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German Pages [356] Year 1991
Izbicki · Neumann · Spohr Unfallbegutachtung
Willy Izbicki Norbert Neumann Heinz Spohr
Unfallbegutachtung begründet von Paul R o s t o c k f fortgeführt von Eckhard Günther | und Reinhard H y m m e n f
9., bearbeitete und ergänzte Auflage (unter besonderer Berücksichtigung des Gesundheitsreformgesetzes und des Einigungsvertrages)
W Walter de Gruyter G Berlin · New York 1992 DE
Dr. Dr. Eckhard Günther f Reinhard Hymmen t Dr. med. Willy Izbicki Chefarzt der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie Ev. Krankenhaus Wertgasse 30
Heinz Spohr Ltd. Verw. Direktor Binnenschiffahrts-Berufsgenossenschaft Düsseldorfer Straße 193 D-4100 Duisburg 1
D-4330 Mülheim an der Ruhr Norbert Neumann Ltd. Verw. Direktor Verwaltungs-Berufsgenossenschaft Bezirksverwaltung 4 Solinger Straße 18 D-4330 Mülheim an der Ruhr
Die Deutsche
Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Izbicki, Willy: Unfallbegutachtung / Willy Izbicki; Norbert Neumann ; Heinz Spohr. Begr. von Paul Rostock. Fortgef. von Eckhard Günther und Reinhard Hymmen. - 9., bearb. und erg. Aufl. (unter bes. Berücks. des Gesundheitsreformgesetzes und des Einigungsvertrages). Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 5. bis 8. Aufl. u.d.T.: Günther, Eckhard: Unfallbegutachtung ISBN 3-11-012698-2 NE: Neumann, Norbert.; Spohr, Heinz:; Rostock, Paul [Begr.] © Copyright 1991 by Walter de Gruyter Sc Co., Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) mit Autoren bzw. Herausgebern große Mühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskripterstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen und dergleichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, daß solche Namen ohen weiteres von jedermann benutzt werden dürfen. Vielmehr handelt es sich häufig um gesetzlich geschützte, eingetragene Warenzeichen, auch wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind. Satz und Druck: Tutte Druckerei G m b H , Salzweg-Passau - Buchbinderische Verarbeitung: D. Mikolai Berlin. Umschlagentwurf: Rudolf Hübler, Berlin. Printed in Germany.
Geleitwort
N u r 4 Jahre nach der letzten Herausgabe erscheint die 1935 von Paul Rostock begründete „Unfallbegutachtung" nunmehr in der 9. Auflage. Damit erfüllt das Werk den Anspruch, stets auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Die auslösenden Ereignisse für die Neuauflage sind einmal das Gesundheitsreformgesetz und zum anderen der Einigungsvertrag nebst dem für die Übergangszeit geltenden Entschädigungsrecht der ehemaligen DDR. Die hiermit verbundenen Änderungen und Ergänzungen gewährleisten einen aktuellen Wissensstand im Text. Ärztliche Gutachter und Versicherungsträger - nicht zuletzt in den neuen Bundesländern - werden es zu schätzen wissen, wenn somit die Vermittlung der zutreffenden Sachkunde in verbürgter Weise fortgesetzt wird. Dr. Willy Izbicki hat den medizinischen Anteil weitergeführt, während Norbert Neumann sowie Heinz Spohr das geistige Erbe von Reinhard Hymmen übernommen und die rechtlichen Grundlagen dargestellt haben. Dem zuverlässigen Ratgeber auf dem nicht selten dornenvollen Gelände der Unfallbegutachtung ist eine weite Verbreitung zu wünschen. Dezember 1990
Gert
Carstensen
Vorwort
In einer Zeit umfangreicher Gesetzesänderungen, einer deutlichen Verbesserung der Position des Leistungsberechtigten gegenüber dem Versicherungsträger und einer erheblich gestiegenen Zahl der mit der Unfallbegutachtung befaßten Ärzte ist es bei gleichzeitigen Erfolgsmeldungen der Unfallverhütung nicht leichter geworden, stets die aktuellen medizinischen und versicherungsrechtlichen Kenntnisse vorzuhalten. Die Erfüllung des gesetzlichen Gebotes der beschleunigten und vollständigen Leistungserbringung wird nicht selten durch Gutachten minderer Qualität oder durch eine unzumutbare Erledigungsfrist des Gutachtenauftrages gefährdet. Die Ursachen sind vielfältiger Natur; zu den wichtigsten Gründen dürfte eine nicht ausreichende Kenntnis des hier angesprochenen Spezialgebietes ärztlicher Tätigkeit gehören. In Praxis und Klinik ist daher gleichermaßen von dem Berufsanfänger wie auch dem Routinier ein Handbuch mit den wichtigsten Informationen für die Tagesarbeit begrüßt worden. So wollen wir das Werk der verstorbenen Autoren E. Günther und R. Hymmen fortsetzen. Die Verfasser freuen sich, daß die sich aus dem Gesundheitsreformgesetz und dem Einigungsvertrag ergebenden gesetzlichen und organisatorischen Änderungen als Überblick eingearbeitet werden konnten. Hierdurch ist das Werk nicht nur für die erfahrenen Gutachter, sondern speziell für die neu in die Gutachtertätigkeit für die Unfallversicherung eintretenden Ärzte in den neuen Bundesländern ein wichtiger Ratgeber. Gerne gehen wir auf Kritik sowie Änderungs- und Ergänzungsvorschläge ein. Duisburg/Mülheim im Dezember 1990
W. Izbicki,
N. Neumann,
H.
Spohr
Inhalt
Teil 1: Rechtliche Gesichtspunkte der Unfallbegutachtung 1. Allgemeines 2. Gesetzliche Unfallversicherung 2.1 Berufsgenossenschaften und andere Unfallversicherungsträger 2.2 Aufbringung der Mittel - Ablösung der Haftpflicht 2.3 Versicherter Personenkreis 2.4 Versicherungsfall 2.4.1 Arbeitsunfall 2.4.2 Ursachenbegriff in der gesetzlichen Unfallversicherung 2.4.3 Verschlimmerung - Wesentliche Änderung 2.4.4 Dem Arbeitsunfall gleichgestellte Tatbestände 2.4.4.1 Unfälle bei der Verwahrung des Arbeitsgeräts, Unfälle auf dem Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit (Wegeunfälle) 2.4.4.2 Erweiterter Versicherungsschutz in See- und Binnenschiffahrt 2.4.4.3 Berufskrankheiten 2.5 Entschädigung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten 2.5.1 Abstrakter Schadenersatz 2.5.2 Sachleistungen 2.5.2.1 Heilbehandlung/Belastungserprobung 2.5.2.2 Pflege 2.5.2.3 Berufshilfe 2.5.3 Geldleistungen 2.5.3.1 Verletztengeld — Übergangsgeld 2.5.3.2 Verletztenrente 2.5.3.3 Vorläufige Rente - Dauerrente 2.5.3.4 Verletztenrente bei Kindern, Schülern und Studierenden 2.5.3.5 Entschädigung von Hinterbliebenen 2.5.3.6 Abfindungen 2.6 Verhältnis der Unfallversicherungsträger zu den Ärzten 2.7 Verfahren
3 6 6 7 7 12 12 14 17 18
19 19 26 26 27 27 30 31 31 31 32 35 36 37 37 38 39
3. Krankenversicherung 3.1 Allgemeines 3.2 Träger der Krankenversicherung 3.3 Aufbringung der Mittel
41 41 42 42
18
X
4.
5.
6.
7.
Inhalt 3.4 Versicherter Personenkreis 3.5 Versicherungsfall 3.6 Leistungen der Krankenversicherung 3.7 Beziehungen zur Unfallversicherung 3.8 Beziehungen zu den Ärzten 3.9 Verfahren Rentenversicherung 4.1 Allgemeines 4.2 Träger der Rentenversicherung 4.3 Aufbringung der Mittel 4.4 Versicherter Personenkreis 4.5 Versicherungsfall 4.5.1 Berufsunfähigkeit 4.5.2 Erwerbsunfähigkeit 4.5.3 Alter 4.5.4 Tod 4.5.5 Wartezeit 4.5.6 Besondere Versicherungsfälle der Knappschaftsversicherung . . . . 4.6 Leistungen 4.7 Beziehungen zur Unfallversicherung 4.8 Verfahren Recht der Bundes Versorgung 5.1 Allgemeines 5.2 Geltungsbereich 5.2.1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) 5.3 Aufbringung der Mittel zur Versorgung 5.4 Umfang der Versorgung 5.4.1 H e i l - u n d Krankenbehandlung 5.4.2 Besondere Hilfen im Einzelfall 5.4.3 Renten und andere Geldleistungen 5.5 Verfahren Die Rehabilitation und ihre Träger 6.1 Allgemeines 6.2 Träger der Rehabilitation 6.3 M a ß n a h m e n und Leistungen zur Rehabilitation 6.4 Zusammenwirken der Träger Private Unfallversicherung 7.1 Allgemeines 7.2 Träger der Versicherung - versicherter Personenkreis - Aufbringung der Mittel 7.3 Versicherungsfall 7.4 Leistungen 7.5 Verfahren
42 43 44 44 45 46 47 47 47 47 47 48 48 49 49 49 50 50 50 51 51 52 52 52 53 54 54 54 55 56 57 58 58 58 61 62 63 63 64 64 66 67
Inhalt
χΐ
Teil 2: Medizinische Gesichtspunkte der Unfallbegutachtung 1. Allgemeines 1.1 Gutachtertätigkeit des Arztes 1.2 Rechtliche Stellung des Gutachters und seine Aufgaben 1.3 Formulierung der Gutachten 1.4 Befunderhebung 1.5 Entgegengesetzte Meinungen der Sachverständigen 1.6 Untersuchung des Verletzten für die Begutachtung 1.7 Personenverwechslungen bei der Untersuchung : 1.8 Fehler und Irrtümer im Gutachten 1.9 Die Würdigung der Beweiskraft 1.10 Allgemeine Form des Gutachtens 1.11 Ausstellung von Bescheinigungen und Zeugnissen 1.12 Auskunftspflicht des Arztes 1.13 Schweigepflicht des Arztes 1.14 Anhörung der behandelnden Ärzte vor der ersten Rentenfestsetzung 1.15 Sachkunde und Gutachternachwuchs 1.16 Schwierige Krankheitsfälle 1.17 Gebühren 1.18 Vordruckgutachten 1.19 Form des freien Gutachtens 1.20 Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) 1.21 Vorläufige Rente 1.22 Dauerrente 1.23 Rentenänderung 1.24 Vorschaden, Nachschaden 1.25 Wiederherstellende Behandlungsmaßnahmen - Zumutbarkeit von Operationen 1.26 Wichtige Untersuchungsmethoden für die Begutachtung 1.27 Anleitung zur Benutzung der Meßblätter und Messung nach der Neutral-O-Methode 1.28 Simulation and Aggravation 2. Spezielles 2.1 Die wichtigsten Rentensätze 2.2 Körperoberfläche 2.3 Kopf 2.4 Brustkorb und Brusthöhle 2.5 Wirbelsäule 2.6 Becken 2.7 Bauchdecken- und Bauchorgane 2.8 Harnorgane 2.9 Männliche Geschlechtsorgane
71 71 71 72 73 74 75 75 75 76 76 77 77 78 79 79 80 80 80 81 85 86 87 87 89 90 91 100 101 111 111 113 114 124 125 125 126 127 128
ΧΠ
2.10 2.11 2.12 2.13
Inhalt
Weibliche Geschlechtsorgane Obere Gliedmaße Untere Gliedmaße Anhaltspunkte für die Bemessung von Pflegegeld
3. Die Begutachtung von Fragen des ursächlichen Zusammenhanges zwischen Körperschäden und Arbeitsunfall 3.1 Die Form des Gutachten 3.2 Der Inhalt 3.2.1 Rechtliche Voraussetzungen 3.2.2 Medizinische Voraussetzungen 3.3 Spezielles über die Begutachtung von Zusammenhangsfragen 3.3.1 Thermische Schädigungen 3.3.1.1 Erfrierungen und Verbrennungen 3.3.1.2 Sonnenstich 3.3.1.3 Hitzschlag 3.3.2 Verletzungen durch Einwirkungen des elektrischen Stroms 3.3.3 Akute Schädigungen durch Röntgenstrahlen, radioaktive Stoffe und andere ionisierende Strahlen 3.3.4 Intoxikationen 3.3.4.1 Vergiftungen 3.3.4.2 Gasvergiftung 3.3.4.3 Insektenstiche 3.3.5 Infektionskrankheiten 3.3.5.1 Diphterie 3.3.5.2 Typhus abdominalis, Paratyphus 3.3.5.3 Tuberkulose 3.3.5.4 Milzbrand 3.3.5.5 Rotz 3.3.5.6 Aids, HIV-Infektion 3.3.6 Parasitäre Erkrankungen 3.3.6.1 Aktinomykose 3.3.6.2 Lues 3.3.7 Wundinfektionskrankheiten 3.3.7.1 Blutergußinfektion 3.3.7.2 Erysipel 3.3.7.3 Lymphangitis 3.3.7.4 Allgemeininfektion 3.3.7.5 Tetanus 3.3.7.6 Wunddiphtherie 3.3.8 Geschwülste 3.3.9 Stoffwechselkrankheiten und Krankheiten der endokrinen Drüsen
128 129
133 137
138 138 139 139 140 142 142 142 142 142 142 143 143 143 143 143 144 144 144 144 144 144 144 145 145 145 145 145 146 146 146 146 146 147 148
Inhalt
XIII
3.3.9.1 Diabetes mellitus 3.3.9.2 Fettleibigkeit 3.3.9.3 Nebennieren 3.3.9.4 Altersveränderungen 3.3.10 Erkrankungen des Blutes 3.3.10.1 Leukämie 3.3.10.2 Perniziöse Anämie 3.3.10.3 Milzzerreißungen 3.3.11 Erkrankungen des Gefäßsystems 3.3.11.1 Herzmuskel und Herzklappen 3.3.11.2 Aortenaneurysma 3.3.11.3 Aneurysmen peripherer Gefäße 3.3.11.4 Krampfadern 3.3.11.5 Unterschenkelgeschwüre 3.3.11.6 Thrombose 3.3.11.7 Embolie 3.3.11.8 Arteriosklerose 3.3.11.9 Apoplexie 3.3.11.10 Endangiitis obliterans 3.3.11.11 Gangrän einer Gliedmaße 3.3.12 Erkrankungen der Atmungsorgane 3.3.12.1 Lungenverletzungen 3.3.12.2 Lungenentzündung 3.3.12.3 Lungenemphysem 3.3.12.4 Lungentuberkulose 3.3.12.5 Lungenblutung 3.3.12.6 Lungenembolie 3.3.12.7 Pleuritis
148 148 148 149 149 149 149 149 150 150 150 150 151 151 152 152 152 152 153 153 153 153 154 154 154 154 155 155
3.3.13 Erkrankungen der Bauchdecken 3.3.13.1 Eingeweidebrüche 3.3.13.2 Bauchfellentzündung
155 155 156
3.3.14 Erkrankungen des Magen- und Darmkanals 3.3.14.1 Ösophagusdivertikel 3.3.14.2 Magen- und Zwölffingerdarmgeschwür 3.3.14.3 Magenblutung 3.3.14.4 Magensenkung 3.3.14.5 Magenkrebs 3.3.14.6 Darmzerreißungen 3.3.14.7 Darmgeschwüre 3.3.14.8 Darmverschluß 3.3.14.9 Appendizitis 3.3.14.10 Mastdarmvorfall 3.3.14.11 Mastdarmfisteln
156 156 156 157 157 157 157 157 158 158 158 158
XIV
Inhalt 3.3.15 Erkrankungen der Leber, der Gallenwege und Bauchspeicheldrüse 3.3.15.1 Virushepatitis 3.3.15.2 Chronische Hepatitis, Zirrhose 3.3.15.3 Gallenblasenentzündung 3.3.15.4 Pankreasnekrose 3.3.15.5 Pankreaszysten 3.3.16 Erkrankungen des Harnsystems 3.3.16.1 Nierenstein und Ureterstein 3.3.16.2 Hydro- und Pyonephrose 3.3.16.3 Wanderniere 3.3.16.4 Nierenentzündung 3.3.16.5 Nierentuberkulose 3.3.16.6 Nierenbeckenentzündung 3.3.16.7 Harnblasenstein 3.3.16.8 Harnröhrenstrikturen 3.3.17 Genitalerkrankungen
158 158 158 159 159 159 159 159 160 160 160 160 161 161 161 162
3.3.18 Erkrankungen der H a u t und des Unterhautzellgewebes 3.3.18.1 Furunkel 3.3.18.2 Panaritium 3.3.18.3 Zellgewebsentzündungen (Phlegmone)
162 162 162 162
3.3.19 Erkrankungen der Muskeln, Sehnen und Schleimbeutel 3.3.19.1 Muskelrisse 3.3.19.2 Muskelhernien 3.3.19.3 Myositis ossificans 3.3.19.4 Lumbago (Hexenschuß) 3.3.19.5 Bandscheibenvorfall im Bereich der Wirbelsäule 3.3.19.6 Bizepssehnenriß 3.3.19.7 Riß der Achillessehne 3.3.19.8 Tendovaginitis crepitans 3.3.19.9 Dupuytrensche Kontraktur 3.3.19.10 Schleimbeutelentzündungen 3.3.19.11 Periarthritis humero-scapularis
163 163 163 163 163 163 164 164 164 164 164 165
3.3.20 Erkrankungen der Knochen und Gelenke 3.3.20.1 Akute hämatogene Osteomyelitis 3.3.20.2 Ostitis fibrosa 3.3.20.3 Tuberkulose der Knochen und Gelenke 3.3.20.4 Spontanfrakturen 3.3.20.5 Dornfortsatzbruch (Schipperkrankheit) 3.3.20.6 Navikularpseudarthrose der H a n d 3.3.20.7 Lunatumnekrose (Mondbeintod) 3.3.20.8 Spondylarthrose 3.3.20.9 Bechterewsche Erkrankung
165 165 165 166 166 166 167 167 167 167
Inhalt
XV
3.3.20.10 Spondylolisthesis (Wirbelgleiten)
167
3.3.20.11 3.3.20.12 3.3.20.13 3.3.20.14
Arthrosis deformans Habituelle Luxationen Meniskuslösungen Gelenkrheumatismus
168 169 169 170
3.3.20.15 3.3.20.16 3.3.20.17 3.3.20.18 3.3.20.19
Ganglion Gelenkmäuse Osteochondritis dissecans Gelenkchondromatose Gicht
170 170 170 170 170
3.3.20.20 Knochennekrosen
171
3.3.21 Erkrankungen des Nervensystems 3.3.21.1 Epilepsie 3.3.21.2 Psychoreaktive Syndrome 3.3.21.3 Hirnabszeß 3.3.21.4 Ischias 3.3.21.5 Hämotomyelie 3.3.21.6 Neurofibromatose 3.3.21.7 Progressive spinale Muskelatrophie
171 171 171 171 172 172 172 172
3.3.22 Erkrankungen der Augen 3.3.22.1 Grüner Star (Glaukom) 3.3.22.2 Grauer Star 3.3.22.3 Netzhautablösung
172 172 172 172
4. Die entschädigungspflichtigen Berufskrankheiten (Merkblätter für die ärztlichen Untersuchung bei den Berufskrankheiten) Nr. 1101 Erkrankungen durch Blei oder seine Verbindungen Nr. 1102 Erkrankungen durch Quecksilber oder seine Verbindungen
174 174 175
Nr. 1103 Erkrankungen durch Chrom oder seine Verbindungen Nr. 1104 Erkrankungen durch Cadmium oder seine Verbindungen Nr. 1105 Erkrankungen durch Mangan oder seine Verbindungen
177 178 179
Nr. Nr. Nr. Nr.
1106 1107 1108 1109
179 180 181
Nr. Nr. Nr. Nr.
1110 1201 1202 1301
Nr. 1302 Nr. 1303
Erkrankungen durch Thallium oder seine Verbindungen Erkrankungen durch Vanadium oder seine Verbindungen Erkrankungen durch Arsen oder seine Verbindungen Erkrankungen durch Phosphor oder seine anorganischen Verbindungen Erkrankungen durch Beryllium oder seine Verbindungen Erkrankungen durch Kohlenmonoxid Erkrankungen durch Schwefelwasserstoff Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe Erkrankungen durch Benzol oder seine Homologen
182 183 184 185 186 187 190
XVI
Inhalt
Nr. 1304 Erkrankungen durch Nitro- oder Aminoverbindungen des Benzols oder seiner Homologe oder ihrer Abkömmlinge 191 Nr. 1305 Erkrankungen durch Schwefelkohlenstoff 192 Nr. 1306 Erkrankungen durch Methylalkohol (Methanol) 192 Nr. 1307 Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen 193 Nr. 1308 Erkrankungen durch Fluor oder seine Verbindungen 195 Nr. 1309 Erkrankungen durch Salpetersäureester 196 Nr. 1310 Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylaryloxide 197 Nr. 1311 Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylarylsulfide 198 Nr. 1312 Erkrankungen der Zähne durch Säuren 199 Nr. 1313 Hornhautschädigungen des Auges durch Benzochinon 200 Nr. 1314 Erkrankungen durch para-tertiär-Butylphenol 200 Nr. 2101 Erkrankungen der Sehnenscheiden oder des Sehnengleitgewebes sowie der Sehnen- oder Muskelansätze, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können 201 Nr. 2102 Meniskusschäden nach mehrjährigen andauernden oder häufig wiederkehrenden, die Kniegelenke überdurchschnittlich belastenden Tätigkeiten 202 Nr. 2103 Erkrankungen durch Erschütterung bei Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen 203 Nr. 2104 Vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können 203 Nr. 2105 Chronische Erkrankungen der Schleimbeutel durch ständigen Druck 205 Nr. 2106 Drucklähmungen der Nerven 205 Nr. 2107 Abrißbrüche der Wirbelfortsätze 206 Nr. 2201 Erkrankungen durch Arbeit in Druckluft 206 Nr. 2301 Lärmschwerhörigkeit 207 Nr. 2401 Grauer Star durch Wärmestrahlung 212 Nr. 2402 Erkrankungen durch ionisierende Strahlen 213 Nr. 3101 Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war 214 Nr. 3102 Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten 217 Nr. 3103 Wurmkrankheit der Bergleute, verursacht durch Ankylostoma duodenale oder Strongyloides stercoralis 219
Inhalt
XVII
N r . 3104 Tropenkrankheiten, Fleckfieber 219 Nr. 4101 Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) 220 N r . 4102 Quarzstaublungenerkrankung in Verbindung mit aktiver Lungentuberkulose (Siliko-Tuberkulose) 220 N r . 4103 Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder durch Asbeststaub verursachte Erkrankungen der Pleura 222 Nr. 4104 Lungenkrebs in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung oder mit durch Asbeststaub verursachter Erkrankung der Pleura 224 Nr. 4105 Durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells und 225 des Bauchfells N r . 4106 Erkrankungen der tieferen Atemwege und der Lungen durch 226 Aluminium oder seine Verbindungen N r . 4107 Erkrankungen an Lungenfibrose durch Metallstäube bei der 227 Herstellung oder Verarbeitung von Hartmetallen Nr. 4108 Erkrankungen der tieferen Atemwege und der Lungen durch 228 Thomasmehl (Thomasphosphat) N r . 4109 Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Nickel oder seine Verbindungen 228 N r . 4110 Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Kokereirohgase 230 Nr. 4201 Exogen-allergische Alveolitis 231 N r . 4202 Erkrankungen der tieferen Atemwege und der Lungen durch Rohbaumwolle-, Rohflachs- oder R o h h a n f s t a u b (Byssinose) 233 N r . 4203 Adenokarzinome der Nasenhaupt- und Nasennebenhöhlen durch Stäube von Eichen- oder Buchenholz 234 N r . 4301 Durch allergisierende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen (einschließlich Rhinopathie), die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können 235 N r . 4302 Durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können 237 N r . 5101 Schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können 238 Nr. 5102 Hautkrebs oder zur Krebsbildung neigende Hautveränderungen durch Ruß, Rohparaffin, Teer, Anthrazen, Pech oder ähnliche Stoffe N r . 6101 Augenzittern der Bergleute
240 241
XVIII Anhang 1 Bildtafeln Anhang 2 Eingungsvertrag — DDR-Recht
Inhalt
242 261
Anhang 3 AUB 88
319
Anhang 4 Anleitung für den Durchgangsarzt
327
Literatur
333
Sachregister
335
Teil 1
Rechtliche Gesichtspunkte der Unfallbegutachtung
1.
Allgemeines
Das Gutachten des ärztlichen Sachverständigen über die Folgen eines Unfalls ist erforderlich, um über die etwaigen Rechtsansprüche der von dem Unfall betroffenen Personen entscheiden zu können. Sowohl diese Ansprüche selbt als auch die Zuständigkeit zur Entscheidung darüber sind von dem Rechtsverhältnis abhängig, aus dem die von einem Unfall betroffene Person ihre Ansprüche herleitet. Ein solches Rechtsverhältnis kann privatrechtlicher Natur gegenüber einem Schädiger sein, etwa aus der schuldhaften, d. h. vorsätzlichen oder fahrlässigen und rechtswidrigen Verursachung eines Unfalls (unerlaubte Handlung §§823 ff. Bürgerliches Gesetzbuch) oder aus strengeren Haftungsverpflichtungen, wie z.B. der des Kraftfahrzeughalters (§7 Straßenverkehrsgesetz). Privatrechtlicher Natur sind auch die Rechtsansprüche, die sich aus den Versicherungsverträgen über eine private Unfallversicherung ergeben. Von besonderer Bedeutung für die ärztliche Begutachtung von Unfallfolgen sind jedoch die Rechtsansprüche von Unfallgeschädigten öffentlich-rechtlicher Natur. Solche Ansprüche ergeben sich vor allem aus dem öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnis zu den Trägern der Sozialversicherung. Dies sind in erster Linie die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, außerdem kann aber auch das Versicherungsverhältnis zu den Trägern der Kranken- und Rentenversicherung berührt sein. Während die privatrechtlichen Ansprüche, soweit nicht eine außergerichtliche Erledigung erfolgt, vor den ordentlichen Gerichten zu verfolgen sind, wird über die öffentlich-rechtlichen durch Verwaltungsakt (Bescheide) entschieden. Nach § 3 1 Sozialgesetzbuch 10. Buch — Verwaltungsverfahren usw. - ist der Verwaltungsakt jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet i s t . . .
Die Rechtmäßigkeit der Entscheidung eines Leistungsträgers der Sozialversicherung unterliegt der Prüfung durch die besonderen Verwaltungsgerichte der Sozialgerichtsbarkeit. Eine der Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes, ebenso aber auch für eine rechtmäßige Entscheidung in anderer Weise, ist die sachgemäße Begutachtung. Dafür sind Kenntnisse über die Grundsätze der öffentlich-rechtlichen und privaten Versicherung erforderlich. Denn wenn auch der Gutachter nicht die Aufgabe hat, aus den mit den Mitteln der ärztlichen Wissenschaft gewonnenen Erkenntnissen über den Sachverhalt rechtliche Schlüsse zu ziehen, so muß ihm doch bekannt sein, welche durch ein Gutachten festzustellenden Tatsachen für eine Entscheidung rechtserheblich sind. Das gilt insbesondere für die mit der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs und der Minderung der Erwerbsfähigkeit zusammenhängenden Fragen. Der nachfolgende Überblick erscheint daher geboten.
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Allgemeines
Zuvor ist aber wegen der Inanspruchnahme als Gutachter durch einen Sozialleistungsträger auf die Vorschriften des Sozialgesetzbuches X hinzuweisen. Danach dienen u.a. die schriftlichen Äußerungen des Sachverständigen dem Sozialversicherungsträger als Beweismittel zur Ermittlung des Sachverhalts (§21, Abs. 1 SGB X ) . Für eine etwaige Rechtspflicht eines ärztlichen Sachverständigen, ein Gutachten zu erstatten, gilt § 407 der Zivilprozeßordnung entsprechend, wenn dieses Gutachten zur Entscheidung über Art, Umfang und Höhe einer Sozialleistung unabweisbar ist (§ 21, Abs. 3 SGB X ) . Nach der genannten Vorschrift der Zivilprozeßordnung ist u.a. zur Erstattung eines Gutachtens verpflichtet, wer zur Ausübung der Wissenschaft, deren Kenntnis Voraussetzung der Begutachtung ist, öffentlich bestellt oder ermächtigt ist (§ 407, Abs. 1 ZPO). Das ist für einen approbierten Arzt der Fall. Gleiches gilt, wenn ein Sachverständiger sich gegenüber einem Sozialleistungsträger zur Erstattung eines Gutachtens bereit erklärt hat (§407, Abs. 2 ZPO). Der Sachverständige kann die Erstattung eines Gutachtens aus den Gründen verweigern, aus denen ein Zeuge die Aussage verweigern kann, ebenso wenn er sich mit guten Gründen für befangen hält und eine Befangenheit anerkannt werden muß. Im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung besteht für den Arzt, der einen Unfallverletzten behandelt, eine gesetzliche bzw. vertragliche Rechtspflicht zur Erstattung von Gutachten über seinen Patienten. Die gesetzliche Pflicht ergibt sich aus § 1543 d R V O Abs. 1: Der behandelnde Arzt ist verpflichtet, dem Träger der Unfallversicherung Auskunft über die Behandlung und den Zustand des Verletzten zu erteilen...;
die vertragliche aus Leitnummer (Leitnr.) 63 des Abkommens Ärzte/Unfallversicherungsträger (Ärzteabkommen) : Der Arzt, der die erste ärztliche Versorgung geleistet oder den Unfallverletzten behandelt hat, erstattet dem Träger der gesetzlichen Unfallversicherung die Auskünfte, Berichte und Gutachten, die er im Vollzug seiner gesetzlichen Aufgaben von ihm einholt (§ 1543 d der Reichsversicherungsordnung) .
Die Sozialleistungsträger sind verpflichtet, darauf hinzuwirken, daß jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise umfassend und schnell erhält (§ 17, Abs. 1 Nr. 1 SGB 1 - Allgemeiner Teil - ) . Die Erfüllung dieser Verpflichtung hängt bei vielen Sachverhalten auch davon ab, daß der Sachverständige durch schnelle Erledigung eines Gutachtenauftrags die schnelle Entscheidung des Sozialleistungsträger ermöglicht. Im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung ist dazu in Leitnr. 67, Abs. 1 des Abkommens Ärzte/Unfallversicherungsträger für die Erstattung von Rentengutachten eine Frist von drei Wochen vereinbart. Sollte ein Sachverständiger diese Frist oder einen anderen im Gutachtenauftrag genannten Termin aus guten Gründen nicht einhalten können, ist er verpflichtet, den Unfallversicherungsträger unverzüglich zu benachrichtigen. (Leitnr. 67, Abs. 2). Personen, die Sozialleistungen beantragen oder erhalten, haben andererseits bei der Gutachtenerstattung dadurch mitzuwirken, daß sie sich auf Verlangen des Leistungs-
Allgemeines
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trägers ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen unterziehen. Kommt eine solche Person dieser - oder einer anderen — Mitwirkungspflicht ohne rechtserhebliche Begründung nicht nach, können Rechtsnachteile in Form von Versagung oder Entziehung der Leistung die Folge sein. Behandlungen und Untersuchungen, — bei denen im Einzelfall ein Schaden für Leben oder Gesundheit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, — die mit erheblichen Schmerzen verbunden sind oder — die einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten, können abgelehnt werden (§§65ff. Sozialgesetzbuch 1, Allgemeiner Teil).
2. Gesetzliche Unfallversicherung
2.1 Berufsgenossenschaften und andere Unfallversicherungsträger Die gesetzliche Unfallversicherung hat die Aufgabe, den versicherten Personen für die Folgen von Arbeitsunfällen Schadensersatz zu leisten. Dazu bestimmt § 22 Sozialgesetzbuch 1. Buch - Allgemeiner Teil - , daß nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (§537ff. RVO) in Anspruch genommen werden können: 1. Maßnahmen zur Verhütung und zur Ersten Hilfe bei Arbeitsunfällen, bei gleichgestellten Unfällen und bei Berufskrankheiten sowie Maßnahmen zur Früherkennung von Berufskrankheiten, 2. Heilbehandlung, Berufsförderung und andere Leistungen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbstätigkeit sowie zur Erleichterung der Verletzungsfolgen einschließlich wirtschaftlicher Hilfen, 4. Renten wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit, 4. Renten an Hinterbliebene, Sterbegeld und Beihilfen, 5. Rentenabfindungen, 6. Haushaltshilfe, 7. Betriebshilfe für Landwirte.
Z u r Entscheidung über die Ansprüche nach diesen Leistungskatalog ist bei nahezu allen Punkten die Unterstützung durch ärztlichen Sachverstand - etwa durch ärztliche M a ß n a h m e n zur Vorbeugung oder zur Heilbehandlung oder durch ärztliche Gutachten — erforderlich. Nach Absatz 2 der gleichen Vorschrift sind für die Aufgaben, die sich aus dem Leistungskatalog ergeben, zuständig: 1. in der allgemeinen Unfallversicherung die gewerblichen Berufsgenossenschaften, Gemeindeunfallversicherungsverbände, Feuerwehrunfallversicherungskassen, Unfallkassen sowie die Ausführungsbehörden des Bundes, der Länder und der zu Versicherungsträgern bestimmten Gemeinden, 2. in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften, die Unfallkassen sowie die Ausführungsbehörden des Bundes und der Länder, 3. in der See-Unfallversicherung die See-Berufsgenossenschaft, die Unfallkassen sowie die Ausführungsbehörden des Bundes und der Länder.
Ihrer Verfassung nach sind die nach Gewerbezweigen gegliederten Berufsgenossenschaften Körperschaften des öffentlichen Rechts mit eigener Satzungsbefugnis. Sie führen die ihnen durch das Gesetz übertragenen Aufgaben in eigener Verantwortung im Wege der Selbstverwaltung durch. An dieser Selbstverwaltung sind die Mitglieder, nämlich die durch das Gesetz zur Mitgliedschaft verpflichteten Unternehmer (,,Berufs-Genossen") und die Versicherten (Arbeitnehmer), paritätisch beteiligt. Mit der Ausdehnung des Versicherungsschutzes durch die gesetzliche Unfallversiche-
Versicherter Personenkreis
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rung im Laufe der Entwicklung sind außer den Berufsgenossenschaften noch andere Träger der gesetzlichen Unfallversicherung entstanden. Für die Versicherten in den öffentlichen Diensten u n d andere Versicherungsgruppen (s. auch 2.3 „Versicherter Personenkreis") sind die Versicherungsträger der öffentlichen H a n d zuständig, n ä m lich die Gemeindeunfallversicherungsverbände, die Feuerwehrunfallversicherungskassen, die A u s f ü h r u n g s b e h ö r d e n des Bundes und der Länder u n d die zu Versicherungsträgern bestimmten Gemeinden. Z u solchen Versicherungsträgern k ö n n e n die L ä n d e r G e m e i n d e n mit mehr als 500.000 E i n w o h n e r n bestimmen.
2.2 Aufbringung der Mittel - Ablösung der Haftpflicht Die f ü r die A u f g a b e n der Berufsgenossenschaften erforderlichen Mittel werden von den Mitgliedern, das heißt also von den U n t e r n e h m e r n , allein a u f g e b r a c h t , von den Versicherten werden keine Beiträge e r h o b e n . M i t den Beiträgen zu der f ü r ihn zuständigen Berufsgenossenschaft löst der U n t e r n e h m e r seine etwaige Haftpflicht gegenüber dem Arbeitnehmer (Versicherten) aus Unfällen ab. Er k a n n also den Versicherten, der ihn wegen eines Arbeitsunfalles in seinem U n t e r n e h m e n auf Schadensersatz in Anspruch nehmen will, an seine Berufsgenossenschaft verweisen, es sei denn, d a ß der U n t e r n e h m e r den Unfall vorsätzlich oder bei Teilnahme am allgemeinen Verkehr verursacht hat (§ 636 Reichsversicherungsordnung). Entsprechendes gilt f ü r die Versicherungsträger der öffentlichen H a n d .
2.3 Versicherter Personenkreis N a c h den Bestimmungen des Sozialgesetzbuches (4. Buch - G e m e i n s a m e Vorschriften f ü r die Sozialversicherung - § 2 Abs. 2) sind in allen Zweigen der Sozialversicherung nach M a ß g a b e der besonderen Vorschriften f ü r die einzelnen Versicherungszweige versichert 1. Personen, die gegen Arbeitsentgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind, 2. Behinderte, die in geschützten Einrichtungen beschäftigt w e r d e n , 3. L a n d w i r t e , Unter besonderen U m s t ä n d e n k ö n n e n auch Seeleute, die Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind, jedoch unter anderer Flagge zur See fahren, nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuches versichert w e r d e n (§2 Abs. 3). Der Versicherungsschutz weiterer Personengruppen ergibt sich aus den f ü r die einzelnen Versicherungszweige geltenden Vorschriften (§2 Abs. 4 SGB IV).
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Gesetzliche Unfallversicherung
Die für den „ V e r s i c h e r u n g s z w e i g " gesetzliche Unfallversicherung maßgeblichen, besonderen Vorschriften sind im 3. Buch der Reichsversicherungsordnung ( R V O ) enthalten. D a n a c h sind v o r allem die Personen gegen Arbeitsunfall versichert, die in einem Arbeits-, Dienst- o d e r Lehrverhältnis beschäftigt sind, wobei der Versicherungsschutz unabhängig von der Stellung der Person im U n t e r n e h m e n ist. D e r Vorsitzenden des Vorstandes e t w a einer Aktiengesellschaft ist d e m n a c h ebenso gegen A r beitsunfall versichert wie der jüngste Auszubildende des U n t e r n e h m e n s . D e r versicherte Personenkreis ist aus der maßgebenden gesetzlichen Vorschrift, dem § 5 3 9 R V O , zu entnehmen. Hier sind aufgeführt: 1. die auf Grund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses Beschäftigten, 2. Heimarbeiter, Zwischenmeister, Hausgewerbetreibende und ihre im Unternehmen tätigen Ehegatten sowie die sonstigen mitarbeitenden Personen, 3. Personen, die zur Schaustellung oder Vorführung künstlerischer oder artistischer Leistungen vertraglich verpflichtet sind, 4. Personen, die nach den Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes oder im Vollzug des Bundessozialhilfesgesetzes der Meldepflicht unterliegen, wenn sie a) zur Erfüllung ihre Meldepflicht die hierfür bestimmte Stelle aufsuchen oder b) auf Aufforderung einer Dienststelle der Bundesanstalt für Arbeit oder einer seemännischen Heuerstelle diese oder andere Stellen aufsuchen, 5. Unternehmer, solange und soweit sie als solche Mitglieder einer landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft sind, ihre mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft lebenden Ehegatten und die in Unternehmen zum Schutze und zur Förderung der Landwirtschaft einschließlich der landwirtschaftlichen Selbstverwaltung und ihrer Verbände Tätigen, 6. Küstenschiffer und Küstenfischer als Unternehmer gewerblicher Betriebe der Seefahrt (Seeschiffahrt und Seefischerei), die zur Besatzung ihres Fahrzeuges gehören oder als Küstenfischer ohne Fahrzeug fischen und die bei dem Betrieb regelmäßig keine oder höchstens vier kraft Gesetzes versicherte Arbeitnehmer gegen Entgelt beschäftigen, sowie deren im Unternehmen tätigen Ehegatten, 7. die im Gesundheits- oder Veterinärwesen oder in der Wohlfahrtspflege Tätigen, 8. die in einem Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen Tätigen sowie die Teilnehmer an Ausbildungsveranstaltungen dieser Unternehmen einschließlich der Lehrenden, 9. Personen, die a) bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisten oder einen anderen aus gegenwärtiger Lebensgefahr oder erheblicher gegenwärtiger Gefahr für Körper oder Gesundheit zu retten unternehmen, b) einem Bediensteten des Bundes, eines Landes, einer Gemeinde, eines Gemeindeverbandes oder einer anderen Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts, der sie zur Unterstützung bei einer Diensthandlung heranzieht, Hilfe leisten, c) sich bei Verfolgung oder Festnahme einer Person, die einer rechtwidrigen, den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichenden Tat verdächtig ist, oder zum Schutz eines widerrechtlichen Angegriffenen persönlich einsetzen, 10. Blutspender und Spender körpereigener Gewebe, 11. Personen, die auf Grund von Arbeitsschutz- oder Unfallverhütungsvorschriften ärztlich untersucht oder behandelt werden,
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12. a) Personen, die Luftschutzdienste leisten, wenn sie hierzu durch eine zuständige Stelle herangezogen sind oder wenn sie handeln, weil Gefahr im Verzuge ist, b) freiwillige Helfer des Bundesluftschutzverbandes, c) Teilnehmer an den Ausbildungsveranstaltungen des Bundesamtes für zivilen Bevölkerungsschutz, des Bundesluftschutzverbandes oder des Luftschutzhilfsdienstes einschließlich der Lehrenden, 13. die für den Bund, ein Land, eine Gemeinde, einen Gemeindeverband oder eine andere Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts ehrenamtlich Tätigen, wenn ihnen nicht durch Gesetz eine laufende Entschädigung zur Sicherstellung ihres Lebensunterhalts gewährt wird, und die von einem Gericht, einem Staatsanwalt oder einer sonst dazu berechtigten Stelle zur Beweiserhebung herangezogenen Zeugen, 14. a) Kinder während des Besuchs von Kindergärten, b) Schüler während des Besuchs allgemeinbildender Schulen, c) Lernende während der beruflichen Aus- und Fortbildung und ehrenamtlich Lehrende in Betriebsstätten, Lehrwerkstätten, berufsbildenden Schulen, Schulungskursen und ähnlichen Einrichtungen, soweit sie nicht bereits zu den nach den Nummern 1 bis 3 und 5 bis 8 Versicherten gehören, d) Studierende während der Aus- und Fortbildung an Hochschulen, soweit sie nicht bereits zu den nach den Nummern 1 bis 3 und 5 bis 8 Versicherten gehören, 15. Personen, die bei dem Bau eines Familienheimes (Eigenheim, Kaufeigenheim, Kleinsiedlung), einer eigengenutzten Eigentumswohnung, einer Kaufeigentumswohnung oder einer Genossenschaftswohnung im Rahmen der Selbsthilfe tätig sind, wenn durch das Bauvorhaben öffentlich geförderte oder steuerbegünstigte Wohnungen geschaffen werden sollen. Dies gilt auch für die Selbsthilfe bei der Aufschließung und Kultivierung des Geländes, der Herrichtung der Wirtschaftsanlagen und der Herstellung von Gemeinschaftsanlagen. Für die Begriffsbestimmungen sind die §§ 5, 7 bis 10 und 36 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes in der Fassung vom 11. Juli 1985 (BGBL I S. 1284) maßgebend, 16. Personen im Sinne des § 1 Entwicklungshelfer-Gesetzes, die im Ausland für eine begrenzte Zeit beschäftigt sind oder im Ausland oder im Geltungsbereich dieses Gesetzes für eine solche Beschäftigung vorbereitet werden, 17. Personen, a) denen von einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung oder der gesetzlichen Rentenversicherung oder einer landwirtschaftlichen Altersklasse stationäre Behandlung im Sinne des § 5 5 9 (Reichsversicherungsordnung) gewährt wird, stationäre Behandlung ist auch die teilstationäre Behandlung in einem Krankenhaus. b) die auf Kosten eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung oder der Bundesanstalt für Arbeit an einer berufsfördernden Maßnahme zur Rehabilitation teilnehmen, soweit sie nicht bereits zu den nach den Nummern 1 bis 3, 5 bis 8 und 14 Versicherten gehören oder c) die zur Vorbereitung von berufsfördernden Maßnahmen zur Rehabilitation auf Aufforderung eines in Buchstabe b genannten Trägers diese oder andere Stellen aufsuchen, 18. Teilnehmer an den auf Rechtsvorschriften beruhenden Maßnahmen für die Aufnahme in a) Kindergärten, b) allgemeinbildenden Schulen, c)
Hochschulen,
soweit die Maßnahmen von diesen Einrichtungen oder von einer Behörde oder in deren
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Gesetzliche Unfallversicherung Auftrag durchgeführt werden und die Teilnehmer nicht bereits zu den nach Nummer 14 Versicherten gehören. Gegen Arbeitsunfall sind ferner Personen versichert, die wie ein nach Absatz 1 Versicherter tätig werden; dies gilt auch bei nur vorübergehender Tätigkeit.
Mit dem 4. Buch des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - ist dem § 5 3 9 R V O ein weiterer Absatz angefügt worden. Dieser lautet: Soweit die Absätze 1 und 2 weder eine Beschäftigung noch eine selbständige Tätigkeit voraussetzen, gelten sie für alle Personen, die die dort genannten Tätigkeiten im Geltungsbereich dieses Gesetzes ausüben; § 4 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch gilt entsprechend. Abs. 1 Nr. 9 Buchstabe a gilt auch für Personen, die außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes tätig werden, wenn sie innerhalb dieses Geltungsbereichs ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Das bedeutet, daß der dem öffentlichen Interesse dienende versicherte Personenkreis, soweit eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit nicht vorliegen (ζ. B. Blutspender, Hilfeleistende bei einer Dienstleistung, Zeugen vor Gericht) dann versichert ist, wenn die versicherte Tätigkeit im Geltungsbereich der Reichsversicherungsordnung, d. h. also in der Bundesrepublik ausgeübt wird. Von dieser Regel wird zugleich eine Ausnahme bestimmt, nämlich daß Nothelfer oder Lebensretter (Nr. 9 a s. oben) auch bei einer Rettungstätigkeit im Ausland versichert sind, wenn sie innerhalb des Geltungsbereichs der Reichsversicherungsordnung ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Über die Versicherung bei Tätigkeiten außerhalb des Geltungsbereichs des Sozialgesetzbuches bzw. der Reichsversicherungsordnung, die sogenannte „Ausstrahlung", bestimmt § 4 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch — Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung — im übrigen: (1) Soweit die Vorschriften über die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung eine Beschäftigung voraussetzen, gelten sie auch für Personen, die im Rahmen eines im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches bestehenden Beschäftigungsverhältnisses in ein Gebiet außerhalb dieses Geltungsbereichs entsandt werden, wenn die Entsendung infolge der Eigenart der Beschäftigung oder vertraglich im voraus zeitlich begrenzt ist. (2) Absatz 1 gilt nicht für Personen, die auf ein Seeschiff entsandt werden, das nicht berechtigt ist, die Bundesflagge zu führen, und der Unfallverhütung und Schiffssicherheitsüberwachung durch die See-Berufsgenossenschaft nicht unterliegt. Die Satzung der See-Berufsgenossenschaft muß Ausnahmeregelungen enthalten. (3) Für Personen, die eine selbständige Tätigkeit ausüben, gelten die Absätze 1 und 2 entsprechend.
Die Fassung des § 5 3 9 Abs. 1 Nr. 14 R V O ist durch das „Gesetz über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten" vom 1 8 . 3 . 1 9 7 1 (Bundesgesetzblatt 11971, S. 237ff.) eingeführt worden. Mit diesem am 0 1 . 4 . 1 9 7 1 in Kraft getretenen Gesetz wurden Schüler und Studenten und Kindergartenkinder in den Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung einbezogen. Der Versicherungsschutz für Rehabilitanden aus dem Zuständigkeitsbereich der Krankenversicherung, der Rentenversicherung, der landwirtschaftlichen Alterskassen und der Bundesanstalt für Arbeit bei Maßnahmen zur medizinischen oder berufli-
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chen Rehabilitation oder zur Vorbereitung von M a ß n a h m e n der beruflichen Rehabilitation (s. oben Nr. 17a) bis c)) ist durch das „Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation" eingeführt worden. Im Bereich der Bundesversorgung gilt Entsprechendes nach § 1, Abs. 2 e und f des Bundesversorgungsgesetzes. Bei M a ß nahmen der medizinischen Rehabilitation sind Rehabilitanden dann versichert, wenn ihnen Heilbehandlung mit Unterkunft und Verpflegung in einem Krankenhaus oder einer Kur- oder Spezialeinrichtung gewährt wird (§559 RVO). Nicht versichert sind demnach u. a. Personen bei ambulanter Behandlung, bei Unterbringung zur Beobachtung oder Begutachtung, zur Entbindung, zur Wochenpflege oder zum Schwangerschaftsabbruch, ferner bei offenen Badekuren, Erholungs-, Genesungs-, Mütterkuren u. ä. Versicherungsschutz besteht nur bei Betätigungen in ursächlichem Zusammenhang mit der stationären Unterbringung, nicht aber bezüglich der in der Heilbehandlung liegenden Risiken, wie z.B. atypischer Verlauf, Komplikationen, Behandlungsfehler von Ärzten oder ärztlichem Hilfs- oder von Pflegepersonal (dazu u.a.: Bundessozialgericht 27.6.1975 in Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bd. 46, S. 283 ff.; Bundessozialgericht 30.9.1980 in Breithaupt, Sammlung von Entscheidungen aus dem Sozialrecht, 71. Jahrgang (1982) S. 379ff.). Soweit Personen durch eine versicherte Tätigkeit außerhalb der gewerblichen Wirtschaft oder der Landwirtschaft einen Arbeitsunfall erleiden (z.B. Blutspender, Lebensretter o. ä.), sind für die Betreuung und Entschädigung nicht die Berufsgenossenschaften, sondern die Unfallversicherungsträger der öffentlichen H a n d zuständig (Ausführungsbehörden des Bundes oder der Länder, Gemeindeunfallversicherungsverbände usw.). Diese Versicherungsträger sind auch in der Regel für die Unfallversicherung von Schülern, Studenten und Kindergartenkindern zuständig und haben daher sehr bedeutungsvolle Aufgaben auf dem Gebiet der Heilbehandlung und der Rehabilitation von Unfallfolgen bei Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden erhalten. Diesen besonderen Aufgaben m u ß auch die Begutachtung gerecht werden. Schließlich genießen Personen Versicherungsschutz, die während einer auf G r u n d eines Gesetzes angeordneten Freiheitsentziehung oder auf Grund strafrichterlicher Anordnung wie ein nach der zuvor genannten Vorschrift Versicherter tätig werden. Versicherungsfrei sind Beamte, Soldaten, Mitglieder geistlicher Genossenschaften, Diakonissen, Schwestern vom Deutschen Roten Kreuz und Angehörige ähnlicher Gemeinschaften, selbständig beruflich tätige Ärzte, Heilpraktiker, Zahnärzte und Apotheker, weiterhin Kinder, Geschwister und andere Verwandte eines Haushaltungsvorstandes oder eines Ehegatten bei unentgeltlicher Beschäftigung im Haushalt (§541, Abs. 1 N r . 1 - 5 RVO). Versicherungsfrei sind ferner: 1. Unternehmer von nicht gewerbsmäßig betriebenen Binnenfischereien oder Imkereien und ihre Ehegatten, wenn die Fischerei oder die Imkerei nicht Bestandteil oder Nebenunternehmen eines landwirtschaftlichen Unternehmens ist, 2. a) Verwandte auf- oder absteigender Linie dieser Unternehmer oder ihrer Ehegatten, b) sonstige Kinder ($583 Abs. 5) dieser Unternehmer oder ihrer Ehegatten, c) Geschwister dieser Unternehmer oder ihrer Ehegatten
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Gesetzliche Unfallversicherung bei unentgeltlicher Beschäftigung in nicht gewerbsmäßig betriebenen Fischereien oder Imkereien,
3. Personen, die auf G r u n d einer vom Fischerei- oder Jagdausübungsberechtigten unentgeltlich oder entgeltlich erteilten Fischerei- oder Jagderlaubnis die Fischerei oder Jagd ausüben (Fischerei- oder Jagdgäste), 4. Mitglieder von Sportfischereivereinigungen, soweit sie die im Besitz der Vereinigung stehenden Gewässer zum eigenen Nutzen befischen (§542, Nr. 1 - 4 R V O ) .
Unternehmer können dann versichert sein, wenn die Satzung des Trägers der Unfallversicherung die Versicherung auf Unternehmer und Angehörige Freier Berufe erstreckt. Im anderen Falle können sie der Unfallversicherung freiwillig beitreten. Ausnahme: Haushaltsvorstände, die in §542, N r . 1 - 4 R V O genannten Personen und Reeder, die nicht zur Besatzung eines Fahrzeugs gehören.
2.4 Versicherungsfall 2.4.1 Arbeitsunfall Nach den gesetzlichen Bestimmungen (§548 RVO) ist ein Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer Tätigkeit erleidet, durch die er in den versicherten Personenkreis einbezogen wurde, z.B. also ein Unfall bei der Tätigkeit im Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnis (§539 Abs. 1 N r . 1 RVO), als Heimarbeiter, Zwischenmeister, Hausgewerbetreibender (539 Abs. 1 N r . 2 RVO) usw. (s. o. 2.3. „Versicherter Personenkreis"). Als versicherte Tätigkeit gilt auch das Geldabheben bei einem Bankinstitut bei bargeldloser Lohnzahlung, und zwar das erstmalige Aufsuchen einer Bank nach Ablauf eines Lohn- oder Gehaltszahlungszeitraumes. Der Begriff des Unfalls ist im Gesetz nicht definiert, sondern durch die Rechtsprechung entwickelt. Nach dieser Rechtsprechung ist ein Unfall im versicherungsrechtlichen Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung ein von außen auf den Menschen einwirkendes — d. h. nicht auf einer inneren Ursache beruhendes — körperlich schädigendes, plötzliches, d. h. zeitlich begrenztes Ereignis. Das Erfordernis der zeitlichen Begrenzung ist erfüllt, wenn das schädigende Ereignis innerhalb einer Arbeitsschicht eingetreten ist, auch wenn ein näherer Zeitpunkt der Schädigung nicht festgestellt werden kann. Dem Körperschaden steht die Beschädigung eines Körpersatzstückes oder eines größeren orthopädischen Hilfsmittels gleich. Nach §555 a R V O steht einem Versicherten, der einen Arbeitsunfall erlitten hat, derjenige gleich, der als Leibesfrucht durch einen Arbeitsunfall der M u t t e r während der Schwangerschaft geschädigt worden ist. Dabei braucht die Mutter weder krank im Sinne der Krankenversicherung noch in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert gewesen zu sein. Weil nach der zuvor angeführten gesetzlichen Bestimmung ein Unfall dann ein Arbeitsunfall ist, wenn ein Versicherter ihn bei einer versicherten Tätigkeit erleidet, m u ß
Versicherungsfall
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das körperlich schädigende, zeitlich begrenzte Ereignis mit der versicherten Tätigkeit in ursächlichem Zusammenhang stehen. O b dieser Zusammenhang im Einzelfall nachgewiesen ist, ist in der Regel eine Frage, die durch rechtliche Würdigung des Sachverhalts zu beantworten ist. Dabei können ärztliche Befunde oder die persönlichen Angaben des Verletzten zum Unfallhergang beim Arzt allerdings von Bedeutung sein. Die Mitwirkung des ärztlichen Gutachters mit seinem Sachverstand ist jedoch vorwiegend zur Klärung einer weiteren Frage erforderlich. Denn außer dem ursächlichen Zusammenhang zwischen dem zeitlich begrenzten Ereignis und der versicherten Tätigkeit muß ein solcher zwischen dem Unfallereignis und dem Körperschaden bestehen. Für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung ist demnach zur Anerkennung eines Arbeitsunfalls (Versicherungsfall) die Feststellung eines zweifachen Kausalzusammenhangs erforderlich, nämlich: 1. zwischen versicherter Tätigkeit und Unfallereignis - sogenannte haftungsbegründende Kausalität - , 2. zwischen Unfallereignis und Körperschaden — sogenannte haftungsausfüllende Kausalität - .
Grundsätzlich gelten auch bei den nach § 5 3 9 Abs. 1 Nr. 17 a R V O (Rehabilitanden) versicherten Personen die allgemeinen Kriterien über den Versicherungsschutz bei Arbeitsunfällen. Es sind jedoch als Besonderheiten zu beachten: 1. Die „versicherte T ä t i g k e i t " des Patienten besteht darin, d a ß er sich zur Durchführung der medizinischen Behandlung in dem ihm fremden Gefahrenbereich einer Heilbehandlungsstätte aufhält und bei der Durchführung der Behandlung mitwirkt. 2. Versicherungsschutz besteht nur bei „ T ä t i g k e i t e n " , die mit der stationären Unterbringung zur Durchführung der Heilbehandlung in einem ursächlichen Z u s a m m e n h a n g stehen.
Der Patient begibt sich zur medizinischen Rehabilitation in den ihm fremden Gefahrenbereich ( = Betrieb) eines Krankenhauses oder einer anderen in § 559 R V O genannten Einrichtung. Versichert ist somit seine Mitwirkung an der Rehabilitation und nicht das Erdulden der Vornahme ärztlicher oder sonstiger medizinischer Behandlung an seinem Körper. Die mit der ärztlichen oder den sonstigen medizinischen Behandlungen verbundenen Risiken gehören nicht zu dem in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Bereich; Haftpflichtansprüche aus der Behandlung selbst sind nicht dem Unfallversicherungsschutz zuzurechnen. Diese Rehabilitanden-Unfälle werden von dem Unfallversicherungsträger bearbeitet, der für den Kostenträger der Reha-Maßnahme (Krankenkasse, Rentenversicherungsträger) zuständig ist.
Richtlinien für die Bearbeitung von Unfällen Versicherter nach § 5 3 9 Abs. 1 N r . 17 a R V O der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft.
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Gesetzliche Unfallversicherung
2.4.2 Ursachenbegriff in der gesetzlichen Unfallversicherung F ü r d a s Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung gilt — wie d a s a u c h auf a n d e r e Rechtsgebiete, etwa des Strafrechts oder des Zivilrechts, zutrifft - ein ihr eigentümlicher Begriff der rechtserheblichen Verursachung. D a s ist f ü r die Feststellung der haft u n g s a u s f ü l l e n d e n K a u s a l i t ä t bei den s o g e n a n n t e n Z u s a m m e n h a n g s g u t a c h t e n (s. Teil 2, Abschnitt 3, S. 138ff.), wie schon aus der Bezeichnung hervorgeht, von besonderer B e d e u t u n g . Wenn nämlich an d e m eingetretenen E r f o l g (Körperschaden) mehrere U r s a c h e n und nicht d a s angeschuldigte Ereignis allein mitgewirkt h a b e n , s o k a n n ein Arbeitsunfall nur a n e r k a n n t werden, wenn dieses Ereignis den s c h ä d i g e n d e n E r f o l g wesentlich mitverursacht hat, wenn es a l s o eine wesentliche Teilursache ist. D a s Bundessozialgericht hat d a z u in einem Urteil v o m 1 . 1 2 . 1 9 6 0 (Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bd. 13, S. 175ff./176) a u s g e f ü h r t : „ . . . Nach der feststehenden Rechtsprechung und Praxis sind jedoch von allen in Frage kommenden Ursachen im philosophisch-naturwissenschaftlichen Sinne im Rahmen der SozVers nur die wesentlichen Ursachen zu berücksichtigen, als welche diejenigen Bedingungen anzusehen sind, die nach der Auffassung des praktischen Lebens wegen ihrer besonderen Beziehungen zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Wenn mehrere Umstände gemeinsam zu einem Erfolg beigetragen haben, sind sie rechtlich nur dann wesentliche Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs annähernd gleichwertig sind. -Wenn dagegen einem der Umstände gegenüber dem anderen überragende Bedeutung zukommt, so ist er allein wesentliche Ursache im Rechtssinne..." In einem anderen Urteil, und z w a r v o m 12. F e b r u a r 1970 (Breithaupt, S a m m l u n g von Entscheidungen a u s d e m Sozialrecht Bd. 59 (1970), S. 8 1 0 f f . / 8 1 1 ) , weist d a s B u n d e s s o zialgericht a u ß e r d e m auf die B e d e u t u n g der M i t w i r k u n g von ärztlichen S a c h v e r s t ä n digen bei der Beurteilung von M i t u r s a c h e n und ihrem Verhältnis zueinander hin. D a z u wird a u s g e f ü h r t : „ . . . Das Gesetz ist verletzt, wenn die für das Gebiet der gesetzl. UV geltende Kausalitätsnorm verletzt ist. Nach ihr ist diejenige Bedingung des Erfolges rechtserheblich, die nach der Auffassung des praktischen Lebens wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Wenn mehrere Bedingungen gleichwertig oder annähernd gleichwertig zu dem Erfolg beigetragen haben, so ist jede von ihnen Ursache im Rechtssinn. Kommt dagegen einem der Umstände gegenüber den anderen eine überragendeBedeutung zu, so ist er allein wesentliche Ursache im Rechtssinn..." und weiter: „ . . .Die Frage, welche von mehreren körperlichen Schädigungen, die gemeinsam den Tod eines Versicherten verursacht haben, nach der Auffassung des täglichen Lebens rechtlich wesentlich sind, ist allerdings - im Rechtszuge - allein vom Gericht zu beantworten. Die in einem solchen Fall vorzunehmende Wertung setzt jedoch, weil fundiertes medizinisches Wissen von dem Gericht nicht erwartet werden kann, in der Regel voraus, daß über die medizinische Bedeutung der Mitursachen und ihr Verhältnis zueinander Sachverständigenbeweis erhoben worden ist und entsprechende Feststellungen getroffen worden s i n d . . . " Bei der P r ü f u n g des U r s a c h e n z u s a m m e n h a n g s ist a l s o die F r a g e zu b e a n t w o r t e n , o b ein Ereignis wesentlich den E r f o l g herbeigeführt hat o d e r o b es nur eine, rechtlich unbeachtliche, G e l e g e n h e i t s u r s a c h e darstellt, die den E r f o l g „ a u s g e l ö s t " hat (Beispie-
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le: Eintritt einer habituellen Luxation während der Arbeit, Spontanfraktur, Leistenbruch). Die von den Verbänden der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung herausgegebene „Anleitung für den Durchgangsarzt" vertritt die Auffassung, daß „Krankheiten, wie z.B. Knochen- und Gelenktuberkulose, Osteomyelitis, Karzinom, Sarkom, Hernie, Bandscheibenvorfall, Lumbago" „nach allgemeiner unfallmedizinischer Erfahrung nur in Ausnahmefällen unter besonderen Voraussetzungen Unfallfolge" sind und daß „eine besonders kritische Prüfung des Zusammenhangs mit dem vom Versicherten geschilderten Ereignis" „bei Meniskusschäden, Thrombosen und Krampfaderleiden" erforderlich ist. Schwierig ist auch die Prüfung des Ursachenzusammenhangs, wenn dabei zu entscheiden ist, ob durch den Unfall ausgelöste Geschehensabläufe, die außerhalb des körperlich-organischen, also im seelischen Bereich, liegen, als wesentliche Ursache anzusehen sind. Diese Geschehensabläufe werden im Sprachgebrauch als „Unfallneurosen" bezeichnet. Solche seelischen Störungen sind nur unter besonderen, sorgfältig zu prüfenden Voraussetzungen wesentlich, die hier nur skizziert werden können. Die frühere Rechtsprechung, nach der die Unfallneurose als nicht unmittelbar organisch bedingt, sondern nur als eine psychologisch verständliche Reaktion und damit nicht als Unfallfolge im Rechtssinne angesehen wurde, ist durch das Bundessozialgericht nicht fortgesetzt worden. In dem maßgeblichen Urteil dieses Gerichts vom 18.12.1962 (Entscheidungen des Bundessozialgerichts, Bd. 18, S. 173 ff.) heißt es vielmehr dazu u. a.: Auch bei psychischen Reaktionen kann der „Anlage" nicht in jedem Fall von vornherein eine so überragende Bedeutung beigemessen werden, daß sie rechtlich die allein wesentliche „Ursache" ist und die vom Unfallereignis oder seinen organischen Folgen ausgehenden Einwirkungen auf die Psyche als rechtlich unwesentlich in den Hintergrund treten. Vielmehr ist u. a. zu prüfen, ob das Unfallereignis und seine organischen Auswirkungen ihrer Eigenart und Stärke nach unersetzlich, d. h. ζ. B. nicht mit anderen alltäglich vorkommenden Ereignissen austauschbar sind, und ob die Anlage so leicht „ansprechbar" war, daß sie gegenüber den psychischen Auswirkungen des Unfallereignisses die rechtlich allein wesentliche Ursache ist. Hierbei wird die Schwere des Unfallereignisses - im Verhältnis zu den später vorliegenden Erscheinungen betrachtet — vielfach gewisse Anhaltspunkte geben können. Weiterhin ist von Bedeutung, ob vor dem Unfallereignis eine völlig latente „Anlage" bestand und ob diese sich bereits in Symptomen manifestiert hatte, deren Entwicklung durch das Unfallereignis - dauernd oder nur vorübergehend beeinflußt worden ist."
und weiter: „Auch nach der Auffassung des erkennenden Senats ist allerdings ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang in der Regel zu verneinen, wenn die psychischen Reaktionen wesentlich die Folge wunschbedingter Vorstellungen sind, die z.B. mit der Tatsache des Versichertseins oder auch mit persönlichen Lebenskonflikten in Zusammenhang stehen."
Von der gleichen psychischen Reaktionen sind die Tatbestände der bewußten Aggravation und Simulation zu trennen. Sie sind keine Unfallfolgen. In das Gebiet der rechtlichen Beurteilung seelischer Reaktionen auf ein Unfallereignis fällt auch die Frage, ob ein Selbstmord wesentlich durch einen Unfall verursacht
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worden ist. Da absichtliches Verursachen eines Unfalls den Versicherungsschutz ausschließt, ist der Selbstmord an der Arbeitsstelle und durch Betriebseinrichtungen kein Arbeitsunfall. Ein Selbstmord jedoch, der in einem durch einen Arbeitsunfall verursachten Zustand der Unzurechungsfähigkeit begangen wird, ist eine Folge dieses Unfalls, so daß die Hinterbliebenen zu entschädigen sind. Ein rechtserheblicher Ursachenzusammenhang eines Freitodes mit einem Unfall kann aber auch schon dann bestehen, wenn die Fähigkeit zur Willensbildung durch Auswirkungen des Unfalls wesentlich beeinträchtigt war. Für die Entscheidung kommt es darauf an, in welchem Umfang bei Berücksichtigung der gesamten Persönlichkeit die seelische Störung (Depression) durch Auswirkungen des Unfalls hervorgerufen war. Ist eine solche Störung rechtlich wesentlich durch Unfallfolgen verursacht, so ist zu prüfen, in welchem Umfang dadurch die Fähigkeit des Verstorbenen „zu vernunftgemäß würdigenden folgerichtigen Überlegungen und darauf aufgebauter Entschließung beeinträchtigt war und welche Bedeutung derartige Veränderungen der Persönlichkeit für den Entschluß zur Selbsttötung hatten" (Bundessozialgericht Urteil vom 18.12.1962, Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bd. 18, S. 163). Es ist nicht erforderlich, daß ein Kausalzusammenhang mit Sicherheit nachgewiesen ist, es genügt vielmehr, daß er wahrscheinlich ist. Wahrscheinlich ist ein Zusammenhang nach der Rechtsprechung dann, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände die für den Zusammenhang sprechenden Erwägungen so stark überwiegen, daß sich darauf die richterliche Überzeugung gründen kann, bzw. die dagegen sprechenden Erwägungen billigerweise außer Betracht bleiben können. Die bloße Möglichkeit eines Zusammenhangs genügt weder für die haftungsbegründende noch für die haftungsaufüllende Kausalität. Auf der anderen Seite wird ein besonderes Maß von Wahrscheinlichkeit wie „mit an Sicherheit grenzender" oder „überwiegender" Wahrscheinlichkeit nicht gefordert. Auf folgende Besonderheit zur Beurteilung des Ursachenzusammenhangs ist hinzuweisen. Nach §589 Abs. 2 RVO besteht bei den Berufskrankheiten Asbestose (Nr. 4103 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung), Asbestose in Verbindung mit Lungenkrebs (Nr. 4104), Silikose (Nr. 4101) und Siliko-Tuberkulose (Nr. 4102) eine gesetzliche Vermutung dafür, daß der Tod eines Versicherten Folge der Berufskrankheit ist, wenn der Versicherte zu Lebzeiten wegen einer der zuvor genannten Berufskrankheiten um 50 oder mehr vom Hundert in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert war. Diese Vermutung gilt nur dann nicht, wenn offenkundig ist, daß der Tod nicht in ursächlichem Zusammenhang mit einer dieser Berufskrankheiten steht, d. h. daß eine dieser Berufskrankheiten „ . . . mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit den Tod des Versicherten in medizinischem Sinne nicht erheblich mitverursacht und ihn mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit nicht um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat." (Bundessozialgericht 14.3.1968, Entscheidungen des Bundessozialgerichts Band 28, S.38ff./41). In der Entscheidung weist das Bundessozialgericht weiter darauf hin, daß die Vorschrift des § 589 Abs. 2 RVO den Zweck habe, in den genannten Fällen die Hinterblie-
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benenrente grundsätzlich zu gewähren und daß daher nur in besonderen Ausnahmefällen von der Gewährung dieser Hinterbliebenenrente abgesehen werden könne. Durch einen Arbeitsunfall können auch mittelbare Unfallfolgen wesentlich verursacht sein. Sie sind den unmittelbaren rechtlich gleichwertig, z.B. Sturz mit Verletzungsfolgen infolge einer durch einen Arbeitsunfall verursachten Körperbehinderung. Das Gesetz (§555 RVO) bezeichnet es ausdrücklich als (mittelbare) Folge eines Arbeitsunfalls, wenn der Verletzte bei der Durchführung der Heilbehandlung oder der Berufshilfe wegen dieses Arbeitsunfalls, bei der Herstellung oder Erneuerung eines beschädigten Körperersatzstückes oder größeren orthopädischen Hilfsmittels, bei einer wegen des Arbeitsunfalls zur Aufklärung des Sachverhalts angeordneten Untersuchung oder auf einem dazu notwendigen Wege einen Unfall erleidet. Mittelbare Unfallfolgen sind auch Gesundheitsstörungen, die infolge der Heilbehandlung wegen eines Arbeitsunfalls entstehen, wie ζ. B. atypischer Verlauf, Komplikationen, Behandlungsfehler von Ärzten oder ärztlichem Hilfs- oder von Pflegepersonal. Mittelbare Unfallfolgen sind weiterhin durch ärztliche Eingriffe hervorgerufene Gesundheitsstörungen, wenn die Eingriffe dazu gedient haben, Art, Umfang und Ausmaß von Unfallfolgen festzustellen. Das gilt auch, wenn ein solcher Eingriff zu dem Ergebnis führt, daß die dabei festgestellten Befunde nicht Unfallfolge sind.
2.4.3 Verschlimmerung - Wesentliche Änderung Folgen eines Unfalls können sich sowohl verschlimmern als auch bessern. Solche Änderungen in den Unfallfolgen sind nur dann rechtserheblich, wenn sie wesentlich sind. Wesentlich ist eine Änderung, wenn sich dadurch der Prozentsatz der Minderung der Erwerbsfähigkeit auf die Dauer um mehr als 5 v. H. geändert hat (Beispiel: 20 v. H. auf 30 v. H., 25 ν. H auf 33 1/3 v. H. usw. und umgekehrt). Dieser Grundsatz gilt nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 2.3.1971 (Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bd. 32, S. 245ff.) ohne Einschränkung. Das Gericht hat mit diesem Urteil die frühere Rechtsprechung aufgegeben, wonach unter bestimmten Umständen eine Änderung von 5 v. H. als wesentlich anzusehen war, so wenn etwa die Gewährung oder der Entzug einer Verletztenrente davon abhing. Das Gericht hat dazu ausgeführt, es halte es für geboten, „ . . . an dem auf jahrzehntelange unfallmedizinische Erfahrung gestützten Prinzip, daß Abweichungen um nicht mehr als 5 v. H. bei der Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit außer Betracht bleiben müssen, festzuhalten und diesen Grundsatz noch dadurch zu festigen, daß Ausnahmen hiervon nicht mehr anerkannt w e r d e n . . . "
Ein Arbeitsunfall kann aber auch ein bestehendes Leiden verschlimmern. Ist der Unfall eine wesentliche Teilursache für eine solche Verschlimmerung, so ist die Verschlimmerung Unfallfolge. Wenn in der gutachterlichen Praxis verschiedene Möglichkeiten einer solchen Verschlimmerung, nämlich die vorübergehende oder die dauernde, die einmalige oder die richtunggebende Verschlimmerung erörtert werden, so kann eine solche Erörterung der Klärung des medizinischen Sachverhalts oder für Maßnahmen des Leistungsträgers, etwa zur Rehabilitation, dienlich sein. Jedoch sind
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diese Unterscheidungen für die Entscheidung über Art und Umfang der Ansprüche des Verletzten rechtlich bedeutungslos, weil sie einmal keine Grundlage in gesetzlichen Vorschriften haben und außerdem künftig notwendige Entscheidungen in unzulässiger Weise vorwegnehmen. Sie dürfen nicht in den Verwaltungsakt, der über die Verschlimmerungen entscheidet, aufgenommen werden (Bundessozialgericht 15.12.1959, Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bd. 11, S. 161 ff u.a.). Die Frage der Verschlimmerung eines bestehenden Leidens durch einen Unfall ist bei Tod durch dieses Leiden besonders zu prüfen. Der Unfall ist als wesentliche Teilursache dann anzuerkennen, wenn das Leben des Versicherten durch den Unfall um wenigstens ein Jahr verkürzt worden ist.
2.4.4 Dem Arbeitsunfall gleichgestellte Tatbestände 2.4.4.1 Unfälle bei der Verwahrung des Arbeitsgeräts, Unfälle auf dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit (Wegeunfälle). Als Arbeitsunfälle werden nicht nur die Unfälle in unmittelbaren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit entschädigt, sondern auch Unfälle, die nur in mittelbarem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen. So gilt ein Unfall bei einer mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Verwahrung, Beförderung, Instandhaltung und Erneuerung des Arbeitsgeräts als Arbeitsunfall, und zwar auch dann, wenn dieses Arbeitsgerät vom Versicherten gestellt wird (§549 RVO). Angesichts der Entwicklung des Verkehrs sind die Unfälle, die der Versicherte auf dem Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit erleidet, von besonderer Bedeutung. Dabei ist „ W e g " nicht im Sinne von Wegstrecke, sondern von Fortbewegung von einem bestimmten Ausgangspunkt auf ein bestimmtes Ziel hin zu verstehen. Versichert ist nur der unmittelbare verkehrsgerechte Weg von der Wohnung des Versicherten zur Arbeitsstätte. Das gleiche gilt für die Wege von und zur Schule, zur Hochschule und zum Kindergarten und zu deren Veranstaltungen (§550 RVO). Durch das Gesetz über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18.3.1971 (s.o. unter 2.3.) ist der Versicherungsschutz auf dem Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit durch die nachfolgende Ergänzung des § 550 Abs. 2 R V O erweitert worden: „ D i e Versicherung ist nicht ausgeschlossen, wenn der Versicherte von d e m unmittelbaren Wege zwischen der Wohnung und d e m O r t der Tätigkeit abweicht, weil sein Kind (§ 583 Abs. 5 R V O ) , d a s mit ihm in einem H a u s h a l t lebt, wegen seiner oder seines Ehegatten beruflicher T ä t i g k e i t fremder O b h u t anvertraut w i r d , . . . "
Danach sind Versicherte auf dem Wege zur Arbeit oder auf dem Heimweg von der Arbeit auch auf einem Umweg versichert, wenn dieser Umweg wegen der durch die berufliche Tätigkeit der Eltern notwendigen Unterbringung ihres Kindes in fremder Obhut erforderlich ist. Als Kinder gelten auch (§583 Abs. 5 RVO) 1. die in den Haushalt aufgenommenen Stiefkinder;
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2. Kinder, die mit dem Ziel der Annahme als Kind in die Obhut des Annehmenden aufgenommen sind und für die die zur Annahme erforderliche Einwilligung erteilt ist. Solche Kinder gelten als Kinder des Annehmenden und nicht mehr als Kinder leiblicher Eltern. Den besonderen versicherungsrechtlichen Bedürfnissen für die von Versicherten vielfach gebildeten sogenannten „Fahrgemeinschaften" trägt die folgende 1974 eingeführte Erweiterung des § 550 Abs. 2 R V O Rechnung. Sie lautet: „Die Versicherung ist nicht ausgeschlossen, wenn der Versicherte von dem unmittelbaren Weg zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit abweicht, weil
1. . . . 2. er mit anderen berufstätigen oder versicherten Personen gemeinsam ein Fahrzeug für den Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit benutzt."
Andere Umwege und Zwischenaufenthalte können den Zusammenhang unterbrechen, oder, wenn sie in unverhältnismäßiger Zeitdauer zur Wegstrecke stehen, auch lösen. Die Wahl des Verkehrsmittels, mit dem der Versicherte den Weg zurücklegt, ist ohne Bedeutung. Der Weg beginnt und endet jeweils an der Außentür des Unternehmens bzw. an der Außenhaustür des Wohngebäudes. Wege innerhalb des Wohngebäudes sind nicht mehr versichert. Wenn der Versicherte wegen der Entfernung seiner ständigen Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft hat, gilt auch der Weg zu dieser ständigen Familienwohnung als versichert. Familienwohnung ist die Wohnung, die ständig den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bildet, so daß die Wohngelegenheit am Arbeitsort nur eine „Unterkunft" ist. Der Begriff „Familienwohnung" bedeutet nicht, daß nur bei Vorliegen von familienrechtlichen Rechtsbeziehungen im Sinne der Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches die Anerkennung als Familienwohnung gerechtfertigt ist (so u. a. Bundessozialgericht 2 9 . 6 . 1 9 6 6 , Sammlung der Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bd. 25, S. 93ff.). 2.4.4.2 Erweiterter Versicherungsschutz in See- und Binnenschiffahrt In der Seeschiffahrt (§ 838 R V O ) und den Unternehmen der Binnenschiffahrt (§ 552 R V O ) besteht ein erweiterter Versicherungsschutz, der Unfälle durch Elementarereignisse, durch die in einem Hafen eigentümlichen Gefahren im Hafengebiet sowie bei der Beförderung vom Land zum Fahrzeug oder vom Fahrzeug zum Land oder beim Retten oder Bergen von Menschen oder Sachen einschließt. Ferner ist zu beachten, daß Arbeitsstelle, Wohnung und Freizeitbereich auf dem Schiff eine Einheit bilden; insoweit besteht auch außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit Versicherungsschutz als betriebliche Gefahrenmomente die Unfallursache bilden. Hafengebiet, bei der Beförderung vom Land zum Fahrzeug oder vom Fahrzeug zum Land oder beim Retten oder Bergen von Menschen oder Sachen eintritt (§552 R V O ) . 2.4.4.3 Berufskrankheiten Als Arbeitsunfälle gelten schließlich die Berufskrankheiten. Berufskrankheiten sind nach den gesetzlichen Vorschriften die Krankheiten, welche die Bundesregierung
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durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleidet. Diese Rechtsverordnung ist die Berufskrankheiten-Verordnung. Die siebte Verordnung bezeichnet i.d.F. der Änderungsverordnung vom 2 2 . 3 . 1 9 8 8 derzeit 59 Berufskrankheiten, nämlich: 1
Durch chemische Einwirkungen verursachte Krankheiten
11 Metalle und Metalloide 1101 Erkrankungen durch Blei oder seine Verbindungen 1102 Erkrankungen durch Quecksilber oder seine Verbindungen 1103 Erkrankungen durch Chrom oder seine Verbindungen 1104 Erkrankungen durch Cadmium oder seine Verbindungen 1105 Erkrankungen durch Mangan oder seine Verbindungen 1106 Erkrankungen durch Thallium oder seine Verbindungen 1107 Erkrankungen durch Vanadium oder seine Verbindungen 1108 Erkrankungen durch Arsen oder seine Verbindungen 1109 Erkrankungen durch Phosphor oder seine anorganischen Verbindungen 1110 Erkrankungen durch Berryllium oder seine Verbindungen 12 Erstickungsgase 1201 Erkrankungen durch 1202 Erkrankungen durch
Kohlenmonoxid Schwefelwasserstoff
13 Lösemittel, Schädlingsbekämpfungsmittel (Pestizide) und sonstige chemische Stoffe 1301 Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine 1302 Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe 1303 Erkrankungen durch Benzol oder seine Homologe 1304 Erkrankungen durch Nitro- oder Aminoverbindungen des Benzols oder seiner Homologe oder ihrer Abkömmlinge 1305 Erkrankungen durch Schwefelkohlenstoff 1306 Erkrankungen durch Methylalkohol (Methanol) 1307 Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen 1308 Erkrankungen durch Fluor oder seine Verbindungen 1309 Erkrankungen durch Salpetersäureester 1310 Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylaryloxide 1311 Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylarylsulfide 1312 Erkrankungen der Zähne durch Säuren 1313 Hornhautschädigungen des Auges durch Benzochinon 1314 Erkrankungen durch para-tertiär-Butylphenol Zu den Nummern 1101 bis 1110, 1201 und 1202, 1303 bis 1309: Ausgenommen sind Hauterkrankungen. Diese gelten als Krankheiten im Sinne dieser Anlage nur insoweit, als sie Erscheinungen einer Allgemeinerkrankung sind, die durch Aufnahme der schädigenden Stoffe in den Körper verursacht werden, oder gemäß Nummer 5101 zu entschädigen sind. 2
Durch physikalische Einwirkungen verursachte Krankheiten
21 Mechanische Einwirkungen 2101 Erkrankungen der Sehnenscheiden oder des Sehnengleitgewebes sowie der Sehnen- oder Muskelansätze, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheiten ursächlich waren oder sein können
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2102 Meniskusschäden nach mehrjährigen andauernden oder häufig wiederkehrenden, die Kniegelenke überdurchschnittlich belastende Tätigkeiten 2103 Erkrankungen durch Erschütterung bei Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen 2104 Vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können 2105 Chronische Erkrankungen der Schleimbeutel durch ständigen Druck 2106 Drucklähmungen der Nerven 2107 Abrißbrüche der Wirbelfortsätze 22 Druckluft 2201 Erkrankungen durch Arbeit in 23 2301
Druckluft
Lärm Lärmschwerhörigkeit
24 Strahlen 2401 Grauer Star durch Wärmestrahlung 2402 Erkrankung durch ionisierende Strahlen 3
Durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten sowie Tropenkrankheiten
3101 Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war 3102 Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten 3103 Wurmkrankheit der Bergleute, verursacht durch Ankylostoma duedenale oder Strongyloides stercoralis 3104 Tropenkrankheiten, Fleckfieber 4
Erkrankungen der Atemwege und der Lungen, des Rippenfells und Bauchfells
41 Erkrankungen durch anorganische Stäube 4101 Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) 4102 Quarzstaublungenerkrankung in Verbindung mit aktiver Lungentuberkulose (Siliko-Tuberkulose) 4103 Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura 4104 Lungenkrebs in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder mit durch Asbeststaub verursachter Erkrankung der Pleura 4105 Durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells und des Bauchfells 4106 Erkrankungen der tieferen Atemwege und der Lungen durch Aluminium oder seine Verbindungen 4107 Erkrankungen an Lungenfibrose durch Metallstäube bei der Herstellung oder Verarbeitung von Hartmetallen 4108 Erkrankungen der tieferen Atemwege und der Lungen durch Thomasmehl (Thomasphosphat) 4109 Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Nickel oder seine Verbindungen 4110 Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Kokereirohgase 42 Erkrankungen durch organische Stäube 4201 Exogen-allergische Alveolitis 4202 Erkrankungen der tieferen Atemwege und der Lungen durch Rohbaumwoll-, oder Rohhanfstaub (Byssinose)
Rohflachs-
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4203 Adenolarzinome der Nasenhaupt- und Nasennebenhöhlen durch Stäube von oder Buchenholz
Eichen-
43 Obstruktive Atemwegserkrankungen 4301 Durch allergisierende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen (einschließlich Rhinopathie), die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können 4302 Durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
5
Hautkrankheiten
5101 Schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können 5102 Hautkrebs oder zur Krebsbildung neigende Hautveränderungen durch Ruß, Rohparaffin, Teer, Anthrazen, Pech oder ähnliche Stoffe 6
Krankheiten
6101 Augenzittern
sonstiger
Ursache
der Bergleute
(s. dazu Merkblätter des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung für die ärztliche Untersuchung bei Berufskrankheiten S. 174 ff.)
Zu beachten ist, daß 1. Infektionskrankheiten (3101) 2. Augenzittern (6101) als Berufskrankheiten nur anerkannt werden, zu 1) wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem M a ß e besonders ausgesetzt war; zu 2) bei Bergleuten. Wenn auch Berufskrankheiten durch ein Unfallereignis, d. h. also ein zeitlich begrenztes Ereignis, entstehen können, wie z.B. bei Erkrankung durch Einwirkung von Kohlenmonoxid, so ist doch im allgemeinen ein Zeitpunkt für das Entstehen einer Berufserkrankung nicht feststellbar oder die Erkrankung wird erst durch längere Einwirkung des schädigenden Stoffes erworben. Da nun aber eine Berufskrankheit als Arbeitsunfall gilt, muß der Zeitpunkt der Entstehung fingiert werden. Das Gesetz (§551 Abs. 3 R V O ) bestimmt daher, daß als Zeitpunkt des Arbeitsunfalls der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, der Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit gilt. Krankheit im Sinne der Krankenversicherung beginnt entweder mit dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit oder mit der Notwendigkeit, wegen einer Erkrankung ärztliche Behandlung in
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Anspruch zu nehmen. Der Zeitpunkt des Beginns der Minderung der Erwerbsfähigkeit tritt erst ein, wenn die Minderung rechtserheblich ist, d.h. im allgemeinen dann, wenn sie mindestens 20% beträgt (Bundessozialgericht 28.4.1967, Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bd.26, S.230ff.). Für die Berechnung der Entschädigung und für die Berechnung von Ausschlußfristen können noch andere Zeitpunkte fingiert werden; hierauf ist aber im Zusammenhang dieser Darstellung nicht einzugehen. Bei den Berufskrankheiten 2101 Erkrankungen der Sehnenscheiden oder des Sehnengleitgewebes sowie der Sehnen- oder Muskelansätze, 2104 vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen, 4301 durch allergisierende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen, 4302 durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen, 5101 schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, tritt der Versicherungsfall dann ein, wenn diese Erkrankungen zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Erkrankungen ursächlich waren oder sein können. Bis zum Inkrafttreten der nunmehr geltenden Liste mußte die Erkrankung zur Aufgabe der beruflichen Beschäftigung oder jeder Erwerbsarbeit gezwungen haben. Weitere Voraussetzung für den Eintritt des Versicherungsfalles ist bei Hauterkrankungen (5101), daß sie schwer oder wiederholt rückfällig sind. Zur Vermeidung von Härten sollen die Unfallversicherungsträger im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung bezeichnet ist, wie eine Berufskrankheit entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen diese Krankheit durch besondere Einwirkungen verursacht ist, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§551 Abs. 2 RVO). So weist die amtliche Begründung zur Berufskrankheiten-Verordnung d a r a u f h i n , daß die neu aufgenommenen Erkrankungen bereits vor Inkrafttreten dieser Anlage 1 von den Unfallversicherungsträgern nach der genannten Vorschrift entschädigt worden sind. Bei Berufskrankheiten sind besondere Verfahrensvorschriften von Bedeutung. So besteht nach der Berufskrankheiten-Verordnung für jeden Arzt oder Zahnarzt die gesetzliche und erzwingbare - der Anzeige etwa nach dem Bundesseuchengesetz rechtlich vergleichbare — Pflicht, eine Anzeige zu erstatten, falls er den begründeten Verdacht hat, daß bei einem Versicherten eine Berufskrankheit besteht (§ 5 Berufskrankheiten-Verordnung). Die Anzeige ist unverzüglich dem zuständigen Unfallversicherungsträger (Berufsgenossenschaft usw.) oder der durch Landesrecht bestimmten für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Stelle — in der Regel dem Staatlichen Gewerbearzt — zu erstatten. Dazu ist der in der Anlage 3 der BerufskrankheitenVerordnung festgelegt Vordruck „Ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit" zu
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verwenden. Mit dem Vordruck sind Erläuterungen zur Unterrichtung des anzeigenden Arztes verbunden. Die Vordrucke werden von den Bezirksstellen der Kassenärztlichen Vereinigungen zur Verfügung gestellt. Weiterhin hat die für den medizinischen Arbeitsschutz (Staatlicher Gewerbearzt) zuständige Stelle, falls sie es für erforderlich hält, den Versicherten zu untersuchen oder für Rechnung des Unfallversicherungsträger untersuchen zu lassen und diesem Träger ein Gutachten zu erstatten. Schlägt die Stelle dem Unfallversicherungsträger Beweiserhebungen vor, so hat der Träger solchen Vorschlägen zu folgen, es sei denn, daß eine entsprechende Beweiserhebung bereits eingeleitet ist. Außerdem besteht eine gegenseitige Informationspflicht über die eingeleiteten M a ß n a h m e n . Die für den medizinischen Arbeitsschutz zuständige Stelle ist also bei Berufskrankheiten, im Gegensatz zu dem sonstigen Verfahren im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung, in gewissem Umfang Herr des Ermittlungsverfahrens (§7). Besondere gutachtliche Aufgaben ergeben sich aus der Verpflichtung der Unfallversicherungsträger zur Vorbeugung von Berufskrankheiten. Besteht nämlich für einen Versicherten die Gefahr, daß eine Berufskrankheit entsteht, wieder auflebt oder sich verschlimmert, so hat der Versicherungsträger „mit allen geeigneten Mitteln dieser Gefahr entgegenzuwirken" (§3). Um diese Mittel - etwa vorbeugende Heilbehandlung, Kurgewährung o.ä., aber auch Wechsel des Arbeitsplatzes oder des Berufes einzusetzen, bedarf es der gutachtlichen Stellungnahme und der Mitwirkung des arbeitsmedizinisch erfahrenen Arztes. Da bereits das Entstehen einer Berufskrankheit zu verhindern ist, kann die ärztliche Tätigkeit bereits vor dem Zeitpunkt erforderlich sein, zu dem die „Ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit" zu erstatten wäre. Minderung des Verdienstes oder sonstige wirtschaftliche Nachteile, die der Versicherte durch die Einstellung der gefährdenden Tätigkeit erleidet, sind vom Unfallversicherungsträger durch als „Übergangsleistungen" bezeichnete Geldleistungen a b z u g l e i chen. Der Vorbeugung speziell von beruflichen Hauterkrankungen dient das im Abkommen Ärzte/Unfallversicherungsträger, Leitnummer 59—62, vereinbarte „Verfahren zur Früherfassung berufsbedingter Hauterkrankungen (Hautarztverfahren)". Durch die Einführung dieses Verfahrens wird der Arzt verpflichtet, einen versicherten Patienten, bei dem die Möglichkeit, daß eine H a u t e r k r a n k u n g durch eine berufliche Tätigkeit im Sinne der Berufskrankheiten-Verordnung entsteht, wiederauflebt oder sich verschlimmert, unverzüglich möglichst dem nächstwohnenden oder am leichtesten erreichbaren Hautarzt mit einem Vordruck (ÜV) vorzustellen. Der Vordruck wird honoriert. Der Hautarzt hat den Versicherten zu untersuchen und darüber den Unfallversicherungsträger mit dem „ H a u t a r z t b e r i c h t " (Vordruck 20 a) zu unterrichten. Durchschriften des Berichts erhalten der behandelnde Arzt und die Krankenkasse. Falls erforderlich, kann der Hautarzt den Krankheitsverlauf durch Wiedervorstellung des Patienten überwachen. Auch darüber ist der Unfallversicherungsträger mit dem
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Hautarztbericht zu unterrichten. Durchschriften erhalten der behandelnde Arzt und die Krankenkasse. Die Durchführung von Tests zur Klärung des Ursachenzusammenhangs bedarf der Einwilligung des Unfallversicherungsträgers. Zum Bereich der Vorbeugung, wenn auch nicht ausschließlich der Berufskrankheiten, sondern auch anderer Unfall- oder Gesundheitsgefahren bei der Arbeit, wie ζ. B. bei Hitze- oder Kältearbeiten, Taucherarbeiten oder Fahr-, Steuer- und Überwachungstätigkeiten, gehören auch die vorbeugenden ärztlichen Untersuchungen, über die die Berufsgenossenschaften Vorschriften zu erlassen haben (§708 Abs. 1 Nr. 3 RVO). Die entsprechende Vorschrift ist die Unfallverhütungsvorschrift „Arbeitsmedizinische Vorsorge"."' Nach dieser Unfallverhütungsvorschrift hat der Unternehmer auf seine Kosten dafür zu sorgen, daß der Gesundheitszustand von Versicherten durch arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen, und zwar durch Erstuntersuchungen vor Aufnahme der Beschäftigung und Nachuntersuchung während dieser Beschäftigung dann überwacht wird, wenn 1. damit zu rechnen ist, daß der Versicherte einer Einwirkung ausgesetzt sein wird oder wenn er eine Tätigkeit ausübt, die in einer Anlage zur Vorschrift aufgeführt ist (die Anlage umfaßt eine Vielzahl von Positionen, wie z.B. Benzol, Blei oder andere Verbindungen, Hitzearbeiten usw.); 2. die Berufsgenossenschaft im Einzelfall eine arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung anordnet. Die Fristen für eine Nachuntersuchung sind im einzelnen bestimmt. Ihre Einhaltung ist Voraussetzung für eine Weiterbeschäftigung. Zu den in der genannten Anlage aufgeführten Einwirkungen der Tätigkeiten liegen „Berufsgenossenschaftliche Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen" vor. Das weite Feld gutachterlicher Aufgaben bei diesen Vorsorgeuntersuchungen erfordert besonderen arbeitsmedizinischen Sachverstand. Daher müssen die mit den Vorsorgeuntersuchunen betrauten Ärzte von der Berufsgenossenschaft im Einvernehmen mit der für den medizinischen Arbeitsschutz zuständigen Behörde oder — bei Untersuchungen, die in einer staatlichen Rechtsvorschrift vorgeschrieben sind — von einer zuständigen Behörde aufgrund einer staatlichen Rechtsvorschrift ermächtigt werden. Nachgehende Untersuchungen über die Dauer der Einwirkungszeit hinaus sind bei der Einwirkung krebserzeugender Arbeitsstoffe durchzuführen. Sie sind auch nach dem Ausscheiden des Versicherten aus dem Unternehmen fortzuführen, allerdings nach diesem Zeitpunkt von dem zuständigen Unfallversicherungsträger und auf des-
Arbeitsmedizinische Vorsorge (VBG 100) vom 1. Oktober 1984 in der Fassung vom 1. Januar 1990.
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Gesetzliche Unfallversicherung
sen Kosten. (Näheres in: „Erläuterungen zur Durchführung arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen", herausgegeben vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften)
2.5 Entschädigung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten 2.5.1 Abstrakter Schadensersatz Gesetzliche Aufgabe der Unfallversicherung (§ 537 R V O ) ist es, 1. Arbeitsunfälle zu verhüten, 2. nach Eintritt eines Arbeitsunfalls den Verletzten, seine Angehörigen und seine Hinterbliebenen zu entschädigen, einmal durch Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit des Verletzten, durch Arbeits- und Berufsförderung (Berufshilfe) und durch Erleichterung der Verletzungsfolgen und weiterhin durch Leistungen in Geld an den Verletzten, seine Angehörigen und seine Hinterbliebenen, also durch Sach- und Geldleistungen. Für die Begutachtung ist vor allem die zweite Aufgabe, nämlich die der Entschädigungsleistung, von Bedeutung. Bei der Erfüllung der hier gestellten Aufgabe, öffentlich-rechtliche Schadensersatzansprüche des Versicherten zu befriedigen, sind die Berufsgenossenschaften auf die Unterstützung der Ärzte sowohl bei der Behandlung der Verletzten als auch bei ihrer Entschädigung angewiesen. Der Anspruch des Versicherten auf Geldleistungen ist dabei ein abstrakter, d.h. die zu gewährenden Geldleistungen werden nicht individuell nach dem eingetretenen Schaden, wie Einkommensverlust o. ä. berechnet, sondern nach allgemeinen für alle Versicherten gleichmäßig geltenden Maßstäben, die durch die gesetzlichen Vorschriften festgelegt sind. Das sind die Minderung der Erwerbsfähigkeit durch die Folgen des Arbeitsunfalls in Prozenten ausgedrückt und das Einkommen des Verletzten im Jahr vor dem Arbeitsunfall, der sogenannte Jahresarbeitsverdienst. Ein Versicherter kann also wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls auch dann einen Anspruch auf Geldleistungen haben, wenn ihm ein Einkommensverlut durch den Unfall nicht entstanden ist bzw. ist es möglich, daß die ihm zustehende Entschädigung den Einkommensverlust nicht ausgleicht. Entschädigt wird im allgemeinen nur der Körperschaden, nicht aber der Sachschaden. Auch besteht kein Anspruch auf Schmerzensgeld. Der Verlust oder die Beschädigung eines beim Unfall getragenen Körperersatzstückes oder größeren orthopädischen Hilfsmittels werden als Körperschaden angesehen und ersetzt bzw. wiederhergestellt (§548 Abs. 2 R V O ) , bei Verlust von Sehhilfen wird von den Unfallversicherungsträgern entsprechend verfahren, obwohl solche Hilfsmittel in § 548 Abs. 2 R V O nicht aufgeführt sind. Den Personen, die wegen ihres besonderen Einsatzes im öffentlichen Interesse oder bei Hilfeleistungen zugunsten Dritter usw. versichert sind (s. oben 2.3. Versicherter Personenkreis, § 539 Abs. 3 Nr. 9 R V O ) , werden aber auf Antrag Sachschäden, die sie bei dieser versicherten Tätigkeit erleiden, sowie Aufwendungen, die sie den Umständen
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nach für erforderlich halten dürfen, ersetzt. Die entsprechende gesetzliche Vorschrift - § 7 6 5 a R V O - wurde durch das Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (s. unten Nr. 5) eingefügt.
2.5.2 Sachleistungen Unter Sachleistungen fallen alle Maßnahmen zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit, der Berufshilfe und zur Erleichterung der Verletzungsfolgen. Sie sind der wesentliche Teil der medizinischen und sozialen Rehabilitation eines Unfallverletzten. Als derartige Maßnahmen sieht das Gesetz Heilbehandlung, Pflege und Berufshilfe vor. 2.5.2.1 Heilbehandlung/Belastungserprobung Die Heilbehandlung hat mit allen geeigneten Mitteln zu erfolgen und umfaßt die ärztliche und zahnärztliche Behandlung, die Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln, Heilmitteln einschließlich Krankengymnastik, Bewegungstherapie, Sprachtherapie und Beschäftigungstherapie, Ausstattung mit Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln einschließlich der notwendigen Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung sowie der Ausbildung im Gebrauch der Hilfsmittel, Belastungserprobung und Arbeitstherapie und ergänzende Leistungen, wie ärztlich verordneter Behindertensport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung. Außerdem ist erforderlichenfalls Pflege zu gewähren. Dabei sind die Träger der Unfallversicherung verpflichtet, alle Maßnahmen zu treffen, durch die eine möglichst bald nach dem Arbeitsunfall einsetzende, schnelle und sachgemäße Heilbehandlung, insbesondere unfallmedizinische Versorgung, gewährleistet wird. Die Verantwortung für die Durchführung der Heilbehandlung wird den Unfallversicherungsträgern ausdrücklich übertragen. Die Ausstattung mit Körperersatzstücken und orthopädischen und anderen Hilfsmitteln ist durch die „Verordnung über die orthopädische Versorgung Unfallverletzter" und die „Gemeinsamen Richtlinien der Unfallversicherungsträger über Gewähr, Gebrauch und Ersatz von Körperersatzstücken, Hilfsmitteln und Hilfen" geregelt. Zur Durchführung ihrer Aufgaben auf dem Gebiete der Heilbehandlung haben die Berufsgenossenschaften seit Jahrzehnten besondere organisatorische Maßnahmen entwickelt. Sie stehen unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit einer möglichst bald nach dem Arbeitsunfall einsetzenden, schnellen und sachgemäßen, insbesondere - soweit nötig - fachärztlichen oder besonderen unfallmedizinischen Versorgung. Daher werden diese organistorischen Maßnahmen von den beiden Grundsätzen der Rechtzeitigkeit und der Auswahl getragen. Es kommt für den Erfolg der Heilbehandlung nämlich wesentlich darauf an, daß der Unfallverletzte unverzüglich nach dem Unfall ärztliche Versorgung erfährt und daß bei dieser Versorgung zugleich festgestellt wird, ob die Art der Verletzung eine besondere fachärztliche oder unfallmedizinische Behandlung erfordert.
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Ab 1 . 1 . 9 1 sind die UV-Träger für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten allein zuständig (§11 Abs. 4 SGB V). Die bisherige Möglichkeit der kassenärztlichen Behandlung entfällt. Art und Schwere der Verletzung bestimmen, ob „allgemeine" (Hausarzt) oder „besondere" Heilbehandlung (D-Arzt) einzuleiten ist (vgl. Anleitung für den DArzt, Anhang 4). Eine Vorstellung beim Augen-/HNO-Arzt ist erforderlich, wenn als Arbeitsunfallfolge eine isolierte Augenverletzung oder isolierte Hals-, Nasen-, Ohrenverletzung vorliegt. Dies gilt nicht, wenn durch die Erstbehandlung eine anschließende fachärztliche Behandlung nicht erforderlich ist. Bei bestimmten Verletzungen, die in aller Regel stationärer Behandlung bedürfen, ist die Auswahl vorweg getroffen worden. Diese Verletzungen werden durch das sogenannte Verletzungsartenverfahren erfaßt. Für die Behandlung solcher schweren Verletzungen sind nur Krankenhäuser zugelassen, die über besondere personelle und technische Einrichtungen verfügen. Die durch diese besondere Auswahl festgelegten Verletzungsarten sind in einem besonderen Verzeichnis enthalten. Es handelt sich um folgende Verletzungsarten: 1. Ausgedehnte oder tiefgehende Verbrennungen oder Verätzungen 2. Ausgedehnte oder tiefgehende Weichteilverletzungen 3. Quetschungen mit drohenden Ernährungsstörungen, ausgenommen an Fingern und Zehen 4. Verletzungen mit Eröffnung großer Gelenke 5. Eitrige Entzündungen der großen Gelenke 6. Verletzungen der großen Nervenstämme an Arm oder Bein und Verletzungen der Nervengeflechte 7. Quetschungen oder Prellungen des Gehirns (contusio oder compressio cerebri) 8. Quetschungen oder Prellungen der Wirbelsäule mit neurologischen Ausfallerscheinungen 9. Brustkorbverletzungen, wenn sie mit Eröffnung des Brustfells, mit erheblichem Erguß in den Brustfellraum, mit stärkerem Blutverlust oder mit Beteiligung innerer Organe verbunden sind 10. Stumpfe oder durchbohrende Bauchverletzungen 11. Verletzungen der Nieren- oder Harnwege 12. Verrenkungen der Wirbel, des Schlüsselbeins, im Handwurzelbereich, des Hüftgelenks, des Kniegelenks oder im Fußwurzelbereich 13. Verletzungen der Beugesehnen der Finger, der körperfernen Sehne des Armbizeps und der Achillessehne 14. Folgende Knochenbrüche: a) Offene Brüche des Hirnschädels
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b) Geschlossene Brüche des Hirnschädels mit Gehirnbeteiligung, ausgenommen mit leicher Gehirnerschütterung c) Brüche im Augenhöhlenbereich d) Wirbelbrüche, ausgenommen Dorn- und Querfortsatzbrüche e) Schulterblatthalsbrüche mit Verschiebung f) Offene Brüche des Ober- und Unterarms g) Geschlossene Brüche des Ober- und Unterarms mit starker Verschiebung oder mit Splitterung, ausgenommen Speichenbrüche an typischer Stelle h) Brüche mehrerer Röhrenknochen oder mehrfache Brüche eines Röhrenknochens i) Beckenbrüche, ausgenommen Scham- und Sitzbeinbrüche
Beckenschaufelbrüche
und
unverschobene
j) Brüche des Oberschenkels einschließlich des Schenkelhalses k) Klaffende Brüche oder Trümmerbrüche der Kniescheibe 1) Offene Brüche des Unterschenkels m) Geschlossene Brüche des Unterschenkels mit starker Verschiebung oder Splitterung n) Brüche eines Knöchels mit Verschiebung oder Splitterung o) Brüche des Fersenbeins mit stärkerer Höhenverminderung oder Verschiebung, Brüche des Sprungbeins, verschobene Brüche des Kahn- oder Würfelbeins oder eines Keilbeins p) Stark verschobene oder abgeknickte Brüche eines Mittelfußknochens.
Schließlich sind noch an der Durchführung der Heilbehandlung die Ärzte zu beteiligen, die dazu fachlich befähigt, entsprechend ausgestattet und zur Übernahme der damit verbundenen Pflichten bereit sind. Es handelt sich um die sogenannten H Ärzte, deren Beteiligung durch von den kassenärztlichen Vereinigungen zusammen mit den Landesverbänden der gewerblichen Berufsgenossenschaften zu bildende Ausschüsse ausgesprochen wird. Die Verantwortung der Unfallversicherungsträger für die Heilbehandlung und die daraus folgende Notwendigkeit organisatorischer M a ß n a h m e n bewirken, daß der Grundsatz der freien Arztwahl nicht bzw. nur eingeschränkt gilt. Auch bei einem optimalen Heilverfahren kann es am Ende der Behandlung zweifelhaft sein, ob der Versicherte seine vor dem Arbeitsunfall ausgeübte Tätigkeit weiterhin verrichten kann; es ist über das Bestehen oder Weiterbestehen der Arbeitsunfähigkeit (vgl. Seite 41) zu entscheiden. Hierbei brauchen jene Verletzte nicht in die Betrachtung einbezogen zu werden, die
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mit Hilfe einer beruflichen Reha-Maßnahme wieder in das Erwerbsleben eingegliedert werden oder aufgrund der Art und Schwere der Verletzungsfolgen aus dem Arbeitsprozeß ausscheiden. Angesprochen ist vielmehr jener Personenkreis, bei dem die Unfallfolgen i . d . R . eine MdE ab 30 % verursachen und deren Rückkehr an den bisherigen Arbeitsplatz ungewiß ist. Das Gesetz (§ 10 Nr. 5 RehaAnglG, § 557 Abs. 1 Nr. 5 RVO) bietet hier dem Arzt und dem UV-Träger die Belastungserprobung als Entscheidungshilfe an. Vor der Einleitung einer solchen Maßnahme sind regelmäßig die Möglichkeiten der Klinik (Ergotherapie usw.) ausgeschöpft. Sinnvoll und notwendig wird es nun, festzustellen, ob und welcher Dauerbelastung der (noch) arbeitsunfähige Versicherte ausgesetzt werden kann; soweit möglich sollte die Maßnahme am bisherigen Arbeitsplatz durchgeführt werden. Dem behandelnden Arzt kommt hinsichtlich der Beurteilung der Notwendigkeit einer Maßnahme eine Initiativ-, Motivations- und Steuerungsfunktion zu. Eine zeitliche Begrenzung der Maßnahme sieht das Gesetz nicht vor. J e nach den Besonderheiten des Einzelfalles könne 4 Wochen ausreichend, aber auch 18 Monate notwendig sein. Die Belastungserprobung bedeutet de facto eine „stufenweise Wiedereingliederung" des Versicherten in den Arbeitsprozeß. Da die Krankenversicherung seit dem 01.01.1989 eine Leistung gleichen Namens kennt (vgl. Seite 44), sollte im Interesse einer begrifflichen Klarheit nur mit den gesetzlichen Termini gearbeitet werden. 2.5.2.2 Pflege Schwerwiegende Unfallfolgen bedingen besondere Maßnahmen der Unfallversicherungsträger, wenn der Versicherte durch sie pflegebedürftig wird. Eine solche Pflegebedürftigkeit besteht dann, wenn der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls so hilflos ist, daß er nicht ohne Wartung und Pflege sein kann. Beispiele für eine solche Pflegebedürftigkeit sind Querschnittlähmungen, Erblindungen o.ä. Die Gewährung von Pflege ist an sich eine Sachleistung und besteht in der Gestellung der erforderlichen Hilfe und Wartung durch Krankenpfleger, Krankenschwestern oder Hauspflege, bzw. in der Gewährung von Unterhalt und Pflege in einer geeigneten Anstalt, wenn der Verletzte einer solchen Unterbringung nicht widerspricht. Die besondere Lage auf dem Gebiet der pflegerischen Berufe macht solche Maßnahmen in aller Regel nicht möglich. Der Verletzte ist vielmehr darauf angewiesen, im eigenen Familienkreis die erforderliche Pflege zu finden. Daher sieht das Gesetz vor, daß anstelle dieser pflegerischen Maßnahmen ein Pflegegeld gewährt werden kann. In der Praxis wird entsprechend verfahren (s.u. S. 137). Ein Pflegegeld kann angemessen erhöht werden, wenn die Aufwendungen für fremde Wartung und Pflege den Betrag des Pflegegeldes übersteigen. Die Pflegegelder werden vom 1. Juli eines jeden Jahres an den Vomhundertsatz angepaßt, um den sich die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung nach Abzug des Kranken Versicherungsbeitrags der Rentner verändern (§579 Abs. R V O ) .
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2.5.2.3 Berufshilfe Mit der Berufshilfe sollen die Verletzten unter Anwendung aller geeigneten Mittel nach ihrer Leistungsfähigkeit unter Berücksichtigung ihrer Eignung, Neigung und bisherigen Tätigkeit möglichst auf Dauer beruflich eingegliedert werden; dabei kann Berufshilfe auch zum beruflichen Aufstieg gewährt werden (§ 556 Abs. 1 Nr. 2 R V O ) . Zu diesem Ziel führen eine Reihe von Maßnahmen (Umfang der Berufshilfe § 567 R V O ) , wie u. a. Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes, auch durch Eingliederungshilfen an Arbeitgeber, Berufsfindung und Arbeitserprobung, Umschulung usw. Vor der Einleitung berufsfördernder Maßnahmen zur Rehabilitation, insbesondere bei der ersten Beratung des Verletzten — auch wenn dies während der medizinischen Rehabilitation in einem Krankenhaus erforderlich ist—, ist die Bundesanstalt für Arbeit zu beteiligen. Außerdem sollte die nachgehende Berufshilfe betrieben werden, d.h. der zuständige Unfallversicherungsträger hat den Versicherten auch bei seinem weiteren beruflichen Werdegang zu betreuen. Angesichts der großen Bedeutung der Berufshilfe als Maßnahme zur Rehabilitation sollte ein ärztlicher Gutachter, der einen Unfallverletzten untersucht und begutachtet, stets auch nach ärztlichen Gesichtspunkten Ratschläge für zweckmäßige berufshelferische Maßnahmen erteilen.
2.5.3
Geldleistungen
2.5.3.1 Verletztengeld - Übergangsgeld Solange der Unfallverletzte infolge des Arbeitsunfalls arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung ist und kein Entgelt erhält, hat er Anspruch auf Verletztengeld. Arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung ist ein Versicherter, wenn er wegen seiner Verletzung bzw. Erkrankung nicht oder doch nur unter der Gefahr, seinen Zustand in absehbarer Zeit zu verschlimmern, fähig ist, seine bisherige unmittelbar vor dem Unfall ausgeübte Tätigkeit fortzusetzen. Das Verletztengeld wird von dem Tage an gewährt, an dem die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird. Wenn sich die Berufshilfe aus Gründen, die der Verletzte nicht zu vertreten hat, nicht gleich an die Heilbehandlung anschließt, so ist Verletztengeld bis zum Beginn der Berufshilfe zu gewähren, wenn der Verletzte seine bisherige Tätigkeit nicht wieder ausüben und ihm eine andere zumutbare Tätigkeit nicht vermittelt werden kann. Die Höhe des Verletztengeldes wird grundsätzlich entsprechend den Vorschriften der Krankenversicherung über die Berechnung von Krankengeld errechnet (§§560, 561 R V O ) , mit der Maßgabe, daß das Regelentgelt bis zu den in der Unfallversicherung geltenden Obergrenzen zu berücksichtigen ist. Während einer Maßnahme der Berufshilfe hat der Verletzte Anspruch auf Übergangsgeld, wenn er arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung oder durch die Teilnahme an dieser Maßnahme gehindert ist, eine ganztägige Erwerbstätigkeit auszuüben. Anspruch auf Übergangsgeld besteht auch, wenn der Verletzte aus gesundheitlichen Gründen an der Maßnahme nicht weiter teilnehmen kann oder wenn der Ver-
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letzte im Anschluß an eine Maßnahme arbeitslos wird, und zwar in beiden Fällen bis zu 6 Wochen. Das Übergangsgeld beträgt 80% bzw. 70% des nach den entsprechenden gesetzlichen Vorschriften zu errechnenden Arbeitseinkommens des Verletzten, bei Krankheit während oder Arbeitslosigkeit n a c h h e r Maßnahme 68% bzw. 63% (§§568, 568a RVO). 2.5.3.2 Verletztenrente Nach Beendigung der Heilbehandlung und Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung hat der Versicherte Anspruch auf Verletztenrente, wenn bei ihm wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls eine Minderung der Erwerbsfähigkeit über die 13. Woche nach dem Unfall hinaus besteht. Ist mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nicht zu rechnen, beginnt die Rente 1. nach dem Tage, an dem die Heilbehandlung oder die Berufshilfe soweit abgeschlossen ist, daß der Verletzte eine geeignete Berufs- oder Erwerbstätigkeit aufnehmen kann, jedoch nicht, solange die Voraussetzungen für die Zahlung von Verletztengeld oder Übergangsgeld nach § 5 6 8 a RVO (s.o.) vorliegen 2. nach dem Tage, an dem zu übersehen ist, daß der Verletzte wegen der Art oder Schwere der Verletzung auch durch weitere Maßnahmen der Heilbehandlung beruflich nicht eingegliedert werden kann, jedoch nicht vor dem Ende der stationären Behandlung. War der Verletzte nach dem Arbeitsunfall nicht arbeitsunfähig oder hat er bei Beginn der Arbeitsunfähigkeit kein Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erzielt, so beginnt die Rente mit dem Tage nach dem Arbeitsunfall (§580 RVO). Voraussetzung für die Zahlung einer Verletztenrente ist demnach der Versicherungsfall (Arbeitsunfall oder gleichgestellte Tatbestände), der Fortfall der Arbeitsunfähigkeit wegen der Unfallfolgen oder die diesem Fortfall gleichgestellten Tatbestände und schließlich eine Minderung der Erwerbsfähigkeit über die 13. Woche nach dem Unfall hinaus. Die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten kann durch Unfallfolgen nicht mehr gemindert werden, wenn der Verletzte bereits vor Eintritt des Arbeitsunfalls vollständig erwerbsunfähig war. In einem solchen Fall besteht daher kein Anspruch auf Verletztenrente. Vollständig erwerbsunfähig ist ein Versicherter dann, , , . . . wenn er die Fähigkeit verloren hat, einen nennenswerten Verdienst zu erlangen, d.h. wenn er unfähig ist, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen gesamten Kenntnissen sowie körperlichen und geistigen Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, einen Erwerb zu verschaffen" (Urteil des Bundessozialgerichts vom 29.6.1962, Sammlung von Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bd. 17, S. 160ff.). Die Minderung der Erwerbsfähigkeit muß wenigstens ein Fünftel (20 v.H.) entweder durch die Folgen des Arbeitsunfalls allein oder durch mehrere Arbeitsunfälle betragen. Den Arbeitsunfällen stehen dabei gleich: Unfälle oder Entschädigungsfälle nach den Beamtengesetzen, dem Bundesversorgungsgesetz, dem Soldatenversorgungsge-
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setz, dem Gesetz über den zivilen Ersatzdienst, dem Gesetz über die Abgeltung von Besatzungsschäden, dem Häftlingshilfegesetz und den entsprechenden Gesetzen, die Entschädigung für Unfälle oder Beschädigung gewähren, so ζ. B. dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten. Hat der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls seine Erwerbsfähigkeit verloren, so erhält er die Vollrente. Diese beträgt 2/3 des Jahresarbeitsverdienstes. Im anderen Falle erhält er als Teilrente den Teil der Vollrente, der dem Grade der Minderung seiner Erwerbsfähigkeit entspricht. Die Höhe der Verletztenrente richtet sich nach dem Einkommen des Versicherten im Jahre vor dem Arbeitsunfall (sogenannter Jahresarbeitsverdienst). Der Jahresarbeitsverdienst beträgt mindestens 60 v . H . - bei Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, bzw. 40 v. H. - bei Personen, die das 18. Lebensjahr nicht vollendet haben - der im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls maßgebenden sogenannten Bezugsgröße (§575 Abs. 1 R V O ) . Die Bezugsgröße wird alljährlich durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung bekanntgegeben (Sozialgesetzbuch 4. Buch §18). Der Höchstbetrag des Jahresarbeitsverdienstes ist 36.000,00 D M (§ 575 Abs. 2 R V O ) ; die Satzung kann einen höheren Betrag festsetzen. Hiervon haben die UV-Träger Gebrauch gemacht; es gelten z. Zt. Obergrenzen bis zu 120.000,00 D M . Voraussetzung für die Gewährung einer Verletztenrente durch den Unfallversicherungsträger ist daher das Vorliegen einer rechtserheblichen Minderung der Erwerbsfähigkeit. Zu ihrer Feststellung ist das ärztliche Gutachten erforderlich. Bei der Begutachtung muß der für das Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung maßgebliche Begriff der Erwerbsfähigkeit bzw. der Minderung der Erwerbsfähigkeit berücksichtigt werden. Die bereits genannten, vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften herausgegebenen „Hinweise für die Erstattung von Berichten und Gutachten" bezeichnen zutreffend die Erwerbsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung als „die Fähigkeit eines Menschen, sich unter Ausnutzung aller Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen Kenntnissen und körperlichen und geistigen Fähigkeiten im gesamten Bereich des wirtschaftlichen Lebens („allgemeiner Arbeitsmarkt") bieten, einen E r w e r b zu verschaffen."
Zur Feststellung der verbliebenen Erwerbsfähigkeit nach dem Arbeitsunfall ist von der individuellen Erwerbsfähigkeit des Verletzten vor dem Arbeitsunfall auszugehen. Diese ist der vollen Erwerbsfähigkeit des Verletzten vor der eingetretenen Schädigung gleichzusetzen. Danach ist durch entsprechende Untersuchung festzustellen, ob diese Erwerbsfähigkeit durch den Körperschaden auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens eingeschränkt worden ist. Da es sich um einen abstrakten Schadensersatz handelt, ist für die Schätzung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit grundsätzlich der Bezug auf die Möglichkeiten des Gesamtgebiets des Erwerbslebens erforderlich, d. h. daß in der gesetzlichen Unfallversicherung der Grad der durch Unfallfolgen verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit grundsätzlich nach dem Umfang der verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens zu beurteilen ist. Auch ist hierbei zu berücksichtigen, daß das Erwerbsleben einem Wan-
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del unterworfen ist. Langfristige strukturelle Veränderungen der Erwerbstätigkeiten können nicht unbeachtet bleiben. Bei dieser Schätzung kann von allgemeinen Erfahrungssätzen, wie sie nachfolgend dargelegt sind, ausgegangen werden. Jedoch muß dabei stets der Einzelfall mit seinen Besonderheiten berücksichtigt werden. Es gibt keine sogenannte „Gliedertaxe" oder „Knochentaxe". Der grundsätzliche Bezug auf das Gesamtgebiet des Erwerbslebens gilt nicht ohne jede Rücksicht auf die individuellen Verhältnisse des Verletzten. Kann der Verletzte „bestimmte, von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen", ohne daß ein Ausgleich „durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung ihm zugemutet werden k a n n " , vorhanden ist, so sind solche Nachteile „bei der Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu berücksichtigen" (§581 A b s . 2 R V O ) . Da damit der Grundsatz der abstrakten Schadensberechnung nicht aufgegeben wird, können dergleichen Nachteile nur in Ausnahmefällen berücksichtigt werden. Allein die Tatsache etwa, daß ein erlernter Beruf wegen der Unfallfolgen nicht mehr ausgeübt werden kann, genügt nicht. Es muß sich im Einzelfall vielmehr um ganz spezielle berufliche Fähigkeiten und Kenntnisse handeln, deren Ausübung durch den Unfall beeinträchtigt wird, zugleich muß die Verweisung auf die zumutbare Nutzung anderer Fähigkeiten unmöglich sein. Die individuelle Erwerbsfähigkeit des Versicherten kann durch vielfache Faktoren schon vor dem Unfall beeinträchtigt sein, ζ. B. durch Vorerkrankungen, Alters- oder Verbrauchserscheinungen, angeborene oder durch einen Unfall oder durch Versorgungsleiden erworbene Behinderungen usw. Gleichwohl ist sie mit 100 anzusetzen. Die „Hinweise für die Erstattung von Berichten und Gutachten" führen dazu aus: „Bei der Schätzung des Vomhundertsatzes der eingebüßten Erwerbsfähigkeit ist von der individuellen Erwerbsfähigkeit des Verletzten vor dem Unfall auszugehen. Sie ist stets mit 1 0 0 anzusetzen. Es k o m m t allein d a r a u f an, wieviel v. H . der Verletzte durch die Unfallfolgen von dieser individuellen Erwerbsfähigkeit verloren h a t . . . "
Die Folge ist, daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen eines Arbeitsunfalls bei einem Versicherten mit einem solchen Vorschaden anders anzusetzen ist, als dies bei einem Versicherten ohne Vorschaden der Fall wäre. Rechtserheblich ist ein solcher Vorschaden aber nur dann, wenn zwischen dem Vorschaden und dem durch den Arbeitsunfall verursachten Körperschaden eine Wechselbeziehung besteht. Auch bei einem rechtserheblichen Vorschaden ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit frei zu schätzen. Für die Begutachtung können folgende Merksätze hilfreich sein: 1. Ausgangspunkt ist die individuelle Erwerbsfähigkeit des Versicherten, die durch Vorschäden beeinträchtigt sein kann. 2. Rechtlich relevant ist ein Vorschaden dann, wenn zwischen dem Vorschaden und dem d u r c h einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit verursachten Schaden eine Wechselbeziehung besteht. 3. Liegt eine Wechselwirkung vor, so wird in der Regel eine höhere Minderung der E r w e r b s f ä higkeit die Folge sein, sofern nicht Vorschaden und Unfallschaden ineinander aufgehen.
Verhältnis der Unfallversicherungsträger zu den Ärzten
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4. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit durch einen Vorschaden ist nach dem Befund zur Zeit des Unfalls frei zu schätzen. 5. Die individuelle Minderung der Erwerbsfähigkeit bei wechselseitigen Beziehungen von Vorschaden und Unfallfolgen muß vom Gutachter bewertet werden, sie kann nicht rein rechnerisch ermittelt werden.
Die im Zusammenhang mit der Bewertung eines Vorschadens nicht selten erwähnte Lohmiillersche Formel χ = χ y ζ a
= = = =
(y - z) · 100 a Grad Grad Grad Grad
der der der der
zu ermittelnden MdE nach dem Unfall bestehenden Gesamt-MdE MdE auf Grund des Vorschadens vorherigen Erwerbsfähigkeit
kann ebenso wie die MdE-Werte in den entsprechenden Tabellen nicht schematisch angewendet werden. Wie die dort zusammengefaßten Erfahrungswerte ist die von Lohmüller erarbeitete Formel ein Hilfsmittel; die Beurteilungsmaßstäbe sind nachvollziehbar und ermöglichen im Verwaltungs- wie auch im Gerichtsverfahren eine Überprüfung. Das Gebot der Gleichbehandlung läßt sich leichter und besser verwirklichen. Die Anwendung der Formel entbindet den Gutachter nicht von der Pflicht, die MdE unter Ausschöpfung auch aller sonstigen Erkenntnisquellen zu schätzen. Eine eingehende Begründung der Beurteilung des unfallbedingten Folgeschadens ist unverzichtbar. Der sogenannte Nachschaden, d. h. die Verschlimmerung von Unfallfolgen durch ein späteres, nicht mit dem Unfall in ursächlichem Zusammenhang stehendes Ereignis ist unbeachtlich. Er beeinflußt die nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung zu entscheidende Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht (Bundessozialgericht vom 21.9.1967, Sammlung von Entscheidungen Bd. 27, S. 142ff./145 zum Fall eines Verletzten, der durch einen Arbeitsunfall die Sehkraft eines Auges und später aus endogener Ursache die Sehkraft des anderen verloren hat). Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit muß durch 5 teilbar sein oder 33 1/3 bzw. 66 2/3 v.H. betragen. Eine Minderung von weniger als 10 v.H. ist nicht zu berücksichtigen. 2.5.3.3 Vorläufige Rente — Dauerrente. Die Verletztenrente wird als vorläufige oder Dauerrente gewährt. Eine vorläufige Rente wird während der ersten 2 Jahre festgestellt, wenn die Rente noch nicht als Dauerrente festgesetzt werden kann. Diese vorläufige Rente kann bei Änderung der Verhältnisse jederzeit anders festgestellt werden, vorausgesetzt, daß die Änderung wesentlich ist. Die Rente wird mit Ablauf von 2 Jahren nach dem Unfall Dauerrente. Eine solche Dauerrente kann bei Vorliegen wesentlicher Änderungen, jedoch nur in Abständen von mindestens einem Jahr nach dem Zeitpunkt, zu dem sie kraft Gesetzes
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Dauerrente geworden oder der letzte Bescheid über eine Dauerrente zugestellt worden ist, geändert werden. Für die Unfallversicherungsträger kann es von beträchtlicher Bedeutung sein, wenn die vorläufige Rente nicht kraft Gesetzes zur Dauerrente wird, sondern eine besondere Feststellung der Dauerrente erfolgt. Denn die erste Feststellung der Dauerrente in anderer Weise als die der vorläufigen setzt eine Änderung der Verhältnisse nicht voraus. Die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit hat demnach unabhängig von früherer Einschätzung nach dem objektiven Befund zu erfolgen. Daher ist es besonders wichtig, daß die Begutachtung für die erste Feststellung der Dauerrente unverzüglich nach Erteilung des Auftrages erfolgt. 2.5.3.4 Verletztenrente bei Kindern in Kindergärten, Schülern und Studierenden Auch hier gilt der Grundsatz: Die MdE muß über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall andauern und im allgemeinen mindestens 2 0 % betragen. Bezugspunkt der MdE-Schätzung bleibt die Fähigkeit, sich unter Ausnutzung aller Arbeitsgelegenheiten, die sich unter Berücksichtigung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Bei dem genannten Personenkreis, der üblicherweise nicht am Erwerbsleben teilnimmt, überrascht diese Feststellung, die aber dennoch richtig ist. Bei der Schätzung der MdE ist so zu verfahren, als stünden die Kinder, Schüler und Studierenden dem Arbeitsmarkt bereits zur Verfügung. Auswirkungen des Arbeitsunfalles auf die besondere erzieherische und schulische Situation bleiben dabei unberücksichtigt. Bei der Schätzung der MdE, insbesondere für zurückliegende Zeit oder mit zeitlicher Begrenzung in die Zukunft, ist zu beachten, daß sich bei Kindern und Jugendlichen erfahrungsgemäß Unfallfolgen wesentlich schneller und weitgehender als bei Erwachsenen zurückbilden und ggf. auch eine Anpassung an den veränderten Körperzustand häufig schneller eintritt. Die MdE ist i. d. R . vom Tage nach dem Arbeitsunfall einzuschätzen. Die Dauer einer unfallbedingten Unterbrechung des Kindergarten-, Schul- oder Hochschulbesuchs läßt zwar Rückschlüsse auf den Heilverlauf zu, ist jedoch nicht von vornherein einer völligen Erwerbsunfähigkeit gleichzusetzen. In der Praxis haben sich folgende Anhaltspunkte als sehr hilfreich herausgebildet. Für die Dauer der stationären Behandlung Für die Dauer der Versorgung mit: — Liegegips — — — — — —
Gehgips (Oberschenkel) Gehgips (Unterschenkel) Oberarmgips (Gebrauchsarm) Oberarmgips (kein Gebrauchsarm) Unterarmgips Ober- und Unterarmgips bd. Arme
MdE = 100% MdE MdE MdE MdE MdE MdE MdE
= 100% = 50% = 40% = 60% = 40% = 30% = 100 %
Verhältnis der Unfallversicherungsträger zu den Ärzten
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Zweifellos ist die Schätzung der MdE individuell vorzunehmen und eine schematische Handhabung der Anhaltspunkte nicht zulässig: dennoch kann ein Abweichen nur mit besonderen anatomischen Veränderungen gegenüber der Norm begründet werden. Vielfach bietet es sich an, die Rente als Gesamtvergütung
festzusetzen (§603 RVO).
2.5.3.5 Entschädigung von Hinterbliebenen Die Entschädigung der Hinterbliebenen richtet sich bei Arbeitsunfällen mit tödlichem Ausgang ebenfalls nach dem Einkommen (Jahresarbeitsverdienst) des Versicherten im Jahre vor dem Unfall. Anspruchsberechtigt sind die Witwe oder der Witwer, unter Umständen die geschiedene Ehefrau des Versicherten, die ehelichen und außerehelichen Kinder, Stiefkinder und Pflegekinder (s.o. S. 18f.), unter bestimmten Bedingungen auch Eltern, Stiefeltern, Pflegeeltern und Großeltern. Die Rente der Witwe und des Witwers ruht bei Erwerbseinkommen oder Erwerbsersatzeinkommen des Berechtigten (z.B. Renten aus eigener Versicherung, Ruhegehalt o.ä.) in einer vom Gesetz bestimmten Höhe. Diese Regel gilt für Todesfälle, die seit dem 1. Januar 1986 eingetreten sind. Liegt der Zeitpunkt des Todes früher, erhält in der Regel nur die Witwe, in Ausnahmefällen auch der Witwer Hinterbliebenenrente. Die gesamte Entschädigung darf 4/5 des Jahresarbeitsverdienstes nicht überschreiten (näheres § § 5 8 9 - 6 0 2 RVO). 2.5.3.6 Abfindungen Der Anspruch auf Verletztenrente und der Anspruch auf Witwenrente können vom Unfallversicherungsträger abgefunden werden. Das Gesetz sieht für solche Abfindungen mehrere Möglichkeiten vor. Für die Entscheidung über eine Abfindung ist auch das ärztliche Gutachten von Bedeutung. Wenn nach allgemeinen Erfahrungen unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse des Einzelfalles zu erwarten ist, daß nur eine vorläufige Rente zu gewähren ist, so kann der Träger der Unfallversicherung diesen voraussichtlichen Rentenaufwand durch eine sogenannte Gesamtvergütung in der Höhe der voraussichtlichen Zahlungen abfinden. Diese Gesamtvergütung ist bei Unfallverletzungen, deren Folgen innerhalb der ersten 2 Jahre nach dem Unfall ohne wesentliche Minderung der Erwerbsfähigkeit auszuheilen pflegen, von erheblicher praktischer Bedeutung. Der Gutachter wird zu überlegen haben, ob eine solche Gesamtvergütung empfohlen werden kann. Der Versicherte kann nach Ablauf des Zeitraumes, für den die Gesamtvergütung festgesetzt war, Antrag auf weitere Zahlung der Verletztenrente stellen. Der Versicherungsträger muß dann prüfen, ob noch eine Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliegt, die den Anspruch auf weitere Zahlung der Verletztenrente begründet. Während die Gesamtvergütung vom Antrag des Verletzten unabhängig ist, können andere Abfindungen nur auf Antrag des Verletzten vorgenommen werden. Dabei ist zu unterscheiden, ob dem Versicherten ein Anspruch auf Dauerrente von weniger als 30 v. H. der Vollrente oder von 30 v. H. und mehr zusteht. Ist die Dauerrente niedriger als 30 V.H., so wird auf Antrag des Verletzten mit einem dem Kapitalwert der Rente entsprechenden Betrage endgültig abgefunden. Der Kapitalwert der Rente ergibt sich aus einer Rechtsverordnung der Bundesregierung. Er ist abhängig vom Lebensalter
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des Verletzten zur Zeit des Unfalls und von dem seit dem Unfall vergangenen Zeitraum in Jahren. Sind mehr als 15 Jahre seit dem Unfall vergangen, so wird ein besonderer Schlüssel für die Feststellung des Kapitalwertes angewandt. Dem Antrag eines Versicherten auf Abfindung der Dauerrente kann nur entsprochen werden, wenn die Abfindung im wohlverstandenen Interesse des Versicherten liegt. Außerdem muß sichergestellt sein, daß der endgültige Zustand der Verletzungsfolgen erreicht ist und daß wesentliche Änderungen für den Zeitraum nach der Abfindung nicht mehr zu erwarten sind. Schließlich muß festgestellt werden, ob der Versicherte sich in einem Gesundheitszustand befindet, der eine Kapitalabfindung rechtfertigt. Für diese beiden letzteren Feststellungen wird eine ärztliche Begutachtung erforderlich sein. Das trifft auch zu, wenn es sich um die Abfindung einer Dauerrente von 30 v. H. und mehr der Vollrente handelt. Eine Abfindung dieser Renten muß dem Erwerb oder der wirtschaftlichen Stärkung eigenen Grundbesitzes oder grundstücksgleicher Rechte bzw. zur Begründung oder Stärkung einer Existenzgrundlage dienen. Der Rentenempfänger muß das 21., darf aber noch nicht das 55. Lebensjahr vollendet haben. Die Abfindungssumme beträgt das 9-fache, bei der Abfindung zur Begründung oder Stärkung einer Existenzgrundlage das 4 1/2-fache des Jahresbetrags der Rente. Soweit die Rente abgefunden ist, erlischt der Anspruch darauf für 10 bzw. 5 Jahre mit Ablauf des Monats der Auszahlung.
2.6 Verhältnis der Unfallversicherungsträger zu den Ärzten Die zahlreichen und mannigaltigen Aufgaben der Unfallversicherungsträger bei der Entscheidung über Sach- und Geldleistungen sind nur im Zusammenwirken mit den Ärzten zu erfüllen. Die Beziehungen zu den Ärzten bedürfen daher besonderer Regelung. Die gegenseitigen Verpflichtungen sind teils gesetzlicher — ζ. B. die Anzeigepflicht von Berufskrankheiten (s. S. 23) oder die Auskunftspflicht nach § 1543 d R V O (s. S. 4) teils - dies hauptsächlich - vertraglicher Natur. So bestimmt § 5 5 7 Abs. 3 R V O : „Unbeschadet der gesetzlichen Verantwortlichkeit der Versicherungsträger für die Durchführung der Heilbehandlung sollen die Beziehungen zwischen den Trägern der Unfallversicherung und den an der Durchführung der Heilbehandlung beteiligten Stellen, insbesondere den Kassenärztlichen Vereinigungen, durch Verträge geregelt werden."
Die gegenseitigen vertraglichen Verpflichtungen der Ärzteschaft, vertreten durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der Unfallversicherungsträger, sind im Abkommen Ärzte/Unfallversicherungsträger (Ärzteabkommen) festgelegt. In diesem Abkommen wird ausdrücklich festgestellt, daß die Unfallversicherungsträger für die Erfüllung ihrer Aufgaben der Mitarbeit aller Ärzte bedürfen. Für die Begutachtung ist wesentlich, daß der Arzt, der die erste ärztliche Versorgung geleistet oder den Verletzten behandelt hat, der Berufsgenossenschaft die Auskünfte, Berichte und Gutachten
Verfahren
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erstattet, die sie im Vollzuge ihrer gesetzlichen A u f g a b e n von ihm einholt (Ltn. 63). Dagegen verpflichten sich die Berufsgenossenschaften, alle Auskünfte, Befundberichte und Gutachten lediglich für ihre eigenen Z w e c k e zu verwenden und ohne Einwilligung des betreffenden Arztes nicht Dritten zur Kenntnis zu geben, soweit nicht nach gesetzlichen Vorschriften eine Auskunftspflicht besteht (Ltn. 66). Für den Gutachter ist weiter von Bedeutung, daß der Unfallversicherungsträger darüber entscheidet, ob ein Formulargutachten oder ob ein freies Gutachten erstellt werden soll. Schließlich ist auf die im A b k o m m e n übernommene Verpflichtung der Ärzteschaft zu pünktlicher Berichterstattung hinzuweisen (Lit. 67, s. auch S. 4). Auch in diesem Z u s a m m e n h a n g ist auf die vom H a u p t v e r b a n d der gewerblichen Berufsgenossenschaften herausgegebenen Drucksache „ H i n w e i s e für die Erstattung von Berichten und G u t a c h t e n " besonders hinzuweisen. Sie beruht auf dem A b k o m men Ärzte/Berufsgenossenschaften.
2.7 Verfahren D a s in der gesetzlichen Unfallversicherung üblicherweise als Feststellungsverfahren bezeichnete Verwaltungsverfahren beginnt von Amts wegen; in nur wenigen Ausnahmefällen bedarf es eines Antrages (z.B. Rente nach Gesamtvergütung, Abfindung der Rente). Der UV-Träger erhält i.d. R. durch den Bericht des Arztes und die Unfallanzeige des Unternehmers Kenntnis von dem Arbeitsunfall, so daß er in der L a g e ist, das Verwaltungsverfahren einzuleiten. Z u den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verwaltungsverfahrens gehört es, daß der Staat den Bürger nicht als bloßes Objekt obrigkeitlichen Handelns betrachtet, sondern ihm die Möglichkeit eröffnet, als aktiver Beteiligter in einem nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geordneten Verfahren seine Interessen und Rechte wahrzunehmen. Der Verletzte erlangt als Beteiligter (§ 12 S G B X) des Verwaltungsverfahrens einem dem Prozeßrechtsverhältnis vergleichbaren Status. D a s Gesetz enthält ausdrücklich Regelungen über die Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten, die Grenzen der Mitwirkung und die Sanktionen bei unterlassener Mitwirkung. Der Beteiligte darf jederzeit während des Verwaltungsverfahrens Einsicht in die Verwaltungsakte nehmen (§25 S G B X ) . Dies sollte dem behandelnden Arzt oder dem Gutachter bekannt sein. Grundsätzlich kann der Versicherte also alles das lesen, was der Arzt dem UV-Träger in Schreiben, Berichten oder Gutachten mitgeteilt hat. Der Beteiligte hat das Recht auf Anhörung (§ 24 S G B X ) , wenn eine für ihn nachteilige Entscheidung getroffen werden soll. Vor dem Erlaß eines Verwaltungsaktes, der in die Rechte des Beteiligten eingreift, ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die
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Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (z.B. Herabsetzung oder Entziehung der Rente). Die unterlassene Anhörung ist ein nicht heilbarer Formfehler, der auch bei rechtlich gebundenen materiell rechtmäßigen Entscheidungen zur Aufhebung des Verwaltungsaktes führt. Der UV-Träger hat die Feststellung der Leistungen zu beschleunigen (§ 1545 Abs. 2 RVO, § 17 SGB I). Dieses Gebot ist nach Auffassung der Aufsichtsbehörde erfüllt, wenn zwischen den einzelnen Arbeitsschritten nicht mehr als 4 Wochen liegen. Auch die in Ltnr. 67 des Ärzteabkommens genannten Fristen (Berichte und Gutachten) haben ihre Grundlage in diesem Beschleunigungsgebot. Werden die Leistungen nicht rechtzeitig festgesetzt, muß der UV-Träger unter den in §44 SGB I genanten Voraussetzungen Zinsen zahlen. Ferner gehört zu den Pflichten des UV-Trägers, das Sozialgeheimnis zu wahren (§ 35 SGB I). Eine Offenbarung personenbezogener Daten ist nur zulässig, soweit sie für die Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe erforderlich ist (§ 69 SGB X). Insoweit ist auch die Vorlage der vollständigen Verwaltungsakte an den Arzt grundsätzlich nicht erlaubt. Für den Arzt besteht im Sozialrecht eine generelle Pflicht zur Erstattung von Gutachten für den Fall, daß dieses zur Entscheidung über die Entstehung, Erbringung, Fortsetzung, das Ruhen, die Entziehung oder den Wegfall einer Sozialleistung sowie deren Höhe unabweisbar ist (§21 SGB X). Es sollte ein nobile officium eines jeden Artzes sein, ihm erteilte Gutachtenaufträge auszuführen und Zwangsmaßnahmen (§ 22 SGB X) zu vermeiden. Das Verwaltungsverfahren endet mit dem Verwaltungsakt (§31 SGB X). Handelt es sich um: 1. Renten, die nicht nur für die Vergangenheit zu zahlen sind, 2. Änderung, Entziehung und Ruhen von Renten, 3. Pflege, Heilanstaltspflege oder Anstaltspflege oder 4. Abfindungen, so ist der Verwaltungsakt in Form eines Bescheides als förmliche Feststellung (§ 1569 a RVO) zu erteilen, ebenso generell auf Antrag des Versicherten. Die Entscheidung trifft der Rentenausschuß, der paritätisch mit je einem Vertreter der Versicherten und einem der Arbeitgeber besetzt ist. Der Bescheid ist zu begründen (§35 SGB X). Es sind insbesondere zu nennen: Der Jahresarbeitsverdienst, die Unfallfolgen und die unfallfremden Erkrankungen. Hierfür gilt die im Sozialgesetzbuch ausdrücklich vorgesehene Regelung: Die Amtssprache ist deutsch (§ 19 SGB X) Der Verwaltungsakt/Bescheid ist mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen und dem Versicherten bekanntzugeben (§§36, 37 SGB X). Die Nachprüfung der Verwaltungsakte/Bescheide obliegt zunächst den Widerspruchsstellen der UV-Träger und sodann den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit. Dem Versicherten entstehen hierdurch keine Kosten.
3. Krankenversicherung 3.1 Allgemeines Ein kurzer Überblick über das System der gesetzlichen Krankenversicherung erscheint zweckmäßig, einmal weil ein Unfall mit seinen schädigenden Folgen als regelwidriger Körperzustand auch Krankheit bedeutet, außerdem weil der überwiegende Teil des in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Personenkreises zugleich in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert ist. Nach dem bis zum 31.12.1990 geltenden Recht (§ 565 RVO) bestand daher auch nach Eintritt eines Arbeitsunfalles grundsätzlich sowohl ein Leistungsanspruch gegen die Krankenkasse als auch gegen den Unfallversicherungsträger. Ab 01.01.1991 fällt der Anspruch gegen die Krankenkasse weg; es ist ausschließlich der Unfallversicherungsträger zuständig (§11 Abs. 4 SGB V). Es muß deshalb geprüft werden, welcher Versicherungsträger in solchen Fällen leistungspflichtig ist. Ein summarischer Überblick erscheint in diesem Z u s a m m e n h a n g gerechtfertigt, weil Fragen der Unfallbegutachtung im Gebiet der Krankenversicherung kaum zu beantworten sind. Sie können sich gelegentlich bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit wegen eines Arbeitsunfalls ergeben. Sie können aber auch bei der Prüfung der Frage entstehen, ob eine Krankheit Folge eines Unfalls und daher in den Bereich der Entschädigungspflicht des Unfallversicherungsträgers fällt oder ob eine Krankheit vorliegt, für deren Versicherungsschutz allein die Krankenversicherung zuständig ist. Arbeitsunfähig ist der Versicherte dann, wenn er wegen seiner Krankheit nicht oder nur mit der Gefahr, seinen Zustand zu verschlimmern, fähig ist, seiner bisher ausgeübten Erwerbstätigkeit nachzugehen. Hier ist wichtig, zu wissen, ob das Arbeitsverhältnis noch besteht oder ob es faktisch infolge der schweren Verletzung bzw. rechtlich durch Kündigung beendet ist. Im ersteren Fall ist die Fähigkeit zu prüfen, die zuletzt ausgeübte Tätigkeit verrichten zu können. Die Beurteilung hat nach dem Inhalt des Arbeitsvertrages des Versicherten zu erfolgen. Es kann eine ganz konkrete Einzeltätigkeit oder aber auch - wie nicht selten - eine Anzahl gleichartiger Tätigkeiten sein. Ist die Rückkehr des Versicherten an den bisherigen Arbeitsplatz ausgeschlossen, ist die Fähigkeit zu beurteilen, eine andere, als die bisher ausgeübte Tätigkeit zu verrichten. Allerdings ist dies keine beliebige, sondern eine solche Tätigkeit, die der früheren im wesentlichen entspricht; Entscheidungskriterium ist die Vergleichbarkeit der beiden Tätigkeiten. Teilarbeitsunfähigkeit oder Schonarbeitsplatz sind Begriffe, die nicht den rechtlichen Gegebenheiten entsprechen; sie sind abzulehnen!
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Krankenversicherung
3.2 Träger der Krankenversicherung Die Aufgaben der Krankenversicherung werden von den Krankenkassen wahrgenommen. Sie sind wie die Träger der Unfallversicherung Selbstverwaltungskörperschaften des öffentlichen Rechts. Ihre Organe sind gleichfalls paritätisch je zur Hälfte aus Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber zusammengesetzt. Träger der Krankenversicherung sind die Ortskrankenkassen, die Betriebskrankenkassen, die Innungskrankenkassen, die landwirtschaftlichen Krankenkassen, die Bundesknappschaft und die Seekrankenkasse. Schließlich sind für bestimmte Personenkreise Ersatzkassen gebildet, denen Angehörige dieser Personenkreise freiwillig beitreten können. Bei diesen sind die Organe ausschließlich mit Vertretern der Versicherten besetzt.
3.3 Aufbringung der Mittel Die für die Durchführung der Krankenversicherung erforderlichen Mittel werden durch Beiträge aufgebracht. Die Beiträge werden in erster Linie von den Arbeitgebern und den Versicherten je zur Hälfte, ferner von den Trägern der Rentenversicherung der Arbeiter und dem Träger der Rentenversicherung der Angestellten sowie dem Bund geleistet. Außerdem sind bei Bezug von Übergangsgeld während Maßnahmen der Rehabilitation Beiträge zur Krankenversicherung des Rehabilitanden von dem zuständigen Träger der Rehabilitation zu erbringen. Die Festsetzung des Beitragssatzes erfolgt durch die Satzung der Krankenkasse.
3.4 Versicherter Personenkreis Auch bei der Krankenversicherung besteht wie bei den anderen Trägern der Sozialversicherung für bestimmte Personengruppen Versicherungszwang. Zu diesen Personengruppen gehören (§5 SGB V): 1. Arbeiter, Angestellte und zu ihrer B e r u f s a u s b i l d u n g Beschäftigte, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, 2. L e i s t u n g s e m p f ä n g e r nach dem Arbeitsförderungsgesetz, 3. Landwirte, ihre mitarbeitenden Familienangehörigen und Altenteiler, 4. Künstler und Publizisten nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz, 5. Personen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe für eine Erwerbstätigkeit befähigt werden sollen, 6. Teilnehmer an berufsfördernden M a ß n a h m e n zur Rehabilitation, 7. Behinderte, die in nach d e m Schwerbehindertengesetz anerkannten Werkstätten für Behinderte oder in nach d e m Blindenwarenvertriebsgesetz anerkannten Blindenwerkstätten oder für diese Einrichtungen in Heimarbeit tätig sind,
Versicherungsfall
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8. Behinderte, die in Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen in gewisser Regelmäßigkeit eine Leistung erbringen, 9. Studenten, die an staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschulen eingeschrieben sind, 10. Personen, die eine in Studien- oder Prüfungsordnungen vorgeschriebene berufspraktische Tätigkeit verrichten, 11. Personen, die die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung erfüllen und diese Rente beantragt haben, wenn sie seit der erstmaligen A u f n a h m e einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrages mindestens neun Zehntel der zweiten Hälfte des Zeitraums Mitglied oder nach § 10 versichert waren, 12. Personen, die die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung erfüllen und diese Rente beantragt haben, wenn sie zu den in § 1 oder § 17 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes genannten Personen gehören und ihren Wohnsitz innerhalb der letzten zehn Jahre vor der Stellung des Rentenantrags in den Geltungsbereich dieses Gesetzes verlegt haben.
Nach Absatz 1 N r . 1 oder 5 bis 12 ist nicht versicherungspflichtig, wer hauptberuflich selbständig erwerbstätig ist (§5 Abs. 5 SGB V). Unter bestimmten Voraussetzungen besteht die Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung bzw. einer freiwilligen Fortsetzung einer beendeten Pflichtversicherung (§ 9 SGB V). Versichert sind unter bestimmten Voraussetzungen auch der Ehegatte und die Kinder von Mitgliedern (§ 10 SGB V).
3.5 Versicherungsfall Öffentlich-rechtliche Ansprüche des Versicherten gegenüber dem Träger der Krankenversicherung bestehen auf Leistungen: - zur Förderung der Gesundheit (§ 20 SGB V) - zur Verhütung von Krankheiten (§§ 21 bis 24 SGB V) - zur Früherkennung von Krankheiten (§§25 und 26 SGB V) - zur Behandlung einer Krankheit (§§27 bis 52 SGB V) - bei Schwerpflegebedürftigkeit (§§53 ff. SGB V) - bei Schwangerschaft und Mutterschaft (§179, 195ff. RVO)
Das Schwergewicht liegt bei den Leistungsansprüchen wegen Krankheit. Krankheit im Sinne der Krankenversicherung liegt dann vor, wenn ein regelwidriger Körperoder Geisteszustand Krankenpflege erfordert oder Arbeitsunfähigkeit verursacht. Arbeitsunfähig ist der Versicherte dann, wenn er wegen seiner Krankheit nicht oder doch nur mit der Gefahr seinen Zustand zu verschlimmern, fähig ist, seiner bisher ausgeübten Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Arbeitsunfähigkeit wird durch den Arzt festgestellt.
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Krankenversicherung
3.6 Leistungen der Krankenversicherung Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung werden Sach- und Geldleistungen gewährt. Dabei wird zwischen Regel- und Mehrleistungen unterschieden. Die Regelleistungen sind die gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtleistungen der Krankenkasse, die von den Trägern der Krankenversicherung nicht unterschritten werden können. Mehrleistungen sind die Leistungen, die über die Regelleistung hinaus durch die Satzung der einzelnen Krankenkasse festgelegt und den Versicherten dieser Kasse gewährt werden, soweit das Gesetz - SGB V - diese Mehrleistung zuläßt. Sachleistungen sind im Bereich der Krankenversicherung die M a ß n a h m e n zur Früherkennung oder Verhütung von Krankheiten, der Krankenbehandlung, der Mutterschaftshilfe und bei den sonstigen Hilfen, wie ärztliche Behandlung zur Empfängnisregelung und Leistungen bei nicht rechtswidriger Sterilisation und nicht rechtswidrigem Schwangerschaftsabbruch. Dabei werden als Krankenbehandlung (§27 SGB V) gewährt: 1. ärztliche Behandlung, 2. zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Zahnersatz, 3. Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, 4. häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe, 5. Krankenhausbehandlung, 6. medizinische und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation sowie Belastungserprobung und Arbeitstherapie.
Geldleistungen sind Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Pflegegeld, Sterbegeld. Die Krankenbehandlung muß ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein, sie darf jedoch das M a ß des Notwendigen nicht überschreiten (§12 SGB V). Für bestimmte Arznei-, Verband- und Hilfsmittel werden Festbeträge festgesetzt. Die Kasse erfüllt ihre Leistungspflicht mit dem Festbetrag (§ 12 Abs. 2 SGB V). Auch kann der Erkrankte Arznei-, Heil- und Hilfsmittel bestimmter Anwendungsgebiete — im wesentlichen geringfügige Gesundheitsstörungen - nicht zu Lasten der Krankenversicherung beanspruchen.
3.7 Beziehungen zur Unfallversicherung Die Tatsache, daß der versicherte Personenkreis der Unfallversicherung sich weithin mit dem der Krankenversicherung deckt, macht eine Regelung des Verhältnisses zwischen den Versicherungsträgern erforderlich. Auf Leistungen der Krankenversicherung hat der gesetzlich Krankenversicherte ab dem 01.01.1991 keinen Anspruch, wenn die Leistungen als Folge eines Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung zu erbringen sind (§11 A b s . 4 SGB V).
Beziehungen zu den Ärzten
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Da die Unfallversicherungsträger bei berufsgenossenschaftlicher Heilbehandlung auch die Geldleistungen zu übernehmen haben, zahlen die Krankenkassen aufgrund besonderer Vereinbarungen die Geldleistungen im Auftrage und für Rechnung des zuständigen Unfallversicherungsträgers aus. Die Krankenkasse darf bei einem Arbeitsunfall dem krankenversicherten Verletzten keine Leistungen gewähren, sondern zuständiger Versicherungsträger ist die Unfallversicherung. Ist das Heilverfahren eines Unfallverletzten zu Lasten der Krankenkasse durchgeführt worden, stehen dem Träger der Krankenversicherung gegenüber dem Träger der Unfallversicherung Erstattungsansprüche zu, ebenso stehen dem Unfallversicherungsträger Erstattungsansprüche zu, wenn er als Nichtleistungspflichtiger Leistungen erbracht hat (SS 102 ff. SGB X).
3.8 Beziehungen zu den Ärzten Während in der Unfallversicherung die Beziehungen zwischen den Ärzten und den Zahnärzten einerseits und dem Versicherungsträger andererseits vornehmlich auf der vertraglichen Grundlage des Abkommens Ärzte/Unfallversicherungsträger bzw. des Zahnärzteabkommens beruhen, ist das Verhältnis der Krankenversicherung zu den Ärzten bzw. Zahnärzten im zweiten Abschnitt S 72ff. SGB V geregelt. Nach diesen gesetzlichen Vorschriften haben die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen die den Krankenkassen obliegen ärztliche bzw. zahnärztliche Behandlung sicherzustellen und den Krankenkassen und ihren Verbänden gegenüber zu gewährleisten, daß die kassenärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht. Die kassenärztliche Versorgung ist so zu regeln, daß eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse gewährleistet ist. Zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen und den Verbänden der Krankenkasse sind dazu Verträge abzuschließen (S75 Abs. 7 SGBV). Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen bzw. der Zahnärzte und Krankenkassen, die von den Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, den Bundesverbänden der Krankenkasse und der Bundesknappschaft gebildet werden, beschließen weiterhin zur Sicherung der Kassenärztlichen Versorgung Richtlinien, denen der Bundesminister für Arbeit zustimmen muß (§92 SGB V). So wurden z.B. außer anderen Arzneimittel-, Heilmittel- und Hilfsmittel-Richtlinien, Krebsfrüherkennungs-Richtlinien und Rehabilitations-Richtlinien beschlossen. Der Arzt wird durch eine besondere Zulassung zur Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung berechtigt und verpflichtet und zugleich ordentliches Mitglied der Kassenärztlichen Vereinigung (§95 SGB V). Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Grundsätzlich hat der krankenversicherte Patient die freie Arztwahl (S 76 SGB V).
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Krankenversicherung
3.9 Verfahren Sofern der Versicherte Leistungen der Krankenversicherung in Anspruch nehmen will, muß er tätig werden. Er m u ß für die ärztliche Behandlung eine Krankenversicherungskarte (§291) bzw. soweit noch nicht eingeführt, einen Krankenschein vorlegen und Arbeitsunfähigkeit wegen einer Krankheit seiner Krankenkasse melden. Wie in der Unfallversicherung sind die Entscheidungen des Trägers im Einzelfall Verwaltungsakte und der N a c h p r ü f u n g durch die Sozialgerichtsbarkeit unterworfen. Eine besondere Bedeutung für die ärztliche Begutachtung im Rahmen der Aufgabenerfüllung der Krankenversicherung hat der Medizinische Dienst (§§275 ff. SGB V). Die Krankenkassen sind in den gesetzlich bestimmten Fällen oder wenn es nach Art, Schwere, Dauer oder Häufigkeit der Erkrankung oder nach dem Krankheitsverlauf erforderlich ist, verpflichtet: 1. bei Erbringung von Leistungen, insbesondere zur Prüfung von Voraussetzungen, Art und Umfang der Leistung, 2. zur Einleitung von M a ß n a h m e n zur Rehabilitation, insbesondere zur Aufstellung eines Gesamtplans nach § 5 Abs. 3 RehaAnglG, im Benehmen mit dem behandelnden Arzt, 3. bei Arbeitsunfähigkeit a) zur Sicherung des Behandlungserfolgs, insbesondere zur Einleitung von M a ß nahmen der Leistungsträger für die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, oder b) zur Beseitigung von begründeten Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit, insbesondere auf Verlangen des Arbeitgebers, wenn er begründete Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit darlegt, eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (Medizinischer Dienst) einzuholen (§ 275 Abs. 1 SGB V). Die Ärzte des Medizinischen Dienstes sind bei der Wahrnehmung ihrer medizinischen Aufgaben nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen. Sie sind nicht berechtigt, in die ärztliche Behandlung einzugreifen (§275 Abs. 5 SGB V). Die Krankenkassen sind verpflichtet, dem Medizinischen Dienst die für die Beratung und Begutachtung erforderlichen Unterlagen vorzulegen und Auskünfte zu erteilen. Unterlagen, die der Versicherte über seine Mitwirkungspflicht nach den §§ 60 und 65 SGB I hinaus seiner Krankenkasse freiwillig selbst überlassen hat, dürfen an den Medizinischen Dienst nur weitergegeben werden, soweit der Versicherte eingewilligt hat. Für die Einwilligung gilt §67 Satz 2 SGB X (§276 Abs. 1 SGB V). Der Medizinische Dienst hat dem an der kassen- und vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Arzt, sonstigen Leistungserbringern, über deren Leistungen er eine gutachtliche Stellungnahme abgegeben hat, und der Krankenkasse das Ergebnis der Begutachtung und die erforderlichen Angaben über den Befund mitzuteilen. Der Versicherte kann der Mitteilung über den Befund an die Leistungserbringer widersprechen (§277 Abs. 1 SGB V).
4.
Rentenversicherung
4.1 Allgemeines Da die gesetzliche Rentenversicherung die Aufgabe hat, die Versicherten gegen die Wagnisse der Berufsunfähigkeit, der Erwerbsunfähigkeit und des Alters sowie die Hinterbliebenen bei Todesfällen zu schützen, ist ein Überblick über diesen Zweig der Sozialversicherung geboten. Denn die Folgen eines Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit können Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit verursachen oder zum Tode führen, demnach also den Bereich der Unfallbegutachtung berühren. Gleichwohl muß ein kurzer Hinweis aus den gleichen Gründen wie bei der Betrachtung der Krankenversicherung genügen, zumal die in der Unfallversicherung so bedeutsamen Fragen des Ursachenzusammenhangs und der abgestuften Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit bei der Begutachtung in diesem Rechtsgebiet entfallen.
4.2 Träger der Rentenversicherung Die Aufgaben der Rentenversicherung werden für die Arbeiter von den Landesversicherungsanstalten, der Bundesbahnversicherungsanstalt für die Arbeiter der Bundesbahn und der Seekasse für Seeleute, Küstenschiffer und Küstenfischer wahrgenommen. Für die Angestellten obliegen diese Aufgaben der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Für die im Bergbau tätigen Versicherten (Arbeiter und Angestellte) ist die Bundesknappschaft, für die Altershilfe der Landwirte sind die landwirtschaftlichen Alterskassen zuständig. Die Versicherungsanstalten sind wie alle Träger der Sozialversicherung juristische Personen des öffentlichen Rechts. Die Organe dieser juristischen Personen sind paritätisch aus Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer zusammengesetzt.
4.3 Aufbringung der Mittel Die zur Wahrnehmung der Aufgaben erforderlichen Mittel werden durch Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber und einen Bundeszuschuß aufgebracht.
4.4 Versicherter Personenkreis Die Rentenversicherung umfaßt praktisch alle Arbeiter, Angestellte, Lehrlinge, soweit sie nicht (z.B. Beamte, Richter, Soldaten oder Rentner mit Altersruhegeld; § 1227/1228 RVO bzw. §§2 und 3 Angestelltenversicherungsgesetz) versicherungsfrei sind. Dabei kommt es auf die Natur des Arbeitsverhältnisses an, ob die Versicherung
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Rentenversicherung
durch die Landesversicherungsanstalten oder die Bundesversicherungsanstalt für A n gestellte durchgeführt wird*). Weiter sind u . a . versichert: - Deutsche, die im Ausland bei einer amtlichen Vertretung des Bundes oder deren Mitarbeitern als Arbeitnehmer, Lehrling oder sonst zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind. -
Hausgewerbetreibende,
- Personen, die vor Eintritt in das Erwerbsleben in Einrichtungen der Jugendhilfe durch Beschäftigung für eine Erwerbstätigkeit befähigt werden sollen oder die in Einrichtungen für Behinderte, insbesondere in Berufsbildungswerken, an berufsfördernden Maßnahmen teilnehmen, - Wehrdienst- und Zivildienstleistende, wenn sie vor ihrer Einberufung versichert waren, - Personen, denen die Krankenversicherung zwölf Monate ununterbrochen Krankengeld gezahlt hat, für die Zeit des weiteren Bezuges bis zu 24 Monaten weiterer Arbeitsunfähigkeit, -
Rehabilitanden.
Eine freiwillige Versicherung ist möglich. D e r Versicherte kann a u ß e r d e m zu seinen Pflichtbeiträgen oder seinen freiwilligen Beiträgen Beiträge zum Z w e c k e der H ö h e r versicherung entrichten. D e r im Gesetz bestimmte Personenkreis ist z w a r der Versicherungspflicht u n t e r w o r f e n , der Pflichtige wird aber erst durch die E n t r i c h t u n g v o n Beiträgen Versicherter.
4.5 Versicherungsfall Öffentlich-rechtliche A n s p r ü c h e auf Leistungen der Rentenversicherung bestehen v o r allem auf - Heilbehandlung, Berufsförderung und andere Leistungen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung, - Renten wegen Berufsunfähigkeit Erwerbsunfähigkeit Alters, - Renten an Hinterbliebene, - Zuschüsse zu den Aufwendungen für Krankenversicherung. (§23 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 1, Allgemeiner Teil)
4.5.1
Berufsunfähigkeit
Berufsunfähigkeit liegt bei einem Versicherten dann vor, wenn seine Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen G e b r e c h e n oder S c h w ä c h e seiner körperlichen *) Das „Rentenreformgesetz 1992" tritt mit dem 1.1.91, i.ü. zum 1 . 1 . 9 2 in Kraft. Die Einführung in das SGB als VI. Buch ist vollzogen. Die Versieherungspflicht regeln die §§ 1 - 3 , die Versicherungspflicht auf Antrag §4, die Versicherungsfreiheit kraft Gesetzes und auf Antrag die §§ 5, 6 SGB VI.
Tod
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oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 1246 Abs. 2 R V O ; §23 Abs. 2 Angestellten-Versicherungsgesetz (AVG)). Der Begriff der Berufsunfähigkeit ist demnach weitaus individueller als der der Minderung der Erwerbsfähigkeit in der Unfallversicherung mit dem Bezug auf das gesamt Gebiet des Erwerbslebens. Dies wird besonders zu beachten sein, wenn die durch einen Unfall etwa verursachte Berufsunfähigkeit und die Minderung der Erwerbsfähigkeit zu erörtern sind. Die Frage der Kausalität des Leidens bleibt außer Betracht. Im Bereich der Rentenversicherung ist im übrigen eine Tätigkeit, für die der Versicherte mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult ist, stets zumutbar.
4.5.2 Erwerbsunfähigkeit Die Erwerbsunfähigkeit liegt bei einer weitaus umfassenderen Einschränkung der körperlichen und geistigen Kräfte vor. Sie ist dann anzuerkennen, wenn der Versicherte infolge von Krankheit oder anderer Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (§1247 A b s . 2 R V O ; §24 Abs. 2 AVG). Nicht erwerbsunfähig ist, wer eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt.
4.5.3 Alter Der Eintritt des Versicherungsfalles erfolgt beim Erreichen der im Gesetz vorgesehenen Altersgrenze. Sie liegt im allgemeinen bei der Vollendung des 63. Lebensjahres, kann aber unter bestimmten Voaussetzungen auf den Zeitpunkt der Vollendung des 63. Lebensjahres vorgezogen werden. Für andere Personenkreise (Schwerbehinderte, Berufsunfähige, Erwerbsunfähige bzw. Arbeitslose oder weibliche Versicherte) sogar auf das 62. oder 60. Lebensjahr.
4.5.4 Tod Beim Tode des Versicherten entstehen die Ansprüche der bezugsberechtigten Hinterbliebenen, nämlich der Witwe, u. U. der geschiedenen Witwe, des Witwers und der Waisen (s. S. 37). Wegen der Anrechnung von Erwerbseinkommen bzw. Erwerbsersatzeinkommen gilt das Gleiche wie in der gesetzlichen Unfallversicherung (s. S.37).
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Rentenversicherung
4.5.5
Wartezeit
Renten aus der Rentenversicherung sind nur dann zu gewähren, wenn beim Eintritt des Versicherungsfalles die für jeden Versicherungsfall besonders bestimmten Mindestversicherungszeiten (Wartezeiten) zurückgelegt sind. Sie betragen für das Altersruhegeld 60 Monate, ebenso für die anderen Versicherungsfälle 60 Monate. Die Wartezeit gilt u. a. als erfüllt, wenn der Versicherungsfall durch einen Arbeitsunfall (Berufskrankheit) verursacht worden ist.
4.5.6 Besondere Versicherungsfälle der Knappschaftsversicherung Als Besonderheit kennt die knappschaftliche Rentenversicherung außer den zuvor aufgeführten Versicherungsfällen die verminderte bergmännische Berufsfähigkeit. Sie liegt dann vor, wenn ein Versicherter infolge von Krankheit oder Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen und geistigen Kräfte weder imstande ist, die von ihm bisher verrichtete knappschaftliche Arbeit auszuüben, noch imstande ist, andere im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeiten von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftlich versicherten Betrieben auszuüben (§45 Abs. 2 Reichsknappschaftsgesetz).
Der Versicherungsfall führt, wenn die Wartezeiten erfüllt sind, zur Bergmannsrente.
4.6 Leistungen Wie in den zuvor geschilderten Zweigen der Sozialversicherung hat auch der Versicherte der Rentenversicherung im Versicherungsfall Anspruch auf Sach- und Geldleistungen. Der Umfang der Sachleistungen ist durch die Verpflichtung der Träger der Rentenversicherung zu medizinischen (§ 1237 R V O und § 14 AVG) und zu berufsfördernden (§ 1237 a R V O und § 14 a AVG) Leistungen zur Rehabilitation sowie zu ergänzenden Leistungen (§ 1237 b R V O und § 14 b AVG) bestimmt. Die medizinischen Leistungen zur Rehabilitation sind im wesentlichen die gleichen wie bei den Krankenkassen und den Unfallversicherungsträgern (s. oben 2.5.2.1. und 3.6.), allerdings ohne zahnärztliche Behandlung und ohne Pflege. Die Durchführung der medizinischen Leistungen zur Rehabilitation soll vor allem stationär in Kur- und Spezialeinrichtungen erfolgen. Zu den ergänzenden Leistungen gehört ärztlich verordneter Behindertensport in Gruppen unter ärztlicher Betreuung. Die berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation entsprechen dem Umfang der Berufshilfe in der gesetzlichen Unfallversicherung (s. oben 2.5.2.3.). An Geldleistungen werden in der Rentenversicherung bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen gewährt: - Übergangsgeld während medizinischer oder berufsfördernder Maßnahmen zur Rehabilitation, - Renten wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, -
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- Witwenrente bzw. Rente an eine frühere Ehefrau des Versicherten, -
Witwerrente,
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Waisenrente.
4.7 Beziehungen zur Unfallversicherung Aus den Aufgaben der Rentenversicherung ergibt sich insbesondere auf dem Gebiet der Rehabilitation die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den Unfallversicherungsträgern. Denn auch hier, wie in der Krankenversicherung, decken sich die versicherten Personenkreise weithin. Daher besteht die Notwendigkeit der Koordination von Maßnahmen der Rehabilitation. Entlastet ein von der Rentenversicherung einem Unfallverletzten gewährtes Heilverfahren eine Berufsgenossenschaft, so hat die Berufsgenossenschaft die Kosten zu erstatten.
4.8 Verfahren Die Leistungen der Rentenversicherung setzen einen Antrag des Versicherten voraus. Der Versicherte muß also tätig werden, um die im Versicherungsfall zustehenden Leistungen zu erhalten. Die Feststellung der Leistungen bzw. die Entscheidung darüber erfolgt durch Bescheid. Solche Bescheide sind als Verwaltungsakte durch die Sozialgerichtsbarkeit nachprüfbar.
5. Recht der Bundesversorgung 5.1 Allgemeines Ein besonderer Bereich der Begutachtung der Folgen von Schäden durch plötzliche, von außen einwirkende Ereignisse ergibt sich im Geltungsbereich des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Daher erscheint eine Übersicht über die Rechtsgrundlagen von Ansprüchen nach diesem Gesetz angebracht. Ansprüche auf Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz haben Personen, die durch eine militärische und militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben (§ 1 Abs. 1 BVG). Einer solchen Schädigung stehen nach § 1 Abs. 2 BVG Schädigungen gleich, die herbeigeführt sind durch unmittelbare Kriegseinwirkung, durch Kriegsgefangenschaft, durch Internierung oder als offensichtliches Unrecht anzusehende Straf- oder Zwangsmaßnahmen im Zusammenhang mit militärischen oder militärähnlichem Dienst, weiterhin durch Unfälle auf dem Hin- und Rückweg von Maßnahmen der Heilbehandlung oder Rehabilitation oder bei der Durchführung solcher Maßnahmen.
5.2 Geltungsbereich Die Vorschriften des BVG sind auch auf andere gesetzliche Tatbestände entsprechend anzuwenden, nämlich - nach § 80 Soldatenversorgungsgesetz auf die Versorgung von Soldaten, die eine Wehrdienstbeschädigung erlitten haben, nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses; - nach § 47 des Zivildienstgesetzes schädigung erlitten haben;
auf Zivildienstpflichtige, die eine Zivildienstbe-
- nach §4 Abs. 1 des Häflingshilfegesetzes auf Berechtigte, die infolge Gewahrsams eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben. Berechtigt sind deutsche Staatsangehörige oder Volkszugehörige, wenn sie nach Besetzung ihres Aufenthaltsortes oder nach dem 8.5.1945 im Gebiet der früheren DDR oder Ostberlin, in deutschen Ostgebieten unter fremder Verwaltung oder Ostblockländern aus politischen und nach freiheitlich-demokratischer Auffassung von ihnen nicht zu vertretenden Gründen in Gewahrsam genommen worden sind. - Weiterhin sind die Vorschriften des BVG auf Ansprüche nach dem gesetz wegen Impfschäden (§ 51 Bundesseuchengesetz) und dem gungsgesetz entsprechend anzuwenden.
BundesseuchenOpferentschädi-
Geltungsbereich
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5.2.1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) Nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) erhalten Personen, die durch Gewalttaten eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben, oder ihre Hinterbliebenen im Falle der Tötung durch Gewalttaten wegen der gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Folgen der Schädigung Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG (§ 1 OEG). Voraussetzung für die Versorgung ist, daß 1. durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen Angriff auf den Geschädigten oder eine andere Person bzw. bei der rechtmäßigen Abwehr eines solchen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung eingetreten ist, und zwar auch dann, wenn der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes gehandelt hat; 2. der tätliche Angriff bzw. die rechtmäßige Abwehr in der Bundesrepublik, dem Lande Berlin oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug stattgefunden hat; 3. der Geschädigte ein Deutscher ist, ein Ausländer nur bei der Gewährleistung der Gegenseitigkeit; 4. der tätliche Angriff nicht von dem Angreifer durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeuges oder eines Anhängers durchgeführt wurde; 5. der Geschädigte unverzüglich Anzeige bei einer für die Strafverfolgung zuständigen Behörde erstattet. Einem tätlichen Angriff stehen gleich: - die vorsätzliche Beibringung von Gift; - die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leben und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen (ζ. B. besonders schwere Brandstiftung (§307 Strafgesetzbuch), Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion (§311 StGB). Ferner stehen einer Schädigung durch tätlichen Angriff Schädigungen durch Unfälle gleich, die der Geschädigte auf dem Hin- oder Rückweg - zu Maßnahmen der Rehabilitation oder - zu Terminen zur Aufklärung des Sachverhalts, falls das persönliche Erscheinen angeordnet ist, oder - zur unverzüglichen Erstattung einer Strafanzeige erleidet. Das gleiche gilt für Unfälle eines Geschädigten bei der Durchführung der genannten Verrichtungen. Die Leistungen sind zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, in dem eigenen Verhalten des Anspruchsstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Die Leistungen können versagt werden, wenn der Geschädigte nicht alles ihm Mögliche zur Aufklärung des Sachverhalts oder zur Verfolgung des Täters beiträgt, insbesondere nicht unverzüglich Strafanzeige erstattet (§2 OEG).
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Recht der Bundesversorgung
5.3 Aufbringung der Mittel zur Versorgung Die für die Versorgung erforderlichen Mittel werden je nach der Rechtsgrundlage des Versorgungsanspruchs vom Bund bzw. den Ländern aufgebracht. Die Durchführung der Versorgung erfolgt durch die Versorgungsämter.
5.4 Umfang der Versorgung Nach dem Sozialgesetzbuch 1 — Allgemeiner Teil — können als Versorgungsleistungen in Anspruch genommen werden (§24): — Heil- und Krankenbehandlung sowie andere Leistungen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit einschließlich wirtschaftlicher Hilfen, — besondere Hilfen im Einzelfall einschließlich Berufsförderung, — Renten wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit, — Renten an Hinterbliebene, Bestattungsgeld und Sterbegeld, — Kapitalabfindungen, insbesondere zur Wohnraumbeschaffung.
Es sind demnach auch in diesem Rechtsgebiet Sach- und Geldleistungen zu gewähren. Sachleistungen sind Heil- und Krankenbehandlung und teilweise die besonderen Hilfen im Einzelfall, die anderen sind Geldleistungen. Näheres ist im Bundesversorgungsgesetz bestimmt.
5.4.1 Heil- und Krankenbehandlung Heilbehandlung wird für Gesundheitsstörungen gewährt, die als Folge einer Schädigung anerkannt oder durch eine anerkannte Schädigungsfolge verursacht worden sind, ebenso für eine Gesundheitsstörung, die im Sinne der Verschlimmerung als Folge einer Schädigung anerkannt ist. Umfassendes Ziel der Heilbehandlung ist es, die Gesundheitsstörungen oder die durch sie bewirkte Beeinträchtigung der Berufsoder Erwerbsfähigkeit zu beseitigen oder zu bessern, eine Zunahme des Leidens zu verhüten, körperliche Beschwerden zu beheben, die Folgen der Schädigung zu erleichtern oder die Beschädigten möglichst auf Dauer in Arbeit, Beruf und Gesellschaft einzugliedern (§ 1 Abs. 3 BVG). Schwerbeschädigten (mindestens 50% M.d.E.) wird Heilbehandlung auch für Gesundheitsstörungen gewährt, die nicht als Folge einer Schädigung anerkannt sind (§ 10 Abs. 2 BVG). Ausdrücklich ist bestimmt, daß für Anerkennung einer Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs genügt. Ist eine solche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, kann mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt werden (§ Abs. 3 BVG — anders in der gesetzlichen Unfallversicherung s. S. 14ff.).
U m f a n g der Versorgung
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Die Heilbehandlung umfaßt (§11 BVG): -
ambulante ärztliche und zahnärztliche Behandlung,
-
Versorgung mit Arznei und Verbandmitteln,
-
Versorgung mit Heilmitteln einschließlich Krankengymnastik, Bewegungstherapie, Sprachtherapie und Beschäftigungstherapie sowie mit Brillen und Kontaktlinsen
-
Versorgung mit Z a h n e r s a t z ,
-
stationäre Behandlung in einem krankenhaus (Krankenhausbehandlung),
-
stationäre Behandlung in einer Rehabilitationseinrichtung,
-
häusliche Krankenpflege,
-
Versorgung mit Hilfsmitteln,
-
Belastungserprobung und Arbeitstherapie.
Krankenbehandlung wird u. a. Schwerbeschädigten, deren Ehegatten und Kindern, Pflegekräften, Witwen, Waisen und versorgungsberechtigten Eltern gewährt. Sie umfaßt Leistungen wie die Heilbehandlung, außer Versorgung mit Zahnersatz. Sie wird nicht gewährt, wenn ein Sozialversicherungsträger zu einer entsprechenden Leistung verpflichtet ist oder andere im Gesetz genannte Ausschlußvoraussetzungen vorliegen (§10 A b s . 7 BVG). Zu den medizinischen Leistungen gehören auch Versehrtenleibesübungen (§§ 10, A b s . 3 , I I a BVG). Während der Heil- oder Krankenbehandlung hat der arbeitsunfähige Geschädigte Anspruch auf Versorgungskrankengeld. Der Berechtigte gilt als arbeitsunfähig, wenn er wegen einer Maßnahme der medizinischen Rehabilitation keine ganztägige Erwerbstätigkeit ausüben kann (§16 BVG).
5.4.2 Besondere Hilfen im Einzelfall Die Leistungen durch besondere Hilfen im Einzelfall (§24 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - ) ergeben sich aus den Bestimmungen des Abschnitts „Kriegsopferfürsorge" des B V G (§§25 - 2 7 d BVG). Anspruchsberechtigt sind Geschädigte und ihre Hinterbliebenen, wenn sie wegen der Schädigung nicht in der Lage sind, trotz der übrigen Leistungen sowie ihres sonstigen Einkommens und ihres Vermögens eine angemessene Lebensstellung zu erlangen oder sich zu erhalten, bzw. wenn es unbillig wäre, von den Geschädigten oder Hinterbliebenen den Einsatz ihres Einkommens zu verlangen. Als Leistungen sind u.a. zu gewähren (25b Abs. 1 BVG): -
Hilfen zur beruflichen Rehabilitation (§§ 26 und 26 a),
-
Krankenpflege ( § 2 6 b ) ,
-
Hilfe zur Pflege ( § 2 6 c ) ,
-
Hilfe zur Weiterführung des Haushaltes ( § 2 6 d ) ,
-
Altenhilfe ( § 2 6 e ) ,
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Recht der Bundesversorgung
- Erziehungsbeihilfe (§27), - ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt ( § 2 7 a ) , - Erholungshilfe (ξ 27 b), - Wohnungshilfe ( § 2 7 c ) , - Hilfen in besonderen Lebenslagen (§27d),
Die berufsfördernden Leistungen (§ 26 BVG) haben den gleichen Umfang wie diejenigen der gesetzlichen Unfallversicherung (s.o. Teil 1 2.5.2.3). Übergangsgeld ist zu gewähren, wenn der Geschädigte wegen der Teilnahme an einer berufsfördernden Maßnahme keine ganztägige Erwerbstätigkeit ausüben kann. Erziehungsbeihilfen sind Waisen und Kindern von Geschädigten zu ihrer Erziehung bzw. Ausbildung zu gewähren. Ergänzende Hilfen sind, unter entsprechender Anwendung von Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes, denjenigen Geschädigten und Hinterbliebenen zum Lebensunterhalt zu leisten, die diesen nicht aus den übrigen Leistungen des Gesetzes und ihren sonstigen Mitteln bestreiten können. Sonderfürsorge ist bestimmten Gruppen besonders schwer Geschädigter, so z.B. Blinden, Ohnhändern, Querschnittsgelähmten zu gewähren (§27e BVG).
5.4.3 Renten und andere Geldleistungen Der Geschädigte hat Anspruch auf Beschädigtenrente, wenn er wegen der Folgen der Schädigung dauernd um mindestens 30 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Der Begriff „Minderung der Erwerbsfähigkeit" ist — anders als im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (s. oben 2.5.3.2) — im Gesetz definiert. Diese Definition lautet (§30 BVG): „Die Minderung der Erwerbsfähigkeit ist nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen; dabei sind seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen. Für die Beurteilung ist maßgebend, um wieviel die Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch die als Folgen einer Schädigung anerkannten Gesundheitsstörungen beeinträchtigt sind... Die Minderung der Erwerbsfähigkeit ist höher zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, in seinem nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen ist, den er nach Eintritt der Schädigung ausgeübt hat oder noch a u s ü b t . . . "
Bei der Begutachtung sind als Anhaltswerte für die Einschätzung des Prozentsatzes der Minderung der Erwerbsfähigkeit die vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" zu beachten. Die in den Anhaltspunkten angegebenen Sätze sind mitunter von den weiter unten für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung vorgeschlagenen unterschieden, sie beruhen auf den für den Bereich der Versorgung herausgebildeten Erfahrungswerten. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach dem Schwerbehindertengesetz wird in
Verfahren
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entsprechender Anwendung des § 3 0 B V G (s.o.) definiert. Daher sind die genannten „Anhaltspunkte" auch für die ärztliche Gutachtertätigkeit nach dem Schwerbehindertengesetz bestimmt. Entsprechend der jeweiligen Rechtslage sind zu gewähren: - Grundrente (§31 BVG), - Schwerbeschädigtenzulage (§31 BVG), - Ausgleichsrente (§32 BVG), - Berufsschadenausgleich (§30 Abs. 3 BVG).
Weitere Geldleistungen sind: - Pflegezulage (§35 BVG), - Bestattungsgeld (§36 BVG), - Sterbegeld (§37 BVG), - Hinterbliebenenrente (§§38ff. BVG).
5.5 Verfahren Die Leistungen werden auf Antrag gewährt. Die Entscheidungen der Versorgungsämter über Ansprüche auf Versorgungsleistungen sind Verwaltungsakte. Gegen diese ist Klage möglich. Über solche Klagen entscheiden im allgemeinen die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit. Soweit es sich um Entscheidungen über besondere Hilfen im Einzelfall handelt (s. oben 5.4.2), sind öffentlich-rechtliche Streitigkeiten darüber durch die allgemeinen Verwaltungsgerichte zu entscheiden.
6. Die Rehabilitation und ihre Träger 6.1 Allgemeines Die Unfallbegutachtung ist nicht nur als Grundlage der Entscheidung über öffentlichrechtliche Entschädigungsansprüche in der Form von Geldleistungen von Bedeutung. Vielmehr ist die medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation des durch einen Unfall - ebenso aber auch aus anderer Ursache — gesundheitlich, d. h. in seiner körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigten Menschen den Geldleistungen gegenüber vorrangig. So gehört zu den sozialen Rechten im Falle der körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung oder wenn eine solche Behinderung droht - demnach auch bei Unfallfolgen - das Recht auf die Hilfe, die notwendig ist (§ 10 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - ) , um die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mindern und dem Behinderten einen seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz in der Gemeinschaft, insbesondere im Arbeitsleben, zu sichern. Im übrigen gilt der Grundsatz „Rehabilitation geht vor Rente" (§ 7 Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation - RehaAnglG.) Das bedeutet, daß außer dem behandelnden Arzt auch der ärztliche Gutachter bei der Untersuchung und Begutachtung eines Unfallverletzten neben den Feststellungen etwa zum Kausalzusammenhang oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit sachverständige Vorschläge für etwa erforderliche Maßnahmen der Rehabilitation abgeben sollte, worauf an anderer Stelle mehrfach hingewiesen wurde. Ohne die Mitwirkung des sachverständigen Arztes ist eine sinnvolle Rehabilitation nicht denkbar. Die Feststellung des Abkommens Ärzte/Unfallversicherungsträger, daß die Unfallversicherungsträger für die Erfüllung ihrer Aufgaben der Mitwirkung aller Ärzte bedürfen, gilt für alle Träger der Rehabilitation. Das Ziel der Rehabilitation ist nur im Zusammenwirken aller für die entsprechenden Maßnahmen zuständigen Sachverständigen, den Trägern der Rehabilitation und nicht zuletzt der Rehabilitanden selber zu erreichen.
6.2 Träger der Rehabilitation Der Begriff „Rehabilitation" hat sich schon seit langer Zeit als zusammenfassende Bezeichnung für die medizinischen, beruflichen und sozialen Maßnahmen zur Wiedereingliederung von Behinderten durchgesetzt. In die gesetzlichen Vorschriften ist der Begriff jedoch erst mit dem am 1.10.1974 in Kraft getretenen Gesetz über die
Träger der Rehabilitation
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Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) eingeführt worden. Dieses Gesetz definiert den Begriff der Rehabilitation nicht unmittelbar, sondern beschreibt die Aufgabe der Rehabilitation dahin (§ 1 RehaAnglG), daß die medizinischen, berufsfördernden und ergänzenden M a ß n a h m e n und Leistungen zur Rehabilitation im Sinne des Gesetzes darauf ausgerichtet sind, körperlich, geistig oder seelisch Behinderte möglichst auf Dauer in Arbeit, Beruf und Gesellschaft einzugliedern. Bei der Anwendung des Gesetzes stehen den Behinderten diejenigen gleich, denen eine Behinderung droht. Die M a ß n a h m e n zur Rehabilitation sind von den Trägern der Rehabilitation im Rahmen ihrer jeweiligen Aufgaben und Zuständigkeiten durchzuführen. Als Träger bezeichnet das Gesetz (§ 2 Abs. 1 und 2 RehaAnglG) die Körperschaften, Anstalten und Behörden für die Bereiche der - gesetzlichen Krankenversicherung, - gesetzlichen Unfallversicherung, - gesetzlichen Rentenversicherung, - Altershilfe für Landwirte, - Kriegsopferversorgung einschließlich der Kriegsopferfürsorge nach dem Bundesversorgungsgesetz und die Versorgung nach anderen Gesetzen, soweit diese das Bundesversorgungsgesetz für a n w e n d b a r erklären, - Arbeitsförderung nach dem Arbeitsförderungsgesetz und nach anderen Gesetzen, soweit diese das Arbeitsförderungsgesetz für a n w e n d b a r erklären.
Der Bereich der Sozialhilfe ist in das RehaAnglG nicht einbezogen, obwohl die Träger der Sozialhilfe Aufgaben der Rehabilitation wahrnehmen, insbesondere durch die Eingliederungshilfen für Personen, die körperlich, geistig oder seelisch wesentlich behindert sind oder denen solche Behinderungen drohen (§§39 ff. Bundessozialhilfegesetz - BSHG). Ergänzend ist zu einzelnen Trägern der Rehabilitation noch folgendes zu bemerken: Die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung haben durch das RehaAnglG Aufgaben der Rehabilitation ihrer Versicherten erhalten. Dem haben die Krankenkassen u. a. durch die Vereinbarung des sogenannten Unfallheilverfahrens mit den Kassenärztlichen Vereinigungen entsprochen. Für den ärztlichen Gutachter kann der Hinweis von Bedeutung sein, daß der Behinderte über die Möglichkeiten der medizinischen, berufsfördernden und ergänzenden Leistungen zur Rehabilitation beraten wird und die gebotenen M a ß n a h m e n von den Rehabilitationsträgern frühzeitig eingeleitet werden (§3 RehaAnglG). In diesen Verträgen ist auch zu regeln bzw. geregelt worden, bei welchen Behinderungen, unter welchen Voraussetzungen und nach welchem Verfahren von den Ärzten Mitteilungen über Behinderte an die Kassen zu machen sind. Nach den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über diese Verträge vom 17.12.1975 (Rehabilitations-Richtlinien) sollen solche Mitteilungen erfolgen (2.1—2.4 der Richtlinien) bei
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Die Rehabilitation und ihre Träger
- nicht nur vorübergehender erheblicher Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit, die auf dem Fehlen oder auf Funktionsstörungen von Gliedmaßen oder auf anderen Ursachen beruht, - Mißbildungen, Entstellungen und Rückgratverkrümmungen, wenn die Behinderungen erheblich sind, - nicht nur vorübergehender erheblicher Beeinträchtigung der Seh-, Hör- und Sprachfähigkeit, - nicht nur vorübergehender erheblicher Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder seelischen Kräfte aufgrund von schweren chronischen Erkrankungen der inneren Organe oder des Stoffwechsels oder aus anderen Ursachen.
Die Mitteilung muß unterbleiben, wenn der Behinderte trotz ärztlicher Beratung über die Vorteile einer Rehabilitation der Mitteilung an die Krankenkasse ausdrücklich widerspricht. Ähnliche Bestimmungen enthält das Bundessozialhilfegesetz im Abschnitt 12. Sonderbestimmungen zur Sicherung der Eingliederung Behinderter ( § § 1 2 3 - 1 2 6 b BSHG). Bei einem annähernd den Rehabilitations-Richtlinien (s.o.) gleichen Verzeichnis von Behinderungen haben die Ärzte, denen solche Behinderungen bekannt werden, diese und die wesentlichen Angaben zur Person des Behinderten dem Gesundheitsamt mitzuteilen, nicht dagegen die Namen der Behinderten und die der Personensorgeberechtigten (§125 Abs. 2 BSHG). Für den Bereich der Krankenversicherung ist abschließend noch darauf hinzuweisen, daß die Krankenkassen im Benehmen mit dem behandelnden Arzt eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst zu veranlassen haben, wenn dies zur Einleitung von Maßnahmen der Rehabilitation erforderlich erscheint (§275 ff. SGB V). Wegen der Rechtsansprüche ihrer Versicherten auf Rehabilitation gegenüber dem Träger der gesetzlichen Unfallversicherung bzw. gesetzlichen Rentenversicherung wird auf die vorangestellten entsprechenden Abschnitte (2.5.2.1 und 2.5.2.3 bzw. 4.6) verwiesen. Schließlich hat die Bundesanstalt für Arbeit Aufgaben auf dem Gebiet der beruflichen Rehabilitation, deren Rechtsgrundlage das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) ist. M i t den nach dem Arbeitsförderungsgesetz vorgesehenen Maßnahmen soll „ein hoher Beschäftigungsstand erzielt und aufrecht erhalten, die Beschäftigungsstruktur ständig verbessert und damit das Wachstum der Wirtschaft gefördert" werden (1 AFG). Die Maßnahmen sollen u. a. insbesondere „dazu beitragen, die berufliche Eingliederung körperlich, geistig oder seelisch Behinderter zu fördern" (§ 2 Nr. 4 AFG). Die Aufgaben, die sich bei der Durchführung dieser und anderer Maßnahmen ergeben, werden von der als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung gebildeten Bundesanstalt für Arbeit mit ihrer Hauptstelle, den Landesarbeitsämtern und den Arbeitsämtern durchgeführt. Die Bundesanstalt hat als berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation die Hilfen zu gewähren, „die erforderlich sind, um die Erwerbsfähigkeit der körperlich, geistig oder seelisch Behinderten entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu bessern, herzustellen oder wiederherzustellen und die Behinderten möglichst auf Dauer beruflich einzugliedern" (§ 56 Abs. 1 AFG), sonfern nicht ein anderer Rehabilitationsträger im Sinne des RehaAnglG zuständig ist (§57 AFG).
Maßnahmen und Leistungen der Rehabilitation
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6.3 Maßnahmen und Leistungen zur Rehabilitation M i t dem RehaAnglG werden die Maßnahmen und Leistungen der zuvor genannten Träger zur Rehabilitation so einander angeglichen, daß diese dem Umfang nach gleichartig sind, unabhängig von der Rechtsgrundlage der Ansprüche eines Behinderten und unabhängig von der Kausalität seiner Behinderung. Daher sieht das RehaAnglG als einheitlich von den Rehabilitationsträgern durchzuführende Maßnahmen der Rehabilitation u.a. vor: - Unterrichtung der Bevölkerung über Hilfen und Maßnahmen zur Eingliederung Behinderter (§3 Abs. 1); - Auskünfte an die Behinderten über die Möglichkeiten und Leistungen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation und die rechtzeitige und umfassende Beratung der Behinderten (§3 Abs. 2); - frühzeitige Einleitung und zügige Durchführung der zur Rehabilitation gebotenen Maßnahmen (§4 Abs. 2); - Unterrichtung des zuständigen durch den unzuständigen Träger, wenn festgestellt wird, daß Maßnahmen des zuständigen Trägers zur Rehabilitation angezeigt erscheinen (§4 Abs. 2); - Weiterleitung von Anträgen an den zuständigen Träger (§4 Abs. 2); - Einrichtung von Auskunfts- und Beratungsstellen bei den Trägern (§5 Abs.); - Aufstellung eines Gesamtplanes zur Rehabilitation in dazu geeigneten Fällen, etwa bei mehreren Maßnahmen oder Beteiligung mehrerer Träger (§5 Abs. 3); - Beteiligung der Bundesanstalt für Arbeit vor und an der Einleitung berufsfördernder Maßnahmen (§5 Abs. 4 und 5).
Bei ungeklärter Zuständigkeit hat in Fällen etwa erforderlicher medizinischer Maßnahmen der für den Behinderten oder dessen Wohnsitz zuständige Rentenversicherungsträger, bei etwa erforderlichen berufsfördernden Maßnahmen die Bundesanstalt für Arbeit vorläufige Leistungen zu erbringen (§ 6). Als Leistungen zur Rehabilitation führt das Gesetz medizinische, berufsfördernde und ergänzende Leistungen auf. Diese sind bei den Trägern einheitlich. Es wird daher auf die entsprechenden vorangegangenen Darstellungen verwiesen (z.B. die Abschnitte 2.5.2.1, 2.5.2.3 und 2.5.3.1). Erfolg oder Mißerfolg von Maßnahmen und Leistungen zur Rehabilitation hängen wesentlich von der Bereitschaft des Rehabilitanden zur Mitwirkung ab. Diese Feststellung bedarf keiner weiteren Begründung. Der Rehabilitand ist zu dieser Mitwirkung rechtlich verpflichtet ( § 4 Abs. 1 S . 2 RehaAnglG). Eine nicht gerechtfertigte Weigerung, an Maßnahmen zur Rehabilitation teilzunehmen, kann für den Rehabilitanden die im Leistungsrecht der einzelnen Rehabilitationsträger vorgesehenen Rechtsnachteile zur Folge haben (§ 4 Abs. 1 S. 3 RehaAnglG, § 64 Sozialgesetzbuch I — Allgemeiner Teil —).
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Die Rehabilitation und ihre Träger
6.4 Zusammenwirken der Träger Die Durchführung der zuvor angeführten Maßnahmen zur Rehabilitation kann ohne Zusammenwirken der Träger nicht erfolgreich sein. Das RehaAnglG verpflichtet daher die Träger, im Interesse einer raschen und dauerhaften Eingliederung der Behinderten eng zusammenzuarbeiten (§5 Abs. 1). Dem notwendigen Zusammenwirken der Rehabilitationsträger dient insbesondere die bereits geraume Zeit vor der Verkündung des RehaAnglG gebildete Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation. Das Ziel dieses Zusammenwirkens in der Bundesarbeitsgemeinschaft ergibt sich aus der Präambel der Satzung. Sie lautet: „Die Träger der sozialen Sicherheit gewährleisten durch sinnvolles Ineinandergreifen ihrer Leistungen eine umfassende Rehabilitation. Die Vielfalt ihrer Aufgaben entspricht den individuellen Bedürfnissen der Behinderten. Um die Rehabilitation noch wirksamer zu gestalten, bilden die Vereinigungen der Rehabilitationsträger, die Bundesanstalt für Arbeit und die Spitzenverbände der Sozialpartner auf der Grundlage der Selbstverwaltung gemeinsam mit Bund und Ländern unter Wahrung der Selbständigkeit der Rehabilitationsträger und ihrer Vereinigung die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation."
Mitglieder der Bundesarbeitsgemeinschaft können sein: 1. Verbände der Krankenkassen Bundesknappschaft Seekasse als Gruppe Krankenversicherung 2. Verbände der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung als Gruppe Unfallversicherung 3. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger Gesamtverband der landwirtschaftlichen Alterskassen als Gruppe Rentenversicherung 4. Bundesanstalt für Arbeit 5. Bund Länder Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Hauptfürgsorgestellen Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe 6. Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände 7. Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsche Angestellten-Gewerkschaft.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft hat den Zweck, die Maßnahmen der medizinischen, schulischen, pädagogischen, beruflichen und sozialen Rehabilitation zu koordinieren und zu fördern. Daraus ergeben sich die einzelnen Aufgaben, die sie sich gestellt hat, auf deren Darstellung hier jedoch zu verzichten ist. Es soll aber darauf hingewiesen werden, daß zu diesen Aufgaben auch die Anregung, Förderung und Empfehlung zum Abschluß von Verwaltungs-Vereinbarungen, -Absprachen oder -Richtlinien über die Durchführung der Rehabilitation gehören. Die Bundesarbeitsgemeinschaft repräsentiert diejenigen Mithglieder, die damit einverstanden sind, im nationalen oder internationalen sozialpolitischen Bereich in Grundsatzfragen der Rehabilitation.
7. Private Unfallversicherung 7.1 Allgemeines Die Versicherung der Wechselfälle des Lebens wie Unfall, Krankheit, Alter, T o d ist außerhalb der Versicherung durch gesetzlichen Z w a n g in der Sozialversicherung auch durch Versicherungsverträge möglich. Eine solche Versicherung wird auf Grund eines freiwilligen Entschlusses sowohl des Versicherungsnehmers als auch des Versicherers, eine entsprechende vertragliche Regelung zu treffen, abgeschlossen. Der Versicherungsvertrag ist demnach privatrechtlicher N a t u r . Für den Bereich der Unfallbegutachtung ist die auf einem solchen privatrechtlichen Vertrag beruhende Unfallversicherung von Bedeutung. Art und Umfang dieser Versicherung richten sich nach dem Versicherungsvertragsgesetz und nach den „Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB s. Anlage, S. 319ff.)", die für alle Versicherer einheitlich gelten. Auch hier kann es sich nur um einen Überblick handeln; auf die einschlägige Literatur wird verwiesen. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist heute privat unfallversichert; häufig besteht eine Doppelversicherung. Die Bewertungsmaßstäbe und die Beurteilungskriterien von Unfallfolgen unterscheiden sich jedoch in der privaten und gesetzlichen Unfallversicherung zum Teil erheblich. Die private Unfallversicherung soll den Verlust oder die Minderung der Arbeitsfähigkeit in finanzieller Form ausgleichen. Die Höhe der Ersatzleistung hängt von der tatsächlichen Dauer der Arbeitsbehinderung oder dem Grad der für dauernd verbleibenden Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit einerseits und der H ö h e der frei vereinbarten Versicherungssumme andererseits ab. Einige der Leistungen (z. B. Krankenhaustage- und Genesungsgeld, Tagegeld) werden nur für einen vertraglich vereinbarten Zeitraum erbracht. Bei anderen Leistungen m u ß die Unfallfolge (Invalidität, Tod) in einem bestimmten Zeitraum eingetreten bzw. ärztlich festgestellt sein. Gliedmaßenverlust und völlige Gebrauchsunfähigkeit einer Gliedmaße werden gleich bewertet. Der Dauerschaden läßt sich in diesen Fällen i . d . R . schon nach Abschluß der Behandlung bestimmen. So wird z.B. der Verlust einer H a n d mit 55 % bewertet. Der Verlust des rechten wie des linken Daumens wird jeweils mit 2 0 % , der Verlust eines Zeigefingers mit 10 % , der Verlust eines der übrigen Finger wie der Verlust einer Großzehe mit 5 % bewertet. Bei Verlust oder Gebrauchsunfähigkeit von mehreren der vorgenannten Körperteile werden die Prozentsätze addiert. Ergibt die Addition mehr als 100 % , wird wie bei einer Vollinvalidität abgefunden. Bei Teilverlusten oder teilweiser Gebrauchsunfähigkeit von Gliedmaßen bzw. Sinnesorganen werden die angegebenen Werte entsprechend herabgesetzt. Die Teilbewertung ist dabei schwieriger als der volle Verlust. Sie
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Private Unfallversicherung
erfolgt nach funktionell-anatomischen Gesichtspunkten. Rechts oder links ist ebenso wie der Beruf des Versicherten nicht von Bedeutung. Die Minderung der Gebrauchsfähigkeit einer Gliedmaße wird nicht in Prozentsätzen, sondern in Bruchteilen angegeben. In der Praxis hat sich die Angabe in Zehntel bewährt; gebräuchlich sind aber auch 1/4, 1/3, 1/2, 2/3 oder 3/4 des jeweiligen Gliedwertes. Als Schadensregulierung ist eine einmalige Kapitalzahlung vorgesehen; bei Teilinvalidität wird anteilig die versicherte Summe ausgezahlt. Im Gegensatz zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit spielt der Beruf des Versicherten keine Rolle. Bewertet und abgefunden wird der eingetretene Dauerschaden; er umfaßt das, was sich längstens 3 Jahre nach dem Unfall feststellen läßt. Alle später möglichen oder wahrscheinlichen Verschlechterungen und Besserungen finden im Gegensatz zu der gesetzlichen Unfallversicherung keine Berücksichtigung.
7.2 Träger der Versicherung — versicherter Personenkreis — Aufbringung der Mittel Versicherer sind die in verschiedener Rechtsform bestehenden Versicherungsgesellschaften, soweit sie diese Art von Versicherung betreiben. Die Mittel werden durch die Beiträge der Versicherungsnehmer beschafft. Versicherungsnehmer sind die Personen, die mit dem Versicherer einen entsprechenden Vertrag geschlossen haben für die Dauer des Vertrages. Ein solcher Vertrag ist auch für die Versicherung von Unfällen möglich, die einem anderen als dem Versicherungsnehmer zustoßen. Voraussetzung für das wirksame Zustandekommen einer Unfallversicherung ist die Versicherungsfähigkeit des Versicherungsnehmers. Nicht versicherungsfähig sind Geisteskranke und Personen, die von schwerem Nervenleiden befallen sind. Weiterhin sind nicht versicherungsfähig Personen, die dauernd vollständig arbeitsunfähig sind. Vollständige Arbeitsunfähigkeit liegt vor (§ 5, Abs. 1 AUB), wenn der Versicherte infolge Krankheit oder Gebrechen außerstande ist, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Diese nicht versicherungsfähigen Personen sind trotz Beitragszahlung nicht versichert. Soweit Versicherte nach Vertragsschluß versicherungsunfähig werden, erlischt der Versicherungsschutz.
7.3 Versicherungsfall Versicherungsschutz wird gegen die Folgen der dem Versicherten während der Vertragsdauer zustoßenden Unfälle gewährt. Im Gegensatz zur gesetzlichen Unfallversicherung sind also auch Unfälle des täglichen Lebens einbegriffen; ein Zusammenhang mit einer bestimmten Tätigkeit oder Verrichtung ist nicht erforderlich. Der Begriff des Unfalls ist in § 1 Abs. III der AUB definiert und lautet:
Versicherungsfall
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„ E i n Unfall liegt vor, wenn der Versicherte durch ein plötzlich von außen auf seinen K ö r p e r wirkendes Ereignis unfreiwillig eine G e s u n d h e i t s s c h ä d i g u n g erleidet."
Außerdem ist bestimmt, daß unter den Versicherungsschutz fallen a) durch plötzliche Kraftanstrengungen des Versicherten hervorgerufene Verrenkungen, Zerrungen und Zerreißungen, b) Wundinfektionen, bei denen der Ansteckungsstoff durch eine Unfallverletzung im Sinne der Definition des Begriffs „ U n f a l l " in den Körper gelangt ist. Unter den Versicherungsschutz fallen nicht: a) Berufs- und Gewerbekrankheiten b) Erkrankungen infolge psychischer Einwirkung c) Vergiftungen infolge Einführung fester oder flüssiger Stoffe durch den Schlund, Malaria, Flecktyphus und sonstige Infektionskrankheiten, Gesundheitsschädigungen durch energiereiche Strahlen mit einer Härte von mindestens 100 Elektronenvolt, durch Neutronen jeder Energie und durch künstlich erzeugte ultraviolette Strahlen und durch Laser- oder Maserstrahlen, Gesundheitsschädigungen durch Licht, Temperatur und Witterungseinflüsse. In solchen Fällen besteht Versicherungsschutz dann, wenn es sich um Folgen eines unter die Versicherung fallenden Unfallereignisses handelt. Dabei gilt die Entstehungsursache der Infektionskrankheit selbst nicht als Unfallereignis. Eine Reihe von Tatbeständen werden von der Versicherung ausgeschlossen, wie Unfälle durch Kriegsereignisse o.ä., Unfälle bei der vorsätzlichen Ausführung von Verbrechen und Vergehen, Operationen, soweit nicht durch ein Unfallereignis veranlaßt, Unfälle infolge von Schlaganfällen und Krampfanfällen, die den ganzen Körper ergreifen, von Geistes- oder Bewußtseinsstörungen einschließlich solcher, die durch Trunkenheit verursacht sind, soweit diese Anfälle oder Störungen nicht durch ein unter die Versicherung fallendes Unfallereignis hervorgerufen worden sind. Der Versicherte muß den Unfall unfreiwillig erleiden. Vorsätzlich zugefügte Verletzungen, wie Selbstbeschädigung, Selbstmord usw. sind daher keine Unfallereignisse im Sinne der Unfallversicherungsbedingungen. Hierzu ist aber das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Versicherungsvertrag vom 30. 6. 1967 von Bedeutung, durch das indas Versicherungsvertragsgesetz § 180 a eingefügt worden ist. Dieser lautet: „ H ä n g t die Leistungspflicht des Versicherers d a v o n ab, daß der Betroffene unfreiwillig eine Gesundheitsbeschädigung erlitten hat, s o wird die Unfreiwilligkeit bis z u m Beweise des Gegenteils vermutet. Auf eine Vereinbarung, durch die von den Vorschriften des A b s a t z e s 1 zum Nachteil des Betroffenen abgewichen wird, k a n n sich der Versicherer nicht b e r u f e n . "
Der Versicherer muß demnach beweisen, daß die erlittene Gesundheitsbeschädigung nicht unfreiwillig war.
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Private Unfallversicherung
Auch im Bereich der privaten Unfallversicherung wird der Gutachter sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob bei den Unfallfolgen andere mitwirkende Faktoren von Bedeutung sind. Wenn bei den Unfallfolgen Krankheiten oder Gebrechen mitgewirkt haben, so ist nach den AUB die Leistung aus der Unfallversicherung entsprechend dem Anteil dieser Krankheiten oder Gebrechen zu kürzen. Der Anteil muß aber mindestens 25 v.H. betragen. Handelt es sich um Blutungen aus inneren Organen oder um Gehirnblutungen, so leistet der Versicherer nur dann, wenn für diese Schäden die überwiegende Ursache ein Versicherungsfall, nicht aber eine innere Erkrankung oder ein Gebrechen gewesen ist. Bauch- oder Unterleibsbrüche werden nur dann entschädigt, wenn sie durch eine gewaltsame, von außen kommende Einwirkung entstanden sind. Die Entschädigung von Unfallneurosen, d.h. von psychischen oder nervösen Störungen, die im Anschluß an einen Unfall eintreten, werden anders als in der gesetzlichen Unfallversicherung behandelt. Solche Störungen werden nur dann entschädigt, wenn sie auf eine durch den Unfall verursachte organische Erkrankung des Nervensystems oder auf eine durch den Unfall neu entstandene Epilepsie zurückzuführen sind.
7.4 Leistungen Die private Unfallversicherung kennt nur Geldleistungen. Ihre Höhe hängt von der bei Abschluß der Versicherung vereinbarten Entschädigungssumme und von dem Umfang der Unfallfolgen ab. Die Todesfallentschädigung wird durch die versicherte Todesfallsumme bestimmt. Bei der sogenannten Invaliditätsentschädigung, d.h. also bei Leistungen wegen einer Beeinträchtigung infolge eine Unfalls, wird die Ganzinvalidität und die Teilinvalidität unterschieden. Dabei werden die folgenden durch die allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen bestimmten Invaliditätsgrade angenommen. Diese lauten: a) bei Verlust eines Armes im Schultergelenk eines Armes bis oberhalb des Ellenbogengelenkes eines Armes unterhalb des Ellenbogengelenkes einer Hand im Handgelenk eines Daumens eines Zeigefingers eines anderen Fingers b) bei Verlust eines Beines über Mitte des Oberschenkels eines Beines bis zur Mitte des Oberschenkels eines Beines bis unterhalb des Knies eines Beines bis zur Mitte des Unterschenkels eines Fußes im Fußgelenk
v.H. 70 65 60 55 20 10 5 70 60 50 45 40
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Verfahren
einer großen Zehe einer anderen Zehe eines Auges des Gehörs auf einem Ohr des Geruchs des Geschmacks
5
2 50 30 10 5
Die vollständige Gebrauchsunfähigkeit eines Körperteils oder Sinnesorgans hat den gleichen Invaliditätsgrad wie der Verlust. Handelt es sich um einen teilweisen Verlust oder eine teilweise Gebrauchsunfähigkeit, so wird der entsprechende Teil des Satzes angenommen. Soweit sich der Invaliditätsgrad nicht nach den festen Sätzen bestimmten läßt, ist bei der Bemessung des Invaliditätsgrades in Betracht zu ziehen, inwieweit der Versicherte imstande ist eine Tätigkeit auszuüben, die seinen Kräften und Fähigkeiten entspricht und die ihm unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufes zugemutet werden kann. Insoweit kann also der individuelle Zustand des Versicherten bei der an sich abstrakten Schadensbemessung eine Rolle spielen. Grundsätzlich aber kommt es nicht auf die konkreten Berufs- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten an, sondern es ist die durch die Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen gesetzte abstrakte Bemessung vorzunehmen. Bei der Ganzinvalidität erhält der Versicherte die volle, bei Teilinvalidität den dem Grade der Invalidität entsprechenden Teil der Versicherungssumme für den Invaliditätsfall. Wenn aber ein Unfall innerhalb eines Jahres vom Unfalltag an gerechnet zum Tode führt, so wird als Entschädigung nur die versicherte Todesfallsumme geleistet. Die als dauernde Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit bezeichnete Invalidität als Unfallfolge muß innerhalb eines Jahres vom Unfalltage an gerechnet eingetreten sein. Bei der Bemessung der Invalidität sind Krankheiten oder Gebrechen, die den Versicherten in seiner Arbeitsfähigkeit dauernd behindert haben, einzubeziehen. In diesem Falle wird von der nach dem Unfall vorhandenen Gesamtinvalidität ein Abzug gemacht, der der schon vorher vorhanden gewesenen Invalidität entspricht. Auch diese wird nach den Grundsätzen, die oben dargelegt wurden, bemessen. Neben der Entschädigung für Todesfall und Invalidität können auch Tagegelder- und Heilkostenversicherungen abgeschlossen werden.
7.5 Verfahren Der Versicherte hat gegenüber dem Versicherer bei Eintritt eines Unfalls verschiedene Verpflichtungen. Er muß einen Unfall, der voraussichtlich eine Entschädigungspflicht herbeiführt, unverzüglich anzeigen. Falls der Tod Folge eines Unfalls ist, muß die Anzeige spätestens innerhalb von 48 Stunden telegraphisch erfolgen. Der Versicherte muß spätestens am 4. Tage nach dem Unfall einen Arzt zuziehen, ferner muß er sich
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Private Unfallversicherung
der ärztlichen Behandlung bis zum Abschluß des Heilverfahrens regelmäßig unterziehen. Er muß für angemessene Krankenpflege und nach Möglichkeit für Abwendung und Minderung der Unfallfolgen sorgen. Er ist verpflichtet, entsprechende Vordrucke im Versicherungsfall auszufüllen (Schadenanzeigen) und alle verlangten sachdienlichen Auskünfte zu erteilen. Den behandelnden Arzt muß der Versicherte von der Schweigepflicht entbinden und alle mit dem Unfall beschäftigten Stellen ermächtigen, dem Versicherer auf Verlangen Auskunft zu erteilen. Außerdem ist der Versicherte verpflichtet, den vom Versicherer bezeichneten Arzt zur Untersuchung aufzusuchen. Der Versicherer seinerseits ist verpflichtet, sich spätestens innerhalb eines Monats darüber zu erklären, ob er den Anspruch auf die Todesfallsumme, Tagegeld oder Heilkosten und wieweit er ihn anerkennt. Bei der Invaliditätsentschädigung beträgt diese Frist 3 Monate. Bei Meinungsverschiedenheiten über Art und Umfang der Unfallfolgen oder darüber, ob und in welchem Umfang der eingetretene Schaden auf den Versicherungsfall zurückzuführen ist, sind zwei Verfahrensarten denkbar. Der Versicherte kann Klage vor den ordentlichen Gerichten erheben oder eine Entscheidung des Ärzteausschusses beantragen. Der Ärzteausschluß setzt sich aus zwei Ärzten zusammen, von denen jede Partei einen benennt, außerdem einem Obmann, der von den beiden, von den Parteien benannten Ärzten gewählt wird und ein auf dem Gebiet der Unfallbegutachtung erfahrener Arzt sein soll. Wenn die von den Parteien in den Ärzteausschuß gewählten Ärzte nicht binnen einem Monat zu einer Einigung über den Obmann gelangen, wird dieser auf entsprechenden Antrag einer Partei von dem Vorsitzenden der örtlich zuständigen Ärztekammer benannt. Die Entscheidung des Ärzteausschusses ist für die Vertragsteile bindend. In Fällen, die nicht Meinungsverschiedenheiten über Art und Umfang der Unfallfolgen oder darüber betreffen, ob und in welchem Umfang der eingetretene Schaden auf den Versicherungsfall zurückzuführen ist, ist für eine Entscheidung das ordentliche Gericht anzurufen.
Teil 2
Medizinische Gesichtspunkte der Unfallbegutachtung
1.
Allgemeines
1.1 Gutachtertätigkeit des Arztes Die Unfallbegutachtung steht mit der Fürsorge um unsere Unfallversicherten in einem engen Zusammenhang. Sie hat die wichtige Aufgabe, die Beweisgrundlagen für rechtliche Entscheidungen zu schaffen. Die Entschädigungsansprüche der Verletzten wegen Unfallfolgen an die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung oder sonstige Stellen müssen objektiviert, als faßbare Funktionseinbußen herausgearbeitet und nach übergeordneten Prinzipien adäquat bemessen werden. Die gutachterliche Tätigkeit wird von vielen Ärzten oft als wesensverschieden von ihren beruflichen, kurativ ausgerichteten Beziehungen zu einem Verletzten empfunden. Es gibt jedoch bei der Ausdehnung der Sozial- und Privatversicherung heute wohl kaum noch einen Arzt, der nicht auch gutachterlich für seine eigenen Patienten eintreten müßte. Der Arzt muß nicht nur eine zutreffende Krankheitsbezeichnung ermitteln, er muß aus den medizinischen Sachverhalten zudem schlüssige Beurteilungen ableiten. Das Unbehagen, Unfallfolgen auf meßbare und damit vergleichbare Größen zu reduzieren beruht auf mißverstandener ärztlicher Ethik und mangelndem Rechtsverständnis für versicherungsrechtliche Zusammenhänge. Wenn ärztlicherseits bedacht wird, daß die eingeforderten gutachterlichen Äußerungen zur Prüfung von Schadenersatzansprüchen der Patienten für die Folgen von Unfällen erforderlich sind, dann wird den Ärzten auch diese Seite ihrer Tätigkeit nicht als wesensverschieden von ihren sonstigen gesellschaftspolitischen Aufgaben im Dienst ihrer Mitmenschen erscheinen können.
1.2 Rechtliche Stellung des Gutachters und seine Aufgaben Der Gutachter hat nach dem Gesetz die Stellung eines „Gehilfen", allerdings eines unentbehrlichen. Er entscheidet also niemals selbst und er ist auch in keiner Weise persönlich an der Entscheidung der Verwaltungen oder Gerichte beteiligt. Er hat nur die Aufgabe, der in der Sache entscheidenden Stelle (Rentenausschuß, Gericht) durch seine sachverständigen Darlegungen die für die Rechtsfindung erforderlichen Grundlagen zu liefern. Nur diese Stellen allein - nicht etwa der Gutachter - tragen auch die Verantwortung für die jeweilige Entscheidung. Die oft tiefgreifenden Auswirkungen, die diese Entscheidungen in menschlicher, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht für den Betroffenen haben können, sollten es jedem Gutachter - schon im wohlverstandenen eigenen Interesse - verbieten, irgend-
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Allgemeines
wie durch gefühlsbetonte Äußerungen Einfluß auf die Entscheidung zu nehmen, ganz abgesehen davon, daß er durch einen solchen Versuch gegen das oberste Gesetz strengster Unparteilichkeit verstoßen würde. Als ein solcher Verstoß gilt auch die Erteilung von Ratschlägen in Rechtsfragen an seine Gutachterpatienten, die sich auf den vorliegenden Begutachtungsfall beziehen. Nach den schon mehrfach zitierten „Hinweisen für die Erstattung von Berichten und Gutachten" darf der Gutachter dem untersuchten Verletzten die Minderung der Erwerbsfähigkeit, die er in seinem Gutachten vorschlägt, nicht mitteilen. Im Falle einer durchaus legitimen Abweichung der Entscheidungsgremien nämlich entstehen Unzufriedenheit, Verständnislosigkeit und Verbissenheit, mit der dann oft überflüssige und sinnlose Verfahren in Gang gesetzt und über Jahre durch die Instanzen meist erfolglos hindurchgezogen werden. Der Gutachter soll den Dingen völlig unpersönlich und unvoreingenommen gegenüber stehen und jede gefühlsmäßige Einstellung vermeiden. An seiner Unparteilichkeit darf auch nicht der leiseste Zweifel bestehen. Er soll sich ferner immer genau und in reiner Sachlichkeit an den ihm erteilten Auftrag halten und es unterlassen, sich in seinem Gutachten mit fachfremden Dingen zu befassen, wie zum Beispiel der Diskussion versicherungsrechtlicher Fragen. Damit dient er der Sache und sich selbst am besten.
1.3 Formulierung der Gutachten Genauigkeit in der Formulierung der Gutachten und präzise Schlüsse sind unabdingbar. Wenn gutachtliche Stellungnahmen in schwierigen Fällen nicht sicher zu treffen sind, weil eben sichere Forschungsergebnisse fehlen oder wenn es um streitige Annahmen oder Feststellungen geht, dann muß in solchen Fällen hilfsweise auf die Wahrscheinlichkeit zurückgegriffen werden. Beispielsweise wird die Feststellung eines ursächlichen Zusammenhangs nicht immer mit einer jeden Zweifel ausschließenden vollkommenen Sicherheit möglich sein. Deshalb fordert die Rechtssprechung für die Annahme eines ursächlichen Zusammenhanges keine absolute Sicherheit, sondern sowohl im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung als auch der Bundesversorgung das Vorliegen einer Wahrscheinlichkeit. Das bedeutet: bei vernünftiger Abwägung aller für und gegen den Zusammenhang sprechenden Umstände müssen die für den Zusammenhang sprechenden Erwägungen überwiegen. Die dagegen sprechenden Überlegungen treten in ihrer Bedeutung für die Bildung und Rechtfertigung der Überzeugung weitgehend zurück, eine „überwiegende" oder „mit an Sicherheit grenzende" Wahrscheinlichkeit ist nicht erforderlich; solche Formulierungen müssen unterbleiben. Von der Wahrscheinlichkeit ist die bloße Möglichkeit zu unterscheiden, die zur Annahme des ursächlichen Zusammenhanges nicht ausreicht (s. dazu Teil 1, Abschnitt 2.4.2 u. 5.4.1). Letztlich braucht der Richter für seine Entscheidung eine feste Grundlage.
Befunderhebung
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Das Gutachten soll dem neuesten Stand medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse und den Erfahrungen der Praxis entsprechen. Anstelle der medizinischen und der wissenschaftlichen Fachausdrücke verwende man soweit wie möglich die leichtverständlichen deutschen Bezeichnungen. Eine Vereidigung der Sachverständigen ist im Verwaltungsverfahren der Gesetzlichen Unfallversicherung nicht vorgesehen, wohl aber vor Gericht. Von diesem kann der Arzt als Zeuge, sachverständiger Zeuge oder Sachverständiger vernommen werden.
1.4 Befunderhebung Eine genaue und vollständige Befunderhebung ist für die Beurteilung von größter Wichtigkeit. Gutachten, die diesen Erfordernissen nicht entsprechen, sind deshalb allein schon aus diesem Grunde nicht verwertbar. Ergibt die Nachprüfung eines Gutachtenvorbefundes die Richtigkeit desselben, dann ist durch diese Bestätigung des Befundes dem Versicherten und der Sache mehr gedient, als durch gelegentlich unsachliche Äußerungen gegen Vorgutachter. Grundlage der gutachterlichen Schätzung ist allein der Befund und nicht der Fall an sich. Er muß daher plastisch, nachvollziehbar, aussagefähig und begründend sein. Oft steht die Dürftigkeit des Befundes in einem krassen Widerspruch zum angesetzten Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Es ist weder die befundmäßige Individualität des Einzelfalles gewahrt, noch eine befundrelevante Schätzung dokumentiert. Natürlich kann man einen Beinverlust im Oberschenkel ohne viele Worte richtwertweise schätzen. Man kann aber auch durch Beschreibung der Stumpfbeschaffenheit, der Narben, des Weichteilmantels und der Protheseneignung des Stumpfes seine richtwertmäßige Schätzung belegen oder durch Herausstellen von flächenhaften eingezogenen Narben, Stumpfneuromen und Durchspießung des Knochenstumpfes durch den Muskelmantel eine höhere Schätzung als den Richtwert mühelos begründen. Ein nachvollziehbarer Befund ist allgemein und mit sich selbst vergleichbar. Diese Voraussetzung ist eminent wichtig für Befundüberprüfungen anläßlich gutachterlicher Nacherhebungen zum Zwecke eines Besserungs- oder Verschlimmerungsnachweises. Denn nur die festgestellte Befunddifferenz begründet eine Abweichung von der Vorschätzung, die im Regelfalle immer als Bezugsgröße bzw. geschützte Vorgabe versicherungsrechtlich gilt. Die Gesetzliche Unfallversicherung sieht nämlich eine vorgabefreie Schätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nur zweimal vor: 1. bei der Ersteinschätzung überhaupt anläßlich der Erstfestsetzung einer vorläufigen Rente 2. bei Bewertung anläßlich der Festsetzung der ersten Dauerrente, bei der auf einen Befundänderungsnachweis bewußt verzichtet wird, um eine befundgerechte Bemessungskorrektur zu ermöglichen.
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Allgemeines
Liegt bei den sonstigen Schätzungen nur ein dürftiger Bezugsbefund vor, so kann der erforderliche Änderungsnachweis nicht geführt werden und der Rentensatz muß verbleiben selbst dann, wenn er dem Unfallfolgezustand längst nicht mehr entspricht. Die Befunderhebung ist das Kernstück jeder Begutachtung. Sie weist den Meister aus nicht durch eine markig knappe Form der Aufzählung unfallbedingter Auffälligkeiten, sondern durch die Vollständigkeit der Erfassung aller überhaupt möglichen Veränderungen einschließlich Normvarianten. In diesem Zusammenhang kommt den sonst im klinischen Alltag nicht üblichen Negativfeststellungen eine hohe Ausschlußkraft zu (z.B. keine Krampfadern, keine Gefühlsstörungen, keine Fehlbeschwielung usw.). Sie dokumentieren den Gedankengang bei der Befunderhebung und damit den Weitblick des Gutachters.
1.5 Entgegengesetzte Meinungen der Sachverständigen Die schwierigen medizinischen Sachverhalte bringen es mit sich, daß Gutachter zu verschiedenen, oft stark voneinander abweichenden Meinungen zu denselben Fragen kommen. Dies hängt mit der beruflichen Erfahrung, dem Spezialgebiet, der fachlichen Belesenheit und dem Wissensstand des Gutachters zusammen. Häufig sind die Differenzen einfach in der Verletzung elementarer Gutachterpflichten begründet. Exaktheit der Befunderhebung, der Einsatz objektiver Untersuchungs- und Meßverfahren sowie sachkundige Befundwertung ermöglichen erst eine korrekte und unangreifbare Aussage. Schon allein durch die vollständige Erfassung aller wichtigen Befunde wird eine andere Einschätzung begründet und rechtfertigt. Wird aber unstreitig derselbe Befund anders bewertet, so bedarf die abweichende Wertung einer eingehenden Erläuterung und Begründung. Dabei gebührt absoluter Vorrang sachlicher und fachkundiger Argumentation bei der Auseinandersetzung mit der Meinung der Vorgutachter. Zwangsläufig muß dabei die Ebene persönlicher Meinungen und anderweitig unbelegter Eigenerfahrungen der Sachverständigen verlassen werden. Fachkundige Heranziehung einschlägiger Literatur als Beleg für das Für und Wider der eigenen Einschätzung entzieht jeglicher Spekulation den Boden und baut die Beurteilung auf integren Fakten auf. Es ist oft erstaunlich, wie vieles bereits in der Literatur bekannt ist und wie viele Probleme sich dadurch souverän lösen lassen. Natürlich ist eine in dieser Weise qualifizierte Auseinandersetzung arbeitsaufwendiger und damit unbequemer als eine bloße Meinungsäußerung. Sie dient aber dem Ansehen des Gutachters und vor allem der Sache selbst.
Fehler und Irrtümer im Gutachten
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1.6 Untersuchung des Verletzten für die Begutachtung Der beauftragte Gutachter muß die Kernverrichtungen jeder Begutachtung selbst durchführen. Dazu gehört vor allem die persönliche Untersuchung des Verletzten. Diese Grundforderung ist unerläßlich. Sie sollte für jeden Gutachter etwas Selbstverständliches sein. Auch die Konzeption des Gutachtens, die Wertung der Befunde und die gutachterliche Gesamtbeurteilung müssen von ihm selbst stammen. Die für die Erstellung seines Gutachtens erforderlichen Spezialuntersuchungen und -arbeiten darf er auf entsprechend befähigte Mitarbeiter übertragen, die Verantwortung hierfür verbleibt dennoch bei ihm selbst. Soweit sich die delegierten Untersuchungen auf Speziallabors oder untersuchungsspezifisches Fachpersonal beschränken, wird niemand dagegen etwas einwenden. Es ist aber unerwünscht und unzweckmäßig, die für den Laien sichtbaren wichtigen Untersuchungsgänge nicht selbst auszuführen, weil dies häufig Anlaß zu gerichtlichen Auseinandersetzungen gibt. Denn die Verletzten begründen ihre Einsprüche gegen Rentenbescheide oft damit, daß sie einige von dem im Gutachten genannten Ärzten überhaupt nie gesehen hätten. Beim Auftraggeber stößt es zudam auf Unverständnis, wenn ein Gutachter, dessen eigene Ansicht man ja gerade hören wollte, nun bei der Begutachtung nur als Nebenperson erscheint. Das Gutachten muß immer erkennen lassen, daß der beauftragte Gutachter den Verletzten persönlich untersucht und sich dadurch ein Urteil gebildet hat etwa durch die Formulierung: „Einverstanden aufgrund persönlicher Untersuchung und eigener Urteilsbildung".
Die Unterschrift des beauftragten Gutachters allein oder mit dem Zusatz „Einverstanden" genügt nicht.
1.7 Personenverwechslungen bei der Untersuchung Es kann vorkommen, wenn auch nur ganz vereinzelt, daß die zur Begutachtung erscheinende Person mit der versicherten Person nicht identisch ist. Es kann jedoch nicht die Aufgabe eines Gutachters sein, sich jedesmal durch Prüfung der Ausweispapiere Sicherheit über die Personenidentität zu verschaffen. Bei einem Verdacht auf Verwechslung oder Täuschung sollte dies im Gutachten vermerkt werden.
1.8 Fehler und Irrtümer im Gutachten Für die Auswirkungen eines durch Fahrlässigkeit fehlerhaft oder unrichtig erstatteten Gutachtens haftet der Gutachter in der Regel nicht. So hat der Bundesgerichtshof in einem — in der Literatur allerdings kritisierten - Urteil vom 18.12.1973 festgestellt, daß der gerichtliche Sachverständige „in der Regel nicht von dem Verfahrensbeteiligten, zu dessen Nachteil sich das Gutachten ausgewirkt hat, mit der Behauptung, er
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Allgemeines
habe sein Gutachten fahrlässig unrichtig erstattet, auf Ersatz in Anspruch genommen werden" kann. Eine Haftung des Sachverständigen könne bei Unrichtigkeit seines Gutachtens, die auf grober Fahrlässigkeit beruht, dann in Betracht kommen, wenn er mit einer Rechts- oder Rechtsgutverletzung oder einer sonstigen Schädigung gerechnet und diese billigend in Kauf genommen hat (Neue Juristische Wochenschrift 1974 Seite 312 ff und 556 f). Hierzu sei auch noch auf § 278 des Strafgesetzbuches hingewiesen. Er lautet: „ Ä r z t e und andere approbierte Medizinalpersonen, welche ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft wider besseres Wissen ausstellen, werden mit Freiheitsstrafen bis zu zwei J a h r e n oder mit Geldstrafe b e s t r a f t . "
1.9 Die Würdigung der Beweiskraft Die Würdigung der Beweiskraft eines Gutachtens ist Sache der zuständigen Verwaltung und letzten Endes des Richters. Es ist dem freien Ermessen dieser Stellen überlassen, inwieweit sie den Ausführungen des Gutachters folgen wollen. Im Streitverfahren kann der Versicherte die Anhörung eines bestimmten ärztlichen Gutachters verlangen, muß aber unter Umständen die dadurch entstandenen Kosten vorschießen und selber tragen (§109 Absatz 1 Sozialgerichtsgesetz). Wie bereits erwähnt, dienen hinsichtlich der Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit die ärztlichen Beurteilungen nur als Anhalt für die gerichtseigene Schätzung.
1.10 Allgemeine Form des Gutachtens Schriftliche Gutachten sowie Berichte und Stellungnahmen sind nur in Maschinenschrift zu erstatten. Dies ist aus Gründen der Klarheit und Übersicht erforderlich, weil Handgeschriebenes oft nur schwer lesbar ist und dadurch leicht Schwierigkeiten bzw. Mißverständnisse entstehen können. Es empfiehlt sich, von allen Schriftstücken einen Durchschlag in den eigenen Akten des Gutachters zu behalten. Bei der Formulierung aller schriftlichen Gutachten und Äußerungen (auch im Krankenblatt) ist stets zu beachten, daß diese Schriftstücke in einem Streitverfahren dem Verletzten oder seinem Rechtsvertreter unmittelbar durch das Recht der Akteneinsicht bekannt werden, oder aber mittelbar durch Anforderung einer Abschrift oder Ablichtung, die er von dem Versicherungsträger verlangen kann. Diejenigen Stellen in den Akten, die sich nicht zur Bekanntgabe an den Versicherten eignen, wie z.B. über einen ungünstigen Heilverlauf oder eine ungünstige Prognose, sind in geeigneter Weise durch einen Sperrvermerk des Gutachters zu kennzeichnen
Auskunftspflicht des Arztes
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(z.B. durch Einklammerung mit Farbstift oder durch darüber geklebte schmale Papierklappen). Die Sperrung m u ß begründet werden. Das Gutachten ist allein für den Auftraggeber bestimmt. Der Gutachter darf dem Untersuchten von sich aus dieses Gutachten nicht zugänglich machen oder sich ihm gegenüber zu der eigenen Auffassung zu äußern. Das überlasse man den zuständigen Stellen, die letztlich die Entscheidung fällen (vergi, dazu auch Teil 2, 1.2).
1.11 Ausstellung von Bescheinigungen und Zeugnissen Bescheinigungen und Zeugnisse, die ein Arzt den Patienten ausstellt, müssen besonders dann zurückhaltend und vorsichtig abgefaßt sein, wenn dem Arzt die Leidensvorgeschichte und der Inhalt etwa vorhandener Akten nicht genau bekannt sind. Der Arzt sollte sich in derartigen Attestfällen streng darauf beschränken, seinen eigenen Befund kurz mitzuteilen. Der vom Patienten angegebene Verwendungszweck ist in dem Attest immer zu vermerken. Das ist erforderlich, weil die oft sehr verschiedenartigen Verwendungsmöglichkeiten solcher Atteste einen Mißbrauch nicht ausschließen und sich im voraus meist nicht übersehen lassen. Z u den Fragen einer etwaigen Minderung der Erwerbsfähigkeit oder gar eines ursächlichen Zusammenhanges sollte sich der Arzt, wenn überhaupt, nur äußerst vorsichtig und zurückhaltend äußern.
1.12 Auskunftspflicht des Arztes Die gegenüber den zuständigen Unfallversicherungsträgern nach § 1543 d R V O bestehende Auskunftspflicht des Arztes über einen von ihm behandelten Unfallverletzten wurde eingangs bereits erörtert, ebenso wie die auf dieser Vorschrift beruhende vertragliche Auskunftspflicht nach Leit-Nr. 63 des Abkommens Ärzte/Unfallversicherungsträger (s. Teil 1.1 Allgemeines). Gleiche Auskunfts- und Mitteilungspflichten bestehen auch im Verhältnis der Ärzte zur Krankenversicherung (§368 bis 373 RVO), z.B. die Mitteilung über Behinderte zur Sicherstellung von M a ß n a h m e n der Rehabilitation (§ 368 s RVO), weiterhin z. B. Meldungen nach dem Bundesseuchengesetz. Erteilt der Arzt die Auskunft schuldhaft nicht, nicht rechtzeitig, nicht richtig oder nicht vollständig, so handelt er ordnungswidrig und kann mit einer Geldbuße belegt werden (§ 1543d RVO). Die Auskunftspflicht bezieht sich nicht nur auf eine etwa zur Zeit laufende Behandlung, sondern sie erstreckt sich auch auf die Behandlung in zurückliegenden Jahren. Das gilt auch für die Übersendung von R ö n t g e n a u f n a h m e n und Krankenblattunterla-
Allgemeines
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gen. Statt der Urschriften k ö n n e n Kopien eingereicht w e r d e n . Die d a d u r c h entstehenden Kosten werden immer voll erstattet. Wenn die gesetzten Fristen aus triftigen G r ü n d e n nicht eingehalten w e r d e n k ö n n e n , m u ß unter Angabe der H i n d e r u n g s g r ü n de rechtzeitig, d. h. so früh wie es nach den besonderen U m s t ä n d e n des Falles möglich ist, Fristverlängerung beantragt werden. Es dient der A c h t u n g vor dem gesamten Ärztestand u n d d e m Ansehen des einzelnen Arztes, w e n n solche A n f r a g e n , die auch im Interesse des Versicherten ergehen, i m m e r u m g e h e n d u n d erschöpfend b e a n t w o r t e t w e r d e n . Die in § 1 5 4 3 d R V O vorgeschriebene Auskunftspflicht w i r d durch die allgemeine Regelung der Auskunftspflicht im Bereich der sozialen Sicherheit in § 100 Sozialgesetzbuch X — Verwaltungsverfahren - nach allgemeiner Auffassung nicht berührt. Sie ist aber f ü r a n d e r e im § 1543 d R V O nicht e r f a ß t e T a t b e s t ä n d e ärztlicher A u s k u n f t s e r teilung von Bedeutung. In der g e n a n n t e n Vorschrift ist nicht nur f ü r Ärzte, sondern auch f ü r Angehörige anderer Heilberufe bestimmt, d a ß dem Sozialleistungsträger im Einzelfall auf Verlangen A u s k ü n f t e zu erteilen sind, soweit sie f ü r die D u r c h f ü h r u n g von dessen A u f g a b e n erforderlich sind u n d 1. die Auskunftserteilung gesetzlich zulässig ist oder 2. der Betroffene im Einzelfall schriftlich — unter besonderen U m s t ä n d e n auch in anderer F o r m - eingewilligt hat. Es k ö n n e n A u s k ü n f t e verweigert werden, deren B e a n t w o r t u n g dem Arzt die G e f a h r zuziehen w ü r d e , wegen einer Straftat oder O r d n u n g s w i d r i g k e i t verfolgt zu w e r d e n . Sowohl der G u t a c h t e r als auch der u m A u s k u n f t ersuchte Arzt sollten, sofern nicht schwerwiegende Sachverhalte dagegen sprechen, d a v o n ausgehen k ö n n e n , d a ß das Auskunftsverlangen eines Unfallversicherungsträgers rechtmäßig ist u n d der Schutz der Sozialdaten den gesetzlichen Vorschriften entsprechend g e w a h r t ist.
1.13 Schweigepflicht des Arztes Die ärztliche Schweigepflicht, d. h. der Schutz des persönlichen Lebens — und Geheimbereichs vor u n b e f u g t e r O f f e n b a r u n g , ist in den ärztlichen Berufsordnungen festgelegt. Dieser persönliche Bereich ist auch strafrechtlich geschützt. § 203 Strafgesetzbuch (StgB) bestimmt: „Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis offenbart, das ihm als 1. Arzt, 2.
Zahnarzt,
3. Tierarzt, 4. Apotheker oder Angehöriger eines anderen Heilberufes, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert,
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Sachkunde und Gutachternachwuchs 2.-6.... anvertraut ist oder sonst bekannt geworden mit Geldstrafe bestraft".
ist, wird mit Freiheitsstrafe
bis zu einem Jahr
oder
Ist der Arzt verstorben, so steht ihm in der Verpflichtung zur Geheimhaltung derjenige gleich, der das Geheimnis von dem Verstorbenen oder aus dessen Nachlaß erlangt hat. Die gesetzlichen Verpflichtungen zur Auskunftserteilung machen jedoch die Offenbarung befugt. Der Auskunft erteilende Arzt kann also weder standesrechtlich noch strafrechtlich belangt werden, weil diese Folgen nur den unbefugt Auskunft erteilenden Arzt treffen. Bei Begutachtung von Fällen, die nicht im Zuständigkeitsbereich von Sozialleistungsträgern liegen, ist dem Arzt allerdings zu empfehlen, sich von dem Betroffenen vor der Auskunftserteilung schriftlich von der Schweigepflicht entbinden zu lassen.
1.14 Anhörung der behandelnden Ärzte vor der ersten Rentenfestsetzung Bei Unfallverletzten soll der behandelnde Arzt vor der ersten Rentenfestsetzung gehört werden (§ 1582 RVO), wenn aufgrund eines Gutachtens eines anderen Arztes die Entschädigung abgelehnt oder nur eine Teilrente gewährt werden soll. Auf Verlangen des Verletzten muß der behandelnde Arzt gehört werden. Es ist kein Gutachten erforderlich, vielmehr reicht ein Befundbericht aus. Die genannte Auskunftspflicht einerseits und das wissenschaftliche Interesse andererseits werden jeden Arzt von sich aus veranlassen, Angaben über Vorgeschichte, Befund und Behandlungsverlauf in ausreichendem Maße schriftlich festzuhalten und diese Aufzeichnungen (auch alle Röntgenbilder) mindestens 10 Jahre sorgfältig und sicher aufzubewahren und sie gegen Verlust und Mißbrauch zu schützen, soweit nicht längere Aufbewahrungsfristen vorgeschrieben oder vereinbart sind (z.B. gesetzlich nach der Röntgenverordnung 10 bis 30 Jahre nach der letzten Untersuchung bzw. Behandlung, z.B. vertraglich im Durchgangsarztverfahren 15, im Verletzungsartenverfahren 20 Jahre).
1.15 Sachkunde und Gutachternachwuchs Der Gutachternachwuchs sei auf folgendes hingewiesen: Wer als Gutachter tätig werden will, sollte ein gediegenes medizinisch-ärztliches Wissen und ein gutes fachliches Beurteilungsvermögen medizinischer Sachverhalte besitzen. Außerdem sollte er mit den wichtigsten versicherungsrechtlichen Bestimmungen hinreichend vertraut sein, weil er sonst nicht in der Lage ist, seinem Gutachten die erforderliche Beweiskraft zu verleihen.
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Allgemeines
1.16 Schwierige Krankheitsfälle In bestimmten Fällen kommt es vor, daß eine einmalige ambulante Untersuchung nicht ausreicht, um eine klare Einschätzung und Zuordnung sicher vorzunehmen. Dies gilt für einige seltene Krankheitsbilder oder aber bei Verdacht auf Selbstschädigungsmaßnahmen zum Zwecke der Vortäuschung gravierender Unfallfolgen (z.B. Aufkratzen von Narben oder Abschnürung eines Armes oder Beines zum Aufstau). In solchen Fällen ist eine längere stationäre Beobachtung erforderlich, deren Dauer nach dem jeweiligen Befund und der Fragestellung zu bemessen ist. Die während dieser Beobachtungszeit vom Patienten erhaltenen Angaben müssen ausführlich schriftlich festgehalten und dann anhand der Aktenunterlagen überprüfend gewürdigt werden. Besonders die Erhebung zur Vorgeschichte — auch über den Gesundheitszustand der Familie des Patienten — kann in solchen schwierigen Begutachtungsfällen wertvolle Aufschlüsse liefern.
1.17 Gebühren Die Fragen der Entschädigung des Gutachters sind für die Gesetzliche Unfallversicherung in verschiedenen „Abkommen", „Vereinbarungen" und „Hinweisen" geregelt. Diese sind in den einschlägigen Handbüchern über das ärztliche Gebühren- und Vertragsrecht nachzulesen. Es sind insbesondere die unter den Leit-Nr. 82—92 erfaßten Sachverhalte im Abkommen „Ärzte/Unfallversicherungsträger" die hier heranzuziehen sind. Bei Streitigkeiten über Gebührenfragen entscheidet die zuständige „Landesarbeitsgemeinschaft" (Leit-Nr. 105 ff. und der Schiedsvertrag zwischen den Partnern des Abkommens). Die Gebühren für Gutachten im Rahmen der Sozialgerichtsbarkeit richten sich nach dem „Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen" (aktueller Stand und Rechtsprechung bei Meyer/Höver). Gutachten für private Kostenträger, auch private Unfallversicherungen werden nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) bzw. nach besonderen Honorarverträgen berechnet.
1.18 Vordruckgutachten Es handelt sich um Gutachten, die in ihrer Form durch Standardvordrucke der Unfallversicherungsträger schematisch festgelegt sind. Sie erleichtern die Erstellung und Bearbeitung der Gutachten bei einfacher Sachlage des Regelfalles. Die einzelnen
Form des freien Gutachtens
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Punkte bzw. Fragen sollen klar dargestellt bzw. erschöpfend beantwortet werden. Die Formulare dürfen nicht zu unrichtigen oder unvollständigen Angaben verleiten. Es handelt sich um vollwertige Gutachten mit uneingeschränkter Wertigkeit. Fremdwörter und wissenschaftliche Fachausdrücke sollte man grundsätzlich meiden, damit der Text für jeden Beteiligten sprachlich nachvollziehbar wird. Das für den Fachsprachen gewohnten Kliniker anfänglich etwas befremdende Bemühen um eine stets klare und leicht verständliche deutsche Sprache erleichtert auf Dauer den Umgang mit den häufig fremden versicherungsrechtlichen Begriffen und verleiht ihm Sicherheit auf diesem Aufgabengebiet. Auf die Einhaltung der am Kopf des Vordruckes angegebenen Erledigungsfrist muß der Arzt im eigenen Interesse achten. Es können sehr schwerwiegende Haftpflichtansprüche bei Außerachtlassung dieser vertraglich (Ärzteabkommen) und gesetzlich festgelegten Bearbeitungsfristen entstehen. Man beachte auch hier die „Hinweise für die Erstattung von Berichten und Gutachten". Die Honorierung der Vordruckgutachten erfolgt nach festgelegten Gebührensätzen. Möchte der Arzt das Gutachten z.B. aus Platzgründen in freier Form erstatten, kann er dies unter Beachtung der im Vordruck genannten Fragen tun. Das Honorar ändert sich hierdurch nicht.
1.19 Form des freien Gutachtens Freie Gutachten sind in ihrer Form nicht durch Vordrucke festgelegt und damit in der Gestaltung frei. Je nach Schwierigkeitsgrad des Auftrages bzw. der Fragestellung und des Falles reicht ihr Inhalt von der Beurteilung einfacher Krankheiten und Zusammenhangs bis zu umfassenden Erörterungen wissenschaftlicher Standpunkte und Herausarbeitung vielseitiger, vielschichtiger und verwickelter Zusammenhänge oder gutachtenbezogene Aufarbeitung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Ihre Honorierung erfolgt innerhalb eines schwierigkeitsorientierten, vom jeweiligen Auftraggeber festgelegten Gebührenrahmens, bzw. nach Leit-Nr. 84—87 des Ärzteabkommens. Freie Gutachten, die sich zur Frage der Minderung der Erwerbsfähigkeit ohne weitere Erörterungen äußern sollen, werden zweckmäßig in allen medizinischen Fachgebieten nach folgendem Schema erstellt: 1. Kurze Vorgeschichte /Anknüpfungstatsachen 2. Derzeitige Beschwerden des Verletzten 3. Befund 3.1 Klinischer Befund 3.2 Klinische Spezialtests 3.3 Röntgenbefunde
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Allgemeines
3.4 Etwaige labortechnische Befunde (Blutbild, Harnstatus usw.) 4. Zusammenfassung und Beurteilung 5. Angabe der unfallunabhängigen Erkrankungen 6. Berufshilfe 7. Weitere Behandlungsmaßnahmen Bei einer Begutachtung zur Rentenfestsetzung nach Aktenlage entfallen die Punkte 2, 3 und 6.
Die formalen Voraussetzungen für ein freies Gutachten zur Frage des ursächlichen Zusammenhanges werden später besprochen. Die Vorgeschichte soll, falls es sich um das erste Gutachten nach Abschluß eines Heilverfahrens überhaupt handelt, kurzgefaßt sein. Der Sachverhalt ist von der Verwaltung vorzugeben; grundsätzlich ist der Gutachter nicht zur Sachverhaltsermittlung befugt. Im Einzelfall hat die Verwaltung bei voneinander abweichenden Darstellungen des Ereignisablaufes zu bestimmen, welche Schilderung dem Gutachten zugrundezulegen ist. Ergeben sich für den Arzt neue Gesichtspunkte, kann es der Sache dienlich sein, alternative Beurteilungen abzugeben. Enthalten die Akten keine oder unklare Ausgangstatsachen, die für die Beurteilung wesentlich sind, so hat der Gutachter die Verwaltung zur Vervollständigung anzuhalten. Die Vorgeschichte sollte immer die wichtigsten Daten enthalten wie: Hergang des Unfallereignisses und Entstehung der Verletzung, den ärztlichen Erstbefund und die komplette, ggf. im Verlauf des Heilverfahrens ergänzte Unfalldiagnose, den Verlauf des Heilverfahrens selbst, dessen Abschluß und den Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit. Unbedingt muß erwähnt werden, ob der Patient wegen früherer Unfälle oder wegen sonstiger Leiden eine Rente, auch im Ausland, erhalten hat oder noch bezieht. Ist die Vorgeschichte schon durch ein früheres Gutachten aktenkundig, dann kann dieser Punkt des Bearbeitungsschemas sich auf die Angaben zur Zwischenzeit beschränken. Die Eigenangaben des Verletzten über Art und Ausmaß seiner Beschwerden sind nicht selten unbeholfen und erfordern meist Zusatzfragen durch den Gutachter, um Wesentliches herauszustellen. Gelegentlich werden durch den Versicherten umfangreiche Beschwerdekomplexe vorgetragen, manchmal anhand von vorgefertigten Listen. Bei der endgültigen Niederlegung der Klageangaben kommt es auf die mit der Verletzung in weitgezogenem Rahmen zusammenhängenden Beschwerden an. Dabei obliegt es dem Gutachter, eine Ordnung in den Klagevortrag einzubringen, ohne den Inhalt und Aussagewert zu verfälschen. Aus den Klagen soll sich die funktionelle Behinderung ergeben. Eine in Gegenwart des Untersuchten formulierte Wiedergabe seines Vorbringens in der Ich-Form ist am unverfänglichsten. Sie kann wertfrei und wenn brauchbar wortgetreu den Klagevortrag bringen. Durch entsprechende Fragen gelenkt, soll der Untersuchte dabei ein aussagefähiges Bild über seine etwaigen Behinderungen erstellen. Er soll sagen, ob z.B. sein Hinken nach einer Beinverletzung durch Schmerzen, durch Beinschwäche oder durch eine Beinverkürzung oder aber Gelenksteife bedingt ist. Die Festlegung auf eingeschränkte funktionelle Abläufe ist wichtiger und sachdienlicher als die Beschreibung diffuser Schmerzen.
Form des freien Gutachtens
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In seltenen Fällen mag es geboten erscheinen, sich die Vollständigkeit der vorgebrachten Klagen in der Niederschrift durch Gegenzeichnung bestätigen zu lassen. Damit wird ein späterer Vorwurf vermieden, man habe als Gutachter nicht alles Vorgebrachte aufgeführt und berücksichtigt. Der Befund muß erschöpfend sein und alles Wesentliche enthalten. Er soll mit einer kurzen Wiedergabe des Allgemeinzustandes beginnen. Die eingehende Untersuchung unfallunbetroffener Organe und Körpergegenden und die langatmige Feststellung des dort erhobenen Befundes sind entbehrlich. Nur auftrage- bzw. sachrelevante Merkmale bedürfen der ausführlichen Darstellung. Neben den Folgen der Verletzungen sind auch die unabhängig vom Unfall bestehenden krankhaften Veränderungen aufzuzeigen. Diese Angaben müssen bei jeder Begutachtung neu erfaßt werden, weil zwischenzeitlich hinzugetretene Verletzungen oder Erkrankungen vom Unfallfolgezustand abgegrenzt sein müssen. Wie bereits unter Befunderhebung (1.4) ausgeführt, belegen sogenannte Negativfeststellungen die Vollständigkeit der gutachterlichen Untersuchung. Die Nichterwähnung unfallunabhängiger Veränderungen und bestimmter Normbefundmerkmale bedeutet im Gutachtenwesen nicht etwa „Normalzustand" sondern Unvollständigkeit der Befunderhebung oder inkompletter Untersuchung. In Streitfällen ist solch ein Gutachtenbefund angreifbar, weil später behauptete, zum Zeitpunkt der Untersuchung durchaus mögliche Veränderungen durch den Befund nicht widerlegt werden können. Bei Zusammenhangsbegutachtungen spielt dies eine große Rolle, weil eben hier oft geltend gemacht wird, daß bestimmte krankhafte Veränderungen, z.B. Krampfadern, nicht vorgelegen haben oder aber umgekehrt, daß später eingetretene Schäden bereits bei der ersten Untersuchung vorlagen, zum Beispiel Gefühlsstörungen infolge Bandscheibenschadens im Bein bei einem Brustwirbelkörperbruch. Die Befundschilderung selbst kann in schwierigen Fällen durch Beifügung von Skizzen oder Lichtbildern wirkungsvoll unterstützt werden. Aus der Art der Beschreibung soll auf mögliche Ursache geschlossen werden können. Die Behinderung in einem Kniegelenk kann z.B. durch einen knöchern harten Anschlag, einen bindegewebig straffen Widerstand oder eine federnde Muskelanspannung bedingt sein. Sehr wichtig ist die genaue Angabe der Länge- und Umfangmaße bei Gliedmaßen und der Winkelmaße für die Bewegungsumfänge von Gelenken. Diese sollten nie geschätzt, sondern immer exakt gemessen werden. Bandmaß und Winkelmesser gehören daher unbedingt zum Rüstzeug des begutachtenden Arztes. Selbstverständlich ist, daß nicht nur die Maße der verletzten Seite, sondern auch die Vergleichszahlen der gesunden Seite angegeben werden. Nur durch den Vergleich haben die Zahlen überhaupt eine Bedeutung. Die Meßpunkte und die Meßweise sind heute standardmäßig festgelegt. Hierzu sei auf die in der Unfallbegutachtung allgemein eingeführten Meßbögen verwiesen (S. 100ff.). Ein gewisser Schematismus ist bei der gesamten Untersuchung notwendig, um wichtige Momente nicht zu übersehen und immer einen kompletten
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Befund zu haben. Dagegen werden die besonderen notwendigen Untersuchungen erfahrungsgemäß weniger unterlassen. Die moderne Röntgendiagnostik sollte stets im gebotenen Umfang zur Objektivierung der Unfallfolgen herangezogen werden. Bei der Anfertigung von Röntgenbildern sind Vergleichsaufnahmen korrespondierender Gliedmaßenabschnitte erforderlich. Dabei sind die Rechtsvorschriften über die diagnostischen Anwendung von Röntgenstrahlen zu beachten (z.B. Schwangere). Im Bedarfsfalle soll bei der Unfallbegutachtung das gesamte Rüstzeug moderner Diagnostik herangezogen werden. Dazu gehören klinische und apparative Testmethoden und labortechnische Untersuchungen. Ihre Einbeziehung sollte immer dann erfolgen, wenn hierdurch eine größere Sicherheit der gutachterlichen Aussage erreicht wird. Viele diagnostische Hilfsmethoden sind bei exakter Untersuchung des Gutachtenpatienten völlig überflüssig. Die Befundung einer ausgeheilten Gließmaßenverletzung ist auch ohne ausgedehnte Erfassung umfangreicher labortechnischer Daten möglich, während Verlust der inneren Organe (Niere, Milz) ohne diese Werte unvollständig untersucht sind. Es kommt auch nicht auf die Vielzahl der Zusatzbefunde an, sondern auf ihre Aussagefähigkeit für den Einzelfall. Die eingesetzten Funktionstests und Untersuchungsmethoden sollen zur Überzeugungskraft des Gutachtens beitragen und daher sachbezogen sein. Am Anfang der Zusammenfassung und Beurteilung jeden Gutachtens steht eine knappe Wiedergabe der den Gutachtenauftrag begründende Sachlage. Es schließt sich an die genaue und klare Bezeichnung der Verletzungen. Man gewöhne sich an, diese Regel stets zu befolgen, weil man so sich selbst und dem Auftraggeber die Übersicht erheblich erleichtert. Dann folgt die Aufzählung der Unfallfolgen im einzelnen. Etwaige unfallfremde Körperschäden sind präzise abzutrennen. Eine exakte Diagnose und die genaue Aufzählung der im Befund einzeln beschriebenen Unfallfolgen sollten eindeutig und verständlich in deutscher Sprache gewählt werden, damit sie ohne Änderungen in den Bescheid des Versicherungsträgers übernommen werden können. An diese Aufstellung schließt sich dann als Vorschlag für die anfordernde Stelle die nach bestem Wissen und Gewissen ermittelte Einschätzung des Grades der unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit. Bei schwierig gelagerten Fällen sollte die Schätzung erläutert werden. Als unfallfremde Veränderungen sind alle nicht normalen Zustände aufzuzählen, die nicht als direkte oder indirekte Folge des infrage stehenden Unfalles zu bewerten sind. Eine genaue Aufgliederung dient der Aktualität und der Übersicht; der Verweis auf Vorgutachten ist unzureichend. Oft hat die Kenntnis dieser unfallfremden Veränderungen einen Einfluß sowohl auf den Grad der unfallbedingten Erwerbsminderung selbst, als auch auf die Entschädigung von bisher nicht rentenberechtigenden Folgen anderer Unfälle.
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
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Ein Gutachten über Unfallverletzte schließt mit Angaben über die Berufshilfe. Diese Zusammenarbeit zwischen Gutachter und Unfallversicherungsträger ist eine wesentliche Voraussetzung für den Wirkungsgrad der Berufshilfe und jeglicher berufshelferischer Maßnahmen überhaupt. Die gesellschaftspolitische und volkswirtschaftliche Bedeutung der damit zusammenhängenden Fragen kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Die Maßnahmen der Rehabilitation (§ 556 RVO) haben bekanntlich das schon 1844 von Ritter von Buhs geforderte Ziel: „ . . . soll der heilbare Kranke vollkommen rehabilitiert werden. Er soll sich zu der Stellung wieder erheben, von welcher er herabgestiegen war. Er soll das Gefühl seiner persönlichen Würde wiedergewinnen und mit ihm ein neues Leben gewinnen".
Die rechtzeitige Einleitung gezielter und geeigneter Hilfsmaßnahmen (Rehabilitation durch Unfallversicherungsträger, Rentenversicherung, Arbeitsamt) wird maßgeblich von den ärztlichen Hinweisen bei jeder Begutachtungsuntersuchung beeinflußt und unterstützt. Der Gutachter muß daher durch entsprechende Hinweise in jedem seiner Gutachten mithelfen, daß der Versicherte die ihm zustehenden sozialen Leistungen erhält. Die nachgehende Berufshilfe liegt insofern auch in der Hand des Gutachters, der meist als erster von drohendem Arbeitsplatzwechsel, Kündigung und ähnlichem erfährt.
1.20 Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) Bei der Einschätzung des Grades der unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit sind einige versicherungsrechtliche Besonderheiten in der Gesetzlichen Unfallversicherung zu beachten. Erwerbsfähigkeit im Sinne der Gesetzlichen Unfallversicherung ist die Fähigkeit, auf Erwerb gerichtete Arbeitstätigkeit auszuüben. Daraus ergibt sich, daß die Minderung oder der Ausfall von Fähigkeiten also von Körper- oder Gliedmaßenfunktionen den Maßstab für die Bewertung bildet und nicht etwa anatomische Defekte oder Schäden. Unfallbegutachtung ist somit immer Funktionsbegutachtung. Die Schätzung der durch den Unfall verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) geht grundsätzlich nicht von dem erlernten oder ausgeübten Beruf des Verletzten/Untersuchten aus, sondern von dem Begriff des „allgemeinen Arbeitsmarktes". Darunter versteht man den gesamten Bereich des wirtschaftlichen Lebens mit allen Arbeitsgelegenheiten, die sich dem Verletzten nach seinen gesamten Kenntnissen und körperlichen sowie geistigen Fähigkeiten bieten. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist ein Rechtsbegriff. Sie besteht in der Einschränkung der Fähigkeit des Versicherten, sich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen Erwerb zu verschaffen. Diese Betrachtungsweise folgt aus dem in der Gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung. Als Bezugsgröße hierfür dient nicht eine etwaige konkrete Einkommensminderung, sondern die Beeinträchtigung der individuellen Erwerbsfähigkeit zum
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Zeitpunkt des Unfalles. Die entsprechend dem Grad der MdE gezahlte Unfallrente hat keine Ausgleichsfunktion im Hinblick auf mögliche oder tatsächliche Einkommenseinbußen, sondern einen reinen Entschädigungscharakter. Entsprechend dem erlittenen Schaden ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit in verschiedene Grade unterteilbar, ausgedrückt in Prozentsätzen von 10 bis 100. Dagegen ist die „Arbeitsunfähigkeit" im Sinne der Unfall- und Krankenversicherung nicht teilbar. Sie ist vorhanden oder sie ist es nicht. Bei der Abschätzung des Einflußes der Unfallfolgen auf die Erwerbsfähigkeit des Versicherten haben sich im Laufe der Zeit allgemeine Erfahrungswerte eingebürgert, die auf den Seiten 111-136 aufgeführt sind und auf die man zweckmäßigerweise zurückgreift. Weicht der Gutachter bei seiner Einschätzung davon wesentlich ab, so muß er die besonderen Verhältnisse des Einzelfalles angeben, die ihn aus dem Richtwertbereich herausheben und damit die abweichende Bewertung begründen (vgl. dazu Teil 1, 2.5-3.2) Dabei sind im Unfallrecht auch Nachteile zu berücksichtigen, die der Verletzte dadurch erleidet, daß er bestimmte, von ihm erworbene berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten infolge des Unfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen kann. Die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten vor dem Unfall wird stets als voll gegeben, das heißt mit 100% angenommen, auch wenn er durch ein Gebrechen oder frühere Unfälle, z.B. die Lähmung eines Armes schon behindert war. Voraussetzung für die Gewährung einer Verletztenrente ist im Regelfalle der Umstand, daß die Erwerbsfähigkeit durch die Folgen eines Unfalles um wenigstens 1/5 = 20% über die 13. Woche nach dem Unfall hinaus gemindert ist, das heißt die MdE erreicht erst mindestens mit 20% einen rentenberechtigenden Grad. Es werden aber auch Renten unter 20 v. H. ausgezahlt, wenn eine andere Rente wegen Unfallfolgen oder ähnlichem vorliegt (sogenannte Stützrente s. Teil 1, 2.5.3.2).
1.21 Vorläufige Rente Nach Abschluß der Behandlung innerhalb der ersten zwei Jahre nach einem Unfall wird beim Vorliegen entsprechender Verletzungsfolgen im allgemeinen eine vorläufige Rente gewährt, wenn hierdurch die Erwerbseinbuße mindestens 20% beträgt. Die Vorläufigkeit besagt, daß diese Rente jederzeit geändert werden kann, wenn eine wesentliche Änderung im Zustand der Unfallfolgen eingetreten ist. Als wesentlich gilt eine Änderung nur dann, wenn die Besserung oder Verschlimmerung mehr als 5%, in der Regel aber mindestens 10% beträgt. Ein Änderungsnachweis gegenüber der maßgeblichen Voruntersuchung muß geführt werden. Ist voraussichtlich nur für eine befristete Zeit eine vorläufige Rente zu gewähren, so kann der Unfallversicherungsträger den Verletzten nach Abschluß des Heilverfahrens mit einer Gesamtvergütung in Höhe des voraussichtlichen Rentenaufwandes entschä-
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digen. Der Verletzte wird dann nicht zum Bezieher einer laufenden Rente. Aufgabe des Gutachters ist es, den Unfallversicherungsträger auf geeignete Fälle hinzuweisen. In solchen Fällen darf er ausnahmsweise eine Schätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit mit zeitlicher Begrenzung bis zu einem in der Zukunft liegenden Endtermin vornehmen.
1.22 Dauerrente Spätestens zwei Jahre nach dem Unfall muß die Dauerrente festgesetzt werden oder die bis dahin gewährte vorläufige Rente wird kraft Gesetzes zur Dauerrente. Die Festsetzung kann auch schon innerhalb der ersten zwei Jahre erfolgen. Eine Dauerrente darf dann nur in Zeitabständen von mindestens einem Jahr geändert werden. Bei der Festsetzung der ersten Dauerrente handelt es sich um eine Neueinschätzung. Sie erfolgt ohne Rücksicht auf den Vorbefund. Daher ist der Nachweis einer Änderung im Befund nicht notwendig, auch wenn von der bisherigen Einschätzung abgewichen wird. Aus diesem Grund kann sich bei der Festsetzung der Dauerrente auch eine Änderung der Einschätzung um nur 5% ergeben. Das Wesentliche an der Festsetzung der Dauerrente ist also der Umstand, daß der sonst bestehende Zwang, den Nachweis einer wesentlichen Besserung oder Verschlimmerung im Unfallfolgezustand befundmäßig zu erbringen, dabei völlig entfällt. Hier bekommt der erfahrene Gutachter die einmalige und nicht mehr wiederkehrende Gelegenheit, vorgabefrei und befundgerecht zu schätzen. Diese Schätzung muß gut ausgewogen und dem Einzelfall unter Umständen auch auf Jahre hin angemessen sein, weil wesentliche Befundabweichungen mit den Jahren immer unwahrscheinlicher werden. Die Dauerrente kann nämlich nur jeweils nach einem Jahr geändert werden und nur unter Nachweis einer wesentlichen Änderung im Unfallfolgezustand. Es muß auch bedacht werden, daß bei einer 25% igen Dauerrente ein Besserungsnachweis mit dem Entzug der Rente verbunden ist, was den Versicherten unter Umständen sehr hart trifft, weil er mit 15% immer in unmittelbarer Nähe des rentenberechtigten Mindestsatzes von 20% liegt.
1.23 Rentenänderung Oft ist es zweckmäßig, die Gründe anzugeben, die zu einer bestimmten Schätzung geführt haben. Bei allen Vorschlägen, eine bereits vorgegebene Rente zu ändern, ist der Nachweis einer wesentlichen Änderung (Besserung oder Verschlimmerung) im Vergleich zum zuletzt maßgeblichen Gutachtenbefund erforderlich. Das zeitlich letzte Gutachten ist bekanntlich nicht immer das rechtlich und ärztlich zuletzt maßgebliche Vergleichsgutachten. Wie bereits oben aufgeführt, ist nur dasjenige Gutachten frei
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von dem Zwang, die vom maßgeblichen Vorgutachten abweichende Einschätzung der Erwerbsminderung befundmäßig begründen zu müssen, das aus Anlaß der ersten Festsetzung der Dauerrente erstellt wird. M a n m u ß stets die Änderungsmerkmale im einzelnen aufführen und eventuell anhand von Zahlen erläutern. N u r eine wesentliche Änderung im gesamten objektivierten Unfallfolgezustand begründet eine gradmäßige Herauf- oder Herabsetzung der Erwerbsminderung. Nach § 48 Sozialgesetzbuch X — Verwaltungsverfahren — kann eine Rente dann eingestellt bzw. geändert werden, wenn in den Verhältnissen, die f ü r die Feststellung der Rente maßgeblich gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Nach der Rechtsprechung ist eine wesentliche Änderung der Verhältnisse anzunehmen, wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Unfallfolgen um mehr als 5 v. H . gesunken oder gestiegen ist. So sind z.B. Änderungen von 20, 30, 40, 50% usw. auf 10, 20, 30 40% usw., ferner von 33 1/3 auf 25%, von 40 auf 33 1/3%, von 75 auf 66 2/3 bzw. 65% und umgekehrt zulässig. Die Änderung um mehr als 5 v. H. m u ß jedoch durch den Vergleich des bei der anstehenden Untersuchung erhobenen Befundes mit den für die Feststellung der laufenden Rente im zuletzt maßgeblichen Gutachten niedergelegten Befund objektiviert werden. Im Falle der Verschlimmerung ist die Angabe unerläßlich, von welchem Zeitpunkt ab mit Wahrscheinlich die Änderung der Verhältnisse eingetreten ist. Andererseits können auch nach Jahren Anpassung und Gewöhnung als Besserungsmerkmale in Betracht kommen. Es genügt aber nicht, wenn der Gutachter lediglich zum Ausdruck bringt, Anpassung oder Gewöhnung an die Unfallfolgen oder beides zusammen seien eingetreten. Aus dem ärztlichen Gutachten müssen vielmehr greifbare Merkmale einer Anpassung oder G e w ö h n u n g des Verletzten an den Unfallfolgezustand hervorgehen. N u r am Rande sei vermerkt, daß neben den medizinischen oft auch außermedizinischen Erkenntnisse zu berücksichtigen sind, welche sich vornehmlich aus einer Prüfung der tatsächlichen Arbeitsverhältnisse des Verletzten anhand der Arbeitsauskünfte des Arbeitsgebers gewinnen lassen. Es ist selbstverständlich, daß man stets die individuelle Gesamtsituation berücksichtigt. Bei Verletzungen der oberen Gließmaße müssen die Fragen Arbeitshand oder Beihand (rechts oder links) und eine eingetretene Umgewöhnung berücksichtigt werden. Ein Vorschaden, aufweichen sich die Unfallfolgen verschlimmernd auswirken, ist ebenso zu würdigen, wie eine etwa durch hohes Alter erschwerte Anpassung an die Unfallfolgen. Bei einer erneuten Entscheidung über einen Rentenanspruch wird häufig übersehen, daß bei der Überprüfung nicht ausschließlich auf eine wesentliche Änderung der Unfallfolgen (§ 48 SGB X) abzustellen ist. Die Tatsache, daß ein sog. Verschlimmerungsantrag gestellt wurde, führt allzu leicht in dem Feststellungsverfahren zu der Suche nach einer „Verschlimmerung"; das Kriterium der wesentlichen Änderung im Sinne einer Verschlimmerung ist jedoch nur dann von Bedeutung, wenn ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung erlassen wurde (z.B. Rente für unbestimmte Zeit, Gesamtvergütung, Erhöhung oder Herabsetzung der Rente).
Vorschaden, Nachschaden
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Handelt es sich jedoch um einen Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung (z.B. Ablehnung/Entziehung der Rente, Rente für zurückliegende Zeit, Ablehnung der Rente nach Gesamtvergütung, Entziehung der vorläufigen Rente und gleichzeitige Ablehnung der Dauerrente), ist die MdE frei einzuschätzen. Der Nachweis einer wesentlichen Änderung der Unfallfolgen ist nicht erforderlich; die MdE kann in diesen Fällen z.B. von 1 5 % auf 2 0 % erhöht werden.
1.24 Vorschaden, Nachschaden Ein unfallfremder Vorschaden ist stets zu berücksichtigen. Die Höherbewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ist aber deshalb noch nicht generell gerechtfertigt. Sie ist erst dann geboten, wenn eine nachweisbare funktionelle Wechselwirkung zwischen Vorschaden und dem neuen Unfallschaden besteht und wenn ferner Art und Ausmaß des Vorschadens einen wesentlichen Einfluß auf die individuelle Erwerbsfähigkeit dieses Verletzten hatten. Es kann durch einen neuen Unfall nicht nur eine Summierung, sondern manchmal eine Potenzierung von jetzt fehlenden Fähigkeiten eintreten. So wird der Verlust des Auges bei Einäugigkeit ungleich höher bewertet als der Verlust nur eines Auges bei Verbleib des anderen. Andererseits kann infolge des Vorschadens auch eine geringere Minderung der Erwerbsfähigkeit durch neue Unfallfolgen begründet erscheinen, als die sonst normalerweise gegeben wäre (etwa ein Unterschenkelbruch bei einem Querschnittsgelähmten). Bei der Begutachtung solcher oft schwieriger Sachverhalte erweist sich der Meister seines Faches (vgl. dazu Teil 1, Abschn.2.5.3.2). Ein unfallfremder Nachschaden (etwa ein zeitlich später erfolgter zweiter Bruch am gleichen Bein) darf keine Berücksichtigung bei der Schätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit finden. Dagegen stellt der unfallbedingte Spätschaden (z.B. Sekundärarthrose nach Gelenkverletzung, Spätgangrän nach unfallbedingter Gefäßplastik) eine Verschlimmerung der Unfallfolgen dar. Bei der Schätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit sind stets genaue Zahleneingaben erforderlich. Angaben wie „unter 20 v . H . " „um 10 v.H.", „40 bis 100 v . H . " sind wertlos. Verteilen sich die Unfallfolgen auf mehrere Fachgebiete, so ist für jede dieser Disziplinen eine exakte Teilerwerbsminderung anzugeben. Der Hauptgutachter schätzt danach aus diesen Teilerwerbsminderungssätzen die Gesamterwerbsminderung. Dabei wird eine rein numerische Zusammenzählung dem Gesamtunfallfolgezustand fast nie gerecht, weil wohl meistens Überschneidungen vorliegen (ζ. B. eine Fußheberschwäche infolge Peronaeuslähmung nach einer Sprunggelenkfraktur). In jedes Gutachten gehört ferner die Angabe, wann eine Nachuntersuchung angezeigt
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ist. Im Rahmen der vorläufigen Rente (innerhalb der ersten zwei Jahre nach dem Unfall) beträgt die unterste Zeitgrenze für eine Nachuntersuchung drei Monate, bei einer Dauerrente (2 Jahre und später nach dem Unfall) beträgt die unterste Zeitgrenze für eine Nachuntersuchung ein Jahr. Erfahrungsgemäß lassen sich nämlich in jeweils kürzeren Zeiträumen kaum wesentliche Änderungsmerkmale objektivieren. Das Vorliegen eines Dauerzustandes kann in der Regel frühestens fünf Jahre nach einem Unfall als gegeben erachtet werden. Gelegentlich sind noch nach längeren Zeiträumen wesentliche Besserungen zu beobachten. Mit der Angabe, daß ein Dauerzustand eingetreten und daher weitere Nachuntersuchungen nicht mehr angezeigt seien, möge man als Gutachter zurückhaltend verfahren und erweitere besser den jeweiligen Kontrollzeitraum auf zwei oder drei Jahre.
1.25 Wiederherstellende Behandlungsmaßnahmen - Zumutbarkeit von Operationen Sofern besondere wiederherstellende Behandlungsmaßnahmen zur Besserung des Unfallfolgezustandes notwendig erscheinen oder wenn der Gutachtenpatient dahingehende Wünsche äußert, sollten im Gutachten die Erfolgsaussichten dieser Maßnahmen erörtert werden. Der funktionelle Gewinn ist wertfrei gegen mögliche Risiken und Komplikationen abzuwägen. Bei Vorschlägen für Behandlungsmaßnahmen ist davon auszugehen, daß die gesetzliche Unfallversicherung Kurbehandlungen im Sinne der Rentenversicherung nicht kennt. Die gegenwärtige Rechtslage zur Frage der Zumutbarkeit von Operationen ist folgende: Die Verpflichtung des Versicherten zur Mitwirkung bei Maßnahmen der Heilbehandlung ist in den Vorschriften des Sozialgesetzbuches I. Buch, 3. Titel „Mitwirkung des Leistungsberechtigten" festgelegt. Nach § 64 dieser Vorschriften soll sich der Versicherte, der wegen Krankheit oder Behinderung - also auch wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles - Leistungen beantragt oder erhält, auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers einer Heilbehandlung unterziehen, wenn zu erwarten ist, daß dadurch eine Besserung seines Gesundheitszustandes herbeigeführt oder eine Verschlechterung verhindert wird. Kommt der Versicherte dem Verlangen nicht nach, können ihn Rechtsnachteile treffen. Der Versicherte kann Untersuchungen und Maßnahmen der Heilbehandlung - demnach auch Operationen — ablehnen (§65, Abs. 2), 1. bei denen im Einzelfall ein Schaden für Leben oder Gesundheit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Unvorhersehbare Umstände, die eine solche Gefahr bedingen, bleiben außer Betracht „gefahrlos bedeutet, daß die Operation nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Gefahr mit sich bringt", 2. die mit erheblichen Schmerzen verbunden sind oder 3. die einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten.
Wichtige Untersuchungsmethoden für die Begutachtung
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Kann dem Verletzten eine Operation nach diesen gesetzlichen Vorschriften nicht zugemutet werden, so kann der Unfallversicherungsträger diese auch dann nicht verlangen, wenn zu erwarten ist, daß sich der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit wesentlich bessern würde. Gleiches gilt für die Duldung von diagnostischen Maßnahmen.
1.26 Wichtige Untersuchungsmethoden für die Begutachtung Wie bereits mehrfach oben ausgeführt, ist es ganz selbstverständlich, daß jeder Begutachtung eine sorgfältige Untersuchung des Verletzten vorauszugehen hat. Diese Untersuchung muß sich in ihrem Umfang dem vorliegenden Einzelfall anpassen. Begutachtungen, bei denen notwendige Untersuchungen unterlassen worden sind, haben keinen Aussagewert infolge unzureichender Beweis- oder Ausschlußkraft. Andererseits ist es überflüssig, die Untersuchungen unkritisch weit auszudehnen. Beispielsweise ist es nicht notwendig, bei einer Rentennachprüfung wegen eines komplikationslosen Fingerverlustes eine Leberfunktionsprüfung oder eine Lungendurchleuchtung oder eine Serumelektrophorese auszuführen. Bei Fehlen einer stichhaltigen Begründung werden diese Leistungen ohnehin nicht honoriert. Im jedem Falle ist es aber notwendig, sich nicht nur den verletzten Körperteil, sondern den ganzen Menschen genau anzusehen. Das fordert schon allein die ärztliche Sorgfaltspflicht bei jeder Krankenuntersuchung überhaupt. Bei der Begutachtung sind möglichst genaue, am besten durch Messungen objektivierte und damit nachprüfbare Befunde von Wert. Darum sind alle Befunde nicht nur exakt zu beschreiben, sondern es sind auch die Meßstellen nach bekannten anatomischen Fixpunkten festzulegen. Das alles kann kurz, telegrammstilartig aber deshalb nicht weniger genau geschehen. Alle Angaben sind in vergleichbaren Maßeinheiten zu liefern und ungenaue Feststellungen „um 1/3" „etwa die Hälfte" „annähernd normal" zu vermeiden. Die feineren Abstufungserfordernisse in der Unfallversicherung bei der Angabe der Erwerbsminderungssätze und die Unterschiede um 10 v. H. erfordern differenzierte diagnostische Methoden. Bei strittigen Krankheitsbezeichnungen oder unklaren Diagnosen sowie bei ungeklärten Beschwerden muß die Klärung mit Hilfe der gesamten modernen Diagnostik herbeigeführt werden. Die Inanspruchnahme von Ärzten anderer Fachdisziplinen gehört ebenso dazu wie der Einsatz der verfügbaren technischen Einrichtungen. Es ist zumindest peinlich, wenn nachfolgende Gutachter einem Arzt mangelnde Sachaufklärung schlüssig nachweisen und damit die Deutung und die Schlußfolgerungen seines Gutachtens erschüttern oder gar aufheben. Die Zusammenarbeit von Fachkollegen aller Richtungen kann sich stets nur zum besten auswirken. Sie fördert die fachliche Aufklärung des Einzelfalles und die Entwicklung der eigenen gutachterlichen Qualitäten.
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Die Aufgaben dieser „Unfallbegutachtung" sind so eng gesteckt, daß sie mit denjenigen eines Handbuches nicht vergleichbar sind. Hier wird bewußt nur auf allgemeine Grundforderungen und praktisch bemerkenswerte Einzelfragen schlaglichtartig hingewiesen. Vor jeder Untersuchung soll der Arzt die Unfallakten durchlesen, um sich so vorher über den Sachverhalt zu orientieren. Die Begutachtungsuntersuchung beginnt mit der genauen Betrachtung des stehenden Unfallverletzten. Dieser hat den Körper soweit entblößt, wie dies für einen genügenden Überblick notwendig erscheint. So ist bei Verletzungen der oberen Gliedmaße der ganze Oberkörper, bei Verletzungen der unteren Gliedmaßen der ganze Unterkörper in unbekleidetem Zustand zu betrachten. Häufig muß sich der Verletzte auch ganz ausziehen, um das Gesamtbild der Unfallfolgen besser zu erfassen. Wichtig ist es auch, den Untersuchten bei An- und Auskleiden unauffällig zu beobachten. Mitunter wird man dabei feststellen können, daß beim Kleiderwechsel ein Gelenk in einem großen Umfang und schmerzfrei beweglich ist, das bei der Untersuchung selbst schon bei leichter Berührung der Haut schmerzhaft sein soll und das sich angeblich wegen enormer Steigerung der Schmerzen aktiv und passiv fast gar nicht bewegen läßt. Auch kann man es erleben, daß derselbe Patient sich beim Anziehen der Schuhe auf einen Stuhl setzt und den Oberschenkel im rechten Winkel zum Rumpf beugt, während bei der vorangegangenen Untersuchung, als er noch ausgestreckt auf der Untersuchungsbank lag, jede Bewegung der Hüfte sehr erheblich eingeschänkt war. Und schließlich, um nur einige Beispiele herauszugreifen, kommt es nicht selten vor, daß ein Patient im Untersuchungszimmer ganz anders geht als nach Verlassen des Wartezimmers auf offener Straße. Eine solche Kontrollbeobachtung ist, wenn die Möglichkeit dazu besteht, immer angebracht. Aus der Art, wie der Gutachtenpatient sich hält, sich bewegt, auf Fragen reagiert und welchen Gesichtsausdruck er dabei hat, kann der erfahrene Arzt sehr wesentliche Schlüsse ziehen. Allgemein scheitert die Ablenkung der Aufmerksamkeit der Patienten bei aktiven Bewegungen häufig daran, daß es zahlreiche Menschen gibt, die nicht gleichzeitig, etwa beim Ausziehen der Hose, eine Frage beantworten können. Die Ablenkung durch Befragung während passiver Bewegungsprüfungen ist leichter. Die Betrachtung des Untersuchten muß alle äußerlich sichtbaren Formveränderungen erfassen. Muskelabmagerungen kann man oft mit dem Auge wesentlich sicherer feststellen als mit dem Maßband und dem Tasterzirkel. Dasselbe gilt für Veränderungen in der Achsenrichtung von Körperteilen, den Folgen frischer oder alter Verletzungen wie Wunden, Schwellungen und Narben. Ihre genaue Beschreibung, am besten unter Beifügung von Skizzen und Eintragungen in handelsüblichen Körperchemata ist notwendig. In seltenen Fällen empfiehlt es sich sogar, Fotos anfertigen zu lassen, ζ. B. mit einer Polaroid-Kamera. Dies hat sich vor allem bei der Dokumentation von kosmetisch entstellenden Befunden sehr bewährt, ganz abgesehen davon, daß ein Lichtbild die oft schwierige Befunderhebung sinnvoll ergänzen kann. Auf die gutachterliche
Wichtige Untersuchungsmethoden für die Begutachtung
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und diagnostische Bedeutung von Infrarot-Aufnahmen zur Dokumentation der Wärmeverteilung in den abgebildeten Strukturen oder Gewebsbezirken sei hingewiesen. Komplexe Bewegungsvorgänge können in geeigneten Fällen durch Filmaufnahmen festgehalten und im Zeitlupentempo besser beurteilt werden. Diese Möglichkeiten werden in letzter Zeit zunehmend durch die Videotechniken erweitert. Videoaufzeichnungen diagnostischer Untersuchungsgänge und Befunde helfen bei der Objektivierung von Unfallfolgen. Zur visuellen Befunderhebung am entkleideten Gutachtenpatienten gehört die Erfassung der verschiedenen Hautveränderungen, Ausschläge, etwa vorhandener wassersüchtiger Schwellungen, Haltungsanomalien, Rundrücken, Buckelbildungen der Wirbelsäule, Verdrehungen und Verbiegungen derselben, Verformungen des Brustkorbes und dessen Ausladungen bei der Atmung, Veränderungen von Brust- und Bauchatmung, Stauungen im Pforta;derkreislauf, Krampfadern an Beinen oder Armen, Unterschenkelgeschwüren, einer glänzenden oder trockenen Haut, vasomotorischer Störungen, von Dermographismus, abnormer Schweißabsonderung, Senkfüßen usw. Der durch die Betrachtung erhobene Befund wird durch Betastung (Palpation) erweitert und vertieft. Dabei ist es ganz besonders wichtig, zum Vergleich die andere, nicht verletzte Körperseite heranzuziehen. Damit können individuelle Normabweichungen unterschieden werden von krankhaften oder unfallbedingten Befunden. Die Betastung ist eine sehr wichtige Untersuchungsmethode. Bei erfahrenen Untersuchungshänden ist sie auch sehr leistungsfähig. Sie umfaßt die Prüfung der Hauttemperatur und der Narben, die Untersuchung auf Druck- und Klopfschmerzen, die Prüfung der Kraft, der Festigkeit der Gelenke und gebrochener Knochen, die Prüfung der Kraft und der Qualität der Muskulatur und schließlich die Messungen der Umfänge, Verkürzungen und Verdrehungen sowie der Beweglichkeit der Gelenke. Ein Vergleich des Tastbefundes mit einem Röntgenbild ergibt häufig wichtige Aufschlüsse, z.B. ob eine Verhärtung knöchern bedingt ist oder nicht. Nach Knochenbrüchen muß jedes Gutachten die Angabe enthalten, ob der Bruch knöchern geheilt ist. Die Festigkeit wird geprüft, indem man das Glied beidseits der Bruchstelle fest umfaßt und kräftige Biegungsversuche nach allen Richtungen durchführt. Abnorme Beweglichkeit und Biegungsschmerz belegen Instabilität und damit ausgebliebene Knochenbruchheilung. Die Prüfung der Bandfestigkeit der Gelenke erfolgt durch Aufklapp- und Rüttelversuche sowie Provoktion von Dreh-Gleitbewegungen. Gelockerte Gelenke an einem Bein beeinträchtigen die Standfestigkeit besonders auf unebenem Boden, auf Leitern und Gerüsten und beim Tragen von Lasten. An den Armen wird die grobe Kraft herabgesetzt. Das Betasten der Muskulatur während der Anspannung und Entspannung gibt Aufschlüsse über die Funktionstüchtigkeit dieser Organe. Die Prüfung der Konsistenz
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und der unterschiedlichen Spannungszustände der verschiedenen Muskelgruppen muß immer im Vergleich mit der gesunden Gegenseite erfolgen. Durch Messungen lassen sich die gewonnenen Erkenntnisse vervollständigen. Bei der Unfallbegutachtung spielt das Messen eine sehr wichtige Rolle. Gerade die Unfallmediziner haben sich stets um den Ausbau der Meßtechniken und die Förderung von Meßmethoden bemüht. Die Brauchbarkeit unserer Meßergebnisse ist dennoch auf Vergleichsmessungen auf der gesunden Körperseite angewiesen und auf den Kenntnis der Vieldeutigkeit des globalen Meßwertes. Die Umfangmaße eines Armes oder Beines werden durch den Muskelschwund, durch Weichteilverluste, durch Seitenverschiebung der Knochen, durch Callusmassen, durch Weichteilschwund infolge Nervenlähmung und durch Schwellungen beeinflußt. Sie können an der verletzten Gließmaße daher größer oder kleiner sein als an der gesunden. Aus dem Befund muß hervorgehen, wodurch eine Umfangsdifferenz bedingt ist. In erster Linie werden durch die Umfangmaße Schwellungen oder der Schwund der Muskulatur zum Ausdruck gebracht. Zur besseren Vergleichbarkeit und Vereinheitlichung der Meßuntersuchungen sind von den Unfallversicherungsträgern Standardmeßstellen festgelegt (s. Meßbogen, S. 102ff.). Verkürzungen und Verbiegungen sowie Verdrehungen nach schweren Verletzungen müssen immer eingehend befundet werden, weil sie auf Dauer sekundäre Veränderungen und damit Verschlimmerungen im jeweiligen Unfallfolgezustand nach sich ziehen. Im Allgemeinen soll man die Meßwerte nicht auf den Millimeter genau angeben, sondern auf den halben Zentimeter, da methodikbedingte Meßwertschwankungen in dieser Größenordnung liegen. Differenzen von einem 1/2 Zentimeter sowohl in der Länge eines Gliedes als auch bei seinem Umfang sind völlig belanglos. Die häufigste Längenmessung wird an den Beinen vorgenommen, ferner an Amputationsstümpfen. Dabei gilt als Beinlänge der Abstand zwischen dem oberen vorderen Darmbeinstachel und der Innenknöchelspitze bei senkrechter Ausrichtung des Beines zu der Verbindungslinie der beiden oberen Darmbeinstachel. Bei Kontrakturen muß das gesunde Bein zur Messung in die gleiche Position gebracht werden wie das verletzte. Die Ursache einer Längendifferenz kann an den verschiedensten Stellen des Beines z.B. im Schenkelhals, Oberschenkelschaft oder Unterschenkel liegen. Daher ist es häufig notwendig, Sondermessungen der Gliedmaßenabschnitte auszuführen. Im Befundbericht müssen die Meßpunkte genau angegeben werden. Längenänderungen im Oberschenkelbereich kommen im Abstand vorderer oberer Darmbeinstachel - innerer Kniegelenkspalt zum Ausdruck. Am Unterschenkel ist es der Abstand innerer Kniegelenkspalt — Innenknöchelspitze. Längenmessungen an den Armen sind von geringerer Bedeutung, weil deren Verkürzung für ihre Funktion weniger wichtig ist. Messungen an Röntgenbildern sind dagegen nur unter Beachtung besonderer Vorsichtsmaßregeln zulässig, weil Röntgenbilder Schattenzeichnungen darstellen, deren
Wichtige Untersuchungsmethoden für die Begutachtung
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absolute Längen nicht mit den tatsächlichen Längen des Körpers übereinstimmen. Entsprechend den Strahlengesetzen ist die Verzeichnung umso größer, je näher der Brennfleck der Röhre an dem Körper bei der Aufnahme war. Nur bei Verwendung entsprechender Winkelmesser und Korrekturtafeln sind reelle Werte erzielbar. Wie bereits oben erwähnt, dienen die Umfangmaße hauptsächlich der Feststellung des Zustandes der Muskulatur. Sie sind je nach der Körperhaltung im Augenblick der Messung (liegend oder im Stehen) und je nach dem Anspannungs- oder Erschlaffungszustand der Muskulatur verschieden. Davon kann man sich sehr leicht durch einige Testmessungen überzeugen. Weil die genannten Zustände die gemessenen Zahlen erheblich beeinflussen können, müssen im Befundbericht also stets die näheren Meßbedingungen angegeben werden, wenn im Sonderfall abweichend von der Norm vorgegangen wird. Für Begutachtungsmessungen ist die einheitliche Meßtechnik verbindlich, die in den Meßbögen(S. 96ff.) angegeben ist. Die Beinmaße werden im Liegen auf der Untersuchungsbank bei entspannter Muskulatur gemessen. Alle Maße an den Armen sind bei schlaff herabhängendem Arm zu nehmen. Außer den im Bogen festgelegten tpyischen Meßstellen können in Einzelfällen noch andere Messungen zweckmäßig erscheinen, die den jeweiligen Sonderverhältnissen angepaßt und benannt sein müssen. Die Auswertung der Umfangmaße an den Gließmaßen ist dadurch erschwert, daß man nicht die Muskulatur allein mißt, sondern auch den Haut- und Unterhautfettgewebsmantel. Wassersüchtige Schwellungen sind vornehmlich hier lokalisiert und daher am besten mit Angabe der Uhrzeit im Befund zu verzeichnen. Am Kniegelenk können differente Umfangmaße einen Gelenkerguß bedeuten. Allerdings muß dabei die Kapselbeschaffenheit berücksichtigt werden. Eine weitere Umfangmessung wird am Brustkorb bei Ein- und Ausatmung vorgenommen, die nach alter Gewohnheit bei seitlich erhobenen Armen über den Brustwarzen und über der Schwertfortsatzspitze erfolgt. Sie ist ein grobes aber leicht ausführbares Verfahren zur Bestimmung des Atemvolumens. Sie kann die Spirometrie jedoch niemals ersetzen. Daher ist bei ausgedehnteren Brustkorbverletzungen die Ermittlung der atemabhängigen körperlichen Leistungsfähigkeit durch detailierte Untersuchungsmethoden erforderlich. Hierzu gehören zahlreiche klinische Lungenfunktionsprüfungen, Blutgasanalyse und an Spezialinstituten die Messung des Sauerstoffs bei standardisierter körperlicher Belastung. Schließlich gehören zur Betastung die Prüfung der Narben, der Hauttemperatur und der Pulse. Funktionsbehindernde Narben, die die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen, müssen ausführlich beschrieben werden. Es handelt sich dabei besonders um solche, die an der Greiffläche der Finger und der Hand liegen, bzw. an den Füßen, um solche, die das
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Allgemeines
Auftreten und das Tragen von Schuhen erschweren. Wichtig ist auch die Beschreibung der Narben an Amputationsstümpfen. Kosmetisch störende Narben, in erster Linie im Gesicht und am Hals sind bei der Einschätzung zu berücksichtigen und daher genau zu beschreiben, auch wenn sie funktionell nicht von Bedeutung sind. Eine erhöhte Hauttemperatur zeigt einen Reizzustand oder eine Entzündung an. Bei Durchblutungsstörungen und Nervenverletzungen kann die Haut kühler sein und verschieden starke Schweißsekretion aufweisen. Eine Störung der Hauttemperatur kann besonders an den Fingern sehr hinderlich sein, weil die Finger bei der Arbeit Kälte und Nässe und Temperaturschwankungen ausgesetzt sind. Zur Abgrenzung von Unfallfolgeschäden gegen etwaige Durchblutungsstörungen ist die Tastung der Pulse unabdingbar. Bei Differenzierungsschwierigkeiten kann eine einfache Ultraschall-Doppleruntersuchung Klarheit bringen. Für die Ermittlung der Gelenkfunktion sind die Winkelmessungen chen Praxis von sehr großer Bedeutung.
in der gutachterli-
Im In- und Ausland hat sich die Neutral-Null-Methode durchgesetzt. Man sollte die Winkelwerte nie schätzen, sondern mit dem Winkelmesser objektivieren. Wenn auch Differenzen gegenüber der gesunden Seite von 10 Grad praktisch nicht sehr ins Gewicht fallen, so ist doch im Interesse der Meßgenauigkeit und der Selbstkontrolle die Verwendung eines Winkelmessers immer vorzuziehen. Auf jeden Fall sind Winkelangaben aussagefähiger als summarische Feststellungen wie z.B. „etwas eingeschränkte Beweglichkeit", „mäßig eingeschränkte Beweglichkeit" oder aber „um die Hälfte gegenüber der anderen Seite behindert". Derartige Angaben sind nicht nachvollziehbar oder vergleichbar und damit wertlos. Jedes Gelenk muß im Vergleich mit der gesunden Seite gemessen
werden.
Die Beweglichkeit der meisten Gelenke weist nämlich schon physiologisch eine große Schwankungsbreite auf. Das Schultergelenk ist bei alten Menschen oft weniger beweglich als bei jungen, ohne daß es krankhaft behindert ist. Ein geübter Turner verfügt über einen erheblich größeren Bewegungsumfang als sein untrainierter Arbeitskollege. Winkelmessungen sind an allen Gliedmaßengelenken uneingeschränkt möglich. Lediglich bei der Bewegungsprüfung des Rumpfes bzw. der Wirbelsäule ist die Verwendung des Winkelmessers weniger gebräuchlich, da es sich hierbei um eine Bewegung handelt, die nicht in einem Gelenk erfolgt, sondern in einer Kette hintereinander geschalteter Gelenke. Daher kommen hier die kritische Betrachtung und Analysierung der Bewegungsvorgänge zu ihrem Recht. Auch Lichtbilder in seitlicher Richtung beim Stehen und bei maximaler Beugung bzw. Überstreckung des Oberkörpers sowie Röntgenfunktionsaufnahmen bei den einzelnen Bewegungszuständen können äußerst aufschlußreich sein. Auch zur Dokumentation einer Wirbelsäulenverkrümmung in ihrer Größe und Veränderlichkeit sind fotografische Aufnahmen in verschiedenen Körperhaltungen anschaulicher als Gesamtwinkelangaben oder umständliche Beschreibungen.
Wichtige Untersuchungsmethoden für die Begutachtung
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Am Schultergelenk muß man zwischen den Bewegungen im Schultergelenk selbst (also bei fixiertem Schulterblatt) und den Komplexbewegungen mit dem gesamten Schultergürtel unterscheiden. Die Erhebungsmöglichkeit des Armes nach vorn, seitlich und hinten ist in Winkelgraden meßbar. Die Drehbewegungen des Armes im Schultergelenk können in zwei Arten gemessen werden: 1. Bei in Neutralstellung anliegendem Oberarm mit 90 Grad gebeugtem Ellbogengelenk; dabei dient der Unterarm als Zeiger. 2. In Abspreizstellung des Armes im Schultergelenk von 90 Grad und Beugung im Ellbogengelenk ebenfalls von 90 Grad; auch hier dient der Unterarm als Zeiger. Einwärtsdrehung und Rückführung des Armes sind für die Praxis gekoppelte Bewegungen, deren Umfang sich durch die Angabe ausdrücken läßt, bis zu welchem Teil der Wirbelsäule die auf den Rücken gelegten Hand des Patienten aktiv gebracht werden kann bzw. welcher Abstand in Zentimetern verbleibt (sogenannter Kreuz- oder Schürzengriff). Die Messung der Beuge- und Streckfähigkeit des Ellenbogengelenkes ist einfach. Hierzu gehört auch die Messung der Unterarmdrehung bzw. Wendbewegung. Am Handgelenk sind neben dessen Streck- und Beugefähigkeit d. h. der Hebung bzw. Senkung des Handgelenkes auch die ellenbzw. speichenseitige Knickung zur Längsachse des Unterarmes anzugeben.
An den Fingern kann man naturgemäß die Beweglichkeit jedes einzelnen Gelenkes durch Winkelmessung prüfen. Allerdings ist das Ausmessen von 14 Gelenken je Hand recht umständlich und zeitraubend. Im Einzelfalle mag aber dennoch die Winkelmessung der Fingergelenkbeweglichkeit angebracht und wichtig sein. Als praktikable und brauchbare Lösung haben sich Abstandsmessungen durchgesetzt. Die Bestimmung der Streckfähigkeit der Finger erfolgt als Abstandsangabe in Zentimetern zwischen Nagelrand des gestreckten Fingers und der Handrückenebene. Bei der Prüfung der Beugefähigkeit wird für den jeweils gebeugten Finger der Abstand seines Nagelrandes von der queren Hohlhandfalte in Zentimetern gemessen. Um einen genauen Eindruck von der Greiffähigkeit einer Hand zu vermitteln, sollte bei dieser Prüfung auch die Stellung der Fingergrundgelenke vermerkt werden, weil diese besonders wichtig für den Faustschlußvorgang sind. Die Abspreiz- und Oppositionsfähigkeit des Daumens läßt sich am besten in Winkelmaßen angeben in der Ebene der Hand bzw. senkrecht dazu, seine Einschlagfähigkeit durch die Benennung der Stelle der Handfläche, der die Daumenspitze bis zur Berührung bzw. am nächsten genähert werden kann. Die Funktionstüchtigkeit des Spitzgriffes zwischen Daumen und Zeigefingerkuppe sowie des Grob- oder Breitgriffes (3. bis 5. Finger) sind zu vermerken. Bei der Begutachtung von Finger- und Handverletzungen sind oft zusätzliche Untersuchungen erforderlich (Nervenfunktionsprüfungen, Zwei-Punkte-Unterscheidungsvermögen, Aufsammeltest, Auszählung der Schweißpunkte, NinhydrinTest und andere). Kraftmessungen haben nur einen relativen Wert, da ihr Ausfall in hohem Maß von dem Willen und der Mitarbeit des Gutachtenpatienten abhängt. In besonderen Fällen besitzen diese Messungen einen großen Wert im negativen Sinne, nämlich dann, wenn ein muskelkräftiger Patient mit starken Arbeitsschwielen an den Händen beim Händedruck zwischen der verletzten und der unverletzten Hand einen zu großen Unter-
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Allgemeines
schiedswert aufweist. Spannt er dabei nicht nur die Beugemuskulatur des Unterarmes, sondern gleichzeitig auch die Streckmuskulatur, dann ist sicher, daß der geringe Druckwert absichtlich erzeugt ist und mit dem Muskel- und Verarbeitungsbefund nicht übereinstimmt. Kraftmessungen kommen in Betracht nur zur Prüfung der Druckkraft der Hand. Man kann dazu aber auch Metallfederinstrumente verwenden, die beim Zusammendrücken einen Skalenwert anzeigen. Sie haben sich in der Praxis nicht durchsetzen können. Praktisch wird die grobe Kraft beim überkreuzenden Händedruck geprüft mit mehrfachem Wechsel der Über- bzw. Unterkreuzungen, so daß der Prüfling mehrfach rasch in verschiedenen Ebenen zugreifen muß. Bei williger Kooperation ist sein Krafteinsatz annähernd gleich. Bei großer Schwankungsbreite dagegen mit reliefschwacher und schlaffer Unterarmmuskulatur paßt die demonstrierte Schwäche nicht zum sonstigen Befund. Auch der Anpressdruck der Finger und ihre Auflagestellen lassen Rückschlüsse auf Funktionsausfälle bzw. ihre Vortäuschung zu. Die Röntgenuntersuchung spielt naturgemäß bei allen Verletzungen, nicht nur bei den Knochenbrüchen und ihren Folgezuständen eine sehr erhebliche Rolle. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Ausführlichkeit sei auf einige wichtige Einzelheiten und grundsätzliche Punkte hingewiesen. Röntgenaufnahmen haben einen hohen dokumentarischen Wert. Sie sind stets in zwei Körperebenen zu fertigen. Das gilt auch für den Brustkorb und das Becken. Sonderfälle müssen immer durch Spezialtechniken abgeklärt werden. Hierzu eignen sich Schrägaufnahmen, Funktionsaufnahmen, Schichtaufnahmen, Kontrastmittelfüllungen und Durchleuchtungen, Darstellungen des arteriellen oder venösen Gefäßsystems, Doppelkontrastdarstellungen der Gelenke und nicht zuletzt Computertomographie und Kernspintomographie. Auch hier sind Vergleichsaufnahmen der gesunden korrespondierenden Körperteile für die Beurteilung unerläßlich. Gelegentlich sind Aufnahmen in verschiedenen Strahlenqualitäten (Hartstrahl- und Weichstrahlaufnahmen) sowie Vergrößerungs- und Kontrastaufnahmen notwendig. Die Deutung der Röntgenbilder ist keineswegs leicht und erfordert eine ständige Übung. Fehldeutungen normaler Befunde und belangloser Gefäß- und Skelettvarietäten kommen immer wieder vor. Man kann sie vermeiden, wenn man in Zweifelsfällen die einschlägigen Werke oder Wandtafeln zu Rate zieht. Die Röntgendurchleuchtung hat in der Diagnostik bei Herz, Lunge, Magen-DarmKanal und Gefäßen ihre Bedeutung behalten. Durch die Einführung verschiedener Kontrastmittel sind die Möglichkeiten ihrer Anwendung noch gesteigert worden. Auch bei unklaren Lageverhältnissen (z.B. bei Fremdkörpern, kompliziert gebauten Gelenken, Geschwülsten) kann eine Durchleuchtung von sehr großem Nutzen sein. Die Bildwandler-Geräte vermitteln eine lebendigere Anschauung von den Lagebeziehungen der einzelnen Objekte zueinander. Stereoaufnahmen sind dazu geeignet, sich
Wichtige Untersuchungsmethoden für die Begutachtung
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Klarheit über fragliche Lagebeziehungen zu verschaffen. Sie wurden jedoch durch modernere Techniken wie z.B. die Computertomographie verdrängt. Allgemein beweisen Röntgenbefunde keine Ausfallserscheinungen. Röntgenbild und Klinik sind sehr oft diskrepant. Auf den Grad funktioneller Auswirkungen bestimmter anatomischer Veränderungen kann aus Röntgenaufnahmen nicht geschlossen werden. Sie sind lediglich geeignet, klinische Erhebungen zu ergänzen oder bestimmte Symptome zu erklären. Die unfallchirurgische Begutachtung streift häufig auch andere Fachgebiete. Die Blutdruckmessung gibt häufig wertvolle Hinweise auf komplizierte Leiden, die als überlappende Geschehen auch für die Unfallbegutachtung von Bedeutung sind. Abgesehen von körperlichen Anstrengungen und seelischen Erregungen sind die erhaltenen Werte weitgehend reproduzierbar. Die Beurteilung der verschiedenen Pulsqualitäten kann ebenfalls Anhaltspunkte für weitergehende Begleiterkrankungen liefern. Die überprüften Reflexe und der erhobene Reflexbefund sind im Gutachten zu vermerken. Dies läßt sich ohne viele Worte klar und eindeutig festlegen. Bei Unfallfolgen, die das neurologische Fachgebiet berühren, ziehe man stets einen Neurologen zu. Mit seinen spezialisierten Kenntnissen ist er besser in der Lage, neurologische Störungen zu werten und sie anatomisch bzw. funktionell zu lokalisieren. Neben Blutuntersuchungen, zytologischen und serologischen Methoden sind bei allen Erkrankungen des zentralen Nervensystems fachspezifische Untersuchungen wie ζ. B. die Liquordiagnostik sowie Lumbalpunktion mit Liquordruckmessung erforderlich. Bei Anforderung von Laborbefunden muß der Gutachter dem Laborarzt genau angeben, welche Untersuchungen er durchgeführt haben will und mit welcher Fragestellung. Auch ein hinzugezogener Pathologe kann sich nur zu einer konkreten Fragestellung sinnvoll und erschöpfend äußern. Bei Schädelverletzungen sind Zusatzuntersuchungen durch den Augenarzt, Hals-Nasen-Ohren-Arzt, Neurologen und ggf. Psychiater notwendig. Die speziellen Untersuchungsgänge sind so fachspezifisch, daß auf eine Darstellung hier verzichtet wird, da bei entsprechender Fragestellung eine disziplingebundene Zusatzuntersuchung unabdingbar ist. Für den unfallchirurgisch tätigen Gutachter gehören allgemeine und spezielle Diagnostikmethoden mit ihren Fortschritten zum notwendigen Rüstzeug, seine wesentlichsten Mittel bleiben aber immer die Fachkenntnis, die genaue und gekonnte Untersuchung und die im Laufe der Zeit gesammelte Erfahrung. Abschließend seien die Muster für Meßbögen wiedergegeben. Diese Bögen haben sich zur Vermeidung unnötigen Schreibwerks aber auch als Gedächtnisstützen für den Untersuchungsablauf eingebürgert. Sie können über die Unfallversicherungsträger bezogen werden (s.1.27). Weil diese Meßbögen eine Schematisierung bedeuten, sei daran erinnert, daß die
Allgemeines
100
Bemessung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben sich nach dem klinischen Gesamtbefund richtet und nicht nach Einzelergebnissen.
1.27 Anleitung zur Benutzung der Meßblätter und der Messung nach der Neutral-O-Methode Von verschiedenen Autoren wurde eine einheitliche Schreibweise der gemessenen Gelenkbeweglichkeit vorgeschlagen als sogenannte Neutral-0- oder Null-Durchgangsmethode, die heute international verbreitet ist. Ausgangspunkt aller Messungen ist dabei die sogenannte Neutralstellung der untersuchten Person. Diese Neutral-O-Stellung entspricht der normalen Funktionsstellung aller Gelenke eines gesunden Menschen im aufrechten Stand mit hängenden Armen und nach vorn gehaltenen Daumen und parallel ausgerichteten Füßen. Die Messung der Gelenkbeweglichkeit erfolgt durch Anlegen des Winkelmessers an die vom Gelenk ausgehenden Gliemaßen. Der Winkelmesser wird weder dorsal noch ventral angelegt, sondern lateral, und zwar so, daß die Schenkel des Winkelmessers mit den gedachten Längsachsen der Gließmaßen zur Deckung gebracht werden und die Drehachse des Winkelmessers mit der Drehachse des Gelenkes zusammenfällt. Der durchlaufende Winkel wird an der Winkelmesserskala abgelesen und sinnvollerweise unter Rundung auf die nächste Fünferstelle notiert. Bei der Protokollierung werden immer 3 Zahlen eingetragen. In Normalfall wird die 0 zwischen die beiden Ziffern für die Anfangs- und Endstellung gesetzt, da üblicherweise die Gelenke über die O-Stellung hinaus in zwei Richtungen Bewegungen zulassen.
Beispiel Hüftgelenk:
Streckung/O/Beugung
10 - 0 - 130
bedeutet: Der Bewegungsumfang erreicht von 10° Streckung über die O-Position bis 130° Beugung. Wird bei der Bewegung die O-Stellung erreicht ohne weiteren Bewegungsausschlag darüber hinaus, so wird durch 2-malige Schreibung der 0 angezeigt, daß die erreichbare Endstellung der O-Stellung des Gelenkes entspricht: Beispiel Ellbogengelenk:
Streckung/O/Beugung
0-0-150
bedeutet: Die normale Streckstellung des Gelenkes ist gleichzeitig Endstellung, eine Überstreckbarkeit liegt nicht vor. Wenn infolge einer Bewegungseinschränkung die Normalposition (gleich O-Stellung) nicht erreicht wird, so wird der bei Bewegung beschriebene Winkel durch die erreichbaren Grenzausschläge auf der Bewegungsseite der O-Position angegeben:
101
Simulation und Aggravation Beispiel Zeigefingergrundgelenk:
0-30-80
Streckung/O/Beugung
bedeutet: Das Bewegungsausmaß ist durch die Grenzen 30 bzw. 80° Beugung gegeben, das heißt, es beträgt 50°. Es liegt also eine Beugekontraktur von 30° vor. Bei Versteifung eines Gelenkes wird durch doppelte Notierung der Gelenkstellung angezeigt, daß ein Bewegungsausschlag nicht möglich ist: Kniegelenk:
Streckung/0/Beugung
0-20-20
bedeutet: Es besteht eine Versteifung in 20° Beugestellung. Eine Versteifung in Streck- bzw. Überstreckstellung wird wie folgt notiert: Kniegelenk:
Streckung/O/Beugung
10-10-0
bedeutet: Hier besteht eine Versteifung in 10° Überstreckstellung. Die Längen-
und Umfangmessungen
sollen wenn möglich ebenfalls in der Neutral-
stellung erfolgen, um vergleichbare Werte zu erhalten. Als M a ß b a n d ist ein kunststoffüberzogenes Schneiderbandmaß zu empfehlen. Stahlmeßbänder knicken und legen sich der H a u t weniger gut an. Auch hier soll die Notierung mit einer Genauigkeit von 0,5 cm erfolgen. Das M e ß b l a t t muß möglichst vollständig und genau ausgeführt und beziffert werden, um dem Nachuntersucher brauchbare Vergleichswerte liefern zu können. Dem Untersucher noch erforderlich erscheinende Zusatzmessungen können eingefügt werden. Beschreibende Angaben über Funktionszustände (z.B. Faustschluß, Spitzgriff etc.) müssen im Gutachtentext enthalten sein und erscheinen daher nicht im M e ß b l a t t .
1.28 Simulation und Aggravation Bei der Begutachtung muß der Arzt in einem erheblichen Prozentsatz mit bewußter oder unbewußter Übertreibung (Aggravation), schung
in seltenen Fällen sogar mit
Vortäu-
(Simulation) rechnen. Diese Beobachtung macht man in allen Versicherungs-
zweigen besonders bei ungewissen Wirtschaftslagen des einzelnen oder der Gesamtheit. Die Begutachtung entscheidet oft über starke materielle oder soziale Interessen. Der Grund für dieses Verhalten liegt zweifellos in dem Bestreben des Versicherten, sich anhand eines Unfalls wirtschaftliche oder sonstige Vorteile zu verschaffen. Was kann nun der Versicherte vortäuschen? 1. Das Unfallereignis. rungsträger. ander
Die Untersuchung
derartiger
Fälle ist Sache der
Der Arzt muß nur die Frge beantworten,
übereinstimmen
2. Die Unfallfolgen. heitserscheinungen
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(z.B. Blutergußverfärbung Die unbewußte kommt
bei seelisch
nach äußerer
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Unfallversiche-
und Befund
und Übertreibung
wie bei seelisch
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Anleitung zur Benutzung der Meßblätter
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Allgemeines
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20-30°
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Abb. 21
Anleitung zur Benutzung der Meßblätter
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men Persönlichkeiten vor. Nur selten gelingt die Klärung, ob eine Vortäuschung bewußt oder unbewußt war. Allerdings ist die Zahl der bewußten Simulanten wesentlich geringer als die der unbewußten. Zu den Unfallfolgen, die am meisten vorgetäuscht oder übertrieben werden, gehören: Schmerzen, Sensibilitätsstörungen, Kraftlosigkeit, Gangstörungen, Gelenkbehinderungen; von den neurologischen Unfallfolgen besonders: Schwindel, Zittern, Gedächtnisschwäche, Krämpfe, Schlaflosigkeit, Sehbehinderungen, Hör- und Gleichgewichtsstörungen. Beim Internisten werden vorgebracht: Atembeschwerden, Herzklopfen, Herzschmerzen und nach Bauchverletzungen die schwer objektivierbaren Bauchschmerzen und Verdauungsstörungen. Beweisen können wir eine Simulation oder Aggravation in der Regel nicht. Wir haben vor allem kein M a ß , mit dem wir den Schmerz messen können.
3. Den Zusammenhang eines vorbestehenden Leidens mit einem Unfallereignis. Häufig werden Erkrankungen, die vielleicht oder sogar sicher schon vor dem Unfall bestanden haben von den Versicherten als Unfallfolgen betrachtet und hingestellt, wenn sie anläßlich des Unfalles oder gelegentlich einer Unfallbegutachtung aufgedeckt wurden. Hierbei handelt es sich meistens jedoch um mangelnde Sachkenntnis des Laien in medizinischen Dingen. Die damit aufgeworfene Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang muß durch einen speziell erfahrenen Gutachter sachverständig beantwortet werden. Eine nicht unwesentliche Rolle für die Entstehung und Förderung der unbewußten seelischen Fehlverarbeitung eines Unfalles und seiner Folgen kommt den unvorsichtig oder unbedacht abgefaßten Bescheinungen in diesen Dingen nicht bewanderter Ärzte zu. Die Verbissenheit mancher Versicherter führt zu oft jahrelangen mehrinstanzlichen Rechtsauseinandersetzungen. Derartige Menschen vermag auch die Entscheidung selbst der letzten Rechtssprechungsinstanz über ihre Rentenansprüche nicht zur Ruhe zu bringen. Folgende Gesichtspunkte erleichtern bei der Untersuchung die Differenzierung zwischen Übertreibung und Vortäuschung und echten Unfallfolgen: Genaue und möglichst unauffällige Beobachtung des Gutachtenpatienten während der ganzen Untersuchung, ohne bei ihm den Verdacht zu erwecken, daß man ihm nicht traut. Die sorgfältige Erhebung der Vorgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der subjektiven Klagen. Die exakte ärztliche Untersuchung mit wechselnden Untersuchungsabläufen im Stehen, Sitzen und Liegen, hier in Rücken- und Bauchlage. Die Ablenkung der Aufmerksamkeit des Patienten und seine Ermüdung durch langdauernde, sich wiederholende Untersuchungen, die durch Monotonie die Konzentrationsfähigkeit herabsetzen. Die Anwendung von Untersuchungsmethoden, die dem Verletzten nicht bekannt sind. Besonders alte Rentenbezieher und Chronischkranke kennen den Großteil der üblichen Untersuchungsmethoden und wissen genau, wie sie sich dagegen zu verhalten haben. Die stationäre Beobachtung und bei vorgetäuschten Gelenkbehinderungen eine Untersuchung in Narkose, die Anwendung fotografischer Doku-
110
Allgemeines
mentation oder eine Fernsehbeobachtung sind weitere Möglichkeiten. Vor allem ist aber die Kenntnis gleichartiger Erkrankungen bei NichtVersicherten erforderlich. In jedem begründeten Verdachtsfall ist es angebracht, höher spezialisierte apparative Untersuchungen einzusetzen. Die gelegentlich vorkommenden Selbstschädigungen sind bei erfahrener Befundauswertung ahn- oder aufdeckbar.
2. Spezielles
2.1 Die wichtigsten Rentensätze Der ursprüngliche Sinn der Rente in der Unfallversicherung war die Linderung der rein materiellen Not durch eine Entschädigung für den unfallbedingt geringeren Arbeitsverdienst. Minderung der Erwerbsfähigkeit und Lohneinbuße waren vor etwa 100 Jahren praktisch identisch. In der heute hoch spezialisierten Arbeitswelt gibt es das allgemeine Erwerbsleben, den allgemeinen Arbeitsmarkt von 1880 nicht mehr. Die Unfallrente entschädigt heute für körperliche Beeinträchtigung, die Verminderung der Arbeitsmöglichkeiten, die Erschwerung wirtschaftlichen Fortkommens, für die Notwendigkeit, den Arbeitsplatz oder gar den Beruf wechseln zu müssen, seltener noch für geringeren Arbeitsverdienst. „Bei der Gewährung der Rente handelt es sich um die Versorgung wegen der wirtschaftlichen Folgen der erlittenen Gesundheitsstörung. Diese wirtschaftlichen Folgen werden daran gemessen, inwieweit der Geschädigte in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit ist also das Maß für die wirtschaftlichen Folgen einer Gesundheitsstörung" (Entscheidung Bundessozialgericht vom 6.8.1963). Im Laufe der Zeit haben sich für die Schätzung bestimmter Unfallfolgen Erfahrungswerte herausgebildet. Diese sind in Form sogenannter Rententabellen zusammengefaßt. Die Erweiterung der in diesen Tabellen erfaßten Schädigungsfolgen und ihrer gradmäßigen Bewertung geschieht durch Relativierung zu den bereits bekannten vergleichbaren Bemessungen, ferner durch Berücksichtigung der wissenschaftlichen Forschungsergebnisse und weiter durch die Rechtsprechung. Der ärztliche Gutachter wird immer auf diese Rententabellen verwiesen, welche die üblichen Sätze namentlich für Unfallfolgen an den Gließmaßen enthalten. Diese Zusammenstellungen stellen jedoch keine verbindlichen Normen dar. Sie sind ärztlicherseits immer nur als Arbeitshilfen innerhalb einer sich wandelnden versicherungsrechtlichen Begriffswelt aufgefaßt und benutzt worden. In der Praxis hat es sich als zweckmäßig erwiesen, große Abweichungen von den nachfolgenden Schätzungsregeln stets stichhaltig zu begründen, um die bewußte Abweichung von den üblichen und allgemein anerkannten Anhaltspunkten schlüssig erscheinen zu lassen. Die Rente selbst setzt der Versicherungsträger dann fest, wenn ihm der Schätzungsvorschlag des Sachverständigen überzeugend erscheint. In der Unfallversicherung sind die praktisch wichtigsten Eck-Rentensätze einmal 20 V.H., weil an diesen Satz in der Regel die Zahlbarmachung der Rente überhaupt gebunden ist, weiterhin 50 v. H. weil an diesen Satz die begehrte Schwerbeschädigteneigenschaft gekoppelt ist (Kinderzulage, Kündigungsschutz, Witwen- und Waisenbeihilfe bei nicht unfallbedingtem Tod) und der Satz von 80 v.H., weil dann eine noch
112
Spezielles
weitere wesentliche Vergünstigung fällig werden kann (laufende Witwenbeihilfe bei nicht unfallbedingtem Tod nach 10-jährigem Rentenbezug). Bei gleicher Einschätzung des Satzes der Minderung der Erwerbsfähigkeit sind in der Unfallversicherung die finanziellen Folgen deshalb individuell verschieden, weil der vor dem Unfall erzielte Jahresarbeitsverdienst die jeweils maßgebliche Berechnungsgrundlage abgibt (Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 v.H. = 66 2/3 v.H. des Jahresarbeitsverdienstes). Wenn auch manchmal nur anatomische oder röntgenologische Veränderungen stichwortartig als Begutachtungskriterien aufgeführt werden, so soll das nicht bedeuten, daß nicht vorrangig funktionelle Gesichtspunkte gelten und bei den Rentensätzen berücksichtigt wurden. Die funktionelle Auswirkung der Körperschäden ist — wie seit Jahrzehnten üblich — das maßgebliche Begutachtungsmerkmal. Die nachstehend mitgeteilten Zahlen für Erfahrungswerte sind im Sinne der vorstehenden Ausführungen als Richtlinien aufzufassen. Sie sollen nur als Anhaltspunkte für die Einschätzung im Einzelfall dienen. Die genannten Zahlen haben erst nach einer gewissen Gewöhnung und Anpassung an den Zustand der unfallbedingten Schädigung Geltung. Erfahrungsgemäß liegen kurze Zeit nach Ausheilung der akuten Verletzungen die angemessenen Entschädigungssätze höher, weil auch die funktionellen Auswirkungen der Unfallfolgen durch Übungs- und Trainingsmangel bzw. Verlust schwerer wiegen. Selbstverständlich muß man der Ausprägung und dem Schweregrad der unfallbedingten Befunde Rechnung tragen. Stets ist also die zusätzliche Berücksichtigung der Einzelsituation eines jeden Verletzten und seiner geistigen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten erforderlich. Die Tabellen führen nur häufig vorkommende Unfallfolgen als Beispiele für die jeweile Bemessung der 1. Dauerrente auf. Die vorgeschlagenen Entschädigungssätze an den Gließmaßen gehen davon aus, daß die Gegenseite völlig gesund und gebrauchsfähig ist. Vor dem Ansatz dieser Erfahrungswerte muß der Gutachter also stets für sich die Frage beantworten, ob in den Verhältnissen des Einzelfalles Besonderheiten vorliegen, die ihn aus dem Durchschnitt herausheben oder nicht. Die abweichende Schätzung nach oben oder unten muß anhand dieser Besonderheiten erläutert werden. Die Schätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit muß immer von der individuellen und nicht von einer allgemeinen Erwerbsfähigkeit ausgehen. Diese Individualität muß bei Abweichungen immer herausgestellt werden. Bei seiner Beurteilung kann sich der Gutachter scheiden.
immer nur für eine einzige Zahl ent-
Bei den Erwerbsminderungssätzen an der oberen Gliedmaße wurde von der naturgegebenen Tatsache ausgegangen, daß die Rechtshändigkeit überwiegt (93% der Erdbevölkerung). Diejenigen Bestrebungen die eine angeblich generelle funktionelle Gleichwertigkeit beider Arme und Hände propagieren, erschweren die sachgerechte Einschätzung der
113
Körperoberfläche
individuellen Verwertbarkeit der verbliebenen Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Sie lassen außer acht, daß die anspruchbegründenden Tatsachen durch die Minderung oder den Ausfall normaler Funktionen bedingt sind und nicht durch anatomische Defekte. Diese allein können niemals Maßstab der Bewertung sein. Daher wird in der Rechtssprechung auch in neuester Zeit noch zwischen Gebrauchshand und Hilfshand unterschieden. Auch an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß Anregungen und Vorschläge zur Rehabilitation oder kurze Bemerkungen über das Ergebnis der bisherigen Einordnungsversuche des Gutachtenpatienten viel nützlicher sind als „wohlwollende" Einstufungen der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Zur Verletztenrente bei Kindern in Kindergärten, Schülern und Studierenden siehe Teil 12.5.3.4.
2.2 Körperoberfläche Flächenhafte Narbenbildungen ohne Berücksichtigung von Versteifungen, trophischen Störungen und anderen Schäden Prozentsatz 20 ν. H. Körperoberfläche 10 30 v. H. Körperoberfläche 20 Verbrennungsnarben u. ä. in v. H. der Körperoberfläche
1 bis 4 Jahre
5 bis 9 Jahre
10 bis 14 15 Jahre Jahre
Kopf Hals Rumpf (vorn) Rumpf (hinten) R. Gesäßhälfte L. Gesäßhälfte Genitalien R. Oberarm L. Oberarm R. Unterarm L. Unterarm R. Hand L. Hand R. Oberschenkel L. Oberschenkel R. Unterschenkel L. Unterschenkel R. Fuß L. Fuß
17% 2 13 13 272 272 1 4 4 3 3 272 272 672 672 5 5 372 372
13% 2 13 13 272 272 1 4 4 3 3 272 272 8 8 572 572 372 372
11% 2 13 13 272 272 1 4 4 3 3 272 272 872 872 6 6 372 372
9% 2 13 13 272 272 1 4 4 3 3 272 272 9 9 67. 672 372 372
Erwachsene 7% 2 13 13 272 272 1 4 4 3 3 272 272 972 972 7 7 372 372
Bei körperlichen Entstellungen, insbesondere bei erheblichen Verstümmelungen sichtbarer Körperteile sind nicht nur medizinische, sondern auch wirtschaftliche Fragen (Herabsetzung der Angebotsfähigkeit, Einschränkung dienstlicher Kontakte) und die seelischen Auswirkungen zu berücksichtigen.
114
Spezielles
2.3 Kopf Schädel und Gesicht
Prozentsatz
Schädelbasisbruch (ohne neurologische oder HNO-Begleitschäden) . . .
0
Brüche des Hirn- oder Gesichtsschädels ohne weitere Auswirkungen..
10
Kleinere Knochenlücken am Schädel (ohne Hirnfunktionsstörung) . . . .
10
Knochenlücken im Schädeldach (ohne Hirnfunktionsstörung), je nach Größe (Pelotte nach Bedarf)
10-40
Einbruch des Augendachrandes und des Jochbeines, je nach Grad der Gesichtsentstellung
0-15
Einfache Entstellung des Gesichtes; kosmetisch nur wenig störend
10
kosmetisch störend, ohne Korrektur und Epithese
20
Abstoßende Entstellungen des Gesichtes, die den Umgang mit Menschen erschweren, ohne Korrektur oder Epithese
30—50
Gesichtsnervenlähmung einseitig, wenig störend
10
ausgeprägte Störungen oder Kontrakturen
20
komplette Lähmung oder entstellende Kontraktur beidseitig, je nach Ausprägung Skalpierung bei Frauen (dazu Perücke) Skalpierung oder Vernarbung der Kopfhaut bei Männern (mit und ohne Perücke)
Gehirn Gehirnerschütterung, im Regelfalle Gehirnerschütterung mit nachweisbaren neurologischen Störungen und geringer Leistungsbeeinträchtigung (bis 2 Jahre nach dem Unfall)
30 20—40 30 10-20
Prozentsatz 0 10—20
Hirnschäden mit Leistungsbeeinträchtigung geringen Grades
10-20
mittelschweren Grades
30—50
schwere bis schwersten Grades
60-100
Hirnschäden mit Teillähmungen und Lähmungen leichten Grades
bis 40
mittelschweren Grades
40-60
schweren Grades
60—80
Halbseitenlähmung
100
Lähmung beider Beine
100
Kopf
115
Teillähmungen und Lähmungen der Gliedmaßen sind aus vergleichbaren Funktionseinbußen der Gliedmaßen abzuleiten Hirnschädigung mit organisch-psychischen Störungen (sogenannte Hirnleistungsschwäche und organische Wesensänderung), je nach Art Prozentsatz leicht
20-40
mittelgradig
40-50
schwer Hirnschädigungen mit zentralen vegetativen Störungen (z.B. Kopfschmerzen, Schwindel, Schlafstörungen, Kreislaufregulationsstörungen)
60-100
leichter Art
10-20
mittelschwer (auch vereinzelt synkopale Ausfälle)
20—30
schwerer Natur mit häufigen Anfällen oder schweren Auswirkungen auf den Allgemeinzustand
30-40
Blasen- und Darmlähmung
100
Hirnschäden mit herdbedingten Ausfällen (ζ. B. Aphasie, Apraxie, Agnosie) leicht
bis 30
mittelschwer
40-60
schwer
70-100
Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen zerebraler Ursache, je nach Gebrauchsfähigkeit der Gliedmaßen
30-100
Zerebrale Krampfanfälle (epileptische Anfälle), je nach Art, Schwere, Häufigkeit und tageszeitlicher Verteilung)
40-100
sehr selten (große Anfälle mit Pausen von mehr als einem Jahr; kleine Anfälle mit Pausen von Monaten)
40
selten (große Anfälle mit Pausen von Monaten; kleine Anfälle mit Pausen von Wochen)
40-50
mittlere Häufigkeit (große Anfälle mit Pausen von Wochen; kleine Anfälle mit Pausen von Tagen)
50-60
häufig (große Anfälle wöchentlich oder Serien von generalisierten Krampfanfällen, von fokal betonten oder von multifokalen Anfällen; kleine Anfälle täglich)
70-100
nach drei Jahren Anfallsfreiheit bei weiterer Notwendigkeit antikonvulsiver Behandlung (wegen fortbestehender Anfallsbereitschaft)
20
Ein Anfallsleiden gilt als abgeklungen, wenn ohne Medikation drei Jahre Anfallsfreiheit besteht. Ohne nachgewiesenen Hirnschaden ist dann keine MdE mehr anzunehmen . Isolierte Hirnnervenstörungen sind von den entsprechenden Funktionseinbußen der Erfolgsorgane abzuleiten. Hirnerkrankungen sind nach den vergleichbaren Leistungsausfällen zu beurteilen.
116 Auge
Spezielles
Prozentsatz einseitig beidseitig
entstellende Verletzung der Lider
10
25
Verletzung der Tränenwege
10
25
chronischer Bindehautkatarrh
10
15
unzureichender Lidschluß (vgl. auch Gesichtsnervenlähmung) je nach Gefährdung des Auges und Entstehungsgrad . . . Schließunfähigkeit des Auges
10-20
20-30
25
30-40
0
10
Lähmung des Oberlides mit geringem Herabsinken ohne Sehbehinderung mit geringem Herabsinken mit Sehbehinderung
10—20
20—30
mit vollständigem Verschluß des Auges
30
70
Augenmuskellähmungen an einem Auge ohne wesentliche Störung des zweiäugigen Sehens
10
wenn das Auge vom Sehen ausgeschlossen werden muß
30
Doppeltsehen
20
Verlust oder Blindheit beider Auge
100
Verlust oder Blindheit eines Auges bei uneingeschränktem Sehvermögen des zweiten Auges, auch bei problemlosem Tragen eines Kunstauges
25
Verlust eines Auges mit Unmöglichkeit des Tragens einer Prothese
30
Verlust eines Auges mit chronischer Eiterung der Augenhöhle oder Gesichtsentstellung Verlust oder Blindheit eines Auges bei
40
Herabsetzung der Sehschärfte auf dem zweiten Auge auf 0,4
50
beidseitige Herabsetzung des Sehvermögens auf 0,2 . . . .
50
beidseitige Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,05
J00
Linsenverlust beidseitig, unkompliziert, bei Korrektur mit einer Starbrille von 10 dptr. und mehr
25
einseitig, unkompliziert, auch mit Kontaktlinsen-Korrektur
20
am einzigen sehtüchtigen Auge, bei Korrektur mit einer Starbrille von 10 dptr. und mehr
45
Linsenimplantation mit gutem Sehvermögen und praktisch verwertbarem zweiäugigem Tiefensehen
15
117
Kopf
Rententabelle
der DOG
Für die Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Schäden des Sehvermögens (Herabsetzung der Sehschärfe) hat die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft ( D O G ) Richtlinien erarbeitet, die als Bemessungsgrundlage von den Trägern der Gesetzlichen Unfallversicherung anerkannt werden. Diese „ R e n t e n t a b e l l e " der D O G folgt den Erfahrungen der Praxis und der damit einheigehenden Rechtsprechung. Der Gutachter ist bei seiner Schätzung der M d E grundsätzlich unabhängig. Allerdings soll er Abweichungen von diesen Richtlinien im Einzelfall begründen. Der Visus ( = Sehschärfe) wird heute als Dezimalbruch angegeben. Die Schreibweise in einem echten Bruch läßt im Zähler die Prüfentfernung in Metern erkennen und im Nenner die gelesene Zeile der Sehprobentafel. Die erste waagrechte bzw. senkrechte Rubrik enthält die Sehschärfe des rechten (RA) bzw. des linken (LA) Auges in beiden gebräuchlichen Schreibweisen. Die übrigen Rubriken liefern die sich ergebende M d E im Hundertsatz. Gültige MdE-Tabelle der DOG (1981) Visus-MdE-Tabelle der D O G (1981) Sehschärfe
1,0
0,8
75
7
6
0,63
0,5
0,4
0,32 0,25
0,2
0,16
0,1
0,08 0,05 0,02
0
7«
710
7,2
7,5
720
725
730
750
7,2
V20
V50
0
1,0
7 5
0
0
0
5
5
10
10
10
15
20
20
25
25
25*
0,8
s
u
0
0
5
5
10
10
10
15
20
20
25
30
30
30
0,63
7,
0
5
10
10
10
10
15
20
20
25
30
30
30
40
0,5
7I0
5
5
10
10
10
15
20
20
25
30
30
35
40
40
0,4
7 ,2
5
10
10
10
20
20
25
25
30
30
35
40
50
50
0,32
7,5
10
10
10
15
20
30
30
30
40
40
40
50
50
50
0,25
720
10
10
15
20
25
30
40
40
40
50
50
50
60
60
0,2
725
10
15
20
20
25
30
40
50
50
50
60
60
70
70
0,16
730
15
20
20
25
30
40
40
50
60
60
60
70
80
80
0,1
750
20
20
25
30
30
40
50
50
60
70
80
90
90
0,08
7,2
20
25
30
30
35
40
50
60
60
70
80
90
90
90
0,05
V20
25
30
30
35
40
50
50
60
70
80
90
100
100
100
0,02
V50
25
30
30
40
50
50
60
70
80
90
100
100
100
0
0
25*
30
40
40
50
50
60
70
80
90
90
100
100
100
MdE-%-Satz * Gilt für unkomplizierte einseitige Erblindung. Bei Komplikation durch äußerlich in Erscheinung tretende Veränderungen, wie z . B . Beweglichkeitseinschränkung des Augapfels, entstellende Narben im Augenbereich, chronische Reizzustände oder Notwendigkeit eines Kunstauges kann dieser M d E - S a t z auf 3 0 % erhöht werden.
118
Spezielles
Visusbeurteilung
bei hoher Myopie und hochgradigem
Astigmatismus
Hochgradige Refraktionsanomalien weisen häufig in der mittleren Seh-Distanz (0,7 m - 3 m) eine bessere Sehschärfe als für die Ferne auf. In diesen Fällen sollte der Gutachter nicht nur den Visus für die Ferne, sondern auch in 1 m Abstand prüfen und den für die Ferne anzusetzenden MdE-Wert korrigieren, wenn zwischen beiden Visuswerten eine zu große Diskrepanz besteht. Die beiden wiedergegebenen Renten-Tabellen von Marchesani und von Wegner sind für Sehschärfenwerte in 1 m Entfernung ausgearbeitet. Sie sollen aber keineswegs übernommen werden, sondern sind als zusätzliche Information gedacht, wenn der Gutachter für seine MdE-Einschätzung Bedenken hat. Generell gilt auch in diesen Fällen die Rententabelle der D O G Rententabelle für hochgradige Myope (Marchesani 1942) Prüfentfernung 1 m Sehschärfe
v3
7«
75
7l0
720
730
750
4-t U 0
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