Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung 9783111676371, 9783111291246


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German Pages 314 [316] Year 1959

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Table of contents :
Einleitung
Erstes Kapitel
DIE ERSTE VOLKSSPRACHLICHE FABELSAMMLUNG UND IHR VERHÄLTNIS ZUR ÄSOPISCH-CHRISTLICHEN TRADITION
A. Die Ausgangsposition im ROMULUS NILANTINUS und im ESOPE der Marie de France
B. rencliner a ma nature (der Sinn der Fabel im ESOPE)
C. Die Tierfabel als Spiegel des feudal-ritterlichen Ethos
Zweites Kapitel
DIE ANFÄNGE DER MITTELALTERLICHEN TIEREPIK UND DER NEUEINSATZ DES LATEINISCHEN YSENGRIMUS
A. Die ersten Zeugnisse der epischen Tierdichtung des Mittelalters und das Ursprungsproblem des zyklischen Tierepos
B. Das Verhältnis von Fuchs und Wolf in der Überlieferung der Hoftagsfabel und ihre Rolle in der ECBASIS CAPTIVI
C. Der Gegensatz des Toren und des Weisen und die Fortuna-Thematik im YSENGRIMUS des Magister Nivardus
Drittes Kapitel
URSPRUNG UND WEG DES VOLKSSPRACHLICHEN TIERSCHWANKS (FUCHS UND WOLF IM BRUNNEN)
A. une branche et un sol gabet
B. Der demonstrative Sinn des Exemplums und die sprichwörtliche Erfahrung des Fuchsschwanks
C. Das Verhältnis zwischen der altfranzösischen und der mittelhochdeutschen Version (Vortragsdichtung und Leseliteratur)
D. Der geschichtliche Wandel des Tierschwanks nach den literarischen Varianten von ,Fuchs und Wolf im Brunnen‘
Viertes Kapitel
DIE TYPENWELT DER CHARAKTERE IM ÄLTESTEN ALTFRANZ. TIEREPOS UND IHR VERHÄLTNIS ZUR HELDENDICHTUNG
A. Pierre de Saint-Cloud als Fortsetzer des YSENGRIMUS
B. Die Kontingenz des Geschehens und das Wesen der aventure im ROMAN DE RENART
C. Die Analogie von tierischem Wesen und menschlicher Natur im Tierepos des Mittelalters
D. Der Gegensatz zur Heldendichtung und die Parodie der höfischen Liebe in Branche II–Va
Fünftes Kapitel
DIE ZYKLISCHE ENTWICKLUNG DER VOLKSSPRACHLICHEN FUCHSEPEN UND DIE HERAUSBILDUNG DER SCHELMENFIGUR
A. Die Ablösung des Fuchsabenteuers von seiner heroischen Gegenwelt
B. Das Gericht über den Schelmen als Konklusion und Fortsetzungskeim
C. Die pathetische Satire und das Ethos der alten triuwe im mittelhochdeutschen REINHART FUCHS
D. Die scherzhafte Satire im flämischen Fuchsepos und der zyklische Abschluß in der ,processio Reinardi‘
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Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung
 9783111676371, 9783111291246

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BEIHEFTE ZUR

Z E I T S C H R I F T FÜR ROMANISCHE P H I L O L O G I E BEGRÜNDET VON GUSTAV GRÖBER f FORTGEFÜHRT VON WALTHER VON WARTBURG HERAUSGEGEBEN VON KURT BALDINGER

100. HEFT HANS ROBERT JAUSS

U N T E R S U C H U N G E N ZUR MITTELALTERLICHEN TIERDICHTUNG

M A X N I E M E Y E R V E R L A G / T Ü B I N G E N 1959

UNTERSUCHUNGEN ZUR MITTELALTERLICHEN TIERDICHTUNG VON HANS ROBERT JAUSS

MAX N I E M E Y E R V E R L A G / T Ü B I N G E N

1959

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1959 Alle Rechte vorbehalten Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlags ist es auch nicht gestattet, diesen Band, einzelne Beiträge oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz und Druck H.Laupp j r Tübingen

Aleinem Lehrer G E R H A R D

H E S S

ι}. April 19/7 in Dankbarkeit zugeeignet

Inhaltsverzeichnis Einleitung

12

Erstes Kapitel D I E E R S T E V O L K S S P R A C H L I C H E F A B E L S A M M L U N G U N D IHR V E R H Ä L T N I S Z U R ÄSOPISCH-CHRISTLICHEN T R A D I T I O N A . Die Ausgangsposition im

ROMULUS NILANTINUS

und im

ESOPE

der Marie

de France B.

24

24

rencliner a ma nature (der Sinn der Fabel im

ESOPE)

C. Die Tierfabel als Spiegel des feudal-ritterlichen Ethos

}3

45

Zweites Kapitel DIE A N F Ä N G E DER MITTELALTERLICHEN TIEREPIK UND DER NEUEINS A T Z DES LATEINISCHEN YSENGRIMUS

56

A . Die ersten Zeugnisse der epischen Tierdichtung des Mittelalters und das Ursprungsproblem des zyklischen Tierepos

59

B. Das Verhältnis von Fuchs und Wolf in der Überlieferung der Hoftagsfabel und ihre Rolle in der E C B A S I S C A P T I V I

77

C. Der Gegensatz des Toren und des Weisen und die Fortuna-Thematik im Y S E N G R I M U S des Magister Nivardus

95

Drittes Kapitel URSPRUNG U N D W E G D E S V O L K S S P R A C H L I C H E N TIERS C H W A N K S (FUCHS U N D W O L F IM B R U N N E N ) A. une branehe et un sol gäbet

114 114

B. Der demonstrative Sinn des Exemplums und die sprichwörtliche Erfahrung des Fuchsschwanks

128

C. Das Verhältnis zwischen der altfranzösischen und der mittelhochdeutschen Version (Vortragsdichtung und Leseliteratur)

142

D. Der geschichtliche Wandel des Tierschwanks nach den literarischen Varianten von .Fuchs und Wolf im Brunnen'

164

Viertes Kapitel D I E T Y P E N W E L T D E R C H A R A K T E R E IM Ä L T E S T E N A L T F R A N Z . T I E R E P O S U N D IHR V E R H Ä L T N I S Z U R H E L D E N D I C H T U N G A . Pierre de Saint-Cloud als Fortsetzer des YSENGRIMUS

178 178

B. Die Kontingenz des Geschehens und das Wesen der aventure im ROMAN DE R E N A R T

189

C. Die Analogie von tierischem Wesen und menschlicher Natur im Tierepos des Mittelalters

201

D . Der Gegensatz zur Heldendichtung und die Parodie der höfischen Liebe in Branche I I - V a

219

Fünftes Kapitel DIE ZYKLISCHE ENTWICKLUNG DER VOLKSSPRACHLICHEN FUCHSEPEN U N D DIE HERAUSBILDUNG D E R SCHELMENFIGUR

240

A . Die A b l ö s u n g des Fuchsabenteuers v o n seiner heroischen Gegenwelt

240

B. Das Gericht über den Schelmen als Konklusion und Fortsetzungskeim

260

C . D i e pathetische Satire und das Ethos der alten triuwe im mittelhochdeuts c h e n REINHART FUCHS

D . Die scherzhafte Satire im flämischen Fuchsepos und der zyklische A b schluß in der .processio Reinardi'

275

295

Verzeichnis der abgekürzt angeführten Literatur

Texte Die Disciplina Clericalis des Petrus Alfonsi, hg. von A . Hilka und W. Söderhjelm. Kleine Ausgäbe, Heidelberg 1911 (Sammlung mittellateinischer Texte, hg. von A. Hilka, Bd. 1). Carmina Cantabrigiensia. Textausgabe von W. Bulst. Heidelberg Carm. Cant. 1950 (Editiones Heidelbergenses, Heft 17). ECBASIS Ecbasis cuiusdam captivi per tropologiam, hg. von K. Strecker. Separatedition der Monumenta, Hannover 1935. ESOPE Die Fabeln der Marie de France, hg. von K. Warnke. Halle 1898 (Bibliotheca Normannica, Bd. VI). Kl. lt. Denkmäler Kleinere lateinische Denkmäler der Thiersage aus dem XII. bis XIV. Jahrhundert, hg. von E.Voigt. Straßburg 1878 (Quellen und Forschungen %ur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker, Bd. XXV). PHYSIOLOGUS Francis J. Carmody, Hg. Physiologus Latinus, Editions preliminaires versio B. Paris 1939. Poetae Monumenta Germaniae Historica, Poetae Latini Aevi Carolini. Tom. I-V (2), 1881-1939. RCf Le Roman de Renart le Contrefait, publie par G. Raynaud et H. Lemaitre. T. I-II. Paris 1914. RdR Le Roman de Renart, publie par Ε. Martin. Τ. I-III, Straßburg 1882-1887. (Zitiert wird, wenn nicht anders angegeben, nach dieser Ausgabe mit Angabe der Branchenziffer und Verszahl, ζ. B. Br. II 75 = Branche II Vers 75.) Le Roman de Renart, edite d'apres le ms. de Cange par Μ. Roques. T. I-III, Paris 1948fr. (CFMA 78, 79, 81). RF Das mittelhochdeutsche Gedicht vom Fuchs Reinhart, hg. von G. Baesecke. Zweite Auflage, besorgt von I. Schröbler. Halle 1952 (Altdeutsche Textbibliothek Nr. 7). REINAERT I Van den Vos Reynaerde. I. Teksten. Diplomatisch uitgegeven naar de brennen vöör het Jaar ijoo door W. Gs Hellinga. Zwolle 1952. (Zitiert wird nach der Comburger Redaktion (A).) Romuli Nilantii Fabulae, ex Bodleianae Bibliothecae Manuscripto RN Codice Lat. Digbeiano 172 extractae, in: L. Hervieux, Les fabulistes latins depuis le stiele d'Auguste jusqu'ä la fin du mqyen-dge. Τ. II. Paris 2 1894, p. 513fr. ROMULUS Der lateinische Asop des Romulus und die Prosa-Fassungen des Phädrus. Kritischer Text mit Kommentar und einleitenden Untersuchungen von G. Thiele. Heidelberg 1910. YS Y S E N G R I M U S . Herausgegeben und erklärt von E. Voigt. Halle 1884. Disc. Cler.

10

Abhandlungen Heinrieb der Gliche^are, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 52 (1927), 1-22. BÜTTNER, H . Studien dem Roman de Renart und dem Reinhart Fuchs, I . : Die Überlieferung des Raman de Renart und die Handschrift O, II.: Der Reinhart Fuchs und seine französische Quelle. Straßburg 1891. CURTIUS, E . R. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948. FOULET, L . Le Roman de Renard. Paris 1914 (Bibliothique de l'Ecole des Hautes Etudes, fasc. 211). F R A N K E L , H. Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. Frankfurt 1951 (American Philological Association, New York). FRANCIS, A. Marie de France et son temps, in: Romania 72 (1951), 78-99. GRIMM, J. Reinhart Fuchs. Berlin, bei Reimer 1834. JOLLES, A . Einfache Formen. liegende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, WitHalle 1930 (Sächs. Forschungsinstitute in Leipzig, Forschungsinstitut für neuere Philologie, II. Neugermanistische Abt., Heft II). KÖHLER, E . Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik: Studien %ur Form der frühen Artus- und Graldichtung. Tübingen 1956 (Beihefte zur ZRPh, 97. Heft). LEO, U. Die erste Branche des Roman de Renart nach Stil, Aufbau, Quellen und Einfluß. Greifswald 1918 (Romanisches Museum, hg. von G . Thurau, XVII). L I P P S , H. Die menschliche Natur. Frankfurt 1941 (Frankfurter Wissenschaftliche Beiträge, Kulturwissenschaftliche Reihe, Bd. 8). MARTIN, E . Observations sur le Roman de Renart. Supplement de l'edition du roman de Renart. Straßburg 1887. MORAWSKI, J. Proverbes franfais anterieurs auXVe sihle. Paris 1925 ( C F M A 47). P A R I S , G. Le Roman de Renard, abgedruckt in: Melanges de Litte'rature Franfaise du Moyen Age, publie par Μ. Roques. Paris 1910. Ross, W. Die ,Ecbasis captivi' und die Anfänge der mittelalterlichen Tierdichtung, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 35 (1954), 266-282. RYCHNER, J . La chanson de geste: Essai sur l'art epique des jongleurs. Genf 1955 (Socidte de publications romanes et franjaises sous la direction de Μ. Roques, L X X X ) . S C H I R O K A U E R , A . Die Stellung Asops in der Literatur des Mittelalters, in: Festschrift f ü r W . Stammler, Berlin-Bielefeld 1953, 1 7 9 - 1 9 1 . SPITZER, L. Die Branche VIII des Roman de Renart, in: Archivum Romanicum 24 (1940), 206-237. S U C H I E R , W. Tierepik und Volksüberlieferung, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 143 (1922), 223-236; ibid. p. 149-154 seine Besprechung von Foulets Buch. SUDRE, L . Les sources du Roman de Renart. Paris 1893. T I L A N D E R , G. Remarques sur le Roman de Renart. Göteborg 1923. — Lexique du Roman de Renart. Göteborg 1924. — Notes sur le texte du Roman de Renart, in: Z R P h X L I V (1924), 658-721. VAN M I E R L O , J . Het oudste Dierengedicht in de Letter künde der Nederlanden, in: BAESECKE,

G.

II

— VORETZSCH, C .

— — — —

WALLNER, A .

— WARNKE, K .

WILLEMS, L .

Verslagen en mededelingen der Kon. Vlaamsche Academie voor Taalen Letterkünde, Gent 1943, 13-31· Het vroegste Dierenepos in de Letterkunde der Nederlanden·. Isengrimus van Magister Nivardus, ibid. p. 281-335, 489-548. Der Reinhart Fuchs Heinrichs des Gliche^äre und der Roman de Renart, in: ZRPh X V (1891), 124-182, 344-374; ZRPh X V I (1892), 1-39. Jacob Grimms Deutsche Thiersage und die moderne Forschung, in: Preußische Jahrbücher 80 (1895), 416-484. Einleitung zu G. Baeseckes Ausgabe des Reinhart Fuchs (p. V bis XXVIII). Halle 1925 (Altdeutsche Textbibliothek Nr. 7). Einleitung zu A . Leitzmanns Ausgabe des Reinke de Vos (p. VII bis XXXI). Halle 1925 {Altdeutsche Textbibliothek Nr. 8). Zum mittelhochdeutschen Reinhart Fuchs·. Die Krankheit des Löwen. In: Altdeutsches Wort und Wortkunstmrk - G. Baesecke %um i j . Geburtstage. Halle 1941, p. 160-175. Reinhart Fuchs·. Lesungen und deutungen. In: Beiträge zur Geschichte der dt. Sprache und Lit. 47 (1923), 173-220. Reinhartfragen·. Eine Replik. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 52 (1927), 259-270. Die Quellen des Esope der Marie de France, in: Forschungen zur Romanischen Philologie, Festgabe für H. Suchier. Halle 1900, p. 161-284. Etude sur l'Ysengrimus. Gand 1895 (Recueil de travaux publids par la Fac. de Philos. et Lettres, 13).

Alle sonst zitierten Texteditionen und Darstellungen sind in den Anmerkungen nachgewiesen; zu den üblichen Abkürzungen für Zeitschriften und Reihen siehe R. Bossuat, Manuel bibliographique de la litterature francaise du MoyenAge, Melun 1951.

Einleitung

Car sur Regnart poeult on gloser, Penser, estudier, muser Plus que sur toute rien qui soit.

Die literarische Besonderheit der mittelalterlichen Tierdichtung, die nicht zufallig unter dem Namen des Fuchses (Renart, Reineke) in die Überlieferung einging und weit über das Mittelalter hinaus lebendig blieb, ist nicht erst rückblickend von der modernen Literarhistorie entdeckt worden. Sie war, wie durch die vorangestellten Verse aus dem Prolog zu R E N A R T L E C O N T R E F A I T , dem letzten, allegorischen Ausläufer des mittelalterlichen Tierepos, bezeugt wird, schon dem mittelalterlichen Verfasser und seinem Publikum bewußt, bei dem sich der R O M A N D E R E N A R T einer Beliebtheit erfreute, die nur noch vom R O M A N D E L A R O S E erreicht wurde 1 ). Der außer Amt gekommene Kleriker und ,epicier' aus Troyes, der im Jahre 1319 seine satirische Renart-Enzyklopädie begann, hat die Ankündigung seines Prologs im buchstäblichen Sinne erfüllt und seine Reflexion über das Wesen Renarts und seine Bedeutung für die Erkenntnis der Welt in einem monströsen Werk von mehr als 60000 Versen niedergelegt. Nicht weniger nachdrücklich bekundet sich die Unerschöpflichkeit des Gegenstandes in der langen Geschichte der ,gelehrten Fuchsjagd'; sie hat von Jacob Grimms Reinhart Fuchs (1834) bis zu Leo Spitzers Abhandlung über die VIII. Branche des Roman de Renart (1940) die germanistische wie die romanistische Forschung beschäftigt und ist bis zum heutigen Tage in den wesentlichen Fragen nicht zu Ende gekommen. In der Geschichte dieser Forschung 2 ) bedeutet die Abhandlung, die Gaston Paris 1894/95 als Replik auf die Arbeit L. Sudres Les sources du Roman de Renart (1893) im Journal des Savants veröffentlicht hat, insofern einen Markstein, als hier zum erstenmal die Umwendung der Blickrichtung auf die historische und dichterische Sondererscheinung des mittelalterlichen Tierepos postuliert wird: „Cette part considerable de l'invention dans le Roman de Renard tel que nous l'avons etait en dehors du cadre de M. Sudre; il faudrait en tenir le plus grand compte si l'on ecrivait non une etude de l ) RCf 1 0 5 - 1 0 7 ; diese für die Wirkungsgeschichte der Renartdichtung so bedeutungsvolle Stelle hat schon TILANDER als Motto für seine Remarques . . . benutzt. Die Zeugnisse für die Popularität des R d R sind von FOULET im X X . Kapitel seines Buches (p. 496-535) zusammengestellt worden. s ) Hierzu kann auf die Darstellungen von FOULET (Kap. I und IV) und von VORETZSCH (Einl. zum R F ) verwiesen werden.

IJ sources, mais une histoire de l'epopee animale au moyen age. Cette histoire est a f a i r e . . . " . x ) Gaston Paris sah diesen Anteil der .invention', d. h. das, was das Tierepos zur „ceuvre medievale, feodale et frangaise" mache, vornehmlich in drei konstitutiven Elementen: in der Verleihung von Personennamen an Tierfiguren, die damit ihre Gattung ,individuell' darstellen, im Antagonismus von Fuchs und Wolf als zentralem epischen Thema des Zyklus und in der Ausgestaltung der Fabel vom Hoftag der Tiere zum ,Plaid de Renart', der der zyklischen Entwicklung einen krönenden Abschluß gibt 2 ). G. Paris hat damit zum erstenmal die literarische Sonderstellung der mittelalterlichen Tierepik umrissen, obschon er noch nicht erkannte, daß die von ihm hervorgehobenen Aspekte der Originalität des R O M A N D E R E N A R T das Problem, was an diesem Werk als spezifisch mittelalterlich anzusehen ist, nur erst anrührten und im einzelnen einer neuen Untersuchung aller Texte der mittelalterlichen Tierdichtung bedurften. Denn seine eigene Auffassung von der erst noch zu schreibenden Geschichte der mittelalterlichen Tierepik war von einer Reihe von Vorentscheidungen bedingt, mit denen er selbst noch dem Geist Jacob Grimms verhaftet blieb: der rigorosen Scheidung von volkstümlicher und gelehrter Tradition mit dem Primat der ersteren in den Ursprungsfragen, dem Leitbild der organischen Entwicklung mit dem Postulat hypothetischer Urund Zwischenstufen und der Höherbewertung des Archaischen, Schlichten, Naiven, kurz: der ,Naturpoesie', derzufolge das Element der Didaxis, Satire und Parodie von vornherein von der Betrachtung des Tierepos ausgeschlossen blieb. Die Spaltung der späteren Forschung in die beiden Lager der ,Äsopisten' und der ,Folkloristen' ist weitgehend darauf zurückzuführen, daß diese Vorentscheidungen nicht nur beibehalten, sondern darüber hinaus in einer einseitigen Weise, die G. Paris fern lag, zum Dogma erhoben wurden. Dabei ist zugleich die Einheit einer gemeinmittelalterlichen Betrachtung, wie sie Jacob Grimm als unerreichtes Vorbild verwirklicht hatte und auch G . Paris noch anstrebte, verlorengegangen. L. Foulet beschränkte sich in seiner antiromantischen, Bedier gewidmeten These auf eine Analyse und Geschichte der 28 Branchen des RdR, C. Voretzsch auf einen quellenkritischen Vergleich von RdR und R E I N H A R T F U C H S , auf den sich die germanistische Forschung verließ, ohne selbst jemals wieder auf die altfranzösische Parallelversion zurückzugehen. Der lateinische Y S E N G R I M U S wurde von Foulet wie von Voretzsch nur vergleichsweise als .Quelle' ausgebeutet, aber nicht eigens gewürdigt und auch von der niederländischen Forschung nur isoliert betrachtet; von dem flämischen R E I N A E R T ganz zu schweigen, der fast ausschließlich der eingeengten Perspektive einer .Nationalliteratur' anheimgegeben blieb. Dazu kommt, daß die kleinen Genera der Tierdichtung (Tierfabel, Tierschwank, Tiermärchen), die in den UmX

) PARIS P. 4 2 3 .

2

) PARIS P.

357, 396-397. 4 " ·

14 kreis des Tierepos fallen, immer nur im Blick auf eine Ursprungstheorie herangezogen, nicht aber in ihrer eigenen Intention gesehen wurden. Auch hat die überhandnehmende monographische Forschung immer mehr den Blick darauf verstellt, daß die mittelalterliche Tierdichtung nicht im leeren Raum, sondern in weiteren literarischen Zusammenhängen steht, die die Entwicklung ihrer Formen mit bedingt haben. Dieser Stand der Forschungen macht verständlich, daß der Gegensatz der Auffassungen sich so sehr verfestigen konnte, daß die entgegengesetzten Theorien eines rein volkstümlichen (Voretzsch) und eines ausschließlich literarischen Ursprungs (Foulet) der mittelalterlichen Tierepik, sowie der höheren Altertümlichkeit des mhd. R F und der Priorität bzw. Ursprünglichkeit der ältesten Branchen des afrz. RdR noch immer unvermittelt einander gegenüberstehen. Eine Wiederaufnahme des ganzen Fragenkomplexes scheint darum gerechtfertigt und aussichtsreich, wenn sie von einer Revision der Grundlagen ausgeht, die in anderen Zweigen der Erforschung mittelalterlicher Literatur schon vorgenommen oder angebahnt wurde, und wieder auf eine gemeinmittelalterliche Basis gestellt wird. Der Revision bedürftig erscheint zunächst die prinzipielle Scheidung von volkstümlicher und gelehrter (literarischer) Tradition. Hier hat vor kurzem J . Rychner in seiner für die Epenforschung umwälzenden Arbeit: La chanson de geste - Essai sur Γart epique des jongleurs (195 5)*) einen Gesichtspunkt geltend gemacht, der auch für die mittelalterliche Tierepik von größter Bedeutung ist: „Puisque c'est decidement le caractere oral de cette litterature qui est au centre de son explication, je remplacerais volontiere avec Parry le terme de litterature populaire par celui, plus clair et plus objectif, de litterature orale, et, ajouterai-je, professionnelle, qui rappeile les circonstances positives donnant a cette litterature ses caracteres particuliers" 2 ). Mit dem Vorschlag, den Begriff der Volksdichtung durch den der litterature orale, d. h. der nicht an die Schriftlichkeit des Verfassens gebundenen, mündlich überlieferten und im Falle der Chanson de geste sogar mit jedem Vortrag neu gestalteten Literatur zu ersetzen, wird die Scheidung zwischen volkstümlicher und gelehrter Tradition von dem romantischen Gegensatz zwischen dichtender Volksseele und individuellem Verfassertum befreit und auf eine in der Gestalt und Darbietung der Texte selbst beruhende und nicht allein ihren Ursprung betreffenden Unterscheidung : die Schriftlichkeit oder Schriftlosigkeit des Verfassens, Überlieferns und Reproduzierens einer Dichtung zurückgeführt, deren fundamentale ') RYCHNER stützt sich dabei auf die Forschungen zur südslawischen Epik (M. Murko, M. Parry u. a. m.), die auch H. Frankel für seine Darstellung der homerischen Epik vergleichend herangezogen hat {Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, Frankfurt 1 9 5 1 , bes. p. 7-34). Die These d'Etat, die Ariane de Feiice im März 1957 unter dem Titel: Essai sur quelques techniques de Γ art verbal traditionnel vor der Sorbonne verteidigt hat, war beim Abschluß dieser Arbeit noch nicht veröffentlicht (vgl. die Besprechung in Le Monde, 27. 3. 57). 2

) RYCHNER P. 1 5 8 .

15

Bedeutung für die abendländische Literatur vor allem W. Bulst in seiner Kritik am Mittelalterbild von E. R. Curtius und anderweitig hervorgehoben hat Der Vorwurf, den Rychner gegen die bisherige Epenforschung vorbringt: „N'appliquons done pas aux produits de cet art profondement conditionne les criteres que nous employons dans la critique de la litterature ecrite et meditee, de la litterature de recherche" 2 ), ist auch gegen die Forschung zu unserem Gegenstand zu erheben. Denn die Frage, inwieweit die Art der Abfassung und Darbietung der mittelalterlichen Tierepen die Gestalt der auf uns gekommenen Texte bedingt haben kann, ist weder von den .Folkloristen', noch von den ,Äsopisten' gestellt worden, da ihr Interesse einseitig auf den volkstümlichen oder gelehrten Ursprung der Tradition, nicht aber auf die Art der Tradierung gerichtet war. Dabei wurde stillschweigend die uns erhaltene Gestalt der Texte mit schriftlicher Überlieferung gleichgesetzt, von Foulet als primär betrachtet, weshalb er sich um ihre (für ihn erst sekundäre) mündliche Verbreitung nicht mehr kümmerte, von Voretzsch hingegen als sekundär (d. h. als Produkt späterer Bearbeiter) angesehen und die von ihm als primär angesetzte, vorliterarische Überlieferung in den Bereich des Hypothetischen, nur noch zu Erschließenden verwiesen. Die Grenzlinie zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung verläuft indes zum Teil sichtbar durch die uns erhaltenen Texte, von denen die einen die durch die Rezitation bedingte Gestalt einer Vortragsdichtung bewahren, während die andern als reine Buchredaktion auf uns gekommen sind, bzw. von vornherein als Leseliteratur konzipiert waren. Daß durch eine Berücksichtigung dieser Unterscheidung auf Abhängigkeitsverhältnisse wie das von RdR und RF, die bisher immer nur nach den Kriterien der schriftlich abgefaßten bzw. an einen fixierten Text gebundenen Leseliteratur beurteilt wurden, ein neues Licht fallen kann, liegt auf der Hand 3 ). Der Revision bedürftig erscheint ferner die Abgrenzung und Wesensbestimmung der verschiedenen Genera der Tierdichtung. Daß etwa in Voretzschs Einteilung, der hier die communis opinio repräsentiert, von vornherein der Blick auf seine Theorie von der Entwicklung des Tiermärchens zum Tierepos bestimmend war, wird aus seiner folgenden Darlegung am besten deutlich: x

) in: Wirkendes

Wort

3 (1952/53) p. 56ff.; ferner in seiner Abhandlung:

Das

Danielspiel, in: Gegenwart im Geiste, Festschrift für Richard Ben% (1954), p. 8 2 ff. 2)

RYCHNER P . 1 5 5 .

SUCHIER zum Beispiel, der den volkstümlichen Ursprung der Tierepik so entschieden verfocht, lag der Gedanke, daß der auf uns gekommene RdR selbst die Stadien einer fließenden Überlieferung bewahre, so fern, daß er abweichende Züge in Parallelversionen prinzipiell nicht der Variation eines Verfassers zuschreiben wollte - der Gedanke an freie Erfindung und damit auch an bewußte Variation wird a limine ausgeschlossen sondern aus dem Vorliegen verschiedener volkstümlicher Überlieferungen, bzw. Varianten des ,Tiermärchens' erklärte (vgl. p. 228, 23lf.). 3)

ι6 „Die beobachtung der tiere durch den menschen und seine innere anteilnahme an ihrem leben und treiben prägt sich dichterisch in den gattungen des tiermärchens, der tierfabel, des tierschwanks und des tierepos aus. Das tiermärchen gehört im wesentlichen der mündlichen Überlieferung, die übrigen gattungen der geschriebenen literatur an. Indes sind tiermärchen schon sehr früh - z. B. bei den Indern - in der geschriebenen literatur verwertet worden. Eine reihe von einzelstoffen sind dem märchen und der fabel gemeinsam, so daß sich diese von jenem häufig nur durch die angefügte Sittenlehre unterscheidet: das märchen will unterhalten, die fabel belehren. Märchen und fabel sind diejenigen gattungen, welche uns am frühesten in der literatur begegnen. Der tierschwank ist in der regel ein in verse umgesetztes tiermärchen, behandelt aber gelegentlich auch begebnisse zwischen mensch und tier ohne märchenhafte zutaten. E r tritt erst im mittelalter auf. Das tierepos ist in der antike im sinne des abendländischen tierepos überhaupt nicht vorhanden, Pantschatantra und Batrachomyomachia tragen einen anderen charakter. Es entsteht wie das heldenepos durch die epische ausgestaltung einer einzelnen erzählung oder durch die Verknüpfung mehrerer erzählungen zu einem geschlossenen ganzen." 1 ) Von der Problematik, ob sich gerade in der mittelalterlichen Tierdichtung eine innere Anteilnahme des Menschen am Leben und Treiben der Tiere ausprägt, einmal ganz abgesehen, ist an diesen Ausführungen zunächst auszusetzen, daß Tiermärchen, Tierfabel und Tierschwank wechselseitig voneinander abgeleitet werden, ohne daß die Eigenart des Tiermärchens, nach Voretzsch das ursprüngliche Element der ganzen Tierdichtung, irgendwie zum Vorschein kommt. Dieselbe Tiererzählung kann demzufolge durch eine angefügte Moral zur Tierfabel, durch ihre Versifizierung zum Tierschwank werden; was sie zum Märchen macht, bleibt unerörtert, denn die „märchenhaften Zutaten", von denen einmal beiläufig die Rede ist, sind weder hier noch sonst in den Abhandlungen Voretzschs definiert, noch werden sie aus den Zeugnissen ersichtlich, die er für das frühe Vorhandensein eines einheimischen mittelalterlichen Tiermärchens anführt. Das Fehlen einer näheren Bestimmung des eigentlich Märchenhaften im sogenannten Tiermärchen ist nicht zufällig 2 ). Voretzsch hatte diesen Begriff 1895 in seiner Abhandlung Jacob Grimms Deutsche Tiersage und die moderne Forschung von der aufkommenden Folkloristik übernommen, um damit die in Mißkredit geratene Grimmsche Tier sage zu retten3). Die vergleichende Märchenforschung ist seitdem dazu übergegangen, die verschiedenen Gattungen der volkstümlichen Erzählkunst schärfer zu trennen; VORETZSCH, Einl. zum R F p. V I . ) Daß die Tierfiguren mit Rede begabt sind, ist ein traditionelles Element der äsopischen Fabel, also nicht dem einheimischen .Tiermärchen* des Mittelalters eigentümlich, und wurde in der Fabeltradition auch nie als ein Element des Wunderbaren ausgegeben. 2

3

) abgedruckt in: Preußische Jahrbücher 80 (1895), p. 4 1 6 - 4 8 4 .

17 Tiergeschichten und Schwanke werden z. B. in einer 1954 veröffentlichten Abhandlung von Jan de Vries schon gar nicht mehr in die Betrachtung des Märchens einbezogen, weil nur dem .Wundermärchen' der Name ,Märchen' im eigentlichen Sinne des Wortes gebühre x ). Daß die Tiergeschichten, die in das mittelalterliche Tierepos einverleibt werden, mit dem Wundermärchen nichts gemeinsam haben, springt jedem Leser des RdR sogleich in die Augen. Die Frage nach der .einfachen Form', die allen epischen Bildungen und Organisationsformen der großen Tierdichtung zugrunde liegen soll, ist demnach neu zu stellen, zumal Voretzschs Theorie, das Tierepos habe sich aus dem einheimischen .Tiermärchen' entwickelt, auch stoffgeschichtlich so wenig stichhaltig ist, wie der Versuch der .Äsopisten', das in der Mitte des 12. Jahrhunderts aufblühende Tierepos über die äsopische Fabel aus dem Traditionszusammenhang der lateinisch-christlichen Literatur abzuleiten. Denn zwischen den Formen der lateinischen Tierdichtung, die aus dem frühen Mittelalter bekannt sind (Tierfabel, Tierschwank, Tierepitaph, Tierallegorie) und der altfranzösischen Renartbranche, wie auch zwischen der antiken Form der Epenparodie und den Tierepen des Mittelalters besteht offensichtlich keine Kontinuität, und die wenigen Dokumente, die das Vorhandensein eines einheimischen ,Tiermärchens' in karolingischer Zeit bezeugen sollen, reichen nicht entfernt aus, um eine vorliterarische Entwicklung der Tierepik vor dem 12. Jahrhundert wahrscheinlich zu machen. Die Fragwürdigkeit des Leitbilds der .organischen Entwicklung', das als Erbe des 19. Jahrhunderts noch weit über Gaston Paris hinaus mit der Perspektive der ,Vorstufen' und dem Postulat verlorener Zwischenglieder den Blick auf die selbständige Intention der einzelnen Werke verstellt hat, wird nicht allein im bisherigen Bild von der Vorgeschichte des mittelalterlichen Tierepos offenkundig. Sie macht sich auch in der Beurteilung der zyklischen Entfaltung der Renartdichtung geltend, die uns vom lateinischen Y S E N G R I M U S bis zu den letzten Ausläufern der volkssprachlichen Fuchsepen sichtbar vor Augen steht und deren Problematik L. Spitzer in der Frage zusammengefaßt hat: „Über das Warum dieser losen Anreihung von Erzählungen, die nur durch die Prinzipien des Genres der Tierdichtung und vielleicht durch die Zentralgestalt Renart geeint werden, spricht man sich im allgemeinen nicht aus: warum ist die Durchorganisierung nicht ebenso durchgeführt wie in einem Epos der Karlsgeste oder einem Roman des Artuszyklus ?" 2) Diese Frage hatte sich weder Voretzsch noch Foulet gestellt. Voretzsch war nach dem Vorbild der vergleichenden Märchenforschung von zuvor isolierten Tiererzählungen ausgegangen, um am Ende das Tierepos einfach auf eine Aneinanderreihung von ursprünglich selbständigen Episoden ( = Kantilenen) zurückzuführen; Foulet hatte umgeBetrachtungen %um Märchen, besonders in seinem Verhältnis Mythos, Helsinki 1954, p. 7 (FF Communications Nr. 150). A)

2

SPITZER P. 2 3 4 .

Jauß, Tierepos

Heldensage und

ι8 kehrt die ältesten Branchen des RdR (II-Va), in denen er die einheitliche Konzeption eines vom YSENGRIMUS des Magister Nivardus beeinflußten Verfassers (Pierre de Saint-Cloud) aufdeckte, an den Anfang der zyklischen Geschichte des RdR gestellt und die Entwicklung der weiteren 26 Branchen nach den Regeln literarischer Nachahmung von dem Vorbild dieses einen Werkes abgeleitet. Die Einseitigkeit des Versuches der Folkloristen, „d'expliquer l'epopee par le conte" 1 ), und seiner genauen Umkehrung durch Foulet, der alle Branchen des RdR von dem Epos Pierres de SaintCloud aus erklärt, kommt darin zum Vorschein, daß in beiden Fällen die Divergenz zwischen Tierschwank (Branche) und Tierepos übersehen wird, die für die zyklische Entfaltung der Renartdichtung charakteristisch ist. Bei Voretzsch geht das .Tiermärchen' völlig organisch in das Tierepos über: „Das tiermärchen hat von haus aus die epische eigenart, welche das tierepos verlangt. Es hat auch die neigung zur gruppenbildung oder zur bildung von märchenketten, die naturgemäß auch dem tierepos eignet. Tritt nun hierzu im volk noch die benennung der tiere mit eigennamen, so ist die epische ausgestaltung des tiermärchens vollendet." 2 ) Hier wird deutlich, daß Voretzsch Grimms Begriff der ,Tiersage' nur äußerlich durch den Begriff des .Tiermärchens' ersetzt, die Entwicklung des Tierepos aber nach wie vor analog zu der Entwicklung des Heldenepos gesehen hat, dem bei Grimm das anonyme Wachstum der Heldensage vorausliegt. Die Differenz zwischen Tierepos und Heldenepos ist Voretzsch denn auch nie zum Problem geworden. Sie bleibt auch bei Foulet so gut wie unerörtert, obwohl er das Werk Pierres de Saint-Cloud als erste Ausprägung einer neuen epischen Gattung, der „epopee heroü-comique", neben Chanson de geste, höfischen und antiken Roman stellen will. So verdienstlich andererseits auch seine Chronologie der Branchen des Renartcorpus ist, bleibt die Frage nach ihrer zyklischen Einheit doch erst noch von dieser neuen Grundlage aus zu beantworten. Denn Foulet, der an der Vorstellung vom anonymen und eigengesetzlichen Sich-Entwickeln eines Renart-,Zyklus' berechtigte Kritik übte, hat sich, als er ihren Verfechtern entgegenhielt: „II n'y a pas un Roman de Renard, il y en a vingt-huit" 3), zu schnell über die Frage hinweggesetzt, worin wohl die Nachfolger Pierres von sich aus den inneren Zusammenhang der 28 Renartbranchen sahen, der ihnen, wie schon die von ihnen selbst geprägte Gattungsbezeichnung ,branche' zeigt, trotz des Fehlens einer kontinuierlichen epischen Fabel bewußt gewesen sein muß. ' ) In diesem V o r w u r f gipfelt Foulets Kritik an der folkloristisch-genetischen Methode Sudres (FOULET p. 538). 2

) VORETZSCH, E i n l . zum R F p. X I X . V g l . dazu seine A u s f ü h r u n g e n v o n 1895

(Preuß. J b . 8o, p. 46off.), die zu dem Resultat führen, daß dem Tiermärchen am E n d e „ z u m E p o s im landläufigen Sinn überhaupt weiter nichts mehr als die poetische F o r m fehlte, und daß somit das Tierepos des 1 2 . Jahrhunderts als G a t tung dem Tiermärchen weit mehr verdankt als der antiken F a b e l " (p. 4 6 9 - 4 7 0 ) . 8

) FOULET P. 565.

J9

Die Erwägungen, die L. Spitzer über die Prinzipien des ,Genres' der Tierdichtung angestellt hat, laufen letzten Endes darauf hinaus, für die epische Zyklisierung der Tierschwänke die Kantilenentheorie bzw. den von Th. Frings für die europäische Heldendichtung postulierten Dreischritt: Lied - Kurzepos - Großepos geltend zu machen. Der RdR stellte danach eine Art von Rudimentärversuch der großen Epik vor Augen: „er blieb im losen Aggregationszustand des Kurzepos (Branche VIII ist ein solches), wenn nicht in dem noch loseren Konglomeratzustand der zusammenkomponierten ,Lieder' (etwa Br. III, die man bis zu gewissem Grade. . . mit dem lose angereihten PUerinage de Charlemagne vergleichen kann)." 1 ) Daß der RdR nicht zum Stadium des Großepos gelangt ist, will Spitzer auf das Fehlen einer vereinheitlichenden, tragenden Gesinnung wie die der Glaubens- und Nationalbewegung der Kreuzzüge, aus der sich der Schritt vom Kurz- zum Großepos bei der Chanson de geste erkläre, bzw. auf die Verweltlichung des Begriffes der aventure zurückführen 2 ). Der Rekurs auf die Kantilenen- und Dreistadientheorie dürfte indes die Lösung des Problems der epischen Zyklisierung im Tierepos kaum fördern, ganz abgesehen davon, daß jene Theorie eine bloße Hypothese ist und daß auch ihr wieder die Vorentscheidung einer organischen Entwicklung zugrunde liegt 3 ). Daß der Tierschwank mit der Kantilene, die - gleichviel, was man heute unter ihr verstehen will 4 ) - auf ein geschichtliches Ereignis bezogen sein und heroischen Charakter haben muß, nichts weiter gemein haben könnte als die Kürze der Erzählform, liegt auf der Hand und hätte auch Spitzer auffallen müssen, wenn ihm seine Rückwendung zu Jacob Grimm nicht den Blick auf das Schwankhafte der Fuchsabenteuer verstellt hätte. Wenn er in der losen Anreihung solcher Erzählungen das Gestaltungsprinzip am Werk sehen will, das man für die Heldenepik so beharrlich leugnet: „die Lieder werden zum Epos gereiht wie die Perlen zum Halsband" 5 ), ist damit über das Warum dieser Anreihung und den inneren Zusammenhalt der Episoden einer Branche noch nichts ausgesagt. Ob die Branchenbildung auf dem Wege über das (historisch fragwürdige) Kurzepos®) richtig zu fassen ist, *) SPITZER P . 2 3 5 . 2) 3)

ibid. p. 235f., 236 A n m . 1. V g l . dazu E . R. Curtius, Über

(1944). bes. p. 307 fr. 4)

die altfran^ösische

Epik,

in: Z R P h

hierzu kann auf die Erörterungen v o n Martin de Riquer, Los

gesta franceses,

Madrid 1952 (Biblioteca Romdnica Hispdnica, Estudiosy

LXIV

Cantares

de

Ensayos t. 8),

p. 39fr., 5iff. verwiesen werden. 5)

e)

SPITZER P . 2 3 4 ^

Wie sich aus der Untersuchung von Ph. A . Becker: Vom Kur^lied %um Epos ( Z F S L L X I I I , 1940, 299-341 und 385-444) ergibt, läßt sich für das Stadium des Kurzepos in der Entwicklung der Chanson de geste einzig GORMOND ET ISEMBARD heranziehen, das einzige Heldenlied, das zwar ein höheres Alter beanspruchen kann als das Rolandslied, uns aber nur aus einer späteren Version (Hs. des 13. Jahrhunderts) erhalten ist. Die weiteren Zeugnisse, die Becker anführt, sind 2*

20 macht gerade Spitzers Interpretation von Branche VIII wieder fraglich, in der er gegen die folkloristisch-genetische Methode die Einheitlichkeit einer künstlerischen Konzeption aufzeigen konnte, so daß man nicht mehr recht einsieht, warum diese durchkomponierte Branche (und das ist bei weitem nicht der einzige Fall) „im losen Aggregationszustand des Kurzepos" geblieben sein soll. Und ob es vornehmlich die mangelnde Durchorganisierung war, die den RdR nicht zum Stadium des Großepos gelangen ließ, wird sogleich zweifelhaft, wenn man den Blick vom RdR auf alle Hervorbringungen der Tierepik des 12. und 13. Jahrhunderts erweitert. Was den Verfassern des RdR nicht gelang oder besser gesagt: worauf es ihnen offenbar gar nicht ankam, ist Magister Nivardus, Heinrich dem Glichezäre und dem Verfasser des ndl. R E I N A E R T offensichtlich geglückt: die Organisierung einer Vielheit von einzelnen Tierschwänken zu großen, in sich geschlossenen epischen Gebilden vom Format des Heldenepos, ohne daß man darum sagen könnte, hier sei die zyklische Renartdichtung zu einer Form gelangt, die sie mit dem Großepos gemeinsam habe. Die epische Zyklisierung des Tierschwanks, die neu geschaffene Form der ,branche' und die weitere Entwicklung der volks sprachlichen Fuchsepen läßt sich durch den Rekurs auf die hypothetische Entstehung der Chanson de geste und ihre epische Struktur bzw. auf ihre spätere Zyklisierung nicht befriedigend erklären. Andererseits ist aber die Eigentümlichkeit der neuen Tierdichtung, die von 115 ο bis 1190 sogleich mit drei großen Tierepen, dem lateinischen YSENGRIMUS, dem altfranzösischen ROMAN DE R E NART und dem mittelhochdeutschen R E I N H A R T F U C H S , und mit der ersten volkssprachlichen Fabelsammlung, dem ESOPE der Marie de France, ins Dasein tritt, dadurch gekennzeichnet, daß diese Werke zu einem Zeitpunkt erscheinen, an dem die altfranzösische Heldendichtung gerade auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung steht. Das Reich der Tiere ist ohne die feudale Welt, der es wie das altfranzösische Epos entsprang, nicht vorstellbar; der Jongleur, der im Prolog zu Branche II des RdR zum erstenmal Renart und Ysengrin als die Helden seiner Geschichte ankündigt, setzt bei seinem Publikum Chanson de geste und höfischen Roman als bekannt voraus und läßt damit das Reich König Nobles vor dem Hintergrund derselben Welt erscheinen, die ihre geschichtliche Mitte in der verklärten Gestalt von Charles Ii reis und ihr neues höfisches Ideal in der Tafelrunde von König Artus hat. Die Frage, was das Tierepos im besonderen als ,Epos' bestimmt, impliziert daher das gattungsgeschichtliche Problem, inwiefern das Tierepos durch die Heldendichtung, die es auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung travestiert, auch schon in seiner Entstehung bedingt ist, und erfordert es, die verschiedenen Versuche, die Vielfalt der Tierschwänke in eine entweder hypothetisch (die nur noch erschließbare älteste Wilhelmsdichtung und die A n s p i e l u n g auf ein Riaul-Lied) oder Sonderformen, die außerhalb der E n t w i c k l u n g der Chanson de geste liegen (die Epenparodie AUDIGIER und das Fabliau RICHEUT), v g l . bes. p.

431-459.

21

zyklische Einheit zu integrieren, im Blick auf ihr jeweiliges Verhältnis zu den anderen Gattungen der Epik neu zu untersuchen. Die erstaunliche Beliebtheit des ROMAN DE R E N A R T knüpft sich indes nicht so sehr daran, daß er als Kontrafaktur zur höfisch-ritterlichen Welt die heroische Literatur travestiert, die mit ihm dieser Welt entsprang. Sie rührt, wie die Zeugnisse seiner Aufnahme und die bildhaften Darstellungen allesamt dartun, vornehmlich von der Figur des einen R e n a r t , der das Ethos der höfisch-ritterlichen Gesellschaft negiert und als Inkarnation des Schelms, der sich mehr und mehr von seiner heroischen Gegenwelt ablöst, im Bewußtsein seines Publikums lebendig bleibt. Wenn mit ihm die Tierfiguren, denen er seine Streiche spielt, den Niedergang der feudal-ritterlichen Gesellschaft überdauern, so darum, weil das Reich der Tiere nicht allein das Spiegelbild dieser Gesellschaft und ihrer heroischen Literatur, sondern zugleich auch eine Typenwelt von zeitlosen Charakteren darstellt. Gerade darin, daß die Figuren der mittelalterlichen Tierdichtung die menschliche Natur in ihren beständigen Eigenschaften und Affekten zur Anschauung bringen, liegt ihre bleibende, weit über das Mittelalter hinaus wirksame Bedeutung. Denn damit gehören sie zu einem literarischen Erbe, das die Darstellung des Menschen - wie G. Heß gezeigt hat - bis ins 17. Jahrhundert bestimmt: noch Moliere entrückt seine Personen in eine Typenwelt von Charakteren, die La Bruyere eigens beschreibt und La Fontaine in seinen Figuren der Fabel satirisch entlarvt 1 ), und „erst im offenen Horizont der Moderne sieht die Literatur die Gesellschaft, im Bewußtsein ihrer Geschichtlichkeit, aus Individuen in ihrer Singularität gebildet"«). Daß die „allgemein bekannten und unveränderlichen Charaktere der Thiere die eigentliche Ursache sind, warum sie der Fabulist zu moralischen Wesen erhebt", ist schon von Lessing in seinen berühmten Abhandlungen über die Fabel erkannt und gegen Breitingers Theorie vom Wunderbaren vorgebracht worden; dort findet sich auch der lapidare Satz, der allen Versuchen, in der mittelalterlichen Tierdichtung schon ein spezifisch modernes Verhältnis zum Tier (Naturbeobachtung, Einfühlung in die Tierseele) zu entdecken, von vornherein den Boden unter den Füßen entzieht: „Als ob man in den Fabelbüchern die Naturgeschichte studieren sollte I Wenn dergleichen Eigenschaften allgemein bekannt sind, so sind sie werth gebraucht zu werden, der Naturalist mag sie bekräftigen oder nicht." 3 ) Die Bedeutung und Geschichte der Tiercharaktere ist indes noch wenig erforscht *) In diesen Zusammenhang ist auch die folgende Stelle aus den Reflexions diverses von La Rochefoucauld zu stellen: I I y a autant de diverses esphes d'bommes qti'il α de diverses especes d'animaux, et les hommes sont, a Pegard des autres hommes, ce que les differentes especes d'animaux sont entre elles et ä Pegard les unes des autres (Ed. de la Pleiade, Paris 1950, p. 373). a ) G. Heß, Wandlungen des Gesellschaftsbildes in der französischen Literatur, in: DVjS. 29 (1955), p. 142. 8) Sämtliche Schriften, ed. Lachmann-Muncker, Bd. 7, p. 453, Stuttg. 1891 3 .

22

worden. Eine Untersuchung, wie sie W. Marg über die Charaktertypen im Weiberjambos des Semonides angestellt hat 1 ), liegt unseres Wissens weder für die äsopische Fabel, noch für die Romulustradition des Mittelalters, noch für die Fabel La Fontaines vor. Wenn wir uns hier darauf beschränken, die Charaktere der Tierfiguren unter einem historischen und prin2ipiellen Gesichtspunkt, der Ausbildung einer neuen Typenwelt von Charakteren durch die Tierdichtung des 12. Jahrhunderts und ihrer Differenz zu den Beispielfiguren des E S O P E ZU untersuchen, sind wir uns bewußt, mit diesem Teil unserer Arbeit nur einen ersten Anfang für die Erforschung eines Gegenstandes gemacht zu haben, der im ganzen die Arbeitsmöglichkeiten des Einzelnen und die Kompetenz des Romanisten übersteigt. Daß allein die vollständige Erfassung einer Tierfigur wie Fuchs oder Wolf, deren epische Geschichte wir vom 8. bis zum 13. Jahrhundert verfolgt haben, eine eigene Arbeit erfordern und eine kunsthistorische Fachausbildung voraussetzen würde, zeigt die monumentale Monographie, in der H.W. Janson der überraschend reichen und bedeutungsvollen Geschichte der Tierfigur des Affen vom Mittelalter bis zur Renaissance nachgegangen ist 2 ). Die Blickrichtung auf die Typenwelt der Charaktere in der neuen Tierdichtung des 12. Jahrhunderts, in der der erste Ansatz zu den vorliegenden Untersuchungen lag, hat auch die stoffliche Abgrenzung des Gegenstandes bestimmt. Die allegorische Tierdichtung der Physiologustradition wurde nur insoweit herangezogen, als sie für die Vorgeschichte des Tierepos gelegentlich Aufschlüsse bringt. Auf die neue Tierdichtung des 12. Jahrhunderts hat die typologische Allegorese der Bestiarien so gut wie gar nicht eingewirkt 3 ). Die Charaktere der Tierfiguren im E S O P E und im RdR haben mit der typologischen Bedeutung der Tiere, die im B E S T I A I R E Philipps von Thaun und seiner Nachfolger die heilsgeschichtliche Situation des Menschen zwischen Gott und Teufel auslegen, nichts gemein. Der Fuchs, der im Tierepos zum Gegenspieler des Wolfes wird, hat damit aufgehört, ,figura diaboli' zu sein; das Reich König Nobles ist vom mythischen Horizont des Glaubens abgelöst und ohne Beziehung zu dem geschichtlichen Grund der epischen Wahrheit, die der Chanson de geste noch ganz fraglos zugesprochen und auch beim Artusroman erst allmählich und vereinzelt in Frage gezogen wird: mit dem Tierepos erscheint innerhalb der Literatur des Mittelalters zum erstenmal eine nur noch fiktive epische Welt. Dagegen bildet die erste volkssprachliche Fabelsammlung des Mittelalters, der E S O P E der Marie de France, den Einsatzpunkt unserer Betrachtung, weil hier die x

) W . M a r g , Der Charakter in der Sprache der fräbgriechischen Dichtung (Semonides

H o m e r Pindar), Diss. Kiel 1 9 3 5 ( W ü r z b u r g 1 9 3 7 ) . 2

) Η . W . Janson, Apes and Ape Lore in the middle Ages and the Renaissance, L o n -

don 1 9 5 2 (Studies of the Warburg Institute, V o l . 20). 3

) L e d i g l i c h das eine P h y s i o l o g u s - M o t i v v o m F u c h s , der sich tot stellt und

damit V ö g e l überlistet, die auf ihm picken, findet sich in einem späteren Zusatz zu Branche V ( B C M 6 0 - 8 0 ) und in der abschließenden Branche X V I I (v. 1 3 9 8 fr.) des R d R als eine L i s t Renarts.

23

Umbildung der äsopisch-christlichen Fabeltradition im Sinne der neuen, spe2ifisch mittelalterlichen Auffassung der Tierfiguren besonders deutlich wird. Im Gang der fünf Untersuchungen, die von der Tierfabel über die Anfänge der Tierepik zum Ursprung des volkssprachlichen Tierschwanks führen, das erste volkssprachliche Tierepos eigens vom lateinischen Y S E N GRIMUS abheben und sodann die zyklische Entfaltung der Fuchsepen verfolgen, dominiert eine gattungsgeschichtliche Perspektive; doch wurde im ganzen darauf geachtet, daß in der Folge der Einzeluntersuchungen und in der durchgängigen Betrachtung einzelner Themen, wie dem der ,sapientia' oder der Fortuna, der große historische Ablauf sichtbar bleibt. Die abschließende Untersuchung bezieht den mhd. R E I N H A R T F U C H S und den ndl. R E I N A E R T mit ein und führt bis zum Endpunkt der zyklischen Renartdichtung in Branche XVII, der ,processio Reinardi'; auf die allegorische Tierdichtung des Spätmittelalters, die traditionsgeschichtlich wieder in anderen Zusammenhängen steht, gedenken wir in einer selbständigen Darstellung zurückzukommenx).

*) K u r z vor dem Abschluß dieser Arbeit erschien in der Reihe Connaissance des lettres (Bd. 49) eine Einführung in den Roman de Renard v o n Robert Bossuat (Paris 1957). D a B. an keiner Stelle über die These von Foulet hinausgeht (s. meine Besprechung, RJ V I I I , 1956-1957, p. 250 ff.), erübrigte sich hier eine weitere Erörterung.

Erstes Kapitel DIE ERSTE VOLKSSPRACHLICHE FABELSAMMLUNG UND IHR VERHÄLTNIS Z U R ÄSOPISCH-CHRISTLICHEN TRADITION

A. Die Aasgangsposition im ROMULUS NiLANTINUS und im ESOPE der Marie de France Der E S O P E der Marie de France ist in seinen ersten 4 0 Fabeln, wie E. Mall 1885 nachwies 1 ), von einer lateinischen Romulusbearbeitung des I I . Jahrhunderts, dem sogenannten R O M U L U S N I L A N T I N U S 2 ), abhängig. Diesem Text wird im Verhältnis zu den zahlreichen anderen mittelalterlichen Redaktionen des Romulus-Corpus kaum selbständige literarische Bedeutung zuerkannt. G. Thiele charakterisierte ihn als eine „völlig umgearbeitete, in mittelalterlichem Latein (11. Jahrhundert) paraphrasierte und christianisierte Dependenz; für das antike Corpus ohne Wert" 3 ). K. Warnke benützte ihn zu einem Vergleich in vornehmlich quellenkritischer Absicht und konnte zeigen, daß sich Marie, bzw. der Verfasser der von ihr übersetzten angelsächsischen Fabelsammlung, inhaltlich im ganzen genau dem RN anschloß, im einzelnen aber sehr freizügig und unbedenklich Veränderungen an der Darstellung dieser Vorlage vorgenommen hat. Es handle sich dabei um veranschaulichende Erweiterungen der Fabeleingänge, um genauere Begründung in der Motivierung, Pointierung des Schlußgedankens, Milderung von Anstößigkeiten, Anpassung an die veränderte geschichtliche Welt, Anschaulichkeit im Detail. Besonders hervorzuheben sei die veränderte Form, in die Marie die Moral ihrer Fabeln unter Beibehaltung des Grundgedankens der Vorlage kleide: in der volkstümlichen Veranschaulichung der „frostig-abstrakten" Lehren der Epimythien im RN liege der höhere literarische Wert des E S O P E , nämlich „die subjektive, vom Herzen diktierte Ergänzung der in ganz objektivem Ton vorgetragenen Fabeln" durch die Verfasserin 4 ).

E . Mall, Zur Geschichte der mittelalterlichen Fabelliteratur, Z R P h I X ( 1 8 8 5 ) , 161 ff. 2 ) Zitiert nach Hervieux, Les fabulistes latins . . ., ze ed., Paris 1 8 9 3 - 1 8 9 8 , t. II,

ji 3 ff. 3) 4

ROMULUS P. C X X X I I .

) WARNKE P. 2 5 6 - 2 6 0 .

25

Da auch die neuere Forschung über die Fabelsammlung,König Alfreds' nichts ausmachen konnte und der quellenkritische Befund Warnkes von keiner Seite in Frage gestellt worden ist, machen wir uns die Möglichkeit zunutze, unserer Betrachtung des ESOPE einen Vergleich mit dem R N als Quelle, die vorbehaltlich neuer Manuskriptfunde allein als gesichert anzusehen ist, zugrunde zu legen. Dieser Vergleich, der auch dann, wenn die angelsächsische Zwischenstufe aufgefunden würde, zumindest für die Erkenntnis zweier charakteristischen Gestaltungen der mittelalterlichen Tierfabel von Wert bliebe, soll ermöglichen, die Intention und dichterische Leistung Maries genauer zu erfassen und anschaulich zu machen. Ein Rückgang auf den RN ist insofern angezeigt, als Warnkes Untersuchung fast ausschließlich auf das quellenkritische Problem gerichtet war und in allen anderen, mehr beiläufigen Ergebnissen der Revision bedarf, die neueren Abhandlungen zum E S O P E sich aber der Mühe eines neuen Quellenvergleichs nicht unterzogen haben. Daß das romantische Bild der .volkstümlichen' Dichterin, die sich zum Anwalt der einfachen Leute macht und ihr Leben - „le triste sort des humbles" - getreu widerspiegelt *), einer genaueren Bestimmung des Verhältnisses von Autor und Publikum weichen muß, hat unlängst A. Francis gefordert und mit historischen Argumenten geltend gemacht, daß Maries Publikum nur in der sozialen Schicht gesucht werden kann, der Marie und ihre Gönner selbst entstammen: „un publique lai'que aux goüts aristocratiques" 2 ). Will man den Moralitäten ihrer Fabeln Aktualität zuschreiben, so allein in ihrem Bezug auf die Verhältnisse der feudalen Gesellschaft Englands, etwa unter der Regierung Heinrichs II., dem die (zum Teil möglicherweise gleichzeitig verfaßten) Lais neuerer Ansicht zufolge gewidmet sein dürften 3 ). Für diese Epoche konnte Francis eine gewisse zeitkritische Tendenz im E S O P E wahrscheinlich machen: das oft wiederkehrende Motiv vom Mißbrauch richterlicher Gewalt läßt sich am ehesten auf Verhältnisse in der Gerichtsbarkeit beziehen, wie sie zur Zeit der Konstitutionen von „ L e triste sort des humbles arrache ä Marie des larmes, mais point de cris de haine. Si eile recommande aux grands la droiture et la moderation, eile ne cesse de precher aux petits l'obeissance et 1'aversion de la felonie." L. Sudre, zitiert bei FRANCIS p. 82, Anm. 1 , der dort an dieser immer noch verbreiteten A u f fassung des ESOPE Kritik übt: „Leur application (sc. des fables) me parait moins large et concerne les classes de barons et chevaliers." A ) FRANCIS p. 78; diese Auffassung ließe sich auch durch die bekannten Verse stützen, die der Kritiker Maries und Neider ihrer Popularität, Denis Piramus, im Blick auf ihre Lais verfaßt hat: Kar mult l'aiment, si l'unt mult eher Cunte, barun

e chivaler. ( . . .) Les lais solent as dames plaire, De joie les oient e de gre, Qu'il sunt sulum lur volonte (zitiert bei Ewert, Einl. zu seiner Ausg. der Lais, Blackwell's French Texts, Oxford 1958 2 , p. V I I Anm. 3). Hier wird Maries Beliebtheit bei der ritterlichen Oberschicht geradezu als Vorwurf gegen sie gewendet. 8 ) Vgl. FRANCIS p. 83, A . Ewert, Einl. zu seiner Ausg. des ESOPE, Blackwell's French Texts, Oxford 1942, p. I X

26 Clarendon (1166) und des Prinzenaufstandes von 1173 bestanden ^.Wenn aber die selbständige Leistung Maries, wie Francis annimmt, darin bestehen soll, daß allein in ihrer Bearbeitung des E S O P E die Wertkategorien von gut und böse, sagesse und folie auf die zeitgenössische Wirklichkeit angepaßt sind 2 ), muß sich der Beweis für diese These erst recht durch einen Vergleich mit Maries Quelle erbringen lassen, die dem 1 1 . Jahrhundert angehört und uns damit ermöglicht nachzuprüfen, inwieweit der E S O P E bereits vom Geist der „deuxieme epoque feodale" 3 ) geprägt ist. Der Revision bedürftig ist insbesondere Warnkes Behauptung, daß die Epimythien im E S O P E zumeist, wie die Fabel selbst, dem Grundgedanken im R N entsprächen und ihn lediglich „in konkreter, auch oft aktueller Weise vorführen" (p. 259). Zwischen den Moralitäten des R N und ihrer Entsprechung in den Fabeln des E S O P E bestehen indes zahlreiche Abweichungen, die ineins mit der Umformung der Prosa in die typische Versform der höfischen Literatur (ESOPE, Prol. v. 2 7 ) nur als Momente einer durchgängigen und bewußten Umstilisierung zu verstehen sind. Dafür, daß diese auf die Feudalherren als neues Publikum zugeschnittene Umstilisierung mit größerer Wahrscheinlichkeit der anglonormannischen Dichterin als ihrem unbekannten Vorgänger Alfred zuzuschreiben ist, sprechen zwei Gründe. Aus der Zeit, auf die E. Mall Maries englische Quelle ansetzt: nach der Eroberung bzw. zu Anfang des 12. Jahrhunderts, sind an volkssprachlicher angelsächsischer Literatur nur einzelne Denkmäler homiletischen Charakters erhalten; für eine verritterlichte Fabel in ags. Sprache fehlte das vorauszusetzende Publikum. Von Marie andererseits wissen wir aus den Untersuchungen von E. Nagel, daß sie in ihrer Übersetzung des E S P U R G A T O I R E S A I N T P A T R I Z nicht unselbständig verfuhr und Änderungen von derselben Art vornahm, wie sie sich auch zwischen R N und E S O P E aufweisen lassen4). Die Differenz zwischen der Fabelmoral im RN und im E S O P E kann umgekehrt aber auch den ersteren, nach den Worten des Aufklärers Lessing das Werk des „dümmsten von allenMönchen" 6), in ein neues FRANCIS p. 83: „ L a procedure legale au cours du X l l e siecle trouve son developpement le plus remarquable dans 1'entourage d'Henri II d'Angleterre. Des traites en latin lui sont dedies Sur ce sujet par des personnes de la cour et il est possible que, sous une influence similaire, des questions analogues aient ete les sujets essentiels d'ouvrages en langue vulgaire. Les Fables de Marie seraient un de ces derniers ouvrages." А

3

) FRANCIS P. 8 1 .

) nach Marc Bloch, La societe feodale, Paris 1949, vgl. bes. t. I p. 95 ff. 4 ) E . Nagel, Marie de France als dichterische Persönlichkeit, in: R F X L I V

(1930),

1 - 1 0 2 , v g l . b e s . p . 58FR. б

) G. E . Lessing, Romulus und Rimicius, in: Sämtliche Schriften, a.a.O. Bd. X I , 538£. Lessing verfolgt hier gewisse „Mönchsspuren" im R N , um zu zeigen: „wir hätten diesen, ohne den geringsten Verlust, entbehren können"; die Äußerung über den Verfasser des R N bezieht sich auf die Stelle: Α natura nulla Creatura mutatur excepto Homine et Angelo; sed dictu saepius de malo pejor nascitur, wozu Lessing

27 Licht rücken: diese mißachtete Fabelsammlung gewinnt ihren Wert als Dokument ihrer Zeit in demselben Maße zurück, wie der E S O P E der Marie de France Zeugnis ablegt von der spezifischen Weise, in der eine Autorin der höfischen Gesellschaft des ausgehenden 12. Jahrhunderts die äsopische Fabel übersetzt und ausgelegt hat, die immer wieder neu auszulegen sich jede Epoche im besonderen aufgerufen fühlte. Damit rührt unsere Untersuchung an eine Frage von größerer historischer Tragweite, die zuletzt A. Schirokauer aufgeworfen hat: die Stellung Äsops in der Literatur des Mittelalters. Die allgemeine Vertrautheit mit den Fabeln des Romulus-Corpus läßt sich für die Klosterschule leicht durch den Hinweis auf den Kanon der Schulautoren - Äsop und Avian finden sich schon in der um 1086 verfaßten Ars lectoria des Franzosen Aimericus 1 ) - erklären. Als Lehrbuch dieser Art (vielleicht auch als Schularbeit?) mag wohl auch der anspruchslose R N gedient haben, der uns zu erkennen gibt, welcher Veränderungen der Fabelmoral es am Anfang des I i . Jahrhunderts bedurfte, damit die äsopische Fabel in das christliche Lehrgebäude Eingang finden konnte. Die Schwierigkeit der Aufgabe, vor die sich der Verfasser einer ersten volkssprachlichen Fabelsammlung gestellt sehen mußte, war nicht geringer: äsopische Fabelmoral und ihre christliche Auslegung mit den Idealen einer aristokratischen Gesellschaft in Einklang zu bringen. „Warum sollte eine intakte Aristokratie eine Literatur pflegen, deren Neigung so deutlich dem Niedrigen, dem Nichtigen, dem Opfer galt?" 2 ) Auf diese Schwierigkeit führt Schirokauer den merkwürdigen Umstand zurück, daß aus dem Zeitraum zwischen 1180 und 1230 keine mhd. Fabelsammlung erhalten ist (Marie de France findet dort in dieser Epoche so wenig Widerhall wie der um 1180 abgefaßte R E I N H A R T F U C H S des Heinrich von Glichezäre). „Dieses fabellose Halbjahrhundert ist nun aber identisch mit der Glanzzeit der höfischen Literatur. In dem Augenblick, da die E N E I T den hohen Stil des Ritterepos etabliert, treten die vulgares fabellae ab." 3 ) Wollte man die Folgerung, zu der Schirokauer (im Zuge einer Erörterung, warum Thomasins Welscher Gast als nur scheinbare Ausnahme seine These letztlich bestätigt) dabei kommt: Fabeln im strengen Wortsinn „widersetzen sich jedem Versuch der Verritterlichung" 4 ) für den E S O P E bemerkt: „ D i e Moral ist freilich nicht wahr: aber ihr so nachhelfen, sie so berichtigen, das konnte nur der dümmste von allen Mönchen. Und so an mehreren Orten." 1 ) C U R T I U S p. 461; die dritte Rangklasse (stagnum = communia) enthält: „Catunculus (d. h. der Spruchdichter Cato), Homerulus (die Mas latino) — beide in Diminutivform wohl deshalb, weil für die Abc-Schützen bestimmt; Maximian, Avian und Aesop - alle drei bekanntlich ebenfalls im Unterricht beliebt." 2

) SCHIROKAUER P.

180.

p. 1 8 4 - 1 8 5 ; der Begriff vulgares fabellae ist der Vorrede der F E C U N D A R A T I S Egberts von Lüttich entnommen. 4 ) ibid. p. 186. 3

) SCHIROKAUER

28 geltend machen, so würde sie zwar die Ausgangssituation Maries, nicht aber die Leistung und große Wirkung ihrer Fabelsammlung kennzeichnen. Im Bereich der altfranzösischen Literatur fällt die Glanzzeit der höfischen Literatur keineswegs mit dem Primat einer hohen, die vulgares fabellae ausschließenden Stillage zusammen. Gerade Marie, die Zeitgenossin Chrestiens, ist ein Beispiel dafür, daß die Grenze zwischen hoher und niederer Gattung mitten durch das Schaffen eines Autors verlaufen kann. Neigt man doch heute zu der Annahme, daß die Lais während eines längeren Zeitraums abgefaßt worden sind, in ihrer Entstehungszeit also sehr wohl sich mit der Fabelübersetzung berühren konnten 1 ). Mit dieser hat aber Marie de France nicht allein den vulgares fabellae, also einer niederen Gattung, in die höfische Literatur Eingang verschafft, sondern zugleich auch die Tierfabel „verritterlicht", d. h. dem Ideal der höfisch-ritterlichen Welt dienstbar zu machen versucht. Die Problematik dieser Ausgangsposition hat ihren Niederschlag im Prolog zum E S O P E gefunden, w o Marie ihr Unternehmen rechtfertigt. D e r zu erwartende V o r w u r f , um dieses Werkes willen für vileine (v. 36) angesehen zu werden, wird offensichtlich v o n dem geringen Ansehen, in dem die vulgares fabellae stehen, zum Teil wohl auch v o n dem mangelnden Ernst einzelner Fabelstoffe (fable de folie, v. 2 3 ) abgeleitet, was sich wohl auf die in der Sammlung ihres Vorgängers mit enthaltenen Schwankstoffe bezieht. D e r erste Schritt, der Gattung der Fabel einen höheren Rang zu verleihen, ist zunächst einmal darin zu sehen, daß Marie die Prosa ihres Vorgängers in das klassische Versmaß der höfischen Literatur, den gepaarten Achtsilber umsetzt. W a s ihrem Werk aber in ihren A u g e n vornehmlich seinen Wert verleiht, ist einmal eine A r t v o n literarischer .translatio' v o m ersten U r heber bis zu der Dichterin selbst, zum andern die in ihrem Text und selbst noch in seiner folie enthaltene philosophic (ν. 24), der ,sensus moralis' also, den Marie im Unterschied zum R N aber in ihrem Prolog nicht schon vorw e g ausspricht. Schon der erste Urheber des Textes, Esopes, mußte Marie zufolge der Verwunderung aller gewärtig sein, als er die aufgefundenen Fabeln aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzte: Merveille en orent Ii plusur qu'il mist sun sens en tel labur.

(v. 2 1 - 2 2 )

Marie erhebt ihn darum in die Reihe der ancien pere (v. 1 1 ) , d. h. der heidnischen Dichter, die par moralite escriveient (v. 7) und darin Vorbild sind 2 ). Vgl. FRANCIS P. 96; zur Diskussion der Datierungen und zu der heute als wahrscheinlich angenommenen Reihenfolge L A I S - ESOPE - ESPURGATOIRE

s. A . Ewert, Einl. zu seiner Ausgabe der LAIS, a. a. Ο. p. V - X , sowie Η. Tiemann, Die Datierungen der afrz· Literatur, R J V I I I (1957), p. 125 f. 2 ) Z u dieser traditionellen Rechtfertigung heidnischer Dichter um ihrer sittlich bildenden Wirkung willen vgl. E . R. Curtius, Mittelalterliche Literaturtheorien, ZRPh L X I I (1942), 427 f.

29 Da die Rolle des Übersetzers bei ihr von Romulus auf Äsop übergegangen ist, hat der erstere in ihrem Prolog allein noch die Funktion, ein Glied in der ,translatio' des Textes zu bilden und dessen Bedeutung durch seine kaiserliche Autorität zu erhöhen. Insofern Romulus als Kaiser den Text seinem Sohn anempfiehlt und weiterreicht, gewinnt dieser, auch wenn es nicht ausdrücklich hervorgehoben wird, den Charakter eines Fürstenspiegels. Daß der Nächste in der Kette dieser ,translatio' nicht ein beliebiger Alfred, sondern nur Ii reis Alvre\der diesen Text als König sehr liebte und ihn darum ins Englische übersetzte (Epilog ν. τ 6), sein kann, liegt so ganz in der Logik dieses Argumentationszusammenhangs, daß man keine Bedenken zu haben brauchte, Marie selbst die Erhöhung Alfreds und Identifizierung mit seinem königlichen Namensverwandten zuzuschreiben. Auch wenn dem nicht so war, steht doch das Motiv dieser Zuweisung außer Zweifel: wie Romulus, der Verfasser des lateinischen Äsop, zur Erhöhung seiner ,auctoritas' in der mittelalterlichen Tradition mit dem gleichnamigen Kaiser identifiziert wurde, so dient auch die Verfasserschaft König Alfreds der Legitimierung des bis dahin nur in der klösterlichen Schulstube von den Anfängern gelesenen Textes für ein neues, sozial hochgestelltes Publikum. Der Letzte in der ,translatio', jener cunte Willalme, der Marie mit der Übersetzung des Textes aus dem Englischen ins Französische beauftragte, setzt zugleich die Linie der fürstlichen Vermittler äsopischer Weisheit fort und verkörpert die Ideale des neuen Publikums, bei dem ihr Marie Eingang verschaffen will: (ki) flurs est de chevalerie, d'enseignement, de curteisie.

(v. 3 1 - 3 2 )

Vom ganzen Inhalt der Romulusepistel andererseits findet sich in Maries Prolog nur eine einzige mögliche Spur. Von den dort zitierten Lehren Äsops: Apposuit vera falsis, composuit integra bonis, scripsit calumpnias malorum, argumenta bonorum docens, et firmos esse humiles et verba blanda pocius cauenda esse quam aspera docuit (RN, Prol.) hat bei Marie de France nur die letzte eine gewisse Entsprechung in der Nutzanweisung, die sich Romulus für seinen Sohn von den Fabeln verspricht: e par essample Ii mustra cum se delist cuntreguaitier que hum nel peüst engignier.

(v. 1 4 - 1 6 )

Hat Marie bewußt auf die christliche Auslegung des ,fabula docet' verzichtet, die im RN am Ende der Äsopepistel noch ausdrücklicher formuliert wird: ostendi vias malorum, confirmaui vias bonorum (III, xii), als sie ihre so auffallend kurze Version der Episteln mit der einen, rein pragmatischen Lehre für den Sohn des Kaisers schuf? Da wir nicht wissen, ob Marie absichtlich auf die Unterscheidung der viae malorum et bonorum nicht einging und ob sie keinen Wert auf die Erklärung legte, warum das Genus der Fabeln geschaffen sei und Tiere sprechen lasse, sind wir mit der Frage nach



dem ,sensus moralis' ihres E S O P E auf den Sinn jener philosophie verwiesen, die ihr Unternehmen vor allem rechtfertigen soll. Philosoph (v. 5) und philosophie (v. 24) im Prolog zum E S O P E ruft die berühmte Parallelstelle im Prolog zu den L A I S ( V . 9-22) in Erinnerung. Beide Stellen erhellen einander, wie L. Spitzer gezeigt hat, der geltend macht, daß sich Marie dabei ihrer Rolle als ,poeta philosophus ettheologus' bewußt war 1 ). Die Gleichung Poesie = Philosophie = Theologie, wie sie Marie dort unter Berufung auf die Autorität Priscians und unter Anführung der Lehre von der fortschreitenden Enthüllung des potentiell christlichen Sinnes in der Glossierung heidnischer Texte entwickelt, liegt implizit auch den Stellen aus dem Prolog zum E S O P E zugrunde. Li philosophe bzw. Ii ancien pere sind demnach die heidnischen Fabeldichter; die philosophie, um derentwillen sie ihre bonsproverbes aufschrieben, wäre demzufolge die christliche Heilslehre. Daß auch die Weisheit Äsops im Mittelalter in der Tat als ,spiritualis sapientia' aufgefaßt worden ist, bezeugt der Epilog zum RN, auf den wir noch zurückkommen. Zu den diesbezüglichen Stellen findet sich im E S O P E indes so wenig ein Korrelat wie zu ostendi vias malorum, confirmavi vias bonorum. Die philosophie von Maries E S O P E ist nicht für jedermann offen dargelegt wie im RN, dessen Verfasser der Fabel als Gattung geradezu eine Vorzugsstellung einräumt, insofern sie dem Menschen als Weisung dienen kann, das Gute und das Böse zu erkennen und sein Leben im Blick auf Seligkeit und Verdammnis danach zu ändern: Omne genus fabularum sine dubio directo tramite ad homines refertur. Nemo enim est bonus malus ve nisi homo. De Deo enitn et Angelis non est nobis sermocinacio modo. Bona ergo fabula bono homini et mala malo equiparari potest. Quis enim übet homo bonum faciet, nisi pro spe remuneracionis et laudis, aut quis a malo se abstineat, nisi timore vindicte et opprobrii? Aut quomodo aliquis cognoscere bonum et malum possit, nisi per anteriora exempla? (RN, prol. in sec. librum)

Demgegenüber hat Maries philosophie, unbeschadet dessen, daß sie die traditionelle Rechtfertigung heidnischer Dichter benutzt (v. 1 - 1 1 ) , einen esoterischen Charakter; ihr besonderer Sinn, der im Prolog noch nicht ausgesprochen ist, wird sich erst allmählich und in einer Weise enthüllen, die sich mit der Auffassung des RN nicht mehr vereinen läßt. Im E S O P E leitet keine vorweg gegebene Nutzanwendung mehr den Leser von vornherein zu einem eindeutigen Verständnis an, wie auch daraus erhellt, daß Marie in ihrer Wiedergabe der Fabeln kein Promythium voranstellt, das im RN den Sinn vorzeichnet. Doch hat sie dafür gesorgt, daß die Lehre ihrer Fabeln nicht übersehen werden konnte, und sie an bedeutsamer Stelle, im ersten und letzten Stück ihrer Sammlung, formuliert. Die Fabel ,De gallo et gemma' bildet auch im E S O P E den Anfang. Marie folgt hier der Tradition des Romulus, der dieser Fabel vor ,De lupo et agno' im Unterschied zu Phädrus den Vorrang gegeben hatte, „offenbar *) M P X L I (1943), 9 6 - 1 0 2 ; zum Prolog des ESOPE vgl. bes. p. 99, Anm. 6.

3i wegen des gleichsam eine prologartige admonitio an den Leser involvierenden Promythiums hoc Ulis Aesopus narrat, qui eum (legunt) et non intelligunt"1). Marie hat indes an dieser Stelle auf die Ermahnung zum rechten Lesen verzichtet; sie findet sich bei ihr bereits in den Versen 7 - 1 0 des Prologs. Um zu erkennen, inwiefern ,De gallo et gemma' auch in ihrer Sammlung prologartigen Charakter hat, bedarf es genaueren Zusehens: Esopus hanc primam fabulam dixit de hiis qui despiciunt sapien-

Del coc recunte ki munta sur un femier e si grata;

ciam, vt quodcunque bonum in-

sulunc nature purcha^ot

ueniunt. In sterquilinio quidam

sa viande, si cum il sot.

gallinacius, dum quereret escam,

Une chiere gemme trova;

inuenit

clere la vit, si l'esguarda.

margaritam

in

indigno

loco iacentem. Quam vt vidit, sie

,Jeo quidai', fet il, .purchacier

ait: Bona res, in stercore iaces. Si

ma viande sur cest femier.

aliquis cupidus inuenisset te, gau-

O r t'ai ici, gemme, trovee;

dens vtique rapuisset te, vt redires

ja par mei n'en iers remuee!

in splendorem pristinum decoris

S'uns riches huem ci vus trovast,

tui. E g o te inueni in hoc loco

bien sai que d'or vus honurast,

iacentem; petens a te escam mihi,

si acreüst vostre clartd

nihil inuenio vtilitatis in te; qua-

par l'or, ki mult a grant bealte,

propter nec e g o tibi prosum, nec

Quant ma volonte n'ai de tei

tu michi.

ja nule honur n'avras par mei.'

H e c Esopus

narrat illis

qui

non intelligunt bonum quodeumque habent

( R N I, i).

Altresi est di meinte gent, se tut ne vait a lur talent, cume del coc e de la gemme. Veü l'avuns d'ume e de femme: bien ne honur nient ne prisent; le pis pernent, le mielz despisent.

Da Marie dem Apolog kein Promythium voranstellt, bildet die einleitende Wendung del coc recunte . . . zugleich einen Teil des ersten Satzes der E r zählung. Dabei tritt del coc für quidam gallinacius ein: der Hahn wird sogleich wie eine bekannte Figur eingeführt. Diese Veränderung ließe sich einfach auf die Bekanntheit der Fabeln zurückführen, wenn diese durch den E S O P E nicht eben gerade zum erstenmal einem Publikum nahegebracht werden sollten, das sie nur in der Volkssprache verstehen konnte. N u n findet sich weder im R N durchgängig ,quidam' (quaedam usw.) als Ersatz für den fehlenden unbestimmten Artikel, noch hat Marie durchgängig den bestimmten Artikel eingesetzt. Beide Verfasser standen also jeweils vor der Wahl, das Subjekt der Fabel als Einzelwesen oder als Repräsentanten seiner Gattung zu bezeichnen. In unserem Fall wird durch den bestimmten A r tikel eine Erhöhung der Typik erzielt: was dem Hahn mit dem Edelstein widerfährt, stellt sich nicht als zufälliges Geschehen dar, das einem gewissen Hahn widerfuhr und jedem beliebigen Wesen widerfahren konnte, sondern als ein notwendiges Geschick, das der Natur des Hahnes gemäß ist und ebenso zu seinem Habitus gehört wie die Einzelzüge, mit denen T H I E L E , ROMULUS P . X X I .

3*

Marie (über RN hinaus) das Bild des Hahnes im Detail noch weiter ausführt (ki munta sur un femier, e si grata). Diese Deutung läßt sich durch eine Reihe von Veränderungen stützen, die sich im Wortlaut des Apologs vorfinden. Für die Verse sulunc nature purchagot sa viande, si cum il sot

gibt es im RN keine Entsprechung. Wenn Marie sulunc nature einfügt, könnte sich dies zwar zunächst nur allgemein auf das naturgegebene Bedürfnis nach Nahrung beziehen. In si cum il sot liegt aber bereits die dem Hahn eigene Beschränktheit, dessen dummer Stolz hernach in seiner (von Marie ins Pathetische gesteigerten) 1 ) Rede zutage tritt. Wenn der Hahn verschmäht, dem Edelstein ,Ehre zu erweisen', liegt darin keine Entscheidung, sondern eine unabdingbare Grenze seiner nature, derzufolge er mit dem Edlen, selbst wenn es ihm zugänglich ist, nichts anfangen bzw. ihm nicht die gebührende Ehre erweisen kann: das Edle kann nur vom Edlen (riches huem) in seinem Wert erkannt und gewürdigt werden. In diesen Zusammenhang weist noch eine zweite Veränderung. Im RN würde die Perle nur ihren früheren Glanz wiedererlangen (redire in splendorem pristinum decoris tui), bei Marie, die aliquis cupidus durch uns riches huem ersetzt, bedürfte es eines anderen, edleren Finders und eines edlen Tuns (d'or vus honurast statt rapuisset), um den hier durch den unwürdigen Ort offenbar nicht verringerten Wert des Steines sogleich zu erhöhen. War zuvor mit dem Promythium sapiencia als Tugend, das Gute wo auch immer zu erkennen, in Wegfall gekommen, so kann man sich hier nunmehr fragen, ob der Sinn, den Marie der Fabel in dem von ihr fast neu geschaffenen Epimythium gibt, sapiencia in diesem Begriff nicht überhaupt ausschließt. Denn ihre Moralität enthält an sich keine Lehre, die eine Nutzanwendung ,für ein ander Mal' im Sinne eines amender einschließt, sondern gibt sich als Niederschlag eines konstatierenden ,so ist und bleibt es', das die topische Wendung des Augenzeugen veü l'avons... noch unterstreicht 2). Wie es in der nature des Hahns liegt, die ihm gemäße Nahrung zu suchen, und über sein Vermögen ginge, dem Edleren Ehre zu erweisen, so (altresi) verhält es sich mit meinte gent, die das Gemeine dem Besseren vorziehen und bien ne honur nicht zu schätzen wissen. In Maries Fabel geht es nicht mehr einfach um ein Nicht-Erkennen (RN: qui non intelligunf), sondern um eine notwendig versagte Voraussetzung des prisier. Dieses prisier ist im ESOPE offenbar nicht jedermanns Sache, wie die sapiencia im RN, x

) Dazu gehört etwa, wenn Marie seiner Rede voranstellt: Jeo quidai

chaser ma viande sur cest 2

(I) pur-

femier.

) Weitere Belege für diese

nicht Aktualität, soncL -n Faktizität bezeich-

nende - Wendung: IV 36: de meint hume le puis pruver; X V 44: mult le puet Γ um veeir sovent; LXXII 115: Isst est suvent avenu\ LXXI 15: De plusurs le veit hum sovent·, LXXXIII 44: meinte fei ζ est trove e dit.

33 sondern als Möglichkeit auf den Kreis derer beschränkt, die eine entsprechende Stufe in der Rangordnung der Wesen einnehmen. Insofern könnte man auch für Maries Fabel geltend machen, was Schirokauer bei der Fabel vom Kalb und vom Storch (in der Paulus Diaconus zugeschriebenen Version) als kennzeichnend für die Verschiebung phädrischer Tendenzen in der Fabelmoral des M A angesehen hat: „die Fabel bestätigt uns die Lehre v o n der Ungleichheit aller Geschöpfe; ihre Essenz ist Gradualismus" x). Die WertbegrifFe bien ne honur, die in Maries Epimythium an die Stelle von sapiencia getreten sind, machen eine weitere Differenz deutlich. Ja nule honur avras par mei tritt bereits in v. 16 für nec ego tibi prosurn, nec tu miehi ein: die bloße ,utilitas' muß dem höheren Wert des ,honur' weichen. Darum ist bei Marie auch aliquis cupidus durch uns riches huern ersetzt. Riehes wird zwar als Voraussetzung für bien sat que d'or vus honurast in der Bedeutung von ,reich' = .begütert' nahegelegt. Im Kontext wird aber dadurch, daß nur der riches huem dem Edlen Ehre zu erweisen vermag und damit der gemeineren Natur des Hahnes gegenübergestellt wird, .riches' mit ,edel' gleichbedeutend. Da riches huem als Bezeichnung für den Adel ( = baron) zur Zeit Maries schon durchaus gebräuchlich ist, macht die Ersetzung von cupidus durch riches in der Version Maries eine neue Wertschätzung weltlichen Gutes sichtbar. A u f diese Umwertung deutet auch die ständige Verbindung bien ne honur, die für bonum quodeumque habent des R N eintritt. Denn auch bien meint hier nicht mehr das moralisch Gute, 2 ) zu dem es kein ,Besseres' gibt (wie v. 22 voraussetzt), sondern das Gut als Besitz, der höheren Rang zu verleihen vermag.

B. „rencliner a ma nature" (der Sinn der Fabel im £S0PE) Der Vergleich der beiden Fassungen von ,De gallo et gemma' hat eine Reihe von Beobachtungen ergeben, die im folgenden am ganzen Text geprüft und fortgeführt werden sollen 3 ). Wir verfolgen dabei zunächst, welche Bedeutung für den Sinn der Fabel der Auffassung von den unabdingbaren Grenzen der ,nature' aller Geschöpfe in Maries E S O P E zukommt. Der Umstand, daß in ,De gallo et gemma' diese natürliche Wesensungleichheit aller Kreatur besonders eindrücklich hervorgehoben wird, legt uns nahe, darin die Lehre zu sehen, die dem E S O P E im besonderen über die bloße Ermahnung zum rechten Lesen hinaus prologartig vorangestellt ist. Diese Hypothese gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn man sich vor Augen hält, daß die Fabel ,De femina et gallina' (CH), mit der die Sammlung 1)

S C H I R O K A U E R p. 1 8 2 ; z u r F r a g e d e s G r a d u a l i s m u s s. u . p . 39, A n m . 1.

2)

S o n o c h i m P r o l o g v . 1 0 : ki lur entente en bien meissent.

8)

D i e U n t e r s u c h u n g w i r d d a b e i a u c h ü b e r d i e 40 a u s R N

Fabeln hinaus Beispiele heranziehen, m ö g l i c h k e i t - instruktiv sind. 3

Jauß, Tierepos

wo

diese -

wenn

auch

übernommenen ohne Vergleichs-

34

beschlossen wird, dieselbe Lehre noch einmal gibt. Bezeichnenderweise finden sich die diesbezüglichen Verse 20-26 in ,Venus und die Götter', auf die die Version im E S O P E zurückgeht, nicht; statt dessen wird dort das Exemplum von der Henne, die das Scharren nicht lassen kann, auf die naturgegebene Untreue der Frauen bezogen 1 ). Gewiß läßt sich die Veränderung im E S O P E zum Teil damit erklären, daß die mythologische Einkleidung und die unverhüllte Anstößigkeit der Moral beseitigt werden sollte. Daß die Fabel im E S O P E aber zugleich im Gegensatz zu der übrigen Romulustradition an den Schluß gestellt wird (auch im R N findet sich dort statt dessen die Äsopepistel und Äsopstatue), kann wohl kaum zufallig sein und verleiht ihrer Lehre erhöhte Bedeutung: Par cest essample vuelt mustrer que plusurs genz pueent trover manaie e ceo qu'il unt mestier; mes il ne pueent pas changier lur nature ne lur usage: tuz jurs avive en lur curage. (v. 2 1 - 2 6 )

Die Lehre von der Wesensungleichheit der Geschöpfe beruht, wie aus diesen Versen hervorgeht, auf der Unveränderlichkeit ihrer nature. Nature, das im Wortgebrauch Maries gerne durch ein Possessivpronomen partikularisiert erscheint, ist im E S O P E mit us, usage oft gleichgeordnet 2 ) und meint die geschaffene Natur eines Wesens, das sowohl in seinem Habitus unveränderlich, als auch hinsichtlich des Platzes, den es in der Rangordnung aller Wesen einnimmt, festgelegt zu denken ist. Alles Streben, über diesen Platz hinauszugelangen und eigenmächtig eine höhere Stufe in dieser Rangordnung eiiminehmen (alever X X V I I I 16, eshalcier X C V I 24), führt - so zeigen es zahlreiche Fabeln gerade in der umgestalteten Version Maries und erweisen damit die philosophie ihres E S O P E - unweigerlich wieder in die von Gott ein für allemal zuerkannte Natur zurück. Die Fabel ,De cane et umbra' (V) läßt die Absicht der Auslegung Maries besonders deutlich hervortreten, weil hier - wie oft im E S O P E - zwischen Apolog und Moralität nicht das Verhältnis einer notwendigen Folgerung besteht. Der Hund, der aus Gier nach dem Spiegelbild des Käses ins Wasser !) ROMULUS L V I I I . 2 ) Zum Gebrauch von .nature' mit Possessivum in der Bedeutung von ,Art, Wesen' vgl.: rencliner a ma nature ( L X X I I I 81), ta nature mepriser (ibid. v. 85), fors de lur nature ( L X X I X 31), sa nature puet hum guenchir (ibid. v. 39); in zwei weiteren Belegen steht nature ohne Possessivum im Sinne von ,wie es der Natur der Lebewesen zukommt': sulunc nature purchacot (I 3), ala querre viande, si cum nature k demande ( L X X I X 13). In allen Fällen hat nature im ESOPE nicht den Sinn von .kosmische Potenz' (Göttin Natura), obwohl Marie auch dieser Begriff, wie die Lais zeigen, vertraut gewesen ist. - Zum gleichgeordneten Gebrauch von ,us(age)' vgl.: ne puet laissier sun malvais us ( X X I I I 5 8), ceste preiere aveit en us ( L V 6, hier in der Bedeutung von .Gewohnheit'), ki sun mal us prise altretant ( L X I V 14), sulunc ma nature et mon us (CH 20), lur nature ne lur usage (ibid. v. 25).

35

springt und diesen dadurch verliert, fällt einer Täuschung zum Opfer. Daß die Täuschung als solche bereits eine Lehre ergeben kann, bezeugt die Moralität: Noti igitur debent pro vanis certa relinqui bei Walter von England, dem Zeitgenossen Maries RN betont hingegen (wie die übrige Romulustradition) 2), daß das Begehren fremden Gutes zum Verlust des eigenen führe {Sic quisquis aliena inhianter querit, sepe propria perdit·, I, v). Marie hebt aus dieser Schlußfolgerung ein Element hervor, das ihr einen neuen Sinn verleiht: K i plus coveite que sun dreit par sei meismes se άεςεϊί. (V 1 5 - 1 6 )

Hier hat sich die Moralität am weitesten vom Apolog der Fabel gelöst. Sie ist nicht mehr allein an die faktische Täuschung geknüpft (pro vanis certa relinqui), sondern vor allem auf ein Verkennen der bestehenden Ordnung bezogen: wer mehr begehrt, als ihm von Rechts wegen zugesichert ist, verfällt notwendig der Täuschung, oder - wenn man so weit gehen darf - mehr begehren als das Zubestimmte, ist bereits Selbsttäuschung. Diese Anschauung vom unverrückbaren Recht des Bestehenden ließe sich an vielen Fabeln aufzeigen. So krepiert der Fuchs in ,De vulpe et umbra lunae', weil er ultre le dreit e ultre ceo qu'il ne devreit das Unmögliche (aveir tutes ses vo/ente%J begehrt (LVIII 15 ff.) und wird in ,De lepore et cervo' dem Hasen seine ultrage (v. 25), ein Geweih wie der Hirsch tragen zu wollen, zum Verhängnis: car plus aveit qu'il ne deüst ne qu'a sa grandur n'esteüst.

( X C V I 19-20)

Der Zusammenhang von nature und dreit wird in ,De mure uxorem petente' (LXXIII) explizit. Die Maus, die auszog, um den Mächtigsten zu freien, und schließlich keine bessere Frau findet als unter ihresgleichen, ist mit der Einsicht in die ihr allein gemäße nature auch am Ende ihrer aventure angelangt: ,Jeo quidoue si halt munter: or me covient a returner e rencliner a ma nature.' ,Tels est', dist la turs, ,t'aventure. Va a maisun, e si retien que ne vueilles pur nule rien ta nature mes desprisier. Tels se quide mult eshalcier ultre sun dreit e alever, qui plus bas estuet returner; mesprisier ne deit nuls sun dreit, se ceo n'est mals, quel que il seit.'

(v. 79-90)

Dieselbe Art von ,aventure' widerfährt in L X X I V dem Käfer, in XCVI dem Hasen, in abgewandelter Form aber auch schon in III der Feldmaus x

) Cf. Recueil General des Ysopets, ed. I. Bastin, Paris ( S A T F ) 1930, t. II p. 1 1 (Fabel V 5). 2



) C f . ROMULUS V I

3.

36 oder in X X I I den Fröschen und kann mutatis mutandis für die Tierfabel im E S O P E überhaupt als charakteristisch angesehen werden. Sie besteht in einem Weg, der in einer kreisartigen Bewegung verläuft, die aus verschiedenen Motiven (Neugier, Habsucht, Neid, Geltungsbedürfnis) von der zugefallenen nature hinweg- und unentrinnbar wieder auf sie und damit zum Ausgangspunkt des Weges zurückführt. Dieser Weg der aventure in der Fabel kann gleichsam horizontal oder vertikal verlaufen, d. h. aus einem Verkennen des zubestimmten Orts oder des zubestimmten Rangs hervorgehen. So profiliert Marie im Epimythium zu ,De leporibus et ranis' eindrücklicher als R N die Vergeblichkeit der Ortsveränderung, indem sie den Rat der weisen Hasen einfügt que folie ert que il quereient a eissir de lur cunissance u il furent nurri d'enfance (XXII 10-12)

und die Hasen an ihren ancien liu (35) wieder zurückkehren läßt, nachdem sie am Beispiel der Frösche belehrt wurden, daß keine Kreatur der ihr verhängten Furcht entrinnen kann. Diese Lehre wird der Fabel ,De aquila et accipitre et ardua' ( L X X X ) , wo der Kranich glaubt, sich seiner Schmach durch eine Flucht übers Meer entziehen zu können, geradezu gewaltsam als Moralität aufgesetzt. Das unverschuldete Mißgeschick wird als malvaistie (v. 46), d. h. als wesenhafte Natur aufgefaßt und diese in ihrer Unentrinnbarkeit noch verstärkt durch die Vorstellung, daß die Fremde - im gleichzeitigen höfischen Roman das ausgezeichnete Feld der Bewährung und der Steigerung des Helden 1 - die verhängte nature (hier = vtleinie) gerade erst recht hervorkehrt 1 ): pur nient laissent lur pals aillurs funt il altel e pis. (ν. 49-50)

Wie anders als der Verfasser des R N Marie im Grunde die Natur der Wesen auffaßt, zeigt am besten die Fabel ,De simia et vulpe' (XXVIII). Zunächst fällt auf, daß im R N primär mit der Pracht des Fuchsschwanzes argumentiert wird, von dem sich der Affe ein Stück erbittet, vt de magnitudine caude sue aliquid ei largiretur, vnde nates suas turpissimas posset tegere (II, xix). Im E S O P E ist von der Häßlichkeit der jungen Affen expressis verbis nicht die Rede; statt dessen spricht der Fuchs in seiner abschlägigen Antwort den tieferen Grund dieses Ansinnens in den Worten aus: Ja de ma cue, ki est granz n'aleverez les voz enfanz en altte regne n'autre gent2).

(XXVIII i j - 1 7 )

Nicht um des schöneren Aussehens willen wie im R N (ne tu et tui filii meo tegmine pulchrior videreris), sondern um seine Nachkommenschaft auf einen !) obschon im v. 51-52 des Epimythiums die Forderung erhoben wird: lur malvais quer deivent changier, ne mie lur pais laissier. 2 ) Wir ziehen die Lesart ,autre gent' (statt ,entre gent') vor, da sie dem in der Fabel betonten hierarchischen Prinzip genauer entspricht.

37

anderen Rang zu erhöhen, bringt der Affe seine Bitte vor. Danach ist man erstaunt, im Epimythium bei Marie eine Moralität zu finden, die quasi für den Affen Partei ergreift und den Fuchs als geizig (aver hume) anprangert: Cest essample pur ceo vus di, de l'aver hume est altresi: se il a plus que lui n'estuet, ne vuelt suffrir (kar il ne puet) qu'altre en ait aise ne honur; mielz le vuelt perdre chascun jur.

(v. 21-26)

Diese moralische Umwendung des Apologs, der in Maries Version an sich auf eine Moral vom Typ: ,ein jeder bleibe in seinem Stande' angelegt ist, geht auf den RN zurück, der mit der übrigen Romulustradition das Epimythium gemeinsam at: Subsequent fabula increpat avaros diuites, qui nihil de superfluis suis tribuunt inopibus1). Marie hat indes die übernommene Lehre durch einen Nachsatz (zu ne vuelt s u f f r i r ) kar il ne puet wieder völlig aufgehoben. Der Ordo des Bestehenden ist in den Schranken seiner Hierarchie so absolut gedacht, daß das im Vordersatz angeprangerte Laster des Geizes im Nachsatz sogleich wieder als wesenhaft unentrinnbar bezeichnet wird. Das Verlangen der Kreatur, über die ihr zubestimmte Natur hinauszugelangen (eshalcier) und einen höheren als den ihr zugefallenen Rang in der Hierarchie der Wesen einzunehmen, wie es hier am Beispiel des Affen, zuvor in der aventure der Maus und des weiteren in der Selbstüberhebung des Esels (XXXV) oder des Käfers (LXXIV) zutage tritt, wird im E S O P E als orgueil2) gekennzeichnet. Der orgueil erscheint hier als folie schlechthin, während andererseits die sagesse gleichbedeutend wird mit leialti, der höchsten Tugend der Selbstbescheidung, wie sie z. B. im Exemplum ,Richtig beten' (LIV) herausgestellt ist: ceo gart que deus Ii a done, si Ii suffise en leialte. (ν. 19-20)

Als Beispielfigur des orguillus sei noch der Rabe in ,De corvo et vulpe' (XIII) angeführt, weil hier wiederum eine Differenz zwischen RN und ESOPE instruktiv ist. Marie hat die Moralität Sed postquam homo perdiderit quicquid amat, quid penitencia Uli proficit? (RN I, xiv) überhaupt aufgegeben und die Warnung vor Schmeichelei aus dem Promythium auf eine Lehre zugeschnitten, die ihr allein eigen ist 3 ): C'est essamples des orguillus ki de grant pris sunt desirus: par losengier e par mentir Cf. ROMULUS L X V I I 7: 0 locuples et avare, te nunc increpat

das, quod tibi a

haec fabula, qui non

superat.

) Das Epitheton orguillus

bzw. surquidie^

wird in diesem Sinn dem Esel

(XXXV 33: orguillus feluri), der Maus (LXXIII 1: enorguilliz,

v. 96:

surquidiez),

dem Käfer ( L X X I V 47), vom Käfer zuvor dem Adler (v. 7: molt le tint α orguillus), dem Eber ( L X X V 12: orguillus hume) und dem Raben (XIII 29) beigelegt. ') Vgl. dazu die Varianten zu ROMULUS X I X .

38 les puet hum bien a gre servir; le lur despendent folement pur false losenge de gent. (v. 29-34) Hier wird als tieferer Grund der Eitelkeit der orgueil als Verlangen nach höherer Geltung aufgedeckt, wobei es nach dem Kommentar Maries so erscheint - die Wendung despendent.. . pur transponiert den unfreiwilligen Vorgang ins Absichtliche - , als habe der Rabe bewußt gehandelt. Diese Umgestaltung des moralischen Sinns könnte möglicherweise von der Fabel von den Pfauenfedern (LXVII) beeinflußt sein, in welche Marie zur Motivierung der folie des Raben eingefügt hat: plus vil se tint que nul oisel (v. 5). Während die lateinische Fabel den Hochmut des Raben (tumens superbia et vana audacia)nicht ausdrücklich auf seine Kondition zurückführt, läßt ihn Marie eigens aus dem determinierenden Zug seines Wesens, seiner Häßlichkeit, entspringen und verleiht damit dem beispielhaften Vorgang der Fabel den Charakter stärkerer Notwendigkeit. Von dieser neuen Motivierung abgesehen unterscheidet sich hier die Version Maries in der Moral nicht von der lateinischen Fabel, die am Ende auch zu der Folgerung kommt: quodnatura dedit, hoc tibi sufficeret. Die Einsicht in das Unentrinnbare der gegebenen Natur und die daraus entspringende Wesensungleichheit der Geschöpfe ist an sich kein Eigentum Maries, sondern Gemeingut der Fabel überhaupt und gehört zu ihren wichtigsten, weit verbreiteten Sinntypen2). Hier sei nur daran erinnert, daß von den besprochenen Fabeln aus dem E S O P E ,De mure uxorem petente' (LXXIII) auf das Pantschatantra, ,De scarabeo' (LXXIV) und ,De lepore et cervo' (XCVI) auf Äsop zurückgehen und daß das Horazische Naturam expellas furca, tarnen usque recurret im Gewand der Fabel ,De accipitre et noctua' ( L X X I X ) im Mittelalter sprichwörtlich geworden ist 3 ). Indes, wenn Marie in der Ausgestaltung dieses Grundthemas der klassischen Fabel weit über den als Quelle vorauszusetzenden R O M U L U S N I L A N T I N U S hinausgeht, die Rangordnung der Wesen im E S O P E stärker verdeutlicht und in der aventure ihrer Tierfiguren jenes rencliner a ma nature der Mausfabel immer wieder als Sinn hervorkehrt, stellt sie damit nicht einfach nur eine Grundten*) C f . ROMULUS X L V , I . 2

) W. Wienert, Die Typen der griechisch-römischen Fabel, Helsinki 1925 (FF Communications Nr. 56) führt dieses Motiv an erster Stelle seines Typenkatalogs auf, vgl. dazu bes. die Sinntypen 1 (Die Wichtigkeit der Naturanlage), 1 a (Die Natur ändert sich nicht), 1 b (Ein jeder bleibe in seinem Stande), 1 c (Niemand versteht, was außerhalb der Natur liegt), 2 (Überhebung findet Verachtung oder wird bestraft), 3 (Eines schickt sich nicht für alle), sowie bei den Erzähltypen unter II (Verkehrte Welt) die Nummern 4 3 - 5 2 (Grundmotiv: das törichte Streben nach Eigenschaften, die von der Natur versagt sind). Vgl. dazu ferner die Beispiele, die WARNKE für das Thema des unbegründeten Neides der Tiere anführt (p. 2 3 1 ) , und den Katalog der Gaben der Natur in der Fabel J u n o und der Pfau', ROMULUS LXXIV. s

) Belege bei WARNKE p. 2 3 3 ; zu der Sentenz α natura nemo mutatur vgl.

ROMULUS X ,

Prom.

39 denz der äsopischen Fabel wieder her, sondern macht nun zugleich auch eine Kluft zwischen der inhärenten Lehre der Fabel und der christlichen Moral sichtbar, die der Verfasser des R N zu verdecken versucht hatte: das Unentrinnbare der gegebenen Natur läßt sich mit dem Streben der Kreatur zu ihrem Schöpfer, das dem Ordo-Gedanken des M A wesentlich ist, schwer vereinen 1 ). In Maries Epimythium zu ,De lupo et ariete' (L), an das wir hier anknüpfen können, wird der Wolf zum Inbegriff der wesenhaften Unwandelbarkeit des ,bösen Herzens': Si vet d'ume de malvais quer: il ne puet leissier a nul fuer sun surfet ne sa glutunie; ja encuntre sa lecherie ne huem ne femme lecheresse ne guardera vou ne pramesse.

(v. 23-28)

Mit derselben Wendung (car il ne puet) hatte Marie zuvor ( X X V I I 24) den Geiz des Fuchses als ihm zugefallene Natur hingestellt. Beide Fälle machen deutlich, daß der E S O P E der Marie de France einer christlich-moralischen ') Hier scheint es angezeigt, auf den vor allem von der Germanistik ausgebildeten Begriff des ,Gradualismus' (vgl. Günther Müller, Gradualisms·. Eine Vorstudie ^ur altdeutschen Literaturgeschichte, D V j S II, 1924, 681-720) zurückzukommen, den Schirokauer benutzte, um die Verschiebung phädrischer Tendenzen in der Fabelmoral des Mittelalters zu kennzeichnen (p. 182). Die prinzipielle Einschränkung H. De Boors (Die höfische Literatur, Gesch. der dt. Lit. Bd. II, München 1953, p. 15-16) dürfte auch für unseren Fall zutreffen: „Gradualistische Gedankengänge hat es seit je gegeben (. . .) Allein die systematische Durchbildung der gradualistischen Lehre war erst ein Werk der Hochscholastik und eher eine Folge als die Grundlage der neuen Diesseitswertung der staufischen Zeit, die auf diese Weise theologisch abgefangen und eingeordnet wurde. Das ganze 12. Jahrhundert stand ausgesprochen unter dem Zeichen eines dualistischen Denkens. (. . .) Nirgends - auch bei Wolfram nicht - hat gradualistisches Denken die Dichter der höfischen Zeit beherrscht oder beruhigt." Das spezifisch Mittelalterliche in der Fabelmoral des E S O P E dürfte sich eher aus dem allgemeinen Ordo-Gedanken erklären lassen (nach H. Krings, Ordo: Philosophisch-Historische Grundlegung einer abendländischen Idee, Halle 1941, literarhistorisch ausgewertet von R. Zitzmann, Der Ordo-Gedanke des mittelalterlichen Welthildes und Walthers Sprüche im ersten Reichston, in: D V j S 25, 1951, 40-53). Demzufolge hat die Welt der Fabel bei Marie de France zwar ihr Korrelat in der ,ex'-Struktur (mensura), d. h. „daß alles Geschaffene von Gott herkommt", und in der ,ϊη'-Struktur (numerus), d. h. „daß alles Geschaffene seinen festen Platz im hierarchisch gestuften Kosmos innehat", nicht aber in der dritten, gleichursprünglichen ,ad'-Struktur (pondus). Denn die nature der Figuren der Fabel ist nicht bestimmt von einem Streben zum Ort der Herkunft hin, sondern von einer Bewegung, die von ihrem Platz weg und wieder zu ihm zurückführt. Die Fabelmoral stimmt demnach mit einer gradualistischen Weltsicht insofern nicht überein, als sie die hierarchische Stufung der Wesen nicht in ihrer Vollkommenheit, sondern in ihrer Beschränkung darstellt, so daß die eigene Gottbezogenheit aller Geschöpfe nicht zum Vorschein kommt.

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Nutzanwendung der Fabel, wie sie der oben zitierte Prolog zum II. Buch des RN formulierte, letztlich keinen Raum läßt. Denn wenn schon die Fabel im ESOPE durch anterior a exempla ein cognoscere bonum et malum ermöglichen könnte, so zeigt sie doch nirgends einen Weg aus dieser Erkenntnis in den Spielraum der Freiheit, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Der Prolog zum II. Buch des RN macht die Kluft zwischen der essentiellen Welt der Fabel und dem existentiellen Anspruch der christlichen Moral, die diesen Spielraum fordern muß, in der gewaltsamen Zuordnung bona ergo fabula bono ho mini et mala malo equiparari potest spürbar. Die Möglichkeit der Entscheidung zwischen gut und böse ist der Fabel an sich nicht inhärent; wenn sie, wie der Verfasser des RN will, ein cognoscere bonum et malum herbeiführen soll, läßt sich dieser Sinn innerhalb der Welt der Fabel weder aus einer Belohnung der Guten (spe remmeracionis et laudis), noch aus einer Bestrafung der Bösen (timore vindicte et opprobrii) rechtfertigen. Denn nicht die Idee einer ausgleichenden Gerechtigkeit, der die Mehrzahl der Fabeln ausdrücklich widerspräche, noch auch nur eine eindeutige Grenze, an der sich die Guten von den Bösen scheiden ließen, sondern einzig die Erfahrung der naturae et mores hominum bestimmt die Welt der Fabel, wie sie dem MA aus der äsopischen Tradition überkommen ist. Die Figuren der Fabel sind, zumal als Tierfiguren, an sich weder gut noch böse (Nemo enim est bonus malus ve nisi homo), sondern eben darin exemplarisch, daß sie ihre eine unwandelbare Natur und zugleich (in ihrer Vielzahl) den humanum morem zur Anschauung bringen. Der Verfasser des RN war darum genötigt, die Weisheit Äsops im christlichen Sinne zu rechtfertigen und die Unterscheidung zwischen gut und böse mit der Natur der Fabelfiguren zu vereinen. Von diesem Versuch zeugt der Epilog seiner Sammlung Premium condignum autoris: Summi optimates Atticorum, vt cognouerint scripta et ingenium Esopi, quod multas et amplissimas vias sapienciae desiderantibus demonstrasset, et humiles atque sapientes laudasset, maliuolos autem et insipientes in omni sua doctrina vituperasset et despexisset, statuam auream imposuenmt Esopo, cum honore maximo retribuentes ei mercedem maximam et condignam sapientie sue, que vsque ad judicium perseueraret, nec non vt et multos alios ad sapienciam inuestigandam instigarent. In qua statua talem titulum ciues Attenienses scripsere: Quoniam Esopus suo proprio ingenio intellexit naturas et voluntates omnium, mox fabulas edidit. Ideo, nos ciues Attici, posuimus statuam eius auro puro factam, quasi quedam remuneracio nobilis sui ingenii et assidui laboris desiderantis discrecionem habere inter bonos et malos.

Diese Paraphrase der ,Äsopstatue' weicht von den Fassungen der Romulustradition so beträchtlich ab 1 ), daß die christianisierende Tendenz ihres Vf. besonders deutlich zum Vorschein kommt. Diese äußert sich vornehmlich De statua Aesopus ad cives. - scripta et ingenium Aesopi ut agnoverunt, quod multarum semitarum amplissimas faceret vias, et pepercisset humilibus, dum alligaverit multos, qui erant summi Atticorum, statuam posuerunt Aesopo, cuius sub statua sunt tituli. quoniam artis vias ingenio intellexi, mox fabulas

41 in drei Punkten, die dem Vf. des RN allein eigen sind: i) der Herausstellung der sapiencia, die höher bewertet wird als ingenium und ars, 2) der Zusammenordnung von humiles und sapientes und ihrer Ergänzung durch das parallele Begriffspaar malittolos atque insipientes und 3) der abschließenden Rechtfertigung, mit der das Werk Äsops auf sein Streben nach Erkenntnis von Gut und Böse zurückgeführt wird. Auf die Weisheit als Tugend, das Gute zu erkennen, war schon bei ,De gallo et gemma' hingewiesen worden. Auch hat der Vf. des RN bereits in der Wiedergabe der Romulusepistel Äsop eigens mit dem Epitheton (quidam graecus) sapiens (et ingeniosus) eingeführt1). In seinem Epilog scheut er sich nicht, der Weisheit des Äsop die höchste Würde zuzusprechen, die ihr ,sub specie aeternitatis' zufallen kann, nämlich, daß sie es wert sei, bis zum Jüngsten Gericht zu dauern2). Was Äsop suoproprio ingenio erkannt hat, ist dem Vf. des RN zufolge weit mehr als die ,Wege einer Kunst' (artis vtas). Die als discrecio inter bonos et malos bestimmte Weisheit Äsops entspricht der traditionellen Definition der prudencia, wie sie sich z.B. noch in dem Traktat De Virtutibus et Vitiis von Alanus findet: prudencia consistit in discretione bonorum et malorum et in istorum electione et in illorum aspernacione 3 ); sie kommt einer der vier christlichen Kardinaltugenden gleich und gehört darum (auch nach Gen. 3,5 und Hebr. 5,14) zu jener Weisheit, die Vorbereitung des ewigen Lebens ist. Die Zusammenordnung von humiles und sapientes einerseits und von maliuolos und insipientes andererseits macht augenfällig, auf welche Weise der Vf. des RN die Kluft zwischen Äsops Lehre von den naturae aller Wesen mit der Freiheit ihrer voluntates - (intellexit naturas et voluntates omnium; ,voluntates' ist ein bezeichnender Zusatz des RN) - im christlichen Sinne zu überbrücken versucht. Der Böse (maliuolus) ist nach ihm nicht wesenhaft böse (malus), sondern im Sinne der sokratischen Lehre nur unwissend (insipiens), wenn er Böses tut, im Grunde also der Einsicht und Wandlung zum Guten nicht verschlossen. Diese Folgerung ist nicht bloße Hypothese; sie läßt sich mehrfach durch Stellen im Text belegen, an denen der Vf. des RN die Zusammenordnung von böswillig und unwissend in moralisierender Absicht gebraucht. Daß sich Marie gerade diese Formel nicht zu eigen macht, die ihrer Grundanschauung von dem Unentrinnbaren der edidi. ideo cives posuimus statuam, quod est alicuius laboris bona remuneratio, sie scientes sequi querellas (zitiert nach r. G . , ROMULUS p. 304). ' ) Im Unterschied zu der Romulus -Tradition, vgl. ROMULUS p. 2 : Aesopus quidam, homo graecus et ingeniosus etc. 2

) Vermutlich nach Iuvencus, der Prol. 9 ss. dasselbe v o n Homerus und M a r o

sagt. - Ich benutze diesen Hinweis v o n Herrn Prof. Walther Bulst (Heidelberg), um ihm für vielfältige A n r e g u n g und Beratung meinen aufrichtigsten D a n k abzustatten. 3

) Zit. nach dem A b d r u c k bei J . Huizinga: Über die Verknüpfung des Poetischen

mit dem Theologischen bei Alanus de Insults, in: Mededeelingen der Kon. Akad. schappen, A f d . Lett. 7 4 Β , p. 184.

v. Weten-

42 einmal zugefallenen nature widerspräche, war zu erwarten; die Änderungen, die sie an diesen Stellen vornimmt, lassen erkennen, daß sie in ihrer neuen Auslegung der äsopischen Fabel einem bestimmten, ihr selbst durchaus bewußten Prinzip gefolgt ist. So leitet z. B. R N die Fabel ,De lupo et grue' (I, ix) durch das folgende Promythium ein: Quicumque maliuolo et insipienti benefacit, sibi et multis aliis impedit. Die höhnische Abfertigung des Kranichs durch den Wolf im Apolog, der den Vorwurf der Undankbarkeit zynisch 1 ) umwendet, steht in fühlbarem Widerspruch zu insipienti, der sich aus der prinzipiellen Zuordnung von maliuolus und insipiens erklärt. Marie begnügt sich hier mit der rein konstatierenden Moral,Undank ist der Welt Lohn', die sie durch Begriffe der feudalen Welt (Altresi est del mal seignur / se povres huem Ii fet bonur, V I I 33) veranschaulicht. Noch ausdrücklicher wird diese Umschichtung in der folgenden Fabel ,De cane parturiente' (RN I, x), wo R N die maHuoli et insipientes den bonis et simplicibus gegenüberstellen will, obwohl jene gerade durch blanda verba zu betrügen verstehen, was ein wissentliches Handeln bedingte. Marie, die statt dessen viel mehr das Motiv des Undanks (VIII 8) betont, reduziert diesen Gegensatz auf bunte und felunie und erhöht die simplices zum Vorbild des produme, wobei die bunte de son curage inhärenter Bestandteil eines Ideals der feudalen Gesellschaft wird 2 ). In beiden Fällen wird die implizite Voraussetzung des RN, daß der maliuolus als insipiens aufzufassen sei, aus dem pragmatischen Zusammenhang des Apologs nicht unmittelbar evident. Diese Differenz mag zwar den modernen Betrachter verwundern, der an die Fabel den Maßstab Lessings anlegt, demzufolge zwischen Apolog und Moralität das Verhältnis von .anschauender Erkenntnis' und notwendig daraus entspringender Moral in Gestalt eines allgemeinen moralischen Satzes obwalten soll. Als Differenz zwischen dem ,sensus litteralis" und dem ,sensus moralis' ist diese Differenz in der mittelalterlichen Fabel indes durchaus selbstverständlich und ermöglicht jenen Spielraum der Auslegung, den sich auch Marie zunutze macht. Wenn die Differenz im R N stärker hervortritt als im E S O P E , so darum, weil Maries Auslegung der traditionellen Moral näher steht, bzw. mit der aus der Antike überkommenen Auffassung von der Natur der Wesen übereinstimmt. Darum begegnet auch ,sapiens' im E S O P E nicht unter denselben Vorzeichen wie im RN. Verfolgt man nämlich sages in den Fabeln des E S O P E , so stellt sich heraus, daß nicht eigentlich nunsachant Bei Marie findet sich hier ausdrücklich par maltalent (VII 21). ) Verfolgt man im Text, wie Marie das Begriffspaar sapiensjinsipiens wiedergibt, so zeigt sich immer wieder, daß sie feudale Werte an ihre Stelle setzt. So findet sich z. B. ab aliquo sapiente - damit führt R N überraschenderweise den Herrscher (senior) ein - bei Marie einfach als seignur wiedergegeben, den der traitur ihr zufolge unvermeidlich (ne prnt laissier sun malvais us, X X I I I 5 8) im Stich lassen wird. Ebenso ersetzt Marie in der Fabel vom ruhmsüchtigen Esel die insipientes et impotentes durch orguillus felun ( X X X V 35), in der Fabel vom überheblichen Floh insipientes et inutiles durch la povre gent ( X X X V I I I 15). 2

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(= tnsipiens), sondern fols (= stultus) den Gegenbegriff dazu bildet. Den Gegensatz sages/fols, dem etwa ein sapiensIstultus entspräche, was sich im R N nicht findet, veranschaulicht z. B. im E S O P E die kluge Schwalbe und die unbelehrbaren Vögel (quant fols ne vuelt le sage creire, X V I I 30) - R N spricht nur von quicumque non audit bonum sapientis consilium - oder die Fabel von den klugen und von den törichten Hasen (Li sage lievre lur diseient que folie ert etc.J - R N hebt nur De quibus unus sapiencior omnibus heraus. Hingegen steht nunsachant immer allein ohne Bezug auf sages in der Bedeutung von .unverständig', .ungebildet' ( X L I 15, L X I V 13), an einer Stelle ausdrücklich auf Ii fols peuples (XLIII 12, 17, 26) zugeordnet. Im übrigen hat sages, vor allem in dem nicht von R N abhängigen Teil des E S O P E S (vermutlich der komplexen Herkunft dieser Fabeln entsprechend), einen schillernden Bedeutungsbereich 1 ), der von .verständig' 2 ) über .vernünftig' 3 ) bis zu ,klug' 4 ) und sogar bereits bis zu ,schlau' 5 ) reicht. In keinem Falle deckt er sich mit der Zusammenordnung humiles atque sapientes und ihrem daraus folgenden Sinn (bonus = sapiens), wie er im Apolog des R N nahegelegt ist. Der .Weise' erscheint im E S O P E nicht als einhelliges Tugendideal, sondern ist als komplexes Gegenbild zu den in mannigfacher Gestalt vorgegebenen Figuren der folie entworfen, deren Prototyp in der für den E S O P E kennzeichnenden Gestalt uns im orguillus begegnet ist. E r kann schon darum nicht zur vorherrschenden und eindeutig umrissenen Figur werden, weil der Gegensatz v o n f o l und sage im E S O P E nur von untergeordneter Bedeutung ist. Der Gegensatz, auf den Marie de France in erster Linie die traditionsgebundenen Situationen ausgelegt hat, ist das Gut und Böse des feudalen Ethos, Treue (fei) und Treulosigkeit (felunie), demzufolge sich bei ihr die herkömmlichen Charaktere der Tiere in Beispielfiguren des ,leial', ,felun', .produme', ,frans huem' usf. aufgliedern. Bevor wir uns diesen zuwenden, soll erst noch allgemein die Sprache auf die Rolle der Tiere in der Fabel Maries gebracht werden. Wenn bisher wenig von den Tierfiguren als solchen die Rede war, lag dies an dem Umstand, daß sich für die mittelalterliche Fabeldichterin etwas wie ein ,Kunstproblem der Tierdichtung' offensichtlich überhaupt noch nicht stellt. Im E S O P E findet sich auch nicht eine einzige Reflexion darüber, daß die Figuren der Fabel zumeist Tiere sind, noch stellt sich Marie die Frage: cur 1 ) Das hier Festgestellte illustriert den von F. Schalk Sapience und Sagesse (RF 65, 242fr.) aufgezeigten Vorgang, wie sich im 12. Jahrhundert die weltlichen Bedeutungen von ,sage' in das Wort hineinschieben; von der religiösen Bedeutung des Wortes ist bei Marie de France nichts mehr spürbar. J ) sages huem / fole femme ( L X X I I 1 1 1 f.); nuls sages huem ne devreit creire ( L X X X I I I 47); quant ne vuelt creire le sage (XCI 34); synonym mit sene ( L X X X I X 22). 3 ) Ii sages deit raisnablement J preier a deu omnipotent ( X C I X 21 f.). 4 ) La mesange, ki mult est sage, aparcevan:ζ e ve^tee ( X L V I 26 f.); sil puet Ii sages entreprendre ( X C V I I I 43); synonym mit par grant saveir ( X X I 8). ·) sage e ve^iee ( X L 14); sages = turne suvent sun tort a dreit ( X L V I I 61 f.); Ii sages set le mielz tenir ( L X X 74); sage e ve^je (XCII 21).

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sit inventum genus fabularum?, die der Verfasser des RN im üblichen Sinne, wie er aus der ganzen Romulustradition geläufig ist, beantwortet: Verum vt vitam bominum et mores ostenderet (sc. Esopus), introducit personam omnium arbor um, bestiarum et pecorum loquencium, probandam cuiuslibet fabulam (Prol.). Diese Antwort, die gewiß auch für Marie als gültig anzusehen ist, besagt, daß die Gleichung: Tierfiguren der Fabel = naturae et mores hominum (cf. RN III, xiii) für den mittelalterlichen Leser eine völlig fraglose Voraussetzung gewesen sein muß und daß wir keinen Anlaß haben anzunehmen, Marie sei es in ihrem ESOPE irgendwie um das Eigenleben der Tiere gegangen. Wenn E. Winklers Interpretation von ,Fuchs und Rabe' anfängt: „Die Dichterin führt den Leser höchst behutsam aus der .wirklichen' Tierwelt in die vermenschlichte" und endet: „Und wenn Marie vom reinen Tier ausgehend über das vermenschlichte Tier wieder zum reinen Tier zurückkehrt, so jongliert La Fontaine die ganze Fabel hindurch zwischen den zwei Polen hin und her" x ), wird damit eine moderne Vorstellung an einen mittelalterlichen Text herangebracht, die zumindest für die Intention Maries nicht zutrifft. Nicht als ob es für die Fabeln im ESOPE belanglos wäre, ob seine Figuren Tiere oder Menschen sind! Doch die Bedeutung der Tiere liegt, wie Lessing erkannt hat, in der „allgemein bekannten Bestandtheit der Charaktere" 2 ), die sich auch im ESOPE in zweifacher Hinsicht zeigen läßt: an der ,consistentia' ihrer Natur und am Exemplarischen der klassischen Fabelfiguren. Wenn Marie im Unterschied zum RN die Unwandelbarkeit der nature und hierarchische Gebundenheit aller Wesen in ihren Fabeln hervorkehrt und damit eine Grundtendenz der äsopischen Fabel zugleich wieder herstellt und dem Ordo-Gedanken des Mittelalters anpaßt, kommt dem entgegen, „daß die Tiere in ihrem unveränderlichen, von der Natur bestimmten Charakter handeln müssen" (Herder) 3 ). Wo in der Fabel Tiere statt Menschen zu Figuren erhoben werden, kann das Individuelle und Kontingente der menschlichen Person wegfallen und ihr naturhaftes Sosein an der Fabelfigur allein zur Anschauung kommen. Die Kategorie des Werdens ist auf die Figuren der Fabel nicht mehr anwendbar; sie erscheinen als je schon vollendete Wesen und bilden zusammen eine ebenso vollendete Welt von Charakteren, die in bestimmten Konstellationen zusammentreten können, sich dadurch aber weder im einzelnen, noch im ganzen verändern. Gerade durch diese Konsistenz ihrer Charaktere ist die Fabel imstande, eine Situation zum Modellfall, zum Ereignis unter reinen Bedingungen, zu erheben. Denn die Tiere in der Fabel sind keine Individuen, auch wenn oder gerade wenn sie - wie D. Sternberger an einer Fabel von Lessing dargelegt hat - nur in einem Exemplar vorkommen: Das Kunstproblem Romanistik, 2) 3

der Tierdichtung, besonders der Tierfabel, in: Hauptfragen

Festschrift für Ph. A . Becker, Heidelberg 1922, p. 303 und 305.

Abhandlungen über die Fabel, a.a.O. p. 450.

) Zitiert bei E . Winkler, op. cit. Anm. zu p. 289.

der

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„Eine Gattung kommt stets nur einmal vor, und zwar als rundes Exemplar, welches eben die Gattung in ihrer spezifischen Macht oder Ohnmacht, Schlauheit oder Dummheit, List oder Kraft repräsentiert. Es kann gar nicht zwei Exemplare geben, das Exemplar ist seinem Wesen nach immer in der Einzahl, sonst wäre es kein Exemplar und nicht exemplarisch. Denn das Exemplar ist kein Individuum. Als Exemplar geht es gleichsam in der vorgezeichneten Bahn, macht es die vorgeprägte Figur, spielt es die vorgeschriebene Rolle."*)

Auch dem E S O P E der Marie de France liegt dieses Exemplarische der Tiercharaktere zugrunde; die überlieferten Charaktere der Tiere werden hier aber überlagert von ihrer Funktion, die sie als Beispielfiguren innerhalb einer durchgängig feudalistischen Auslegung übernehmen müssen. So kommt es Marie z. B. in der Fabel ,De vulpe et aquila' (X) nicht auf die List des Fuchses, sondern allein auf seine Rolle als povre an, an dem sich der riebe orguillus nicht immer ungestraft vergehen kann. Wollte man die überlieferten Charaktere im E S O P E aufzeigen, so würde man von ihrer Funktion als Beispielfiguren und damit von dem Zweck, für den sie Marie umgestaltet hat, absehen müssen. Wir stellen dieses Problem darum bis zum Kap. IV zurück, wo wir die Tiercharaktere von ihrer verschiedenen Darstellung in Tierfabel und Tierepos aus untersuchen können, und wenden uns nun der Frage zu, wie sich das feudale Weltverständnis im Bereich der Fabel geltend macht.

C. Die Tierfabel als Spiegel des feudal-ritterlichen Ethos Die verschiedenartige Tendenz der Verfasser des ROMULUS N I L A N T I N U S und des E S O P E tritt am schärfsten hervor, wenn man sich vor Augen hält, daß Marie de France ein Wertmaß einführt, für das es im RN kein Äquivalent gibt: leialte und felunie, Treue und Treubruch. Das spezifisch Böse wird im E S O P E durch einen Begriff bezeichnet, der aus dem gesellschaftlichen Ordo abgeleitet ist: mit felun setzt Marie ,böse' und .treulos' (desleial, L X X X I X 27) in derselben Weise gleich, wie es der Verfasser des RN zuvor mit ,böse' und ,unwissend' tat! Dieser Ursprung des Begriffs ist darin noch spürbar, daß felun sehr häufig mit Eigenschaften in Verbindung gebracht wird, die ein Wesen moralisch qualifizieren (z. B. mit vevye^, III 83; criiel, XIX 25; engres, X X I X 29; laide e hisduse, X X X I V 40; orguillus, X X X V 33; natre, L X X X V 21); felun ( = ,treulos') ist, wenn nicht in allen gerügten Eigenschaften mitenthalten, so doch mit vorstellbar als ihr Aspekt in bezug auf das gesellschaftliche Zusammenleben oder, wie es an einer Stelle die ,felunie' personifizierend heißt, als geheimer Ursprung allen Übels: Altresi vet des tricheürs, des larruns e des boiseürs, en qui la felunie meint. . . 1

(XLII 27 fr.)

) D. Sternberger, Figuren der Fabel, Frankfurt 1950, p. 79k

46 In der Ausgestaltung des Treubruchmotivs ist Marie immer wieder über ihre Vorlage hinausgegangen. So gründet etwa bei Marie die Fabel von Frosch und Maus, der sie in einer eigenen Einleitung (Empfang des Frosches durch die dame de la maison, III i, 43) ein courtoises Gepräge gibt, auf der dreite fei (v. 22) und wird die vorgegebene Moral ,wer andern eine Grube gräbt. . .' als Vergeltung für die Verletzung der Treupflicht ausgelegt. Wenn allein in Maries Fabel die Maus mit dem Leben davonkommt, liegt diesem Eingriff der Übersetzerin möglicherweise die Absicht zugrunde, ihre Moral ausgleichender Gerechtigkeit durch die Rettung des bon compaignun (v. 84) noch deutlicher zu machen. Um das Thema der Treupflicht hervorzuheben, dürfte Marie wohl auch den Ausgang der Fabel ,De Aquila et testudine' (XII) verändert haben. Hier ist die Moral des R N : ut concha quam natura munierat iniquo periit consilio (I, xiii) überhaupt fallen gelassen und das Motiv des bösen Rates auf ein Treueverhältnis bezogen, insofern jetzt die Krähe als felun (v. 30) am Ende auch noch den Adler überlistet, der im Epimythium unerwartet zu dem Ehrentitel eines um sein mühsam erworbenes Gut gebrachten1) bon vetsin (v. 32) gelangt. Eine ambivalente Zuspitzung erfährt die Moral der Fabel ,De simiarum imperatore' ( X X X I V ) : Oez l'essample de cest cunte: ne puet mie od le tricheür Ii leials huem aveir honur en curt u l'em vueille trichier e par mengunge fors jugier. (v. 5 8 ff.)

Während der Verfasser des R N einfach folgerte, daß Veritas et bonitas den Böswilligen immer mißfallen (III, v), stellt Marie die Moral so dar, als ob der leials dann nicht zu Ehren gelange, wenn er zusammen mit dem tricheür am Hofe erscheine. Hier wird dem leials nicht die Aufrichtigkeit, sondern die Verbindung mit dem tricheür zum Verhängnis. Darum hat Marie wohl auch zuvor im Apolog zuerst den leials, dann den tricheür sprechen lassen (im R N verhält es sich umgekehrt): der leials hätte, als zweiter sprechend, seinen cumpaignon (v. 43) disqualifizieren müssen, so aber wird die felunie des letzteren noch erhöht. In unserem Zusammenhang fällt auf, daß Marie in einer Reihe von Fabeln das Motiv des Treubruchs nicht im Epimythium thematisiert, wo es an sich vom Apolog aus zu erwarten wäre. Es handelt sich dabei um Fabeln, in denen Mensch und Tier Partner werden und jedesmal der Mensch Treubruch verübt. In ,De leone et homine' ( X X X V I I ) hält sich Marie, obwohl sie mit den ersten Versen (. . . prist a cumpaignun, ν. 2) die Partnerschaft in die Fabel hereinbringt und darüber den im R N vorgegebenen Anlaß des Streites (quis esset illorum audacior aut superior) - zum Nachteil ihrer Version! - außer acht läßt, ganz an die Moral des R N : virtutes non in l

) Darum mußte wohl rapuit durch eine Schilderung der Nahrungssuche des Adlers (v. 1 - 3 ) ersetzt werden.

47 verbis, sed in factis; in. ,De dracone et homine' (LH) hebt sie allein auf die UnZuverlässigkeit des Geizigen ab, dem man sein Gold nicht anvertrauen dürfe, und in ,De homine et serpente' (LXXII) kehrt sie den schlechten Rat der Frau und nicht den Treubruch des Mannes hervor. In allen Fällen erscheint der Mensch als vilain, das Tier als einer sozial höheren Schicht zugeordnet; zwischen dem vilain und dempro^dume ist aber keine Partnerschaft denkbar, also auch kein Treubruch möglich. Diese stillschweigend vollzogene Gleichordnung von Tierfigur mit Feudaladel, menschlichem Fabelwesen mit dem dritten Stand, hat der E S O P E mit dem Tierepos gemein : in beiden Gattungen der Tierdichtung verrät sich dieselbe ständischexklusive Sicht, dieselbe fraglose Absonderung der feudal-ritterlichen Gesellschaft, welche sich in der Märchenlandschaft des gleichzeitigen Artusromans ihre autonome Welt bildhaft vor Augen stellt. Der vilain wird bei Marie, wie nicht anders zu erwarten, zur Gegenfigur des Ideals, das die Tugend der Partnerschaft recht eigentlich verkörpert: der pro^dume. Als bon cumpaignon (III 84), als bon veisin (XII 32) und als letal ( L X X V I I I 3 9, synonym mit pro^dume), der in Gesellschaft mit dem felun oft zu Schaden kommt ( L X X V I I I 40 f.) oder mit Undank belohnt wird (IL 27), steht der pro^dume den christlichen Tugenden am nächsten, die der Verfasser des R N mit der Formel humiles atque sapientes umschrieben hatte. An einer Stelle, im Epimythium zu ,De cane parturiente', w o der eine Hund par bunte de son curage (VII 39) das Gebot der Nächstenliebe übt und nur Undank erntet, tritt pruydume geradezu für bonis et simplicibus (RN I, v) ein. Gleichwohl enthält auch das Ideal des pru^dume als vornehmste Tugend ein feudales Element: die Verbürgtheit des einmal gegebenen Worts Ceo deit ester e remaneir, que pruzdome dira pur veir: as veziez est bien a vis, que lur parole est en tel pris cum Ii engins de meinte gent, qui par cunseil venquent suvent.

( L X I X 31 ff.)

Die so apostrophierte Tugend des pru^dume tritt an dieser Stelle, als Moralität zu ,De vulpe et ursa', um so drastischer hervor, als sie Marie offenbar in dem Bestreben, der obszönen Pointe des Apologs entgegenzuwirken - in einer Weise angebracht hat, die dem Vorgang der Fabel geradezu widerspricht (dort löst umgekehrt gerade der felun bzw. ve^ies, d. h. der Fuchs das Wort des pru^dume, d. h. der Bärin: jeo te batrai od mun bastun [v. 12] ein, indem er seinen Sinn verkehrt, cf. 27ff. 1 ). Die Treue in Wort und Tat als inhärenter Bestandteil der prodomie liegt auch Maries Version der .Matrone von Ephesus* zugrunde. Dadurch nämlich daß die schnell getröstete Witwe ihrem toten Gemahl die creance ( X X V 3 8) bricht diesen Sinn gibt Marie der stark retuschierten Moralität des R N : quod habent mortui quod timeant post mortem et non quod doleant - erhält die sicher nicht ohne Absicht dreimal wiederholte Benennung la prüde femme einen entlarvend ironischen Sinn.

48 Bleibt ,pruzdume' als Inbegriff von. Tugenden der Partnerschaft im gesellschaftlichen Ordo vornehmlich auf das Verhältnis inter pares bezogen, so erlangt andererseits ,frans huem' seine eigentümliche Bedeutung als Inbegriff von Tugenden der Subordination. Chascuns frans huem face altresil ( X X 30) - damit ist bei Marie nicht also der Unabhängige, sondern - feudalistisch zu verstehen - der leial apostrophiert, der sich innerhalb der Bindung des Lehnsverhältnisses treu bewährt. Marie scheut sich nicht, dieses Verhältnis am Beispiel von ,De fure et cane' ( X X ) zu veranschaulichen, obwohl die Treue des Hofhundes an sich wohl eher die Vorstellung serviler Dienstbarkeit erwecken dürfte, ersetzt aber die rein utilitäre Moral des R N {nonpresentam utilitatem tantummodo considero, sedfuturam, II, iii) durch das Motiv der Dankbarkeit und erhebt die Treue des Hundes durch den Einschub: Ε tu meismes m'en harreies / e pur traitur me tendreies ( X X 25-26) zum reinen Ideal: die Treuepflicht zum Lehnsherrn ist unaufhebbar, wer sie einmal bricht, muß auch für die andern als traitur gelten. Wie sehr die Vorstellung selbstherrlicher Freiheit außerhalb aller feudalen Bindungen Marie fernsteht, erweist die Änderung, die sie an der Fabel ,De lupe et cane' ( X X V I ) vorgenommen hat. Hier hat R N der Fabel das Promythium: Docet subsequens fabula quam dulcis et jocunda libertas est (II, xvii) vorausgeschickt, ohne diese Moral in der Weise wieder einzuschränken, wie es andere Versionen der Romulustradition tun, die an dieser Stelle ohne Rücksicht auf den entstehenden Widerspruch den Satz: Nam in liberis est saevitia, in servis virtus et gloria interpolieren, der Thiele zufolge in seiner Verherrlichung der Sklaventugend christlichen Ursprungs zu sein scheint 1 ). Soweit geht Marie zwar nicht, doch hat sie quam dulcis et jocunda libertas est einfach weggelassen und sich an Stelle eines Epimythiums mit zwei abschließenden Versen begnügt, die ihr das heikle Thema ersparen, indem sie es auf die Ebene der Partnerschaft hinüberspielen: Par la chaeine est departie / lur amurs e lur cumpaignie (v. 41-42). Die Wechselseitigkeit der feudalen Bindung hervorzuheben, gibt Marie die Fabel ,De ventre et membris' ( X X V I I ) Gelegenheit, wobei sie bezeichnenderweise die Pflicht des frans huem gegenüber seinem seignur voranstellt (RN leitet umgekehrt ein: Quod nullus debet despicere suos. . ., II, xviii). Die letzte Steigerung erfahrt das Ideal des franc in der Fabel ,De lupo regnante' ( X X I X 25), wo franc als diejenige Tugend genannt ist, die dem Wolf fehle, um ihn zum Herrscher zu befähigen. Damit ist die Untersuchung an den ständig wiederkehrenden Gegensatz zwischen bons seignurs und mals seignurs herangeführt, der vornehmlich zum Prüfstein werden kann, welchen Standpunkt Marie der Gesellschaftsordnung gegenüber einnimmt, der sie selbst angehört und der sie offenbar den Spiegel ihres E S O P E vorzuhalten bemüht ist. Die Beantwortung der Frage, inwieweit sie sich dabei zum Anwalt der povre gent macht, wird zunächst dadurch erschwert, daß in dem Begriffs' ) ROMULUS

LXV, Prom.

49 paar ,riche' und ,povre' verschiedene Bedeutungen des lateinischen Textes aufgegangen sind, bzw. nicht mehr differenziert erscheinen: .riche' gibt sowohl potens (X 18) als auch dives (IX 56) und melior (ibid.), vereinzelt sogar cupidus (I 1 1 ) und reprobus (II 31), , p o v r e ' sowohl impotens (X 42) als auch miser (IV 38) und inferior (X 18), vereinzelt sogar inutilis ( X X X V I I I 15) und innocens ( X V I 45) wieder. Daß riebe in der Gleichsetzung von ,mächtig' = .vornehm' = .begütert' zugleich einen bestimmten sozialen Stellenwert hat, d. h. die ritterliche Oberschicht meint, liegt auf der Hand (die 3 Beispiele für riebe = .begütert und nicht adlig' [XCIX 1 ; X L I I 2; L X I V 1] kennzeichnen, wie immer wenn es sich nicht um ein Tier handelt, den vilairi). Die beiden Sonderfälle reprobusjcupidus gehören zu Maries Tendenz, moralische Kategorien in soziale Verhältnisse zu transponieren. Das letztere ist auch der Fall, wenn povre für innocens und inutilis eintritt. Aus den Belegen für povre in der Gleichsetzung von .schwach' = ,arm' = g e ring' andererseits geht hervor, daß povre im ESOPE primär den povre chevalier meint: auch der povre hat Besitz zu eigen (aveir, IV 40), kann dem Mächtigen Ehre erweisen (VII 34), sich an ihm rächen (X 21), tut gut daran, sich nicht mit ihm zu verbünden (XI 44), darf als möglicher Helfer nicht verachtet werden ( X V I 47) und begeht eine große Torheit, wenn er sich einen schlechten Herrn wählt ( X I X 21). Der Gegensatz von reich und arm bleibt im ESOPE also durchweg innerhalb des ritterlichen Standes; die sozial tiefer stehende Schicht bezeichnet nicht povre, sondern vilain. Der einzige Fall aber, wo diese Schicht mit la povre gent bezeichnet sein dürfte, weil dort mit dem Gegensatz zwischen riebe und povre (gent) aller Wahrscheinlichkeit nach Angehörige verschiedener Stände bedeutet sind, die Fabel ,De pulice et camelo', läßt diese Kluft in einer Weise erscheinen, die sich in Maries Darstellung bis zur völligen Beziehungslosigkeit steigert: Issi vet de la povre gent s'as riches unt aprismement, forment les quident curucier, damage faire e ennuier. ( X X X V I I I 15 ff.)

Da im R N der Kontrast zwischen Floh und Kamel rein auf der Ebene der Unvergleichbarkeit in der Größenordnung ausgestaltet und auf die Lächerlichkeit der Selbstüberhebung {quod multi insipientes et inutiles sese inaniter magnifieant, sed tarnen ab aliis pro nihilo deputantur; III, ix) bezogen wird, steht außer Zweifel, daß Marie den sozialen Gegensatz zwischen la povre gent und riebe eigens in die Fabel hineingebracht hat. Die Absolutheit der Schranken, die sie im Epimythium ohne Anteilnahme einfach konstatiert, wird in ihrer Version des Apologs kunstvoll durch eine Parodie erhöht, die sich allein gegen den Floh als ,Parvenu' richtet. Sie transponiert den Vorgang in die ritterliche Vorstellungswelt, läßt den Floh das Kamel wie ein Pferd besteigen (RN statt dessen in quadam sarcina) und in der Sprache vollkommener Courtoisie als Dank seine Gegendienste anbieten. Das Sublime ihrer Ironie besteht nun darin, daß sie rein in der Darstellung des 4 Jaußf Tierepos



Vorgangs, unter Verzicht auf alle kommentierenden Einschaltungen (cuius equitacionis gratia νana gloria inflata) und drastisch-direkten Ausmalungen (starts ante camelum dixit. . ., cut camelus arridens ita respondisse fertur) des RN, die absolute Distanz zwischen beiden Figuren vor Augen führt. Während im R N das Kamel in einer Reihe von umständlichen Begründungen auf die Rede des Flohs erwidernd eingeht, nimmt es bei Marie von dem Inhalt der Rede des Flohs (Anerbieten von Gegendiensten) nicht einmal Kenntnis und bemerkt nur in seiner Antwort, die lediglich die Nichtigkeit des andern konstatiert, qu'unkes de Ii chargiez ne f u ne ne sot qu'ele fust sur lui ne qu'el Ii fesist nul ennui.

(v. 1 2 - 1 4 )

Bei näherem Zusehen läßt es sich nicht verkennen, daß Marie den sozialen Gegensatz zwischen .reich' und ,arm' auch dann als selbstverständliche Gegebenheit unangerührt läßt, wenn dieser innerhalb ihres Standes bleibt, und selbst da, wo sie sich an die povres (chevaliers) wendet und anscheinend für sie Partei ergreift, den Standpunkt dessen nicht preisgibt, der ,νοη oben' urteilt, belehrt oder ermahnt. Dies läßt sich an einer Reihe von Abmilderungen, Einschränkungen oder Verklausulierungen zeigen, zu denen sie greift, wenn die vorgegebenen Fabelstoffe das Thema von der Hybris der Mächtigen oder den Ton des Fürstenspiegels anschlagen: die Perspektive ,νοη oben', wie sie das Epimythium zu ,De ranarum rege' klassisch formuliert kann sich zwar gegen die mals seignurs wenden, doch nur, um dadurch zugleich in unauffälliger Weise das Ansehen des seignur als solchen, bzw. des königlichen Herrschers zu erhöhen. Dazu gehört, wenn der Titel Princes (cf. X L V I 65; L V I 33; L X I I 17) den Fabeln vorbehalten bleibt, die dem Ideal des hon sire nicht abträglich sind. Marie apostrophiert den prince jedesmal, um dem Herrscher Ratschläge zu erteilen, denen gemeinsam ist, daß sie zum Idealbild des ,rex iustus' beitragen. So in der Fabel ,De volucribus et rege eorum', die neben dreiturie£ ( X L V I 5 3) einen ganzen Katalog von Herrschertugenden (1vaillan 5 1 ; pru% e sages e enpernamζ, 52; de grant valur, 60; sobres e atempreζ, 6i), aber auch den Zug selbstherrlicher Würde: Princes se deit bien reposer, ne deit mie tu^jurs pener. . . und die Mahnung ne la povre gent eissillier (v. 68) enthält. Als oberste Tugend erscheint dreiture in Fabel LVI, die gefährdet würde, Issi avient, plusur le funt des bons seignurs, quant il les unt: tuzjurs les vuelent defuler ne lur sevent honur guarder; s'il nes tient alkes en destreit, ne funt pur lui ne tort ne dreit. A tel se pernent, kis destruit; de lur aveir meine son bruit: lors regretent lur bon seignur, qui il firent la deshonur.

(XVIII 45-54)

5i wenn der Herrscher die richterliche Gewalt dem Habgierigen anvertrauen (v. 36) oder einen begehrlichen Seneschall in seinem Reich dulden würde ( L X I I 17 ff.). Das Idealbild des ,rex iustus' scheint sich in seiner Erhabenheit für Marie nicht mit der Vorstellung zu vereinen, daß der Affe in der Fabel richterliche Gewalt ausübt, weshalb sie wohl in ,De lupo et vulpe' ( L X X X V I I I ) den Streit von Wolf und Fuchs durch einen salomonischen Spruch des Löwen ( = Ii bons sire, ν. 19; in der Romulustradition findet sich statt dessen der Affe) schlichten läßt. Wo der Löwe hingegen zynisch das Recht des Stärkeren ausübt, wie in der Fabel vom Löwenanteil (XI), exemplifiziert er bei Marie bezeichnenderweise nicht den seignur, sondern nur ganz allgemein den riches (= Ii plus fort, X I 43). Dasselbe gilt für das andere Fabeltier, das als Beispielfigur des Herrschers dient, den Adler, der in ,De vulpe et aquila' (X), wo er sich an dem Jungen des Fuchses vergeht, zum essample... del riebe orguillus (X 18) werden muß. Das heikle Thema vom Mißbrauch königlicher Gewalt, das in der Fabel ,De leone et vulpe' angeschlagen wird, hat Marie zwar nicht vermieden - sie gibt sogar in aulam potencioris durch de curt a rei ( X X X V I 25) wieder! - , aber doch verharmlost, denn ihre Moral geht nicht über den bloßen Rat hinaus, es sei besser, erst les nuveles esculter (v. 28), bevor man zu Hofe gehe. Eine Abneigung gegen den Hof, wie sie sich hier vielleicht geltend macht, glaubt man auch aus dem schon erwähnten Epimythium zu ,De simiarum imperatore' ( X X X I V ) herauslesen zu können (en curt ist dort v. 61 von Marie eigens in die Moralität des R N eingesetzt). Der König selbst aber bleibt in seiner Autorität unangerührt, wie die Fabel ,De leone aegroto' zeigt, die Marie ganz auf die Moral Ii nunpuissan% a poi amis (XIV 3 2) abstellt und damit die Mahnung vermeidet, die R N aus der Perspektive ,νοη unten' ausspricht: omnes potentes debere mansuetutos fieri in potestatibus suis (I, xv). Wenn sich Marie nicht nur gegen die Mächtigen im allgemeinen (les mals seignurs, V I 26; X I X 22), sondern einmal ausdrücklich gegen den mal seignur (VII 33) wendet, bezieht sie sich damit auf diejenige Figur, aus der sie - wie die durchgreifenden Änderungen an der Fabel X X I X erweisen das Gegenbild aller Herrschertugenden gemacht hat: den Wolf. Im R N ist es Jupiter, der den Tieren ihre Bitte gewährt, daß sie sich einen König wählen, und der Löwe, auf den ihre Wahl fällt. Wenn im E S O P E Jupiter durch den Löwen, der Löwe durch den Wolf ersetzt ist, so liegt darin mehr als nur eine Beseitigung der alten Mythologie, und daß eben, wie Warnke bemerkt, die Fabel „besser zum Charakter des Wolfes als zu dem des Löwen paßt" 1 ). Indem hier der Wolf zur tragenden Figur der Tyrannenfabel gemacht wird, kann die traditionelle, durch den Löwen repräsentierte Figur des Königs in ihrer Autorität unangetastet bleiben. Wenn irgendwo, so wird hier eine monarchistische Tendenz des E S O P E unabweisbar, zumal Marie den Löwen mit einer Reihe von Zügen ausgestattet hat, WARNKE P. 1 8 5 . 4*

52 die diese Figur zum Idealbild eines Herrschers verklären. E r wird zum .guten alten König', mit dessen Scheiden eine Dynastie erlischt, deren Ende alle Tiere bedauern: N'i ot beste ne Iipreiast qu'un altre leün lur baillast ( X X I X 7-8). Er ist es selbst, der sie zur Wahl eines neuen Königs auffordert, sie sodann vor der felunie des Wolfes warnt und ihnen schließlich empfiehlt, den neuen Herrscher durch einen Schwur sur sainv^ (v. 31) zur Loyalität zu verpflichten. In diese feudale Auffassung des Herrschertums paßt der verallgemeinernde Satz des R N (II, xx): Habes licenciam faciendi quodcumque volueris, sicut veteri reges habunt so wenig wie die vorangestellte Moral, in der die tribulaciones der Mächtigen einfach als unvermeidliche Gegebenheit hingestellt sind: et loqui1) poena est et retieere tormentum. Bei Marie ist jener Satz nicht wiedergegeben (cf. 107ff.) und statt dessen in ihrer Moral der Treubruch des neuen Herrschers als Folge des Verhaltens der Tiere hingestellt, die den felun hume aus Furcht zu ihrem Herrn machen, seine Wünsche gutheißen (Quant il oiqu'em Ii loa . . ., ν. 11 3: Zusatz Maries I) und sich damit selbst ihr Urteil sprechen (puis orent tuit lur jugement, ne tint vers els nul sairement, 115 f.). Das in der Romulustradition neue Detail, daß der Wolf zur tragenden Figur der Tyrannenfabel gemacht und der Löwe zum Idealbild des guten Herrschers erhoben wird, verrät nicht allein - nimmt man es mit allen zuvor erörterten Stellen zum Thema Fürstenspiegel zusammen - eine sowohl konservative (hinsichtlich des Feudalstaats), als auch ausgesprochen monarchistische Tendenz Maries 2 ). Es zeigt sich darin zugleich an, wie sehr die Figur des Wolfs in der Tierdichtung des 12. Jahrhunderts zum Inbegriff des felun et engrSs ( X X I X 29) geworden ist. Inwieweit dies dem Tierepos zuzuschreiben ist, läßt sich nicht sicher entscheiden. Vielleicht dürfte die Übernahme des Wolfes in Fabel X X I X des E S O P E eher auf die durch den Y S E N G R I M U S repräsentierte ältere Tradition zurückweisen, als auf die jüngere des R O M A N D E R E N A R T . Denn nur im Y S E N G R I M U S findet sich eine Stelle, in der der Wolf dem Löwen die Berechtigung der Tyrannis ausführlich darzulegen sucht (YS III 129-196), und ist das Ratgeberverhältnis zwischen Fuchs und Wolf ständig thematisiert, das in Maries Version wiederum ohne Parallele in der Romulustradition - eine Rolle spielt (der Löwe fürchtet für die Loyalität des neuen Herrschers, wenn dieser den Fuchs, ki mult set trichier, zum Ratgeber nähme, cf. v. 26-29). Was den Fuchs betrifft, der in der jüngeren, durch den RdR repräsentierten Tradition des Tierepos stärker als der Wolf in den Vordergrund In der Romulustradition ist hier von einer Hs. ,apud tyrannos' eingefügt, c f . ROMULUS 2

LXX.

) Inwieweit sich daraus ein neuer Anhaltspunkt für die Frage nach dem ,cunte Willalme' ergeben könnte, muß der historischen Spezialforschung überlassen bleiben. Wenn William Marshai, First Earl of Striguil and Pembroke (1146-1219), mit ihm identisch ist, hätte gerade er als Erzieher und Freund des jungen Königs Henry (Henri au Cort Mantel) besonderen Grund gehabt, den ESOPE als Fürstenspiegel für seinen Zögling übersetzen zu lassen.

53

rückt, so fällt auf, daß er bei Marie in der sozialen Hierarchie der Tiere offenbar noch keinen festen, dem Wolf ebenbürtigen Rang zu beanspruchen hat, bald zu den Baronen zählt, die der König zu Hofe entbietet (cf. L X X 2), bald als Beispielfigur für den povre dient (cf. X 19) und offenbar als Außenseiter in schlechtem Ansehen steht, nach der Fabel ,De scarabeo* ( L X X I V ) zu schließen, wo sich der von seiner Überheblichkeit bekehrte Käfer nicht um den Spott der andern kümmern will, nient plus qu'il fet al gupil, quant les bestes le tienent vil 1 ).

Verbirgt sich dahinter eine Antipathie der Autorin? Die Schlauheit des Fuchses jedenfalls spielt für ihr ,fabula docet' so gut wie keine Rolle 8 ). Der Listenreiche vermag in einer Welt feudaler Werte offensichtlich noch nicht als Figur für sich hervorzutreten. Seine unvermittelte Nennung in ,De lupo regnante' als Beispielfigur des unheilvollen Ratgebers spiegelt darum vielleicht eine Verlegenheit der Einordnung, die sich anderweitig, gleichsam am Rande des E S O P E , in einer auffälligen Bedeutungsverschiebung von sage zu ve^ie abzeichnet. Hier sind zunächst zwei der Schwankfabeln aus dem nicht mehr vom R N abhängigen Teil des E S O P E Z U erwähnen, in denen sich Marie überraschenderweise auf die Seite dessen stellt, der den andern erfolgreich betrügt. Wie ist es wohl zu erklären, daß Marie in ihrem Epimythium zu ,De muliere et proco eius', ganz im Gegensatz etwa zu ihrer Verurteilung der Matrone von Ephesus, den gerissenen Betrug des Weibes mit dem Spiegelbild implizit rechtfertigt: Par cest essample nus devise que mult valt mielz sens e quointise e plus aide a meinte gent que sis aveirs ne si parent. ( X L I V 33-36)

Oder daß sie in ,De equo vendito' die Schlauheit (cointise) des vilain, der seinem Urteil durch einen Schein des Rechts entgeht, auf den Nenner bringt: Li sages huem en grant destreit turne suvent sun tort a dreit. ( X L V I I 61-62)

Sicherlich ist Marie auch hier noch weit davon entfernt, der Moral des Erfolgs das Wort zu reden. Der Macht der quointise, von ihr ausgelegt als L X X I V 42f.; so auch die Bärin in ,De vulpc et ursa' ( L X I X 5-6): ,Ταίι', fet ele, ,malvais gupiki tant par ies chaitis e viz I' 2 ) Von allen Fuchsfabeln (Χ, XIII, X X V I I I , X X I X , X X X V I , L V I I I , L X , L X I , L X V I I I , L X I X , L X X , L X X I V , L X X X V I I I , X C V I I I ) beziehen sich nur vier in der Moral auf die Schlauheit, davon drei indirekt und negierend: in L X I 36 wird der Fuchs als Betrüger, in X C V I I I 48 als Lügner getadelt, in L X I X 31 ff. wird seiner zweideutigen Rede das verbürgte Wort des pru^dume entgegengehalten. Auf den einzigen Fall einer positiven und direkten Bewertung der Schlauheit in der Moral von L X X gehen wir gleich noch ein.

54

Meisterschaft des bei parier ( X L V I I 50), vermag sie sich indes doch nicht ganz zu entziehen, jener Kunst, die der Fuchs exemplarisch verkörpert, dem auch sie wenigstens einmal, in der Fabel vom Hirschherzen (LXX), das Epitheton Ii sages erteilt, das in diesem Zusammenhang nichts anderes mehr als schlaues Übervorteilen bedeuten kann (cf. v. 71-76). Hier scheint ein neues Kriterium in die moralische Welt des E S O P E einzudringen, das sich mit dem Ethos der feudalen Gesellschaft im Grunde nicht mehr vereinbaren läßt: die renardie, der Inbegriff jener Weltklugheit, die den Geist einer anderen Zeit ankündigt. Das Bewußtsein dieser sich anzeigenden oder bereits eingetretenen geschichtlichen Wandlung {τιest pas Ii siecles leials, L I 30) liegt Maries Versuch, in ihrer neuen Auslegung der äsopisch-christlichen Fabeltradition das mahnende Bild einer ideal gesehenen, das Alte bewahrenden Ordnung aufzurichten, spürbar zugrunde und bekundet sich am schärfsten in der erstaunlichen Rede, mit der sie den Löwen das Urteil über den Streit von Fuchs und Wolf fällen läßt und dabei die Inkongruenz zwischen alter und neuer Wahrheit in einer (ihr allein eigenen) Paradoxie hervorkehrt: Li liüns dist, qu'a vis Ii fu que Ii lous aveit tort eü e Ii gupiz aveit raisun; mes tant i ot de mesprisun (issi cum Ii esteit a vis), tut ait issi Ii lous mespris, sa metifunge est plus covenable e mielζ resemble chose estable que del gupil la veriteζ: nuls d'els n'en deit estre encumbrez

Fuchs und Wolf stehen sich hier wie zwei Wesen aus völlig verschiedenen moralischen Welten gegenüber. Innerhalb der Typenwelt des E S O P E verkörpert der Wolf neben seiner in Fabel X X I X schon vom Tierepos bedingten Rolle des felun et engres das Unentrinnbare der gegebenen Natur in besonders exemplarischer Weise: das Motiv vom Wolf in der Schule, der das A B C lernen soll und immer nur aignel buchstabiert ( L X X X I ) , ist weit über die Fabel hinaus verbreitet (Papst Urban zitiert es ζ. B. als Exemplum in einer Bulle) und auch im Bilde dargestellt worden 2 ). Das Gefangensein der Kreatur in den Schranken ihrer nature, wie es Marie in ihrer *) L X X X V I I I 1 1 - 1 8 ; die von uns hervorgehobenen Verse 1 5 - 1 7 finden sich in dieser Gestalt allein bei Marie, die hier möglicherweise das Promythium zu ROMULUS X L V I I I r. g.: qui semel fraude inclaruit, semper turpiter vivit, et si verum dicat, non tili creditur umgestaltet hat. 2

) Nachweise bei WARNKE p. 2 3 7 - 2 3 9 ; dasselbe Motiv (vgl. dazu Jeremia 1 3 , 23) findet sich auch in dem Sprichwort: In qua pelle lupus modo nascitur, hac morietur, bei S. Singer, Sprichwörter des Mittelalters, Bd. I, Bern 1944, p. 86. Ähnliche Varianten bei W. Gottschalk, Die bildhaften Sprichwörter der Romanen, Bd. I, Heidelberg 1935, p. 60-61.

55 Version zum Motiv vom freundlosen. Wolf, der berühmten ,rustica fabula' aus der Chronik des Fredegar, gestaltet ( L X X X V I I ) , kann an der Figur des Listigen nicht anschaulich werden, weil seine nature nicht in ihr selbst verhaftet ist: die aventure des Fuchses führt aus der vollendeten Typenwelt der Fabelfiguren heraus. Marie de France hat Fuchs und Wolf noch nicht ausdrücklich durch das Verhältnis der Feindschaft zueinander in Beziehung gesetzt. Die Version der Hoftagsfabel im E S O P E setzt noch keinen alten Haß zwischen den beiden Baronen voraus (cf. L X V I I I 16-26), so wenig wie die andere Fabel ( L X X X V I I I ) , in der Fuchs und Wolf zusammen auftreten: in beiden Fällen ist der Grund ihres Gegensatzes zufälliger Natur und für den Sinn der Fabel ohne Bewandtnis. Daß Marie die Beziehung zwischen Fuchs und Wolf nicht eigens thematisiert hat, ist ein Indiz dafür, daß sie das Werk Pierres de Saint-Cloud, das älteste altfranzösische Tierepos, noch nicht kennt oder, sofern die zitierte Rede des Löwen eine Stellungnahme einbegreift, indirekt ablehnt1). Denn gerade in der hier im E S O P E noch fehlenden Konfrontierung von Fuchs und Wolf, dem Thema ihrer unüberwindlichen Feindschaft, das ihrer beider Wesen in ein notwendiges inneres Verhältnis bringt, ist der geschichtliche Ursprung der mittelalterlichen Tierepik zu machen.

*) Der Umstand, daß Marie den Fuchs gupil nennt und noch nicht auf Renard anspielt (auf Grund der Wirkung des ROMAN DE RENART verdrängt der Eigenname in den YSOPETS später die ältere Gattungsbezeichnung) könnte ferner darauf hindeuten, daß sie den RdR noch nicht gekannt hat (vgl. FOULET p. 142). Dann würden die aus der Romulustradition nicht vorgegebenen, aber stofflich aus dem RdR bekannten Fabeln mit Fuchs oder Wolf als Hauptfigur, die sich im ESOPE finden (Zusammenstellung bei FOULET p. 547), wie auch das Motiv vom Fuchs als Ratgeber des Wolfes in Fabel X X I X , auf die ältere, durch den YSENGRIMUS repräsentierte Tradition des Tierepos zurückweisen.

Zweites Kapitel DIE ANFÄNGE DER MITTELALTERLICHEN TIEREPIK UND DER NEUEINSATZ DES LATEINISCHEN YSENGRIMUS

Mit der Fabel verläßt unsere Untersuchung den sicheren Grund einer traditionsgebundenen literarischen Gattung und wendet sich jenem Bereich von Formen der Tierdichtung zu, der sich zwischen ihrer kleinsten und ihrer größten Form, Tierfabel und Tierepos, ausbreitet und zugleich auch chronologisch einordnen läßt: die antike Fabel, gleichviel auf welchen Wegen sie zuerst rezipiert wurde, steht am Anfang (ihre Existenz ist schon im 7. Jahrhundert durch die ,rustica fabula' der Chronik Fredegars bezeugt), das Tierepos, eine spezifisch mittelalterliche Hervorbringung, am Ende der für uns sichtbaren Abfolge von disparaten literarischen Werken, die bisher noch allen Versuchen, sie auf den Nenner einer einheitlichen Entwicklung zu bringen, widerstand. Die Frage nach dem Ursprung des im 12. Jahrhundert voll entfalteten Tierepos, das Elemente aus der literarischen wie aus der schriftlosen Tradition in sich aufnimmt, ist nicht allein durch die gewiß lückenhafte Überlieferung, sondern auch durch eine problematische Abgrenzung und Wesensbestimmung der verschiedenen Gattungen der Tierdichtung erschwert. Einerseits sucht man gerade bei den Verfechtern der Theorie vom volkstümlichen Ursprung des Tierepos vergeblich ein Kriterium, um Tiermärchen, Tierfabel und Tierschwank unverwechselbar zu bestimmen. Wenn sich Voretzsch die Entstehung der französischen Renartdichtung so vorstellt (wobei ihm möglicherweise noch die Kantilenentheorie vorschwebt): „es werden einzelne märchen, gelegentlich auch märchenketten, aus der mündlichen Überlieferung aufgenommen und durch vers und epische ausschmückung zu tierschwänken gestaltet. Denselben weg gehen auch die wenigen aus der antike entlehnten fabeln" 1 ), hat er sich für diese Theorie erst selbst den Boden bereitet, indem er Tiermärchen, Tierschwank und Tierfabel wechselseitig voneinander ableitet und dem ersteren den Primat einräumt, ohne über sein ursprüngliches Wesen mehr auszumachen als das, was auch schon für seine im Tierepos vorliegende Form gilt. Die drei Hauptmerkmale, auf Grund derer Voretzsch (wie schon erwähnt) dem volkstümlichen Tiermärchen die Bedeutung einer Vorstufe zum eigentlichen Tierepos zuerkennen will: eine von didaktischer Absicht losgelöste

') VORETZSCH,

Einl. zum RF p. XXI.

57 Darstellung, die Namengebung und ineins damit Individualisierung der Tierfiguren und die Neigung zur Gruppenbildung 1 ) sind offensichtlich von der im Tierepos des 12. Jahrhunderts zum Tierschwank ausgebildeten Gestalt der Tiergeschichten abgeleitet und auf die älteren Zeugnisse der Tierdichtung - wie weit zu Recht, bleibt noch zu prüfen - zurückübertragen. Damit erhebt sich die Frage, mit welchem Recht überhaupt vorausgesetzt werden kann, das Tiermärchen habe neben der Tierfabel das ursprüngliche Element des Tierepos gebildet. Warum könnte der Tierschwank, den Voretzsch dem mündlich überlieferten Volksmärchen zwar als literarische Form gegenüberstellen will, von dem er aber das Tiermärchen seinem Wesen nach nicht zu scheiden weiß 2 ), nicht ebensogut als einfacher und letzter Bestandteil des Tierepos angesehen werden, sofern es sich herausstellt, daß nicht der romantische Schemen eines Tiermärchens (Voretzsch wollte damit 1895 den in Mißkredit geratenen Grimmschen Begriff der Tiersage ersetzen), sondern der Tierschwank am Anfang aller mittelalterlichen Tierepik steht? Andererseits ist auch die Kontroverse über das Alter, das für das mittelalterliche Tierepos anzusetzen ist, von der verschiedenen Auslegung des Gattungsbegriffes mitbedingt. Hier hat zuletzt W. Roß der E C B A S I S C A P 3 TRVI den Titel des „ältesten Tierepos des Mittelalters" ) streitig gemacht und zu zeigen versucht, daß das neuerdings wieder in die erste Hälfte des 10. Jahrhunderts datierte Werk 4 ) den Bedingungen seiner Entstehung gemäß zu der heiteren Klosterliteratur bzw. in die Tradition der Saturnalien gehöre und wahrscheinlich als Osterunterhaltung gedichtet wurde: „Die Rolle der Ecbasis in der mittelalterlichen Tierdichtung ist nicht die eines Zwischenglieds oder einer Vorstufe, sondern die e i n e s Versuchs unter vielen, dem Tierscherz literarische Form zu geben. Der Versuch war zum Scheitern verurteilt, weil im 10. Jahrhundert die komische Dichtung an bestimmte Grenzen und Anlässe gebunden war und sich mit moralischen Tendenzen rechtfertigen mußte. Erst als diese Beschränkung und Verschränkung fiel, als sich ein neuer Literatentyp und ein neues Publikum gebildet hatten, die derben Spaß und scharfe Satire ohne alle Tropologie produzierten und genossen, entstand mit einem Schlag die große Tierdichtung: das weitgespannte Ysengrimus-Epos des !) Vgl. Einl. zum R F p. X I X . *) Vgl. Einl. zum R F p. V I : „ D e r tierschwank ist in der regel ein in verse umgesetztes tiermärchen, behandelt aber gelegentlich auch begebnisse zwischen mensch und tier ohne märchenhafte zutaten." 8 ) Diesen Untertitel gab E . Voigt seiner Ausgabe der ECBASIS von 1875 (Straßburg, Quellen und Forschungen %ur Sprach- und Culturgeschichte der germ. Völker, Bd. XIII). 4 ) In den letzten Abhandlungen über die ECBASIS sind gegen die Datierung von C. Erdmann ( 1 1 . Jahrhundert) gewichtige Einwände erhoben worden, auf Grund derer sowohl W . Ross (vgl. p. 273) wie auch G . VINAY, Contribute) all' interpretations della Ecbasis captivi, Convivium 1949, vgl. 2 3 4 - 2 4 1 , zu der Voigtschen Datierung (erste Hälfte des 1 o. Jahrhunderts) zurückgekehrt sind.

58 Genter Magisters Nivardus und die weitverzweigte Zyklendichtung des Roman de Renart mitsamt ihren Ablegern." l ) W. Roß hat damit nicht allein das Prinzip der herkömmlichen entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung in Frage gestellt, die seit Gaston Paris mit Vorliebe den Wachstumsprozeß des Tierepos von der äsopischen Fabel vom kranken L ö w e n in der frühesten, Paulus Diaconus zugeschriebenen Bearbeitung bis zum Y S E N G R I M U S , dessen Kristallisationskern sie bildet, verfolgt hat. E r glaubt darüber hinaus, aus seiner Analyse mittelalterlicher Tierdichtungen, die als Vorformen des Tierepos in Betracht kommen, folgern zu müssen, daß die bisherigen Entstehungstheorien unter Rekurs auf eine hypothetische germanische Tiersage (Grimm) oder auf morgenländische Tiermärchen (Voigt) „ i n bezug auf die Ecbasis den einen Fehler haben, daß sie überflüssig sind" 2 ). Denn der Handlungskern der E C B A S I S werde von der äsopischen Fabel vom kranken L ö w e n bestritten, und weder in der epischen Gestaltung dieser Fabel (Poetae I 62), noch in den anderen Tiergedichten dieser Epoche, deren Form und Tendenz sich zur Genüge aus den Bedingungen ihrer Entstehung innerhalb der frühmittelalterlichen Literatur erklären lasse, sei irgendeine Spur von germanischer Tiersage zu erkennen 3 ). Eben diese Spur will indes J . van Mierlo in zwei Abhandlungen, die er 1943 dem E P I T A P H I U M M U L T O N I S des Sedulius Scottus und dem Y S E N G R I M U S des Magister Nivardus gewidmet hat, mit zum Teil neuen Argumenten wieder glaubhaft machen. D a diese flämischen Abhandlungen W. Roß offenbar nicht zur Kenntnis gelangt sind, ist es geboten, an den Texten selbst zu prüfen, inwieweit van Mierlos These, schon im 9. Jahrhundert habe ein volkstümlicher Zyklus von Tiergeschichten mit dem Fuchs als Protagonisten existiert, das Ergebnis der Untersuchung v o n W. Roß zu entkräften vermag. Die Frage nach dem Ursprung des mittelalterlichen Tierepos stellt sich schließlich noch unter einem dritten Aspekt: dem Problem der epischen Zyklisierung. Wenn die große Tierdichtung des 12. Jahrhunderts, wie W. Roß meint, „mit einem Schlag entstanden" sein soll, wie konnten ihre heterogenen Elemente (Tierfabel, Tierschwank, einheimische Tiergeschichten) nun auf einmal der an sich auch schon vorher - der lateinische Y S E N G R I M U S entstand erst 1 1 5 0 - bereitstehenden klassischen Form des Epos einverleibt werden? Die Analogie zwischen Tierepos und Heldenepos wird zwar seit Grimm stillschweigend vorausgesetzt, enthebt uns aber nicht der Frage, was das Tierepos, das uns aus dem Mittelalter keineswegs unter der Bezeichnung und in der Gestalt einer Chanson de geste überliefert wurde, eigentlich mit dem Heldenepos gemein hat und ob seine Entstehung mit der Annahme einer bloßen Übertragung der epischen Kunstform auf eine Reihe v o n Tiergeschichten schon erklärt ist. Das Werk des Magister Nivar*) Ross ρ. 281. a ) ibid. 8 ) ibid. p. 275.

59

dus hat gerade mit der strengeren Form seines Kunstepos keine Schule gemacht. In den Branchen des R O M A N D E R E N A R T und seiner Ableger bildet sich die losere Form eines epischen Zyklus heraus, der - mit L. Spitzer zu sprechen - nie in das Stadium des Groß-Epos gelangt 1 ) und darum auch nicht einfach mit der Zyklenbildung der Chanson de geste zu vergleichen ist. Inwiefern aber soll die Zyklisierung von Tiergeschichten das Wesen des mittelalterlichen Tierepos ausmachen? Was verleiht seiner Schwankreihung einen spezifisch epischen Charakter und hebt sie von einer formal nicht anders gereihten ,Tiermärchenkette' ab? Im Blick auf das Ursprungsproblem stellt sich hier zunächst die Frage nach dem Kristallisationspunkt, an dem die epische Zyklisierung der Tiergeschichten wohl eingesetzt haben mag; mit ihrer Lösung wäre zugleich zu erwarten, daß sich der Schritt vom Tierschwank zum Tierepos zeitlich genauer bestimmen läßt. A . Die ersten Zeugnisse der epischen Tierdichtung des Mittelalters und das Ursprungsproblem des zyklischen Tierepos Als Zeugnis für das Bestehen einer volkssprachlichen (bzw. fränkischen) Tierdichtung im 9. Jahrhundert zieht J . van Mierlo vor allem das EPIT A P H I U M M U L T O N I S (= De quodam verbece a cane discerpto) des Sedulius Scottus (Poetae III 204 fr.) heran. Einmal, weil es Stellen enthalte, die „an die Tiersage streifen" oder im späteren Tierepos wiederkehren und nur aus volkstümlichen Tiergeschichten (.dierenverhalen') stammen können2). Zum andern, weil Sedulius Scottus eine wirkliche Begebenheit, den Raub eines ihm geschenkten Hammels, nicht als Fabel behandle, sondern als Tiergeschichte episch ausgestalte. Da es für dieses Verfahren kein klassischantikes Vorbild gebe, erlaube das den Rückschluß, daß er von der volkstümlichen Überlieferung dazu angeregt worden sei 3 ). Bei den Anspielungen auf eine germanische Tiersage steht die Argumentation van Mierlos indes auf sehr schwachen Füßen. Die erste Stelle: Iustus quid meruit, simplex, sine fraude maligna (ν. 105) hätte er besser nicht herangezogen, da hier offensichtlich die biblische Vorstellung des Opferlamms (möglicherweise auch die des Lamms aus der äsopischen Fabel ,Wolf und Lamm') auf den unschuldig zu Tode gekommenen Hammel übertragen wird. Bei der zweiten Stelle: Non mendosus erat nec inania verba loquutus: Baa seu bee mystica verba dabat (v. 115-116) verweist er auf eine Parallelstelle im YS, wo der Esel Karkophas die Gelehrsamkeit des Widders Joseph rühmt, weil er Verse machen und ein dreisilbiges Wort B E B ( = be ee be) zusammen, d. h. als einheitliches Phonem *) S P I T Z E R P . 2 3 5 f . ') VAN MIERLO P. 1 8 .

') ibid. p. 13.

6o lesen könne, während der Wolf nicht einmal die Buchstaben nc mit darübergesetztem Abkürzungszeichen als ,nunc' zu lesen wisse, demnach nichts von Grammatik verstehe 1 ). In beiden Stellen, die auf das weitverbreitete Motiv vom Wolf zurückgehen, der lesen lernen will und statt a b c immer nur das eine Wort ,agnus' buchstabieren kann 2 ), liegt indes der gelehrte bzw. klösterliche Ursprung so offen zutage, daß nicht mehr einzusehen ist, wozu hier die volkstümliche Tiersage als Quelle bemüht werden soll. Bei Sedulius Scottus wird man hier schon deshalb nicht an ein ,Echo' der Tiersage denken dürfen, weil er mit den mystica verba allein darauf abzielt, das Ende des pius multo (ν. 120) parodistisch dem Tod des Erlösers gleichzustellen3). Die dritte Stelle (der Hund ermahnt die Meute mit folgenden Worten, den Hammel nicht in Frieden ziehen zu lassen): ,En vos' inquit ,ovis ficto sub nomine pacis Ceu vulpis ludit subdola verba sonans?' (v. 83-84)

soll auf die im späteren Tierepos überall verbreitete und von da in den der Marie de France (LH) gelangte Friedensfabel anspielen, in welcher der Fuchs den Landfrieden als Vorwand benutzt, um sich an sein Opfer heranzumachen4). Auch wenn man davon absehen will, daß sich ceu vulpis im Kontext nicht auf ficto sub nomine pacis beziehen muß und der Fuchs wahrscheinlich nur als äsopische Beispielfigur für listige Überredung zitiert wird (vgl. R O M U L U S X I X zu subdola verba sonans), wäre der Wortlaut der beiden Verse doch zu allgemein, als daß er zu einem Rückschluß auf die Schwanksituation von Reinardus und Sprotinus (YS V 1 3 1 - 3 1 6 ) oder Renart et la misange (RdR II 469-600) nötigen müßte. Gerade das Thema vom allgemeinen Frieden, auf das es in den Versionen des Tierepos ankommt, ist für das Verständnis der beiden Verse im E P I T A P H I U M M U L T O N I S gar nicht erforderlich, weil hier das Motiv des Friedens ganz aus dem Zusammenhang hervorgeht; die Meute der Hunde hat zuvor unter dem Eindruck der Drohung des Hammels: ESOPE

,Per caput hoc iuro, per cornua perque superbam Hanc frontem vobis praemia digna feram' (v. 73-74)

mit ihm Friede geschlossen, und eben auf diese Drohung kommt der Anführer der Hunde mit dem letzten Teil seiner Ermahnung, dem Hammel qui pacem verbis, fronte facitque rninas (v. 88) nicht zu trauen, wieder zurück. Ebensowenig hält van Mierlos Versuch, aus einem zweiten Gedicht von Sedulius Scottus (Item de ipso falsidico teste) Anspielungen auf umlaufende volkstümliche Tiergeschichten herauszulesen, und schon gar nicht L

) V A N M I E R L O p. 1 8 , zu Y S

I I I 6 9 3 fr.

») Vgl. dazu E.Voigt, Einl. zum Y S p. L X X X I , W A R N K E p. 2 3 7 f . ·) In der überraschend kühnen Irreverenz, mit der hier Ehrwürdiges mit Komischem vereint wird, sieht B. Jarcho, DieVorläufer des Golias, Speculum 3 (19x8) p. J 6 I , eine Vorwegnahme des Goliardenstils. 4

) VAN M I E R L O P. 1 8 - 1 9 .

6ι seine Behauptung, hier sei der erste Kern eines Zyklus von Tiergeschichten um den Fuchs als Hauptfigur zu erkennen1), einer Prüfung stand: ι

Q u i d mendosa tibi retulit vulpecula, pastor?

2

A n tetros v o m u i t carbones ore nigello,

3

Forsitan occlusis mortem sibi finxit ocellis,

4

A n rufa per mentum sub ovina veste latebat,

5

A n tortis pedibus giros contexuit illa,

6

Forsitan et v o b i s retulit, quod limphida M o s a

Fors eructavit, quos bibit illa d o l o s ? Garrula gannivit subdola verba sonans? Prendere q u o superas arte valeret a v e s ? N e quis earn noscat matris habere strophas? O b l i q u o s peragens cursibus illa c y c l o s ? Iam nullos pisces, nulla fluenta tenet?

etc. (Poetae

III 2i4f.)

Im 5. Distichon will van Mierlo schon den im späteren Tierepos überall verbreiteten Schwank vom Schinkendiebstahl des Fuchses erkennen, weil die beiden Verse das Thema eines Vexierlaufes enthalten, mit dem der Fuchs dort den Bauern narrt, als dieser den Schinken niederlegt, um sich der scheinbar so leicht zu haschenden Beute zu bemächtigen. Aus diesem Vexierlauf hat Nivardus ein Kabinettstück kunstvoller Beschreibung gemacht (YS I 272 fr.), die indes für die Schwanksituation völlig entbehrlich ist. Denn es handelt sich hier um eine ausgesprochene ,digressio' des lateinischen Dichters, wie sie von der rhetorischen Theorie des Mittelalters empfohlen2) und von Nivardus mit Vorliebe angewandt wird 3 ). Sie fehlt sowohl in der Version des RdR (cf. V 9 4 - 1 2 6 ) , als auch in der des RF (cf. 4 5 8 - 4 8 3 ) , wo der Schwank allein auf der Überlistung durch Vortäuschung des Hinkens aufgebaut ist. Gerade von dieser List findet sich aber bei Sedulius Scottus noch keine Spur, so daß die angezogenen Verse als Anspielung auf eine vorgegebene Tiergeschichte volkstümlichen Ursprungs so wenig beweisen wie die Verse 8 3 - 8 4 im E P I T A P H I U M M U L T O N I S . Die weiteren Anspielungen bleiben erst recht hypothetisch. Beim 6. Distichon, zu dem sich mit dem besten Willen keine Parallele aus dem Tierepos beibringen läßt, zieht van Mierlo selbst in Erwägung, ob es sich am Ende nicht doch nur um eine Veranschaulichung der Kunst zu lügen handle. Und wenn ihn das 4. Distichon an die biblische Parabel von den Wölfen im Schafspelz erinnert4), fragt man sich vergeblich, was das zu seiner Argumentation eigentlich beitragen soll. Mit den „zahlreichen Anspielungen auf Abenteuer, die uns erst aus dem Tierepos bekannt sind" und in denen van Mierlo den Beweis für das *) V A N M I E R L O P . 2 0 - 2 1 . 2)

CURTIUS P . 4 9 3 .

3)

Weitere Beispiele bei V o i g t , Einl. z u m Y S p. L I V f . , unter den Stilformen

der Beschreibung und Schilderung. *) V A N M I E R L O P . 20.

6i

Bestehen eines Zyklus von Tierschwänken im 9. Jahrhundert sehen will, in welchem der (volkstümliche) Fuchs noch im Vordergrund stehe, den dann später der (literarische) Wolfsmönch verdränge 1 ), läßt sich in letzter Instanz nicht mehr erweisen, als daß ein Autor des 9. Jahrhunderts, der sich in einem gegen Verleumder gerichteten Gedicht der Figur des Fuchses bedient 2 ), Einzelzüge aus der Bibel 3 ), der äsopischen Fabel 4 ) und dem P H Y S I O L O G U S 5 ) benutzt und ausgeschmückt hat. Dabei dominiert offensichtlich die typologische Bedeutung des Fuchses als ,figura diaboli', die dem 3. Distichon mit dem Bild des sich totstellenden Fuchses und der Vögel zugrunde liegt (was van Mierlo ignoriert hat). Hat van Mierlo bei diesem Gedicht die Absicht und Form der Darstellung ganz außer acht gelassen, um zu seiner Hypothese von einem ersten Fuchszyklus zu gelangen, so legt er andererseits im Falle des E P I T A P H I U M M U L T O N I S besonderen Wert auf die Feststellung, daß die Episierung der Begebenheit als Indiz für das Vorbild germanisch-altfränkischer Tiererzählung anzusehen sei. Das gilt ihm zufolge schon für Alcuins V E R S U S D E G A L L O und für die Paulus Diaconus zugeschriebene Version der Fabel vom kranken Löwen, deren Kern äsopisch, deren Behandlung aber germanisch sei: die episch-breite Tiererzählung „ist eine Schöpfung der Franken" 6 ). Mit dieser Auffassung vom Wesensunterschied zwischen äsopischer Tierfabel und germanischer Tiererzählung steht van Mierlo nicht allein; sie gründet letzterdings in der auch von Voretzsch wiedergegebenen, wahrscheinlich seit Grimm eingebürgerten Unterscheidung der Gattungen mittelalterlicher Tierdichtung, nur daß van Mierlo statt der mündlich verbreiteten Tiermärchen (.sprookjes', ,vertelsels') bereits Tiergeschichten mit literarischen Prätentionen ansetzen will 7 ). E r bestimmt wie Voretzsch die germanische Tiererzählung im Gegensatz zu der klassischen Fabel durch das Fehlen einer moralisierenden Absicht, die weniger ausgeprägte Vermenschlichung der Tiere, die Namengebung und - über Voretzsch hinaus*) ibid. p. 2 0 - 2 1 . 2 ) Vgl. dazu B. Jarcho, Speculum 3 (1928) p. 555-556, der dort dieses und die beiden vorausgehenden Gedichte ( L V , L V I ; Poetae III p. 2 1 3 sq.) als Beispiele für das Rügelied im Stil der Goliardendichter ansehen will. Das erste (Contra Mendosos) beginnt mit einer Reihe von Beispielen lügnerischer Verkehrung von falsch und wahr, schwarz und weiß (Omnis mendosus corvos fert esse columbas), aus denen sich das 6. Distichon unseres Gedichtes erklärt, und vergleicht am Ende den Lügner mit dem .nicticorax', der Beispielfigur für die Blindheit der Synagoge aus dem PHYSIOLOGUS (B Nr. VII), dem Sedulius Scottus auch in unserem Gedicht (3. Distichon) eine Beschreibung des Fuchses ( = ,figura diaboli', PHYSIOLOGUS Β Nr. X V ) entnahm. ' ) Matth. 7, 15 (zu v. 7). 4 ) zu v. 4 (subdola verba) vgl. die Fabel ,Fuchs und Rabe' (ROMULUS X I X Prom.). 6 ) Siehe Änm. 2. *) V A N M I E R L O P . 5 3 9 . 7

) V g l . VORETZSCH, Einl. z u m R F p. V I ; VAN M I E R L O p. 5 3 7 .

6? gehend - die Versetzung der Begebenheit in die Sphäre des Heldenlieds (Epenparodie). Betrachtet man daraufhin das Gedicht des Sedulius Scottus, so wird man van Mierlo zwar gerne zustimmen, daß es nicht auf eine Sittenlehre zugeschnitten ist wie die klassische Fabel. Doch sollte es in der Tat als eine reine, d. h. zweckfreie Tiergeschichte gedacht sein, zu nichts anderem bestimmt, als eine wirkliche Begebenheit episch oder gar in einer humoristisch zu verstehenden Analogie zur Heldendichtung auszugestalten? Cum deus altipotens animalia condidit orbis Quae mare, quae tellus, quae tenet atque polus, Multo multones tunc multiplicavit honore Inter balantes fecit eosque duces. (v. 1 - 4 )

Schon die Einleitung ist ohne Beziehung zum Eingang eines Heldenepos: Gott schuf die Hammel als die wahren Fürsten unter den blökenden Tieren und stattete sie sowohl mit zahlreichen Vorzügen des Körpers, als auch solchen der Seele - Mitis simplicitas sed cornibus insita sacris (v. 1 1 ) - aus. Doch dieser scherzhafte Nachtrag zur Schöpfungsgeschichte dient nur zur ironischen Rechtfertigung eines unwiderstehlichen Appetits auf Hammelbraten (v. 13-14), den der Dichter auch sonst in der Weise der Vaganten offen bekennt („Des Iren Feder erlahmt, wenn er kein Hammelfleisch zu essen bekommt") 1 ). Wie hier die Schöpfungsgeschichte wird hernach die klassische Mythologie bemüht, um die Auserlesenheit des ihm geschenkten Hammels zu feiern: der Aries caeli war in keuscher Liebe zu ihm entbrannt, Lucina wollte ihn um seines schneeweißen Vließes willen als Gestirn den Himmelsbewohnern zugesellen - was Wunder, wenn sich auch der Dichter (nam nec mihi corneafibra,v. 37) in Liebe zu ihm verzehrte. Daß dieser sacer amor (v. 17) aber im Grunde immer darauf gerichtet ist, seinen Gegenstand am Ende zu verzehren, die Klage des Dichters: Heu quam crudeli morte peremptus obit (ν. 24) also nur scheinbar dem Untergang des Helden, in Wahrheit aber dem entgangenen Braten gilt, macht die Komik seines Gedichtes aus. Er kleidet sein Bedauern in den erhabensten Stil, der ständig mit der Geringfügigkeit des Gegenstandes kontrastiert, und bauscht dabei das Alltagsereignis derart zur epischen Handlung auf, daß er das Schicksal seines .Heiden' als Leidensweg eines Märtyrers parodieren kann. Es handelt sich also primär um eine Travestie, bei der verschiedene literarische Formen (,planctus', v. 1 0 5 - 1 3 2 ; Epitaph, v. 133-140) und sakrale Vorstellungen (Erlösungsmysterium, v. 1 1 5 - 1 3 2 ; Fußwaschung, ν. 13 5-13 8) 2 ) parodiert werden, und nicht um eine Epenparodie, die erst im Blick auf ein vorausgesetztes Heldenepos zu verstehen wäre. Wo immer die Begebenheit in die Sphäre des Heroischen versetzt wird, erscheint der Hammel nicht als epischer Held, sondern als Märtyrer (multo pius, v. 47, 68, 96) in der ,imitatio Christi', allein inmitten von Feinden, J

) B. Jarcho, Speculum 3 (1928) p. 539-540. ') Cf. Jarcho, ibid. p. 560-562.

64 die in der Gestalt des Räubers (quidam latro tiequam de gente Goliae, ΛβΜοpum similis, Cacus et arte malus, v. 43 f.) und des Höllenhundes {cut cants inferni Cerberus ater avus, v. 78) Figuren der klassischen Mythologie ins Gedächtnis rufen. Die Anklänge an das klassische Epos bleiben sporadisch 1 ); w o einmal der Aufbruch der Hundemeute 2ur Verfolgung im hohen heroischen Stil einsetzt, bricht der Dichter gleich wieder mit den Worten ab: Quid moror in verbis? (ν. 57) und geht auch im weiteren schnell und uninteressiert über die Kampfszenen hinweg (cf. v. 5 9 f., 89-92). Demgegenüber ist dem Ausgang sehr viel mehr Bedeutung zugemessen (v. 93 bis 104): der Hammel gerät, nachdem er das Schlachtfeld zu früh verlassen, in ein Dornengestrüpp und fallt dem Cerberus anheim 2 ): Labitur exanimis multo (mirabile visu) Irrorans vepres sanguine purpureo, (v. 99-100) In diesem (auf das Blut Christi unter der Dornenkrone anspielenden?) Bild erfüllt sich der Leidensweg des frommen Märtyrers, zu dessen Beklagung wieder mythologische Figuren: Luna, Aries, und die Nymphen aufgeboten werden, in deren Chor sich das Blöken der verwaisten Schafe mischt (cf. v. 100 f.). Seinen Höhepunkt aber erreicht das in harmonischer Dreigliederung komponierte Gedicht - der epische Mittelteil (v. 39-104) wird von dem selbständig ausgeführten ,introitus' (v. 1 - 3 8 ) und ,planctus' (v. 1 0 5 - 1 3 2 ) mit Epitaph (v. 1 3 3 - 1 4 0 ) umgeben - nicht in seiner epischen Handlung, sondern erst in ihrer geistlichen Auslegung, einer erstaunlich kühnen Travestie, die der Schlußteil bringt. Hier stellt Sedulius Scottus den Tod des frommen Hammels auf eine Ebene mit dem Opfertod des filius ipse dei, unterbaut diesen Vergleich typologisch (,Quomodo pro Isaac aries sacer hostia factus, Sic tu pro misero victima grata manes, ν. 1 2 1 - 1 2 2 ) und führt ihn weiter bis zur Verklärung, die dem Hammeldieb infolge der Erlösung durch den Tod seines Opfers wie dem Schächer am Kreuz zuteil werden soll (Dextra superna dei latromm salvat iniquum, v. 125). Wer dabei die Perspektive der Doppeldeutigkeit aus dem Auge verliert, dem muß sie im Epitaph wieder deutlich werden, w o der Dichter von der rituellen Waschung an Haupt und Füßen spricht, die er dem lebenden Hammel hätte angedeihen lassen, um dabei am Ende den eigentlichen Anlaß seines Gelegenheitsgedichtes sein Verlangen nach einem neuen Hammelbraten - zu enthüllen: Te (fateor) cupii; viduam matremque cupisco, Fratres atque tuos semper amabo. Vale! (ν. 139-140) Nach dieser Analyse erübrigt es sich wohl, der Frage nachzugehen, mit der van Mierlo seine Studie abschließt: ob Sedulius Scottus das germanische l

) Vgl. die im Apparat Poetae III 204-207 zu den Versen 51, 53, 54, 56, 58, 77, 87, 89, 99, 100, 113 aufgeführten Stellen der A E N E I S . *) Auch hier ist vielleicht an eine Reminiszenz aus dem P H Y S I O L O G U S ( B Nr. I I Autolops) zu denken, wo sich die Antilope schließlich in einem Strauch verfängt und vom Jäger getötet wird. Darauf bezieht sich die typologische Deutung: Caue ergo, homo dei, ebrietatem, ne obligeris luxuriae et uoluptati, et interficiaris a diabolo.

6j Heldenlied kannte. Bleibt noch die letzte Stütze für eine vorauszusetzende, vorliterarische Tiersage, wenn man darunter nach Voretzsch „die Verbindung volkstümlicher tiermärchen mit eigennamen" verstehen soll 1 ): der fromme Hammel wird vom Dichter Tytiros genannt. Van Mierlo ist denn auch schnell bereit, hier einen Anfang der für das spätere Tierepos kennzeichnenden individualisierenden Namengebung festzustellen 2 ). Zu diesem Zwecke setzt er sich unbekümmert darüber hinweg, daß es sich hier um einen Hirtennamen aus Vergils Eklogen handelt. Dies mag noch hingehen, nicht aber - denn damit erledigt sich seine Hypothese für das E P I T A P H I U M M U L T O N I S - , wenn er übersieht, daß der Hammel nur an einer Stelle ( V . 42) und lediglich in Wiederaufnahme seiner Eigenschaft als egregii pecoris custos praeclarior ipse (ν. 25), nicht also als eigennamenführendes Individuum, mit diesem klassischen Namen belegt, im übrigen aber einfach multo oder pius multo genannt wird. Mit der ausführlichen Widerlegung van Mierlos war zugleich beabsichtigt, die Kriterien zusammenhängend an einem Text vor Augen zu führen, die von den Verfechtern der Theorie, das mittelalterliche Tierepos sei volkstümlichen Ursprungs und reiche in seinen vorliterarischen Anfängen weit über das 12. Jahrhundert zurück, in Anwendung gebracht werden. Im folgenden sollen nun die vier Hauptargumente dieser Theorie: 1) die Existenz eines volkstümlichen, im Unterschied zur Fabel nur unterhaltenden Tiermärchens sei schon durch die frühmittelalterliche Literatur bezeugt; 2) der Tierschwank sei „in der regel ein in verse umgesetztes tiermärchen" 3), die epische Ausgestaltung äsopischer Fabeln gehe auf den formalen Einfluß des Volksmärchens zurück; 3) auf das spätere Tierepos weise außer der Namengebung auch die Versetzung von Tiergeschichten in die Sphäre des Heldenlieds (Epenparodie) voraus 4 ); 4) zur natürlichen Vorstufe des Tierepos werde das Tiermärchen durch seine Neigung zur Gruppenbildung, die Zyklisierung um Fuchs und Wolf als Hauptfiguren setze schon vorliterarisch ein, an den Texten geprüft werden. Die vielbemühten ältesten Zeugnisse für das Leben von Fabeln und Märchen außerhalb der literarischen Sammlungen geben über das Wesen des volkstümlichen Tiermärchens leider keinen Aufschluß, weil sie allesamt nicht in der supponierten ,einfachen Märchenform' auf uns gekommen sind, die Voretzsch wie folgt bestimmen wollte: „Das märchen durchsetzt die weit der Wirklichkeit mit überirdischen dementen, ist an und für sich weder an ort noch an zeit gebunden, will mehr der Unterhaltung als ' ) VORETZSCH, E i n l . z u m R F p. X I X . 2)

5

VAN M I E R L O P . 1 7 .

3

) VORETZSCH, E i n l . z u m R F p. V I .

4

) D i e s e A n s i c h t v e r t r i t t n u r V A N M I E R L O (p. 1 7 ) .

Jauß, Tierepos

66 der belehrung dienen. Durch eine angehängte moral nähert es sich der didaktischen gattung, es kann zur fabel werden wie die sogenannten äsopischen fabeln, die sich im volksmund größtenteils in einfacher märchenform, ohne erschlossene moral wiederfinden." 1 ) Dazu ist zu bemerken, daß in den Tiergeschichten das Element des Übernatürlichen ganz auf das Reden der Tiere beschränkt bleibt, das der äsopischen Fabel gleichermaßen eignet und darum kein spezifisches Merkmal eines mittelalterlichen ,Tiermärchens' darstellen kann, und daß schon die ältesten Zeugnisse unverkennbar auf eine implizite Moral angelegt sind. Die v o n Gregor von Tours wiedergegebene Geschichte von der Schlange, welche aus dem Weinkrug nicht wieder herauskann, bevor sie den Wein nicht wieder von sich gibt 2 ), hat im Kontext die klassische Funktion einer situationsbezogenen Beispielerzählung: Theodebald will damit einen Verdächtigen zur Herausgabe gestohlenen Gutes bewegen 3 ). Von einer Quelle, geschweige denn von volkstümlicher Herkunft der Geschichte ist nicht die Rede, sie wird sogar als eigens für diesen Zweck erfunden (fabulam fingeret) ausgegeben. Um sie zum Volksmärchen zu machen, bedarf es denn auch einiger geradezu märchenhafter Metamorphosen: „ D i e erzählung stammt nicht von Theodebald selbst, wir kennen sie als weitverbreitetes tiermärchen (z. B. aus Siebenbürgen) vom dickgefressenen wolf, das auch in das tierepos übergegangen ist." 4 ) Die Schlange kommt im Tierepos gar nicht vor; um die Geschichte dennoch für die vorliterarische Entwicklung des Tierepos zu retten, muß die Schlange erst mit dem Wolf vermöge des tertium comparationis ,vollgefressen bzw. -getrunken' identifiziert werden, wobei der Sinn der Fabel - denn als solche erscheint die Geschichte schon bei Äsop und Phädrus 5) - um dessentwillen sie Theobald auf die gegebene Situation bezieht, verloren geht. In derselben Funktion begegnet auch die ,rustica fabula' in der Chronik Fredegars (IV 3 8): der Bischof Lesio will damit Theoderich II. von Burgund zur völligen Vernichtung seiner Gegner bestimmen®). Daß dieser Fabel eine Lehre oder Nutzanwendung „ v o n haus aus" nicht eigen sei und sich erst aus den Umständen ergebe, unter welchen sie erzählt werde, kann Voretzsch nur durch die petitio principii stützen, das Märchen sei „wohl nicht ganz vollständig", der Bischof habe daraus nur entnommen, Einführung in das Studium der afrz- Literatur,

H a l l e ' 1 9 2 5 , p. 65.

•) M G . , SS. rer. Mer. I 1 4 6 ; a b g e d r u c k t v o n V o r e t z s c h , Altfran%ösiscbes Lesebuch, Halle ' 1 9 3 2 , p. 27. *) VORETZSCH (Einl. z u m R F p. X I I ) w i n d e t sich in seiner E r k l ä r u n g sichtlich u m diesen Tatbestand h e r u m : „ D e r a r t i g e geschichten sind n i c h t ohne w e i teres als fabeln zu bezeichnen, da sie v o n d e m erzähler nur benutzt werden, u m in einem bestimmten fall einen praktischen e r f o l g zu erzielen, die der fabel eigene Sittenlehre aber f e h l t . " 4)

V o r e t z s c h , Altfränkische

Literatur,

p. 66.

•) w i e V o r e t z s c h selbst zitiert (ibid.). ·) Siehe bei Voretzsch, Altfran^ösische Literatur,

p. 65.

67 •was für den Zweck passend war 1 ). Leider hat uns Lesio, wie zuvor schon Theodebald, offenbar gerade das unterschlagen, was an diesem ,Volksmärchen' märchenhaft gewesen sein könnte, sofern es sich überhaupt um eine „dem volksmund entnommene" Geschichte handelt und mit ,rustica fabula' nicht einfach - wie wir annehmen möchten - die der Prosafabel gemäße niedere Stillage gemeint ist. Ebensowenig überzeugt der Versuch van Mierlos, eine germanische Herkunft der Fabel Lesios von dem Motiv der Verwandtschaft (,maagschap') abzuleiten2), da es sich in der Erzählung vom freundlosen Wolf nur um das reine Gattungsverhältnis von Vater und Söhnen und nicht um eine Verwandtschaftsbeziehung wie die von Oheim und Neffe handelt, die als germanisches Relikt vom afrz. Heldenepos bewahrt worden ist. Auf der Suche nach der »einfachen Märchenform' des einheimischen ,Tiermärchens' sind wir demnach auf spätere Zeugnisse verwiesen, da Voretzsch selbst die Fabel vom entwendeten Hirschherzen (Fredegar III, 8) wegen ihres orientalischen Ursprungs nur bedingt mit heranzieht3). Doch kommt er auch hier nicht wieder auf die in seiner Definition postulierten „überirdischen Elemente" zurück, was vor allem geboten wäre, wenn er sich auf die Spruchdichtung Egberts von Lüttich ( F E C U N D A R A T I S ) und Hergers (Spervogels) stützen will und dabei vom volkstümlichen ,Tiermärchen' spricht, das jener nicht verschmähe und dem auch dieser nahegestanden sei 4 ). Doch aus Hergers Anspielung auf eine Igelgeschichte ist über die Eigentümlichkeit des einheimischen ,Tiermärchens', das die epische Vorstufe zum mittelalterlichen Tierepos gebildet haben soll, so wenig zu gewinnen wie aus Egberts Fabel ,De lupo et alauda quomodo partiti sunt pernas' (I 1 3 1 1 - 1 3 2 7 ) 5 ) . Das Element des Wunderbaren findet sich erst in Egberts Rotkäppchen-Version (II 472-485), auf die sich van Mierlo stützen will 6 ) und die in der Tat der zugrunde gelegten Märchendefinition entspricht, sich aber eben dadurch von allen bisher besprochenen angeblichen ,Tiermärchen', wie andererseits auch von allen in das Tierepos eingegangenen Tiergeschichten prinzipiell unterscheidet. Das Wunderbare im mittelalterlichen Märchen vom .Rotkäppchen' ist noch ganz an das Übernatürliche der christlichen Legende gebunden; das Mädchen wird in sei') ibid. ') VAN MIERLO P. 5 3 7 . *) V O R E T Z S C H , E i n l . z u m R F p . X I I .

«) ibid. p. X I I I f. ·) Die Igelgeschichte ist erst auf dem Umweg über ein südslawisches Märchen zu erschließen; warum Voretzsch nun (Einl. zum R F p. X I V ) in der zitierten Fabel Egberts doch das erste Vorkommen des Bachenabenteuers bezeugt sehen will, obwohl er selbst zuvor (ZRPh X V 164) geschrieben hatte, sie stehe dem letzteren zu ferne („gerade die Erbeutung des Schinkens durch den Vexierlauf fehlt; das Motiv der ungerechten Beuteteilung aber ist auch anderen Erzählungen . . . eigen"), ist nicht ersichtlich. E



) VAN MIERLO P. 537.

68

nem roten Taufhemd (tunicam rubicundo uellere textam, v. 475) durch ein echtes Wunder, in dem sich das Wirken der göttlichen Allmacht bezeugt, vor der Freßgier der jungen Wölfe bewahrt: ,Hanc tunicam, mures, nolite', infantula dixit, .Scindere, quam dedit excipiens de fönte patrinus!' Mitigat inmites animos deus, auctor eorum. (v. 483-485)

Die Suche nach der .einfachen Märchenform' eines einheimischen ,Tiermärchens' führte zu der christlichen Legende. Inwieweit dieses Ergebnis für die Frage nach dem Wesen des mittelalterlichen Volksmärchens überhaupt kennzeichnend ist, kann hier nicht entschieden werden. Doch soviel ist für unseren Untersuchungszusammenhang sicher: in den Tiergeschichten des stofflichen Bereiches, der für das im 12. Jahrhundert ausgebildete Tierepos in Frage kommt, fehlt das märchenhafte Element des Wunderbaren gänzlich. Von Egberts ,Rotkäppchen" abgesehen, das aber in das Tierepos nicht eingegangen und mit seinem christlichen Wunder dort auch gar nicht vorstellbar ist, haben wir keinen Anlaß, von ,Tiermärchen' als einem Genus zu sprechen und ein solches als epische Vorstufe für das Tierepos anzusetzen. Man müßte denn schon annehmen, bei der Umsetzung von .Tiermärchen' in die literarische Form des Tierschwanks seien die märchenhaften Züge, durch die sich das germanische Tiermärchen von der äsopischen Fabel unterscheiden könnte, in jedem einzelnen Falle allesamt getilgt worden - eine Unterstellung, die sich durch ihre Unwahrscheinlichkeit von selbst erübrigt. Damit erledigt sich wohl auch die Hypothese, das spezifisch Mittelalterliche in der epischen Gestaltung von Tiergeschichten sei auf das formale Vorbild des volkstümlichen Tiermärchens zurückzuführen. Hier konnte W. Roß zeigen, daß die bunten Bestandteile der frühmittelalterlichen Tierdichtung (antike Metaphorik, Tiersymbolik der Bibel, etymologischer Namenwitz, Physiologus und Fabel) zumeist „auf Grund ihrer Verwertbarkeit für Scherz und Satire ausgewählt und kombiniert werden" 1 ) und daß die kunstvoll erweiterte Form der äsopischen Fabel vom kranken Löwen bei Paulus Diaconus (sie ist wahrscheinlich, da sie vom Empfänger eine Auflösung verlangt, auf eine bestimmte Situation am Hofe bezogen) und vielleicht auch noch die E C B A S I S (auf die in beiden Hss. die Rätsel Aldhelms folgen) in der spätantiken Tradition der Rätselliteratur stehen dürfte 2 ). Ein spezifisches Gattungsmerkmal, das ermöglichte, die vielfältigen Formen der beginnenden mittelalterlichen Tierdichtung einheitlich zu erklären, findet sich - will man sich nicht mit dem vagen Kriterium einer bis dato unbekannten „epischen Behaglichkeit" begnügen 3 ) - für die TierRoss ρ. 276. ") Ross ρ. 275 Anm. 19. 3 ) VORETZSCH, Einl. zum R F p. X V ; auch in der Beschreibung des Hahns, dessen Rolle als Tagverkünder aus dem geistlichen Morgenlied bekannt ist, lassen sich die meisten Züge, die Voretzsch als Anfänge epischer Gestaltung von Tier-

69 dichtung von Alkuins kurzen Scherzgedichten (,Kalb und Storch', ,Floh und Podagra') bis zu der umfänglichen E C B A S I S C A P T I V I nicht. Die Gedichte dieser Epoche haben so wenig das Gepräge einer fixierten Gattung, daß sie ihre Form den verschiedensten literarischen Vorbildern der Gelegenheitsdichtung (eines ist ,species cornice' überschrieben, vgl. Poetae IV 430) entlehnen müssen. Dabei scheint der mittelalterliche Verstierschwank, wie G. Herrlinger an der Tradition der Tierepikedien zeigte, stärker als seine antiken Vorbilder das Parodistische hervorzukehren 1 ). Die Traditionslinie, die am antiken Tierepitaph anknüpfend vom E P I T A P H I U M M U L T O N I S des Sedulius Scottus über A L V E R A D A E A S I N A zum T E S T A M E N 2 TUM D O M I N I A S I N I und dem E P I T A P H I U M B I C O R N I S führt ), mündet indes nicht in das Tierepos ein, dem diese Art von Tierschwank, in der der Tod eines Haustieres beklagt wird, fernsteht 3 ). Auch andere Tierschwänke wie das so verbreitete Gedicht D E L U P O , welches das Thema des Wolfsmönchs um 1100 bezeugt und mit als wichtigstes Dokument der Vorgeschichte des Tierepos gilt 4 ), hat mit seiner Fabel in dieses keinen Eingang gefunden. Von den beiden Tierschwänken der Carmina Cantabrigiensia: A L V E R A D A E A S I N A und S A C E R D O S E T L U P U S 5 ) ist nur das letztere (und zwar erst im 13. Jahrhundert) in das Corpus der Branchen des RdR aufgenommen worden, bleibt dem Renartzyklus als textnahe Überarbeitung der lateinischen Vorlage im Grunde aber exterior (wie noch gezeigt werden soll), so daß gerade hier der Kontinuitätsbruch zwischen der Tradition des lateinischen Tierschwanks und der neuen, mit dem Tierepos des 12. Jahrhunderts ausgebildeten Form des volkssprachlichen Tierschwanks besonders deutlich wird. Wenn W. Roß am Ende seiner Untersuchung zu dem Ergebnis kommt: „die komische Tierdichtung, in der Antike nur durch die ,Vögel' des genialen Aristophanes und die Batrachomyomachie vertreten, hat sich erst im Norden zu gattungsmäßiger Bedeutsamkeit und volkstümlicher Breite entfaltet"®), ist dies von ihm nicht entwicklungsgeschichtlich gemeint, kann aber auch nicht im Sinne des Traditionszusammenhangs von antiker und mittelalterlich-abendländischer Literatur (E. R. Curtius) verstanden märchen ansieht, auf antike oder biblische Tradition zurückführen, vgl. die Nachweise Poetae I 262. *) G. Herrlinger, Totenklage um Tiere in der antiken Dichtung, Stuttgart 1930 {Tübinger Beiträge %ur Altertumswissenschaft, VIII. Heft), vgl. bes. p. 1 7 6 - 1 7 7 . 2 ) Vgl. B. Jarcho, Speculum 3 (1928), p. 566-567, der diese Traditionslinie unter den Begriff .Tiernovelle' faßt. 3 ) Im Tierepos findet sich nur die Form des Scherzepitaphs, vgl. etwa Y S

VII 417-422, RdR I 425-428. 4

) Kl. lt. Denkmäler p. 5 8-62. ) Carm. Cant. X X und X X X V ; nach WALLNER (Beitr. 47, I74FF.) würde dem Schwank auf die Eselin der Nonne Alfrad ein schon um das Jahr 1000 anzusetzender Isengrinschwank ( = Episode der Köchin Aldrada, Y S II 1 - 1 5 8 ) zugrunde liegen. 5

") Ross p. 282.



werden. Zwischen den Zeugnissen frühmittelalterlicher Tierdichtung und dem ausgebildeten Tierepos des 12. Jahrhunderts läßt sich weder stoffgeschichtlich, noch gattungsgeschichtlich eine fortschreitende Entwicklung aufweisen. Von den Tierschwänken des Renartzyklus sind nur wenige schon in der frühmittelalterlichen Tierdichtung bezeugt1), und umgekehrt findet sich keine der Tierfabeln, die als Zeugen für ein germanisches Tiermärchen dienen sollen, im Tierepos wieder. Andererseits läßt sich aber auch der Y S E N G R I M U S des Magister Nivardus ebensowenig auf klassische Vorbilder komischer Tierdichtung, geschweige denn auf die antike Epenparodie zurückführen, wie die volkssprachlichen Renartzyklen, die gleichfalls den Hoftag der Tiere als episches Muster benutzen, nicht schon in der äsopischen Fabel vom kranken Löwen ,angelegt' sind. Von einer Epenparodie in tierischem Gewand, wie sie van Mierlo schon bei Sedulius Scottus finden wollte, kann vor dem 12. Jahrhundert nicht die Rede sein. Das gilt auch für die zwei Vogelschlachten, die Theodulf von Orleans beschreibt (Poetae I 5,67 f.), und den Vögel-Sängerwettstreit mit anschließendem Tierbankett, der sich unter den Werken des Eugenius Vulgaris findet (Poetae IV 430)2). Die ,pugnae avium' setzen als Medium des Vergleichs eine wirkliche und nicht die dargestellte Schlacht eines Heldenepos voraus. Theodulf beschreibt, daß sich die Vögel erstaunlicherweise im Ablauf ihres Kampfes wie die Heere der Menschen (cf. v. 157 -

158:

Utque diu Poenos inter populumque Quiritum / currunt legati, donec in

benehmen, denkt aber gar nicht daran, im Verhalten der Tiere das Verhalten epischer Helden zu parodieren: die beiden Ebenen des Vergleiches bleiben durchgängig geschieden, so daß kein eigentlich komischer Effekt entstehen kann3). Die ,Species comice' des Eugenius Vulgaris, die im ersten Teil von dem Siege der Nachtigall über sämtliche Vögel des Waldes erzählt, steht damit in der Tradition der ,voces animantium'4) und dürfte wohl in seinem zweiten Teil, dem Bankett der Tiere, eine für uns nicht mehr erkennbare Situation aus der Zeitgeschichte travestieren, da nicht anzunehmen ist, daß der Löwe allein eine Schlüsselfigur bedeutet (Karolus altus / Ut leo frendens . . v. 5 7-5 8). Für das spätere Tierepos, in arma ruanf)

') Außer den äsopischen Stoffen (Der kranke Löwe, Fuchs und Rabe, Beuteteilung) wäre hier nur ,Fuchs und Hahn' zu nennen, wofür Äsop kein unmittelbares Vorbild bietet. 2 ) Vgl. Ross p. 276, der die ersteren als Parodie des Heldenepos, den letzteren als „einer ähnlichen Inspiration entstammend" kennzeichnen wollte. ') Vgl. etwa v. 1 6 5 - 1 6 8 (wir zitieren nach der Neuedition von Theodulfs Briefgedicht an Modoinus, die D. Schaller in seiner Heidelberger Dissertation (Ms.): Philologische Untersuchungen zu den Gedichten Theodulfs, 1956, p. 2 2 - 3 3 , erstellt hat): Nullum opus aut currus, nullum aut habet usus equorum, usus abest calibis, spicula nulla volant. Pro galea crista est, pro cuspide rostra vel ungues, E t sua pro lituis carmina quaeque sonat. 4 ) Vgl. B. Jarcho, Speculum 3 (1928) p. 574-575.

7i

dem den Vögeln so gut wie keine epische Rolle zufällt, sind diese Ansätze ohne Bedeutung; seine Epenparodie bildet einen eigenen Stil aus, der vom mittelalterlichen Heldenepos bedingt ist und seine Form darum von keinem antiken Vorbild zu entlehnen braucht. Die Feststellung, daß sich vor dem 12. Jahrhundert nur sporadische Parodien epischer Stilmuster (z. B. in der E C B A S I S ) 1 ) , aber keine parodischen Epen oder Parodien auf ein antikes Epos finden2), bestätigt im Grunde nur, daß das Heldenepos in dieser Zeit noch weit davon entfernt war, eine dominierende Stellung im Leben der Dichtung einzunehmen. Es ist darum auch nicht verwunderlich, daß die Benennung der Tiere mit Eigennamen, in welcher sich nach Voretzsch die epische Ausgestaltung des .Tiermärchens' vollendet haben soll, erst zu Beginn des 12. Jahrhunderts begegnet. Es handelt sich um die vielbemühte Anekdote aus Guibert von Nogents Bericht über die Ermordung des Bischofs Waldricus von Laon im Jahre Ii 12 (De vita sua, III 8). Der Bischof hatte die Gewohnheit, einen gewissen Teudegald, seinen späteren Mörder, propter lupinam speciem .Isengrinus' zu nennen. Am Tage der Ermordung gibt dieser dem Bischof, als er ihn im Keller in einem Faß versteckt findet, seinen Spitznamen zurück: Hiccine est dominus Isengrinus repositus? 3) Selbst wenn diese Anekdote bereits (woran man zweifeln kann) den Schwank vom Wolf im Klosterkeller voraussetzt, der uns aus dem späteren Tierepos (RdR VI, X I V und RF 499 fr.) bekannt ist4), läßt sich daraus nur entnehmen, daß der Wolf um diese Zeit in einem Tierschwank schon den Namen ,Isengrinus' führte, nicht aber, daß damit schon eine vorliterarische Verbreitung des späteren Tierepos 5 ), bzw. die Existenz einer vorliterarischen Tiersage bezeugt sei e ). Foulet hat mit Recht darauf hingewiesen, daß der Name ,Isengrinus' dem Mörder von einem Kleriker beigelegt wurde und dem Chronisten in seiner Wiedergabe einer Erklärung bedürftig schien (sie enim aliqui solent appelare lupos), also noch nicht sehr verbreitet (aliquil) gewesen sein konnte 7 ). Für seine Volkstüm') 2)

V g l . R o s s p. 2 7 1 . Z u diesem Resultat k o m m t auch P. L e h m a n n , Die

Parodie im

Mittelalter,

M ü n c h e n 1922, bes. p. 3 1 : „ E c h t e Parodien antiker Literaturwerke sind v o n den höfischen, geistlichen Schriftstellern dieser E p o c h e nicht oder höchst selten u n d z a g h a f t g e w a g t " (gemeint ist die karolingische Zeit), u n d p . 34: „ S i e h t man v o n der Cena Cypriani ab, wird bis z u m 1 1 . Jahrhundert das Parodistische i m m e r nur a n g e deutet und gestreift. D i e Vergeistlichung der Literatur w a r ü b e r m ä c h t i g g e w e s e n . " ') W i r zitieren nach d e m A b d r u c k bei F O U L E T p. 87 (mit den K o r r e k t u r e n nach G . B o u r g i n ) ; zur Geschichte der Interpretation dieses T e x t e s sei auf K a p . V der A r b e i t v o n F o u l e t verwiesen. *) S o V O R E T Z S C H , E i n l . z u m R F p. X I I I . s)

S o P A R I S p. 361 f . : „ N o u s p o u v o n s done affirmer t o u t au moins une chose,

e'est que Ι'έρορέε animale etait connue au cceur de la France, a v e c les n o m s de ses prineipaux h6ros, d£s les premieres ann6es du X l l e si£cle." · ) VORETZSCH, Einl. zum R F p. X I X . 7)

F O U L E T p. 89: „ U n sobriquet a p p l i q u i ä un vilain par i m clerc et q u ' u n autre

clerc doit interpreter p o u r les lettris qui le liront ne p e u t pas etre

r6pandu."

72 lichkeit spricht zunächst nicht viel mehr als der nichtlateinische Ursprung des Namens. Daß mit der vorliterarischen Namengebung die epische Ausgestaltung des ,Tiermärchens' zur ,Tiersage' so weit vollendet sei, daß ihm zum Tierepos nur noch die literarische Fixierung fehle (Voretzsch), leuchtet nicht ein. Die Namengebung allein genügt nicht, um aus Tierfiguren „wahrhaft epische Persönlichkeiten" zu machen; sie ist keineswegs eine besondere Errungenschaft des .Tiermärchens', „das sich dergestalt aus sich selbst heraus zum Epos entwickelt hätte" 2 ). Voretzsch ist hier entgangen, daß es sich - worauf L. Spitzer aufmerksam gemacht hat - bei der Verleihung von Menschennamen an Tiere nachweislich um TabuNamen handelt, die Individualisierung, die das Tierepos mit Renart vornimmt, also schon eine primäre Tabu-Individualisierung voraussetzt: „Aus alledem erhellt, daß der Roman de Renart ein sehr viel jüngeres Produkt einer ästhetisch eingestellten Gemeinschaft sein muß und daß es methodisch falsch ist, aus einem so ganz anders empfundenen literarischen Erzeugnis direkt auf urtümliche Verhältnisse zu schließen und folkloristische Studien auf das literarische Gebiet übergreifen zu lassen." 3 ) Wo aber, wenn nicht schon mit dem Zeugnis Guiberts von Nogent, setzte die eigentliche Episierung der Tierschwänke ein, wo ist der Punkt zu suchen, an dem aus einer bloßen Reihung von einzelnen Schwänken (der sogenannten ,Tiermärchenkette') die zyklische Einheit des Tierepos entsprang? Daß die Namengebung und Gruppenbildung, bzw. Reihung von Tiergeschichten um eine ständige Hauptfigur, noch nicht den entscheidenden Schritt zum Tierepos ausmacht, läßt sich gerade an dem einzigen Beispiel einer , Tiermärchenkette' zeigen, das Sudre aus dem Mittelalter anführen kann: die sogenannte „histoire populaire du loup nigaud" 4 ). Es handelt sich dabei um eine Schwankreihe um den Wolf als Hauptfigur, die sich unter dem Titel D E I N F O R T U N I O L U P I (bzw. De lupo pedente) in den Fabulae extravagantes (den späteren Fortsetzungen des Romulus-Corpus) vorfindet 5 ) und in ihrer ursprünglichen Gestalt, als ,Tiermärchenkette' volkstümlicher Herkunft, schon dem Y S E N G R I M U S zugrunde gelegen haben soll. In dieselbe Tradition weist nach Sudre auch die Branchenfolge X V I I I bis X X des RdR zurück. Auch wenn es nicht erweisbar ist, daß die postulierte ,Tiermärchenkette' dem Tierepos des 12. Jahrhunderts vorauslag, kann uns doch die in den genannten Texten vorliegende Schwankreihe dazu dienen, den Kristallisationspunkt zu bestimmen, an dem die eigentUnter .Tiersage' will VORETZSCH zuletzt (Einl. zum R F p. X I X ) die „Verbindung volkstümlicher Tiermärchen mit Eigennamen" verstehen. 2

) VORETZSCH, Preußische J b . 80 ( 1 8 9 5 ) , p. 4 6 0 - 4 6 1 .

3

) SPITZER P. 2 3 3 - 2 3 4 .

4 ) SUDRE p. 324, 3 3 8 ; dazu Kaarle Krohn, Bär (Wolf) und Fuchs. Eine nordische Tiermärchenkette (deutsch von O. Hackmann), Helsingfors 1888. s ) Wir zitieren nach dem Abdruck bei GRIMM p. 4 2 9 - 4 3 1 ; die Tradition des

T i t e l s D E I N F O R T U N I O L U P I ( = Isengrins not) h a t W A L L N E R , B e i t r . 4 7 ( 1 9 2 3 ) p . 2 0 1 ,

weiterverfolgt.

73

lieh epische Zyklisierung einsetzen mußte. D e t erste der drei in den R d R eingegangenen Schwänke (Branche X V I I I ) ist die schon erwähnte afrz. Bearbeitung v o n S A C E R D O S E T L U P U S 1 ) , der wir uns zunächst zuwenden, weil hier auf der sicheren Basis eines Textvergleichs untersucht werden kann, welche Änderungen ein selbständiger Tierschwank erfuhr, wenn er dem Zyklus des R d R einverleibt wurde. Beginnen wir mit den stilistischen Differenzen, so fällt auf, daß im Schritt v o n der lateinischen zur volkssprachlichen Version das Erzählen als solches mehr in den Vordergrund rückt. Während im lateinischen G e dicht der Handlungsablauf und die Beschreibung der Situation relativ geringen Raum einnehmen, hat der afrz. Bearbeiter verschiedentlich Möglichkeiten erkannt und benutzt, bei einzelnen Phasen des Geschehens zu verweilen und Details auszumalen. D i e Beschreibung der Falle wird v o n einem Vierzeiler (6) auf 14 Achtsilber (v. 2 5 - 3 8 ) erweitert, die bloße E r wähnung, daß der Wolf dum node circuit in die Falle gerät (7), zu einer Schilderung ausgebaut, die A u f b r u c h und Weg, Umstände und inneren V o r gang (Monolog) umfaßt (v. 4 1 - 6 2 ) , in die Kampfsituation erst noch ein verfehlter Schlag des Priesters mit einer K e u l e eingefügt, der Sieg des Wolfes eigens gewürdigt (A lui meismes rit asse^. . v . 1 2 6 - 1 3 0 ) ; dazu kommen verdeutlichende Details wie: Plus savoit de truie enfondue Que de letre deporveüe (v. 9-10) 2 ) f ü r : uiuebat amanspeeudis. hic enim mos est rusticis (2). Bei alledem sehen w i r indes keinen Anlaß, mit Sudre in der frz. Version eine „malice gauloise qui donne au morceau frangais une saveur plus piquante encore que n'est celle du modele dejä si mordant et caustique" auszumachen 3 ). V o n der einführenden Charakteristik: ,er verstand mehr v o m Selchen des Schweinefleischs als v o n der K u n s t des Lesens' an geben die Veränderungen und Zusätze des frz. Bearbeiters dem Schwank mehr das G e p r ä g e einer behaglich verweilenden, die Situation humorvoll auskostenden Erzählung als das einer maliziösen Satire. Gerade dort, w o der lateinische Dichter den Höhepunkt des ,ridiculum' sieht, um dessentwillen er den V o r f a l l berichtet, in der plötzlichen Frömmigkeit, die der Priester in seiner A n g s t als Held wider Willen an den T a g legt: Sacerdos secum musitat sed reuoluit frequentius ,Hoc' inquit ,infortunii quorum neglexi animas, Pro defunetorum merito et pro uotis uiuentium

septemque psalmos ruminat, .miserere mei deus*. dant mihi uota populi, quorum comedi uictimas.' cantat ,placebo domino' totum cantat psalterium. (13-15)

Wir zitieren nach Carm. Cant. X X X V . ) true enfondue = „truie mise en sei, en saumure"; letre deporveüe = ,,le pretre ne savait pas bien lire d'emblee, c. ä d. sans preparation prealable" (TILANDER, Lexique 49-50). 2

3

) SUDRE P . 3 2 6 .

74

hat der frz. Bearbeiter gekürzt (cf. Br. X V I I I 1 1 3 - 1 2 5 ) und dabei den feinsten Zug in der Karikatur des rustikalen Seelenhirten aufgegeben: seine reuige Selbsteinkehr in höchster Not (14), sein Gelöbnis der Besserung nach der Errettung (19) und die erst von hier aus voll wirksame Schlußpointe: Sed numquam post devotius oravit nec fidelius (20). Eine Reihe von weiteren Änderungen erklären sich aus der Notwendigkeit, den lateinischen Schwank als ,branche' so in den zyklischen Zusammenhang einzufügen, daß er an andere Branchen anschließen und selbst wieder fortgesetzt werden konnte. Die Beteuerung, daß es sich um eine vorgefallene Geschichte handle (est verum, non ficticium, 1), wird durch einen Eingang ersetzt, der dem fiktiven Charakter des Tierepos nicht zuwiderläuft und eine Moral in der für den volkssprachlichen Tierschwank kennzeichnenden Form des Sprichworts vorausgibt: Seignor, ce dient Ii devin, Si est escrit en parchemin Que eil a sovent mau matin Qui pres de lui a mau voisin.

(XVIII 1-4) 1 )

Der Wolf erhält nicht allein seinen epischen Namen, sein Auftreten ist auch wie sonst im Tierepos durch das Motiv des Hungers eingeleitet (cf. v. 41) und im übrigen durchgängig nach dem geläufigen Vorbild anderer Branchen stilisiert (Unbesonnenheit beim Anblick der Beute, v. 47 ff.; Klagemonolog, v. 55 fr.; Ausmalung der Flucht, v. 122-130). Sein Mißerfolg endlich wird in der folgenden Branche dazu benutzt, die nächste aventwre zu motivieren (cf. X I X 21 ff.). So vollkommen hier auch die Umstilisierung des lateinischen Schwanke gelungen scheint und so wenig ihr noch etwas von einer Übertragung anhaften mag, innerhalb des epischen Zyklus wirkt sie aus einem anderen Grunde gleichwohl befremdend und gehört zu den epigonischen Branchen, an denen sich bereits die Erschöpfung des Prinzips der Gattung bemerkbar macht. Das wird erst ganz deutlich, wenn man von Br. X V I I I auf die kleine Schwankreihe bis Br. X X weiterblickt. Das Mißgeschick des Wolfes soll offenbar als thematisches Bindeglied zwischen den drei Schwänken dienen. Doch dieses Thema für sich allein vermag die heterogene Herkunft der drei Schwänke nicht zu überdecken. Der Wolf, der sich in Br. X V I I I über sein gelungenes Entkommen ins Fäustchen lacht (v. 127), der in Br. X I X , einer Variante des Motivs vom freundlosen Wolf zufolge (v. 4-10), mit der Stute gemeinsame Sache machen will und unverdientermaßen üblen Lohn erntet und der in Br. X X verdientermaßen von den beiden Widdern geprellt wird, stellt sich in jeder der drei Situationen unter einem anderen Aspekt dar, ohne daß eine durchgängige Konzeption greifbar würde, die sein Mißgeschick über die bloße Drastik eines ,Denn erstens kommt es anders, und zweitens als man d e n k t . . hinauszuheben vermöchte.

TIN P.

Das Sprichwort findet sich auch in den 91.

P R O V E R B E S AU V I L A I N ,

vgl.

MAR-

75

Eine solche Konzeption findet sich in dem erwähnten Stück der Fabulae extravagantes·. D E I N F O R T U N I O L U P I . Dort erhält die ganze Serie des Mißgeschicks, das den Wolf betrifft, ihren inneren Zusammenhalt durch das Motiv, daß er sich auf ein angeblich gutes Vorzeichen (peditum) verläßt und gegen alle Evidenz seiner sich steigernden Unglücksfälle an seiner fixen Idee festhält: Nec ex hac injuria est mihi cura, quia hodie ero saturus, ut hoc summo diluculo mihi anus praesagiebat meus1). Die Einsicht, zu der er am Ende gelangt, paraphrasiert an der ganzen Reihe seines Mißgeschicks die allgemeine Moral: Multi altiora se quaerunt, et fortiora se scrutantur, et ultra suum gradum excedentes altiora petunt et deliciosa volunt. sed quo altius ascendunt, frequenter detenus labuntur. Wir kennen sie schon aus dem E S O P E der Marie de France. Was dem Wolf hier widerfahrt, ist das allgemeine Geschick vieler Figuren der Fabel (rencliner a ma nature), enthüllt also nicht sein Wesen im besonderen und ist darum auch nicht als für ihn typisch anzusehen. Das Mißgeschick des Wolfes kann ihn in dieser allgemeinen Bedeutung seiner aventure so wenig als einzigartige Person (und damit auch nicht als epische Figur) charakterisieren wie eine beliebig fortsetzbare Reihung (,Tiermärchenkette') von Schwanksituationen, die ihn bald überlegen, bald unterlegen hervorgehen lassen und dabei sein Wesen verschieden beleuchten. Der Wolf ist denn auch im lateinischen Tierschwank noch nicht als Typus festgelegt. E r kann sich in S A C E R D O S E T L U P U S geschickt aus der Schlinge ziehen, nicht anders als es der schlaue Fuchs an seiner Stelle getan hätte (dieselbe Situation liegt der äsopischen Fabel von Fuchs und Bock zugrunde). E r kann sich in D E L U P O als erfinderischer (parans artem, v. 43), scheinheiliger (cf. 71 ff.), geistreicher (Et modo sum monachus, canonicus modo sum, ν. io6) Heuchler, in der Fabel vom Wolf in der Klosterschule, der als der Lehrer Α vorspricht, agnellum sagt und bei Β porcellum, als unersättlicher, starrsinniger glouton gebärden. Diese Einzelzüge sind zusammen mit äsopischen und volkstümlichen Elementen erst im Tierepos des Magister Nivardus zu der einheitlichen Figur des Wolfsmönchs zusammengeschmolzen. Hier tritt nun aber auch klar zutage, wodurch allererst Ysengrin zur „wahrhaft epischen Persönlichkeit" werden konnte und was der frz. Version von S A C E R D O S E T L U P U S letzten Endes fehlt, um als ,branche' im vollen Sinne dieser für die aventure im Tierepos geprägten Gattungsbezeichnung gelten zu können. Wir meinen den Antagonismus von Fuchs und Wolf, und zwar nicht so sehr im herkömmlichen Verständnis, als episches Motiv vom Krieg a ) oder von der Fehde 3 ) der beiden Barone, sondern als fundamentalen Gegen*) Mit der Fabel wird zugleich der lehrhafte Zweck verfolgt, die Nichtswürdigkeit des Aberglaubens an Vorzeichen vor Augen zu führen, wie am Ende der abschließenden Moral noch eigens betont wird: (Instruit baec parabola) ... tut trullarum praesagiisfidemdare. ' ) G . PARIS p . 3 7 2 f f . · ) FOULET P. 1 6 8 ff.

76 satz, der ihren Haß erst begründet und allen ihren Aventüren noch vorausliegt - jenes Prinzip, das den einen zum Schatten des andern macht, so daß die Erscheinung Ysengrins die Vorstellung Renarts unvermeidlich mit auslöst und für den Leser oder Zuhörer mit dem Augenblick, in dem ihr Name fällt, einen ganz bestimmten Horizont von Erwartungen erweckt, dem eine besondere, über das bloße ,faire rire' hinausgehende Spannung eigen ist. Wo diese Vorstellung des unentrinnbaren Widerparts nicht spontan mit ausgelöst wird, mag der Wolf als Heuchler, als ,glouton', als Dummkopf und Inbegriff tyrannischer Beschränktheit, der Fuchs als Lügner, als Ränkeschmied, als Schlaukopf und Inbegriff weltklugen Verhaltens sich darstellen: zur epischen Figur im eigentlichen Sinne wird Ysengrin erst durch seinen unvermeidlichen Ratgeber, den er nicht entbehren kann, auch wenn er dabei jedesmal den kürzeren zieht, und erst die ständige Bedrohung durch den mächtigeren, sozial höher gestellten ,Oheim' und Gevatter läßt Renart als Figur des Schelms inmitten einer epischen Welt vonTierfiguren hervortreten, die er in dieser Gestalt in Frage stellen und allein überdauern soll. Solange uns nicht andere Zeugnisse für eine getrennte Zyklenbildung um den Fuchs oder um den Wolf bekannt werden, scheint es uns müßig, in dem ersteren die volkstümliche Hauptfigur einer vorliterarischen Tiersage zu vermuten, ihr in der Gestalt des Wolfsmönchs die zyklische Hauptfigur einer zweiten, dem Kloster und der Schulstube entsprungenen Überlieferung entgegenzusetzen und in solchen Zyklenbildungen bereits den Schritt vom Tierschwank zum Tierepos zu sehen. Mit solcherlei Hypothesen wird im Grunde nur die alte Auffassung von E.Voigt in eine vorliterarische Entwicklung zurückverlegt, der zwei Perioden, „eine producierende und eine crystallisierende", in der „Entwicklung unseres Fabelkreises" unterschied : „jene dringt in die Breite und strebt nach Vielheit, diese dringt in die Tiefe und strebt nach Einheit, den Wendepunct bildet der Reinaert. Die erstere zerfallt wiederum in zwei Perioden: die eine vorwiegend g e i s t l i c h , von M ö n c h e n getragen, die andere vorwiegend w e l t l i c h , von f a h r e n d e n K l e r i k e r n und S p i e l l e u t e n gepflegt; in jener ist der Wolf, in dieser wird mehr und mehr der Fuchs die Hauptperson, der Übergang jener zu dieser fällt in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts." 1 ) Diese (bis heute noch wirksame) Auffassung hat L.Willems in seiner Argumentation gegen L. Sudre, der die „glorification de la malice du goupil" für die „idee-mere" in der Entwicklung des Zyklus hielt 2 ), dahingehend berichtigt, in der Geschichte der ,geste animale' habe es einen Moment gegeben, in welchem der Kampf um die Hegemonie zwischen dem Wolf, dem Protagonisten des älteren Tierepos, und dem Fuchs, dem Protagonisten der neueren Entwicklung, pari stand. Diese Phase spiegle sich im Y S E N G R I M U S des Magister Nivardus, dessen Werk in zwei der Handschriften bezeichnenderweise die Namen beider Protagonisten nebeneinan>) E. Voigt, Einl. zum YS p. LXXXIX. S

) SUDRE P. 3 1 .

77 der im Titel führe. Wenn sich der Fuchs am Ende als zyklische Hauptfigur durchgesetzt habe, so dank der großen Bedeutung, zu der die äsopische Fabel vom kranken Löwen in der volkstümlichen Überlieferung gelangt sei1). Die Fabel vom kranken Löwen ist in der lateinischen Tierdichtung des Mittelalters schon verschiedentlich bearbeitet worden, bevor der Hoftag der Tiere durch den Y S E N G R I M U S zum wichtigsten epischen Muster für den R O M A N D E R E N A R T und die weiteren volkssprachlichen Fuchsepen geworden ist. Um in dieser Fabel bereits die ganze Entwicklung des mittelalterlichen Tierepos bis zum Primat Renarts in der Endphase angelegt zu finden, bedarf es einer evolutionistischen Verkehrung der historischen Blickrichtung, bei der außer acht gelassen wird, warum diese .zwangsläufige' Entwicklung erst im 12. und nicht schon in den früheren Jahrhunderten von der immer wieder bearbeiteten Hoftagsfabel ihren Ausgang nahm. Die evolutionistische Betrachtung hat zwar die epische Ausstattung und Erweiterung dieser Fabel Schritt für Schritt verfolgt, der Rolle von Fuchs und Wolf aber, die hier zuerst in der mittelalterlichen Tierdichtung einander gegenübertreten, als einem scheinbar konstanten Verhältnis wenig Beachtung geschenkt. Doch müßte gerade hier der Kristallisationspunkt für die Entstehung des mittelalterlichen Tierepos zum Vorschein kommen, wenn sich unsere Hypothese bestätigt, daß die im eigentlichen Sinn epische Zyklisierung der Tiergeschichten nicht mit einer Schwankreihung um den Wolf oder um den Fuchs, sondern mit dem episch aufgefaßten und immer wieder neu auslegbaren Antagonismus von Renart und Ysengrin ihren Anfang nahm.

B . Das Verhältnis von Fuchs und Wolf in der Überlieferung der Hoftagsfabel und ihre Rolle in der ECBASIS CAPTIVI Die soeben entwickelte Auffassung von der Bedeutung des Antagonismus von Fuchs und Wolf für die Entstehung des mittelalterlichen Tierepos berührt sich auf den ersten Blick scheinbar mit einer alten, von Foulet wie von Voretzsch aufgegebenen These, die G. Paris 1894/95 im Journal des Savants vorgetragen hat: „Les premiers auteurs de poemes de Renard, en latin ou en fran5ais, les ont trouves dans la tradition orale et leur ont donne une forme litteraire, les rattachant a l'idee nouvelle qui venait de creer l'epopee animale, Pantagonisme de Renard et d'Isengrin." 2 ) Wenn wir heute wieder auf diese These zurückgreifen, so geschieht es, um sie in ihrem Endresultat und in einem von G. Paris nicht erwarteten Sinne gerade dadurch neu zu bestätigen, daß wir sie auf anderen Voraussetzungen aufbauen. G. Paris hatte nämlich die Erfindung dieser „donnee generale de l'hostilite latente puis ouverte entre les deux comperes" 3 ) einer lateiW I L L E M S p. 138, vgl. dazu p. 131 ff., 152. ) G. P A R I S p. 292-293; vgl. dazu p. 422. s ) ibid. p. 396. 2

78 nischen Vorlage des R d R zugeschrieben, die er zur Zeit der E C B A S I S in Lothringen ansetzte, von deren Existenz er aber niemand zu überzeugen vermochte 1 ). E i n Indiz dieser Vorlage glaubte er darin zu sehen, daß der Krieg zwischen Renart und Ysengrin, den der Prolog zu Branche II des R d R (v. 10-22) ankündigt, in den auf uns gekommenen Branchen des R d R nirgends wirklich stattfinde und darum eine verlorene Branche voraussetze, die das Mittelglied zu der hypothetischen lothringischen Vorlage gebildet haben müsse. Dem widersprach Foulet mit dem Argument, mit dem »Krieg der beiden Barone' (RdR II 10-14) sei nichts anderes gemeint als die in Branche I I - V a dargestellte Fehde zwischen Renart und Ysengrin, was den Rekurs auf eine verlorene Branche überflüssig mache 2 ). Auch hatte sich G . Paris in dieser Abhandlung in den Widerspruch verstrickt, die Erfindung des Themas der Feindschaft von Fuchs und Wolf erst dem Verfasser der lateinischen Vorlage des R d R , an anderer Stelle aber im Gegensatz zu seinem Vater Paulin Paris schon der griechischen Fabel zuzuschreiben. Dieser hatte zuvor (1861), als er gegen Grimms germanische Tiersage die äsopischen Fabeln ins Feld führte, einzig dem Thema vom Krieg zwischen Fuchs und Wolf eine Sonderstellung eingeräumt: Fuchs und Wolf hätten zuvor in den Tierfabeln ein selbständiges Leben geführt, die beiden voneinander geschiedenen Fabelserien seien erst eigentlich im R d R vereint worden, so daß hier der Punkt zu sehen sei, an dem die mittelalterlichen ,trouveres' schöpferisch waren und der Antike nichts verdankten 3 ). Gaston Paris hingegen schrieb nun (1894): „Leur hostilitd est dejä indique dans plus d'une fable grecque; eile se präsente ä peu pres toujours avec le caract6re qu'elle a dans notre toman: le loup, plus fort, mais credule et impirieux, se laisse perp6tuellement duper par le goupil. Nous retrouvons ce meme trait dans un grand nombre de contes populaires de l'Europe; seulement, dans une partie des Pays scandinaves et de la Finlande, le loup est remplace par Tours." 4 ) Für die Frage, welche Bedeutung dem Antagonismus von Fuchs und Wolf für die epische Zyklisierung von Tiergeschichten äsopischer oder volkstümlicher Herkunft zukommt, ergibt sich aus dem Vorstehenden die Notwendigkeit, erst einmal zu sehen, in welchen Zeugnissen der Tierdichtung der Fuchs dem Wolf gegenübertritt, und sodann von Fall zu Fall zu untersuchen, wie ihr Verhältnis aufgefaßt wird, inwieweit es bereits als fundamentaler Gegensatz thematisiert ist und w o zuerst wohl jene Tradition ihrer Feindschaft episch begründet wird, die die Verfasser der Tierepen des 12. Jahrhunderts immer schon als bekannt voraussetzen. *) Vgl. Voretzsch, ZRPh X X (1896), p. 421-423; Foulet p. 9ff. ') Wir kommen in unserer Interpretation von RdR II-Va (s. u. p. 184, 228 ff.) auf diesen Punkt zurück. ') Paulin Paris, Nouvelle Etude sur le Roman de Renart, in: Les aventures de MaStre Renart et d'Ysengrin son compare Paris 1861, p. 328. *) PARIS P. 3 7 2 .

79 In der Abhandlung von G . Paris fällt auf, daß er zwar ,in mehr als einer äsopischen Fabel' die Feindschaft von Fuchs und Wolf angezeigt finden will, aber offenbar doch nur auf die eine Fabel vom kranken Löwen verweisen kann 1 ). Diese Fabel ist in der Tat die einzige, in der bei Äsop der Wolf dem Fuchs entgegentritt, während beide für sich allein in zahlreichen Fabeln als Hauptfigur erscheinen. Von einer traditionellen Feindschaft findet sich in der ganzen Sammlung keine Spur. E s ist darum nicht weiter verwunderlich, daß auch in der Fabel vom kranken Löwen, in der sie durch die Situation in Gegensatz zueinander gebracht werden, dieser Gegensatz nicht eigens motiviert, geschweige denn auf einen tieferen, wesensbedingten Antagonismus zurückgeführt wird. Die Anklage des Wolfes ist nur ganz allgemein damit eingeleitet, daß er ,die günstige Gelegenheit (sc. der Abwesenheit des Fuchses) ergriff* (λαβόμενος ευκαιρίας), und die Rache des Fuchses ergibt sich ganz einfach daraus, daß er gerade ankommt und die letzten Worte seiner Verleumdung noch mitanhört 2 ). In der Rede des Anklägers wird wiederum nur ein Argument benutzt, das sich auf jeden anderen Abwesenden auch hätte anwenden lassen (mangelnde Achtung vor dem Herrscher). Auch kommt es in der Darstellung des Vorgangs weniger auf den typologischen Gegensatz der Charaktere, als auf zwei Weisen des Verhaltens gegenüber dem Herrscher an (Ov χρή τόν δεσπότην

προς

δυσμένειαν

παρακινεϊν,

αλλά

προς

ενμένειαν);

die

Moral

(,wer andern eine Grube gräbt. . .') entspringt unmittelbar aus den Folgen solchen Verhaltens und weist nur mittelbar auf die Charaktere der beteiligten Figuren zurück. Die erste mittelalterliche, früher Paulus Diaconus zugeschriebene Version der Fabel, L E O AEGROTANS (Poetae I 62-64) 3)> unterscheidet sich von der griechischen, auf die sie auf nicht bekanntem Wege zurückgeht, durch ihre kunstvoll erweiterte Form und die auffallende Abweichung, daß die Rolle des Anklägers vom Wolf auf den Bären übertragen ist. In der Erklärung dieser Abweichung ist die Forschung geteilter Meinung: die ,Äsopisten' sehen darin eine zufällige Variation, die ,Folkloristen' das Indiz dafür, „daß im Volke die alte Tradition vom Gegensatze zwischen Fuchs und Bären noch nachwirkte", d. h. eine Tradition, die uns auf dem Wege über eine nordische Tiermärchenkette auch anderweitig bekannt sei 4 ). Für unsere Leitfrage ergibt sich aus diesem Rollentausch zunächst die hohe Wahrscheinlichkeit, daß in der Tierdichtung um 800 eine Tradition der Feindschaft von Fuchs und Wolf noch nicht vorauszusetzen ist. Wenn andererseits in der Einführung des Bären eine andere, einheimische Tradition noch wirksam gewesen sein sollte, macht sich diese aber über den a

PARIS P. 400 f.

) Benutzt wurde die Ausgabe von E. Chambry, Paris: Les Belies Lettres, 1927 (Nr. 205). ') Vgl. hierzu Karl Neff, Die Gedichte des Paulus Diakonus, in: L.Traube, Quellen und Untersuchungen zur lat. Phil, des MA, III 4, München 1905, p. 191-196. 4 ) Vgl. WARNKE p. 217, dem das Zitat entnommen ist.

8o einfachen Rollentausch hinaus nicht geltend. Der Gegensatz zwischen der plumpen Intrige des Bären und der fein gesponnenen Erwiderung des Fuchses ist rein situationsbedingt und weist durch kein Indiz auf einen tieferen, in einer vorgängigen Tradition begründeten Antagonismus zurück. Auch sind Bär und Fuchs zwar differenzierter als bei Äsop, aber in ihrem Wesen nicht anders charakterisiert, als es die Redesituation erfordert : der Übereifer des ersteren, der allzu laut um die Gunst des Herrschers hascht 1 ), und die in ängstlicher Bescheidenheit, unermüdlichem Diensteifer und wirkungsvollem Zaudern gleichermaßen vollendete Schauspielerei des letzteren variieren nur zwei Weisen des Verhaltens, für die in der weiteren Überlieferung der Fabel sogleich wieder Wolf und Fuchs eintreten konnten. Wie die Rollen von Bär und Fuchs stehen auch diejenigen Elemente des Gedichtes, die Voretzsch als ,episches Beiwerk' bezeichnet hat, noch nicht im Zusammenhang einer epischen Motivation 2 ). Die Aufzählung der Tiere (v. 7-16) ist eine ,digressio', ein selbständiger, bunt zusammengestellter Katalog von wilden und zahmen Tieren, die im späteren Tierepos großenteils nicht erscheinen und auch hier für den Ablauf der Handlung ohne Bewandtnis sind, denn im folgenden ist nur noch von cohors tota (v. 23), pieps tota (v. 33) und sociis propriis (v. 60) die Rede. Zwei weitere Zusätze, die sich zum erstenmal in der mittelalterlichen Version finden, das Vorzeigen der zerrissenen Schuhe und die Pointe in den höhnenden Schlußworten des Fuchses: ,Quis dedit, urse pater, capite hanc gestare tyaram, Et manicas vestris quis dedit has manibus?' (v. 65 f.)

machen nur wieder deutlich, daß schon die Anfänge epischer Gestaltung von Tiergeschichten im Zeichen des Schwankes stehen3). Die Spannung, die der ob seiner Listen Bekannte (v. 36) allein schon durch seinen Aufzug mit den vielen zerrissenen, über die Schulter geladenen Schuhen zu erwecken weiß, nimmt den königlichen Löwen schon vorweg für ihn ein: Quam rex dum vidit, placato pectore risit Expectatque diu quid malefida velit,

(v. 39-40)

womit der Schelmenstreich des Fuchses in ein Licht gerückt wird, in dem die Moral gerechter Vergeltung und die unverzügliche Heilung des kranken Löwen (v. 62) am Ende nicht mehr ganz ernst zu nehmen sind. 1

) Vgl. Poetae I 62, v. 25-30:

Quae tarn dira fuit vulpi dementia quaeve Tantillam potuit ira subisse feram, Ut regem, quem cuncta sibi pieps subdita visit, Hunc haec sola quidem non adisse velit? Magna est ista quidem vulpis protervia mentis, Atque decet magnis subdire illa malis. 2 ) Einl. zum RF p. X V . 8 ) Voretzsch hingegen gemahnen diese Schlußworte an „Spottreden des Heldenepos" (ibid.).

8ι Verfolgt man das Verhältnis von Fuchs und Wolf (Bär) zunächst einmal in den überlieferten Fabeln und Tiergeschichten bis zum 12. Jahrhundert, so fallt auf (wenn uns keine Zeugnisse entgangen sind), daß sich von einer traditionellen Feindschaft zwischen Fuchs und Wolf noch keine Spur findet und daß der Bär, der in noch zwei Fällen an Stelle des Wolfes dem Fuchs entgegengesetzt wird, überall am Ende der Entwicklung wieder durch den Wolf bzw. Löwen ersetzt ist. In der Romulustradition treten sich Fuchs und Wolf lediglich in zwei Fabeln gegenüber. Bei der schon besprochenen Fabel,Fuchs und Wolf vor Gericht' ( E S O P E LXXVIII, dazu R O M U L U S XLVIII) ist ihr sonstiges Verhältnis für den Streitfall ohne Bewandtnis; in der anderen Fabel ,Der Fuchs verrät den Wolf' ( R O M U L U S LVI) wird der Anlaß, der zu diesem Verrat führte, erst eigens geschildert, cf.: his verbis irata vulpis . . . (LVI 5). Neben diesen Streitfällen steht gerade in der F E C U N D A R A T I S (um 1 0 2 3 ) , die stärker auf mündliche Überlieferung zurückgreift, der Fall einer freundschaftlichen Beziehung von Fuchs und Wolf: in ,De tribus ministris urso lupo vulpe' (I 1 1 7 4 - 1 1 8 9 ) wirken beide zusammen, um den Bären, weil er unfähig sei zu teilen, als Wahlkandidaten auszuschalten; die Teilungsfabel selbst kommt in der F E C U N D A R A T I S noch ein zweites Mal vor, doch spielt sie dort zwischen Wolf, Fuchs und Lerche (cf. I 1 3 1 1 - 1 3 2 7 ) . Die Spur des Bären, der unter Einwirkung der äsopischen Fabel wieder durch den Wolf bzw. den Löwen ersetzt worden ist, läßt sich nach Warnke von L E O A E G R O T A N S über die Version der Hirschherzfabel bei Froumund noch bis zu ,Fuchs und Bärin' im E S O P E (LXIX) verfolgen 1 ). Doch Marie de France, die allein noch die nach Auffassung der Folkloristen ursprünglichere Fassung von ,Fuchs und Bärin' bewahrt, hat andererseits in der Fabel vom kranken Löwen (LXVIII) und vom gegessenen Hirschherzen (LXX) selbst schon den Bären durch den Wolf bzw. Löwen ersetzt - ein Indiz für das Erlöschen jener älteren, nordeuropäischen Tradition, sofern diese überhaupt aus dieser dürftigen Spur schon im Mittelalter erschlossen werden kann. Wenn bei Nivardus dann die Wölfin anstelle der Bärin erscheint, zeigt sich mit dem Ende des Gegensatzes Bär—Fuchs zugleich an, daß die Herausbildung des Tierepos im 12. Jahrhundert aufs engste mit dem Antagonismus Fuchs-Wolf verknüpft gewesen sein muß. Im Hinblick auf das Verhältnis von Fuchs und Wolf ergibt auch die um vier Jahrhunderte jüngere Version von L E O A E G R O T A N S im E S O P E der Marie de France (LXVIII) noch kein anderes Bild: zwar ist die Anklage des Wolfes weiter ausgesponnen (er rät dem Löwen, den Fuchs als Exempel für seine ganze Sippe hängen zu lassen, v. 22 ff.), doch liegt auch dieser Drohung, die der Fuchs aus einem Versteck mitanhört, nicht mehr zugrunde als ein amtlicher, durch seine Stellung als Provost hinlänglich J ) Vgl. WARNKE p. 217FR. - Maries Version von ,De vulpe et ursa' (LXIX) enthält bezeichnenderweise aber kein Indiz für eine vorauszusetzende traditionelle Feindschaft zwischen Fuchs und Bär.

6

J a u ß , Tierepos

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motivierter Übereifer des Wolfes. Marie de France hat, wie schon erwähnt, die Beziehung von Fuchs und Wolf noch nicht eigens thematisiert; obwohl von den Fabeln, die Warnke auf die einheimische Volkstradition zurückführt, die meisten vom Fuchs oder Wolf erzählen, findet sich gerade in diesem Teil des E S O P E von einer Gegnerschaft zwischen den beiden keine Spur. Ihr Antagonismus zeigt sich in der Fabel erst nach dem E S O P E , im L I B E R P A R A B O L A R U M Odos von Ciringtonia und in den Fuchsfabeln (.Mischte Schualim) des Berachjah an, zu einer Zeit also, in der das Tierepos schon allgemein verbreitet war 1 ). Wenn aber von der ,rustica fabula' der Chronik Fredegars (7. Jahrhundert) bis zum E S O P E der Marie de France (um Ii80) keine Fabel, sei es aus der Romulustradition, sei es aus dem einheimischen Erzählgut der mündlichen Überlieferung, auf uns gekommen ist, die den Gegensatz von Fuchs und Wolf thematisiert, bzw. eine vorgängige, traditionsgebundene Feindschaft zwischen den beiden implizit voraussetzt, dürfte dies kaum dem reinen Zufall zuzuschreiben sein 2 ) und ist man berechtigt, darin ein Argument für die These zu sehen, daß der Antagonismus von Fuchs und Wolf im Mittelalter erst mit dem Tierepos des 12. Jahrhunderts ausgebildet worden ist. Das heißt natürlich nicht, daß dieser Antagonismus zuerst im europäischen Mittelalter ,erfunden' worden wäre; das Thema des Gegensatzes von List und Gewalt gehört zu den ältesten Motiven der Weltliteratur und ist u. a. in Indien von Schakal und Hyäne, in Nordeuropa von Fuchs und Bär verkörpert worden. Mit der Annahme, diese beiden Traditionen hätten sich im Folklore Mitteleuropas verschmolzen 3), bleibt indes der geschichtliche Ursprung des mittelalterlichen Tierepos nach wie vor im Dunklen. Der nordischen Tradition über einen bescheidenen stoffgeschichtlichen Anteil hinaus auch eine formale Einwirkung auf die epische Zyklisierung der mittelalterlichen Tiergeschichten zuzuschreiben, haben wir keinen Anlaß, da die erschlossene nordische ,Tiermärchenkette', wie schon G. Paris in seiner Widerlegung der These vom nordischen Ursprung des mittelalterlichen Renartzyklus zeigte, wenig zusammenhängend ist, wahrscheinlich gar nicht als Kette, sondern nur in einzelnen Schwänken über Skandinavien hinaus gelangte 4 ) und offenbar, wie die verschwindende Spur des ' ) V g l . W A R N K E p. 2 7 6 .

2

) „Zufällig, wenn auch immerhin auffallend, ist es, daß sich von einer Gegnerschaft zwischen Fuchs und Wolf, wie sie sich bei andern Fabeldichtern, wie bei Odo und Berachjah, zeigt, in diesem Teil der Fabelsammlung Alfreds wie bei Egbert keine Spur findet" (WARNKE p. 276f.). ®) Vgl. SUDRE p. 10-12; was die indische Tradition betrifft, wollte S. Gelbhaus (Über Stoffe altdeutscher Poesie, Berlin 1887, p. 32) annehmen, dem Schakal sei, da er von Natur aus nicht schlau sei, diese Rolle durch nicht-indische Fuchsfabeln beigelegt worden. Der Ursprung der Sage von Reinecke Fuchs liege in den biblischen und rabbinischen Literaturen, sie sei vermittelt über Nordfrankreich (Rabbi Meir - Raschi - Petrus Alfonsi) ins Abendland gelangt (vgl. p. 38-40). 4

) PARIS p. 3 89 f.

8j

Bären in der mittelalterlichen Tierdichtung zu zeigen scheint, von dem neuen, mit der Herausbildung des Tierepos verknüpften Antagonismus von Fuchs und Wolf verdrängt wurde. Von einer Vorgeschichte dieses Antagonismus aber wird für uns nur soviel sichtbar, wie uns die epische Überlieferung der äsopischen Fabel vom Hoftag des Löwen anzeigt, der wir uns nunmehr im besonderen zuwenden wollen. In der Überlieferung der nachkarolingischen Zeit begegnen uns beide Tierfiguren erst wieder im M E T R U M L E O N I S , einem epischen Tiergedicht aus dem 10. Jahrhundert, das dem Bischof Leo von Vercelli (geb. 965) zugeschrieben wird 1 ). Seine Verwandtschaft mit der E C B A S I S — der Verfasser kombiniert die äsopische Fabel vom Esel in der Löwenhaut mit dem Hoftag der Tiere und gibt seinem auf politische Vorgänge anspielenden Gedicht eine autobiographische Einleitung - hat W. Roß gezeigt 2 ). Das Verhältnis von Fuchs und Wolf spielt hierbei nur eine beiläufige Rolle. Der Fuchs schlägt, nachdem die Tiere den vermeintlichen Löwen ergriffen haben und einen Bürgen für ihn verlangen, den Wolf für diese Funktion vor:

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,Est lupus' inquit ,Gratus asello' Garrula vulpes; ,Frigora tutus Solis et iram Transiget omnem Qui sibi credit.' Hoc modo iuste, Iustius unde.

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Creditur illi Plauditur illi; Lingua dolosa Sed blateravit, Post quod aperta Causa probavit. Nam lupus illex Deierat ultro E t malefidus Qsnat asellum. (Spalte 3)

Zwar ergibt sich auch aus dieser Stelle kein Indiz für eine vorgängige Feindschaft, zumal dieser Teil der Erzählung das Bindeglied zwischen den vorgegebenen Fabeln darstellt und der Fuchs in der Ratsversammlung der Tiere gar nicht mehr in Erscheinung tritt. Doch ist es immerhin bemerkenswert, daß der Verfasser den Fuchs als denjenigen anführt, der den Wolf, wohl wissend, daß er der Versuchung nicht zu widerstehen vermag, als Bürgen vorschlägt und damit die Intrige einfädelt, die den Wolf ins Verderben führen wird 3 ). Der Listenreiche handelt mit klugem Vorbedacht, was ein Durchschauen des Wolfes voraussetzt, der sich hier aber unter *) M G H , PoeiaeV (2), 1939, p. 483-489; vgl. dazu H. Bloch, Neues Archiv 22, p. 1 2 3 , der dort den Inhalt des nur in Fragmenten erhaltenen Gedichtes zu rekonstruieren versucht hat. 2 ) Ross p. 276. ') A u f diese Rolle des Intriganten beziehen sich möglicherweise die verstümmelten Verse Sp. ι v. 49-52, zu denen Bloch auf die Fabel „Gallus et vulpes" verweist: Audet inaudax Ludere vulpes . .repara a . u . . . e galli. 6·

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einem anderen, durch die Hoftagsfabel nicht vorgegebenen Aspekt enthüllt: als gieriger Vielfraß. Damit sind Fuchs und Wolf in jene Rollen eingetreten, die die Verfasser der E C B A S I S und des Y S E N G R I M U S weiter ausgestalten werden, ohne daß der Grund für die Zusammengehörigkeit beider Rollen sogleich evident würde. Gerade diese beiden Rollen von Fuchs und Wolf müssen aber schon lange vor der uns sichtbaren Entwicklung, zu der Zeit, als Symphosius seine Rätsel sammelte und aufzeichnete (wohl im ersten Drittel des 6. Jahrhunderts) 1 ), als in einer für uns nicht mehr greifbaren Weise zusammengehörig empfunden worden sein, wie aus den beiden Rätseln vom Wolf und vom Fuchs erhellt, die in diesem Text 2 ) unmittelbar aufeinander folgen: X X X I I I Lupus Dentibus insanis ego sum, qui vinco bidentes, Sanguineas praedas quaerens victusque cruentos. Multa cum rabie vocem quoque tollere possum. X X X I I I I Vulpes Exiguum corpus, sed cor mihi corpore maius. Sum versuta dolis, arguto callida sensu, E t fera sum sapiens, sapiens fera si qua vocatur.

Die Beziehung zwischen Fuchs und Wolf, die sich im M E T R U M L E O N I S als episches Motiv sogleich wieder verliert, tritt in der E C B A S I S zum erstenmal bedeutsam hervor. Hier hat der Verfasser den Gegensatz der beiden Widersacher aus der Fabel vom kranken Löwen, die er in seinem Gedicht als sogenannte Innenfabel auf über 700 Verse ausbaute (v. 392-1097), auf die Generation der Enkel von Fuchs und Wolf ausgedehnt und dazu benutzt, die Innenfabel mit der Außenfabel (Flucht, Gefangenschaft und Befreiung des jungen Kalbes) kompositorisch zu verklammern. Die Frage, was dieser Gegensatz in der E C B A S I S eigentlich bedeutet und worauf er gegründet ist, läßt sich nicht einfach beantworten, da der Verfasser seine epische Fabel non simplo stamme (v. 68) ,gewoben' und per tropologiam zu verstehen aufgegeben hat. Die Lösung dieser Frage ist verquickt mit dem Gattungsproblem, mit welchem Recht man die E C B A S I S als „ältestes Tierepos des Mittelalters" ansehen bzw. in die Tradition des Epos stellen konnte. Die alte Auffassung, daß der Dichter der E C B A S I S mit der Innenfabel den entscheidenden Schritt zum Tierepos getan habe 3 ), stützt sich einerseits auf eine Reihe von neuen Details in der Hoftagsfabel, die sich in den späteren Tierepen, ohne daß sich eine direkte Filiation aufweisen ließe, als epische Motive wiederfinden: Fuchs und Wolf stehen im Verhältnis von Oheim 4 ) und Neffe, der Wolf läßt für den in absentia verurteilten Fuchs *) Datierung nach Schanz, Geschichte der römischen Literatur, I V 2, 1920, p. 75. 8 ) Symphosii scholastici Aenigmata (Anthologia Latina . . . ed. F. Buecheler et A . Riese I 1, Ed. II, 1894, p. 230). 8

) FOULET p . 3 7 1 , VORETZSCH, Preußische J b . 80, p. 4 5 6 .

*) Oheim, nicht ,Pate' oder .Gevatter', wie Voretzsch, Einl. zum Reinke de Vos p. X I I I meint, s. ed. Strecker, Wortverzeichnis unter patrinus.

»5 sogleich einen Galgen bauen, der Fuchs wird vom Parder, dem ihm treu ergebenen Freund, gewarnt, es ist bereits von der Pflicht der dreimaligen, doch hier noch unterlassenen Ladung die Rede 1 ). Mehr noch als diese inkohärenten Einzelzüge, die erst als Bestandteile der späteren Epen Bedeutung erlangen, fällt ins Gewicht, daß hier - wie Foulet hervorhebt zum erstenmal die Parallele zwischen dem Reich der Tiere und der feudalen Hierarchie thematisch ausgeführt und eine epische Welt entstanden sei 2 ). Bei näherem Zusehen läßt es sich indes nicht verkennen, daß die Analogie zwischen dem Reich der Tiere und der feudalen Hierarchie gleichsam im ersten Ansatz steckengeblieben ist. Die epische Welt des Hoftags wird zwar mit der Entbietung der Vasallen zu Beginn der Innenfabel angekündigt (v. 392 fr.), verschwindet aber im folgenden fast ganz hinter dem weit ausgesponnenen Spiel einer Ämter- und Rollenverteilung, bei der es dem Verfasser offensichtlich viel mehr um die Kontrastierung der per tropologiam zu verstehenden Tierfiguren mit teils herkömmlichen, teils ungewöhnlichen Obliegenheiten 3 ) geht als um die Darstellung einer ,curia regis' mit handlungstragenden Funktionen, wie sie die Tierfiguren später beim Hoftag des RdR innehaben werden. Schon hier, aber viel mehr noch bei der glanzvollen Tafel- und Festszene, sieht man sich immer wieder zu der Frage veranlaßt, ob der conventus silvicolarutn (v. 494, 610, 635) eigentlich eine weltliche oder eine geistliche Gemeinschaft (consortia fratrum, v. 400) 4 ) darstelle, so sehr überlagert die klösterliche Lebensform die traditionellen Charaktere der Tiere und ihre epische Rolle. Dafür bietet der 1

) von Voretzsch (ibid. p. X I I - X I I I ) zusammengestellt.

2

) FOULET P. 3 7 3 .

8

) Die Obliegenheiten entsprechen zum Teil der physischen Natur der Tiere (wie v. 6 4 1 - 6 4 3 : Ligna ferant ursi, comportent suta cameli, Nam latices luter, deducat aquaticafiber.Sic fiat, sic sit, horum natura reposcit), aber offenbar nicht ihrem sozialen Rang (der Bär als Holzträger, der Tiger als Brotbäcker, v. 644, der Elephant als Küchenmeister, v. 645 f.), wogegen der zum pomerarius und Kammersänger bestimmte Igel allein protestiert (v. 66off.). Vgl. dazu E . Voigt, Einl. zu seiner Ausgabe p. 4 2 - 4 3 , der dort die Nichtübereinstimmung zwischen der Ämterliste des Fuchses (v. 566-603) und ihrer Besetzung durch den Leoparden erörtert. Schon die erstere vermischt herkömmliche Ämter wie Truchseß (v. 568), Kämmerer (v. 571), mit Bedienstetenrollen wie Frisör (v. 567), Heizer (v. 5 7 3 - 5 7 5 ) ; dazu kommt, daß der Leopard herkömmliche Ämter in subalterne Funktionen aufteilt, wie z. B. das des Kämmerers in Kammerdiener, Bett- und Lichtwart, Kammersänger (vgl. v. 653 fr.). Beispiele, die auf,Bibelwitz' zurückzuführen sind, hat W. Ross p. 270 zusammengestellt. 4 ) Vgl. dazu v. 442 (a grege . . .fratrum), und weitere Belege für frater v. 1 3 3 , 229, 3 1 1 , 709, 748, 750, 1 1 9 7 ; soror v. 448, 966, 971. Vinay (Convivium 1949, p. 246fr.), der diese geistlichen Formen der Anrede unter Rekurs auf die Politik des Kompromisses zwischen Kirche und Staat seit Ludwig dem Frommen als nicht fiktiv und der gesellschaftlichen Wirklichkeit entsprechend ausgeben will, verkennt die gewollte Ambivalenz dieser Bezeichnungen.

86 Fuchs selbst das beste Beispiel, den man in der Gestalt der monastica vulpes (v. 423) geradezu dem Wolfsmönch der Außenfabel gegenüberstellen kann. D e r Fuchs wird in der Innenfabel der äsopischen Tradition gemäß als cauta vulpis (v. 402) eingeführt. Schon sein erstes Auftreten durchkreuzt die Erwartung, sein Fernbleiben v o m H o f e deute auf einen hochmütigen Vasallen. Als ihm der Parder begegnet, ist er offenbar schon zum H o f e unterwegs und v o m Wege fast erschöpft (v. 4 1 2 ) . Unter dem Eindruck der königlichen Verfügung gebärdet er sich sodann nicht anders, als sich ein Klosterbruder v o n besonderem E i f e r in der äußersten N o t verhalten würde. Sein weiterer Weg bis zum Eintritt in die Höhle des L ö w e n stellt sich in einer Reihe v o n Gebetsstationen dar (cf. v . 4 1 4 - 4 3 1 ) , die sein Mitbruder, der unermüdlich psalmierende Parder (v. 420, 769 ff.), mit ihm teilt. Selbst der gegen ihn aufgebrachte K ö n i g versagt ihm nicht den Segen, um den er ihn geneigten Hauptes an der Schwelle anfleht, worauf die socii (v. 439; cf. grex fratrum, v . 442) zwei ,Amen' sprechen (v. 43 8 f.). Danach ist es nicht mehr weiter überraschend, daß v o n der Schwanksituation mit den zerrissenen Schuhen, die wir aus L E O A E G R O T A N S kennen, nichts mehr übrig geblieben ist. Die Wanderung, v o n der der Fuchs berichtet, ist gleichbedeutend mit dem Pilgerweg nach Palästina (See Genezareth, v . 446; R o m , v . 4 5 4 ; Bordeaux, v . 455). Als Gewährsmann f ü r sein Medikament nennt er das Bläßhuhn, das im P H Y S I O L O G U S als F i g u r des „ h o m o fidelis" dient 1 ). D a bei dieser Erzählung so wenig wie bei den Gebeten und E r mahnungen des Fuchses der Gedanke an listige Verstellung a u f k o m m e n kann, macht der Dichter, nachdem er den Fuchs erst noch in einer zweiten Rede die durch sein vorgebliches Alter erhöhte Mühsal seines Weges schildern ließ (v. 4 7 2 - 4 8 1 ) , eigens mit einem Horazzitat ( A r s poetica, 1 5 1 - 1 5 2) auf den Lügencharakter dieser Rede aufmerksam: Atque ita mentitur, sie veris falsa remiscet, Primo ne medium, medio ne discrepet imum, Prompta sequi tortum potius, quam dicere verum, (v. 482-484) Durch diesen Rekurs auf die horazische Empfehlung, der epische Dichter solle Wahrheit und Dichtung vermischen, wird indes die Lügenrede des Fuchses sogleich wieder ästhetisch gerechtfertigt 2 ) und seine v o n der Tradition vorgezeichnete Rolle des listigen Betrügers vertuscht. D e n n die weitere Rolle der monastica vulpes erscheint danach keineswegs zweideutig; selbst die A r t und Weise, wie der Fuchs später f ü r seinen Gesellen, den Parder, die Ernennung zum Thronfolger bewerkstelligt und selbst am E n d e als L o h n das begehrte Lehen erlangt, wirkt nicht als doppeltes Spiel. Mit der vulpina astucia ( V . 787) hat in der E C B A S I S am E n d e nicht die Verschlagenheit unrechtmäßige Vorteile erlangt, sondern ist offenbar f ü r K ö n i g und Reich alles aufs beste gewendet worden: *) PHYSIOLOGUS Β , X X I I 8 - 1 1 : semper in uno eodemque loco se continet et res-

quiescit, id est in ecclesia catholica et apostolica, et ibi permanet usque ad finem. (. . .) et ibi habet quotidiam panem immortalitatis, potum uero pretiosum sanguinem Christi. 2 ) Ross ρ. 270 Anm. 10.

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,Vulpes sensata prudenter rexerat ista Meque meamque domum super omne revexit honestum' (v. 994f.) Zwar spricht hier der Löwe seine Worte zum Lobe des Fuchses schon cum vino incaluit (v. 993), doch wird dadurch ihr objektiver Sinn nicht beeinträchtigt, wie unter anderem aus dem Umstand erhellt, daß im ganzen Gedicht gegen die Partei des Fuchses und die Rechtmäßigkeit ihres Sieges nicht das mindeste Bedenken laut wird. Das nimmt insofern etwas wunder, als die zeitweilige Übergabe des königlichen Zepters an den Fuchs, der damit auf den Gipfel seiner Macht gelangt, bei der Versammlung einen Augenblick der Bestürzung auslöst (cf. v. 561-564). Gleichviel ob sich dahinter eine nicht mehr verständliche Anspielung auf ein politicum verbirgt, soviel ist sicher, daß in der Innenfabel von einem Mißbrauch der ihm zuteil gewordenen Macht durch den Fuchs nichts zu bemerken ist. Er tut sich vielmehr durch genaue Erfüllung der Etikette und, seiner Rolle als monastica vulpes gemäß, der Mönchsregel hervor und trägt damit, daß er sich gerne als praeceptor morum aufspielt, nicht wenig dazu bei, den Hoftag der Tiere in einen geistlichen Konvent zu verwandeln. Kaum hat er die ärztliche Behandlung des Löwen eingeleitet, beginnt er auch schon seine Strafpredigt über die Mißachtung des Rechtes der dreimaligen Ladung: Heu male fida cohors . . . (v. 514-537). Dem kranken König genehmigt er als Speise nur, was mönchische Sitte gestattet (v. 541); dem Gefolge wird ein dreitägiges Fasten auferlegt (v. 608). Seinen Bund mit dem Leoparden besiegelt er mit der frommen Wendung: Quantus amor celi, tanta est dilectio nostri (v. 726), das Geschick seines Feindes schildert er seinem Freunde mit den Worten Davids (v. 767) und kehrt mit dem Parder psalmensingend zum König zurück. Bei Tische gebietet er Stille für die Lesung der Vita Malchi durch das Einhorn (v. 788) und gibt durch sein Erheben das Zeichen zum gemeinsamen Gebet (v. 791). E r ist es schließlich auch, der dem doppelzüngigen Wolf die durchaus nicht ironisch zu verstehende, moralisierende Grabschrift setzt (v. 1079-1093). Die Frage, ob mit der Rolle der monastica vulpes auch komische Effekte beabsichtigt waren, läßt sich schwer beantworten. Wenn es richtig ist, vom Wolf, der in der E C B A S I S als Fresser, Räuber, Verleumder, aber nicht als Heuchler wie später im Y S E N G R I M U S erscheint, zu sagen: „er spielt nicht den Mönch, sondern ist einer, wenn auch ein schlechter" 1 ), müßte dies in noch höherem Maße für den Fuchs gelten, nur mit dem anderen Nachsatz: und sogar ein so vollkommener, daß sein Verhalten an das andere Extrem heranreicht. Dem Wolf fällt seine Rolle als Eremit sichtlich schwer, die darum konsequenterweise auch nur in seinem Lapsus mit dem Osterbraten gipfeln kann. Der Fuchs spielt seine Rolle als monastica vulpes so vollendet, daß sein mönchischer Eifer 2 ) am Ende seiner letzten Ermahnung den ohne Waffengewalt errungenen Sieg seinen caris confratribus ') Ross ρ. 269. s ) bzw. der seines Nachfahren in der Außenfabel, der sich darin nicht von ihm unterscheidet.

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(ν. 1172, d. h. dem zur Befreiung ausgezogenen grex) geradezu als einen Akt der erwählenden Gnade erscheinen lassen kann: Credite, consocii, me visit gratia Christi (ν. 1195). In soviel Glaubenseifer liegt möglicherweise eine Quelle der Komik, an der zumindest an einer Stelle nicht zu zweifeln ist. Die Worte, mit denen der Fuchs die Mühsal seiner Wanderung in so hohem Alter hyperbolisch schildert, verfehlen ihre Wirkung nicht: Flebilis ista feris placuit sententia vulpis, Conclamant omnes: ,veneretur olimpica vulpes!' (v. 485 f.) und lösen eine ebenso hyperbolische Geste, den Kniefall aller aus (v. 487), der in seiner Unangemessenheit die Absicht der Karikatur sichtbar werden läßt. Wenn der Zweck der E C B A S I S „die Maskerade selber, der komische Kontrast zwischen der Alltagswirklichkeit des Klosterlebens und dem epischen Spiel der Tiere war" 1 ), schließt das nicht aus, daß Fuchs und Wolf nicht allein bestimmte Mönche darstellen, sondern zugleich je eine bestimmte Art von Mönchtum spielen, wobei das Füchsische und das Wölfische ihrer Natur auch in ihren Mönchsrollen noch sichtbar bleibt. Wollte man indes ihrer beider Rolle dahingehend charakterisieren, daß in Wolf und Fuchs der Gegensatz von Laxheit und Übereifer in der Erfüllung der Mönchsregel karikiert werde, so würde sich gleich zeigen, daß sie in ihren Mönchsrollen vom Dichter gar nicht ausdrücklich einander entgegengestellt sind und daß ihre Gegnerschaft damit noch nicht zureichend erklärt werden kann. Der Wolfsmönch begegnet nur in der Außenfabel, und zwar in einer kuriosen Kreuzung von Eremit und Feudalherr, eine Doppelrolle, die sich episch nicht ganz entwirren läßt, wahrscheinlich, weil sie nur auf komische Effekte angelegt ist. Warum und wie der Wolf, der als forstrarius eingeführt wird (v. 97), zu den Mönchsgelübden kam, bleibt überhaupt offen; erwähnt ist lediglich, daß er sich seit sieben Jahren fleischlicher Nahrung enthalten habe2). Der häufigen Vertauschung von höhlenbewohnendem Eremiten und burgbesitzendem Feudalherrn3) entspricht die zugleich geistliche und weltliche Funktion seines Anhangs: Otter und Igel treten bald als Bedienstete (missi, v. 164), die ihm die nach der Mönchsregel gestattete Nahrung und Zukost besorgen (v. 185 f.) und nach v. 386 selbst seit sieben Jahren durch ein Gelübde gebunden sind, bald als wenig kriegsgewohnte Vasallen auf 4 ), denen er für ihre Dienste Burg und Fluß vermacht (v. 189), wobei der Igel in komischer Ämterhäufung mit Funktionen überladen 2

Ross p. 270. ) ν. 1 8 2 - 1 8 6 , 2 9 8 - 3 0 1 ; im Widerspruch zu v. 1 1 2

frustror nectare carnis). 8

(Tertius est mensis, quod

) Die Ausdrücke für Burg und Höhle treten häufig füreinander ein, vgl. 192

(castellat in antris) mit 200 (fossa, rupes)\ v. 368 (Inststunt antro) mit 370 (solidum turbare bitumen)·, 1006 (specus) mit 1012 (Castrum); 1132 (Castrum) mit 1133 (antro). 4

) Convocat armigeros pugnandi iure remotos, Sperat belligeros solo torpore peritos (v. 354-355).

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wird (v. 263). Die eigentliche Wolfsnatur kommt dabei in der lange aufgehaltenen und beim Anblick des Kälbchens nicht mehr zu zügelnden Freßlust, gepaart mit Geiz als Gastgeber (v. 140 ff.), zum Vorschein. Gerade dieses Motiv wird später Magister Nivardus zu seiner grotesken Satire vom Wolf als Klosterbruder ausbauen. Die Feindschaft von Fuchs und Wolf in der E C B A S I S bleibt indes von ihrer beider Mönchsrolle, obwohl diese ihr episches Handeln völlig überlagert, so gut wie unberührt und spielt ganz auf der Ebene der epischen Fabel, mit der der Verfasser die Hoftagsgeschichte mit der Rahmenhandlung zu verklammem sucht. Wenn diese Verklammerung äußerlich und lückenhaft geblieben ist, liegt dies mit daran, daß die Geschichte der Feindschaft zwischen den beiden Widersachern, die den Zusammenhalt zwischen Innen- und Außenfabel bewerkstelligen soll, noch nicht episch aufgefaßt ist. Der Anfang der Feindschaft verliert sich im Dunkel, denn aus der Innenfabel wird nicht ersichtlich, worauf sie letzten Endes zurückgeht, warum der Wolf sogleich als sedulus hostis (v. 405) auftritt und soviel Eifer entfaltet, um dem Fuchs ein schmähliches Ende am Galgen zu bereiten. Da ihr Antagonismus noch nicht notwendig durch einen epischen Anlaß oder durch einen tieferen Gegensatz ihres Wesens bedingt ist, läuft er auch hier wieder, wie schon in L E O A E G R O T A N S , auf verschiedene Weisen des Verhaltens am Hofe hinaus, aus denen der Fuchs im ersten Epitaph auf den Wolf (v. 1079-1093) die Moral ziehen kann. Der Dichter hat offensichtlich den Gegensatz von Fuchs und Wolf als gegeben, bzw. durch die äsopische Fabel hinreichend erklärt angesehen und die Möglichkeit, die sich später Pierre de Saint-Cloud zunutze machte, ihre Feindschaft von ihrer Entstehung aus zu schildern und ihr damit ein episches Profil zu geben, noch nicht erkannt. Auch hat er offenbar keinen Wert darauf gelegt, die Geschichte von Fuchs und Wolf in der E C B A S I S lückenlos zu motivieren. Es wird ebensowenig berichtet, warum der Wolf vor sieben Jahren die Mönchsgelübde auf sich nahm, wie auch, auf welche Weise der Fuchs zu der zur Belagerung ausziehenden Herde stoßen konnte. Statt dessen ist sein vom Wolf als einzig bedrohliche Gefahr befürchtetes Auftreten in wirkungsvoller Weise als ,coup de theatre' gestaltet: er erscheint vor dem Otter unmittelbar ,ex fabula', nachdem der Wolf soeben seine Erzählung beendet hat (v. 1104). Auch der Ausgang, den ihre Geschichte in der E C B A S I S nimmt, spielt nicht allein auf der Ebene der epischen Fabel. Denn nicht mehr als Räuber und iniustus, dessen episches Schicksal der zweite Grabspruch besiegelt (v. 1166-1170), sondern als domesticus hostis (v. 1178) soll der Wolf in der Mahnrede des Fuchses den Mitbrüdern als warnendes Beispiel dienen. Hier ist nach W. Roß mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sich hinter den sacrilegas antri (v. 1202) die Geschichte einer sittlichen Verfehlung verbirgt und daß wohl auch noch eine Rivalität innerhalb des Klosters in die Feindschaft zwischen Fuchs und Wolf hineinspielt 1 ). Damit Ross ρ. 272-273.

9° wäre ihr epischer Sinn, der Streit um das Lehen der Wolfsburg, nur eine unter mehreren Möglichkeiten, die Fabel der E C B A S I S zu deuten. Das führt uns zu der Frage zurück, ob die E C B A S I S überhaupt in die Tradition der epischen Kunstform zu stellen ist und was sie vom späteren Tierepos unterscheidet. Der Prolog zur E C B A S I S ist für diese Frage mit heranzuziehen, weil der Verfasser hier selbst Gegenstand und Form seines Werkes erörtert und dabei verschiedene Möglichkeiten zu dichten ausschließt. Die Wendung, mit der er sein eigenes Vorhaben kennzeichnet: Hec ego dissolvam, raram si pono fabellam, Confiteor culpam: mendosam profero cartam.

(v. 39-40)

setzt seine Absage an den hohen Stil voraus (v. 20-3 3) x ) und betont die Distanz, die sein Lügenmärchen von den ,res gestae' der Geschichtsschreiber trennt ( V . 34-38). Demzufolge fehlt der E C B A S I S zum wirklichen Epos sowohl ein erhabener Gegenstand, der einen Anruf der Musen rechtfertigte (cf. v. 27 fr.) - die besondere Inspiration des Verfassers ist schon durch den autobiographischen Anlaß, seine beschauliche Rückwendung zu den Tagen seiner Knabenzeit, zur Genüge erklärt als auch der Anspruch auf geschichtliche Wahrheit. Das brauchte an sich nicht auszuschließen, daß sein Werk gleichwohl in einer Beziehung zu geschichtlichen Begebenheiten stehen kann. So will G. Vinay geltend machen, die Geschichte (rara fabella), die vorgebracht wird, stehe als mendosa carta zwar in ausdrücklichem Gegensatz zu den certa acta der Geschichtsschreibung, sei aber nur ihrer Form, nicht ihrem Inhalt nach eine Lügengeschichte, denn sie enthalte per tropologiam auch einen wahren geschichtlich-politischen Sinn 2 ). Ob sich per tropologiam nur auf eine verborgene politische Tendenz des Gedichtes beziehen und damit nichts anderes gemeint sein kann als eine verschleierte Stellungnahme zu den Kämpfen zwischen der deutschen und der französischen Partei in Lothringen, ist damit jedoch noch nicht ausgemacht. Denn der Schlüssel, den Vinay für das tropologische Rätsel gefunden zu haben glaubt (lupus = Vertreter der lothringischen Autonomie, vitellus = Autor = Parteigänger Heinrichs I., leo = Vertreter des karolingischen Hauses, das in der Dekadenz seiner Macht = Abtretung des Thrones an den Parder dargestellt sei), läßt uns am entscheidenden Punkt, der Rolle, die der Fuchs zwischen den genannten Parteien spielen soll, im Stich: daß Der Vers: Territus hisce minis meditor desistere ceptis (33) kann sich wohl nur auf die Erwägung beziehen, daß der hohe Stil seinem Vorhaben nicht angemessen ist (und nicht darauf, daß er einen bereits ausgearbeiteten Entwurf liegen ließ, wie Voigt, Einl. zu seiner Ausgabe p. 24, ohne Rücksicht auf die präsentische Form ,meditor' konstruiert). a ) „Apparentemente il discorso e chiaro: invece de GESTA KAROLI egli scriverä dei GESTA LUPI ET VULPIS. In realtä il ragionamento dev'essere un altro: nel titolo egli c'informa che la ,fabella' va interpretata ,per tropologiam', cioe in senso figurato. II ravvicinarla nel prologo ai tradizionali ,gesta' non puö quindi non essere un richiamo al vero che si nasconde sotto il velame allegorico . . . " (op. cit. p. 242).

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der Fuchs zu der Herde stößt, die zur Befreiung des Kalbes auszieht und am Ende als eigentlicher Sieger die Wolfsburg zurückerhält, läßt sich mit diesem Schlüssel so wenig erklären wie die Beteiligung des Fuchses bei der Frage der Thronfolge. Auch wenn uns der richtige Schlüssel für die tropologische Deutung der E C B A S I S vorenthalten bleibt, läßt sich für das Gattungsproblem aus dem Prolog doch soviel entnehmen: der Verfasser beansprucht selbst gerade n i c h t , ein Werk in der Art und im hohen Stil des Epos dichten zu wollen, und betont, daß seine Geschichte auch per tropologiam zu verstehen, ihr Sinn also nicht einfach mit der epischen Fabel gegeben sei. Ob die E C B A S I S als ältestes Tierepos des M A gelten kann, läßt sich darum nicht einfach auf Grund jener Bestandteile der Innenfabel entscheiden, für die sich Parallelen aus dem klassischen oder mittelalterlichen Epos beibringen ließen. Solche Bestandteile fehlen auch in der Rahmenerzählung der ECBASIS nicht: das gefangene Kalb appelliert an die moderaminapacts (Ν. 1 3 2 ) 1 ) , der Wolf hat einen Traum, der den fatalen Ausgang seiner Unternehmung vorwegnimmt (v. 227-247), die Befreiung der Gefangenen wird in der Art eines Kriegszugs begonnen (v. 347fr.), man schickt sich zu einer Belagerung an und der Fuchs nimmt als königlicher Vasall am Ende sein Lehen wieder in Besitz. Aus alledem, nimmt man die oben erwähnten epischen Motive der Innenfabel noch dazu, ließe sich zwar die Fabel eines Heldenepos zusammensetzen. Dem Verfasser kam es aber offenbar gar nicht darauf an, die epischen Motive seiner Fabel zu einer geschlossenen, in sich selbst bedeutsamen Handlungsentwicklung auszubauen, bzw. das äußere Geschehen mit dem Charakter der Tierfiguren in Einklang zu bringen. Gerade hier wird deutlich, was die E C B A S I S im besonderen vom späteren Tierepos unterscheidet: daß hier die Tiere noch nicht als epische, d. h. durch ihr Handeln eindeutig bestimmte Personen, sondern als mehrdeutige Figuren erscheinen, die in ihrer Rolle noch mehr und anderes vorstellen, als die Handlung verrät, und zudem in ihrer Erscheinung noch divergierende, ihrer verschiedenen Herkunft (Äsop, Isidor, Physiologus) entsprechende Züge bewahren. Insofern konnte auch der Zusammenhang zwischen Außen- und Innenfabel in der E C B A S I S äußerlich und lückenhaft bleiben: das epische Geschehen bildet hier letztlich nur den Rahmen, in dem die Tiere auftreten und ihre ,figura' darstellen können. Aus alledem erhellt zur Genüge, daß die E C B A S I S der Absicht ihres Verfassers, ihrem komplexen Aufbau und der Eigentümlichkeit ihrer Tierfiguren zufolge schwerlich in die Tradition des Epos zu stellen, noch einfach mit der erst 200 Jahre später ausgebildeten Form des Tierepos gleichzusetzen ist. Die besondere Struktur des Werkes, vor allem aber die Rollen der Tierfiguren und die Indizien für eine Rezitation 2 ), sprechen eher für *) Die Stelle ist kontrovers, v g l . V i n a y a . a . O . p. 2 3 7 , doch w i r d das epische M o t i v der Waffenruhe dadurch nicht berührt. 2 ) Siehe Ross p. 2 8 0 : „ D a ß sie rezitiert wurde, geht nicht nur aus v. 4 2 (Si recitas totam, panis mercabere tortam) hervor, sondern auch aus den sehr hau-

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die Hypothese von W . Roß, daß die ECBASIS aus einem besonderen Anlaß (Osterunterhaltung) entstanden, als eine Art von Spiel, bzw. als Schuldeklamation mit mimischer Beihilfe gedacht war und dem von Froumund beschriebenen Mummenschanz nahestand 1 ). Für eine ausführliche Interpretation ergäbe sich hier die Aufgabe, die einzelnen Rollen der Tierfiguren nach ihren traditionellen Charakteren typologisch zu deuten. Ein Beispiel, das zugleich für die geringe Einschätzung des Heldenepos in der ECBASIS kennzeichnend ist, bietet der Igel, der hier nicht nur als ,miles gloriosus' zur Karikatur des epischen Helden wird 2 ), sondern auch unter allen Tierfiguren ganz allein als kläglicher Sänger von epischen Liedern hervortritt: Armiger ericius, clavata sindone tectus, Nec studio cithare nec Muse deditus ull§, Fit capitale lupi, citharizans fortia belli, (v. 206-208)

Sein Porträt wird aber erst vollständig, wenn man berücksichtigt, daß sein Amt der Obstbeschaffung auf den PHYSIOLOGUS zurückweist: dort wirft der Igel (— figura diaboli) Weintrauben (= fructus tuos spirituales) vom Stock auf den Boden, wälzt sich darüber, spießt sie auf und bringt sie seinen Jungen zum Fraß 3 ). Hinter der Karikatur des bramarbasierenden und am Ende zum Bratspieß verdammten Helden steckt, für den mittelalterlichen Zuschauer noch eher spürbar, die Figur des (für diesmal) geprellten Teufels. Die Masken von Fuchs und Wolf lassen sich indes auch durch einen Rekurs auf die Physiologustradition nicht lüften. Solange wir nicht genau wissen, was sich hinter der monastica vulpes und dem domesthus bostis noch verbirgt, muß uns auch der Gegensatz der beiden Antagonisten abstrakt und unbestimmt erscheinen. Und selbst wenn es gelänge, den Doppelsinn des Ausgangs der ECBASIS auszumachen, würden Fuchs und Wolf darum noch nicht zu epischen Helden und ihr Verhältnis nicht zur Feindschaft in der Art von Roland und Ganelon. Nicht aus dem Grunde, weil erst wie Voretzsch meint - „die Namengebung aus diesen Typen wahrhaft epische Persönlichkeiten macht.. ., welche vor uns stehen wie im Menschenepos Roland, Ganelon, Olivier oder Naimes" 4 ). Sondern weil sie als Rollen mit typologischer Bedeutung und nicht als handelnde Personen erscheinen, deren Wesen sich in ihrem Verhalten unmittelbar manifestieren müßte und nur in einer Geschichte mit Anfang und Ende darstellen könnte. Insofern ist es wohl kein Zufall, daß die ersten Tierepen, der YSENGRIMUS des Magister Nivardus und das Werk des Pierre de Saint-Cloud, erst zu einem Zeitpunkt entstanden, an dem das Heldenepos schon zu seiner größten Blüte gelangt war. Das würde bedeuten, daß das ,Tiermärchen' nicht, figen Wechselreden ohne Einführung der Sprechenden, die nur am Rande vermerkt sind." ») *) ») 4)

ibid. wie Ross zeigt, auf dessen Porträt dieser Figur wir hier verweisen (p. 270 f.). PHYSIOLOGUS Β, X I I I (Herinacius). VORETZSCH, Preuß. J b . 80, p. 460.

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wie Voretzsch meint, von Haus aus auf das Epos angelegt ist 1 ), sondern die epische Form im 12. Jahrhundert ebenso selbstverständlich der dafür am geeignetsten erscheinenden Gattung entlehnte, wie die Verfasser früherer Jahrhunderte für ihre Versionen der Hoftagsfabel auf die ihnen naheliegendste literarische Form zurückgegriffen haben. Inwieweit die Tierdichtung die Kunstform des Epos vertrug und inwiefern diese selbst wieder durch ihre Transponierung in das Reich König Nobels verändert wurde, wird sich zeigen, wenn wir uns nun dem ersten großen Tierepos des 12. Jahrhunderts zuwenden. C. Der Gegensatz des Toren und des Weisen und die Fortuna-Thematik im YSENGRIMUS des Magister Nivardus In dem um 1150 entstandenen Werk eines Magister Nivardus 2 ) ist zum erstenmal in der erhaltenen Literatur eine Vielzahl von Tierschwänken durch eine epische Fabel in einen geschlossenen Erzählungszusammenhang gebracht worden. Da aus der antiken Tradition nur Fabelsammlung und Epenparodie ( B A T R A C H O M Y O M A C H I A ) , aus der orientalischen nur die Rahmenerzählung als größere Formen der Tierdichtung bekannt sind, darf das Tierepos des Magister Nivardus als spezifisch mittelalterliche Hervorbringung gelten. Dem widerspricht nur scheinbar, daß der flämische Dichter für sein umfängliches, 6674 Verse zählendes Werk ein klassisches Vorbild der epischen Kunstform, den durch die A E N E I S nahegelegten ,ordo artificialis' benutzt hat 3 ). Denn so vollendet er auch die Technik der nach*) Voretzsch hat seine Auffassung, daß das Tiermärchen nicht allein durch seine Stoffe, sondern auch als Gattung die eigentliche Vorstufe zum Tierepos bilde, weil sich hier die entscheidende Phase der Entwicklung, nämlich die Individualisierung der Helden durch Namengebung vollziehe, zu der die lateinische (geistliche) Tierdichtung vor dem Y S E N G R I M Ü S nicht gelangt sei, zuerst in seiner Abhandlung Jakob Grimms Deutsche Tiersage und die moderne Forschung (1895) niedergelegt und dann in seiner Besprechung von W I L L E M S (ZRPh X X , bes. p. 420-421) nochmals knapper zusammengefaßt. E r wendet sich damit im besonderen gegen eine These von W., der den Ursprung der Namengebung und Individualisierung in den Klöstern, d. h. in Dramatisierungen äsopischer Fabeln weniger suchte als (von Froumund her) postulierte, denn er kam nicht auf die Idee, seine These auf die ECBASIS anzuwenden. a ) Zur Datierung vgl. V A N M I E R L O p. 548, der dort gegen W I L L E M S (nicht vor I I 5 1 ) wieder für eine frühere Datierung wie Voigt (1146-1148) eintritt; das V . B u c h müsse noch zu Lebzeiten Anselms (Bischof von 1146 bis 1149), das VII. Buch vor 1150 ( = vor Ende des zweiten Kreuzzuges) entstanden sein, weshalb er 1149 vorschlägt. ®) „Naturalis ordo est si quis narret rem ordine quo gesta est; artificialis ordo est si quis non incipit a principio rei gestae, sed a medio, ut Vergilius in Aeneide quaedam in futuro dicenda anticipat et quaedam in praesenti dicenda in posterum differt" (Scholia Vindobonensia ad Horatii artem poeticam, bei Faral, Les Arts poetiques du Xlle et du Xllle siede, Paris 1923, p. 56 s.).

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geholten Vorgeschichte, der allmählichen. Exposition und des epischen Vorgriffs beherrscht, ist es doch sehr die Frage, ob allein dadurch die epische Integration heterogener Stoffe (äsopische Fabeln, lateinische Schwanke, einheimische, bis dahin nur mündlich überlieferte Tiergeschichten) in eine einheitliche Konzeption gelungen wäre. Die bisherige Forschung (Voigt, Willems, van Mierlo) hat auf die formalen epischen Kunstgriffe, deren sich Nivardus bediente, zur Genüge hingewiesen und danach den epischen Aufbau des Werkes in weitgehender Übereinstimmung erläutert1). Der Eingang ,medias-in-res' in Verbindung mit der nachgeholten Vorgeschichte, die der Eber der Hofgesellschaft vorliest, ergibt eine Anordnung von zwölf Einzelschwänken, derzufolge mit der Schinkenteilung der einzige Triumph des Wolfes an den Anfang der Geschichte rückt und sich sein Schicksal von Schwank zu Schwank in einer abfallenden Bewegung von einer gewissen Stetigkeit und Steigerung bis zum Ende darstellt2). Zugleich entsteht damit für den Leser, der die Vorgeschichte (Wallfahrt der Tiere, Fuchs und Hahn, der Wolf im Kloster) erst durch das Gedicht Brunos des Bären erfährt, eine besondere, noch weit über die Mitte hinausreichende Spannung, wie sich die zahlreichen Andeutungen der Exposition wohl auflösen werden. Stellt dieses Verfahren, die für das Verständnis unentbehrlichen Voraussetzungen erst nachträglich zu bringen, hohe Forderungen an die Aufmerksamkeit des Lesers3) *) Voigt, Einl. zum Y S p. L V I I - L X ; W I L L E M S p. 153-156; V A N M I E R L O p. 490 - 492. Divergenzen bestehen vornehmlich bei der Einteilung des Werkes in Schwanke (12, 15, 24 oder 25) und Bücher (Mone: 4, Voigt: 7). Da Nivardus selbst wahrscheinlich gar keine Abschnitte gemacht hat, lassen wir Voigts Versuch, das Epos in 5 dreiteilige Hauptabschnitte zu gliedern (vgl. p. LVIII-LX), außer acht, zumal diese Gliederung auf einer inneren Chronologie beruht, die für das Verständnis des Gedichtes ohne weitere Bewandtnis ist, und halten uns an die Unterteilung in 12 Schwanke, die Willems, der in der Zwölfzahl eine Nachahmung der Bucheinteilung des antiken Epos vermutet hat (cf. p. 154-156), und nach ihm van Mierlo (p. 490-492) benutzte: 1. Schinkenteilung (I 1-528), 2. Fischfang (I 528-II 158), 3. Feldmessung (II 159-688), 4. Hoftag (III 1-1198), 5. Wallfahrt (IV 1-810), 6. Fuchs und Hahn (IV 811-V 316), 7. Wolf im Kloster (einschließlich Fuchs und Wölfin) (V 317-1128); 8. Wolf und Hengst (V 1129 bis 1322), 9. Wolf und Widder (VI 1-132), 10. Beuteteilung (VI 133-348), 1 1 . Schwur auf das Wolfseisen (VI 349-550), 12. Tod des Wolfes (VII 1-708). Die verdienstliche neue Ubersetzung von A. Schönfelder, die uns für das Verständnis des schwierigen Textes gute Dienste leistete, teilt das Werk wieder in 15 Episoden ein (Ysengrimus: dasflämischeTierepos aus dem Lateinischen verdeutscht. Niederdeutsche Studien, hrsg. von W. Förster, Bd. 3, Münster/Köln: Böhlau, 1955). 2 ) Vgl. dazu Voigt, Einl. zum Y S p. LX. 8 ) Schon die erste Rede des Ysengrimus enthält Anspielungen auf zeitlich frühere, im Text erst später erscheinende Episoden (Wallfahrt, Fuchs in der Wolfshöhle), deren Nuancen die Kenntnis dieser Episoden und damit im Grunde eine zweite Lektüre voraussetzen (vgl. I 39, 48, 51 mit i44f.). Am meisten versteckt bleiben die Anspielungen auf Ysengrimus' Rolle im Kloster. Zunächst scheint sich die Rede: Patrue, quis prqsul, quis sumere rennuit abbas? (I 201) noch

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hierin bekundet sich die literarische, eher für die Lektüre als für den mündlichen Vortrag bestimmte Kon2eption des Y S E N G R I M U S - , so ist andererseits durch die Technik des epischen Vorgriffs 1 ) über den Ausgang der Einzelabenteuer und des Ganzen kein Zweifel gelassen: der Aufhellung bedürftig ist nur das in der Erzählung weiter Zurückliegende, schon Vergangene - über dem Bevorstehenden lastet von Anfang an der unweigerliche Untergang des Wolfes. Wenn es Nivardus auf diese Weise gelungen ist, ein Höchstmaß an Verklammerung in der Reihung der Episoden zu erreichen, so bewahren diese trotzdem noch so viel von ihrem Eigenwesen als Schwanke, daß von einer einheitlichen und stetigen Handlungsentwicklung wie in der Chanson de geste oder im Roman Chrestiens von Troyes nicht die Rede sein kann. Der Schwank im Tierepos hat im Unterschied zu der epischen Episode, die abgelöst vom Zusammenhang des Ganzen ihren Sinn verliert, seinen unmittelbaren, dem ,faire rire' entspringenden Sinn immer schon in sich selbst und kann im Erzählzusammenhang durch ein übergreifendes Thema nur eine zusätzliche, weiterführende oder auch vertiefende Bedeutung erlangen. Das Verfahren der nachgeholten Vorgeschichte erhöht zwar die Spannung auf noch nicht erzählte, aber schon erwartete Schwanksituationen, vermag aber für sich allein noch keinen inneren Zusammenhalt zwischen den Schwänken zu stiften. Der Leser, der auf dem Höhepunkt dieser Spannung, vor der Erzählung Brunos, mit dem König begierig ist zu erfahren, wie es kam, daß der Wolf in das Kloster ein- und wieder austrat, daß er Gast der Wallfahrer gewesen ist, warum er dabei sein Alter verheimlicht hat und wie es zuging, daß der Hahn einmal sogar den Fuchs täuschen konnte (III 1185-1190), wird zwar zu jeder seiner Fragen eine Geschichte hören, aber damit noch keine Aufklärung über den Zusammenhang der Schwänke untereinander erhalten. Gewiß sind auch außer der Einschachtelung des Anfangs (Episode 5, 6, 7) einzelne Schwänke äußerlich miteinander verknüpft: die Rache des Ysengrimus (1), die Vergeltung des Reinardus (2) und sein vorgeblicher Besänftigungsversuch (3) motivieren die Abfolge der zuerst erzählten Schwänke 2 ); die Suche nach einem neuen Fell ergibt den Anlaß für die Einfädelung der Schwänke nach der Schindung (8, 9, 11). Doch aus der letztgenannten Motivierung fällt die Beuteteilung (10) heraus, in der sich der Verfasser zudem in dem einen Punkt wiederholt, daß das Fell des Wolfes durch den Prankenschlag des Löwen noch einmal von oben bis unten zerrissen wird, und in der Vorgar nicht auf Ysengrimus direkt zu beziehen. Daß sie, wie auch die herausfordernde Frage: Quid cunctamur ? earn, scis uesci carne suilla ? (I 225), auf seine Mönchs-

rolle zielen, ergibt sich erst aus I 425, wo der Erzähler die Klosterepisode erwähnt. Von nun an gibt es keine Episode mehr, in der Ysengrimus nicht mehrfach im Hinblick auf diese Rolle angesprochen wird (cf. I 554, 634, 858, 967, 1029 u. a. m.), obwohl erst das V. Buch den ganzen Zusammenhang darstellt. *) Die epischen Vorgriffe hat Voigt, Einl. in den Y S p. L I V , zusammengestellt. s

) V g l . VAN MIERLO p. 490.

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geschichte nimmt der Schwank von Fuchs und Hahn (6) dadurch eine Sonderstellung ein, daß hier der Fuchs, sonst immer nur Gegenspieler des Wolfes, einmal mit einer eigenen Geschichte auftritt1). Voigt sucht diese Ausnahme mit einem Hinweis auf die Niederlage, die Vergil auch dem Aeneas einmal zuteil werden ließ, zu rechtfertigen2); unter die Hauptperspektive ,Not und Tod des Ysengrimus'3) läßt sich dieser Schwank indes damit nicht unterordnen. So planmäßig durchdacht auch die Anlage des Ganzen erscheint, das Material der Komposition widersetzt sich offensichtlich einer Verschmelzung, die Einzelschwänke „wachsen nicht organisch auseinander hervor"4), sie behalten innerhalb der Erzählung den Charakter einer immer weiteren Fortsetzung und sind darum von Voigt und van Mierlo am Ende formal auf den Nenner einer „Art von Wolfsbiographie" gebracht worden6). Doch liefe der Plan des YSENGRIMUS in der Tat nur auf eine Art Wolfs -Vita hinaus, die am Ende nur als Rahmen für eine vornehmlich satirische Intention des Nivardus diente ? Oder entspräche Isengrines not, wie Voretzsch das Werk in Analogie zum Nibelungenepos nennen wollte, als Titel der letzten Absicht seines Verfassers ? Wäre in diesem heroischen Titel beschlossen, was dem Werk des Magister Nivardus seinen eigentlichen Charakter gibt und es zu einem „wahrhaften Epos" 6 ) macht? Auch mit der Kennzeichnung „heroisch-komische Erzählung"7) und dem Hinweis, daß die Wahl des Distichons zur Darstellungsform dem Gedicht den angemessenen satirisch-elegischen Ton verleihe8), ist die Differenz des YSENGRIMUS zum Heldenepos noch nicht hinreichend bestimmt. Denn seine Komik resultiert allein aus den Redesituationen des Schwanke und nicht aus einer Verkehrung heroisch-ritterlichen Verhaltens. Daß „der Hauptheld mit der Notwendigkeit des unentrinnbaren Verhängnisses immer unterliegen und dennoch in seiner Einfaltigkeit verharrend in die nächste Falle gehen wird", verbürgt nicht notwendig „eine sich immer gleichbleibende Heiterkeit"9) und wäre eher dazu angetan, Mitgefühl für ihn zu wecken, würden sich die Stationen seines Untergangs nicht als ebenso viele Schwanksituationen darstellen, die ihn auf Grund seiner entlarvten Prätentionen als Fischer, Feldmesser, Arzt usw. jedesmal unter einem anderen Aspekt zur komischen Figur des Geprellten werden WILLEMS (p. 144) sieht darin Mängel der Komposition. ' ) Der Dichter habe „den im Rumpf der Dichtung immer siegreichen auch einmal, wie Vergil den Aeneas in II, als kläglich unterliegend und sich durch schwere Erfahrungen zum Hauptwerk vorbereitend" vorführen wollen (EINL. zum Y S p. L X ) . ») Voigt, ibid. p. L V I I I . *) V A N M I E R L O P . 4 9 2 . 5

) Voigt, ibid. p. L X ; VAN MIERLO p. 492, 523.

6)

VORETZSCH, E i n l . z u m R F p. X V I I I .

') VAN MIERLO P. 4 9 4 . 8

) Voigt, Einl. in den Y S p. X X X V I I I . ) Voigt, ibid. p. L V I f .

9

97 lassen. Ysengrimus ist weder ein Held noch die Parodie eines Helden. Seine Auseinandersetzung mit Reinardus und mit den anderen Tieren spielt sich im Y S E N G R I M U S noch nicht, wie später im RdR, vor dem Hintergrund einer feudalen Welt ab 1 ), in der Begegnung mit seinen Feinden spiegelt sich so gut wie nichts von dem Geiste ritterlich-heldischen Kampfes 2 ), und wenn sich Ansätze von höfischer Sprechweise gelegentlich finden, handelt es sich lediglich um Argumentationen mit ironischem Sinn 3 ). Sowohl Ysengrimus wie sein Gegenspieler Reinardus zieht nicht auf Abenteuer aus, sondern einzig und allein der Nahrungssuche wegen: ut escamj Jeiunis natis querent atque sibiA). Ihr Streit mag noch so heftig entbrannt sein, es genügt, dem unersättlichen leeren Magen etwas vorzusetzen, um Ysengrimus' wildeste Rachegelüste auf Reinardus zu besänftigen (cf. I 183; V 362). Nicht als ob Ysengrimus ein nur durch seinen permanenten Hunger verhinderter Held wäre! Die Gefräßigkeit ist nicht seine zweite, sondern seine eigentliche Natur, die der Erzähler in immer neu sich überbietender Hyperbolik - von der metaphysischen Rechtfertigung der großen Bissen 6 ) über die Münchhausiade der mitsamt der Schüssel auf einmal verschluckten Krapfen (V 365-412) bis zu der grandiosen Übertreibung des Rachensprungs (VI 100) - zu einer Hauptquelle seines grotesken Humors zu machen weiß. Wie fern das Tierepos des Nivardus aller ritterlichen Dichtung steht und wie wenig sich sein sogenannter ,Held' mit der Auffassung des Helden in der Chanson de geste berührt, zeigt am besten ein Vergleich mit der Art von heroisch-komischem Epos, die ihm thematisch am nächsten kommt und angeblich auf die Ausbildung der Idee vom Wolfsmönch ihren Einfluß ausgeübt hat 6 ): dem Lied vom Mönchtum eines Helden, am bekanntesten durch L E M O N I A G E G U I L L A U M E , das wir als Parallele heranziehen wollen'). Wie Nivardus von den labores (VII 1), so will auch hier der Dichter von der großen Mühsal seines Helden - et des grans paines qu'en cest siecle sofri (v. 9) - berichten. Doch in dieser Ankündigung, die von dem Vor>) S. u. Kap. I V p. 214 ff. 2 ) Das geht schon in der ersten Episode des Werkes, der Schinkenteilung, aus der Art und Weise hervor, wie Ysengrimus über Reinardus herfällt; besonders drastisch und durch Übertreibung an das Groteske rührend ist die Szene in der Feldmesserepisode, w o Ysengrimus von den Widdern wie ein lebloses Objekt zermalmt und bearbeitet wird (II 543 ff). ®) Beispiele für höfische Sprechweise als Mittel des Humors bringt VAN MIERLO p. 513. 4 ) Y S I 1 - 2 ; vgl. ferner I 619, V 319. 6 ) Quo buccella michi minor est, hoc tristius intrat, Res breuis est Satanae, copia plena dei (I 695 f.); vgl. dazu die ganze Auslassung des Ysengrimus (I 687-716). e ) So VORETZSCH, Preuß. J b . 80 p. 459, der diesen Einfluß indes nicht weiter untersucht hat. ') Wir benutzen die zweite Redaktion und zitieren nach der Ausgabe von W. Cloetta, S A T F , Paris 1906-1913. 7

Jauß, Tierepos

9

8

bild des biblisch-christlichen Dulders beeinflußt sein dürfte 1 ), erschöpft sich auch schon die Ähnlichkeit. Denn die in beiden Fällen übernommene Rolle des moniage, in der diese Mühsal besteht, ist auf einen genau entgegengesetzten Effekt angelegt, ohne daß man sagen könnte, daß dem Verhältnis der Umkehrung eine Abhängigkeit zugrunde liegen müßte. Im M O N I A G E G U I L L A U M E lacht man auf Kosten der Mönche, im Y S E N G R I M U S auf Kosten des Wolfsmönchs, dort resultiert die Komik aus dem Kontrast zwischen Heldengröße und unheldischer, mönchischer Lebensform, hier aus der Verkehrung der Mönchsregel durch das Noviziat des Bruder Ysengrimus. Die Mönchsrolle Wilhelms setzt seine (im Prolog v. 10-29 zuvor erzählte) frühere Heldenlaufbahn nicht nur voraus, sondern gleichsam nur unter veränderten und erschwerten, weil nicht heldischen Bedingungen, weiter fort. Diese Bedingungen tun indes seinem vorbildlichen Rittertum, auch wenn es in verfängliche Situationen gerät und sein Verhalten Heiterkeit auslöst, keinen Abbruch. Wenn Wilhelm bei seinem Eintritt ins Kloster für den maistres Belgibus (v. 110) oder gar Antichrist (v. 154) gehalten wird, die Mönche allein schon beim Anblick seiner athletischen Gestalt die Flucht ergreifen (v. 130), sein Mönchsgewand für vier normale Mönche Platz böte (v. 244), wenn er für drei ißt und befürchtet werden muß, daß er das Kloster arm trinkt (v. 248), sich zu Verwünschungen und Gewaltsamkeiten hinreißen läßt und sogleich danach beschämt Reue darüber empfindet (v. 138 ff.), hat er die Lacher jedesmal auf seiner Seite und wird seine ritterliche Größe und Gesinnung immer nur zum Maß für die Einschätzung des unritterlichen Mönchtums: Einst fais ordenes voist el non del diable! (v. 5 5 2). Dieser Ausbruch Wilhelms bezieht sich auf die ihm auferlegte Verpflichtung, bei einem Überfall der Räuber nicht Gewalt mit Gewalt zu erwidern; voraus geht der bekannte Ausfall auf die vita contemplativa des mönchischen Standes, dem der Stand der Ritter, die sich mit Türken und Heiden schlagen, als der den Märtyrertitel eigentlich verdienende entgegengesetzt wird. Für uns ist dabei wichtig, daß die Komik der Szene mit dem bedrohlichen Verlust der Hosen nicht etwa aus einer Parodie heldischen Verhaltens rührt, sondern aus einem nur scheinbaren Heldsein wider Willen, das de facto in einem wohlverbreiteten, gelungenen und durch ein Mirakel Gottes (v. 1571-1575) sichtbar legitimierten ,corriger la fortune' (die List mit der reich verzierten, eigens angeschafften Hose) besteht2). Im M O N I A G E G U I L L A U M E bestätigt sich das Heldentum auf dem Umweg über eine List, die eines Renart würdig wäre; der Lächerlichkeit preisgegeben wird allein das Mönchstum, und zwar als unritterlicher Stand 3 ), nicht als geistliche Institution. *) Vgl. etwa Ps. XXXIII 20: Multae tribulationes iustorum·. et de omnibus his liberabit eos Dominus. 2 ) Wilhelm muß sogar noch ganz zuletzt nachhelfen, indem er die Räuber eigens auf den hohen Wert seines Gürtels aufmerksam macht, vgl. v. 1473 fr. *) Vgl. dazu die berühmte Auslassung:

99 Als solche wird es hingegen zum Gegenstand der Satire, die sich in der Wolfsmönchgestalt des Y S E N G R I M U S verdichtet. Auch die Mönchsrolle des Wolfes setzt sein früheres Leben, aber nicht das eines Helden, sondern das eines nimmersatten Gourmand voraus. Sie gipfelt in seiner Auslegung der Mönchsregel, die trotz ihren Übertreibungen Vellern, quicquid habet mundus, ouile foret, Vos etiam excipio non clare, ignoscite, fratres, Me solum excipio, cetera nulla quidem ( V 688-690)

nur scheinbar ,ad usum lupi' gedacht ist, letzten Endes aber mit den komischen Situationen, in die Ysengrimus durch seine Ignoranz und Gier gebracht wird, auf den Orden als solchen und einzelne seiner Vertreter (cf. V 870: Affuit hie abbas, qui lupus alter erat) zielt. Die Komik des ,Moniage Ysengrin' beruht nicht auf dem Kontrast zwischen vita activa und vita contemplativa, sondern auf der satirischen Verzeichnung der Mönchsregel, sie lebt aus der Prätention des Ysengrimus nach einem anderen Kleid {Dissimulat fraudem, non alterat altera uestis, V 565), die er teuer bezahlen muß und die ihn in einer Travestie aller sakralen Handlungen, von seiner Weihe mit Spucknapf, Mühlstein, Pferdekopf usw. (V 965-1116) bis zur Messe der Salaura, zum Prügelknaben aller macht. Das Werk des Magister Nivardus ist nicht als Parodie zum Heldenepos abgefaßt. Ysengrimus geht nicht heroisch seinem Untergang entgegen und parodiert auch nicht unmittelbar, so daß man an ein bestimmtes Vorbild des Heldenepos denken müßte, den Untergang eines epischen Helden. Gleichwohl wäre es unbefriedigend, in der Fabel des Y S E N G R I M U S nur eine Vita des Wolfes oder den Rahmen für eine Satire gegen die Geistlichkeit zu suchen, in der mit der Geschichte der Feindschaft zwischen dem Laien Fuchs und dem Wolfsmönch zugleich auch der Sieg „des gebildeten Laientums über die Unwissenheit und Sinnenlust der Kleriker" dargestellt werden soll 1 ). Der Antagonismus von Fuchs und Wolf geht im Y S E N G R I M U S nicht im Gegensatz von Laientum und Mönchstum auf, sondern thematisiert ihn nur beiläufig auf dem Grunde des universalen Gegensatzes von Weisheit und Torheit. Dieses Hauptmotiv wiederum, das alle Schwanke Maistres, dist il, vos ordenes est trop gries; Si fais convens puisse prendre mal cief; Qui l'estora, Dieus Ii doinst encombrier. Asses vaut mieus ordene de chevalier: II se combatent as Turs et as paiens, Por l'amor Dieu se laissent martirier, E t sovent sont en lor sanc batisie Pour aconquerre le regne droiturier." (v. 5 1 0 - 5 1 7 ) Z u der hier ausgesprochenen Absage an das Mönchstum als einer möglichen Lebensform des ritterlichen Menschen vgl. E . R. Curtius, Z R P h 64 (1944), p. J05. ') So K . Langosch, Waltharius, Ruodlieb, Märchenepen: Lat. Epik des Mittelalters mit deutschen Versen, Stuttgart 1956, p. 378 (in seinem Nachwort zu dem von ihm übersetzten ersten Schwank des Y S ) . r

ΙΟΟ in einen übergreifenden thematischen Zusammenhang stellt, ist nicht zu lösen von einer die Darstellung des ganzen Werkes durchdringenden Auffassung der Fortuna, die das eigentlich heroische Element im Tierepos des Nivardus ausmacht und allererst die Episoden des Wolfslebens aus dem Bereich schwankhafter Komik in die Sphäre elegischer Resignation zu erheben vermag. Nivardus hat diese Auffassung der Fortuna zu Beginn des III. Buches eigens vorgetragen und in eine Apostrophe seines Helden einmünden lassen: ι

5

io

15

2o

25

30

Ut miseros fortuna premit, mansuescere nescit, Mu Itatos multis pluribus illa ferit, Nec super addendi metam mox prouehit ullum, Nec quemquam subita proterit illa manu, Impia namque pie, mala leniter et male lenis Posse perire uetat, uelle perire facit; Materiam seruans non prorsus inhorret, Impatiens pacis conualuisse uetat, E t minus in quosquam est probitatis nacta iuuandos, Quam super angendos improbitatis habet. Scilicet §ternum l§dit fidissima quosdam, Cum penitus nulli fauerit absque dolo, Nam maiora solent miseris aduersa nocere, Prospera quam felix ullus habere potest, Vidi ego felices, quos saltem infamia lgsit, Porro quibus miseris defuit omnis honor; Sospite felices uita plerosque repellit, Sed raros humiles erigit ante necem, Cum multis bona pauca malis ulciscitur inde, Conciliat paucis hinc mala multa bonis. Ysengrime miser, numquam h^c tibi Candida gratis, Pensauit colaphis oscula bina decern, Nunc pellem scidit illa tuam, nunc prorsus ademit, Non tarnen, ut penitus destruerere, tulit, Donec continuos misere miserata labores Viribus est totis in caput acta tuum; Ergo quid euentus prodest aut querere l^tos Aut uitasse graues? nemo futura fugat, Nam miser in campo, miser Ysengrimus in aula, Hostibus in mediis usque et ubique fuit.

Der Grundgedanke, dem das persönliche Zeugnis des Dichters besonderes Gewicht verleihen soll (v. 15), ist die Erkenntnis, daß das Spiel reiner Willkür im Wechsel von Glück und Unglück, oben und unten, reich und arm, wie es die Allegorie vom Rad der Fortuna sinnfällig macht, noch nicht die wahre Natur Fortunas enthüllt. Für Nivardus verbirgt sich in allem Glückswechsel eine beständige Tendenz, in der sich Fortuna ewig treu bleibt: selbst noch in ihrer Gunst stets hinterhältig zu sein. Der Glückliche ist darum nicht weniger anfallig als der Unglückliche: ihr Schicksal unterscheidet sich nur graduell, nicht prinzipiell. Die Summe der

ιοί Vorteile, die Fortuna dem Glücklichen bringen kann, ist immer geringer als die der Nachteile, die dem Unglücklichen schaden: in der von Fortuna beherrschten Welt stehen Glück und Unglück niemals pari (ν. 13 f.). Fortuna versäumt nie, dem Glücklichen sein Glück zu vergällen, und kennt auch dem Unglücklichen gegenüber, den sie nur langsam aufreibt, keinerlei Milde (v. 1-3). Angesichts ihrer Allmacht ist es gleichermaßen nutzlos, Freuden zu suchen und Leiden meiden zu wollen: niemand vermag seinem Los zu entgehen (v. 28). Fortuna hat bei Nivardus den Aspekt eines dem Menschen feindseligen Fatums. Sie ist der heidnisch-antiken, das Leben in seiner Willkür bejahenden Glücksgöttin, die mit dem Füllhorn als Attribut in Schönheit einherschreitet, gleichermaßen fern wie der ,ancilla Dei', der um die Harmonie des Universums mit besorgten, selig-heiteren Helferin der Providenz, als die sie Dante in seinen berühmten Terzinen (Inf. V I I 91 ff.) erscheinen l ä ß t S i e unterscheidet sich aber auch von der im Mittelalter weithin verbreiteten Vorstellung einer unabhängigen Macht, deren niederträchtiges, tyrannisches Walten als mit der göttlichen Providenz unvereinbar angesehen, oder eines bösen Dämons, dessen Tücke in zahllosen Scheltreden beklagt wird. Das Wirken Fortunas ist bei Nivardus weder in den Rahmen des christlichen Lehrgebäudes eingeordnet, noch auch nur in Gegensatz zu ihm gebracht, sondern stellt sich nicht anders dar als das unentrinnbare und unabänderliche Fatum der Antike. Für diese Fortuna-Auffassung gibt es aus dem Mittelalter nur vereinzelte Zeugnisse 2 ). Nivardus hat sich zudem nicht damit begnügt, seinem Werk als rhetorisches Schmuckstück eine Auslassung über Fortuna einzufügen oder eine der beliebten Formen der ,altercatio' nachzubilden3). Sein großer Exkurs mit der elegischen Klage über das Schicksal seines von Fortuna verfolgten Helden zu Beginn des III. Buches bringt nicht mehr und nichts anderes zum Ausdruck als das, was auch in der Komposition den inneren Zusammenhalt des Ganzen verbürgt und in jedem einzelnen Schwank dem Geschehen das Gepräge eines unaufhaltsamen Fatums verleiht. Dieses Darstellungsprinzip läßt sich gerade von der stilistischen Eigenheit des Y S E N G R I M U S aus deutlich machen, die seinem Verfasser oft zum Vorwurf erhoben worden ist: der Verkümmerung des reinen Erzählens. Wenn Voigt feststellt: „die Erzählung ist nicht Selbstzweck, sondern nur *) Die Literatur zum Fortuna-Motiv ist bei E . Lommatzsch, Beitr. zur älteren italienischen Volksdichtung, Berlin: Akademie-Verlag 1 9 5 1 , Bd. II, p. 65ff., zusammengestellt; benutzt wurde ferner das Kapitel La roue de Fortune bei J . Frappier, Etude sur la Mort le roi Artu, Paris: Droz, 1936, p. 258-288, und E . KOEHLER p. 196 fr. Die Fortuna-Thematik im YSENGRIMUS ist, soweit wir sehen, bisher noch nicht eigens gewürdigt worden. 2 ) Vgl. Frappier, op. cit. p. 262, und R. Patch, The Goddess Fortuna in Mediaeval Literature, Havard University Press 1927, p. 79 Anm. 1 (wo Y S III 1 - 3 0 fehlt). 8 ) Eine Überschau über diese traditionellen Formen gibt E . Lommatzsch, op. cit. p. 68 f.

102

ein Mittel zur Schaffung komischer Situationen, und jeder Theil derselben darf daher nur so viel Raum beanspruchen, als er Scherz- und Spottgehalt besitzt" 1 ), übersieht er, daß die erzählenden Partien, auch wenn sie schon fast den Charakter von Regieanweisungen annehmen, gleichwohl eine selbständige Funktion für die Darstellung des Geschehens haben. Die Gesprächssituation, die sie in Szene setzen, erscheint nicht allein in komischer Beleuchtung, wie aus folgendem Beispiel erhellt: Dictator latitare sagax in saltibus illis Nouerat et paucis profore uelle lupum; Digrediens igitur Ioseph comitante seorsum, Frigida suspensi sustulit ora senis, E t docuit Ioseph, quid agat, si uenerit hospes, Cui nomen lupus est, canus at absque fide. N o x obiter surgit, Sprotino deinde canente Hospitium subeunt et sua seque locant. (IV 95-102)

Die Stelle ist der ,Wallfahrt der Tiere' entnommen. In der Parallelversion des RdR entspricht ihr die Phase der Herbergsuche (Br. VIII 275-300), die bei Nivardus völlig unter den Tisch gefallen ist. Nachdem zuvor nur mit einem Vers vom Aufbruch und Weg der Pilger die Rede war (omnes /

Alternum feriunt fedus euntque simul, IV 70), ist nun mit dem Einbruch der Nacht auch schon eine Herberge da, so selbstverständlich wie das Haupt eines aufgehängten Wolfes, mit dem allein unter allen erdenklichen Gegenständen nachher die rettende List bewerkstelligt werden kann. Ein epischer Erzähler hätte etwa sagen können: ,Sie waren den ganzen Tag unterwegs. Schon wollte die Nacht hereinbrechen. Da fanden sie ein Haus, das ihnen als Herberge geeignet schien. Über dem Eingang war das Haupt eines alten Wolfes aufgehängt. Einer sagte: ich will es wegnehmen und begraben. Doch der Fuchs erwiderte: laß es hängen, wer weiß, ob es uns nicht noch zu etwas nütze sein kann.' Für Nivardus ist die Herberge nur Szenerie, das Wolfshaupt Requisit, bei dem man nicht zu fragen hat, wo es herstammt. Dazu kommt, daß der Wolf in dieser Gegend versteckt ist. Noch mehr: der Fuchs weiht den Widder in eine List ein, noch ehe überhaupt abzusehen ist, daß eine Situation eintreten wird, auf die allein sie zugeschnitten ist. Dabei wird der Wolf ,hospes' genannt (v. 99), noch ehe von einer bestimmten Herberge die Rede sein kann ( h o s p i t i u m in v. 102). In allen diesen Zügen, die sich für den Leser erst vom Fortgang der Geschichte aus erklären, handelt es sich nicht mehr nur um die sogenannte ,Motivation von hinten'2). Hier ist nicht mehr nur eine Motivation vom späteren Ergebnis her ») Voigt, Einl. in den Y S p. L V I . 2) Mit dieser Formulierung bezeichnet C. Lugowski, Die Form der Individualität im Roman, Berlin 1932, p. 74ff., ein stilisticum, das durch das .mythische Analogon' bedingt ist, nämlich eine Motivation, die schon das spätere Ergebnis voraussetzt: „nicht das Ergebnis ist durch die Prämissen der Handlung bestimmt, sondern die Einzelzüge der Handlung durch das nur seine Enthüllung fordernde Ergebnis."

10} bedingt, sondern eine ganze Summe von an sich zufälligen Bedingungen von vornherein determiniert und damit zu einer fatalen Konstellation erhoben. Wie die Dinge und Umstände 1 ) stellen sich im Y S E N G R I M U S auch die Personen der Handlung offensichtlich ,ad hoc' ein, wenn sie für die Fabel benötigt werden, und verschwinden wieder ebenso ,ad hoc', einer unsichtbaren Regieanweisung folgend. Die Umstände, die die einzelnen Tiere zu einer Pilgerschaft führten, bleiben im Verlauf der ganzen Erzählung unersichtlich 2). Die Ziege Bertiiiana ist schon auf einer Pilgerschaft begriffen und findet unversehens in Reinardus und sechs anderen Tieren ein zahlreiches Gefolge. Nach bestandener Gefahr verschwindet die reduzierte Pilgerschar, von der sich Hahn und Gänserich aus Angst vor Reinardus davongemacht haben, wieder spurlos aus der Erzählung. Auch sonst sind nicht allein die Protagonisten, sondern auch die anderen Tiere immer greifbar nahe, wenn sie benötigt werden und müssen nicht .irgendwo' gesucht und gefunden werden. Wenn Reinardus dem Ysengrimus, dessen Unglück in der Eisspalte er soeben aus einem Versteck als Schauspiel genoß, sogleich einem neuen Verhängnis zuführen will, sind die vier Widder unverzüglich zur Stelle, als ob der neue Schauplatz unmittelbar neben dem alten liege: von einem Weg ist nicht die Rede, lediglich der Szenenwechsel wird durch das eine Wort meant (II 298) indiziert. Der Hase findet den zum Hof entbotenen Reinardus (III 28 3), Reinardus den für den Meineid des Ysengrimus nötigen Esel (IV 405) sogleich, als ob es keiner Wege bedürfe und keine Entfernung zwischen den Schauplätzen bestehe 3 ). In der Welt des Y S E N G R I M U S gibt es keinen freien Spielraum des Sich-Absonderns und Sich-Suchens, hier kann die Frage gar nicht auftauchen, wie anders ein Geschehen hätte verlaufen können, w e n n . . . oder wenn n i c h t . . . Hier ist alles darauf angelegt, die Begegnung zwischen Wolf und Fuchs, dem von Fortuna Verfolgten und seinem verhaßten und zugleich unentbehrlichen Ratgeber, immer neu herbeizuführen, in der sich das unaufhaltsame Fatum vollendet. Das Verhältnis von Fuchs und Wolf ist im Y S E N G R I M U S ganz von der Fortuna-Thematik aus gestaltet. Man verkennt darum die Absicht des Dichters, wenn man es moralisierend auflöst und mit van Mierlo aus ') Dazu gehört auch die Jahreszeit: während etwa der Verfasser der Parallelversion im RdR (Br. V I I I ) die Winterzeit zur Einleitung seines Schwankes benutzte, ist im Y S (I 665) von der Februarkälte erst ,ad hoc', wenn der Eisspalt für die Erzählung benötigt wird, die Rede. 2 ) Erst im folgenden Schwank wird angedeutet, aus welchem Anlaß Hahn und Gänserich aufbrachen (IV 825-830), aber auch hier so beiläufig, daß weniger an eine nachgeholte Vorgeschichte zu denken ist als daran, daß der Dichter die Fabel vom Auszug der Haustiere (vgl. die Anm. von Voigt zu I V 825 f.) bei seinem Publikum schon als bekannt voraussetzte. 3 ) So ist z. B. die Burg von Reinardus in dem Augenblick, da sie in der Erzählung gebraucht wird, ganz selbstverständlich nicht weit von der Wolfshöhle gelegen: Moxque cucurrisset uelocius illa, sed inde Munia non longe, qu? peterentur, erant (V 773 f.).

I04 Reinardus eine Art von .redresseur de torts' machen will 1 ). Hier hatte Voigt richtiger gesehen, als er die Änderungen der Hoftagsfabel darauf zurückführte, daß der Dichter den Fuchs nur vom Standpunkt seines Antagonismus gegen den Wolf auffasse, ihn darum ohne Familie darstelle und ihn durchweg als Schatten und bösen Dämon des Wolfes auftreten lasse 2 ). Als böser Dämon erscheint Reinardus aber vornehmlich durch seine neue Rolle als Ratgeber, die in keinem anderen Tierepos so weit ausgestaltet und in den Vordergrund gerückt ist wie im Werk des Nivardus. Sie gibt dem alten, von der Hoftagsfabel vorgegebenen Thema der Gegnerschaft von Fuchs und Wolf irti YSENGRIMUS das besondere Gepräge. Das Verhältnis der beiden Protagonisten im YSENGRIMUS läßt aber zugleich erkennen, daß Nivardus nicht mehr allein die Überlieferung der Hoftagsfabel, sondern bereits eine traditionell gefestigte, seinem Publikum vertraute Beziehung der Feindschaft zwischen Fuchs und Wolf voraussetzt. Während in der ECBASIS das Motiv der Feindschaft noch ganz von der Grundlage der Hoftagsfabel aus entwickelt ist und der Gegensatz von Fuchs und Wolf darum abstrakt und vieldeutig erscheint, stellt der Dichter des YSENGRIMUS die Fabel vom kranken Löwen nicht mehr an den zeitlichen Anfang, sondern in die Mitte seiner epischen Fabel, so daß die Feindschaft der beiden Widersacher an sich einer neuen Begründung ihres Ursprungs bedürfte. Denn gleich die erste Schwankszene der ,medias-inres'-Einleitung (die Schinkenteilung) läßt Fuchs und Wolf als Todfeinde aufeinanderprallen, wobei Ysengrimus das einzige Mal die Oberhand über seinen verhaßten Gegenspieler gewinnt, aber nur, um sie damit für alle Zeiten zu verlieren. Das Motiv der Rache, die Ysengrimus in dieser Eingangsszene auskosten will, wird zwar durch die später nachgeholte Vorgeschichte (Wallfahrt, Wolf im Kloster, Fuchs und Wölfin) aufgehellt. Da die chronologisch am Anfang der Fabel stehende Wallfahrtsfabel indes selbst wieder von einer schon bestehenden Gegnerschaft ausgeht - Reinardus entfaltet dort schon von Anbeginn eine betriebsame Agitation gegen Ysengrimus, ohne daß ein Anlaß dafür ersichtlich würde 3 ) - , kommt auch im Werk des Nivardus ein epischer Ursprung der Feindschaft von Fuchs und Wolf noch nicht zur Darstellung, obwohl ihr Antagonismus hier bereits unverkennbar den Kristallisationspunkt für die epische Zyklisierung der einzelnen Tierschwänke bildet. Daß der im YSENGRIMUS zum erstenmal durchgehend thematisierte Antagonismus von Fuchs und Wolf ein schon vorgegebenes, in seinen Grundzügen festgelegtes Verhältnis zwischen den beiden Widersachern ') ,Wir vergeben ihm beinahe seine Gewissenlosigkeit, weil sie gegen einen noch gewissenloseren Schurken angewendet wird, um diesen zu Fall zu bringen' (p. 499, von uns übersetzt). ') Voigt, Einl. zum YS p. LXXIXf. 8 ) Die Rede des Reinardus an Bertiiiana mit der Aufforderung zu gemeinsamer Wallfahrt ist bereits auf den verborgenen Ysengrimus berechnet (vgl. IV 63, 95 fr.), auf den allein auch die List mit dem Wolfshaupt vordeutet (IV 99ff.).

LOJ

voraussetzten dürfte, läßt sich mit verschiedenen Gründen stützen. Nivardus stellt seine Protagonisten weder vor, noch führt er in ihre Stellung oder in ihre verwandtschaftlichen Beziehungen ein, woraus sich auf eine seinem Publikum schon vertraute Tradition schließen läßt 1 ). Auch sprechen die hohen Anforderungen, die er mit seiner kunstvollen Exposition und der Unterordnung des Erzählerischen unter pointenreiche Gesprächssituationen an sein Publikum stellt, dafür, daß er den Inhalt der Fuchs-Wolf-Schwänke schon weitgehend als bekannt voraussetzte 2 ). Daraus läßt sich wohl die Folgerung ziehen, daß eine erste Zyklisierung der Tierschwänke um Fuchs und Wolf, die durch den Gegensatz ihrer Charaktere einer Reihe von Episoden einen sogleich evidenten Zusammenhalt geben konnten, schon vor dem Y S E N G R I M U S , also wahrscheinlich zwischen I i 12 (Ysengrimus-Anekdote) und 1150 eingesetzt hat 3 ). Wie weit diese Zyklisierung gediehen war, bevor Nivardus auf sie zurückgriff, läßt sich nur vermuten. Da der Punkt, an dem zum erstenmal in der Geschichte des Tierepos der epische Ursprung der Feindschaft von Renard und Ysengrin von einem Verfasser als noch nie gehörtes Sujet angekündigt wird, genau bezeugt ist und den Y S E N G R I M U S bereits voraussetzt (s. u. Kap. I V A), ist es unwahrscheinlich, daß jene erste Zyklisierung schon die episch aufgefaßte, d. h. aus einem epischen Anlaß heraus entwickelte und in sich vollendete Geschichte dieser Feindschaft enthielt. Von Nivardus aus gesehen könnte sie in einer Schwankreihung um Wolf und Fuchs als ständigen Gegenspielern, bei der ihr Gegensatz zugleich auch auf der Ebene von Oheim und Neffe ausgespielt wurde, bestanden haben. Denn dieser Gegensatz, den der Y S E N G R I M U S als schon bekannt voraussetzt, ist von Nivardus - darin liegt zweifellos der Schritt, der ihn über die vorgegebene Tradition hinausführte - wahrscheinlich noch in weitere Schwänke hinein-

Die Methode, die H. BUETTNER (II p. 4 1 - 5 1 ) dazu benutzt hat, um zu erweisen, daß die Verfasser des RdR bei ihrem Publikum eine schon allgemein bekannte Tradition voraussetzen, während der mhd. Dichter sein Publikum erst mit allen Dingen bekannt machen muß, ließe sich ausführlicher, als wir hier mit einigen Hinweisen getan, aber mit demselben Ergebnis auch auf den Y S anwenden. 8 ) Schon Voigt war zu der Auffassung gelangt: „Gewährt somit das Gedicht selbst keinen zuverlässigen Anhalt für die Annahme einer schriftlichen Quelle, so weist anderseits alles auf m ü n d l i c h e Tradition hin, wozu nunmehr (. . .) auch die auf beide Arten der Überlieferung deutbaren Formeln, wie fertur und ähnl., gerechnet werden dürfen. Die Haupttypen des Thierschwanks sind bereits in die gemeine Anschauung übergegangen . . . " (Einl. in den Y S p. L X X X V I ) . 3 ) Dafür, daß diese erste Zyklisierung näher bei 1 1 5 0 als bei 1 1 1 2 liegen dürfte, könnte man anführen, daß sich auch in der kurz nach 1106 zu datierenden DISCIPLINA

C L E R I C A L I S (das E x e m p l u m X X I I I

ist d i e Q u e l l e v o n B r . I V

des RdR: ,Fuchs und Wolf im Brunnen'), so wenig wie in der YsengrimusAnekdote bei Guibert von Nogent noch kein Indiz einer traditionellen Feindschaft von Fuchs und Wolf findet.

ιο6 gebracht1) und sodann auf der Grundlage seiner Fortuna-Auffassung dem strengen Ablauf einer Fabel dienstbar gemacht worden, die den Gegensatz der topischen Charaktere in ein neues Licht rückt. Was Reinardus und Ysengrimus hier letztlich unterscheidet, ist nicht mehr nur der Gegensatz ihrer Eigenschaften - daß der eine gierig (raptor hians, II 456), ungestalt (ingens, V 707), unvorsichtig (incautus, I 75), ungebildet (rudis, III 105) und treulos (perfidus, IV 135), der andere schlau (callidus, I 3 5 5; astutus, IV 851), gewandt (uersutus, I 75; sollers, IV 39), vorsichtig (providus, IV 401), erfahren (peritus, IV 681) und verschlagen (uafer, III 720) ist 2 ) sondern daß sich der Fuchs bei jeder Begegnung auf der Höhe der Situation zeigt, während der Wolf unweigerlich hinter den Dingen zurückbleibt (I 74), so daß sich in jeder Situation an der Entgegensetzung ihrer Eigenschaften der fundamentale Gegensatz von Torheit und Weisheit neu enthüllen kann: Nott bene conueniunt stultus simul atque dolosus (V 809). Nivardus hat dieses Verhältnis gleich zu Anfang mit dem Spiel von Katze und Maus verglichen (I 63 ff.), das Ysengrimus mit dem Augenblick verloren hat, als er neugierig wird {quod utilius nescisset, scire laborat, I 117), d. h. als er auf Reinardus hört. Die Argumentation, die bei ihm verfängt, wird mit der Frage des Fuchses: Quis tibi consultor, qualis ego usque fui? (I 174) eingeleitet. Dann kommt dem unentbehrlichen Ratgeber Fortuna (I 45), die ihn zuvor unversehens in die discrimina casus (I 7) stürzen und der Rache des Ysengrimus ausgeliefert sein ließ, sichtbar zu Hilfe. Das von Reinardus noch ganz ins Blaue hinein gegebene Versprechen: Prodero (I 179) erfüllt sich wie auf ein Stichwort (in diesem Augenblick trägt ein Bauer den Schinken vorbei)3). Damit hat sich für Ysengrimus das Blatt ein für allemal zu seinen Ungunsten gewendet. Von nun an waltet in seinen Begegnungen mit Reinardus ein unentrinnbares Verhängnis; das Geschehen verliert seinen kontingenten Aspekt, die Schwanksituation läßt keinen Spielraum mehr für eine Spannung, in der das Glücksrad noch nach beiden Seiten rollen (Orbita fortun$ ducit utroque rotam, II 424)4), der Glückswürfel noch für den einen oder den andren fallen kann {nescimus . .. cui preparet alea lucrum, II 461) 5 ). Dieser fatale Aspekt überschattet auch schon die Vorgeschichte, da sie vom Leser unter dem Eindruck der debitafata (II 541), aus der Sicht der vorweggenommenen späteren Kalamitäten des Ysengrimus gelesen werden muß und da das Thema von der Voreingenommenheit Fortunas auch ohnedies schon in der Wallfahrtsfabel, als der Wolf erfahren muß, jortunam nolle iocari (IV 315), und im Eingang *) In den drei Schwänken: die Feldmessung, der Wolf im Kloster, Wolf und Widder - tritt der Fuchs offensichtlich nur aus Gründen der Fabel hinzu. 2 ) Die Beinamen von Wolf und Fuchs hat Voigt, Einl. in den Y S p. L X X I V , zusammengestellt. *) Dieser scheinbare Zufall wird sprichwörtlich mit indicat hora viam (I 1 8 1 ) thematisiert. *) Das Bild vom Glücksrad (bzw. Scheibe) findet sich außerdem noch I V 719. 5 ) Das Bild vom Glückswürfel ferner III 35.

io

7

zu dem Klosterschwank (cf. V 343: fortuna precustodita) anklingt. Es vervollständigt dieses Thema noch nicht ganz, wenn Fortuna am Ende, als die dem Wolf auferlegten labores nur noch durch den Tod im Schlund Salauras überboten werden können (VII iff.), Ysengrimus, der niemals acht Tage gleichmäßig in heiterem Glück gelebt (VII 305), einmal applaudiert, indem sie dem Weissagenden Erfolg gibt: . . . ille canit, plaudit fortuna canenti, Prona nocere, aliis, non bene uelle seni.

(VII 299^)

Fortunas Allmacht wird nicht allein im Untergang des von Mißgeschick zu Mißgeschick tiefer fallenden Ysengrimus sichtbar, sie läßt auch den glücklicheren Reinardus ihre Willkür spüren. Sein Unterliegen in der Episode mit dem Hahn Sprotinus, dem einzigen Schwank, in welchem der Fuchs allein und nicht als Gegenspieler des Wolfes auftritt, bestätigt gleichsam den Satz aus der großen Fortunastelle: daß das Glück niemand ohne Hinterlist gewogen ist (III 12). Insofern hat auch dieser Schwank, der aus der Perspektive Isengrines not herausfällt, in der Komposition des Ganzen seine bedeutsame Stelle und zugleich ein Gegenstück in ,Hengst und Wolf', dem einzigen Schwank, in welchem umgekehrt Ysengrimus ohne seinen Gegenspieler Reinardus auftritt und von Coruigarus überlistet wird, bei dem sich derselbe Schematismus Fortunas bewahrheitet wie im Falle von Reinardus und Sprotinus: Ars seit nulla uices artis in omne genus (V 1178). Aus diesem Satz und der Moral, die Nivardus aus dem Schwank von Fuchs und Hahn zieht und damit die Frage beantwortet, wie es zuging, daß der Hahn einmal sogar den Fuchs täuschen konnte: Insipiens quandoque rapit sapientis, itemque Preuentus sapiens insipientis opus (V 1-2)

läßt sich aber auch entnehmen, daß in einer Welt, die von der Willkür und Mißgunst Fortunas beherrscht wird, ,sapiens' gleichbedeutend wird mit ,klug für ein ander Mal' und seine wesenhafte Bedeutung ,weise für immer' einbüßen muß. ,Weise sein' meint bei Nivardus nicht mehr das ingenium naturale et artificiale, welches befähigt, die Arcana der Natur und die Gesetze der Dinge zu durchschauen, wie bei Petrus Alfonsi 1 ), sondern die Fähigkeit, nicht wieder in denselben Fehler zu verfallen (V 15-16), vom Vorgefallenen auf Künftiges zu schließen: Res est forma rei, factis facienda notantur, E t nihil est, quod non mentis acumen alat, x

(I 4 0 1 - 4 0 2 )

) F ü r die S t u f u n g der .sapiencia' in der DISCIPLINA CLERICALIS ist charak-

teristisch, daß Petrus Alfonsi der weiblichen Schlauheit das subtilere Ingenium des Philosophen, der in E x . X V I und X V I I den Beinamen Auxilium Egencium führt, mit folgender Begründung überordnet: Bene posset philosophus suo facere naturali ingenio et artificiali, secreta eciam nature rimando, quod mulier solo fecit naturali ingenio (p. 24 Zeile 3-6).

ιο8 ein Übel zu ertragen, um einem noch schlimmeren zu entgehen (Sepe malum sapiens fert pro peiore fugando, V I 143) - kurzum, jene Summe der Erfahrung (cumulata peritia, I 177), die auch Reinardus erst durch hohes Alter eigen ist, Nimirum sapiens senioque illectus an artem Tempore, an §tatem uicerit arte, latet (IV 1 3 - 1 4 )

und die sich Ysengrimus trotz seines Alters nicht zu eigen machen kann. Denn der Wolf, der in der Tradition der Tierdichtung immer schon als Beispielfigur für .naturam non expellas furca' erscheint, ist auch im Y S E N GRIMUS in exemplarischer Weise durch seine Natur determiniert. Für ihn gilt im besonderen Maße der Satz, mit dem Reinardus im Eingang zum 2. Schwank (Fischfang) die Zusicherung einer ehrlichen Beuteteilung ablehnt: Cras hodieque sumus, quod fueramus heri (I 548)· Das kommt gerade dort zum Vorschein, wo Ysengrimus im 3. Schwank (Feldmessung) hoch und heilig schwört, entgegen seiner Neigung den Einflüsterungen des Fuchses nicht mehr Gehör zu schenken: Momentum nulla conditione sequar. Planxerit ille dolos siue ostentauerit actus Siue roget ueniam siue rogare neget, Donaque promissis superat promissaque donis, Siue horum neutrum fecerit, unus ero (II 1 8 2 - 1 8 6 ) .

Die Pointe liegt darin, daß er sich schon in seiner Formulierung mit dem unbeabsichtigten Doppelsinn uttus ero selbst widerlegt, bald darauf dem Argument, sein leerer Magen sei die Ursache seiner bisherigen und künftigen Leiden, nicht widerstehen kann und auf den nächsten Vorschlag des Reinardus mit den Worten eingeht: Non sum tarn sapiens, quin magis esse queam (II 264). Nivardus hat den Gegensatz zwischen Ysengrimus dem Toren, dem auch eine einmalige Klugheit nichts nützt: Post sapere exiguum stultior usque manet (IV 670), und Reinardus dem Weisen, der sich alles vorher überlegt (I 841) und bedenkt, daß jede Unternehmung ihren eigenen Ausgang hat (II 224), vor allem auf der Ebene der verschiedenartigen Ambitionen des Ysengrimus und in der Sophistik der Ratgeberrolle des Reinardus ausgestaltet. Es ist schon immer bemerkt worden, daß Ysengrimus im Laufe seiner Geschichte die mannigfachsten geistlichen und weltlichen Amter und Berufsrollen einnimmt oder auszuüben veranlaßt wird: so erscheint er nacheinander als Einsiedler, Mönch, Familienoberhaupt, Sänger, Fischer, Feldmesser, Arzt, Beuteteiler, Gläubiger und Prophet'). Da uns fast jeder Schwank Ysengrimus in einer solchen Funktion vorführt und Nivardus in der Hoftagsfabel zum erstenmal auch den Wolf vor dem Erscheinen des Fuchses als Arzt auftreten läßt, wird hier eine planmäßige Absicht kenntlich. Ysengrimus ist nicht mehr nur der Heuchler, der vorgibt, etwas anderes zu sein, als er ist, sondern der Tor, der es nicht lassen kann, !) Belege bei Voigt, Einl. in den Y S p. L X X I V Anm. 1.

ic>9 sich immer wieder eine Rolle anzumaßen, der er nicht gewachsen ist und bei der er sich regelmäßig übernimmt. Darin, daß ihn das neue Kleid nie ändert (V 565) und er in seinem Kommentar zu der Mönchsregel (V 585 - 626) dieselbe unverhohlene Sprache spricht wie in seiner ärztlichen Empfehlung an den König, heute den Widder und morgen den Bock nach dem Grundsatz: Sepe tarnen sapiens proximo prima rapit (II 162) zu verzehren, daß er dabei in jedem Fall seiner Sache so sicher ist, unbelehrbar wie Don Quijote seinen Weg geht und auch nicht an seinem Ende - wie der Wolf in D E LUPO P E D E N T E - die Lehre aus seinen Kalamitäten zieht'), erreicht seine Torheit die Höhe eines Wahns, der in seiner Konsequenz die Grenze der bloßen Komik überspielt und an das Tragische rührt. Reinardus, der nach ihm dieselbe Arztrolle am Hof des Königs spielt und dabei demonstriert: It sapiens liber, quo perit artis inops; Astuto plus ira solet prodesse potentis, Gratia quam stulto . . . (III 302 ff.),

zieht am Ende im Schwank von der Beuteteilung die abschließende Lehre aus dem Mißgeschick seines Oheims, wenn er auf die Frage des Königs, was ihn gelehrt habe, so zu teilen, antwortet: M e docuit docturus adhuc non pauca, quod istic Quodque alias sapui, patruus iste meus ( V I 287 f.).

Der Weise gewinnt seine Erfahrung aus dem Mißgeschick des Toren, der sich selbst nicht raten kann {Sfpe Halens aliis non ualet ipse sibt, VI 294), aber durch sein Beispiel dem Weisen nützlich und darum selbst wieder unentbehrlich ist. Von der zuletzt zitierten Stelle aus, mit der die Thematik der .sapientia' im Y S E N G R I M U S abgeschlossen wird, zeigt sich der Antagonismus von Fuchs und Wolf in der Auslegung des Nivardus noch unter einem letzten Aspekt. Der Weise und der Tor in Gestalt von Reinardus und Ysengrimus bilden ein zwar ungleiches, aber zugleich auch notwendig sich ergänzendes und aufeinander angewiesenes Paar, das sich im Bannkreis der Fortuna in letzter Instanz allein noch darin unterscheidet, daß - wie Reinardus einmal zynisch ausspricht - der eine steht und der andere zu Fall kommt: Differimus multum stans ego tuque iacens (I 814), wobei das Fallen zu Bewußtsein bringt, wie gut das Stehen ist: Quam sit stare bonum, scire ruina facit (I 820). Darum liegt zwischen ihnen auch nur der Abstand zwischen miser und felix (I 813), stultus und sapiens, nicht aber ein partikularer Affekt. Der *) „0 deus, quanta mala die hodierna super me sunt injecta! sed, ut recolo, magna ex parte mea est culpa. (. . .) pater meus non fuit medicus, nec ego didici medicinam: et unde hoc mihi, ut medicus essem et volui educere spinam de pede equi? et pater meus non fuit iudex . . . (etc.)", bei GRIMM p. 4 3 1 . - Die Ünbelehrbarkeit des Wolfes wird durch den Umstand noch erhöht, daß gerade Reinardus, wohl wissend, daß Ysengrimus seinen Warnungen nicht zu folgen vermag, immer wieder als zynischer Warner auftritt, vgl. I 558, 598, 675.

I 10

Haß, der zwischen Ysengrimus und Reinardus spielt, ist letztlich nicht allein anfangs-, sondern auch gegenstandslos, weder in einem Streitobjekt, noch in der Natur des anderen begründet, so daß man nicht sagen könnte: Reinardus haßt dieses oder jenes an Ysengrimus. Der Haß lebt in Ysengrimus nach jeder gemeinsamen Unternehmung ebensooft wieder neu auf, wie er vorher, im Hören auf die Reden seines Ratgebers, wieder erlosch. Wollte man diesen Haß definieren, so wäre die Ebene jener ambivalenten Vertrautheit miteinzubeziehen, die sich allerorts in der Ironie der OheimNeffe-Beziehung bekundet: pro caris multa feruntur (I i n ) 1 ) . Der Haß zwischen Reinardus und Ysengrimus ist die Haßliebe zwischen .lieben Verwandten', die (im buchstäblichen Sinne) bis ins Grab währt und (im ironischen Sinne) auch noch darüber hinaus führt, wenn Reinardus nach dem Tod des Ysengrimus in der Klage, die er über seinen dulcis paternus anhebt, vorgeblich zusammen mit ihm ins Grab gelegt werden und lebend mit ihm in die Unterwelt eingehen will (VII 525-528). Die ambivalente Vertrautheit von Oheim und Neffe hat eine Art von Gegenstück im Bereich der sozialen Hierarchie. Die Lehre, die Reinardus nach der Beuteteilung dem Ysengrimus über den Sinn seines Mißgeschicks erteilt (Non simul ingluuies discretioque esse sinuntur, V I 309), mündet in eine zynische Darstellung der absoluten königlichen Gewalt 2 ): Luxuriant reges, et rustica turba laborat, Quid regum est? ^ther, flumina, terra, fretum; Villanus cribro pronascitur atque galastrg, Rex Cereri et piperi, carnibus atque mero, Rusticus e sulco producit regibus ostrum, Stuppeaque ipsius sagmata corpus arant (VI 335-340).

Die (nur zum Teil wiedergegebene) Stelle steht in einem größeren Motivationszusammenhang, der den Gegensatz von Armut und Reichtum {Quam concorda inops cum locuplete parum!, IV 514) thematisch analog zu dem Gegensatz von miser und felix (I 813) variiert, nachdem auch schon vorher 1

) Ambivalent, denn Nivardus läßt es offen, ob die (traditionell vorgegebene?) Oheim-Neffe-Beziehung als echt oder nur als gespielt, d. h. als angemaßte Rolle zu betrachten ist. Wenn man sich daran hält, daß Reinardus im ersten Schwank Ysengrimus „fälschlich" {/also, I 1 1 ) seinen Oheim nennt, damit er ihm als Verwandten eher Glauben schenke, wirft dies ein Licht auf die (zeitlich vorausgehende) Wallfahrtsfabel, in der man ohne diesen Hinweis des Erzählers das Verwandtschaftsverhältnis für bare Münze nehmen könnte. Dort will Ysengrimus die Verwandtschaft in Abrede stellen, doch offenbar nur aus dem Grund, um sein betagtes Alter zu leugnen und damit der ihm zugedachten Aufgabe eines Ratgebers zu entgehen, mit der Reinardus sein Fortgehen zu verhindern sucht (cf. I V 401-448). Hier aber zahlt ihm nun Ysengrimus mit gleicher Münze heim, indem er das Spiel zwischen dem guten Onkel und dem lieben Neffen (I 1 2 5 - 1 4 8 ) ironisch weiterspielt. s

) Vgl. zum Folgenden Horaz, E p . I 2, 14.

III

in Sarkasmen wie Optima sors misero est numquam feliciter esse1) ein anklagender Ton persönlicher Beteiligung nicht überhörbar war, der dann schließlich in der Diatribe auf die Geldgier des Klerus und des Papstes (V 100 und V I I 677-708) unverkennbar wird. In diesem Zusammenhang wird Reinardus mehrmals, doch in zweideutiger Weise, zum Fürsprech der Armen. So begründet er, obwohl er als einer der wenigen Reichsbarone zum Hofe entboten wurde (II 46), sein Nichterscheinen mit einem Monolog über ,reich und arm bei Hofe', demzufolge er sich nicht zu den Vornehmen (proceres), als welche er Bär, Eber und Wolf aufführt (II 85), rechnen mag. Dann spielt er sich in seiner Rede, mit der er die Gunst des Königs zurückerlangen will, als verkannter treuer Diener auf, dessen Dienste nur seiner Armut halber nicht gewürdigt würden (III 360). Wenn er sich schließlich im Anschluß an die Beuteteilung mit Ysengrimus gemein macht: Non regum comites, rustica turba sumus V I 334), könnte der Akzent ebensogut auf der Solidarität gegenüber der königlichen Allgewalt wie auf einer Demütigung des vornehmeren Ysengrimus liegen. Denn Ysengrimus kann auf eine lange Ahnenreihe zurückblicken, soll er doch als Nachfahre im 28. Glied aus dem Geschlechte des großen Lovo stammen (V 699) und seine Jagdgründe von einem 44. Ahnen her innehaben (V 708). Reinardus hingegen scheint Mühe zu haben, einen Stammbaum vorzuweisen. Der Hahn, der sich selbst einer Reihe von 90 Ahnen rühmt, trifft Reinardus offenbar am wunden Punkt, als er sich beklagt, von einem Gegner nicht ebenbürtigen Adels weggetragen zu werden (cf. IV 997 ff.). Reinardus, der Sprotinus daraufhin niedersetzt, um die Rechtmäßigkeit seiner Ansprüche zu beteuern, hat sich hinterher am meisten vorzuwerfen, daß die Anspielung auf den ihm versagten Adel (nobilitas defensa, V 65) bei ihm verfing. An dieser Stelle läßt ihn Nivardus eine Zeitsatire vorbringen: nicht die Abstammung, sondern der Reichtum allein (V 67-130) mache den Adel in diesem Jahrhundert aus: Nobilitas ueterum tacetur, nonne sepulta est? (V 77). Auch wenn Nivardus den sozialen Rangunterschied zwischen Reinardus und Ysengrimus ebenso wenig konkretisiert hat wie ihr Verwandtschaftsverhältnis - erst Pierre de Saint-Cloud wird aus dem letzteren einen Konfliktsstoff gewinnen und die Rivalität von Renart und Ysengrin im ,Plaid' zu einer allgemeinen Angelegenheit der ständischen Welt machen - , ist die gesellschaftliche Stellung des Fuchses im Y S E N G R I M U S doch schon auffallend vage und läßt bereits sein künftiges Außenseitertum im feudalen Reich der Tiere ahnen. Aus der Satire auf den neuen Adel des Geldes, der die nobilitas ueterum überflüssig mache, läßt sich aber noch ein zweites entnehmen. Dem ins Grab gesunkenen Adel der Alten wird von Nivardus nicht etwa nachgetrauert; seine Satire auf das Säkulum, das nur eine Schande kennt, nämlich das Leben in Armut (V 72), stellt der Verderbnis der Gegenwart auch sonst kein Idealbild einer besseren Vergangenheit I V 5 1 ; vgl. dazu V 478, w o Luk. 8, 18 im Kontext ironisch verkehrt wird

(perdet egenus, et est plus habiturus habens).

112

entgegen. Das Tierepos des Nivardus kennt keine mythische Vergangenheit, die Auseinandersetzung zwischen Ysengrimus und Reinardus spielt sich nicht in einem dahingegangenen Heroenzeitalter ab, sondern in der für Nivardus und seine Leser gegenwärtigen Welt, gleichsam inmitten jener zeitgenössischen Personen, die er mit seiner Satire geißelt. Damit wird ein Wesensunterschied zwischen Tierepos und Heldenepos sichtbar: die epische Distanz, die für die Chanson de geste wie für den Artusroman konstitutiv ist, fehlt im Y S E N G R I M U S und allen weiteren Tierepen; dem Reich König Nobles, so viele Züge es auch mit dem Reich des epischen Charles Ii reis oder des legendären Rot Artus gemein hat, eignet nicht jene exemplarische Idealität, die im Heldenepos ihren Glanz aus der Aura des Vergangenen erhält. Das Werk des Magister Nivardus unterscheidet sich selbst wiederum von allen folgenden Tierepen durch nichts mehr als durch seine Gestaltung des Fortuna-Themas. Die Sonderstellung, die es in dieser Hinsicht einnimmt, wird erst ganz deutlich, wenn man berücksichtigt, daß das Mittelalter, wie J . Frappier zeigte, die dramatische Kraft dieses Themas lange Zeit nicht erkannt, bzw. nicht in einem literarischen Werk daraus die unsichtbare und allgegenwärtige Seele des Ganzen zu machen verstanden hat ). Insofern kann der Y S E N G R I M U S bereits jenen Titel für sich in Anspruch nehmen, den Frappier erstmalig L A M O R T L E R O I A R T U , dem Abschluß des großen Lancelot-Prosazyklus (um 1230), zuerkennen wollte: „ L e merite du romancier est d'avoir anime un concept philosophico-theologique, non pas au moyen de la froide allegorie si chere ä l'imagination medievale, mais en utilisant la force interne de ce concept dans la composition generale de son ceuvre. II a donne ä une abstraction une realite dramatique" 2 ). Gewiß berühren sich das erste Tierepos und der abschließende Artusroman nur in dem einen Punkt, daß die epische Fabel vom Niedergang des Ysengrimus und die vom Untergang des König Artus gleichermaßen von der Aura eines Fatums durchdrungen sind, und ist an keinerlei Filiation zu denken. Doch scheint es immerbin bedeutsam, daß in die 80 Jahre, die zwischen diesen beiden großen Gestaltungen des Fortuna-Fatum-Themas liegen (1150-1230), nicht allein die ganze Entwicklung des Artusromans, sondern auch die der zyklischen Tierepen fallt, und daß in beiden Fällen die normgebende Ausbildung der Gattung offenbar dem Bannkreis Fortunas entzogen blieb. Im klassischen Artusroman „ist die ritterliche Auffassung der Fortuna, wo sie überhaupt in den Kreis der Betrachtung eindringt, von dem Vertrauen in die umfassende Harmonisierungsmacht der aventure geprägt", erst mit Chrestiens P E R C E V A L beginnt die bisher an den Rand der höfischen Welt verbannte Fortuna sich der aventure zu bemächtigen, bleibt dabei aber erst noch dem Gedanken der Providenz untergeordnet 3 ). In den volkssprachlichen Tierepen derselben 1

) Op. cit. p. 2 6 4 - 2 6 6 . ) ibid. p. 2 8 7 .

2

*) KÖHLER P. 1 9 6 f.

II}

Epoche wird weder in der Darstellung des Geschehens etwas von dem im waltenden Fatum spürbar, noch finden sich irgendwelche Klagund Scheltreden auf Fortuna, die im höfischen Roman seit Waces B R U T ( Ι I 5 5) als Schmuckstück der Rede beliebt werden 1 ). Lediglich ein Verfasser, wenn wir von drei redensartlichen Wendungen absehen2), hat in einer späteren Branche (VII, um 1200) seinen Prolog mit einer Beschreibung der costume Fortunas verziert (v. 5-16). Doch wird auch hier so wenig wie in allen anderen Branchen das Geschehen in eine Beziehung zum Walten der Fortuna gebracht. Damit stellt sich die Frage, wie wohl die Nachfolger des Magister Nivardus, die uns ein umfängliches afrz. Corpus von 28 epischen Renartgedichten hinterlassen haben, den Antagonismus von Fuchs und Wolf ausgelegt, welchen Sinn sie dem Geschehen in den Schwänken gegeben und worin sie den Zusammenhang ihrer selbständigen Produktionen gesehen haben. Die folgende Untersuchung soll diese Frage nach der Absicht der Verfasser des R O M A N D E R E N A R T zunächst von ihren Selbstzeugnissen aus angehen, die bisher fast ausschließlich im Blick auf die Quellenfrage (Voretzsch, Suchier), bzw. auf die Chronologie und wechselseitige Abhängigkeit der Branchen (Foulet) ausgewertet wurden. Da von 16 der 28 Gedichte des Zyklus Prologe oder prologartige Eingänge erhalten sind 3), können wir hoffen, erst einmal unvorbelastet von der Kontroverse über den volkstümlichen oder literarischen Ursprung des RdR über die Eigenart der ,Branchen' und die Absicht ihrer Verfasser einigen Aufschluß zu gewinnen. Zwar entspricht der konventionelle Prolog der Renart-Branchen formell den traditionellen Eingangsmustern, wie sie J . Rychner für die Chanson de geste zusammengestellt und erläutert hat 4 ). Doch weist insbesondere der große Prolog zu Branche IV eine Reihe von Zügen auf, die für das neue Genus charakteristisch sind und zusammen mit den Parallelstellen aus allen anderen Prologen ermöglichen, zumindest den Erwartungshorizont des Publikums sichtbar zu machen. YSENGRIMUS

') Vgl. J . Frappier, op. cit. p. 262 Anm. 5, der dort auf Wace hinweist und damit die alte Auffassung korrigiert, die erste Beschreibung der Fortuna in der afrz. Literatur finde sich im ENEAS (V. 671-692). 2 ) Si esgarda conire la lune / Si com le demaine fortune (IVa 670f., RdR ed. Meon, Supplementband ed. Chabaille, P..r s 1835, p. 1 1 6 ) ; Fortune secort les hardi%_ ( V I 5 1 ) ; Tant conme torna ta roele, Nos a servi de la favele (VI 83f.). 3 ) Vgl. I 1 - 6 ; II 1 - 2 2 ; I V 1 - 3 2 ; V I I 1 - 7 5 ; I X 1 - 1 4 ; X I I 1 - 6 ; X I I I 1 - 1 0 ; XIV 1-14; X V I 1-14; XVIII 1-6; X X I 1-6; XXII 1-16; XXIII 1-4; X X I V 1-18; X X V 1-16; X X V I 1-3. 4 ) Vgl. bes. Kap. 1, p. 9 - 2 5 . 8 Jauß, Tierepos

Drittes Kapitel URSPRUNG UND WEG DES VOLKS SPRACHLICHE Ν TIERSCHWANKS (FUCHS UND WOLF IM BRUNNEN)

A. 'Une brauche et un sol gäbet' Or me convient tel chose dire Dont je vos puisse fere rire. Qar je sai bien, ce est la pure, Que de sarmon n'aves vos eure 5 Ne de cors seint olr la vie. De ce ne vos prent nule envie, Mes de tel chose qui vos plese. Or gart chascun que il se tese: Que de bien dire sui en voie io Et bien garniz, se dex me voie. Se vos me volieez entendre, Tel chosse porrieez aprendre Que bien feroit a retenir. Si me seit em por fol tenir. 15 Mes j'ai ol dire en escole: De fol ome sage parole. Lone prologue n'est preuz a fere. Or dirai, ne me voil plus tere, Une branche et un sol gäbet zo De celui qui tant set d'abet: C'est de Renart, bien le savez, Et bien 01 dire l'avez. De Renart ne va nus a destre. Renars fet tot le monde pestre: 25 Renars atret, Renars acole, Renars est molt de male escole. De lui ne va coroies ointes, Ja tant ne sera ses acointes. Molt par est sajes et voisous 30 Renars, et si n'est pas noisous. Mes en cest monde n'a si sage, A u chef de foiz n'aut a folage.

(IV 1-32)

Der Verfasser dieses Prologs zu Branche IV, die Foulet zufolge zu den ältesten des afrz. Corpus gehört 1 ), rechnet wie auch allgemein bei der *) FOULET datiert Br. IV, die in seiner Chronologie nach II-Va und III steht, auf ca. 1178 (vgl. p. 104-106, 118).

HS Chanson de geste üblich - um mit dem Selbstverständlichen zu beginnen, über das sich der moderne Leser fast immer zu schnell hinwegsetzt - mit einem Kreis von Zuhörern. Die auf uns gekommenen Branchen des RdR wurden geschrieben, um gehört, nicht um gelesen zu werden. Die Anrede vos wie hier, oder förmlicher: Seigneurs (wie z. B. II ι ; X 2), mit der sich der Erzähler an sein Publikum wendet, fehlt nur in ζ von 16 Eingängen (Br. I und IX); auf weitere Anzeichen der Vortragsdichtung kommen wir in der Analyse von Br. IV (Abschnitt C) zurück. Über die gesellschaftliche Stellung dieser Hörer läßt sich nichts anderes ausmachen als für die der Chanson de geste: diese Art von Dichtung setzt nur eine bestimmte Geschmacksrichtung voraus, ist aber nicht auf eine ständisch begrenzte Gemeinschaft bezogen. Ein Eingangsvers wie: Or vos traie% ca d'une part ( X X V I 1) weist auf einen Jongleur, der sich mit der entsprechenden Geste auf einem öffentlichen Platz oder Markt ein gewiß nicht ausgewähltes Auditorium zu schaffen sucht 1 ); daneben findet sich aber auch die Form Seigneurs barons, or entende% ( X X I I I 1), mit der ein exklusiv ritterliches Publikum angeredet wird, das sich den Jongleur zur Unterhaltung kommen ließ. Zu der Rezitation gehört als selbstverständliches Element die Versform, der traditionelle gepaarte Achtsilber; in einem Fall wird eine Branche geradezu mit: Ge vos voil uns vers contender ( X X I 1) angekündigt. Von der Chanson de geste dürfte sich die Renart-Branche durch den nicht mehr gegebenen musikalischen Vortrag unterscheiden, was natürlich eine musikalische Begleitung nicht ganz auszuschließen braucht. Von Prosaerzählungen (vielleicht Prosaauflösungen?) ist erst in einer der spätesten Branchen (13. Jahrhundert) die Rede, deren Verfasser sich ausdrücklich von denen absetzt, qui en content sans rime, und damit den überlieferten Stoff verderben: il le vous content a envers ( X X V 13 ff.). Das besondere Geschick des Verfassers von Br. IV, durch seinen Prolog die Aufmerksamkeit auf seine Geschichte zu lenken, wird erst recht deutlich, wenn man einen durchschnittlichen Erzähleingang (Bitte um ein geneigtes Ohr, Ermahnung zur Stille, Ankündigung der Geschichte, ihre Ruhmestitel, Hinweis auf die Gunst von Ort und Gelegenheit, die Sache vorzutragen) vergleicht: Se or vos voliez taisir, Seignor, ja poriez oir, S'estiez de bone memoire, Une partie de l'estoire Si con Renart et Ysengrin Guerroierent jusqu'en la fin. Se vos me prestes vos oreilles, J a vos voldrai dire merveilles De Renart qui est vis maufes: Toz sui espris et escaufes *) Die Wendung des Eingangs verses ist traditionell, vgl.

vous iraiez en cha, signour, je vous en prie).

RYCHNER

p. 14 (Or

ιι6 D e Renart dire en tel endroit, Sanz delaiement orendroit, Q'einc n'oistes en si bon leu D e lui e d'Ysengrin le leu.

(X 1-14)

D e r Verfasser v o n Br. I V hingegen zögert den Augenblick, in dem er mit dem T h e m a herausrückt, kunstvoll bis zuletzt hinaus und macht sich schon mit seiner ,captatio benevolentiae': ,ich will euch mit meiner Erzählung zum Lachen bringen, denn ich weiß, daß ihr v o n Predigten und erbaulichen Geschichten genug habt' - den Anreiz einer nicht zweckgebundenen, rein zur Unterhaltung bestimmten K u n s t geschickt zunutze. Dabei unterscheidet sich die Renart-Branche v o n anderer Unterhaltungsdichtung durch die v o r w e g schon bekundete komische Intention, die sie zusammen mit dem Fabliau zu einer Gattung niederen Stiles macht. Diese Einschätzung bezeugt der ,prestre de la Croix en Brie', Verfasser der I X . Branche, wenn er sich am E n d e mit der Bemerkung rechtfertigen zu müssen glaubt, dies sei sein Erstlingswerk, das darum Nachsicht verdiene; er wolle sich nun aber an Größeres w a g e n : A autre roman^ voll entendre Ou Pen porra greignor sens prendre (IX 2203 f.). V o m Fabliau wiederum unterscheiden sich die Schwankerzählungen des R d R , soweit man hier schon erkennen kann, durch das Fehlen der dort vorherrschenden erotischen Thematik. D a ß diese keineswegs in der Erwartung des Publikums der Renart-Branchen liegt, zeigt sich darin an, daß sich die Verfasser v o n Br. X X I und X X I I eigens f ü r den obszönen Charakter ihrer Branchen entschuldigen ( X X I 2; X X I I 1-8) und daß gerade der Schwank, der im R d R am meisten dem Fabliau nahe kommt, der Besuch des Fuchses in der Wolfshöhle, nicht im Blick auf das erotische Thema angezeigt w i r d 1 ) . Gleichsam als wolle er, nachdem er die Neugier eines rein auf Belustigung (tel chose qui vos plese, v. 7) eingestellten Publikums erweckt hat, auch n o c h gebildetere Zuhörer für sich gewinnen, verspricht der Verfasser im P r o l o g zu Br. I V v o n seiner Geschichte nun auch n o c h praktische Belehrung (tel chose porie^ aprendre, v. 12). D a ß man aus der Geschichte viel lernen könne, ist an sich ein traditioneller Ruhmestitel (vgl. etwa X I I I 1 - 4 ; X V I 10-14). D e r Verfasser v o n Br. X X V benutzt ihn, um alle Erzählungen über Renart seit Pierre de Saint-Cloud v o r all denen zu rechtfertigen, die dieser A r t v o n Dichtung keinen Wert beimessen: Tels i a qu'il ne prise gaires N e l'aventure ne le conte: Car il ne sevent que ce monte. Mais qui bien i vorroit entendre, Grant savoir i porroit aprendre.

( X X V 6-10)

D e r Prolog von Br. II spricht nur v o m Anlaß und Beginn des großen .Krieges der beiden Barone' und läßt noch nicht entfernt ahnen, worum es sich handelt; der Prolog von Br. I stellt die grant fornicacion in die Perspektive des Plaid.

(v. 12) v o n vornherein

117 Unser Prolog zu Br. I V überbietet diesen Topos, indem er sich auf ein ,in der Schule gehörtes' Dictum von der Weisheit im Munde des Toren beruft 1 ). Worin aber, wenn sich der Verfasser nicht einfach über die Praxis der Berufung auf Schulweisheiten lustig macht, soll die einer RenartBranche eigene .Weisheit' bestehen, welche Erfahrung kann man sich von einer Geschichte de celui qui tant set d'abet (v. 20) versprechen? C'est de Renart, bien le savez, E t bien 01 dire l'avez (v. 21 f.) - damit läßt der Jongleur gleichsam die Katze aus dem Sack. Seine hinausgezögerte Ankündigung enthüllt etwas, was schon vertraut ist und die Z u hörer gerade darum sogleich wieder in einen Grad von Spannung versetzen kann, den andere Erzählungen erst nach einer Exposition erreichen. Der Reiz der hier geweckten Erwartung rührt aus der Suggestion, die der Fortsetzung einer unvollendeten Geschichte eigen ist. Z w a r kann auch die Ankündigung einer Chanson de geste, wie Rychner am Prolog zu L E MONIAGE GUILLAUME zeigte 2 ), mit der Suggestion einer Fortsetzung rechnen. Doch muß dort erst durch eine Rekapitulation die Voraussetzung für eine an sich nicht erforderliche Weiterführung (denn es liegt im Wesen der epischen Fabel, in sich vollendet zu sein) geschaffen werden; der Jongleur muß, nachdem er sein Sujet als eine Neuheit angepriesen hat (v. 1-9), das alte Wilhelmslied in 19 Versen erst wieder in Erinnerung bringen: Signor baron, asses aves oi Comment Guillaumes vers paiens se contin, E t vers Tibaut le rice Amoravi, Comment Orable, sa moiller, le toli, (etc.). 1

) Morawski, Proverbes fraryais anterieurs au XVe Steele, Paris 1925 (CFMA 47), bringt hierzu kein genaues Korrelat, vgl.: De sage home sage demande (5 5 3), II n'est si grant folie com de saige homme (936); ähnlich 942, 975, 1383, 1530, 2343. Da auch die einzige Bibelstelle, an die man dabei denken könnte (1. Kor. 1, 17-20), den Wortlaut der Formulierung in Br. I V 16 nicht bestimmt haben kann, spricht nichts gegen die Annahme einer bewußten Verkehrung (etwa von Morawski 553). - Das Ms. Β („manuscrit de Cange"), mit Mss. Κ und L der Familie β zugehörig und der Ausgabe M. Roques zugrunde liegend, hat für v. 16 die Lesart: de saige home saige parole, durch die der Sinn der hier beabsichtigten Pointe offensichtlich verlorengeht. Denn als Replik auf Vers 3270 ( = v. 14 ed. Martin): si me staut on a fol tenir ergibt de saige home saige parole (ν. 3272) keinen Sinn, ebensowenig wie voisseus (v. 3286), das der Schreiber von Β an die Stelle von noiseus gesetzt hat (noiseus ist durch v. 3 5 5 1 : n'avons eure ceens de noise gestützt und sinnvoll). Eine zweite Pointe ist v. 3537 verfehlt, w o Β statt a este ein ai este eingesetzt hat (vgl. in diesem Zusammenhang noch v. 3546: or fen dirai für t'en ai dit). Der Schreiber von Β zeichnet sich offensichtlich durch kein großes Textverständnis aus, wofür sich Beispiele aus anderen Branchen nach Belieben vermehren ließen. Wir haben daher unserer Darstellung im allgemeinen die Ausgabe Martin zugrunde gelegt, zumal die Ausgabe M. Roques noch nicht vollständig vorlag. 2

) RYCHNER p. 1 1 ,

55.

118 Der Jongleur hingegen, der eine neue Branche von Renart ankündigt, bedarf weder einer Rekapitulation, noch einer besonderen Antizipation. Hier ist die Nennung des Namens Renart schon Programm genug, weil der Protagonist dieser Art von Geschichten dafür bekannt ist, stets zu überraschen: Ja vos voldrai dire merveilles de Renart (X 8), und jeder vollendete Schwank das Verlangen nach einer Fortsetzung hervorruft, die die vorausgegangenen Schwänke nicht unmittelbar zum Verständnis benötigt (denn die Geschichte Renarts ist ihrem Wesen nach gar nicht vollendbar). Was die Ankündigung des Namens Renart an Erwartungen für die bevorstehende Geschichte mit sich bringt, hat der Verfasser von Br. IV in einer Häufung von bildhaften Wendungen der Alltagssprache wie: De Renart ne va nus a destre (v. 23) am Ende seines Prologs eigens rühmend a u s g e f ü h r t M a n würde diese Verse gerade dann falsch verstehen, wenn man sie mit solchen aus späteren Branchen des 13. Jahrhunderts in eine Reihe stellen wollte 2), die eine allegorische Deutung vornehmen, wie z. B.: . . . eil Renart nos senefie Caus qui sont piain de felonie, Qui ne finent del agaitier Con puissent autrui engingnier.

(XXIV 151-154)

Die Verse im Prolog zu Br. IV machen Renart gerade nicht zu einer Personifikation der Hypokrisie, sie lassen sein füchsisches Wesen nur als Inbegriff listenreichen Verhaltens, wie es in den Bildern des Alltags jedem geläufig ist, zum Vorschein kommen. Der Verfasser von Br. IV zeichnet sich eben dadurch vor vielen anderen Verfassern aus, die gerade an diesem Punkte ihres Prologs gerne moralisieren, wenn sie sich nicht einfach mit einem stereotypen Attribut wie Renart qui tant sout de ganche (IX 6) rasch über die Frage nach der Moral ihrer Geschichte hinwegsetzen. Eine Art von vorbeugender Distanzierung von dem amoralischen Helden der Geschichte dürfte auch in so abgegriffenen Wendungen wie: Renart (. . .) qui to% maus cove (I 9) oder qui est vis maufes (X 9) noch spürbar gewesen sein. Einzelne Verfasser tun noch ein übriges, um sich vor möglichen Vorwürfen zu sichern. Der Prolog zu Br. X V I scheint mit den Versen . . . Renart, qui tant set d'abet, Le puant nain, le descreü, Par qui ont este deceü Tant baron que n'en sai le conte

( X V I 6-9)

auf ein ritterliches Publikum zugeschnitten zu sein, dessen Sympathie nicht auf selten Renarts erwartet wird. Der Verfasser von Br. V I I erläutert auch, ') Zur Herkunft und Verbreitung einzelner Wendungen aus Vers 23-32 des eingangs zitierten Prologs vgl. TILANDER, Lexique, unter destre (zu v. 23: = ,de Renart n'a nul le dessus'), pestre (zu v. 24: = .tromper'), coroie (zu v. 27: = ,obtenir un avantage de qn.'). Die Wendung der Verse 3 1 - 3 2 ist sprichwörtlich, cf. Morawski 1383 : N'est si sage qui folie ne face. 2 ) so FOULET, p. 483 und ibid. Anm. 3.

119 wie der von Br. IV, in seinem weitschweifigen Prolog das Wesen Renarts an Beispielen seines Verhaltens: Ja nus n'aura de lui droiture, II prent a tort, il prent α droit usw. (ν. 5 ο ff.), doch nur, um mit erhobenem Zeigefinger auf den Teufel hinter ihm zu weisen: Car son deable le demeine (v. 55) und nach der scheinheiligen Warnung: Certes qui sert itel baron, Ne Pen puet venir se mal non (v. 65 f.) ungeniert eine abgeschmackte Fabel mit Obszönitäten zu würzen. Dem allem gegenüber stellen die Verse mit der Evokation Renarts im Prolog zu Br. IV das erste Zeugnis dafür dar, daß ein Verfasser seine Bewunderung für Renart nicht erst moralisch zu rechtfertigen suchte, auch wenn er seine bejahende Einstellung (cf. Molt par est sajes et voisous Renars, et si n'est pas noisous, v. 29 f.) sogleich wieder in eine allgemeine Wahrheit einmünden ließ. Denn die darauf folgenden Schlußverse: Mes en cest monde n'a si sage, Au chef de foiz n'aut a folage

(v. 31 f.)

nehmen das Dictum de fol home sage parole wieder auf, das der Verfasser erst für sich selbst geltend machte (Si me seit em por fol tenir, v. 14), und wenden es in eine andere Richtung um. Die Art von Weisheit, die die Geschichte in sich birgt, wäre demzufolge in der überraschenden und allezeit möglichen Verkehrung von weise und töricht zu erwarten. Doch nicht in allen Branchen wird Renart wie hier sogleich als Titelfigur angekündigt, die dem Publikum bereits vertraut ist: Et bien oi dire l'aveζ (ν. 22). Worauf bezieht sich dieser Rückverweis? Foulet zufolge auf das älteste afrz. Tierepos (Br. I I - V a ) , dessen Prolog das Thema als eine noch nie gehörte Geschichte von dem gängigen Repertoire eines Jongleurs abhebt: Mais onques n'Oistes la guerre, Qui tant fu dure de- grant fin, Entre Renart et Ysengrin. (II 10-12) Alle weiteren Branchen des RdR geben sich, wie Foulet nachwies, entweder als Fortführung dieses ersten afrz. Tierepos aus oder setzen, wenn nicht seine Begebenheiten, so doch seine Hauptfiguren mit der für sie charakteristischen Feindschaft als bekannt voraus 1 ). Das Ergebnis der scharfsinnigen Analysen Foulets ist, was die Anteriorität von Br. I I - V a im Verhältnis zu den übrigen Branchen (mit Ausnahme von Br. III) betrifft, noch nie mit triftigen Gründen angefochten worden. Doch sind gegen seine These, Br. I I - V a setze für ihr neues Thema nichts voraus und habe der ganzen weiteren Produktion die entscheidende Richtung gegeben, zwei Einwände zu erheben. Auch das älteste afrz. Tierepos (Br. I I - V a ) setzt bei seinem Publikum etwas voraus, nämlich eben jene Vertrautheit mit seinen beiden Protagonisten, die Foulet in Br. III als Zeichen für einen Einfluß von Br. I I - V a ansieht, mit demselben Rechtsgrund aber auch in Br. I I - V a auf das Vorliegen einer älteren, als bekannt vorausgesetzten Tra*) C f . F O U L E T , K a p . I I I ,

VI.

120 dition zurückführen müßtex). Doch nicht allein Br. III, deren Posteriorität im Verhältnis zu Br. I I - V a Foulet nicht erweisen kann, ist von dem postulierten Vorbild des ersten altfranzösischen Tierepos unabhängig 2 ). Bei einer Analyse der übrigen Prologe fällt auf, daß auf das epische Thema von Br. I I - V a , den .Krieg der beiden Barone', nur noch selten Bezug genommen wird. Die Verbindung der beiden Namen Renart und Ysengrin findet sich nach dem Prolog von Br. II lediglich noch dreimal, in den Eingängen zu Br. I, die einen von Pierre de Saint-Cloud versäumten Teil der Hoftagsfabel nachholen will (v. 1-10), zu Br. X , die une partie de l'estoire Si con Renart et Ysengrin Guerroierentjusqu'en la fin (ν. 4-6) ankündigt, und Br. X X I V , die sich auf eine unbekannte Quelle (Aucupre, v. 7) bezieht, um damit die Geschichte von der Erschaffung Renarts und Ysengrins zu beglaubigen. Wie sehr sich der Fuchs in der zyklischen Geschichte der Branchen als Titelfigur in den Vordergrund geschoben hat, bezeugt am besten der Verfasser von Br. X X V , in der Ysengrin schon gar nicht mehr vorkommt. Für ihn, der wohl fast am Ende der ganzen Produktion auf die fernen (etwa 50 Jahre zurückliegenden) Zeiten von Pierre de Saint-Cloud zurückblickt, verbindet sich mit dem Namen des Dichters von der guerre . . . entre Renart et Ysengrin lediglich noch die Vorstellung von der einen Hauptfigur: Signor, 01 aves asses, E t ans et jors a ja passes, Les aventures et le conte Que Pierres de Saint Cloot conte De Renart et de ses affaires. (XXV 1-5)

So würden die 28 Renartbranchen also am Ende auf eine ,vie Renart' hinauslaufen? Der Verfasser von Br. VII leitet mit dieser (bei ihm erstmalig belegten) Formulierung die Erzählung seiner neuen Fuchsschwänke ein: J e vos dirai ja sans mentir De Renart le gopil la vie.

(VII 70 f.)

Doch damit ist hier ebensowenig wie in allen übrigen Branchen das Leben des Fuchses als eine biographische Ganzheit in den Blick genommen. ,La vie Renart' ist gleichbedeutend mit seiner Art zu leben, mit der Fülle seiner Listen oder, in der Erwartung der Zuhörer, mit der Möglichkeit einer neuen, noch nie gehörten List, die als ihn charakterisierender Schwank, als eine seiner unerschöpflichen Rollen in der Erinnerung weiterlebt und sich als Epithet manchmal in den Schlußformeln der Branchen findet: Ci faut Renart Ii teinturier (Ib 3211), Renart et bernart et belin Ains puis ne furent pelerin (VIII 469-470, Ms. d), Renart conseillier ( X V I 1506), Ici parfine la chacon, Comme Renart par fist le c. . ( X X I I 722). Das Leben Renarts als biographische, durch Anfang und Ende bestimmte Einheit kommt auch nicht in allen Branchen zusammengenommen zur Anschauung. Doch *) Cf. F O U L E T p. 260; wir kommen bei der Analyse von Br. I I - V a auf diesen Einwand zurück, s. u. p. 183 f. 2 ) wie Foulet selbst zugibt, ibid. p. 261.

121

während das Interesse an einem immer neuen Streich v o n dem, qui moult sot de treslue ( X V ι), nicht erlosch, scheint die epische Fabel Pierres: der ,Krieg der beiden Barone' mit Hoftag und Plaid, v o n einem bestimmten Punkt an so sehr an Anziehungskraft eingebüßt zu haben, daß nur noch une risee et un gäbet ( X V I 5) E r f o l g verbürgte. Kennzeichnend für diese Verlagerung des Interesses ist auch, daß der Verfasser v o n Br. X X I I I , der noch ein letztes Mal das epische Schema v o m Hoftag der Tiere variiert, seine Fabel bereits so ankündigt, als ob es sich um einen Einzelschwank handle: S'orre% une molt grant voisdie, Qui α Renart fist grant ate (v. 3-4). Besonders aufschlußreich aber ist für die Frage, worin die Verfasser des R d R den Zusammenhang ihrer Gedichte sahen, der Ursprung und die Bedeutung der Gattungsbezeichnung ,branche' selbst. .Branche' in der übertragenen Bedeutung ist als literarischer terminus technicus (,Teil eines größeren literarischen Werkes, einer Rede, einer Sammelhandschrift') nach Ausweis von Tobler-Lommatzsch zum erstenmal im RdR belegt 1 ). T L beziehen sich dabei auf die Stelle: Iciprent ceste branche fin (III 511 CMn), die sich indes nur in drei Hss. als Explicit findet und darum wohl kaum als sicherer Erstbeleg anzusehen ist. D a sich das Wort indes auch im Eingang v o n drei Gedichten, zuerst in Br. I V (Une branche et un sol gäbet, ν. 19), dann in Br. V I I (Tant home ont de Renart fable, Mes j'en dirai la verite En ceste brance sans esloigne, v . 193) und I X (Jere une novele branche, v. 5) und erst in später datierten Gedichten in der Schlußformel findet ( X I X 90, X X 93, X X V I 132), ist w o h l anzunehmen, daß die Verfasser der Gedichte selbst, und nicht erst die Abschreiber (wie die Definition in T L nahelegt), v o n einem gewissen Zeitpunkt an ihre Werke so zu benennen pflegten. Dann hätte das Wort innerhalb der Geschichte des Renart-Zyklus seine Bedeutung als Gattungsbezeichnung erlangt, die später durch eine Bedeutungserweiterung zum allgemein gebrauchten terminus technicus ,Teil einer Sammelhandschrift usw.' geworden wäre. D o c h was war mit dieser Gattungsbezeichnung gemeint, deren Bedeutung ihrem genauen Ursprung nach nicht zutage liegt, obwohl ihr metaphorischer Sinn klar zu sein scheint: „ z w e i g e oder äste gleichsam des ganz großen baums der fabel" (J. Grimm) 2 ), und die Verwendung des Wortes im Prolog zu Br. I V offenbar ein Ganzes voraussetzt, zu dem sich das folgende Gedicht wie ein Teil verhalten soll? 3 ) Zunächst wird man ') Bei dem in T L an erster Stelle aufgeführten Beleg .Thebes' handelt es sich um das Explizit des Roman de Thebes im Ms. Α (Β.Ν., fs. fr. 375. ancien 6987); der in diesem Ms. befindliche Roman wurde erst Ende 1287 kopiert, so daß der Beleg für .branche' nicht als früher Beleg in Frage kommt. Cf. L. Constans, La legende d'Oedipe etudie . . . enparticulier dans le Roman de Thebes . . ., Paris 1881, p. 159: (Zu .Explicit le sieges de Thebes et de Thioclet et de Pollinices Ii tierce branke') „Ces mots prouvent, non pas que le Roman de Thebes etait la 3e branche d'un cycle, mais que c'etait le 3ε ouvrage copie dans le ms." ·) G R I M M p. CXVI. s)

S o FOULET p . 36.

122 gut daran tun, sich in solchem Fall nicht gleich durch eine Analogie zum modernen organischen Denken verführen zu lassen, wie es durch Grimm nahegelegt wird. Auf welche Art und Weise das Verhältnis vom Teil zum Ganzen, vom Einzelgedicht zum Zyklus etwa vom Verfasser der Br. IV gedacht war, darüber ist mit der metaphorischen Gleichung allein noch nichts ausgemacht. Es kann bei der Prägung der Gattungsbezeichnung ebensowohl die Vorstellung eines Herauswachsens und Sichablösens, wie die unablösbarer Zusammengehörigkeit bzw. eines Sichnährens vom Stamm bestimmend gewesen sein. Die erstere ist bei den Belegen aus dem RdR ungleich wahrscheinlicher. Denn die Branchen, die von ihren Verfassern selbst so bezeichnet werden, gehören allesamt zu denen, die dem Zyklus zwar die festgelegten Beziehungen ihrer Hauptpersonen verdanken, sich im übrigen aber weitgehend verselbständigt (Br. IV), bzw. den epischen Antagonismus von Fuchs und Wolf bereits aufgegeben haben und nur noch Renart allein (Br. VII, IX, X X V I ) oder Ysengrin allein (XIX, X X ) auftreten lassen. Wo von diesem Antagonismus als einem epischen Thema die Rede ist, das fortgeführt wird, wie im Prolog zu I, findet sich .branche' als Gattungsbezeichnung nirgends. Die X. Branche, die ausdrücklich auf Br. I zurückgreift, wird im Prolog als partie de l'estoire (v. 4) angekündigt; die X X I I . Branche, eine weitere Fortsetzung zur Hoftagsfabel, bestimmt ihr Verhältnis zum Ganzen als .Auszug': Li contes est trai% dou goupil (v. 13); die X X I V . Branche greift auf eine Bezeichnung der zyklischen Heldenepik (anfances, v. 311) zurück.1) Nach dem Zeugnis der Texte des RdR impliziert ,branche' als Gattungsbezeichnung also weniger den Hinblick auf eine epische Ganzheit, als die von ihr ablösbare Funktion des nur noch durch die Hauptfigur Renart mit dem Ganzen verbundenen Einzelgedichts, meint also in erster Linie den in sich geschlossenen Fuchsschwank, wie gerade aus der Gleichsetzung ,branche' = ,gäbet' des Erstbelegs am deutlichsten hervorgeht: Or dirai, ne me voil plus tere Une branche et un sol gäbet De celui qui tant set d'abet (IV 18-20) Damit bleibt noch eine letzte Frage zum Prolog von Br. IV offen: meint das Ich des Erzählers den Urheber oder den Rezitator (Jongleur) der Branche und läßt sich diese Unterscheidung überhaupt treffen? Der Prolog insgesamt vereint alle Züge, die dem traditionellen Eingang eines Jongleurs eigen sind, der darauf bedacht sein muß, sich einen Kreis von Zuhörern zu verschaffen. Im Vergleich zu anderen Eingängen zeichnet er sich zugleich aber auch durch besondere Qualitäten in der Variation und 1

) Nicht hierher gehört der Beleg aus Jean Bodels Sachsenlied, w o von Naimes gesagt wird: To^jorz ama le rot sans branche de renart, zitiert bei F O U L E T p. der diesen Wortgebrauch für „surprenant" hält. .Branche' hat hier indes ganz einfach die Bedeutung ,Minimalwert', also: ,er liebte den König ohne die mindeste füchsische Treulosigkeit' (weitere Beispiele für .branche' in dieser Bedeutung bei T L ) .

497,

I2J

Überbietung der topischen Muster aus, so daß man ihm ein durchaus persönliches Gepräge zusprechen möchte. Wenn darum der Verfasser sein Dictum De fol ome sage parole als einen in der Schule gehörten Satz bezeichnet (ν. 15), besteht kein Anlaß, ihm nicht Glauben zu schenken oder ihm nicht zuzutrauen, daß er die D I S C I P L I N A CLERICALIS kannte und aus deren X X I I I . Exemplum eine neue Branche des RdR geschaffen hat. Schon Martin merkte dazu an: „le poete se presente au lecteur en sa qualite de jongleur echappe d'une ecole ecclesiastique: au besoin, il pourrait faire un sermon sur les vertus de quelque saint" 1 ). Als einem Jongleur mit klerikaler Bildung, dessen dichterische Begabung schon sein eigenwilliger Prolog verrät, wäre ihm dann aber auch von vornherein zuzutrauen, daß er mit seinem Stoff geschickt zu verfahren wußte und freier schalten konnte, als man es einem .remanieur' zuzugestehen pflegt. Wenn im Fall von Br. I V Urheber und Rezitator als ein und dieselbe Person angesehen werden können, was natürlich nicht ausschließt, daß die Branche auch in das Repertoire anderer Jongleurs überging, wäre die weitere Frage, wann und wozu der Text aufgezeichnet worden sein mag. Ist in der uns erhaltenen Gestalt des Textes, der in 13 Hss. überliefert ist, die für den mündlichen Vortrag bestimmte Fassung bewahrt? Hat die ursprüngliche Fassung durch die letzte, den Wortlaut endgültig fixierende Aufzeichnung der Sammelhandschriften Veränderungen erfahren? Auf diese Fragen kann allein eine Analyse des Textes im Hinblick auf Indizien des mündlichen Vortrags und der mündlichen Verbreitung, auf sein Verhältnis zu anderen Bearbeitungen des Stoffes und auf die Umgestaltung, die der Verfasser an seiner mutmaßlichen Vorlage vorgenommen hat, einigen Aufschluß geben. Die übrigen Prologe und programmatischen Stellen geben auf die Frage nach dem Verhältnis von Abfassung, Verbreitung und Aufzeichnung der Branchen nur spärliche Auskunft 2 ). Die Schlußverse von Br. X X : Ceste brauche est bone et petite Et bien faite, s'ele es bien dite (v. 93 f.) sind der einzige Fall, in dem Autor und Rezitator ausdrücklich unterschieden sind, da der erstere offensichtlich für einen anderen schreibt, der sein Gedicht vortragen soll. Branche X I I hingegen läßt vermuten, daß sie von vornherein für ein engeres Publikum, das die dort enthaltene Parodie scholastischer Dialektik verstehen konnte (cf. v. 715 ff.), abgefaßt und vielleicht für einen besonderen festlichen Anlaß bestimmt war. Der Verfasser, Richard de Lison, gibt selbst an, er habe das Gedicht begonnen por doner a son connestable (XII 1478). Statt qui conmenche α ceste fable findet sich in zwei Hss. translatee (v. 1477 BL). Dieser Lesart entspricht der kleine Prolog: O e z une novele estoire Qui bien devroit estre en memoire. *) M A R T I N 2

P.

38.

) A u c h die v o n R y c h n e r untersuchten D e n k m ä l e r der Chanson de geste w a -

ren in dieser Hinsicht w e n i g ergiebig und gestatteten nicht, „ t r o u v e u r s - a u t e u r s " und „jongleurs-executants" zu scheiden. N a c h i h m gehören beide demselben Metier an (cf. p. 22).

124

Lontans a este adiree: Mes of l'a un mestres trovee Qui l'a translatee en romanz. Oez comment ge la comanz.

(XII 1-6)

Hier liegt eine besondere Spielart des Jongleureingangs vor, für die Rychner weitere Beispiele aus den Prologen der Chanson de geste anführt: das folgende Gedicht wird als ,inedit' angepriesen, um seinen Wert zu erhöhen 1 ). Es kann sich also durchaus um einen bloßen Kunstgriff handeln. Dafür spricht, daß Richards Branche unverkennbar zwei ältere französische Branchen variiert, also schwerlich aus dem Lateinischen übersetzt sein kann. Auch fällt auf, daß sich Richard selbst am Ende in der dritten Person nennt („Ce vos dit Richart de Lison", v. 1476), derjenige, der die Geschichte im Prolog ankündigt, aber die Ichform gebraucht (Όβζ comment ge la coman^j ν. 6) und sich auf einen mestres bezieht, der die Geschichte gefunden und ins Romanische übersetzt habe (v. 4-5). Das legt den Schluß nahe, daß der kleine Prolog die Zutat eines Jongleurs, der ,mestres' aber, auf den er sich V . 4 bezieht, der Verfasser Richard de Lison ist, dessen Werk (durch Verkauf des Manuskriptes?) schließlich auch allgemein verbreitet wurde. Den umgekehrten Weg von der mündlichen Tradierung zur schriftlichen Aufzeichnung scheint Br. I X gegangen zu sein. Der Verfasser nennt sich selbst eingangs Un prestre de la Croix-en-Brie (IX 1) und bezeichnet sein Gedicht erst als une novele brauche (v. 5), später aber als merveillos romans (v. 36, vgl. 2203: A autre roman% voilentendre). Daß hier im Zusammenhang mit der schriftlichen Abfassung wohl auch schon an Leser zu denken ist, für die er seinen Erstling (v. 2209) bestimmt haben könnte, läßt sich vielleicht aus seinem Schluß entnehmen, wo von ,clercs' die Rede ist, deren Kritik er zu fürchten scheint (v. 2206 ff.). Worauf es hier aber vor allem ankommt, ist seine Quellenangabe: L'estoire temoinne a vraie Uns bons conteres, c'est la vraie (Celui 01 confer le conte) Qui tos les conteors sormonte Qui soient de ci jusqu'en Puille: Si set molt de force de guille. (IX 7-12) Angesichts dieses Zeugnisses wird augenfällig, wie einseitig Foulets streng literarisch-livreske Betrachtungsweise dem Entstehungsprozeß der Renartbranchen gegenüber bleiben mußte, leitete er doch seine Quellenanalyse von Br. I X mit dem Satz ein: „ I I (sc. der Vf. von Br. I X ) a certainement ete un lecteur attentif des poemes du goupil" 2 ). Der ,prestre de La Croieen-Brie' hat seine Schwankstoffe durch das Ohr aufgenommen und seine Bekanntschaft mit anderen Branchen des Renartzyklus höchstwahrschein*) RYCHNER p . 2 1 f .

2

) FOULET p. 451; seine Analyse endet: „il est interessant de decouvrir ainsi quelles pouvaient etre les lectures favorites [sc. Br. II, I, III, IV des RdR] d'un cur6 de Campagne ä la fin du Xlle siecle."

125 lieh auf demselben Wege gemacht. Auch wenn das nicht für alle Verfasser gilt und von den Jongleurs zum Teil auch sogenannte Sängermanuskripte mitgeführt wurden, wird man doch gut daran tun, bei Ursprungs- und Abhängigkeitsfragen nicht a priori von einem ein für allemal fixierten Wortlaut auszugehen und jeweils die Möglichkeit einer variablen, fließenden Überlieferung mit zu erwägen. Daß diese Erwägung, wie schon erwähnt, den Kritikern Foulets nicht weniger fern lag als ihm selbst, zeigt sich an demselben Beispiel (Br. I X 7-12), das Voretzsch und nach ihm Suchier kurzerhand als Zeugnis für mündliche Tradition, was für sie gleichbedeutend ist mit volkstümlichem Ursprung, ansehen wollten. Aber dieser, wie auch die weiteren, von Suchier herangezogenen Belege 1 ) lassen zunächst allesamt nur den Schluß auf mündliche T r a d i e r u n g , auf Verbreitung der Erzählungen durch den Vortrag von Jongleurs zu, nicht aber auf Ursprung der Stoffe in volkstümlicher T r a d i t i o n . So wenig die Berufungen auf schriftliche Quellen 2 ) allein schon gelehrten Ursprung verbürgen, ist auch durch Anspielungen auf mündliche Quellen nicht schon der einheimische Ursprung eines Stoffes gesichert. Wie der Verfasser von Br. X V I I I , der das lateinische Gedicht S A C E R D O S E T LUPUS .volkstümlich' machte, konnten auch andere Verfasser verfahren; die Frage, ob der letzte Ursprung ihrer Stoffe .volkstümlich' oder .gelehrt' war, braucht die Gestalt, in der sie in die zyklische Renartdichtung des 12. Jahrhunderts eingegangen sind, schon gar nicht mehr zu berühren. Auf diese Gestalt wird gerade im Prolog zu Br. I X wiederum in einer Weise hingedeutet, aus der sich entnehmen läßt, daß die Form des Schwanke nicht erst als ein Ergebnis der Literarisierung anzusehen ist, wie Voretzsch glaubte. Denn an dem weithin berühmten conteres wird vor allem gerühmt: Si set molt de force de guile (v. 12) - so sehr gilt das Überlistungsschema und damit der Schwankcharakter offenbar für die mündlich überlieferten Renarterzählungen, alias ,Tiermärchen', als kennzeichnend, daß der Listenreichtum der Hauptfigur am Ende auf den Erzähler selbst übertragen worden ist. Mit den beiden Tendenzen in der Ausbildung der Renart-Branchen, die sich in der Titelankündigung der Prologe anzeigten, teilt sich auch der Weg unserer weiteren Untersuchung. Wir werden in Kapitel I V auf das erste altfranzösische Tierepos (Br. I I - V a ) eingehen, mit dem Pierre de Saint-Cloud das Muster für die (im eigentlichen Sinne) epische, vor allem in den Hoftagsbranchen sich bezeugende Entwicklung des R d R geschaffen hat, und dabei sein Verhältnis zum Y S E N G R I M U S und zur heroischen Literatur einer neuen Betrachtung unterziehen. Wenn wir zuvor in diesem Kapitel Ursprung und Weg einer selbständigen Renart-Branche verfolgen, soll damit keine Vorentscheidung über die Priorität der Ausbildung von selbständigen Renart-Branchen über jene epische Entwicklung getroffen sein. Inwieweit das Werk Pierres de Saint-Cloud auch schon den Verfassern 1

) B r . I X 7 f f . , X X I I 1 1 - 1 2 , X 4 - 5 , I 4, X X V 1 3 , I V 2 2 (SUCHIER 2 2 4 ) .

2

) B r . X V I 899, X V I I I 1-2,

X X I V 6, X I I 1 (VORETZSCH, Z R P h X V I p. 2 6 f.).

τζ6

der ältesten auf uns gekommenen Branchen bekannt gewesen sein muß, steht dahin; doch hat zweifellos der Verfasser von Br. IV (und vor ihm vielleicht auch schon der Verfasser von Br. III) eine schon vorgebildete, durch Jongleurs verbreitete Form der Renart-Branche benutzt, deren Aufbauschema und Stilmuster sich weder vom Werk Pierres, noch von sonstigen literarischen Vorbildern direkt ableiten lassen. In der späteren zyklischen Entfaltung der volkssprachlichen Renartdichtung laufen beide Tendenzen sichtbar nebeneinander her (s. u. Kap. V, A u. B), weshalb wir zu der Annahme neigen, daß sie sich auch nebeneinander ausgebildet haben. Wenn wir es vorziehen, die kleinere Form des Fuchsschwanks (= me branche et un sol gäbet) vor der größeren des Tierepos zu behandeln, bestimmt uns dazu vornehmlich die methodische Erwägung, daß die bei der Erörterung der Verfasserschaft von Br. IV aufgeworfene Frage, ob uns die Hss. eine für den mündlichen Vortrag bestimmte Fassung oder die Textgestalt einer Buchedition bewahrt haben, sich besser an dem Produkt eines mutmaßlichen Jongleurs als an dem Werk Pierres untersuchen ließe, welches mit seiner Parodie eher in literarischen Bahnen mit schriftlich fixierter Textüberlieferung stehen dürfte. Für das prinzipielle Anliegen dieser Untersuchung eignet sich ferner Br. IV besser als die an sich ältere Br. III, weil bei ,Fuchs und Wolf im Brunnen' der Ursprung 1 ) des volkssprachlichen Tierschwanks im Rückvergleich mit der wesensverschiedenen Ausprägung desselben Stoffes durch das Exemplum X X I I I der D I S C I P L I N A C L E R I C A L I S sichtbar gemacht werden kann und eine relativ reiche literarische Überlieferung gestattet, den geschichtlichen Wandel seiner Gestaltungen bis zu R E N A R T L E C O N T R E F A I T , dem letzten allegorischen Tierepos des Mittelalters (Anfang 14. Jahrhundert), zu verfolgen. Das Verhältnis zwischen den verschiedenen Fassungen der Disc. Chr., des RdR und des R F ist durch eine lange Polemik vorbelastet, die für den Dogmatismus stoffgeschichtlicher Methoden besonders lehrreich ist. Nach Foulet hat der Verfasser von Br. I V seinen Stoff der Disc. Cler. entnommen 2 ) und ihn planvoll und geschickt nach dem Vorbild schon vorliegender Branchen (II-Va, III und vielleicht V) dem Tierepos Pierres angefügt; die Differenzen zwischen der Fassung der Disc. Cler. und Br. I V Wir gebrauchen den Begriff des Ursprungs als historische Kategorie in dem Sinne, wie ihn W. Benjamin in seiner Arbeit Ursprung des deutschen Trauerspiels gebraucht hat: „Ursprung, wiewohl durchaus historische Kategorie, hat mit Entstehung dennoch nichts gemein. Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. (. . .) Die Folgerung jedoch ist nicht, daß unverzüglich jedes frühe .Faktum' als wesensprägendes Moment zu nehmen wäre. Vielmehr beginnt die Aufgabe des Forschers hier, der ein solches Faktum erst dann für gesichert zu halten hat, wenn seine innerste Struktur so wesenhaft erscheint, daß sie als einen Ursprung es verrät" (Schriften, Frankfurt 1955, Bd. I, p. i 6 i f . ) . 2 ) FOULET p. 308: „Ici encore le trouvere est alle chercher son inspiration chez le clerc."

127

lassen sich Foulet zufolge ohne Rest aus diesem epischen Zuschnitt erklären1). Daß der Verfasser von Br. IV seinen Stoff in dem im 12. Jahrhundert weithin bekannten lateinischen Werk finden konnte, bestreitet Voretzsch nicht. Aber es sei nicht erwiesen, daß die jüdische Fabel des Raschi von Troyes, auf welcher Disc. Cler. X X I I I beruht, jüdischen Ursprungs und nicht selbst wiederum aus dem einheimischen .Tiermärchen' geschöpft sei. Da die Form der Geschichte in den Tierepen noch besondere Eigentümlichkeiten zeige, die sich in keiner der sonstigen Fassungen finden, könne die Disc. Cler. nicht die unmittelbare Quelle von Br. IV sein und sei für beide eine gemeinsame Quelle anzusetzen, „welche dann die mündliche Überlieferung sein müßte"2). Die Br. IV ist nach Voretzsch überhaupt nicht als ursprüngliche Form des Tierepos anzusehen, weil sie in der vorliegenden Form nicht Quelle für den mhd. Dichter gewesen sein könne: „In ihrer jetzigen Gestalt erscheint sie überarbeitet, unter Benutzung der Einleitung der Br. IVa und unter Einfluß des späteren Hanges zur geistlichen Satire." 3 ) Daß Br. IV nicht als ursprünglich, sondern als ein höchst kompliziertes, spätes Gebilde anzusehen sei, will L. Sudre auf anderem Wege erweisen. Er sucht unter allen verfügbaren mittelalterlichen und modernen Fassungen des Stoffes die allereinfachste (eine der Parabeln Odos von Ciringtonia), gibt sie als die ursprünglichste aus und schreibt ihr volkstümlichen Ursprung zu, weil ihre Gestalt zugleich in einem modernen Tiermärchen (Uncle Remus) belegt sei. Daran schließt sich seine Frage: „Comment cette forme si simple est-elle devenue la scene si compliquee de la branche IV?", die sich mit Hilfe seiner Methode der .superposition de motifs' ohne weitere Mühe lösen läßt4). Wenn wir diese verjährte Diskussion wieder aufgreifen, kann es nicht mehr darum gehen, die Grenzpfähle zwischen den starr behaupteten Positionen durch ein etwa noch übersehenes Detail um ein Geringes zu verschieben oder die Ursprünglichkeit von Branche IV noch um einen Grad wahrscheinlicher zu machen, als es Foulet schon tat (er sah sich indes nicht in der Lage, Voretzschs Einwänden mehr als eine Hypothese entgegenzustellen)6). Wir hoffen vielmehr, die erstarrten Gegensätze durch andere Gesichtspunkte wieder in Fluß zu bringen: *) ibid. p. 312: „Nous avons voulu montrer que, partant d'un recit comme celui de la Disciplina Clericalis et voulant faire cadrer les donnees avec Celles du Cycle de Renart - tel qu'il etait alors constitui - on pouvait fort bien arriver ä une narration semblable." 2 ) V O R E T Z S C H , ZRPh X V p. 353-354; zur Frage, ob die Fabel nicht doch auf die älteste hebräische Sammlung von Tierfabeln des im 2. Jahrhundert lebenden Rabbi Meir zurückgehen könnte, der 300 (nicht erhaltene) Fuchsfabeln gekannt haben soll, vgl. G. H. McKnight, P M L A X X I I I (1908) p. 504fr. 3 ) V O R E T Z S C H , ZRPh X V p. 361. 4

) SUDRE P. 2 3 2 .

5

) Cf. FOULET p. 296.

128

ι. Bei der Frage, ob das Exemplum X X I I I der Disc. Cler. als unmittelbare Quelle für die Branche IV des RdR gelten kann, ist bisher die Differenz verschiedenartiger gattungsbedingter Intentionen, d. h. der Schritt von der Beispielerzählung zum Versschwank, nicht in Anschlag gebracht worden. Es könnte sich herausstellen, daß abweichende Züge nicht notwendig auf eine zu erschließende .gemeinsame Quelle' zurückweisen, sondern sich einfacher aus dieser Differenz erklären lassen. 2. Bei der Frage, ob Br. IV, Br. IVa oder RF 823-1060 die ursprünglichere Version des Tierepos darstellt, ist bisher noch nicht berücksichtigt worden, in welcher Gestalt (Sängermanuskript oder Buchedition) der Text in den Sammelhandschriften auf uns gekommen ist. Je nachdem, ob eine dieser Versionen Indizien des mündlichen Vortrags oder einer definitiven Buchredaktion aufweist, muß auch ihre Stellung in der Überlieferung anders gesehen werden. Die .archaische' Knappheit und Einfachheit kann Signum einer jüngeren Buchredaktion sein, deren Verfasser die vielfältigen Variationsformen eines älteren ,style oral' beseitigt hat. 3. Auf der Suche nach der ursprünglichsten Form ist nach dem historischen Ort und nach den besonderen Wirkungsbedingungen der mittelalterlichen Varianten von ,Fuchs und Wolf im Brunnen' nicht eigens gefragt worden. Doch dürfte über sein Wesen oder, wenn man so will, seine Form ,ne varietur', auch daraus Aufschluß zu gewinnen sein, auf welche Moral hin der Schwankstoff immer wieder neu ausgelegt worden ist.

B. Der demonstrative Sinn des Exemplums und die sprichwörtliche Erfahrung des Fuchsschwanks (Disc. Cler. ΧΧΙΠ, RdR IV) Castigauit A r a b s filium suum dicens: Fili, ne dimittas pro futuris presencia, ne forsan perdas utrumque, sicut euenit lupo de bobus promissis a rustico. Dictum namque fuit de uno aratore quod boves illius recto tramite nollent incedere. Quibus dixit: Lupi uos comedant! Quod lupus audiens adquieuit. C u m autem dies declinaretur et iam rusticus ab aratro boues soluisset, uenit ad eum lupus ita dicens: D a michi boues quos michi promisisti! A d hec arator: Si uerbum dixi, non tarnen sacramento firmaui. E t lupus contra: Habere debeo, quia concessisti. Firmauerunt tandem pactum quod inde irent ad iudicem. Quod dum facerent, uulpi obuiauerunt. Quibus euntibus ait callida uulpis: Q u o tenditis? Illi quod factum fuerat narrauerunt uulpi. Quibus dixit: Pro nichilo alium iudicem queritis, quoniam rectum uobis inde faciam iudicium. Sed prius permittite me loqui consilio uni ex uobis et deinde alii; et si potero uos concordare sine iudicio, sentencia celabitur; sin autem, in commune dicetur. A t ipse concesserunt. E t uulpis primum locuta seorsum cum aratore ait: D a michi unam gallinam et uxori mee alteram, et habebis boues! Arator concessit. E t hoc facto cum lupo locuta est dicens: A u d i , amice, et meritis tuis precedentibus pro te debet mea si qua est facundia laborare. Tantum locuta sum cum rustico quod, si boues illius dimiseris omnino quietos, dabit tibi caseum ad magnitrudinem clipei factum. H o c lupus concessit. Cui uulpis inde inquit: Concede aratorem boues suos abducere, et ego ducam te ad locum ubi parantur illius casei, ut quem uolueris de multis,

129 eligere possis. Sed lupus astute uulpis deceptus uerbis quietum abire permisit rusticum. Vulpis uero uagando hue et illuc, quantum potuit, lupum deuiauit. Quern ueniente obscura nocte ad altum deduxit puteum. Cui super puteum stanti formam lune semiplene in ima putei radiantis ostendit et inquit: Hie est caseus quern tibi promisi! Descende si placet et comede! Ad hec lupus: Descende primitus, et si sola deferre non poteris ut te iuuem faciam que hortaris. Et hoc dicto uiderunt cordam pendentem in puteum, in cuius capite erat urceola ligata et in alio capite corde altera urceola, et pendebant tali ingenio quod una surgente altera descendebat. Quod uulpis simulac uidit, quasi obsequens precibus lupi urceolam intrauit et ad fundum uenit. Lupus autem inde gauisus ait: Cur non affers michi caseum? Vulpis ait: Nequeo pro magnitudine, sed intra aliam urceolam et ueni sicut spopondisti! Lupo intrante urceola magnitudine ponderis ducta cito fundum petiit, altera surgente cum uulpe que erat leuis. Que uulpecula tacto ore putei foras exiliuit et in puteo lupum dimisit. Et ita quia pro futuro quod presens erat dimisit, lupus boues et caseum perdidit1).

Die Geschichte von Fuchs und Wolf im Brunnen bildet in der Version der Disc. Cler. den zweiten Teil der Beispielerzählung. Als ,exemplum' veranschaulicht die Erzählung eine Lehre, die in einem (zugleich überleitenden) Spruch vorangestellt und durch einen kommentierenden Satz des Erzählers am Ende in einprägsamer Weise wiederholt wird. Denn aus dem Imperativ: ne dimittas futuris presencia ist am Ende ein Satz in Form des vollzogenen Beweises geworden: Et ita quia pro futuro quod presens erat dimisit, lupus boues et caseum perdidit. Der übersichtlichen, leicht nachvollziehbaren und unumstößlichen Art dieser Schlußfolgerung aus dem Beispiel entspricht eine lineare Vereinfachung des erzählten Vorgangs. Denn wenn man von den Reden absieht, drückt sich in jedem Satz ein Fortgang der Handlung aus; alles denkbare Beiwerk des Geschehens, das ein Verweilen in der Beschreibung erforderte, ist weggelassen; die Gegenstände entbehren aller Attribute, und nichts deutet bei den Personen darauf hin, daß in ihnen noch etwas anderes vor sich geht, als ihre gesprochenen Sätze ausdrücken. Wo der Leser auch nur einen Augenblick im Zweifel sein könnte, macht der Erzähler eigens durch einen Fingerzeig (,quasi') auf die Verstellung des Fuchses aufmerksam: Quod uulpis simulac uidit, quasi obsequens precibus lupi urceolam intrauit. Doch eigentlich kann ein solcher Zweifel gar nicht aufkommen, denn der Fuchs ist schon vor seiner ersten Rede als callida vulpis enthüllt und fixiert. Sein weiteres Verhalten ergibt sich ohne die geringste Abweichung aus dieser einen, in seiner facundia durchgängig bezeugten Eigenschaft, die er in fragloser Perfektion verkörpert. Seine beiden Mitspieler unterscheiden sich nur durch verschiedene Grade von Flächenhaftigkeit. Der Pflüger hat am wenigsten Eigensubstanz, er ist gleichsam nur da, um die unbedachte Verwünschung zu äußern, durch die der Kasus entsteht. Abgesehen von dieser Funktion kommt ihm im Gang der Erzählung keine Eigenexistenz zu: sein Abtreten von der Szene, nachdem der Wolf eingewilligt hat, bedarf nicht einmal mehr der Erwähnung. >) Disc. Cler. XXIII. 9 Jauß, Tierepos

130

Der Wolf hingegen scheint wenigstens einmal eine selbständige Regung zu zeigen, wenn er den Fuchs auffordert, doch zuerst in den Brunnen einzusteigen. Handelt es sich hier u m eine Regung des Mißtrauens, der Furcht, der Feigheit? Hätte hier der Erzähler mit dem sonst gewahrten Prinzip linear-eindeutiger Darstellung gebrochen und es dem Leser überlassen, sich für eine der drei möglichen Erklärungen seines inneren Verhaltens zu entscheiden? Doch psychologische Motivierung sucht man in unserem Text allerorts vergeblich. Aus welchem Beweggrund etwa der Wolf das Gegenwärtige (die Rinder) für ein Zukünftiges (den Käse) aufgibt, ist für den Erzähler ohne jede Bewandtnis. Daß er sich täuschen läßt, wird - so nahe es auch zu liegen scheint - nicht ausdrücklich auf seine topische Eigenschaft als Fresser und .gourmand' bezogen. Der Wolf im Exemplum ist nur scheinbar dieselbe Figur wie der Wolf in der Fabel. Der Wolf bei Petrus Alfonsi geht völlig in der Funktion auf, der Getäuschte zu sein, es kommt hier vornehmlich auf die Täuschung an und nicht so sehr auf den Getäuschten als Person mit topischem Charakter und daraus ableitbaren Regungen und Affekten. Auch die Regung des Zögerns beim ersten Blick in den Brunnen dient im Gesamtzusammenhang des Geschehens letztlich nur dazu, das Getäuschtwerden in dieser Lage durch eine Retardierung um so vollkommener zu machen. Denn der Fuchs hat, als er der Bitte des Wolfes entspricht, den Mechanismus des Brunnens schon durchschaut; die Täuschung des Wolfes war schon in seinen eigenen Worten angelegt, die ja das Versprechen enthielten, im Bedarfsfalle nachzukommen. Ebenso kommt es bei der Freude des Wolfes, nachdem der Fuchs unten angekommen ist, weniger auf die Bekundung eines Affekts als auf die Kontrastwirkung zwischen der Harmlosigkeit des Getäuschten und seinem sogleich eintretenden, selbstverschuldeten Verhängnis an. Schon aus dem Vorstehenden geht zur Genüge hervor, daß die vielgerühmte Knappheit und Schlichtheit dieses Erzählstils weit davon entfernt ist, „kunstlos" zu sein 1 ). Gerade die scheinbare Schlichtheit hat den Vorgang in hohem Maße stilisiert, so daß alles, was an sich zufällig eintreffen könnte, im Aspekt eines unvermeidlichen Ablaufs oder einer Fügung, über die nie ein Wort verloren wird, geschehen muß. Syntaktisch gesehen stellen sich diese fatalen Momente des Geschehens vornehmlich in Gestalt eines relativen Anschlusses dar. Wenn der Pflüger seine Verwünschung ausspricht, hat ihr der wie selbstverständlich zuhörende Wolf auch schon beigepflichtet (quod lupus audiens adquievit). Wenn Pflüger und Wolf sich geeinigt haben, einen Richter aufzusuchen, tritt ihnen auch schon der Fuchs entgegen und erbietet sich für das Amt (quod dum facerent, uulpi obuiauerunt). Und wenn der Fuchs gerade in Verlegenheit gebracht zu sein scheint mit dem Ansinnen des Wolfes, als erster in den Brunnen einzufahren, sehen sie beide auch schon (hoc dicto) die Ziehbrunnenvorrichtung, so daß der Schlaue (quod uulpis simulac vidit) der f ü r ihn soeben noch pein') So A. Hilka, Einl. in die Disc. Cler. p. VIII.

131 liehen Bitte willfahren kann, ohne daß es irgendeiner weiteren Überlegung oder gar Entscheidung bedarf. Das Handeln der drei Figuren ist so selbstverständlich in den Ablauf des Geschehens einbezogen, daß für den Spielraum eines echten Dilemmas, eines ,so oder anders', nicht die geringste Möglichkeit mehr offen steht. Innerhalb der streng linearen Darstellung fallen zwei einzelne Züge auf, die an sich für den demonstrativen Charakter des Vorgangs entbehrlich wären. Der Nebensatz: Cum autem dies declinaretur et iam rusticus ab aratro boues soluisset enthält einen deskriptiven Ansatz. Hier schiebt sich ein anschauliches Bild - der Pflüger, der nach vollbrachtem Tagewerk sein Zugvieh abschirrt - in die vorganghafte Beweisführung ein, das auch durch die Funktion dieses Satzes als Zeitangabe nicht ganz zu begründen ist. Denn einmal wird kein Grund ersichtlich, warum der Wolf den Pflüger nicht sogleich beim Wort nimmt, und zum andern braucht der Erzähler gleichwohl später noch einen weiteren Satz, um die Zeit bis zum Einbruch der tiefen Nacht verstreichen zu lassen: Vtilpis uero uagando hue et illuc, quantum potuit, lupum deviavit. Für die reine Logik der Fabel wäre auch dieser zweite, durch einen Weg eigens ausgemalte Zeitablauf entbehrlich und könnte es ebensogut heißen: ,er führte ihn zu einem tiefen Brunnen, in dem sich der soeben aufgegangene Mond spiegelte'. Gleichviel ob diese beiden Sätze als zufällige Relikte einer Vorlage anzusehen sind oder nicht, in der vorliegenden Gestaltung gewinnt der sonst rein demonstrative Vorgang gerade an diesen Punkten die erste Rundung zu einer Geschichte, in der nicht mehr alles in einer Schlußfolgerung aufgeht, oder, wie man hier noch etwas vorgreifend sagen muß, zu einer Novelle. Der Satz mit dem Bild vom Abschirren des Zugviehs ist noch in einer anderen Hinsicht interessant. Durch seine Einschaltung verstreicht zwischen dem Aussprechen der Verwünschung und dem Auftreten des Wolfes eine große Zeitspanne, mit der die sofortige Erfüllung des unbedachten Wunsches, wie sie für das Märchen charakteristisch ist, aufgeschoben wird. Dem Erzähler kommt es offensichtlich nicht im mindesten auf das Märchenhafte der Wunscherfüllung an. Dagegen legt er viel Wert auf die sorgfältige Ausführung des Rechtshandels; schon der Satz: quod lupus audiens adquieuit enthält eine Formel der Billigung, und im folgenden wird aus dem scheinbar erst so eindeutigen Anspruch des Wolfes eine formalistische Streitfrage. Daß der Situation im Ziehbrunnen ein hohes Maß an Komik eigen sein kann, wird in der Darstellung von Petrus Alfonsi nicht spürbar. Wenn er die Version aus dem Talmudkommentar des Rabbi Raschi als Vorlage benutzt hat, hat er auch die abschließende Pointe dieser Version beseitigt: „Et comment ferai-je pour remonter? dit le loup. Le goupil repondit: Le juste est delivre de la peine et le mechant le remplace." 1 ) Die Komik dieser Situation liegt ihm gleichermaßen fern wie zuvor das Märchenhafte der Wunscherfüllung, seine Beispielerzählung lebt allein aus dem ') zitiert von

9'

FOULET P.

308.

IJ2

„Glauben an den Präzedenzfall und seine Beweiskraft" 1 ) und zielt ausschließlich auf das Fazit, zu dem die Nichtbeachtung der eingangs formulierten Lehre: ne dimittas pro futuris presencia notwendig führen mußte. Auch wenn sich diese Lehre nicht allein aus diesem Exempel gewinnen ließe und andere Exempla vorstellbar wären, die sie auch vor Augen führen könnten, bestätigt es darum nicht minder etwas Allgemeingültiges und lernt man daraus, „wie es ,immer' ist und geschieht" 2 ). Darin allein liegt auch die Rechtfertigung für Petrus Alfonsi, solche Exempla zu sammeln, der in seinem Prolog eine Anleitung zum rechten Leben ankündigt (reddit etiim clericum disciplinatum) und dabei im Studium der sancta philosophia, in der Übung der continencia und in der Befolgung praktischer Weisheitsregeln bereits den geradlinigen Weg in die ewige Seligkeit vorgezeichnet sieht: eoque tramite gradiatur in seculo qui eum ducat ad regna celorum. Die Branche IV des RdR, die den Schwank von Fuchs und Wolf im Brunnen enthält, umfaßt 478 gepaarte Achtsilber und hat damit ein für die Gattung konventionelles Format 3 ). Schon die äußerliche Differenz im Umfang der beiden Versionen deutet darauf hin, daß die demonstrative Knappheit des Exemplums einem anderen Stilisationsprinzip gewichen ist. Doch wer erwartet, daß damit einer ausgesprochen deskriptiven Tendenz Raum gegeben sei, wird überrascht feststellen, daß in beiden Texten das Verhältnis von Rede und Bericht sehr ähnlich und die Darstellung des äußeren Vorgangs in Br. IV zwar ungleich detaillierter, aber dabei im wesentlichen doch progressiv geblieben ist: zu einem ausgesprochenen Verweilen in gegenständlicher Beschreibung kommt es auch hier nirgends. Wo ein besonderer Anlaß dazu vorläge, wie im Falle der Brunnenvorrichtung, finden sich in Br. IV sogar nur zwei Verse von schlagender definitorischer Kürze: Seigneurs, or escoutez merveillesl En ce puis si avoit deus seilles: Quant l'une vient, et l'autre vait,

(ν. 1 5 1 - 1 5 3)

während Petrus Alfonsi für seine erschöpfende Beschreibung einen langen Satz von 30 Wörtern dazu benötigte. Ebenso ist in Br. IV an der Stelle, wo der Wolf einfährt und in der Disc. Cler. das gegenseitige Auf- und Niederfahren begründet wird (Lupo intrante urceola magnitudine ponderis ducta cito fundum petiit, altera surge fite cum uulpe que erat levis), auf eine vollständige *) F. Dornseiff, Literarische thek Warburg, 2

Verwendungen des Beispiels,

in: Vorträge der

Biblio-

1924-192 5 (Teubner 1927), p. 207.

) Cf. Hans Lipps, Beispiel, Exempel, Fall und das Verhältnis des Rechts/alles Zum Gesetz- In: Die Verbindlichkeit der Sprache, Frankfurt 1944, p. 46: „Das Allgemeingültige des Exempels liegt darin, wie sich in einem Geschehen die ,ewige Natur der Dinge* bzw. die konstante Art von etwas durchsetzt und sich das andere unterordnet. Insofern lernt man daraus, wie es .immer' ist und geschieht. Dieses .immer' darf aber nicht zu einem .allemal' banalisiert werden: gerade daß es nicht allemal so ist, hebt ja doch das Exemplum als ein bedeutsames Geschehen heraus aus den alltäglichen Zufällen." 8 ) Über die Länge der Renart-Branchen s. u. p. 251 f.

1

33

Begründung verzichtet und sogleich auf die Situation der Begegnung abgehoben worden: Ysengrins fu Ii plus pesans, Si s'en avale contreval. Or escoutez le bautestal! Ou puis se sont entre encontre.

(v. 344-347)

Andere Möglichkeiten eines direkten stilistischen Vergleichs sind nicht gegeben; doch zeigen die beiden Fälle schon zur Genüge, daß auf der Ebene gegenständlicher Beschreibung das Exemplum auf definitorische Abgeschlossenheit, die Schwankerzählung hingegen auf suggestive Andeutung bedacht zu sein scheint. Für den Wesensunterschied der beiden Erzählgattungen bedeutsamer ist indes die Einführung eines Elementes in Br. IV, das bei Petrus Alfonsi fast völlig fehlt: der kontingente Weg. Der einen Umstandsbestimmung des Orts vagando hue et illuc aus dem Satz, der im lateinischen Text aus der streng linearen Darstellung herausfiel, stehen hier gleichsam ein weit ausgeführter Weg des Fuchses mit obligatem Hühnerraub (v. 35-148), der parallele Weg des Wolfes zum Brunnen (ν. 184-200) und schließlich noch sein Rückweg gegenüber (v. 445-470). Was dort in einem vagen hue et illuc als unwesentlich abgetan ist, hat der Verfasser der Renart-Branche in einer, fast möchte man im Blick auf v. 35-66 sagen: skurrilen Umständlichkeit in den Blick gehoben. Zwar würde man sicher fehlgehen, wollte man etwa aus allen Punkten des Anwegs ein anschauliches Bild zusammensetzen. Oft handelt es sich nur um Versatzstücke, die aus Reimzwang zu erklären sind, wie z. B.: S'en est torne·.ζ vers une pree. Se eon il vint en une aree (v. 39-40); lediglich sentier (v. 59) erhält unter den beliebig gehäuften Landschaftsbezeichnungen {par une brace, ν. 4 1 ; fors del hois . . . en l'oreille, v. 47; en un plessie, v. 64) die aus dem Artusroman geläufige Funktion der Ankündigung einer entscheidenden Wendung, in diesem Fall eines unversehens (si con il ot. . ., v. 63) sich auftuenden Jagdgrunds. Die Einzelheiten des Weges, die genaue Ortsbeschreibung der Abtei (par encoste d'unes avoines, v. 65), wie auch die wiederholten Beteuerungen, daß die Scheune unzugänglich, aber reich an Geflügel sei, sind zwar für den Zusammenhang der Geschichte ohne Bewandtnis, besagen für den Sinn des Geschehens aber gleichwohl etwas. Während für Petrus Alfonsi Raum, Weg und Ort (vom Feld des Pflügers ist nicht einmal die Rede) abstrakt bleiben können, weil es ihm allein auf den von allen kontingenten Bedingungen ablösbaren, demonstrativen Sinn des Vorgangs ankommt, erhält im volkssprachlichen Tierschwank alle Örtlichkeit in dem Maße wieder Eigendasein, als die Umstände des Weges das Handeln der Figuren selbst mitbedingen. Damit ändert sich zugleich aber auch die Weise, in der die Figuren erscheinen. Renarts Verhalten ergibt sich nicht mehr aus einer vorgegebenen und geradezu verkörperten Eigenschaft. Der Fuchs, der bei Petrus Alfonsi in seiner absoluten Perfektion auch nicht durch die (an sich erst für ihn peinliche) Bitte des Wolfes angetastet wurde und sich als Schiedsrichter

134 der andern aufspielte, wird hier selbst in ein Dilemma hineingeführt, durch das sein eigentliches Wesen erst zum Vorschein kommt. Der Wolf wird nicht 'einfach mit einer simplen List getäuscht; um ihn zur Fahrt in den Brunnen zu überreden, bedarf es einer fein gesponnenen Argumentation, die gerade bei ihm verfängt. Das Dilemma, aus dem sich der Fuchs wieder herauszureden weiß, ist für den Erzähler offenbar gleichbedeutend mit seiner aventure überhaupt, denn er charakterisiert die Begebenheit schon einleitend mit den Worten: O r vos dirai quel mcsestance A v i n t Renart et quel pesance.

(v. 3 3 - 3 4 )

Das Dilemma besteht zunächst in einer durch grant fein qui molt le dehete (v. 38) bedingten Nahrungssuche. Der Hunger motiviert den Aufbruch Renarts zu dem, was später seine aventure (v. 106) genannt wird. Wir haben hier, da dieses Aufbruchsschema auch schon in Br. III, und dort ausführlicher (cf. v. 5-9), thematisiert ist, den Anfang einer konventionellen Struktur, die in den späteren Branchen auf Schritt und Tritt begegnet 1 ). Das Dilemma Renarts wird sodann als Risiko dargestellt, das er auf sich nehmen muß, um durch eine unverschlossene Tür sich Zugang zu den Hühnern zu verschaffen (Or est Renars en grant balance, cf. v. iooff.). Dabei macht die Gebärde Renarts, der noch einmal zurückschreckt, nachdem er das Tor bereits passiert hat, und sodann die Motivierung seines endgültigen Entschlusses durch den Hunger: Mais besoin fait vielle troter, E t la fain tant le par tourmente, O u bei Ii soit ou se repente, L e refait arriere fichier Por les gelines acrochier.

(v. 1 1 6 - 1 2 0 )

besonders deutlich, daß in der aventure dieses Antihelden eine Parodie des Ideals ritterlicher Perfektion mit angelegt ist. Schon zuvor und auch sonst liegt in den zahlreichen ritterlichen Anthropomorphismen, wie ζ. B. wenn der Ort des beabsichtigten Hühnerraubes mit den Worten angekündigt wird: . . . une grange par dejoste, Ou Renars velt fere une joste (v. 67f.) 2 ), für den mittelalterlichen Zuhörer vielleicht mehr Komik als es der moderne Leser noch zu empfinden vermag. Auch wenn solche Komik nicht gleich als gezielter Spott verstanden werden kann, trägt sie doch dazu bei, das Antiheldische der Renartfigur ständig vor Augen zu führen. Der Vers: Qui chaut? tout est en aventure (v. 106) erhält erst in diesem Zusammenhang seinen vollen ironischen Sinn. Hier handelt es sich nicht nur um die Übertragung des hohen epischen Stils auf eine Tierfigur, sondern um die parodierte Attitude des aventure-suchenden Helden als solche: die aventure richtet sich auf Hühner und wird geführt von einem ,Helden', der erst einmal wieder ' ) W i r kommen auf diese konventionelle Struktur in Kap. V , Α zurück. ') Weitere Anthropomorphismen finden sich in Br. I V v. 46, 68, 86, 87, 90, 1 0 3 - 1 0 4 , 1 3 8 , 1 9 2 , 200, 264, 402, 4 2 7 , 470.

135 umkehrt. Man verkennt etwas von der Suggestion dieser Figur, solange man nicht sieht, daß ihr gerade durch solche antiheldischen Züge, wie Furcht (grant paour a d'estre surpris, v. 108), Anwandlung umzukehren (retourne^ est par couardie, v. 112), pseudoheldischer Entschluß aus bloßem Hunger (cf. v. 117), Erfolg durch unheroische List oder bloße Rhetorik, eine im Vergleich zu der heroischen Literatur ungewöhnliche Art von Liebenswürdigkeit im Allzumenschlichen zukommen mußte, wie sie vielleicht mit dem Attribut et si n'est pas noiseus (v. 30) im Prolog umschrieben ist 1 ). Zu diesen antiheldischen Zügen der Figur des Fuchses gehört auch seine Selbstzerknirschung, nachdem er, ohne recht zu wissen warum, in den Brunnen geraten ist: Ne prise deus boutons son sens (v. 183). In dieser Situation erreicht mit dem Dilemma Renarts (Or est Renart en male frape, v. 175) auch die Spannung des Zuhörers ihren Höhepunkt. Denn selbst wenn man sich hier noch an die zuvor gegebene Definition des Brunnens erinnert: Quant l'une vient, et Γautre vait (ν. 153) und wie immer im Stillen damit rechnet, daß sich der Fuchs am Ende doch aus der Schlinge ziehen wird, bleibt die Überraschung im Wie doch bis zuletzt gewahrt. Der Verfasser von Br. IV, der das Dilemma des Fuchses in die Geschichte hineinbrachte, hat noch in anderer Hinsicht seine Kombinationsgabe und seinen Einfallsreichtum bewiesen. Die geschickte Verknüpfung der Brunnenfabel mit dem Spiegelbildmotiv ermöglicht in der Parallelisierung der Situationen von Fuchs und Wolf eine Weise der Überlistung, die vor derjenigen aller anderen Varianten des Stoffes dadurch ausgezeichnet ist, daß sie frei von allen äußeren, kontingenten Bedingungen, nämlich einzig und allein durch Beredsamkeit zustande kommt. Dem Fuchs bei Petrus Alfonsi kam erst der Mondreflex auf dem Wasserspiegel des Brunnens und dann gerade der Umstand zustatten, der seine List zunächst zu vereiteln schien, daß nämlich der Wolf ihn auffordert, zuerst einzufahren, und ihm dazuhin verspricht, im Bedarfsfalle nachzukommen. So bedarf es dort am Ende nur noch der durch das Versprechen schon vorgezeichneten Lüge: Nequeo pro magnitudine (sc. casei), nicht aber einer besonderen, für den Fuchs charakteristischen Beredsamkeit. Von einer solchen ist in der Disc. Cler. auch sonst nicht viel zu bemerken; die dürftige Schmeichelei mit meritis tuis precedentibus und die eine Übertreibung caseum ad magnitudinem clipei factum stellt mehr die Stupidität des Wolfes als die ,facundia' des Fuchses heraus. In Br. IV hingegen kommt Renart, der bereits auf dem Grund des Brunnens sitzt, als Ysengrin erscheint, kein äußerer Umstand zustatten. Auch ist ihm eher hinderlich als förderlich, daß Ysengrin sein eigenes Spiegelbild an der Seite Renarts im Brunnen für das Gesicht seiner Frau hält und sogleich vor Eifersucht zu rasen beginnt (cf. v. 209-212). Die Art und Weise, wie der Erzähler von diesen Prämissen aus Renart seine List einfädeln läßt, ist ein Glanzstück des ganzen Zyklus und soll darum etwas ausführlicher zitiert werden. A u f noiseus (v. 30) weist der Vers zurück, mit dem Renart dem Wolf zunächst den Zutritt ins Paradies verwehren will: n'avons eure ceens de noise (ν. 2 9 7 ) .

IJ6

Que qu'Isengrins se dementoit 230

E t Renars trestoz coiz estoit, E t le laissa assez usler, Puis si le prist a apeler. ,Qui est ce, diex, qui m'aparole? J a tiens ge ca dedenz m'escole.'

235

,Qui es tu, ca?' dist Ysengrin. J a sui je vostre bon voisin Qui fui jadiz vostre compere, Plus m'amiez que vostre frere. Mais l'en m'apelle feu Renart

240

Qui tant savoit d'engin et d'art.' Dist Ysengrins ,c'est mes confors: Des quant es tu, Renart, done mors?' E t il li respont ,des l'autrier. Nulz hons ne s'en doit merveiller,

245

Se je sui mors: aussi mourront Tretuit cil qui en vie sont. Parmi la mort les convendra Passer au jor que diex plaira. O r atent m'ame nostre sire

250

Qui m'a gete de cest martire. J e vos pri, biau compere dous, Que me pardonnez les courrous Que l'autrier eüstes vers moi.' Dist Ysengrins ,et je Potroi.

Die Konzipierung der List - das erhöht die Spannung - wird vom Er2ähler nicht ausgedrückt, auch nicht in der sonst üblichen Wendung et se conmence a pour penser (ν. 115) angedeutet. Auch läßt er Renart nicht etwa auf die vorausgegangene Schmährede des eifersüchtigen Ysengrin erwidern: Renarts Rede setzt sogleich von der Ebene seiner Fiktion aus ein und umhüllt ihn mit dem Nimbus eines Entrücktseins (feu Renart), das der Aggressivität Ysengrins von vornherein den Boden unter den Füßen entzieht. Dabei ersteht nach und nach an Stelle des vexierenden, eine Untreue Hersents vortäuschenden Spiegelbildes auf dem Brunnengrund eine neue, allein aus der Rede Renarts unterhaltene Spiegelung: die Fata Morgana eines Paradieses ,ad usum lupi'. Die verfängliche Frage: Des quant es tu, Renart done mort? (v. 242) dient als Anknüpfungspunkt für einen Sermon über das erbauliche Thema ,wir alle müssen sterben', der zugleich die Ausflucht des l'autrier (ν. 243) verdecken und die gerührte Versöhnung vorbereiten muß. Die Ausmalung der Freuden des Paradieses geht vom Zustand der Verklärung: E t m'ame est en paradis mise, Devant les piez Jhesu assise

(ν. 263 f . )

unmerklich in die Aussicht auf einen wunderbaren Jagdgrund über und steigert sich schließlich zu der Vision eines Schlaraffenlandes für Wölfe, so daß es an sich nur noch der Aufforderung bedürfte, in den Eimer zu

137 steigen, um das Verhängnis Ysengrins zu besiegeln. Doch der Verfasser hat diese Aufforderung noch weiter hinausgerückt, um den Reiz der Situation des ,Als ob' noch mehr auszukosten. Renart verweigert dem biau compere dous den Zutritt zu dem fiktiven Paradies so lange, bis dieser selbst den ,fait accompli' der Untreue Hersents dementiert hat, und setzt ihm damit, bevor er ihn seine letzte Beichte ablegen und Gott um Gnade anflehen läßt, die Hörner in der Sphäre des Irrealen gleichsam noch ein zweites Mal auf. Hier wird eine Eigentümlichkeit des volkssprachlichen Tierschwanks greifbar, die sich im lateinischen Exemplum noch nicht findet: dem französischen Dichter kommt es nicht allein auf den demonstrativen Sinn des Überlistungsvorgangs an, sondern ebensosehr auf die Illusion des Getäuschten, die Fiktion eines ,Als ob', der er verfällt und in der seine eigentliche Natur - beim Wolf die unersättliche Gier, die ihn um der vorgespiegelten Hammel und Schafe willen dazu hinreißt, seine Ehre als Gatte preiszugeben - zum Vorschein kommt, die sein Verhalten in Wahrheit bestimmt. Aber auch der allgemeine Sinn des Überlistungsvorgangs wird im volkssprachlichen Tierschwank anders gefaßt als im lateinischen Exemplum. Während Petrus Alfonsi auf einen Wortwechsel von Fuchs und Wolf beim Auf- und Niederfahren verzichtet, läßt der Verfasser von Br. IV den Fuchs noch einmal zu Wort kommen. Seiner Hohnrede (gap), die den Getäuschten aus seiner Illusion reißt, ist eigentümlich (wie auch anderweitig in den Renart-Branchen) 1 ), daß sie das Fazit aus der Situation zieht und es in eine spruchartige Form bringt: ,N'en faites ja chiere ne frume, Bien vous en dirai la coustume: Quant Ii uns va, Ii autres vient, C'est la costume qui avient. J e vois en paradis la sus, E t tu vas en enfer la jus.' (v. 3 5 1 - 3 5 6 )

Der Vers Quant Ii uns va, Ii autres vient (353) hat seine Entsprechung in Vers 153: Quant l'une vient, et Γautre vait, mit dem die Funktion der Eimer im Ziehbrunnen beschrieben wurde. In dieser Wiederaufnahme erhält die Formulierung sprichwörtliche Funktion, ohne daß sie darum auch außerhalb unseres Textes sprichwörtlich nachweisbar zu sein brauchte. Vielmehr, sie hätte durch den Schwank von Fuchs und Wolf im Brunnen sprichwörtlich werden können, da sie - mit A. Jolles zu sprechen - eine singulare Erfahrung abschließt und als Erfahrungsschluß „in dieser Weise und in dieser Welt nur in sich selbst und aus sich selbst bindend und wertbar ist" 2 ). Das Fazit dieser singulären Situation wird von Renart selbst als coustume qui avient (v. 354), als ein sich im Lauf der Dinge immer wieder V g l . etwa Br. I I I 82, 432; I I 364, 445fr. - Das Sprichwortmaterial des R d R hat B . J . Whiting gesammelt {Proverbial material from the Old-French poem on Reynard the Fox, in: Harvard Stud. X V I I I , 1935, p. 235-270). 8 ) J o l l e s p. 155.

i38 bestätigender .Brauch' ausgegeben und stellt sich damit zugleich für Ysengrin als etwas dar, das zwar für ihn nicht vorhersehbar oder im voraus von einer Maxime abzuleiten war, aber gleichwohl notwendig eintreten mußte. Der Sinn des Geschehens ist also im Unterschied zu dem des lateinischen Exemplums kein lehrbarer, an einem Fall ein für allemal demonstrier- und erweisbarer Satz, aus dem sich ,ein Exempel statuieren' und eine Regel des Verhaltens machen läßt, sondern die empirische, erst in der Rückschau mögliche 1 ) Feststellung: so und nicht anders mußte es dieses Mal wieder kommen. Das Fazit des Fuchsschwanks ist keine lehrbare Moral oder moralische Lehre, sondern sprichwörtliche Weisheit der Erfahrung, die ihrem Wesen nach retrospektiv ist und darum nicht wie das Fazit des Exemplums verallgemeinert und in verallgemeinerter Form zur Richtschnur künftigen Handelns erhoben werden kann. Wo eine sprichwörtliche Wahrheit einmal im Lauf der Dinge ermöglichen könnte, eine unvermeidlich bevorstehende Wendung vorherzusehen, bleibt sie dem Handelnden entzogen oder wäre ihm zu nichts nütze, wie etwa im Falle von beseitigfait vielle troter (v. 116), wo sie der Erzähler benutzt, um die Umkehr des hungrigen Renart anzukündigen. Wollte man das sprichwörtliche Fazit des Schwankes von Fuchs und Wolf im Brunnen verallgemeinern, so käme man allenfalls auf den schon im Prolog ausgesprochenen Satz von der jederzeit möglichen Verkehrung von Weisheit in Torheit {Mes en cest monde n'a si sage, Au chef de foi% tfaut a folage, v. 31 f.), bzw. auf die möglicherweise zugrunde liegenden Bibelstellen von Gott, der die Hohen erniedrigt und die Niedrigen erhöht (Ps. 75, 8; i. Sam. 2, 6-8) 2). Doch auch in dieser Gestalt betrifft die sprichwörtliche Wahrheit des Schwanks nur die Form zu erwartender Erfahrungen und enthält keine praktisch anwendbare moralische Lehre von der Art der Maxime: ne dimittas pro futuris presencia , die man sich eingedenk dieses Exempels zur Regel machen könnte. Auch der Fuchs, der sich seine soeben erworbene Erfahrung vom Mechanismus des Brunnens zunutze macht, ist erst durch eigenen Schaden klug geworden und handelt nicht nach Regeln, die er sich aus der Erfahrung gebildet hat. Wenn er selbst dabei um eine Erfahrung reicher wurde, besagt das nicht, daß er darum im ganzen klüger, listiger oder gar weiser geworden wäre, als er immer schon ist und bleibt. Er wird sich, wie der Eingang des Schwankes zeigt, immer wieder gegen besseres Wissen (que bien set qu'il fait musardie, v. i n ) in Gefahr bringen und seine List gegen den Mächtigeren aufs 1 ) Vgl. J O L L E S p. 1 5 8 : „Alles Lehrhafte ist ein Anfang, etwas, worauf etwas weiter gebaut werden soll - die Erfahrung in der Form, in der sie der Spruch faßt, ist ein Schluß. Ihre Tendenz ist rückschauend, ihr Charakter ist resignierend." 2 ) Diese Bibelstellen liegen auch der Antwort auf ein altes Bibelrätsel zugrunde, das W. Anderson im Zusammenhang mit den ältesten Varianten von .Kaiser und Abt' (Helsinki 1923, F F Communications Nr. 42, p. 207-208,283) erörtert: .Was tut Gott? Gott macht Leitern, den einen läßt er herunter, den andern heraufsteigen.'

!39 Spiel setzen: seine Art zu leben wird sich durch seine wachsende Erfahrung auch nicht um ein Jota ändern, denn die Situationen, aus denen er Erfahrung gewinnt, sind typischer Art und ihm nicht im besondern eigen, sie betreffen nicht ein Selbstsein, sondern die allgemeine Natur des Fuchses. Auch er ist, wie alle anderen Tierfiguren, seiner Natur unentrinnbar verhaftet und hat ihnen nur dadurch etwas voraus, daß der dominierende Zug seines Wesens, die List, ihn in ein anderes Verhältnis zum Lauf der Dinge setzt: er kann nicht ein zweites Mal auf dieselbe Weise überrascht oder an demselben schwachen Punkte als anfällig betroffen werden und ist imstande, mit der Fixiertheit der anderen Charaktere zu rechnen. Auch seine aus der Erfahrung des Ziehbrunnens gewonnene List verfängt beim Wolf nur darum, weil er ihn an seinem schwachen Punkte zu fassen versteht. Das Verhältnis des Wolfes zu seiner Natur ist derart, daß er nicht allein ein zweites Mal, sondern immer wieder durch seine Gier verlockt werden kann. Er wird sich nie auch nur soviel über den Lauf der Dinge erheben, als notwendig ist, um nicht wieder in denselben Fehler zu verfallen; sein Mißtrauen gegenüber dem Fuchs, der ihn noch jedesmal betrog, wird sich nie der fatalen Neigung seiner Natur gegenüber behaupten. Insofern aber dem Fuchs nicht allein im Verhältnis zu seinem Hauptwidersacher, sondern auch in seinem Verhältnis zu den anderen Tierfiguren die Funktion zufällt, die Begrenzung und Gebundenheit ihres naturhaften Soseins aufzudecken, tritt er in seine für das mittelalterliche Tierepos kennzeichnende Rolle ein, auf die wir noch ausführlich zurückkommen (s. u. Kapitel IV C). In der Würdigung der Leistung des Verfassers von Br. IV muß nicht zuletzt aber auch eine Kunstübung hervorgehoben werden, die er in seltener Vollkommenheit beherrscht: die Parodie geistlicher Dinge. Dabei ist nicht so sehr an die etwas plumpe Klostersatire des dritten Teils zu denken, die mit einem Topos des ,Küchenhumors' beginnt: Seigneurs, or oiez des renduz Conme il perdirent leur vertuz. Leur feves furent trop salees Que il orent mengie gravees, (v. 369-372)

sodann das auch aus dem Y S E N G R I M U S bekannte Motiv benutzt, wie die Mönche in der Eile zu allen möglichen und unmöglichen Waffen greifen (v. 407 ff.), und einen nicht mehr verständlichen Ausfall gegen den Prior enthält {cut diex otroit grant deshonnour, v. 432) '•). Denn im Vergleich damit stehen die travestierenden Reden, in denen Renart den ,status animarum post mortem' beschreibt, auf einem ungleich höheren Niveau. Nicht daß es dazu irgendwelcher Entstellungen von Texten oder einer besonderen satirischen Absicht bedürfte! Es genügt schon, daß Renart in den Bußpredigerton verfällt und sich dabei selbst am Ende die Auszeichnung zuteil werden läßt, daß Gott der Herr ihn eigens aus dem Martyrium dieser x

bis

) Cf.

435.

YSENGRIMUS V

969fr.; zum Thema ,Küchenhumor' s.

CURTIUS P.

432

140 Welt zu sich gerufen habe (cf. v. 244ff.) 1 ): der Fuchsschwank erreicht schon allein durch die ihm inhärente Travestierung menschlicher Dinge in tierisches Gewand jene Wirkung, zu der es in der Satire besonderer Mittel und Anstrengungen bedarf. Darum haftet seinem Spott auch nicht das Pathos der strafenden Satire an; der Dichter kann sehr weit gehen und doch die heitere Sphäre liebenswürdigen Scherzes - (l'ame Renart) devant les pie^Jbesu assise (ν 264) - nicht verlassen. Ob dabei mit Renarts Geste der Abwehr vor Ysengrin (Paradis est celestiaus, Mais »'est mie a tou% conmunaus, v. 281 f.), mit der anagogischen Auslegung der beiden Eimer als Waagschalen des Guten und des Bösen (poises... de bien et de mal, v. 303) und mit der im Namen Jesu gewährten und im Bild der Kerzen bedeuteten Erlösung Ysengrins (v. 336-340) auf die Lehre von der Gnadenwahl im besonderen gezielt werden sollte, läßt sich wohl kaum noch sicher feststellen. Wenn zum vollen Verständnis solcher ironischer Anspielungen klerikale Bildung vorausgesetzt werden muß, ist andererseits aber auch dafür gesorgt, daß der Geschmack an drastischeren Effekten von der Art der verkehrten Gebetshaltung Ysengrins (Son cul tourna vers orient etc., v. 325 ff.) nicht zu kurz kommt. Einem Verfasser, der durch solchen Freimut in der Behandlung geistlicher Dinge ausgezeichnet ist und dessen künstlerische Eigenart im Verlauf unserer Analyse immer wieder zutage trat, kann man auch nicht absprechen, daß er imstande war, die Brunnenfabel aus der Disc. Cler. mit dem Motiv des Spiegelbilds, gleichviel ob er das letztere irgendwo entlehnte oder sich selbst dazu ausdachte, in eigenwilliger Weise zu kombinieren. Soweit sind wir mit Foulet einig 2 ). Die Differenz der beiden Gestaltungen enthält jedoch noch mehr, als sich mit der Anpassung an das Vorbild der ältesten Branchen (II-Va) erklären läßt 3 ). Der Verfasser von Br. I V hat zwar für seinen Fuchsschwank die traditionellen Beziehungen von Renart und Ysengrin in der neuen Auslegung, die das Werk Pierres de Saint-Cloud eröffnete, vorausgesetzt, sich im übrigen aber nicht um die epische Welt vom Hoftag König Nobles und um das Motiv der ,Fehde der beiden Barone* gekümmert4). Seine Branche hat nicht den Charakter einer geradlinigen Fortsetzung, die eine epische Fabel ihrem Ende näherführen oder um ein Stück erweitern würde: es handelt sich hier nur um un sol gäbet (v. 19), um e i n e n von unendlich vielen möglichen Streichen de celui qui tant set d'abet (v. 20). Es ist darum besonders bezeichnend, daß sich der Verfasser von Br. IV genau besehen nur auf die eine Episode im Or atent m'ame nostre sire (ν. 249) emendiert Martin nach Ms. L : Or m'a tant ame nostre sire (Observations p. 40), wodurch diese Nuance noch deutlicher herauskommt. In der Folklore hat die Paradiesfiktion von Br. I V eine Entsprechung in dem Aberglauben, der Grund mancher Brunnen rühre an eine jenseitige Welt, vgl. McKnight, P M L A X X I I I (1908), p. 500 Anm. 1. 2

) Vgl. p. jo4f. ) Vgl. dazu Foulets Ausführungen p. 3 0 8 - 3 1 2 . 4 ) Wie Foulet selbst feststellen mußte, vgl. p. 289. 3

141 Werk Pierres 2urückbezieht, die am meisten schwankhaften Charakter hat: Renarts Minneabenteuer mit Hersent. Die neuen Züge, die den volkssprachlichen Tierschwank von dem lateinischen Exemplum abheben: die Einführung eines Dilemmas, dem die List Renarts allererst entspringen muß, die Ausgestaltung einer Als-obSituation, die die wahre Natur des Gegenspielers zum Vorschein bringt, die Ersetzung der allgemeingültigen Maxime durch ein sprichwortartiges Fazit, das dem unvorhersehbaren Lauf der Dinge gerecht wird, und die scherzhafte Travestie heroischer Ideale und geistlicher Dinge im tierischen Gewand - all dies läßt sich weder durch das formale Vorbild des ersten altfranzösischen Tierepos (Br. II-Va), noch durch den Rekurs auf die von Voretzsch postulierte gemeinsame Quelle der Disc. Cler. und der Tierepen erklären. Auch wenn sich nicht bis ins letzte beweisen läßt, daß das Exemplum XXIII der Disc. Cler. als Vorlage für Br. IV gedient hat, wäre andererseits doch auch der Schritt von einem einheimischen ,Tiermärchen' zu dieser Renart-Branche nicht geringer zu veranschlagen als das fehlende Spiegelungsmotiv bei der ersterwähnten Filiation. Da dieses Motiv die conditio sine qua non für die neue Gestaltung des Stoffes in der RenartBranche darstellt, deren besondere Eigentümlichkeiten noch nie für das hypothetische Tiermärchen des Mittelalters in Anspruch genommen wurden, spricht viel für die Annahme, daß es sich der Verfasser von Br. IV im Zuge seiner neuen Intention eigens ausdachte und haben wir keinen Anlaß, es schon für eine hypothetische Vorlage der Disc. Cler. anzusetzen und es alsdann durch Petrus Alfonsi wieder beseitigen zu lassen, zumal sich aus der Folklore keine ältere Variante mit der fraglichen Verknüpfung von Brunnenfabel und Spiegelungsmotiv beibringen ließ. Die Methode der ,abweichenden Züge' erweist sich als unzureichend, solange ihre ultima ratio allein in der Kongruenz von einzelnen Motiven gesucht und dabei der geschichtliche Wandel im Prinzip der Stilisation übersehen wird, welcher im Fall von ,Fuchs und Wolf im Brunnen' zeigt, daß zwischen der Exempla-Sammlung des Petrus Alfonsi und dem RdR der Ursprung des volkssprachlichen Fuchsschwanks liegen muß, der als neues literarisches Genus seinem eigenen Gesetz folgt. Daß Ysengrin bei Nacht (en celle nuit, v. 185) zu dem Brunnen kommt, könnte als ein Relikt aus der Disc. Cler. angesehen werden. Denn in Branche I V , w o der Mondschein überhaupt nicht erwähnt wird, entsteht mit V . 185 die kleine Unwahrscheinlichkeit, daß Renart und Ysengrin in der Dunkelheit ihr Spiegelbild auf dem Grund des tiefen Brunnens erkennen müssen. Vers 157, als Renart hineinblickt, ist auch v o m Eingebrochensein der Nacht noch nicht die Rede, sie wird erst mit V . 185 vorausgesetzt, d. h. v o n der Stelle an, w o Fuchs und Wolf zusammen am Brunnen sind und sich möglicherweise das Vorbild der Disc. Cler. geltend macht. D a ß die Version der Disc. Cler. zur Zeit der Abfassung des RdR selbst auch weiterverbreitet wurde, beweist die Stelle in der Schelmenbeichte RdR I 1057-1060, in der v o m Reflex des Mondes die Rede ist, den Ysengrin für einen Käse hielt. Wahrscheinlich hat also der Verfasser von Br. I V diese allgemein bekannte Version durch die Einführung der Spiegelbilder überboten.

142

C. Das Verhältnis zwischen der afrz. und der tnhd. Version (Vortragsdichtung und Leseliteratur) Der nächste Abschnitt unserer Untersuchung, die vergleichende Analyse von Br. IV des RdR und ihrer Parallelversion im R F (v. 823-1060), berührt einen Fragenkomplex, an dem die Divergenzen der bisherigen Forschung am schroffsten zutage traten. Während Voretzsch 1891 in seiner Dissertation den Nachweis geführt zu haben glaubte, „daß der R F im ganzen wie im einzelnen altertümlicher ist als die entsprechenden branchen des RdR und daher verlorene branchen als vorlagen verlangt" 1 ), war gleichzeitig H. Büttner in seiner Untersuchung der beiden Texte zu dem entgegengesetzten Resultat gelangt, „daß die Verschiedenheiten, welche in bezug auf Inhalt und Darstellung zwischen der französischen und deutschen Dichtung bestehen, nicht als Grundlage für die Ansicht dienen können, daß uns im R F eine ursprünglichere Gestalt der Tierdichtung erhalten sei, als im R d R " 2). Nach Büttner hat Foulet mit zum Teil neuen Argumenten die Auffassung verfochten, der R F sei eine freie Übersetzung der ältesten Branchen des RdR, welche keineswegs als Überarbeitungen verlorener Branchen, sondern als die gesuchten Originale selbst anzusehen seien. Seitdem stehen sich beide Auffassungen unvermittelt gegenüber; die germanistische Forschung hat sich weitgehend Voretzsch angeschlossen3), die romanistische, von Suchier und U. Leo abgesehen, Foulets These von der Priorität und Originalität der auf uns gekommenen afrz. Renart-Branchen übernommen4). Der hier beabsichtigte Vergleich der beiden Versionen von ,Fuchs und Wolf im Brunnen' im RdR und im R F soll zunächst einmal im kleineren Maßstab 5 ) zum Prüfstein für das Verhältnis der afrz. und der mhd. Tierdichtungen werden und zeigen, wie weit die Divergenz dieser Auffassungen durch in der Sache selbst liegende Gründe und wie weit sie durch methodische Vorentscheidungen bedingt ist. Eine solche Vorentscheidung liegt zunächst in der von romantischen Anschauungen bedingten Ansicht, „daß die Einfachheit und Kunstlosigkeit der Darstellung ein Kennzeichen der Altertümlichkeit einer Dichtung ist" 6 ). Sie bestimmt durchgängig die Variantenvergleiche Sudres und ist vor allem von Foulet des öfteren ad absurdum geführt worden 7 ), im Falle von Br. IV jedoch nicht ganz überzeugend, weshalb es sich lohnt, gerade auf dieses Musterbeispiel einer ') VORETZSCH, Einl. zum R F P. X X I I I . 2

) B U E T T N E R I I , P. 3 .

3

) Vgl. R F , Einl. von I. Schröbler, p. X V I I I . ) Der letzte Herausgeber, Mario Roques, stützt sich in seiner Einleitung ganz auf Foulet und erwähnt Voretzschs Arbeiten nicht einmal mehr in der Bibliographie, die er den ersten drei Bändchen seiner Ausgabe beigegeben hat. 5 ) A u f die Grundintention des mhd. Fuchsepos und seine Stellung innerhalb der Tradition gehen wir Kap. V , C noch ausführlich ein. ' ) BUETTNER II, p. 1, der an dieser Vorentscheidung Kritik übt. 4

'·') F O U L E T p . 2 6 7 , 2 7 2 , 4 2 6 , 5 4 2 , 5 5 3 f .

143 „superposition de motifs" einzugehen. Ferner spielt sowohl in der Beweisführung Büttners als auch in der Voretzschs die Schlüssigkeit, bzw. Bruchlosigkeit der Motivierung eine ausschlaggebende Rolle, um hier für Br. IV, dort für RF größere Altertümlichkeit zu erweisen. Auch U. Leo benutzt dieses Kriterium allerorts und will, wie an einer Stelle zum Vorschein kommt, den Dichter „ v o n der Verpflichtung einer Motivation" nicht entbinden 1 ); selbst Foulet ist ständig darauf bedacht, den Einwand inkonsequenter Motivierung durch eine neue Auslegung des Textes v o n Br. IV als gegenstandslos zu erweisen, womit er im Grunde das methodische Prinzip implizit anerkennt. Schließlich wäre noch die Unterscheidung von ,textnaher' und ,freier' Ubersetzung zu erwähnen: hier sind beide Standpunkte rigoros vertreten worden, ohne daß man zuvor die Überlegung anstellte, welche Bestandteile der Schwankerzählung als variabel und welche als unabdingbar anzusehen sind. Unter diesen Prämissen lassen sich die hauptsächlichen Argumente für und gegen die Ursprünglichkeit von Br. I V wie folgt zusammenfassen: ι. Der Einleitung von 116 Versen mit der Darstellung eines gelungenen Hühnerdiebstahls im RdR (IV 33-148) stehen im RF nur 4 Verse resümierenden Charakters gegenüber, in denen der Hühnerraub als erfolglos bezeichnet wird (v. 827-830). Hatte der Verfasser des RF einen ersichtlichen Grund zu einer Kürzung und insbesondere zu dieser Änderung, mit der der unmittelbare Anlaß für den Durst Renarts und damit auch für seinen Blick in den Brunnen wegfallen mußte? 2 ) Oder lag ihm eine andere Einleitung vor als die von Br. IV, deren Nichtursprünglichkeit Voretzsch mit Hilfe der großen Variante in Hs. Η (seitdem als Br. I V a bezeichnet) beweisen wollte ? 3) 2. Neben der Reimstatistik führt Voretzsch noch ein verlorenes Motiv als Grund dafür an, daß die Einleitung zu Br. I V erst durch eine Überarbeitung (nach IVa) hineingekommen und in der afrz. Vorlage des RF noch nicht vorhanden gewesen sei. Das dritte Huhn, das Renart in Br. I V beim Hühnerraub mitnimmt, wird im weiteren - darin liegt eine Abweichung zu I V a - „nicht nur nicht zur Motivierung verwendet, sondern es wird überhaupt ganz vergessen" 4 ). Foulet hingegen, der diesen Einwand bagatellisiert, weist darauf hin, daß sich der Verfasser von I V a mit dem dritten Huhn noch mehr Inkonsequenzen zuschulden kommen ließ 5). 1 ) LEO p. 82 A n m . 1 ; eine Inkonsequenz seiner Darstellung liegt auch darin, daß er p. 177 die geschicktere Motivierung einer jüngeren Stilschicht zuweist, ohne zu bedenken, daß damit auch die höhere Altertümlichkeit des mhd. RF, an die er mit Voretzsch glaubt, fragwürdig werden muß. Denn die Darstellung des R F zeichnet sich ständig durch die geschicktere Motivierung aus. 2)

V g l . BUETTNER I I , p . 1 6 - 1 7 .

3)

VORETZSCH, Z R P h X V p. 3 5 8 - 3 5 9 ; v g l . d a z u FOULET p . 292.

4)

VORETZSCH, Z R P h X V p . 359.

5)

FOULET p. 293; siehe dort auch seine Argumentation gegen Voretzschs Reimstatistik.

144

}. Das Einfahren des Fuchses in den Brunnen ist nach Sudre in Br. I V doppelt motiviert (Durst und Neugier), die Darstellung der Fabel im gan2en weniger schlicht als im RF, wo der Fuchs allein aus Liebe zu seinem Weib in den Brunnen springt 1 ). Foulet hingegen setzt gerade umgekehrt an der mhd. Version aus, sie sei weniger logisch und natürlich, weil dem Charakter des Fuchses nicht gemäß motiviert und bleibe hinter der durchgehend konsequenten und feinen Nuancierung des RdR zurück 2 ). 4. Eine weitere Bruchstelle scheint in Br. IV dort bemerkbar zu sein, wo Ysengrin Hersent, obwohl ihn die Spiegelung im Brunnen soeben noch in eifersüchtige Raserei versetzte, in seinem Dialog mit Renart mit einemmal vergessen hat. Nach Sudre ist die Parallelstelle im RF, wo Ysengrin in der Illusion bleibt, Hersent sei mit Renart im Paradies, logischer und darum auch ursprünglicher; nach Büttner wird gerade an dieser Stelle im R F der Zusammenhang des Gesprächs zerrissen, während er im RdR gewahrt bleibe, was für die Priorität der afrz. Branche spreche3). 5. Die geistliche Satire ist im R F nicht so ausgeprägt wie im RdR und nach Voretzsch als „Neigung einer späteren Renartdichtung" zu bewerten; Foulet bestreitet dagegen, daß man dem Verfasser von Br. IV eine ausdrückliche satirische Tendenz unterstellen könne, und weist darauf hin, daß sich der mhd. Dichter ja auch einige Freiheiten gegenüber der Kirche herausnehme 4). Die ganze, auf diesem Stand verbliebene Diskussion ist davon mitbedingt, daß es keine Handhabe gibt, die Frage, ob die Branche IV des RdR oder ihre Parallelversion im R F als altertümlicher anzusehen ist, anders als durch die innere Evidenz der beiden Texte zu entscheiden. Denn wir besitzen keine Variante, die uns über die von Voretzsch postulierte ältere frz. Branche, die dem mhd. Dichter als Vorlage gedient haben soll, irgendeinen Aufschluß geben könnte. Zwar fehlt es nicht an Parallelversionen aus dem RdR; doch bringen uns weder die Rekapitulierungen dieses Schwanke in Br. IV und I X , noch die große Variante in Hs. Η ( = Br. IV a) dieser postulierten Vorlage auch nur um einen Schritt näher 5 ). Wenn hier versucht werden soll, die festgefahrene Diskussion wieder in Fluß zu bringen, wäre nicht viel damit gewonnen, wollte man die vielbemühten Details noch ein weiteres Mal im Hinblick auf Ursprünglichkeit oder Nichtursprünglichkeit sondieren. Doch können wir heute überhaupt noch allen Ernstes die Alternative .ursprünglich' - ,nichtursprünglich', .original' - ,remanieur' aufrechterhalten, wenn wir bedenken, daß uns beide Texte nach Ausweis der Handschriften nicht in der Originalfassung ihrer S U D R E P . 299FR. 2

) F O U L E T p. 2 9 8 f.

3

) S U D R E P. 2 3 5 ; B U E T T N E R I I , P. 18FF.

4

) VORETZSCH, Z R P h X V

5

p. 3 5 9 - 3 6 0 ; FOULET p. 2 9 9 f.

) Bei den Punkten, in denen die Versionen von Br. V I und R F nach Voretzsch übereinstimmen sollen, handelt es sich lediglich um zwei Wendungen, die für den Sinn der Fabel ohne Bewandtnis sind, vgl. FOULET p. 302 f. Wir gehen auf diese Parallelversionen noch ausführlich ein (s. u. Kap. III, D).

145 Autoren, sondern erst in der Gestalt späterer Nieder- oder Abschriften vorliegen? Daß zwischen der Originalfassung und der auf uns gekommenen Gestalt des Textes ebensogut eine längere Phase fließender Überlieferung, wie die direkte Vermittlung eines von Anfang an fixierten Wortlauts durch einen oder mehrere Abschreiber liegen kann? Und daß im ersten Fall, wie die Analogie der südslawischen Epik lehrt, jede neue epische Rezitation, wenn der Jongleur improvisiert, eine neue Gestaltung des Materials, ja „eine aktive Auseinandersetzung mit dem überlieferten Stoff" bedeuten kann? 1 ) Mit dem Text der modernen Editionen haben wir die Tierdichtungen des 12. Jahrhunderts keineswegs sogleich schon in ihrer wirklichen Bestimmung, sondern lediglich den Reflex einer Niederschrift, von der wir im voraus noch nicht wissen, welche Phase der Tradierung, von der schriftlosen oder schriftlichen Abfassung des Autors bis zur letzten, für einen Sammler eigens angefertigten Ab- oder Niederschrift, in dem auf uns gekommenen Text bewahrt ist. Hier bleibt nur die Möglichkeit, die fraglichen Versionen des überlieferten Stoffes daraufhin zu untersuchen, ob sie Merkmale schriftlosen oder schriftlichen Verfassens, Überlieferns und Reproduzierens aufweisen, d. h. in diesem Fall: inwieweit ihre Textgestalt von der fließenden Überlieferung und den variablen Formen des ,style oral' bedingt oder auf die Eigentümlichkeiten einer ersten, aus der Übersetzung verschiedener Branchen ins Mhd. hervorgegangenen Buchredaktion zurückzuführen ist. Wie nahe die auf uns gekommene Gestalt der afrz. Branche, die nach ihrem Eingang und anderen Indizien der Vortragsdichtung zuzuweisen ist, der ursprünglichen Fassung des anonymen Dichters steht, ist mit diesem Verfahren natürlich nicht auszumachen. Doch wird die auf uns gekommene Textgestalt von Branche IV darum keineswegs zur ,bloßen Bearbeitung': wo jeder neue Vortrag eine neue Gestaltung des Materials bedeuten kann, ist auch jede Version des Schwanks, sofern sie nicht nur mehr oder weniger mechanisch wiederholt, als .original' anzusehen. Da es demzufolge aber ein großer Zufall wäre, wenn der Text von Br. IV genau in derselben Gestalt auf uns gekommen wäre, in der er dem mhd. Dichter vorlag, kann der Vergleich zwischen den beiden Versionen nicht von ihrem Wortlaut abhängig gemacht werden. Andererseits besteht aber auch kein Anlaß mehr, bei der Frage, welcher Anteil dem mhd. Übersetzer an der Gestaltung seiner Version zukomme, alle abweichenden Züge einer .ursprünglicheren' afrz. Branche zuzuschreiben, wenn sich diese Abweichungen auf die Differenz von Vortragsdichtung und Leseliteratur zurückführen und ohne das postulierte verlorene .Original' erklären lassen. Geht man von den Einschaltungen des Erzählers und von den sonstigen Indizien für sein Verhältnis zum Publikum aus, so ergibt sich bald, daß in der afrz. Branche ein unmittelbarer Kontakt zwischen dem Vortragenden und seinen Zuhörern mit verschiedenen Mitteln aufrechterhalten wird. *) F R A N K E L P . 10

J a u ß , Tierepos

22.

146 Der Gang der Erzählung ist in Hauptabschnitte untergeteilt, die der Jongleur durch Or vos dirai. . . (v. 3 3), oder förmlicher durch Seigneurs, ilavint... (ν. 184, cf. v. 369) jeweils mit einer Wendung an sein Publikum ankündigt'). Bei der Ankündigung des letzten Abschnitts, wo es gilt, die Aufmerksamkeit neu zu fesseln, weil die Spannung des Brunnenabenteuers zu Ende gegangen ist, greift der Jongleur offensichtlich zu einem probaten Gag: Seigneurs, or oiez des renduz Conme il perdirent leur vertuz.

(v. 3 6 8 f . )

Vom Wolf, der noch unten im Brunnen sitzt, ist zunächst gar nicht mehr die Rede; so kann er gleichsam dort durch die Mönche wieder entdeckt werden und entsteht eine größere Spannung, als es mit einem antizipierenden epischen Vorgriff in der Art von: ,Nun hört die Geschichte, wie Ysengrin von den Mönchen im Brunnen aufgefunden wurde' zu erreichen wäre. Sodann weist der Jongleur häufig auf eine bevorstehende Überraschung hin, meist in Wendungen, für die das Wort merveille charakteristisch ist, vgl. etwa: Seigneurs, or escoute% merveilles! (v. 1 5 1 , cf. v. 299), oder in einem Attribut des Helden versteckt: Renars quifait mainte merveille (v. 329). Solche Hinweise sind nicht einfach, wie die in zwei Fällen als bloße Füllsel gebrauchte Beteuerung der Glaubwürdigkeit ine vos en mentiron, v. 7 1 ; cf. v. 110), als topisches, für die Darstellung belangloses Formelwerk abzutun. Denn sie finden sich fast regelmäßig vor den Wende- und Glanzpunkten der Geschichte: vor der ersten Erwähnung der Eimervorrichtung im Brunnen (ν. 151), vor der Pointe mit den Waagschalen des Guten und des Bösen (v. 299), vor dem fatalen Moment, als Ysengrin in den Eimer springt (v. 329), zur Einleitung des Wortwechsels bei der Begegnung im Brunnenschacht (v. 346), und erhalten dadurch eine für die Darstellung wichtige deiktische Funktion. Allen bisher besprochenen Einschaltungen des Rezitators ist gemeinsam, daß sie lediglich spannungsfördernd sind und den Gang des Geschehens nicht vorwegnehmen. Daß es der Jongleur auf diese Art von immer lebendiger Spannung abgesehen hat, zeigt sich auch daran, daß seine wenigen Antizipationen nicht eigentlich die Funktion eines Vorgriffs auf das Bevorstehende haben, sondern vielmehr dazu dienen, die gegenwärtige Situation von einer späteren Phase des Geschehens aus ironisch zu beleuchten. So am schönsten an folgender Stelle (Renart hat sich soeben unten in den Eimer gesetzt): Ce fu par pute destinee Que Renars s'est dedens couchiez. Par temps iert Ysengrins iriez. Dist Ysengrins ,j'ai dieu proie'. , E t je 'dist Renars 'gracie.'

(v. 3 3 2 - 3 3 6 )

,Destinee' in V . 332 meint natürlich nicht,Schicksal' wie im Heldenepos, sondern ist wohl am besten mit ,sehr zum Unheil (für Ysengrin)' wieder1

) In anderen Mss. leitet Seignor, or escotez merveilles einen neuen Abschnitt

ein, vgl. R d R ed. M . Roques, t. II, v. 3407.

147 zugeben. Für eine transzendente Schicksalsmacht ist in der Welt des Tierschwanks ohnedies kein Raum; damit entfällt an sich schon die Voraussetzung für den epischen Vorgriff in seiner klassischen, die Unentrinnbarkeit des Geschehens veranschaulichenden Bedeutung 1 ). Der Vorgriff des Jongleurs in V. 334 deutet nur gerade soviel von den für Ysengrin zu erwartenden üblen Folgen an, als notwendig ist, um die folgende Pointe zu verstehen. Denn die Reimworte ,proie' und ,gracie' enthalten für den weiter vorausschauenden Zuhörer einen Doppelsinn: Ysengrin hat mit seinem Gebet, jetzt und hier in das Paradies aufgenommen zu werden, scheinbar um dasselbe gebetet, wofür Renart vorgibt, seinerseits Gott gedankt zu haben, während er dabei im Stillen aber seine Rettung auf Kosten Ysengrins im Blick hat. Die Pointe liegt ganz in der doppelten Beleuchtung der Situation durch den weiteren Sinn von gracie; auch hier hat sich der Jongleur, wie zumeist, allen eigenen Kommentars enthalten. Wo man zunächst an eine kommentierende Stellungnahme denkt, wie bei der folgenden Stelle: Or est Renars en grant balance: Que s'il puent appercevoir Que il les veille decevoir, Li moine retendront son gage Ο lui meismes en ostage: Car felon sont a desmesure. Qui chant? tout est en aventure, (v. 100-106) läßt sich das Ganze auch als ein Pseudomonolog Renarts verstehen. Mit dem Futurum in Vers 103 (retendront) geht die Betrachtung des Erzählers unmerklich in eine Erwägung des ,Helden' über, mit dem Sprung ins Präsens in Vers 105 (Car felon sont α desmesure) hat sich die subjektive Perspektive verselbständigt. Denn genau genommen kann man diese apodiktische, vom Erzählzusammenhang aus gesehen unbegründete Behauptung über die Mönche nicht mehr dem aus seiner Distanz berichtenden Erzähler zuschreiben. Dies wird in einem parallelen Fall aus Branche I V noch deutlicher, weil hier die apodiktische Behauptung noch mehr von der Erzählwirklichkeit abgelöst und als subjektives Urteil gekennzeichnet ist: Or est Renart en male frape, Maufez l'ont mis en celle trape. (v. 175-176) Beide Behauptungen wirken im Kontext darum naiv, weil sie ganz aus der Situation des ,Helden' heraus gesprochen sind, obwohl sich der Erzähler nur scheinbar mit ihm identifiziert. Diese Pseudoidentifikation, wie wir diese eigentümliche Mischform von,erlebter Rede' und Kommentar des Erzählers nennen wollen, ist für den Stil unserer Branche insofern charak') Vgl. R Y C H N E R p. 64: „L'anticipation ne se reduit pas aux annonces et aux transitions explicites. Le jongleur bien souvent fait pressentir le tragique des evenements qui vont suivre" (mit einer Reihe von Beispielen, die den hohen poetischen Rang der Antizipationen im Rolandslied herausstellen, das aber hier wie auch sonst die Technik des ,style oral' bereits literarisiert).

10·

148 teristisch, als sie den Verzicht auf die Stellungnahme eines distanzierten, objektiven Erzählers deutlich macht und unverkennbar einer lebhaften, wahrscheinlich sogar mimischen Veranschaulichung der Situation dient. Auch wenn es uns nicht mehr möglich ist zu rekonstruieren, wie ein Jongleur als Mimus die afrz. Branche dargeboten haben mag, springen doch einzelne mimische Möglichkeiten des Textes sogleich ins Auge, wie vor allem der Dialog zwischen Fuchs und Wolf mit der Variation ihrer Stimmen, je nachdem, ob sie aus der Tiefe des Brunnens heraus oder in ihn hinein erklingen sollen. Wie hier in der mimischen Umsetzbarkeit und zuvor im Verzicht auf den distanzierenden Kommentar ist auch sonst in der Darstellung der Vorgänge stets darauf geachtet, daß das Gehörte für den Zuhörer ohne Schwierigkeit anschaulich werden kann. Daß diese Feststellung im besonderen als Probe für den Vortragsstil zu bewerten ist, liegt auf der Hand: wo mit der Rezeption durch das Ohr allein gerechnet wird, muß sich auch in der Darbietung alles so abspielen, wie es sich für einen beiwohnenden Zuschauer und Zuhörer hätte darstellen können, und wären übergreifende oder weit angelegte kompositorische Effekte nicht angemessen, die das für die Lektüre charakteristische besinnende, vergleichende oder rückblickende Verweilen voraussetzen. Mit dem letzten Vers der zuerst betrachteten Stelle: Qui chaut? tout est en avanture (v. 106) löst sich der Erzähler aus der Pseudoidentifikation mit seinem Helden und lenkt mit der Wendung Qui cbaut? wieder in die Darstellung des Geschehens ein, die als Formel des hohen epischen Stils bekannt ist. Sie dient etwa im Rolandslied dazu, angesichts eines schon eingetretenen, unentrinnbaren Verhängnisses das Vergebliche eines Dawiderhandelns oder einer Klagegebärde (so wenn Karl zu spät in Roncevalles eintrifft und um seine gefallenen Pairs trauert) drastisch zum Ausdruck zu bringen 1 ). In der Renart-Branche kann sie, wie schon erwähnt, nur ironischen Sinn haben. Wo sich der Verfasser von Branche IV einmal von seinen Figuren distanziert, geschieht dies zumeist in der Haltung der Ironie, die ihm ermöglicht, sich ohne wertende Stellungnahme über seinen Gegenstand zu erheben (so z. B. v. 181, vom Fuchs gesagt, der auf dem Grund des Brunnens angelangt ist: Or est a aise de peschier). Sein Fuchsschwank ist auch sonst frei von allem moralisierenden Kommentar; es findet sich kein stehendes Beiwort Ysengrins und kein stereotypes Attribut Renarts, das eine andere Stellungnahme des Jongleurs verriete als seine Belustigung an der Komik gewisser Situationen, die letztlich seine schon im Prolog spürbare bejahende Einstellung zum Wesen und Treiben seines Protagonisten voraussetzt. Wenn man sich daraufhin der Parallelversion des mhd. Dichters zuwendet, so zeigt sich von Anbeginn, daß die Erzählung, was das Verhältnis von Erzähler und Publikum betrifft, ein anderes Gesicht erhalten hat. Daß !) V g l . CHANSON DE ROLAND V. 2 4 1 1 , dazu 1 8 0 6 , 1 9 1 3 ; die Stilfigur begegnet bei Chrestien schon selten, v g l . Y V A I N v . 5 3 5 4 .

149 die Unterteilung der Schwankerzählung in kleinere Abschnitte mitsamt der Wendung an das Publikum, die sie in Br. I V einleitete (v. 1 5 1 , 184, 369), weggefallen ist, könnte an sich auf die größere Kürze der mhd. Version zurückzuführen sein. Den 478 Versen des RdR stehen 1 3 7 im R F gegenüber, und selbst dann, wenn man annehmen will, daß dem mhd. Verfasser nicht die ausführliche Vorgeschichte mit dem Hühnerraub vorlag, ergibt sich noch ein Verhältnis von fast 3 : 1 . Heinrich der Glichezare hat aber auch seine eigenen, größeren Unterabschnitte nicht mehr mit einer Wendung an das Publikum angekündigt. Lediglich der Prolog setzt mit der 2. Person Pluralis ( v e r n e m e t vremde mere, ν. ι) ein; nach der Formel:

Nv sol ich evch widert lan, wa von die rede ist getan (v. 11-12), die zum Anfang

der Erzählung überleitet, findet sich weder an den Einschnitten, die sich durch die selbständigen Schwankepisoden ergeben, noch an den großen Zäsuren der drei Hauptteile, in die sich das Werk gliedert (cf. v. 385, 1239), ein Korrelat zu jenen Wendungen, die dem Jongleur in Branche I V dazu dienen, den Kontakt mit seinen Zuhörern aufrechtzuerhalten. Wie wenig es dem mhd. Dichter darauf ankommt, die Spannung eines Hörerkreises wachzuhalten, zeigt die geringe Sorgfalt, die er auf Überleitungen zwischen einzelnen Episoden verwendet. Nach der Auflösung von Renarts Dilemma im Brunnenschacht, w o der Jongleur in Branche I V - wie schon am Beispiel des Gags mit den Bohnen gezeigt - besondere Mühe an einen spannenden Übergang wandte, setzt der Erzähler im R F neben die abschließenden Verse: daz paradyse dovcht in swere, vil gerne er dannen were.

(ν. 957-958)

sogleich völlig unvermittelt den gerafften Anfang eines neuen Geschehens: die mvnche mvsten wazzer han, ein brvder begonde zv dem bvrnen gan. (v. 959-960) Auch in Branche I V war bisher von den Mönchen noch nicht ausdrücklich die Rede; doch stellt sie der Jongleur dort mit einer allgemein verständlichen Anzüglichkeit gleichsam vor und weckt damit einen neuen Bereich von Erwartungen. Der mhd. Dichter tut nichts dergleichen; sein Leser muß selbst sehen, wie er hier nachkommen kann, und wird sich erst einen Reim daraus machen, wenn er sich zufällig daran erinnert, daß Vers 827 und 866 beiläufig von einer %elle die Rede war. Der Leser, schwerlich aber ein Zuhörer, denn es ist kaum vorstellbar, daß ein mit dem Stoff noch nicht vertrauter Hörerkreis dieser schnellen, sprunghaften Erzählweise ohne Mühe folgen kann, der man das resümierende Übersetzen an solchen und vielen anderen Stellen anmerkt 1 ). ') Siehe dazu die Zusammenstellung der Mängel im Text des R F , die aus einer Kürzung zu erklären sind, bei B U E T T N E R II, p. 5-29; von .Mängeln' kann indes nicht immer die Rede sein, weil manche der aufgeführten Stellen nur so lange schwer verständlich erscheinen, als man nicht mit einem Leser rechnet, der den Text als Ganzes vor Augen hat und zurückblättern kann (wie ζ. B. p. 25

150 Die sprunghafte und darum oft nicht mehr unmittelbar anschauliche Knappheit dieses Stils ist nicht einfach damit auszugleichen, daß man mit Baesecke kurzerhand eine mimische Darbietung postuliert: „Hier mußte offenbar der mimus einspringen, der nicht nur das Publikum anredet, Vorausdeutungen und Betrachtungen einstreut, sondern das Gesprochene mit Mienenspiel und Gebärde unterstützt." 1 ) Die mhd. Version mit ihren Kürzen und abrupten Übergängen würde ohne paraphrasierende Texterweiterung auch nicht durch Mienenspiel und Gebärde so unmittelbar anschaulich wirken wie die von vornherein zum Anhören bestimmte Br. I V des RdR. Und die Wendungen an das Publikum, Vorausdeutungen, Betrachtungen und Heischeformeln, die sich im R F finden, sind gerade dadurch aufschlußreich, daß sie zumeist ihre ursprüngliche Vortragsfunktion eingebüßt haben und nur noch als literarisch gewordene Stilfigur dienen. Wendungen und Hinweise in der Ihr-Form, die wir an den für den Vortrag wichtigen Zäsuren vergeblich suchten, sind zwar auch im R F mehrfach belegt 2 ). Doch die meisten haben nur noch die Bedeutung eines rhetorischen Stilelements und nicht mehr die deiktische Funktion, auf eine überraschende Wendung im Ablauf der Geschichte vorzubereiten. In der Brunnenepisode führt ir suit vil wol widert (v. 862) lediglich ein für die Handlung belangloses Detail in die Erzählung ein (Ysengrins Hunger wird damit erklärt, daß er vergeblich ein Schaf zu erjagen versucht habe), und vernemt recht, was im geschach (v. 868) bezieht sich auf etwas, was dem Leser schon gar nicht mehr überraschend kommt, weil soeben Reinhart derselben Täuschung durch das Spiegelbild unterlag. Wo solche Wendungen nicht nur wie hier als Füllsel gebraucht sind 3 ), macht sie Heinrich einer moralisierenden Tendenz dienstbar, wie z. B. in der Episode mit dem Raben: Nv höret, wie Reinhart, der vngetrewe hovart, warb vmb sines neven tot, daz tet er doch ane not. (v. 253-256) Hier geht es weniger um die Ankündigung einer Überraschung als um die Vorwegnahme des moralischen Sinns, den der Leser der nächsten Episode entnehmen soll. Auf ÜberraschungsefFekte ist Heinrich ohnedies nicht bedacht. Das Wort merveille, das der Jongleur in Branche I V mit Vorliebe gebrauchte, ist in der mhd. Parallelversion nur einmal und mit einer beim Fall der „ganz unscheinbaren Bemerkung des Dichters", an die man sich bei der Botschaft des Dachses erinnern muß). Vgl. ferner die Erörterung der diesbezüglichen Beispiele Wallners bei B A E S E C K E p. 12. *) 2 BAESECKE P. 1 5 .

) Außer den schon besprochenen Stellen im Prolog (v. 1, 11) vgl. v. 253, 862, 868, 1102, 1784, 1822, 2201. ') Bei den hier nicht eigens besprochenen Hinweisen in der Ihr-Form handelt es sich um rein rhetorische Formeln in der Art von: nieman evcb gebeten mack Reinhartes kvndikeit (i822f.); auf v. 1784 kommen wir bei der Erörterung der Heischeformeln zurück.

151 zeichnenden Funktionsänderung wiedergegeben. Während der Jongleur in Branche I V mit dem Vers: Seigneurs, or escoute£ merveilles! (v. 151) die Einrichtung des Brunnens im Blick hat und mit der lakonischen Beschreibung seines Mechanismus die Spannung seiner Zuhörer auf die darin angelegten Überraschungen richtet, nimmt Heinrich mit seinem Vorgriff: da sach er in, da\ rowe in sit (ν. 834) bereits die Überraschung des Ausgangs vorweg und bezieht sich mit: ein michelwunder nugeschach (v. 836) sogleich und nur noch darauf, daß sich Reinhart, der mit listen vil begie (v. 838), in diesem Fall einmal .vergaffte' und selbst betören ließ. Hier wird das Überraschende ausdrücklich in das innere Verhalten Reinharts verlegt; der Erzähler kommentiert es schon im voraus und ist dabei so wenig auf die Evidenz des äußeren Vorgangs bedacht, daß er den Fuchs kurzerhand in den Brunnen springen läßt, als ob die Ziehbrunneneinrichtung mit den beiden Eimern gar nicht existierte (sie wird erst am Ende, als Ysengrin den Eimer besteigen soll, ad hoc erwähnt, cf. 933-935). Damit verzichtet Heinrich auf jene Art von Spannung, die in der afrz. Version daraus entsteht, daß das Publikum schon vor dem Helden in den Mechanismus des Brunnen eingeweiht ist, die Dummheit Renarts kommen sieht, die einzige Möglichkeit, wie er wieder herausgelangen könnte, selbst erraten muß und dann um so gespannter darauf ist, ob und wie es ihm wohl gelingt, Ysengrin zum Besteigen des Eimers zu überreden. Daß diese Verbindung von partiellem, nur die allgemeine Lösung betreffendem Vorauswissen und geschickt gewahrter Spannung auf die erst allmählich enthüllte, einzigartige List dem für den Vortragsstil wesentlichen Prinzip der kontinuierlichen Anschaulichkeit besonders gemäß ist, liegt auf der Hand: so wird der Zuhörer in die Lage versetzt, jede Wendung des Geschehens unmittelbar mitvollziehen zu können, als privilegierter Mitwisser jede Pointe spontan zu begreifen und zugleich auf die ihm noch vorenthaltene Auflösung des Dilemmas begierig zu sein. Der mhd. Dichter hingegen begnügt sich zumeist nicht mit der Darstellung des Schwankgeschehens um seiner selbst willen, sondern vermittelt es in einer reflektierten Form, die einen ständig mitreflektierenden Leser voraussetzt. Diese Vermittlung geschieht vornehmlich in Gestalt von zahlreichen Vorausdeutungen und kommentierenden Einschaltungen, für die es in den französischen Branchen keine Entsprechung gibt. Die einfache spannungsfördernde Vordeutung des RdR wird im R F häufig durch einen expliziten Vorgriff auf den Ablauf des Geschehens ersetzt, dessen moralischer Sinn dem Leser auf diese Weise vorgezeichnet ist 1 ). Auch beim Brunnenabenteuer ist die Richtung des Verstehens vorweg durch vier einleitende Verse festgelegt: Reinhart, der vil hat gelogen, der wirt noch hevte betrogen, doch half im sine kvndikeit von vil grozer arbeit. (v. 823-827) *) Zu dem schon besprochenen Beispiel (v. 253-256) wären hier noch zu stellen: v. 131-132, 325-327, 823-827, 1536, 1688, 2167.

152

Mit der Entsprechung gelogen — betrogen wird das Brunnenabenteuer in einen Sinnzusammenhang gerückt, der die Not des Fuchses als einen Akt ausgleichender Gerechtigkeit erscheinen läßt. Von der insgeheimen Bewunderung des neunmalklugen Fuchses, die im Prolog der afrz. Version durchschimmert, ist bei Heinrich nichts mehr zu spüren. Für ihn liegt die kvndikeit, mit der sich Reinhart wieder einmal aus seiner Not heraushilft, offenbar auf derselben Ebene wie die Lüge (ein Begriff, der in der afrz. Branche bezeichnenderweise nicht ein einziges Mal vorkommt). Daß die überraschende Wendung des Geschehens, durch die der Fuchs unversehens in den Brunnen gerät, bei Heinrich von einer vorausdeutenden moralischen Begründung überschattet ist (cf. v. 834fr.), wurde schon erwähnt; ebenso ist auch schon der erste Blick, den Ysengrin in den Brunnen tut, durch einen Vorgriff kommentiert, der in der afrz. Version fehlt: do wart aber geeffet der gief (v. 866). Wenn Heinrich hier und anderweitig Ysengrin einen Toren nennt (cf. v. 928, 984) und seinen Aberwitz im Augenblick, als er den Eimer besteigt, eigens hervorhebt qvam von vnmt^en, v. 939), liegt darin ein Unterton tadelnder Kritik, die am Ende des Brunnenabenteuers in dem großen moralisierenden Exkurs des Erzählers die direkte Frage auslöst: Reinhart tet im mangen wane, daz ist war, w a was sin gedanc, daz er sich so dicke trigen lie?

(ν. 9 8 9 - 9 9 1 )

Mit dieser unverkennbaren Stellungnahme für den unterliegenden Ysengrin befindet sich der mhd. Dichter genau im entgegengesetzten Lager wie der Verfasser von Branche IV mit seiner kaum verhohlenen Sympathie für Renart. Auf die Absicht, die sich hinter dieser Stellungnahme des Glichezäre verbirgt, kommen wir später zurück (s. u. Kap. V , C) und wenden uns nun noch den beiden Heischeformeln zu, aus denen man vorschnell folgern zu können glaubte, der R E I N H A R T F U C H S sei als .Spielmannsdichtung' dargeboten worden. Daß die Heischeformeln im R F ein bloßes Stilelement darstellen, läßt sich aus ihrer Funktion innerhalb der Komposition erweisen, die Wallner nicht scharf genug sah, als er ausführte: „Ein buch von 2250 versen kann nicht in einem zuge, ohne ruhepausen, vorgelesen werden. Der dichter setzt die erste pause nach v. 857 an (. . .), die zweite nach 1792 ( ), also je eine nach rund 900 versen, so daß auf den schlußteil noch ein quantum von 458 versen, also die hälfte, entfiel. Beide pausen dienen nicht bloß der erholung, sondern auch der ,Sammlung': es wird das honorar eingehoben. Daher mußten spannende stellen gewählt werden, wo die zuhörer gern bleiben und zahlen, um die fortsetzung zu hören. Vor der ersten pause hockt der fuchs im brunnenschacht, vor der zweiten droht ihm die entscheidende ladung zu hofe." 1 ) Vom Gesichtspunkt der Spannung aus betrachtet hätte der Dichter seine beiden Sammelpausen indes WALLNER, Beitr. 4 7 p. 200.

153 nicht gerade geschickt gewählt, denn beide fallen nicht mit dem eigentlich wirkungsvollen Spannungspunkt zusammen. Die erste Heischeformel liegt nämlich noch vor den beiden Versen, in denen das Dilemma Reinharts für einen Zuhörer überhaupt erst offenbar werden kann. Man vergleiche (Reinhart ist soeben in den Brunnen gesprungen): 851

855

in dem bvrnen er lange swam, vf einen stein er do qvam, da leit er vf daz hovbet. swer des niht gelovbet, der sol drvmme niht geben. Reinhart wände sin leben weizgot da versprungen han. her Ysengrin begonde dar gan ane zagel vz dem walde.

Zur Einleitung einer Spannungspause stünde die Heischeformel zweifellos besser nach v. 857 1 ), mit dem das Dilemma besiegelt ist, und unmittelbar bevor sich mit Ysengrins Erscheinen die Wendung anzeigt. So wie sie der Verfasser in den Gang der Erzählung eingefügt hat (Reinhart hat sich soeben fürs erste aus dem Wasser auf einen Stein gerettet), kann es ihm schwerlich auf ein Spannungsmoment ankommen und besteht kein Anlaß, sie nicht für das zu nehmen, als was sie der Wortlaut selbst ausgibt: eine durch die Heischeformel (v. 855) hyperbolisch unterstrichene Beteuerung der Glaubwürdigkeit (v. 854). Auch die zweite Heischeformel stünde, wenn sie die Spannung der bevorstehenden entscheidenden Ladung zu Hofe ausnutzen soll, besser nach der Rede, in der der Dachs als Bote des Königs die Alternative übermittelt: Acht und Bann oder Gericht mit unzweifelhaftem Ausgang (v. 1799 bis 1809). So wie sie der Verfasser in den Gang der Erzählung eingefügt hat (der Dachs hat sich soeben auf den Weg gemacht, um seinen Neffen zu suchen), entsteht für den Zuhörer allenfalls die erneute Spannung, wie es wohl diesmal dem Boten des Königs ergehen mag. Daß mit den seltnem dine vnde vremde mere (ν. 1785 f.) schon Reinharts Hauptdilemma und sein Ausweg, als Arzt zu Hofe zu gehen, im Blickfeld des Erzählers liegt, ist nicht zu bestreiten, berührt aber keinesfalls den Erwartungshorizont, der sich für einen mit dem Stoff unvertrauten Zuhörer bei der angeblichen Spannungspause, bevor die Botschaft überhaupt überbracht ist, vorzeichnet. Auch hier wird eine besondere Vortragsfunktion nicht evident und ist die näherliegende Bedeutung der ganzen Zwischenrede wiederum nicht so sehr in der Heischeformel als in der vorangestellten Beteuerung der Glaubwürdigkeit (swer wil, da% gelogen si, den lat er siner gäbe vri, v. 1791 f.) J

) Damm hat Wallner wohl stillschweigend die Pause auf „nach v. 8 5 7 " verschoben, an eine Stelle, an der seine Heischeformel gar nicht steht und, wie der Reim zeigt, auch gar nicht gestanden haben kann; würde der Spielmann aber erst nach v. 857 einhalten, so ergäbe sich das Unikum, daß er nach seiner Heischeformel erst noch zwei Verse weiterliest, bevor er sein Honorar einsammelt.

154 zu suchen, auf die schon Baesecke hingewiesen hat: „Die seltsanen dine und vremeden mare können natürlich nur die Arzterzählung meinen, und V. 1791 f. besagen doch wohl, daß sie allerdings gelogen, d. h. gegen die Quellen gestaltet ist, was ja ohnehin mindestens für die beiden Belehnungen zutrifft." 1 ) Da im R F nicht allein die Kombination der Hoftagsfabel mit der Arztrolle des Fuchses, sondern auch die Version vom Sprung in den Brunnen von der Darstellung im RdR abweicht (wie im einzelnen noch gezeigt werden soll) 2) und sich eine ähnliche ironisch gemeinte Wahrheitsbeteuerung auch nach dem Tod König Vrevels findet, den der Glichezäre sicher gegen die frz. Quellen gestaltet hat (cf. v. 2248 a/b: dii^ si gelogen oder war, got gebe vns wunecliche iar!) 3), spricht alles dafür, daß der mhd. Dichter die Heischeformel nicht mehr in ihrer ursprünglichen Vortragsfunktion, sondern im Hinblick auf die in beiden Fällen damit verbundene Wahrheitsbeteuerung benutzt hat: er stellt es seinem Publikum frei, die Geschichte für wahr oder für erlogen zu halten, und rechtfertigt so auf ironische Weise seine selbständige Auslegung der vorgegebenen Fabel. Ein solch freies Schalten mit traditionellen spielmännischen Stilelementen, wie es sich in dieser scherzhaften Umbildung der sonst üblichen Wahrheitsbeteuerungen4) bekundet, rückt das Werk des Glichezäre zugleich aber auch von der einfachen Stillage des spielmännischen Epos ab und macht es problematisch, den Dichter selbst als bloßen Spielmann einzuschätzen5). Wenn das Ergebnis der bisherigen, auf das Verhältnis von Erzähler und Publikum gerichteten Untersuchung dafür spricht, daß der Text der afrz. Branche eine Fassung bewahrt hat, die für den mündlichen Vortrag bestimmt war, während die mhd. Parallelversion auf die Rezeption durch einen Hörerkreis nicht eigens Rücksicht nimmt und offenbar schon einen mitreflektierenden Leser voraussetzte®), so wäre nun zu fragen, ob diese Differenz zwischen Vortragsdichtung und Leseliteratur auch den Schritt von den Variations- und Improvisationsformen des ,style oral' zum beständigen Wortlaut der Buchredaktion einschließt. Von den Verfahren, die Rychner als kennzeichnend für den ,style oral' der Chanson de geste an*) B A E S E C K E P . 8 .

s. u. p. 1 6 1 , 293 S

) W A L L N E R , Beitr. 4 7 p. 2 1 9 .

*) Worauf Wallner selbst in seiner Anmerkung zu v. 2248 a/b aufmerksam gemacht hat (Beitr. 47 p. 219). 6 ) Baesecke hat diese Distanz zwar in seinem Versuch, die epische Kunst des Glichezäre an einem Vergleich mit örtlich und zeitlich nahestehenden vorhöfischen Epen zu erweisen, am Ende noch hervorgehoben und an einer Stelle auch von der „Aufgabe der strophischen Gliederung, d. h. zugleich des stegreifhaften Vortrages zu Instrumentalbegleitung" gesprochen (p. 19), dabei aber die Literarisierung, die der Glichezäre an seinen Vorlagen und ihren vom mündlicher Vortrag bedingten Variationsformen vornahm, nicht erkannt. e

) Das schließt natürlich nicht aus, daß auch der R F noch vorgelesen werden konnte, obschon eine Aufnahme allein durch das Ohr das Verständnis gewiß erschwerte.

155 sieht, sind in unserem Zusammenhang besonders instruktiv: die Technik der stereotypen Motive und Szenen, das Verfahren der Abkürzung, bzw. Ausschmückung und die Parallelisierung bei der Darstellung eines ähnlichen oder sich wiederholenden Vorgangs. Für diese Verfahren gilt allgemein, daß sie das Memorieren und den auswendigen Vortrag erleichtern, ihre Ausbildung und Anwendung also unmittelbar mit dem Fehlen eines im Wortlaut bis ins einzelne schriftlich festgelegten Textes zusammenhängt. Der Jongleur braucht nur den Gesamtplan einer epischen Fabel zu kennen, um in der Lage zu sein, ein Epos vollständig darzubieten, da ihm alle Erzählphasen, die in jedem Epos wiederkehren, in ihren Grundmustern geläufig sind. Er kann diese stereotypen Bestandteile der Chanson de geste in seinem Vortrag nach Belieben erweitern und ausschmücken, aber auch abkürzen und vereinfachen. Das Niveau der Kunst eines Jongleurs läßt sich am Umfang seines Repertoires und an seiner Fähigkeit der Variierung geradezu abmessen. Rychner hat die geläufigsten stereotypen Motive und Szenen der Chanson de geste zusammengestelltx), von denen einzelne auch im Tierepos wiederbegegnen, wie z. B. der Traum Chanteclers (II 125-164) oder die Ohnmacht der Dame Pinte (I 338-344). In solchen Fällen handelt es sich fast immer um eine Form der Travestie, da die Transponierung von Motiven der heroischen Literatur in das Reich der Tiere für ein Publikum, das sich dabei etwa an die Träume Charlemagnes oder an die Ohnmacht der klagenden Alda erinnert, komisch wirken mußte. Stellt man sich nun die Frage, inwieweit auch der Stil des RdR durch stereotype Darstellungsformen bedingt ist, die je nach Bedürfnis abgekürzt oder ausgeschmückt werden können, so darf dabei nicht übersehen werden, daß die Renart-Branche einer so weitgehenden Typisierung, wie sie Rychner am Stil der Chanson de geste aufwies, nicht Raum geben kann. Schon darum nicht, weil der paarweise gereimte Achtsilber doch wohl schon Schriftlichkeit des Verfassens voraussetzt und nicht so leicht die Möglichkeit beliebigen stegreifhaften Erweitems und Variierens bietet wie die Assonanz der Laissenform 2 ). Nicht so leicht: denn wenn es auch wahrl ) Vgl. p. 1 2 8 - 1 3 0 ; dazu gehören z. B.: Adoubement d'un nouveau chevalier, Armement, Chevalier sous les armes, Histoire des armes et des chevaux. a ) Insofern ist auch die Renart-Branche nicht geradezu der „litterature orale" i.e.S. zuzuordnen; sie entspricht ihrer Abfassung, durchkomponierten Form und Darbietungsweise zufolge eher dem, was J . Frappier in seiner Kritik an Rychner „style semi-oral" genannt hat (s. Z R P h L X X I I I , 1957, p. 2 f.). - Z u der Frage, inwiefern die Entstehung des gepaarten Achtsilbers mit dem Schritt von Gesangsdichtung zu Leseliteratur gleichbedeutend war, s. Ph. A . Becker, Der gepaarte Achtsilber in der französischen Dichtung (Abh. d. Phil.-Hist. Klasse der Sächs. Akad. d. Wiss., 43. Bd., Lpzg. 1938), bes. p. 14. Daß die Reimpaare den wenn nicht ganz, so doch zum Teil improvisierten Vortrag bei Gattungen niederen Stils wie den Renart-Branchen oder dem Fabliau nicht auszuschließen brauchten, liegt bei der hier gebräuchlichen formelhaften Sprache mit ihren zahlreichen konventionellen Mustern und dem zumeist banalen Reim auf der Hand.

i56 scheinlich ist, daß die Renart-Branche in der Form des gepaarten Achtsilbers schriftlich verfaßt wurde, besagt das keineswegs, daß der Jongleur nur eben den auswendig gelernten Text eines mitgeführten Manuskriptes rezitierte. Die Branchen des RdR weisen eine ganze Reihe von Variationsformen auf, die allen Verfassern geläufig waren, bzw. von den Jongleurs benutzt werden konnten, um ihren Vortrag nach Belieben zu erweitern oder abzukürzen. Nur: was sich im RdR an stereotypen Szenen und Motiven findet, sind im Unterschied zur Chanson de geste lediglich Versatzstücke der äußeren Umrahmung; der Kern des Schwanke, die unwiederholbare, überraschungs- und pointenreiche Überlistungshandlung, aus der die Renart-Branche lebt (in Br. IV die eigentliche Brunnenfabel), bleibt der Improvisation entzogen. Als solche Szenen und Motive, die schon in den ältesten Branchen (II-Va, III, IV) mehr oder weniger typisiert erscheinen, betrachten wir: a) den schon erwähnten A u s z u g zur Nahrungssuche (v. 3 3 - 6 8 ) , b) das M o t i v des großen Hungers (v. 4 8 - 5 6 ) , c) den Hühnerdiebstahl (v. 5 9 - 1 4 1 ) , d) die K l a g e des Hereingefallenen (v. 1 7 5 - 1 8 3 ) , e) die Ausrüstung der Mönche (oder ,vilains') mit unkriegerischen Waffen (v. 4 0 7 - 4 1 1 ) , f ) die ganze Kampfszene mit den folgenden typischen Motiven ( g - i ) : g ) der Wolf (oder Fuchs) von Hunden gefaßt und zerzaust (v. 4 2 0 - 4 2 2 ) , h) der Wolf v o n den Mönchen verdroschen (v. 4 2 3 - 4 2 6 ) , i) sein Entkommen durch die List, sich tot zu stellen (v. 4 2 7 - 4 3 0 ) , k) der Racheschwur nach überstandener aventure (v. 4 5 2 - 4 6 8 ) , 1) die Pflege und Wiederherstellung des .Helden' (v. 4 7 0 - 4 7 5 ) .

Diese Szenen und Motive, die jedem Leser des RdR vertraut sind, weil sie ihm auf Schritt und Tritt begegnen, können in ihrem Umfang stark variieren, je nachdem, ob der Erzähler ein Motiv einfach (d) oder mit ,ornatus' (a mit b) darstellt, ob er es zu einer ganzen Szene ausgestaltet (c, k) oder, wenn er einem raschen Abschluß zueilt, abkürzt (e, f, g, h, i, 1). Dabei kann, vor allem wenn es sich um einen Erzähler von ausgeprägter Individualität wie den Verfasser von Branche IV handelt, die Absicht einer Überbietung des topischen Schemas vorliegen. Es ist daher immer mißlich, auf den variablen Größen solcher Motive stoffvergleichende Argumentationen aufzubauen und, sofern zwei Versionen wie Br. IV und RF darin nicht übereinstimmen, kurzerhand eine verlorene gemeinsame Quelle' zu postulieren. Das Problem, welche Freiheiten dem Glichezare als Übersetzer zuzubilligen sind, dürfte eine sicherere Basis gewinnen, wenn man berücksichtigt, welche Bestandteile der Erzählung variabel waren und sich für eine Verkürzung von selbst anboten. Der ,Auszug zur Nahrungssuche' zeigt in Branche IV den Fall einer erweiterten Ausgestaltung, bei der im Vergleich zu der einfacheren Form in Branche III (v. 5-21) nicht allein das lange, vergebliche Suchen breit

157 ausgeführt, sondern auch das Hungermotiv durch einen kunstvollen ,ornatus' bereichert ist 1 ), vgl.: E t ses ventres si se merveille E t si boel qui sont dedenz Que font ses poes et ses denz

(IV 5 2 - 5 4 )

gegen: Car la fein Ii fait molt grant guerre.

(III 18)

Im kontinuierlichen Erzählablauf des RF erübrigt sich diese Szene, zumal der mhd. Dichter den Fuchs auch sonst nie eigens von seiner Burg ausziehen läßt. Sie ist von ihm hingegen an der Stelle wiedergegeben, wo es sich darum handelt, eine neue Figur zum Schauplatz des Geschehens heranzuführen (cf. RdR IV 184-200 mit RF 858-864). Auch hier hat der Glichezäre abgekürzt, wobei dieser Kürzung zwar der Weg Ysengrins, nicht aber das für den Auszug obligate Hungermotiv geopfert wurde, welches hier sogar eigens noch mit einem Schaf, dem für die Freßgier Ysengrins topischen Objekt, ausgeschmückt ist (v. 863 f.). Doch damit ist noch nicht erklärt, warum wohl der Glichezäre dazuhin die nur noch in drei Versen erwähnte Hühnerjagd des Fuchses im Unterschied zu der afrz. Branche kurzerhand als erfolglos abtut (cf. v. 828-830). Die Hühnerjagd, das beliebteste Eingangsmuster zahlreicher RenartBranchen, dürfte schon zur Zeit der Abfassung von Branche IV dem Publikum so vertraut gewesen sein, daß es besonderer Anstrengungen bedurfte, noch eine neue Variation zu bringen. Setzt man voraus, daß dem Publikum die Chantecler-Episode aus Branche II bekannt war 2 ), so durfte der auf Originalität bedachte Verfasser von Branche IV das traditionelle Überlistungsschema nicht verwenden. Er verweilt denn auch viel länger bei den Schwierigkeiten, die dem Hühnerraub vorangehen, als bei dem Moment des Fangens selbst und versucht, den üblichen Ablauf einer solchen Jagd durch einen ungewöhnlichen Zusatz - die unheroische Umkehr seines .Helden' - zu überbieten. Wenn diese Szene gleichwohl nicht auf der Höhe der Darstellung des Brunnenabenteuers steht, ist daraus noch nicht unbedingt zu folgern, daß Branche IV ursprünglich eine andere Einleitung gehabt haben müsse, denn auch der Schlußteil hält darstellerisch keinen Vergleich mit dem Brunnenabenteuer aus. Hier ist vielmehr zu berücksichtigen, daß der Schwank von Fuchs und Wolf im Brunnen erst durch eine Einleitung und einen Schluß ähnlichen Umfangs die für die kleine Vortragseinheit der älteren Branchen kennzeichnende Dreigliederung und übliche *) Das Hungermotiv wird vom Dichter des YSENGRIMUS auf Schritt und Tritt variiert, nicht allein beim Wolf, sondern auch beim Fuchs, vgl. in diesem Z u sammenhang die .Bestrafung der Zähne' (V 25 ff.). s ) Daß dem mittelalterlichen Publikum des RdR die Chantecler-Episode aus Br. II beim Thema ,Hühnerdiebstahl' sogleich gegenwärtig sein konnte, erhellt auch aus der mittelenglischen Version The Vox and the Wolf, deren Bearbeiter eine Chantecler-Reminiszenz zur Einleitung des Brunnenabenteuers verwendet hat.

IJ8

Länge von rund 350-520 Versen erhalten konnte 1 ). Der Einleitung ist die Erweiterung in die Breite an einer Reihe von Details anzumerken, die nur 2ur Ausschmückung dienen und darum auch nicht als verlorene Motive an2usehen sind, wenn sie im weiteren Verlauf der Erzählung wieder verlorengehen. Dazu gehört nicht allein der Fall des mitgenommenen und dann doch nicht mehr benötigten Huhns (v. 1 3 7 - 1 4 1 ) . Schon mit der V . 1 1 1 - 1 2 0 so stark dramatisierten Furcht Renarts, durch das Tor in den Hof zu gehen, hat es in der Folge keine weitere Bewandtnis, und von dem Durst, der ihn zum Brunnen führt, ist, nachdem er dort angekommen, überhaupt nicht mehr die Rede; selbst dann, als er unten angelangt und wider Willen ins Wasser gefallen ist, ein Rückverweis sich also geradezu anbietet, nimmt der Erzähler mit seinem ironischen Kommentar: Or est a aise de peschier (v. 181) nicht mehr darauf Bezug. Daß solche Details nicht zur Motivierung verwendet werden, besagt nur, daß sie eben nicht als Motive, sondern als Details in einer ,ampIificatio' angesehen wurden, und beweist nicht notwendig, daß hier ein stümperhafter Bearbeiter am Werk war. Das dritte Huhn, mit dem Voretzsch hauptsächlich argumentiert 2 ), ist zudem in Branche I V offensichtlich nur um einer scherzhaften Wendung willen, als Anthropomorphismus im Munde des Fuchses: Des deus en fait ses grenons bruire, La tierce en voudra porter cuire (v. i37f.) eingeführt und schon darum nicht ohne weiteres als Relikt einer älteren Version anzusehen. Durchgängige Motivierung und lang vorbereitete kompositorische Effekte sind in der auf unmittelbare Wirkung angewiesenen Vortragsdichtung ohnedies nicht zu erwarten und stellen darum auch nicht ein untrügliches Zeichen größerer Ursprünglichkeit dar, sondern zumeist schon den Anfang einer Literarisierung. Daß mit der Buchwerdung und insonderheit mit der Übersetzung in fremde Sprachen die Wiederholungsformen des ,style oral' gern beseitigt wurden, ist bekannt und z. B. am mhd. Rolandslied und an der italienischen Bearbeitung des F I E R A B R A S gezeigt worden 3 ). Die ganze, so sehr in die Breite gezogene Szene der afrz. Branche konnte der mhd. Dichter seinem Publikum schwerlich zumuten, welches das Gesamtabenteuer des Fuchses in einer fortlaufenden Erzählung und nicht mehr in unabhängigen Einzelschwänken zur Kenntnis nahm und die Chantecler-Episode vom Eingang der Erzählung her noch frisch in Erinnerung haben mußte. Der Glichezäre, der auch sonst Gleichartiges zu differenzieren und Wiederholungen zu vermeiden sucht 4 ), hat die Hühnerjagd Reinharts nur einmal in sein Werk aufgenommen, sie bei dieser Gelegenheit bezeichnenderweise aber seinerseits ausgeschmückt und um die Eheszene eines Bauernidylls bereichert, für die es in der afrz. Renartdichtung kein Vorbild gibt. Daß ihm für das !) S.u. Kap. V p . 251 f. *) ZRPh X V p. 359. 8 ) Vgl. W. Mulertt, Lmssenverbindung und Laissemviederholung in den Chansons de geste, (Romanistische Arbeiten Bd. VII), Halle 1918, p. 139. 4 ) Beispiele bei B U E T T N E R II, p. 59 ff.

1

59

Brunnenabenteuer eine afrz. Branche vorgelegen haben muß, die sich von Br. IV nicht wesentlich unterschieden haben kann, geht auch daraus hervor, daß seine Version zwei Relikte aufweist, die sich am ehesten durch das Vorbild der afrz. Branche erklären lassen. Die überleitenden Verse mit der moralisierenden Bewertung von Reinharts kundikeit (RF 823-826) sind als Präambel zu einer Einzelepisode im RF ungewöhnlich und könnten durch den Prolog zu Br. IV mit der Wesensbeschreibung Renarts veranlaßt seinx). Auch die folgenden Verse: zv einer zelle in sin wec trvg, da weste er inne hvnere gnvc. keinen nvtz er des gevienc, ein gvte mvre dar vmme gienc. Reinhart begonde vmme gan, vor dem tore sach er stan einen bvrnen, der was tief vnde wit

(ν. 8 2 7 - 8 3 3 )

dürften in Anbetracht der sonstigen Knappheit des Stils auf eine Vorlage zurückweisen, von der sich der Verfasser nicht völlig gelöst hat, obwohl die stark verkürzte Wiedergabe für seinen Zusammenhang an sich überflüssig war 2 ). Denn man fragt sich hier unwillkürlich, warum er Reinhart nicht gleich zum Brunnen führte, wenn er die vergebliche Hühnersuche im weiteren nicht mehr zur Motivierung für den Bück in den Brunnen (etwa aus Durst) heranziehen und die starke Ummauerung nicht noch anderweitig gebrauchen wollte. Damit dürften die ersten beiden strittigen Punkte der oben referierten Polemik zumindest insoweit als erledigt gelten, als man daraus Rechtstitel für die größere ,Ursprünglichkeit' des afrz. oder des mhd. Textes ableiten wollte: der mhd. Dichter hat, als er den Schwank von Fuchs und Wolf im Brunnen in seine Buchredaktion aufnahm, die Variationsformen einer afrz. Vorlage vereinfacht oder beseitigt, die sich von der uns vorliegenden Branche IV nur in einzelnen variablen Elementen unterschieden haben dürfte. Auch die übrigen Punkte dieser Polemik rücken in eine andere Beleuchtung, wenn man berücksichtigt, daß der Verfasser von IV ein weiteres Verfahren des ,style oral', die Parallelisierung 3), bei der Einführung des Spiegelmotivs geschickt anzuwenden wußte, während der Glichezäre vornehmlich auf konsequente Motivierung und epische Verknüpfung bedacht war. Die Parallelisierung in Branche IV wird zuerst bei dem Anweg Ysengrins sichtbar, der dem vorausgegangenen Auszug Renarts in einem abkürzenden Verfahren - Aufbruch, Hungermotiv, Szenerie, Verwünschung, Entdeckung des Brunnens - gleichgeordnet ist (vgl. v. 35-148 mit 185-202). *) Lediglich V . 2 1 7 - 2 1 9 findet sich eine ähnlich abgehobene Überleitung, die aber schon nicht mehr allein die Rabenepisode betrifft, sondern den übergreifenden Sinn der ersten vier Abenteuer zum Ausdruck bringt. 2 ) Vgl. dazu die Ausführungen von BUETTNER II, p. 1 6 - 1 7 . 3

) V g l . RYCHNER P. 85.

ι6ο D e r magische Effekt, der aus dieser Parallelität der beiden Wege zum selben Ziel entsteht, kommt in der feierlichen Betonung der Gleichzeitigkeit am Eingang der Wiederholung zum Ausdruck: Seigneurs, il avint en eel tens, E n celle nuit et en celle heure, Que Ysengrins . . . (v. 184-186) D e r Augenblick, in dem Ysengrin in den Brunnen blickt und die Symmetrie der Situation vollständig erscheint, ist mit derselben Gebärde und sprachlich mit fast gleichem Wortlaut 1 ) dargestellt: Dessur le puis s'est acoutez Grainz et marris et trespensez. Dedenz commence a regarder E t son ombre a aboeter. (v. 1 5 5 - 1 5 8 = 203-206) Damit ist der Punkt erreicht, v o n dem an die parallele Weiterführung auf einen witzigen Kontrast abzielt. Die symmetrische Situation kehrt in der verschiedenen Reaktion der beiden Protagonisten zugleich ihr gegensätzliches eheliches Verhältnis hervor: Renart versetzt der Anblick v o n Hermeline, sa femme qu'aime d'amor fine (ν. i6o), in die Besorgnis des (höfisch) liebenden und zugleich verwunderten Gatten, Ysengrin der Anblick v o n Hersent an der Seite Renarts in die Raserei des ,cocu', der sich endlich seiner Sache völlig sicher zu sein glaubt. W i e der W o l f v o n seinem ,cocu'M o n o l o g bis zu seiner Ankunft auf dem Brunnengrund aus einer Illusion in die andere gleitet, haben wir bereits verfolgt; der Vers, mit dem sein Schicksal besiegelt ist: Ysengrins est en male trape . . . (365), macht mit seiner Entsprechung in V . 1 7 5 : Or est Renart en male frape noch einmal die Parallelität in der Vertauschung der anfänglichen Situation sinnfällig. Demgegenüber ist die Frage der Motivierung für den Verfasser v o n Branche I V von geringer Bedeutung. Verfolgt man seine Darstellung Schritt für Schritt, so zeigt sich, daß das Verhalten Renarts an keiner Stelle ausdrücklich begründet wird. D e r Fuchs geht zwar zum Brunnen, pour sa soif que il volt estaindre (v. 147), und entdeckt, daß er sehr tief ist (v. 150). D o c h ob die Gebärde der Betrübnis, mit der er sich am Brunnenrand aufstützt (v. 155), daher rührt, daß er das Wasser nicht erreichen kann, ist ebensowenig gesagt (von seinem Durst ist nirgends mehr die Rede), wie nachher nicht ausgesprochen wird, ob er sein Spiegelbild erst dann begehrlich anstarrt (ν. 15 8), nachdem er Hermeline in ihm zu erkennen glaubt, warum er darüber pensis e dolens wird (v. 162) und ob er lediglich darum die Beine in den Eimer stellt, weil er über das E c h o aus dem Brunnen verblüfft ist (v. 169). Gewiß kann man daraus folgern, daß letzten Endes seine Neugier den Ausschlag zum Einfahren in den Brunnen g a b 2 ) ; doch lag eine solche psychologische Motivierung dem Verfasser offensichtlich fern, *) Es ist lediglich acoutez ( v · 1 5 5 durch den synonymen Ausdruck aclinez (v. 203) ersetzt. 2

) FOULET P . 2 9 8 .

ι6ι der in seiner Darstellung lediglich die Phasen einer allmählichen Berückung zeigt und diese bis zu dem Punkt steigert, an dem Renart ,ehe er sich's versah' (One tien sot mot, quant il avale, v. 1 7 1 ) der Täuschung zum Opfer gefallen ist. Es ist für den Glichezäre besonders kennzeichnend, daß er gerade an den beiden Punkten, die in der afrz. Version unmotiviert, bzw. nicht ganz glaubhaft erscheinen, in den Gang der Handlung eingegriffen hat: die Rolle des besorgten, liebenden Gatten überrascht bei dem traditionellen Charakter des Fuchses, und Ysengrin fragt nach den ersten Worten Renarts nicht ein einziges Mal mehr nach Hersent, obwohl er soeben noch glaubte, sie in flagranti erwischt zu haben. Die Abweichungen der mhd. Version sind hier so auffallend, daß ein persönlicher Eingriff unverkennbar und der Rückgang auf eine ,ursprünglichere' Vorlage als Branche I V nicht mehr möglich ist. Der mhd. Dichter löst die Schwierigkeit, Renarts Täuschung zu motivieren, durch eine scheinbare Vereinfachung, die im Zusammenhang der ganzen Episode indes eine ironische Übersteigerung darstellt, indem er den Fuchs geradezu ,aus Liebe' in den Brunnen springen läßt (vor libe er in den brvnnen spranc, v. 848). Daß dieser direkte Sprung in den Brunnen aber gerade nicht die einfachere Lösung, geschweige denn die logischere Motivierung darstellen kann, zeigt sich schon darin an, daß sich der Glichezäre dabei (wie schon erwähnt) kurzerhand und gegen alle Wahrscheinlichkeit über die Eimervorrichtung hinwegsetzt, nicht ohne das Verhalten Reinharts erst noch als ein michel wunder (v. 836) anzukündigen. Worin anders aber kann das Erstaunliche dieses Verhaltens liegen als darin, daß sich der schlaue Fuchs ausgerechnet in sein Weib vergaffte? Worin anders als in dem unglaublichen Kasus, daß der vollendete hobischere Reinhart (v. 441) durch starke minne, nicht etwa zu seiner Freundin, sondern zu seiner eigenen Frau, sich in den Brunnen stürzte? Der Glichezäre, der zuvor seine Begründung, warum Reinhart zu seinem Weibe auch noch eine Freundin braucht, der höfischen Lyrik entnahmx), hat dieses Paradoxon der Minnekasuistik ganz auf die desillusionierende Pointe hin angelegt: dvreh starke minne tet er daz, do wurden im die oren naz (v. 849-850)

und verrät damit eine antihöfische Tendenz, in der die Spitze seiner ironischen Überbietung des vorgegebenen Themas liegt. Daß angesichts dieser Überbietung auch die abschließende Beteuerung der Glaubwürdigkeit seiner Version vom Sprung in den Brunnen {swer des nihtgelovbet, der sol drvmme niht geben, 854-855) nur ironisch gemeint sein kann, liegt auf der Hand und bestätigt die Auffassung, daß der Glichezäre mit der Heischeformel nur seine selbständige Auslegung der vorgegebenen Fabel anzudeuten pflegte. Der zweite Eingriff in den Gang der Handlung ist die Beseitigung des Eifersuchtsmotivs. Damit verzichtet der Glichezäre auf all die Komik, die *) B A E S E C K E P . I I . 11

Jauß, Tierepos

162 der Verfasser von Branche IV aus der gegensätzlichen Reaktion von Fuchs und Wolf auf ihr Spiegelbild gewinnt. Die Parallelisierung ist im R F denn auch nur noch ein Überbleibsel (cf. 827-835 mit 858-868); der Weg zum Brunnen wird nicht mehr als eine magische Koinzidenz thematisiert und die Symmetrie der Situationen beim Blick in die Tiefe sogleich einer epischen Rückverknüpfung untergeordnet. Heinrich benutzt die Täuschung Ysengrins durch sein Spiegelbild nur noch dazu, um ihn der vermeintlichen Hersent sein Leid, d. h. sein Mißgeschick beim Fischfang auf dem Eise, klagen zu lassen. Dabei überlagert die Logik der epischen Verknüpfung sichtlich die Evidenz der Situation. Hält man sich vor Augen, wie der afrz. Verfasser darauf bedacht war, das allmähliche Hineingleiten in die Illusion erst bei Renart und dann bei Ysengrin als einen kontinuierlichen Vorgang anschaulich zu machen 1 ), so wird wiederum deutlich, wie wenig im R F auf die Rezeption durch einen Hörerkreis Rücksicht genommen ist.

875

880

daz hovbet tet er nider zehant vnde begonde lachen, semelicher Sachen begienc der Schate da inne. des verkarten sich sine sinne, er begonde Hersante sin laster sagen vnde von sinem schaden clagen. vil lvte hvlete Ysengrin, do ancwort im der don sin, sin stimme schal in daz hol, ez was leckerheite vol, daz wart vil schire schin.

Daß Ysengrin gerade in diesem Augenblick vor Hersent ein Klagelied anstimmt, ist nicht die unmittelbare Folge der Verkehrung seiner Sinne und muß den Zuhörer so lange verblüffen, bis er selbst die fehlenden Glieder der Gedankenfolge ergänzt hat (die Verkehrung der Sinne hat zur Folge, daß Ysengrin sein Spiegelbild für die wirkliche Hersent nimmt; er verwundert sich nicht etwa, sie hier vorzufinden, sondern bricht sogleich laut Von einer .Bruchstelle' in der Darstellung zu sprechen, ist an dieser Stelle in beiden Versionen nur möglich, wenn man über dem Kriterium psychologischer Wahrscheinlichkeit die ästhetische Evidenz des dargestellten Vorgangs übersieht. Der Glichezäre hat den Zusammenhang des Dialogs aus Branche I V nicht etwa willkürlich zerrissen (so BUETTNER p. 18 f.), sondern baut die Täuschung, der Ysengrin allmählich verfällt, auf der geschickten Widerlegung seiner Einwände durch Reinhart auf. Der Verfasser von Branche I V hingegen läßt die Täuschung Ysengrins allein aus Renarts fabulierender Redekunst hervorgehen, die schon damit verfängt, daß er erst vorgibt, in seiner Entrückung den Gevatter gar nicht mehr zu kennen; so wird Ysengrin hier von vornherein überspielt und der im R F von ihm vorgebrachten Frage nach Hersent kein Raum gelassen. Beide Versionen haben ihre eigene Bündigkeit (gegen SUDRE p. 235), ihre Differenz erklärt sich ganz einfach aus der verschiedenen Bewertung des Eifersuchtsmotivs, bzw. aus der verschieden eingefädelten Täuschung.

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heulend in die Klage über sein letztes Mißgeschick aus, das man sich dabei ins Gedächtnis rufen muß). Ebenso muß der Zuhörer bei V. 882 stutzig werden, wo die Erzählung jäh in die Perspektive des Kommentators umspringt. Daß das Loch ,der Gaunerei voll war', hat mit der soeben geschilderten Echowirkung nichts zu tun und kann dem Zuhörer erst verständlich werden, wenn er , leckerheit' als Kennwort für den Fuchs nimmt x) und als Vordeutung auf das Kommende bezieht. Wie hier ist auch in der Folge die Rückfrage Ysengrins, wie denn Hersent ohne sein Wissen ins Jenseits gelangt sei, offensichtlich der epischen Rückverknüpfung zuliebe in die Darstellung eingeschaltet worden, nur daß der Glichezäre dieses Mal eine eigene Pointe daraus zu gewinnen weiß (Reinhart erklärt die kahlgebrannte Platte auf dem gespiegelten Wolfshaupt durch einen tue in die helle, v. 910). Warum der mhd. Dichter das Eifersuchtsmotiv beseitigt hat, läßt sich von seiner Version des Brunnenabenteuers aus nicht entscheiden und muß am ganzen Text zusammen mit der Frage untersucht werden, warum seine Satire im wesentlichen nur Reinhart trifft und Ysengrin verschont2). Doch soviel ist hier schon sicher: wenn man die Satire mit Voretzsch als „Neigung einer späteren Renartdichtung" bewerten will 3 ), wäre dies mehr noch als für Br. IV für die mhd. Parallelversion geltend zu machen. Denn der Glichezäre hat, von der abgemilderten, aber doch beibehaltenen geistlichen Satire einmal ganz abgesehen4), nicht allein seine Darstellung vom Sprung Reinharts in den Brunnen einer antihöfischen, satirischen Tendenz dienstbar gemacht, die in der afrz. Branche noch fehlt. Seine Version vermittelt das Schwankgeschehen auch sonst ständig aus der kritischen Distanz eines Erzählers, der sich nicht mit dem bloßen ,fere rire' und mit der natürlichen Moral begnügt, die aus dem Geschehen selbst entspringt, sondern sein Publikum am Ende zur Reflexion über den Zustand einer Welt erheben will, in der einem solches widerfahren kann, wie Ysengrin geschah. Wo der Verfasser von Branche IV aus dem Schwankgeschehen ein Fazit zieht, das als sprichwörtliche Weisheit einer neuen Erfahrung vom Lauf der Welt entspringt, und dabei die Welt, wie sie nun einmal ist, im Grunde bejaht, wendet sich der Glichezäre in seiner abschließenden Betrachtung gegen die Niedertracht der Welt, wie sie gerade heute ist, und zeigt am Fall Ysengrins eine aktuelle Not auf, die er zutiefst beklagt: gnvge iehen, daz vntrewe sei iezvnt vil newe. weizgot: er si ivnch oder alt, manges not ist so manicvalt, l ) Nach WALLNER, Z f d A 64, p. 248; Wallner übersetzt V . 882 demgemäß: ,im Brunnen saß der Erzschelm' (Beitr. 47, p. 187). *) A u f diesen Punkt hat schon BUETTNER hingewiesen (II p. 93). s ) Z R P h X V p. 360. *) Den Weglassungen in der Paradiesschilderung steht der Zusatz V . 1007 ff. (Tonsur und Beschneidung) gegenüber.

II·

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er wenet, ditz geschah nie manne me. vnsern cheime ist so we von vntrewen, em habe vernvmen, daz mangem ist ie vorekvmen. (v. 997-1004)

Woran diese pathetische Klage ihr Maß nimmt und inwiefern die hier nur erst in einzelnen Ansätzen sichtbar gewordene satirische Grundintention des Glichezäre die Anlage seines ganzen Werkes bedingt, soll in Kap. V, C gezeigt werden, wenn wir den REINHART FUCHS im Blick auf seine Stellung innerhalb der zyklischen Entfaltung der volkssprachlichen Fuchsepen untersuchen. D. Der geschichtliche Wandel des Tierschwanks nach den literarischen Varianten von „Fuchs und Wolf im Brunnen" Das weitere Schicksal des Schwanks soll hier, da wir keine vollständige stoffgeschichtliche Monographie beabsichtigt haben 1 ), lediglich innerhalb des Zeitraums verfolgt werden, in dem die zyklische Renartdichtung des Mittelalters in immer neuen Gestaltungen lebendig blieb. Dabei geht es vins vornehmlich um die Frage, was sich aus den Nach-, Weiter- und Umbildungen dieses Schwankes über den geschichtlichen Wandel seiner Form und über die weitere Geschichte des Themas der ,sagesse' ausmachen läßt. Denn gerade dieser Schwank kann nicht allein durch seine Ablösung aus dem Exemplum und durch seine doppelte Gestalt in der Vortragsform des Jongleurs und der Buchform des Glichezäre, sondern auch durch die Umformungen für paradigmatisch gelten, die er im 13. Jahrhundert erfuhr: von den Varianten aus diesem Zeitraum zeigen die einen die Rückkehr in die Beispielerzählung, während sich in den anderen eine fortschreitende Literarisierung bis zur Überführung in die satirische Enzyklopädie des RENART LE CONTREFAIT abzeichnet, w o das s c h w a n k h a f t e E l e m e n t sein

Eigendasein gegenüber der Satire ganz einbüßt. Im Corpus der Renart-Branchen selbst nimmt dieser Schwank insofern eine Sonderstellung ein, als er nicht wieder aufgegriffen wurde, um wie fast alle einmal eingeführten Schwankschemata in abgewandelter Form oder mit anderen Figuren nachgebildet zu werden. Es finden sich lediglich zwei Stellen in Br. V I und IX, wo der Inhalt des Schwanks rekapituliert wird 2 ), nicht aber Variationen, die sein Ablaufschema nachahmen. Daraus ') Zur Stoffgeschichte kann auf die Abhandlung von G. H. McKnight, The Middle English Vox and Wolf, P M L A X X I I I (1908, p. 497-509), verwiesen werden. s ) Vgl. dazu FOULET p. 300-303, der dort die Abweichungen dieser Versionen von Br. I V aus ihrer Funktion im jeweiligen Textzusammenhang erklärt. Wenn in beiden Fällen die Täuschung durch das eigene Spiegelbild nicht erwähnt ist, läßt sich das darauf zurückführen, daß in Br. V I der Wolf als Ankläger Anlaß hat, den Grund seiner Eifersucht nicht publik zu machen, und daß in Br. I X Renart nur das hervorhebt, was seine eigene List ins Licht rückt.

i65 läßt sich wohl folgern, daß gerade dieser Schwank nicht leicht nachgebildet werden konnte. Geht man von dem Kriterium der Variationsbreite aus, die ein Schwankschema noch zuläßt, ohne daß durch die Variation der Schwank an Qualität einbüßt, so ergibt sich bei ,Fuchs und Wolf im Brunnen' eine äußerst geringe Variationsmöglichkeit. Tauscht man die beiden Figuren gegen andere Tiere aus oder läßt man ein Motiv wie das der Spiegelbilder weg, sogleich verliert die Geschichte ihre eigentlich schwankhafte Pointe und nähert sich wieder der einfachen Fabel. Die Geschichte vom Löwen und vom Hasen aus C A L I L A H U N D D I M N A H , die Juan Nogues neuerdings wieder als Quelle für RdR Br. I V ausgeben wollte, enthält zwar das Spiegelmotiv (der Löwe stürzt sich auf sein eigenes Spiegelbild, das er der Insinuation des Hasen zufolge für einen Gegner hält, und ertrinkt), erscheint aber nicht im mindesten schwankhaft, da ihr die Verkehrung der Situation und der dadurch erst beleuchtete Kontrast zwischen den Charakteren fehlt Wo das Spiegelmotiv durch den Reflex des Mondes ersetzt ist, wie in den direkt auf die Disc. Cler. zurückgehenden Varianten, oder der Wolf allein durch die Aussicht auf Fische in den Eimer gelockt wird, wie bei Odo von Ciringtonia und in den von der Reinarthistorie des 14. Jahrhunderts abgeleiteten Versionen 2 ), geht der tiefere Sinn einer Erfahrung, die aus dem Geschehen überraschend entspringt und zugleich als ,costume* doch wieder nur den Lauf der Welt bestätigt, verloren und bleibt nurmehr eine simple List übrig. Auch bei den Versionen des Schwanks, die in der Nachfolge von Br. I V stehen, handelt es sich nicht um Formen der Variation, die einander gleichwertig sind, sondern um Formen der Nachbildung, die sich durch ihre größere oder geringere Nähe zu Branche I V zugleich qualitativ unterscheiden. Insofern müßte man vom Fortleben des Schwankes aus gesehen nicht die früheste oder einfachste Form, sondern viel eher seine .klassische' Ausprägung in Branche I V des R d R ,ursprünglich' oder ,archetypisch' nennen, die alle künftigen Versionen durch Hinzufügen oder Weglassen nicht mehr überbieten konnten. Daß ihr auch innerhalb des R d R ein besonderer Rang zuerkannt wurde, bekundet sich darin, daß sich Renart in Branche I X , um sich dem ,vilain' Lietard als hon mestre de plaider (v. 484) zu empfehlen, an erster Stelle des Brunnenabenteuers (Ce ftt bone gile et bon jeus, v. 504) und erst im Anschluß daran seiner in Branche I I I erzählten Listen rühmt. Die ausführliche Rekapitulation des Brunnenabenteuers durch Ysengrin (Br. V I 603-666), der die Begebenheit im Tonfall der Anklage vor dem Hof König Nobels vorbringt, weist eine Reihe von neuen Details auf, die 1

) Estudios sobre el Roman de Renard (su relation con los cuentos espanoles y extranjeros), Salamanca 1956, p. 106. Die Ableitung der Br. IV von C A L I L A H U N D D I M N A H hatte schon Voretzsch (ZRPh X V 353) aus anderen Gründen abgelehnt, was Nogues entging, der auch sonst die Arbeiten von Voretzsch gar nicht zu kennen scheint. 2 ) Diese Versionen hat McKnight, PMLA XXIII (1908) p. 5oof., zusammengestellt.

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für die Ausschmückung der Fabel durch einen Jongleur charakteristisch sind. Das geflügelreiche Paradies wird ohne Rücksicht auf die perspektivische Einheit der Fiktion zusätzlich mit Fischen bereichert (v. 621; die thematische Überfremdung erklärt sich wohl aus der Assoziation Brunnen Wasser - Fische); dem Wolf schlägt im Brunnen dreimal das Wasser über dem Kopf zusammen (v. 648; eine Dramatisierung, die dem Tenor der Anklage entspricht) und die Mönche schleifen ihn am Ende in einen stinkenden Graben, offenbar nur, damit die Jeremiade Ysengrins noch um einen Punkt verlängert werden kann (De puor dui estre crevev. 661). Aus alledem ergibt sich kein Grund, an eine altertümlichere Vorlage als Branche IV zu denken; die abweichenden Züge passen durchaus in das Bild eines wenig befähigten Verfassers, der die Hälfte seiner Branche aus ähnlichen Rekapitulationen bestritten hat. Eines hat indes auch der Verfasser von Branche V I sorgfaltig bewahrt und damit bezeugt, daß es sich hier um ein konstitutives Element der ausgebildeten Form des Fuchsschwanks handelt: die aus der Schwankbegebenheit entspringende sprichwörtliche Weisheit der Erfahrung. Nicht allein läßt er Ysengrin den Ausspruch Renarts: ,C'est costume que chascuns tient, Quant Ii uns vet, Ii autres vient' (v. 641 f.)

wörtlich zitieren, sondern auch Renart sich in seiner Replik auf die Wahrheit eines Spruches berufen (jQui tot covoite trestot pert, ν. 681), um zu erhärten, daß Ysengrin nicht durch seine Schuld zu Fall kam, sondern seiner ,lecherie' zum Opfer fiel. Daran kann man wiederum erkennen, daß dem Tierschwank für das Empfinden des mittelalterlichen Publikums von Haus aus eine Art von Didaxis zukam und nicht erst durch den Einfluß gelehrter Tradition hineingebracht w u r d e D i e Differenz zwischen .volkstümlicher' und .gelehrter' Tradition, ,Naturpoesie' und ,Kunstpoesie', liegt zumindest im Fall der Tierdichtung nicht prinzipiell im Fehlen oder Hinzutreten einer Lehre im weiteren Sinn des ,aprendre', das der Jongleur im Prolog zu Branche IV seinem Publikum in Aussicht stellt, sondern allein in der verschiedenen Art und Weise, wie die Lehre aus dem dargestellten Geschehen entspringt. Bei der Umsetzung des Schwankes in die Beispielerzählung Odos von Ciringtonia und des Strickers bestimmt die Moral, auf die das Exemplum ') Dafür, daß die sprichwörtliche Lehre als dem volkssprachlichen Tierschwank wesenseigen angesehen wurde, spricht wohl auch der Umstand, daß Odo von Ciringtonia, der seine Exempla im LIBER PARABOLARUM zumeist typologisch auslegt (vgl. etwa Nr. I, I V , V , X ) oder Epimythien in der Art des ESOPE der Marie de France beifügt (vgl. etwa Nr. V I , X V ) , gelegentlich noch die sprichwörtliche Lehre des volkssprachlichen Schwankes bewahrt hat, die er im Falle von N r . X I V (Exemplum contra falsum indicium rationis ex affectione) altfranzösisch und lateinisch zitiert: Ky crapaud ayme, la lune ly semble. uersus: Si quis amät ranam, ranam putat esse Dyanam (Kl. lat. Denkmäler p. 114).

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abgestellt ist, so offensichtlich auch die Gestalt der Erzählung, daß sich ihre Abweichungen unmittelbar aus der verschiedenen Lehre erklären lassen, die von den beiden Bearbeitern aus dem vorgegebenen Schwank gezogen wurde. Odo legt,Fuchs und Wolf im Brunnen' im XIX. Exemplum seines L I B E R P A R A B O L A R U M typologisch aus, wie es in der Physiologustradition üblich ist: Vulpecula significat Diabolum qui dicit homini: Descende ad me in puteum peccati et iavenies delicias et multa bona. Stultus adquiescit et descendit in puteum culpe, et ibi nullam invenit refeccionem. Tandem ueniunt inimici et extrahunt impium, percuciunt et perimunt. Diabolus multa bona Ad§ promisit; sed multa mala persolvit1).

Damit, daß Renart zur ,figura diaboli' umstilisiert wird, entfallen in der vorausgegangenen Darstellung Odos alle Züge, die den Fuchs in Branche IV als Person umkleiden und menschlich charakterisieren. Es bedarf nicht mehr der Täuschung durch sein eigenes Spiegelbild, noch eines großen Durstes, um ihn in den Brunnen zu bringen: er gerät einfach durch Zufall (casu) hinein und zieht am Ende nicht etwa froh von dannen, sondern ist einfach, wie der Pflüger bei Petrus Alfonsi, wieder verschwunden. Der Wolf, der als ,figura hominis' in den Brunnen der Sünde gerät, erliegt gleich der ersten Rede des Versuchers; hier genügt schon die Aussicht auf Fische, zumal sich die Vorspiegelung von Paradiesesfreuden nicht mit der Rolle des Teufels vereinen ließe 2 ). Im Unterschied zu Petrus Alfonsi, der sein Exemplum nur auf den Sinn der einen vorangestellten Lehre abgestellt hatte, benutzt Odo auch den Ausgang der Geschichte für seine typologische Deutung. Mit der Rede des Fuchses bei der Begegnung im Brunnenschacht: satis comedi et ascendo, tu descende et inuenies mirabilia sind die Versprechungen des Teufels gemeint, mit den Bauern, die ihn am Morgen aus dem Brunnen holen und zu Tode quälen, die Dämonen bedeutet, die sich der sündigen Seele bemächtigen. Während bei Odo das schwankhafte Element ganz verloren geht, bleibt es in der Fabel des Stricker, die als vereinzeltes Zeugnis für die literarische Wirkung des offenbar kaum bekannt gewordenen mhd. RF gilt 3 ), erhalten und wird einer neuen Auslegung dienstbar gemacht. Dabei entsteht ein aufschlußreicher Widerspruch zwischen Schwankerzählung und ange') zitiert nach Hervieux, Les fabulistes latins . . t. IV, p. 192-193. ) Daß Odo sein Exemplum aus dem RdR geschöpft hat, der ihm, wie einzelne Details und die in anderen Exempla gebrauchten Tiernamen bezeugen (cf. FOULET p. 505ff.), bekannt gewesen sein muß, wird durch zwei Einzelheiten nahegelegt, die sich in der Disc. Chr. nicht finden und auf Br. I V weisen: die Wechselrede im Brunnenschacht und der Ausgang, bei dem der Wolf Prügel bezieht. ") Wir zitieren nach dem Wiederabdruck in H. Meyer-Benfey, Mittelhochdeutsche Übungstexte, Halle ' 1 9 2 1 ; eine Reihe von formellen Übereinstimmungen zwischen der Fabel des Stricker und der Version im RF hat Voretzsch (ZRPh X V I p. 33) zusammengestellt. s

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fügter Moral. Denn die erstere kommt auf die erwiesene Weltklugheit des Fuchses heraus, während in der letzteren versucht wird, dazuhin auch noch aus dem Mißgeschick des Wolfes eine Lehre zu ziehen. Schon der Eingang der Fabel zeigt, daß der Stricker gerade das Motiv aufgreift, dem der Gllchezäre eine neue Bedeutung gegeben hatte: Belobent daz wibes minne Mangem nimpt di sinne (v. 1-2) Doch dem Stricker geht es nicht mehr darum, die höfische Liebe durch eine Übersteigerung ironisch zu entlarven. E r faßt den Sprung in den Brunnen 1 ) ernst auf und zeigt daran, daß derjenige am Ende alle seine Klugheit zu seiner Rettung aufwenden muß {Dar nach hab wit^e phlicht, v. 60), der sich von der Minne blenden läßt. Aus dem Dilemma, in das blinde Minne bringt, kann allein Weltklugheit retten (cf. v. 59-60). Demgegenüber hat der Wolf beim Stricker lediglich eine Nebenrolle inne. A u f die Art seiner Täuschung kommt es gar nicht an (an Stelle des Spiegelmotivs und der Paradiesfiktion genügt hier schon die Aussicht auf eine nicht näher bestimmte süße Speise, v. 24-25), denn das Mißgeschick des Wolfes hat nur zu veranschaulichen, daß man sich vor Untreue in acht nehmen soll. Daß der Wolf am Ende der Untreue des Fuchses zum Opfer fallt, läßt dabei nicht den geringsten Schatten auf die zuerst exemplarisch herausgestellte Klugheit zurückfallen. Ein und dasselbe Verhalten des Fuchses gilt einerseits als beispielhaft für Weltklugheit, andererseits als kennzeichnend für Treulosigkeit, als ob sich die beiden Lehren in seiner Figur gar nicht berührten. Blickt man von hier aus auf das sprichwörtliche Fazit der afrz. Version von Branche I V 2urück, das beim Stricker in der Rede des Fuchses wiederkehrt: Der fuchs sprach ez ist huer als vert Dez lasz dich nit enwunder Der ain gat uff der ander vnder, (v. 38-40) so zeigt sich, daß beim Übergang des Schwankes in die Beispielerzählung des 13. Jahrhunderts die einhellige Evidenz einer sich bewahrheitenden Erfahrung vom Lauf der Dinge aufgegeben wird. Während Odo den Schwank zur Erläuterung der heilsgeschichtlichen Situation des Menschen heranzieht und ein typologisches Schema auf ihn anwendet, das so allgemein ist, daß es sich nur noch beiläufig mit der Schwanksituation von Fuchs und Wolf im Brunnen berührt, dient er dem Stricker zu einer Auslegung, die durch unerwartete Aktualisierungen überrascht 2 ) und so eine Vielheit J

) Die Formulierung des R F : vor liebe er in den bronnen spranc (v. 848) wird vom Stricker mit einer ähnlichen Wendung wieder aufgenommen: Dur jr lieb sprang er dar (v. 9). Doch läßt er den Fuchs nicht direkt in den Brunnen, sondern in den Eimer springen (v. 1 1 ) und korrigiert damit eine Unwahrscheinlichkeit seiner Vorlage. 2 ) wie in seinen Fabeln häufig der Fall ist, vgl. K . Zwierzina, Beispielreden und Spruchgedichte des Strickers, in: Carl von Kraus, Mhd. Übungsbuch, Heidelberg

169 möglicher Anwendungen für das praktische Handeln erkennen läßt, die nicht mehr auf den Nenner einer einheitlich begründeten Moral zu bringen sind. Wenn wir die Parallelversion zu Branche IV (Br. I V a ) 1 ) an dieser Stelle unter die Varianten des Schwanke einreihen, rechtfertigt sich dies durch Indizien einer weit fortgeschrittenen Literarisierung, die Voretzsch entgingen, als er diese Version für altertümlicher als Branche I V ausgab 2 ). Zunächst fällt auf, daß der Verfasser von Br. I V a die kontingenten Momente des Geschehens durch genaue, oft sogar umständliche Beschreibungen ersetzt 3 ) und neu begründet. Besonders kennzeichnend ist dafür die ergänzte Überleitung zum Auftritt Ysengrins (vgl. RdR I V 175-234 mit I V a 6639-6705). Der Verfasser von Br. I V a läßt zunächst Renart im Brunnen über seine Lage in Form eines Monologs reflektieren, malt dann seine Angst aus, schildert im weiteren den Aufbruch Ysengrins, nicht ohne dabei überflüssigerweise zu beteuern: E t je vous di en verite Qu'il n'i vint pas por Renart querre, Mais por sa garison porquerre, (v. 6678-6680)

und findet schließlich auch eine Erklärung dafür, wieso der Wolf überhaupt an den Brunnen herantritt: er hört nun etwas in der Tiefe des Brunnens knurren und vermutet, dort eine Beute zu finden (v. 6693). Dieses Bedürfnis, die Kontingenz des Geschehens auf natürliche Ursachen zurückzuführen, entspricht einem durchgängigen Bestreben nach Wahrscheinlichkeit, das dem Verfasser von Br. IV noch fremd war. Wenn der Verfasser von Br. I V a das dort verlorengegangene Motiv des nicht verspeisten dritten Huhns aufgreift, ist das offensichtlich dieser .realistischen' Tendenz zuzuschreiben. Ihm erscheint es offenbar als wenig glaubhaft, daß der von Renart so oft gefoppte Ysengrin sogleich wieder der verführerischen Ge2 I926, p. 285: „ ö f t e r aber wird Stricker der Schwank zur Parabel und ist nur Beispiel: die Deutung ist das Thema, das überraschen soll und dessen unerwartete und unbetonte Aktualität sich hinter gnomischer Haltung verbirgt und doch dem Vortrag die Wirkung bringt." RdR ed. Meon, Supplementband ed. Chabaille, Paris 1835, p. 1 1 3 - 1 2 1 (im folgenden als ,Br. I V a ' zitiert). ' ) Z R P h X V p. 359. 8 ) Vgl. etwa die Darstellung, wie Renart in den Brunnen einfährt: Lors sali por la corde prendre L i ύ il vit le saiel pendre, E t cuide que d'ewe soit plainne. Oes con son pechie le mainne! Si comme il se prist ä la seile E t la corde Ii destoreille Qui ert entors le truel entorte, E t ens ou puic parfont l'enporte. (v. 6 6 3 1 - 6 6 3 8 ) In der Darstellung von Br. I V verschwinden diese Details allesamt in one η'en sot mot, quant il avale (v. 171).

ιηο wait seiner Worte verfällt. E r macht aus dem gutgläubigen Toren einen Skeptiker, der durch Schaden klug geworden ist und Renart keinen Glauben schenkt, als dieser ihm erzählt, er sei im paradis terrestre und habe seinen Lebenswandel geändert (Saves con je suis amendes, Et con j'ai changie ma vie, ν. 6742 f.). Daraus entspinnt sich eine Disputation, in der Ysengrin immer neue Einwände gegen die Beteuerungen Renarts vorzubringen weiß, die dieser vergeblich durch deduktive Argumentationen zu widerlegen sucht {Car hons qui est en paradis N'a mestier de men^oigne dire, ν. 675 ο f.) und erst entkräften kann, als er ihm das am Brunnenrand zurückgelassene Huhn als sichtbaren Beweis für seine paradiesische Kost anbietet (v. 6769). Daß dieser Streit mit verschiedenen Argumenten nicht die ursprünglichere Version der Paradiesfiktion darstellen kann, liegt auf der Hand: sie ist gerade als Überbietung der bekannten Version reizvoll und wahrscheinlich auch intendiert. Als eine weitere Spätform der Literarisierung des Tierschwanks ist die Vorliebe des Verfassers für die Form des Monologs anzusehen, der in den älteren Branchen des RdR und im R F verhältnismäßig selten begegnet. Branche I V bietet dafür nur ein einziges Beispiel (Ysengrin hat soeben im Spiegel des Brunnengrunds die vermeintliche Hersent neben Renart entdeckt): E t dist ,moult par sui maubailliz, De ma fame vilz et honniz, Que Renars le rous m'a fortraite E t ceens avec soi a traite. Moult est ore traltre lere. Quant il deeoit si sa conmere. Si ne me puis de lui garder. Mes se jel pooie atraper, Si fakement m'en vengeroie Que james crieme n'en aroie.' (IV 213-222) Die Verse rekapitulieren lediglich die äußere Situation Ysengrins. Von seinem inneren Zustand, dem Affekt dessen, der sich betrogen glaubt, wird kaum etwas verlautet; die Rekapitulation der Situation geht unmittelbar in eine Äußerung seines Wollens über, das sich sodann in einem heftigen Geheul entlädt (v. 223) 1 ). Zuvor, als Renart in das Dilemma gebracht war, ob er durch die Pforte in den Hof des Klosters eintreten sollte (v. 100-106), hat der Erzähler bezeichnenderweise nicht die Form eines Monologs, sondern die schon besprochene Mischform von ,erlebter Rede' und kommentierender Einschaltung (Pseudoidentifikation) verwendet. Den Monolog in der vom höfischen Roman ausgebildeten Form, als Ausdruck eines *) Wir benutzen hier und im folgenden Unterscheidungen, die I. NoltingHauff für den Monolog im höfischen Roman herausgearbeitet hat {Die Stellung der Liebeskasuistik im höfischen Roman Heidelberger Forschungen Bd. 6, Heidelberg 1957, bes. Kap. I). Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Form des .Reaktionsmonologs'.

171 inneren Konflikts, kennt die klassische Renart-Branche nicht 1 ); die grant balance (TV ioo), in der sich Renart befindet, wird nicht auf der Ebene der Reflexion ausgetragen, sondern erst vom Erzähler pseudoobjektiv aus der Rolle seiner ,Helden' geschildert und sodann unmittelbar in den Phasen des äußeren Verhaltens (Zaudern, Zurückschrecken, Wiederumkehren) sichtbar gemacht. Inneres Verhalten und äußere Situation bleiben hier völlig kongruent. In der Welt des Tierschwanks ist ,Innen' und ,Außen' ungeschieden, alle Reflexion rein auf das Geschehen bezogen und alles Handeln allein von der äußeren Situation aus bedingt, durch die es ausgelöst wird und ohne die es nicht in Gang käme. Renart handelt nicht aus Prinzipien heraus, reflektiert nicht um der Reflexion willen und löst keine Konflikte durch den inneren Widerstreit mit einer Norm, der beim Helden Chrestiens zu einer freien, d. h. nur noch von innen motivierten Entscheidung führt. In Branche IV a hingegen, deren Verfasser die Monologform gleich dreimal verwendet2), begegnet einmal auch schon eine Art von Konfliktmonolog, durch den eine Entscheidung (Renart hat Durst, steht vor dem Brunnen) herbeigeführt wird: Diexl dist Renars, ςοιι que puet estre? Qui n'os boire et si muir de soi, E t si n'i a palis ne soi, N e chose que l'me contredie. J e sui couars, que que on die; Mais la male flamme me parte An9ois que de cest lieu me parte Se je n'en boic ains que m'esvainnes, J a n'en querrai congie as moisnes. Lors sali por la corde prendre lä ü il vit le saiel pendre. (v. 6622-6630)

Hier handelt es sich nicht mehr nur um eine einfache, ungebrochene Willensäußerung, wie zuvor bei Ysengrin in Br. IV, dessen Monolog vornehmlich dazu diente, ihn in seiner komischen Rolle als ,cocu' zu charakterisieren. Hier wird das äußere Dilemma in ein Selbstgespräch transponiert, bei dem sich Renart schon wie ein Romanheld im Verlauf seiner Argumentation selbst dazu ermuntert, seine Feigheit zu überwinden und in den Brunnen zu fahren. In dieser Psychologisierung, die Renart hier und anderweitig zum reflektierenden ,Helden' macht (cf. v. 6647: Diexl dist Renars, que devenrai? En quel guise me contenrai?, etc.), liegt eine ungleich stärkere, dem Tierschwank unangemessene Anthropomorphisierung als in allen ') worauf I. Nolting-Hauff in anderem Zusammenhang aufmerksam macht, vgl. op. cit. p. 3 1 . : „Weltklugheit. . . kann wohl auf Mißerfolge, aber nicht auf Konflikte stoßen, weil ihr alles nur Mittel ist." *) Zu dem im folgenden besprochenen Beispiel vgl. noch v. 6647-6662 (die konventionelle Form des Klagemonologs) und v. 6 7 0 5 - 6 7 1 6 (ein weiteres Beispiel für den Reaktionsmonolog).

172 menschlichen Umkleidungen des Verhaltens der Tierfiguren, in denen die ältere Forschung das Signum des Nichtursprünglichen sehen zu müssen glaubte. Der Eifer, mit dem U. Leo und andere auf Anthropomorphismen aus dem Bereich der ritterlichen Welt Jagd machten und aus ihrem Fehlen auf das respektive Alter einzelner Branchen, bzw. ihre Nähe zum ,naiven' Tiermärchen Schlüsse ziehen wollten, war nicht nur dann fehlgeleitet, wenn die Treue und Richtigkeit der - dem Mittelalter fremden - Naturbeobachtung zum Maßstab genommen wurde. Daß der Anthropomorphismus dem Tierschwank in einem noch zu klärenden Sinne wesenseigen sein muß und auch in der besonderen Form einer Travestie der höfisch-ritterlichen Welt nicht nur als äußerliches, vom Geist der Epoche bedingtes Kolorit angesehen werden kann, zeigen die Renartepen des 13. Jahrhunderts : die Lebensverhältnisse der Welt, in der die Branchen des R O M A N D E R E N A R T entstanden, spiegeln sich auch dann noch in der Renartdichtung, nachdem sie zur Satire auf die Bettelorden geworden ist. Die bürgerliche Welt des französischen 13. Jahrhunderts hingegen ist nicht unmittelbar in die Maskerade der allegorischen Renartdichtung eingegangen. Für die Verbürgerlichung des Tierschwanks findet sich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nur ein Beispiel außerhalb Frankreichs, in dem mittelenglischen Fabliau The Vox and the Wolf, das neben einzelnen Tierfabeln, die über Odo von Ciringtonia nach England gelangt sind, und Chaucers Nonne Priests Tale als vereinzeltes Zeugnis für eine Verbreitung des Renartzyklus vor Caxton (1481) angesehen wird 2 ). Für die mittelenglische Version ist charakteristisch, daß der Schwank bei seiner Verpflanzung in eine bürgerliche Welt idyllische Züge erhält und im ganzen humoristisch aufgefaßt wird 3 ), dabei aber in die niedere Stillage des Fabliau abgleitet. Bei den Zusätzen in der Eingangsszene, die sich nur in der englischen Version finden4), handelt es sich um witzige Pointen, die dem Schwankgeschehen aber nur äußerlich aufgesetzt sind und sich in die geschlossene Vorstellungswelt des Reiches der Tiere schlecht einfügen: der Fuchs möchte lieber eine Henne treffen als ein halbes Hundert Frauen !) S. u. Kap. I V , C. η V g l . G . H. McKnight, P M L A X X I I I (1908) p. 497. - Wir zitieren nach der Neuausgabe von E . Mätzners Altenglische Sprachproben durch A . Brandl und O. Zippel (Mittelenglische Sprach- und Literaturproben), Berlin ^ 9 2 7 , p . 1 1 4 - 1 1 8 ; das Verständnis des mittelenglischen Textes hat mir Herr Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Iser ermöglicht, dem ich auch für die Übersetzung der Anführungen zu danken habe. ' ) Nach McKnight (ibid. p. 499) handelt es sich hierbei um „one of the earliest of humorous productions in English literature." *) H . Seidel Canby, der der Gattung des Fabliau in der mittelenglischen Literatur eine kleine Monographie gewidmet hat (The English Fabliau, P M L A X X I , 1906, p. 200-214), kommt bei der Erörterung dieser Zusätze zu dem Ergebnis, das Gedicht weise noch nichts spezifisch Englisches auf; erst Chaucer habe dem englischen Fabliau ein eigenes Gepräge gegeben.

173 (v. 7-8), es macht ihm Spaß, daß er ohne die Erlaubnis des Flurhüters gekommen ist (v. 24-26), und Chauntecleer gegenüber erbietet er sich, ihn zur Ader zu lassen (v. 37 fr.). Auf einen feingesponnenen Zusammenhang des Geschehens wird dabei kaum noch Sorgfalt verwendet, wie sich gleich im weiteren Verlauf zeigt, wo der Fuchs nach seiner vergeblichen Hühnerjagd plötzlich für durstig erklärt wird (v. 66), in den Brunnen einfährt und unten angelangt einen Monolog hält, in dem er findet, daß ihn dieses Mißgeschick nicht ereilt haben würde, wenn er nicht so viel gegessen hätte (v. 98-99). In der Unstimmigkeit, die zwischen diesen Versen und der vorangegangenen vergeblichen Hühnerjagd besteht, könnte man ein Indiz sehen, daß dem Verfasser möglicherweise doch eine Version von R d R Br. IV (wo Renart die Hühner beim Einstieg in den Brunnen schon verzehrt hat) vorlag, die er mit einer Reminiszenz der Chantecler-Episode (wo Renart am Ende ohne den Hahn von dannen ziehen muß, cf. Br. II 23-468) durcheinandergebracht oder kombiniert hat. Daß ihn die kunstvolle Vorspiegelung des Paradieses wenig interessiert und daß er die Parodie geistlicher Dinge durch eine burleske Ausmalung des Gevatterschaftsthemas ersetzt, dürfte sich wohl durch eine andere Geschmacksrichtung seines Publikums erklären. Dabei ist auffallig, daß er den Wolf aus der Rolle des rasenden Eifersüchtigen in die des naiven, sich in seiner Ehre nicht getroffen fühlenden ,cocu' versetzt. Die Szenen von Renarts provozierendem Besuch in der Wolfshöhle und der Vergewaltigung der Wölfin vor dem Fuchsbau (RdR II 1027-1396) werden hier in einer abgewandelten Form zitiert, die dem Eifersuchtsthema jede Beziehung zur höfischen Liebe benimmt. Der Wolf wendet gegen die Beteuerung seines Gevatters, daß er bereits im Paradiese sei, ein, er habe doch vor noch nicht drei Tagen mit Frau und Kinderchen, großen und kleinen, bei ihm gegessen (v. 153-156). Dieses Familienidyll wird später, als der Wolf vor dem Gevatter seine Beichte ablegt, um sich damit den Eintritt in das Paradies zu verdienen, auf drastische Weise vervollständigt: der Verfasser läßt den Wolf selbst erzählen, wie er Gevatter und Gevatterin in flagranti überraschte, und sodann diese Szene mit entwaffnender Naivität ausmalen (er habe sie eine Stunde lang beobachtet, sei oft in der Nähe gewesen und habe sie zusammen im Bett gefunden, cf. v. 211-220). Hier ist die Situationskomik offensichtlich zum Selbstzweck geworden. Denn es wäre gewiß verfehlt, wollte man dahinter noch irgendwelche satirische Absichten vermuten, zumal auch an keiner Stelle der mittelenglischen Version ein moralisches Fazit aus dem Schwank gezogen wird 1 ) und die Hohnrede des Fuchses ohne ihre sprichwördiche Quintessenz wiedergegeben ist (cf. v. 245-252). Für die Geschichte des Tierschwanks ist an dieser Version lehrreich, daß mit der Verbürgerlichung zugleich die Intention des ,fere rire' zur bloßen Belustigung verselbständigt wurde. Damit entfernt sich 1 ) Auch am Schluß wird lediglich konstatiert, daß der Fuchs den Wolf mit Vorbedacht betrogen habe (v. 293).

174 der englische Fabliaudichter gleichweit von der französischen RenartBranche wie der ,epicier' und ehemalige Kleriker von Troyes, der von 1320 bis 1342 die bisherige Renartdichtung zu einer satirischen Enzyklopädie von 41000 Versen ausweitete und dort in seiner Version von ,Fuchs und Wolf im Brunnen' (v. 27787-28541) gerade umgekehrt die Intention des ,aprendre' verselbständigt hat. Das ist indes nicht so zu verstehen, als ob der Verfasser von R E N A R T L E C o N T R E F A i T die schwankhaften Elemente seiner Vorlage ganz vernachlässigt hätte. Man kann ihm zwar jeglichen Sinn für Proportionen im ganzen, nicht aber darstellerische Virtuosität im einzelnen absprechen. Neben langatmig sich hinschleppenden Tiraden, wie z. B. dem 47 Verse füllenden Auswuchs über Gloutonnie (v. 28089fr.), stehen reizvolle Exkurse, wie z. B. die vierfache Auslegung der Abwege des Weibes, die Ysengrin in den Mund gelegt ist (v. 27934fF.). Gerade in dieser Version findet sich zum erstenmal der gelungene Einfall, die Echowirkung für die Darstellung des eifersüchtig in den Brunnen hinabheulenden Ysengrin auszunützen: E t dit: ,L'orde vielz me degiegnel Se Dieu voeult mais que je le tiengne, J e lui batray si bien la teste Qu'elle n'en ara mie feste!' E t la voix .feste!' respondy, Trestout ainsi que eil bondi. .Feste, dy je', se dit ly Loups Jamais pour toy ne seray couxl - Serez coux', ce respont la voix. Lors fu Ii Loups al£ a poix; Cuida die coux le fera; E t il respond que non fera.

(v. 2 7 9 6 5 - 2 7 9 7 6 )

Auch hat es der Verfasser verstanden, die Vorspiegelung des Paradieses auf dem Brunnengrund noch in einzelnen Punkten zu überbieten. Bei ihm läßt Renart Ysengrin in dem Glauben, daß Hersent mit im Paradiese sei und benutzt die Echowirkung, um Ysengrin die Wahrheit seiner Schilderungen durch das scheinbare Zeugnis Hersents zu beglaubigen (v. 28010). Dabei nimmt das Wolfsparadies den Aspekt eines Schlaraffenlandes an, in dem man vor Lämmern, die einen ständig umwimmeln, nicht mehr aus und ein sieht (v. 27991fr.), und wo derjenige Gott am nächsten steht, der am meisten von ihnen zu töten vermag: Car eil qui plus tuer en poeut, Plus approchier de Dieu se voeut, E t de tel eür est le lieux, Qui en tue ung, il vint deux. (v. 28039fr.)

Die schrullige Originalität des Klerikers von Troyes bekundet sich vornehmlich aber darin, daß er aus jeder Wendung des Geschehens seine Lehre zu ziehen und sie mit langen Zitatenreihen aller erdenklichen Autoritäten zu unterbauen weiß. Wenn Renart in der Abtei der schwarzen Mönche

175 nichts zu fressen vorfindet, erweist das ihren schlechten Lebenswandel und bestätigt den Ausspruch Salomos: Malheureux est le pays Ou fol gouvernerres est mis (ν. 2781 if.). Wenn sich der Fuchs aus Durst dazu hinreißen läßt, leichtsinnig in den Brunnen einzufahren, erfüllt sich damit die sprichwörtliche Wahrheit: Or η'est nul si der vojans, Qui en tous ses fais soit sachans (v. 27827 f.). Solche Beispiele ließen sich in die Hunderte reihen. Dabei waltet aber nicht nur reine Willkür. Gleich weiter unten im Text findet sich ein zweiter Kommentar zum erstgenannten Punkt. Nun ist es Ysengrin, der die Dekadenz der schwarzen Mönche kommentiert und sie gerade auf das entgegengesetzte Prinzip zurückführt: Chascun a volu le maistre estre, E t pour ce est gaste cest estre. Ung seul vouloir l'eust soustenu, E t tant de vouloirs Font perdu.

(ν. 27 899 ff.)

Ein Zitat kann dem andern widersprechen und hebt es darum doch nicht einfach auf. Denn da der Vorrat an Sinnsprüchen für den gelehrten Kleriker unerschöpflich ist und die Wechselfälle des Lebens, auf die sie sich anwenden lassen, bei weitem übersteigt, ist jede Schwanksituation mit der unmittelbar aus ihr entspringenden Erfahrung schon von vornherein durch das Wissen überholt. So kann ζ. B. Ysengrin, nachdem er sich seiner Täuschung bewußt geworden ist, nacheinander Cicero, Salomo, Jesus Sirach, und noch einmal Salomo und Cicero, sodann Isope le Sache, Seneca und schließlich Petrus Alfonsi mit einem oder mehreren Aussprüchen als Autoritäten anführen (v. 28227-28298), denen er nur hätte zu folgen brauchen, um nicht der List Renarts zum Opfer zu fallen. Dadurch entsteht ein groteskes Mißverhältnis zwischen Wissen und Erfahrung, zwischen der Weisheit aller ,autores' und den Wechselfällen des Lebens. Der Vorrat an Wissen, so unerschöpflich er ist, reicht doch nicht hin, um vor Mißgeschick zu bewahren; selbst wenn alles Mißgeschick nur auf ein Nichtwissen oder nicht gegenwärtiges Wissen zurückzuführen wäre, enthüllte sich darin doch eine Defizienz, die mit dem Wissen allein nicht zu überbrücken ist. Darum muß Ysengrin in den Reflexionen über sein Mißgeschick schließlich noch auf eine andere Erklärung zurückgreifen: Encor bien deusse avoir creü Ung mot que Thüles a leü: ,Ne fay', dit il, ,1a chose point, Se t'en doubtes en aucun point, S'elle sera ou mal ou bien; Se doubte y a, si n'en fay rien.' Certes ung petit me doutay Si tost que sur le puch montay, Mais ne m'en pos apperchevoir. Folour ne me lassa sgavoir; Or en suis cheüs en servage.

(v. 2 8 2 7 7 - 2 8 2 8 7 )

176 In diesen Versen stellt sich der Ursprung der Allegorie als der Versuch dar, die Kontingenz des Lebens begrifflich zu erfassen und in eine Figuration zu bannen. Genau in derselben Weise tritt auch vorher in den entsprechenden Reflexionen, die Renart auf dem Grunde des Brunnens über sein Mißgeschick anstellt, Raison in Erscheinung (v. 27830), der er sich hätte anvertrauen sollen, statt sich auf den trügerischen Orgoeul einzulassen (v. 27 847). Denn wer sich auf Orgoeul einläßt und in Widerstreit mit Raison gerät, muß unweigerlich der Welt verfallen, der sich nur der Tor anvertrauen kann: Cest mondes α nom ,Fol s'i fie'... (v. 27868). Während in der Renart-Branche des 12. Jahrhunderts die ,sagesse' unmittelbar der Kontingenz des Geschehens entsprang und als Haltung der Weltklugheit auf die costume qui avient (RdR IV 354), die im Lauf der Dinge immer wieder bestätigte Wahrheit bezogen blieb, ist nun im Werk des Klerikers von Troyes Weisheit (philosophie) und weltläufiges Handeln (fol s'i fie) auseinandergetreten und zwischen Wissen und Erfahrung eine Kluft aufgerissen, die als Spielbereich überpersönlicher, zur Allegorie personifizierter Mächte erscheint. An ihrer Spitze steht Raison, ma dame et m'amye (v. 27 878), letzte Zwischeninstanz zwischen Mensch und Gott (Fille de Dieu souverain roy, v. 27881), die Renart in höchster Not anfleht, um sich dann erst an Gott selbst zu wenden (cf. v. 27883 f.). Ihre Gegenspielerin wird hier nicht mit Namen genannt, dafür aber an entscheidender Stelle von Renart, als er beim Auffahren aus dem Brunnen Ysengrin höhnisch seine Lehre erteilt, in ihrem Wesen und Wirken so beschrieben, daß sie für jeden mittelalterlichen Leser unverkennbar sein mußte - Fortuna: Ainsi est il de ceste vye: L y ung y monte, et l'autre avale, L y ung y vent, l'autre fait sale; L'un espargne, l'autre despent, L'un est sur terre, l'autre pent, L y ung emprunte, l'autre solt, L y un preste, ly autre tolt; Mais des plus folz, c'est le donneur E t le plus sage est le preneur, Les plus soubtils qui nul ne croyent, Les plus folz qui a tous s'ottroient, Les plus lies de tous n'ont sens. (ν. 2 8 1 7 6 - 2 8 1 8 7 )

Die Betrachtung des Schwankes ,Fuchs und Wolf im Brunnen' hat uns damit bis zu dem Augenblick seiner mittelalterlichen Geschichte geführt, an dem das Rad der Fortuna die Bedeutung des Geschehens sinnfällig macht. In dieser Vorstellung berührt sich das Werk des Klerikers von Troyes, der letzte Ausläufer der allegorischen Renartdichtung, thematisch wieder mit dem Werk, das fast zwei Jahrhunderte zuvor die Entwicklung des mittelalterlichen Tierepos eingeleitet hat, dem Y S E N G R I M U S des Magister Nivardus. Hatten wir dort zunächst noch vorblickend festgestellt, daß der nach 1150 entstehenden volkssprachlichen Renartdichtung Fortuna

177

sowohl als Begriff wie auch Anschauungsform des Geschehens fremd ist, so hat nun die Geschichte von ,Fuchs und Wolf im Brunnen' deutlicher gemacht, warum die Welt des Tierschwanks dem Bannkreis Fortunas entrückt blieb. Die neue Auffassung vom Lauf der Welt, wie sie mit dem Ursprung der Branche als eigenständiger Form des ROMAN DE R E N A R T ausgebildet wird, setzt als Anschauungsform des Geschehens eine Art von Kontingenz voraus, die in der Mitte zwischen der blinden Willkür des bloß Zufälligen und der fatalen Entwicklung des in der Natur der Dinge und Wesen vorgängig Angelegten schwebt und so das Dilemma als eine unvorhersehbare Verknotung der Begebenheit entstehen lassen und ebenso unvorhersehbar durch List wieder auflösen kann, ohne daß sich darin das Walten eines transzendenten Sinns manifestierte. Dieser Zwischenbereich, der die Sonderstellung der Welt Renarts im Verhältnis zu den anderen Gattungen der Tierdichtung wie auch zu der heroischen Literatur ausmacht, wird noch deutlicher sichtbar werden, wenn sich nun unsere Betrachtung vom einzelnen Fuchsschwank auf das Gesamtabenteuer Renarts erweitert, das im Werk Pierres de Saint-Cloud seinen Ausgang nimmt. Denn dieses erste volkssprachliche Tierepos setzt einerseits die Ablösung von der FortunaFatum-Thematik des vorangegangenen YSENGRIMUS voraus und bleibt andererseits aber auch der ,Providentia specialis' entrückt, die der ritterlichen aventure ihren transzendenten Sinn verleiht.

Viertes Kapitel DIE T Y P E N W E L T D E R C H A R A K T E R E IM Ä L T E S T E N A L T F R A N Z Ö S I S C H E N TIEREPOS UND IHR VERHÄLTNIS Z U R HELDENDICHTUNG

A . Pierre de Saint-Cloud als Fortsetzer des Y S E N G R I M U S Seigneurs, οϊ avez maint conte Que maint conterre vous raconte, Conment Paris ravi Elaine, Le mal qu'il en ot et la paine: De Tristan dont la Chievre fist *), Qui assez bellement en dist Et fabliaus et chancon de geste. Romanz de lui et de sa geste Maint autre conte par la terre. Mais onques n'oistes la guerre, Qui tant fu dure de grant fin, Entre Renart et Ysengrin, Qui moult dura et moult fu dure. Des deus barons ce est la pure Que ainc ne s'entramerent jour. Mainte mellee et maint estour Ot entr'eulz deus, ce est la voire. Des or commencerai l'estoire. Or oez le conmencement Et de la noise et du content, Par quoi et por quel mesestance Fu entr'eus deus la desfiance. (II 1-22) Diese Verse, die nach Foulets überzeugendem Nachweis als Prolog zum ältesten Teil des R O M A N D E R E N A R T , den Pierre de Saint-Cloud 2ugeschriebenen Branchen II und V a , anzusehen sind 2 , betonen den Neueinsatz dieses Werkes so ausdrücklich, daß hier zunächst zu fragen ist, worauf seine Sonderstellung als Tierepos wohl beruht, die den Verfasser dazu veranlaßt *) dont nach Ms. B. (vgl. RdR ed. M. Roques v. 3737). In den anderen Mss. findet sich qui statt dont·, vgl. dazu FOULET p. 67: „Le vers De Tristan qui la Chievre fist doit se lire: De Tristan que la Chievre fist." ') Siehe Kap. III, Χ, X I ; vgl. dazu S u c H i E R p . 1 5 1 , der gegen Foulets Chronologie der Branchen kein triftiges Gegenargument vorzubringen hat und zu der Datierung des Prologs von II-Va nur anzumerken weiß, dieser lasse sich „auch auf eine Volkserzählung beziehen".

179 hat, es eigens von den um 1176 verbreiteten epischen Gattungen abzuheben. Daß Pierre ein bekanntes Schema der Exordialtopik: ,ich bringe noch nie Gesagtes' 1 ) benutzte, hindert in diesem Falle nicht, seine Ankündigung für bare Münze zu nehmen. Denn der Jongleur, der sich an einen Kreis von Zuhörern wendet, ihm aufzählt, was ihm an Stoffen schon altbekannt ist, um alsdann seinen Gegenstand als Neuheit anzupreisen, könnte, wenn er nur flunkert, allzuleicht seiner Lüge überführt werden. Hier liegt die Neuheit offenbar sowohl in der Gattung der Erzählung (conte), als auch in ihrer Fabel, genauer: in einem noch nie gehörten Teil der Fabel, sofern man voraussetzen muß, daß die Zuhörer von vornherein über die angekündigten Haupthelden Bescheid wußten. In der Gattung der Erzählung: denn Pierre führt in seiner Durchmusterung nicht nur Einzelwerke wie den Trojaroman (v. 3), die nicht auf uns gekommene Tristanversion eines gewissen La Chievre (v. 5) und einen nicht mit Sicherheit zu identifizierenden Titel (v. 8) auf 2 ), sondern hebt sein Werk überdies noch von den sogleich summarisch erwähnten erzählenden Gattungen des fabliau und der chancon de geste (v. 7) ab. Daraus läßt sich Verschiedenes entnehmen. Das neue Werk soll sich von all den genannten Gattungen der altfranzösischen Epik unterscheiden: damit stellt sich die Frage, in welcher Absicht von dem ,unerhörten Krieg' der beiden Protagonisten gehandelt werden soll, wenn das Gedicht tatsächlich nicht mehr der Tradition des Heldenepos folgt. Ferner ergibt sich aus der Erwähnung des Fabliau, daß der afrz. Versschwank um 1176, zum Zeitpunkt ') Siehe dazu CURTIUS p. 93. 2

) D i e v o n MARTIN (p. 3 4 ) und FOULET (p. 1 4 1 ) v o r g e s c h l a g e n e n

Konjek-

turen befriedigen keineswegs. Der erstere liest romanζ dou leu et de la beste (nach Mss. K N ) und sieht darin den Titel eines „recueil de fables esopiques, qui comme celui de Phfedre commengait par la fable du loup et de l'agneau", der letztere verbessert (wie schon Jonckbloet) lui in lin, liest roman du lin et de la beste und bezieht diesen Titel auf den Conflictus ovis et lini, ein Gedicht, das früher Hermannus Contractus, neuerdings einem Winric von Trier (cf. A . van de V y v e r und Ch. Verlinden, in: Revue beige de phil. et d'hist. 12, 1 9 3 3 , p. 59-81) zugeschrieben wurde. Dagegen spricht, daß im Unterschied zu Phädrus das mittelalterliche Romulus-Corpus fast ausnahmslos nicht die Fabel von Wolf und Lamm, sondern die vom Hahn und der Perle an die Spitze setzt (cf. THIELE p. X X I ) und daß von einer volkssprachlichen Version des lateinischen Werkes, das als rein didaktisches Streitgedicht auch dann noch schwerlich für volkstümlich genug angesehen werden könnte, um neben Troja- und Tristanroman in einem Jongleurmonolog zu erscheinen, nichts bekannt ist. Die Konjektur von M. Wilmotte (.L'auteur des branches II et Va du Renard et Chretien de Troyes, Rom. 44, p. 258 Anm. 1), der aus v. 8 des Prologs eine Zitierung von Chrestiens Löwenritter herauslesen will, stützt sich auf die emendierte Lesart einer einzigen Hs. (O): d'iuain für dulait et de la beste. Dieser Vorschlag kann um so weniger überzeugen, als W. für seine Behauptung, der Vf. von I I - V a müsse auch Chrestien gut gekannt haben, aus dem Text nur wenige wörtliche Anklänge beibringt, mit denen sich keine Filiation erweisen läßt.

12·

ι8ο

als Pierre de Saint-Cloud (nach Foulet) mit dem ältesten afrz. Tierepos hervortrat, bereits zum gängigen Repertoire eines Jongleurs gehört haben m u ß O b darüber hinaus die aufgeführten Gattungen: höfischer Roman, Chanson de geste, Fabliau, für den Erwartungshorizont des angekündigten ,conte' selbst noch irgendwie bedeutsam und nicht nur zufällig gewählt sind, derart, daß sich die neue Fabel von Renart und Ysengrin in einer bestimmten Weise mit ihnen berührte, kann erst durch eine Textanalyse entschieden werden. In der Fabel der Erzählung: denn der Ankündigung des Prologs bleibt auch dann noch der Charakter einer Neuheit, wenn man die Fabel des lat. Y S E N G R I M U S als bekannt voraussetzt, gleichviel ob man dabei an das Werk des Magister Nivardus oder an eine etwaige volkssprachliche Version desselben denkt 2 ). Das deutet sich schon im Wechsel der Titelfiguren an. Während das lat. Tierepos unter dem Namen des Wolfes überliefert ist, werden im Prolog Pierres sogleich Fuchs und Wolf zusammen als Titelfiguren aufgeführt. Entscheidend ist dabei, daß die unauslöschliche Feindschaft der beiden Antagonisten unter einem Aspekt angekündigt wird, der für das Publikum, das mit der Fabel des Y S E N G R I M U S vertraut ist, eine Überraschung birgt. Diese liegt weniger darin, daß die Feindschaft von Fuchs und Wolf zum erstenmal in die feudale Welt versetzt wird (la guerre... des deus barons, ν. ίο, 14), als in der versprochenen Enthüllung, Par quoi et por quel mesestance Fu entr'eus deus la desfiance. (v. 2 1 - 2 2 )

Die Neuheit dieses Themas ist nach den vorangegangenen Ausführungen über das Motiv der Feindschaft zwischen Fuchs und Wolf in der Geschichte der Hoftagsfabel nicht mehr zu verkennen. Pierre de Saint-Cloud kündigt in seinem Prolog nichts Geringeres an als die endliche Aufklärung der von Paulus Diakonus bis zu Nivardus offen gelassenen Frage nach dem J ) Foulet hat dieses Zeugnis offenbar übersehen, als er bei der Diskussion des Namens Richeut mit Bedier und Gröber den Anfang des afrz. Versschwanks um 1200 ansetzen wollte (cf. p. 93). Demnach wäre die Angabe Bediers, der älteste Beleg für die Bezeichnung Fabliau finde sich um 1180 in den Fabeln der Marie de France (Les Fabliaux, ^ 9 2 5 , p. 40), zu revidieren und müßte das Hervortreten dieser erzählenden Gattung, die um 1 1 7 6 bereits zum gängigen Repertoire der Jongleurs gehörte, schon Mitte 12. Jahrhundert angesetzt werden. 2 ) Sollte etwa der nicht mit Sicherheit identifizierte Titel Romany de lui et de sa geste (v. 8) eine volkssprachliche Version des YSENGRIMUS meinen? Wenn lui in leu zu emendieren wäre (so Meon, RdR t. I v. 8, und MARTIN p. 34), ergäbe sich ein genaues Korrelat zur Fabel des YSENGRIMUS : Romany du leu et de sa geste = die Erzählung von Ysengrin und seiner ,geste'. Doch gegen diese Auflösung spricht, von lautgeschichtlichen Bedenken einmal abgesehen, daß die beiden einzigen Mss., die leu statt lui bringen, den zweiten Teil des Verses zu et de sa beste geändert haben und darum nicht mehr auf die Fabel des YSENGRIMUS bezogen werden können.

ι8ι epischen Anfang der Geschichte von Renart und Ysengrin: worin ihre Feindschaft letztlich gründet und aus welchem Anlaß sie hervorgegangen ist. Damit sind die Ausgangsfragen für eine neue Untersuchung des Textes gestellt, der am Anfang der zyklischen Entwicklung des volkssprachlichen Tierepos steht und dessen Verhältnis zum YSENGRIMUS, in dem die lateinische Tradition der Fabel vom Hoftag des Löwen gipfelt, zu den umstrittensten Punkten der Kontroverse zwischen Foulet und Voretzsch gehört. Wenn sich unsere Beobachtungen am Prolog durch die Textanalyse bestätigt finden, dürfte sich - soviel wird hier schon deutlich - das Verhältnis des afrz. ROMAN DE RENART ZU dem 25 Jahre älteren lat. YSENGRIMUS in einem neuen Licht darstellen. Dabei schließt der Nachweis, daß das Werk Pierres den Charakter einer Fortsetzung hat, nicht notwendig die Entscheidung der Frage ein, ob ihm die Fabel des YSENGRIMUS aus dem Werk des Magister Nivardus oder aus einer volkssprachlichen Version desselben bekannt war. Daß der schwierige lateinische Text schwerlich einem breiteren Publikum vertraut gewesen sein kann, spricht - wenn man von einer afrz. Version des YSENGRIMUS einmal absieht - noch nicht unbedingt gegen die Annahme einer Fortsetzung. Pierre kann sein Werk auch im Blick auf den gebildeten Teil seines Publikums, der den lat. YSENGRIMUS kannte, als Fortsetzung geschaffen haben, was nicht besagt, daß es nicht auch ohne diese Voraussetzung verständlich und reizvoll genug war, um für sich selbst bestehen zu können. Wenn es sich ergibt, daß die Fabel von Branche II-Va die Fabel des YSENGRIMUS unmittelbar aufnimmt und konsequent fortsetzt, kann die Frage nach einem afrz. Zwischenglied außer Betracht bleiben und gefolgert werden, daß dieses Zwischenglied in seiner Fabel nicht wesentlich von der des lat. YSENGRIMUS abgewichen sein kann. Dem Kenner des YSENGRIMUS, soviel ist sicher, mußte die Neuheit des angekündigten Themas sogleich in die Augen springen und dem Werk Pierres den besonderen Reiz derjenigen Art von Fortsetzung verleihen, die nicht nur ein neues Stück an eine bekannte Fabel ansetzt und als bloße Verlängerung mehr oder minder der Routine der Nachahmung zu verfallen droht, sondern - wie Rabelais' GARGANTUA - durch das Nachholen einer bisher als fehlend empfundenen Vorgeschichte auch einen engeren, notwendigen Konnex mit dem vorausliegenden Werk gewinnt. Damit aber muß auch Pierre de Saint-Cloud vom stümperhaften B e a r b e i t e r z u m selbständigen Fortsetzer des YSENGRIMUS aufrücken und das älteste afrz. Tierepos losgelöst von dem einseitigen, das Verständnis auf eine vorweg festgelegte Bahn einengenden Abhängigkeitsschema den Rang eines eigenständigen Werkes gewinnen.

*) Diesen Vorwurf erhebt Voretzsch gegen Foulets These, s. Einl. zum RF p. XXI: „Will man mit Foulet den Roman de Renart aus dem Ysengrimus herleiten, so sind die französischen Renartdichter allem anschein nach ziemliche Stümper gewesen: kein einziger hat den Ysengrimus als ein ganzes mit seiner

182 Es entbehrt nicht der Ironie, daß derselbe Foulet, dessen ganzes Buch die leidenschaftliche, im ganzen berechtigte und verdienstliche Polemik gegen das Bestreben der älteren Forschung durchzieht, in jeder Branche des RdR sogleich nur das Produkt eines ,remanieur' zu sehen und dahinter eine hypothetische .ursprünglichere Fassung' zu suchen, seinerseits bei der Ableitung des RdR aus dem YS nicht anders verfahrt, als handle es sich bei dem ersteren um ein ,remaniement' des letzteren 1 ). Um Voretzschs These zu widerlegen, die afrz. Renartdichtung sei volkstümlichen Ursprungs und in ihrer ältesten, vom RF am besten bewahrten Gestalt unabhängig von dem gelehrten Kunstepos des Nivardus entstanden, sucht er seine Gegenthese: der RdR sei aus dem YS geschöpft und, wie überhaupt alle große volkssprachliche Literatur des MA, ohne das Vorbild der lateinischen Dichtung nicht zu denken 2 ), einzig durch den Nachweis einzelner stoffgeschichtlicher und formaler Abhängigkeiten zu erhärten. Da er sich auf einen einseitigen Vergleich beschränkte, bei dem der YS immer nur von Fall zu Fall als Quelle herangezogen wurde, hatten seine Kritiker leichtes Spiel, Lücken und Unstimmigkeiten in dieser Abhängigkeit dagegen aufzurechnen 3 ). Solange man allein auf der Ebene unmittelbarer Nachahmung und Entlehnung operiert und nicht Intention an Intention mißt, läßt sich der RdR in der Tat nicht schlüssig auf den YS zurückführen und behält Voretzschs abschließendes Argument gegen Foulet sein volles Gewicht: „Hätte der YS von anfang an die Renartdichtung bestimmt, so müßte diese eine viel engere anlehnung an jenen im ganzen wie im einzelnen zeigen." 4 ) Der Kern des Problems liegt indes nicht darin; ob Foulet in seiner Annahme von Entlehnungen und Nachahmungen zu weit ging, sondern in der Frage, inwiefern der YS den Verfasser der ältesten Branche des RdR dazu bestimmen konnte, die Geschichte wieder aufzunehmen und aus den schon seit Nivardus bekannten Tierschwänken und neu aufgenommenen Stoffen (Renart und Tibert, Renart und Tiecelin, Plaid) eine neue Fabel zu komponieren. Unsere Hypothese, daß zwischen der Fabel des YS und der des RdR das Verhältnis einer Fortsetzung besteht, schließt demnach weder aus, daß Pierre de Saint-Cloud zum Teil Stoffe des YS wiederbearbeitet, noch daß er darüber hinaus Tiergeschichten, die in der mündlichen Erzähltradition im Umlauf waren, seinem Tierepos einverleibt hat.

kunstvoll geführten Handlung bearbeitet, kein einziger ein ähnliches, aus einer reihe von erzählungen bestehendes und doch einheitliches werk nach dem Vorbild des Ysengrimus geschaffen!" *) Wie schon LEO beanstandet hat: „ E s ist bei Foulet ein eigentümlich widerspruchsvolles Verfahren zu beobachten: er will die Branchen als original herausstellen, baut aber zu diesem Zwecke oft sehr viel künstlichere Nachahmungsvorgänge auf als die Verfechter der .Vorlagen' tun" (p. 17). 2

8

) FOULET P. 5 6 7 .

) Siehe VORETZSCH, Einl. zum R F p. X X I - X X V I ; SUCHIER ρ. 151 ff. *) ibid. p. X X I .

i8 3 Wenn Foulet a limine abweist, daß das Publikum Pierres jemals von Renart und Ysengrin gehört habe 1 ), verkennt er sowohl die eigentliche Pointe des Prologs zu Br. II-Va, als auch den Umstand, daß Renart und Ysengrin sogleich wie zwei altbekannte Helden eingeführt, dem Publikum also nicht mehr eigens vorgestellt werden. Schon Fauriel hatte 1852 den Prolog zu Br. II so verstanden, daß Pierre sein Werk nicht als einen völlig neuen Stoff ausgebe, sondern sich als „renovateur ou continuateur" einer schon bekannten Fabel vorstelle2). Da Fauriel indes diese Fortsetzung nicht auf die Fabel des Y S bezog und sich zudem durch die Anordnung der Edition Meon irreführen ließ, blieb es bei einer bloßen Behauptung, der seither nie wieder Bedeutung zugemessen wurde. Foulet setzte sich mit einer bloßen Gegenfrage darüber hinweg 3 ) und fand später eine geschickte Erklärung für die fehlende Einführung der Hauptfiguren: Pierre habe Renart und Ysengrin zunächst als Barone vorgestellt, erst allmählich merken lassen, daß es sich um Fuchs und Wolf handle und damit eben das seit Chrestien geläufige Verfahren angewandt, die Nennung des Namens bei den Hauptpersonen hinauszuzögern. Diese Erklärung vermag keineswegs zu überzeugen4), wie am besten aus der vergleichenden Analyse erhellt, die Büttner am RdR und am RF angestellt hat. Der mhd. Dichter, der offensichtlich nicht damit rechnen kann, daß der Stoff seinem Publikum durch eine vorgängige Tradition vertraut ist, sieht sich genötigt, eine ganze Reihe von Gegebenheiten erst zu erklären, die der afrz. Verfasser als schon bekannt voraussetzen kann. Diese Voraussetzungen beziehen sich im besonderen „auf die Namen der Tiere, auf ihr Wesen, ihre Stellung, ihre verwandtschaftlichen, freundschaftlichen oder feindseligen Beziehungen zueinander"5). Hätte Pierre de Saint-Cloud seinem Publikum die Fabel von Renart und Ysengrin zum erstenmal vorgesetzt, so wäre auch er nicht ganz ohne Erklärungen in der Art des RF ausgekommen. Gegen Foulet spricht ferner, daß die erste Namensnennung in Br. II nicht auf eine Enthüllung des Wesens von Renart und Ysengrin angelegt und darum mit dem Artusroman nicht vergleichbar ist. Von einem vorbereiteten Überraschungseffekt kann schon allein darum nicht die Rede sein, weil die beiden ,Barone' von Anbeginn in der Welt der anderen, sogleich benannten Tierfiguren auftreten und ihre Rolle in der Ambivalenz von Held und Nichtheld, Rittertum und Tierheit mitspielen müssen, so daß für eine besondere Enthüllung FOULET P. 39. 2

) Histoire litteraire de la France, t. X X I I (1852), p. 909. 3 ) „Fauriel aurait bien dü nous dire comment Pierre se serait exprime s'il avait voulu se donner comme inventeur: nous ne voyons pas un mot dans son prologue, qui puisse suggerer meme de la fajon la plus lointaine une renovation ou une continuation" (p. 47). *) Z u FOULET (p. 2 1 3 f.) v g l . SUCHIER (p. 2 2 6 ) und H u e t in seiner Bespre-

chung von Foulets Arbeit (Le moyen äge X I X , 1 9 1 5 , p. 88): „d'aucuns jugeront sa solution plus ingenieuse que satisfaisante." *) BÜTTNER II p. 42; zu den einzelnen Punkten vgl. p. 4 1 - 5 1 .

184 (Renart = Fuchs) kein Raum bleibt. Geht man statt dessen davon aus, daß Pierre seinem Publikum nicht mehr zu sagen brauchte, wer Renart und wer Ysengrin ist, so verlagert sich die Neuheit seines Werkes von den Hauptfiguren auf die neue Rolle, die sie als deus barons in einem Kriege spielen sollen, den er als etwas noch nie Gehörtes ankündigt. Hier liegt ein Vergleich mit der Chanson de geste nahe: wie etwa in der Ankündigung des M O N I A G E G U I L L A U M E wird durch diesen Prolog die Erwartung geweckt, daß zwei wohlbekannte Helden in eine neue, .unerhörte' Lage gebracht werden, von der noch nie ein Erzähler zu berichten wußte. Mais onques «'Oistes la guerre... - gerade diese Ankündigung hat der Forschung einiges Kopfzerbrechen bereitet, weil sich jeder Betrachter unvermeidlich vor die Frage gestellt sah, ob der Prolog nicht etwas ankündige, was nachher im Text dieser und der folgenden Branchen gar nicht einzutreten scheint. Schon G. Paris suchte, weil er den hier angekündigten Krieg im RdR faktisch nirgends dargestellt fand, nach einer verlorenen Branche, die ihn enthalten haben müsse. Eine diesbezügliche Anspielung glaubte er im Sündenregister Renarts (Br. I 1079-1093) gefunden zu haben, aus der er auf eine verlorene Branche schloß, „qui, par son sujet meme, a du contribuer beaucoup ä donner au Roman de Renard son caractere d'epopee et d'epopee feodale. Ce recit disparut devant l'invention plus ingenieuse de la plainte portee par Ysengrin devant le roi N o b l e " D e m gegenüber hat Foulet auf dem rein burlesken Charakter dieser Anspielung sie steht in einer Schelmenbeichte des Fuchses - insistiert und seinerseits den Krieg der beiden Barone als schon in Branche II-Va verwirklicht aufzeigen wollen: „ L a verite est qu'il ne s'agit pas ici d'une guerre generale de souverain a souverain, mais d'une guerre privee entre deux vassaux." 2 ) Nun ist zwar unbestreitbar die Transponierung der Feindschaft von Fuchs und Wolf in eine rein feudale Welt eine Eigentümlichkeit, durch die sich das afrz. Tierepos vom Y S E N G R I M U S grundlegend unterscheidet, und wahrscheinlich als eine persönliche Leistung Pierres anzusehen, der ja auch in seinem ganzen Werk ein auffälliges Interesse an der feudalen Gerichtsbarkeit bezeugte 3). Die Frage ist nur, ob wir seine Ankündigung einer guerre, qui tant fu dure de grant fin (II 10 f.) für bare Münze nehmen dürfen und Branche II-Va mit Foulet so interpretieren können, als ob Pierre hier allen Ernstes eine Fehde zwischen Vasallen hätte darstellen wollen. Wie schon G. Paris hat auch Foulet stillschweigend eine Analogie zwischen Tierepos und ,epopee feodale* vorausgesetzt, ohne sich zu fragen, inwieweit sich das Tierepos mit der traditionellen Form der Heldendichtung überhaupt verträgt und wie anders sich die epische Welt im Spiegel der Feindschaft PARIS p. 3 7 3 f. *) FOULET P. 1 7 1 . ' ) „ L ' i n t e r e t que montre l'auteur pour tout ce qui est legal, ne va pas sans une secrite admiration des formes et des procedes de la justice sociale. L'auteur est une maniere de legiste en gälte qui caricature sans amertume des institutions qu'au fond il respecte" (FOULET p. 207).

i8j von Fuchs und Wolf darstellen muß. Auch hier hat die Etiquette ,epopee heroi-comique' den Blick auf die Eigenheit der Renartdichtung eher verstellt als gefördert. Mit der Feststellung, daß hier und dort eine Darstellungsform der Chanson de geste parodiert wird und einzelne ritterliche Konventionen durch ihre Übertragung auf Tierfiguren in eine komische Perspektive gerückt erscheinen, ist die tiefere Ironie in Pierres Werk noch nicht erkannt und gedeutet, die sich durchgängig in der Weise bekundet, wie der unheldische Renart Qui tant par fu de males ars E t qui tant sot toz jors de guile

(II 24f.)

die epische Welt der Tierhelden durch sein Verhalten in Frage stellt und ihre heldische Verkörperung in der Gestalt Ysengrins zur Schwankfigur des tölpischen Hahnreis werden läßt. Betrachten wir nun das Verhältnis von Branche II-Va zum Y S E N G R I MUS im Hinblick auf den Aufbau, so würden sich, wenn man von Foulets Voraussetzung ausgeht, Pierre de Saint-Cloud habe sich bei seiner volkstümlichen Bearbeitung des lateinischen Epos einfach an die Handlung, d. h. an die Abfolge der Schwankepisoden gehalten und alles Gelehrte und Satirische vernachlässigt die von Suchier und Voretzsch vorgebrachten Schwierigkeiten ergeben 2 ). Diese Einwände stehen und fallen indes allesamt mit der von Foulet nicht gestellten Frage, welches Kriterium der Auswahl Pierre dazu bestimmt haben mag, mit der Chantecler-Episode (a) zu beginnen (cf. Y S IV 811 - V 130), an die Episode mit der Meise (b) nach Foulet das Korrelat zu dem zweiten Teil der Geschichte von Fuchs und Hahn (YS V 1 3 1 - 3 1 6 ) - zwei Episoden anderer Herkunft, Renart und Tibert (c) und Renart und Tiecelin (d), anzufügen, sodann Ysengrimus im Kloster ganz wegzulassen, die Begegnung von Reinardus mit der Wölfin (YS V 705-820) zu zwei selbständigen Episoden, Besuch in der Wolfshöhle (e) und Vergewaltigung Hersentes (f) auszubauen und all diesen Szenen schon mit dem ,Plaid' (g) und ,Escondit' (h) eine Konklusion zu geben, für die sich im Y S E N G R I M U S kein Vorbild findet3). Dem Parallelismus in der Abfolge der Szenen a b e f und den Entsprechungen im Detail, auf die sich Foulet stützt, stehen demnach nicht weniger wichtige Weglassungen, Nebenquellen, Zusätze und, worauf wir besonders insistieren, der Umstand einer kleinen Auswahl aus dem Ganzen (es handelt sich nur um Teile aus dem IV. und V. Buch des Y S ) gegenüber, so daß es unter der Voraussetzung des positivistisch verstandenen Abhängigkeitsschemas nur zu begreiflich ist, wenn Suchier zu dem Schluß kam, die Benutzung des Y S E N G R I M U S als unmittelbare Quelle der Br. I I - V a sei durch ') Siehe FOULET p. 1 4 4 . 2

3

) Siehe SUCHIER ρ. 1 5 1 - 1 5 3 ; VORETZSCH, E i n l . z u m R F p. X X I - X X V I .

) Einteilung der Episoden in Br. I I - V a : a = II 2 3 - 4 6 8 ; b = v. 469-664; c = v. 665-842; d = v. 8 4 3 - 1 0 2 6 ; e = v. 1 0 2 7 - 1 2 1 0 ; f = v. 1 2 1 1 - 1 3 9 6 ; g = V a 247-962; h = v. 9 6 3 - 1 2 7 2 .

ι86

Foulet keineswegs erwiesen1). Unter der Hypothese, daß Pierre de SaintCloud dem Werk des Nivardus eine Art von Fortsetzung, bzw. dem Thema der Feindschaft von Fuchs und Wolf eine neue Wendung geben wollte, läßt sich das Kriterium seiner Auswahl, die Foulet nicht hinlänglich begründen konnte, indes auf eine durchgängige Intention zurückführen. Der Verfasser von Br. II-Va verlagert die Perspektive vom Wolf, dem Protagonisten des Y S E N G R I M U S , auf den Fuchs. Stand dort Ysengrimus allein inmitten einer Welt von Feinden, so tritt nun Renart in Opposition zunächst zu einzelnen kleineren Tierfiguren, dann zu dem ihm überlegenen Ysengrin und dem Bären (in Bruns Erzählung), schließlich zu dem Hoftag als Institution, die über ihn zu Gericht sitzt und deren Urteil er sich im ,Escondit' durch einen Meineid zu entziehen sucht (diese Opposition zu der Gesamtheit wird später in Br. I, wo sich Renart dreimal zum Hoftag fordern läßt, weiter gesteigert). Daraus läßt sich erklären, warum wohl die ,Wallfahrt der Tiere' und der ,Wolf im Kloster' nicht in Br. II-Va eingegangen sind: Pierre de Saint-Cloud hat auf dem Schwank ,Fuchs und Hahn', der bei Magister Nivardus etwas aus dem Rahmen fallt, weil er der einzige ist, in dem Reinardus für sich ein Abenteuer zu bestehen hat, gleichsam ein neues, um den Fuchs als Protagonisten zentriertes Tierepos aufgebaut und zunächst durch eine Reihung weiterer Fuchsabenteuer in auffallender Parallelität zum Y S E N G R I M U S die Geschichte der Kalamitäten Renarts erzählt. Nach der Serie der Mißerfolge mit Hahn, Meise und Kater tritt dann der Umschlag mit der gelungenen Überlistung des Raben um so wirkungsvoller hervor: hier zeigt sich Renart in der ihm eigensten Rolle des in seiner Rede (favele, v. 620) unübertrefflichen Schelms. Dem Wechsel der Erzählperspektive vom Wolf auf den Fuchs entsprechend tritt nun auch Ysengrin nicht mehr selbständig in seiner alten Rolle des Wolfmönchs, sondern sogleich aus dem Blickwinkel seines erfolgreichen Nebenbuhlers und Gevatters in Erscheinung, in seiner neuen Rolle des zum ,cocu' gemachten Gatten und Familienhauptes, aus der sich seine Funktion als Kläger auf dem Hoftag des Löwen (Br. Va) ergibt. Ist Pierre de SaintCloud in der Darstellung des ,Plaid' am weitesten über den Y S E N G R I M U S hinausgegangen, indem er die Schindungsfabel selbst ausspart und lediglich ihren Rahmen, den Hoftag der Tiere, für das Verfahren gegen den Ehebrecher Renart - seine eigenste Schöpfung - benutzt, so kehrt er ganz am Ende doch wieder zu dem Vorbild der Kalamitäten des Ysengrimus zurück. Denn ohne dieses Vorbild wäre der Ausgang des ,Escondit' (der Schlußszene mit dem Reinigungseid) nicht recht einzusehen, nachdem Renart aus dem Prozeß unverdient glücklich hervorgegangen ist und auch die List Roonels rechtzeitig durchschaut hat: das Mißgeschick seiner Flucht nach Maupertuis, bei der ihm das Fell an mehr als 13 Stellen zerzaust wird, erinnert deutlich an die Heimkehr des vielfach mißhandelten Ysengrimus und weist auf die präludierenden Mißerfolge von Renarts Auszug ' ) SUCHIER P . 1 5 3 .

I87

zurück, bei denen er immer gerade noch mit einem blauen Auge davonkam: T o z jors est bien Renart choü, Mes or Ii est si mescoü: N e Ii ourent mestier ses bordes, Que n'en volassent les palordes.

(Va 1261-1264)

Wenn es uns gelungen ist, auf diese Weise den Aufbau des ältesten afrz. Tierepos von seinem Verhältnis zum lat. Y S E N G R I M U S aus zu erhellen, den es - die Erzählperspektive vom Wolf auf den Fuchs wechselnd - fortsetzt, bleibt noch die Frage zu beantworten, wie es sich erklären mag, daß sich Pierre de Saint-Cloud nur auf den Stoff von Buch IV und V des Y S gestützt hat. Darüber gibt uns wiederum der Prolog einen Aufschluß, in welchem von dem neuen Thema: Mais onques n'olstes la guerre, Qui tant fu dure de grant fin, Entre Renart et Ysengrin, Qui moult dura et moult fu dure

(II 1 0 - 1 3 )

zunächst nur der Beginn der Geschichte angesagt wird (Or oe% le conmencement, v. 19), nämlich jene Aufklärung über den ersten Anlaß der Feindschaft von Fuchs und Wolf, der ihrer Geschichte zum erstenmal den eigentlich epischen Anfang gibt. Wenn Pierre, der sein Epos mit demselben Teil der Fabel einsetzen läßt, der schon bei Nivardus den (nachgeholten) zeitlichen Anfang bildet 1 ), den Stoff des Y S E N G R I M U S nicht weiter benutzt hat als von Buch IV zu Buch V (eventuell auch Buch III für den ,Plaid'), dürfte sich dies daraus erklären, daß er seine Ankündigung, den Beginn der Geschichte zu erzählen, mit dem ,Plaid' erfüllt und zugleich seinem Werk mit etwa 2400 Versen schon gut den Umfang einer epischen Vortragseinheit gegeben hat2). Das schließt eine weitere Fortsetzung nicht aus, sondern impliziert sie geradezu3), auch wenn wir nicht wissen, ob der Verfasser von Br. II-Va selbst weitere Branchen verfaßt hat und was in dem 1 ) wie FOULET (p. 144) mit Recht hervorhebt. Die Weglassung der Wallfahrtsfabel, die im Y S zeitlich am Anfang steht, dürfte sich indes durch die Verlagerung der Erzählpersepktive vom Wolf auf den Fuchs besser begründen lassen als durch die keineswegs so erhebliche Schwierigkeit, gleich acht Tierfiguren einführen zu müssen, mit der Foulet argumentiert. 2 ) RYCHNER setzt als obere Grenze für eine zweistündige Vortragseinheit bis zu 2000 Verse an (p. 49), was bei Berücksichtigung der Differenz zwischen Zehnund Achtsilber dem Umfang von Br. I I - V a annähernd entspricht. Dieser Erzählumfang stellt im RdR das größte, nur einmal überschrittene Format aller Vortragseinheiten dar (s. u. Kap. V p. 2 5 1 f.). 8 ) Daraus leitet sich ja wohl auch der Verfasser von Br. I das Recht auf seine Fortsetzung ab, die den Ansatz von Perrot wiederaufnehmen, das v o m Vorgänger noch nicht Berichtete nachholen und damit die Fabel weiterführen soll (vgl. I 1 - 1 0 ) . Z u dem überleitenden Vers: Ce dit l'estoire el premer vers (I I i ) , der sich möglicherweise auf eine gemeinsame Quelle von Br. I I - V a und I bezieht, s. jetzt J . Frappier, Chrestien de Troyes, Paris 1 9 5 7 , p. 90 A n m . 2.

188

auf uns gekommenen Corpus der Branchen von der ursprünglichen Reihenfolge der Fortsetzungen bewahrt ist. Der Ausdruck .Fortsetzungen' ist mit Bedacht gewählt. Denn das älteste afrz. Tierepos ist nicht allein durch die äußere Begrenzung auf den Umfang einer epischen Vortragseinheit, sondern auch - wie schon aus dem Prolog hervorgeht - durch eine ihm wesenseigene Unabgeschlossenheit auf Fortsetzung angelegt und unterscheidet sich dadurch auch vom lateinischen Tierepos des Magister Nivardus. Dieser Unterschied in der epischen Struktur betrifft das Verhältnis von Anfang und Ende und läßt sich am besten verdeutlichen, wenn man von einer Definition ausgeht, die Ph. A.Becker dem Heldenepos gegeben hat: „Eposim allerstrengsten Sinne des Wortes ist ein Werk, wo aus einem geringen Anlaß eine unaufhaltsam wachsende Handlung entspringt, die in einigen Fällen zu einem wahren Untergang sich steigert." 1 ) Das Tierepos des 12. Jahrhunderts kann mit dem so bestimmten Heldenepos zwar nicht das Moment der unaufhaltsam wachsenden Handlung, wohl aber den epischen Anlaß oder den epischen Ausgang gemein haben und ist selbst wieder in seiner epischen Struktur differenziert, je nachdem ob der Anfang oder das Ende oder beide zusammen der (am reinsten vom Rolandslied ausgeprägten) Form des Heldenepos entsprechen. Im YSENGRIMUS, den Nivardus noch nicht aus einem .geringen ersten Anlaß' entspringen läßt, fehlt der Feindschaft von Fuchs und Wolf der eigentlich epische Anfang. Dafür erhält das Gedicht aber durch den Untergang des Wolfes ein episches Ende, das Ysengrimus vor allen Tieren auszeichnet und im besonderen zur epischen Person macht, der gegenüber seine im Verlauf der Handlung nie gefährdete Gegenfigur Reinardus mehr als Verkörperung einer Wesenheit denn als epische Person erscheint. Insofern liegt es in der Konsequenz der epischen Struktur, wenn Ysengrimus für das Werk des Magister Nivardus zur Titelfigur geworden ist und der Titel mit den Namen der beiden Protagonisten sich in der Tradition nicht durchgesetzt hat. Im ROMAN DE RENART hingegen, in dem die Feindschaft von Fuchs und Wolf einem geringen ersten Anlaß entspringt und damit das Profil eines epischen Anfangs erhält, ist ein Ende der Feindschaft zwischen Renart und Ysengrin, que ainc ne s'entramerent jour (II 15), nicht abzusehen. Jede Niederlage bringt nur einen neuen Racheschwur, jeder Sieg die Erwartung einer neuen Vergeltung mit sich, und der Tod, mit dem die Feindschaft der unversöhnlichen Widersacher allein ihr Ende nehmen könnte, tritt auch in den späteren Renart-Branchen nicht ein, noch haben die Fortsetzer Pierres de Saint-Cloud jemals versucht, dem ROMAN DE RENART mit dem Tod einer anderen Hauptfigur einen epischen Abschluß zu geben. In Renart und Ysengrin stehen sich, obschon sie als ,zwei Barone' angekündigt sind, nicht zwei endliche Helden gegenüber: das *) Epenfragen (Aus den nachgelassenen Schriften Prof. Dr. Ph. A. Beckers, hrsg. von E. und H. Becker), Wiss. Zschr. der Friedrich-Schiller-Universität Jena,

Jg· 4 (1954/55), P· 2.

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afrz. Tierepos stellt das im YSENGRIMUS nicht gewahrte Prinzip der Unsterblichkeit der Tierfiguren wieder her und gewinnt, indem es zu keinem epischen Abschluß gelangt, den der Verfasser des mhd. R E I N H A R T F U C H S mit dem Tod König Vrevels wieder sucht, gerade durch seine Unabgeschlossenheit den Ansatz der zyklischen Form. Das epische Problem dieser Unabgeschlossenheit soll erst im Zusammenhang mit den verschiedentlichen Versuchen späterer Autoren, dem RdR eine Konklusion zu geben, weiter erörtert werden. Hier kommt es zunächst nur auf den einen Aspekt an, daß der für das älteste afrz. Tierepos konstitutive Fortsetzungskeim sich nicht allein in einer neuen, von vornherein auf Pluralität angelegten epischen Form, der ,branche', manifestiert, sondern auch in einer veränderten Auffassung des Geschehens geltend macht. Wie im großen gesehen die ,branche' erst durch den Hinblick auf ihre unvermeidliche Fortsetzung .vollständig' wird, im Unterschied zum zyklischen Heldenepos also nicht erst a posteriori durch eine mögliche Weiterführung den Charakter eines Ausschnitts erhält, ist auch im kleinen gesehen der schwankhaften Episode eine Tendenz zur Reihung eigen, die dem Gerichtetsein auf ein Ende widerstrebt. Im Schritt vom YSENGRIMUS zum ROMAN DE RENART gewinnt der Tierschwank, den Magister Nivardus mit sichtlicher Mühe in die fatalistische Bahn seiner Fortuna-Auffassung einzwängte, den freien Spielraum jener Kontingenz, die der aventure Renarts ihre besondere Spannung verleiht.

B. Die Kontingenz des Geschehens und das Wesen der a v e n t u r e im R O M A N DE REN A R T

Dem Leser, der vom YSENGRIMUS herkommt, fällt zunächst auf, daß sich in Branche II alle diejenigen kontingenten Elemente, die Nivardus aus dem Geschehnisablauf entfernt hat, wieder einstellen. Der Vorgriff auf den Ausgang, der den Eintritt in die aventure bereits überschattet, die unsichtbare Hand Fortunas, welche Akteure und Dinge ad hoc in Szene setzt und wieder abtreten läßt, der Aspekt einer je schon zubereiteten, fatalen Konstellation, in den jede scheinbar zufällige Wendung des Geschehens rückt: all dies ist wieder im unverstellten Horizont des Möglichen aufgegangen, der sich nach jedem Ereignis wiederherstellt, die Verlockung des Risikos erneuert, ein unvorhersehbares Dilemma heraufführt und die Lösung zu einer Aufgabe ohne Präzedenzfall macht. Damit zieht das formale Schema der Aventürenreihung, wie es der höfische Roman soeben ausgebildet hat, in das afrz. Tierepos ein und rückt dieses strukturell von der Chanson de geste mit ihrer geschlossenen Handlungsentwicklung ab, was aber noch nicht besagt, daß die aventure Renarts mit der eines Artushelden zu vergleichen wäre. Diese Differenz gilt es zunächst genauer zu bestimmen. Das formale Schema der Aventürenreihung ist im Übergang von Schwank zu Schwank mit den herkömmlichen Wendungen angezeigt, die

190 dem Eintreten des Neuen den Charakter einer anhebenden, noch nicht zu bestimmenden Begebenheit {II avint chose que Renars. . II 23) oder einer unerwartet sich auftuenden Wendung des Geschehens (jQue qu'il se pleint de sa losenge, Atant es vos une mesange. . II 469-470) x ) geben. Der Übergang kann aber auch thematisiert werden: S'en est tornes a molt grant peine Si conme aventure le meine. (II 841-842)

Hier wird aventure als abstractum agens zum Subjekt des Geschehens, ohne daß man schon von einer allegorischen Personifikation sprechen könnte a ); die Wendung artikuliert in diesem Zusammenhang nur den wiederhergestellten Horizont des Möglichen nach überstandener Gefahr (Renart ist soeben aus der Falle entronnen, in die ihn seine aventure mit Tibert gebracht hat). Wo das Zusammentreffen zweier Tierfiguren als eine besondere Fügung erscheinen könnte, wie in der 4. Episode, wo der Rabe, um seinen Käse zu verzehren, ausgerechnet auf den Baum fliegt, unter dem Renart sich ausruht, wird diese Fügung als selbstverständlich hingestellt: Atant s'en torne et vient tot droit A u leu ou dans Renarz estoit. (II 895-896)

Hier waltet kein Verhängnis, das bereits den Eintritt in die aventure überschattet; der Erzähler hat aus der entstandenen Konstellation: Ajorne furent a eel ore Renarz desos et eil desoure. Mes tant i out de dessevraille Que eil manjue et eil baelle (II 897-900)

nur einen heiteren Effekt geschaffen, indem er sie mit der gerichtlichen Vorladung (,ajorner = ,assigner en justice') 3 ) auf eine Ebene des Vergleichs stellt und auch die Möglichkeit einer Verkehrung der Situation als eine Art von ausgleichender Gerechtigkeit (Mes tant i out de dessevraille.. .) ironisch andeutet. Die vollendete aventure läßt bei Renart nichts zurück als Hunger und Müdigkeit: Mit derselben stehenden Wendung wird auch das Jagdabenteuer eingeleitet: Que qu'il se plaint de s'aventure Garde et voit en une rue Tibert le cbat... (II 665 fr.). *) Siehe R. Glasser, Abstractum agens und Allegorie im älteren Französisch, Z R P h L X I X (1953) p. 4 3 - 1 2 2 . Wann aventure zum erstenmal als abstractum agens erscheint, läßt sich dort nicht feststellen. Vielleicht im EREC? Vgl. ed. M . Roques, S A T F 80, Paris 1952, v. 529fr.: Mes j'atant ancor meillor point, que Dex greignor enor Ii doint que aventure Ii amaint ou roi ou conte qui l'an maint. *) Siehe TILANDER (Lexique unter ajorner). Foulet hat den übertragenen Sinn von ajorner übersehen; damit wird seine darauf aufgebaute Chronologie des Fuchsabenteuers in Br. I I - V a hinfällig, die für das Verständnis ohnedies belanglos ist (cf. p. 188 Anm. 2).

191 N'est merveille s'il est lassez. Car le jor out fol asez. Si a trove mauves eür. Mais que chaut? ore est asoür,

(II 657-660)

sie bleibt in ihrer einmaligen Struktur unwiederholbar und wirkt weder auf der Ebene des Geschehens, noch auf der der Erfahrung auf die nachfolgende ein, so daß es im afrz. Tierepos zu keiner Verstrickung der Handlung, aber auch zu keiner Steigerung des .Helden* durch die Reihe seiner Bewährungen kommen kann. Renart ist am Ende nicht vollkommener als er sich schon am Anfang zeigt. Seine Aventüren in Branche I I - V a lassen sich darum auch nicht in ein Entwicklungsschema hineinpressen, als ob er erst durch die Summierung seiner voraufgegangenen Erfahrungen zu dem Meisterstück der Überlistung des Raben gelangt wäre. Die mißlungene Überlistung Chanteclers war an sich nicht weniger schlau eingefädelt (es handelt sich um dasselbe Schema), die aufgewandte Rhetorik ebenso unwiderstehlich. Wenn der Betrüger am Ende von Chantecler selbst wieder betrogen wird und Anlaß hat, seine Dummheit zu beklagen {Que qtfil se pleint de sa losenge, v. 469), kann ihn die in seinen Selbstvorwürfen (II 445 ff.) wirksam gewordene Erfahrung keineswegs davor bewahren, in den folgenden Aventüren mit der Meise und mit dem Kater erneut zum betrogenen Betrüger zu werden. Die Erfahrung der aventure in der Welt des Tierschwanks ist die retrospektive Weisheit des Sprichworts, sie bleibt auf den einzelnen Fall bezogen und ermöglicht lediglich ein ,klug für ein ander Mal', das sich nicht anwenden läßt, weil dieses andere Mal unter denselben Voraussetzungen nicht wieder eintrifft. Die Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit der aventure hat im Tierepos die besondere Form einer isolierten, aus jeder Begebenheit neu entspringenden und für sich bestehenden Erfahrung und ergibt eine kompositorische Struktur, die man verkennt, wenn man sie als bloß äußerliche Episodenreihung kennzeichnet. Gewiß ist es denkbar, einzelne Aventüren untereinander zu vertauschen; doch darin einen Mangel zu sehen, setzt den inadäquaten Maßstab der Chanson de geste voraus, die in ihrer geschlossenen Handlungsentwicklung auf ein Ende gerichtet ist und darum auch in der Abfolge ihrer Episoden determiniert sein muß. Vertauschbar ist die aventure im ROMAN DE RENART indes nur hinsichtlich ihres Orts in der Abfolge; die in ihr beschlossene Erfahrung bleibt ihrem Wesen nach einmalig und insofern auch gerichtet, als jede wiederkehrende Schwanksituation aus der reinen, d. h. alle Wiederholung ausschließenden Kontingenz, die sich im Geschehnisablauf des Renartabenteuers darstellt, herausfallen muß, wenn ihr keine neue, die Situation verändernde Erfahrung entspringt. Das Fehlen motivierter Übergänge ist dem Tierepos wesenseigen, Ausdruck seines unwiederholbaren Geschehens und nicht mangelnde Komposition. Die Isoliertheit der aventure im RdR schließt indes andere Möglichkeiten eines planvollen Aufbaus nicht aus, sie erfordert nur an Stelle der vorgängigen Einheit, die C. Lugowski als „mythisches Analogon" in

I92

der Struktur der mittelalterlichen Epik und noch im Grundschema des Entwicklungsromans aufgedeckt hat 1 ), eine Einheit a posteriori, die der diskontinuierlichen Erfahrung dieser aventure darin entspricht, daß sie ihre Episoden nicht in sich aufnimmt, sondern lediglich in ein anderes Licht setzt. Der kompositorische Zusammenhang des Gedichts von Pierre de SaintCloud, den Foulet in den zahlreichen Entsprechungen zwischen Br. II und Br. V a so überzeugend dargelegt hat 2 ), ist darum auch nicht so zu verstehen, als ob der erste Teil nur darauf angelegt sei, eine „preface necessaire aux longs developpements de la seconde partie" zu bilden 3 ). Die Reihe der Kalamitäten, die Renart mit Chantecler, der Meise und Tibert widerfahren, erhält vom Hoftag aus so wenig ihren ,letzten Sinn' wie vorher von der erfolggekrönten aventure mit Tiecelin, noch findet der Schwank in der Wolfshöhle und seine Fortsetzung in der aventure estrange (II 1217) vor dem Fuchsbau, der den Fall für Isengrin so unentwirrbar kompliziert, in der Gerichtsszene die definitive Konklusion, welche die Schuldfragen klärte und das moralische Bewußtsein befriedigte. Die Verhandlung über den Ehebruch zwischen Renart und Hersent erweist sich damit letztlich als eine neue Episode in einer zweiten Reihe von Aventüren, die selbst wieder unbegrenzt fortsetzbar erscheint, wie die Scheinlösung des ,Escondit', bei welcher der Reinigungseid auf beiden Seiten der Beteiligten zur Farce wird, sogleich vor Augen führt. Der Hoftag in Branche V a rückt die Aventüren Renarts lediglich retrospektiv in der Einheit einer größeren Szene zusammen, insofern neben Ysengrin auch Tiecelin, Tibert und die Meise als Kläger von Brun aufgeführt werden (Va 75 3-764), bringt aber nichts hinzu, was noch fehlte, um ihren Motivationszusammenhang vollständig zu machen. Die Erzählung Bruns fügt den Schandtaten Renarts eine weitere hinzu, bestätigt aber nur das bekannte Bild seines Wesens. Nicht Renart ist es, der hier in ein anderes Licht gesetzt wird, sondern die Hofgesellschaft im ganzen, die über den Abwesenden urteilen muß x

) Die Form der Individualität im Roman: Studien %ur inneren Struktur der frühen

deutschen Prosaerzählung, Berlin, 1 9 3 2 (Neue Forschung Bd. 14). 2 ) p. 1 8 6 - 1 8 9 . Die Einwände Suchiers (vgl. p. 1 5 2 ) sind gegenstandslos, weil er hier nur ein Mißverständnis Voretzschs wiederholt (die angebliche Unstimmigkeit in der Ehebruchsintrige, vgl. VORETZSCH, Z R P h X V 365 f., FOULET 1 9 9 - 2 0 3 und unsere eigenen Ausführungen Kap. I V p. 2 2 9 f f . ) ; selbst wenn die an sich geringfügigen Unterschiede in Sprache und Reimpraxis einen zweiten Verfasser erfordern sollten, bliebe davon der von Foulet aufgewiesene äußere und innere Zusammenhang v o n Br. I I - V a unberührt. 3

) S o FOULET p. 2 1 3 ; v g l . p. 1 8 7 . D e r Erzähler in Br. I I - V a hat erst die

aventure in der Wolfshöhle und vor dem Fuchsbau auf das Hofgericht als notwendige Konklusion hin angelegt; in den ersten vier Episoden weist die E r wähnung K ö n i g Nobles in der Meisenepisode (II 492) und die reimbedingte Be-, nennung Ysengrin le connetable (v. 1036) noch nicht notwendig auf den bevorstehenden H o f t a g vor. A u c h werden Tiecelin, Tibert und die Meise in der Verhandlung selbst nur beiläufig erwähnt (cf. V a 7 5 4 - 7 6 2 ) ; dabei fehlt auffälligerweise Chantecler, der erst in Br. I als Kläger auftritt.

193 und darüber unvermeidlich in Parteien zerfallt: die aventure Renarts bringt die Brüchigkeit des feudalen Ordo und die verlorene Solidarität des ritterlichen Standes zum Vorschein. Damit sind wir in die Lage versetzt, die besondere Ausprägung, die der aventure im RdR verliehen wird, von der des höfischen Romans, mit dem das afrz. Tierepos das formale Schema der Aventürenreihung gemein hat, abzuheben und ihr historisches Verhältnis näher zu bestimmen. Wir stützen uns dabei auf die Untersuchungen, die E. Köhler dem geschichtlichen Wandel des aventure-Begiiffs in der höfischen Epik gewidmet hat 1 ). Mit dem Einsetzen des höfischen Romans, das historisch mit dem Übergang von der ersten zur zweiten feudalen Epoche (Marc Bloch) zusammenfällt, kündigt sich ein neuer ritterlicher Begriff des Geschicks an, mit dem der Weg ritterlicher Bewährung in die wesenhafte Einheit von Zufall und Bestimmung gestellt wird. Im aventure-ldeal, das Köhler soziologisch auf die eingetretene Differenzierung des ritterlichen Standes in Klein- und Feudaladel und seine Bedrohung durch die ökonomische Umwälzung des 12. Jahrhunderts zurückbezieht, richtet die höfisch-ritterliche Gesellschaft das Gesetz ihrer feudalen Ethik gegen eine Umwelt, die zu ihr in Widerspruch geraten ist, mit einem ständisch und zugleich universalistisch verstandenen Führungsanspruch auf 2 ). Die „Sinnerfüllung des Zufalls" in der aventure stellt sich danach nicht nur als Weg zur Perfektion des Einzelnen dar, die ihren alleinigen Antrieb in der Liebe hat. Der Weg zur individuellen Perfektion enthüllt zugleich die Rückbindung des entfremdeten Einzelnen an die von ihm abhängige Gemeinschaft, deren Bestehen sich mit jeder aventure neu entscheidet3): Wesenssuche und Reintegration sind die beiden voneinander unablösbaren Aspekte der einen ritterlichen aventure. Köhler hat den aventure-Begriff bis zu dem Punkte verfolgt, an dem er entweder in den Bann des Spiritualismus gerät oder in die Fortuna-Vorstellung übergeht. Diese Wendung bahnt sich mit der Rezeption der Graal-Legende an: „ M i t Chrestiens G r a l r o m a n fällt der aventure-BegiiS

einer Fatalität anheim,

die sein A u f g e h e n in eine der P r o v i d e n z untergeordnete Fortuna

erzwingt. J e

schwächer in der späteren ritterlichen D i c h t u n g der G l a u b e an eine gemeinständische S e n d u n g w i r d (. . .) desto mehr tritt das verdrängte fatalistische E l e ment der Fortuna - V o r s t e l l u n g an die Oberfläche zurück und erfaßt auch den aventure-Begriff,

bis die in der Queste del Saint Graal

gedanken v ö l l i g mit Fortune J

) Ideal und Wirklichkeit

i m radikalen V o r s e h u n g s -

identisch g e w o r d e n e aventure in der den großen

in der höfischen Epik,

T ü b i n g e n 1 9 5 6 (Beihefte z u r

Z R P h , 97. H e f t ) ; zur Literatur über den aventure-BegtiS 2

siehe ibid. p . 66.

) Siehe KÖHLER p. 7 1 : „ I n d e m die aventure z u m idealen Charakteristikum des

g a n z e n Standes erhoben w i r d , reintegriert sich der Kleinadel in eine der literarischen und höfischen Fiktion nach besitzindifferente, auserlesene

Gemein-

schaft. D a r u m erscheint das A b e n t e u e r als ein Sicherproben ,ohne A u f t r a g , ohne A m t , ohne konkreten geschichtlich-politischen Z u s a m m e n h a n g ' ( E . A u e r b a c h ) . " ' ) Siehe KÖHLER p. 6 7 : „ D e r M e n s c h ist nicht m e h r ausschließlich als G l i e d einer Kollektivität dem Schicksal verbunden, sondern als Einzelner, an dem sich das Geschick der G e m e i n s c h a f t entscheidet." 13 Jauß, Tierepos

194 Vulgatazyklus abschließenden Mori d'Artu ganz vom tragischen Schicksal der zum Untergang verurteilten ritterlichen Welt des Artusreichs geprägt w i r d . " l )

Welche Stellung nimmt nun das um 1176 entstandene, also zur Zeit von Chrestiens großen Romanen, aber noch vor dem C O N T E D E L G R A A L (nach 1 1 8 1 ) 2 ) anzusetzende afrz. Tierepos innerhalb der Geschichte des aventure-Ideals ein? Hier ist von dem oben erörterten Schritt auszugehen, der zwischen dem Y S E N G R I M U S und dem R O M A N D E R E N A R T liegt. Wie die prästabilierte Harmonie der aventure im höfischen Roman von der heroischen Auffassung des Schicksals in der Chanson de geste, der das Rolandslied die beispielhafte Ausprägung gegeben hatte, so hebt sich auch das kontingente Geschehen der aventure Renarts vom unentrinnbaren Geschick des Ysengrimus ab, der bei Nivardus völlig der feindseligen Fortuna preisgegeben ist. In beiden Fällen schließt die Verlagerung des Schwerpunkts vom unausweichlichen Ende zur ruhenden Mitte eine Ästhetisierung der ritterlichen Welt ein: der höfische Roman versetzt sie in die verzauberte Landschaft des Märchens mit dem Artushof als idealer Mitte, der RdR in das fiktive Reich der Tiere mit dem Hoftag König Nobles als richtender Instanz. Bei aller Ähnlichkeit im feudalen Aufbau der fiktiven höfischen Welt zeigt sich aber sogleich in der Art ihrer Stilisierung ein tiefgreifender Unterschied an. Das Wunderbare des Märchens bleibt aus dem Reich der Tiere völlig ausgeschlossen, während es dem Artusroman wesenseigen und darum keineswegs als eine bloß phantastische, spielerische Zutat zu der aventure des Helden anzusehen ist, die - wie E. Eberwein gezeigt hat - in einer Wesensverwandtschaft zum Erlebnis der Heiligenbegegnung steht: „Der in diesem Weltbild lebendige .Zufall' ist Wunder, Gnade, Offenbarung jenseitiger Kräfte und diesseitiger Wahrheit und ist so jederzeit .religiös' auch dort, wo er .weltlich' ist." 3 ) In der aventure Renarts hingegen hat nicht allein kein Wunderbares, in dem für den Artushelden Schicksal und Zufall zum Einklang kommen, mehr statt; hier bleibt die Begebenheit, die ganz in der Kontingenz des Geschehens beschlossen ist und keine Koinzidenz jenseitiger und diesseitiger Wahrheit mehr erfordert, zugleich an das Prinzip der Wahrscheinlichkeit gebunden: was Renart begegnet, ist nicht Zeichen einer Erwähltheit, sondern Bewährungsprobe natürlicher List, die allein am Widerstand der weltlichen Dinge und seiner Überwindung mit natürlichen Mitteln evident werden kann. Daß die Tiere im RdR, wie schon immer in der Fabel, mit Rede begabt sind, wird längst nicht mehr als ein märchenhaftes Element empfunden, zumal die aventure im RdR auch das Element jenes Zaubers nicht enthält, gegen den der Artusritter in seiner aventure anzugehen hat 4 ). Während der Artusritter *) ibid. p. 199. ) Zur Datierung der Werke Chrestiens siehe J . Frappier, op. cit. p. 12.

2

*) Zur Deutung mittelalterlicher Existenz (Kölner Romanistische Arbeiten, 7. Bd.), Bonn und Köln 1933, p. 51. 4 ) Vgl. KÖHLER p. 7 7 : „Die Welt um den Artushof ist eine verzauberte, dämonisierte Wirklichkeit, die sich als permanente Gefährdung einer durch den

195

im Bestehen seiner aventure immer zugleich eine Erlösungstat vollbringt, die eine Bestätigung seiner Erwähltheit einschließt, führt die aventure Renarts in ein Dilemma, das nur durch ein Verkennen, nicht auf übernatürliche Weise entstand und nur durch eigene List, nicht durch wunderbare Hilfe wieder gelöst werden kann. Bestätigt dort das Bestehen des Zaubers mit der Erwähltheit des Helden zugleich die ideale Ordnung der Welt, wie sie eigentlich sein sollte 1 ), so erweist hier die Lösung des Dilemmas, (que) plus. .. viaut engin que force (II 618), daß dem Listigen, der den Lauf der Welt kennt und zu nutzen weiß, immer noch ein Ausweg offensteht, um den Ordnungen der Gesellschaft zu entschlüpfen: im Ausgang der aventure treten Artusroman und R O M A N D E R E N A R T wie Märchen und Antimärchen auseinander2). Pierre de Saint-Cloud, der den Eingang seiner Episoden mit Vorliebe in der Art einer anhebenden aventure darstellt und die Begebenheit auch häufig als aventure bezeichnet3), hat einmal, in der aventure estrange (II 1217), die der Wölfin vor dem Fuchsbau widerfährt, den Gegensatz von Märchen und Antimärchen thematisiert und den Umschlag der höfischen aventure in die derbe Schwanksituation des Fabliau so explizit dargestellt (wir kommen in Abschnitt D darauf zurück), daß an der Intention einer ironischen Auflösung des aventure-Ideals nicht mehr zu zweifeln ist. Für den geschichtlichen Wandel des aventure-Begriffs könnte man hieraus ablesen, daß der Spiritualisierung der aventure im C O N T E D E L G R A A L schon die literarische Infragestellung ihrer Verbindlichkeit vorausgegangen ist. Wenn Chrestiens Y V A I N als Gipfelpunkt der höfischen aventure betrachtet werden kann, so wäre die Position der fast gleichzeitig verfaßten ältesten Branchen des RdR (II-Va) dadurch zu bestimmen, daß hier mit dem Augenblick, in dem die höfische aventure ihren höchsten Begriff erfüllt und Chrestien den ritterlichen Helden als Instrument der Vorsehung erscheinen läßt4), auch schon die Parodie ihrer Form deren Ende anzeigt 5 ): im nächstArtushof repräsentierten idealen Ordnung erweist. Die aventure, in die der jeweils dafür auserwählte Ritter sich stürzt, bedeutet das immer wieder aufgenommene A n gehen gegen einen Zauber und die ständig zu erneuernde Sicherung der Ordnung." ') Insofern entspricht dem Artusroman die ,Ethik des Geschehens', wie sie JOLLES für das Märchen voraussetzte: „daß es in diesen Erzählungen so zugeht, wie es unserem Empfinden nach in der Welt zugehen müßte" (p. 239f.). 2 ) Zum Begriff,Antimärchen' vgl. JOLLES p. 242, Clemens Lugowski, Wirklichkeit und Dichtung: Untersuchungen %ur Wirklichkeitsauffassung Heinrich von Kleists, Frankfurt 1936, bes. Kap. II (,Die frühe Form des Anti-Märchenromans'). ') Vgl. Br. II 665, 842, 887, 1032, 1 2 1 7 , 1326. 4 ) Siehe KÖHLER p. 80: „ E r s t im Yvain jedoch scheint der aventure-Begriff ganz entschieden auf eine .Vorsehung' hin verschoben, die nicht mehr auf die Person des einzelnen allein zielt." 6 ) Wir benutzen hier eine Formulierung aus Walter Benjamins Abhandlung über den Ursprung des deutschen Trauerspiels: „Im sterbenden Sokrates ist das Märtyrerdrama als Parodie der Tragödie entsprungen. Und hier wie so oft zeigt die Parodie einer Form deren Ende an" (Schriften Bd. I, Frankfurt 1955, p. 234). 13*

196

folgenden Roman Chrestiens wird der Held (Perceval) erstmals vor der ihm bestimmten aventure scheitern Die ausdrückliche Parodie der höfischen aventure ist indes nur eine Teilperspektive der ältesten afrz. Renartdichtung, die als Antimärchen noch in anderer Hinsicht zum Märchenroman Chrestiens in Gegensatz tritt, wie sich weiterhin vom Begriff der aventure aus zeigen läßt. Während die aventure im Bannkreis der Artuswelt aus der Koinzidenz von Zufall und Bestimmung lebt, derart, daß in aller Willkür des Geschehens eine .Providentia specialis' waltet und den allein dafür ausersehenen Helden die aventure bestehen läßt, an der alle anderen notwendig scheitern, bildet der RdR eine neue Anschauungsform des Geschehens aus, bei der die aventure gleichfalls die Mitte zwischen Zufälligem und Providentiellem hält, doch so, daß sie gerade erst durch den Ausschluß beider möglich wird. Wo über den Ausgang der einzelnen und aller Begebenheiten schon vorweg entschieden ist, so daß kein echtes Dilemma mehr entstehen kann, wie im Y S E N G R I M U S , kommt es so wenig zu einem Renartabenteuer im eigentlichen Sinn, wie wenn die Lösung des Dilemmas das bloße Resultat eines mechanischen Zufalls ist. Mit aus diesem Grunde ist z. B. das Abenteuer mit Tibert, in dem Renart einzig infolge des Fehlschlags eines .vilain' aus einer male trape entkommt, die schwächste Episode in Branche II2). Will man das Renartabenteuer, insofern es auf kein transzendentes, die ,Sinnerfüllung des Zufalls' im Geschehen bewirkendes Prinzip mehr verweist3), .kontingent' nennen, so muß dabei die Einschränkung gemacht werden, daß damit nur die Art der Geschehnisabfolge, nicht aber die dargestellte Welt als solche getroffen ist. Die Welt der aventure im RdR ist aufs Ganze gesehen der Kontingenz des Lebens nicht weniger entrückt als die verzauberte Märchenlandschaft des Artusromans. Denn jene Kontingenz des Lebens, deren Auf und Ab in der ganzen Breite der gesellschaftlichen Wirklichkeit erst der pikareske Roman am Lebensgang eines beliebigen, der Willkür Fortunas ausgelieferten Einzelnen darstellen wird, fällt hier einer ästhetischen Reduktion anheim, die die Vielfalt menschlicher Verhältnisse in eine in sich vollendete Typenwelt von Tiercharakteren überführt und dabei alle Kontingenz des Werdens, die Wesenssuche des Artushelden einbegriffen, ausschließt. Siehe KÖHLER p. 1 9 6 . - N a c h F o u r r i e r hat Chrestien Y V A I N u n d LANCELOT

nebeneinander in der Zeit von 1177 bis 1179 (oder 1181) verfaßt, vgl. Frappier, a. a. O. p. 12. 2 ) v. 809 ff.; man vergleiche dagegen etwa den Ausweg aus einem ähnlichen Dilemma v. 6i9ff., den Renart einem verblüffenden Einfall seinerfavele verdankt. 3 ) Insofern bedürfen die Ausführungen, mit denen SPITZER das „zwischenweltliche Genre des RdR" geistesgeschichtlich zu bestimmen suchte (vgl. p. 214 bis 221), einer Korrektur. Der Welt der aventure im RdR, in dem kein Hauch von jener Idealität mehr geblieben ist, die nach Spitzer selbst noch in so unheroischen epischen Werken wie in der Karlsreise und in Aucassin et Nicoktte spürbar wird (p. 214), fehlt jegliche „Durchdringung des Lebens mit der Transzendenz".

!97

Die aventure Renarts unterscheidet sich von der Wesenssuche des Artushelden zunächst darin, daß sich Renart, wie schon bemerkt, am Ende nicht vollkommener zeigen kann, als er es je schon ist, während sich das gleichfalls vorgeprägte, aber erst noch latente Wesen des Artushelden durch den Weg der gesuchten und ihm zufallenden aventure enthüllen und durch die am Ende vollzogene Reintegration in die Gemeinschaft des Artushofes erfüllen muß. Mit der Aufnahme in den Artuskreis vollendet sich die eigentliche Geschichte Erecs, Yvains und der anderen Ritter der Tafelrunde. Wenn sie hernach noch hier und dort in Erscheinung treten, so nur noch im Rahmen der aventure eines anderen, die sich nicht mehr mit ihren Namen verbindet: sie sind vollendete Figuren geworden, deren Geschichte nicht mehr fortgesetzt werden kann, weil sich ihrem enthüllten Wesen durch kein neues Abenteuer mehr etwas hinzufügen ließe. Hier reicht die Artuswelt, der ohne die ständige Bestätigung durch einen immer neuen Helden nur noch das letzte Gesamtabenteuer ihres Unterganges (MORT LE R O I A R T U ) offensteht, an die Typenwelt der Charaktere im RdR heran, der von vornherein jener Zustand des Vollendetseins eigentümlich ist. Der zum Inbegriff einer höfischen Tugend und damit zur exemplarischen Figur gewordene Erec, Yvain, Gauvain, Keu nimmt am Ende dieselbe zeitlose Gestalt an wie Brichemer, Baucent, Brun, Cointereaus, jene vorgeprägten Tierfiguren, die am Hofe König Nobles sowohl nach ihren Funktionen als auch nach ihren Charakteren genau umrissene, ein für allemal festgelegte Positionen innehaben. Während nun aber dem vollendeten Helden im Artusroman auf Grund der Geschichte seiner aventure, in der sich sein Wesen in seiner Beispielhaftigkeit enthüllt hat, noch die Individualität eines Gewordenseins anhaftet 1 ), erscheinen die Tierfiguren im RdR von vornDaß dem vollendeten Artushelden noch die Individualität eines Gewordenseins anhaftet, besagt gerade nicht, sein exemplarischer Weg stelle eine .individuelle Entwicklung' dar. Diese dem mittelalterlichen Denken völlig unangemessene Vorstellung ist bekanntlich ein Ergebnis der unkritischen Rückübertragung einer Anschauungsform des 19. Jahrhunderts - des Leitbilds vom organischen Werden der Persönlichkeit - auf eine Epoche, in der der Mensch in seiner Ganzheit auf die Gemeinschaft, deren Teil er ist, hingeordnet ist als auf

sein Ziel: Ipse totus homo ordinatur, ut ad finem, ad communitatem

cuius est pars (Tho-

mas von Aquin, zitiert von P. Edelbert Kurz, Individuum und Gemeinschaft beim Hl.Thomas von Aquin, München 1932, p. 56; diese Untersuchung widerlegt im Bereich der thomistischen Sozialphilosophie die von De Wulf vertretene Auffassung vom .Individualismus' des Mittelalters). Zum Problem der Individuation im M A sei auch auf G. Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. II, 1 p. 16-24, Frankfurt 1955, verwiesen. Daß der Punkt, in dem sich das Tun und Trachten des Einzelnen zur Einheit zusammenschließt, nicht in ihm selber liegt (ibid. p. 21), läßt sich gerade von der Köblerschen Deutung der Aventüre-Struktur aus zeigen. Der exemplarische Weg des Artusritters ist gleichbedeutend mit der Geschichte seiner Entfremdung und Reintegration in die Gemeinschaft; seine Wesenssuche geht darin auf und ist abgesehen davon, als etwaiger biographischer Zusammenhang einer persönlichen Entwicklung, von keinerlei Bewandtnis für die epische

198 herein als reine Typen, die in ihrer Einzigartigkeit nur durch ihre Natur bestimmt sind und deren Wesen darum schon in einer einzigen Begebenheit zutage tritt x ). Hier wird der Punkt greifbar, an dem sich das Wesen der Tierfigur am schärfsten von dem des epischen Helden abhebt. Während es, um einen epischen Helden zu charakterisieren, immer einer Reihe von Begebenheiten, d. h. seiner Geschichte bedarf, wird die Natur einer Tierfigur bereits in der ersten aventure hervorgekehrt (der blasierte Stolz Chanteclers z. B. schon in der ersten Zurechtweisung Pintes, II 878-894) und kann auch in einer Reihe von Begebenheiten immer nur als unveränderlich dieselbe zum Vorschein kommen: der reine Typ verträgt nur die Form der stets fortsetzbaren Episodenreihung, nicht die der auf ihr Ende gerichteten Geschichte. Darin liegt der Anfang einer Erklärung dafür, weshalb der RdR nicht über ein „Konglomerat von losen und um einen Helden gruppierten Erzählungen" hinausgekommen ist. Nicht daß die Tierhelden „keine Konsequenz des Charakters haben könnten" - als reine Typen stehen sie immer schon in der vorgezeichneten Bahn sondern, daß ihnen nur ein „genereller Charakter" eigen ist, macht sie und Renart im besonderen „zum epischen Helden ä la Roland untauglich" 2). Die weitere Frage ist dann nur, warum sich Renart, wenn er auch nur als reiner Typ wie die anderen Tiere anzusehen ist, aus diesen so sehr herausheben kann, daß das Gesamtabenteuer des afrz. Tierepos unlöslich mit seinem Namen verbunden ist. Ist es Zufall, wenn in der bisherigen Erörterung immer nur von der aventure Renarts die Rede war, als ob erst seine Gegenwart dem Tierschwank den Charakter einer aventure verleihe? Wenn aber sein Auftreten die aventure im Reich der Tiere allererst möglich macht und alle Aventüren in seiner Gestalt ihren perspektivischen Fluchtpunkt haben, sollten sich dann die Aventüren des RdR nicht doch in irgendeiner Hinsicht zu dem GeFabel. Die Abhängigkeit alles bloß .Individuellen' v o n einem übergreifenden exemplarischen Sinn zeigt sich besonders deutlich in der Distanzierung des höfischen Sprechens, s. I. Nolting-Hauff, op. cit. p.

4 4 : „ M a n sieht, in wie engen

Grenzen sich auch hier die Selbstreflektierung vollzieht: die Funktion des .Individuellen' erschöpft sich darin, daß es die exemplarische B e w e g u n g zur N o r m hin, also die Überwindung seiner selbst, ermöglichen m u ß . " V g l . dazu ibid. p.6o. Diese Unterscheidung, auf der die folgende Untersuchung aufbaut, ist nach Hans LIPPS, Die menschliche Natur, Frankfurt 1 9 4 1 , bes. K a p . 2 4 : ,Die Charakterisierung eines Menschen', entwickelt, dessen Buch ich entscheidende A n regungen zur Untersuchung der Tiercharaktere verdanke. 2

) Siehe dazu SPITZER p. 234, dessen Deutung zwischen dem generellen Cha-

rakter d e s Fuchses und der „Läßlichkeit", bzw. der „unheroischen Charakterlosigkeit" dieses Tierhelden schwankt. D e r generelle Charakter der Tierfiguren schließt indes die Konsequenz, d. h. die typische Gebundenheit ihres Verhaltens ein. Wenn Spitzer an Renart die Konsequenz eines (moralischen) Charakters vermißt, setzt er in diesem Wortgebrauch den deutschen Begriff .Charakter' ( = Charakter haben, ein Mann von Charakter) an die Stelle des für Tierfiguren allein angemessenen Begriffs ,caractere' ( = im Sinne v o n L a Bruyeres .Charakteren').

199 samtabenteuer Renarts zusammenschließen? Wenn er schon „keine sich entwickelnde Geschichte, sondern nur ein stetes Sein hat, das man in einzelnen und losen Aventiuren umspielen kann" 1 ), sollte sich dann in der Abfolge seiner Abenteuer eben immer nur seine selbe Natur und nicht doch vielleicht noch ein anderes enthüllen? Worin besteht also das Gesamtabenteuer Renarts, wessen Geschichte schließt sich in ihm auf, da es nun einmal nicht die seines Lebens sein kann und auch nie sein wird, denn in der mittelalterlichen Geschichte des Renartzyklus, wie auch in seiner nachmittelalterlichen Tradition ist nie der Versuch unternommen worden, dem Fuchsabenteuer die Einheit und geschlossene Form einer Biographie zu geben. Für die Frage, welche Bedeutung der aventure Renarts im ganzen zukommt, ist die Erzählung Bruns besonders aufschlußreich, weil der Bär damit versucht, die Anklage Ysengrins zu einem Fall zu erweitern, der die Allgemeinheit der versammelten Tiere angeht: H o n i soit et deshonore Qui ja Renart consentira Q u e un prodome honira, E t si Ii toudra son avoir, Si n'en porra nul droit a v o i r : D o n e auroit il borse trovee. Ce seroit folie provee, Se li rois son baron ne v e n g e Q u e Renars honist et ledenge. M e s a tel morsel itel tece. Chaz set bien qui barbes il leche. E t ne quit pas, sauve sa grace, Q u e n o z sire s'ennor i face, Q u i s'en aloit ore riant E t Y s e n g r i n contraliant P o r un garcon, un losenger.

( V a 590-605)

Die Rede bezieht sich im besonderen auf den Anklagepunkt, Renart habe die Höhle Ysengrins verunstaltet, seine Kinder beschimpft und Nahrung entwendet. Brun richtet seinen Hauptvorwurf aber vornehmlich an die Adresse des Königs, der sich keine Ehre erweise, wenn er für die Ysengrin angetane Schmach nur ein Lachen übrig habe und damit zu billigen scheine, daß Renart einen prodome entehre. Der König hat Brun zufolge das gemeingefährliche Wesen Renarts nicht erkannt, für das er in seiner Erzählung nur ein Beispiel für viele geben wollte: G e nel di pas por clamor fere, Mes p o r essample de lui trere.

(Va

751-752)

Auch andere hätten Grund zur Klage. Brun zitiert den Fall Tiecelins, Tiberts und der Meise und spart nicht an Worten wie traitor felon (Va 609), lere (v. 7 5 9),Judas (v. 762). Schließlich appelliert er an die Verantwortung aller: *) SPITZER P. 2 3 4 .

200 Nos i avon molt grant pecie, Quant tant li avon aluchie. (v. 765-766)

Doch Brun hat mit seiner Argumentation nicht mehr Erfolg als zuvor Ysengrin; Baucent der Eber weist ihn mit formalistischen Gründen (die erste Klage ist noch nicht entschieden, die andere Partei noch nicht gehört, V a 769-792) ab, und in der folgenden, heftigen Auseinandersetzung droht jene Entzweiung der ,Cour des Pairs' einzutreten, der Brichemer nur mit dem konzilianten Vorschlag des Reinigungseides zu begegnen weiß, ohne damit die im ,Escondit' zutage tretenden Parteiungen aufhalten zu können. Die zerfallende Einhelligkeit der Hofgesellschaft ist nicht ohne Zusammenhang damit, daß die Erzählung Bruns einen schwachen Punkt aufweist, der ihre Überzeugungskraft als Beispiel beeinträchtigt. Das Motiv, das Brun dazu brachte, sich mit Renart in eine aventure zu begeben, war nichts weniger als ehrenhaft und eines Helden unwürdig; auch wenn Renart mit Vorbedacht handelte und der eigennützigen Absicht folgte, gedeckt durch den starken Bären auf Hühnerjagd zu gehen, kann dies nichts daran ändern, daß Brun seinerseits Honig stehlen wollte: II savait que j'amoie miel Plus que chose qui soit sos ciel.

(v. 639 f.)

Auch dieser Fall entbehrt wie zuvor der Ysengrins, für den der König am Ende nur ein Lachen übrig hatte, nicht einer komischen Seite. Die Geschichte, mit der Brun das gemeingefährliche Wesen Renarts exemplarisch kennzeichnen wollte, kennzeichnet zugleich ihn mit, und dies in einer Weise, die die Lacher auf die Seite Renarts bringen muß. Denn der Held, der auszog, um seinem unwiderstehlichen Hang für Honig zu frönen, tut noch ein übriges, um sich lächerlich zu machen. Er gibt von seinem Mißgeschick inmitten einer Horde von ,vilains' und ihren Kötern eine Schilderung (v. 693-748), als ob es sich um einen glorreichen Rückzug vor ebenbürtigen Feinden gehandelt habe: Bien polst por verite dire Que one ne fu veüe beste Qui de chens feist tel tempeste

(v. 704-706)

und erweist sich damit als tolpatschiger Aufschneider und Typ des ,miles gloriosus'. Die gemeinsame aventure Renarts und Bruns parodiert das Heldenepos ; sie entlarvt in Brun den epischen Helden, indem sie sein Handeln auf ein allzumenschliches, unheldisches Motiv zurückführt und so gerade den Zug seines Wesens hervorkehrt, der für seine kreatürliche Verhaftung kennzeichnend ist. Was in der gemeinsamen aventure von Renart und Brun geschieht, ist paradigmatisch für die aventure im R O M A N D E R E N A R T überhaupt und hebt den Fuchsschwank über die bloße Situationskomik der Überlistung, wie sie im Fabliau vorherrschend ist, hinaus. Denn nicht die Überlistung als solche mit der jeweils erneuerten Spannung, auf welche Art und Weise der Listenreiche dieses Mal seine Schlinge zu legen weiß, sondern die mit ihr

20I

verbundene Entlarvung und Kennzeichnung der typischen und in ihrer Typik festgelegten Natur seines Partners oder Widersachers macht den eigentümlichen Reiz des Fuchsschwanks aus und berechtigt uns, im Blick auf die Reihung solcher Schwänke im Tierepos von einem einheitlichen Gesamtabenteuer Renarts zu sprechen. Das Tierepos gewinnt im Werk Pierres de Saint-Cloud, der das formale Schema des Abenteuerromans übernimmt, seinen eigenen inneren Zusammenhalt in dieser fortschreitenden Enthüllung der typischen Charaktere, die durch die Begegnung mit Renart möglich wird. Das Gesamtabenteuer Renarts führt gleichsam die höfische aventure weiter, insofern es in der Typik der Charaktere, die es enthüllt, jene in sich vollendete Welt des Artuskreises schon voraussetzt, in dem die Wesenssuche des höfisch-ritterlichen Helden notwendig ihren Abschluß finden muß; es durchmißt diese epische Welt jedoch in einer Bewegung, die der Reintegrationstendenz der höfischen aventure zuwiderläuft.

C. Die Analogie von tierischem Wesen und menschlicher Natur im Tierepos des Mittelalters Die vollendete Typik der ritterlichen Welt löst sich durch den Weg, auf dem Renart sie durchläuft, erneut in eine Vielheit von Aventüren auf. Doch während zuvor die höfische aventure in der Geschichte des Helden sein ideales, für die Gesellschaft exemplarisches Sein zum Vorschein brachte, kehrt nun die aventure Renarts im typischen Geschick des Tierhelden seine kreatürliche Natur in der Verhaftung einer Eigenschaft hervor, die ihn fixiert und zugleich vereinzelt. Das allgemein verbindliche und darum auch in der Ausprägung durch mehrere Figuren nur durch Nuancen verschiedene literarische Bild des ritterlichen Helden tritt hier in eine Vielfalt von Charakteren auseinander, die in den Tierfiguren nicht mehr auf das Verbindende ihres gemeinschaftlichen Daseins, sondern auf das Unterscheidende ihres naturbedingten Soseins hin ausgelegt sind. Damit wird deutlich, inwiefern sich gerade Tierfiguren als besonders ausgezeichnetes Medium erweisen, um eine in sich vollendete Typenwelt von reinen, d. h. generellen Charakteren zur Darstellung zu bringen. Einmal, weil Tieren „ihr Artcharakter ins Gesicht geschrieben i s t " W o es bei menschlichen Figuren erst einer Geschichte oder zumindest einer Beschreibung ihrer Person bedarf, um sie als Typen zu charakterisieren, genügt bei Tierfiguren bereits die Nennung ihres Gattungsnamens. Der Fuchs, der Wolf, der Löwe ist uns auch ohne ,descriptio personae' sogleich in seiner Gestalt und damit auch in seinem Artcharakter anschaulich. Seine Gestalt ist für uns immer zugleich identisch mit einem Sosein: darin gründet die von Lessing betonte „allgemein bekannte Bestandtheit der (Tier)charaktere". Zum andern, weil das Tier ein „ungebrochenes Verhältnis zu seiner Natur hat", *) Lipps p.

19.

202

wie es dem Menschen nicht eigen ist 1 ). Als dargestellte Artcharaktere legen die Tierfiguren moralische Eigenschaften so aus, als ob es sich um ein naturhaftes Wassein, als etwas, wofür man nicht aufkommen kann, handle und führen damit das geistige Sein des Menschen auf seine allgemeine Natur mit ihren kreatürlichen Bedürfnissen und Neigungen zurück. Insofern aber im Tierepos diese Charaktere je nur in der Einzahl vorhanden sind, in der Tierfigur also das Allgemeine und das Singulare, Wesenheit und Einzelwesen, Gattung und Exemplar zusammenfallen, erhalten Renart, Ysengrin, Brun, Noble usw. ihrer Einzig-Artigkeit zufolge einen Anschein von Individualität, aus dem sich die in der Forschung immer wieder unkritisch gebrauchte Rede von einer ,Individualisierung' der Gattungen erklärt 2 ). Die Einzig-Artigkeit der Tierfiguren ist indes von der „einmaligen, unverwechselbaren Artung" 3 ) des Individuums prinzipiell zu unterscheiden. In Renart z. B. stellt sich das Füchsische des Fuchses im Unterschied zu dem Wölfischen des Wolfes und nicht der Charakter eines ganz bestimmten Fuchses dar: indem sich seine Gestalt als Quasi-Individuum entwickelt, „setzt sich hierin gerade das Arthafte durch" 4 ). Die Tierfigur kann darum auch kein Schicksal, das immer schon den Einzelnen in seiner individuellen Möglichkeit voraussetzt, sondern nur ihr typisches Geschick haben s ), das sich aus ihrem generellen Charakter ohne Rest erklärt, weil es im Grunde nur ein Wassein charakterisiert, das aus aller Kontingenz des Werdens ausgeschlossen bleibt. Renart, der selbst auch eine bestimmte Figur inmitten dieser Typenwelt von Charakteren darstellt, hebt sich nur darin zugleich über sie hinaus, daß er als Inbegriff des Listigen die Fixiertheit der anderen sich zunutze macht, ist aber selbst auch seiner listigen Natur verhaftet. Der Anschein, daß ihm ein höheres Maß an .Individualität' eigen ist als den anderen Tierfiguren, darf nicht darüber hinwegtäuschen, LIPPS P. 2 5 .

p. 4 6 0 : „Zwar kennt auch schon die Fabel die Individualisierung, insofern sie den Löwen, den Wolf, den Fuchs als Vertreter ihrer Gattungen, als Typen faßt, aber erst die Namengebung macht aus diesen Typen wahrhaft epische Persönlichkeiten." Wie hier bleibt auch bei G. P A R I S ( P . 3 5 7 F R . ) , der den eigentlichen Ursprung des mittelalterlichen Tierepos in der „conception generale d'animaux individualisant des especes" sieht und richtig herausstellt: „Renard . . . n'est pas un certain goupil, ni Isengrin un certain loup, dont on nous raconte telle histoire: c'est le goupil, c'est le loup, et les aventures qu'on leur prete caracterisent les rapports constants qui resultent de leur nature" (p. 359), die spezifische Differenz zwischen Tierfigur und epischer Personalität ungeklärt. 2

) VORETZSCH (1895)

S

) LIPPS P. 2 5 .

4

) LIPPS P. 64.

) L I P P S p. 1 3 9 : „Wir unterscheiden das Geschick als etwas dem Menschen lediglich Zufallendes, das es zu meiden bzw. zu wenden, wovon es sich zu lösen gilt, von dem Schicksal, das man als .seines' zu ,sein', das man zu übernehmen hat. Daß meinem Schicksal ,aus mir' etwas entgegenkommt, ist etwas anderes, als daß in meiner Natur die Gründe dafür liegen mögen, daß ich von etwas als einem für mich typischen Mißgeschick verfolgt werde." 5

2C>3

daß auch er in seinem W a s - sein dargestellt und noch nicht dadurch charakterisiert ist, w i e er etwas i s t N i c h t w i e er sich in seinem listigen Treiben verhält oder daß er listiger wäre als seinesgleichen (wo List gegen List steht wie in der aventure mit Tibert und mit der Meise erscheint er be2eichnenderweise als betrogener Betrüger!), sondern daß er die List als solche im Verhältnis zur Gewalt darstellt und als Verkörperung der List inmitten einer episch-ritterlichen Welt erscheint, deren sittliche Ordnung er seinem antiheldischen Wesen nach negiert, macht seine Rolle aus und läßt ihn vom Werk Pierres de Saint-Cloud an zur Titelfigur des Tierepos, bzw. zum Träger des Gesamtabenteuers emporwachsen. Damit sind wir zu einer völligen Umkehrung derjenigen Auffassung gelangt, die in der älteren Forschung am meisten Unheil angerichtet hat: der .Naturalismus' des R O M A N D E R E N A R T besteht gerade n i c h t darin, die .tierische Natur' mimetisch darzustellen. Wo immer die Auffassung und Darstellung der Tierwelt im RdR der Naturbeobachtung entspricht und in Brehms Tierleben verifiziert werden kann, ist diese Art von Naturwahrheit von den mittelalterlichen Verfassern nicht als solche gesucht worden und darum nicht höher zu bewerten als die nicht naturnahen, bzw. der Naturwahrheit widersprechenden Vermenschlichungen des Tierlebens. Das „Gemisch von Naturbeobachtung, Naturentstellung und Gleichgültigkeit gegen die Natur" (so will Ulrich Leo die Methode der mittelalterlichen Verfasser charakterisieren) 2 ) ist im Grunde nur die relativ belanglose Kehrseite jener Typen weit von Charakteren, in der das volkssprachliche Tierepos vornehmlich die Natur des Menschen in der Durchschnittlichkeit seiner Eigenschaften und Schwächen, aber dank ihrer Versetzung in die Tierheit ohne moralisierende Didaxis, zur Anschauung bringt. Der .Naturalismus' des RdR verhält sich zum literarischen Naturalismus positivistischer Prägung wie der mittelalterliche Realismus zum modernen, seine genaue Umkehrung enthaltenden Begriff des Wortes. Die Realität, die hier zur Darstellung gelangt, ist nicht die vermöge einer Einfühlung in die Tierseele und Naturbeobachtung nachgeahmte Wirklichkeit der von *) LIPPS p. 1 5 4 : „ W ä h r e n d die D i n g e über ihr Sein h i n w e g in ihrem W a s verstanden werden, während sie das, was sie sind, nur in Wirklichkeit sein können oder nicht, charakterisiert es den Menschen, w i e er etwas , i s t ' . " 2

) LEO (p. 4 8 ) will damit gegen H . Claß ( A u f f a s s u n g und Darstellung der Tier-

welt im Roman de Renart, Diss. T ü b i n g e n 191 o) f ü r die Verfasser des R d R einen „im

ganzen mehr literarischen als naturbeobachtend orientierten

Standpunkt"

geltend machen. Seine Kritik bleibt aber auf halbem W e g e stehen, weil er nicht nach dem eigentlichen U r s p r u n g des A n t h r o p o m o r p h i s m u s in der T i e r d i c h t u n g des Μ Α fragt. D i e Feststellung, „ d a ß die Vorstellung v o m kletternden F u c h s e , w e n n nicht auf E r f i n d u n g , z u m wenigsten auf eine weit zurückliegende B e o b achtung zurückgeht, die zur Zeit der literarischen Tierdichtungen längst literarischer T o p o s g e w o r d e n w a r " (p. 4 8 ) zeigt, daß L e o selbst noch der romantischen A u f f a s s u n g v o n einem naturnahen ( = „ d i e Tiere sozusagen u m ihrer selbst willen schildernden", p. 3 1 ) .Tiermärchen' verhaftet ist.

204

Tieren bevölkerten Natur, sondern die der „universalia in re", ein Reich von Figuren, die in ihrer Singularität das Arthafte, in ihrer Diversität die wesenhaften Bestimmungen der kreatürlichen Natur gesondert zur Anschauung bringen. Insofern ist die Rede vom .Anthropomorphismus', der der mittelalterlichen Tierdichtung eigen sei, so lange mißverständlich, als sie auf der romantischen Voraussetzung gründet, das .Tiermärchen' in seiner ursprünglichen ,reinen' Form habe die besonderen Eigenheiten der Tiernatur ins Spiel gebracht, der mittelalterliche Dichter alsdann „Lebensäußerungen des allgemein menschlichen Lebens auf die Tierfiguren übertragen" Die „innige Vermischung des menschlichen mit dem tierischen Element" ist, wie Grimm deutlicher als seine romantisierenden Epigonen gesehen hat, der Tierfabel von Anbeginn wesenseigen: „Dieser Vereinbarung zweier in der Wirklichkeit widerstreitender elemente kann die thierfabel nicht entrathen. Wer geschichten ersinnen wollte, in denen die thiere sich bloß wie menschen gebärdeten, nur zufällig mit thiernamen und gestalt begabt wären, hätte den geist der fabel ebenso verfehlt, wie wer darin thiere getreu nach der natur aufzufassen suchte, ohne menschliches geschick und ohne den menschen abgesehene handlung. fehlte den thieren der fabel der menschliche beigeschmack, so würden sie albern, fehlte ihnen der thierische, langweilig sein."*)

Wenn aber der Anthropomorphismus der Tierfabel in ihrem weitesten Begriff, den ihr Grimm gegeben hat, ursprünglich eigen ist, können auch die ritterlichen Anthropomorphismen im RdR nicht als Signum des Nichtursprünglichen angesehen und von einer ,reinen' Form des hypothetischen ,Tiermärchens' abgehoben werden. Vielmehr ist zu fragen, ob der Versetzung der Tierfabel in die episch-ritterliche Vorstellungswelt des 12. Jahrhunderts, auf die das Stilelement der ritterlichen Anthropomorphismen letztlich zurückgeht, für die Geschichte der mittelalterlichen Tierdichtung nicht noch eine tiefere Bedeutung zukommt als die eines historischen, vom Geist der Epoche bedingten, rein äußerlichen Kolorits. Marie de France hatte die Tierfabel gleichfalls aus der verchristlichten Moral des R O M U L U S N I L A N T I N U S in die Vorstellungswelt des feudalen Hochmittelalters übertragen. Auch ihr E S O P E gibt den traditionellen Figuren der antiken Fabel eine ritterliche Umkleidung und bildet, indem hier im Unterschied zu der verchristlichten Vorlage die Unwandelbarkeit der menschlichen Natur wieder hervorgekehrt wird, eine Typenwelt in sich vollendeter Wesen aus, deren Umkreis sich mit dem der Charaktere im R O M A N D E R E N A R T ungefähr deckt. Auch die Figuren der Fabel durchlaufen eine *) LEO setzt in dieser Definition des allgemeinen Anthropomorphismus (p. 20) zwar die naturgetreue Anschauung der Tiere im vorliterarischen .Tiermärchen' nicht ausdrücklich voraus. Der ganze G a n g seiner Untersuchung im .Ersten A b schnitt' mit der Herausarbeitung von früheren, mittleren und späteren Stilschichten (vgl. p. 42) ist indes, wie die Widersprüche seiner Methode zeigen (s. SPITZER p. 222 f.), von dieser ihm selbst nicht deutlich bewußten Vorentscheidung bedingt. «) GRIMM p. V I I I .

205 Art von aventure, die indes - darin zeigt sich ein Unterschied zum Tierepos an - dem Verlangen der Kreatur entspringt, über die ihr zubestimmte Natur und über den ihr zubestimmten Rang in der Hierarchie der Wesen hinauszugelangen, und die sie unentrinnbar wieder an ihren Ausgangspunkt zurückführt. Daß diese Wesensungleichheit und Gebundenheit der Kreatur in die Welt der äsopischen Fabel durch ihre Versetzung in den feudalen Ordo wenn nicht hineingekommen, so doch stärker in ihr hervorgekehrt worden ist, liegt auf der Hand und gehört in eine Entwicklung, die erst im Tierepos zur vollkommenen Ausprägung gelangen konnte. Denn in der Welt des E S O P E besteht noch ein Widerspruch zwischen den typischen Charakteren der Tierfiguren und ihrer exemplarischen Bedeutung für jenes feudale System der Werte, das Marie in ihren Moralitäten geltend machen will. Die Tierfiguren im E S O P E bringen nicht so sehr ihre eigene Natur zur Anschauung, als daß sie durch die Beispielhaftigkeit der Fabelsituation hindurch auf jene moralischen Eigenschaften und Mängel hinweisen, die für die Ordnung der feudalen Gesellschaft als Tugend oder Laster bedeutsam sind und in dem Gegensatz von letal und felun gipfeln. Die Beispielhaftigkeit der Fabelsituation überdeckt die typischen Charaktere der Tiere, so daß ihr vorgeprägtes Wesen nur noch in eine mögliche, nicht aber in eine notwendige Relation zu der Bedeutung ihrer Erscheinung tritt. Der orguillus kann im E S Ö P E sowohl vom Adler (Χ 11), vom Esel ( X X X V 3 3), von der Maus (LXXIII 1), der coveitus ebensowohl vom Wolf (II 34), vom Hund (V 8), vom Habicht (LH 33) repräsentiert werden: im Bereich der Fabel erscheinen die Tiere als Beispielfiguren, die ihre Deutung aus der Situation erhalten, in der sie ihre vorgeschriebene Rolle spielen, und vermögen, auch wenn sie in andern Fabeln wieder auftauchen, nicht die Einhelligkeit eines generellen Charakters zu erlangen, der ein typisch wiederkehrendes Geschick voraussetzt. Der Hirsch im E S O P E zum Beispiel muß gegenüber Brichemer im RdR, der Rabe gegenüber Tiecelin als typische Figur immer vage bleiben, weil sich das, was er von Natur aus ist, nur mittelbar durch verschiedene Situationen hindurch und uneinheitlich zu erkennen gibt 1 ), nicht also schon durch die erste Situation so typisch gekennzeichnet ist, wie es immer ist und allen weiteren Situationen einheitlich - und diese determinierend - zugrunde liegt. *) Der Hirsch im ESOPE wird in der X X I V . Fabel (De cervo ad fontem) zunächst als Beispielfigur der Eitelkeit eingeführt. In Fabel L X V (De lupo et scarabeo), w o er im Gefolge des Wolfes als Ratgeber auftritt, ist sein typischer Charakter ohne Bedeutung. E r liegt auch Maries Version der Hirschherzfabel ( L X X ) nicht zugrunde, denn warum gerade das Hirschherz dem kranken Löwen als Heilmittel empfohlen wird, bleibt unmotiviert; die Ausrede des Fuchses: wenn er noch sein Herz gehabt hätte, wäre er nach der dritten Aufforderung gewiß nicht erschienen (v. 58-62), dürfte zudem auf eine andere typische Eigenschaft, den Mut (bzw. Herz als Sitz des Mutes) zurückweisen. Fabel X C I (De cerva hinnulum instruente) ist ein Beispiel dafür, daß die Tierfiguren in der Fabel auch noch nicht durch typische Bindungen der Freundschaft oder Feindschaft

2θ6

Dies soll am Beispiel des Raben verdeutlicht werden, das sich für eine Interpretation besonders eignet, weil zwischen Maries Fabel von Rabe und Fuchs und der Schwankversion im RdR (II 843-1026) eine Affinität besteht, die es als möglich erscheinen läßt, daß Pierre de Saint-Cloud aus dem E S O P E geschöpft hat Der Rabe und sein Pendant, die Krähe 2), finden sich im E S O P E außer in ,De corvo et vulpe' (XIII) noch in fünf anderen Fabeln. In ,De aquila et testudine' (XII) erscheint die Krähe als Beispielfigur des hinterlistigen Ratgebers (felun, ki par aguait e par engin mescunseille sun bon veisin, v. 30-32). Damit stimmt ihre Selbstkennzeichnung als sage e ve^iee in ,De cornice et ove' ( X L 14) und der Sinn der Fabel ,De corvo et pullo eius' (XCII) überein, in der der junge Rabe, nachdem er sich als sage et ve^iee (v. 21) erwiesen, für flügge erklärt wird. Der Rabe in ,De corvo et vulpe' (XIII) hingegen verkörpert in Abwandlung der vorgegebenen Rolle des törichten Eitlen für Marie den orguillus (v. 29), die Hybris des Ehrgeizes, die sie auch in der Fabel vom eitlen Raben, der seine Häßlichkeit mit Pfauenfedern verhehlen will (LXVII), hervorkehrt. Schließlich fehlt auch nicht der Fall, in dem ausgerechnet der Rabe, der auf dem Rücken eines Schafes sitzt, im Gegensatz zu dem tricheür Wolf als Beispiel für den leial, que hum ne tient ses fe% α mal (LIX 19-20) gelten soll. Selbst wenn es möglich ist, den Raben, dessen Wesen Marie de France hier in verschiedenen Hinsichten exemplarisch gedeutet hat, auf eine Mitte seiner nature, die all diesen Hinsichten zugrunde läge, zurückzuführen, wird doch bei Marie diese nature in ihrer Einzig-Artigkeit gerade nicht zur Erscheinung gebracht. Die vorgeprägte, in der Fabel vom abgelisteten Käse am reinsten dargestellte nature 3) des Raben bleibt im E S O P E der exemplarischen konsequent festgelegt sind, denn hier warnt die Hirschkuh ihr Junges erst vor dem Wolf (vgl. dagegen L X V , w o Hirsch und Wolf verbündet sind), dann vor dem Jäger. Die Moral dieser Fabel führt das törichte Verhalten des Hirschjungen auf Überheblichkeit (ulirage, v. 36) zurück; diese Eigenschaft könnte aus der traditionellen Natur des Hirsches, seiner Eitelkeit oder auch Schönheit, denn in Fabel X C V I (De lepore et cervo) bringt das Hirschgeweih dem Hasen seine Häßlichkeit zum Bewußtsein, abgeleitet sein und vielleicht auch eine Kehrseite des Mutes ( L X X ) darstellen. Doch solche Auslegungen sind von Marie schwerlich intendiert. Die bedeutsame Situation hat offensichtlich den Primat über die typische Natur der Tierfiguren und bringt diese in verschiedenen Aspekten zur Anschauung, die aufeinander abzustimmen Marie nicht für nötig hielt. 1

) FOULET p. 1 5 8 - 1 6 2 . ) Die typischen Charaktere von Rabe und Krähe decken sich in der Tradition zwar nicht immer, lassen sich aber nicht prinzipiell auseinanderhalten, wie die Fabel von den Pfauenfedern zeigt, mit denen sich im ROMULUS die Krähe ( X L V ) , im ESOPE der Rabe ( L X V I I ) schmücken will, wobei beide Male Eitelkeit der Beweggrund ist. 8 ) Genauer gesagt: am nächsten der Vorstellung vom Wesen des Raben entsprechend, die sich für den modernen Leser mit der Nennung seines Namens verbindet. Wollte man diese Vorstellung als Phänotyp bezeichnen, so würde gerade aus diesem Beispiel erhellen, daß der Phänotyp eines Tieres von seiner 2

ζοη Situation untergeordnet und kommt nur insoweit 2ur Geltung, als sie für den jeweiligen Fall von Bedeutung ist. Die situationsbedingten Aspekte der nature des Raben lassen sich darum auch nicht mit den verschiedenen natures der einen ,figura' vergleichen, die in den Darstellungen der Bestiarien typologisch ausgelegt werden, sondern verweisen auf ein anderes, auf den Sinn, der der Rolle des Raben innerhalb einer bestimmten Modellsituation zukommt. Selbst da, wo diese Rolle durch den traditionellen Charakter des Raben bestimmt ist, hat Marie de France das Beispielhafte der Situation stärker hervorgehoben als das Typische der Charaktere von Fuchs und Rabe, auf die Pierre de Saint-Cloud im Tierepos alle Sorgfalt wendet. (Wir können hier nur Maries Version, ESOPE X I I I , zitieren und müssen die Parallelversion im RdR, Br. II 8 4 5 - 1 0 2 5 , voraussetzen.) Issi avint e bien puet estre que par devant une fenestre, ki en une despense fu, vola uns cors, si a veü 5 furmages ki dedenz esteient e sur une cleie giseient. Un en a pris, od tut s'en va. Uns gupiz vint, si l'cncuntra. Del furmage ot grant desirier 10 qu'il en peüst sa part mangier; par engin voldra essaier se le corp purra engignier. ,A, Deus sire!' fet Ii gupiz, ,tant par est eist oisels gentiz! 15 E l munde nen a tel oisel! Une de mes ueiz ne vi si bei! Fust tel sis chanz cum est sis cors, il valdreit mielz que nuls fins ors.' Li cors s'ol si bien loer 20 qu'en tut le munde n'ot sun per. Purpensez s'est qu'il chantera: ja pur chanter los ne perdra. Le bec ovri, si comenja: Ii furmages Ii eschapa, 25 a la terre l'estut chair, e Ii gupiz le vet saisir. Puis n'ot il eure de sun chant, que del furmage ot sun talant. Tradierung als Figur der Fabel mitbedingt ist: das .Rabenhafte' des Raben, das .Wölfische' des Wolfes ist an sich verschiedener Auslegungen fähig, die sich in der literarischen Tradierung einer typischen Eigenschaft subsumieren können (die gespreizte Eitelkeit von Maitre Corbeau, sur m arbre perche hat am Ende der Tradition mit La Fontaines klassischer Ausprägung die mittelalterliche Beispielfigur des hinterlistigen Ratgebers, des sage et ve^ie, verdrängt).

2o8

30

C'est essamples des orguillus ki de grant pris sunt desirus: par losengier e par mentir les puet hum bien a gre servir; le lur despendent folement pur false losenge de gent.

Man pflegt den Stil der Fabeln im E S O P E gern als .episch' (im Sinne von .erzählerisch') zu kennzeichnen und Maries Liebe zum Detail zu betonen, für die der Eingang als Schulbeispiel gilt. Aus de fenestra im R O M U L U S N I L A N T I N U S ist eine breite Detailschilderung geworden, die bei der Knappheit, mit welcher der Kern der Fabel erzählt und vor allem ihr Ausgang zur Pointe verkürzt wird, disproportioniert erscheint. Foulet sieht darin eine Hinwendung zum ,Epischen': „Ce n'est plus lä l'apologue un peu sec du fabuliste latin et, pour la premiere fois dans son histoire, ce court recit est Oriente dans le sens epique." 1 ) Worin aber soll der .epische Sinn' dieser Episode bestehen, die für den Apolog entbehrlich scheint und überdies im ganzen E S O P E ohne Parallele ist? Der Rabe selbst wird dadurch nicht unmittelbar charakterisiert, wie es Marie an anderen Stellen mit einigen Strichen gelegentlich tut 2 ). Das wird sogleich evident, wenn man die entsprechenden Verse im RdR (II 858-894) dagegen hält, wo dan Tiecelin allein schon durch die Art seines sporenklirrenden Auftretens und hochtönenden Redens in seinem eitlen Wesen gekennzeichnet ist. Statt dessen enthält der Eingang zu Maries Fabel eine Funktion in der Kennzeichnung listigen Verhaltens überhaupt: der simple, kunstlose Diebstahl des Raben läßt die höchst kunstvolle List des Fuchses im E S O P E wirkungsvoller hervortreten, als es in der lateinischen Vorlage geschieht. Die Details der Ortsbeschreibung - devant une fenestre, en une despense, sur une cleie - dienen zugleich dazu, den bloßen Zufall des Findens und Nehmens herauszustellen. Der Rabe fliegt vor das Fenster und sieht dann erst (si α veä) den Käse, nimmt ein Stück und fliegt damit weg. Wohin er fliegt, ist nicht gesagt; cum quo altam conscendit arborem hat Marie bezeichnenderweise nicht wiedergegeben, obwohl der Baum für den Erzählzusammenhang an sich unentbehrlich zu sein scheint. Auf die anschauliche Kontinuität des Vorgangs, oder, wenn man so will, auf das .Erzählerische', legt Marie offensichtlich weniger Wert als auf die Züge, die für die exemplarische Situation bedeutsam sind. Der Eingang der aventure in der II. Branche des RdR, bei dem der Erzähler - wie schon gezeigt - den Zufall des Zusammentreffens von Fuchs und Rabe ironisch thematisiert (Ajorne furent a eel ore . . ., ν. 897 fr.), läßt für den Zuhörer erst allmählich erkennen, worauf Renart mit seiner um2

FOULET P . 1 6 0 .

) So wird etwa in der breiten, höfisch ausgestalteten Einleitung zu Fabel III (De mure et rana) der Charakter der Maus mit verschiedenen Einzelzügen: Reinlichkeit (v. 6-8), Fleiß (v. 3-4), Gastfreundschaft (v. 21-26) gezeichnet, die sich im RN nicht finden.

209 schweifigen Rede hinaus will. Nicht die List als solche, die im Grunde nur das zu Beginn der Branche schon gegenüber Chantecler angewendete Verfahren variiert, ist hier interessant, sondern der besondere Umweg, den Renart dieses Mal einschlägt, die besonderen Schwierigkeiten, die sich ihm entgegenstellen, und die besondere Argumentation, die allein bei Tiecelin verfangen kann. Damit wird der Vorgang von dem Moment an, in dem Renart jenes Dant Rohart (Tiecelins Vater) gedenkt, der so unvergleichlich singen konnte (v. 920 fr.), bis zu der letzten Steigerung, die Tiecelin seiner Stimme zumutet und damit nur den komischen Kontrast zwischen dem erwarteten orguener (v. 926) und dem krächzenden bret (v. 929, 935, 941) vergrößert, zugleich durch die allmähliche Enthüllung der Charaktere der Verschlagenheit des redekundigen Fuchses und der Blasiertheit des eitlen Raben - bedeutsam. Bei Marie hingegen stellt sich der Vorfall von vornherein wie die exemplarische Lösung eines zuvor gestellten Problems dar (par engin voldra essaier Se le corp purra engignier, v. 1 1 - 1 2 ) , bei der dem Fuchs zwar die Hauptrolle zukommt, aber doch nur eine Rolle, die für eine bestimmte Situation typisch ist und sein listiges Wesen nur voraussetzt, nicht aber im besonderen kennzeichnet. Zwar könnte die Art und Weise, wie die Schmeichelrede in die Situation eingebaut ist, nicht vollkommener sein. Marie läßt den Fuchs a part sprechen, so daß das Lob des Raben absichtslos und darum echter erscheinen muß 1 ). Doch bleibt der Inhalt der Rede zu allgemein, als daß sie in ihrer umschweiflosen Hyperbolik die ,füchsische' Rhetorik kennzeichnen oder die Eigenheit der ,rabenhaften' Physiognomie im besonderen treffen könnte 2 ). Marie kommt es allein auf die Sinnerfüllung des Vorgangs an. Wie sie erst in Form eines Pseudomonologs, durch den sie ihren Kommentar in indirekter Rede einer Überlegung des Fuchses unterschiebt3), den Vorgang der Überlistung in eine vorgezeichnete Richtung stellt, gibt sie auch später indirekt mit der Überlegung des Raben den exemplarischen Sinn seiner Rolle dem Vorgang voraus: Ja pur chanter los ne perdra (v. 22). Dieser Sinn ist bei ihr schon mit dem öffnen des Schnabels vollständig. Der Schrei des Raben, der in Branche II die Eitelkeit seines Wesens enthüllt, kommt *) Dieses Detail hat E . Winkler, a.a.O. p. 304, mit Recht herausgestellt. *) In der Version Maries fehlt bezeichnenderweise das ironische Lob der

schwatzen Federn (vgl. RN I, xiv: et pennarum tuarum nitor magnus est, gegen ESOPE Ν. Ι ηί.: Fust tels sis chanz cum est sis cors, il valdreit miel% que nulzfinsors), die die Gestalt des Raben im besonderen häßlich machen und darum von der eitlen Krähe durch Pfauenfedern ersetzt werden (cf. ROMULUS X L V ) . *) Del furmage ot grant desirier qu'il peüst sa part mangier; par engin voldra essaier se le corp purra engignier. (v. 9 - 1 2 ) Die Einschaltung der Erzählerin wird hier, wie später v. 2 1 - 2 2 , durch den Wechsel vom Präteritum zum Futurum kenntlich. 14 JauB, Tierepos

2 ΙΟ

bei Marie schon gar nicht mehr zur Darstellung, denn sie demonstriert an der Beispielfigur des Raben einzig das Exemplarische der Situation, die allgemeine Lehre, die man aus dem Fall des orguillus zu ziehen hat: le lur despendent folement Par false losenge de gent (v. 33-34) und für die der besondere Grund, der gerade den Raben in diese Lage bringen mußte (daß er häßlich von Gestalt ist und eine krächzende Stimme hat), von untergeordneter Bedeutung bleibt. Mit der Aufnahme der Fabel in das Tierepos verliert die Situation ihren Primat in der Darstellung des Vorgangs und wird durch sie hindurch gerade das spezifische Wesen der Tiere, die nature des Fuchses und des Raben, in ihrer Einzig-Artigkeit hervorgekehrt. Hat zunächst der wiederholte Versuch Tiecelins, erst seinen Vater und dann sich selbst im Gesang zu überbieten, mit dem Grund seines eitlen Wesens die unübersteigbare Grenze seiner Art enthüllt, so wird nun durch die Weiterführung, die Pierre de Saint-Cloud dem alten Apolog gegeben hat, auch noch das spezifische Wesen Renarts aus dem Grund seiner ,nature' heraus gezeigt, der seine List einzigartig macht: Li lecheres, qui trestoz art E t se defrit de lecerie, N'en atoca one une mie. Car encor, s'il puet avenir, Voldra il Tiecelin tenir. (v. 946-950)

Renart rührt das herabgefallene Stück Käse noch nicht an, obwohl er vor Verlangen danach brennt, und versucht, Tiecelin mit dem Argument, daß der Geruch des Käses seiner Verwundung nicht zuträglich sei, vom Baum herunterzulocken, um ihn selbst noch zu packen. Hier tritt zutage, daß Renarts .wahre Natur' nicht einfach mit List, sondern mit Hinterlist gleichzusetzen ist, die Falschheit einbegreift: Fans et trattres estpor voir (ν. 1003). Daraus erklärt sich zum Teil seine Sonderstellung innerhalb der ungebrochenen Tiercharaktere, jene ,Amoral', die Brun in seiner Anklage meint, ohne sie im Sinne eines widerrechtlichen Tatbestandes fassen zu können, und über die sich Tiecelin so entrüstet: Ja ne cuide que feist esme CH fei, eis ros et eist contres, v. 988-999. Die ,Episierung' der Fabel beginnt erst eigentlich damit, daß die Tiere aufhören, Beispielfiguren zu sein und sich in ihren typischen Charakteren darstellen, die Marie de France ganz der exemplarischen Deutung der Fabelsituation dienstbar gemacht hat. Der Schritt, der zwischen dem E S O P E und dem R O M A N D E R E N A R T liegt, läßt sich demnach dahingehend bestimmen : während die Fabel durch das Exemplarische einer Situation, eines Falls, einer Konstellation zu erkennen gibt, „welche Rolle wir Individuen in diesem Fall und in dieser Lage spielen, was für eine Figur wir in diesem Augenblick machen, was für eine Bahn wir betreten h a b e n " b r i n g t das Tierepos die menschliche Natur in der Sonderung ihrer Eigenschaften un*) D. Stemberger, Figuren der Fabel, Frankfurt 1950, p. 80.

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gebrochen zum Vorschein, wobei die vorgeschriebene Rolle, in der die Tierfigur an einer exemplarischen Situation teilhat, mit dem, was sie von Natur aus ist, identisch werden, bzw. die Fabel sich ihrer praktischen Nutzhaftigkeit begeben muß. Das ist aber keinesfalls so zu verstehen, als ob die Fabel nur eine „angefügte Sittenlehre" wieder abzustreichen brauchte, um sich zweckfrei und aller exemplarischen Bedeutung bar darzustellen, wie Voretzsch glaubt, der hier Grimms Ansicht von einer nur „zufälligen Verbindung der getroffenen nutzanwendung mit der fabel selbst" reproduziert 1 ). Die Moral der Fabel ergibt sich nicht erst aus der gefolgerten Nutzanwendung, sie liegt bereits in der Beispielhaftigkeit der Fabelsituation, die uns immer mehr zu erkennen gibt als das Wesen der in ihr befindlichen Figuren. Auch wenn diese ihre Moral im Grunde eine „negative" ist („entweder bloße regel des vortheils, oder Warnung dem beispiel der thiere nicht zu folgen") 2 ) und inhaltlich verschiedener Auslegung fähig scheint, ist sie der Fabel doch wesentlich und kann erst zum Verschwinden gebracht werden, wenn die dargestellte Situation allein noch darauf angelegt ist, im typischen Geschick der Tierfigur einen Zug der menschlichen Natur zu enthüllen. Wenn die derart enthüllten Eigenschaften der Tierfiguren es rechtfertigen, sie im Gedanken an Theophrast,Charaktere' zu nennen, ist indes zu bedenken, daß sich die Charaktere im mittelalterlichen Tierepos von den Typen, die in den Beschreibungen Theophrasts eine moralische Eigenschaft personifizieren, d. h. sie durch eine Summierung von bezeichnenden Züge anschaulich machen, in einer wesentlichen Hinsicht unterscheiden. Das Verhalten Chanteclers, der Meise, Tiecelins, Renarts oder Ysengrins geht so wenig in je einer moralischen Eigenschaft auf, wie sich ihre Charaktere nicht in ein System von Tugenden und Lastern einfügen lassen. Selbst wo sich die Charaktere Theophrasts und die der Tierfiguren in einer gemeinsamen Eigenschaft entsprechen, bringt das Tierepos in seinen Figuren immer noch mehr zum Vorschein als das, was für das Verhalten des Eitlen, des Schmeichlers oder des Heuchlers typisch ist. Die Einzelzüge, die Theophrast zum Beispiel im 21. Stück aneinanderreiht, um zu zeigen, von welcher Art der Eitle ist (zum Mahle geladen beansprucht er bei Tisch den Platz neben dem Hausherrn, seinen Sohn führt er zum Haarschneiden nach Delphi, als Diener nimmt er sich natürlich einen Neger, wenn er hundert Drachmen zu bezahlen hat, läßt er die Summe in neuer Münze anweisen), bestätigen im Grunde nur die vorangestellte allgemeine Definition der Eitelkeit an beliebig vermehrbaren Beispielen, so daß die Figur des Eitlen mit der einen, in ihrem Verhalten dargestellten Eigenschaft von Anfang bis zu Ende identisch bleibt. Im afrz. Tierepos hingegen kommt in der Gestalt Tiecelins die Eitelkeit erst durch eine Enthüllung zum Vorschein, die sein zutage liegendes Verhalten auf den wahren Grund seines We*) V O R E T Z S C H ,

Einl. zum

*) G R I M M P . X I V .

14*

RF

p. V I ;

GRIMM

p.

XIV.

212

sens, seine nature, zurückführt. Diese Reduktion, die in verschiedenen Spielarten für den R O M A N DE R E N A R T kennzeichnend ist, bringt die Charaktere der Tierfiguren in einen Spielraum, der den Charakteren Theophrasts fehlt. Tiecelin geht in seiner Eigenschaft, eitel zu sein, nicht einfach auf, sie wird in seiner Entrüstung, der List Renarts erlegen zu sein, zugleich als etwas kenntlich, das er nicht wahrhaben will, dessen Enthüllung ihn beschämt, wie zuvor Chantecler und später Brun, weil hier der schwache Punkt sichtbar werden muß, an dem er angreifbar ist. Die Eitelkeit stellt sich an Tiecelin nicht mehr nur in ihren Merkmalen dar, die sie von anderen Eigenschaften unterscheidet, sondern als ein ihm bewußt gewordenes Nichtanders-sein-können, als ein schmerzlich empfundenes Zurückfallen in seine nature, der er durch diese Eigenschaft verhaftet ist und bleiben muß. Die Charaktere im afrz. Tierepos stehen mit ihren Eigenschaften im Spielraum zwischen dem, was sie zu sein scheinen, bzw. als was sie gelten wollen, und dem, was sie ihrer Natur nach sind. Ihre aventure mit Renart enthüllt diese Differenz, wenn nicht immer in einer ausdrücklichen Reduktion auf ihre nature (wie bei Chantecler, Tiecelin, Brun), so doch in einer Hervorkehrung ihres spezifischen Soseins, das ihre Eigenschaft zur Eigenart werden läßt. Die Klugheit der Meise verbindet sich mit ihrem neckischen Wesen, das im Spiel mit Renart zutage tritt, und macht erst in dieser Verbindung ihre Eigenart aus 1 ). Die List des Katers Tibert hebt sich von dem Bild der Selbstgenügsamkeit ab, mit dem er eingeführt wird: . . . et voit en une rue Tiebert le chat, qui se deduit Sanz compaignie et sens conduit. De sa coe se vet joant E t entor lui granz saus faisant

(II 666-670)

und stellt sich erst dadurch in ihrer von der hinterlistigen Falschheit Renarts unterschiedenen Sonderart einer latenten Tücke dar, die sich am Ende, nachdem er lange gute Miene zum bösen Spiel gemacht hat, in der wortlosen Geste enthüllt, mit der er den Fuchs jäh in die Falle stößt. Die Hinterlist Renarts, die zuvor schon von der Meise entlarvt worden war, erhält hier einmal den verdienten Lohn, wird aber damit so wenig wie der blasierte Stolz Chanteclers und die törichte Eitelkeit Tiecelins moralisch verurteilt: .Renart, Renart, vos remaindrez, Mes jei m'en vois toz esfreez. Sire Renart, vielz est Ii chaz: *) Die Klugheit ist der Meise schon in der Fabel eigen, vgl. ESOPE X L V I (De volucribus et rege eorum), w o sie zur Abgesandten der Vögel wird, weil sie molt sage (v. 26), aparcevanζ e ve^iee (v. 27) und durch grant quointise (v. 25) ausgezeichnet ist. Z u dem großen Ansehen, das sie genießt, siehe WARNKE p. 197, w o er erwähnt, daß die alten Weistümer auf den Fang der Meise die höchste Buße setzen. Daß sie in Br. I I 469-563 ein zweites Mal zum Schein auf den Friedenskuß eingeht, differenziert ihr Wesen als eine besondere A r t von Schlauheit, die sich spielerisch gibt.

213 Petit vos vaut vostre porchaz. Ci vos herbergeroiz, ce cuit. Encontre vezie recuit.' (II 803-808)

In dieser Reaktion Tiberts liegt nur die reine Schadenfreude, in dem Sprichwort, das der aventure den abschließenden Sinn gibt: ,ein Schlauer findet einen noch Schlaueren, einen ganz abgefeimten, der ihn übertrumpft' 1 ) nur das ästhetische Wohlgefallen über den betrogenen Betrüger. Ein weiterer Unterschied zwischen den .Charakteren' Pierres de SaintCloud und denen Theophrasts liegt weniger in der Differenz von Tierund Menschengestalt, als darin, daß der Hintergrund der epischen Welt im RdR das Wesen Tiecelins, Renarts oder Bruns reicher und zugleich personhafter erscheinen läßt, als es Theophrast mit der Personifikation des Eitlen (XXI), des Schmeichlers (II) oder des Prahlers (XXIII) vermag. Denn die Tiercharaktere sind hier zugleich Glieder einer Hierarchie von Wesen, die auf der persönlichen Beziehung des Einzelnen zum Einzelnen beruht, jener Ordo-Vorstellung der feudalen Gesellschaft, die Marie de France zur selben Zeit wie Pierre de Saint-Cloud in die Welt der äsopischen Fabel übertragen hat. In der Vorstellung Maries, daß die nature der Tierfigur sowohl ihr typisches Wesen, als auch einen ihr zubestimmten Rang und Ort in der Ordnung der Geschöpfe einschließt, ist jene Sonderung der Einzelwesen auch mit enthalten, die bei Pierre mit der Koinzidenz zwischen dem Singulären und dem Allgemeinen, Einzelexemplar und Gattung, wie sie von den Figuren im Reich König Nobles verkörpert wird, ihren absoluten Ausdruck erhält. Darum ist die Verbindung, die die Tierfabel im 12. Jahrhundert mit der episch-ritterlichen Welt einging, auch nicht nur als zeitbedingte Umkleidung oder bloße Überlagerung, sondern als konstitutives Element des Tierepos anzusehen, das von seiner künftigen literarischen Form nicht mehr abzulösen ist. Das Tierepos hat bis zu Goethes R E I N E K E F U C H S mit der epischen Welt der Tiere das Bild einer aristokratisch-ritterlichen Gesellschaft bewahrt, und der einzige Versuch einer Verbürgerlichung ist offenbar nicht über die mittelenglische Version des einen Schwanke von Fuchs und Wolf im Brunnen hinausgediehen2). Daß der Roman als .bürgerliche Epopöe' eine Verbindung mit der Renartdichtung nicht mehr eingegangen ist, könnte man wohl darauf zurückführen, daß er als ,Form der Individualität' im ausdrücklichen Widerspruch zu jener episch-ritterlichen Typenwelt, die sich im Tierepos vollendet, ins Dasein trat und sich zu einer Zeit von den klassischen Normen des Epos abgelöst hat, als auch die Tierfabel als Gattung schon nicht mehr lebendig war 8 ). TILANDER (Remarques p. 47-48) führt mehrere Varianten zu diesem Sprichwort auf. «) S. o. Kap. III, p. 172 ff. ·) D. Sternberger, a.a.O. p. 80, will den Umstand, daß die Fabel bei Lessing „historisch in den letzten Zügen liegt", auf die gesellschaftliche Umschichtung des i8.Jahrhunderts und die neue, in der Gleichheitsidee der Französischen Revolution erfüllte Wirklichkeit der Individuen zurückführen.

214

Die vollendete Ausprägung dieser Typenwelt ist indes - darin liegt die entscheidende Differenz zwischen Tierfabel und Tierepos und zugleich der Grund, warum dem E S O P E der Marie de France eine nach rückwärts gewandte, auf Bewahrung gerichtete, dem ungefähr gleichzeitig entstandenen RdR aber eine nach vorwärts gewandte, zur Auflösung neigende Intention eigen ist - erst damit eingetreten, daß der Widerspruch zwischen der wesenhaften Natur der Tierfiguren und ihrer moralischen Bedeutung aufgehoben wurde. Während die aventure der Tierfiguren im E S O P E letztlich immer wieder die hierarchische Ordnung der Wesen bestätigt, indem sie an vielen Beispielfiguren zeigt, wie jeder, aus welchen Motiven auch immer unternommene Versuch, seiner zubestimmten Natur und Funktion zu entrinnen, unweigerlich in diese zurückführt (rencliner a sa nature), stellt die aventure der Tierfiguren im R O M A N D E R E N A R T mit der Enthüllung ihrer nature durch Renart zugleich die bestehende Ordnung und Ethik der feudalen Gesellschaft in Frage. Denn mit der Reduktion auf ihre nature wird zwar einerseits, in der Identität von kennzeichnendem Geschick und vorgeprägter Natur, die Singularität und Einhelligkeit ihres Wesens zum Vorschein gebracht, andererseits aber auch, in der Diversität der streng voneinander gesonderten, einzig-artigen Charaktere, das Verbindende ihrer gemeinsamen Ordnung aufgehoben: indem die aventure Renarts die ,wahre' Natur der Tierfiguren zum Vorschein bringt, führt sie sie auch schon aus der Welt ihrer Gemeinschaft in ihr Einzeldasein zurück und stellt die Verbindlichkeit der allgemeinen Ordnung in Frage. Von hier aus gesehen stellt sich der Schritt, der Pierre de Saint-Cloud über Nivardus hinausführte, noch in einem anderen Lichte dar. Die ritterliche Vorstellungswelt findet sich zwar auch schon im Y S E N G R I M U S , in der Hoftags- und Beuteteilungsfabel vornehmlich und daneben in einzelnen courtoisen Bestandteilen der Dialoge 1 ), doch ohne im Grunde mehr zu bedeuten als ein äußerliches, in der durchgängigen Travestie klösterlicher Lebensformen fast verschwindendes Kolorit. Für die Tierfiguren im Y S ist ihr Rang als ,primates regni' (III 46) nur eine Maskierung, den Gesprächsrollen zu vergleichen, die sie Nivardus in der wechselnden Situation des unversieglichen Redestroms einnehmen läßt. Wie im E S O P E besteht auch im Y S E N G R I M U S noch eine Divergenz zwischen den traditionellen Charakteren der Tierfiguren und der situationsgebundenen Bedeutung ihrer Rolle, die hier durch die satirischen Intentionen des Dialogs vorgezeichnet ist. Nicht allein figuriert z. B. in der Wallfahrt der Tiere der Wolf nacheinander in ironischer Übertreibung der von ihm angemaßten Würde als Einsiedler (IV 142), Bischof (IV 223), Abt (IV 367), Patriarch (IV 555) und bringt dann am Ende, in die auferlegte Rolle einfallend, die Drohung der Vergeltung als Bischof und Dekan vor (cf. IV 729 f.). Der Dichter, der es liebt, seine Personen selbst wieder mit einer ihnen im Gespräch ironisch zuerteilten Würde zu bezeichnen, nennt auch den Fuchs zwischendurch B e i s p i e l e bei VAN MIERLO p. 5 1 3 .

215 abwechselnd mit Namen, die seine Rolle in der Pilgergesellschaft andeuten: dictator (IV 95), orator (IV 365), providus rethor (IV 401) und wechselt auch in der Benennung der anderen Tierfiguren teils mit Scherznamen wie laniger (IV 474) für den Widder, bulgtfer (IV 475) für den Esel, teils mit Namen, die eine Funktion bezeichnen, wie excuba (IV 763). Die Typenwelt der Charaktere ist im Y S E N G R I M U S aber auch noch aus einem anderen Grunde erst im Ansatz vorhanden: Nivardus hat die Arten der Tiere noch nicht, wie Pierre de Saint-Cloud, je nur durch ein Exemplar repräsentiert und die Vielfalt der Charaktere dem universalen, in allen Schwanksituationen hervorgekehrten Gegensatz des Toren und des Weisen untergeordnet. Von den Tieren, die als Hauptfiguren auftreten, gibt es im Werk Pierres de Saint-Cloud und nach ihm in den älteren Branchen des RdR nur noch e i n namenführendes, die Art repräsentierendes Exemplar. Wenn dabei neben Chantecler Pinte, neben Ysengrin Hersent erscheint, die Art Huhn und Wolf derart in einen männlichen und weiblichen Repräsentanten auseinandertritt, tut dies dem Prinzip der Einzig-Artigkeit keinen Abbruch 1 ).Denn Pinte, . . . qui plus savoit, Celle qui les gros hues ponnoit, Qui pres du coc jucoit a destre

(II 89-91)

ist kein bloßes Double Chanteclers, wie schon das äußere Erscheinungsbild zeigt, das so verschieden ist, daß eine Verwechslung der Spiegelbilder (wie bei Wolf und Fuchs im Brunnen) nicht denkbar wäre. Pinte repräsentiert die namenlose, unartikulierte Masse der Hennen in einer eigenen Physiognomie. Ihr kluges (Traumdeuterin), vorsichtiges, furchtsames Wesen bildet einen genauen Gegensatz zu der Ohne-Furcht-Attitüde des törichten und stolz-überheblichen Chantecler. Hier bringt gerade die Sonderung in zwei Ausprägungen das Wesen der einen Art vollständig zum Vorschein. Ebensowenig stellt Hersent lediglich ein zweites Exemplar derselben Art neben Ysengrin dar. Doch handelt es sich hier nicht mehr so sehr um einen Gegensatz von Charakteren, in den das Wesen der einen Art auseinandertritt, als um den Gegensatz zwischen der Natur der beiden Geschlechter überhaupt, der in der Fabliau-Situation zwischen Wolf und Wölfin ausgespielt und sodann in der Hoftagsszene zum erstenmal vor dem Forum der episch-ritterlichen Welt verhandelt wird. Für das Prinzip der Einzig-Artigkeit, das Pierre de Saint-Cloud zum ersten Male im Tierepos voll zur Geltung bringt, ist kennzeichnend, daß dort, wo eine Tierart in ihrer Vielzahl für eine Schwanksituation benötigt wird, die Masse namenlos in Erscheinung tritt, und daß man den Tod des namenführenden Repräsentanten

1 ) Dazu kommt später noch in Br. I neben dem Löwen, König Noble, die Löwin, Ma dame Fere Γ orgellose (v. 1438), die der Verfasser offensichtlich nach dem Vorbild des höfischen Romans einführt, um ein Verhältnis zwischen Renart und der höchsten Dame anzuknüpfen, das die Verfasser späterer Branchen weiter ausspinnen werden.

2 16 durch den Ausweg, ein zweites Exemplar derselben Art eigens für diesen Zweck einzuführen, zu vermeiden weiß. Den Hühnern, auf die es Renart in Br. II abgesehen hat, ist kein Name und damit auch keine Physiognomie, wie der ,dame Pinte', eigen; wenn am Ende von Br. V a nach Roonel le chiett dant Frobert (Va 1187) eine lange Reihe von fast 80 Hunden unter den Verfolgern namentlich aufgeführt werden, handelt es sich dabei um das ,hors-d'oeuvre' einer Epenparodie, die durch ihre eigene Komik bedingt ist und sich mit der Typenwelt der anderen Tiercharaktere nicht berührt. Der andere Fall, die stellvertretende Repräsentierung der Art, findet sich im Werk Pierres de Saint-Cloud noch nicht, sondern erst in Br. I und VIII, in denen das Prinzip der Einzig-Artigkeit schon nicht mehr rein zur Geltung kommt; in späteren Branchen geht die Lockerung und das allmähliche Aufgeben dieses Prinzips als Symptom des Zerfalls mit der Umwandlung und Auflösung des Genres einher. Als Opfer Renarts, das Chantecler in feierlichem Aufzug auf einer Bahre vor König Noble bringen läßt, wird in Br. I nicht etwa Pinte, sondern Copee la sor Pintein (I 426) designiert; so kann Pinte, als die eigentliche Repräsentantin der Art weiterbestehen, wie später der durch einen von der Schwanksituation vorgezeichneten Tod gefährdete Ysengrin in Br. VIII, für den Primaut als stellvertretender conpere (VIII 294) eintreten und sein Leben verlieren muß *). Die Einzig-Artigkeit der Tierfigur - das unterscheidet sie zutiefst von Roland, Ganelon, Olivier, dem Helden der Chanson de geste in seiner geschichtlich bedingten Endlichkeit und verbindet sie mit dem Märchenhelden der Artusromane - impliziert ihre prinzipielle Unsterblichkeit. Anders im Y S E N G R I M U S . Auch wenn man den Tod des Protagonisten nicht als Beweis dafür ansehen will, daß Nivardus dieses Prinzip noch nicht geltend macht, weil das Ende des Wolfes in der Konsequenz seines FortunaThemas liegt, läßt sich doch allein schon aus der Namengebung erkennen, daß Nivardus der Einzig-Artigkeit der Tiercharaktere noch keine besondere Bedeutung beimißt. In seinem Werk gibt es nicht allein unter den Hauptfiguren gleich vier namenführende Widder (Joseph, Bernardus, Colvarianus, Belinus, cf. II 272) und neben dem Eber Grimmo (III 48) die ganze, im VII. Buch mit zwei männlichen (Cono und Baltero) und drei weiblichen (Salaura, Becca, Sonoche) Namen unterschiedene Sippschaft der Schweine. Er führt auch die zum Hoftag geladenen Tiere als Erste ihres Geschlechts (jQuisque sui generis princeps accitur ad aulam, III 47) ein, läßt im weiteren seine Figuren gelegentlich argumentieren, als ob sie nur eines

Primaut tritt außer in Br. VIII nur noch in Br. X I V als Repräsentant der Gattung Wolf auf, was im letzteren Fall nach FOULET (p. 316) damit zu erklären ist, daß Ysengrin nach dem Ehebruchsschwank als harmloser .compagnon' nicht mehr in Frage kam. Da die Schwanksituation in Br. VIII ein von vornherein feindseliges Verhältnis zwischen Fuchs und Wolf voraussetzt, dürfte ihr Verfasser den Namen Primaut eigens aus Br. X I V , auf die er v. 338 Bezug nimmt, entlehnt haben, um Ysengrin am Leben zu erhalten.

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unter vielen Exemplaren ihrer Art wären (vgl. III 161, IV 349, IV 427) und verwendet in der Rede, mit der die Pfarrmagd vor Ysengrimus den Raub ihrer Gänseriche und Hennen bejammert, sogar einmal (scherzhaft?) Eigennamen als Gattungsbegriffe, um eine Mehrzahl von Tieren zu bezeichnen: Quam michi Gerardus creber bonus, improbe raptor Fraude tua periit, quam bona Teta frequensl (II 1 1 - 1 2 )

Aus diesen Belegen soll hier nur soviel entnommen werden: die Hauptfiguren im YSENGRIMUS heben sich als .Erste ihres Geschlechts' von einer Welt von Tieren ab, die noch nicht so. ausschließlich wie später im ROMAN DE RENART von einzelnen und zugleich einzig-artigen Wesen bewohnt erscheint. Im Reiche König Nobles, das darin schon ganz zum Spiegel des Feudalstaates geworden ist, daß es nur noch das Vasallentum von Baronen kennt (die Tiere erscheinen als Einzelpersonen am Hofe und nicht mehr, wie im Y S E N G R I M U S 1 ) , als Oberhaupt eines Stammes), fehlt jedes Indiz einer Pluralität von wesensgleichen Figuren, die - wenn auch nur vage den Hintergrund für das Reich des König Rufanus bilden2). Diese Differenz wird aber erst eigendich dadurch spürbar, daß im RdR der Fuchs zu der Gesamtheit in Opposition tritt und daß er es ist, der im Verlauf seiner aventure die wahre Natur der Tierfiguren zum Vorschein bringt: die Typenwelt der Charaktere ersteht mit dem Augenblick, in dem die aventure Renarts die Wesensgleichheit der Vasallen König Nobles als nur vordergründig enthüllt, ihre verschiedenartige Natur gesondert hervorkehrt und damit die Solidarität der höfisch-ständischen Gesellschaft in Frage stellt. Im YSENGRIMUS, WO allein der Wolf der Vereinzelung verfällt und, ohne es eigentlich zu wollen, in Opposition zu der Gesamtheit gerät, ist es hingegen immer wieder nur der eine typische Gegensatz des Toren und des Weisen, der sich am Schicksal des Ysengrimus enthüllt. Dieser Gegensatz, den Nivardus in seiner dämonischen Mächtigkeit erfaßt und zu universaler Geltung erhoben hat, überdeckt hier so sehr die besonderen Charaktere der Tierfiguren, daß einerseits alle Schwächen und Laster der menschlichen Natur in der Gestalt des Ysengrimus zusammengenommen und als Aspekte der zum Fatum gewordenen Torheit ausgelegt werden, andererseits die

*) Regius hinc pr?co non omnia, regis ad arcem Primatum regni nomina pauca uocat, Quisque sui generis princeps accitur ad aulam. ( Y S III 4 5 - 4 7 ) *) Wenn der Verfasser des mhd. REINHART FUCHS einzelne Tiere mit dem unbestimmten Artikel einführt {ein lerne, der was Vre vi! genant, v. 1 2 4 1 ; ferner v . } , 2 2 1 , 1 1 1 4 , 1 1 2 3 ) , hängt das damit zusammen, daß er seinem Publikum einen noch nicht vertrauten Stoff bringt (siehe BÜTTNER II p. 44). Die Tiere sind darum im R F nicht weniger als im R d R die einzigen Vertreter ihrer Gattung. Daß der Glichezäre einmal das Gattungsprinzip durchbricht und König Vrevel den verdienten T o d sterben läßt, gibt dem allegorischen, allein im R F dargestellten T o d des Löwen erhöhte Bedeutung für Heinrichs Satire (s. u. Kap. V C).

2Iδ typischen Eigenschaften von Widder, Bock, Bär usf. in der rhetorischen Argumentation, die entfaltet wird, um Ysengrimus zu täuschen, nur noch als Aspekte jener Schlauheit erscheinen, die der Fuchs als Inbegriff aller Welterfahrung: Nimirum sapiens senioque illectus an artem Tempore, an §tatem uicerit arte, latet (IV 1 3 - 1 4 )

insgesamt und diabolisch verkörpert. Selbst Karkophas der Esel, der zunächst noch in seiner traditionellen Fabelrolle eingeführt wird und als Türhüter infolge seines tölpischen Unverstandes (stolida rusticitate, I V 118) den Eintritt des ungebetenen Gastes verschuldet, zeigt sich den dialektischen Künsten des Widders Joseph gewachsen und erweist sich im entscheidenden Augenblick, als es darum geht, Ysengrimus in die Tür einzuklemmen, als schlau genug (sapiens facit absque iubente quod prodest, IV 489 f.), den verkehrt gegebenen Befehl richtig auszuführen. Die Solidarität der Tiergesellschaft gründet im Y S E N G R I M U S lediglich in der gemeinsamen Gefährdung durch den Stärksten, d. h. durch Ysengrimus, solange der König krank ist. Das zeigt sich schon zuvor in der Hoftagsszene, als Ysengrimus den kranken und darum momentan schwächeren König zu einem Akt der Willkür verleiten will (er empfiehlt als Medizin, heute den Widder und morgen den Bock zu verzehren, III 143) und sich damit den Haß aller Versammelten zuzieht 1 ). Die genaue Umkehrung dieser Situation findet sich in der Beuteteilungsfabel, als der König das Recht des Stärkeren gegen Ysengrimus ausspielt und dieser sodann von Reinardus, der sich als schlauer Diener seines Herrn zum Anwalt seiner Willkür gemacht hatte, über das Joch königlicher Herrschaft und die rechtlose Solidarität der Untertanen belehrt wird (vgl. V I 327-348). Auch wenn man nicht so weit gehen will, aus diesen Stellen eine antimonarchistische Tendenz abzulesen, ist doch nicht mehr zu verkennen, daß das Gefüge der ständischen Gesellschaft im Reich des König Rufanus nicht mehr fest ist. Der Prozeß der Auflösung steht aber erst in seinen Anfängen und stellt sich ausdrücklich nur einmal, ganz am Rande des Geschehens, im Auseinanderfallen der Pilgergesellschaft dar, als die gemeinsame Bedrohung durch den Stärkeren weggefallen ist. Sie führt nicht weiter als bis zur Sprotinusepisode, in der Reinardus, der Nächststärkere nach Ysengrimus, eine Abfuhr erleidet - bis zu jenem Abenteuer also, mit dem Pierre de SaintCloud seine Fortsetzung beginnen läßt, die dem Thema der Desintegration der episch-ritterlichen Welt die entscheidende Wendung gibt. Im folgenden begründet Ysengrimus diesen Willkürakt durch eine unverhohlene Empfehlung der Tyrannis, vgl. bes. III 188-192: Nemo suis debet legibus esse minor. Nam non, ut metuantur, agunt pr^cepta, sed auctor, Non gladius - gladium qui tenet, ille ferit; Lex igitur domino, legi non subiacet ipse, Ergo quod ipse iubes, quid uariare times?

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D. Der Gegensatz zur Heldendichtung und die Parodie der höfischen Liebe in Branche Π - V a Die Desintegration der episch-ritterlichen Welt wird in der Literatur des 12. Jahrhunderts um 1176 als inhärente Thematik des ältesten volkssprachlichen Tierepos wohl zum erstenmal sichtbar. Wenn wir so die literarische und historische Sonderstellung des Werkes von Pierre de SaintCloud zu bestimmen versuchen, soll dies gerade nicht heißen, daß es als erste Manifestation des neuen bürgerlichen Geistes, wie er sich in der gleichzeitigen Emanzipation der kommunalen Rechte bekundet, anzusehen oder in einem allgemeinen Sinn als Ständesatire, geschweige denn als Gesellschaftskritik zu verstehen sei. Der beliebte Versuch, den Verfassern des R O M A N D E R E N A R T solcherlei Absichten zu unterstellen, muß letztlich immer wieder daran scheitern, daß die Welt, in der sich die aventure Renarts abspielt, genau so ausschließlich wie der höfische Roman aus der Sicht einer ständisch gebundenen, rein aristokratischen Gesellschaft dargestellt ist und die Existenz aller anderen sozialen Schichten zu einem Schemen macht oder überhaupt negiert. Im Vergleich zum höfischen Roman wird diese Beschränkung des Blickfelds auf den autonomen Bereich des einen ritterlichen Standes im RdR noch dadurch gesteigert, daß allein der Adel durch Tierfiguren repräsentiert wird, die allesamt im Reiche König Nobles den Rang von Baronen einnehmen. Von der einen Figur des Kamels abgesehen, das auf dem Hoftag als päpstlicher Legat auftritt, fehlt der hohe Klerus in Br. II-Va gänzlich; wo sonst der geistliche Stand in vereinzelten Nebenrollen erscheint, handelt es sich zumeist um die topische Figur des ungebildeten Dorfpriesters, der regelmäßig geprellt und hier nicht anders als im Fabliau mit seinem unfrommen Lebenswandel zur Zielscheibe des Spottes wird 1 ). Damit reduziert sich die ständische Ordnung innerhalb des RdR auf den Gegensatz von höfischer und nichthöfischer Existenz, Ritter und ,vilain', der sich in der Differenz von tierischer und menschlicher Figur noch schroffer ausAus Br. I I - V a ist hier nur der corners im Jagdabenteuer anzuführen, den Renart mit dem Hinweis auf die Pflichten seines evangelischen Lebens für dumm verkauft (II 602-643); die Figur des bäurischen Dorfpriesters findet sich in der Schilderung von Tiberts Botengang (I 813-916). Wo sonst von späteren Verfassern das Thema der geistlichen Satire angeschlagen wird (siehe FOULET 471-472) handelt es sich stets um ein ,Spiel im Spiel', in dem nicht der geistliche Stand als solcher, sondern kultische Dinge und Zeremonien scherzhaft dargestellt werden: einzelne Tierfiguren vertauschen das ritterliche mit dem geistlichen Gewand und geraten mit der angemaßten Rolle in einen komischen Kontrast zu ihrem topischen Charakter. Auch die Komik solcher Maskeraden rührt vornehmlich aus der vorausgesetzten Typenwelt der Charaktere: mit Renart pelerin (Br. VIII), Primaut als Priester (XIV), Tibert als Glöckner (XII), Bernart als arciprestre (XVII) usw. wird nicht so sehr eine geistliche Würde verspottet, als ein typischer Charakter in ein neues Licht gerückt.

220 nimmt als in dem Abstand, den der höfische Dichter zwischen die Idealfigur des Helden und sein groteskes Zerrbild im ,vilain' zu legen versucht. Denn während sich die Vollkommenheit alles Schönen in den Z ü g e n des Edlen und die Summierung alles Häßlichen in der Gegenfigur des Nichtedlen noch in einer gemeinsamen Mitte, der Übernatürlichkeit des Wunderbaren, berühren, so daß sich z. B. im Y V A I N Calogrenant und der .vilain mor', der im Geschehnisablauf der aventure eine unentbehrliche Funktion innehat, immerhin noch auf der Basis von Frage und A n t w o r t begegnen können 1 ), bleiben im ROMAN DE RENART die Welten von Tier und Mensch, Ritter und ,vilain', auch dann streng voneinander geschieden, wenn es zu einer Begegnung kommt, was immer einen Übergriff der ritterlichen Tierfiguren voraussetzt. D e r Lebensbereich des ,vilain' erscheint hier als ein bloßer Jagdgrund am Rande der eigentlichen aventure, die sich die Tiere untereinander liefern. Daß die Überlistung Chanteclers durch Renart auch ein Bestehlen des ,vilain' Constans des Noes mit einbegreift, bleibt fast bis zum E n d e aus dem Spiel; dem ,vilain' ist allein die zu späte Reaktion des immerzu Geprellten vorbehalten, und der Hahn rettet sich dank seines eigenen engin et art (II 419). D e r Abstand zwischen Ritter und ,vilain' entsteht im Tierepos allein schon dadurch, daß die Rolle des immerzu G e prellten dem ,vilain' zur zweiten Natur geworden ist: Constans des Noes kann sich so wenig wie der Jäger jemals Renarts bemächtigen, der Laienbruder durch seine Argumentation immer nur geblufft werden (II 641), der ,vilain' mit seiner A x t immer nur die Falle selbst treffen (II 8 1 5 ) , die ,vielle' gegenüber Tiecelin immer nur den Kürzeren ziehen (II 876), das A u f g e b o t der ,vilains' gegen Brun nur ihre wesenhafte Ohnmacht erweisen. Insofern der ,vilain' im Tierepos je schon in der vorgezeichneten Bahn des Geprellten steht und immer nur schemenhaft reagiert, bedarf es hier auch gar nicht mehr einer Entstellung seiner Gestalt zum Zerrbild, um die Andersartigkeit nicht-ritterlicher Existenz zu betonen. Sie wird schon darin anschaulich, daß sich sein Dasein so darstellt, als ob es mit der jeweiligen Verrichtung seines Alltags identisch wäre: dem ,vilain' ist nur eine Funktion, nicht aber ein ,caract£re' eigen, weshalb ein Constans des Noes in der Typenwelt der Charaktere nicht mehr als eine schemenhafte Randfigur darstellen kann. D e r ,vilain' ist darum für die Ökonomie des Ganzen aber nicht einfach entbehrlich, stellt er doch gegenüber den ritterlichen Tierfiguren, die im Tierepos als singulare tantum vorhanden sind, die schlechte Vielheit einer Kollektivität dar. Die in sich vollendete Singularität der einzelnen ritterlichen Tierfigur hebt sich v o m Hintergrund einer ununterscheidbaren Masse v o n ,vilains' am schärfsten ab, selbst dann noch, wenn etwa Brun der Bär zeitweilig von ihr in die E n g e getrieben wird (Br. V a 6 9 9 - 7 4 } ) *) Zum Problem des Wunderbaren im Artusroman siehe die Abhandlung des Verfassers: Die Defigurierung des Wunderbaren und der Sinn der Aventäre im Jaufre, R J V I ( 1 9 5 3 - 1 9 5 4 ) P· 6 0 - 7 5 .

221 und wenn diese Masse in späteren Branchen durch eine Namens aufreihung artikulierter erscheint. Denn in solchen Scherznamen tritt die wesenlose Kollektivität des .vilain', sein auf bloße Verrichtung oder animalische Funktion wie Essen, Trinken, Fortpflanzung reduziertes Dasein, nur noch deutlicher hervor: Qui lors veist vilains venir et fremler par mi la rue I Qui porte hache, qui m a ^ e , qui flael, qui baston d'espine: grant poor a Bruns de s'eschine. Devant lui vient Hurtevilain et Joudom Trouseputain et Baudoln Porteciviere, qui fout sa fame par derrieres, Girout Barbete qui l'acole et un des fiuz sire Nichole et Trosseanesse la puant, qui par la moche va fuiant, et Corberant de la Ruelle, le bon voideor d'escüelle, et Tiegerins Brisefouace et Ii fil Tieger de la Place 1 ). Die Hinzufügung eines belanglosen Ortes (Tieger de la Place), durch den der .vilain' ironisch in den Adel erhoben wird (cf. I 659: Οtrans Ii quens de VAnglee), kehrt auch wieder nur seine Unfähigkeit zur Individuation hervor. In diesem Bild der Gesellschaft, das auch darin noch ganz feudal aufgefaßt ist, daß der königliche Feudalherr ausschließlich in der Beziehung zu seinen Baronen hervortritt 2 ), findet sich demnach vom Aufschwung der Städte, von einem erwachenden bürgerlichen Standesbewußtsein (es ist noch nicht zwischen ,borgois c und ,vilain' unterschieden) oder auch nur von einer indirekt auf das Bürgertum weisenden literarischen Geschmacksrichtung nicht eine Spur 3 ). Ebensowenig ist an eine Ständesatire !) RdR I 652-686, ed. M. Roques. ') Der Fall, daß der .vilain' in das Reich König Nobles mit einbezogen und der königlichen Gerichtsbarkeit unterworfen ist, kommt nur einmal und erst in Branche X V I I vor (v. 203-261), die den Archetyp der älteren Produktion abschließt. ') Zu demselben Resultat kommt L. Olschki beim afrz. Fabliau (Die romanischen Literaturen des Mittelalters, Potsdam 1932, p. 130): „Die Deutung dieser Klasse von witzigen, derben, trivialen, zynischen und obszönen Erzählungen als Ausdruck bürgerlichen literarischen Geschmacks kann keineswegs aufrechterhalten bleiben. Sie treten in einer Zeit auf, in welcher es noch kein Anzeichen gefestigten bürgerlichen Bewußtseins, Lebensstiles und Geschmacks gibt." Auch Bossuat, der von den Verfassern der Renart-Branchen sagt: „Devoues ä une bourgeoisie dont l'influence crolt sans cesse, ils ont Ιίέ leur fortune ä la sienne", kann dies nur darauf stützen, daß einzig die „bourgeois bien rentes"

222 zu denken, die, wenn sie den Adel allein treffen sollte, einen Standpunkt des Verfassers voraussetzen würde, von dem aus die Absicht der Satire und die Idealität, an der sie ihr Maß nimmt, kenntlich werden müßte. Ein solcher Standpunkt wird im Werke Pierres de Saint-Cloud an keiner Stelle greifbar und ist auch in den Branchen seiner Nachfolger, von gelegentlichen satirischen Einlagen abgesehen 1 ), nicht auszumachen. Insofern scheint Grimms Ansicht begründet, wenn er die Gattungsbezeichnung Satire für die alte Tierfabel (gemeint ist damit auch der RdR) überhaupt ablehnt: „Man hat geirrt, wenn man in ihren gelungensten gestaltungen gerade nichts als versteckte oder gezähmte satire erblicken will, die satire ist von haus aus unruhig, voll geheimer anspielungen und verfährt durchgängig bewust. die fabel strömt in ruhiger, unbewuster breite; sie ist gleichmütig, wird von ihrer innern lust getragen, und kann es nicht darauf abgesehn haben, menschliche laster und gebrechen zu strafen oder lächerlich zu machen. Ihr inhalt ist weder eine Übersetzung menschlicher begebenheiten, noch läßt er sich historisch auflösen. (. . .) Noch weniger mag ihr parodie des menschlichen epos untergelegt werden: diese vorsätzliche, verzerrende nachahmung gehört weit späterer zeit an, als der worin die fabel entsprang, und man darf sie nicht mit der stillen comischen kraft, von der die fabel unbewust durchzogen wird, mit einer harmlosen ironie, die sie dann und wann kund gibt, verwechseln." 2) Spitzer, der Grimms Deutung wieder aufnahm, erinnert mit Bezug auf diese Stelle an Jean Pauls Festlegung von Satire und Ironie („Dort findet man dich sittlich angefesselt, hier poetisch freigelassen") und will die .harmlose Ironie' der ,Tiersage' auf eine nur hier erreichte Höhe der Kontemplation von menschlichen und allzu menschlichen Dingen zurückführen: „Wo in der späteren Farce und im Fabliau menschliche Realität ohne Transzendenz gezeigt wird, geraten die Konturen besonders hart und erbarmungslos, als ob der von Gott verlassene Mensch all seiner Würde beraubt und unter die Tierstufe herabgesunken wäre. Die Zwischenweltlichkeit der Tiersage ermöglichte eine Teilnahme am Menschlichen, uninteressiert als ob es sich um Tiere, und am Tierischen, als ob es sich um verwandte Wesen handelte - ein paradoxes Resultat, daß nur im Heraustritt aus menschlichem Kreis der Mensch in seiner Allzumenschlichkeit geschildert werden konnte." 3 ) Wenn man diesem .paradoxen Resultat' auf den Grund geht, führt dies sowohl zu einer notwendigen Korrektur der (von Spitzer geteilten) A u f aus der Satire des RdR ausgenommen seien (a.a.O. p. 119). Doch dieses Argument hebt sich später selbst wieder auf, wenn er feststellen muß: „Aucune scene du roman n'est situee dans une ville oü la presence des betes sauvages serait inexplicable" (p. 127). *) Vgl. etwa die Hofsatire, die der Verfasser von Br. I Renart in den Mund gelegt hat (v. 505-553, dazu F O U L E T p. 348f.); der Vers Garis est qui ses manches tient (508) bedeutet: ,The man is fortunate who holds his sleeves (for washing the hands)', siehe F. Lyons, Rom. L X X I (1950) p. 238-240. 2

) GRIMM p. X I .

' ) SPITZER P. 2 1 6 .

223

fassung Grimms, daß sich die .stille comische kraft' und die .harmlose Ironie' des Tierepos nicht mit einer Parodie des menschlichen Epos vereinen lasse, als auch zu einer impliziten Bestätigung der (von Spitzer bestrittenen) These Olschkis, daß das mittelalterliche Tierepos wie alle Tierdichtung im Grunde Reflexionspoesie sei 1 ). Denn jenes .als ob', das nach Spitzer die Zwischenweltlichkeit der Tiersage ermöglicht hat (Teilnahme am Menschlichen, uninteressiert a l s o b es sich um Tiere, und am Tierischen, a l s o b es sich um verwandte Wesen handelte), ist umgekehrt auch für ihre Rezeption konstitutiv, insofern die Tierfigur immer zugleich als ein Aspekt der menschlichen Natur verstanden sein will und der Leser oder Hörer ständig zur Reflexion vom Tierischen auf das Menschliche aufgefordert wird, woraus folgt, daß das mittelalterliche Tierepos schon nicht mehr dem entsprechen kann, was Grimm unter ,Naturpoesie' verstand und auch am Beispiel der mittelalterlichen ,Tiersage' zu erweisen sich bemüht hat 2 ). Auch für das volkstümliche Tierepos des Mittelalters ist ein Anteil der Reflexion nicht auszuschalten - das heißt nicht (und darum legt der Begriff Reflexionspoesie ein Mißverständnis nahe), daß ihm darum auch schon eine didaktische Absicht zuzuschreiben sei. Gerade dies macht ja eben die Eigentümlichkeit des Werkes von Pierre de Saint-Cloud aus, daß hier der Anteil der Reflexion auf das bloße ,als ob', die reine Analogie von tierischem Wesen und menschlicher Natur, beschränkt ist: hier können die Tiercharaktere frei von aller moralischen Auslegung, die sie in der Fabel zu Beispielfiguren macht, zum reinen Spiegel werden, in dem sich die Natur des Menschen ohne einen Hauch von Idealität in ihren Schwächen und Verhaftungen zu erkennen gibt. Chantecler, die Meise, Tibert, Tiecelin, Ysengrin einerseits, Hersent und Renart andererseits verkörpern so wenig Tugenden und Laster, wie Brun, Brichemer, Baucent oder Noble nicht als Personifikationen bestimmter moralischer Eigenschaften verstanden sein wollen. Die Typenwelt der Charaktere im R O M A N DE R E N A R T liegt noch jenseits aller Allegorie. Renart und Hersent können erst zur Verkörperung der Hypokrisie und der Konkupiszenz werden, wenn die reine Analogie von tierischem Wesen und menschlicher Natur wieder durch eine transzendente Bedeutung überlagert, die Artcharaktere von Fuchs und Wölfin zu Personifikationen von etwas Allgemeinem erhoben und in eine Rangord*) „Tierdichtung ist mithin immer Reflexionspoesie, mag sie bloß unterhalten oder absichtlich belehrend sein, mag sie den Ton des Schwankes oder des Märchens oder den der Satire und des Gleichnisses annehmen. Ihre Wirkung besteht in den Interferenzen der Eindrücke, die sie vermittelt, indem' sie tierisches Gehaben auf menschliches und menschliches auf tierisches überträgt" (a. a. O. p. 140). 2 ) Daß die mittelalterliche Renartdichtung nicht dem Begriff der ,Naturpoesie' entspricht, läßt sich auch an ihrer Zentralfigur zeigen: der Fuchs ist nicht naiv aufgefaßt, denn er ist listig, und das kann - wie Schiller in einer Ausführung über das Naive begründet - nur die Kunst und nicht die Natur sein (Uber naive und sentimentalische Dichtung, Sämtliche Werke, Säkular-Ausgabe, Bd. 12, p. 174).

224 nung von allegorischen Wesenheiten einbezogen werden. Dieser Versuch, das Tierepos zu allegorisieren, fällt zusammen mit dem Augenblick, in dem in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in den Städten des Nordens bürgerliche Verfasser sich des alten Stoffes bemächtigen und der erschöpften Gattung durch ein anderes .principium stilisationis' neues Leben zu geben versuchen. Renart wird in dem 1288 in Lille entstandenen Werk von Jacquemart Gielee als ,Renart le Nouvel' seine Rolle im Rahmen eines Kampfes zwischen Tugenden und Lastern zu spielen haben: der neue bürgerliche Geist der Städte macht sich in der Geschichte des afrz. Tierepos zugleich mit seiner Allegorisierung geltend. Gewiß braucht, wo der Mensch in den Tiercharakteren ,per analogiam' Züge seiner eigenen Natur wiedererkennt, diese Enthüllung nicht als satirische Entlarvung geschehen. Sie kann aber sehr wohl - dafür sorgt die ,stille comische Kraft' der Travestie, das ,als ob', über das sich die Betrachtung nicht ganz hinwegsetzen kann - Heiterkeit auslösen und sich darin mit dem gegenstandsbezogenen, aber darum noch nicht strafenden Spott der Parodie durchaus vereinen. Auch Grimm hatte am Ende seiner Ausführung über das Wesen der mittelalterlichen Renartdichtung noch angemerkt: „die thierfabel ist erheiternd; schon die altfranz. dichter bedienen sich zuweilen des ausdrucks ,un gäbet'.. ., ,une risee et un gäbet'..." Wenn er daraus nicht die naheliegende Folgerung zog, daß der ROMAN DE R E N A R T zwar nicht als s t r a f e n d e , aber doch wohl im Sinne der Schillerschen Unterscheidung als s c h e r z h a f t e Satire gelten kann, mag ihn daran gehindert haben, daß er den RdR wie alle mittelalterliche Tiersage als ,Naturpoesie' auffassen wollte. Die allgemeine Definition Schillers: „ I n der Satire wird die Wirklichkeit als Mangel dem Ideal als der höchsten Realität gegenübergestellt. E s ist übrigens gar nicht nötig, daß das letztere ausgesprochen werde, wenn der Dichter es nur im Gemüt zu erwecken weiß; dies muß er aber schlechterdings, oder er wird gar nicht poetisch wirken. Die Wirklichkeit ist also hier ein notwendiges Objekt der A b n e i g u n g ; aber, worauf hier alles ankömmt, diese A b n e i g u n g selbst muß wieder notwendig aus dem entgegenstehenden Ideale entspringen" -

und im besonderen seine Bestimmung der lachenden Satire, daß sie den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit nicht ernsthaft, sondern scherzhaft auszuführen habe a), läßt sich in der Tat auch nicht mit Grimms Begriff der ,Naturpoesie' vereinen. Daß dem RdR und vornehmlich dem Werk Pierres de Saint-Cloud aber ein Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit zugrunde liegt, ist aus dem bisher Gezeigten leicht zu ersehen: hier wird von Anbeginn das epische Handeln der Tierfiguren zu einem heiteren Spiel verkehrt und ihr (im Bilde der Hofgesellschaft König Nobles) ideales, ritterliches Dasein ironisch auf die wahre, kreatürliche Natur der Einzelnen zurückgeführt, ohne daß ihre Schwächen mit morali>) p. X I A n m . 2. ) Über naive und sentimentalische Dichtung, a . a . O . p. 1 9 4 .

2

225 schem Pathos gerichtet würden. Geht man von diesem inhärenten Widerspruch zwischen ritterlichem Ideal und kreatürlicher Natur aus, so läßt es sich nicht mehr abweisen, daß das älteste afrz. Tierepos, das zu einem Zeitpunkt hervorgebracht wurde, als das nationale und höfische Epos in seiner höchsten Blüte stand, zu diesem in einen äußeren und inneren Gegensatz treten mußte 1 ). So verstanden kann man das Werk Pierres de Saint-Cloud zu Recht eine Parodie im weiteren Sinn des Begriffs nennen, d. h. wenn man den Begriff der Parodie nicht auf eine besondere Art literarischer Nachahmung eingrenzt und dem RdR - wie es Spitzer im Blick auf die B A T R A C H O M Y O M A C H I E tut - nicht schon deshalb den Charakter einer Parodie abspricht, weil er „nicht wirklich eine komische Folie zu heroischer Literatur" bedeute 2 ). Der RdR ist zweifellos kein Werk, das man mit dem Blick auf ein literarisches Original lesen müßte. Seine Eigenart und das Einmalige seiner historischen Erscheinung ist aber gleichwohl erst voll zu begreifen, wenn man ihn aus dem Horizont jenes Publikums zu sehen versucht, dem höfischer Roman, fabliaus et chancon de geste (II 7) eine festumrissene Vorstellung sind und dem Pierre de Saint-Cloud sein neues Thema mit Formeln des Heldenepos ankündigt, um diese Erwartung sodann zu durchkreuzen. Daß das Werk Pierres de Saint-Cloud aufs Ganze gesehen als Gegensatz zu der Heldendichtung empfunden werden mußte, insofern hier durch das Gesamtabenteuer Renarts das „Natürliche und Läßliche im Menschen" (Spitzer) als Hintergrund und Bedingung epischen Handelns enthüllt wird und zu einer Desintegration der ständisch-ritterlichen Welt führt, dürfte *) Diesen Standpunkt hat v o r allem K . V o ß l e r {Französische Philologie,

Wissen-

schaftliche Forschungsberichte, ed. K . H ö n n , B d . I, G o t h a 1 9 1 9 , p. 54) vertreten: „ A m besten schicken sich daher die Tiergeschichten zur E i n k l e i d u n g einer w e sentlich naturalistischen, antiidealistischen und unheroischen G e s i n n u n g . S o n a c h tritt auch in Frankreich die T i e r d i c h t u n g im G e g e n s a t z zur H e l d e n d i c h t u n g auf, u n d zwar, wie mir scheint, der Reihe nach als Widerspiel z u m geistlichen, z u m nationalen, z u m ritterlichen H e l d e n t u m . " Spitzers K r i t i k an dieser A u f f a s s u n g setzt daran mit R e c h t aus, daß man nicht recht sehe, w a s mit dieser Reihenfolge gemeint sei (p. 2 1 3 A n m . 4 ) ; sein prinzipieller E i n w a n d bleibt aber einem allzu e n g gefaßten Begriff der literarischen Parodie verhaftet und w i r d dadurch entkräftet, daß er selbst an anderer Stelle eine literarhistorische E i n o r d n u n g versucht, die im G r u n d e auch wieder voraussetzt, daß der R d R als K o n t r a f a k t u r der idealisierenden Heldendichtung

verstanden w u r d e :

„Der

Mensch

in der

didaktisch-moralistisch-idealisierenden D i c h t u n g des Mittelalters hatte der der er sein soll, nicht der er ist zu sein. E s bedurfte einer G a t t u n g , die prinzipiell Tiere z u m Gegenstande hat, u m nicht etwa bloß das Tierische i m M e n s c h e n , sondern, ohne Verurteilung und Verschönung, das Natürliche und Läßliche in ihm darzustellen. I m V o l k s e p o s und höfischen R o m a n erscheinen schon B ö s e w i c h t e r und häßliche Menschen (wilde M ä n n e r etc.), aber eben in der chimärischen . K o n t e r Idealisierung' des verabscheuungswürdigen Anti-Ideals vilains der Pastourelle sind K a r i k a t u r e n " (p. 2 1 5 ) . ' ) p. 2 1 3 A n m . 4. 13

Jauß, Tierepos

und die Hirten und

226 aus dem bisherigen Gang der Untersuchung 2ur Genüge evident geworden sein. Diesen Gegensatz einer literarhistorischen Position zu kennzeichnen, ist der Gattungsbegriff .Epenparodie' oder ,epopee heroü-comique' allerdings so wenig tauglich, wie sich das Verhältnis des D O N Q U I J O T E zum Ritterroman nicht einfach auf den Nenner einer Parodie bringen läßt. Die Parodie im üblichen Sinn des Begriffs, als komische Folie zu einem vorausgesetzten Text, ist nur ein partielles Stilelement im afrz. Tierepos. Das Werk Pierres de Saint-Cloud bietet dafür mehrere Beispiele, davon zwei, wie Foulet zeigte, an kompositorisch besonders wirkungsvoller Stelle: ganz am Anfang der Traum Chanteclers und ganz am Ende die Verfolgung des flüchtenden Renart 1 ). Die Bedeutung der ersten Episode erschöpft sich indes nicht darin, daß hier ein berühmtes episches Motiv, der vordeutende Traum, parodiert wird. Die Parodie gilt hier nur prima facie einem für das Heldenepos charakteristischen Verfahren; Pierre de Saint-Cloud dient sie zugleich dazu - erst insofern wird hier der Grundton für sein ganzes Werk angeschlagen - , Chantecler als epischen Helden zu zeigen und zu entlarven. Die Epenparodie wird in eine Parodie des epischen Helden umgewendet und macht damit den inneren Gegensatz zu der heroischen Literatur sichtbar, der dem entstehenden Tierepos des 12. Jahrhunderts eigen ist. Der Traum selbst (ein Wesen, das Chantecler nicht erkennt, zwingt ihn, mit dem K o p f voraus in einen Pelz zu schlüpfen, dessen Borte knöchern und dessen Kragen sehr eng ist, II 135) ist seinem Inhalt nach keine Parodie des in der erbaulichen und erzählenden Literatur des Mittelalters zum Gemeinplatz gewordenen allegorischen Tiertraums, sondern stellt sich als ein Rätsel von eigener Bündigkeit dar, das aufzulösen Pinte keine Mühe bereitet: der rote Pelz deutet auf den Fuchs, die knöcherne Borte auf seine Zähne, der enge Kragen auf seinen Schlund, das Ganze auf das Gefressenwerden. Die Parodie kommt erst durch die Wirkung auf Chantecler zustande. Vorausgegangen ist eine Auseinandersetzung zwischen Mesire Chantecler Ii cos (II 81) und Pinte .. . qui pres du coc jucoit a destre (II 91), die die Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere hervorkehrt. Chantecler wird in der ganzen Selbstherrlichkeit seines blasierten Stolzes eingeführt, mit der er den aus Furcht vor Renart verstörten Hühnern entgegentritt: M o u l t fierement leur vient devant L a plume ou pie, le col tendant. Si demande par quel raison Elles s'en fuient vers maison.

(II 85-88)

Er bestreitet das Faktum, argumentiert rein deduktiv: es kann nicht sein, denn es darf nicht sein (Je ne sai putoi^ ne gourpil Que osast entrer ou courtil ν. ι χ ι f.) und schafft den Casus allein dadurch aus der Welt, daß er sich ' ) FOULET (P. 2 1 5 ) gibt für den ersteren keine bestimmte Vorlage, für die letztere die Flucht Wilhelms nach O r a n g e an.

ζζη für den Frieden verbürgt (v. 109) 1 ). Dann begibt er sich ostentativ auf seinen gefährdeten Posten auf dem Misthaufen zurück, wo er in der Attitude eines ,Ohnefurcht' verharrt: Cite se radresce en sa poudriere, Qu'il n'a paour de nulle riens Que Ii face gourpilz ne chiens Moult se contint seürement. Ne set gaires q'a Feil Ii pent

(II 114-120)

und am Ende mit der Gebärde des Gelangweilten einschlummert (cf. ν. 12 5 bis 128). Der Traum läßt sein ganzes Heldentum in nichts zerrinnen; er wird von Entsetzen gepackt und eilt spornstreichs, con eil qui point ne s'aseüre2·), zu seinen Hennen zurück. Im Dialog mit Pinte verkehrt sich nun die anfangliche Situation. Sie zahlt ihm die vorhergegangene hochnäsige Abfertigung mit ähnlichen Worten heim: Vos resembles le chen qui crie Ains que la pierre soit coüe, (v. 182 f.)

läßt sich dann aber doch herbei, den Traum zu deuten und stellt am Ende den fatalen Ausgang der Traumerfüllung als absolut gewiß hin, wenn er nicht ihrem Rat folgen wolle, sich zu ihr zurückzubegeben. Dieses unheroische Ansinnen weckt mit dem Stolz Chanteclers zugleich auch seine heroischen Lebensgeister wieder auf. Er erklärt Pintes Rede für töricht, beleidigend ( . . . molt par es fole. Molt as dit vileine parole, ν. 262 f.) und unmaßgeblich (Ne m'as dit rien ou ge me tiegne, v. 267), worauf sie ihm die Freundschaft kündigen will, wenn alles nicht so eintrifft, wie sie vorhersagte. Der Verfasser hat es nicht allein verstanden, das Porträt von Hahn und Henne mit einer Reihe von Zügen auszustatten, die die Physiognomie von Chantecler und Pinte schärfer hervortreten lassen, als es der epische Dichter mit den topischen Attributen der idealisierenden Personendarstellung vermocht hätte. Er hat in Mesire Chantecler Ii cos zugleich die Attitude des epischen Helden getroffen, sie im Dialog mit Dame Pinte zur Karikatur werden lassen, um sie am Ende in Chanteclers Reaktion auf das Augurium des Traums als bloße Anmaßung zu enthüllen. Die Komik der Situation entspringt zugleich einem Wechsel der Größenordnung - daß hier Hahn und Henne als Bewohner des Hühnerhofs mit der aristokratischen Würde höfischer Standespersonen begabt werden - und dem Mißverhältnis, das zwischen der epischen Maschinerie, die mit der Traumvordeutung in Gang gesetzt wird, und ihrem banalen Effekt entsteht: die hochgespannte In') Siehe F O U L E T p. 175: „ E t nous reconnaissons ici le seigneur fdodal, qui en qualite de sire de la terre peut imposer la treve entre deux adversaires soit k la requfite de l'une des parties, soit de sa propre initiative." *) II 166; der Erzähler nimmt hier den Wortlaut der Verse 114-120 wieder auf und verkehrt so die anfängliche Situation des .Ohnefurcht'. 15*

228

szenierung des epischen Helden löst sich in der Häuslichkeit eines Ehekrachs auf. In ähnlicher Weise hat Pierre de Saint-Cloud auch weiterhin bekannte Muster der heroischen Literatur zur Parodie des epischen Helden benützt (so wird z. B. die ganze Topik einer ritterlichen Einzelattacke aufgeboten, um Tiecelin am Ende ein Stück Käse erbeuten zu lassen, cf. II 858ff.) 1 ). Die Parodie des epischen Helden wird indes durch das zentrale Stück seines Werkes bei weitem übertroffen, das die Gegenposition des R O M A N D E R E N A R T zu der auf dem Gipfel ihrer Geltung stehenden höfischritterlichen Literatur ausdrücklich thematisiert: die aventure estrange (II 1217), die der Geschichte der Feindschaft von Fuchs und Wolf die im Vorwort angekündigte neue Wendung gibt, enthält zugleich eine Parodie des ,amour courtois', die in der Literatur des 12. Jahrhunderts ihresgleichen sucht. Die aventure estrange steht im Mittelpunkt der im Prolog angekündigten guerre... des deus barons, die Foulet allen Ernstes als Fehde aufgefaßt hat. Daß sie indes ironisch zu verstehen ist, geht schon daraus hervor, daß sie von Anbeginn nicht als kriegerische Fehde abrollt, wie es nach dem geltenden Brauch zu erwarten wäre und auch von der Rede aus nahegelegt scheint, mit der Renart den Kater Tibert vorgeblich für seinen Krieg gegen Ysengrin in Sold nehmen will: .Tibert', fait il, ,je ai enprise Guerre molt dure et molt amere Vers Ysengrin un mien compere. S'ai retenu meint soudoier E t vos en voil je molt proier Q u ' a moi remanes en soudees. Car ains que soient acordees L e s trives entre moi et lui L i cuit je fere grant ennui.'

(II 7 0 0 - 7 0 8 )

In der Darstellung Pierres gelangt die Fehde der beiden Widersacher indes nirgends in das Stadium eines ritterlichen, geschweige denn mit einem regelrechten Aufgebot geführten Kampfes. Der so hyperbolisch angekündigte, .unerhörte' Krieg der beiden Barone schrumpft aufs Ganze gesehen in eine Folge von drei burlesken Szenen zusammen. Der für Ysengrin so schmachvolle Vorfall in der Wolfshöhle löst die Herausforderung des Beleidigers durch den zum ,cocu' gewordenen Herrn des Hauses aus (II 1 2 1 7 ; vgl. II 14: la desßance); doch schon das nächste Ereignis, die Vergewaltigung der Wölfin vor dem Fuchsbau, spricht allen Spielregeln einer Fehde Hohn 2 ), und auf diese Szene, die den ,etat de guerre' offensichtlich ad *) V g l . ferner die Episode zwischen Renart und Tibert (II 7 3 4 - 7 7 8 ) , die den eslai du cheval, den Proberitt des epischen Helden parodiert (s. RYCHNER p. 128), sowie die schon erwähnte Verfolgung im Stil des hohen E p o s , Br. V a 1 1 8 5 - 1 2 7 2 . 2 ) Foulet, der in seinem Kommentar den Coutumes de Beauvaisis von Philippe de Beaumanoir folgt, muß hier selbst feststellen: „ D u reste, il faut le reconnaitre, Renart combat deloyalement. L a guerre privee excuse le meurtre, mais non pas le viol. Renard est de lors justiciable de la loi de la terre" (p. 174).

22 9 absurdum führt, folgt sogleich die Beilegung des Konfliktes in Gestalt der für Hersent unter höchst zweifelhaften Bedingungen stattfindenden Verhandlung des ,Plaid'. Der ,unerhörte' K r i e g der beiden Barone, für den sich der Verfasser offenbar nur unter einem kasuistischen Gesichtspunkt interessiert 1 ), enthüllt sich damit schon im Werk Pierres als das, was er auch weiterhin in den älteren Branchen des RdR bedeutet: eine Verkehrung des heroischen Geistes der ,epopee feodale'. A u f die zentrale Stellung, die die Szene in der Wolfshöhle und v o r dem Fuchsbau im Tierepos Pierres de Saint-Cloud erhält, hatte schon Foulet hingewiesen, als er die Zusammengehörigkeit v o n Branche II und V a aufdeckte. Seine Textanalyse hat die scheinbaren Widersprüche in Br. V a aus dem Weg geräumt 2 ) und den Zusammenhang der Verwicklungen, die der Ehebruch Hersents mit Renart erst in der privaten, dann in der öffentlichen Sphäre zur Folge hat, auch im Hinblick auf die feudale Gerichtsbarkeit so durchsichtig gemacht, daß dem selbst die unlängst veröffentlichte Spezialstudie eines Strafrechtlers nichts Wesentliches hinzufügen konnte 3 ). Wenn seine Darstellung gleichwohl den Gegenstand nicht erschöpft, so nicht, weil ihr Begründungszusammenhang lückenhaft geblieben wäre, sondern weil Foulets Befunde noch einer anderen Deutung fähig sind, wenn man v o n der Frage ausgeht, in welcher Weise Pierre das Thema der Liebe im Tierepos eingeführt und als einen Rechtsfall, über den die ,Cour des Pairs' uneins werden muß, v o r den H o f t a g K ö n i g Nobles gebracht hat. Die neue Wendung, die Pierre de Saint-Cloud dem Schwank v o m Besuch des Fuchses in der Wolfshöhle (vgl. II 1027-1210) gab, zeigt sich darin an, daß er die Wölfin, bei Magister Nivardus noch ganz in der Rolle der treuen Gattin, mit dem Gevatter Renart Ehebruch verüben läßt 4 ). *) Daß mit guerre vor allem der Kasus gemeint ist, der den Gegenstand des ,Plaid' bildet, bezeugt auch Br. I 277: Que ja preist la gerrefin. . ., w o sich .Krieg' auf die Verhandlung bezieht. ') Zu V O R E T Z S C H (ZRPh X V 3 6 5 f.), S U C H I E R ( P . 1 5 2 ) , L E O ( P . 126ff.), vgl. F O U L E T p. 1 9 9 - 2 0 3 . Zur Quellenfrage der Viol-Szene zuletzt G. Huet, Une episode de l'Ysengrimus,

Rom. XLVII

( 1 9 2 1 ) P. 383 ff.

*) J. Graven, Le proces crimiml du roman de Renart·. Etude du droit criminelfeodal au Xlle siede, Genf 1950. Die Arbeit ist stark davon beeinträchtigt, daß der Verfasser nicht den Originaltext, sondern eine Neuauflage der Nacherzählung von Paulin Paris (Les Aventures de Maitre Renart et d'Ysengrin son compere, Paris 1921) benutzt und ohne Rücksicht auf Foulets Befunde aus allen Branchen einen .ordre raisonne' des Prozesses zusammengestellt hat. So wird die Grenze zwischen der objektiven Spiegelung des feudalen Strafrechts und ihrer parodistischen Wiedergabe im RdR nicht deutlich und bleibt Graven in den Textanalysen oft hinter Foulet zurück, der seinerseits schon zeitgenössische Rechtsquellen (Philippe de Beaumanoir) herangezogen hatte. 4 ) Von diesem Thema findet sich in der Version des YS noch keine Spur; wenn die Wölfin dort die Worte gebraucht: Nunciaque affectus basia sume mihi (V 756), will sie damit den Fuchs nur trügerisch anlocken, u m sich f ü r die Unbill

2JO

Foulet merkt zwar dazu an, diese Änderung könne durch den TristanRoman angeregt sein („II y a du roi Marc dans Isengrin") *), geht dieser Parallele aber nicht weiter nach und läßt in seiner Interpretation außer acht, daß Pierre schon die Fabliau-Situation in der Wolfshöhle durch das Motiv der bestraften Eifersucht in eine ironische Beziehung zum ,amour courtois' gebracht hat. Hersent betrügt nicht einfach ihren Gatten, sie willigt in den versteckten Antrag Renarts in dem Augenblick ein, in dem er ihr sagt, daß Ysengrin ihn aus Eifersucht von ihr fernzuhalten suche: Je v o u s ains, ce dist, par amors. II en a fait maintes clamours Par ceste terre a ses amis, E t si leur a a v o i r promis P o u r moi faire laidure et honte. Mais dites m o i de ce que monte D e v o u s requerre de f o l i e ? Certes je nel feroie mie, N e tel parole n'est pas belle.'

(II 1 0 8 9 - 1 0 9 7 )

Wenn Madame Hersent la louve (v. 1045) sich also Renart pour ami nimmt (v. 1110), so darum, weil sich Ysengrin mit seinem (unhöfischen) Verdacht an ihr vergangen hat und die für den Eifersüchtigen angemessene Vergeltung verdient: . C o m m e n t ? ' , fet ele, ,dant Renart' E n est done parole tenue? Certes mar en f u i mescreüe. T e l cuide sa honte v e n g e r , Q u i pourchace s o n encombrier. N e m'est or pas honte nel die: O n e mais n ' i pensai vilanie, M a i s pour ce qu'il s'en est clamez, Veil je des or que v o u s m'amez.

(II 1 1 0 0 - 1 1 0 8 )

Das Thema der Liebe erscheint im Werk Pierres mit dem Motiv der Bestrafung des Eifersüchtigen sogleich in einer Doppeldeutigkeit, die sich durch das Nebeneinander einer schwankhaften und einer courtoisen Version in der weiteren Überlieferung dieses Motivs leicht verdeutlichen läßt. Es liegt einerseits dem Fabliau De la Borgoise d'Orliens zugrunde und ist dort durchweg schwankhaft (nach dem konventionellen Schema: ,Le mari trompe, battu et content') gestaltet2); doch deutet der Verfasser mit den Eingangsversen: Plest v o s oir d'une bourjoise U n e aventure ases courtoise ?

(ν. 1 f.)

an den J u n g e n z u rächen. D i e D a r s t e l l u n g in Br. I I könnte aus diesem Vers ausg e s p o n n e n sein, v g l . dazu VORETZSCH, Z R P h X V 370f., der hier w i e a u c h sonst die afrz. Version mißversteht, weil er die Parodie des ,amour courtois' nicht g e sehen hat. *) F O U L E T P . 1 8 0 . a)

Zitiert nach ed. Rohlfs, S R Ü B d . 1, Halle 1925.

2JI

und der Schlußmoral: Par mon chief, el se desfendi Comme dame cortoise et sage. Onques puis en tot son aage De nule rien ne la mescrut. Einsi la bourjoise decut Son mari qui la vot decoivre: II meimes brasca son boivre (v. 320-325)

noch ironisch auf die alte Courtoisie zurück. Dieselbe Schwankhandlung hat zu Beginn des 13. Jahrhunderts Raimon Vidal de Besalü in seiner Versnovelle CASTIA-GILOS in die höfische Sphäre versetzt und dementsprechend auch ganz höfisch motiviert 1 ). Der Jongleur leitet die aventura des Amfos de Barbastre sogleich mit den Versen ein: Ar auiatz, senher, cals desastre Ii avenc per sa gilozia: Molher bel'e plazen avia e sela que anc no falhi vas nulh home ni anc sofri precx de nulh hom'en s'encontrada mas sol d'un , (v. 44-50)

und beschließt sie mit der Aufforderung an seinen königlichen Gastgeber que gilozia defendatz a totz los homes molheratz que en vostra terra estan. (v. 415 ff.)

In der Version Pierres de Saint-Cloud spielt das ,Minne'-Abenteuer von Renart und Hersent (der gerade in diesem Zusammenhang wichtige Begriff aventure steht in der Überleitung zu der ersten Szene, vgl. II 1032) auf beiden Ebenen der Auslegung, und zwar einmal im Ablauf der beiden Szenen (Wolfshöhle und Fuchsbau), die den epischen Anlaß der Feindschaft von Fuchs und Wolf ergeben (vgl. II 1034), und zum andern in der höfischen Interpretation des Vorfalls auf dem Hoftag des Löwen (Br. Va). Das Motiv des Castia-gilos, der Bestrafung des eifersüchtigen Gatten durch Erhörung des Liebhabers, mit dem Pierre das Thema der Liebe in sein Tierepos einführt, setzt demnach die in der Provence ausgebildete, im höfischen Roman durch den T R I S T A N und Chrestiens LANCELOT vertretene Minnedoktrin voraus 8 ), bedeutet aber im Hinblick auf die Norm des ,amour courtois' bereits eine äußerste Überspitzung, die sich im höfi*) Zitiert nach C.Appel, Proven^alische Chrestomathie, Leipzig '1930, p. 27-32. •) Zur Entstehung des Ur-Tristan, der gemeinsamen Quelle der Versionen von Beroul und Eilhart (= Tristan dont la Chievre fist?), siehe Stefan Hofer, Streitfragen der afrz· Literatur, ZRPh LXV (1949) p. 257-288, der dort die estoire, wie Beroul seine Vorlage nennt, nach 1155 (= Waces Übertragung der Historia regum Britanniae) ansetzt, ihr Verhältnis zur höfischen Literatur bestimmt und begründet, inwiefern sie als epische Gestaltung der südfranzösischen Minnedoktrin das Milieu des Hofes der Königin Leonore voraussetzt.

232 sehen Roman auch da nicht findet, w o sie - wie in der F L A M E N C A - durch das Thema der Eifersucht nahegelegt wäre 1 ). Daß Pierre dieses Motiv eigens in den R O M A N D E R E N A R T eingeführt haben dürfte, u m den ,amour courtois' zu parodieren und damit auf seine Weise zu einer hochaktuellen Frage Stellung zu nehmen - um 1 1 7 6 hat auch Chrestien den C L I G E S , seinen Anti-Tristan, abgefaßt 2 ) läßt sich durch das Ergebnis der Untersuchung stützen, die W. A. Tregenza, dem Hinweis Foulets folgend, dem Verhältnis der ältesten Branchen des RdR zum T R I S T A N gewidmet hat 3 ). Die v o n ihm aufgezeigte Parallele im A u f b a u der beiden Werke verleiht der Annahme große Wahrscheinlichkeit, daß Pierre de Saint-Cloud besonderen Anlaß hatte, in seinem Prolog neben dem Troja-Roman den T R I S T A N eigens zu erwähnen: „In the first part the story tells of the unlawful love between a personage of high rang and the wife of another; an outrage is committed and its discovery gives rise to a private feud. In the sequal a public ,escondit' of the crime is arranged and the accused emerge successfully from the ordeal." Tregenza hat sich im übrigen darauf beschränkt, das Verhältnis v o n Br. II-Va zu der Tristan-Überlieferung zu klären, und ist der Frage nach Absicht und Bedeutung der Parodie Pierres nicht weiter nachgegangen 4 ). Setzt man seine Untersuchung in dieser Richtung fort, so zeigt sich, daß die Parodie im Werk Pierres nicht auf den T R I S T A N selbst, sondern auf die N o r m der höfischen Liebe überhaupt zielt und in einer Travestie ihrer Kasuistik durch den ,Plaid' in Br. V a gipfelt, die das ,Minne'-Abenteuer ') Das Thema der Eifersucht spielt bei Chrestien außer im C L I G E S noch keine auffallende Rolle, auch nicht im L A N C E L O T , WO es zu erwarten wäre, erscheint dagegen schon mehrfach in den L A I S der Marie de France ( Y O N E C , G U I G E M A R , MILUN). Der .Kasus' des Castia-gilos, den die höfischen Dichter offenbar als nicht mehr höfisch ansehen und darum vermeiden, findet sich aber vor Br. II-Va schon einmal im Mittelteil des E R A C L E von Gautier d'Arras ( 1 1 6 5 ) , wo am Ende auch die Schuldfrage gestellt wird und unentschieden bleibt. Nur überschreitet dort der Verfasser noch nicht die Grenze höfisch-idealisierender Darstellung und läßt den Kasus mit dem Verzicht des Eifersüchtigen enden. - Für verschiedene Hinweise bin ich hier Frl. Dr. Ilse Nolting-Hauff zu Dank verpflichtet. 2 ) Datierung nach A. Fourrier, siehe J. Frappier, Chrestien de Troyes, a.a.O. p. 106. - Juan Nogues (a. a. O. p. 2 5 8) möchte die Formel, Anti -Tristan' auch für Renart in Anspruch nehmen, bleibt aber eine eingehendere Begründung schuldig. 3 ) The relation of the oldest branch of the Roman de Renart to the Tristan Poems, M L R X I X (1924) p.

301-305.

*) Ihm zufolge hätte Pierre de Saint-Cloud aus dem nicht erhaltenen Tristan dont la Chievre fist geschöpft, den er in seinem Prolog zitiert; Berouls Version, die nach 1190 datiert wird und der Darstellung in Br. II-Va näher steht als die Version von Thomas (um 1170), dürfte selbst wieder von der Darstellung Pierres beeinflußt sein. Hier kann sich Tregenza auch auf v. 2 4 8 6 in Berouls T R I S T A N stützen (Tristan set mot de Malpertuis), in dem die Beziehung Tristan = Renart ausdrücklich formuliert ist.

2

33

von Fuchs und Wölfin aus Br. II mit seiner gerade in den höfischen Wendungen zweideutigen Sprache und fabliau-artigen Drastik voraussetzt. Der Dialog wird hier gleich von Anfang an hart an der Grenze geführt, an der er in unverhüllte Direktheit umzuschlagen droht. Hersents einleitender Vorwurf: A i n c ne me vousistes bien faire N e ne venistes la ou j'ere

(II 1 0 7 0 f . )

enthält eine Provokation, gegen die Renart, nicht weniger provozierend, Ysengrins vorgebliche Eifersucht auszuspielen und seinen Antrag in eine scheinbare Ablehnung unhöfischer Liebe (requerre defolie) zu verhüllen weiß: Mais dites m o i de ce que monte D e v o u s requerre de folie?

(II 1 0 9 4 f.)

Vorgebliche Eifersucht - denn es ist anzunehmen, daß Renart die Nachstellungen des eifersüchtigen Gatten ad hoc erfunden hat (zuvor war nie davon die Rede) 1 ), um Hersent gegen Ysengrin aufzustacheln, seine Erklärung erst indirekt, als Ansicht des Wolfes, vorzubringen (Je vous ains, ce dist, par amors, v. 1089) und damit aus dem Dilemma seiner Situation herauszugelangen. Dieses Dilemma, daß er sich unvermutet der stärkeren Hersent gegenüberfindet, die sein Erscheinen zum Lachen reizt (vgl. v. 105 8 f.), ihm aber Angst und Schrecken einjagt (v. 1074f.), darf nicht übersehen werden 2 ). Denn die anfängliche Überlegenheit Hersents verkehrt sich nach dem ,fait accompli' in ihr Gegenteil; nun hat Renart die Oberhand, die er auf der Stelle durch die Besudelung und Beschimpfung der Wolfsjungen demonstriert: Ses a clamez avoutres questres Priveement conme celui Q u i ne se doute de nului F o r s de dame Hersent s'amie, Qui ne l'en descoverra mie.

(v. 1 1 3 0 - 1 1 3 4 )

Wo der Erzähler auf der Ebene seines höfischen Vergleichs (conme celui . . .) noch den absoluten Vorrang von dame Hersent über ihren amis Renart ironisch beteuert, enthüllt die Situation schon ihr wahres Verhältnis als eine Machtprobe, bei der die Frau gerade auf der Ebene, auf der sie im Fabliau als unüberwindlich gilt, der des Betrugs, wieder betrogen wird. Die hier aufgerissene Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit ist auch schon im T R I S T A N gegeben, bleibt dort aber noch durch eine letzte höfische Sublimierung der Liebe verdeckt: auch noch als fol arnor, der sich allein auf den Wegen des Betrugs verwirklichen kann, wird dort die Liebe schicksalhaft erfahren und als ein auferlegtes Verhängnis erduldet 3 ), das der VerSiehe FOULET p. 1 7 9 . a

) S o FOULET p. 1 3 6 , der darum den Motivationszusammenhang dieser Szene

als nicht ganz gelungen ansieht. 3

) D e r Widerspruch, daß die Liebe v o n Tristan und Y s e u t bald als bone amor

lyrisch besungen:

2

34

bindung von Tristan und Iseut die Sympathie aller zuteil werden läßt, ohne darum Marc zur lächerlichen Figur zu machen 1 ). Darum ist im TRISTAN mit der Zweideutigkeit höfischen Sprechens letztlich auch noch keine Degradierung der Norm intendiert. Selbst der Doppelsinn des Reinigungseides richtet sich dort noch nicht gegen die Verbindlichkeit der durch den fol arnor in Frage gestellten Norm, sondern dient vielmehr dazu, mit der List der Dame, die das Geheimnis der Liebenden bleibt, den Schein des Ideals am Ende noch zu retten. Pierre de Saint-Cloud hingegen benutzt das Motiv des Reinigungseides, mit dem der Tristandichter am Ende den status quo wiederherstellt, gerade im umgekehrten Sinn: indem hier am Ende nicht die weibliche List, sondern die Skrupellosigkeit Renarts triumphiert, wird mit der Vormacht der Dame zugleich die Verbindlichkeit der höfischen Liebe suspekt. Auch dieser Ausgang beruht auf einer Verkehrung von Schein und Wahrheit, die schon in der Szene vor dem Fuchsbau (vgl. II 1211-1396) angelegt ist. Pierre de Saint-Cloud hat sich nicht damit begnügt, Ysengrin in die Fabliau-Rolle des betrogenen Gatten zu bringen, der gerade durch einen augenscheinlichen Beweis der Loyalität hinters Licht geführt ist. Er läßt ihn, nachdem er glaubte, mit Hersents Bereitschaft zum Reinigungseid ihrer Treue versichert zu sein, bei der gemeinsamen Verfolgung des Fuchses gerade noch zurechtkommen, um Augenzeuge der Szene zu werden, in der Renart die Wehrlosigkeit der im engen Fuchsloch steckenden Wölfin ausnützt α faire de lui son platsir (II 1264). Damit erhält die Situation die Pointe, daß Ysengrin Renart überführt und den Beweis in Händen zu halten glaubt, der seine Anklage unanfechtbar machen muß: N'i convient nulle couverture: Toute est aperte l'aventure, (II 1325 f.) ohne zu ahnen, daß der für ihn so eindeutige Beweis für Hersent zweischneidig ist. Denn die Anklage, Renart habe Hersent Gewalt angetan, kann nicht wirksam werden, weil Hersent vor Renart durch ihr Verhalten Aspre vie meinent et dure: Tant s'entraiment de bone amor L'un por l'autre ne sent dolor, (v. 1 3 6 4 - 1 3 6 6 ) bald pechie genannt und einzig als Wirkung des Zaubertranks hingestellt wird (cf. 1381 ff., I 4 i 2 f f . ) , weist letztlich auf die eine überpersönliche Macht Amors zurück, die die Liebenden wider ihren Willen als nostre destinee (v. 2302) erfahren und von der sie auch der Eremit nicht einfach lösen kann: ,Gent dechacie, a con grant paine Amors par force vos demeine! Conbien durra vostre folie?' (2295-2297) Dabei kann für destinee auch Fortuna eintreten: Nus retorner ne peut fortune (ν. 1697, zitiert nach ed. E. Muret, CFMA t. 12, Paris "1928). *) Nachdem Tristan und Yseut zusammen aufgefunden und überführt worden sind, ist die Klage aller groß (cf. v. 827-865), desgleichen als Yseut dem Aussätzigen ausgeliefert wird (v. 1 2 2 6 - 1 2 2 8 ) .

235 in der Wolfshöhle als Komplizin kompromittiert ist und lügen müßte, wenn sie den Reinigungseid auf ihre Unschuld ablegen wollte. Damit, daß Renart in seinen letzten Worten,, bevor er in seinem Fuchsbau verschwindet, auf diesen Tatbestand deutet: E t quant la dame iert de ci traite, Ja ne cuit clamour en soit faite Ne ja, s'elle n'en veult mentir, Ne l'en orrez un mot tentir, (II 1 3 5 3 - 1 3 5 6 )

wird die Begebenheit für Ysengrin im eigentlichen Sinn zu der aventure estrange, als die sie der Erzähler angekündigt hatte (II 1217). Daß die Worte Renarts auf die kompromittierende Szene in der Wolfshöhle zielen, kann nur Hersent wissen; Ysengrin muß sie auf den vorliegenden Fall beziehen, obwohl ihnen sein eigener Augenschein widerspricht. E r wird Hersent gerade an dem Punkt mit Schmähungen überhäufen, an dem sie keine Schuld trifft (Va 256ff.), sich dann wieder auf ihre Versicherung, daß sie ihre Unschuld vor dem Hof bezeugen wolle, verlassen und schließlich seine Anklage gegen Renart erheben, die vor dem Forum der Öffentlichkeit zu seinem Befremden nicht beweiskräftig zu machen ist: die aventure estrange verstrickt ihn zuletzt in eine unlösbare Ambivalenz, die die Norm des ,amour courtois' mit der Norm des geltenden Rechts in Widerspruch bringt. Die beiden Positionen werden einerseits durch den König Noble selbst, andererseits durch den rechtsgelehrten Legaten des Papstes, das Kamel, verkörpert. König Noble, der Löwe, beginnt sein Verhör mit einem Lächeln und bringt Hersent schon mit der ersten Frage in Verlegenheit: .Hersent' dist Ii rois, ,respondez Qui vos estes ici clamee Que dant Renars vos a amee: E t vos, amastes le vos onques?'

( V a 394-397)

Auch wenn sie die Frage verneint, ob sie Renart liebte, muß die Anklage auf Vergewaltigung suspekt werden. Einmal, weil die Umstände unglaubhaft erscheinen: warum kam sie allein zum Fuchsbau? wie konnte Ysengrin Augenzeuge sein, ohne es zu verhindern? (v. 398-412), und weil der Ankläger zugleich der einzige Zeuge ist. Zum anderen, weil Hersent, um ihre Standhaftigkeit zu betonen, zuvor erzählt hatte, daß Renart sie schon Puis cele ore que fui pucele liebte und sie vergeblich umwarb (v. 336-345). Damit stellt sie Renart ein Entlastungszeugnis aus, das der König sofort aufgreift: ,Ce' fait il, ,que Renars l'amot, Le quitte auques de son pechie. Se par amor vos a trechie, Certes prouz est et afaitiez'. ( V a 436-439)

König Noble, der nicht dulden will, daß an seinem Hof jemand Übles auszustehen hat, weil er der Liebe beschuldigt wird (v. 425-428), bringt die Norm des ,amour courtois' so zur Geltung, daß sie zugleich Renart

2j6 rechtfertigen und Hersents Anklage als unhöfisches Verhalten entlarven muß. Sie tritt damit in Gegensatz zu der Norm der Rechtsordnung, derzufolge Renarts aventure ein strafbares Delikt darstellt : der Fall wird zum Skandalon, an dem gerade der päpstliche Legat als Vertreter der Kirche, die das Sakrament der Ehe hochhält, Anstoß nehmen muß. Dieser macht darum auch sogleich die volle Strenge der gesetzlichen Strafe f ü r die Verletzung des Matrimoniums geltend und geht gar nicht auf die Besonderheit des Falles ein, die K ö n i g Noble im Auge hatte, als er ihn aufforderte, einen Präzedenzfall zur Erleichterung der Urteilsfindung zu zitieren ( V a 45 2-45 6). Der L ö w e gibt sich durch die Antwort des Kamels keineswegs geschlagen 2 ). Die Worte, mit denen er den Fall an die ,Cour des Pairs' übergibt, stellen ihn v o n seiner Position aus in einer abschließenden Formulierung dar, die ihn zu einem Paradoxon der Minnekasuistik erhebt und für die feudale Justiz von vornherein unlösbar macht: ,Ales', fait il, ,vos qui ci cstes L i plus vaillant, les granor bestes! Si jugiez de ceste clamor, Se eil qui est sopris d'amor D o i t estre de ce encopez D o n t ses conpainz est escopez'.

( V a 499-504)

Wie kann Renart nach dem Buchstaben des Gesetzes desselben Vergehens f ü r schuldig befunden werden, aus dem Hersent als seine K o m plizin schuldlos hervorgehen soll? In dem so ausgelegten Kasus liegt die sublime Ironie des Verfassers v o n Br. I I - V a : der in den Anklagezustand versetzte ,amour courtois' erweist sich als Prüfstein des geltenden Rechtes und macht seine Anwendung fragwürdig. Daraus ergibt sich der Verlauf des Verfahrens in der ,Cour des Pairs', die Ysengrin sein Recht nicht verschaffen kann, weil er keinen objektiven Zeugen aufzuweisen hat und weil dem Zeugnis seiner Frau in dieser Sache prinzipiell keine Beweiskraft zukommt (so faßt Brichemer das Ergebnis zusammen, vgl. v . 901-928). Indem aber die ,Cour des Pairs' den Kompromiß vorschlägt, beiden, dem Kläger ineins mit dem Beklagten, durch den Reinigungseid Recht zu verschaffen, wird davon abgesehen, daß das Recht des einen das des anderen ausschließt, und muß der Ausgang des .Escondit' von vornherein zweiJ . G r a v e n ( a . a . O . p. 39) verkennt diesen Gegensatz, wenn er hierzu lediglich feststellt, der K ö n i g scheine die Anklage auf Ehebruch nicht tragisch zu nehmen, obwohl dieses Delikt im feudalen Strafrecht als schweres Verbrechen betrachtet worden und nach dem Prinzip des Talion (membris puniatur) geahndet worden sei. Daß es Pierre de Saint-Cloud indes allein auf die Position des K ö n i g s als A n w a l t des ,amour courtois* ankommt, zeigt sich auch darin, daß von dem Übergriff gegen die königliche Autorität - Renart hat der Anklage Ysengrins zufolge mit dem Ehebruch einen ,ban royal' verletzt (v. 319fr.) — schon gar nicht mehr die Rede ist. 2

) Wie FOULET (p. 200) zu meinen scheint: „Plus d'echappatoire pour Noble

qui evidemment a un faible pour le g o u p i l . "

237

deutig werden. Ysengrin zieht es deshalb vor, sich auf eigene Faust zu verschaffen, was ihm die Justiz des Königs nicht zu geben vermag: so entartet der Reinigungseid, der in der Scheinlösung des TRISTAN den status quo ante wieder herstellte, im ROMAN DE RENART zur Machtprobe zweier Parteien, in der die Einhelligkeit der höfischen Gesellschaft zerfällt. Der , Schwur auf des Rüden Zähne' ist darum auch nur bedingt als Parodie eines mittelalterlichen Rechtsverfahrens anzusehen. Denn nicht die sakrosankte Vorstellung des Reinigungseides als solche wird hier zum Gegenstand des Spottes 1 ) (es kommt bezeichnenderweise schon gar nicht mehr zum Meineid Renarts), so wenig wie zuvor im ,Plaid' das Verfahren der ,Cour des Pairs' karikiert werden sollte. Auch sind die Figuren der Richter in Gestalt des klugen, distanzierten und konzilianten Hirschs Brichemer, des hochmütigen und heftigen, aber unbeugsam-rechtlichen Ebers Baucent und des biederen Bären Brun, der sich auf so ungeschickte Weise zum Anwalt Ysengrins macht, mit unverkennbarer Sympathie gezeichnet und stellen die Integrität der ,Cour des Pairs' gerade dadurch heraus, daß sie zu keinem abschließenden Urteil gelangen. Die Idee des Rechts bleibt als solche in Br. Va selbst von dem burlesken Ausgang des .Escondit' unangetastet und wird noch nicht, wie später in Br. I, durch die Art und Weise verspottet, wie sich der Fuchs mit List und Tücke auf dem unverdienten Gnadenweg aus der Schlinge zieht. Der ironische Sinn des ,Plaid' bekundet sich vielmehr darin, daß der angeklagte Renart, den Pierre gar nicht auf dem Hoftag erscheinen läßt, auch in absentia, als ob es seiner eigenen Verteidigung gar nicht bedürfe, unbeschadet freikommen muß, einzig weil über seinen Fall die Norm des ,amour courtois* mit der Norm des Gesetzes in Widerstreit gerät. Insofern hier aber das subjektive Recht der Liebe gegen das objektive Gesetz der Gesellschaft aufgeboten wird, um ausgerechnet Renart zu rechtfertigen, dessen wirkliches Verhältnis zu Hersent allen Regeln höfischer Liebe Hohn spricht, steht dieser Widerstreit der Prinzipien von Anbeginn in einem komischen Mißverhältnis zu seinem Anlaß, dem Vorfall in der Wolfshöhle, und wird damit zur Parodie des Anspruchs, den König Noble - wie der gleichzeitig höfische Roman - als Ideal verficht. 1

) Juan Nogues verkennt nicht nur hier, sondern auch bei den Szenen zwischen Renart und Hersent, wohin die parodistische Intention des Verfassers zielt (op. cit. p. 56, 80). Insofern ist auch der Teil seiner Studien, die man allenfalls noch als einen Beitrag zur Renartforschung gelten lassen kann, die Zusammenstellung satirischer Stellen und parodierter Muster der Heldendichtung (p. 252fr.), nur mit Vorsicht zu benutzen. Im übrigen handelt es sich um eine paraphrasierende Inhaltsangabe, die nach Foulets Chronologie angefertigt ist. Außer Foulet gibt N . im Grunde nur die Ansichten einer hektographierten Vorlesung von G . Cohen wieder; die neueren Arbeiten von Spitzer und Tregenza (der den Vergleich von Br. II mit Berouls Tristan schon vor ihm gemacht hatte), aber auch schon die Quellenstudien von Voretzsch (was seinen eigenen Erörterungen über folkloristische Varianten allerorts geschadet hat) sind nicht einmal erwähnt.

238

Die Frage nach dem Neueinsatz des ersten afrz. Tierepos, die der Prolog zum Werk Pierres de Saint-Cloud aufgibt, hat im Verlauf dieser Untersuchung eine Reihe von Aspekten ergeben, die seine literarhistorische Sonderstellung mehr und mehr als die einer ersten ausdrücklichen Gegenposition zur höfisch-ritterlichen Welt erkennen ließen. Dieser Gegensatz, der im lateinischen YSENGRIMUS noch fehlt und darum für die Intention seines afrz. Fortsetzers besonders charakteristisch ist, wird im,Plaid', dem Novum des ROMAN DE RENART, am schärfsten herausgearbeitet, weil hier die Parodie schon nicht mehr allein die Form der Gattung des höfischen Romans, sondern das literarisierte Ethos der höfischen Gesellschaft, d. h. die Norm des ,amour courtois' trifft. Für das ,Minne'-Abenteuer Renarts gibt es, wie der Verlauf des ,Plaid' nachdrücklich vor Augen führt, keinen Maßstab mehr, der Recht und Unrecht zu scheiden gestattete. Auf den Ehebruch Hersents ist die feudale Justiz so wenig anwendbar, wie andererseits die Norm des ,amour courtois' nicht mehr imstande ist, die Klage Ysengrins gegen den Ehebrecher abzuweisen. Durch diesen Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit wird nicht allein die Verbindlichkeit der höfischen Ethik in Frage gestellt. Die aventure estrange, in der Renart den prodome und connestable Ysengrin zum Hahnrei macht, ohne daß dieser vor der ,Cour des Pairs' sein Recht und seine Ehre wiedererlangen kann, kehrt zugleich auch die Brüchigkeit jener ständisch-gesellschaftlichen Ordnung hervor, die die ,Cour des Pairs' schon in der Phase ihrer schwindenden Autonomie repräsentiert. Die Worte, mit denen Ysengrin so pathetisch seine Anklage eröffnet, bewahrheiten sich durch den Ausgang des Prozesses und noch mehr durch den Ausgang des mit dem ,Escondit' beabsichtigten Vergleiches : ,Rois, justise va enpirant: Verites est tornee a fable, Nule parole n'est estable.

(V a 3 1 6 - 3 1 8 )

Die Wahrheit, die im Werk Pierres de Saint-Cloud zur Fabel wird, ist die satirisch verhüllte und im Kernstück ihres Ethos, der höfischen Liebe, parodierte Autonomie der höfisch-ritterlichen Welt 1 ). Wenn Pierres scherzhafte Satire auch an keiner Stelle seinen eigenen Standpunkt, bzw. das Richtmaß einer neuen Idealität verrät und die Desintegration der feudalZ u Abschnitt D dieses Kapitels ist hier noch nachzutragen, daß eine weitere Parallele zwischen TRISTAN und RdR in der zweideutigen Formulierung des Reinigungseides von Iseut und von Hersent (Br. I 147 ff., 172 ff.) besteht, auf die P.Jonin hingewiesen hat (Les animaux et leur vie psychologique dans le RdR [Branche I ] ,

in: Annales de la Fac. des Lettres d'Aix, t. XXV, 1951, p. 77 f.). Da der Vf. moderne psychologische Kategorien (Scheidung von moralischen und intellektuellen Eigenschaften) an das mittelalterliche Tierepos heranträgt, bleibt auch in seiner Abhandlung die Analogie von tierischem Wesen und menschlicher Natur ungeklärt; auch hat er zu seinem Schaden die Chronologie der Branchen und die daraus entspringenden Veränderungen im Bilde König Nobles und anderer Tierfiguren nicht berücksichtigt.

239 höfischen Gesellschaft allein durch den Weg sichtbar wird, auf dem Renart ihre episch vollendete Welt durchmißt, hat doch sein ritterliches Publikum darin liegt eine Bestätigung für unsere Interpretation - die Gegenposition des Renartabenteuers zu aller bisherigen heroischen Literatur offenbar deutlich empfunden. Das bezeugt der Widerhall, den der R O M A N D E R E N A R T nach dem Bericht von Philippe de Novare noch 50 Jahre nach den ersten, das Thema vom , Krieg der beiden Barone' anschlagenden Branchen bei den französischen Rittern im Orient gefunden haben muß. Die satirischen Lieder, die Philippe um 1 2 2 9 abgefaßt und später in seine G E S T E DES C H I P R O I S eingeschaltet hat, benutzen die Figuren und die Fabel des RdR, um die militärische und politische Situation der beiden Parteien, der Jeans I. d'Ibelin und der Friedrichs II., vor aller Augen zu stellen 1 ). Dabei identifiziert Philippe de Novare seine Partei mehrmals, insbesondere in einer neuen ,Branche', die er nach der Aufhebung der Belagerung von Dieudamour verfaßte, nicht etwa mit dem im RdR unüberwindlichen Fuchs und den Seinigen, sondern mit der Partei des im ,romanz' stets unterlegenen, in seiner neuen Branche aber siegreichen Ysengrin und ordnet den bedeutendsten Persönlichkeiten von Freund und Feind die entsprechenden Namen der Tierhelden - Ysengrin, Brun, Tibert, Chantecler (so nennt er sich selbst), bzw. Renart (so nennt er Heimery Barlais, den verachteten Feind), Grimbert, Cointereaus - zu. Das ritterliche Publikum erkennt sich selbst in der Figur des edlen ,prodome' Ysengrin und sieht in Renart noch nicht den Schelmen, dessen ,sagesse' ein neues Zeitalter ankündigt, sondern einzig den Inbegriff allen Betruges und Verrats: Car Renart sait plus de traison faire Que Guenelon, dont France fu traie . . . Bien est honis qui sert tel traitor 2 ).

*) Das Folgende nach FOULET p. 5 1 1 - 5 1 8 , der die Stellen in der Geste des Chiprois schon eingehend gewürdigt hat. *) E s handelt sich hier um die Eingangsverse eines Liedes, das Philippe de Novare bei der Belagerung von Dieudamour an die Parteigänger von Heimery Barlais gerichtet hat (zitiert von FOULET p. 493).

Fünftes Kapitel

DIE ZYKLISCHE ENTWICKLUNG D E R VOLKSSPRACHLICHEN FUCHSEPEN UND DIE HERAUSBILDUNG DER SCHELMENFIGUR Der nächste Schritt unserer Untersuchung, bei dem sich das Blickfeld von dem ältesten afrz. Tierepos, den um 1176 entstandenen Branchen II-Va, auf das ganze Corpus der 28 Renart-Branchen sowie ihrer mhd. und ndl. Bearbeitungen erweitert, die sich ihrer Entstehung nach über einen Zeitraum von 75 Jahren verteilen, macht eine methodische Besinnung erforderlich. Zwar wird niemand bestreiten, daß es sich hierbei um einen einheitlichen Gegenstand handelt, denn die Mehrzahl der Branchen ist in umfänglichen Sammelhandschriften auf uns gekommen, aus deren Anordnung hervorgeht, daß die Summe aller Branchen von einem bestimmten Zeitpunkt an als einheitliches Ganzes betrachtet wurde. Doch welcher Art ist diese Einheit des Ganzen, deren Problematik sich schon in der Gestalt des Titels anzeigt, den ein Schreiber in Handschrift Ο offenbar zur Verdeutlichung unter le roman de Renart noch ein zweites Mal formuliert hat: les Romant du Renart?*) Mit welchem Recht bezeichnen wir den RdR als einen Zyklus, inwieweit tragen wir, wenn wir ihn so verstehen, eine kompositorische Spätform der Heldendichtung in ihn hinein, die der Art seiner Entstehung und der Intention seiner Verfasser möglicherweise gar nicht gerecht wird? Die Frage nach der zyklischen Einheit des RdR ist durch die romantische Auffassung vom anonymen Wachsen, Blühen und Absterben der Tiersage, die eine vorgängige organische Einheit des Zyklus voraussetzt, nicht weniger belastet als durch die antiromantische Reaktion Foulets, der ihr das Schema einer rein literarischen, durch die Schöpfung Pierres de Saint-Cloud in Gang gebrachten Entwicklung entgegenstellte, in der die Einheit des Ganzen nicht viel mehr ist als eine chronologische Abfolge von selbständig abgefaßten Erzählungen: „II n'y a pas un roman de Renard, il y en a vingt-huit. Chacun de ces vingt-huit romans a ete compose en une epoque determinee par un trouvere parfaitement individuel." 2 ) So wenig wir indes heute noch daran glauben können, daß die uns erhaltenen Branchen nur die entstellenden Bearbeitungen eines verlorengegangenen und vollkommeneren, weil ursprünglicheren Zyklus sind, und es mit Foulet

RdR ed. Martin t. III, p. VIII. ) FOULET p. 565. Eine Übersicht über seine Chronologie der Branchen findet sich ibid. p. 1 1 8 . Dem mhd. R F entsprechen die RdR-Branchen II, V , III, I V , Va, I, X und vielleicht V I I I (vgl. VORETZSCH, Einl. zum R F p. X X V f.). A

241

ablehnen, aus dieser Vorstellung ein Kriterium der Echtheit abzuleiten *), so wenig kann es uns andererseits befriedigen, wenn Foulet die weitere Entwicklung der Renart-Branchen nach I I - V a nur durch den äußeren Zusammenhang einer wiederhergestellten chronologischen Abfolge erklärt, so daß der Eindruck entstehen muß, die zyklische Einheit des R O M A N D E R E N A R T sei allein dem nachträglichen Versuch eines Sammlers entsprungen, die bis 1205 vorliegenden 18 Branchen in einer losen Anordnung zusammenzubringen (es handelt sich dabei um den sogenannten Archetyp, auf den die drei Hs.familien er, ß, γ zurückweisen)2). Damit, daß Foulet in seiner Entmythologisierung der ,Tiersage' so weit ging, die zyklische Einheit des RdR nur noch als einen „cadre abstrait" für die .Produktion' der Nachfolger Pierres de Saint-Cloud anzusehen3), entzog er selbst seiner These, Branche II-Va habe die ganze weitere Entwicklung des RdR determiniert, den Boden. Daraus erklärt sich der Einwand Suchiers: „Wäre Foulets Ansicht richtig, daß es sich (bei den Renart-Branchen) um das Produkt einer rein literarischen Entwicklung handelte, die von einer ganz bestimmten einzelnen Branche ausgegangen wäre, so sollte man erwarten, daß diese älteste Grundlage auf die jüngeren Gedichte in stofflicher und formaler Hinsicht bestimmend eingewirkt hätte." Gerade dies lasse aber der RdR „in viel höherem Maße vermissen, als nach der großen Zahl der Verfasser allein zu erwarten gewesen wäre" 4 ). Dieser Einwand steht und fällt indes mit einer Vorentscheidung, die Suchier mit Voretzsch teilt. Bei der Erwartung, Br. II-Va hätte die jüngeren Gedichte formal und stofflich stärker beeinflussen müssen, spielt die Grimm'sche Analogie zwischen Tier- und Heldensage die entscheidende Rolle: die zyklische Einheit des RdR hält keinen Vergleich mit der der großen epischen Zyklen von Guillaume d'Orange, Aimeri, Vivian oder den Lothringern aus 5). Damit erübrigt sich für Voretzsch jede weitere Frage nach dem zyklischen Zusammenhang der Renart-Branchen. Abgesehen von der Hoftagsgeschichte, der er eine „gewisse zyklische Neigung" zusprechen will, „da hier die anklagen der tiere gegen Renart beziehungen auf eine anzahl älterer Branchen bringen", zer-

') Vgl. FOULET p. 1 6 - 1 7 , W O ER A N der besonderen Metaphorik, in der Gaston Paris von dem eigentümlichen und nie ergründbaren Leben des .Zyklus' spricht, Kritik übt. ! ) Siehe FOULET p. 27-30. Der Archetyp umfaßt die Branchen: I, II 1 - 8 4 2 , X V , II 843 ss„ II, I V , V , V a , X I V , VI, X I I (oder X I I , VI), V I I , V I I I , I X , X , X I , X V I , X V I I . Foulet folgt hier BÜTTNER, fügt aber dessen Aufstellung noch X I V und X V I I hinzu. 3

) FOULET P . 5 6 5 .

4

) SUCHIER P. 2 3 3 .

5

) VORETZSCH, Einl. zum R F p. X X : „Wie man in den handschriften die epen von Guillaume d'Orange oder von den Lothringern zusammenstellte, hat man in den handschriften auch die verschiedenen dichtungen von fuchs und wolf miteinander vereinigt, ohne den versuch zu machen, ein zusammenhängendes ganzes daraus zu gestalten. 16

Jauß, Tierepos

242 fallt auch bei ihm der RdR in eine inkohärente Vielzahl von Einzelbranchen, die jeder Dichter aus seiner Quelle geschöpft und meist ohne Rücksicht auf schon vorliegende Branchen gestaltet habe 1 ). Wenn wir demgegenüber die Frage nach der zyklischen Einheit des RdR wieder aufwerfen, kann es sich nicht mehr darum handeln, das vorgegebene Gesetz einer organischen Entwicklung zu postulieren, die sich in den erhaltenen Branchen nur noch unvollkommen spiegelte und gleichsam hinter ihnen zu suchen wäre, noch darum, in der Ordnung, mit der die Schreiber der Sammelhandschriften versuchten, aus den vorliegenden Branchen nachträglich ein zusammenhängendes Ganzes zu machen, das zyklische Prinzip des RdR zu vermuten. Die Versuche dieser Sammler sind hinsichtlich der Ordnung, in die sie die Branchen bringen wollen, bereits ein Derivat jener zyklischen Zusammengehörigkeit, die sich bei allen Nachfolgern Pierres schon in der Absicht anzeigt, die Geschichte von Renart und Ysengrin fortzusetzen, bzw. dem Renartabenteuer eine Konklusion zu geben. Die gemeinsame Intention in den verschiedenen Formen der Branchen aufzuzeigen, ihrem geschichtlichen Wandel nachzugehen und zu untersuchen, inwiefern die epische Struktur der Branchen durch die Gestalt bedingt ist, die Pierre um 1176 seinem Tierepos gegeben hat, ist die Aufgabe, die wir uns mit diesem Kapitel gestellt haben. Damit reduzieren wir die Frage nach der zyklischen Einheit des R O M A N D E R E N A R T auf die immanente Gesetzlichkeit, die in der historischen Entwicklung der afrz. Renartdichtung waltet, d. h. auf das ,principium stilisationis', das sich in der Ausbildung der erhaltenen 28 Renart-Branchen manifestiert und ihre innere Zusammengehörigkeit in den vorliegenden Formen der Fortsetzung, Nach-, Um- und Weiterbildung bedingt. Daß dieses ,principium stilisationis' nicht im kontinuierlichen Zusammenhang einer zyklisch ausgesponnenen epischen Fabel zutage tritt, zeigt sich gerade da, wo ein Schreiber wie der von Ms. C - „un homme tres epris de logique et qui cherche constamment ä relier les branches entre elles" 2 ) - einmal versuchte, dem R O M A N D E R E N A R T eine Anordnung nach dem Vorbild der zyklischen Heldendichtung zu geben. Seine Sammlung vereint nicht nur 22 Einzelbranchen in einer mit viel Geschick ersonnenen Reihenfolge, die den Eindruck eines ständig sich fortsetzenden Geschehens erweckt 3 ). Sie kommt den großen Zyklen der Chanson de geste auch darin

») Einl. zum RF, p. X X . 2

3

) FOULET P. 2 3 3 .

) Der Schreiber von C, dem Meon in seiner Ausgabe gefolgt ist, versteht es, in seiner Reihung wirkungsvolle Effekte zu erzielen. Nach dem Prolog (II 1 - 2 2 ) folgen die Enfances Renart ( X X I V ) und dann sogleich die Szenen in Wolfshöhle und Fuchsbau (II 1025-1394), so daß mit dem Schinkendiebstahl ( X X I V ) und dem Ehebruch (II) der Konflikt zwischen Renart und Ysengrin unmittelbar in der häuslichen Sphäre der Gevattern anhebt. Dann wird die angekündigte Verhandlung dieses Konfliktes auf dem Hoftag ( V a 257-288) durch Einschaltung

243 nahe, daß sie mit Br. X X I V die Enfances Renart voranstellt und mit Br. X V I I , die vom scheinbaren Tod Renarts berichtet, zu einem epischen Ende gelangt. Während die anderen Sammlungen, soweit sie mit Br. I einsetzen und mit Br. X V I I enden, einem Konglomerat von Einzelerzählungen nur eine äußere Umrahmung geben, liegt hier offensichtlich eine Zyklisierung mit Eingang, kontinuierlich verbundenen Episoden und Ausgang vor, die im äußeren Umfang den großen Zyklen des Heldenepos nicht nachsteht. Was ihr fehlt, und auch dann noch fehlen würde, wenn sie ein Bearbeiter vom Format des mhd. Dichters durchstilisiert hätte, ist nicht allein die unumkehrbar auf ihr Ende gerichtete Handlungsentwicklung des Epos, die sich mit dem Geschehnischarakter der vertauschbaren Schwanksituationen nicht vereinen läßt. Die zyklische Form der Renart-Branchen unterscheidet sich von der des Heldenepos auch darin, daß ihr Fortsetzungskeim nur im jederzeit Möglichen einer Schwankkonstellation liegt und nicht in Richtung auf eine noch nachzuholende Vergangenheit oder noch zu enthüllende Zukunft des Helden oder einer bisherigen Nebenfigur wirksam werden kann. Keiner der späteren Verfasser ist auf den durch die zyklische Heldendichtung naheliegenden Gedanken gekommen, die Geschichte des jungen Renart bis zu seinem Konflikt mit Ysengrin nachzuholen, davon zu berichten, wie sich Renart Hermeline als Braut erwarb, oder die in Hersents Verteidigungsrede angelegte Vorgeschichte der Wölfin (Va 335 bis 343) auszuspinnen. Selbst da, wo einer der letzten Verfasser mit Branche X X I V die anfances Renart (v. 3 1 1 ) nachbringen wollte, kam etwas ganz anderes zustande als die Jugendgeschichte seines ,Helden': die Erzählung, conment il vindrent en avant ( X X I V 3), bringt erst eine mythologisch-allegorische Darstellung der Schöpfung aller Tiere durch Adam und E v a a n die der Erzähler sodann fast unvermittelt den Schelmenstreich anfügt, wie Renart seinem Onkel Ysengrin und dame Hersent drei Schinken stiehlt: Si vos conterai de lor vie Ce que j'en sai une partie.

( X X I V 217-218)

einer Reihe von Einzelschwänken (III, II 23-842, X V 1-364, X I V ) so verzögert, daß ein größerer Spannungsbogen entsteht. Die Interpolation von X V in II verbindet die beiden Abenteuer von Renart und Tibert. Für den Ubergang von V a zu I ist eine eigene Überleitung geschaffen (vgl. F O U L E T p. 233). Im weiteren wechseln Abenteuer, in denen Ysengrin ohne Renart auftritt, mit solchen ab, in denen Renart ohne Ysengrin erscheint (Ys.: X X , X X I ; Ren.: II 843-1024; Ys.: XVIII, X I X ; Ren.: II 469-664). Durch diese Aufteilung der Br. II und die weitere Abfolge: V , IV, VII, VIII, VI, X X I I , IX, Χ , X I bleibt in Ms. C die Omnipräsenz Renarts bis zur abschließenden Branche X V I I durchgängig gewahrt, in der mit einer letzten Variation der Hoftagsfabel alle Figuren der Handlung noch einmal zusammengeführt werden. Daß damit bei weitem nicht alle Unstimmigkeiten und Widersprüche beseitigt sind, bedarf wohl keiner Begründung (ζ. B. haben eine ganze Reihe von Tieren, die in X V I I nochmals auftreten, schon vorher in Branche X I den Tod gefunden). *) Zur Quellenfrage von Br. X X I V siehe Α . H. Krappe, Λ Persian theme in tbe Roman de Renard, M L N LVIII (1943) p. 515—519.

16·

244 Der erste Streich Renarts steht hier gleichsam für alle weiteren. Denn sein Leben geht auf in den Schwänken, die über ihn im Umlauf sind. Es hat keinen zeitlichen Anfang, es sei denn im Moment der anfänglichen Schöpfung aller Wesen überhaupt, und kann zwar eine Art von Ende, aber keinen letzten Abschluß finden; denn auch die letzte Branche (XVII) weiß nur vom scheinbaren Tod und Begräbnis Renarts zu berichten, mit dem zwar sein Name erlischt (cf. XVII1676-1688), nicht aber das Wesen, das er in ihm verkörpert. Wie aber, wenn nicht analog zur zyklischen Heldendichtung, ist das Gattungsprinzip zu bestimmen, das die zyklische Einheit der Renart-Branchen schon ,in statu nascendi' gewährleistet? Was begründet den inneren Zusammenhang der Branchen, denen der äußere Zusammenhalt durch das historisch-genealogische Kontinuum einer epischen Fabel fehlt? Diese Fragen sind mit dem Hinweis auf die Konstanz der Tiercharaktere und ihrer Gegenfigur, der Schelmengestalt des Renart, um die sich alle Schwänke gruppieren, nicht schon gelöst. Das wird sogleich evident, wenn man G . Gröbers Formulierung, die Verknüpfung von Tieranekdoten im RdR ergebe den Schelmenroman von Tieren 1 ), am Gesamtbestand der RenartBranchen zu verifizieren sucht. Denn einerseits trennen ihn vom L A Z A R I L L O D E T O R M E S , mit dem der Schelmenroman 1 5 5 4 ins Dasein trat, nicht allein mehr als drei Jahrhunderte, sondern auch eine Reihe von konstitutiven Eigentümlichkeiten (die Form der Icherzählung, der biographische Ablauf, der Wechsel der Personen, die explizite Ständesatire), so daß sich die Analogie allein auf die Figur des Schelmen reduziert2). Andererseits ist Renart gerade als Schelmenfigur nicht leicht zu fassen, wenn man ihn nicht einfach in der historischen Verkehrung eines ,Vorläufers' sehen oder aus einer zeitlosen Typik heraus erklären will 3 ), sondern bestrebt ist, diese Figur des Schelmen in ihrer spezifisch mittelalterlichen Ausprägung zu bestimmen und ihre Rolle im Zusammenhang des Zyklus zu verfolgen, dem sie zwar den Namen, nicht aber die romanhafte Form geben konnte. Denn Renart, mit dem die Figur des Schelmen inmitten der episch-ritterlichen Welt auftaucht, hat in dieser Rolle weder ein Vorbild in den Figuren der voraufgegangenen Fabel- und Schwanlditeratur4), noch eine unmittelbare Grundriß der Romanischen Philologie II, 1 p. 626. ) Zur Frage nach Ursprung und Bedeutung der Ieher Zählung im LAZARILLO DE TORMES sei auf die Abhandlung des Verfassers in R J V I I I (1956/57) p. 2 9 0 - 3 1 1 verwiesen. s ) wie sie z. B. Andre Jolles, Die literarischen Travestien, Ritter - Hirt - Schelm in: Blätter für dt. Philos., Bd. 6 (1932) p. 281-294, an den Genres des franz. Romans im 17. Jahrhundert aufzuzeigen versuchte. 4 ) „ I m Grunde behandelt die französische Tierdichtung des 12. und der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in unendlicher Variierung lediglich e i n Motiv, den Sieg von Klugheit und List über physische Kraft, und zwar in scherzendem Sinne schwankartig, noch ohne satirische Absicht. Dieses Motiv ist, da weder germanischer Litteratur und Art eigen, noch auch nur vorherrschend in der alten Fabel, wie es scheint, erst auf nordfranzösischem Boden in der Tierdichtung zur Geltung gebracht worden" (Gröbers Grundriß II, 1 p. 475). 2

*45 Nachwirkung im Roman, des 13. Jahrhunderts. Das Fabliau zählt den Schelmen noch nicht zu seinen stehenden F i g u r e n u n d der zum Ende gelangte RdR findet als , Schelmenroman' von Tieren seine Fortsetzung nicht, wie man erwarten könnte, im Roman des Schelmen a la Lazarillo, sondern in den allegorisierenden Renartdichtungen einer Gruppe von neuen, der bürgerlichen Welt zugehörigen Verfassern. Damit ist der Fragenbereich für die folgende Untersuchung umschrieben, die sich zuerst auf die eigentümliche Form der Branche richten muß, in der die Nachfolger Pierres das erste afrz. Tierepos fortgesetzt haben. Die Herausbildung der Branche ist von der bisherigen Forschung nicht eigens in den Blick genommen worden. Sudre und Voretzsch lösen die epische Einheit der Branche von vornherein in ihre stofflichen Bestandteile auf, um die Einzelabenteuer als Versionen volkstümlicher ,Tiermärchen' vergleichen und mit Hilfe des modernen folkloristischen Erzählguts auf eine zu erschließende .ursprüngliche' Gestalt zurückführen zu können 2 ). Foulet hat gegen dieses Verfahren, „d'expliquer l'epopee par le conte", den bekannten Einwand erhoben: „il reste paradoxal d'expliquer le XII® siecle par le XIX®" 3 ), verfällt aber in das entgegengesetzte Extrem, wenn er die Branchenbildung statt dessen allein unter dem Primat der ,epopee', d. h. als Weiterführung des in Br. II-Va angeschlagenen epischen Grundthemas betrachtet. Dabei zieht nicht allein jene Vorstellung des zyklischen Wachsens einer umgreifenden ,epopee animale' gelegentlich wieder in seine Darstellung ein, die er G. Paris abstritt 4 ), sondern ist er auch auf Schritt und Tritt genötigt festzustellen: „ . . . nous nous eloignons de l'epopee" 5 ). Daß die Weiterführung des epischen Grundthemas vom ,Krieg der beiden Barone' nur ein dünner roter Faden ist, der sich allmählich verliert, und ] ) Das wird sogleich evident, wenn man den Recueil general et complet des fabliaux des XIIIe et XIVe siecles, ed. Montaiglon et Raynaud, Paris 1 8 7 2 - 1 8 9 0 , auf Schelmenfiguren durchsieht. Der Schelm, der wie der fahrende Schüler in Des trois Avugles de Compiengne (par Cortebarbe, Ree. I, 4) seine Streiche nur um ihrer selbst willen verübt und dabei sympathisch bleibt, ist in den übrigen Fabliaux schon nicht mehr in dieser reinen Form zu finden und kehrt auch, wo es sonst gelegentlich noch zu einer Art von Schelmenstreich kommt, nicht mehr in derselben Gestalt (etwa als fahrender Schüler) wieder. Solche Schelmenstreiche, die zu dem Wesen der handelnden Person meist nur in einer akzidentellen Beziehung stehen, werden den Vertretern aller Stände und beider Geschlechter zugeschrieben, sind aber relativ selten: dem Ritter (II, 34), dem Priester (III, 64), dem ,vilain' (III, 81: Du vilain qui conquist paradis par plaid), dem Boucher d'Abbeville (III, 84), der Kupplerin (V, n o : Auberee), der Pucelle qui vouloit voler en l'air (IV, 108), dem Zuhälter (V, 116: Boivin de Province), zwei Dieben (IV, 97: De Barat et de Haimet). s ) Vgl. dazu Voretzschs methodische Ausführungen, ZRPh XV p. 129. 8

) FOULET P. 5 3 8 .

Vgl. etwa p. 288, 312, 324. *) P· 356; v gl· ferner p. 456, 484. 4)

246 daß den Versuchen einer epischen Konklusion, die in den Um- und Weiterbildungen der Hoftagsfabel vorliegen, eine andere Art von Fortsetzungen zuwiderläuft, in denen sich der Fuchsschwank verselbständigt, kommt in der Darstellung Foulets nur beiläufig und ohne sein Zutun zum Vorschein, weil er sich die Frage nach dem Fortsetzungskeim und nach der Struktur der selbständigen Einzelbranchen nie ausdrücklich gestellt hat. Die chronologische Abfolge der Branchen kann für sich allein ihre zyklische Einheit noch nicht begründen, solange das ,principium stilisationis' nicht evident wird, dem die verschiedenen Verfasser der 28 Branchen, gleichviel aus welcher Quelle sie ihren Stoff schöpften, gefolgt sind. Wenn wir dieses Versäumnis nachholen und unserer Untersuchung dabei die von Foulet erarbeitete Chronologie der Branchen zugrunde legen, sind wir uns bewußt, daß unser Ansatz erst durch seine grundlegende Vorarbeit möglich werden konnte: auch hier steht am Ende unserer Kritik eine implizite Rechtfertigung unseres Vorgängers, insofern wir glauben, sein Hauptresultat - die historische Aufeinanderfolge von Y S , RdR und R F - aus anderen Voraussetzungen gegen die Einwände seiner Kritiker bestätigen zu können.

A . Die Ablösung des Fuchsabenteuers von seiner heroischen Gegenwelt Unter den ältesten Branchen, die auf Br. II-Va folgen: V , X V , III, IV, XIV, I nimmt die letztgenannte eine Sonderstellung ein, weil ihr Verfasser im Prolog ausdrücklich bekundet, er wolle dem Werk Pierres de Saint-Cloud, (qui) lessa le meus de sa matere (I 4), die fehlende Konklusion geben. Alle übrigen Branchen werden weder eigens als Fortsetzungen angekündigt, noch führen sie die Geschichte vom Krieg der beiden Barone geradewegs im Sinne einer zeitlich gerichteten epischen Fabel weiter. Bei V und X V handelt es sich um Branchen, die Foulet als eine Art von Anhang zu II-Va betrachtet, weil sie, nach den Handschriften zu schließen, möglicherweise nie in unabhängiger Form existiert hätten und eigens komponiert sein könnten, um an einer bestimmten Stelle in das Werk Pierres eingeschaltet zu werden 2 ). Die Branchen III und IV erscheinen hingegen in völlig selbständiger Form und spinnen den Grundgegensatz von Fuchs und Wolf zu neuen Schwänken aus, „sans pourtant s'inserer ä un moment precis de l',estoire'" 3 ). Der wenig originelle Verfasser von Branche X I V hingegen hat ein umfangreicheres Gedicht formal dem Werk Pierres nachgebildet, schon bekannte Schwankmuster variiert und seiner Schwankreihung mit dem Schwur auf das Wolfseisen eine Art von Konklusion gegeben, ohne damit die estoire als solche weiterzubringen. Demgegenüber *) nach FOULET P. 2 3 8 - 2 3 9 ; Branche V und X V sind indes nicht auf Grund von chronologischen Indizien, sondern weil sie in den Hss. als Interpolationen zu Br. I I - V a erscheinen, in diese Reihe eingefügt. A 3

) FOULET P. 2 3 g .

) FOULET P. 3 2 4 .

247 stellt Branche I in der T a t die erste richtiggehende Weiterführung der epischen Fabel v o n I I - V a dar: „Notre auteur se decida pour une troisieme mithode: au lieu de broder quelques arabesques en marge de l'histoire, comme avaient fait III et I V , au lieu de recommencer en le gätant le poeme premier comme avait fait X I V , il rdsolut d'achever ce ροέιηε et de lui donner la conclusion qui lui manquait." 1 ) W i r werden noch darauf eingehen, inwiefern die estoire mit dieser ersten Konklusion nicht an ihr E n d e gelangt und Branche I selbst wieder nur den formalen Ausgangspunkt für eine ganze Reihe v o n Konklusionen (Ia, V I , Χ , X I I I , X X I I I , X X V I I , dazu R F und REINAERT I) darstellt. Hier soll zunächst jene andere Entwicklung verfolgt werden, die sich nach Foulet gleichsam ,am Rande der Geschichte' (womit er im Grunde immer den ,Krieg der beiden Barone' meint) abspielt, im Blick auf die Ausbildung des ganzen Zyklus aber nicht weniger bedeutsam ist, weil sich gerade hier die eigentümliche F o r m der Branche herauskristallisiert. Dieser Kristallisation ist eigentümlich, daß sie nicht nur als , Arabeske' aus der estoire des Tierepos herausfällt, sondern zugleich eine anders zentrierte, gegenläufige Struktur herausbildet und in der maisnie Renart den Gegenpol zu der heroischen Welt, die sich im Reich K ö n i g Nobles spiegelt, sinnfällig macht: Seigneurs, ce fu en cel termine Que Ii douz temps d'este decline E t yver revient en saison, E t Renars fu en sa maison. Mais sa garison a perdue: Ce fu mortel desconvenue. N'a que donner ne qu'achater, Ne s'a de quoi reconforter. Par besoing s'est mis a la voie.

(III 1 - 9 )

Im Unterschied zu Pierre, der den Auszug Renarts nicht eigens motiviert {II avint chose que Renars . . . S'en vint traiant a une vile, I 2 3 - 2 6 ) , hat der Verfasser v o n Branche I I I das Abenteuer Renarts in einer Weise eingeleitet, die dem formalen Schema v o m Auszug des höfischen Ritters widerspricht. Der Hunger und nicht das Verlangen nach aventure bringt ihn auf den W e g ; im Hintergrund seines Abenteuers steht v o n Anbeginn die Sorge für sich und sein Haus, das in dieser Branche des R d R wohl zum erstenmal 2 ) ausdrücklich als Ausgangs- und Endpunkt seines Weges erscheint. Denn der Verfasser hat aus Renarts Heimkehr nach dem Fischdiebstahl eine idyllische Familienszene gemacht: dem mit Fischen beladenen Familienvater wird v o n den Seinen ein rührender E m p f a n g bereitet; Hermeline, seine junge Gattin, fällt ihm um den Hals, seine Söhne Percehaie und Malebranche FOULET P. 3 2 4 . 2

) Zur Datierung siehe FOULET p. 260. Der Einfluß von Pierre de Saint-Cloud auf diese Branche ist nicht so überzeugend, daß man sie nicht auch für älter als I I - V a halten könnte, was indes ein ihr voraufgegangenes Gedicht voraussetzt (= romanz de lui et de sa geste ?, II 8), in dem die Personen schon eingeführt wurden.

248 wischen ihm die Beine ab und bereiten ihm das Mahl (III 149-176). Die Familie des Fuchses fehlt im Y S E N G R I M U S noch ganz; wenn es der Verfasser von Branche III war, der sie in das Tierepos eingeführt hat, liegt in dieser seiner Neuerung der entscheidende Schritt auf der Bahn, die Renart nach und nach zur Titelfigur der afrz. Branchen hat werden lassen. Denn damit ersteht dem Hof König Nobles, der bisher allein den idealen Mittelpunkt im Reich der Tiere ausmachte, ein Gegenpol, der ein neues Spannungsverhältnis zwischen dem selbständigen Einzelnen und der vom Hoftag repräsentierten Norm der Gesellschaft hervorruft, hinter dem die Feindschaft zwischen Fuchs und Wolf, soweit sie nur den Gegensatz zwischen zwei Einzelwesen thematisiert, allmählich in den Hintergrund tritt. Für die Frage nach dem Fortsetzungskeim, der die weitere Entwicklung der Renart-Branchen nach dem Werk Pierres de Saint-Cloud bestimmt, ist das neue Schema des Fuchsabenteuers in Branche III von exemplarischer Bedeutung. Der Weg Renarts, der sich vom Auszug bis zur Heimkehr zum Kreis schließt, bildet sich in den ältesten Branchen immer schärfer heraus und erhält schließlich in Branche I, deren Verfasser die maisnie Renart ausdrücklich in Gegensatz zu der höfischen Gesellschaft setzt (Renart spielt erst den Boten des Königs übel mit, bevor er sich nach der dritten Aufforderung dazu bequemt, vor dem Hoftag zu erscheinen), seinen vollen antihöfischen Sinn. Die anders zentrierte, der estoire Pierres mit ihrer idealen Mitte im Hof König Nobles zuwiderlaufende Struktur der Renart-Branche ist durch zwei Neuerungen gekennzeichnet: die Thematisierung einer privaten Welt und die Ausbildung einer eigenständigen, in Exposition, Höhepunkt und burleske Auflösung gegliederten Darstellungsform. Der Bereich des Privaten blieb in Br. II-Va - analog zur Chanson de geste und zum höfischen Epos noch ganz der öffentlichen, feudal-höfischen Welt untergeordnet. Die Häuslichkeit der maisnie Ysengrin stellte sich dort nur in ihrer Beziehung auf die Allgemeinheit, d. h. sogleich aus der Perspektive eines Ehebruchs dar, der die Sphäre des Privaten als Skandal vor die Öffentlichkeit bringt. Der Verfasser von Branche III hingegen läßt die maisnie Renart als eine eigene, von der höfischen Gesellschaft abgesonderte und unabhängige Sphäre hervortreten, die der öffentlichen epischen Welt entrückt zu sein scheint. Vor dieser privaten Sphäre verliert Ysengrin, der sich soweit erniedrigt, um ein Stück gebratenen Aales zu betteln, völlig sein Gesicht und wird so offensichtlich zur Schwankfigur des geprellten Gevatters, daß auch Foulet nicht mehr an die Weiterführung einer feudalen Fehde denkt und von einem „fabliau epique" spricht 1 ). Die unmittelbaren Fortsetzer von Br. II-Va sahen demnach den zyklischen Fortsetzungskeim nicht im epischen Fortgang der estoire, sondern im Ausspinnen von neuen Schwänken um die alten Widersacher Fuchs und Wolf. Wenn Foulet die Branchen III und I V als .Arabesken' am Rande der epischen Fabel bezeichnet, weil sie die epische Fabel der Fehde um keinen Schritt ihrem Ende näher bringen, verkennt l)

p. 312, vgl. p. 260-262.

249 er, daß man das zyklische Prinzip des RdR nicht nur in der fehlenden Konklusion zum Werk Pierres, sondern ebenso auch in der unbegrenzten Fortsetzbarkeit der .Arabesken' suchen muß, will man erklären, warum dieses Werk 26 selbständige Branchen ausgelöst hat und nicht zu der epischen Großform einer kontinuierlich sich fortsetzenden und sich verzweigenden zyklischen Fabel gelangt ist. Der diskontinuierliche Fortsetzungskeim der Branchen, auf dem das zyklische Prinzip des RdR beruht, ist in Br. II-Va insofern schon angelegt, als sich mit der Flucht Renarts nach Malpertuis am Ende derselbe Kreis vom Auszug bis zur Heimkehr um die ganze Reihe der hier erzählten Renartabenteuer schließt, den der Fortsetzer in Branche III möglicherweise zum ersten Male eigens - in Branche II zieht Renart noch nicht von Malpertuis aus - thematisiert hat. Dieser Ausgang ist insofern kein episches Ende, als er die erwartete Entscheidung offenläßt, den status quo des alten Kräfteverhältnisses zwischen Fuchs und Wolf wieder herstellt und zu einer Fortsetzung auffordert, die nur insoweit abzusehen ist, als sich das Spiel zwischen den beiden Widersachern unvermeidlich fortsetzen muß, aber nicht mehr auf dieselbe Weise fortsetzen kann. Der Fortsetzungskeim der Branchen besteht in der Erwartung, daß die Wiederbegegnung der beiden Widersacher, que ainc ne s'entramerent jor (II 15), zu einem neuen Dilemma führen muß, für dessen Lösung es noch keinen Präzedenzfall gibt, weil nur dann der Listenreiche gegen den Stärkeren bestehen kann: die aventure Renarts ist ihrem Wesen nach diskontinuierlich und setzt mit jeder Branche die Wiederherstellung eines offenen Neubeginns voraus. Diese Diskontinuität bekundet sich am Anfang der Branche III in einem Zeiteingang (... cefu en eel termine Que Ii dou£ temps d'este decline, III 1-2), der keine Beziehung zum Vorhergegangenen hat und lediglich die winterliche Jahreszeit anzeigt, die der Fischfang auf dem Eise voraussetzt. Sie macht sich andererseits in der Form des Schlusses geltend, wo der gerade noch davongekommene Ysengrin den Schwur tut: Que de Renart se vengera N e james jor ne l'amera.

(III 5 0 9 - 5 1 0 )

Mit der burlesken Auflösung des Dilemmas, in dem der Geprellte auf dem Eise zurückgeblieben war, wird der status quo, von dem die Branche ausging, wieder erreicht und der Fortsetzungskeim ermöglicht. Die Kreisbewegung, in der die Branche damit verläuft, macht sie selbständig und unterscheidet ihre zyklische Form am schärfsten von der epischen Fabel mit ihrer nicht umkehrbaren Richtung. Sie liegt jener Dreigliederung zugrunde, die sich nicht nur im Aufbau von Branche III, sondern auch weiterhin an einer Anzahl von Branchen feststellen läßt: eine ,anecdote preliminaire' mit dem obligat werdenden (Fisch-, Hühner-) Diebstahl Renarts 1 ), die im Mittelpunkt stehende Schwankszene und die Auflösung des Dilemmas, mit der die Figuren wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück*) Beispiele bei FOULET p. 440.

250 gelangen. Daß diese kompositorische Form, die den einzelnen Schwankerzählungen mit dem Auszug-Heimkehrschema zugleich einen festen Rahmen und perspektivischen Richtpunkt verleiht, bei den Fortsetzern Pierres Schule gemacht hat, soll ein Blick auf ihre Produktion bis zu Branche I zeigen. Ein sicheres Indiz dafür, daß die Dreigliederung mit der Umrahmung durch das Auszug-Heimkehrmotiv von einem bestimmten Augenblick der Produktion an als konventionelles Schema der Branche angesehen wurde, ergibt sich aus Branche V. Die vorliegende Form, in der sie als Interpolation zum Werk Pierres erscheint: zwei lose miteinander verbundene Episoden (die aus dem Y S entnommene Schinkenteilung und der Schwank zwischen Renart und der Grille) mit einem Eingang medias-in-res (die beiden Widersacher stoßen unversehens wie im Y S aufeinander), hat den Bearbeiter der in Ms. BCM bewahrten Version offensichtlich nicht befriedigt. E r fügte ihr einen selbständigen Eingang von 118 Versen (statt 12) hinzu, der in drei Handschriften (BCM) auf uns gekommen ist und Branche V in die klassische Form von Branche III bringt: Un ior avint par aventure Renart fu venuz de pasture Si fu lassez et traveillez Delez sa fame sest couchiez 1 ).

Die häusliche Szene wird hier nach dem Vorbild von Chanteclers Traum, doch ohne ironische Absicht ausgesponnen. Hermeline deutet hier nicht allein Renarts Traum, der auf die Bedrohung durch Ysengrins Schlund vorweist, sondern stattet Renart dann auch mit einem hon charme aus, der ihn den ganzen Tag über vor Gefahr bewahren wird (v. 40-57). Dann kommt die obligate (Hühner-) Raubszene, hier in Gestalt einer obszönen Variante des Physiologusmotivs vom sich totstellenden Fuchs, bei der Renart eine Krähe jagt und verzehrt. Auf diese Weise entsteht auch für Branche V eine Reihung von drei selbständigen Schwankszenen, die durch die Vordeutung auf das Dilemma, in das Renart durch den Überfall Ysengrins gebracht wird, und die am Ende des dritten Schwanke ohne sein Zutun geglückte Rache für das Auffressen des Schinkens kompositorisch verbunden sind. Die Branche könnte nun als Ganzes sehr wohl auch für sich stehen, zumal ihr Umfang durch den Zusatz des Bearbeiters mit 352 statt vorher 260 Versen ein Format erreicht hat, das als kleine Vortragseinheit üblich gewesen sein dürfte, da es sich bei einer ganzen Reihe von Branchen auch findet. Wenn die ca. 2400 Achtsilber von II-Va dem Ausmaß einer zweistündigen ,seance' entsprechen, wie sie für die Chanson de geste üblich war, so ist es für die folgenden Branchen der Fortsetzer Pierres kennzeichnend, daß sie eine kleinere Vortragsform ausbilden, die mit der einheitlichen Struktur auch einen ähnlichen, den größeren Fabliaux entsprechenden Umfang von ca. 350-520 Versen aufweist (V = 352, X V = 522, III = 510, I V = 478, V I I I = 468 Verse). *) RdR ed. Martin t. III, p. 144, zitiert nach den Hss. C M , v. 1 - 4 .

251 Eine vollständige Aufgliederung der Branchen des RdR nach dem Er2ählumfang ergibt folgendes Bild, das wir in 2wei Gruppen, die ältere Produktion bis Branche X V I I ( = der sogenannte Archetyp) und die jüngere Produktion ab Branche X V I I I (zuzüglich Branche XIII) aufteilen. Bei der ersten Gruppe fallt auf, daß der Erzählumfang der Branchen proportional in der Weise größer wird, daß sie die Vortragseinheit der kleinen Branche, wie sie die unmittelbaren Nachfolger von Pierre de Saint-Cloud ausgebildet haben, als ein Vielfaches in sich enthalten. Der Umfang der kleinen Vortragsform, den wir für die Branchen V, X V , III, IV, V I I I feststellten: ca. 350-520 Achtsilber, wird von keiner der folgenden Branchen unterboten; Branche Ia, eine unmittelbare Fortsetzung von Branche I, bleibt mit 584 Versen in der Nähe dieses Umfangs. Die Branchen X I V ( = 1088), V I I ( = 844), I b ( = 1008) bewegen sich annähernd im doppelten Umfang der kleinen Vortragseinheit: ca. 850-1090 Achtsilber. Die Branchen I ( = 1620), X ( = 1704), V I ( = 1542), X V I ( = 1504), X V I I ( = 1688) erreichen annähernd den dreifachen Umfang der kleinen Vortragseinheit: ca. 1500-1700 Achtsilber; abgesehen von X V I handelt es sich hier durchweg um Nachbildungen der Hoftagsfabel, deren vorgegebener epischer Rahmen an sich schon einen größeren Erzählumfang bedingt. Das epische Großformat von Br. II-Va ( = 2420) wird lediglich von zwei Branchen, I X ( = 2210) und X I I I ( = 2366), erreicht und von einer, X I ( = 3402), überboten, die den Stil des Heldenepos so ausdrücklich kopiert, daß sie Foulet als eine „chanson de geste de la decadence" bezeichnet hat 1 ). Wenn es auch übereilt wäre, aus dieser Aufgliederung feste Normen für den Vortrag ableiten zu wollen, weist sie doch so viele Konstanten auf, daß man wenigstens die Vermutung anstellen kann: in der älteren Produktion scheint eine kleine und eine große Vortragseinheit konventionell geworden zu sein. Die erstere entspricht dem Umfang eines größeren Fabliau (ca. 350-520 Achtsilber) und kann sich, wenn sie verdoppelt wird, noch als Vortragspause anzeigen (eine solche läßt sich in Branche X I V nach dem ,Moniage Primaut', v. 542, in Branche V I I vor dem Auftauchen des Hühnergeiers Hubert, v. 309, und in Branche I b vor der Heimkehr Renarts, v. 2743: Or vos dirai de Γautre part. . gut vorstellen). Die letztere erreicht das Ausmaß einer ,seance', wie sie für den Vortrag der Chanson de geste üblich war (ca. 1600 bzw. 2400 Achtsilber & 1300-2000 Zehnsilber) und dürfte sich im Anschluß an das Muster der ersten beiden Hoftagsfabeln I bzw. II-Va herausgebildet haben. Sie war wahrscheinlich durch eine Vortragspause in der Mitte einmal untergeteilt (eine solche ist zwischen Branche II und V a naheliegend; sie findet sich als Sinneinschnitt in Branche I X 1065, X I I I 1335 und R F 1235). In der jüngeren Produktion verringert sich die kleine Vortragseinheit etwas, was wahrscheinlich dadurch zu erklären ist, daß sich die Branchen nun auch thematisch immer mehr dem Fabliau annähern. Neben dem ForFOULET P . 4 5 5 .

2J2 mat von ca. 310-320 Achtsilbern, das sich Br. X V T I I - X X ( = 322, wobei wir die drei kleinen Branchen mit Foulet als eine Erzähleinheit betrachten), X X I V ( = 314), X X V I ( = 310) findet, gibt es nun auch zwei Beispiele für das Kleinformat des Fabliau, nämlich Br. X X I mit 160 und Br. X X V I mit 132 Versen. Die kleine Vortragseinheit der älteren Produktion kehrt in Br. X X I I ( = 722) verdoppelt wieder, desgleichen in X X V I I ( = 814), wo nun auch einmal eine Nachbildung der Hoftagsfabel in dieses kleinere Format gebracht wird. Andererseits behält B r . X X I I I ( = 2080), eine weitere Nachbildung der letzteren, annähernd das alte Format der großen Vortragseinheit. Wir möchten darum auch die beiden Branchen V und X V , die Foulet seiner livresken Tendenz zufolge für reine Interpolationen hält, eher als Vortragseinheiten betrachten, gleichviel ob sie als selbständige Nummer eines Jongleurprogramms, als Einlage zwischen II und Va, wie sich im Fall der Branche V denken ließe, oder als Dreingabe, wie man sich im Fall von X V vorstellen könnte, zu definieren sind. Auch wenn Br. X V in allen Sammelhandschriften an das Tibertabenteuer (nach Br. II v. 842) angehängt ist, liegt darin noch kein Beweis dagegen, daß diese Branche ursprünglich nicht auch erst für einen selbständigen Vortrag konzipiert wurde. Gegen die Ansicht, Br. X V sei eigens in der Absicht abgefaßt worden, um in die Mitte von Branche II eingefügt zu werden, spricht einmal, daß der Anfang der merveilleuse aventure (XV 104) mit der gefundenen Wurst zwar thematisch, E t si se voldroit revengier D e ce qu'el broion le bouta,

(XV 10-11)

aber nicht zeitlich an Renarts Abenteuer mit Tibert anknüpft und daß ihr Ausgang - der Kater rettet sich auf dem Pferd des Priesters aus seiner mißlichen Lage - offensichtlich aus dem Konnex der sonst durchgängig in der Perspektive Renarts erzählten Branche II herausfällt. Der selbständige Eingang von Br. X V in der Verbindung mit einem Ausgang, der die Geschichte wieder auf ihre Ausgangssituation, das durch das neue Abenteuer nur wieder bestätigte Mißtrauen zwischen Kater und Fuchs, herausführt *), macht die Branche zu einer in sich geschlossenen Erzähleinheit, die auch im Aufbau das in Br. III, IV und V festzustellende Schema der Dreigliederung aufweist 2 ). Zum anderen schlägt der Verfasser einen ironischen Ton an, der sich in Br. II-Va noch nicht findet. Wenn Renart in Br. X V entgegen seiner traditionellen Rolle als versöhnlicher Moralprediger eingeführt wird (vgl. v. 15-86), Tibert sodann mit einer flauen Entschuldigung den schon 1

) A u c h Foulet mußte eine „entr£e en matiere d'une aventure independante"

(p. 2 5 4 ) und einen A u s g a n g „ q u i sort nettement du cadre ordinaire des recits de Pierre de Saint-Cloud" (p. 2 5 3 ) feststellen, folgerte daraus aber nur, daß diese Branche nicht von Pierre selbst stammen könne. 2

) D e r Hauptschwankszene, dem Abenteuer mit der Wurst, geht als Prälu-

dium das (hier verkürzte) M o t i v der Nahrungssuche ( X V

1 - 3 ) und Renarts

moralische Expektoration voraus, die zur Erneuerung des Paktes führt (v. 4 - 1 0 0 ) ; den burlesken Ausklang bildet die Priestersatire mit Tiberts A b g a n g (v. 3 6 5 - 5 2 2 ) .

*53 einmal mala fide eingegangenen Pakt mit Renart erneuert (v. 87-95), das neue Einvernehmen der beiden sogleich wieder durch einen banalen Anlaß getrübt erscheint und in der sophistischen Auseinandersetzung über den heiligen Charakter der Wurst (Ce est saintisme chose en Iqy: Andouille a nom, bien le saves, ν. 232f.), die Tibert ,aus Prinzip' nur auf dem (für Renart unerreichbaren) Kruzifix verzehren will, wieder in die Brüche geht, liegt in dieser kunstvollen, fast ganz in einen nuancierten Dialog versetzten Handlung zwar auch noch die Absicht einer Parodie im Sinne Pierres (nach Foulet: „un grave serment est prete et toutes les formes observees ä propos d'une andouille") 1 ). Wie der Verfasser von Br. V I I I bei Renart pelerin2) setzt aber auch der Verfasser von Br. X V schon voraus, daß die Charaktere von Fuchs und Kater dem Zuhörer längst vertraut sind, um ihre traditionelle Figur nunmehr durch eine überraschende neue Rolle - Renart als Bußprediger, Tibert als Dialektiker - ironisch zu überbieten. Blickt man von hier aus auf Branche II-Va zurück, so zeigt sich, daß die zyklische Fortsetzung des afrz. Tierepos nicht an eine unilineare Weiterführung der Fabel gebunden ist und schon in der Variierung und Überbietung der topischen Charaktere 3 ) den Ansatzpunkt finden kann, weitere Schwankstoffe dem Zyklus einzuverleiben. Die Fortsetzer haben der Erwartung ihres Publikums schon damit Genüge getan, daß sie, wie der Verfasser von Br. IV, une branche et un sol gäbet de celui qui tant set d'abet (v. 19 f.), erzählten. In dieser Definition wird die Form der Branche gleichbedeutend mit der Erzählung eines Schwankes, was aber für den Erzähler einschließt, diesen durch eine spannungssteigernde Einleitung zu seinem Höhepunkt zu führen und ihm einen heiteren, den Wunsch nach Fortsetzung weckenden Ausklang zu geben. Daraus erklärt sich die beliebt gewordene Dreizahl der Schwänke mit dem besten als Mittelpunkt der Branche, aber auch die nicht geringe Anforderung, die mit dieser Form an das Erzähltalent der Verfasser gestellt war. So häufig die Dreizahl der Schwänke oder zumindest eine Dreigliederung im Aufbau der Branchen begegnet, ist doch die durchkomponierte Form von III, IV und X V in der weiteren Produktion nicht häufig (VIII, l b , I X , XII) versucht und im Falle von I X und X I I nur um den Preis größerer epischer Breite erreicht worden. Das Auszug-Heimkehrschema hingegen, das sich für die äußere Umrahmung einer beliebigen Zahl von Schwänken anbietet, wurde bald zu FOULET P. 2 5 8 . 2

) Siehe dazu SPITZER p. 229. 3 ) Das schönste Beispiel dafür bietet der .Anthropomorphismus' in der Darstellung des Augenblicks, in dem Tibert auf dem Kreuz die Wurst verzehrt: Qant Renart vit qu'il la mengue, Si Ii tourble auques la veüe. ,Renart' dist Tybers, ,moult sui lies Que vous plourez pour vos pechies. Diex qui congnoist ta repentance, T'en allege la penitence.' ( X V 251-256)

*54

einem der beliebtesten topischen Muster, dem auch mittelmäßige Fortsetzer neue Details beizufügen wissen, während anspruchsvollere Verfasser wie der von IV, l b , I X die private Welt Renarts selbst mehr und mehr vom Rande in den Mittelpunkt des Schwankgeschehens rücken. Der Verfasser von Branche IV, der - wie in Kap. III gezeigt wurde sein Gedicht mit am wirkungsvollsten auf den Höhepunkt des zentralen Schwanks hin zu komponieren verstand, hat die Sphäre des Privaten mit dem Spiegelbild Renarts, das dieser für Hermeline, sa famme qu'aime d'amor fine (IV 159 f.) hält, und Ysengrins, das diesem dame Hersens neben ihrem Galan vorgaukelt (IV 209 ff.), in die Fabel vom Ziehbrunnen hineingebracht. Die Frage, wie er zu der Verknüpfung der Brunnenfahrt mit dem Spiegelbildmotiv kam 1 ), läßt sich nun auch aus der zyklischen Geschichte der Renart-Branchen erklären, was den Rekurs aut eine unbekannte Quelle überflüssig macht. In der Gegenüberstellung der beiden Spiegelungen trifft das Bild, das Pierre de Saint-Cloud von dem Skandal in der Wolfshöhle entwarf, mit dem Gegenbild der maisnie Renart zusammen, die der Verfasser von Branche III zu einer idyllischen Familienszene ausmalte. Der Verfasser von Br. X I V , der es dem Y S E N G R I M U S in der Schilderung der Kalamitäten Primauts nachtun will, benutzt die private Sphäre bereits als Klischee, um einer größeren Anzahl von Nachbildungen bekannter Schwänke mit Hilfe des Auszug-Heimkehr-Motivs den äußeren Rahmen zu geben. Dazu gehört offenbar nun auch der jahreszeitliche Eingang, der sich in Br. III zum erstenmal findet, dort aber durch die Schwanksituation (Fischfang auf dem Eise) bedingt ist, während er hier die rein konventionelle Form des Maieingangs erhält: Ce fu en mai au tens novel Que Ii tans est seriz et bei, Si com estoit l'Asension, Que Renart ert en sa meson Sanz garison et sanz vitaille.

(XIV 1-5)

Die Umrahmung mit Auszug und Heimkehr bleibt der Erzählung indes so exterior, daß der Verfasser am Ende vergißt, warum Renart eigendich auszog. Darum hat wohl der Schreiber von Η den moralisierenden Schluß (vgl. X I V 1077-1088) bezeichnenderweise dahin abgeändert, daß er Renart erst noch schnell einen Vogel finden und Frau und Kinder mitbringen läßt. Noch weiter in der Stilisierung des idealen Familienvaters und der treuen Gattin geht der Verfasser einer in den Handschriften CHM bewahrten Version, in der die Verse über Renarts Reue durch die folgenden ersetzt sind: Renart a Hermeline conte Con il a fet a Primaut honte E t quil fist a Tybert le chat La qeue perdre par barat E n la huche ou humoit le let x

) Siehe oben Kap. III p. 1 4 1 .

255 Cele sen rit grant ioie en fet Auis li est tout a trouue Quant son mari a recouure.

(XIV 83ff. C H M )

Mit Br. X I V wäre unsere Untersuchung, die bis hierher Foulets Chronologie der Branchen folgte, zu dem Punkt in der Entwicklung des Zyklus gelangt, an dem der Verfasser von Br. I in der Konklusion, die er dem Werk Pierres geben will, die private Sphäre des frondierenden Renart gegen den verbindlichen Anspruch der höfischen Gesellschaft ausspielt und damit die gegenläufige Tendenz der selbständigen Einzelbranchen wieder in die epische Welt der Hoftagsfabel einzufügen sucht. Um die Ablösung des Renartabenteuers von seiner heroischen Gegenwelt ganz deutlich zu machen, soll sie erst noch in den unabhängigen Einzelbranchen des Archetyps weiter verfolgt werden, w o jene Sphäre privaten Daseins fast ausnahmslos x) entweder in Gestalt der offensichtlich topisch gewordenen und immer wieder ausgeschmückten Familienszene am Eingang und am Ausgang der Erzählung begegnet 2 ) oder am Ende selbst zum Schauplatz eines FabliauGeschehens wird. Fehlten in Br. I I - V a noch alle Anzeichen für eine Spiegelung der heraufkommenden bürgerlichen Welt, so scheint sie sich nun doch wenigstens indirekt in den Szenen anzukündigen, die Br. X I V , X I I , X I und X V I umrahmen. Der aus der höfischen Epik vertraute Maieingang verbindet sich hier mit einem idyllischen Bild, das der Einführung eines ritterlichen Helden schon so fern steht, daß es sich auch nicht mehr ironisch darauf beziehen läßt: Ce fu en mai en cel termine Que la fleur monte en l'aube espine, Prez reverdissent et li bos, *) Sie fehlt bei den von der Hoftagsfabel nicht abhängigen Branchen des Archetypus lediglich in Br. VII. 2 ) Das Auszug-Heimkehr-Schema, dessen Herausbildung wir in diesem Abschnitt an den selbständigen Einzelbranchen der Fortsetzer Pierres de SaintCloud verfolgen, erscheint von Branche I an auch in den Hoftagsbranchen. Nach dem ,Plaid' will Renart den entführten Hasen Coart seinen Kindern mitbringen (1500f.); zu Hause wird ihm, als er zerschlagen ankommt, ein rührender Empfang bereitet (v. 1593-1620). In ähnlicher Weise endet Br. V I (1525-1542); in Br. X erbittet sich Renart Urlaub por Ermeline conforter (v. 1680) und ist in 5 Mss. eigens eine Szene angefügt, in der sich Renarts Weib von seiner aventure berichten läßt (Annex zu 1700 BCHLM). Br. X V I I bringt statt der Botengänge wieder einen Auszug Renarts aus Malpertuis (v. 1-19), bei den Bestattungszeremonien wird Hermeline ob des Verlustes eines so vorbildlichen Familienvaters beklagt (v. 920 bis 940), und als er am Ende mehr tot als lebendig heimkehrt, bringen ihn die Seinen unter großem Wehklagen zu Bett (v. 1465-1473). In Br. X X I I I begibt sich Renart in seinem Dilemma vom Hoftag nach Hause a sa fame prendre conseil (ν. Ii 59) und unternimmt auf ihren Rat nach einem zärtlichen Abschied die Reise nach Toledo. Das Auszug-Heimkehr-Schema fehlt lediglich im mhd. R F und in der franko-ital. Br. X X V I I ; der flämische Renart variiert die Heimkehr mit dem Auszug der Fuchsfamilie in ein anderes Land (worauf wir noch zurückkommen).

256 E t oissel chatitent sanz repos E t toute nuit et toute jour. E t Renart estoit a sejour A Malpertuis sa forteresce. Mes molt estoit en grant destrece, Quar de garison n'avoit point. Sa mesniee ert en si mal point Que de fain crient durement. Sa fame Hermeline ensement Qui estoit de nouvel encainte, Estoit si fort de fain atainte Que ne se savoit conseillier. L o r s se prent a appareillier Renart pour querre garison. T o u z seulz s'en ist de sa maison E t jure qu'il ne revenra Jusqu'a tant qu'il aportera Viande a sa mesnie pestre.

(XVI 15-35)

Die einzelnen Bestandteile dieser Szene werden von anderen Verfassern im Detail ausgemalt. In Br. X I I hält Renart sein Söhnchen Rovel auf den Knien, das vor Hunger weint (v. 8 - 1 1 ) , und erniedrigt sich sodann gegenüber Tibert so weit, daß er ihn im Namen seiner hungernden Frau um Beistand anfleht (v. 8 2 - 9 7 , i32f.). In Br. X I kommen alle drei Söhne zu ihm gelaufen und jammern über ihre Mutter, qui ploure de fein tendremmt, (v. 18) und die auf Renarts Frage zur Antwort gibt ,Sire' fait el, ,ge sul enceinte, D'enfant ai tot le ventre plein. Mes certes je ai si grant fein Que j'en quit perdre mon enfant.'

(XI 22-25)

Das rührselige Bild des ,treusorgenden Familienvaters', der nicht ohne ein Mitbringsel heimkehren darf (in Branche X I I läßt ihn der Verfasser ad hoc eben noch einen ,cras oison' finden, v. 1 4 6 9 ) , wird gelegentlich auch ins Heitere gewendet. So z. B. in Br. I X , wo der zurückkehrende Renart von Hermeline mit einer schnippischen Rede empfangen wird, die in dem Vorwurf gipfelt, seine Heldentaten seien ihr nichts nütze, wenn er es sich dabei wohl sein und Frau und Kinder verhungern lasse. Daraufhin nimmt sie das zarteste der Kücken, verschlingt es mit einem Bissen und gibt dann als .Hausfrau' jedem seinen Anteil (IX 2134-2168). Der .prestre de la Croie en Brie' hat in dieser Branche, seinem ersten literarischen Versuch (v. 2209), nicht nur eine Art von bäuerlicher Milieuschilderung gegeben 1 ), sondern zugleich eine Eheszene zwischen Renart und Hermeline geschaffen, die in ihrem liebenswürdigen Humor schon ganz für sich selbst bestehen kann und nicht mehr nur, wie die Szenen in der Wolfshöhle (Br. II), durch die Intention einer Parodie des ,amour courtois' innerhalb des Tierepos gerechtfertigt ist. *) Siehe FOULET p. 4 5 2 - 4 5 4 .

257 Es handelt sich um die Szene vor dem Fuchsbau, in der Hermeline mit Renart darüber in Streit gerät, ob man den Esel Timer, der sich tot stellt, mit Hilfe der Riemen, die Renart dem ,vilain' Lietart entwendet hat, als willkommenen Proviant in das Haus schaffen soll (IX 1640-1935). Das Motto, unter das man diese Szene stellen könnte: Cele qui ne prisse ne crient La parole de son sengnor (IX 1826 f.)

erinnert an die bekannten, von Marie de France mehrfach behandelten Beispielerzählungen von ,der Widerspenstigen Zähmung' Der Verfasser hat hier aber auf jegliche frauenfeindliche Tendenz verzichtet und den Vorgang allein auf die inhärente Komik einer Machtprobe zwischen Mann und Frau abgestellt, die beide recht haben wollen. Die Überlegenheit des vorsichtigeren Renart, der sachlich im Recht ist, kann sich nicht geltend machen, weil ihn Hermeline an seiner Ehre zu packen weiß (er habe sogar vor einem toten Esel Angst, v. 1684). So bleibt ihm nichts anderes übrig, nachdem er die ganze Gefahr an einer Kopfbewegung Timers erkannt hat und nicht mehr hoffen kann, seine rechthaberische Frau im mindesten durch ein Faktum zu überzeugen, als daß er sie durch eine Lüge (er gibt vor, den Gestank des Esels nicht mehr länger ertragen zu können, v. 1715 ff.) dazu bewegt, ihn von dem Riemen wieder frei zu machen. Der Verfasser hat diese feingesponnene Motivierung, daß sich Renart seiner eigenen Frau gegenüber auch nur mit einer List durchzusetzen weiß, nicht etwa auf Kosten Hermelines fortgesetzt, sondern ihre Unbelehrbarkeit mit liebenswürdigen Zügen durchmischt. Sie erweist sich zunächst als zärtlich besorgte Gattin (Hermeline en a grant pitie) 2 ) und macht ihn los, um sodann, als sie die List erkennt, mit desto heftigeren Worten über ihn herzufallen (selbst Dan^ Coars Ii levres sei nicht so feige wie er, er kümmere sich nicht um den Haushalt und wolle sich nur auf die faule Haut legen, cf. 1785 ff.). Dann nimmt das Verhängnis seinen Lauf; Hermeline wird von Timer zu Lietart geschleift und entkommt ihrem Verderben nur durch den Fehlschlag des Bauern, der statt dem Hals Hermelines den Schenkel des Esels trifft. Als sie mit ihrer Trophäe zu Renart zurückkehrt, kann dieser nur noch lachen, und so verkehrt sich ihre folie ganz ohne ihr Verdienst in einen Triumph, den sie - damit vollendet sich ihr ironisches Porträt - auch sogleich gegen Renart ausspielt. Sie habe bewiesen, daß sie tapfer sei (v. 1894), nun sei es an ihm zu zeigen, daß auch er kein Feigling ist: ,Maveiz coart, qu'aten tu donques? Ge dot molt que euer ne te faille.'

(IX 1 9 1 6 f.)

Der Erzähler von Branche IX, der das private Dasein Renarts in den Mittelpunkt seiner Branche stellt und zu einer Eheszene ausgestaltet, die vom Tierepos allein noch die vorgegebenen Charaktere bewahrt, steht mit ») ESOPE X C I V , s

XCV.

) RdR I X 1756ff.; vgl. dazu v. 1498fr., w o sie als Trösterin, und v. 1 5 2 4 , w o sie als liebevolle Pflegerin erscheint. 17

Jauß, Tierepos

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seinem sublimen Humor, der die Moral dieser ehelichen Auseinandersetzung dem Zuhörer überläßt, der drastischen Direktheit des Fabliau ebenso fern wie der idealisierenden Typik höfischer Dichtung. Das wird vor allem deutlich, wenn man daraufhin den Versuch des Verfassers von Branche I b betrachtet, der das Thema von Branche IV, die Gegenüberstellung der Ehe Ysengrins mit der Renarts, wieder aufgenommen und ganz in die erotische Sphäre des Fabliau transponiert hat. Bei aller thematischen und formalen Annäherung des Tierschwanks an die Gattung des Fabliau war bisher noch kein Fall aufgetaucht, in dem ein Verfasser versucht hätte, eine ausgesprochen erotische Schwanksituation zum Thema einer Renart-Branche zu machen. Das mag zunächst verwundern, läßt sich vielleicht aber damit erklären, daß sich die Typenwelt der Tiercharaktere nicht ohne weiteres mit einer Situation verträgt, die auf der niederen Ebene des Fabliau alle Figuren, den Ritter sowohl wie den fahrenden Schüler, den Bürger oder Priester wie den ,vilain', in der Abhängigkeit von der Frau gleichmacht, die im Fabliau schon gar nicht mehr in differenzierten Typen, sondern allein noch als Exemplar des anderen, durch dieselbe unentrinnbare Natur bestimmten Geschlechts erscheint: J'ai bien ceste chosse essaiee, Feme mesptent a la foiee.

( I b 3079 f.)

Im Vergleich zu der Typik der Frau im Fabliau zeichnet sich selbst noch der RdR, obwohl er von dem Prinzip der Einzig-Artigkeit nur selten abweicht und lediglich vier weibliche Hauptfiguren (Pinte, Hersent, Hermeline, Fiere) als Pendant zum Hahn, Wolf, Fuchs und Löwen einführt, durch eine größere Differenzierung weiblicher Typen aus. Sobald diese aber in eine erotische Situation gebracht werden, geht - wie nicht anders zu erwarten - ihre Differenzierung verloren. Hermeline, der in Branche Ib die Rolle der schnell getrösteten Witwe zufällt, und Hersent, die ihrem impotent gewordenen Gemahl auf der Suche nach einem neuen Freier davongelaufen ist, unterscheiden sich in ihrem edlen Wettstreit, wer die größere ,puterie' habe, nur noch durch die Nuancen ihrer Argumente, mit denen sie plötzlich wieder ihre Ehrbarkeit unter Beweis stellen wollen (cf. IIb 3051-3132), und Renart, den Poncet in seiner Abwesenheit zum ,cocu' gemacht hat, teilt am Ende das Schicksal, das er Ysengrin in Branche II bereitet hatte - ein Jedermannsgeschick, das alle, denen es widerfährt, ob sie wollen oder nicht, auf dieselbe Weise kennzeichnet. Obwohl es der FabliauSituation in Branche I b nicht an ursprünglicher Komik mangelt - der Bettdialog zwischen Hersent, die erwartet Ce qu'a totes femes avient (v. 2650), und Ysengrin, der dazu nicht mehr in der Lage ist und nach dem vergeblichen Versuch einer frommen Ermahnung auf eine wahrhaft groteske Ausrede verfallt (cf. v. 2667), übertrifft mit seinem Witz die übliche obszöne Drastik der meisten Fabliaux - hat diese Art von Fortsetzung in der Geschichte des Zyklus bezeichnenderweise keine Schule gemacht 1 ). Im GeEine ausgesprochene, doch sehr abgeschmackte Fabliauszene findet sich lediglich in Br. X I I I (1008-1089), deren Verfasser das Verfärbungsmotiv von

259 samtabenteuer Renarts bildet auch das Jedermannsgeschick des ,cocu' nur eine Episode, die als Konstellation einmalig bleibt wie der erotische Erfolg bei Hersent 1 ); aus Renart einen ,Don Juan' im Reich der Tiere zu machen, blieb einem Epigonen des späten 13. Jahrhunderts vorbehalten 2 ), als mit der Allegorisierung die Einzig-Artigkeit der Tiercharaktere und ineins damit die Unvertauschbarkeit ihres typischen Geschicks aufgegeben wurde. Die gegenläufige Tendenz der unabhängigen Einzelbranchen, die der Verfasser von Branche I wieder in die epische Welt der Hoftagsfabel zu integrieren sucht, ist demnach dadurch gekennzeichnet, daß sich das Einzelabenteuer Renarts mehr und mehr von der feudalen Vorstellung eines hierarchisch gegliederten Reiches der Tiere ablöst und einen neuen Fluchtpunkt jenseits der epischen Welt, in der unheroischen Sphäre privaten Daseins findet, die am Ende selbst zum Schauplatz der aventure wird. Renart selbst wird dabei in dem Maße zum Schelmen, als er aufhört, bloße Gegenfigur einer heroischen Welt zu sein, und es keiner gesellschaftlichen oder moralischen Norm mehr bedarf, um sein Wesen als eine Negation derselben zu rechtfertigen. Jene Sphäre privaten Daseins am Rande der alten, epischen Welt zu kennzeichnen, die sich mit dem Heraufkommen der Schelmenfigur allmählich in den zyklischen Fortsetzungen des Renartabenteuers ausbildet, scheint der soziologische Begriff der bürgerlichen Welt indes nur dann angemessen, wenn man ihn noch nicht auf ein literarisches Selbstbewußtsein des neuen, vom ,vilain' sich distanzierenden dritten Standes festzulegen sucht. ,Bürgerlich' kann im Blick auf diese Tendenz der zyklischen Entwicklung des RdR einzig jene erste unverhohlene Bekundung einer unheroischen, „läßlichen", „im Unidealen sich behagenden" Gesinnung meinen, auf die Leo Spitzer durch seine Interpretation von Renart pelerin (Branche VIII) so nachdrücklich hingewiesen hat 3 ). Br. I b noch einmal benutzt; w o sich sonst Obszönitäten im RdR vorfinden, sind sie durchweg einem besonderen Erzählmuster - der Schelmenbeichte (VII 681 bis 725; X V I I 383-404), der .verkehrten Welt' ( X V I I , s. u. p. 3o6f.), dem gynä-

kologischen Schwank von Br. XXII (la chancon, Conme Renart parfist le c . . .) —

untergeordnet. 1 ) Außer in Br. XIII, deren Verfasser nur eine schlechte Nachahmung der beliebtesten Schwankmuster, darunter auch Br. I b , geliefert hat, wird das Thema von der Buhlschaft zwischen Renart und Hersent im RdR nicht wieder aufgenommen; statt dessen sind die Szenen zwischen Renart und Fifere aus Br. I a ( 1 7 8 3 - 1 8 2 2 , 1899-1950) später in Br. X I (Renart, der sich an Stelle von Noble zum König erheben ließ, heiratet Fiere, cf. 2300-2475) und Br. X V I I (Fiere verrät sich als seine ,amie', nachdem er im Schachspiel mit Ysengrin seine Mannbarkeit eingebüßt hat, cf. 3 1 3 if.) zu einem höfisch-romanesken Seitenthema ausgesponnen worden, das letztlich auf die Ringepisode in Br. I (cf. 1438 fr.) zurückgeht. 2

) Jacquemart Gielee in seinem 1288 in Lille entstandenen RENART LE NOUVEL. ) Vgl. SPITZER p. 2 1 3 - 2 1 4 ; von einer eigenen Textanalyse können wir hier absehen, da Spitzers Interpretation von den Einwänden, die wir gegen seine 3

»7*

26ο Β. Das Gericht über den Schelmen als Konklusion und Fortsetzungskeim Die Konklusion, die der Verfasser von Branche I dem Werk Pierres de Saint-Cloud zu geben suchte und die selbst wieder zum epischen Muster und Integrationsschema für eine ganze Reihe von weiteren Konklusionen geworden ist, hat die bisherige Forschung vornehmlich im Blick auf die postulierte afrz. Urfassung der Hoftagsfabel beschäftigt 1 ). Diese nach rückwärts gewandte Blickrichtung macht sich auch noch bei Foulet geltend, der in seinem Bestreben, die Originalität der auf uns gekommenen RenartBranchen und damit die zeitliche Aufeinanderfolge von YS, RdR, R F und Reinaert I zu erweisen, die Nachbildungen der Hoftagsfabel primär auf ihre Abhängigkeitsverhältnisse hin untersucht und die Eigenart der verschiedenen Nachahmer herausgestellt hat. Demgegenüber soll im folgenden die Blickrichtung von vornherein umgekehrt und die geschichtliche Entwicklung des Zyklus progressiv, unter dem Aspekt seiner immer neu versuchten Konklusion betrachtet werden. Das Verfahren, die Nachbildungen der Hoftagsfabel nicht so sehr unter dem Gesichtspunkt der Nachahmung, als unter dem der beabsichtigten Weiterbildung und zyklischen Fortsetzung zu untersuchen, klammert die Konjekturen über eine verlorene afrz. Urfassung, die dem erhaltenen RdR wie dem R F und Reinaert I vorausliegen soll, zunächst aus. Es dürfte aber in seinem Resultat doch wiederum zur Lösung der Frage nach Ursprung und geschichtlicher Abfolge der volkssprachlichen Tierepen des Mittelalters beitragen, wenn sich die Posteriorität der außerfranzösischen Tierepen im Verhältnis zu den ältesten afrz. Hoftagsbranchen auch aus ihrem Ort innerhalb des in seiner ganzen mittelalterlichen Verzweigung zu betrachtenden Zyklus begründen läßt und wenn die Analyse ihrer spezifischen, immer zugleich durch Fortführung, Umdeutung oder Abschließung mitbedingten Intention eine Einordnung ergibt, die die Annahme einer verlorenen gemeinsamen Quelle überflüssig macht. Den Ausgangspunkt dieser Betrachtung bildet das Ergebnis unserer Untersuchung in Kap. III, C: die afrz. Renart-Branchen und die Tierepen ihrer außerfranzösischen Nachdichter weisen insofern einen fundamentalen Unterschied auf, als der RdR in der auf uns gekommenen Gestalt Eigenheiten einer reinen Vortragsdichtung bewahrt, während die mhd. und auch die ndl. Version als Übersetzungen bereits den Schritt in die schriftliche Fixiertheit des Buches und damit eine strukturell andersartige Komposition voraussetzen. Die Frage, welche Veränderungen sich daraus ergaben, romantische Auffassung vom mittelalterlichen Tierepos erheben müssen, unberührt bleibt und durch den Zusammenhang, in den wir sie hier einordnen, neue Bedeutung gewinnt. Die Nachbildungen der Branche I hat zuerst Knorr, Die zwanzigste brauche des Roman de Renart und ihre Nachbildungen, Eutin 1866 (Programm des Gymnasiums) untersucht, vgl. dazu FOULET p. 190FR., w o er gegen Knorr u. a. die Anteriorität von Br. V a überzeugend nachweist.

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daß die fließende Überlieferung der Vortragsdichtung zum festen Buchtext wurde, wie sie H. Frankel im Anschluß an die von M. Murko erforschten Verhältnisse der serbo-kroatischen Volksepen für das homerische Epos aufwarf, ist auch für das mittelalterliche Tierepos zu stellen. Da hier beide Phasen gleichermaßen deutlich zu fassen sind - das Corpus der überlieferten Branchen des RdR spiegelt, da es nur durch die Vermittlung eines Sammlers von Sängermanuskripten und nicht schon durch die ordnende Hand eines abschließenden Redaktors auf uns gekommen ist, noch in der vorliegenden Gestalt den Prozeß einer fortgesetzten Umwandlung; die Werke des mhd. und ndl. Nachdichters hingegen haben abschließende Gestalt (das erstere ist nie mehr umgebildet 1 ), das letztere erst über hundert Jahre später zu REINAERTS HISTORIE erweitert worden) - kann hier die Eigenart der in ständigem Wandel begriffenen Vortragsdichtung und ihre Buchwerdung besonders anschaulich werden. Die Nachbildungen der Hoftagsfabel, die durch Branche I zum wichtigsten Aufbauschema der Fuchsepen wird, stellen geradezu ein Schulbeispiel dafür dar, wie in dieser „aus praktischen Gründen, aber auch gemäß ihrem Stilwillen immer auf Fortgang bedachten", und „nicht auf formgerechte Schlüsse hinarbeitenden" Vortragsdichtung 2 ) jeder neue Verfasser den alten Stoff verändern und an ihm weiterdichten kann. Überblickt man die Nach- und Weiterbildungen der Hoftagsfabel im ganzen, so hebt sich von den variablen Elementen: Detailausstattung, Hervorschieben von Nebenfiguren, Vermehrung von Einzelepisoden, nachträgliche Motivierungen, rückläufige Reaktionen 3 ) das konstante Schema ab, welches vornehmlich dazu geeignet war, die wachsende Zahl der divergenten Einzelschwänke in die epische, durch den Hof König Nobles repräsentierte Welt zu reintegrieren: das Gericht über den Außenseiter Renart (Anklage, Botengänge, Beichte, Verteidigung, Urteil, Entkommen mit Heimkehr). Anklage, Beichte und Verteidigung eigneten sich zur Rekapitulation bekannter Streiche, Botengänge und Entkommen zur Einfügung neuer Schwänke. Der Prolog zu Branche I, die dieses Muster zuerst ausgebildet hat, macht auch schon die Ansatzpunkte sichtbar, an die sich die zyklische Fortsetzung aller weiteren Verfasser von Hoftagsbranchen anknüpft: Perrot, qui son engin et s'art Mist en vers fere de Renart E t d'Isengrin son eher conpere, Lessa le meus de sa matere: Car il entroblia le plet E t le jugement qui fu fet E n la cort Noble le lion D e la grant fornicacion *) Der R F hat kein Nachleben gehabt; die Hss. differieren nur gelegentlich im Wortlaut, nicht aber in der Wiedergabe der Fabel. A ) FRANKEL p. 18 (zur homerischen bzw. serbokroatischen Epik). *) Z u den einzelnen Punkten siehe FRANKEL p. 2 3 - 2 5 .

202 Que Renart fist, qui toz maus cove, Envers dame Hersent la love. (I I-IO)

Das Urteil über Renart steht noch aus. Insofern hat Pierre de Saint-Cloud versäumt, der Geschichte vom Grund der Feindschaft zwischen Renart und Ysengrin die notwendige Konklusion zu geben. Renart in persona auf der Bank des Angeklagten - damit gewinnt der Verfasser von Branche I die Möglichkeit, seiner aventure einen Abschluß zu geben, der für die weitere Entwicklung des Zyklus zwei variationsfähige Fortsetzungskeime enthält: wie ist Renart, qui to£ maus cove (I 9), vor das Gericht zu bringen und wie versteht er es, sich als Schelm jedesmal wieder dem Urteil zu entziehen? Der Verfasser von Br. I, der den Faden seines Vorgängers wieder aufgreift, begründet seinen neuen Ansatz mit einer unmittelbar evidenten Berichtigung und versteht es schon in der Rekapitulation von Br. Va, seiner Wiederholung des ersten Hoftags den Aspekt eines wieder aufgenommenen Verfahrens zu geben, so daß sein Publikum von Anbeginn unter dem Eindruck einer neuen, von eigener Spannung erfüllten Fortsetzung stehen muß 1 ). Die Klage Ysengrins, die nun auch die Flucht vor dem Schwur im ,Escondit' einbegreift, wird in der neuen Verhandlung unter anders verteilten Rollen niedergeschlagen. König Noble spielt sich nicht mehr als Anwalt der höfischen Liebe auf, sondern bagatellisiert den Ehebruch als ein alltägliches Mißgeschick, von dem auch nicht der Höchstgestellte verschont bleibe: Musart sont Ii roi et Ii conte, E t eil qui tienent les granz corz Devienent cop, hui est Ii jorz. (I 48-50)

Der Minnekasus Pierres de Saint-Cloud hat aufgehört, den Hoftag vor eine unlösbare Frage zu stellen, und wenn Hersent am Ende mit dem zweideutigen Schwur ihre Unschuld beteuert: One, foi que doi sainte Marie, Ne fis de mon cors puterie Ne mesfet ne maveis afere Q'une none ne polst fere. (I 1 7 5 - 1 7 8 )

weiß jedermann, was er davon zu halten hat, mit der einen Ausnahme des naiven Esels Bernart, der ihr Verhalten allen Ernstes seiner Eselin und allen Frauen als Exempel für Loyalität hinstellen will. Mit dieser ironischen Entlarvung Hersents im Spiegelbild der Reaktion des Dümmsten ist der Kasus zu Lasten der Wölfin abgetan. Denn Ysengrin kann den Vorschlag *) Die folgende Interpretation erhärtet unter dem Gesichtspunkt des epischen Fortgangs die von FOULET (p. 190 ff.) gegen Voretzsch u. a. vorgebrachte Auffassung, daß Br. I bereits Br. V a voraussetzt. A u f einzelne entgegengesetzte Ansichten von U. LEO einzugehen, der mit Voretzsch daran festhält, Br. I sei später als der RF, aber früher als Br. V a geschrieben worden, erübrigt sich, da diese zumeist darauf zurückzuführen sind, daß L. seine noch in Unkenntnis von Foulets These abgefaßte Arbeit abschloß, ohne sie auf Grund der neuen Ergebnisse noch einmal zu revidieren.

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des Königs, Hersents Aussage dem Gottesgericht einer Feuerprobe zu unterziehen (v. 237fr.), das seine Hahnreischaft möglicherweise erst recht publik machen würde, nicht annehmen und droht mit einer Privatrache, die ihm der König unter Berufung auf den unlängst beschworenen Landfrieden verwehrt. Mit dem Minnekasus wäre für den Verfasser von Branche I aber zugleich auch schon der Krieg der beiden Barone, das epische Thema seines Vorgängers, zu Ende gekommen, wenn Renart nicht in diesem Augenblick in Chantecler ein neuer Kläger erstünde: Or est Renart bien avenu, Si dex Ii oüst porveii: Q'en tel point avoit pris Ii rois L'acorde maugre as yrois, Que ja preist la gerre fin Entre Renart et Ysengrin, Se ne fust Chantecler et Pinte Qui a la cort venoit soi qinte Devant lo roi de Renart pleindre.

(I 273-281)

Mit dem unerwarteten Aufzug der neuen Kläger erhält Branche I nicht allein ihre dramatisch in Szene gesetzte P e r i p e t i e H i e r tritt zugleich ein folgenreicher Wechsel in der Erzählperspektive ein: der Krieg der beiden Barone verliert seine zentrale Bedeutung für die Fabel, der Antagonismus von Fuchs und Wolf wird dem allgemeineren Spannungsverhältnis zwischen dem frondierenden Einzelnen und der im Hoftag verkörperten Gesellschaft untergeordnet. Der Konflikt zwischen dem, qui tot le mont conchie (I 92), und dem vom ritterlichen Ethos getragenen Feudalstaat König Nobles läßt von nun an - denn Br. I bildet in 10 von 15 Handschriften den Eingang des Zyklus - Renart allein zur Titelfigur des mittelalterlichen Tierepos werden. Daß der Verfasser von Branche I Renart, dessen Fall in Branche V a noch in absentia verhandelt wurde, nun in persona vor den Hoftag bringt und ihn dabei erst nach dreimaliger Ladung vor seinem Feudalherrn erscheinen läßt, rückt sein Werk in die Nähe der Empörergeste 2 ). Auf Parallelen zwischen Branche I und den Vasallenepen, insbesondere R E N A U T D E M O N T A U B A N und der C H E V A L E R I E O G I E R hat vor allem U . Leo hingewiesen 3 ). In Brun und Tibert hat der Verfasser von Br. I demnach die beiden aus der Chanson de geste bekannten Typen des mutigen und des ängstlichen Boten einander gegenübergestellt und damit, wie auch in Grimberts Botengang, bekannte Szenen der Heldenepik nachgebildet. Der fron1

) Siehe F O U L E T p. 344. ) U. T. Holmes, A possible source of Branch I of the Roman de Renart, R R X V I I (1926) p. 143-148, will in einer Legende aus der Vita von Ciaranus, Bischof von Saigir, eine mögliche Quelle für den Botengang des Dachses sehen. Das viel näher stehende Vorbild der Chanson de geste und des höfischen Epos (im PERC E V A L ζ. Β. entbietet Artus nacheinander Sagremor, Keu und Gauvain als Boten) macht indes eine Beziehung zu diesem entlegeneren Text unwahrscheinlich. 2

*) Vgl. p. 74-85, h i f - , 125, 174·

264 dierende Renart ist jedoch im Grund seines Wesens kein Empörer, der sich im Bewußtsein seines Sonderrechts gegen den Anspruch seines Feudalherrn auflehnt, sondern ein Schelm 1 ), der sich erst den Boten des Königs und am Ende der ihm auferlegten Buße par fine force de barat (I 1064), d. h. auf eine verblüffende, völlig unheroische und alle Konvention überspielende Weise zu entziehen sucht. Das kündigt sich schon in seinem unmotivierten Fernbleiben vom Hoftag an und wird dann besonders durch die Grundlosigkeit der Streiche sinnfällig, die er den beiden ersten Boten spielt. Sein Klagelied auf den Hof, in dem er sich als mißachteter povres hom qui tt'a avoir aufspielt (I 505 ff.), hat nicht den Tenor eines selbstherrlichen Vasallen und steht vielmehr im Dienste seiner Absicht, Brun hinters Licht zu führen (Or se conmence a porpenser Con se porra vers lui tenser, I 497-498). In tenser liegt hier schon die Bedeutung von .wetteifern', die spielerische, keiner epischen Begründung bedürftige Erprobung von engin et art. Denn Renart, der noch nicht wissen kann, daß sich Brun am Hofe zum Fürsprecher seines Feindes Ysengrin machte, hat keinen besonderen Anlaß, an Brun Rache zu üben, was auch in dem rein situationsgebundenen ,gap' am Ende des Honigabenteuers zum Ausdruck kommt {De quel ordre voles vos estre Que roge caperon portes? I 698-699). Desgleichen ist auch die Überlistung Tiberts beim zweiten Botengang nicht etwa als Vergeltungsakt für das Jagdabenteuer in Branche II motiviert 2 ). Der Kater wird erst noch auf dem Hoftag neben dem Dachs als ein Parteigänger des Fuchses hingestellt (I 469-473), und auch die Übermittlung der Botschaft durch den .conpaignon' (v. 749) Tibert hat durchaus den Charakter einer freundschaftlich besorgten Warnung (cf. I 785-791). Doch noch ehe Renart von seinem do% compains (v. 768) über die drohende Feindseligkeit des ganzen Hofes Aufklärung erhalten hat, schwört sich Renart entre ses denTibert einen Streich zu spielen, s''engin ne faut (v. 775). Auch hier wird die ErDarum kommt er auch nach der dritten Ladung sofort freiwillig mit und wirkt sein Kommen nicht „unmotiviert", wie U. LEO meint: „Daß er mitkommen mußte, weil er sich durch Verweigern des 3. mandement strafbar macht, ist kein Grund; ist er ein wirklicher Ritter, so konnte er handeln wie etwa Renaut de Montauban, der auch auf die 3. Ladung nicht an Mitkommen denkt, sondern sich zum Widerstand rüstet" (p. 82 Anm. 1). Dieses Mißverständnis der Situation des Schelmen, den Leo überhaupt nicht erkennt, erklärt sich daraus, daß Leo den dritten Botengang als „unorganischen Überrest" aus der älteren Tradition erweisen will, in der es noch keine drei Botengänge, sondern lediglich die Warnung Renarts durch einen Freund gab (p. 79 Anm. 1). Die beste Widerlegung der hier und p. 108 postulierten Mängel des angeblich „überlebten Motivs" bringt Leos Interpretation, wie immer in dieser Arbeit schlüssiger als sein genetisches System, später selbst, wenn er die künstlerische Variierung und geschickte A b hebung des dritten Botengangs von den ersten beiden rühmend hervorhebt. *) Auch der gap Tiberts mit seiner fabliau-artigen Pointe: Λ tot le meins en sa parocbe Ne puet soner qu'a une cloche (I 909-910) enthält keinen Hinweis auf die Vorgeschichte von Fuchs und Kater. LEO vermutet in der Episode ,Tibert und der Priester* ein eingelegtes Fabliau, cf. 1 5 9 - 1 6 8 .

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probung von engin et art zum Selbstzweck, zur spielerischen Selbsterprobung, die keiner äußeren epischen, noch einer inneren psychologischen Motivierung mehr bedarf, die mit dem Wesen Renarts so sehr gleichbedeutend geworden ist, daß Tiberts Botengang mit seinen üblen Vorzeichen von vornherein den fatalen Aspekt einer male aventure (v. 773) erhält, die für den Betroffenen auch nicht durch die Bekundung seiner Loyalität abzuwenden, noch überhaupt mit dem Maß der feudalen Ethik zu fassen ist. Das Verhalten Renarts gegenüber den ersten beiden Boten bleibt in seiner Grundlosigkeit jenseits von loyal und felon·, es läßt sich nicht als Treubruch definieren, weil ein solcher immer schon die auch noch in seiner Leugnung implizit enthaltene Anerkennung des Treueprinzips voraussetzen müßte. Es ist darum in den Worten, in denen der Dachs als Freund des Fuchses und letzter Bote Renart zur Rechenschaft zieht, schon gar nicht mehr von felonie die Rede. Grimberts Vorwürfe gipfeln in einem neuen Begriff, der in Branche I erstmalig seine volle Bedeutung erlangt: ,Sire Renart' ce dist Grinbert, ,Trop est vostre barat apert. Savez vos que Ii rois vos mande, Non mie mande, mes conmande? Que vos Ii viengnes fere droit E n son pales ou que il soit. Prendra ja vostre gerre fin? Que demandes vos Ysengrin Ne Brun l'ors ne Tybert le chat? Mar velstes vostre barat. (I 975-984)

Daß barat hier als Inbegriff für ein Verhalten zu verstehen ist, das nach den Vorstellungen der feudalen Ethik eines zureichenden Grundes entbehrt, kommt in der Redesituation darin zum Vorschein, daß sich Grimbert bemüht, Renart den Inhalt der ihm schon zweimal übermittelten Botschaft überhaupt erst klar zu machen, als ob ihm dieser nicht bewußt gewesen sein könne, als er den ersten Boten so übel mitspielte (Saves vos que Ii rois vos mande. . .). Die Formfrage, mit der Grimbert den Fuchs zuvor am Hofe herauszureden versuchte (hätten die andern Boten Brief und Siegel des Königs vorgewiesen, so wäre er der Ladung sicherlich sogleich gefolgt, v. 933 fr.), tut hier schon gar nichts mehr zur Sache - Grimbert zeigt den Brief nur noch als Beweisstück am Ende seiner Ermahnung vor - und erweist sich damit nachträglich als eine bloße Spiegelfechterei Grimberts. Wenn barat gerade in Branche I zum Schlüsselwort für die episch nicht mehr motivierte List Renarts wird und im Vergleich zu den bisher geläufigsten Begriffen wie engin, guile, abet, boise erhöhte Bedeutung gewinnt 1 ), x ) Barat ist in Br. I gleich 9mal belegt: v. 474, 805, 815, 849, 903, 976, 984, 1064, 1284 (baretere), findet sich aber in den (nach Foulets Chronologie) vorausliegenden Branchen noch nicht. Zur Wortgeschichte von barat vgl. TILANDER (Remarques p. 1 7 - 2 1 ) , der barat von dem schon früher belegten (Wace, Chrestien)

266 dürfte diese Verschiebung im Begriffsfeld wohl damit im Zusammenhang stehen, daß hier zum erstenmal im RdR die Überlistung um ihrer selbst willen thematisiert wird. Mit dem Augenblick, in dem das epische Thema vom ,Krieg der beiden Barone' in den Hintergrund rückt und Renart aus der Rolle des Antagonisten eines ihm allein zubestimmten, traditionellen Feindes in die des Protagonisten emporwächst, der als Außenseiter zu der ständisch-ritterlichen Gesellschaft überhaupt in Gegensatz gerät, verändert sich auch der Charakter seiner aventure; die episch begründete Überlistung wird zum selbstzweckhaften Streich, die Tierfigur des Listigen hört auf, nur einer unter anderen Charakteren zu sein, Renart wandelt sich zum Schelmen, der jenseits der gesellschaftlichen Moral sein Wesen treibt, ihr Gut und Böse nicht anerkennt und gleichwohl mit dem Bösewicht der Heldendichtung nichts gemein hat, der immer noch - mit Leo Spitzer zu sprechen 1 ) - eine ,Konteridealisierung' voraussetzt. Die Amoral des Schelmen wird in Branche I gerade erst sichtbar und läßt sich am besten am Verhalten der anderen Tierfiguren und an der Stellungnahme des Erzählers greifbar machen. Das Unverstehn des Königs, der Renart eingangs noch ausdrücklich in Schutz nahm (cf. I 228 ff.), äußert sich zuerst bei der Entsendung des Dachses, den er in seiner Ratlosigkeit über solche grant diablie (v. 923) nun auch noch verdächtigt: Sire Grinbert, molt me merveil, Se ce est par vostre conseil Que Renart me tient si por vil.

(I 927-929)

Es steigert sich in seiner Replik auf dieVerteidigungsrede des baretere zurFrage nach dem Warum, die die für das feudal-ritterliche Weltverständnis unerklärliche Seite von Renarts Verhalten - den gratuiten Streich - sinnfällig macht: ,Dahez ait l'ame vostre pere E t la pute qui voz porta Quant ele ne vos avorta! Or me dites, traitres lere, Por quoi estes tant baretere?

(I 1280-1284)

Der Erzähler selbst greift hier, obwohl er anderenorts genug geistige Unabhängigkeit bewies, um neben der Hofsatire (cf. I 505 ff.) mit dem Begräbnis und dem Pseudomirakel der .Heiligen Coupee' (I 397-468) eine der gelungensten geistlichen Satiren des RdR zu schaffen, auf Formeln des moralisierenden, christlichen Predigttones zurück (vgl. etwa qui to% maus cove, v. 9; qui chascun jor empire, v. 427; qui n'ait confesse, v. 610), die als Epitheta für den Fuchs im Vergleich zu den älteren Branchen ungewöhnlich erscheinen, weil sie durch keine einzige Wendung aufgewogen werden, die eine stille Bewunderung (wie in Br. IV) oder auch nur Bejahung seiner barate = Zank, Streit (aus ano. barätta) trennen und auf den Eigennamen eines berühmten Diebes (Fabliau Barat et Haimet) zurückführen will, aus dem sich barat zur Gattungsbezeichnung für Dieb entwickelt habe. SPITZER P. 2 1 5 .

267 Streiche verraten würde 1 ). Daß der Erzähler so wenig wie seine Figuren den reinen Schelmenstreich bejahen kann, obwohl er ihn selbst als erster thematisiert hat, zeigt wiederum an, daß die episch-ritterliche Welt des Hoftages und die unheroische Sphäre des Außenseiters Renart letztlich inkommensurable Größen geworden sind. Der Verfasser von Branche I, der mit dem epischen Schema des Botengangs versucht, den zur Selbständigkeit tendierenden Fuchsschwank wieder in die alte epische Ordnung zurückzuführen, kann den Gegensatz zwischen dem ritterlichen Ethos und der Amoral des Schelmen nicht mehr ganz aufheben. Die Selbstanklage, die der reuige Sünder Renart vor seinem Standesgenossen und Freund Grimbert ablegt (v. 1023-1096), spielt ständig in eine selbstgefällige Rechtfertigung des Schelmen hinüber, und das Urteil, mit dem ihn der König und seine Barone an den Galgen bringen wollen, rechtfertigt sich bereits nicht mehr durch die Überführung des Angeklagten - König Noble geht auf die sachlich schwer widerlegbare Verteidigungsrede Renarts gar nicht mehr ein (Bien saves parier et plaidier: Mes ce que vaut? ce n'a mestier, v. 1285 bis 1286) - , sondern einzig, um seiner renardie (v. 1290) ein für allemal ein Ende zu setzen2). Die Ableitung renardie findet sich an dieser Stelle zum erstenmal. Sie ist insofern einzigdastehend, als entsprechende Ableitungen aus den anderen Tiercharakteren nicht gebildet wurden, und zeigt damit den Punkt an, an dem sich der Fuchs als Ausnahmewesen von der Hierarchie der Tierfiguren abzulösen begann 3 ). In der Beichte, die Renart vor dem Aufbruch in die grant aventure (v. 1018) des Hofgerichts ablegt, ist seine neue Rolle nicht mehr zu verkennen : hier löst sich die Schelmenfigur ganz sichtbar von ihrer heroischen Gegenwelt ab. Denn für seinen Aufbruch lassen sich wieder epische Muster in der Empörergeste aufweisen (Beichte und Gebet vor gefahrvollem Gang) 4 ), und die Abschiedsrede, mit der der scheidende Fuchs sein Haus bestellt, hat noch ganz den stolzen Tenor eines selbstherrlichen Vasallen: ,Enfant' fet il, ,de haut lignaje, Pensez de mes casteax tenir, Que que de moi doie avenir.

(I 1 1 1 2 - 1 1 1 4 )

Der Erzähler nennt Renart entweder kurzum leres (v. 23, 1 5 1 0 ) und leeeres (v. 833, 892) oder gebraucht Wendungen wie qui tot le mont conchie (boise) (v. 92 bzw. 1475), die keine Bejahung implizieren; dazu kommen noch die entsprechenden Schimpfnamen, mit denen ihn die Tiere selbst belegen, vgl. v. 92, 129, 308, 7 3 1 . 2

) Daß es sich im Grunde nur um ein präventives Urteil handelt, wird ν. 1345 ff. vom König deutlich ausgesprochen. 3 ) Das Wort ist im R d R noch Br. V I 780, I X 1 6 1 7 belegt, nach U. LEO (P. 1 7 2 Anm. 1) nicht vor der Periode der Tierdichtung gebräuchlich, also wohl aus ihr stammend; dazu wäre ein Beleg aus PHILOMENA (v. 929, cf. FOULET p. 43 A n m . 5) zu stellen, deren Datierung ( 1 1 6 5 ?) und Zuweisung an Chrestien indes problematisch ist. *) Siehe U. LEO ρ. 1 1 1 f.; die Tierbeichte im BRUNELLUS ist nach Voigt {Kl. lat. Denkmäler p. 3 1 - 3 4 ) späteren Datums und nicht als Quelle für den R d R heranzuziehen.

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Doch der Fuchs mißt mit zweierlei Maß und läßt sich vom Dachs nur darum zu einer Beichte verleiten, weil er weiß, daß sein wahres Geständnis nur von Grimbert gehört werden und ihm darum am Hofe nicht mehr schaden kann (v. 1027-1028). Läßt schon dieser Vorbehalt seines Geständnisses und die Art, es vorzubringen - in seinem Sündenkatalog fehlt weder die Hyperbolik der Summierung (Ge ne vos auroie hui retrait Tot le mal que je Ii ai fet, I 1069-1070), noch das Eigenlob in der Benennung seines Treibens (Par fine force de barat Li fis je tant qu'il devint moines, v. 1064-1065), noch zuguterletzt die verharmlosende Distanzierung (Or voil venir a repetitanche De quanque j'ai fet en m'enfanche, v. 1095-1096) - am Ernst seiner Bußfertigkeit zweifeln, so wird dieser Zweifel noch vermehrt durch das schalkhafte, schon leicht an Blasphemie streifende Gebet, in welchem er Gott nicht etwa um Vergebung und Beistand, sondern einzig und allein darum bittet, ihn im entscheidenden Augenblick beim vollen Gebrauch seiner Verstandeskräfte zu erhalten (cf. I 1 1 2 9 - 1 1 3 9). Wenn er sodann auf dem Wege zum Hof schon beim ersten Anblick von Hühnern rückfällig wird und auf Grimberts Vorhaltung zu der faulen Ausrede: ge l'avoie oublie (v. 1168) greift, ist das Publikum bestens vorbereitet, seine List, mit der er sich aus höchster Not vom Galgen herunterschwindelt - er spielt wieder den Bußfertigen und gelobt, das Pilgerkreuz zu nehmen - , sogleich in der Perspektive des unverbesserlichen Schelmen zu sehen. Die innere Einkehr des Schelmen, die für den Zuhörer von vornherein in der Erwartung des unvermeidlichen Rückfalls steht ('Renartpelerin kann es sich denn auch schon bei der nächsten Hecke nicht versagen, den Hasen Couart als willkommene Wegzehrung und als Mitbringsel für seine Kinder mitgehen zu heißen, v. 1499ff.), wird indes vom König ernst genommen: Atant Ii vet chaoir as piez. Au roi en prist molt grant pitiez. (I 1395-1396) Die damit eingeleitete und begründete Begnadigung liegt nicht etwa nur in der Ökonomie der Fabel, derzufolge Renart für den weiteren Fortgang des Zyklus unentbehrlich war. Der Tod am Galgen wäre zwar ein Akt poetischer Gerechtigkeit für den Verräter im Epos, nicht aber für Renart, der auch noch als Bösewicht, den er in den Augen der prodomes darstellen muß, etwas von der Liebenswürdigkeit bewahrt, die dem echten Schelmen eigen ist. Das Mitleid des Königs in Branche I ist kein ,deus ex machina', seine Echtheit ist schon vorher angelegt und in den Worten begründet, mit denen der Löwe Renart vor seinen Anklägern in Schutz nahm: Renart ne he ge mie tant Por rien qu'en Ii voist sus metant, Que je le voille encor honir, S'il se voult a moi abonir. (I 233ff.) Man kann ihm auf die Dauer nicht böse sein, auch wenn man nicht so weit geht, ihn im Stillen zu bewundern, wie es das Beispiel der Königin vor Augen führt, die dem scheidenden Pilger ihren Ring schenkt (cf. I 143 6 ff.). Daß sich die Sympathie für den Schelmen nur erst im Verhalten von König

269 und Königin und auch hier noch nicht in einer offenen Bewunderung seiner Listen und Streiche anzeigt, entspricht ganz dem zuvor erwähnten Unvermögen, Renart in seiner neuen Rolle der Vorstellungswelt der ritterlichen Gesellschaft einzuordnen. Mit dem epischen Thema der Feindschaft von Fuchs und Wolf ist an diesem Punkt der Geschichte des Zyklus zugleich auch das Motiv des unüberwindlichen Hasses in den Hintergrund gerückt, es bleibt auf den alten Widersacher Ysengrin beschränkt, der von nun an aber als cov^ und jalox (I 246) der Lächerlichkeit preisgegeben ist. Und während die anderen Tierfiguren in ihrem Verhältnis zum Schelmen alle Varianten zwischen Zorn, sittlicher Entrüstung und Haßliebe verkörpern 1 ), hebt mit der unverbrüchlichen Freundschaft zwischen Fuchs und Dachs ein neues Thema an, das vom verwandtschaftlichen Band über die Freundestreue bis zum Komplizentum weitergesponnen wird und in der weiteren Geschichte des Zyklus ähnliche Bedeutung erlangt wie in der älteren Tradition das Thema von Renart und Ysengrin, que ainc ne s'entramerentjour (II 15). Das Werk des Fortsetzers von Pierre de Saint-Cloud hat bekanntlich die größte Nachwirkung unter allen Branchen des RdR erfahren. Sein Aufbauschema, die in Branche I episch erweiterte Hoftagsfabel, hat nicht nur für alle weiteren Konklusionen als Muster gedient: in dieser Gestalt ist der RdR ins Flämische und Franco-italienische übertragen und nach Foulet auch einem Hauptteil des mhd. R E I N H A R T F U C H S zugrunde gelegt worden. Damit stellt sich die Frage, inwiefern wohl Branche I das Werk Pierres aus seiner inaugurierenden Stellung im Zyklus verdrängt hat. Man könnte hierfür, von den hohen Qualitäten im Aufbau und in der Darstellung einmal abgesehen, vor allem zwei Gründe geltend machen: Branche I bringt, indem sie den Fuchs zum erstenmal vor Gericht stellt, das Gesamtabenteuer Renarts zu einem ersten Abschluß, der aber durch den offenen Ausgang des Prozesses als Konklusion für weitere Schwankreihen wiederholund fortsetzbar ist, und schlägt, indem sie Renart in die Rolle des Schelmen eintreten läßt, ein neues Thema an, das weiter in die Zukunft weist als die zeitgebundenere Fehde der beiden Barone und die Parodie auf die höfische Liebe in Br. II-Va. Doch damit rühren wir wieder an einen Punkt der alten Kontroverse zwischen Foulet und Voretzsch. Voretzsch hat bis zuletzt gegen Foulet an seiner alten These festgehalten, daß die Darstellung des R F ^wischen der älteren Tradition von Hoftag und Heilung des Löwen und dem überlieferten RdR liege 2 ) und Branche I, *) Mit Haßliebe läßt sich vielleicht am ehesten das Verhältnis des Katers T i bert zu Renart bestimmen, dessen Verhalten zwischen Mißtrauen (Br. II, X V ) , Feindschaft (Br. I) und Parteinahme (Br. X 129 ff.) für den Fuchs, der ihn immer wieder betrügt (Br. XII), hin und her schwankt. 2 ) „Der R F allein von diesen Dichtungen folgt, über den RdR hinweg, der alten Überlieferung, die von Äsop bis zum Ysengrimus reicht: er hat also unbewußt, in seinem dunklen Drange, die alte Überlieferung wiedergegeben. Nichts als Widersprüche in dieser anscheinend umstürzenden Anschauung L . Foulets" (Festschrift Baesecke, 1 9 4 1 , p. 173).

ιηο die nur noch den Hoftag kenne, demnach schon stärker von der Überlieferung abweiche als der .ursprünglichere' RF. Diese Auffassung findet indes keine Stütze, wenn man sie progressiv in der Geschichte der zyklisch sich fortsetzenden Versionen der Hoftagsfabel zu prüfen sucht. Denn einerseits schließt sich das Mittelglied der verlorenen, nach Voretzsch im RF bewahrten Renart-Branche keineswegs .organisch' an die ältere, durch den Y S E N G R I M U S repräsentierte Entwicklung an. Im YS, wo der Fuchs noch gar nicht vor Gericht gestellt wird, hat auch der Hoftag des Löwen noch nicht den Charakter eines Gerichtstages; die Großen des Reiches werden lediglich zu Hofe geladen, um dem kranken König einen letzten Dienst zu erweisen und bei der Übergabe des Reiches an Gattin und Kinder zugegen zu sein 1 ). Die hypothetische Mittelstufe zwischen dem YS, wo der Hoftag des Löwen nur erst die Szene für einen einzelnen Schwank (Schindung des Wolfes) bildete und RdR Br. I stünde demnach der letzteren um ein Beträchtliches näher als dem ersteren, da sie vom RF aus zu schließen bereits die Ausgestaltung des Hoftags zum Gerichtstag mit drei Botengängen 2), Chantecler als neuen Kläger, das Heiligenmirakel und vor allem den Wechsel der Erzählperspektive vom Wolf auf den Fuchs als Protagonisten (denn RF ist bereits ein Fuchsepos) enthalten müßte. Für diesen Wechsel bildet nun aber RdR Br. II-Va das (hier könnte man mit größerem Recht sagen: .organische') Mittelglied. Denn hier allein stehen Fuchs und Wolf noch als Antagonisten nebeneinander, wie nicht allein aus der Ankündigung im Prolog (v. 12 ff.) und aus der Strukturanalyse, sondern auch aus der Zitierung Perrots im Prolog zu Branche I (v. 1-3) erhellt, deren Verfasser dann in seiner Konklusion zum Werk seines Vorgängers seinerseits einen Schritt weitergegangen ist und Renart allein zum Protagonisten erhoben hat. Da nun aber der RF nicht allein als Fuchsepos anzusehen ist, sondern darüber hinaus - wie noch gezeigt werden soll - die Figur seines Protagonisten auch noch weiter als Branche I und X über seinen traditionellen Gegenspieler hinauswachsen läßt, wäre der Wechsel der Erzählperspektive vom Wolf auf den Fuchs, in dem der größte Bruch zwischen der älteren (lateinischen) und jüngeren (volkssprachlichen) Tradition liegt, nach Voretzschs Theorie schon für das angebliche .Mittelglied' völlig unvermittelt anzusetzen und Br. II-Va, die in dieser Hinsicht faktisch vermittelt, als abweichende, ja innerhalb der jüngeren Tradition sogar rückläufige Bearbeitung anzusehen3). Andererseits würde die Hypothese, daß *)

. . . hos proceres regia carta iubet, Ut saltern, si nulla malum mediana leuaret, Officium pietas exequiale daret, Rex quoque disposito prgcidere iurgia regno Cogitat uxori pignoribusque dari. (III 54-58) 2 ) Im YSENGRIMUS wird nur e i Η Bote, Gutero der Hase, entsandt, doch fehlt diesem Botengang noch das Moment der Überlistung. 3 ) Voretzsch hat diese Überlegung gar nicht angestellt, weil er Br. V a unentwegt für eine Bearbeitung von Br. I hielt.

ζητ das Mittelglied der verlorenen Renart-Branche, wie der „ R F Erkrankung des Löwen, Gerichtstag und Heilung des L ö w e n im Zusammenhang behandelte und in den überlieferten Handschriften des R d R in 2wei verschiedene Branchen geteilt und stark überarbeitet erscheint" 1 ), nicht nur eine ex abrupto erreichte Vollständigkeit des ganzen Fabelzusammenhangs, sondern auch einen sogleich wieder eintretenden Schrumpfungsprozeß bedingen, in dem merkwürdigerweise die Erzählung v o n L ö w e und Ameise, die in der Zwischenstufe die Erkrankung des L ö w e n motiviert haben soll wieder verlorengegangen und die enge Verknüpfung v o n Hoftag und Heilung des kranken L ö w e n wieder in Vergessenheit geraten w ä r e 3 ) . Gegen diesen regressiven Prozeß und das damit erforderliche System von Retouchen 4 ) ist der prinzipielle E i n w a n d zu erheben, daß Voretzsch den progressiven Charakter der zyklischen Fortsetzungen völlig außer acht läßt und darum auch nicht bedenkt, daß sich die Nachbildungen der H o f tagsfabel ganz verschieden darstellen können, wenn sie aus der Perspektive des variantenvergleichenden Philologen oder aus dem Erwartungshorizont des mittelalterlichen Zuhörers gesehen werden. W o der erstere nur N a c h ahmungen und Bearbeitungen ein- und derselben Branche entdecken will, kann der letztere in den Variationen desselben epischen Musters (Hoftag) durchaus auch die ständige zyklische Weiterbildung an einer immer wieder anders ausgelegten Fabel erblicken. In der T a t haben denn auch alle afrz. Nachbildungen von Branche I Fortgangscharakter, so daß der vortragende Jongleur auch bei einer sogenannten ,bloßen Bearbeitung' mit dem erneuerten Interesse seines Publikums rechnen kann. Selbst die Übersetzungen der Branche I weisen noch so viele Z ü g e auf, die eine neue Auslegung der Fabel bedeuten, daß sie im Gesamtzusammenhang des Zyklus als ein neuer Aspekt des Renartabenteuers bestehen können. Andererseits stehen die ältesten afrz. Hoftagsbranchen I I - V a , I und X , auf deren Kombination nach Foulet die Darstellung im R F zurückgeht, so deutlich in einer zyklischen Progression, daß von einem hier fehlenden, allein im R F .richtig' bewahrten Zusammenhang zwischen Hoftag, Krankheit und Heilung des L ö w e n , sofern man nur das Gestaltungsprinzip der variierenden und auf immer neuen Fortgang bedachten Vortragsdichtung beachtet, nicht die Rede sein kann. Der Verfasser v o n Branche I I - V a , die - wie oben gezeigt - zum Y S E N GRIMUS im Verhältnis der Fortsetzung steht, benutzt den Hoftag nur als Szene für den Abschluß des v o n ihm neu ausgesponnenen Ehebruchs*) VORETZSCH ( 1 9 4 1 ) p. 1 7 4 . ' ) S o VORETZSCH ( 1 9 4 1 ) p. 1 7 2 . 3

) „Mit der Zeit, unter dem Einfluß der Artusromane (. . .) wird die Einleitung nach deren Muster umgemodelt: d. h. der Hoftag tritt in den Vordergrund, die Krankheit des Löwen als Anlaß der Einberufung des Hoftags wird in den Hintergrund geschoben, wird völlig nebensächlich (Br. X ) oder verschwindet ganz (Br. I). Diese Ummodelung bedeutet einen Schritt weiter in der Vermenschlichung der Tier··, in den Tiergedichten" (VORETZSCH, 1941, p. 173). 4

) Siehe dazu FOULET p. 365.

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themas. Dabei kann die Krankheit des Löwen zunächst sehr wohl einer Fortsetzung vorbehalten gewesen sein; denn Pierre de Saint-Cloud beabsichtigt mit Br. II-Va ja nur, die ausstehende Geschichte über den Grund der Feindschaft von Fuchs und Wolf nachzuholen. Der Fortsetzungskeim ist mit or οβίζ le conmencement. . . (II 19) ausdrücklich gekennzeichnet, gleichviel, ob Pierre selbst daran dachte oder es einem anderen überließ, auf diesen ersten Anfang des afrz. Renartzyklus eines Tages die afrz. Version des kranken Löwen folgen zu lassen. Der Verfasser von Branche I, der - wie sein Prolog bezeugt - Branche V a fortsetzen will, holt das ausstehende Urteil über Renart nach und hat damit einen eigenen, folgerichtigen Anlaß zur Einberufung des Hoftags, der sich im Y S noch nicht findet und zu dem die Krankheit des Löwen als ein weiterer Anlaß hätte hinzukommen müssen. Daß der alte und der neue Anlaß nicht gleichsam von selbst in eine einzige, bruchlose Motivierung aufging, bezeugt Branche X , deren Verfasser nun auch die Schindungsfabel bringen will, aber nicht geschickt genug ist, die Geschichte von Krankheit und Heilung des Löwen mit dem Hofgericht über Renart zu verschmelzen (er läßt den König erst den Hoftag einberufen, dann aus Ärger über die Abweisung der Boten krank werden und Renart schließlich von Grimbert aus freien Stücken herbeiholen). Was nun die Verknüpfung von Hoftag und Heilung des kranken Löwen im RF betrifft, so wird man Voretzsch zwar gerne zugestehen, daß sie enger ist als in Branche X. Doch liegt kein Anlaß vor, sie darum auch schon gleich als ,ursprünglicher' anzusehen. Der zeitliche Lapsus zwischen der Rückkehr des zweiten Boten und der Erkrankung des Löwen in Branche X lag so sehr auf der Hand, daß sich auch einige Abschreiber dieser Branche bemüßigt sahen, die Ungeschicklichkeit des Verfassers zu korrigieren1). Ein Neueinsatz mit Motivationsbruch ist zudem an dieser Stelle auch im RF nicht zu verkennen2). Das gewichtigste Argument gegen die Ansicht, die Verknüpfung von Hoftag und Heilung des kranken Löwen im RF entspreche der v o r Branche I und X liegenden Überlieferung, ist aber darin zu sehen, daß sich für diese ältere Überlieferung ( = YS), wie schon gezeigt, noch gar kein doppelter Anlaß zur Einberufung des Hoftags und damit auch noch keine Notwendigkeit ergab, das Gericht über die Vergehen des Fuchses mit der Krankheit des Löwen zu verknüpfen. Damit dürfte sich Voretzschs Postulat einer verlorenen afrz. Zwischenstufe der Hoftagsfabel, das von der germanistischen Forschung zum RF übernommen wurde3), nach dieser Seite hin erübrigen4) und bleibt von seiner *) F O U L E T P . 3 7 8 . s

) siehe unten p. 292 f. *) Vgl. zuletzt F. Norman in: Verfasserlexikon %ur Dt. Lit. des ΜΛ, ed. Stammler, Bln. und Lpzg. 1936, II 2 6 7 - 2 7 6 ; I. Schröbler, Einl. zu ihrer Ausgabe des R F ( A T B Nr. η), Halle 1952, p. X V I I I ; H. de Boor, Die höfische Literatur (