichte im Reich zulassen. Für den Reichshofrat sei beispielhaft auf die Bescheide hingewiesen, auf dessen große Zahl Peter Oestmann in seiner Edition aufmerksam macht, nämlich solche, die 41 Insgesamt zur Modernisierung reichsständischer Justiz durch die Reichskammergerichtliche Judikatur Anja Ahmed-Traut, Reichskammergerichtsforschung – was ist vollbracht, was bleibt zu tun?, in: Ein Leben für die Rechtsgeschichte – Bernhard Diestelkamp zum 90. Geburtstatg, Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 50, 2020, S. 73 (91). Für Nürnberg siehe etwa in: Des zu Nürnberg angerichteten Mercantil- und Banco-Gerichts Ordnung von 1697, Bl. 3r (unfol.); für das hessische Hofgericht und dessen Gerichtsordnung siehe Rainer Polley, Das Samthofgericht und das Samtrevisions- oder Oberappellationsgericht im Gefüge weiterer Samtinstitutionen nach der hessischen Landteilung von 1567, Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 123 (2018), S. 111 (121), der auch eine Synopse zwischen der RKGO von 1495 und der (Marburger) Hofgerichtsordnung von 1500 erstellt hat, S. 134 f. für Würzburg siehe Josef Bongartz, Gericht und Verfahren in der Stadt und im Hochstift Würzburg. Die fürstliche Kanzlei als Zentrum der (Appellations-)Gerichtsbarkeit bis 1618, Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich [QFHG] 74, 2020, 124, Fn. 606, 323, 326, 329, 341, 346, 355, 357. 42 Peter Oestmann, Gemeine Bescheide, Teil 1: Reichskammergericht 1497 – 1805, QFHG, 63,1, 2013, S. 16. 43 Tobias Schenk, Gemeine Bescheide Teil 2: Reichshofrat (1613 – 1798), hg. von Peter Oestmann, (= QFHG 63,2, 2017, 480 S., ZRG.GA 136 (2019), S. 479 f. (479).
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sich mit lehensrechtlichen Aspekten auseinandersetzen.44 Mangels reichsrechtlicher Regelungen stärkte also eben jene „Ersatzgesetzgebung“ für diesen Bereich den frühneuzeitlichen Lehnsverband und damit den Reichsverband selbst. Dies ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, gestaltete doch insofern der Reichshofrat und somit faktisch der Kaiser auch das Verfassungsgefüge.
2. Judikativer Rechtsverband Dem Kaiser kam die Rolle des höchsten Richters im Reich zu, die innerhalb und außerhalb des Reichs anerkannt war.45 a) Der Reichshofrat Für den Reichshofrat ergab sich hieraus, dass er die Posten der Reichshofräte ohne Rücksicht auf die Reichsstände besetzen konnte. Diese Bindung allein an den Kaiser griffen v. a. Wahlkapitulationen auf, wonach die Reichshofräte ihren Amtseid auf Kaiser und Reich abzulegen hatten.46 Der Kaiser allein hatte seinem Reichshofrat vorgeschrieben, sich verfahrensrechtlich an der RKGO zu orientieren. Mit der persönlichen Verpflichtung verbunden war freilich auch die Wahrnehmung der Interessen des Kaisers. Dies bedeutete, dass die Reichshofräte in ihrer Funktion als Bedienstete einer kaiserlichen Verwaltungsbehörde in Angelegenheiten, die auch und vor allem kaiserliche Reservatrechte betraf, ihn als höchsten Repräsentanten des Rechtsverbandes allein vertraten. In wichtigen Reichsangelegenheiten hatte der Reichshofrat dem Kaiser Gutachten vorzulegen, dessen Entscheidung dann den Ausschlag gab. Und auch bei der Wahrnehmung ihres Amtes als höchste Richter waren die Reichshofräte in ihrer Judikatur bei weitem nicht so unabhängig vom Kaiser wie das für die Richter am Reichskammergericht galt. Mit Rücksicht auf diese personelle wie daraus resultierend inhaltliche Abhängigkeit der Reichshofräte von Kaisers Gnaden bewertet die Reichspublizistik die Ausübung des kaiserlichen Amtes als oberstem Richter als „unmittelbar“.47 Dass der Kaiser nicht über seine Reichshofräte „unmittelbar“,
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Peter Oestmann, Gemeine Bescheide Teil 1: Reichskammergericht (1497 – 1805), QFHG 63,1, 2013, S. 75 – 77, und Teil 2: Reichshofrat (1613 – 1798), QFHG, 63,2, 2017, S. 9. In dem 2. Band sind dutzende Gemeiner Bescheide zu lehensrechtlichen Fragen aufgelistet. 45 Moser (Fn. 5), zitiert einige an den Kaiser adressierte Schreiben, in denen auf sein „obrist-richterliches Amt“ verwiesen wird, 15. Cap., § 19, S. 339 f. 46 So etwa Art. LI der Wahlkapitulation Ferdinands III., Art. XLVII der Wahlkapitulation Leopolds I. und Art. XLVI der Wahlkapitulation Josephs I., abgedruckt bei Burgdorf (Fn. 8), S. 152, 229, 273; siehe auch bei Moser (Fn. 5), 15. Cap., § 19, S. 339. 47 Moser (Fn. 5), 15. Cap., § 21, S. 342.
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sondern wirklich in Person über eine Sache entschied, kam dagegen nur ausnahmsweise vor.48 b) Das Reichskammergericht Was das Reichskammergericht betraf, trug es offiziell den Namen „Kaiserliches und Reichs-Kammer-Gericht“, und es war dem Reichsoberhaupt als oberstem Gerichtsherrn vorbehalten, seinen Repräsentanten vor Ort, den Kammerrichter sowie die zwei Präsidenten und einen Assessor zu benennen. Im Übrigen war jedoch die Rolle des Kaisers als höchstem Richter durch die Privilegien und Rechte der Reichsstände stark eingeschränkt. Hier fungierte der Kaiser grundsätzlich nur mittelbar, indem sämtliche Korrespondenz und Entscheidungen zwar in seinem Namen und mit dessen Siegel ergingen, Vollstreckungen in seinem Namen verfügt und vollzogen, Kommissionen in seinem Namen eingesetzt wurden.49 Doch davon abgesehen spiegelt sich in diesem Spruchkörper der Reichsverband in institutioneller Hinsicht; seine ständische Ausrichtung lässt sich in finanzieller, räumlicher wie auch personeller Hinsicht entnehmen. Denn auch die reichskammergerichtliche Judikatur zählte zu den Komitialrechten, die den Kaiser an die Zustimmung des Reichstages band. Denn das Gericht hatte einen festen, vom Kaiser entkoppelten Sitz, sollte durch eine von den Ständen zu leistenden Abgabe finanziert werden, und die eigentliche Rechtsfindung lag in den Händen der Assessoren, die von den Kurfürsten bzw. über die Reichskreise von den dort zusammengefassten Reichsständen präsentiert wurden. Das staatliche Gewaltmonopol des Reichs war demnach nicht personal an den Repräsentanten einer Monarchie gekoppelt, sondern Ausdruck eines gemeinsamen reichsständischen Willens. Dieser umfasste die endgültige Verbannung des Fehdewesens in Form des Ewigen Landfriedens, dessen Wahrung und Einhaltung durch die Einrichtung des hierfür allein zuständigen Reichskammergerichts justiziell abgesichert war. Dieser Reichsinstitution unterwarfen sich aber die Reichsstände auch selbst, indem es für sämtliche Streitigkeiten zwischen ihnen 48
Moser (Fn. 5) berichtet über eine Angelegenheit aus dem Jahr 1768, 15. Cap., § 20, S. 342, Johann Ulrich Cramer, Wetzlarische Nebenstunden, worinnen auserlesene beym höchstpreislichen Cammergericht entschiedene Rechts-Händel zur Erweiter- und Erläuterung der teutschen in Gerichten üblichen Rechts-Gelehrsamkeit angewendet werden, 102. Theil, Ulm 1761, Nr. 4, S. 239 – 243, erwähnt Kaiser Maximilian I., der 1515 eine Rechtssache vom Reichskammergericht an sich zog, um sie dann in „Eigner Persohn“ zu entscheiden, S. 242. 49 Moser (Fn. 5), 15. Cap., § 21, S. 342. Obgleich in gerichtlichen Justizangelegenheiten der Kaiser demnach prinzipiell an die Judikatur der Reichsgerichte gebunden war, standen ihm als Reichsoberhaupt ausnahmsweise auch größere Machtbefugnisse zu, ohne dass sich hierin ein wirkliches Reservatrecht geäußert hätte. Beispielsweise konnte der Kaiser bei Untätigkeit des Reichskammergerichts oder eines reichsständischen Gerichts Befehle um Prozessbeschleunigung erlassen. Eine vollständige Aufzählung dieser besonderen Rechte findet sich bei Moser, ebd., § 23, S. 346 – 349, der zu diesem Kreis auch unter bestimmten Voraussetzungen Religionssachen zählt. Zu den Ausnahmen, bei denen der Kaiser als oberster Richter in die reichskammergerichtliche wie landesherrliche Judikatur befugt war, einzugreifen, ebd., § 91, S. 386 f.
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wie auch solche, an denen sie als Partei eingebunden waren, erstinstanzlich zuständig war. So war es auch möglich, dass sich Untertanen auf dem Klageweg gegen ihre Obrigkeiten wenden konnten, und dass gegen Reichsstände vorgegangen werden konnte, wenn sie die Verpflichtungen nicht erfüllten, die sich aus dem Verbund der Reichsglieder ergaben, namentlich die Zahlung von Reichsabgaben.50 c) Die Rechtsprechung der beiden Höchstgerichte im Reich Auch was die justizielle Arbeit des Reichskammergerichts und des Reichshofrats selbst betrifft, leisteten diese einen wesentlichen inhaltlichen Beitrag zur Stärkung des Reichs als Rechtsverband. Wie die jüngere Forschung zutage gefördert hat, standen die beiden Höchstgerichte dabei durchaus nicht in einem Konkurrenzverhältnis,51 sondern ergänzten sich und bilden gemeinsam ein funktionales System höchstrichterlicher Justiz ab, das Rechtssicherheit für jedermann gewährte. Ihre Rechtsprechung trug maßgeblich zur Vereinheitlichung wie auch zur Verwissenschaftlichung des Rechts infolge der Etablierung einer eigenen Literaturgattung, der Kameralpublizistik, bei.52 Diese schloss vor allem zunächst das römische wie kanonische Recht, und zwar materielles wie Prozessrecht gleichermaßen, ein. Und auch jenseits des gemeinen Rechts, das ohnehin reichsweite Geltung für sich beanspruchen konnte und damit eine Klammerwirkung für den Rechtsverband darstellte, wirkte die höchstrichterliche Judikatur rechtsvereinheitlichend; für Rechtsfragen, auf die weder das römische Recht noch andere gemeinrechtliche Quellen Antworten parat hatten, schuf die Rechtsprechung der Höchstgerichte, v. a. die des Reichskammergerichts, und ihre Rezeption durch die landesherrlichen wie städtischen Unterinstanzen 50
Siehe dazu insbesondere die Ausführungen zum Kammerzieler nach Fn. 35. So einzelne in dem Band von Wolfgang Sellert (Hrsg.), Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis, QFHG, 34, 1999, vereinigte Beiträge, wie etwa der von Siegrid Westphal, Der politische Einfluss von Reichsgerichtsbarkeit am Beispiel der thüringischen Kleinstaaten (1648 – 1806), S. 83 (S. 89). Zuletzt Eva Ortlieb, Die Formierung des Reichshofrats (1519 – 1564). Ein Projekt der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit dem Haus-, Hofund Staatsarchiv, in: Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung, QFHG, 52, 2007, S. 17 (18), Anja Amend-Traut, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht. Praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit, QFHG, 54, 2009, S. 186 – 188, Tobias Schenk, Ein Erschließungsprojekt für die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats, Archivar 63 (2010), S. 285 (286). 52 Zur Kameralliteratur siehe Ernst Holthöfer, Die Literatur der Kameraljurisprudenz am Ende des Alten Reichs. Die reichskammergerichtliche Literatur von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1806, in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Das Reichskammergericht am Ende des Alten Reiches und sein Fortwirken im 19. Jahrhundert, QFHG, 41, 2002, S. 189. Zu ihrem Vorbildcharakter für die territoriale Gerichtsbarkeit am Beispiel des Wismarer Tribunals siehe Nils Jörn, Eine Bibliothek als Klammer zwischen Ostseeraum und Altem Reich?!, in: Josef Bongartz/Alexander Denzler/Ellen Franke/Britta Schneider/Stefan Andreas Stodolkowitz (Hrsg.), Was das Reich zusammenhielt. Deutungsansätze und integrative Elemente, QFHG 71, 2017, S. 87. 51
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und auch ihre Rezeption durch die Kameralliteratur und die Kommentarliteratur zu Territorial- bzw. Stadtrechten53 die Basis für die einheitliche Lösung streitiger Rechtsfragen, die vor allem neuartige Konzepte des Wirtschaftslebens zeitigten. Exemplarisch sei hier auf das Wechsel- und Gesellschaftsrecht hingewiesen, für deren Bereiche es zuvor bestenfalls partikularrechtliche Regelungen gab. d) Visitationen Eine einheitliche Rechtsprechung, die geeignet war, der Homogenität eines Rechtsverbands eingedenk des systemimmanenten Rechtsquellenpluralismus inhaltlich Rechnung zu tragen, hatten auch die bereits im 16. Jahrhundert tätigen Visitationskommissionen im Auge.54 Als Ausfluss der hoheitsrechtlichen Jurisdiktion, die sowohl dem Kaiser als auch den Reichsständen zustand, wurden Visitationen auf dem Reichstag beschlossen und entsprechende Kommissionen eingesetzt.55 Als Rechtsgrundlage dafür diente die Reichskammergerichtsordnung (RKGO) von 1521, die die Visitationskommissionen als Kontrollorgan anordnete, um v. a. Missstände aufzudecken und abzustellen. Darüber hinaus sind es auch diese Visitationen, die den Zusammenhalt des Reichsverbandes auf übergeordneter verfassungsrechtlicher Ebene stärkten. Das Reich hatte zwar keine systematische schriftliche Verfassung. Doch die in der jüngeren Forschung unternommenen Bemühungen,56 anhand des einschlägigen Quellenmaterials u. a. in Form von Visitationsabschieden, Protokollen, Korrespondenzen, Gutachten und Voten auf „verfassungsmäßige Regelhaftigkeiten als Ordnungskriterien der Visitationsverfahren schließen zu können“, geben Anlass zu der Frage, ob sie den Aggregatzustand rechtlicher Verfassung erlangten oder sich noch „im vorrecht-
53 So verweist etwa der vornehmlich das Frankfurter Stadtrecht kommentierende Johann Philipp Orth, häufiger auf Entscheidungen des Reichshofrats bzw. des Reichskammergerichts, wie etwa in: Samlung merkwürdiger Rechtshändel samt ihren zweifels= und entscheidungsgründen, wie auch verschiedener rechts= und anderer materien…, 17 Theile, Frankfurt 1763 – 1778, hier Vierter Theil, Frankfurt 1768, Fall V., § 7, S. 930. 54 Anette Baumann, Visitationen am Reichskammergericht. Speyer als politischer und juristischer Aktionsraum des Reiches (1529 – 1588), Bibliothek Altes Reich 24, 2018, S. 48, 60, 96. 55 Wie sich die Visitation im Zuge der Reformation und katholischen Reform zu „einer Art Hoheitsrecht“ entwickelte siehe zusammenfassend Ernst Walter von Zeeden/Peter Thhaddäus Lang, Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa, Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 14, 1984, S. 9 (insbesondere S. 11 f.). Der Kaiser sandte zu den Visitationen eine Kommission, Moser (Fn. 5), 15. Cap., § 21, S. 342. 56 Hierzu zählen die Arbeiten von Alexander Denzler, Über den Schriftalltag im 18. Jahrhundert. Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776, Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 45, 2016, und von Baumann (Fn. 54).
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lichen Raum ritualisierter Verfasstheit“ bewegten.57 Jedenfalls liefern insbesondere die RKGO als gemeinsam gefundene reichsgesetzliche Regelungen und ihre Instrumentarien Anhaltspunkte für eine praktizierte Reichsverfassung. e) Justizförmige Überprüfung landesherrlicher Akte und Appellationsprivilegien Die Verzahnung des Reichs und seiner Glieder auf judikativer Ebene verdeutlicht auch die bereits angedeutete Möglichkeit der justizförmigen Überprüfung landesherrlicher Akte. Denn grundsätzlich stellten die höchsten Gerichte im Reich58 für Reichsmittelbare die letzte Instanz im gesamten Rechtszug dar, d. h. Untertanen, die sich durch die Entscheidung(en) eines landesherrlichen oder städtischen Gerichts beschwert fühlten, stand die Möglichkeit offen, sich mit einem Rechtsmittel an eines der beiden Reichsgerichte zu wenden. Moser beschrieb die insofern eingeschränkte Souveränität der Territorien des Reiches und begründete diese mit der Kompetenz der beiden Reichsgerichte: „Probire es ein solcher Fürst, Prälat, oder Graf, schreibe Steuren aus so vil er will, halte Soldaten nach Gefallen, usw. und lasse es zur Klage an einem höchsten Reichs-Gerichte kommen, man wird ihme bald nachdrücklich zeigen, daß und wie eingeschränckt seine Landes-Hoheit seye“.59 Von diesen Einschränkungen befreiten die vielfältigen privilegia de non appellando, die der Kaiser als oberster Gerichtsherr einzelnen Reichsständen bzw. Reichsstädten erteilte.60 So ließen sich etwa Handelsstädte wie Augsburg, Bremen, Hamburg und Nürnberg Appellationsprivilegien für Kaufmanns- oder Handelsangelegenheiten erteilen. Das erste Privileg dieser Art wurde der Stadt Nürnberg im Jahr 1508 für „Kaufhändel“ erteilt.61 Auch zur Kompensation dieser Instanz auf Reichsebene, aber natürlich in erster Linie zum Ausbau der territorialen Gerichtshoheit richteten die Begünstigten eigene letztinstanzliche Gerichtsstände ein, wie dies bei den eben Genannten Bremen und Nürn-
57 So Heinz Mohnhaupt, „Wer Hoheitsrechte hat, visitiert“, Rg 27 (2019), S. 351 (351). Um diesen Ansatz weiter zu verfolgen, müssten die dafür vermutlich besonders aufschlussreichen, von den bisherigen Arbeiten hierzu jedoch nicht berücksichtigten Quellenbestände untersucht werden, näher dazu Amed-Traut, Reichskammergerichtsforschung (Fn. 41) S. 79 f. 58 Dies waren zunächst v. a. das Reichshofgericht und das Kammergericht, später der Reichshofrat und das Reichskammergericht. 59 Johann Jacob Moser, Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 13,2, Von der Teutschen ReichsStände Landen, deren Landständen, Unterthanen, Landes-Freyheiten, Beschwerden, Schulden und Zusammenkünfften, Nachdruck der Ausgabe Franckfurt/Leipzig 1769, 1968, S. 1147. In diesem Zusammenhang kommt vor allem den sog. Untertanenprozessen besondere Bedeutung zu. Hierzu siehe insbesondere Rita Sailer, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, QFHG 33, 1997. 60 Davon ausgenommen waren die Fälle der Justizverzögerung bzw. -verweigerung und die sog. Nullitätsklagen. Eine Zusammenstellung der Privilegien liefert Ulrich Eisenhardt, Die kaiserlichen Privilegia de non appellando, QFHG 7, 1980. 61 Privileg für Nürnberg v. 14. 03. 1508, StadtA Nürnberg B 11 Nr. 385.
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berg taten.62 Hinsichtlich der Gerichtsverfassung im Reich wurde dessen Rechtsverband insoweit zugunsten eines Machtgewinns der Territorien gelockert, d. h. gleichzeitig die Position des Kaisers als oberster Gerichtsherr geschwächt. Am Wiener Hof war man sich dessen durchaus bewusst. So heißt es etwa in dem reichshofrätlichen Gutachten zur Eingabe der Stadt Bremen auf Erweiterung ihres Sonderrechts, es sei allseits bekannt, dass die „in vorigen Zeiten ertheilte viele Privilegia de non appellando partim limitata partim lillimitata das kaiserliche obristrichterliche Amt schon mehr als zu sehr beschränket und vor die wahre Grundquelle der so sehr verfallene[n] kaiserlichen Authorität zu achten“ sei.63 Über die Motive zur Preisgabe dieser Form kaiserlicher Herrschergewalt informieren vereinzelte Begründungen der Appellationsprivilegien: In Augsburg „als einer fürnemen Handls-Statt“ solle „schleunig und kurtz ex aequo et bono entschieden werden“, denn es sei „zum höchsten nachtailig unnd schädlich …, wann in schuldt sachen, gewerben, und handtierungenn, trawen unnd glauben Täglich abnemmen und vilmals die gefahr augenscheinlich bevor sein wöllen, desz Magistrats Decreta Ire würckliche authoritet nit behalten solten, darunter dan die falliten unnd bösen Zahler, viel arme Wittiben unnd Waisen, durch betrügliche, unnothurfftige provocationes in schaden führen, auch wol mit und neben Inen mehr falliten und aufstandt machen, die richtigkait aller handelsbücher verwirren, die ausstehende schulden heimlich einnemen, die köstliche wahren verschlagen, gelegenhait der flucht suchen, unnd endlich alle Intereßirte Creditores unwiderbringclich vernachtailen wurden, daß derowegen vorbesagts … zu befürderung desz gemainen nutzes, und damit Inn- und Auszländische desto behutsamer zuhandlen ursach, auch gemainer Statt Augspurg Commercien gewerb und handtierungen bey Mennigclichen sovil mehrers und sterckers Credit erhalten …“.64 Es waren demnach übergeordnete Interessen, die der Kaiser für das Reich mit dieser Form von Privilegienerteilungen verfolgte, war man doch zu der Einsicht gelangt, dass zur Aufrechterhaltung eines florierenden Handels auch eine zügige Abwicklung kontradiktorischer Verfahren vor Ort gewährleistet sein musste. Insbesondere in Handelsstreitigkeiten galt es, ein beschleunigtes Verfahren mit einschlägig erfahrenen Richtern vorzuhalten, zumal wenn Messen und Märkte die Anwesenheit der streitenden Parteien zeitlich determinierten. Erhebliche Ausdehnung erfuhr jedoch 62 Für Nürnberg: Des zu Nürnberg angerichteten Mercantil- und Banco-Gerichts Ordnung, Nürnberg 1697, Vorwort, Bl. 1v. Dazu näher Anja Amend-Traut, Kaufmännische Gutachten Nürnberger Provenienz. Weg zur Normativität?, in: dies./Walter Bauernfeind/Hans-Joachim Hecker/Hans-Georg Hermann (Hrsg.), Handel, Recht und Gericht in Mittelalter und Früher Neuzeit. Die Reichsstadt Nürnberg im überregionalen Kontext, voraussichtlich 2020, nach Fn. 90. Zu Bremens dahingehender Absicht wie überhaupt zu den Privilegien der genannten Handelsstädte Anja Amend-Traut, Die Akten und Beilagen von Reichskammergericht und Reichshofrat als Quellen des Handelsrechts, ZNR 37 (2015), S. 177 (195 – 197). 63 Konzept v. 14. 04. 1768, OeStA/HHStA Reichskanzlei, Priv. de non appell., Karton 2, abgedruckt bei Eisenhardt (Fn. 60), S. 80 f., 182 – 185, hier S. 184. 64 Privilegium de non appellando v. 04. 09. 1627, StA Augsburg, Urkunden 913, fol. 4v, 5r.
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ein Streit regelmäßig durch die Möglichkeit eines langwierigen Rechtszugs an eines der Reichsgerichte.
3. Exekutiver Rechtsverband Zu den Reformleistungen, die auf den Beginn des 16. Jahrhunderts zurückgehen, zählt auch die Einrichtung der Reichskreise, die in vielfältiger Weise ihrer Konzeption als ausführende Organe Rechnung trugen. In diesen insgesamt zehn Zusammenschlüssen waren jeweils sämtliche Reichsstände einer Region assoziiert. Sie hatten nicht nur die reichskammergerichtlichen Urteile bei Landfriedensbrüchen zu vollstrecken, sondern zur Wahrung des Landfriedens zählte es auch, sicherheits- und ordnungspolitische Aufgaben wahrzunehmen, wie etwa die Aufsicht in Münz- und Steuerangelegenheiten.65 Mit der Reichsexekutionsordnung von 1555 institutionell abgesichert, waren diese Gremien das Instrument des Rechtsverbandes, mit dessen Hilfe die legislativen wie judikativen Rechtsakte in den Regionen des Reichs umgesetzt wurden. Wenngleich in Ausmaß und Form unterschiedlich ausgestaltet und entwickelt, waren sie als „Scharniere zwischen Reichs- und Territorialgewalt“ für die Funktionsfähigkeit des Rechtsverbandes unerlässlich.66 Die Funktionsfähigkeit des Rechtsverbandes und dessen engmaschige Verwobenheit zeigt sich auch anhand der Vollstreckung höchstrichterlicher Entscheidungen, die im Rahmen von Appellationen ergingen. Für sie waren die Obrigkeiten zuständig, denen die unterlegenen – reichsmittelbaren – Parteien unterstanden. Die Forschungen zur Höchstgerichtsbarkeit haben diesbezüglich gezeigt, dass über diese verfahrensrechtliche Einbindung genereller Konsens bestand.
4. Iura caesarea reservata – Rechtsverband am Beispiel von Schuldenmoratorien Den bereits erörterten Komitialrechten standen die sog. kaiserlichen Reservatrechte gegenüber, in deren Ausübung das Reichsoberhaupt entweder nicht eingeschränkt war (iura caesarea reservata) oder deren Wahrnehmung an die Zustimmung der Kurfürsten gebunden war (iura caesarea reservata limitata). Zu den uneingeschränkten kaiserlichen Reservatrechten im Bereich des Justizwesens zählte es, Streitigkeiten über vom Kaiser verliehene Titel und Wappen entscheiden zu können. Ebenso gehörten Rangstreitigkeiten, wenngleich nicht ganz unumstritten, vor den
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Näher zu den Reichskreisen insgesamt Wolfgang Wüst, Die „gute“ Policey im Reichskreis. Zur frühmodernen Normensetzung in den Kernregionen des Alten Reiches, 8 Bände, 2001 – 2018, Schulze, Reichskreise (Fn. 36). 66 Burkhardt, Reformationsjahrhundert (Fn. 9), S. 189.
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Kaiser; dessen Zuständigkeit leitete sich auch hier aus seinem originären Recht ab, Titel zu verleihen.67 Ähnlich gelagert war der Fall für die so genannten Moratorien, auch als Eiserne Briefe oder Quinquinelle bezeichnet.68 Mit ihrer Hilfe versuchten reichsmittelbare wie unmittelbare Petenten gleichermaßen, verlorengegangene Liquidität durch die mit einem Moratorium erreichte Prolongation der Zahlungsverpflichtungen wiederherzustellen, um die Gläubiger zu einem späteren Zeitpunkt befriedigen zu können. Die zahlreich im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien überlieferten Gesuche gehen zum Großteil auf kriegerische Auseinandersetzungen – v. a. den Dreißigjährigen Krieg – zurück, die für wirtschaftliche Notlagen verantwortlich waren. Entweder die hergestellten bzw. vertriebenen Waren fanden keinen oder nur noch eingeschränkten Absatz, oder die Produktion war beeinträchtigt oder gänzlich lahmgelegt worden, oder das „Kriegswesen“ habe die „Steigerung deß gelts“ nach sich gezogen.69 So habe das „verberbliche Münzwesen“ dazu geführt, dass die aufgenommenen Darlehen und Zinszahlungen „doppelt so hoch erwachsen“ seien.70 Der Abt des Klosters Irsee legte dar, der schwedische „Einbruch“ habe den Seinigen alles „Hab und gut, Bibliothekh, in so klein undt groß“ genommen, bei der überstürzten Flucht habe man nichts retten können und nach der Rückkehr das gesamte Konvent „desolat und verwüstet befunden“, ein Verzeichnis gibt Auskunft über 68 Bauernhöfe und 240 „Söldt Hofstaetten“ der Herrschaft Irsees, die infolge des Krieges zugrunde gegangen bzw. verlassen worden waren.71 Adelige beklagten den Verlust von Dörfern bzw. „liegenden Stätten“, die nunmehr als Einnahmequelle nicht mehr zur Verfügung standen,72 oder gaben an, man sei durch Einquartierung und Durchzug kaiserlicher und Kurbrandenburger Truppen, wie auch durch den Durchzug französische Truppen im Elsass wirtschaftlich stark belastet worden.73 Wie das letztgenannte Beispiel zeigt, ging es jedoch nicht nur um Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges. Der Salzburger Handelsfaktor Ferdinand Hueber gab an, seine 26 Fässer „Spica Cel-
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Zu diesen beiden Bereichen näher Moser (Fn. 5), 15. Cap., §§ 25 – 31, S. 349 – 357. So etwa in OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua, 2/4, Kaiserlicher Befehl vom 17. 03. 1628, fol. 19r als „Qinquenell“ erwähnt, in der Reichspolicey-Ordnung von 1548 als „Quinquennel“ bezeichnet, in: Neue Sammlung (Fn. 23), Teil II, 587 – 606, hier XXII., § 2, S. 600. Die Bezeichnung geht auf die zumeist fünfjährige Laufzeit eines Moratoriums zurück. Zu den Bezeichnungen siehe auch Moser (Fn. 5), 15. Cap., § 33, S. 358. Zu den Schuldenmoratorien siehe Anja Amend-Traut, Lenkende Wirtschaftspolitik im Spiegel reichshofrätlicher Quellen, demnächst. 69 OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua, 2/4, fol. 3r. 70 OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua, 38/8, fol. 1v. 71 OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua, 113/14, Schreiben des Abts vom 11. 06. 1653, fol. 1 – 4, hier fol. 1rv. Summarisches Verzeichnis in ebd., 113/17, fol. 3r –4v und 8r –9v. 72 OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua, 104/14, Johann Phillip Hofstetter in seinem Gesuch vom 14. 01. 1630, fol. 1r, Leopold Fritz von Launay, dessen „liegende Stätten gänzlich im Abgange“ seien, ebd. 199/6, fol. 5r. 73 OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua, 26/4a. 68
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tica“74 seien verloren gegangen, als das sie von Cadiz nach Genua transportierende Schiff „Prinzessin von Dänemark“ während des Französischen Krieges von drei französischen Kriegsschiffen aufgebracht worden war.75 Auch kam es vor, dass die Supplikanten angaben, zwar über einen werthaltigen Warenbestand zu verfügen, diesen jedoch zurzeit nicht ohne großen Schaden flüssig machen zu können; Agatha Hauck führte die Weinhandlung ihres verstorbenen Mannes fort, doch die Weinpreise, auch für „den herrlichen Mosel“, seien erheblich gefallen.76 Der Kaiser erteilte solche Zahlungsaufschübe in Form eines Gnadenerweises;77 in den Moratorienurkunden selbst heißt es, dass der Kaiser „umb ertheilung [seiner] Begnadigung“ angesucht worden sei78. Das Gnadenrecht war Reservatrecht des Kaisers.79 Obgleich Gnadensachen selbst nicht gerichtlich verhandelt wurden, da ein Petent kein Recht auf Gnade hat, gaben sie doch – wie auch die eben bereits angesprochenen Begünstigungen der Standeserhöhungen und Titel- bzw. Wappenvergaben – häufiger Anlass zu Klagen Dritter, etwa dann, wenn die einem anderen erwiesene Gnade für den Dritten nachteilig war. Fiel eine solche Klage in den Zuständigkeitsbereich des Kaisers bzw. seines Hofrats? Immerhin ging doch auch hier die justizielle Auseinandersetzung von der Ausübung eines dem Kaiser allein zustehenden Reservatrechts aus. Deshalb, aber auch wegen ihrer weitreichenden Wirkungen auf bereits laufende Gerichtsverfahren bzw. schon in Gang gesetzte Vollstreckungsmaßnahmen, waren die Schuldenmoratorien geeignet, in erheblichem Maße in die reichskammergerichtliche wie landesherrliche Judikatur einzugreifen und deshalb mit bestehenden Komitialrechten der Reichsstände zu kollidieren. Denn für den Bereich der Rechtsprechung war dem Kaiser, wie bereits erwähnt, grundsätzlich aufgegeben, den Jus-
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Dabei handelt es sich um ein Baldriangewächs (lat. spica = Ähre, celtica = keltisch), das heute als sog. Echter Speik bekannt ist und zu Seife, Räucherwerk, zum Würzen von Wein und Salben sowie zum Vertreiben von Motten verarbeitet wurde und wird. 75 OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua, 4/44, fol. 44rv. 76 OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua, 108/1, fol. 3rv, fol. 15r, Bilanz inliegend fol. 4v–5r, Bericht der Stadt Frankfurt fol. 18r–22v. 77 So auch Moser (Fn. 5), 15. Cap., § 33, S. 358. 78 Moratorium zugunsten des Pfalzgrafen bei Rhein, Carl Ludwig Wir Carl Ludwig von Gottes gnaden Pfaltzgraff bey Rhein deß Heyl. Römischen Reichs ErtzSchatzmeister und Churfürst … Fügen hiemit zu wissen Nach deme die Röm: Kays: Mayest. mit vorbedächtlichem einrathen … ein Kayserliches Indult und Privilegium uff und unsere Landen und Unterthanen in ansehung deren durch daß leidige Kriegswesen uffs eussertste verderbten zustandes allergnädigst ertheilet Inmassen solches … hernach folget. Wir Ferdinand der dritte von Gottes gnaden Erwöhlter Römischer Kayser … thun kund allermänniglich … daß Sr. deß Churfürsten Lbd. von allen verfallenen … Zinsen gäntzlich befreyet sein und bleiben … daß Ihr. Lbd. unterdessen denen gantz dürfftigen und nohtleidenden Creditoren, als Wittiben Waysen und miserablen Persohnen auch was ad causas pias verschafft Christlich begegnen … geben in … Regenspurg den Funffzehenden May Anno Sechszehenhundert funfftzig vier …, Heidelberg 1654. 79 Dazu näher Moser (Fn. 5), 4. Theil, Von denen Kayserlichen Regierungs-Rechten und Pflichten, 2. Theil, Franckfurt am Mayn 1773, 16. Cap., §§ 2, 5, 6, S. 416 f.
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tizlauf nicht zu hindern.80 Tatsächlich jedoch bestimmen die erlassenen Indulte – wie auch schon die vorläufigen Anordnungen des Reichshofrats – für die Dauer des verhängten Moratoriums eine vollständige Hemmung anhängiger Verfahren, etwa, dass „von keinem unßeren Kayserlichen auch anderen gerichten im Heyl. Röm. Reich, mit einig Processen, Mandaten und executionen in schult sachen, [die Begünstigten] weiter [nicht, sic!] angefochten noch beschwehrt, sondern biß nach Schließung jetzt bestimbter zwölf Jahren mit so gethanen Schulden Processen wider sie allerdings eingehalten, und stillgestanden werden“ müsse.81 Für den Fall, da Reichsunmittelbare supplizierten, ergingen Inhibitionsbefehle ähnlichen Inhalts an die ausschreibenden Fürsten, die für die Vollstreckung wegen der Außenstände zuständig waren.82 Wie Untergerichte war auch das Reichskammergericht insoweit weisungsgebunden, es bekam mitunter sogar gesonderte Schreiben, in denen bestimmte Umstände zu beachten seien, zumal wenn es sich bei den Beteiligten um Reichsunmittelbare handelte, für die das Reichskammergericht erstinstanzlich zuständig war.83 Der Reichshofrat wachte auch über die Befolgung der mit einem Moratorium getroffenen Anordnungen. Bei Verstößen hiergegen erging ein kaiserlicher Befehl, während der Dauer des Moratoriums weiteres Vorgehen gegen Bevorrechtigten einzustellen und die Befolgung des Befehls innerhalb einer Frist zu beweisen.84 Über diese vielfältigen Durchbrechungen des justiziellen Verlaufs von Schuldensachen hinaus griffen die Schuldenmoratorien auch in Aufgabenbereich reichsständischer Behörden ein und banden deren Ressourcen. Denn die Obrigkeiten reichsmittelbarer Petenten waren verpflichtet, zu deren behaupteter Notsituationen einen Bericht innerhalb einer kurzen Frist zu fertigen, und zwar um der „interessirten Creditoren Sicherheit unnd assecuration willen.“85 Mit Rücksicht auf diese Durchgriffsmöglichkeit des Kaisers verwundert es nicht, dass sie auch in der Literatur diskutiert wurde. So kritisierte man diese Ausformung 80 Zusammenfassend zu den kaiserlichen Reservatrechten Moser (Fn. 68), 15. Cap.; Johann Ulrich Cramer, Systema Processus Imperii, 4. Teil, Ulm 1767, Sect. VII, §§ 2191 – 2252, S. 29 – 45, ders., Wetzlarische Nebenstunden (Fn. 48), 26. Theil, Ulm 1761, Nr. 10, S. 145 – 155, 92. Theil, Ulm 1769, Nr. 2, S. 40 – 44. 81 OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua, 26/4a, fol. 73v. 82 Hinsichtlich der Supplik der Grafen von Nassau-Saarbrücken erging der Inhibitionsbefehl an die ausschreibenden Fürsten des Oberrheinischen Reichskreises vom 14. 08. 1679 (Konz.), OeStA/HHStA RHR, Antiqua, 413/11, fol. 62r –63r. 83 In der Causa Nassau-Saarbrücken erhielt das Reichskammergericht ein Schreiben des Reichshofrats, wonach Forderungen des Markgrafen von Baden-Durlach gegen die Grafen von Nassau-Saarbrücken von der Verlängerung des Moratoriums nicht betroffen seien, vom 16. 03. 1680 (Konz.), OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua, 413/11, fol. 181r –182r. 84 OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua, 113/16, Befehl an den Gläubiger des Klosters Irsee, Geist von Wildegg vom 06. 03. 1654 (Konz.), fol. 9rv. Dieser hatte trotz eines Moratoriums zugunsten des Klosters ein Urteil der Kanzlei der Landgrafschaft Turgau erwirkt, dass Geist die Inbesitznahme der klösterlichen Weingüter gestattete, falls der Abt ihn nicht innerhalb von 14 Tagen befriedige, 02. 12. 1653, fol. 4r. 85 So etwa in OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua, 210/3, fol. 22r.
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des kaiserlichen Gnadenrechts mit der Begründung, „billiger solte der Landes-Herr, als der die beste Gelegenheit darzu hat, prüfen, welche Unterthanen ihrer Schulden wegen Anstand … bedürfften.“86 Andere hingegen warnten vor solcherlei Überlegungen und mahnten Reichstreue an: „Wo Reichs-Gesetze und Reichs-TagsActa … dem Kayser etwas überhaupt einräumen, da ist es uns nicht erlaubt, es zu limitiren.“87 Auch in der Praxis unterstützten landesherrliche bzw. städtische Obrigkeiten die Gesuche sehr häufig nicht, vermutlich auch, um damit dem als Eingriff in den eigenen Hoheitsbereich empfundenen kaiserlichen Gnadenrecht zu begegnen. Als Begründung verwies man etwa auf die Unfähigkeit des Schuldners, „genugsame Caution“ stellen zu können – obgleich dies ja gerade bei den Moratorien nicht vorausgesetzt war –, „damit nicht die Creditores, unndt auf ihr ansuchen auch ferners … Die Justitia auffgehalten“ werde, „zumahl auch bei dergleichen fällen eine den Obrigkeiten und ordentlichen Richtern, sowol alß der Creditoren, beschwerliche Consequenz, abbruch undt mißbrauch veranlaßt, undt die schuldgläubiger darumb umb das Ihrige gebracht werden“.88 Freilich verfolgten auch die v. a. städtischen Obrigkeiten ihr übergeordnetes Interesse am wirtschaftlichen Wohl innerhalb der Stadtgrenzen; insbesondere Schuldner, die ihre Zahlungsunfähigkeit verschuldet hatten, waren nicht schutzwürdig und ein sie begünstigendes Moratorium führe zu „alhießiger Bürger Merklichen Schadens“.89 Vor diesem Hintergrund erscheinen die Moratorien nachgerade als Zerreißprobe für den Reichsverband als Rechtsverband, und die Hintergründe ihrer reichsrechtlichen Absicherung sind deshalb besonders aufschlussreich. Die Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein mussten, damit überhaupt ein Moratorium gewährt wurde, beantwortete erstmals die Reichs-Policeyordnung von 1548, die bestimmte, dass ein Nachweis zu erbringen war, dass die Petenten unverschuldet, d. h. durch einen Unglücksfall in die behauptete Zahlungsunfähigkeit geraten waren, und zwar in Form eines Berichts der zuständigen Obrigkeit oder einer sonstigen glaubwürdigen Bescheinigung.90 Eine nahezu wortgleiche Wiederholung findet sich in der Reichs-Policeyordnung von 1577.91 Obgleich bereits dieses Reichsgesetz die Moratorien dem Zuständigkeitsbereich der „Römischen Kayser[n] und Könige[n]“ zuwies, war dieses Ergebnis offensichtlich für die Reichsstände unbefriedigend. Der Osnabrücker Friedensvertrag griff die Moratorien wohl auch deshalb erneut auf, bestätigte das kaiserliche Reservatrecht und kündigte zugleich an, das Nähere in einer 86 Jacob Carl Spener, Teutsches Ivs Pvblicvm oder des Heil. Römisch-Teutschen Reichs vollständiger Staats-Rechts-Lehre, 5. Theil, Francofurtum u. a. 1726, IV. Buch, § 8, S. 173. 87 Moser (Fn. 5), 15. Cap. § 93, S. 393. 88 OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua, 2/4, Bericht des Frankfurter Rats vom 08. 01. 1629, fol. 26 – 28v. 89 OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua, 196/1, fol. 26r. 90 In: Neue Sammlung (Fn. 23), Teil II, 587 – 606, hier XXII., § 2, S. 600. 91 In: Neue Sammlung (Fn. 23), Teil III, 379 – 398, hier XXIII., § 4, S. 392.
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„Satzung“ zu regeln.92 Nachdem die Reichsstände bei den Verhandlungen in Osnabrück zunächst eine gesonderte Verordnung hierzu verlangt hatten, gaben sie in diesem Punkt nach, als kaiserlichen Gesandte mahnten, der durch den Krieg hervorgerufene desolate wirtschaftliche Zustand des Reiches erfordere auch außerordentliche Maßnahmen.93 Dieses so verstanden gemeinsame Ziel des Kaisers und der Stände kommt auch im Osnabrücker Friedensvertrag zum Ausdruck: „Demnach dem gemeinen Wesen darann gelegen ist / daß nach gemachtem Frieden der Kauffhandel widerumb blühen möge / So ist verglichen [Hervorhebung durch Verf.] / daß was demselben zu Nachtheil / vnd wider gemeinen Nutzen hin vnd wider im Römischen Reiche / durch verursachen deß Kriegs newlich auß eigenem Gewalt / wider die Rechte / vnd Privilegia ohne der Röm. Käys. Mayst. vnd Reichs-Verwilligung … von welchen die Handlungen vnd Schiffarthen geschwächt worden / gäntzlich vffgehoben / vnd jeden Provincien Hafen vnd Ströhmen jhre alte Sicherheit / Bottmässigkeit vnnd Gebräuche / wie sie vor diesen Kriegen von vielen Jahren hero gewesen / wider gegeben / vnd vnverbrechlich erhalten werden.“94 Noch der sechs Jahre darauf erlassene Jüngste Reichsabschied von 1654 (JRA) versicherte lediglich, dass der Kaiser von diesem Reservatrecht über den bisherigen Rahmen hinaus keine Moratorien erteilen und an „bisher gesetzter Verordnung … steiff und vest“ halten werde.95 In der Folgezeit legten die Gesandten der Kurfürsten und Reichsstände ihre „vernünfftige[n] Gedancken in Materia Commerciorum“ in Form von fünf Reichsgutachten dem Kaiser vor. Es ging um nicht weniger als die „Restabilirung“ der Wirtschaft im Reich „zu Beförderung des allgemeinen Nutzens“. In den fraglichen Punkten gelang es, sich „fast durchgehends [zu] vergleichen“.96 92 IPO (Fn. 16), Art. VIII, 5, S. 54: „Was für billichmässige Mittel vnd Wege den Gläubigern wider jhre Schuldtleuthe / so bey diesen Kriegszeiten von jhrer Nahrung kommen / oder durch grosse vffschwellung der Zinß allzusehr gravirt worden seyn / bescheydentlich begegnet / vnd dannenhero besorgenden grösserm / auch der gemeinen Ruhe schädlichem Vngemach vorzukommen seyn möchte / wollen die Röm. Käys. May. so wol dero Hoff-Raths / als Cammergerichts-Meynung vnd Bedencken / welche vff künfftigem Reichs-Tag proponirt, vnd vff eine gewisse Satzung gerichtet werden möge / erfordern vnd einnehmen lassen / vnterdessen aber sollen in dergleichen Sachen / was bey Gericht vorkommen / darann deß Reichs Wolfahrt / wie auch der Ständen particular-Anligen stehet / die von den Partheyen eingeführte Vmbstände fleissig erwogen / vnd niemands mit vnzeitiger Execution beschweret werden.“ 93 Moser (Fn. 5), 15. Cap., § 34, S. 358, der allerdings die beiden bereits zuvor erlassenen Reichs-Policeyordnungen nicht erwähnt und annahm, das kaiserliche Reservatrecht zum Erlass von Moratorien sei „bey denen Westphälischen Fridens=Tractaten auf die Bahn gebracht“ worden. 94 Art. IX, 1 IPO (Fn. 16), „Wie der Kauffhandel wider auffzurichten“. 95 Obgleich nach Art. VIII, 3 IPO (Fn. 16), S. 53, angekündigt war, innerhalb von sechs Monaten nach dem ratifizierten Frieden einen Reichstag abzuhalten, auf dem u. a. die „reformation deß Policey; vnnd Iustici-Wesens“ erörtert werden sollte. JRA in: Neue Sammlung (Fn. 23), Teil III, S. 640 – 692, hier § 175, S. 673. 96 Allein bezüglich der Appellation in Wechselsachen und der Monopolbildung folgte man den Ansichten des Städterats nicht. Dazu und zu dem geschilderten Hergang Kayserliches Commissions = Decret, Wodurch die im Commercien = Wesen erstattete Reichs = Gutachten/biß auf etwelche wenige Puncta durchgehendes allergnädigst approbirt werden, Dictatum
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Was die Moratorien betraf, setzten sich die Stände erfolgreich mit ihren Bedenken durch, den Kreis der Begünstigten auf solche Schuldner zu begrenzen, die „durch den Krieg, oder auch allzugrosse Aufschwellung der Zinsen und Interesse, ins Verderben kommen“. Der Kaiser ließ sodann auf dem Immerwährenden Reichstag 1668 durch den ihn vertretenden Prinzipalkommissar97 versichern, die kaiserliche Gewalt auf andere Petenten nicht auszuweiten und hatte sich zu einem entsprechenden Dekret „bewegen lassen“, dass er versprach, „strictissime zu verstehen“. Damit war freilich das Kaiserliche Reservatrecht beschränkt, zugleich aber ein Ausgleich geschaffen, damit „die Creditores weiters nicht gravirt werden.“ Insoweit konnte also Konsens darüber hergestellt werden, dass in diesem begrenzten Rahmen die Moratorien „denen Commerciis gar nicht hinderlich“ seien, sondern mithilfe der Regelung „sowohl der Creditor, als der Debitor, … erhalten werden können.“98
IV. Zusammenfassung Das Reich war als Rechtsverband auf verschiedenen Ebenen engmaschig miteinander verwoben. Seine gemeinsamen Institutionen und Amtsträger, wie vor allem das Reichskammergericht, die Reichskreise, die Reichsvisitationskommissionen, der Reichspfennigmeister und der Reichsfiskal, wirkten als Bekenntnisse der Reichsstände zu Bemühungen um einen Reichsverband auf vielfältige Weise integrativ, und zwar durchaus in dem Bewusstsein, Glieder eines großen Ganzen zu sein und insofern mit politischer Überzeugung gemeinsame Interessen zu verfolgen. Eine Schlüsselrolle in diesem Verband nahmen die beiden Reichsgerichte durch ihre rechtsvereinheitlichende und nahm in besonderer Weise das Reichskammergericht durch dessen disziplinierende Judikatur in fiskalischen Angelegenheiten und bei Rechtsverweigerungen bzw. -verzögerungen ein. Schon Zeitgenossen betonten die Bedeutung des Reichskammergerichts für den Zusammenhalt des Reichs: „Es ist dem ganzen Reich an der Aufrechterhaltung des grossen Ansehens dieses höchsten Gerichts … um so mehr gelegen, da dessen wesentliche Verfassung auf dem Zusammenhang Unsers Staatscörpers und den hohen Freyheiten und Vorrechten der
Ratisbonae 10. Octob. 1668, vom Prinzipalcommissarius unterzeichnet, in: Neue Sammlung (Fn. 23), Teil IV, Nr. 29, S. 59 f. Zur Appellation in Wechselsachen näher Cramer, Wetzlarische Nebenstunden (Fn. 48), 125. Theil, Ulm 1773, Nr. 2, § 8, S. 96 f., Amend-Traut, Wechselverbindlichkeiten (Fn. 51), S. 117 f., 201. 97 Der Prinzipalkommissar vertrat den Kaiser nicht nur beim Immerwährenden Reichstag, sondern ratifizierte auch dessen Beschlüsse in Form Kaiserlicher Kommissions-Dekrete, DRW X, Sp. 1283. Dies war hier David Ungnad von Weißenwolf. Zu dessen Person, der nur 1668 und das Folgejahr das Amt des Prinzipalcommissarius wahrnahm, siehe Franz von Krones, Ungnad von Weißenwolf, David, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Band 39, 1895, S. 305. 98 Kayserliches Commissions=Decret, in: Neue Sammlung (Fn. 23), Teil IV, Nr. 29, S. 60.
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Teutschen Reichs-Stände alleinig beruhet.“99 Die Höchstgerichtsbarkeit wirkte dank der unantastbaren Rechtsmittel der Beschwerden wegen Nichtigkeit und Rechtsverweigerung selbst dann noch integrativ, wenn der Kaiser einzelnen Territorien Appellationsprivilegien zugestanden hatte, die ja an sich die Territorialjustiz stärkten.100 Diese Appellationsprivilegien wie auch fiskalische Angelegenheiten und die Moratorien illustrieren anschaulich, dass und warum um den Herrschaftsanspruch zwischen dem Kaiser und den Reichsständen gerungen wurde. So einig sich die Reichsstände generell in die Reichsordnung einfügten und ihr unterordneten, zumal wenn es um friedenspolitische Maßnahmen zum Schutz nach außen ging, verfolgten sie doch auch stets mal mehr oder mal weniger intensiv eigene – finanzielle oder machtpolitische – Interessen, die mit Rücksicht auf den verbandsmäßigen Zusammenhalt des Reichs zentrifugale Wirkungen entfalteten. Insbesondere die Moratorien sind ein Beispiel für die generelle Skepsis gegenüber hoheitlichen Eingriffen in den Lauf der Justiz, wie sie nicht nur im Hinblick auf den Umgang des Kaisers mit den ihm zugestandenen Reservatrechten diskutiert wurden. Auch im Hinblick auf die landesfürstliche Autorität durchdachte die frühneuzeitliche juristische Literatur die Abgrenzung von Recht und Willkür oder zumindest Willkürverdacht.101 Diesem Argwohn stand der Respekt vor den überkommenen Rechten und deren stabilisierender Wirkung für die Legitimation der Monarchie gegenüber, wie dies etwa bei Moser zum Ausdruck kommt.102 Eingriffe in den Justizlauf bzw. in private Vermögensrechte – beides gilt für die Moratorien übrigens gleichermaßen – durften bestenfalls aus übergeordneten Gründen des öffentlichen Wohls erfolgen, um nicht als Ergebnis der kritisch bewerteten Souveränitätsidee angesehen zu werden. Neben diesen verfassungsrechtlich bedeutsamen und auch bei diesen Gegenständen zum Ausdruck kommenden konträren Herrschaftsansprüchen spielten hier auch unterschiedlich gelagerte ordnungspolitische, fiskalische, v. a. aber wirtschaftliche Interessen eine Rolle: Seiner Gerichtshoheit begab sich der Kaiser in Form von Appellationsprivilegien zugunsten großer Handelsstädte, von deren Wohlstand letztlich auch das Reich insgesamt profitieren konnte. Diese erkannten in der Begünstigung darüber hinaus freilich auch das darin liegende Potential der Loslösung aus dem 99 Johann Daniel Olenschlager, Geschichte des Interregni nach Absterben Kayser Carls des VI., Theil 4: Worinnen die Wahl-Tags-Geschichte überhaupt, sonderlich die wegen der Kayser-Wahl vorgewesene Negociationen, das dißmahlige Schicksal der Böhmischen ChurStimme … mitgetheilet werden, Franckfurt a. M. 1746, S. 460. 100 Zu den integrativen wie auch zentrifugal wirkenden Kräften, die von der Höchstgerichtbarkeit ausgingen, siehe die Einleitung wie auch die einzelnen Beiträge in Bongartz et. al., Was das Reich zusammenhielt (Fn. 52). 101 So etwa in den Werken des bayerischen Hofmarksrichters und späteren Syndikus der schwäbischen Reichsritterschaft Anton Wilhelm Ertl, der verfassungsrechtliche Probleme in der Zeit des Hochabsolutismus erörterte. Eine kritische Auseinandersetzung damit findet sich bei Dietmar Willoweit, Rechtsprobleme der absoluten Monarchie, in: FS Martin Heckel, 1999, S. 641 (646 – 655). 102 Siehe dazu die Ausführungen zu Fn. 76.
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Reichsverband und den mit der gewachsenen justiziellen Unabhängigkeit verbundenen verfassungsmäßigen Machtzuwachs. Ungeachtet dessen würde es, wie soeben bereits mit Rücksicht auf das Selbstverständnis der Reichsstände als Teile eines Ganzen bereits angedeutet, zu kurz greifen, sie vor allem als „Separatisten“ zu begreifen.103 Das Reichsverfahrensrecht machten sich etliche Reichsstände zu eigen und sie trugen so zu einer Vereinheitlichung bei, wie man auch in etlichen wirtschaftlichen Fragen mehrheitlich gemeinsame Interessen verfolgte, wie dies etwa für die Bestrebungen hinsichtlich der Monopolgesetzgebung als auch für die Zinspolitik und die kriegsbedingte Schuldenregulierung gilt. Letztere, in Form des durch die Reichsstände reichsrechtlich bestätigten kaiserlichen Reservatrechts, Moratorien zu erteilen, diente der Erhaltung und Förderung der ökonomischen Verhältnisse im Reich. Vor allem von kriegerischen Auseinandersetzungen ausgelösten wirtschaftlichen Krisen sollte damit begegnet werden. Aber gegenüber dem Schutz eines einzelnen Schuldners im Sinne des modern aus dem Bereich des Insolvenzwesens gesprochenen „Sanierens statt Liquidierens“ stand auch das Bedürfnis, andere am Wirtschaftsleben Teilhabende, d. h. die Gläubiger des Petenten, zu schützen, damit diese nicht in den Sog einer individuellen finanziellen Schieflage mitgezogen werden. Für den Kaiser, aber vor allem für das Reich und seine Glieder gleichermaßen – dies erkannten freilich die Reichsstände – war es wichtig, zur Erhaltung des Reichs auch ihre eigene finanzielle Situation zu erhalten. Denn die Reichsstände waren es, die die Römermonate und andere Abgaben zu leisten hatten, und sie waren es, die die regionale Bewirtschaftung ländlicher Güter und damit auch die Versorgung der dortigen Bevölkerung verantworteten. So ist es auch erklärlich, dass einige Verfahren auf höchster politischer Ebene, etwa unter Einschaltung des Reichsvizekanzlers, des Herzogs von Lothringen und dem Kurfürsten von Mainz, diskutiert wurden.104 Das Ringen um die Wahrung der Komitialrechte insgesamt, im Einzelnen dokumentiert in Verhandlungen über Matrikularanschläge und durch das mühsame Zustandekommen von Reichsgesetzen, veranschaulicht auch die Sorge, einen Präzedenzfall zu schaffen und so weitreichende Folgen für die althergebrachte Ordnung heraufzubeschwören, die so drohte, dauerhaft durch die Perpetuierung einer Rechtshandlung erschüttert zu werden. Doch wie sich etwa anhand der handelsrechtlichen Appellationsprivilegien und der Moratorien zeigt, waren die gemeinsamen Interessen der einzelnen Reichsglieder durchaus nicht allein defensiv, d. h. besitzstandswah103
So auch Burkhardt, Reformationsjahrhundert (Fn. 9), S. 180. So geschehen in der Causa der Grafen Nassau-Saarbrücken, OeStA/HHStA RHR, Judicialia Antiqua 413/11, Fürbittschreiben von Herzog Karl V. von Lothringen für die Grafen von Nassau vom 22. 11. 1677, fol. 6r –12r, und vom Kurfürsten von Mainz vom 03. 06. 1678, fol. 13r –19v, wiederholt am 10. 06. 1678, fol. 20r–27v, und am 11. 07. 1678, fol. 40r –47v, Bericht von Reichsvizekanzler Graf Leopold Wilhelm von Königsegg-Rothenfels über am Reichstag eingegangene Eingaben von Graf Johann Casimir von Leiningen und Markgraf Friedrich Magnus von Baden zum nassauischen Moratorium vom 06. 12. 1679, fol. 73r –89v. 104
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rend, ausgerichtet.105 Das kaiserliche Zugeständnis, einzelnen Reichstädten die letztinstanzliche Gerichtshoheit in Handelssachen zuzuweisen, war der Erkenntnis geschuldet, damit einen im Sinne des Gemeinwohls stehenden Beitrag zur Erhaltung des „Commercienwesens“ zu leisten; der für die Moratorien ausgehandelte Kompromiss war letztlich neu geschöpftes Verfassungsrecht, das die Grenzen der kaiserlichen Reservatrechte neu festlegte, und das sich inhaltlich den wirtschaftlichen Anforderungen der Zeit anpasste, die sämtliche Reichsstände erkannten und anerkannten. Wenngleich das Alte Reich tatsächlich – wie in der jüngeren Reichs- bzw. Rechtsgeschichte festgestellt – in mehrerlei Hinsicht ein polyzentrisch organisiertes Rechtssystem gewährleistete,106 zeichnet dieser Befund doch ein unvollständiges Bild. Einzelne Bereiche – wie etwa die Moratorien – lagen in den Händen der kaiserlichen Zentralgewalt und konterkarierten Bemühungen um territoriale Selbständigkeit. Im Interesse des Reichs wurde mit Hilfe von dessen Organen die Gefolgschaft sich widersetzender Territorien eingefordert – man denke hier etwa an die Verfahren des Reichsfiskals gegen Reichsstände, die mit ihren Matrikularbeiträgen und der Zahlung von Reichssteuern in Verzug waren.107 Insgesamt zeigt sich das Reich damit in der Gesamtschau der hier thematisierten Aspekte – vor allem dank der vielschichtig abgesicherten Ausgestaltung seines rechtlichen Verbands und der nicht allein abwehrenden bzw. besitzstandwahrenden Haltung des Kaisers und der Reichsstände gleichermaßen – als tragfähiges Modell, das so mehrere Jahrhunderte bestehen konnte.
105 Dazu die bereits herangezogenen Überlegungen Roecks (Fn. 4) zum „defensiven Rechtsverband“, nach Fn. 17. 106 Bongartz et. al., Was das Reich zusammenhielt (Fn. 52), Siegrid Westphal, Polyzentralität und Rechtsdurchsetzung im Alten Reich, Vortrag auf dem 42. Deutschen Rechtshistorikertag „Zentrum und Peripherien in der Geschichte des Rechts“ in Trier, 19. 09. 2018, dazu Carsten Fischer/Johannes Liebrecht, Bericht zum 42. Deutschen Rechtshistorikertag Trier, 16. – 20. September 2018, ZRG.GA 136 (2019), S. 672, Anja Amend-Traut/Josef Bongartz/ Alexander Denzler/Ellen Franke/Stefan Andreas Stodolkowitz (Hrsg.), Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich, QFHG 73, 2020. 107 Siehe dazu bereits die Ausführungen vor Fn. 38.
Diskussion Dieter Gosewinkel: Herzlichen Dank, Frau Amend-Traut, für diesen systematischen Überblick über den Reichsverband als Rechtsverband. Die Fragerunde ist eröffnet. Johannes Burkhardt: Nochmal einen herzlichen Dank für die wirtschaftsgeschichtliche und finanzgeschichtliche Seite, die in die Reichspolitik und das Reichsrecht hineingeführt hat. Darüber wissen wir wirklich zu wenig, von den Schuldenmoratorien wüsste ich sogar gern noch mehr. Ich hatte aber insgesamt den Eindruck, das war eine für die Einschätzung des Reiches ausgewogene Zusammenstellung. Das berühmte Glas Wasser, das man halb voll oder halb leer nennen kann, würde ich aber doch gern noch mit ein paar Tropfen Wasser weiter auffüllen. Das eine, was ich doch immer sehr eindrucksvoll finde, ist die große Steuermoral. Die brauchte zwar oft Nachhilfe durch den Reichsfiskal. Aber das funktionierte, sogar ohne die eigentlich vorgesehene Besteuerungsform. Das sind ja – außer natürlich den Kammerzielern – immer nur von Fall zu Fall Besteuerungen durch den Reichstag. Und es gelang, in die Reichskasse von den Reichskreisen Geld zu bekommen, die praktisch einsprangen, als keine Reichstage stattfanden. Die typische Einspring-Institution der Reichskreise spielte eine große Rolle z. B. bei den Münzprobationen, Sie haben die Kipper und Wipper angesprochen. Es gibt Reichskreistagungen, von denen wir bis vor ganz kurzem, bevor unser Augsburger Doktorand Fabian Schulze diese zum Dreißigjährigen Krieg untersucht hat, überhaupt noch nichts wussten, und es gibt eine Kette von Münzprobationstagen, da wurde die Krise von den Reichskreisen bewältigt. Das sind so ein paar Punkte, die ich fortsetzen könnte, oder auch die eindrucksvolle Leistung von 1648, dass man die „Reparationen“ leistete (die nicht so heißen dürfen), damit die fremden Truppen abzogen. Die Verteilung funktionierte, und wirklich alle haben gezahlt und damit etwas erreicht. Es gibt auch ausgesprochene wirtschaftliche Erfolgsmeldungen. Es gibt aber natürlich auch das Gegenteil, da haben Sie vollkommen Recht. Nur: Wenn zum Beispiel der Kaiser die rechtlich zuständigen Institutionen unterlief wie bei den Moratorien, könnte man auch sagen, das hatte oft seinen Sinn. Zum Beispiel im Dreißigjährigen Krieg, dass man sie nicht kriminalisierte, sondern stattdessen abwartete. Das gibt es übrigens auch heute noch bei der Steuer. Das ist nicht ein Fehler an sich. Ich würde aber insgesamt sagen, es agieren hier verschiedene Reichsakteure, verschiedene Reichsinstitutionen und verschiedene Reichsverfassungsvorstellungen. Trotzdem sind sie sich in einem Punkt einig: Sie gehören, wie auch immer, alle
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zum Reich. Und es gibt die großen Fälle, wo die einen sagen, „Wir haben Recht, das steht so in der Reichsverfassung!“ und wo die anderen auch sagen „Wir haben Recht, das steht so in der Reichsverfassung!“. Niemand würde aber sagen „Was schert uns eigentlich die Reichsverfassung?“, außer vielleicht Friedrich der Große, und auch der nur anfangs. Dann hat auch er gelernt, dass er besser mit der Reichsverfassung argumentieren kann, wie Volker Press es herausgestellt hat. Für das Fazit würde ich den Spruch von Moser nehmen: „Teutschland wird auf teutsch regiert“. Und im Konfliktfall, der immer wieder entsteht, gerade auch auf der Verfassungsebene, entwickelt sich auch eine Streitkultur, eine kulturelle Gemeinsamkeit, die nicht leicht zu den Waffen greifen lässt. Würden Sie dem zustimmen oder könnten Sie noch etwas ergänzen? Anja Amend-Traut: Ich könnte jetzt mit einem pauschalen „Ja“ antworten, aber das wäre natürlich aufgrund der Vielfältigkeit Ihrer Ausführungen unzureichend. Vielleicht also zunächst kurz zu den Schuldenmoratorien: Anhand von ihnen wird um eine ganz grundsätzliche Frage, nicht nur während des Dreißigjährigen Krieges, sondern auch bei verschiedenen anderen kriegerischen Auseinandersetzungen, diskutiert: Darf der Kaiser das? Der Kaiser bemühte sich über den Reichshofrat bis zum Ende des Alten Reichs darum, über das Herkommen die Moratorien in den Kreis der kaiserlichen Reservatrechte zu ziehen. Innerhalb des Reichsverbandes vertraten die Reichsglieder häufig ihre eigenen Interessen bzw. geschlossen reichsständische Interessen gegenüber dem Kaiser, wenn die Gefahr bestand, Präjudizien zu schaffen, die wie hier etwa den Bereich der kaiserlichen Reservatrechte ausdehnen sollten, und damit an der bestehenden Ordnung etwas verändert zu werden drohte. Diese Diskussion um die Schuldenmoratorien findet übrigens auch viel später, in der Zeit des Ersten Weltkriegs, eine Fortsetzung. Auch zu dieser Zeit wird hinterfragt, ob man zugunsten von einzelnen Schuldnern in laufende Gerichtsverfahren soweit eingreifen kann, dass die Vollstreckung gehemmt wird, skeptisch sieht man die Moratorien jetzt jedoch, weil sie in das Vertragsrecht eingreifen, also private Verbindlichkeiten hoheitlich stunden. Letztlich nimmt der Gesetzgeber von diesem wirtschaftslenkenden Instrument Abstand, aber bis in die 1930er Jahre macht er davon Gebrauch und es wird darüber diskutiert. Im Übrigen pflichte ich Ihnen bei, dass über die Grundfrage, die Zugehörigkeit zum Reich, Einigkeit bestand. Bei Angriffen von außen verstand man sich als Teil eines Ganzen und unterstützte – u. a. in Form der Römermonate auf Grundlage der Reichsmatrikel – den Reichsverband, wenngleich natürlich das Prozedere der Steuerbewilligung ein sehr langwieriges war und stets dargelegt werden musste, wofür dieses Geld aufgewendet werden soll. Die heutige Steuerhoheit vereinfacht dieses ganze Verfahren. Aber das allgemeine Zugehörigkeitsgefühl zum Reich wird nicht debattenlos einfach abgenickt. Anhand der heftigen und auch langwierigen Diskussionen, nicht nur bei den Steuerbewilligungen, kann man ablesen, dass die in Europa einmalige Konstruktion des Reiches eine Streitkultur ermöglichte, bei der um eigene Interessen hart gerungen wurde.
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Der Reichsfiskal als Organ der kaiserlichen Behörde vertritt dabei die Interessen des Reiches und treibt Steuern bei Steuersäumigen mit Verfahren beim Reichskammergericht ein. Es gibt davon eine ganze Menge, die im 16. Jahrhundert zuerst Steuern auf der Grundlage der Wormser Matrikel, dann aber zumeist den Kammerzieler, die Steuer zur Finanzierung des Reichskammergerichts, betreffen. Einen berühmten Protagonisten in diesem Zusammenhang haben Sie bereits genannt. BrandenburgPreußen wehrt sich sehr vehement im 18. Jahrhundert gegen die Zahlung des Kammerzielers und bindet damit Kräfte des Reichskammergerichts über einen langen Zeitraum. Aber im Ergebnis darf man doch sagen, dass die Steuermoral insgesamt eine positive ist, auch wenn man berücksichtigt, dass immerhin mehr als die Hälfte der bewilligten Römermonate auch in die Reichsschatulle flossen. Bei ihnen verfolgten die zahlenden Reichsstände ein gemeinsames Interesse zum Schutz gegen Angriffe von außen. Sie waren auf der Grundlage der zuvor von allen Ständen gebilligten Wormser Matrikel von 1521 erhoben worden. Vielleicht noch ein letzter Punkt. Sie sprachen davon, dass die Reichskreise eingesprungen seien. Das mag in vielerlei Hinsicht stimmen, aber nichtsdestoweniger gibt es bei der Finanzierung des Reichskammergerichts eine permanente finanzielle Unterdeckung und in der Münzkrise einen jahrzehntelangen Kampf um die Umsetzung der nur vereinzelt insinuierten Reichsmünzordnung in den Hoheitsgebieten der einzelnen Reichsstände. Anekdotischen Berichten zufolge sollen die Assessoren von der Luft gelebt haben. Doch haben sie natürlich von anderen Einnahmequellen gelebt, das wäre jetzt ein anderes Thema. Aber sie lebten jedenfalls nicht von dem, was über eine allgemeine Reichssteuer eingetrieben werden sollte. Hier gab es eine dauerhafte finanzielle Unterdeckung. Karsten Ruppert: Ich hätte eine Frage zu den Reichsgesetzen, die im 16. Jahrhundert erlassen worden sind, also Wechselordnung, Münzordnung, Handelsgesetzgebung. Das ist natürlich ein schönes Zeichen dafür, dass das Reich immer mehr zu einem Wirtschaftsraum zusammenwächst. Sonst hätte die Notwendigkeit zu einer solchen Gesetzgebung auf Reichsebene nicht bestanden. Aber Sie haben betont, dass da immer salvatorische Klauseln mit drin waren und dass sich die Reichsstände die Übernahme vorbehalten haben. Wir haben gerade festgestellt, dass bei der Steuergesetzgebung eine relativ hohe Steuermoral bestand. Kann man denn jetzt, darauf sind Sie nicht mehr eingegangen, tendenziell sagen, in welchem Umfang diese Gesetze, die für das Reich eine regulierende Wirkung hatten, von den Territorien übernommen worden sind? Anja Amend-Traut: Die von mir angesprochenen Bereiche Wechselrecht und Gesellschaftsrecht sind von der Reichsgesetzgebung im Prinzip überhaupt nicht aufgegriffen worden. Es gab einzelne Vorschriften wie z. B. §107 des Jüngsten Reichsabschieds, der sich mit Wechselsachen beschäftigt, d. h. mit deren Vollstreckbarkeit, um mit einem Verfahren ohne aufschiebende Wirkung dessen Beschleunigung zu erreichen. Die Monopoldebatte war der gescheiterte Versuch, auf Reichsebene eine gesellschaftsrechtliche Regelung zu treffen. Im Übrigen bleiben diese Materien den
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Partikularrechten vorbehalten. Es gibt kein Reichswechselgesetz und kein Reichsgesellschaftsrecht. Und der Gedanke eines gemeinnützlichen „Commerciums“, für das sich die Reichsstände über ihre eigenen Interessen hinaus stark machten, kommt erst im 17. Jahrhundert auf. Dank der beiden Höchstgerichte ist ungeachtet des Mangels reichsrechtlicher Regelungen eine gewisse Vereinheitlichung zum Teil gelungen, speziell in wechselrechtlichen oder gesellschaftsrechtlichen Fragen, die das gemeine Recht, maßgeblich natürlich das römische Recht, nicht beantwortet hat. Solche Verfahren gelangten ja auch an die beiden höchsten Gerichte. Wenn hier Streitfragen nicht oder nicht eindeutig durch ein Partikularrecht beantwortet wurden, dann ist durch einen sehr schön nachzuverfolgenden Rezeptionsvorgang eine zum Beispiel wechselrechtliche Frage mit der höchstrichterlichen Entscheidung quasi auf Reichsebene gehoben worden. Die Unterinstanzen haben sehr wohl beachtet, welche Entscheidungen Reichskammergericht und der Reichshofrat materiellrechtlich treffen, und haben diese fleißig rezipiert. Die Entscheidungen sind auch durch die juristische Literatur rezipiert worden, zum einen natürlich durch die Kameralliteratur selbst, in der sich solche Aspekte finden, aber auch in der Kommentarliteratur zu einzelnen Partikularrechten. Dieser Rezeptionsvorgang ist deshalb besonders spannend, da es auf diesem Weg unter Umständen zu einer Rechtsvereinheitlichung kam. Das ist in gewisser Weise die Kompensation eines fehlenden Reichswechselgesetzes. Aber es bleibt dabei, wir haben bis 1846 rund 50 Wechselordnungen, die sich in größeren Teilen durch Überschneidungen auszeichnen, aber im Einzelnen eben doch unterschiedlich sind und dem Rechtsanwender und den Vertragsbeteiligten das Leben schwermachten. Da wäre eine einheitliche Lösung auf reichsrechtlicher Ebene natürlich schön gewesen. Es gibt jedoch viele Bereiche aus dem Handels- und Wirtschaftsrecht, die immer wieder einmal auf Reichstagen diskutiert wurden, sie habe ich hier aus Zeitgründen nicht erwähnt. Dazu zählen zum Beispiel ein einheitliches System von Maßen und Gewichten, verbraucherschützende Normen und Regelungen wie Höchstpreisregelungen für Grundnahrungsmittel, die Qualitätskontrolle von Stoffen oder eine Qualitätssicherung von Ingwer und anderen Gewürzen, sämtlich Bestimmungen, die im Zuge der Reichspoliceyordnung von 1530 dazu gedacht waren, den Handel im Reich zu fördern. Sie konnten sich allerdings nicht durchsetzen, weil immer Einzelne Sonderinteressen vertreten haben und eine reichseinheitliche Regelung nicht mehrheitsfähig war. Etwas Anderes gilt für die erwähnte Reichsmünzordnung, die auch einen policeyrechtlichen Charakter hat. Auch bei ihr ging es zwar vor allem darum, Vergehen und Missbrauch entgegenzuwirken, was ein klassischer Bereich policeyrechtlicher Fragen ist. Doch dieses auf dem Reichstag zwar gebilligte Reichsgesetz wurde auf reichsständischer Ebene mit Rücksicht auf deren eigene Interessen von einzelnen Reichsständen zunächst nicht insinuiert. Peter Oestmann: Ich habe ein paar Punkte. Der erste: Du hast von dieser salvatorischen Klausel gesprochen, von der Diskussion, dass Territorien nicht unmittelbar das Reichsrecht übernehmen wollten. Da weiß ich immer nicht, was diese Diskussion
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soll. Nach meiner Einschätzung ist das eine rein symbolische Diskussion, denn Reichsrecht hat sowieso nur subsidiär gegolten, und zwar allein schon nach der Rechtsquellenlehre des römischen Rechts. Landesrecht ging immer vor gegenüber Reichsrecht, und zwar auch ohne salvatorische Klausel. Das ist eine rein symbolische Diskussion. Was mich wundert, ist die Tatsache, dass dieser Punkt bei der Carolina besonders stark ausgeführt wird, und hinterher haben übrigens alle die Carolina übernommen. Das zweite: Die Sache mit den Appellationsprivilegien ist eine zweischneidige Geschichte. Der Kaiser kann zwar jammern, dass seine Macht begrenzt wird, aber die Gegenleistung dafür, dass jemand ein Privileg bekommen hat, war eigentlich, dass er die Reichskammergerichtsordnung übernahm. Das heißt, in Wirklichkeit ist das eine Möglichkeit, Rechtseinheit zu schaffen. Die Anbindung an sich ist zwar gelockert worden, aber tatsächlich hatten alle die gleiche Gerichtsverfassung. Nicht mehr in der Person des Kaisers, aber das ist eine Rechtsvereinheitlichung ohne die Bindung an die Spitze. Dann wäre ich aber trotzdem ein bisschen vorsichtig. Über das Reichskammergericht hast du gesagt, es sei wichtig gewesen. Aber es gibt auch diesen zeitgenössischen Spott aus dem 18. Jahrhundert. Die Leute haben sich nicht erst im 19. Jahrhundert lustig gemacht. Es gab schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diese Geschichte mit der Maus, dass die Akten an Bindfäden hingen. Das ist erzählt worden und wahrscheinlich auch gar nicht zu Unrecht. Denn es gab einen wahnsinnigen Bedeutungsverlust, und das Reichskammergericht war ja im Prinzip nur noch ein Stadtgericht der Stadt Wetzlar. Mein letzter Punkt würde deinen Vortrag „Steuerverband als Reichsverband“ noch stärken. Wenn man fragt, wer zum Reich gehört hat, sieht man doch manchmal in die Reichsmatrikel hinein. Das waren Listen, die man den Reichsabschieden beifügte. Und da steht drin, wer verpflichtet ist, etwas zu zahlen. Und wenn man verpflichtet ist, etwas zu zahlen, gehört man offensichtlich dazu. Das Steuerrecht ist damit ein guter Prüfstein um zu sehen, wer zum Reich gehörte. Anja Amend-Traut: Um beim letzten Punkt anzufangen: In der Tat, aus dieser Liste, dem Verzeichnis der Steuerleistungen aller Stände des Reichs, schloss man die Zugehörigkeit zum Reich. Wir hatten eben bereits darüber gesprochen. Bei den Steuern zeigt sich die Zugehörigkeit zum Reich relativ deutlich. Die eigentlich für einen einmaligen Gebrauch erstellte Wormser Matrikel wurde in der Folgezeit weiter als Grundlage für Steueranschläge verwendet. Wer also auf der Liste stand, gehörte nach verfassungstheoretischer Konzeption als Steuerpflichtiger zum Reich. Die salvatorische Klausel habe ich eben wegen dieses symbolischen Charakters mit aufgenommen. Es ging gerade darum, die Vorrangstellung des Partikularen symbolisch darzulegen und in der Carolina zu manifestieren. Wir, die Reichsstände ordnen uns nicht bloß unter, sondern wir wollen unsere zugestandenen Rechte ausüben und einen Kompromiss aushandeln. Das hat durchaus einen symbolischen Charakter. Dass es in der Realität später anders gewesen ist, die Carolina also überall Geltung hatte, steht auf einem anderen Papier; womöglich argwöhnten auch – zurecht – Ei-
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nige, dass mit der Carolina auch eine ganze Reihe partikularrechtlicher Regelungen durch dann vorrangiges Reichsrecht verdrängt werden könnten. Aber der Preis, sich sozusagen kampflos der eigenen Justizhoheit zu begeben, war zu hoch, um auf eine solche symbolische Deklaration verzichten zu können. Wenn man sich die lange Entstehungsgeschichte der Carolina vor Augen hält, ist dieser symbolische Charakter nicht hoch genug zu schätzen, weil die Klausel zur Bedingung gemacht wurde, sich mit der Carolina einverstanden zu erklären, d. h. überhaupt für sie abzustimmen und damit als Reichsgesetz insgesamt auf den Weg zu bringen. Das hatte schon eine große Bedeutung. Zu den Appellationsprivilegien. Ich habe in meinem Vortrag natürlich ein Schlaglicht auf Appellationsprivilegien für Kaufmanns- oder Handelsangelegenheiten geworfen. Die vielen anderen Appellationsprivilegien habe ich unberücksichtigt gelassen. Sie wären ein Thema für sich, aber ich habe hier versucht, wie ich es angekündigt hatte, den Fokus auf wirtschaftsrechtliche Interessen und Motive zu lenken. Aber natürlich haben auch andere Faktoren eine Rolle gespielt. Warum erteilt der Kaiser ein Privileg, wenn sein Motiv hierfür nicht ein allein wirtschaftliches war, wie ich es hier vorgestellt habe? Da müssen andere Interessen eine Rolle gespielt haben, und in der Tat dürfte es dann um die Rezeption von Reichsverfahrensrecht gegangen sein. Der Kaiser konnte dann versichert sein, dass das Verfahrensrecht der Reichskammergerichtsordnungen auch in den privilegierten Territorien zur Anwendung kam. Nicht nur die reichskammergerichtliche Judikatur, sondern also auch die Reichskammergerichtsordnungen wurden rezipiert, und gerade Letztere, das hatte ich ganz kurz angesprochen, wurden relativ unproblematisch und unstreitig übernommen. Die Appellationsprivilegien sind also in diesem Zusammenhang in der Tat ein Weg gewesen, die Rechtsvereinheitlichung noch weiter zu fördern. Über den Bedeutungsverlust des Reichskammergerichts hatte ich kurz gesprochen. Doch ungeachtet dessen kann meines Erachtens dessen Beitrag zur Rechtsvereinheitlichung nicht hoch genug geschätzt werden. Christian Waldhoff: Juristen nehmen historische Theorien dann besonders gut wahr, wenn sie einigermaßen pauschal erscheinen. Da Sie finanzgeschichtliche Beispiele hatten, wäre für mich eine Schlüsseltheorie (wahrscheinlich sind die Historiker damit schon lange nicht mehr einverstanden) die Staatsbildungsthese von Wolfgang Reinhard, der eine „Spirale“ aus Rüstung, Finanzierungsproblem und administrativer Durchdringung, die sich wechselseitig hochschaukelen, beschreibt. Das hat mir immer eingeleuchtet. Reinhard hat die These in „Der Staat“ veröffentlicht, und dann ist das in die „Geschichte der Staatsgewalt“ eingeflossen. Sie haben die Finanzgeschichte des Alten Reiches anhand von Rechtsprechung untersucht. Das liegt wahrscheinlich daran, dass es Administration von Finanzen auf Reichsebene, wenn überhaupt, nur gegenüber den Reichsständen gab. Ich bin kein Experte für frühneuzeitliches Finanzwesen, aber die wenigen Reichssteuern wurden doch von den Reichsständen erhoben und dann an das Reich abgeführt? So ähnlich wie Matrikularbeiträge. Das heißt, hier konnte das, was man als moderne Staatsbildung über Administration bezeichnet, gar nicht stattfinden, weil das Reich – Sie müssten mich ggf.
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korrigieren – administrativ bei den Reichsständen endete und Finanzbeziehung des Reiches gar nicht unmittelbar zu den Untertanen in den Territorien bestanden. Bei dem Vortrag von Frau Wienfort hätte man demgegenüber die Einheitsbildung auch über die Administrationsgeschichte als „Staatsbildung ohne Verfassung“ darstellen können. Sie haben das, Frau Wienfort, über das Allgemeine Landrecht und über die Rechtsprechung gemacht. Auf Reichsebene geht das nicht wegen der föderalen Struktur des Reiches gerade mit Bezug auf die Finanzierung. Vielleicht liegt hierin eine Art Urzelle des modernen Vollzugsföderalismus? Anja Amend-Traut: Dieser Zusammenhang zwischen Rüstung, Finanzierung und administrativer Durchdringung ist ein Muster, das man durchaus auch einmal auf das Alte Reich anwenden kann, um zu hinterfragen, ob das dort auch funktioniert. Es ging mir natürlich nicht nur um die Rechtsprechung, d. h. die seitens des Reichsfiskals angestrengten Prozesse zur Eintreibung nicht gezahlter Steuern, sondern auch um die Steuergesetzgebung. Was die Rechtsprechung betrifft, gibt es eine Vielzahl von Beispielen, bei denen Steuerbeiträge eingefordert wurden und bei denen es um Aufrüstung ging. Die ursprüngliche Bewilligung des Romzugs Karls V. zum Beispiel wurde für den Kampf gegen die türkische Bedrohung verwendet und einige fiskalische Prozesse wurden zu dessen Eintreibung angestrengt. Um solche Aufrüstungen zu finanzieren, sollten alle Reichsstände beteiligt werden, und dazu bedurfte es natürlich auch eines entsprechenden administrativen Verwaltungsaufbaus, der immer größer wurde. Es ist aber sicher richtig, dass das Reich insofern allein gegenüber den Ständen administrativ tätig wurde. Das betrifft jedenfalls die Steuern, für die die Stände selbst Schuldner waren. Die Besteuerung der Untertanen funktionierte, was den Kammerzähler betrifft, nur über das Recht der Reichsstände, ihn auf die Untertanen umzulegen. Dass keine Finanzbeziehung zwischen Reich und Untertanen bestand, trifft aber auch auf direkt die Untertanen betreffende Steuern zu. Denn mit dem Gemeinen Pfennig war sogar eine allgemeine, direkte Steuer geplant, die von jedem Untertan erhoben wurde. Das hatte der Zustimmung der Reichsstände bedurft. Diese Steuer konnte sich aber nicht durchsetzen, weil die Steuereintreibung auch bei dieser Steuer auf die Reichsstände delegiert war, also eine Finanzierung des Reichs administrativ in die Hände der Territorien gelegt war. Susanne Lepsius: Mich interessieren besonders die Schuldenmoratorien und der Zusammenhang mit den iura Caesaris reservata. Denn das finde ich in mehrerlei Hinsicht einen spannenden Aspekt, den du uns hier vorgestellt hast, und ich würde gern ein bisschen mehr dazu erfahren. Zum einen ganz praktisch: Gibt es Konjunkturen für diese Schuldenmoratorien, zum Beispiel in unmittelbarem Zusammenhang mit großen kriegerischen Ereignissen etwa im oder nach dem Dreißigjährigen Krieg oder ebbt das dann auch ab? Schuldenmoratorien sind natürlich auch deswegen ein wichtiges Untersuchungsfeld, weil wir da ein Beispiel hätten, bei dem zumindest der Schuldner, der ein solches Schuldenmoratorium bekommt, ein sehr starkes Reichsbewusstsein entwickeln wird. Er hat etwas vom Kaiser bekommen, das ist für den Schuldner höchst erfreulich
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und gibt ihm unmittelbar einen rechtlichen Hebel in seiner rechtlich bedrängten Lage. Das ist vielleicht etwas scherzhaft formuliert, aber diese kaiserlichen Reservatrechte, die mir vor allem aus dem Mittelalter vertraut sind, sind natürlich vor allen Dingen solche individuell-privilegierenden Rechte. Mir scheint, alle 100 Jahre wird da ein neues Reservatrecht erfunden, und das trägt dann dazu bei, dass der Kaiser sich darüber eine Einnahmequelle erschließt. Weil natürlich die Erteilung eines solchen Privilegs, ob es um Notarernennung, Legitimierung nichtehelicher Kinder geht, oder was als kaiserliches Reservatrecht noch alles im Spätmittelalter diskutiert wird, natürlich eine Gebühr kostet. Und deswegen haben wir da eine andere Form der Finanzierung, eine unmittelbare Einnahmequelle für die kaiserliche Schatulle ohne ständische Zustimmungsrechte usw. Im Zusammenhang mit dem Schuldenmoratorium scheint es mir dagegen nicht besonders viel Sinn zu ergeben, einem ohnehin insolventen Schuldner noch eine Privilegiengebühr abzuverlangen, aber man kann auch da vermuten, dass hinter dieser neuen Erfindung dieser Schuldenmoratorien, die es nun erst in der frühen Neuzeit gab, durchaus auch pekuniäre Einnahmeinteressen der kaiserlichen Schatulle gestanden haben dürften. Wie funktioniert das dann zum Beispiel im Ausgleich mit den Gläubigern, die dann eben nicht bedient werden? Haben die Regressmöglichkeiten? Das ist einfach eine Interessens- und Wissensfrage, die ich damit verbinden möchte. Und zuletzt noch den Aspekt: Wie wurden Schuldenmoratorien eigentlich in der zeitgenössischen, politischen Theorie des 17., 18. Jahrhunderts gesehen? Wurde das als besonderes, grundsätzlich neues und anderes Reservatrecht definiert oder wurde es in der Entwicklungslinie seit dem Spätmittelalter gesehen und als ganz normales Instrument gewertet? Anja Amend-Traut: Vielen Dank! Zur ersten Frage hinsichtlich der Konjunkturen: Diese lassen sich in der Tat ablesen. Ich habe ungefähr 130 solcher Moratorienverfahren unter die Lupe genommen, und ein Diagramm zu den Anträgen veranschaulicht, dass es ganz eindeutige Ausschläge nach oben während des Dreißigjährigen Krieges und dann u. a. noch beim Niederländisch-Französischen Krieg gibt. Das sind die beiden kriegerischen Ereignisse, die sich am intensivsten niederschlagen. Die Antragswellen setzen jeweils relativ rasch nach Kriegsbeginn ein. Nach 1620 geht also die Zahl der Anträge steil bergauf und hält sich dann auf hohem Niveau nahezu ungebrochen bis zum Ende des Dreißigjährigen Kriegs. Solche Konjunkturen lassen sich also ganz eindeutig ablesen, die im Wesentlichen auf Kriege zurückzuführen sind. In beruhigteren Zeiten gibt es nahezu keine oder sogar gar keine Bittgesuche auf Erteilung eines Moratoriums. Dass die Moratorien sich mit Rücksicht auf die insolventen Antragsteller kaum als Einnahmequelle eigneten, stimmt natürlich. Die Reservatrechte sind zwar per se eine ganz hervorragende Einnahmequelle für den Kaiser. Das gilt für die Schuldenmoratorien jedoch in der Tat nicht. Es gibt eine Gebührenordnung, in der die administrativen Tätigkeiten des Reichshofrats aufgeführt sind. Üblicherweise wurden die Schuldenmoratorien mit 15 bis 20 Gulden per anno taxiert. Das stellt eine Marginalie
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im Vergleich zu dem dar, um was es für den Schuldner zumeist ging. Da geht es um Beträge, die sich im vierstelligen, oft im fünfstelligen Bereich bewegen, also um wirklich große Summen, die durch Bilanzen oder etwa durch Schuldenbücher versucht werden zu belegen. Als Einnahmequelle hat die Erteilung von Schuldenmoratorien also sicherlich nicht dienen können. Ich hatte es versucht anzudeuten: Man fragt sich natürlich, warum der Kaiser dann überhaupt von diesem Reservatrecht Gebrauch macht. Ich glaube aus den vielen Unterlagen des Reichshofrats lesen zu können, dass es tatsächlich um die Wiederherstellung des wirtschaftlichen Wohlstands im Reich ging, weil man erkannt hatte, dass es unter Umständen hilfreich ist, einen Schuldner, der einen ordentlichen Warenbestand hat, nicht vor die Wand fahren zu lassen, sondern ihm einen Zeitraum x zu gewähren, um wirtschaftlich wieder auf die Füße zu kommen, weil dieses eine wirtschaftliche Rad dazu beigetragen konnte, einen größeren wirtschaftlichen Organismus wieder zum Laufen zu bringen. Und das waren natürlich nicht nur kleine Rädchen, also Reichsmittelbare, etwa Handelsleute aus den Städten, die sich an den Kaiser wandten, sondern es waren eben auch Reichsunmittelbare wie Klöster, Städte wie Magdeburg, die um ein Moratorium ansuchten. Dieses Klientel konnte, und darum ging es dem Kaiser, vorrangig zur Wiederherstellung des wirtschaftlichen Wohlstands im Reich beitragen. Dies dürfte demnach die maßgebliche Rolle dafür gespielt haben, dieses kaiserliche Reservatrecht auszuüben. Zu guter Letzt zur politischen Theorie und ihrem Umgang mit den Moratorien: Moser vertritt in seinem „Teutschen Staatsrecht“ die Ansicht, die Moratorien aus einzelnen Passagen des Codex Iustinianus ableiten zu können, und übernahm die im Verlauf des Mittelalters sich entwickelnde Interpretation, hieraus eine pauschale kaiserliche Berechtigung zur Erteilung von Moratorien ableiten zu können. So konnte sich der kaiserlich gewährte Zahlungsaufschub manifestieren. Es wurde als Gnadenrecht verstanden, das dem Kaiser zusteht, von dem er als Reservatrecht Gebrauch machen darf. Allerdings gibt es einen Bereich, der in der Literatur und nicht nur bei Moser, sondern auch bei anderen, diskutiert wurde und auf den ich versucht habe, hinzuweisen: Die Erteilung eines Moratoriums stellte doch auch einen erheblichen Eingriff in die Jurisdiktionsgewalt der Territorien bzw. der Städte dar. Die kaiserlichen Befehle hemmten anhängige Schuldverfahren und jegliche Vollstreckung, die bereits vorher in Gang gesetzt worden war, vollständig. Etliche Obrigkeiten empfanden dies als einen Eingriff. Die Kameralliteratur verteidigt im Ergebnis jedoch diese Interventionsmöglichkeit. Der Kaiser sei schließlich der Träger der Reservatrechte sowie oberster Gerichtsherr, und diese Verbindung befähige ihn auch dazu, Moratorien zu Lasten örtlicher Gerichtshoheiten erteilen zu dürfen. Obwohl ansonsten Einigkeit darüber bestand, dass der Kaiser den Justizlauf in keiner Weise beeinflussen sollte, gestand man ihm für die Moratorien die Möglichkeit zu, einzelnen Schuldverfahren bzw. Vollstreckungsmaßnahmen einen Riegel vorzuschieben. Deswegen sind die Moratorien m. E. auch als Untersuchungsgegenstand besonders reizvoll, weil sie die Vielschichtigkeit des Rechtsverbandes besonders verdeutlichen und auch, wer
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in welchem Maß Gerichtshoheit für sich reklamieren konnte und wer nicht. Für die Moratorien hatte nach allem der Kaiser tatsächlich ein Durchgriffsrecht, wenn man so will. Das dies den Landesherrn und den städtischen Obrigkeiten missfiel, liegt auf der Hand. Damit erklärt sich auch die rege Diskussion hierüber, die durch Theoretiker befeuert wurde, die die landesherrliche Position vertraten. Florian Meinel: Eine nicht sehr originelle Theorie dafür, wie es überhaupt zur Verrechtlichung von Institutionen oder zur Herausbildung von allein rechtsförmigen Institutionen kommt, wäre ja, dass das mit ökonomischer Liberalisierung und überörtlichen Märkten zu tun hat, letztlich mit der Entstehung von Vorformen des Kapitalismus. Könnte man diese Entwicklung, die du uns gezeigt hast, nicht letztlich auch so deuten, dass das Grundproblem dieser Institutionen darin besteht, dass diese Reichsstände letztlich recht heterogene Ökonomien haben und dass die Beteiligten das auch alle wissen? Ihre Vorbehalte, in der Verrechtlichung weiterzugehen, hingen dann vielleicht mit diesem impliziten Wissen von der ökonomischen Heterogenität des Ganzen zusammen. Die Frage ist doch, warum eigentlich gerade die reichen Handelsstädte diese Privilegien der Nonappellation haben wollten. Das ist eigentlich im Widerspruch zu unserer Grundvermutung, Handelsstädte müssen eigentlich immer ein Interesse an einer überörtlichen Rechtsvereinheitlichung haben. Eigentlich könnten die Kosten für eine überörtliche Rechtsvereinheitlichung gar nicht hoch genug sein. Doch im Gegenteil: Sie übernehmen sozusagen das Prozessrecht intern, und dafür sind sie dann frei und können machen, was sie wollen. Ist das einfach eine Abwehrbewegung gegen diese ökonomische Heterogenität? Anja Amend-Traut: Vielen Dank für die Frage. Sicherlich haben die Territorien sehr unterschiedliche Ökonomien. Das hatte ich mit den unterschiedlichen Interessen anzudeuten versucht, die bei der Gesetzgebung immer auch eine Rolle spielten. Reichsstädte verbinden sich womöglich, weil sie Handelsstädte sind und damit gleiche Interessen vertreten. Einzelne Territorien sind politisch-konfessionell miteinander verbunden, vertreten damit gemeinsame Interessen, und so entstehen Mehrheitsbildungen. Dasselbe gilt natürlich für ökonomische Interessen. Die Frage zu den Appellationen der Städte, die darum angesucht haben und ob für sie nicht eigentlich eine überörtliche Rechtsvereinheitlichung interessanter sein müsste, würde ich mit Jein beantworten. Es war natürlich für diese Städte, die Messe und Märkte beheimateten, sehr wohl wichtig, um die Attraktivität ihres Standorts zu erhalten oder gar zu vergrößern, dass sie nicht nur einen florierenden Markt anboten, nicht nur wenig Abgaben forderten, nicht nur Messeprivilegien erteilten. Zu diesen begünstigenden Standortvorteilen zählte eben auch, eine besondere summarische Gerichtsbarkeit, das heißt ein schleuniges Verfahren anzubieten. Die Kaufleute kommen auf einem Platz zusammen und müssen innerhalb dieser Messezeiten ihre Transaktionen zu einem Abschluss bringen. Nach den Messezeiten verschwinden sie wieder in alle Himmelsrichtungen und ein Beklagter ist nicht mehr greifbar. Deswegen darf man davon ausgehen, dass bei solchen Handelsstädten die Vorstellung vorherrschte, der Standort würde auch durch eine „stracke“ Justiz attraktiver werden.
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Das ist natürlich eine Argumentation, die schon aus dem Mittelalter stammt, aber sie lässt sich durchaus noch für die frühe Neuzeit fruchtbar machen. Eine Rechtsvereinheitlichung war ungeachtet dessen für das Prozessrecht ja damit auch gewährleistet, für materiellrechtliche Fragen war sie durch die allgemein rezipierte Rechtsprechung des Reichskammergerichts möglich. Die Heterogenität ökonomischer Interessen, um vielleicht darauf noch einmal kurz zurückzukommen, spielte übrigens auch eine Rolle bei der großen Diskussion um das Verbot der Monopole oder besser: das Verbot großer Handelsgesellschaften im 16. Jahrhundert. In diesem Zusammenhang waren die Interessen sehr heterogen. Auf der einen Seite erkannte man die Gefahr, dass kleinere Handelsplätze von größeren vereinnahmt werden könnten und dass eine monopolistische Handelspolitik von wenigen großen Handelshäusern wie den Fuggern zum Nachteil kleinerer betrieben wird. Auf der anderen Seite haben Städte wie Augsburg oder Nürnberg, die solche großen Handelshäuser beheimateten, ihre eigenen Interessen auszuspielen gewusst, weil der Kaiser und einzelne Stände überhaupt kein Interesse daran hatten, dieser Forderung nach einem Verbot der sogenannten Monopole nachzukommen, weil sie selbst von diesen Handelshäusern wirtschaftlich abhängig waren. Der Kaiser wie auch einzelne Landesfürsten bis hin zum niederen Adel waren auf deren Kredite angewiesen. Die Interessen, die bei solcherart Gesetzgebungsbemühungen eine Rolle gespielt haben, waren also sehr ambivalent. Und das ist sicherlich der hauptsächliche Grund, warum es zu dieser Monopolgesetzgebung letztlich nie gekommen ist, sondern es bei diesen Bemühungen blieb. Christoph Gusy: Frau Amend-Traut, ich fand den besonderen Charme Ihres Vortrags insbesondere in der großen Nüchternheit, mit der Sie Ihre Thesen zum Reichsverband als Rechtsverband vorgetragen haben. Ich möchte aber ganz bewusst meine Frage von der Seite her stellen, nämlich mit der Frage nach der Bedeutung der Verfassung im Rechtsverband. Sie haben ja nicht gesprochen über den Reichsverband als Verfassungsverband, sondern als Rechtsverband, und es war interessant zu sehen, dass in Ihrem Vortrag der Begriff der Verfassung ganz lange gar nicht vorkam. Anscheinend kam man für das Recht und seine Deutung auch ohne den Begriff der Verfassung oder das Konzept der Verfassung aus. Erst ganz zum Schluss, fast in der Zusammenfassung, da tauchte der Verfassungsgedanke in zwei Dimensionen auf. Die erste: kollidierende und konkurrierende Herrschaftsansprüche. Und die zweite, nicht ganz so explizit bei Ihnen: der Verfahrensgedanke. Das waren die beiden Dinge, die Sie mit Verfassung in dem Zusammenhang assoziiert haben. Mehr war in Ihrem Vortrag zum Thema Verfassung nicht drin. Das war natürlich auch nicht Ihr zentrales Thema, aber es fällt natürlich nach dem grandiosen Capriccio von Herrn Schmidt auf, dass dort eher eine Verfassungsdenkweise vorgestellt wurde, die in Ihrem nüchternen Vortrag schwerlich einen Platz findet. Meine Frage geht jetzt dahin. War die Verfassung in der frühen Neuzeit nicht zuletzt auch deshalb so stabil, weil sie so vergleichsweise schwach war? Weil sie eben nicht kontrafaktisch war, sondern in hohem Maße faktengeprägt, faktengesättigt, offen für Machtfragen und dadurch auch ein ganzes Stück machtabhängig. Kann es sein, dass die Verfassung vielleicht gerade da-
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durch ihre besondere Qualität bekam, dass sie so etwas Schemenhaftes, Schattenhaftes hatte, was man schwer rekonstruieren, aber deshalb auch nicht widerlegen kann? Anja Amend-Traut: Vielen Dank für Ihre Frage. Es ist sehr bedauerlich, dass Sie eine große Nüchternheit verspürt haben, obwohl die von mir geschilderten Auseinandersetzungen im Einzelnen gar nicht nüchtern waren. Ich hatte gleich zu Beginn meines Vortrages auf einzelne Verfassungselemente hingewiesen und festgestellt, dass es keine systematische Verfassung gab. Es gibt die Goldene Bulle, es gibt Wahlkapitulationen, die durch ihre selbstverpflichtende Erklärung der jeweiligen Regenten, die hergebrachten Rechte der Reichsstände zu beachten, Verfassungscharakter haben. Ich hatte auch den Osnabrücker Friedensvertrag erwähnt, man könnte gewiss auch die von mir erwähnten Reichskammergerichtsordnungen durchaus als Quellen mit Verfassungsrang bezeichnen. Von diesen genannten Verfassungselementen ausgehend habe ich versucht, für einzelne Bereiche kollidierende oder konkurrierende Elemente abzuleiten. Dabei habe ich zwischen einem judikativen Rechtsverband und einem legislativen Rechtsverband unterschieden: Wer ist verfassungsrechtlich legitimiert, Gesetze für das Reich zu erlassen? Und wer ist verfassungsrechtlich legitimiert, Rechtsprechung zu organisieren und anzubieten? Ich würde jetzt aber ungern noch einmal sämtliche Punkte ansprechen, mit denen ich hoffte, eigentlich vielfältig Antwort darauf gegeben zu haben, dass es sich jedenfalls um ein Verfassungssystem handelte, das die Funktionsweise des Rechtsverbands bestimmte und determinierte. Ewald Grothe: Ich kann gleich anknüpfen an das, was Herr Gusy gesagt hat. Sie haben das Stichwort gerade genannt: Wahlkapitulationen. Es hat dazu in den letzten Jahren Veröffentlichungen gegeben von Wolfgang Burgdorf. Der bezeichnet die Wahlkapitulationen als Proto-Konstitutionalismus. Wenn man das im Lichte unseres Tagungsthemas überspitzt, wahrscheinlich würde Burgdorf mir sogar zustimmen, dann würde man sagen, es gibt in der Frühen Neuzeit ein Verfassungsbewusstsein, das nämlich über die Wahlkapitulationen entsteht. Wie würden Sie das einschätzen? Ich weiß, das ist jetzt etwas jenseits Ihres Themas, aber generell würde es mich interessieren, wie man das aus frühneuzeitlicher Warte und von juristischer Seite einschätzen würde. Ist diese These von Burgdorf haltbar oder ist sie sehr weit entfernt von der Realität? Oder kann man gar nicht von Proto-Konstitutionalismus, von einem Verfassungsbewusstsein in der Frühen Neuzeit sprechen, wenn man auf das Reich blickt? Anja Amend-Traut: Die Wahlkapitulationen hatten eine enorme verfassungsrechtliche Bedeutung. Ihre Rolle war so groß, dass man im 17. Jahrhundert sogar versuchte, sie zu perpetuieren, was nicht gelungen ist. Schon der Versuch, eine Capitulatio Perpetua zu etablieren, zeigt, dass die Wahlkapitulationen auch in der Wahrnehmung der Beteiligten eine ganz fundamentale Rolle spielten, die ganz entscheidend waren: um sich absichern zu können, um sicher gehen zu können, dass auch dieser neue Kaiser die Rechte der einzelnen Stände berücksichtigt, sie pflegt, nicht in ihren Hoheitsbereich eingreift und vielleicht auch noch mehr Zugeständnisse macht als das bei seinem Vorgänger der Fall war. Es lässt sich also durchaus ein solches Bewusstsein be-
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obachten. Ich glaube daher in der Tat auch, dass die Bedeutung der Wahlkapitulationen kaum überschätzt werden kann. Karsten Ruppert: Herr Grothe, dazu wollte ich jetzt noch etwas sagen. Ich finde diesen Begriff Proto-Konstitutionalismus sehr, sehr schlecht, um die Verhältnisse im Reich der Frühen Neuzeit zu kennzeichnen. Nur ein Punkt: Im Konstitutionalimus gehört ganz wesentlich das monarchische Prinzip dazu. Das heißt sämtliche Staatsgewalt wird vom König, vom Monarchen, aus gedacht. Und das ist doch das glatte Gegenteil, von dem, was wir im frühneuzeitlichen Bereich haben. Insofern würde ich sagen, passt das überhaupt nicht. Rainer Polley: Ich habe nach Ihren bewegenden Ausführungen, insbesondere zum Thema Judikative und Rechtsverband, noch zwei Fragen. Die erste Frage betrifft das wechselseitige existentielle Verhältnis der beiden obersten Reichsgerichte. Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation in der Neuzeit bis 1806 zwei Institutionen mit höchstrichterlichen Funktionen, eben das Reichskammergericht und der Reichshofrat, bestanden haben? Das Reichskammergericht ist doch von Kaiser Maximilian I. im Jahre 1495 auf dem Wormser Reichstag auf Wunsch der Reichsstände als oberstes Gericht eingerichtet worden. Dagegen ist bei den kaiserlichen Reichshofratsordnungen seit 1497, insbesondere bei den bekannteren von 1559 und 1654, eine Vorberatung und Zustimmung der Reichsstände nicht erfolgt. Hat es daher verfassungsrechtliche Probleme gegeben, diese höchstrichterliche Doppelstruktur anzuerkennen und zu verteidigen? Die zweite Frage betrifft den Mengenvergleich der Bevorzugung der beiden Gerichte als höchste Appellationsinstanz von Seiten der Prozessparteien. Lassen sich hierfür schon zahlenmäßige Angaben gegenüberstellen, nachdem das Verzeichnungsprojekt der Reichskammergerichtsakten ja bereits abgeschlossen ist und vermutlich – hier fehlen mir hinreichende Kenntnisse – auch das Verzeichnungsprojekt der Reichshofratsakten schon weit gediehen ist? Anja Amend-Traut: Herr Polley, da muss ich Sie leider enttäuschen. Das Reichskammergerichtsprojekt ist zwar finanziell jedenfalls abgeschlossen, es sind auch fast alle Archivbestände verzeichnet, aber eben noch nicht alle. Und durch die Verzeichnung weiß man heute von etwa 78 000 Verfahren insgesamt, und das über den Verlauf von mehr als 300 Jahren. Für den Reichshofrat kann man solche Feststellungen derzeit nicht treffen. Das Erschließungsprojekt „Die Akten des Kaiserlichen Hofrats“ läuft erst seit 1999 bzw. 2006, und es wird, wenn nicht etwas Dramatisches dazwischenkommt, noch mindestens die nächsten Jahrzehnte laufen. Um die Verzeichnungsarbeit abzuschließen, bräuchte man wohl wir haben Statistiken hierfür, noch 100 Jahre, berücksichtigt man, dass es etwa 80.000 Verzeichnungseinheiten gibt. Das heißt also: Derzeit können wir überhaupt nicht genau sagen, wie viele Verfahren der Reichshofrat wirklich bearbeitet hat. Diese Aussage war freilich unpräzise. Denn wir müssen unterscheiden, dass der Reichshofrat einerseits zweites höchstes Gericht im Reich war, andererseits aber auch kaiserliche Verwaltungsbehörde, die viele Aufgaben wahrgenommen hat: Der Reichshofrat fungierte auch noch als Lehnskanzlei,
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nahm sich Gnadensachen an und so fort. Selbst wenn wir uns also nur auf die Funktion als Gericht beschränken, können wir die Zahl der hier angefallenen Verfahrensakten aus dem Bestand Judicialia trotzdem noch nicht genau absehen. Das vielleicht zu dem letzten Aspekt. Beide Gerichte haben Vorgänger, wurden also nicht originär aus der Wiege gehoben. Das Reichskammergericht hat das königliche Kammergericht als Vorläufer. Und auch der Reichshofrat ging nach einer längeren Formierungsphase aus den Hofräten Karls und Ferdinands hervor. Auf Ihre ursprüngliche Frage, ob eines der beiden Gerichte in Bezug auf die Gesamtzahl der Verfahren bevorzugt wurde, kann ich wegen der unbekannten exakten Zahl der reichshofrätlichen Verfahren nicht genau antworten. Zum Dualismus der beiden Gerichte: Sicherlich deutet der Spruch, der Reichshofrat sei das dem Kaiser nähere Gericht gewesen, das Konkurrenzverhältnis an, das ich auch dargestellt hatte. Das liegt schon an der Besetzung dieses Gerichts, hier hatte der Kaiser ein Alleinentscheidungsrecht, er allein hatte die Befugnis, über die Besetzung des Reichshofrats zu entscheiden. Beim Reichskammergericht dagegen präsentierten die Reichsstände und Reichskreise die Assessoren. Das Reichskammergericht war demnach das Gericht, das den Rechtsverband zwischen dem Kaiser und den Reichsgliedern tatsächlich auch symbolisierte. Das galt für den Reichshofrat in diesem Sinne nicht. Dass der Reichshofrat, wenn man dessen Vorläufer bedenkt, eine Renaissance erlebte und überhaupt zu einer derart großen Blüte kommt, liegt daran, dass der Kaiser natürlich auch das Bedürfnis nach einer Behörde hatte, die vor allem seine Interessen vertritt. Vielleicht noch eine kleine Anmerkung zum Konkurrenzverhältnis der beiden Gerichte: Den Untertanen, die vor ein höchstes Gericht ziehen wollten, war durch partikulare Gerichtsordnungen die Möglichkeit eingeräumt, sich an eines der beiden Gerichte zu wenden. Und tatsächlich gibt es durchaus bestimmte Klientelen, die sich ganz bewusst nicht an das Reichskammergericht, sondern an den Reichshofrat wenden, weil sie sich dort eine für sie günstigere Rechtsprechung versprechen. Georg Schmidt: Frau Amend-Traut, vielen Dank für Ihren konzisen Vortrag, der das verfassungsrechtlich zusammengefasst hat, was die Einheit des Reiches ausmacht, so dass ich immer noch fasziniert darüber nachdenke. Ich habe eine Anmerkung zu der letzten Diskussion. Das leuchtet mir alles sehr ein, auch was in der Diskussion gesagt worden ist. Das mit dem Konstitutionalismus sehe ich allerdings anders, es muss nicht alles vom König ausgehen, um von Konstitutionalismus sprechen zu können. Ich finde den Begriff Proto-Konstitutionalismus sinnvoll. Meine zweite Anmerkung: Die Ausgliederung des bestehenden Reichshofrats zu einem Reichsgericht hängt wohl auch damit zusammen, dass sich die italienischen Vasallen an dieses Gericht wenden und nicht ans Reichskammergericht. Das führt mich dann doch noch zu einer Frage. Sie hatten gesagt, das Lehnsrecht habe für die-
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sen Reichsverband, den Sie uns geschildert haben, bis zum Ende des Alten Reichs eine große Bedeutung. Ich stelle im Kreis dieser Rechtshistoriker jetzt die Frage: welche Bedeutung? Was ist lehnsrechtlich für diesen Reichsverband, den ich vielleicht als Reichs-Staat bezeichne, was ist da eigentlich noch wichtig? Ich weiß auch, dass Frau Stollberg-Rilinger immer diese lehnsrechtliche Bedeutung betont. Aber ich sehe nichts, was da noch in irgendeiner Weise wichtig sein könnte für diesen Verband, wie er funktioniert und was dessen Zusammenhalt ausmacht. Da spielt das Lehnsrecht eine zeremonielle, dekorative Rolle, aber ich sehe nichts, was für den Reichs-Staat in irgendeiner Form wichtig wäre. Anja Amend-Traut: Die Belehnungsakte haben durchaus noch eine wichtige Rolle gespielt. Bei der Thronbesteigung eines neuen Königs musste etwa der Belehnungsakt erneuert werden, und das hatte nicht nur einen symbolischen Charakter, sondern war auch ein juristischer Akt. Belehnungen haben die Reichshofkanzlei in erheblichem Maße beschäftigt. Mit der Belehnung zusammen hing unter anderem auch die Frage, was mit dem Lehnsgut passiert. Bleibt das Lehnsgut in den Händen der Familie des ursprünglich Belehnten, d. h. fällt es nach dessen Tod automatisch an den König als oberstem Lehnsherr zurück oder ist es vererblich? Auch mit anderen Fragen, die mit der Belehnung zusammenhingen, setzte sich der Reichshofrat auseinander: Welche Wappen darf der Lehensnehmer tragen? Welche Titel darf er führen? Daraus leiten sich wiederum Rangstreitigkeiten ab. Es hat im Kern also einen symbolischen Charakter, aber aus der juristischen Ausgestaltung des Lehenswesens mit den davon abgeleiteten Ansprüchen entsteht ein handfestes Streitpotential, das bändeweise Literatur füllt und viel Zeit des Reichshofrates band, der sich damit intensiv auseinandersetzen musste. Es bleibt also dabei, dass das Lehnsrecht durchaus noch eine große praktische Rolle gespielt hat. Vielleicht noch eine weitere Anmerkung dazu. Sie betrifft einen Punkt, den ich im Vortrag aus Zeitgründen weggelassen hatte, nämlich die sogenannte Ersatzgesetzgebung. Die gemeinen Bescheide, die sowohl der Reichshofrat als auch das Reichskammergericht erlassen haben, sind eigentlich verfahrensrechtliche Regelungen zum besseren Ablauf des gerichtlichen Verfahrens, aber eben nicht nur – ich souffliere hier übrigens aus den beiden Bänden des Spezialisten zum Thema, Peter Oestmann. Für den Reichshofrat gibt es einen ganz beträchtlichen Teil dieser gemeinen Bescheide, der sich mit lehnsrechtlichen Fragen auseinandersetzt. Diese Bescheide sind von einem Spruchkörper erlassen bzw. aufgesetzt worden, die dann aber für die sie betreffenden Materien Gesetzescharakter erlangen. Ich habe deshalb den Begriff der Ersatzgesetzgebung aufgegriffen, der das meines Erachtens sehr gut widerspiegelt. Der Reichshofrat bzw. das Reichskammergericht schöpfen hier Recht, das einen Verbindlichkeitscharakter über einen Einzelfall hinaus bekommt. Sie erfüllen damit eine Aufgabe, für die nach Reichsrecht eigentlich der Kaiser und die Reichsstände vorgesehen sind, ein Gesetzgebungsverfahren, das diese jedoch nicht wahrnehmen. Die vorhandenen Regelungslücken wurden also ein Stück weit durch diese gemeinen Bescheide kompensiert. Und besonders interessant ist dieser Bereich der lehnsrechtlichen Fragen, die den Reichshofrat auch noch im
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18. Jahrhundert sehr intensiv beschäftigten. Er sah offensichtlich das Bedürfnis, in Form gemeiner Bescheide verbindliche Regelungen für sich selbst und auch noch zukunftsweisend aufzusetzen. Letztlich kann man also sagen, dass in der sicher auch bedeutsamen Symbolik eben doch auch sehr viel Juristisches lag, das über die bloße Symbolik weit hinausging. Dieter Gosewinkel: Herzlichen Dank, Frau Amend-Traut, und auch besonderen Dank, dass Sie sich dieser langen Diskussion gestellt haben.
„Verfassungsfeinde“ Zur Herausbildung einer politischen Formel in der Zwischenkriegszeit Florian Meinel, Göttingen*
I. Einleitung Die politische Sprache der Gegenwart kennt, zumindest in Deutschland, keine Staatsfeinde mehr, keine politischen Feinde und erst recht keine Volksfeinde, dafür umso mehr Verfassungsfeinde. – Ein bekannter Verfassungsfeind, vielleicht der letzte mit Humor und Intellekt, schrieb vor der Wiedervereinigung: „Die Bundesrepublik, halb ordentlicher Industriehof, halb Naherholungszone mit regelmäßig geleertem Papierkorb, dieses handtuchgroße Restland, dessen Bewohner nach Harmlosigkeit gieren, ist zugleich das Land, in dem jeder zum Verfassungsfeind des anderen werden kann.“1 Unstrittig scheint zwischen Freunden und Feinden der Verfassung damit zumindest, dass sich der Ausschluss aus der politischen Zugehörigkeit heute vorwiegend am Begriff der Verfassung entlang vollzieht. Das ist bis heute eine deutsche Besonderheit.2 Warum ist das so? Und seit wann? Und was bedeutet es für den Konstitutionalismus und seinen Begriff der Verfassung? Im Prinzip handelt es sich bei der Verschiebung der Markierung von politischer Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit auf die Verfassung, einschließlich der damit zusammenhängenden Fragen von Bürgerschaft, politischen Rechten, politischer Rhetorik und Repräsentation, um einen Teilaspekt eines allgemeinen Wandels des Konstitutionalismus: Als Versuch, das politische Prinzip der Manifestation von Zugehörigkeit zu staatlichen Verbänden in der Bewegungsformel vom Reichsbewusst* Für kritische Einwände und zahlreiche Hinweise danke ich Annabelle Meier und Marwin Kerlen. 1 Günter Maschke, Die Verschwörung der Flakhelfer (1985), in: ders., Das bewaffnete Wort, Wien 1997, S. 72. 2 So hat etwa zuletzt Oxford University Press die englische Fassung des von Oliver Lepsius, Matthias Roßbach und Christian Waldhoff mit Dieter Grimm geführten wissenschaftsbiographischen Gesprächs („Ich bin ein Freund der Verfassung“, 2017) unter dem Titel „Dieter Grimm: Advocate of the Constitution“ (Oxford 2020) veröffentlicht. Anders als im Deutschen sind also weder der Begriff des Verfassungsfeindes noch seine Umkehrung stehende Formeln.
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sein zum Verfassungspatriotismus zu erfassen, greift diese Formel das Deutungsmuster der Auflösung von politischen Institutionen in normativen Zusammenhängen auf. Die Form der politischen Zugehörigkeit verschiebt sich demnach in der Moderne von der Beziehung auf einen existierenden Verband („Reich“, „Staat“, „Volk“ usw.) auf eine Institution, die zugleich Norm ist, oder vielmehr aus Normen besteht, also die Verfassung. Positive Zugehörigkeit manifestiert sich tendenziell nicht mehr im Staatsbewusstsein, also in der Zugehörigkeit zu einer Makroinstitution, sondern im Verfassungspatriotismus, soll heißen: in der geteilten politischen Rechtsgemeinschaft. Dann aber heißen auch die aus der politischen Zugehörigkeit Ausgeschlossenen nach dem, was den Ausschluss markiert: Verfassungsfeinde. Je nach Vorverständnis lässt sich diese allgemeine Umbesetzung entweder als Teilaspekt der Modernisierung und Verrechtlichung3 oder aber der Entpolitisierung und Abstraktion verstehen. Die universelle Norm, so ließe sich dieser Vorgang in den Kategorien Gehlenscher Ethik beschreiben, entsteht aus dem Zerfall der Institutionen.4 Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass kurz nach dem Essay Günter Maschkes Josef Isensees bekannte Absage an die „Verfassung als Vaterland“ erschien.5 Der folgende Beitrag soll zeigen, dass die Entstehung der heutigen Vorstellung von Verfassungsfeindschaft keineswegs ein Teilaspekt eines allgemeinen Auseinandertretens der Begrifflichkeiten von „Staat“ und „Verfassung“ ist, sondern hervorgegangen ist aus einer sehr konkreten politischen Situation des deutschen Konstitutionalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie ist das Resultat eines Prozesses, an dessen Anfang der Kampf der Weimarer Koalition aus SPD, DDP und Zentrum gegen den gewaltsamen politischen Extremismus in den ersten Krisenjahren der Republik (1920 – 1923) stand und der bis in die frühe Bundesrepublik reicht, als das Programm der „wehrhaften Demokratie“ nach der Erfahrung mit dem Totalitarismus Gestalt annahm. Sie beginnt auch nicht erst mit dem Antitotalitarismus des Grundgesetzes, sondern hat ihren historischen Ursprung in einer Veränderung des Verfassungsbegriffs in der Zwischenkriegszeit. Aufgrund dieser historischen Verwobenheit mit einem Spezifikum der deutschen Verfassungslehre in der Zwischenkriegszeit hatte diese abstrakt auf die Institution der Verfassung bezogene Demarkationsrhetorik international lange keine Parallele.6 Es soll zunächst gezeigt werden, dass und warum in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts – zumal in Deutschland – die Begrifflichkeiten von „Verfassung“ und „Feind“ noch nicht aufeinander bezogen waren (II.). In der politischen Terminologie der Weimarer Republik wurden die „Verfassungsfeinde“ dagegen zu einem umkämpften politischen Parteibegriff, den zuerst die Weimarer Koalition 3
Judith N. Shklar, Der Liberalismus der Rechte, 2017. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 1956. 5 Josef Isensee, Die Verfassung als Vaterland. Zur Staatsverdrängung der Deutschen, in: Armin Mohler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu. Anmerkungen zur Lage, 1986, S. 11. 6 Siehe etwa Jan Werner Müller, Militant Democracy, in: The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, Oxford 2012, S. 1253 (1254) u. passim. 4
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für ein parlamentarisch-republikanisches Programm reklamierte, bevor ihn Carl Schmitt dann mit anderer Stoßrichtung politisch umbesetzte (III.). Die Gründe für die Entstehung der Kategorie der Verfassungsfeindschaft gerade in der Zwischenkriegszeit liegen einerseits im vermehrten Auftreten von politischen Organisationen, vor denen das konventionelle politische Strafrecht versagte, haben andererseits aber auch mit Eigenarten des Verfassungsbegriffs der Weimarer Republik zu tun (IV.).
II. „Verfassung“ und „Feind“ im 19. Jahrhundert Die begriffliche Zuordnung von „Verfassung“ und „Feind“ setzt erstmals bereits mit der Französischen Revolution ein. Die Histoire Parlementaire de la Revolution française berichtet, dass seit Anfang April 1793 das Vokabular der Gruppen in der Nationalversammlung „surchargé de dénominations nouvelles“ sei. So bezeichneten sich die Girondisten als Patrioten, während sie die Feuillants als Gemäßigte (modérés), ihre Anführer als „Comité Autrichien“ und die Montagnards als Radikale (enragés) und deren Anführer als „Tribuns ou Factieux“ anredeten. Jacques Pierre Brissot, Führer der Girondisten, wird in diesem Zusammenhang mit der folgenden Definition ihrer politischen Richtungen zitiert: Ein patriote sei ein „ami du peuple, ami de la constitution“, ein modéré dagegen ein „faux ami de la constitution, ennemi du peuple“ und schließlich ein enragé ein „faux ami du peuple, ennemi de la constituion“7. Dieser Sprachgebrauch unterscheidet sich aber signifikant vom modernen. Die Revolutionszeit versteht unter den „Feinden der Verfassung“ nämlich keine Anhänger bestimmter Bewegungen, sondern benutzt den Begriff in einer semantischen Übersteigerung gleichbedeutend mit radikaler Gegnerschaft. Verfassungsfeinde sind darum prinzipiell nichts anderes als etwa „Feinde der Republik“, „Feinde der Aufklärung“ oder „Feinde der guten Sache“.8 Das zeigt sich unter anderem auch daran, dass die verfassungsrechtliche Sprache die Kategorie der Feindschaft über das 19. Jahrhundert hinweg für den äußeren Feind reserviert. So beschreibt die Declaration of Independence das Verhältnis zum Mutterland in den Begriffen von Freund und Feind, wobei die Semantik in diesem Fall gerade dazu dient, Großbritannien einen Platz unter allen anderen Nationen zuzuweisen: „Nor have We been wanting in attentions to our Brittish brethren. We have warned them from time to time of attempts by their legislature to extend an unwarrantable jurisdiction over us. […] They too have been deaf to the voice of justice and of consanguinity. We must, there7
Histoire Parlementaire de la Revolution française, ou Journal des assemblées nationales depuis 1789 jusqu’en 1815 (Buchez/Roux), Bd. XIV, Paris 1835, S. 232. 8 Nachweise zum politischen Wortfeld von Feinden und Feindschaft um 1800 finden sich in den einschlägigen Artikeln der Geschichtlichen Grundbegriffe zu „Aufklärung“ (Bd. I, S. 280), „Republik“ (Bd. V, S. 602); „Terror, Terrorismus“ (Bd. VI, S. 355) und „Verein“ (Bd. VI, S. 800).
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fore, acquiesce in the necessity, which denounces our Separation, and hold them, as we hold the rest of mankind, Enemies in War, in Peace Friends.“ Spiegelbildlich ist bei Rechtsverletzungen, die in der Frühphase der Revolution noch unter Bezugnahme auf königliche Privilegien erfolgten,9 nicht von Feindschaft die Rede. In ähnlicher Form erwähnt Titel IV Art. 1 der Französischen Verfassung von 1791 äußere Feinde als Kriegsgegner: „La force publique est instituée pour défendre l’Etat contre les ennemis du dehors, et assurer au dedans le maintien de l’ordre et de l’exécution des lois.“10, während die Verfassung der Ersten Republik dem noch eine detaillierte Bestimmung der politischen Freundschaft hinzusetzte: „Article 118. Le peuple français est l’ami et l’allié naturel des peuples libres. Article 119. Il ne s’immisce point dans le gouvernement des autres nations; il ne souffre pas que les autres nations s’immiscent dans le sien. Article 120. Il donne asile aux étrangers bannis de leur patrie pour la cause de la liberté. Il le refuse aux tyrans. Article 121. Il ne fait point la paix avec un ennemi qui occupe son territoire.“
Die Beispiele ließen sich vermehren. Dagegen tritt die politische Bekämpfung innerer Feinde jedenfalls im deutschen Sprachraum noch nicht unbedingt im Namen der Verfassung auf. Das gilt vor allem für die berühmten Maßnahmen gegen die Gegner der restaurativen politischen Ordnung im Vormärz, quasi die damaligen „Verfassungsfeinde“, die ja, wie die Göttinger Sieben im hannoverschen Verfassungskonflikt, ostentativ verfassungstreu waren: Der die Universitäten betreffende Bundesschluss von Karlsbad sanktionierte „der öffentlichen Ordnung und Ruhe feindselige oder die Grundlagen der bestehenden Staatseinrichtungen untergrabende Lehren“.11 Die preußische Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse durch die Zensurverordnung von 1819 knüpfte dabei zwar an die Formulierung des Hochverratstatbestands des Allgemeinen Landrechts an, wo es hieß: „Ein Unternehmen, welches auf eine gewaltsame Umwa¨ lzung der Verfassung des Staats, oder gegen das Leben oder die Freyheit seines Oberhaupts abzielt, ist Hochverrath“ (II. Teil XX. § 92). Die Preußische Zensurverordnung folgte dieser Formulierung und unterstellte der Zensur „alle auf Erschütterung der monarchischen und in diesen Staaten bestehenden Verfassungen abzweckende Theorien“ sowie „alle Versuche […] in irgend einem Lande bestehende Partheien, welche am Umsturz der Verfassung arbeiten, in einem günstigen Lichte darzustellen“12. Eine begriffsgeschichtliche Ausnahme ist das aber kaum, da sich dieser Begriff der „Verfassung“ nicht auf ein Rechtsdokument bezog, sondern 9 Herrmann Wellenreuther, Der Aufstieg des ersten Britischen Weltreiches. England und seine nordamerikanischen Kolonien 1660 – 1763, 1987, S. 459. 10 Fast wörtlich übereinstimmend § 113 der Österreichischen Verfassung 1849: „Die bewaffnete Macht ist bestimmt, das Reich gegen äußere Feinde zu vertheidigen, und im Innern die Aufrechthaltung der Ordnung und die Ausführung der Gesetze zu sichern.“ 11 Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, 3. Aufl. 1978, S. 101. 12 Huber (Fn. 11), Bd. I, S. 106.
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einfach den politischen Status quo beziehungsweise den Bestand der Gesellschaftsordnung beschrieb.13 Schließlich sah man trotz mehrfacher Verfassungsumwälzungen lange keine Notwendigkeit, die Hochverratsbestimmung zu verändern. Auch nach dem Ende der Restaurationspolitik bestand diese Formulierung des Hochverratstatbestands fort, und zwar bis weit ins 20. Jahrhundert. So definierte § 61 des Preußischen Strafgesetzbuchs 1851 den Tatbestand des Hochverrats als ein „Unternehmen, welches darauf abzielt, […] die Thronfolge oder die Staatsverfassung gewaltsam zu ändern“. Das Reichsstrafgesetzbuch erweiterte diese Formulierung nur insoweit, um auch die politische Kriminalität in den Einzelstaaten tatbestandlich zu erfassen. Nach § 81 Nr. 2 RStGB beging Hochverrat unter anderem, wer es unternahm, die Verfassung des Deutschen Reichs oder eines Bundesstaats oder die in demselben bestehende Thronfolge gewaltsam zu ändern. Dabei blieb es bis in die Zeit der Weimarer Republik hinein. Auch in der politischen Sprache der Bismarckzeit heißen „Verfassungsfeinde“ einfach diejenigen, die sich gegen die Reichseinigung und Bismarcks Pläne zum Erlass einer monarchischen Verfassung für das gesamte Deutsche Reich betätigten, unabhängig von ihrer politischen Gesinnung. So bezeichneten sich etwa die Deutschkonservativen in den späten 1880er Jahren in Reichstagsdebatten bisweilen ausdrücklich als „nicht verfassungsfeindlich“, um damit ihre bei aller Kritik im Einzelnen grundsätzliche Befürwortung der Reichsverfassung herauszustellen. Umgekehrt sprach auch das Sozialistengesetz von 1878 nicht von Verfassungsfeinden, sondern verbot „Vereine, die den Umsturz der bestehenden Staats- der Gesellschaftsordnung bezwecken“. Und auch in einer Reichstagsrede zum Sozialistengesetz vom September 1878 sagte Bismarck auf die Frage, wann sich seine Einstellung zur sozialen Bewegung verändert habe: „[als] Bebel [oder] Liebknecht […] die französische Kommune als Vorbild politischer Einrichtungen hinstellte und sich selbst offen vor dem Volke zu dem Evangelium dieser Mörder und Mordbrenner bekannte. Von diesem Augenblick an habe ich die Wucht der Überzeugung von der Gefahr, die uns bedroht, empfunden […]; […] von diesem Augenblick an habe ich in den sozialdemokratischen Elementen einen Feind erkannt, gegen den der Staat, die Gesellschaft sich im Stande der Notwehr befindet.“
Die politische Sprache in Deutschland kennt den Begriff der Verfassung also bis zu dieser Zeit noch nicht als Schutzobjekt gegen innere Feinde. Das ist allerdings gerade für Deutschland auch nicht sonderlich erstaunlich. Die Forderung nach einer „Verfassung“ bzw. einer „Verfassungsurkunde“ im liberal-konstitutionellen Sinne mit Gewaltenteilung und politischer Mitbestimmung war bis zur Jahrhundertmitte schließlich eine im Kern oppositionelle Forderung gewesen.14 Selbst nach 1871 blieb die Verfassung in einem emphatischen Sinne im Grunde eine Sache allein der
13 Siehe hierzu Dieter Grimm, Art. „Verfassung“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 868 – 871. 14 Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, 1988, S. 138 – 141.
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Liberalen.15 Nicht nur die Sozialisten, selbst der reformistische Flügel, standen der Institution der Verfassung immer mit derjenigen Reserviertheit gegenüber, für die Ferdinand Lassalles Rede „Über Verfassungs-Wesen“16 bekannt geworden ist. Vor allem die Konservativen meinten, keine Verfassung zu brauchen, denn sie hatten ja in Staat und Bürokratie eine vorverfassungsmäßige Machtbasis. In kaum einer Quelle wird das so deutlich wie in dem berühmten Telegramm Wilhelms II. an Caprivi von 1894 über die Möglichkeit eines härteren Kurses gegen die sozialistische Opposition durch einen coup d’État als ultima ratio, in dem der Württembergische König zustimmend mit dem Satz zitiert wird, „Niemand von Uns habe die Reichsverfassung beschworen, also könne sie geändert werden.“17 Wenn also in der politischen und verfassungsrechtlichen Sprache des 19. Jahrhunderts die Begrifflichkeiten von politischen Feinden und Verfassung noch getrennt voneinander sind, so hat dies nach alledem offenbar relativ wenig mit einem abstrakten Verhältnis von Staat und Verfassung zu tun und insbesondere nicht damit, dass die Verfassung im Zeitalter des Konstitutionalismus nicht in dem Maße politische Zugehörigkeit definiert, dass sie auch semantisch den Ausschluss markieren kann.
III. Zur Terminologie der Zwischenkriegszeit Damit war nach dem Ersten Weltkrieg schon deswegen eine andere Ausgangslage geschaffen, weil sich die Weimarer Verfassung im Typus von der des Jahres 1871 radikal unterschied. Sie brach mit allen politischen Prämissen des konstitutionellen Verfassungsbegriffs, war republikanisch, demokratisch und zudem viel stärker „Sozialverfassung“ mit einem reformistischen Programm.18 Zudem aber hatten durch die Revolution in der Verfassungsfrage Freund und Feind die Seiten getauscht: Während die Opposition der Jahrhundertwende sich zur Weimarer Koalition zusammenfand, gingen die staatstragenden Schichten des Kaiserreichs auf Distanz zur neuen Verfassung. Dem Liberalismus erwuchsen, sofern er regierte, in den Parteien und Bewegungen bald neue Gegner.19 Die Entstehung des politischen Begriffs der Verfassungsfeindschaft und der Kategorie der verfassungsfeindlichen Parteien in den ersten Jahren der Weimarer Republik ist ohne diese Verschiebung des gesamten politisch-ideologischen Feldes des Verfassungsdiskurses undenkbar. 15
Christian Neumeier, Kompetenzen. Zur Entstehung eines Paradigmas des deutschen öffentlichen Rechts, Diss. Berlin, Humboldt-Univ., 2019. 16 Ferdinand Lasalle, Ueber Verfassungswesen: ein Vortrag gehalten in einem Berliner Bürger-Bezirks-Verein, 1862. 17 Huber (Fn. 11), Bd. II, 3. Aufl. 1986, S. 531 f. 18 Michael Stolleis, Die soziale Programmatik der Weimarer Reichsverfassung, in: Horst Dreier/Christian Waldhoff (Hrsg.), Das Wagnis der Demokratie, 2019, S. 195 – 218; Florian Meinel, Sozialer Rechtsstaat und soziale Grundrechte, in: Horst Dreier/Christian Waldhoff (Hrsg.), Weimars Verfassung, 2020, S. 197 (213 ff.). 19 Jens Hacke, Existenzkrise der Demokratie, 2018, S. 201 f. u. passim.
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1. Der parlamentarische Sprachgebrauch der Weimarer Koalition Zeigen lässt sich das insbesondere an der politischen und verfassungsrechtlichen Sprache der verfassungstreuen Parteien und ihrer Anhänger in Weimar. So ist die Kategorie der Verfassungsfeindschaft in der republiktreuen Presse bereits zu Beginn der zwanziger Jahre nachweisbar. Während etwa die Frankfurter Zeitung im Verlauf des Ersten Weltkriegs von verfassungsfeindlichen Parteien nur ganz sporadisch im Zusammenhang mit politischen Vorgängen im Ausland sprach,20 gehört die Formel schon bald nach 1919 zur, wenn auch nur gelegentliche Semantik des Vorwärts. Dort wird etwa 1922 über die Gründung und die „verfassungsfeindlichen Bestrebungen“ des „Deutschen Freiheitsbundes“ unter dem Titel „Völkischer Kampf gegen die Verfassung“ berichtet;21 ab 1930 werden Nationalsozialisten wie Wilhelm Frick oder Hanns Kerrl direkt als „Verfassungsfeinde“22 bezeichnet. Aber auch das USPDOrgan Freiheit empörte sich bereits 1921 über den Württembergischen Minister des Innern, der bei Regimentsfeiern keine „verfassungsfeindlichen Auswüchse“ erkennen wollte.23 In der politischen Publizistik war es vielleicht Gerhard Anschütz, der das Neue im Begriffsfeld der Verfassung als Erster erkannte.24 Schon seine im November 1922 in Heidelberg gehaltene Rede über die „Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung“ schloss mit einer Apologie der patriotischen Verfassungsfreundschaft.25 In einem Vortrag lieferte er 1924 eine differenzierte Beschreibung der unterschiedlichen Möglichkeiten von Verfassungsfeindschaft und beobachtete darin eine Steigerung gegenüber der politischen Gegnerschaft gegen die alte Reichsverfassung: „Die Neuordnung seines Staatswesens, die das deutsche Volk sich durch die Nationalversammlung in Weimar gegeben hat, ist bekanntlich nicht allerseits beliebt, ein Schicksal, das sie mit ihrer Vorgängerin teilt, denn auch Bismarcks Verfassung hat nicht jedermann gefallen. Die Weimarer Verfassung hat viele Gegner, ja Feinde. Darunter massenhaft solche, die sie nicht kennen, niemals gelesen haben. Was die sagen, interessiert uns nicht. Ferner solche, die ihrer Gesinnung nach nichts anderes sind als Hochverräter am Reich. Zu denen spreche ich nicht, denn mit Rebellen verhandelt man nicht. Endlich auch, ernstzunehmende, politisch saubere Gegner von mancherlei Art. Den Sozialisten ist die Verfassung
20
FZ, 7. 11. 1917, Titelblatt (Spanien). Vorwärts (Abend-Ausgabe) v. 21. 10. 1922, S. 2; s. a. Die Putschgeneralprobe, in: Vorwärts. Berliner Volksblatt Nr. 98 v. 27. 2. 1927, S. 2. 22 Ultimatum an Frick, in: Vorwärts. Berliner Volksblatt v. 29. 5. 1930, S. 1; ebenso in Bezug auf Hanns Kerrl: Kleines Preußentheater, in: Vorwärts. Berliner Volksblatt Nr. 241 v. 25. 5. 1932, S. 1. 23 Württemberg duldet Regimentsfeiern, in: Freiheit. Berliner Organ der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Nr. 429 v. 14. 9. 1921, S. 2. 24 Zu Anschütz‘ Parteinahme für die Republik Horst Dreier, Ein Staatsrechtslehrer in Zeiten des Umbruchs (1998), in: ders., Kelsen im Kontext, hrsg. v. Matthias Jestaedt/Stanley L. Paulson, 2019, S. 201 (207 f.). 25 Gerhard Anschütz, Drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung, 1923, S. 33 f. 21
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nicht sozialistisch genug, ihren Widersachern ist sie es zu sehr, den Antidemokraten ist sie zu demokratisch, den Föderalisten zu wenig föderalistisch, also zu unitarisch.“26
Dagegen sprach Hugo Preuß noch 1921 von der „Verteidigung der Republik gegen ihre hitzigen Feinde“, die sinnlos sei, wenn man sie „in die Hände ihrer – bestenfalls – sehr lauen Freunde“ lege,27 und wiederum im Zusammenhang mit der Kandidatur Hindenburgs für das Amt des Reichspräsidenten davon, dass „niemals ein verschämter oder ein unverschämter Feind der Republik an die Spitze des Deutschen Reiches kommt“.28 Zu diesem Zeitpunkt war der Begriff der Verfassungsfeindlichkeit im parlamentarischen Sprachgebrauch des Weimarer Reichstages bereits etabliert. Erstmals greifbar wird der Begriff in seiner heutigen Bedeutung im Jahr 1922, ein gutes halbes Jahr nach der Ermordung Matthias Erzbergers, drei Monate vor derjenigen Walter Rathenaus, und zwar in der stehenden Wendung „antirepublikanisch oder verfassungsfeindlich“. In einer Debatte über die politische Haltung der Reichsmarine sagte der SPD-Abgeordnete Oskar Hünlich, der sich im Reichstag stark für eine republikfreundliche Neuausrichtung der Reichswehr engagierte: „Wenn unsere junge Reichsmarine moralische Eroberungen im Volke machen, wenn sie insbesondere Vertrauen erwecken will, muß sie unbedingt dafür sorgen, daß Handlungen, die antirepublikanisch oder verfassungsfeindlich wirken, unbedingt unterbleiben, daß sie einen Geist pflegt, der streng unserer heutigen Reichsverfassung entspricht.“29
In ähnlicher Weise sagte der DDP-Abgeordnete Heinrich Rönneburg 1925 während einer Debatte über den Einsatz von Polizeikräften unter Reichskommando zur Bekämpfung von Aufständen in den Ländern: „Unter keinen Umständen darf ein Polizeibeamter einem Verbande angehören, der verfassungsfeindlich ist oder verfassungsgegnerische Tendenzen hat, oder der in seiner öffentlichen Betätigung die Verfassung verhöhnt oder herabsetzt.“30
In einer Debatte über einen Misstrauensantrag gegen seinen Reichswehrminister Otto Karl Geßler formulierte Reichskanzler Wilhelm Marx: „Eine Politisierung der Reichswehr lehnen wir durchaus ab. Vielmehr wird die ganze Schulung und Erziehung der Reichswehr auf die Treue zur bestehenden republikanischen Staatsform und zur Pflichterfüllung gegenüber den verfassungsmäßigen Gewalten abgestellt. Der
26 Gerhard Anschütz, Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, VVDStRL 1 (1926), S. 16 f. 27 Hugo Preuß, Bergbriefe, 1921, S. 18 f. 28 Berliner Tageblatt v. 25. 3. 1925 zit. n. Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats, 2010, S. 332. 29 Plenarprotokolle des Reichstages, 186. Sitzung 15. 3. 1922, 6282D. 30 Plenarprotokolle des Reichstages, 77. Sitzung 18. 6. 1925 2432B.
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Einstellung von Elementen, die sich nachweislich verfassungsfeindlich betätigt haben, in die Reichswehr werden wir uns mit allen Mitteln widersetzen.“31
Uneinheitlich ist dagegen der Sprachgebrauch in einer von der Reichsregierung unter Gustav Stresemann im August 1923 beschlossenen Denkschrift im Konflikt mit Bayern über das Vorgehen gegen die NSDAP.32 Dort heißt es unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Staatsgerichtshofs zum Schutze der Republik über das Verbot der NSDAP in Preußen, die „Hitler-Partei und insbesondere ihre Sturmtrupps“ seien „als staatsfeindliche Verbindung anzusehen […], die die Bestrebung verfolge, die verfassungsmäßig festgestellte republikanische Staatsform zu untergraben. Obwohl hiernach sowohl eine strafbare Handlung im Sinne des § 7 Ziff. 4 des Schutzgesetzes als auch die Möglichkeit für die bayerische Regierung vorlag, die Sturmtrupps wie auch sämtliche Versammlungen, Aufzüge und Kundgebungen der Hitler-Partei auf Grund von § 14 des Schutzgesetzes zu verbieten […], hat die bayerische Regierung auf Grund des Schutzgesetzes keinerlei Maßnahmen ergriffen. Als besonders peinlich für das Ansehen des Reichs muß auch empfunden werden, daß Strafverfolgungen auf Grund des Schutzgesetzes in Bayern einfach nicht durchführbar sind. Haftbefehle […] werden von den bayerischen Behörden nicht vollstreckt. Auch der vom Staatsgerichtshof zu längerer Gefängnisstrafe verurteilte Redakteur des ,Staßfurter Tageblatts‘ Hottenrott konnte sich nach Bad Tölz in Bayern flüchten. Bayern ist geradezu ein Asyl für Staatsverbrecher geworden.“33
Ein letztes Beispiel wäre eine Haushaltsdebatte über den Etatansatz des Reichsinnenministeriums, bei der es unter anderem um die Kulturpolitik des Reiches ging. Im Zusammenhang mit der Rundfunkzensur beklagte Arthur Crispien (SPD) dabei eine „reaktionäre Bürokratie“, die die Überparteilichkeit ihres Auftrags dazu nutzt, „Darbietungen“ auszuwählen, „die republikfeindlich und verfassungsfeindlich“ sind.34 Es taucht hier bereits die Möglichkeit von Verfassungsfeindlichkeit im Schein der Legalität und Neutralität auf: „Die Richtlinien, die von der Reichsregierung herausgegeben wurden, besagen, daß die Funkeinrichtungen keiner Partei dienen dürfen, daß sie überparteilich sein sollen. Praktisch sind sie derart überparteilich, daß man auch die Republik und die Verfassung oft genug nicht berücksichtigt und daß wir Darbietungen hören können, die republikfeindlich und verfassungsfeindlich sind. Das geht schon daraus hervor, daß die preußische Regierung erst dafür sorgen mußte, durch entsprechende Anweisung darauf aufmerksam zu machen, daß diese sogenannte Neutralität sich natürlich auf dem Boden der Republik und der Verfassung bewegen müsse.“35 31 Plenarprotokolle des Reichstages, 252. Sitzung 16. 12. 1926, 8586C; unter Bezugnahme auf die Frage der Verfassungsfeindlichkeit: Der Reichswehretat vor dem Reichstag, in: Vorwärts. Berliner Volksblatt Nr. 148 v. 29. 3. 1927, S. 3. 32 Akten der Reichskanzlei, Die Kabinette Stresemann I/II, Dokument Nr. 21, https:// www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919 – 1933/1a1/str/str1p/kap1_2/para2_21.html. 33 A. a. O. (Fn. 32). 34 Plenarprotokolle des Reichstages, 409. Sitzung 24. 3. 1928, 13701D. 35 Plenarprotokolle des Reichstages, 409. Sitzung 24. 3. 1928, 13701D.
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2. Anfänge der politischen Justiz gegen Verfassungsfeinde: Der Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik Nicht zufällig stammen diese Äußerungen ohne Ausnahme von Exponenten der Weimarer Koalition. Es sind ausschließlich Politiker der SPD, der DDP und des Zentrums, die in Reichstagsreden die Rhetorik der „Verfassungsfeindlichkeit“ gebrauchen. Das dürfte daran liegen, dass sie die Mehrheit hinter dem wichtigsten politischen Projekt zur Bekämpfung von Verfassungsfeinden in der Frühzeit der Weimarer Republik bildeten, mit dem sie versuchten, eine Neuorientierung des politischen Strafrechts zu erzwingen, das unmittelbar mit der Revolution 1918/1919 in eine erhebliche Krise geraten war. Die Unsicherheit der Gerichte im Umgang mit der Hochverratsnorm § 81 StGB war in den ersten Jahren der Republik groß, da der Tatbestand auf eine Schutznorm – zunächst ohne Textänderung – zugunsten der neuen Verfassung umgestellt werden musste. Einer Republik ist es schließlich nicht möglich, ihre Selbstverteidigung kategorial auf die Unverletzlichkeit des Monarchen zu beziehen. Diese Umstellung geschah einerseits überraschend schnell. Das Reichsgericht hatte schon im April 1919 die Teilnehmer am Spartakus-Aufstand im Januar 1919 wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung abgeurteilt und in diesem Zusammenhang die vorläufige, durch die Revolution geschaffene Ordnung („die mit den Namen Ebert-Scheidemann verknüpfte Volksregierung, die sich zur fraglichen Zeit im tatsächlichen und gefestigten Besitz der Regierungsgewalt befand“) – und zwar noch vor dem Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 – als legitim behandelt.36 Auch die Weimarer Verfassung wurde als Schutzgut des § 81 RStGB anerkannt, da die Strafnormen nach Art. 178 Abs. 2 WRV nur insoweit obsolet geworden seien, als sie sich auf die Monarchie bezogen nicht aber in Bezug auf die jeweilige Reichsverfassung als solche.37 Andererseits blieb die Handhabung der Maßstäbe sehr schwankend und war stark politisiert. Relativ umstandslos billigte das Reichsgericht die Verurteilung der Rätebewegung, da sie sich gegen „wesentliche Grundlagen der Verfassung“, insbesondere gegen die Republik, gegen die Gleichberechtigung aller Volksgenossen und gegen die Volkssouveränität richte.38 Bei der Verfolgung der politischen Kriminalität von rechts waren die Gerichte bekanntlich weitaus weniger entschieden.39 Die Gerichte reagierten mit Unterstützung der strafrechtlichen Literatur auf die Zunahme von Hochverratsprozessen mit einer beträchtlichen Ausweitung 36
RGSt 54, 102 (104). RGSt 56, 173 (174). Hierzu unter anderem Sven Großmann, Die Weimarer Reichsverfassung und das Strafrecht, in: Arnd Koch/Michael Kubiciel/Martin Löhning (Hrsg.), Strafrecht zwischen Novemberrevolution und Weimarer Republik, 2020, S. 37 (44 f.). 38 RGSt 56, 173 (174). 39 Christoph Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 2019, S. 218; Daniel Siemens, „Vertrauenskrise der Justiz“. Justizkritik im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: Koch/Kubiciel/Löhning, (Fn. 37), S. 24 ff.; Christoph Gusy, Die wehrlose Republik, 1991, S. 117 ff., 119 f. 37
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des Tatbestands des Hochverrats, der letztlich zu einem Organisations- und Gesinnungsdelikt umgebaut wurde, das von der Justiz allerdings vor allem antikommunistisch gehandhabt wurde. So fand etwa der seit 1921 als Leiter der Reichsanwaltschaft amtierende Oberreichsanwalt Ludwig Ebermayer ausweislich seiner Kommentierung des § 81 RStGB,40 es genüge bereits, dass „ein Bruchteil der Reichsverfassung“ geändert werden solle. Auch Vorbereitungshandlungen seien darum strafbar, solange das Angriffsobjekt hinreichend bestimmt sei. „Schon der Beitritt zu einem Verband mit hochverräterischen Zielen im Bewusstsein der Förderung“ genüge zur Begehung.41 Die Weimarer Koalition reagierte auf diese Krise der politischen Justiz mit der Schaffung einer Sondergerichtsbarkeit gegen Verfassungsfeinde. Nach der Ermordung Walter Rathenaus wurde zunächst durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten Friedrich Ebert,42 dann aber durch das wegen der rückwirkenden Geltung und der Kompetenzverschiebung zulasten der Länder mit der verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit beschlossene Republikschutzgesetz vom 21. Juli 1922 der Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik eingesetzt.43 Es war in der ersten großen Krise der Weimarer Zeit der sichtbarste Ausdruck des republikanischen Willens zur Erneuerung der Justiz. Wie weit die Überlegungen zu einer politischen Gerichtsbarkeit innerhalb der aus Zentrum, SPD und DDP gebildeten Koalition des 2. Kabinetts Joseph Wirths schon vor dem eigentlichen Anlass der Ermordung Rathenaus gediehen waren, zeigt die Tatsache, dass bereits zwei Tage später (am 26. Juni 1922) die Republikschutzverordnung in Kraft trat, die den vorläufigen Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik einrichtete. Das Republikschutzgesetz wies dem Staatsgerichtshof eine Kombination aus strafgerichtlichen und quasi-verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten zu: Zum einen sollte er die Zuständigkeit für Staatsschutzsachen bei einem reichsrechtlichen Spruchkörper konzentrieren und soweit wie möglich den Ländern entziehen. Die Länder waren nach § 13 Abs. 1 RepSchG nur noch für solche Straftaten zuständig, die sich ausschließlich gegen Landesverfassungen und -verfassungsorgane richteten. Und selbst in diesem Fall konnten sie die Sache dann an das Reich übertragen. Gleichzeitig schuf das Gesetz mit den Gewalttätigkeiten gegen „Mitglieder der republikanischen Regierung des Reichs oder eines Landes“ eine neue Gruppe von Tatbeständen, die auf den Erfahrungen der Jahre 1919 – 1922 beruhten. Hinzu kamen verwaltungsrechtliche Zuständigkeiten des Gerichtshofs, was unter anderem auch damit zu tun hatte, dass die in Art. 31 Abs. 2, 166 WRV vorgesehene Einrichtung
40
Ludwig Ebermayer, in: Reichs-Strafgesetzbuch, 4. Aufl. 1929, § 81 Ziff. 4. Ebermayer (Fn. 40), § 81 Ziff. 5. 42 Verordnung v. 26. Juni 1922, RGBl. I S. 521. 43 Grundlegend aufgearbeitet bei Ingo Hueck, Der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik, 1996; Sven Großmann, Die Weimarer Reichsverfassung und das Strafrecht, in: Koch/ Kubiciel/Löhning (Fn. 37), S. 37 (50 f.). 41
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eines Reichsverwaltungsgerichts stockte.44 Insbesondere sollte der Staatsgerichtshof in ähnlicher Weise, wie es heute § 50 Abs. 1 Nr. 2 VwGO für Vereinsverbote vorsieht, in erster und letzter Instanz über das Verbot verfassungsfeindlicher Versammlungen und Vereine entscheiden. Diese Zusammenfassung von Funktionen und strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Zuständigkeiten war allerdings nicht nur eine Verlegenheitslösung angesichts des Fehlens einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit des Reiches, sondern gerade der Sinn des Staatsgerichtshofs. Die politische Justiz zur Bekämpfung von Verfassungsfeinden sollte zwischen den Typen eines Staatsschutzsenats beim Strafgericht und einem Staatsgerichtshof, den es seit 1921 aufgrund Art. 108 WRV bereits gab, eine dritte Form von explizit politischer Justiz einführen. Im Unterschied zur Straf- und Staatsgerichtsbarkeit sollten nur drei der neun Richter des Staatsgerichtshofs zum Schutz der Republik Berufsrichter sein, die anderen politische Mitglieder. Dabei zielten die Initiatoren des Republikschutzgesetzes gerade nicht auf die Wiederbelebung von tradierten Forderungen nach einer Laienjustiz, sondern auf die Einrichtung einer parlamentarisierten und demokratisierten politischen Sonderjustiz gegen Verfassungsfeinde durch die maßgebliche Beteiligung von politischen Richtern.45 Die Forderung nach der Beteiligung von Laien in der ordentlichen Gerichtsbarkeit war ein altes Desiderat der sozialdemokratischen Justizpolitik, die ihre Erfahrungen mit der Justiz des Kaiserreichs nicht vergessen hatte.46 Der damalige Reichsjustizminister Gustav Radbruch47 brachte das in einer Antwort auf einen Änderungsantrag des bayerischen BVP-Abgeordneten Erich Emminger in der Reichstagsverhandlung über das Republikschutzgesetz deutlich zum Ausdruck: Es werde bei der Ernennung der Laienrichter „darauf Bedacht genommen werden, daß nach Möglichkeit alle Richtungen der Staatsauffassung, soweit sie auf dem Boden der Republik stünden, Berücksichtigung fänden“. Parlamentarischen Bedenken gegen die Ernennung von Reichstagsabgeordneten zu Mitgliedern des Staatsgerichtshofs kam er auf der anderen Seite entgegen und versicherte, „künftig darauf Bedacht [zu nehmen], die Heranziehung von Volksvertretern schon wegen ihrer sonstigen Belastung möglichst einzuschränken und prominente Persönlichkeiten aus anderen Volkskreisen heranzuziehen.“48 Bei der Besetzung des Gerichts war also von vornherein nur an solche Persönlichkeiten gedacht, die Radbruchs Kriterium der „republikanischen 44 Hierzu Wolfgang Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht. Ein Beitrag zur Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland, 1991. 45 Ingo Hueck, Der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik, 1996, S. 66 ff. 46 Uwe Wilhelm, Das Deutsche Kaiserreich und seine Justiz. Justizkritik – politische Strafrechtsprechung – Justizpolitik, 2010, S. 40 ff. 47 Zu seinen strafrechtspolitischen Orientierungen in Weimar zuletzt Sascha Ziemann, Strafrechtsreformer und revolutionärer Charakter. Gustav Radbruchs Ideen für ein postrevolutionäres Strafrecht, in: Koch/Kubiciel/Löhning (Fn. 37), S. 235 ff. 48 Plenarprotokolle des Reichstages, 247. Sitzung 10. 7. 1922, 8399C.
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Zuverlässigkeit“49 erfüllten. Diese Laienmitglieder wurden zwar vom Reichspräsidenten ernannt, der dabei aber in Abstimmung mit der Reichsregierung – also zunächst mit der Weimarer Koalition – handelte.50 Zur Besetzung des Gerichts51 gehörten deswegen in erster Linie prominente Parlamentarier der Regierungsparteien wie der Zentrumspolitiker Constantin Fehrenbach, der Präsident der Weimarer Nationalversammlung und 1920 – 21 Reichskanzler gewesen war, oder drei SPD-Politiker mit engen Verbindungen zu den Gewerkschaften, aber auch der für die DVP im Reichstag sitzende Münchener Strafrechtler Fritz van Calker. Der Staatsgerichtshof blieb aber Episode. 1926 wurden seine Zuständigkeiten durch Reichsgesetz ausnahmslos auf das Reichsgericht übertragen. Für das Scheitern dieses Experiments einer Sonderjustiz für Verfassungsfeinde gibt es zunächst innenpolitische Gründe. Die SPD, die unter Ebert und unter Reichsjustizminister Radbruch die treibende Kraft hinter dem Projekt gewesen war, war seit dem November 1923 und bis 1928 nicht mehr an der Regierung beteiligt, und 1925 verlor sie bekanntlich auch das Amt des Reichspräsidenten. Die bürgerlichen Parteien und die Rechtsparteien wollten das Primat der ordentlichen Justiz restituieren. Die KPD war aus ganz anderen Gründen gegen den Staatsgerichtshof und für eine Amnestie aller von ihm Verurteilten: Häufiger als Sympathisanten der Rechtsparteien waren ihre Mitglieder unter den Verurteilten gewesen.52 Auch scheiterte die Parlamentarisierung und Politisierung der politischen Justiz am Ende an strukturellen Defiziten des Staatsgerichtshofs. Die politischen Mitglieder des Gerichts hatten infolge häufiger Personalwechsel nur geringen Einfluss, und nachdem die Weimarer Koalition ihre Mehrheit verloren hatte, war die Idee einer parlamentarischen Rechtsprechung ohnehin unplausibel geworden.
3. Carl Schmitts Existenzialisierung der Verfassungsfeindschaft und die Ursprünge der wehrhaften Demokratie Die Sprache der Weimarer Koalition und das institutionelle Experiment eines Staatsgerichtshofs zum Umgang mit Kriminalität und Organisationen republikund verfassungsfeindlicher Tendenz wurde hier deswegen so ausführlich referiert, weil diese Quellen zeigen, dass die begriffliche Verschiebung von „Staatsfeind“ und „Hochverrat“ hin zu „Verfassungsfeind“ im Grunde schon abgeschlossen oder doch im verfassungstreuen Lager weit fortgeschritten war, bevor Carl Schmitt sie in seiner Verfassungslehre 1928 dogmatisierte und auf den von ihm sogenannten „ab-
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Siehe Gustav Radbruch, Der innere Weg, S. 164. Zur Diskussion um das Besetzungsverfahren Hueck, S. 67 ff. 51 Hierzu eingehend Hueck, (Fn. 50), S. 98 ff. 52 Siehe nochmals Hueck, (Fn. 45), S. 196 ff. 50
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soluten Verfassungsbegriff“ bezog53 – womit er freilich politisch eine ganz andere Stoßrichtung verfolgte als die Weimarer Koalition. Wenn die Verfassung, so Schmitt, und nicht einzelne staatliche Einrichtungen oder die Person des Monarchen das wahre Schutzobjekt des Hochverratstatbestandes sind, so können diese politischen Delikte nur als Angriff auf die verfassunggebende Gewalt des Volkes interpretiert werden, als ein Angriff auf die „politische Einheit eines Volkes“, die „in der Verfassung ihre konkrete Existenzform“ hat.54 Denn: „Vor jeder Norm steht die konkrete Existenz des politisch geeinten Volkes.“ Wenn die politische Einheit hergestellt wird durch die Unterscheidung von Freund und Feind,55 dann ergibt sich die Kategorie des Verfassungsfeindes als eine Schlussfolgerung aus dieser Lehre von der verfassunggebenden Gewalt. Das aber bedeutet: Der Feind des politisch geeinten Volkes ist immer und notwendigerweise auch der Verfassungsfeind. Die geläufigste Form fand diese Theorie der Verfassungsfeindschaft dann 1932 in der Schrift „Legalität und Legitimität“. Die Befugnis zur Feststellung der Verfassungsfeindlichkeit sei kein unpolitischer Vorgang, sondern selbst eine legale Prämie auf den Machtbesitz, die „in ruhigen und normalen Zeiten relativ berechenbar, in abnormer Situation ganz unberechenbar und unabsehbar“ funktioniert,56 und zwar insbesondere dann, wenn es im Parlament nicht mehr Mehrheit und Minderheit mit „einer beiderseitig gleich legalen Gesinnung“ gibt.57 Dann nämlich „gibt es keinen Ausweg mehr. Die im legalen Besitz der staatlichen Machtmittel stehende Mehrheitspartei muß annehmen, daß die Gegenpartei, wenn sie ihrerseits in den Besitz der legalen Macht gelangt, die legale Macht dazu benutzen werde, um sich im Besitz der Macht zu verschanzen und die Tür hinter sich zu schließen, also auf legale Weise das Prinzip der Legalität zu beseitigen. Die den Besitz der Macht erstrebende Minderheit behauptet, daß die herrschende Mehrheit das gleiche längst getan habe; sie erklärt damit, explicite oder implicite, von sich aus die bestehende staatliche Macht für illegal, was keine legale Macht sich bieten lassen kann. So wirft im kritischen Moment jeder dem andern Illegalität vor, jeder spielt den Hu¨ ter der Legalität und der Verfassung. Das Ergebnis ist ein legalitäts- und verfassungsloser Zustand.“
Nicht nur hängt nach dieser Vorstellung bekanntlich die Überlebensfähigkeit eines jeden Verfassungssystems an seiner Fähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden. Diese Fähigkeit ist überhaupt nur innerhalb einer relativen institutionellen Normallage gegeben, aber nicht mehr, wenn die Feindschaft nicht mehr staatlich gehegt ist. Für die Weimarer Republik der Regierung Papen formulierte er darum die anstehende „Entscheidung“ zwischen der „Wertneutralität eines nur noch funktionalisti53 Hierzu zuletzt unter anderem William Rasch, Carl Schmitt’s Defense of Democracy, in: The Oxford Handbook of Carl Schmitt, New York 2017, S. 312 (320 – 327); Benjamin Schupmann, Carl Schmitt’s State and Constitutional Theory, Oxford 2017, S. 140 – 146. 54 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 119 – 121. 55 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932). Unveränderter Nachdruck, 1963, S. 26 ff. 56 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, S. 33. 57 Schmitt (Fn. 56), S. 35. Dort auch das folgende Zitat.
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schen Legalitätssystems bis zur absoluten Neutralität gegen sich selbst, […] Neutralität bis zum Selbstmord“ einerseits und andererseits einer autoritären, die verfassungsfeindliche Mehrheit bewusst ihrer Herrschaft über die Legalität beraubenden nationalen Identitätspolitik: Definition eines substanzhaften, materiellen Verfassungskerns, Verbot verfassungsfeindlicher Parteien und verfassungsfeindlicher Zielsetzungen sowie Suspendierung der Chancengleichheit von Verfassungsfeinden.58 Gerade in diesen Positionen der späten Weimarer Zeit wird Schmitts Existenzialisierung des Verfassungsfeindes besonders deutlich, erhoffte er sich doch als Verteidigung gegen den Verfassungsfeind nur eine plebiszitäre Präsidialdiktatur, aber nicht etwa eine Verfassungsgerichtsbarkeit. Diesen Gedanken hat dann der in Weimar der DDP nahestehende Jurist Karl Loewenstein59 in einem zweigeteilten großen Aufsatz im US-amerikanischen Exil, 1937 in der American Political Science Review erschienen, zu Lehre von der wehrhaften Demokratie fortgebildet und damit wieder für das verfassungspolitische Erbe der Weimarer Koalition reklamiert.60 Er bezog sich zwar positiv auf einige Grundgedanken von Schmitts Legitimitätstheorie,61 namentlich die Vorstellung, dass kein Staat von Rechts wegen Freiheiten gewähren kann, sofern ihre Ausübung ihn in seiner Existenz bedroht. Jedoch löste er das Kriterium der Feindschaft wieder von einer existenziellen, politisch unbestimmten Vorstellung von Verfassung ab und bezog es auf eine bestimmte Verfassungsordnung, nämlich die liberale Demokratie. Mit Blick auf die Weimarer Erfahrungen heißt es dort: „Democracy was unable to forbid the enemies of its very existence the use of democratic instrumentalities. Until very recently, democratic fundamentalism and legalistic blindness were unwilling to realize that the mechanism of democracy is the Trojan horse by which the enemy enters the city. To fascism in the guise of a legally recognized political party were accorded all the opportunities of democratic institutions.“62
Dem entsprachen Loewensteins Vorstellungen von Institutionen, mit denen Verfassungsfeinden konkret etwas entgegengesetzt werden kann. Nicht autoritäre politische Entscheidungen einer plebiszitären Staatsspitze, sondern gezielte legale Schranken, um paramilitärische und extremistische Taktiken der Opposition zu ver-
58 Vgl. Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 113; ders., Legalität und Legitimität (Fn. 56), S. 47 f.; dazu u. a. Stefan Korioth, Rettung oder Überwindung der Demokratie – die Weimarer Staatsrechtslehre im Verfassungsnotstand 1932/33, in: Christoph Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2000, S. 524 ff. 59 Werner Sollors, The Temptation of Despair. Tales of the 1940 s, Cambridge 2014, S. 152 – 182. 60 Karl Loewenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights, in: American Political Science Review 31 (1937), S. 417 – 432 und S. 638 – 658. 61 Hacke, (Fn. 14), S. 214 ff.; Jan Werner Müller, Militant Democracy, in: The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, (Fn. 6), S. 1253 (1256 – 1259). 62 Loewenstein (Fn. 60), S. 417 (424).
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hindern, insbesondere durch Grundrechtsverwirkung und Parteiverbote.63 Was er dagegen nicht wiederbelebte, war die im Republikschutz gescheiterte Vorstellung einer unter der Kontrolle des Parlaments stehenden politischen Justiz, die sich auch institutionell nicht mehr manifestierte: Gerade in der Bundesrepublik sollte es keine Sondergerichtsbarkeit, sondern vielmehr die Verfassungsgerichtsbarkeit sein, die zur zentralen Instanz der gegen Verfassungsfeinde „wehrhaften“ Demokratie wurde. Bei Karl Loewenstein und der Rezeption dieses Gedankens in der deutschen Nachkriegszeit beginnt die sehr viel geläufigere Geschichte der wehrhaften Demokratie.64 Diese Geschichte ist aber im Gegensatz zu einer verbreiteten Fehlvorstellung kein Bruch des Parlamentarischen Rates und der frühen Bundesrepublik mit der Weimarer Verfassungstradition, sondern im Gegenteil deren Fortsetzung.65 Seit das Bundesverfassungsgericht in den fünfziger Jahren in den beiden Parteiverbotsurteilen aus der Verfassungswidrigkeit des Art. 21 Abs. 2 GG die „Verfassungsfeindlichkeit“ machte,66 handelt es sich dabei um einen etablierten verfassungsrechtlichen Begriff. Die „neueste Entwicklung“, so das Gericht im KPD-Urteil, habe gezeigt, „daß auch die freiheitlichen Demokratien an dem praktisch-politischen Problem der Ausschaltung verfassungsfeindlicher Parteien aus dem politischen Leben nicht vorübergehen können, sobald die Staatsgefährlichkeit einen bestimmten Grad erreicht hat. Der Weg zur Lösung ist nicht überall derselbe. Bisweilen wird eine bestimmte Partei, von der nach der geschichtlichen Erfahrung eine feindliche Einstellung zu einer freiheitlichen Staatsordnung ohne weiteres vorausgesetzt werden darf, in bewußter Ausnahmeregelung schon in der Verfassung selbst verboten (so in Italien die Faschistische Partei); häufiger wird – neben dem auf äußerste Fälle beschränkten strafrechtlichen Einschreiten – durch Spezialgesetze oder in Benutzung allgemeiner verfassungsrechtlicher Ermächtigungen auch administrativen Instanzen der Zugriff auf verfassungsfeindliche politische Parteien eröffnet. So ist die Kommunistische Partei in den Jahren 1939 und 1940 in Frankreich und in der Schweiz durch Regierungsverordnung verboten worden. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist sie zur besseren Überwachung ihrer Tätigkeit als umstürzlerische Organisation einer Registrierungspflicht unterworfen.“67
Waren diese Entscheidungen noch einer einmaligen politischen Lage zuzuordnen, so gehört der Begriff der Verfassungsfeindlichkeit spätestens seit den Auseinandersetzungen um den Radikalenerlass zur politisch-sozialen Sprache der Bundesrepu-
63 Augustin Simard, Das Erbe von Weimar aus transatlantischer Perspektive, in: Manfred Gangl (Hrsg.), Die Weimarer Staatsrechtsdebatte, Baden-Baden 2011, S. 267. 64 Hierzu zuletzt Michael Dreyer, Streitbare Demokratie als Weimar-Antidot, in: Alexander Gallus/Sebastian Liebold/Frank Schale (Hrsg.), Vermessungen einer Intellectual History der frühen Bundesrepublik, 2020, S. 81 – 100. 65 Dreyer (Fn. 64), S. 85. 66 Josef Foschepoth, Verfassungswidrig. Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg, 2017. 67 BVerfGE 5, 85 (136 f.) – KPD-Verbot (1958).
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blik.68 Es ließe sich geradezu eine Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik im Spiegel ihrer wechselnden Verfassungsfeinde schreiben, die von Zeit zu Zeit definiert wurden.69 Unterdessen ist zwar nicht das Prinzip der wehrhaften Demokratie, wohl aber die Verknüpfung mit der Kategorie des Verfassungsfeindes oder der Verfassungsfeindlichkeit eine deutsche Besonderheit geblieben. In den anderen Sprachen des westlichen Konstitutionalismus gibt es keine vergleichbar stabile und formelhafte Zuordnung von „Verfassung“ und „Feind“. Eine deutsche Besonderheit besteht vor allem darin, dass der Begriff des Verfassungsfeindes im Laufe des 20. Jahrhunderts alle anderen konkurrierenden Begriffe verdrängt hat. Die Kategorien von Hochverrat, Landesverrat, Staatsfeindlichkeit oder Umsturz sind mehr oder weniger aufgegangen in dem Begriff der Verfassungsfeindlichkeit oder Verfassungsfeindschaft, wenn man einmal vom Tatbestand der Volksverhetzung absieht. Doch selbst das Schutzgut des § 130 StGB wird nicht anders als durch Rückgriff auf den Verfassungskern definiert.70 Volksverhetzer sind also Verfassungsfeinde, Verfassungsfeinde sind latente Volksverhetzer.
IV. Strukturbedingungen der Politik der Verfassungsfeindschaft Es hat sich gezeigt, dass die moderne Formel der Verfassungsfeindlichkeit in der Zwischenkriegszeit entstanden ist und dass sie vor allem in der Weimarer Republik sowie bei dem Weimarer Exilautor Karl Loewenstein geprägt wurde. Es stellt sich daher zum einen die Frage, welche Bedingungen gerade in der Zwischenkriegszeit dazu geführt haben, dass extreme politische Gegner als Verfassungsfeinde identifiziert wurden, zum anderen, warum diese Begrifflichkeit deutsches Sondergut geblieben ist. Eine Antwort auf beide Fragen soll hier zumindest skizziert werden.
68 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. IV, 2012, S. 313 f. 69 Einiges dazu bei Frank Biess, Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, 2019, S. 193 ff. 70 Vgl. etwa Jürgen Schäfer, in Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 2, 2. Aufl. 2012, § 130 Rn. 1 – 8, der insbesondere das Schutzgut der Menschenwürde als verfassungsrechtliche Vorgabe deutet und dieses dementsprechend als vorausliegende und sämtliche Tatvarianten umschreibende Tatbestandsvoraussetzung ansieht.
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1. Verfassungsfeinde als Kinder der Massendemokratie: Zwischen Existenzialisierung und Justizialisierung Warum tritt die Figur des Verfassungsfeindes gerade in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg auf? Carl Schmitt hat die Herausbildung dieser Kategorie mit der Auswechselung der Souveränität in Verbindung gebracht. In der Monarchie, in der der Monarch Träger der verfassunggebenden Gewalt ist, „ist ein Angriff auf die Person des Monarchen ohne weiteres ein Angriff auf die Verfassung selbst“, eine selbständige, vom Hochverrat abgelöste Vorstellung von Verfassungsfeindlichkeit ist sozusagen entbehrlich.71 Die Anerkennung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes bedeute aber gleichzeitig den Abbau der persönlichen Herrschaft. Erst dieses souveräne Volk, das durch Verfassunggebung zu seiner Form der Einheit gelangt, muss darum definieren, wer diese Einheit in Frage stellt. Im gleichen Augenblick, in dem die Verknüpfung der politischen Einheit mit der Verfassung analytisch hergestellt ist, kippt das Subjekt dieser politischen Einheit vom „demos“ zum „ethnos“.72 Oder, wie der berühmte Satz aus der Parlamentarismusschrift von 1926 lautet: „Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, daß nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.“73
Das hieße also, analytisch gewendet: Die Kategorie der Verfassungsfeindschaft entsteht gerade in der Moderne, weil das radikal grundlos sich selbst konstituierende politische Subjekt seine Zugehörigkeit radikal nur noch mit seiner eigenen Grundentscheidung begründen kann und deswegen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit nicht anders als durch das Abstraktum dieser Grundentscheidung, also die Verfassung, definieren kann. Schmitts These erklärt zweifellos den Gegensatz zwischen Majestätsbeleidigung und Hochverrat auf der einen und dem Verfassungsfeind einer parlamentarischen Demokratie auf der anderen Seite. Sie erklärt jedoch nicht, warum die Abstraktion der Verfassung, nicht aber der politische Sinn jener Grundentscheidung das Kriterium der Feindschaft sein kann: Warum heißen Verfassungsfeinde nicht Republikfeinde, Demokratiefeinde oder Staatsfeinde? Schmitts Theorie impliziert nämlich, dass der politische Sinn der Grundentscheidung einer Massendemokratie nur existenziell, nicht aber normativ gehaltvoll sein kann.74 Darin liegt der eigentliche Gegensatz zwi-
71
Schmitt, Verfassungslehre (Fn. 54), S. 119. Siehe dazu Ulrich K. Preuß, Carl Schmitt – Die Bändigung oder Entfesselung des Politischen? in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Mythos Staat. Carl Schmitts Staatsverständnis, 2. Aufl. 2015, S. 137 – 162 (152). 73 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), 2. Aufl. 1926, S. 13 f. 74 Siehe dazu nochmals Preuß (Fn. 72). 72
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schen seiner Theorie der Verfassungsfeindschaft und jener Anschütz‘ oder der Weimarer Koalitionsparteien. Sehr im Gegensatz zu Schmitt ließ sich diese Abstrahierung politischer Gegnerschaft zur Verfassungsfeindschaft aber auch als Kehrseite einer Justizialisierung des Schutzes der politischen Ordnung gegen ihre Gegner deuten: Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Vorstellung, dass die „wehrhafte Demokratie“ eine Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit ist oder doch zumindest stark von der Reichweite justizieller Funktionen abhängt, immer selbstverständlicher geworden. Das war sie am Beginn der Zwischenkriegszeit aber noch keineswegs. Noch Art. 68 der Reichsverfassung 1871 hatte das Preußische Gesetz über den Belagerungszustand zu Reichsverfassungsrecht erhoben. Die auf ihm beruhenden Eingriffsbefugnisse der politischen Polizei im Vereins-, Versammlungs- und Presserecht und die militärische Standgerichtsbarkeit wurden – nach der Beendigung des Belagerungszustandes durch den Rat der Volksbeauftragten75 – schließlich erst durch die Weimarer Verfassung aufgehoben. So begleitet die Herausbildung einer normativen Vorstellung von Verfassungsfeindlichkeit auch eine ebenso grundsätzliche wie folgenreiche Verschiebung von Autorität im Verfassungsstaat während des 20. Jahrhunderts, nämlich die Verschiebung der Funktion des Hüters der Verfassung von Exekutive und Militär auf die Judikative. Sie vollzog sich zwischen den zwanziger und fünfziger Jahren in relativ kurzer Zeit und ist in ihren Gründen bis heute wohl nicht abschließend geklärt. Sind es in erster Linie die Erfahrungen mit einer tief in die Ausnahmezustände dieses Jahrhunderts verstrickten Regierungs- und Verwaltungsmacht, die die Exekutive als Hüter der Verfassung diskreditiert haben? Oder hängt sie vielmehr von einer qualitativen Veränderung von Verfassungsgefährdungen ab, die mit dem Auftreten der großen ideologischen Massenparteien um die Jahrhundertwende zu tun hat? Oder hängt diese Justizialisierung des Verfassungsschutzes vor allem mit der Materialisierung des Verfassungsrechts zusammen?
2. Weltanschauungsparteien und die Verfassung als Parteibegriff Die Figur des Verfassungsfeindes könnte enger mit dem politischen System der Weimarer Republik und ihrem Verfassungsbegriff zusammenhängen als mit einer populistischen Theorie moderner Massendemokratie überhaupt. Das moderne politische System, das sich in Deutschland seit dem Kaiserreich herausgebildet hat, unterscheidet sich unter anderem durch seinen Organisationsgrad von seinen Vorläufern. Parteien und andere Massenorganisationen sind um die Jahrhundertwende in zunehmendem Maße auch jenseits der Arbeiterbewegung zu den bestimmenden politischen Akteuren geworden. Im Laufe weniger Jahrzehnte ist in der industriellen Gesellschaft des Kaiserreichs der für das 20. Jahrhundert so charakteristische Kor75 Aufruf des Rats der Volksbeauftragten an das deutsche Volk vom 12. 11. 1918, RGBl., S. 1303.
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poratismus der Parteien und Verbände entstanden.76 Diese Organisationen treten, wie zuerst Max Weber mit allen Konsequenzen erkannte,77 im politischen Feld der Hochmoderne, vor allem aber in der Zwischenkriegszeit, typischerweise als Weltanschauungsparteien und weltanschaulich orientierte Verbände auf. Gerade im Umgang mit ihnen verfangen die älteren Vorstellungen von politischer Kriminalität, von Hochverrat und Umsturz, aber auch die parlamentarischen Formen und tradierte Grundrechtsvorstellungen jedoch nicht mehr.78 Das Strafrecht ist ungeeignet, um das politische Handeln von Organisationen und ihren Weltanschauungen zu erfassen. Die Politik der Verfassungsfeindschaft zielt hierauf ab, nämlich auf die Exklusion von Organisation, das heißt von Parteien und Vereinigungen aus dem politischen Raum. Nicht zuletzt die Verfassungsfeinde der Zwischenkriegszeit sahen in der Verfassung nämlich weniger eine Organisationsform als einen Platzhalter der liberalen Moderne und ihrer Rechts- und Gesellschaftsvorstellung. Berühmt geworden ist Joseph Goebbels‘ hasserfüllte Tagebuchnotiz aus dem Sommer 1932: „11. August. Letzter Verfassungstag. Laßt ihnen die kurze Freude“. Das ist nun allerdings keine auf Deutschland beschränkte Entwicklung. Sie ist so oder so ähnlich in vielen europäischen Ländern eingetreten. Giovanni Capoccia hat in einer vergleichenden Studie zur Tschechoslowakei, Finnland und Belgien gezeigt, dass die politischen und verfassungsrechtlichen Maßnahmen gegen politische Extremisten sich oft entsprachen:79 verfassungsrechtliche Befugnisse für den Ausnahmezustand, Parteiverbote, Strafvorschriften gegen ausländische Propaganda und die Verherrlichung von politischen Verbrechen und Gesetzgebung gegen paramilitärische Verbände und ihr öffentliches Verhalten. Warum hat sich dann nur in Deutschland diese Vorstellung von Verfassungsfeindschaft entwickelt? Schließlich ist die Vorstellung, dass Ordnungen und Staaten Gegner haben, sehr normal. Und seit der Studie von Clinton Rossiter über die konstitutionelle Diktatur ist mehrfach gezeigt worden, dass das begrenzte Verfassungsrecht des Ausnahmezustands schon in der 76 Dazu einiges in dem Band: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918 – 1939, 2005. 77 Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, 1918, S. 99 – 131, insbes. 101 ff. 78 Horst Dreier, Die Zwischenkriegszeit, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa. Bd. I: Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, Rn. 1: „Nicht Parlamentarismus und Demokratie, nicht Grundrechte und Verfassungsstaat bildeten das Signum der Epoche, sondern ein Schwanken zwischen Extremen, massiven Gewißheitsverlusten, verbunden mit dem verbreiteten Glauben an etwas Neues, Anderes, Besseres. So traten neben den politischen Parteien herkömmlicher Art neue politische Akteure auf den Plan: Bewegungen, movementos, Brigaden, Bünde, denen die ,antidemokratische Stoßrichtung‘ gemein war. Weder Parlamentarismus noch Grundrechte galten als unverrückbare Grundsätze oder doch Zielpunkte der Entwicklung. Die Zwischenkriegszeit markiert, insgesamt betrachtet und knapp gesagt, die Epoche des Niedergangs und der Krise des Liberalismus – und Deutschland befand sich nicht auf einem Sonderweg, sondern im ,mainstream‘.“ 79 Giovanni Capoccia, Defending Democracy. Reactions to Extremism in Interwar Europe, Baltimore 2005.
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Zwischenkriegszeit eine demokratische Normalität war.80 Gleichwohl hat sich die abstrakte Figur des Verfassungsfeindes vor allem in Deutschland entwickelt. Das könnte mit Eigenarten des Verfassungsbegriffs der Weimarer Republik zusammenhängen. Zum einen hatte die Verfassung sozusagen keinen integrierenden Namen für das, was Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit markieren sollte. Insbesondere die politische Semantik der „Republik“ hatte bekanntlich nur eine geringe Integrationskraft. So blieb von der stehenden Wendung „republikfeindlich oder verfassungsfeindlich“ aus der Rhetorik des Republikschutzgesetzes auf längere Sicht nur letzteres übrig. So ließ sich der gefährliche Grad der politischen Feindschaft extremistischer Organisation eben nur durch das Abstraktum „Verfassung“ definieren. Zum anderen aber hängt die Abstraktion der Verfassungsfeindschaft mit der in Deutschland seit dem konstitutionellen Staatsrecht verbreiteten Vorstellung zusammen, dass sich eine Verfassung weniger als Institution politischer Herrschaft denn durch ihren materiellen Gehalt legitimiert. Wenn das politische Prinzip der konstitutionellen Verfassungen weniger in der Begründung politischer Herrschaft als in ihrer Festlegung auf bestimmte Zwecke und Begrenzungen bestand, dann definiert dies die rechtlich entscheidenden Bestandteile des Verfassungsbegriffs: Grundrechte, Vorbehalt, Gesetzesbegriff. Dagegen vermittelte dieser Verfassungsbegriff zu wenig Legitimation für die Gestaltungsmacht von politischen Mehrheiten. Der deutsche Verfassungsbegriff war im Konstitutionalismus immer ein Stück weit ein Parteibegriff des Liberalismus geblieben. Vor allem die Liberalen hatten ja eine sehr konkrete Vorstellung, was eine Verfassung sein sollte: Schutz gegen die Politik. Die Verfassung war also über eine lange Zeit vor allem Sache und Programm einer politischen Richtung gewesen. Das ändert sich in der Weimarer Zeit nur in der Sache, nicht aber in der Form. Verfassung soll vor allem Schutz gegen die Politik bieten, und das heißt: gegen die Politik im Allgemeinen ebenso wie im Besonderen gegen die Politik der Verfassungsfeinde. Anders gesagt: Die in der wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes dann operabel gemachte Vorstellung von Verfassungsfeindschaft ist eben das Korrelat des „Verfassungspatriotismus“81, also einer spät demokratisierten Gesellschaft, die sich nie als Republik verstanden hat.
80 Clinton Rossiter, Constitutional Dictatorship. Crisis Government in Modern Democracies (1948), 2002; David Dyzenhaus, States of Emergency, in: Rosenfeld/Sajo, The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, (Fn. 32), S. 442 ff.; s. a. Anna-Bettina Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 85 ff. m. w. N. 81 Dieser Begriff geht zurück auf Dolf Sternberger, Begriff des Vaterlands, in: Die Wandlung 2. Jg. (1947), S. 494 – 511 und wurde vor allem von Habermas popularisiert. Zu dieser Begriffsgeschichte Jan-Werner Müller, Verfassungspatriotismus 2010.
Diskussion Dieter Gosewinkel: Ich begrüße Sie, Herr Meinel, nochmals ganz herzlich, auch als neu aufgenommenes Mitglied der Vereinigung, und bedanke mich sehr für Ihren Vortrag und auch für die pointierte These am Schluss. Wir haben leider nur knapp bemessene Zeit zur Diskussion, da Herr Meinel aus zwingenden dienstlichen Gründen gleich nach Würzburg zurückfahren muss. Ewald Grothe: Vielen Dank, Herr Meinel, für Ihren konzisen Vortrag. Ich habe etwas Probleme mit dem zweiten Abschnitt „Verfassung und Feind im 19. Jahrhundert“. Sie haben ja versucht, einen deutlichen zeitlichen Wandel zu zeigen. Feinde der Verfassung seien im 19. Jahrhundert sozusagen Staatsfeinde gewesen und dann eben nach 1918 die Verfassungsfeinde. Ich glaube, dass es den Begriff und den Zusammenhang schon im 19. Jahrhundert viel deutlicher gibt, und würde Sie vielleicht bitten, noch etwas stärker Ihre These zu pointieren. Meine Gegenthese wäre: Es gibt eben, Sie haben es am Ende auch erwähnt, die Verfassungsfreunde, die sich übrigens auch so nennen im 19. Jahrhundert. Das sind die Liberalen, die für eine Verfassung eintreten, die dafür kämpfen in jeder Hinsicht und sich vor allen Dingen natürlich in den Parlamenten für den Erhalt der Verfassung einsetzen. Und sie treten, solange es noch keine Verfassung gibt, dafür ein, dass eine zustande kommt. Die Liberalen bezeichnen eben ihre Gegner als Feinde und auch explizit, wenn auch vielleicht nicht in der Wortkombination, als Feinde der Verfassung, die sie anstreben. Der Unterschied zwischen der Zeit vor 1918 und nach 1918 ist, dass eben vor 1918 der Liberalismus zwar eine wichtige, aber nicht die dominierende Kraft in den jeweiligen deutschen Staatsgebilden, Einzelstaaten oder im Reich ist, aber nach 1918 der Liberalismus sehr wohl in der Weimarer Koalition zunächst mitregiert. Auf jeden Fall wird dann politisch durchgesetzt, was der Liberalismus, natürlich nicht in seiner Gesamtheit, aber doch einige Liberale, erstrebt haben. Da müsste man jetzt differenzieren zwischen eher Demokraten und eher Liberalen, die vor 1918 nicht für eine parlamentarische Monarchie eingetreten sind. Aber das wäre ein eigenes Thema. Wie gesagt, ich sehe den Gegensatz, den Sie aufgemacht haben, nicht so deutlich, nicht so in der Schärfe der Trennung vor 1918 und nach 1918, weil es den Begriff „Verfassungsfeinde“ auch vorher schon gibt. Florian Meinel: Besten Dank für Ihre wichtigen Hinweise zur Begrifflichkeit im 19. Jahrhundert: Was damals aber noch fehlt, ist ein Begriff von „Verfassungsfeind“, der in Anspruch genommen wird, um für den politischen Verband, für die Politik sozusagen, eine Extremposition des Ausschlusses zu formulieren. Es ist eben in der Tat,
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wie Sie gesagt haben, noch eine Bezeichnung für die parteipolitische Auseinandersetzung des Liberalismus mit seinen Gegnern. Der Begriff ist Teil einer oppositionellen Begrifflichkeit. In der Weimarer Republik wird er zu einer operativen Kategorie der Regierungspolitik gegen den inneren Feind in dem Moment, in dem die Weimarer Koalition die Voraussetzungen dafür hat, das umzusetzen. Aurore Gaillet: Danke für Ihren spannenden Vortrag. Sie haben mit Frankreich angefangen und zwar mit der Französischen Revolution und sind gegen Ende auf die deutsche Besonderheit eingegangen. Die Idee „Verfassungsschutz, Verfassungsfeind“ ist in Frankreich nicht so häufig. Daher würde mich Ihre Meinung dazu interessieren. Hat die deutsche, spät demokratisierte Gesellschaft, über die Sie gesprochen hatten, Ihrer Meinung nach etwas damit zu tun? Wie kann man das vergleichen? Die Idee eines Verfassungsschutzes existiert innerhalb der politischen Institutionen gar nicht in Frankreich. Das ist eher ein Thema politischer und theoretischer Überlegungen und heute nicht mehr ein französischer Begriff. Florian Meinel: Ich würde denken, dass sich eigentlich für einen Staat oder ein politisches Gemeinwesen, das sich in einem belastbaren Sinne als republikanisch versteht, die Notwendigkeit zu dieser Begriffsverschiebung nicht ergibt, weil die republikanische Konzeption von Verfassungsfeindschaft sich darauf beschränken kann, zu sagen: Wer die Zugehörigkeit der Bürger zu ihrem Staat negiert, ist verfassungsfeindlich. Aber brauche ich dafür das, was im 20. Jahrhundert in Deutschland passiert ist, nämlich die Aufladung dieses Begriffs mit dem materiellen Gewährleistungskern einer inhaltlich determinierten Verfassungsvorstellung? Eigentlich nicht. Ich brauche diese Begriffsverschiebung eigentlich nur dann, wenn das Gemeinwesen, das diesen Ausschluss durch Verfassungsfeindschaft markiert, gerade keine belastbare Vorstellung einer republikanischen Identität hat. Denn dann muss ich irgendwie auf andere Ressourcen gehen, und dann kommen unsere in Deutschland vertretenen Vorstellungen zum Tragen. Wenn Sie mögen, schauen Sie sich mal die Jahresberichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz an, da werden Sie staunen, was wir alles für Verfassungsfeinde haben und wo die zum Teil wohnen, zum Beispiel auch auf ganz anderen Kontinenten. Johannes Burkhardt: Mir hat sehr eingeleuchtet, was Sie vorgetragen haben und es war für mich ein Augenöffner als Frühneuzeitler, was eigentlich in der Frühen Neuzeit anders ist. Georg Schmidt hat vorgetragen, dass es den Verfassungspatriotismus nicht dem Ausdruck nach, aber der Sache nach sehr wohl, in der Frühen Neuzeit gegeben hat. Die Verfassungsfeindschaft hat es nicht gegeben. So etwas gibt es nicht in der Frühen Neuzeit. Man kann sich darum streiten, wie die Verfassung aussieht, man kann auch Reformvorschläge bringen, aber niemand stellt sich außerhalb der geltenden Verfassung, die eine kumulative, dehnbare ist. Der eigentliche Differenzpunkt ist, dass radikale politische Strömungen wie der Liberalismus in der Frühen Neuzeit noch gar nicht da waren und dadurch eine andere Form der Einheit besteht. Also vielen Dank für diesen Vortrag. Unter dem Gesichtspunkt des epochalen Vergleiches hat mir das besonders eingeleuchtet.
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Christoph Gusy: Ich fand den Vortrag extrem anregend, weil Sie eine bekannte Debatte von einem anderen Ausgangspunkt her betrachtet haben und von der anderen Seite Debatten dann natürlich auch anders aussehen. Ich würde allerdings an zwei Stellen überlegen, ob man die Diskussion eine Spur tiefer hängen muss. Das eine ist der Ausgangspunkt. Wie Sie völlig zu Recht gesagt haben, kommen die Begriffe „Freund“ und „Feind“ eigentlich aus dem Krieg. Von da hat die Unterscheidung angefangen und das findet sich beispielsweise auch bei Carl Schmitt, wo das auch hergeleitet wird. Interessant ist für mich die Konjunktur des Verfassungsfeindes 1922 unter dem Aspekt, dass hier ein aus der Außenpolitik hergeleiteter Begriff plötzlich auf die Innenpolitik übertragen wird. Anders ausgedrückt, 1922 war völlig klar: Verfassungsfeind ist, wer gegen die Republik zu den Waffen greift – in der man eben auf den liberalen und demokratischen Diskurs setzte –, und diesen Diskurs mit Waffengewalt beeinträchtigte. Das war 1922 angesichts der Attentate auf Erzberger, Rathenau usw. die klare Frontstellung. Aber es ist interessant zu sehen, dass später dann zwar dieser liberale Kern der demokratischen Öffentlichkeit in der Staatsrechtswissenschaft bei Leuten wie Hans Kelsen usw. erhalten blieb, dass aber in der politischen Semantik die Kategorie des Verfassungsfeindes wieder ganz stark zurücktrat und erst von Loewenstein im Exil wieder aufgenommen wurde. Das zweite ist, und da würde ich Sie, zugegebenermaßen, um Aufklärung bitten: Ich habe das Gefühl, dass in der neueren politischen Diskussion die Kategorie des Verfassungsfeindes sehr stark zurückgetreten ist. Das ist eine Diskussion der 70er und 80er Jahre, die gerade in liberalen Kreisen keineswegs stets auf Zustimmung, sondern auf vehemente Ablehnung stieß, die hier ganz bewusst von Feinderklärungen Abstand nehmen wollten. Ich habe den Eindruck, dass heute andere Termini an eine funktionell ähnliche Stelle getreten sind, insbesondere unsere ganzen -ismen, von Extremismus bis Islamismus und so weiter. Also anders ausgedrückt werden die Verfassungsfeinde heute hier anders bezeichnet. Die Frage ist, ob mit der anderen Semantik auch eine andere Bedeutung eine Rolle spielen könnte. Im Handbuch des Verfassungsschutzrechts von 2017 kommt der Begriff Verfassungsfeind nur noch zweimal oder dreimal vor, und das auf fast 2.000 Seiten. Meine Frage ist: Hat sich da nicht wieder etwas geändert, so dass wir die Analyse der Wirklichkeit des Grundgesetzes auch an den Rändern von der Freund-Feind-Terminologie wegkriegen müssen, um die Debatte der Gegenwart hinreichend zu erfassen? Florian Meinel: Für das Tieferhängen bin ich immer zu haben, aber in dem Fall bin ich nicht so sicher. Sie haben natürlich Recht, dass dieser Begriffswandel nicht denkbar wäre ohne die Innenpolitik der Jahre 1920 bis 1923, die ja von einer Hybridisierung der Erscheinungsformen innerer und äußerer Politik geprägt ist. Allerdings ist es auch nicht so, dass die Politik vor 1914 in allen Zeiten immer innere und äußere Feinde streng voneinander unterschieden hat. Auch das 19. Jahrhundert kennt Aufstände, Revolten, kennt massive Gegnerschaft, kennt paramilitärische Zustände. Aber es verwendet eine andere Sprache. Und das scheint mir das Bemerkenswerte zu sein. Also ja, es stimmt natürlich, dass das damit zusammenhängt, aber der Be-
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griffswandel hat eben gerade hier eingesetzt, und deshalb scheint es mir auch in diesem Zusammenhang erklärungsbedürftig. Was den zweiten Punkt angeht: Ich kenne das Handbuch des Verfassungsschutzrechts weniger gut als Sie. Ich würde aber hoffen, dass Sie Recht haben. Denn wenn der Begriff des Verfassungsfeindes jetzt im Rückzug befindlich ist, dann würde das bedeuten, dass wir heute für das Kind, das wir schützen, einen besseren Namen haben, indem wir zum Beispiel sagen, es geht um Feinde der Demokratie. Das würden wir doch hoffen, dass das so ist. Insofern finde ich das eine sehr ermutigende und erfreuliche Mitteilung, die Sie uns gemacht haben. Oliver Lepsius: Ich fand es bemerkenswert, wie Sie gezeigt haben, dass mit der semantischen Verschiebung vom Staatsfeind, Demokratiefeind oder Republikfeind zum „Verfassungsfeind“ im Grunde doch Eines einhergeht: die Verrechtlichung des Problems. Denn in dem Moment, in dem wir von Verfassungsfeinden sprechen, haben wir plötzlich neue materielle Tatbestände, die das definieren müssen. Das haben Sie sehr schön gezeigt. Wir kriegen neue Institutionen, die sich damit beschäftigen müssen, jedenfalls kann die ordentliche Gerichtsbarkeit das nicht mehr machen. Dann ringen wir um eine passfähige neue Institution für das Problem der Verfassungsfeinde. Mit der militanten oder wehrhaften Demokratie beauftragen wir am Ende das Bundesverfassungsgericht, das ja die genuin neue Institution des Grundgesetzes ist. Wir brauchen natürlich auch neue Verfahren. Der Auftrag zur Verrechtlichung der Rechtsfeindschaft versetzt das Rechtssystem in die Notwendigkeit, sowohl am materiellen Recht, als auch am Organisationsrecht und am Verfahrensrecht zu arbeiten – was natürlich auch zu einer gewissen Überforderung eines rechtsstaatlichen Rechts der Verfassungsfeindschaft führen kann. Carl Schmitt artikuliert das Gegenprojekt, die Sache gerade nicht zu verrechtlichen, und Karl Loewenstein, der sowieso immer gegen alles war, was Schmitt vorschlug, wehrte ihn mit der wehrhaften Demokratie ab und gewinnt damit sozusagen das Rennen. Dieses Vertrauen auf die Verrechtlichung der Verfassungsfeindschaft ist dann in der Praxis der Bundesrepublik enttäuscht worden. Deshalb sind Sie jetzt vielleicht verleitet zu sagen: Suchen wir besser wieder nach anderen Instrumenten! Aber ist das in der longue durée die richtige Bewertung? Ist es nicht vielleicht doch ein zivilisatorischer Fortschritt, wenn wir versuchen, solche Fragen zu verrechtlichen und sie damit auch entmoralisieren, versuchen, sie aus der potentiellen Gewaltbedrohung herauszunehmen, sie in ein Gerichtsverfahren zu überführen? Damit sind natürlich auch immer Argumentationslasten, Beweisfragen, Beweislastverteilungen verbunden. Ich denke etwa an das NPD-Verbotsverfahren. Florian Meinel: Sicher liegt in der Verrechtlichung ein zivilisatorischer Fortschritt. Doch nicht in der Verrechtlichung als solcher, sondern darin, dass hinter der Verrechtlichung belastbare politische Mehrheiten stehen. Und das scheint mir doch in der Bundesrepublik in hohem Maße der Fall gewesen zu sein, dass die Auseinandersetzung mit Verfassungsfeinden immer von überwältigenden Mehrheiten getragen war. Das ist doch der spezifische Gegensatz zum Experiment des Staatsge-
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richtshofs, wo die Verrechtlichung in dem Moment in sich zusammenbricht, als hinter dieser Institution keine Regierungskoalition mehr steht. Sobald die politische Mehrheit nicht mehr hinter der Verrechtlichung steht, ist es vorbei. Deswegen glaube ich, der zivilisatorische Fortschritt liegt – wie sonst auch nie – in der Verrechtlichung als solcher, sondern immer in dem Bürgerkonsens oder der überwiegenden Bürgerzustimmung, die hinter ihr steht. Monika Wienfort: Vielen Dank für den faszinierenden Vortrag. Ich kann aus der Lektüre von vielen Ministerialakten 1918/19 und den 20er Jahren berichten, dass dort tatsächlich meistens von Staatsverfassung die Rede ist. Den Begriff Republik gibt es nicht, das sind konservative Ministerialbürokraten, die im Wesentlichen nach der Revolution im Amt bleiben. „Revolution“ benutzen sie auch nicht, da sagen sie „Umwälzung der staatlichen Verhältnisse“. Das heißt, wichtig ist ihnen, dass der Staat erhalten bleibt, dass Bayern, Baden oder eben Preußen weiterbestehen. Das führt mich zu meinem Punkt: Könnte man nicht fragen, wenn, wie Sie das geschildert haben, die weltanschauliche Gebundenheit der Parteien wesentlich für die Formulierung von Verfassungsfreundschaft und -feindschaft verantwortlich ist, warum die Parteien nicht dazu übergehen, die Demokratie zu verteidigen? Man hat so den Verdacht, diese Parteien verteidigen ihre eigene Weltanschauung in dem Verfassungsbegriff, wie sie ihn dann entsprechen füllen. Wäre es nicht klüger gewesen, die Demokratie zu verteidigen und weniger auf die Verfassung zu blicken, zumal mit einem Verfassungsbegriff, der eben starke Kontinuitäten zum monarchischen Staat des 19. Jahrhunderts aufweist. Florian Meinel: Danke für den Hinweis zum Sprachgebrauch. Das ist nicht so wahnsinnig erstaunlich, weil sie sich über das ganze 19. Jahrhundert antrainiert hatten, entlang der Hochverratsnorm des Allgemeinen Landrechts zu argumentieren. Und die Begrifflichkeit war nun mal „Staatsverfassung“. Der zweite Punkt: Ja sicher! Aber das ist in gewisser Weise das Drama des 20. Jahrhundert, dass wir ein ganzes System von Parteien haben, die alle aus dem Kaiserreich aus einer strukturellen Minderheitenposition kommen und aus dieser Minderheitenposition heraus ein Problem damit haben, republik- und staatstragend zu werden. Das ist sicherlich so. Aber das ist im Grunde die Position, aus der heraus sie argumentieren und politisch handeln. Georg Schmidt: Vielen Dank für den faszinierenden Vortrag. Ich fasse das einmal als den „deutschen Sonderweg zum Verfassungsfeind oder zur Verfassungsfeindschaft“ zusammen. Ist das nicht eigentlich ein Plädoyer für das, was Sternberger immer wollte: Verfassungspatriotismus als Grundlage des Nationalbewusstseins der Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland, die ja fraglos eine Demokratie ist und in der mit der Verfassung dann die Demokratie verteidigt wird? Meiner Ansicht nach wird dies mit dem Begriff Verfassungspatriotismus spezifischer ausgedrückt als wenn man etwa von Demokratiepatriotismus sprechen würde. Florian Meinel: Wofür mein Vortrag jetzt ein Plädoyer ist, weiß ich nicht. Ich habe eigentlich bewusst vermieden, für irgendetwas zu plädieren. Ich habe nur versucht zu
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zeigen, dass die Besonderheit der Herausbildung dieses Begriffs im 20. Jahrhundert nicht einfach Teil einer demokratisch notwendigen Bewegung des Begriffs, sondern einer sehr spezifischen deutschen Situation ist. Ich kann eigentlich nur wiederholen, was ich schon gesagt habe. Nämlich – und so würde ich auch den Sternberger-Text verstehen –, dass eine Republik, die sich ihrer selbst und ihrer politischen Ordnung bewusst ist, eine von der Demokratie oder der Republik abgelöste Vorstellung von Verfassungsfeindschaft tendenziell nicht braucht. Es ist eigentlich immer etwas Bemerkenswertes oder Seltsames, wenn die Zugehörigkeit durch dieses normative Abstraktum Verfassung markiert wird. Sternberger hat in diesem Text eine sehr konkrete Vorstellung davon, was der politische Sinn der Verfassung ist, um die es geht, bleibt dann aber trotzdem in dieser deutschen Begrifflichkeit von Verfassung. Insofern vielleicht doch ein Plädoyer, ein kleines. Hinnerk Wißmann: Lieber Herr Meinel, auch von meiner Seite vielen Dank für Ihren Vortrag, insbesondere für die Pointierungen, die darin stecken und die Sie auch nochmals nachgeschärft haben in der Diskussion. Ich wollte vor allem zum Verhältnis von Verfassung und politischem System eine Bemerkung machen. Sie haben sehr stark betont, das überkommene deutsche Grundverständnis sei liberal geprägt, das bedeute im Grunde „Verfassung als Schutz vor Politik“. Man muss aber bitte festhalten, dass Politik auch in früheren Verfassungsordnungen sehr wohl stattfindet. Die Liberalen machen im 19. Jahrhundert durchaus gestaltende Politik. Und die Weimarer Reichsverfassung hat ein viel stärkeres materielles Politikprogramm als z. B. das Grundgesetz. Da haben wir eher Wellenbewegungen als eine lineare Entwicklung. Dazu wollte ich vor allem fragen, wie sich in Ihrem Konzept die mögliche Verfassungsfeindschaft der demokratisch legitimierten Regierenden einbauen lässt. Wir haben jetzt sehr stark von dem Schutz äußerer Gefahren gesprochen. Das materielle Verfassungsschutzkonzept ist vielleicht aber auch ein Schutz gerade vor demokratischer Mehrheit, deswegen bin ich auch etwas unruhig, dass hier so schlank gesagt wird, wir sollten den Demokratieschutz gegenüber dem Verfassungsschutz stärken. Enthält nicht eine Verfassung gerade ein Schutzmoment auch gegen eine demokratische Überwältigung? Oder Sie müssen das Demokratieprinzip sehr materiell aufladen, dass es nur die „gute“ Demokratie sein soll oder die „richtige“ Mehrheit. Demokratie hat auch wieder Voraussetzungen in einem anspruchsvollen Verfassungskonzept. Die Frage ist eben: Was machen wir mit einer möglichen Verfassungsfeindschaft von Regierenden, von demokratischen Mehrheiten? Ist das in Ihrem Konzept irgendwo untergebracht? Florian Meinel: Das ist wohl der entscheidende Punkt, der nach 1945 dazu kommt und der in keiner dieser Weimarer Vorstellungen schon angedacht ist, insbesondere nicht bei Carl Schmitt. Er löst das Problem letztlich dadurch, dass über Freund und Feind entscheidet, wer die Macht usurpiert und sich als existenzieller Usurpator dieses politisch geeinten Volkes geriert. Das ist natürlich eine sehr schlanke, eher formalistische Lösung des Problems. Da gibt es verfassungsfeindliche Macht nicht. Macht ist immer Ausdruck der existenziellen Verfassung. Für die Weimarer Koali-
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tion sehe ich das jetzt auch nicht richtig. Sie bezieht sich affirmativ auf das politische Projekt der Reichsverfassung. Da müsste man sich ab 1930 nochmals Quellen ansehen, ob es z. B. aus dem oppositionellen Bereich Quellen gibt, die die Handhabung der Diktatur unter diesem Aspekt problematisieren. Susanne Lepsius: Vielen Dank für Ihre sehr interessanten Beobachtungen gerade auch zum Weimarer Sprachgebrauch und zu dem politischen Diskurs, zu dem ich auch nochmal etwas nachfragen möchte. Ausgehend von Ihrer letzten These, dass Deutschland bis lange in die Bundesrepublik eine spät demokratisierte Gesellschaft ist, die sich nie als Republik verstanden hat, wollte ich nochmal nachfragen, warum oder wer denn dann die Gesetze zum Republikschutz „Republik“schutzgesetze und nicht Verfassungsschutzgesetze genannt hat? War das eine Begrifflichkeit, die dann auch nur selektiv und vor allem während den Hoch-Zeiten der Weimarer Koalition Konjunktur hatte? Das wäre der eine Punkt, und auch sehr spannend fand ich Ihre Zitate zu 1922: „antirepublikanisch oder verfassungsfeindlich“. Die Mediävistin würde sagen, das ist eine Paarformel und das Interessante ist, was wird mit den beiden Teilen zum Ausdruck gebracht? Zurückdenkend an manche auch sehr kontroversen italienischen Kommunen, die sich über lange Zeiten als Republiken sahen, war es dort durchaus so, dass die politischen Minderheiten nicht sehr weit ins „Ausland“ (meist das Gebiet des nächsten Stadtstaates) verdrängt waren, und Umsturz hieß, man kam mit bewaffneter Macht von außen und mit Verbündeten zurück. Diese kriegerischen Umsturzversuche oder -ängste von außen, die Christoph Gusy bereits eingeführt hat, das richtete sich in der Weimarer Zeit doch wahrscheinlich eher gegen die Linken, die also tendenziell von Moskau gefühlt oder tatsächlich unterstützt wurden. Mir scheint, dass das „verfassungsfeindlich“ wahrscheinlich gegen links gerichtet war in der Diktion Weimarer Zeit, wo man eben fürchtete, da kommt mit ausländischer Unterstützung irgendwer, der das ganze Land übernimmt. Und „antirepublikanisch“ wäre dann als Abwehr gegen rechts zu verstehen, also gegen die, die eben ein Problem mit der Republik im Inneren hatten. Wäre das eine Hypothese mit der Sie leben könnten, funktioniert das in dem Sprachgebrauch der 1920er Jahre? Und wie sieht es mit der zeitgenössischen Benennung als „Republik“schutzgesetzen vor diesem Hintergrund aus? Florian Meinel: Vielen Dank. Das ist sehr weiterführend. In der Tat scheint es mir so zu sein, dass diese affirmative Verknüpfung einer Politik gegen Verfassungsfeinde mit dem Begriff der Republik etwas ist, was natürlich am Anfang der Weimarer Republik ganz stark versucht wird, und sowohl die Sozialdemokraten als auch das Zentrum und die DDP stehen natürlich am Anfang voll hinter diesem Begriff „Republik“. Aber wenn man sich die parlamentarischen Debatten ansieht, dann verschwindet dieses Begriffspaar eben nach 1925/ 26. Und meine Hypothese wäre nicht zu sagen, dass das ein Rechts-Links-Begriff ist. Dafür ist zum Beispiel die Haltung zur USPD in der Weimarer Republik viel zu heterogen, als dass man sagen könnte, das eine geht gegen die Rechten und das andere geht gegen die Linken. Sondern ich würde vermuten, dass
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der Begriff der Republik in der Zeit geeignet ist, bei den moderaten Rechtsparteien so viel Aversionen zu generieren, dass er eigentlich als eine positive Integrationsformel gegen die wirklich gefährlichen Verfassungsfeinde nicht funktioniert. Weil es zu viel Widerstand gibt, und weil es Leute gibt, die man im Grunde nicht verärgern, sondern gegen die Verfassungsfeinde vereinnahmen will, die aber sagen: Republikfeindlich sind wir auch. Da ist der Begriff des Abstraktums Verfassung einfach besser, weil man darunter einfach alles Mögliche verstehen kann. Jeder hat so seine eigene Verfassung. Das wäre meine Hypothese dafür, wieso das mit dem Republikschutz auch in der politischen Semantik nicht funktioniert hat. Dieter Gosewinkel: Ich sehe niemanden mehr, der sich meldet. Ich danke sehr herzlich für den anregenden Vortrag und die Diskussion.
Abschlussdiskussion Dieter Gosewinkel: Ich lade Sie zu einer abschließenden Diskussion ein. Die Frage stellt sich, ob sich das Thema bewährt hat. Eine weitere Frage ist: Was hat das Thema denn ausgetragen? Was ist uns neu vorgekommen oder erhellend oder gibt es auch Kritik? Kritik ist natürlich sehr willkommen, auch der Vorstand freut sich darüber, denn wir sind letztendlich verantwortlich für dieses Thema und nehmen das auch gern an. Andreas Kley: Unsere Tagung steht unter der Überschrift des Verfassungspatriotismus. Der Ausdruck Verfassung ist von allergrößter Bedeutung und ein ganz spezielles Wort. Es ist aus sprachwissenschaftlicher Hinsicht ein sogenanntes AmöbenWort, oder auch in der Literatur bekannt als Plastikwort. Das heißt, es ist ein abstrakter Ausdruck, der unglaublich viele Bedeutungen annehmen kann. Viele der Diskussionen unserer Tagung haben eigentlich unter diesem Vorzug oder Mangel, wie man will, gelitten. Wir haben in der Vereinigung drei Gruppen von Mitgliedern. Wir haben die echten Mediävisten, dann die Rechtshistoriker und die Verfassungshistoriker zusammen mit dem öffentlichen Recht. Das sind jeweils drei recht unterschiedliche Verständnisse von Verfassung. Das Wort Verfassung kann praktisch jede Bedeutung annehmen. Vor der Aufklärungszeit bestand diese in einer empirischen Zustandsbeschreibung. Wir im öffentlichen Recht werden dann im 19. Jahrhundert langsam formalistisch mit dem Verfahren der Verfassungsgebung und dem Stufenbau der Rechtsordnung. Die vielen Bedeutungen von Verfassungen machen es schwierig, die Diskussion zu verstehen. Wir brauchen alle das gleiche Wort und verstehen darunter extrem unterschiedliche Dinge. In der Politik, das hat man auch beim letzten Vortrag gesehen, hat das einen sehr großen Vorzug. Die Politiker brauchen das Wort Verfassung als Plastikwort, das heißt man sagt etwas, was gut klingt und keine Bedeutung hat. Das öffnet dann Spielräume, in den entsprechenden Situationen das Wort so einzusetzen und zu interpretieren, dass es die verdeckten politischen Ziele unterstützt. Das ist ein hochinteressantes Phänomen, dessen man sich bewusst sein sollte. Ich habe kürzlich von Rudolf Smend das Werk „Verfassung und Verfassungsrecht“ angeschaut. Die Schrift strotzt von diesen Plastikbegriffen, das ist fantastisch. Man könnte die Schrift mit wenigen ausgewechselten Worten in Nordkorea einsetzen, und sie würde sehr gut verstanden werden und Applaus finden. Man könnte die Schrift aber auch in der Demokratie einsetzen und in jeder Diktatur. Dieser Text ist biegsam, man kann ihn in jeder Situation einsetzen.
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Von daher gesehen ist dies ein Text, der ewiges Leben hat und sich an jede Ordnung anpasst. Natürlich widerstrebt uns das, beeinflusst von der Aufklärung und geprägt von den Menschenrechten, fundamental. Das ist nicht ein Vorwurf an Rudolf Smend, das ist einfach eine Technik, wie man mit Sprache umgeht und dessen sollten wir uns hier sehr bewusst sein. Peter Oestmann: Ich habe ein paar kleinere Punkte. Den ersten sehe ich vielleicht etwas anders als Herr Kley. Ich finde, es ist eigentlich ein Vorteil, dass die Gruppe hier so unterschiedlich zusammengesetzt ist, und für mich ist es auch ein großer Vorteil, dass wir über die Epochen hinweg diskutiert und nicht an der Chronologie festgehalten haben. Es muss nicht sein, dass man sagt, wir fangen bei Tacitus an und hören im 20. Jahrhundert auf. Es ist auch mal ganz spannend, hin und herzuspringen zwischen den Disziplinen und Zeiten. Das hat nach meinem Eindruck eigentlich ganz gut geklappt. Was ich als Ergebnis mitnehme, ist, dass Recht Gemeinschaft stiften kann und zwar auch in Zusammenhängen, in denen ich das gar nicht vermutet hätte. Das Beispiel der Lex Salica war für mich schon ziemlich erstaunlich. Natürlich haben Sie Recht, es ist ein Begriff, der in unterschiedlichen Zeiten etwas Unterschiedliches bedeuten kann. Aber ich denke immer, wenn man ein bestimmtes Wort als Forschungsbegriff oder Quellenbegriff benutzt und seine Definition offen legt, dann kann man sich darüber unterhalten. Ich habe eben mit Herrn Ubl geredet und natürlich spricht er von einer Kodifikation, wo ich nicht einmal von einer Gesetzgebung sprechen würde. Aber wenn ich weiß, dass er was anderes darunter versteht, ist die Verständlichkeitsgrenze jetzt auch nicht so hoch, dass man sich nicht mehr unterhalten kann. Ich glaube, das ist das typische Problem von Interdisziplinarität, damit komme ich aber klar. Was relativ stark gefehlt hat auf der Tagung, ist ein Bereich, der aus meiner Wahrnehmung für das 19. Jahrhundert ab und zu diskutiert wird, und zwar „Privatrecht als Verfassungsersatz“. Das kam ein ganz bisschen im Zusammenhang mit dem Code Civil und in Diskussionen vor, wurde aber nicht ernsthaft vertieft. Dass die Rechtsgewähr des Einzelnen in einer Gesellschaft ohne förmliche Verfassung und ohne Kodifikation aus Prinzipien des Rechts kommt, unabhängig davon, ob sie als Gesetz erlassen worden sind oder nicht, hätte man noch einbauen können. So war die Tagung etwas stärker öffentlich-rechtlich ausgerichtet. Johannes Burkhardt: Ich fand es auch sehr gut, dass die Chronologie nicht verfolgt wurde, das kann ich nur unterstützen. Ich würde sogar noch etwas weiter gehen und sagen, man sollte ruhig einmal versuchen, wirklich von der Gegenwart auszugehen und dann zurückzufragen „Woher kommt das eigentlich?“. Damit kann man nämlich den Anachronismusvorwurf entkräften, der lange Zeit in unserem Fach Geschichte historische Perspektiven blockiert hat. Es sei unwissenschaftlich, wenn man fragt, ob etwas in irgendeiner Form bis in die Gegenwart nachhallt. Fragt man also heute, wie alt Verfassungspatriotismus als gemeinschaftsbildender Gedanke ist, versteht man überhaupt erst, und das hat uns Georg Schmidt, finde ich, sehr schön vorgeführt, wie hier ein historischer Zusammenhang besteht oder zumin-
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dest ein historischer Entwicklungspfad verlaufen ist. Dies zur Methodologie, man könnte ein bisschen systematischer von der Gegenwart ausgehen und gezielt zurückfragen, was überall gemeinschaftsfördernd gewesen ist. Herausgekommen ist meiner Ansicht nach auf der einen Seite, dass dieser diskutierte Verfassungspatriotismus in der Vergangenheit bereits eine Stütze als Freiheit in der libertären Geschichte hat. Georg Schmidt hat schön herausgearbeitet, dass schon in der Vergangenheit ein System bestand, das Freiheiten, zugleich aber eben auch einen Patriotismus in einem vaterländischen Sinne enthielt. Ich würde hinzufügen, dass auch besondere Verfassungselemente wie der Föderalismus gemeinschaftsfördernd gewesen sind. An dieser Stelle ist bereits einmal Karl Loewenstein zitiert worden, der im übrigen auch treffend formuliert hat, wer die Feinheiten, die Raffinessen des Föderalismus kennenlernen wolle, der müsse hunderte Jahre deutscher Geschichte studieren. Es lassen sich auch gewisse Kontinuitäten von hoch geschätzten zentralen Institutionen beobachten. Darunter fällt beispielsweise die Höchtsgerichtsbarkeit oder der Reichstag als ein föderal organisiertes Parlament, in der die vor Ort Verantwortlichen zusammenkommen, um gemeinsam Beschlüsse zu fassen oder sie zumindest zu diskutieren, was man durchaus als Vorläufer des Bundesrates oder des Senates in Amerika, das ja nach neuester Erkenntnis Vieles nachgebildet hat, sehen kann. Ich fand, um das nochmal zu betonen, die Methode, einmal von heute auszugehen, nicht ganz konsequent durchgeführt, aber durchaus einen positiven Einfall. Vielleicht kann man das bei einem anderen Thema nochmal wiederholen. Das steht einem Verein zur Verfassungsgeschichte durchaus zu, auch mal retrospektiv zu fragen. Ewald Grothe: Mein Grundeindruck ist der einer sehr anregenden Tagung. Ich habe eine gewisse Einschränkung und die liegt im Titel begründet, eigentlich im Untertitel „Zusammengehörigkeit durch Rechtsregeln“. Herr Gosewinkel, Sie hatten in Ihrer Einleitung schon darauf aufmerksam gemacht: Recht ermöglicht, begünstigt, stiftet Zusammenhänge, völlig klar. Das kann man unterschreiben. Aber was ist eigentlich, wenn es nicht funktioniert? Der Aspekt kam, natürlich durch den Untertitel begünstigt, etwas wenig vor, und man hätte natürlich auch einmal fragen können, was machen wir eigentlich, wenn wir einen Staat haben, der lauter Rechtsregeln hat, aber nicht Zusammengehörigkeit stiftet? Das passierte immer einmal wieder, auch gerade heute morgen bei Herrn Meinel in seinem Vortrag über Verfassungsfeindschaft. Aber wenn man jetzt zum Beispiel über totalitäre System nachdenkt, fällt auf, dass es dort eine ganze Menge Rechtsregeln gibt, es aber trotzdem oft kein Zusammengehörigkeitsgefühl zustandekommt oder dieses in eine Krise gerät. Es gibt viele andere Beispiele in der Geschichte. Das heißt also, wenn man einen Untertitel vorgibt, der für alle Vortragenden ein Ziel definiert, dann hat man natürlich den Effekt, dass alle suchen und sagen: Ja, haben wir gefunden. Wir haben jetzt Rechtsregeln, wir haben ein Ziel, wir möchten Zusammengehörigkeit finden und wir finden natürlich dann ein Reichsbewusstsein
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oder einen Verfassungspatriotismus. Aber das Gegenteil gerät ein wenig aus dem Blick, und da wäre eine Ergänzung noch schön gewesen. Dieter Gosewinkel: Vielen Dank, Herr Grothe, das leuchtet mir ein. Ich denke, wir haben einfach ein Fragezeichen vergessen. Man hätte dadurch das Thema offener formuliert, und man hätte es mit Fug und Recht offener verstehen können, so wie Sie es gesagt haben. Ich finde diese Fragestellung produktiv. Sie bedeutet die Öffnung eines teleologischen Zusammenhangs, den wir eigentlich gar nicht stiften wollten. Deswegen hatte ich in meiner Einleitung versucht zu sagen, wo funktioniert es auch nicht? Man hätte diese Frage aus meiner Sicht eines nicht Früh-Neuzeitlers auch nochmals an das Alte Reich stellen können. Es gab Reichspatriotismus, das hat Herr Schmidt gezeigt. Es gab sicher einen starken, durch Recht vermittelten Zusammenhang, der mit wirtschaftlichen Interessen einherging, ein Thema, das endlich einmal bei dem Vortrag von Frau Amend-Traut in den Vordergrund gestellt wurde. Aber es gab eben auch den Niedergang und den Untergang. Es ist eine uralte Fragestellung, um die viel gestritten wurde, warum denn die doch zahlreich vorhanden Rechtsinstitutionen und Rechtsregeln des Alten Reichs an einem bestimmten Punkt nicht nur nichts mehr garantieren konnten, sondern es auch nicht mehr wollten. Diese Frage hätte man stellen können. Man hätte sie auch für die Weimarer Republik noch etwas ausführlicher stellen können, aber das konnte Florian Meinel in seinem Einzelvortrag natürlich nicht machen. Nur, in der Tat, die Frage in die andere Richtung, wann funktioniert Recht, selbst wenn es einmal so intendiert gewesen sein mochte, nicht oder nicht mehr? Diese Frage wäre produktiv. Matthias Jestaedt: Ich hätte noch zwei Punkte angemerkt. Der eine Punkt knüpft, wenn auch in einer etwas anderen Richtung, wunderbar an das an, was Herr Grothe gesagt hat, und an das, was Sie gesagt haben, Herr Gosewinkel. Durch Haupt- und Untertitel der Tagung haben Sie unseren Blick sofort auf die Verfassung gerichtet. Wir sind zu Weiterungen des Verfassungsbegriffs gekommen, die vielleicht manchem Verfassungsrechtler oder Verfassungshistoriker etwas blümerant vorkommen könnten. Vielleicht hätten wir stärker an der einen oder anderen Stelle deutlicher zwischen Recht und Verfassung trennen sollen. Es hätte dabei gereicht, „Rechtsregeln“ in den Untertitel zu schreiben. Man hätte dementsprechend auch nicht alles als „Verfassungspatriotismus“ ausgeben müssen; vielfach hätte es auch eine Charakterisierung getan, die ohne den Verfassungs-Zusatz ausgekommen wäre. Mit „Rechtsregeln“ im Untertitel hätten wir vielleicht erklärungsträchtiger zeigen können, dass Verfassungspatriotismus in diesem Kontext – wenn überhaupt – nur ein Element unter mehreren ist. Und natürlich deuten „von… zu“-Themen mehr als nur eine subkutane Teleologie an, denn nur allzu leicht gerät man unter deren Eindruck in eine Pfadabhängigkeit, so dass man am Ende Spurenelemente oder sogar noch mehr an Verfassungspatriotismus in Zeiten auszumachen können glaubt, in denen die Nation überhaupt erst erblüht ist. Das hieße aber doch nichts anderes, dass der substitutive Patriotismus, als den Dolf Sternberger uns den Verfassungspatriotismus vorstellt,
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auch schon zu Zeiten vorhanden gewesen soll, in denen das Substituens erst im Werden begriffen war. Der zweite Aspekt, den ich gerne anführen würde: Der Diskurs, wie wir ihn geführt haben, war natürlich sehr deutsch. Geschichte ist eine komparative Disziplin. Da hätte es nicht ferngelegen, auch die andere komparative Disziplin (der Jurisprudenz) hinzunehmen, nämlich die Rechtsvergleichung. Es wurde abfällig über die französische Entwicklung mit der großen Anzahl von Verfassungen vom Ende des 18. bis ins 20. Jahrhundert gesprochen. Sind das nicht Verfassungen, die, wenn man nur genau hinschaut, jeweils Zusammengehörigkeit definieren, interpretieren und regulieren? Dass Verfassungen als Zugehörigkeitsordnungen und dass die sich darin ausdrückenden Zusammengehörigkeitsideeen sich so schnell ändern, ist am Maßstab unserer eigenen Verfassungsgeschichte gewissermaßen undeutsch. Aber ist das nicht vielleicht sehr markant gerade für die französische Geschichte, dass es so viele Verfassungen vom Empire zur République und zurück gegeben hat? Da hätten wir vielleicht etwas genauer hinschauen sollen. Und eine zweite Perspektive dieses, den nationalen Horizont transzendierenden Aspektes: Uns allen ist ein Gebilde vertraut, das wir ausdrücklich als Rechtsgemeinschaft charakterisieren und adressieren: die Europäische Union. Diese ist doch für die Frage, ob es Zusammengehörigkeit durch Rechtsregeln gibt, ein ausgesprochen lohnendes, sich nachgerade aufdrängendes Objekt. Außerdem besitzt die Europäische Union mittlerweile ein hinreichendes Alter, so dass auch Verfassungs- und Rechtshistoriker schon darauf blicken dürften. Mit einem solcherart komparative(re)n Blick hätten wir auch die Teleologie hin zum Verfassungspatriotismus ein bisschen abmildern und relationieren können. Monika Wienfort: Das war in meinem Vortrag natürlich ein Quellenzitat eines Franzosen, der den Code Civil gegenüber den Verfassungen privilegiert. Ich finde das ist eine interessante Frage, da hätte man weiterfragen können, wie es in anderen Staaten aussieht. Eines meiner Hauptarbeitsgebiete ist die britische Geschichte, das ist nochmal ganz etwas anderes. Und auch dieser Fall kam hier nicht vor. Ich gebe Ihnen völlig Recht, dass mehr Komparatistik nützen kann. Das ist auch insofern naheliegend, als die Geschichtswissenschaft, wie sie heute funktioniert, eigentlich sehr stark europäisch oder sogar global funktioniert. Man kann in unserem Fach überhaupt nicht mehr sagen, man ist Expertin für deutsche Geschichte. Europa muss es mindestens sein. Natürlich nicht in allen Gebieten gleichermaßen, aber man muss in jedem Themenzugriff zu erkennen geben, dass man das andere mitdenken kann. Das hat bei der Tagung etwas gefehlt. Dieter Gosewinkel: Herr Jestaedt, ich bin der festen Meinung, dass ein vergleichender Blick jedem, aber wirklich jedem mindestens geistes- und sozialwissenschaftlichem Thema einen Gewinn an Erkenntnis- und Analysekraft hinzufügt. Das stimmt, und als ich das Programm vor einigen Tagen nochmal ansah, dachte ich, wir sind wirklich sehr deutsch. Aber das war dann nicht mehr zu ändern. Zugleich habe ich mir überlegt, dass es einen zwar begrenzten, aber doch auch großen
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Vorteil haben kann, über einen Kernbereich an Rechtsbeständen und auch an Rechtsgeschichte zu reden, der den allermeisten von uns so vertraut ist wie kein anderer. Und die Diskussion darauf zu konzentrieren und sich einmal die Freiheit zu nehmen, aus den Normierungen unserer allgemeinen Geschichtswissenschaft, in der man nicht mehr nur über deutsche Geschichte reden darf, herauszutreten und zu sagen, wir machen es doch noch einmal, auch um der Vertiefung der Erkenntnis willen. Eine nächste Stufe wäre natürlich der Vergleich. Eine Möglichkeit wäre, das Thema in zwei Jahren vergleichend zu behandeln. Ich hätte präziser sagen sollen, wir haben das Thema in der überwiegend deutschsprachigen Rechtsgeschichte, nicht in der deutschen Rechtsgeschichte, behandelt. Die österreichische Rechtsgeschichte, die sonst in unserer Vereinigung stark vertreten ist, war zwar indirekt durch Herrn Ubl, der aus Wien stammt, aber ansonsten leider nicht durch andere Kolleginnen und Kollegen vertreten. Herr Kley, wir sind wirklich dankbar für die Eidgenossenschaft in dem dezidiert transnationalen Zugriff, den Sie gewählt haben. Sie haben regelrecht dekonstruiert, dass diese Eidgenossenschaft von Anfang bis Ende etwas kernig Schweizerisches hatte, und damit nicht nur über die deutschen Staatsgrenzen hinaus gearbeitet, sondern auch einen anderen methodischen Blick gewählt. Rainer Polley: Auch ich bin vollauf der Meinung, dass dieses zeitlich breit angelegte Programm hervorragend war. Ich habe bloß ein kleines Verständnisproblem, vielleicht können Sie mir da helfen: Warum wurde bei den Vortragsthemen durch die aufeinander folgende Gliederung in die Zeitabschnitte 19. Jahrhundert, Mittelalter, Frühe Neuzeit und 20. Jahrhundert von der chronologischen Reihenfolge abgewichen? Aus meiner Sicht hätten einige Betrachtungen, die in den Vorträgen und Diskussionen zu den Themen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zur Geltung gebracht wurden, auch zum Verständnis der Entwicklung und Struktur der Verfassungsordnung des 19. Jahrhunderts beigetragen. Doch gibt es sicherlich auch gute Gründe für die erfolgte Programmgestaltung. Dieter Gosewinkel: Diesen Punkt hatte ich eingangs versucht zu erklären. Wir haben uns im Vorstand vorgenommen, das 19. Jahrhundert als das Zeitalter der vollen Entfaltung des Verfassungsstaates an den Anfang zu stellen, nicht als normativen, sondern als einen analytischen Fluchtpunkt. Hier sind alle Elemente des Verfassungsstaats enthalten. Das war sehr von der Verfassung her gedacht, das ist in der Tat richtig, also klar von der Verfassung und nicht von einer Rechtsordnung im allgemeinen, denn von der Verfassung her gedacht ist die Verfassung als eine Form der Rechtsordnung im 19. Jahrhundert voll entfaltet. Wobei sich in den Beispielsfällen, die wir gewählt haben, erwies, Monika Wienfort hat es gezeigt, dass Preußen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohne eine geschriebene Verfassung auskam. Die Schweizer Eidgenossenschaft repräsentiert ein bündisches Prinzip, das mit hergebrachten nationalstaatlichen Verfassungsbegriffen kaum zu fassen ist. Aber dennoch, das 19. Jahrhundert sollte gewissermaßen der analytische Ausganspunkt sein. Das war die Idee, ob sie aufgegangen ist, ist eine andere Frage.
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Ich kann sehr unterstützen – abgesehen natürlich von der Frage des Vergleichs, das ist völlig richtig, Herr Jestaedt – was Peter Oestmann sagte, was bei Monika Wienfort und bei Anja Amend-Traut vorkam, was auch Claudia Garniers Vortrag enthielt, nämlich nicht die enge Fixierung auf einen formalen, sei es empirischen, sei es normativen Verfassungsbegriff, sondern der Blick auf das Gesetz oder andere Rechtsregeln, die sich selbst nicht Verfassung nennt und auch nicht Verfassung sind. Das Preußische Allgemeine Landrecht, die Frage der Praxis in den Städten, wie geht man mit Schwörtagen um, was bedeutet der Eid in der städtischen Rechtsgemeinschaft, auch die Frage, was liest man an Erkentnnissen aus der Wirtschaftsund Handelsordnung eines so vielgestaltigen Gebildes wie des Alten Reiches heraus, das hat dann natürlich verfassungsrechtliche Konsequenzen. Aber die kann man behandeln oder auch offen lassen. Wichtig ist, dass Rechtsgemeinschaft, wenn sie denn überhaupt gestiftet wurde, lange Zeit natürlich nicht durch Verfassung im formellen Sinn gestiftet wurde, sondern Zusammengehörigkeit durch Recht gestiftet wurde. Wenn man in den Titel das Wort Verfassungspatriotismus hineingenommen hat, dann ist das vor allem um des Wiedererkennungseffekts willen. Die Verfassung dient im Grunde genommen nur als ein Beispiel, als ein sehr wichtiges, vielleicht das wichtigste Beispiel, für eine Form von rechtlicher Normierung, die potentiell Zusammengehörigkeit stiftet oder eben auch nicht stiftet. Und das, worauf auch Peter Oestmann nochmals hingewiesen hat, ich hatte es versucht mit einer kurzen Bemerkung einzubringen, ist die enorme Bedeutung des Privatrechts noch im Zeitalter des Konstitutionalismus. Das zeigt Frankreich, das zeigt natürlich das Preußische Allgemeine Landrecht, das zeigt auch das österreichische Allgemeine Gesetzbuch, und das Zeitalter der Kodifikation ist eben eher ein Zeitalter der großen Privatrechtsordnung. Gut, die Trennung im Allgemeinen Landrecht ist, wie wir wissen, nicht so klar. Aber doch primär eine stark das Private, die Sozialund Gesellschaftsordnung regelnde Kodifikation, und da brauchte man erstmal keine formale Verfassung oder es gab Kämpfe darum, ob man sie brauchte. Und wenn man sie brauchte oder glaubte, sie zu brauchen, dann haben diejenigen, die den Verfassungsbegriff im formellen Sinn stark gemacht haben, damit ein politisches Programm verbunden, vor allem natürlich die Liberalen, von denen Meinel gesprochen hat. Aber Zusammengehörigkeit hat längst nicht nur die Verfassung im formellen Sinn, sondern haben auch andere Rechtspraktiken und Rechtsregeln gestiftet. Zum Beispiel die Stiftung von Zusammengehörigkeit durch Gesetze, wenn ich an Otto Mayer denke. Sein „Verfassunsgsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“ ist eine der den deutschen Öffentlichrechtlern geläufigen Formeln. Das ist zwar öffentliches Recht, aber man könnte es stark auf das Privatrecht beziehen, wie wichtig und vorprägend, sozusagen zusammengehörigkeitsprägend, große Kodifikationen und einfache gesetzliche Regelungen elementarer Art in Bereichen des Privatrechts, vielleicht auch des Strafrechts, gewesen sind, wenn man das nicht zum öffentlichen Recht direkt hinzunehmen will.
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Georg Schmidt: Ich will die Diskussion nicht aufhalten, warne aber davor, dass wir im hermeneutischen Zirkel gefangen bleiben, aus dem wir nicht aussteigen können. Das heißt, wir sind immer mit unserer Perspektive, mit dem, was wir tun und aus der Vergangenheit oder Gegenwart auswählen in diesem Zirkel gefangen, auch wenn wir, was ich hoffe, mit jeder Umdrehung dieses Zirkels oder dieser Spirale etwas mehr Erkenntnis gewinnen. In dieser Hinsicht ist es nicht unbedingt notwendig, dass man den Vergleich auf die europäische Staatenwelt oder auf die Welt-Staatenwelt ausdehnt, der selbstreferenzielle Vergleich kann durchaus erhellend sein. Aber wir gehen, ich jedenfalls als Historiker, immer von der Gegenwart aus und von einem Problem, mit dem ich mich beschäftige und das dann historisch verankert wird oder nicht. Aber ich glaube, Sie können der Pfadabhängigkeit nicht dadurch entgehen, dass Sie nach Europa blicken oder in die Welt oder weiß der Kuckuck wohin. Und wenn wir uns als Vereinigung für Verfassungsgeschichte von Verfassungsinhalten lösen und nur noch über das Schwören in den Städten reden, dann sind wir bei der symbolischen Kommunikation und dann ist nur noch der Eid als Eid wichtig. Dann spielen Inhalte überhaupt keine Rolle mehr, sondern dann kommen Leute zusammen, die leisten den Eid. Das ist kulturell interessant, weil es gemacht wird, aber es kommt in der Narration nicht mehr darauf an, welche Verfasstheit diese Stadt eigentlich hat. Ich komme zu den Tagungen dieser Vereinigung sehr gerne, weil wir noch über konkrete Inhalte, nämlich über die Verfassung reden. Und deswegen habe ich das auch sehr gut verstanden, dass hier Verfassungspatriotismus und nicht Gesetzes- oder Normen- oder irgendein anderer Patriotismus im Titel steht. Eine andere Tagung könnte es über kulturelle Kommunikation geben. Aber das ist etwas anderes, und ich würde mir dann überlegen, ob ich dort hingehe. Oliver Lepsius: Die Ausführung von Herrn Gosewinkel zu Privatrecht als Verfassungsrecht veranlassen mich dazu, aus öffentlich-rechtlicher Sicht einen Punkt unterzubringen. Das preußische Modell und das französische Modell – über Österreich weiß ich zu wenig – die beide auf Gesetze vertrauen und nicht auf eine verfassungsrechtliche Grundordnung setzen, fördern ein Gesetzesverständnis, das die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nach sich zieht. Ein Gesetzesverständnis also, das einen Gesetzesvorbehalt begründet, der aus einer Gewaltenteilungsperspektive folgt. Sie fördern aber kein Gesetzesverständnis, wie wir es in unserer Zeit vorfinden, nämlich eines, das den Gesetzesvorbehalt aus grundrechtlicher Perspektive formuliert. Das aber tun die südwestdeutschen Staaten. Die frühkonstitutionellen Verfassungen müssen dazu führen, dass über die Notwendigkeit, ein Gesetz zu haben, eine Partizipation durch Volksvertretung ausgelöst wird. Der Partizipationsanspruch der Vertretenen geht folglich einher mit der Ausdehnung des grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts, denn für den Grundrechtseingriff brauche ich ja die parlamentarische Zustimmung. Damit werden Parlamente und Grundrechtsträger Verbündete im Ziel der Ausdehnung des Gesetzesvorbehalts auf Kosten der Exekutive und des Monarchen. Das ist natürlich zunächst nicht der Fall in Preußen, und unser preußisches Geschichtsverständnis in Deutschland führt hier mal wieder zu einer Wahrnehmungsverzerrung, denn die Bundesrepublik ist jedenfalls durch die Rechtsprechung des Bundesverfas-
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sungsgerichts antipreußisch und südwestdeutsch beeinflusst. Dass das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sitzt, hat dazu sicherlich auch einen mentalen Beitrag geleistet. Es ist das badische, das württembergische und das bayerische Verfassungsverständnis, das sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat, und nicht das preußische. Das ist ja vielleicht auch die politische Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Und im Übrigen, und deswegen betone ich nochmals, was ich launig schon während meiner Moderation gesagt habe, dass wir an unserem preußischen Geschichtsverständnis, das in den Schulbüchern und in den Gymnasien munter weiterlebt, arbeiten müssen, denn das ist eigentlich auch nicht mehr unser Geschichtsverständnis heute. Und noch ein letzter Punkt: Die Konkurrenz preußischer und süddeutscher Gesetzesverständnisse können wir als Juristen übrigens auch sonst beobachten: Wir unterrichten unsere Studierenden subkutan mit einem Gesetzesverständnis, das sich am Bürgerlichen Gesetzbuch orientiert, und das ist natürlich keines, das einen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt respektiert. Wir unterrichten unsere Studierenden dann mit einem Polizeirechtsverständnis, das irgendwie auf Generalklauseln basiert. Das ist das preußische Verständnis, aber nicht das süddeutsche. Die süddeutschen Polizeigesetze, die bayerischen jedenfalls, haben immer versucht, die Generalklausel auf das Tunlichste zu vermeiden, und auf sog. Standardbefugnisse, also auf Spezialermächtigungen, abzustellen. Da kommen diese konkurrierenden Verständnisse bis in die Gegenwart zum Tragen. Also wir ringen, wenn es jetzt um die Ebene des einfachen Gesetzes geht, um unterschiedliche Gesetzesverständnisse. Schablonisiert und vereinfacht: Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe nach preußischem Vorbild versus Bestimmtheitsanforderungen und Spezialermächtigung nach süddeutschem Vorbild. Da sehen wir, wie die Dinge dann doch weiter wirken. Das nur ein bisschen zur Ergänzung einer nach meiner Meinung im Subtext schon zu sympathisch dargestellten Privatrechtsverfassung, die uns diese preußischen Jahrzehnte, die wir doch jetzt eigentlich schon hinter uns gelassen haben, ans Herz legt. (Gegrummel im Auditorium) Naja, das sind die Berliner Kollegen, die können ja gar nicht ab von ihrer preußischen Grundorientierung. Michael Kotulla: Herr Lepsius, Ihre Bemerkungen haben durchaus etwas Sympathisches, aber sie sind so sicherlich nicht richtig. Man muss kein Preußenfreund sein um festzustellen, dass Preußen eben nicht nur die Negativerscheinung ist, die Sie uns hier weismachen wollen. Zugegeben: Preußen braucht lange, bis es eine Verfassung bekommt, aber die Verfassung, die es dann bekommt, ist zeitgenössisch modern und der Grundrechtekatalog, der darin enthalten ist, wird richtungweisend. Das muss man einfach sehen. Konstitutionelle Verfassungen sind im Prinzip vom Rechtscharakter her einfache Gesetze. Diese werden gegen Änderungen nicht besonders geschützt. Es gilt im Prinzip die Lex-posterior-Regel, das heißt, das später erlassene Gesetz bricht das ältere. Die Verfassung ist letztlich nicht mehr als ein solches bloßes Gesetz. Das sehen Sie
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auch daran, dass die meisten Verfassungen überhaupt keinen besonderen Eigenschutz enthalten, wie etwa irgendwelche Quoren, die es für eine wirksam zustande kommende Modifikation in den jeweiligen Volksvertretungen zu erreichen gilt. Hier müssen wir die Kirche im Dorf lassen! Im 19. Jahrhundert ist letztendlich das Gesetz das Prägende, auch wenn die Verfassung jeweils den Markstein bildet. Mit ihrem Erlass verpflichtet sich der Monarch, bestimmte Dinge nicht mehr, wie bisher, allein mit sich auszumachen, sondern die in der Verfassung stehenden Angelegenheiten nur noch so zu handhaben, wie sie dort festgeschrieben sind. Der Monarch beschränkt sich dadurch selbst. Das ist das Grundlegende und zugleich Eigentümliche des konstitutionellen Systems. Die süddeutschen Staaten sind da nicht wirklich anders oder besser. Der einzige Verdienst, der ihm insoweit verfassungshistorisch zukommt, ist letztendlich, dass ihre Verfassungen eher da waren, als die preußischen von 1848 und 1850. Aber nach deren Erlass „bekleckert“ man sich in Süddeutschland bis 1848, insbesondere mit Blick auf eine mögliche Verfassungsfortentwicklung, keineswegs mit besonderem Ruhm. Auch die süddeutschen Verfassungen stagnieren in diesen Jahren. Selbst in dem als überaus liberal geltenden Baden knickt das Großherzogtum in den 1830er Jahren bei der Verteidigung seines liberalen Presserechts genauso vor dem Deutschen Bund ein wie alle anderen Staaten auch. – Kurzum, dieses stetige „Preußen-Bashing“ mag zwar modern sein, geht aber am Tatsächlichen vorbei. Andreas Thier: Erlauben sie mir einen Blick gleichsam von außen, da ich aus dienstlichen Gründen erst heute anreisen konnte. Ich würde gerne zwei Bemerkungen machen. Das eine zu den Tugenden oder Untugenden, nein Tugenden des Vergleiches und eine Bemerkung speziell zu Oliver Lepsius im Blick auf die Bedeutung des Privatrechts und Preußen sowie deren Verbindung. Bemerkung Nummer 1: Ich glaube, die Kontroverse zwischen Herrn Kotulla und Herrn Lepsius zeigt nochmal sehr eindrucksvoll die Bedeutung und Vorzüge vom Vergleich. Denn man könnte jetzt natürlich diesen Vergleich noch weiter ziehen und könnte sagen, lieber Herr Kotulla, Sie haben natürlich vollkommen Recht: Die preußische Verfassung ist turbo-modern, ich blicke jetzt auf meinen Kollegen Andreas Kley, der mir da hoffentlich zustimmen wird. Wenn ich das jetzt vergleiche mit dem, was in den schweizerischen Kantonen und auch in der schweizerischen Bundesverfassung abgeht, dann, würde ich sagen, ist Preußen zu dem Zeitpunkt ein alter Hut. Und das sind natürlich auch die südwestdeutschen Staaten. Ich will Ihr Votum damit gar nicht abwerten, ich will einfach nur deutlich machen, dass, wenn wir die frühen französischen Verfassungen betrachten, das erst recht gilt. Ich will hier nicht Verfassungen, Verfassungsgebungen und Verfassungstemporalitäten gegeneinander ausspielen, ich möchte einfach nur an verschiedene Voten, von Matthias Jestaedt und von Dieter Gosewinkel anknüpfen, die auf die Bedeutung einer Positionierung speziell der deutschen Verfassungsentwicklung im Verhältnis zu anderen Verfassungsentwicklungen hingewiesen haben, was mir persönlich sehr hilfreich erscheint. Nicht weil der Vergleich ein Selbstzweck ist, sondern weil er uns auch und gerade helfen könnte, speziell Entwicklungen wie in Deutsch-
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land besser zu verstehen und vielleicht auch mal einen Schritt weiter zu kommen in dieser unseligen ewigen Diskussion über deutsche Sonderwege oder nicht deutsche Sonderwege. Sie alle wissen, dass das eine Diskussion ist, die sogar Historikerinnen und Historiker bis zum heutigen Tag beschäftigt und von der wir offensichtlich wieder ein bisschen abkommen. Die Bemerkung Nummer 2 geht ein bisschen in deine Richtung, Oliver. Preußen und Privatrecht. Ich würde das doch gerne voneinander trennen. Ich glaube, wenn wir von Privatrecht als Verfassungsersatz sprechen, dann ist das nicht zwingend Preußen. Im Gegenteil. Nach meiner Wahrnehmung enthält das preußische Privatrecht durchaus noch ein gewisse ambivalente Tendenz. Dies ist aber nichts spezifisch Preußisches, sondern es nimmt natürlich, wenn man es von den Traditionslinien her sieht, unendlich viel Naturrecht und vor allem ius commune, also meistens gemeines römisches Recht und noch einen ziemlichen Schuss kirchliches Recht in sich auf. Das ist aber etwas Europaweites und ist nichts spezifisch Preußisches. Und ich würde sagen, dass die Frage Privatrecht als Verfassungsersatz, ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe, natürlich eine sehr grundsätzliche Frage ist, die, glaube ich, weit über Preußen hinaus reicht. In der Tat, wir formulieren unsere Fragestellungen von der Gegenwart her. Denken Sie an die Debatten Privatrecht ohne Staat oder Staat ohne Privatrecht, Steuerungswirkung des Privatrechts und so weiter. Wir haben das im 19. Jahrhundert in einer anderen Form, Privatrecht nämlich als Freiheitsraum im Sinne der Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht. Das Privatrecht dient hier der Entfaltung des freien Individuums. Da macht die preußische Gerichtsbarkeit lange Zeit tolle Sachen, auch das Reichsgericht, um auf die Justiz einzugehen. Das wäre aber nochmal ein eigenes Thema. Ich wollte jetzt nur noch einmal darauf hinweisen, dass das Elemente sind, die weit über Preußen hinausweisen und die letztendlich vielleicht, mit Bezug auf meine erste Bemerkung, nochmals zeigen, dass ein Vergleich auch hier noch einmal weiterhelfen könnte. Dieter Gosewinkel: Da es keine weiteren Wortmeldungen gibt, beschließen wir diese Aussprache mit einigen offenen Enden. Mir scheint deutlich geworden zu sein: Der Vergleich, ob innerhalb des Deutschen Bundes, des Deutschen Reiches usw. oder außerhalb, ist ein prinzipielles Desiderat. Es gab hier Gründe, sich auf den deutschsprachigen Raum zu konzentrieren. Bei anderen Gelegenheiten machen wir es aus guten Gründen anders. Sehr gut fand ich, dass die gemeinschaftsbildenden Aspekte von Recht in einigen Fällen deutlich geworden sind, das hat z. B. Herr Burkhardt nochmals prinzipell unterstrichen. Was zu kurz gekommen ist und vielleicht nicht explizit genug gemacht wurde, ist die Frage, wo Recht nicht Zusammengehörigkeit zu stiften vermag oder gar zerstört. Auch das wäre noch eine Variante gewesen. Die Frage nach dem Verhältnis von Privatrecht und Verfassung ist für eine Vereinigung für Verfassungsgeschichte, der eben auch Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker angehören, die häufig stark vom Privatrecht geprägt sind, etwas, das gut diskutiert werden kann. Das wäre vielleicht auch ein Thema für eine weitere Tagung.
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Und was wir vielleicht auch noch im Blick behalten sollten, dies ist ein abschließender Gedanke von mir: Wenn wir über Zusammengehörigkeit durch Recht – beziehungsweise im engeren Sinn über Zusammengehörigkeit durch Verfassung – reden und über Verfassungsfeindschaft als Gegenpol, dann sollten wir auch darüber nachdenken, ob es nicht politische Kräfte historisch gab und gibt, die beispielsweise im Augenblick zuzunehmen scheinen. Sie wollen das Rad zurückdrehen, die Zusammengehörigkeit gerade nicht mehr durch Recht stiften. Es handelte und handelt sich im übrigen um Angehörige ganz unterschiedlicher Couleur, ob am linken oder rechten Rand unseres politischen Spektrums. Sie wollen die Verbindlichkeit, die Einklagbarkeit, die egalisierende Bedeutung, die Recht haben kann und die auch eine Verfassung beansprucht, genau nicht. Sie sind gegen einen Verfassungsstaat, den auch Sternberger in seinen Artikeln präzise definiert. Hier geht es nicht nur um Verfassungsfeindschaft, gerichtet gegen eine konkrete Verfassung, sondern um Verfassungsabschaffung im Sinne der Abschaffung eines Typs von Verfassung und Konstitutionalismus, den die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Ich dämonisiere nicht, ich sage nur, es gibt durchaus auch Tendenzen von Feindschaft, die Verfassungen an sich und damit verfassungsrechtliche und verfassungsstaatliche Bindungskraft abschaffen wollen. Das ist ein Befund. Wir werden sehen. Reinhard Mußgnug: Wenn ich richtig sehe, bin ich – Jahrgang 1935 – der Älteste hier im Saal. Das verschafft mir die Ehre, dem Vorstand in unser aller Namen auf das Herzlichste für die Mühe zu danken zu dürfen, die er mit der Vorbereitung dieser Tagung für uns geleistet hat, und für den Erfolg, zu dem er sie geführt hat. Die angeregte und auch kontroverse Schlussdiskussion zeigt, dass der Vorstand bei der Wahl des Gesamtthemas und seiner Umsetzung in den Referaten eine außerordentlich glückliche Hand hatte. Ich erinnere mich aus meiner eigenen Vorstandszeit vor mittlerweile mehr als 25 Jahren, dass wir ein wenig Mühe hatten, die Schlussdiskussion vor allzu kurzangebundener Eintracht nach dem Motto „Es ist alles o. k. gewesen“ zu bewahren. Herr Gosewinkel, Herr Lepsius und Herr Oestmann waren auch in dieser Hinsicht deutlich erfolgreicher. Dazu mein herzlicher Glückwunsch. Dies war eine ungemein anregende, schöne Tagung. Ich gehe bereichert nach Hause und freue mich auf die nächste Tagung in der Hoffnung, dass ich auch dann wieder dabei sein kann.
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Foto: Andreas Kley.
Verzeichnis der Redner Amend-Traut:
102, 126, 227 ff.
Barmeyer-Hartlieb: 35 Brand:
156, 164, 193 f.
Burkhardt:
31, 99 f., 190, 226 f., 265, 273 f.
Cordes:
58, 125, 131 f.
Gaillet:
265
Garnier:
97, 156 ff.
Gosewinkel:
63, 132 f., 162 f., 226, 241, 264, 271 f., 275 ff., 282 f.
Grothe:
28 f., 61 f., 237, 264, 274 f.
Gusy:
191 f., 236 f., 266
Jestaedt:
30, 275
Kempny:
95 f., 127, 159
Kley:
95 ff., 161, 272 f.
Kotulla:
33 f., 59, 280 f.
Kramer:
27 ff., 62, 101, 192 f.
O. Lepsius:
37 f., 64 f., 267, 279 f.
S. Lepsius:
60 f., 129, 195 f., 232 f., 270
Liebrecht:
95
Manca:
35 f., 195
Meinel:
189, 235, 264 ff.
Mußgnug:
36 f., 161, 283
Pape:
64, 100 f.
Polley:
32, 98, 158, 195, 238, 277
Oestmann:
28, 57 f., 134, 162, 164, 194, 196, 229 f., 273
Ruppert:
27, 159 f., 191, 228, 238
Schmidt:
28, 96, 128, 188 ff., 239 f., 268, 279
Schulte:
130, 160
Thier:
281 f.
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Verzeichnis der Redner
Ubl:
125 ff., 160
Waldhoff:
56, 188, 231 f.
Westphal:
157
Wienfort:
56 ff., 128, 194, 268, 276
Wißmann:
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Vereinigung für Verfassungsgeschichte Satzung §1 1) Die Vereinigung für Verfassungsgeschichte stellt sich die Aufgabe: a) wissenschaftliche Fragen aus der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, durch Referate und Aussprache in Versammlungen ihrer Mitglieder zu klären; b) Forschungen in diesem Bereich zu fördern; c) auf die ausreichende Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte im Hochschulunterricht sowie bei staatlichen und akademischen Prüfungen hinzuwirken. 2) Sie verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung in ihrer jeweils gültigen Fassung. 3) Sitz der Vereinigung ist Frankfurt am Main.
§2 Gründungsmitglieder der Vereinigung sind diejenigen Personen, die zur Gründungsversammlung am 4. 10. 1977 in Hofgeismar eingeladen worden sind und schriftlich ihren Beitritt erklärt haben.
§3 1) Mitglied der Vereinigung kann werden, wer a) auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte, einschließlich der Verwaltungsgeschichte, seine Befähigung zu selbständiger Forschung durch entsprechende wissenschaftliche Veröffentlichungen nachgewiesen hat und b) an einer Universität bzw. gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschule oder Hochschuleinrichtung als selbständiger Forscher und Lehrer, an einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut als selbständiger Forscher oder im Archivdienst tätig ist. 2) Das Aufnahmeverfahren wird durch schriftlichen Vorschlag von drei Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Ist der Vorstand einstimmig der Auffassung, dass die Voraussetzungen für den Erwerb der Mitgliedschaft erfüllt sind, so verständigt er in einem Rundschreiben die Mitglieder von seiner Absicht, dem Vorgeschlagenen die Mitgliedschaft anzutragen. Erheben mindestens fünf Mitglieder binnen Monatsfrist gegen die Absicht des Vorstandes Einspruch oder beantragen sie mündliche Erörterung, so beschließt die Mitgliederversamm-
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Vereinigung für Verfassungsgeschichte – Satzung
lung über die Aufnahme. Die Mitgliederversammlung beschließt ferner, wenn sich im Vorstand Zweifel erheben, ob die Voraussetzungen der Mitgliedschaft erfüllt sind. 3) In besonders begründeten Ausnahmefällen kann Mitglied der Vereinigung auch werden, wer die Voraussetzungen nach Abs. 1 lit. b nicht erfüllt. In diesem Falle wird das Aufnahmeverfahren durch näher begründeten schriftlichen Vorschlag von fünf Mitgliedern der Vereinigung eingeleitet. Über die Aufnahme entscheidet nach Stellungnahme des Vorstandes die Mitgliederversammlung mit 2/3-Mehrheit der anwesenden Mitglieder.
§4 Die ordentliche Mitgliederversammlung soll regelmäßig alle zwei Jahre an einem vom Vorstand bestimmten Ort zusammentreten. In dringenden Fällen können außerordentliche Versammlungen einberufen werden. Auf Verlangen von 1/3 der Mitglieder ist der Vorstand verpflichtet, eine außerordentliche Mitgliederversammlung unverzüglich einzuberufen. Auf jeder ordentlichen Mitgliederversammlung muss mindestens ein wissenschaftlicher Vortrag mit anschließender Aussprache gehalten werden.
§5 Der Vorstand der Vereinigung besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Stellvertretern. Die Vorstandsmitglieder teilen die Geschäfte untereinander nach eigenem Ermessen. Der Vorstand wird am Schluss jeder ordentlichen Mitgliederversammlung neu gewählt; einmalige Wiederwahl ist zulässig. Der alte Vorstand bleibt bis zur Wahl eines neuen Vorstandes im Amt. Zur Vorbereitung der Mitgliederversammlung kann sich der Vorstand durch Zuwahl anderer Mitglieder verstärken. Auch ist Selbstergänzung zulässig, wenn ein Mitglied des Vorstandes in der Zeit zwischen zwei Mitgliederversammlungen ausscheidet.
§6 Der Beirat der Vereinigung besteht aus fünf Mitgliedern; die Mitgliederzahl kann erhöht werden. Der Beirat berät den Vorstand bei der Festlegung der Tagungsthemen und der Auswahl der Referenten. Die Mitglieder des Beirats werden von der Mitgliederversammlung auf vier Jahre gewählt.
§7 Zur Vorbereitung ihrer Beratungen kann die Mitgliederversammlung, in eiligen Fällen auch der Vorstand, besondere Ausschüsse bestellen.
§8 Zu Eingaben in den Fällen des § 1 Ziff. 2 und 3 und über öffentliche Kundgebungen kann nach Vorbereitung durch den Vorstand oder einen Ausschuss auch im Wege schriftlicher Ab-
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stimmung der Mitglieder beschlossen werden. Ein solcher Beschluss bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder; die Namen der Zustimmenden müssen unter das Schriftstück gesetzt werden.
§9 Der Mitgliedsbeitrag wird von der Mitgliederversammlung festgesetzt. Der Vorstand kann den Beitrag aus Billigkeitsgründen erlassen.
Verzeichnis der Mitglieder (Stand 10. Mai 2021) Vorstand 1. Gosewinkel, Dr. Dieter, Professor, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Reichpietschufer 50, D 10785 Berlin, [email protected], [email protected] 2. Lepsius, LL. M., Dr. Oliver, Professor, Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Bispinghof 24/25, D 48143 Münster, [email protected] 3. Oestmann, Dr. Peter, Professor, Universität Münster, Institut für Rechtsgeschichte, Universitätsstrasse 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected]
Beirat 1. Arlinghaus, Dr. Franz-Josef, Professor, Große-Kurfürsten-Straße 82, D 33615 Bielefeld, [email protected] 2. Asch, Dr. Ronald G., Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Werthmannplatz, KG IV, D 79085 Freiburg, [email protected] 3. Hausmann, Dr. Jost, Oberarchivrat, Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Fasanenweg 28, D 56179 Vallendar, [email protected], [email protected] 4. Kannowski, Dr. Bernd, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Universitätsstraße 30, D 95447 Bayreuth, [email protected], [email protected] 5. Polley, Professor Dr. Rainer, Archivdirektor, Archivschule Marburg, Bismarckstraße 32, D 35037 Marburg, [email protected] 6. Simon, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected]
294
Verzeichnis der Mitglieder
Mitglieder 1.
Althoff, Dr. Gerd, Professor, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20 – 22, D 48143 Münster, [email protected]
2.
Amend-Traut, Dr. Anja, Professorin, Universität Würzburg, Lehrstuhl für Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Bürgerliches Recht, Domerschulstraße 16, D 97070 Würzburg, [email protected]
3.
Arlinghaus, Dr. Franz-Josef, Professor, Gustav-Adolf-Straße 17, D 33615 Bielefeld, [email protected]
4.
Asch, Dr. Ronald G., Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Werthmannplatz, KG IV, D 79085 Freiburg, [email protected]
5.
Asche M. A., Dr. Matthias, Professor, An der Wublitz 27, D 14542 Werder (Havel) OT Töplitz-Leest, [email protected]
6.
Badura, Dr. Peter, Professor, Am Rothenberg Süd 4, D 82431 Kochel, [email protected]
7.
Barmeyer-Hartlieb, Dr. Heide, Professorin, Auf den Bohnenkämpen 6, D 32756 Detmold, [email protected]
8.
Battenberg, Dr. J. Friedrich, Professor, Hessische Historische Kommission, Karolinenplatz 3, D 64289 Darmstadt, [email protected]
9.
Baumgart, Dr. Peter, Professor, Frankenstraße 176, D 97078 Würzburg, [email protected]
10.
Becht, Dr. Hans-Peter, Professor, Universität Stuttgart, Historisches Institut, Neuere Geschichte, Keplerstraße 17, D 70174 Stuttgart, [email protected], [email protected]
11.
Becker, Dr. Hans-Jürgen, Professor, Karl-Fischer-Weg 2, D 93051 Regensburg, [email protected]
12.
Birtsch, Dr. Günter, Professor, Bachwies 16, D 54296 Trier/Filsch, [email protected]
13.
Boldt, Dr. Hans, Professor, Krafftgasse 1, D 79379 Müllheim, [email protected]
14.
Borck, Dr. Heinz-Günther, Professor, Karthäuserhofweg 22, D 56075 Koblenz, [email protected]
15.
Brand, Dr. Jürgen, Professor, Schragen 20, D 40822 Mettmann, [email protected]
16.
Brandt, Dr. Harm-Hinrich, Professor, Sonnenrain 10, D 97234 Reichenberg, [email protected]
Verzeichnis der Mitglieder
295
17.
Brandt, Dr. Peter, Professor, FernUniversität in Hagen, Dimitris-Tsatsos-Institut für Europäische Verfassungswissenschaften, D 58084 Hagen [email protected]
18.
Brauneder, Dr. DDr. h. c. Wilhelm, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected]
19.
Bulst, Dr. Neithard, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie, Universitätsstraße 25, D 33615 Bielefeld, [email protected]
20.
Burgdorf, Dr. Wolfgang, Professor, Ludwig-Maximilians-Universität München, Historisches Seminar, Geschwister-Scholl-Platz 1, D 80539 München, [email protected]
21.
Burkhardt, Dr. Johannes, Professor, Universität Augsburg, Philosophische Fakultät II, Universitätsstraße 10, D 86135 Augsburg, [email protected]
22.
Butzer, Dr. Hermann, Professor, Moltkestraße 4, D 30989 Gehrden, [email protected]
23.
Cancik, Dr. Pascale, Professor, Universität Osnabrück, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Martinistraße 12, D 49069 Osnabrück, [email protected], [email protected]
24.
Carl, Dr. Horst, Professor, Universität Gießen, FB 04 Historisches Institut, Neuere Geschichte II, Otto-Behaghel-Straße 10/C1, D 35394 Gießen, [email protected]
25.
Collin, Dr. Peter, Privatdozent, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hansaallee 41, D 60323 Frankfurt/Main, [email protected]
26.
Cordes, Dr. Albrecht, Professor, J. W. Goethe-Universität Frankfurt, Fachbereich Rechtswissenschaft, Institut für Rechtsgeschichte, Theodor-W.-Adorno Platz 4, D 60629 Frankfurt/Main, [email protected]
27.
Dilcher, Dr. Gerhard, Professor, Kuckucksweg 18, D 61462 Königstein/Taunus, [email protected]
28.
Dreier, Dr. Horst, Professor, Bismarckstraße 13, 21465 Reinbek [email protected]
29.
Eisenhardt, Dr. Ulrich, Professor, Tückingschulstraße 39 E, D 58135 Hagen
30.
Emich, Dr. Birgit, Professorin, Universität Frankfurt, Historisches Seminar FB 8, Norbert-Wollheim-Platz 1, D 60629 Frankfurt/Main, [email protected]
31.
Enders, Dr. Christoph, Professor, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staats- und Verfassungslehre, Juristenfakultät der Universität Leipzig, Burgstraße 21, D 04109 Leipzig, [email protected]
32.
Fenske, Dr. Hans, Professor, Kardinal-Wendel-Straße 45, D 67346 Speyer
296
Verzeichnis der Mitglieder
33.
Friedeburg, Dr. Robert von, Bishop Grosseteste Universität, Longdales Road, Lincoln LN1 3DY, Lincolnshire, England, [email protected]
34.
Frotscher, Dr. Werner, Professor, Universität Marburg, Fachbereich Rechtswissenschaft, Institut für Öffentliches Recht, Universitätsstraße 6, D 35032 Marburg, [email protected]
35.
Gaillet, Dr. Aurore, Professorin, Universität Toulouse 1 Capitole, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, 30 avenue Emile Dewoitine, F 31200 Toulouse, [email protected]
36.
Gerber, Dr. Stefan, Dozent, Universität Jena, Historisches Institut, Forschungsstelle für Neuere Regionalgeschichte Thüringens, Fürstengraben 13, D 07743 Jena, [email protected]
37.
Gosewinkel, Dr. Dieter, Professor, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Reichpietschufer 50, D 10785 Berlin, [email protected]
38.
Gotthard, Dr. Axel, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Departement für Geschichte, Kochstraße 4, D 91054 Erlangen, [email protected]
39.
Grimm, Dr. DDr. h. c. Dieter, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Unter den Linden 11, D 10099 Berlin, [email protected]
40.
Grothe, Dr. Ewald, Professor, Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Archiv des Liberalismus, Theodor-Heuss-Straße 26, D 51645 Gummersbach, [email protected], [email protected]
41.
Grypa, Dr. Dietmar, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Professur für Neuere und Neueste Geschichte, Bayerische Landesgeschichte, Am Hubland, D 97074 Würzburg, [email protected]
42.
Gusy, Dr. Christoph, Professor, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte, Universitätsstraße 25, D 33615 Bielefeld, [email protected]
43.
Haferkamp, Dr. Hans-Peter, Professor, Universität zu Köln, Institut für Neuere Privatrechtsgeschichte, Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte, Bernhard-FeilchenfeldStraße 9, 50969 Köln, [email protected]
44.
Hahn, Dr. Hans Henning, Professor, Albertinumweg 1, D 54568 Gerolstein [email protected]
45.
Hahn, Dr. Hans-Werner, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, D 07743 Jena, [email protected], [email protected]
Verzeichnis der Mitglieder
297
46.
Härter, Dr. Karl, Professor, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hansaallee 41, D 60323 Frankfurt/Main, [email protected]
47.
Hartmann, Dr. Bernd J., Professor, Universität Osnabrück, Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Martinistraße 12, D 49078 Osnabrück, [email protected]
48.
Haug-Moritz, Dr. Gabriele, Professorin, Universität Graz, Institut für Geschichte, Attemsgasse 8/III, A 8010 Graz, [email protected]
49.
Hausmann, Dr. Jost, Oberarchivrat, Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Fasanenweg 28, D 56179 Vallendar, [email protected], [email protected]
50.
Heyen, Dr. Erk Volkmar, Professor, Universität Greifswald, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Domstraße 20, D 17489 Greifswald, [email protected]
51.
Hille, Dr. Martin, Dozent, Universität Passau, Innstraße 25, D 94032 Passau, [email protected]
52.
Hillgruber, Dr. Christian, Professor, Universität Bonn, Institut für Kirchenrecht, Adenauerallee 18 – 22, D 53113 Bonn, [email protected]
53.
Höbelt, Dr. Lothar, Professor, Porzellangasse 19/4, A 1090 Wien, [email protected]
54.
Hoke, DDr. DDr. h. c. Rudolf, Professor, Postgasse 19, A 1010 Wien
55.
Hufeld, Dr. Ulrich, Professor, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Holstenhofweg 85, D 22043 Hamburg, [email protected]
56.
Isenmann, Dr. Eberhard, Professor, Universität zu Köln, Historisches Seminar, AlbertusMagnus-Platz, D 50923 Köln, [email protected]
57.
Jestaedt, Dr. Matthias, Professor, Universität Freiburg, Institut für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie, Abt. 3 – Rechtstheorie, Schillerstraße 1, D 79085 Freiburg/Breisgau, [email protected], [email protected]
58.
Jouanjan, Dr. Olivier, Professor, Institut Michel Villey, Université Paris II, 12, Place du Panthéon, F 75005 Paris, [email protected]
59.
Kaiser, LL. M., Dr. Anna-Bettina, Professorin, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, D 10099 Berlin, [email protected]
60.
Kampmann, Dr. Christoph, Professor, Philipps-Universität Marburg, Seminar für Neuere Geschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6 C III, D 35032 Marburg/Lahn, [email protected]
298
Verzeichnis der Mitglieder
61.
Kannowski, Dr. Bernd, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Universitätsstraße 30, D 95447 Bayreuth, [email protected], [email protected]
62.
Keiser, Dr. Thorsten LL.M., Professor, Justus-Liebig-Universität Gießen, Professur für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Licher Straße 76, 35394 Gießen, [email protected]
63.
Kempny, Dr. Simon, Professor, Universität Bielefeld, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Steuerrecht, Universitätsstraße 25, D 33615 Bielefeld, [email protected]
64.
Kern, Dr. Bernd-Rüdiger, Professor, Universität Leipzig, Juristenfakultät, Burgstraße 27, D 04109 Leipzig, [email protected], [email protected]
65.
Kersten, Dr. Jens, Professor, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Politik und Öffentliches Recht, Professor-Huber-Platz 2, D 80539 München, [email protected]
66.
Kleinheyer, Dr. Gerd, Professor, Universität Bonn, Fachbereich Rechtswissenschaft, Adenauerallee 24 – 42, D 53113 Bonn
67.
Kley, Dr. Andreas, Professor, Universität Zürich, Rechtswissenschaftliches Institut, Rämistrasse 74/34, CH 8001 Zürich, [email protected]
68.
Klippel, Dr. Diethelm, Professor, Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Universitätsstraße 30, D 95440 Bayreuth, [email protected]
69.
Kohl, Dr. Gerald, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected]
70.
Kotulla, M. A., Dr. Michael, Professor, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, D 33615 Bielefeld, [email protected], [email protected]
71.
Knorring, Dr. Marc von, Dozent, Universität Passau, Philosophische Fakultät, Neuere und Neueste Geschichte, Innstraße 25, D 94032 Passau, [email protected]
72.
Kraus, Dr. Hans-Christof, Professor, Universität Passau, Philosophische Fakultät, Neuere und Neueste Geschichte, Innstraße 25, D 94032 Passau, [email protected]
73.
Kroeschell, Dr. Dr. h. c. Karl, Professor, Fürstenbergstraße 24, D 79102 Freiburg/Breisgau
74.
Krüper, Dr. Julian, Professor, Ruhr-Universität Bochum, Juristische Fakultät, Universitätsstraße 150, D 44801 Bochum, [email protected]
75.
Kumm, S.J.D., Matthias, Professor, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Reichspietschufer 50, D 10785 Berlin, [email protected]
Verzeichnis der Mitglieder
299
76.
Kühne, Dr. Jörg-Detlef, Professor, Universität Hannover, Juristische Fakultät, Königswortherplatz 1, D 30167 Hannover, [email protected], [email protected]
77.
Lanzinner, Dr. Maximilian, Professor, Heinbogenstrasse 2a, D 85356 Freising, [email protected]
78.
Leonhard, Dr. Jörn, Professor, Universität Freiburg, Historisches Seminar, Rempartstraße 15 – KG IV, D 79085 Freiburg, [email protected]
79.
Lepsius, LL. M., Dr. Oliver, Professor, Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Bispinghof 24/25, D 48143 Münster, [email protected]
80.
Lepsius, Dr. Susanne, Professorin, Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Gelehrtes Recht, Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht, Professor-Huber-Platz 2, D 80539 München, [email protected]
81.
Liebrecht, Dr. Johannes, Professor, Universität Zürich, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Rämistrasse 74/2, CH 8001 Zürich, [email protected]
82.
Lingelbach, Dr. Gerhard, Professor, Universität Jena, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Carl-Zeiß-Straße 3, D 07743 Jena, [email protected]
83.
Löffler, Dr. Bernhard, Professor, Universität Regensburg, Institut für Geschichte, Lehrstuhl für Bayerische Landesgeschichte, Universitätsstraße 31, D 930453 Regensburg, [email protected]
84.
Lück, Dr. Heiner, Professor, Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät, Universitätsring 4, D 06108 Halle (Saale), [email protected]
85.
Lundgreen, Dr. Christoph, Professor, Technische Universität Dresden, Bürohaus Zellescher Weg 17, D 01062 Dresden, [email protected]
86.
Manca, Dr. Anna Gianna, Professorin, Università degli Studi di Trento, Dipartimento di Filosofia, Storia e Beni Culturali, Via Santa Croce 65, I 38100 Trento, [email protected]
87.
Marquardt, Dr. Bernd, Professor, Calle 128b, No. 72 – 80, casa 3, Bogotá D.C., Colombia, [email protected]
88.
Masing, Dr. Johannes, Professor, Universität Freiburg, Institut für Öffentliches Recht V, Platz der Alten Synagoge 1, D 79085 Freiburg, [email protected]
89.
Meinel, Dr. Florian, Professor, Universität Göttingen, Juristische Fakultät, Nikolausberger Weg 17, D 37073 Göttingen [email protected]
300
Verzeichnis der Mitglieder
90.
Mohnhaupt, Dr. Heinz, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Hansaallee 41, D 60323 Frankfurt/Main, [email protected]
91.
Möllers, Dr. Christoph, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Unter den Linden 6, D 10099 Berlin, [email protected]
92.
Mußgnug, Dr. Reinhard, Professor, Keplerstraße 40, D 69120 Heidelberg, [email protected]
93.
Müßig, Dr. Ulrike, Professorin, Universität Passau, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht sowie Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Juridicum, Innstraße 39, D 94032 Passau, [email protected]
94.
Murk, Dr. Karl, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Friedrichstraße 15, D 35037 Marburg
95.
Neitmann, Dr. Klaus, Professor, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Zum Windmühlenberg, D 14469 Potsdam, OT Bornim, [email protected]
96.
Neschwara, Dr. Christian, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected]
97.
Neugebauer, Dr. Wolfgang, Professor, Humboldt-Universität Berlin, Philosophische Fakultät I, Institut für Geschichtswissenschaften, Geschichte für Preußen, Unter den Linden 6, D 10099 Berlin, [email protected]
98.
Neuhaus, Dr. Helmut, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Neuere Geschichte I, Fichtestraße 46, D 91054 Erlangen, [email protected]
99.
Nilsén, Dr. Per, Professor, Lund University, Faculty of Law, Box 207, SE 221 00 Lund, [email protected]
100. Oestmann, Dr. Peter, Professor, Universität Münster, Institut für Rechtsgeschichte, Universitätsstrasse 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected] 101. Olechowski, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected] 102. Pahlow, Dr. Louis, Professor, Universität Frankfurt, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Rechtsgeschichte, Zivilrecht und Gewerblicher Rechtsschutz, Campus Westend, Grüneburgplatz 1, D 60323 Frankfurt/Main, [email protected], [email protected] 103. Pape, Dr. Matthias, Dozent, RWTH Aachen, Historisches Institut, Theaterplatz 14, D 52056 Aachen, [email protected], [email protected]
Verzeichnis der Mitglieder
301
104. Pauly, Dr. Walter, Professor, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Rechtsphilosophie, Carl-Zeiß-Straße 3, D 07743 Jena, [email protected] 105. Pelizaeus, Dr. Ludolf, Professor, Université Jules Verne Picardie, UFR de Langues et Cultures étrangères, Rue des Français libres, F 80080 Amiens Cedex, [email protected], [email protected] 106. Peterson, Dr. Claes, Professor, Stockholms universitet, Juridiska institutionen, Universitetsvägen 10c, Södra huset, Frescati, S 10691 Stockholm, [email protected] 107. Pieroth, Dr. Bodo, Professor, Universität Münster, Institut für Öffentliches Recht und Politik, Universitätsstraße 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected] 108. Polley, Professor Dr. Rainer, Archivdirektor, Archivschule Marburg, Bismarckstraße 32, D 35037 Marburg, [email protected] 109. Reiter-Zatloukal, Dr. Ilse, Professorin, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected] 110. Repgen, Dr. Tilman, Professor, Universität Hamburg, Professur für Deutsche Rechtsgeschichte, Neuere Privatrechtsgeschichte und Bürgerliches Recht, Rothenbaumchaussee 33, 20148 Hamburg, [email protected] 111. Riotte, Dr. Torsten, Professor, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Professur für Neuere Geschichte (Schwerpunkt 19. Jh.), Norbert-Wollheim-Platz 1, 60629 Frankfurt am Main, [email protected] 112. Robbers, Dr. Gerhard, Professor, Universität Trier, FB V – Rechtswissenschaften, Institut für Rechtspolitik, Postfach 3825, D 54286 Trier, [email protected] 113. Rückert, Dr. Joachim, Professor, Alt Seulberg 42 A, D 61381 Friedrichdorf [email protected] 114. Rudersdorf, Dr. Manfred, Professor, Universität Leipzig, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Beethovenstraße 15, D 04107 Leipzig, [email protected], [email protected] 115. Ruppert, Dr. Karsten, Professor, Am Unteren Schlittberg 19, D 67354 Römerberg, [email protected] 116. Schennach, DDr. Martin P., Professor, Universität Innsbruck, Institut für Römisches Recht und Rechtsgeschichte, Innrain 52, A 6020 Innsbruck, [email protected] 117. Schenk, Dr. Tobias, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Minoritenplatz 1, A 1010 Wien, [email protected]
302
Verzeichnis der Mitglieder
118. Schlegelmilch, Dr. Arthur, Professor, FernUniversität in Hagen, Institut für Geschichte und Biographie, Villa Bechem, Feithstraße 152, D 58097 Hagen, [email protected] 119. Schlinker, Dr. Steffen, Professor, Universität Würzburg, Juristische Fakultät, Domerschulstraße 16, D 97070 Würzburg, [email protected] 120. Schmidt, Dr. Georg, Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, D 07743 Jena, [email protected] 121. Schmidt-De Caluwe, Dr. Reimund, Professor, Universität Halle-Wittenberg, Juristische Fakultät, Universitätsplatz 5, D 06108 Halle/Saale, [email protected] 122. Schmoeckel, Dr. Mathias, Professor, Universität Bonn, Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte, Adenauerallee 24 – 42, D 53113 Bonn, [email protected], [email protected] 123. Schönberger, Dr. Christoph, Professor, Universität zu Köln, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Albertus-Magnus-Platz, D 50923 Köln, [email protected] 124. Schubert, Dr. Werner, Professor, Universität Kiel, Juristisches Seminar, Leibnizstraße 6, D 24118 Kiel, [email protected] 125. Schulte, Dr. Petra, Professorin, Universität Trier, FB III, Mittelalterliche Geschichte, Olewiger Straße 171, D 54295 Trier, [email protected] 126. Schulze, Dr. Dr. h. c. Reiner, Professor, Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected], [email protected] 127. Schütz, Dr. Rüdiger, Professor, Am Burgberg 24, D 52080 Aachen, [email protected] 128. Schwab, Dr. Dr. h. c. Dieter, Professor, Riesengebirgstraße 34, D 93057 Regensburg, [email protected] 129. Simon, Dr. Thomas, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected] 130. Stauber, Mag. Dr. Reinhard, Professor, Universität Klagenfurt, Institut für Geschichte, Universitätsstraße 65 – 67, A 9020 Klagenfurt, [email protected] 131. Stickler, Dr. Matthias, Professor, Universität Würzburg, Institut für Geschichte, Am Hubland, D 97074 Würzburg, [email protected] 132. Stollberg-Rilinger, Dr. Barbara, Professorin, Wissenschaftskolleg zu Berlin, Wallotstraße 19, D 14143 Berlin, [email protected]
Verzeichnis der Mitglieder
303
133. Stuchtey, Dr. Benedikt, Professor, Philipps-Universität Marburg, Geschichte und Kulturwissenschaften, Neueste Geschichte, Wilhelm-Röpke-Straße 6, D 35032 Marburg, [email protected] 134. Takii, Kazuhiro, Professor, International Research Center for Japanese Studies, 3 – 2 Goryo Oeyama Nishikyo, Kyoto 610 – 1192, Japan, [email protected] 135. Thier, M. A., Dr. Andreas, Professor, Universität Zürich, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Rämistrasse 74/11, CH 8001 Zürich, [email protected], [email protected] 136. Vec, Dr. Milosˇ, Professor, Universität Wien, Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Schottenbastei 10 – 16, A-1010 Wien, [email protected] 137. Vormbaum, Dr. Thomas, Professor, FernUniversität in Hagen, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 21, D 58097 Hagen, [email protected] 138. Wahl, Dr. Rainer, Professor, Hagenmattenstraße 6, D 79117 Freiburg, [email protected] 139. Waldhoff, Dr. Christian, Professor, Humboldt-Universität zu Berlin, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht, Unter den Linden 6, D 10099 Berlin, [email protected], [email protected] 140. Wall, Dr. Heinrich de, Professor, Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Kirchenrecht, Staats- und Verwaltungsrecht, Hindenburgstraße 34, D 91054 Erlangen, [email protected] 141. Walther, Dr. Helmut G., Professor, Universität Jena, Historisches Institut, Mittelalterliche Geschichte, Fürstengraben 13, D 07743 Jena, [email protected] 142. Weiß, Dr. Dieter J., Professor, Ludwig-Maximilians-Universität München, Historisches Seminar, Institut für Bayerische Geschichte, Geschwister-Scholl-Platz 1, D 80539 München, [email protected] 143. Weinke, Dr. Annette, Professorin, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehrstuhl Professor Dr. Norbert Frei, Fürstengraben 13, D 07743 Jena, [email protected] 144. Westphal, Dr. Siegrid, Professorin, Lürmannstraße 25, D 49076 Osnabrück, [email protected] 145. Wiederin, Dr. Ewald, Professor, Universität Wien, Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Schottenbastei 10 – 16, A 1010 Wien, [email protected] 146. Wienfort, Dr. Monika, Professorin, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät I, Institut für Geschichtswissenschaften, Friedrichstraße 191 – 193, D 10117 Berlin, [email protected]
304
Verzeichnis der Mitglieder
147. Will, LL. M., DDr. Martin, Professor, EBS Universität für Wirtschaft und Recht, Lehrstuhl für Staatsrecht, Verwaltungs-, Europarecht, Recht der neuen Technologien sowie Rechtsgeschichte, Gustav-Stresemann-Ring 3, D 65189 Wiesbaden, [email protected] 148. Willoweit, Dr. Dietmar, Professor, Unterer Dallenbergweg 11, D 97082 Würzburg, [email protected] 149. Winkelbauer, Dr. Thomas, Professor, Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Universität Wien, Universitätsring 1, A 1010 Wien, [email protected] 150. Wißmann, Dr. Hinnerk, Professor, Universität Münster, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insb. Verwaltungswissenschaften, Kultur- und Religionsverfassungsrecht, Universitätsstraße 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected] 151. Wittreck, Dr. Fabian, Professor, Universität Münster, Institut für Öffentliches Recht und Politik, Universitätsstraße 14 – 16, D 48143 Münster, [email protected] 152. Wolgast, Dr. Eike, Professor, Universität Heidelberg, Historisches Seminar, Grabengasse 3 – 5, Postfach 105760, D 69047 Heidelberg, [email protected] 153. Würtenberger, Dr. Thomas, Professor, Universität Freiburg, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Forschungsstelle für Hochschulrecht, Belfortstraße 20, D 79085 Freiburg, [email protected] 154. Wüst, Dr. Wolfgang, Professor, Beim Grönacker 34, D 90480 Nürnberg, [email protected], [email protected]