Traumwissen und Traumpoetik von Dante bis Descartes [1 ed.] 9783737012331, 9783847112334


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Traumwissen und Traumpoetik von Dante bis Descartes [1 ed.]
 9783737012331, 9783847112334

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Romanica Mainzer Studien zur romanischen Literatur- und Kulturwissenschaft

Band 10

Herausgegeben von Stephan Leopold, Véronique Porra und Dietrich Scholler

Dietrich Scholler / XUAN Jing (Hg.)

Traumwissen und Traumpoetik von Dante bis Descartes

Mit 10 Abbildungen

V&R unipress Mainz University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Mainz University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Inneruniversitären Forschungsförderung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Antonio de Pereda: El sueño del caballero (1650), © La Real Academia de Bellas Artes de San Fernando, Madrid (Spanien). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2509-5730 ISBN 978-3-7370-1233-1

Inhalt

Dietrich Scholler (Mainz) / XUAN Jing (Heidelberg) Träumende Ritter zwischen Virtus, Voluptas und Imperium

. . . . . . .

7

Gerhard Regn (München) Traumdeutung und Bibelexegese in Dantes Vita nova . . . . . . . . . . .

23

Thomas Klinkert (Zürich) Zur metapoetischen und epistemologischen Funktion der Träume in Dantes Purgatorio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Christiane Conrad von Heydendorff (Mainz) Zur Relation von Ohnmacht, Schlaf, Traum und Vision in Dantes Commedia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Virginie Leroux (EPHE, PSL) Le songe pétrarquiste dans la poésie latine

97

. . . . . . . . . . . . . . . . .

Dietrich Scholler (Mainz) Überlegungen zur Poetik des Traums in Bembos Rime . . . . . . . . . . . 121 Susanne Goumegou (Tübingen) Traum und Illusion im Orlando furioso

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

David Nelting (Bochum) “Un sogno cheto perché gli rivelasse alto decreto…”. On the Poetic and Epistemic Significance of the Dream in Torquato Tasso’s Gerusalemme Liberata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Timo Kehren (Mainz) Calistos Träume: Eros und Thanatos in der Celestina

. . . . . . . . . . . 179

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Inhalt

XUAN Jing (Heidelberg) Barocke Traumsprache: Visualität und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . 195 Stephan Leopold (Mainz) Soñadas invenciones. Traumwissen und Traumpoetik im Don Quijote

. . 211

Marc Föcking (Hamburg) „Il credere à sogni, è un sogno“. Schlafen und Träumen in Marinos Adone 235 Robert Folger (Heidelberg) Der letzte Traum des Barocks: Sor Juanas Primero Sueño (1692) und die Emergenz des punctual self . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Claire Gantet (Fribourg) Descartes und der Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Dietrich Scholler (Mainz) / XUAN Jing (Heidelberg)

Träumende Ritter zwischen Virtus, Voluptas und Imperium

Die Erforschung der europäischen Traumkulturen hat in den letzten Jahren in der Literaturwissenschaft an Dynamik gewonnen. Dabei ragen drei Forschungsverbünde heraus. An erster Stelle zu nennen ist das Studiennetzwerk „Network of Cultural Dreamstudies“, das jedoch ausschließlich dem Traum in der Moderne verpflichtet ist, an zweiter das ICLA Research Committee „Dream Cultures. Cultural and Literary History of the Dream“, das mit dem erstgenannten Netzwerk in Verbindung steht und seinen Schwerpunkt ebenfalls auf die Moderne gelegt hat. Nicht übergangen werden kann schließlich das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im April 2015 eingerichtete Graduiertenkolleg „Europäische Traumkulturen“, das in der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft bzw. der Germanistik der Universität des Saarlandes angesiedelt ist. Trotz ihrer thematischen Breite finden die romanischen Literaturen der Frühen Neuzeit in diesen bereits etablierten Forschungsverbünden hierzulande keine spezielle Beachtung. Auch als Epoche bleibt die Frühe Neuzeit selbst in der internationalen Traumforschung gegenwärtig ohne größere Resonanz. Daraus ergaben sich Desiderate, denen wir im Herbst 2016 an der Johannes GutenbergUniversität im Rahmen einer internationalen DFG-Tagung nachgehen wollten und deren Ergebnisse nunmehr vorliegen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der frühneuzeitlichen Traumkultur Italiens und Spaniens. Aber daneben kommt auch der neulateinische Petrarkismus des 16. Jahrhunderts zu Wort sowie – am Beispiel Dantes – der spätmittelalterliche Status des Traumes in Gestalt prophetischer Visionen.1 Denn das in der christlichen Bekenntnis- und Ratgeberliteratur verschriftlichte und mündlich verbreitete Traumwissen2 findet seinen

1 Vgl. hierzu die Beiträge von Leroux, Regn, Klinkert und Conrad von Heydendorff. 2 Zur Bedeutung des Traumes im Mittelalter vgl. grundlegend Le Goff (1985). Solange die Ekklesia in Konkurrenz zu heidnischen Formen der Traumdeutung stand, nahm sie gegenüber dem Traum eine ablehnende Haltung ein. So wurden auf dem ersten Konzil von Ancyra (314) sämtliche Formen der Wahrsagerei und Traumdeutung unter Strafe gestellt. Im Hochmittelalter war aber „une nouvelle élite de rêveurs habilités“ (ebd.: 203) entstanden, denen das

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Niederschlag vor allem in literarischen Darstellungen von Träumen. So etwa wird das durch Augustinus in den Confessiones geprägte Traumnarrativ von Verheißung und Erfüllung in Dantes Prosimetrum Vita nova grundlegend sein. Dantes Sprecher wird in der ersten Traumvision vom verspeisten Herz mit einer mehrdeutigen vita nova bekannt gemacht. Denn die religiöse Pragmatisierung literarischer Träume stellt nur eine Facette spätmittelalterlicher Traumkultur dar. Schon bei Dante bietet der Traum neben seiner prophetischen Dimension auch einen Rahmen für poetologische Erörterungen. Bekanntlich ist das im ethisch-religiösen Sinne ‚neue Leben‘ an die neue Ausdruckweise des dolce stil novo gekoppelt, so dass jede neue Stufe auf dem Wege der ethischen Vervollkommnung des Sprechers mit einer markanten, poetologisch reflektierten Erschwerung des Dichtungsstils einhergeht. An der Schwelle zur Renaissance sind Veränderungen in den europäischen Traumkulturen zu verzeichnen. Den großen autoritativen Traumerzählungen aus der Bibel oder von Seiten der Kirchenlehrer gesellen sich schon im 13. Jahrhundert mit der einsetzenden Aristoteles-Rezeption neue Quellen des Traumwissens hinzu. In der Traumhierarchie besetzen Traumvisionen im Kontext göttlicher Offenbarung zwar weiterhin den obersten Rang, aber daneben werden auch profane medizinische und astrologische Wissensbestände zur Erklärung von Träumen herangezogen, darunter etwa gelehrte Abhandlungen von Vinzenz von Beauvais, Wilhelm von Aragon, Arnald von Villanova und Gerolamo Cardano (vgl. Thorndike 1923 und Leroux 2015). Hinzu kommt, dass der engere Bereich christlicher Offenbarungsträume im 16. Jahrhundert durch die Kirchenspaltungen selbst einen Prozess der Pluralisierung durchläuft, wie man etwa an der intensiven Traumexegese Martin Luthers oder Thomas Müntzers ablesen kann (vgl. Gantet 2010). Manifest wird dieser Wandel nicht zuletzt in literarischen Texten, die im Mittelpunkt der Tagung standen. Für den Bereich der Liebeslyrik wird auf den ersten Blick programmatische Kontinuität zur Tradition signalisiert. Das geschieht etwa dann, wenn Petrarcas Sprecher im Proömialsonett des Canzoniere im Sinne klerikaler Heilsgewissheit vom Leben als einem „breve sogno“ (Petrarca 2001: 5) spricht, dem er reumütig seine aktiven Träume entgegenstellt, die in Analogie zu der biblischen Idee der Himmelsleiter am Lebensende einen Aufstieg in die Ewigkeit des Jenseits ermöglichen. Aber auf den zweiten Blick wird klar, dass Petrarcas einschlägige Traumsonette im Horizont einer Poetik des Aufschubs (Regn 2003) gelesen werden müssen, die sich den Traum zum Ermöglichungsgrund, wenn nicht zum Komplizen für die Erkundung heterotoper Räume macht, Räume, in denen hedonistische Liebes-

Privileg der Traumdeutung zugestanden wurde, darunter christliche Herrscher, Heilige und Mönche.

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konzepte aus der Antike aktualisiert werden, oder solche, die für eine protonationale Erneuerung im Sinne der translatio imperii stehen (vgl. Leopold 2009). Auf dem Feld der Liebesdichtung verstärkt sich diese Tendenz zur Heterogenisierung im Cinquecento insofern, als sich die feste Verbindung zwischen Traumvision und Jenseitserfahrung lockert und schließlich gänzlich gelöst wird. Zwar wird Petrarcas Lyrik von Seiten Pietro Bembos zum volkssprachlichen Modell für Sprache und Stil erklärt, weshalb Bembos Rime (1530) sogar die Funktion eines Petrarca-Kommentars zugesprochen worden ist (vgl. Kablitz 1993). Aber wenn man Bembos Modellierung des Traumes näher betrachtet, überwiegt die Idee der superatio. Tritt doch bei Bembo die Mittler-Funktion des Traumes deutlich zurück. Stattdessen rückt der Traum selbst in das Zentrum der Darstellung, was sich schon darin ausdrückt, dass er wie eine Person direkt angesprochen wird und dass er weniger eine Brücke zum Heil bildet, als vielmehr selbst von heilsamer Wirkung ist. Diese Funktionsverlagerung stellt freilich nur eine von mehreren neuen Funktionen dar, die dem Traum im Zuge verstärkter Dialogisierung und Pluralisierung von Wahrheit (vgl. Hempfer 2010) in der Hochrenaissance zuwachsen. Das gilt nicht zuletzt für die barockmanieristische Traumliteratur. Die bereits in spätrinascimentalen Traumerzählungen waltenden kühnen Verschiebungen und Verdichtungen sind geradezu prädestiniert für eine neue Literatur im Zeichen des acuto ingenio, weil sie von der Last der Allegorese befreit sind und damit nicht länger für pragmatische Sinnstiftung zur Verfügung stehen3 oder sich als allegorische politische Decknarrationen maskieren, wie das insbesondere in der spanischen Literatur des Goldenen Zeitalters der Fall sein wird. Ein typisches Beispiel für die profanierte allegorische Bedeutung rinascimentaler Traumdarstellungen stellt Raffaels Gemälde Il sogno del cavaliere (ca. 1504) dar (Abb. 1).4

3 Einschlägig in dieser Hinsicht sind Marinos Rime amorose, in denen der angestammte petrarkistische Normkonflikt zwischen Gottesliebe und Weltverfallenheit komplett ausfällt zugunsten virtuoser Selbstbezüglichkeit, darunter auch in einer Serie von Traumgedichten, in denen der Narzissmus des Sprechers mit einem Pollutionstraum zusammenfällt (vgl. hierzu Scholler 2018). Diese mangelnde Hinwendung zur Dame lässt sich auch für Marinos Epik konstatieren. Im Adone beschwert sich Venus zum wiederholten Mal über die Schläfrigkeit des heiß begehrten Adone, der aber gemäß der Temperamentenlehre einen phlegmatischen Charakter besitzt und die entscheidenden Momente seines Lebens verschläft. Dabei besitzen Adones Träume im Vergleich zum sublimen Traum der Epik eine rein ästhetisch-theatrale Dimension, die bisweilen ins Banale ausfranst (vgl. hierzu den Beitrag von Föcking im vorliegenden Band). 4 Zum Traum und seiner Darstellung in der bildenden Kunst der Renaissance vgl. grundlegend Chegwin (2020).

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Abb. 1: Raffaello Sanzio: Il sogno del cavaliere (ca. 1504), 17,5 × 17,5 cm, London, The National Gallery

Das kleinformatige Ölgemälde zeigt einen jungen Mann all’antica, der auf seinem Schild im Schatten eines Lorbeerbaums schläft. Im Traum erscheinen ihm zwei Damen: Die eine, auf der rechten Seite, verkörpert die voluptas, ist auf anmutige Weise gekleidet und reicht ihm eine Blume, die andere, auf der linken Seite, stellt virtus dar, ist sittsam gekleidet, das Haupt bedeckt, und sie offeriert ihm ein Schwert und ein Buch. Der Hintergrund berücksichtigt die oppositiv angelegten Figuren. Auf der linken Seite steht auf einem schroffen Felsen ein bewehrtes Schloss, auf der rechten erstreckt sich eine liebliche Binnenseelandschaft, die für die „vita più facile della Voluptas“ (Cecchi 2013: 92) steht, wie es im Katalog zu der Ausstellung „Il Sogno nel Rinascimento“ heißt. Meines Erachtens stellt dieses Bild nicht nur den Traum eines Ritters, sondern darüber hinaus auch den Traum der Renaissance dar, weil es die rinascimentale Kernidee der trans-

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latio – also die Übertragung antiker Kultur auf die Neuzeit – in zweifacher Weise umsetzt. Bei näherer Betrachtung lassen sich sowohl Bezüge zur translatio studii als auch zur translatio imperii herstellen. Auch wenn es sich bei Raffaels Traumdarstellung unleugbar um ein Bild der Hochrenaissance handelt, verweist der antik gekleidete Ritter auf eine eminente Szene der längsten zusammenhängenden Versdichtung, die aus der Römischen Antike überliefert ist, nämlich auf das 12 000 Verse umfassende Epos Libri Punicorum bellorum des römischen Dichters und Politikers Silius Italicus, der im ersten nachchristlichen Jahrhundert lebte.5 Die Punica handeln vom zweiten Punischen Krieg, wobei Scipios Entwicklung vom Jüngling zum traditionellen vir bonus et sapiens im Mittelpunkt steht. Auf diesem Weg erscheinen ihm im 15. Buch die beiden allegorischen Gestalten der Tugend und des Lasters. Nach ausführlichen Plädoyers beider Damen folgt Scipio dem Modell der Virtus. Neben dem Bezug auf mustergültige antike Literatur liefern aber auch die lebensweltlichen Pragmatiken des Ölbildes und der Punica Hinweise auf die rinascimentale Bedeutung der translatio studii. Bei dem Bild soll es sich um eine Auftragsarbeit für den jungen Scipio Tommaso Borghese handeln, der gemäß dem Wunsch der Eltern wohl auf den Spuren des antiken Helden wandeln sollte.6 Die Editionsgeschichte der Punica schließlich bietet ein illustres Beispiel für das humanistische Begehren im Zeitalter der Renaissance. Die Nachahmung der Antike in Wort und Bild setzt natürlich voraus, dass einschlägige Texte in einem ganz materiellen Sinn überhaupt erst einmal zugänglich gemacht werden. Erst im Jahr 1417 entdeckte der namhafte Humanist Poggio Bracciolini in einem Kloster in Sankt Gallen ein Manuskript der zwischenzeitlich verschollenen Punica. Das Traumwissen der Renaissance verdankt sich also zu einem großen Teil humanistischer Editionsphilologie. Am Rande sei bemerkt, dass es die wiederentdeckten Punica zwischen 1471 und 1500 auf insgesamt zehn Editionen brachten, so dass auch ein Maler wie Raffael Kenntnis davon erhalten konnte. Mit Raffaels Szene aus dem zweiten Punischen Krieg wird neben dem Aspekt der translatio studii naturgemäß auch die Idee der renovatio Romae berührt. Die Punica selbst müssen schon in diese Konstellation eingerückt werden, weil Silius Italicus im ersten nachchristlichen Jahrhundert bereits aus einer postheroischen Perspektive schreibt und der zeitgenössischen römischen Gesellschaft das tugendhafte altrömische Vorbild Scipios vorhält, der nach seinem endgültigen Sieg über Hannibal eine römische Hegemonialherrschaft im Mittelmeerraum errichten konnte. Fehlte es schon in der antiken Literatur nicht an Dekadenzkritik – man denke etwa an einschlägige Stellen in Livius’ Büchern zur Römischen 5 Zur klassischen Exemplarität der Punica für die Literaturen und Künste der Neuzeit vgl. Reitz (2020). 6 Vgl. hierzu Vestri (2013).

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Geschichte –, so sollte sich diese Denkfigur auch in der italienischen Renaissance zum wiederholten Male Geltung verschaffen. Schon in der Frührenaissance beschwört Francesco Petrarca im Angesicht des desolaten Zustandes des einstigen caput mundi die Idee der renovatio Romae, die freilich keinerlei Aussicht auf politische Realisierung hatte. Aber dieser eklatante Mangel wurde von Petrarca bekanntlich durch eine entsprechende kulturelle Leistung ausgeglichen, die ihn schließlich vom Nachahmer zum Nachgeahmten und damit zum Diskursbegründer der Renaissance machen sollte. Als Raffael im Jahr 1504 seine Traumszene malte, hatte sich mit dem italienischen Modell in der Zwischenzeit eine kulturelle Hegemonie in Europa ausgebreitet. Wenn man sich den Traum des Ritters unter diesen Auspizien noch einmal vor Augen führt, dann versteht man vielleicht, warum die Nachahmung der Alten in der Renaissance stets mit einer Kultur des Wettstreits verknüpft war. Obwohl der träumende Scipio all’antica gekleidet ist, hat er mit seinem waffenklirrenden epischen Modell nicht viel mehr als den Namen gemein. Mag er im Epos ein kriegsbewährter Heros gewesen sein, bei Raffael wirkt er eher wie ein anmutiger Liebesritter, der bei Hofturnieren antritt, dabei sportliche Geschicklichkeit mit Liebeswerbung zu verbinden weiß und – nach dem Modell des Lorenzo de’ Medici – darüber hinaus verschlüsselte Liebesbotschaften dichtet. Ich denke dabei an Lorenzos Turnierauftritt anlässlich seiner Hochzeit mit Clarice Orsini.7 Gleiches gilt für die beiden allegorischen Figuren, die bis auf wenige Details fast austauschbar sind und in nichts mehr an ihre manichäistisch geprägten Modelle aus den Punica erinnern. In Kleidung und Habitus evozieren sie m. E. eher den Gedanken an die Zuhörerinnenschaft in Bembos zeitgleich erscheinenden Asolaner Gesprächen oder an die Turniergäste bei den Hochzeiten der Medici. Raffaels Allegorien der Tugend und der Lebensfreude sind weit entfernt von appellativer Härte, sie drängen den träumenden Ritter nicht zur Entscheidung. Man hat den Eindruck, ihre Angebote schlössen einander nicht aus, sondern seien komplementär. Damit entsprechen sie dem zeitgenössischen höfischen Ideal, das zwar im offiziellen Liebes- und Ethikdiskurs wie etwa in den Asolani einer Ethik der Pflicht das Wort redet, aber unter der Hand ästhetische Inszenierungen prämiert, wie man aus der jüngeren 7 Das Werben um eine Dame vor der Heirat war in besseren Kreisen auch in der Hochrenaissance noch an kriegerische Praktiken geknüpft, wenn auch ästhetisch domestiziert. So etwa bezeugen die Hochzeitszeremonien der Medici-Brüder Lorenzo und Giuliano, dass höhere Herrschaften gerne im Turnier ihren Mann stehen wollten, um sich die Gunst der ausgespähten Dame im wahrsten Sinne des Wortes zu erkämpfen. Nachdem die Familie der Medici Lorenzos Hochzeit mit Clarice Orsini aus der berühmten römischen Orsini-Familie angebahnt hatte, wollte Lorenzo der Tradition entsprechend unbedingt ein Turnier bestehen, um sich Clarice Orsinis als würdig zu erweisen. Zu diesem Zweck wurden im Jahr 1468 alle befreundeten Fürsten Italiens mit der Bitte um Pferde und andere Gaben angeschrieben. Die Teilnahme erforderte zwar körperliche Geschicklichkeit, aber v. a. war ein solches Turnier als prunkvolles Schauspiel angelegt (vgl. Walter 2003).

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Bembo-Forschung weiß (vgl. Regn 2006). Deshalb steht der bei Raffael rinascimental überformte Scipio auch nicht am Scheideweg zwischen Pflicht und Neigung, nein, ganz im Gegenteil, als zeitgemäßes Rollenmodell muss er die Aufmerksamkeit der Damen erregen, was ihm mit dem grotesken Zierelement auf der Heldenbrust auch ganz gut gelingt. Außerdem schickt es sich für den transformierten Ritter, dass er die offerierten Angebote in Gestalt der Literatur, des Schwerts und der Blume allesamt annimmt, nicht um in die nächste Schlacht gegen Hannibal zu ziehen, sondern um an und mit ihnen seinen Bildungsweg in der höfischen Gesellschaft auszurichten. Das Siglo de Oro, jene kulturelle Blu¨ tezeit Spaniens unter der Herrschaft der Habsburger, ist durch eine doppelte translatio mit der italienischen Renaissance verbunden: Die erste, poetische translatio geht der Überlieferung zufolge auf den venezianischen Humanisten und Diplomaten Andrea Navagero zuru¨ ck, der auf der Hochzeitsfeier von Karl V. dem Kastilischen Hofmann und Dichter Juan Boscán empfahl, die italienischen Autoren als modello di poesia nachzuahmen (Boscán 1999: 118). Dieser berühmte Dichtungsauftrag hat bekanntlich ein Goldenes Zeitalter der spanischen Dichtung in Gang gesetzt.8 Bedeutsamer für das Thema des Traums ist jedoch eine andere, politische translatio. Es geht um den Mythos des Goldenen Zeitalters, wie er seit der Kaiserkrönung Karls immer wieder mit dem Spanien der Habsburger in Verbindung gebracht wurde (vgl. Reeves 1993: 359–374). Unter Karl, der als Erbe diverser alter Dynastien und Herrscher der Neuen Welt u¨ ber ein Territorium gebietet wie kein Kaiser vor ihm, schien der Anschluss an das Römische Reich in der Tat möglich.9 Eine neue Ära imperialer Machtentfaltung schien ihren Lauf zu nehmen. Die neue translatio imperii10 auf das Habsburger Reich wurde allerdings weniger in der spanischen Dichtung als vielmehr im italienischen Epos verherrlicht. Die prominenteste Stelle hierzu findet sich in Ariostos Orlando furioso, und zwar im 15. Gesang, wo der im Orient weilende Astolfo Andronica fragt, ob es möglich wäre, westwärts zu segeln und ohne Zwischenhalt nach England zu gelangen (Ariosto 1992: 387ff.). Andronica hält ein solches Unterfangen noch fu¨ r zu anspruchsvoll, sagt dem Kreuzritter aber eine glänzende Zukunft fu¨ r die Christenheit voraus: Ein Fu¨ rst aus dem „sangue d’Austria e d’Aragona“ (15. 25. V. 1) werde am linken Rhein ins Leben treten, um der Jungfrau Astrea zu ihrem Recht zu verhelfen und damit das Goldene Zeitalter wiederherzustellen. Unter seinem Zepter werde – so Andronica weiter – auch ein Feldherr namens Hernan Cortés 8 Zu Navageros Dichtungsauftrag und dessen Bedeutung insbesondere für die Liebeslyrik der Siglos de Oro vgl. Leopold (2009: 117ff.). 9 Karl wurde mit dem legendären Friedenskaiser, dessen Herrschaft nach der sibyllinischenn Tradition der politischen Prophetie zugleich das Ende des weltlichen Reichs bedeutet (vgl. Tanner 1993: 127ff.). 10 Zum Konzept der translatio imperii vgl. Goez (1958).

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kämpfen und ferne Länder erobern, „ch’a noi, che siamo in India, non son noti“ (V. 15. 27. 8). Pragmatisch bemerkenswert ist Andronicas Rede insofern, als alle Weissagungen dort mit der Formel „veggio“ (V. 15.23.1; V. 15.28.1; 15.29.1) eingeführt und auf diese Weise als Vision ausgewiesen werden. Zieht man hierzu die erzählte Zeit des Epos – also den Kreuzzug Karls des Großen – in Betracht, so erweist sich das von Andronica prophezeite Goldene Zeitalter als eine politische Vision, die aus dem Wissenstand einer fernen Vergangenheit heraufbeschworen wird. Die Zukunftsschau in Orlando furioso scheint so besehen einen historischen Widerspruch widerzuspiegeln, der das Habsburger Spanien von Anbeginn prägt und – damit zum Thema unseres Bandes – der Traumkultur des Siglo de Oro seinen epochenspezifischen Sinn verleiht: Spanien, das sich bereits unter den katholischen Königen als ein moderner bu¨ rokratischer Nationalstaat etabliert hat, verfällt mit Karls Herrschaft dem mittelalterlichen Traum einer renovatio imperii, die sich nach Ariosto durch die Eroberung von Mexiko neu zu erfu¨ llen scheint. Doch die Geschichte wird Ariostos Seherin Lüge strafen: Wie man weiß, wird es kein Jahrhundert dauern, bis der imperiale Traum des Habsburger Spaniens mit der Niederlage der Armada Invencibles ein jähes Ende nimmt. Mit den Austrias Menores – gemeint sind die Nachfolger Philipps II. – erlebte Spanien im 17. Jahrhundert den schon damals decadencia genannten nationalen Niedergang. Der Traum vom Goldenen Zeitalter geht damit zwar in der politischen Realität unter, findet jedoch sogleich einen neuen Schauplatz in der Literatur. So etwa lässt Cervantes, um das vielleicht bekannteste Beispiel zu nennen, im Don Quijote seinen Helden eine Lobrede auf die „dichosa edead y siglos dichosos a quien los antiguos pusieron nombre de dorados“ (Cervantes 1978: 155)11 halten; und eben um dieses Goldene Zeitalter zu restaurieren, jagt dieser Held – gleichsam eine Parabel des imperialen Spaniens – als Imitator des fahrenden Ritters einem Traum nach, der bereits von der Geschichte überholt worden ist. Wenn Don Quijote dennoch einen Helden seiner Zeit verkörpert, so deshalb, weil sein Traum bereits das Wissen um dessen Verlust in sich trägt. Ebendies zeigt sich in einem kritischen Moment seiner Ritterimitation, als er in der Sierra Morena versucht, den Liebeswahnsinn nachzuahmen. Es ist dort nämlich so, dass gerade der Musterritter– der rasende Roland eben – fu¨ r Don Quijote nicht mehr in Frage kommt. Denn dagegen spreche nicht nur die Tugendhaftigkeit der Dulcinea, sondern auch der Umstand, dass sie anders als Angelica in ihrem Leben, noch nie einen „moro“ (Cervantes 1978: 319) gesehen habe. Die historische Wirklichkeit gerät hier mit der epischen Fiktion in Wi11 Dem vergangenen goldenen Zeitalter gegenüber stellt Don Quijote die Gegenwart als „edad de hierro“ (Cervantes 1978: 155) dar. Damit rekurriert Cervantes auf ein bekanntes gegensätzliches Konzeptpaar seiner Epoche (vgl. Kamen 1974: 135).

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derspruch – wird doch Don Quijote mit der Tatsache konfrontiert, daß es nach der abgeschlossenen Reconquista in Kastilien schlichtweg keine Mauren mehr gibt. Wenn sich Don Quijote darum entscheidet, anstelle „Roldán en las locuras“ „Amadís en la melancolía“ zu imitieren, so gilt es diese Melancholie meiner Ansicht nach auch deshalb ernst zu nehmen, weil sie im Rückblick auf Ariosto fu¨ r den Verlust eines Vorbildes steht, das als Kämpfer Karls des Großen metonymisch auf die restauratio imperii verweist. Don Quijotes Abwendung von Ariosts Roland ist allerdings nicht der einzige Punkt, an dem sich die Literatur des Siglo de Oro von der italienischen Renaissance absetzt. Was die Traumdarstellung anbelangt, kehrt sich die seit Dante bemühte Analogie zwischen Traum und Wirklichkeit12 bei Cervantes in eine radikale Differenz um. Exemplarisch dafür steht Don Quijotes’ Traum in der Cueva de Montesinos. Strukturell nachgebildet ist dieser Traum dem dritten Gesang des Orlando furioso, wo Merlín als „vivo spirto“ (3.11.1) der Bradamente die illustre Genealogie der Este prophezeit. An die Stelle des von Merlin garantierten Zukunftswissens tritt bei Cervantes allerdings die pure Fiktion. Zwar ist auch hier von Merlin und allerlei legendären Damen die Rede, doch sieht Don Quijote in seinem Traum auch die verzauberte Dulcinea und diese ist, wie der Leser weiß, eine Erfindung von Sancho Panza. Damit wird die Traumvision bei Cervantes zu einer profanen Traumfiktion, die sich aus Versatzstücken romanesker Phantasien und – mit Freud (1999: 170) gesprochen – Tagesresten speist. Als ein potentiell manipulierbares Phänomen inspiriert der Traum in der Barockliteratur dann auch keine Vision mehr, sondern verursacht eine radikale Skepsis, die unter der Bezeichnung des desengaño zur Lebensphilosophie des Siglo de Oro wird. Der Paradetext hierzu ist selbstverständlich La vida es sueño, wo Calderón den Traum als ein politisch motiviertes Spiel inszeniert. Nur Segismundo glaubt, dass er bei diesem Spiel geträumt hat; doch ist es gerade dieser Traum, der ihm die Vergänglichkeit weltlicher Herrschaft vor Augen fu¨ hrt.13 Mit einem solchen desengaño14 liefert Calderón nachgerade das Leitmotiv fu¨ r das Gemälde von Antonio de Pereda, El sueño del caballero (Abb. 2), wo die Herrschaft in eine fragmentarische Traumwelt eingerückt wird. Das Bild ist vermutlich um 1650 entstanden, also unter der Regierung von Philip IV., dessen majestätische Beinamen ‚el Grande‘ oder ‚el Rey Planeta‘ mehr dem Propagandazweck dienen als der von der stetigen decadencia gezeichneten politisch-ökonomischen Realität seiner Herrschaft entsprechen. Über den his12 Für eine einschlägige Studie hierzu vgl. Cervigni (1986). 13 Zum Traummotiv in spanischem Barocktheater vgl. Palley (1983: 81–106). Zum Segimundos’ Traum im Zusammenhand mit der politischen Thematik in La vida es sueño vgl. XUAN (2004: 154–161). 14 Zum Konzept des desengaño bzw. dessen Thematisierung in der Literatur des Siglo de Oro vgl. Schulter (1969).

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Abb. 2: Antonio de Pereda, El sueño del caballero, o Desengaño del Mundo (ca. 1650), 152 × 217 cm, Museo de la Academia

torischen Widerspruch zwischen Schein und Sein reflektiert Pereda in seinem Gemälde auf allegorische Art, wobei er die Traumdarstellung mit einem damals überaus beliebten Vanitas-Stillleben kombiniert. So sieht man links einen jungen Edelmann im Schlaf, rechts den Inhalt des Traums, der aus einer Ansammlung von Objekten besteht, die symbolisch auf die Eitelkeit dieser Welt verweisen. Signifikant sind zwei Details. So fällt dabei zunächst die Präsentation der Herrschaftsinsignien ins Auge, zuvörderst ein Globus, der sich hinter einer Lanze und einer Fahnenstange als Zeichen militärischer Eroberung befindet. Die damit symbolisierte Weltherrschaft äußert sich ferner in der Habsburger Kaiserkrone und der Mitra, die man unterhalb der Stoßwaffen sieht und gemeinsam auf einem Bund Lorbeer ruhen. Die Zusammenstellung dieser herrschaftssymbolischen Gegenstände ist schon insofern bemerkenswert, als sie allesamt eng gedrängt am dunklen Rand des Bildes stehen. Hinzu kommt ein weiterer, aufschlussreicher Umstand, dass nämlich die Krone, halb vom schwarzen Sattel, halb vom Lorbeerstrauß bedeckt, fast unsichtbar wird. Wie man Peredas Bildprogramm zu verstehen hat, wird deutlicher im Hinblick auf ein zweites Detail. Dies bezieht sich auf die Kette und das Gewehr, die prominent auf dem Tisch platziert und – das ist das Entscheidende – dabei visuell derart organisiert sind, dass sie zusammen mit dem Rand des Buchs ein Kreuz bilden.

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In Verbindung mit dem Globus – so könnte man nun den Traum von Peredas Edelmann deuten – lässt sich dieses Kreuz als Zeichen jener christlichen Universalmonarchie lesen, die der Expansionspolitik von Karl V. und damit der imperialen Glorie Spaniens zugrunde liegt. Der Bezug auf Karl erweist sich als umso sinnvoller, wenn man ein weiteres Gemälde von Pereda in den Blick nimmt. Es handelt sich um die Alegoría de la vanidad, (Abb. 3), ein Bild, das um 1640 entstand, also ungefähr zur selben Zeit wie Calderóns La vida es sueño.

Abb. 3: Antonio de Pereda, Alegoría de la vanidad (1634/40), 139,5 × 174 cm, Kunsthistorisches Museum Wien

Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Gemälden ist offensichtlich – gleichwohl gibt es einen eklatanten Unterschied: Die als geflügelte Dame dargestellte Allegorie der Vergänglichkeit deutet auf einen Globus, der ein Portrait stützt, das Karl V. unter der römischen Kaiserkrone zeigt. Was die Allegorie der Vergänglichkeit hier ankündigt, scheint sich später in El sueño del caballero zu erfu¨ llen. Dort kehrt die geflügelte Gestalt wieder – dieses Mal wohl als die Allegorie des desengaño; doch der nunmehr an den Rand gedrängte Globus ist fast unkenntlich geworden, und das Bildnis Karls gänzlich verschwunden. Stattdessen kommt ein neues Element hinzu, ein Emblem der vanitas nämlich, das die geflügelte Gestalt in den Händen hält. Die in der Mitte des Spruchbandes befindliche pictura zeigt einen kleinen Pfeil, der in den Bogen gespannt, also schießbereit ist. „Aeterne

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pugnit, cito volat et occidit“ – so lautet die subscriptio dazu. Demnach deutet der Pfeil allegorisch auf die Zeit, deren tödlichem Voranschreiten keiner entkommt. Im Hinblick auf die Vanitas-Botschaft auf dem Schriftzug erscheint es kein Zufall, dass die mahnende Figur die Gestalt eines Engels aufweist, der einer Epiphanie15 gleich den Edelmann im Traum heimsucht und ihn zum desengaño aufruft. Damit kommt nämlich in Peredas Darstellung jene christliche Deutung zum Tragen, der zufolge das Traumerlebnis den Weg zur conversio öffnet (Näf 2004: 145). Als klassisches Ereignis hierfür gilt der Traum Konstantins, der dessen Bekehrung zum Christentum bewirkt hat. Am Vorabend der Schlacht an der Melvischen Brücke – so weiß Laktanz in seinen Divinae Institutiones zu berichten – sei Konstantin im Traum dazu ermahnt worden, das himmlische Zeichen Gottes auf den Schilden anzubringen und so die Schlacht zu beginnen. Daraufhin ließ der Kaiser die Soldaten das Staurogram auf ihre Schilde malen und errang dann auch in der Tat den Sieg über seine Erzrivalen Maxentius.16 Die Legende hat Piero de la Francesca in seinem Fresko-Zyklus Storie della Vera Croce dargestellt (Abb. 4). Die Traumvision wird dort von einem Engel verkörpert, der dem Kaiser bildlich den Sieg verkündet. Welthistorisch deutet diese himmlische Botschaft freilich auf die konstantinische Wende voraus, bei der sich also das Römische Reich zum Christentum hinwendet. Wenn nun eine Engel-Gestalt zwei Jahrhunderte später als ikonographische Figur im Traum von Peredas Edelmann erscheint, so hat sie dieses Mal eine weitaus weniger euphorische Botschaft zu verkünden. Ganz im Gegenteil: Sie bringt eine Vanitas-Warnung, die nicht nur im christlichen Sinne der Vergänglichkeit alles Irdischen, sondern auch dem nationalgeschichtlichen Verlust des spanischen Weltreichs gilt. Dass der Traum in Peredas Bild zum Mittel des desengaño wird, ist ein bedeutsamer Umstand, ein Abschied und Fortbestehen. Verabschiedet wird der Traum des Goldenen Zeitalters als ein politischer Mythos, der in der Kunst und Literatur ein herrliches Nachleben feiert. Wie der Traum im Nachleben insbesondere für die Literatur produktiv wirkt, werden die Beiträge im vorliegenden Band zeigen – der wohl kaum entstanden wäre ohne die engagierte Redaktionsarbeit von Dr. Christiane Conrad von Heydendorff, der wir zu tiefem Dank verpflichtet sind. Finanziell unterstützt wurden Tagung und Drucklegung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Freunde der Universität Mainz e.V. und durch die Inneruniversitäre Forschungsförderung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihnen gebührt unser besonderer Dank.

15 Zum Epiphanie-Charakter des Traums bereits im antiken Traum-Verständnis vgl. Harris (2009, Kap. 1). 16 Zu den Träumen des Konstantin vgl. Weber (2000: 274–296).

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Abb. 4: Piero de la Francesa, Der Traum Konstantins (1458–1466), 329 × 190 cm, Kirche San Francesco, Arezzo.

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Gerhard Regn (München)

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Die Traumvision aus dem ersten Kapitel der Vita nova1 ist bis auf den heutigen Tag die hermeneutische Herausforderung geblieben, die sie von Anfang an gewesen ist. Dies erstaunt nicht, wenn man in Anschlag bringt, wie sehr Dante selbst in geradezu offensiver Weise die Interpretationsschwierigkeiten herausstellt, die aus seinem Umgang mit dem Trauminhalt – es handelt sich um eine Umgestaltung des Herzmäre – resultieren. Die Verständnisprobleme beginnen mit den Paradoxien des Textstatus. Denn Dante signalisiert nicht nur, dass der fragliche Traum der eines Minnedichters ist und insofern in einem Engverhältnis zum bloß Imaginären der Liebesmeditation steht, sondern er versieht das Geträumte im Gegensatz dazu gleichzeitig mit dem Wahrheitsindex einer ‚echten‘ Vision, um es solcherart vom manifest Fiktiven abzukoppeln. Doch nicht genug, die Deutungsfragen werden bis an den Punkt vorangetrieben, an dem die Auslegungsbedürftigkeit des Traums auf der Metaebene literarischer Kommunikation plakativ zum Thema gemacht wird: Dante weist sein Traumgesicht ausdrücklich als dunkel aus und fordert deshalb explizit Deutungen seitens seiner zeitgenössischen Leser ein, deren Unzulänglichkeit er dann aber nicht bloß bilanziert, sondern sie im Nachhinein mit eigenen Deutungssignalen beantwortet, die freilich so geartet sind, dass sie ihrerseits erneut nach Deutung verlangen. Man hat es also mit einer regelrechten Deutungskaskade zu tun, die die Verständnisdefizite, welche Interpretationen ja eigentlich abbauen sollen, erst voll in den Blick rücken. Neuere Interpretationszugriffe bzw. Lektürepraxen psychoanalytischer, gendertheoretischer oder autonomiepoetischer Natur2 haben die erwähnten Verständnisschwierigkeiten nicht bewältigt, im Gegenteil. Deshalb sei 1 Die Vita nova wird zitiert in der Edition von Gorni (1996), die sich auf der Basis einer Neubewertung der Textüberlieferung als pointierte Alternative zur älteren kritischen Ausgabe von Michele Barbi (zuerst Florenz 1907) versteht und insbesondere zu einer gegenüber Barbi radikal veränderten Kapitelgliederung gelangt: Erneut, mit geringfügigen Veränderungen, in der Meridiani-Ausgabe der Werke Dantes von Santagata (2011), darin Vita nova, hg. von Gorni. 2 Auf die einschlägigen Arbeiten wird, wo geboten, im weiteren Verlauf der Ausführungen verwiesen.

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im Folgenden der Versuch unternommen, Dantes Traumvision mit den methodischen Verfahren einer historischen Hermeneutik dergestalt in ihren intrawie extratextuellen Kontext einzubetten, dass sich die einschlägigen Textdaten auf analytischer Basis schlussendlich zu einer möglichst konsistenten Interpretationsfigur zusammenführen lassen. Hier zunächst der Text des Traumsonetts: A ciascun’ alma presa e gentil core nel cui cospecto ven lo dir presente, in ciò che mi riscriva ‘n suo parvente, salute in lor segnor, cioè Amore. Già eran quasi che aterzate l’ore del tempo che omne stella n’è lucente, quando m’apparve Amor subitamente, cui essenza membrar mi dà orrore. Allegro mi sembrava Amore tenendo meo core in mano, e nelle braccia avea madonna involta in un drappo dormendo. Poi la svegliava, e d’esto core ardendo lei paventosa umilmente pascea. Apresso gir lo ne vedea piangendo. (Vn 1. 21–23)3

Dass die Erscheinung Amors als eine ‚echte‘ Traumvision gelesen werden soll und nicht als allegorisch-integumentale Traumfiktion,4 wird deutlich, wenn man das Gedicht in seinen werkimmanenten Kontext einbettet. Die Vita nova ist ein Büchlein („libello“, Vn 1.1), das das Wesentliche („sententia“5, Vn 1.1.) dessen aufzeichnet, was in Dantes Buch der Erinnerung („libro della […] memoria“, Vn 1.1.) an seine Liebe zur früh verstorbenen Minnedame geschrieben steht. Das Buch der Erinnerung ist Teil des Buches der Welt.6 Dies bedeutet, dass die Geschichte der Liebe zu Beatrice einen Wirklichkeitsanspruch erhebt, der zugleich 3 „Jede verliebten Seele und jedes edle Herz, die das im Gedicht Gesagte zu Gesicht bekommen, grüß ich, auf dass sie mir ihre Meinung schreiben wollen, im Namen ihres Herrn, also Amors.// Fast schon zu einem Drittel waren die Stunden der Zeit verstrichen, während der die Sterne leuchten, als mir unversehens Amor erschien, dessen Wesen zu erinnern mir Schrecken bereitet.// Fröhlich schien Amor mir, wie er mein Herz in der einen Hand hielt, und auf dem anderen Arm meine Herrin trug, die schlafend in ein Tuch gewickelt war.// Dann weckte er sie auf und gab ihr, die furchtsam war, wohlwollend von meinem brennenden Herzen zu essen. Danach sah ich, wie er weinend von dannen ging.“ Übersetzung von mir. 4 Zum Konnex von allegorischem integumentum und fictio vgl. Dante, Conv. 2.1.3. Zum Integumentum allgemein vgl. Brinkmann (1971: 314–339) sowie Meier (1976: 1–59, hier: 9–24). 5 Sententia im mittelalterlichen Verstehen von „intelligentia textus“, vgl. Hugo von St. Viktor, Didascalicon 3.9. (PL 176, 771d). 6 Zu den Berührungspunkten zwischen libro della memoria und Bibelexegese vgl. d’Andrea (1985: 91–97, hier: 95f.). Zum Buch der Welt (das als Extension des Buches der Natur die historia inkludiert, vgl. Baranski (2000: 107); zum Buch der Natur vgl. zuletzt Kablitz (2016: 81– 106).

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ein Wahrheitsanspruch ist.7 Gattungspoetologisch ist die Vita nova ein Prosimetrum, in dem Gedicht und Prosa systematisch aufeinander bezogen sind. Die Prosa leistet zweierlei: Sie kommentiert die Gedichte formal (und zwar in Hinblick auf ihre dispositio), und sie fügt sie sowohl erzählend als auch deutend in den Erinnerungs- und damit Erlebniszusammenhang ein, aus dem sie laut Dante hervorgegangen sind.8 Die Gedichte sind zeitlich eng an die Begebnisse gekoppelt, als deren poetische Verarbeitung sie sich präsentieren. Sie beanspruchen, die Essenz der Hohen Minne in deren ureigenem Medium, der Poesie, zur Sprache zu bringen, und zwar im Zusammenwirken von metrisch-strophischer Gestaltung und rhetorischer Durchformung.9 Die Prosa, die erzählt, ausdeutet und kommentiert,10 setzt dagegen den Abschluss des gesamten Minnegeschehens voraus, in dessen Verlauf sich der Minner durch das, was er erlebt, verändert. Mit anderen Worten, in Erzählung, Sinnauslegung und Kommentar artikuliert sich ein Ich-Sprecher, der mit dem Lyrischen Ich der Gedichte personal identisch ist, ihm gegenüber aber gleichwohl mehr weiß und die Dinge deshalb auch anders bewerten kann. Durch ihre Einbettung in eine erzählende, ausdeutende und kommentierende Prosa werden die Gedichte zum Teil des Büchleins, in dem das im Buch der Erinnerung Verzeichnete potentiell auf seine wahrhafte Bedeutung durchsichtig gemacht wird, sofern der Leser die gezielt gesetzten Zeichen richtig zu dechiffrieren versteht.

7 Dementsprechend betont Hollander (1980: 57), dass Dante die Geschichte der Liebe zu Beatrice als eine nicht-fiktive historia gewertet wissen will: „The Vita Nova is to be taken as historia.“ Im Hinblick auf Beatrice heißt es: „her reality is guaranteed by God Himself, not by the poet, who is a mere witness to her miraculous nature“, (ebd.: 56). Das Hollander-Zitat macht deutlich, dass das Postulat der Nicht-Fiktivität nichts mit landläufigen biographistischen Deutungsansätzen aus dem Arsenal moderner Literaturkritik (Erlebnisästhetik, Positivismus etc.) zu tun hat. Vielmehr wird Beatrice (einschließlich der sich um sie rankenden Geschichte von Dante ganz mittelalterlich als ein signum naturale der Schöpfung präsentiert, das eine geistige Bedeutung hat. In diesem Sinn verstanden schon die frühen Interpreten des Trecento Dantes Minnedame, wenn sie Beatrice einerseits historice als die Tochter von Folco Portinari interpretierten, andererseits aber auch allegorice, etwa als Figur der Theologie, vgl. dazu Vallone (1970: 542–551, hier: 546). 8 Zur Kommentarstruktur der Vita nova vgl. Moleta (2003: 105–127). 9 Beides ist konstitutiv für Dantes Dichtungsdefinition in De vulgari eloquentia 4.2.2: „si poesim recte consideremus: che nichil aliud est quam fictio rethorica musicaque poita.“ (De vulgari eloquentia, hg. von Mirko Tavoni, in: Dante, Opere, (Anm. 1). Fictio in diesem Verstehen meint primär die rhetorisch-metrische Gestaltung eines Themas. Vgl. dazu Paparelli (1960: 3–85). 10 Das Minne-Erlebnis, das der Ich-Erzähler auf der Basis seiner Erinnerung erzählt, wird von ihm auch ausgelegt, insofern sind Erzählung und Auslegung von vornherein miteinander verschränkt; mit Kommentieren ist hier dagegen die Gliederung des Textes gemeint, die sich in den von Dante selbst so genannten divisioni niederschlägt, die in den ersten zwei Dritteln auf die Gedichte folgen, im letzten Drittel dagegen aus wirkungsästhetischen Gründen den Gedichten vorangestellt sind.

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Einen entscheidenden Anstoß für das Design der Vita nova hat die Überlieferungstradition der provenzalischen Minnelyrik gegeben, die vor allem in Norditalien ab der Mitte des 13. Jahrhunderts im Verbund mit den vidas und razos tradiert wurde. Die vidas enthielten Biographien der Trobadors, die zu ihnen komplementären razos erklärten, gleichsam in einer Verschränkung von Kommentar und Erzählung, die provenzalischen Kanzonen unter Rekurs auf die Viten der Dichter. Zwar ist die Gattung der vida sicher, die der razo wahrscheinlich im okzitanischen Kulturraum entstanden, doch mit der Migration der Trobadordichtung nach Norditalien wuchs ihnen dort eine neue (und vermutlich größere) Bedeutung zu: Sie erhielten die Funktion, die Minnelyrik der provenzalischen Höfe für ein anderes und tendenziell städtisch geprägtes Publikum ‚aufzubereiten‘.11 Dass schon der junge Dante diese Vermittlung der Trobadordichtung kannte,12 lässt sich bereits aus der Begrifflichkeit erschließen, die er auf sein Prosimetrum appliziert. Dante bezeichnet nämlich die zugleich erzählende und ausdeutende Prosa als „ragione“,13 und dieser Fachterminus ist die italienische Übersetzung von provenzalisch razo,14 das, es sei wiederholt, der Benennung der Prosa dient, die in ihrer Verzahnung von Auslegen und Erzählen auf die Erklärung der Trobadorlyrik zugerichtet ist. Der Konnex von italienischer Überlieferung der Trobadordichtung und Vita nova ist also unschwer zu erkennen, doch Dante reicht das nicht. Bereits von allem Anfang an, im Auftaktkapitel, streicht er demonstrativ die Verbindung mit der provenzalischen Minnetradition heraus, weil dies der Ansatzpunkt für die Profilierung eines – seinem Verständnis nach – radikal innovativen Projektes ist. Wir kommen damit zum ersten Gedicht zurück, das nun aber im Licht der dazu gehörigen ragione betrachtet wird.15 Dass es sich bei der Erscheinung Amors im ersten Gedicht um eine Traumvision handelt, expliziert die ragione. Während er zur vierten Nachstunde, also

11 Vgl. Bernsen (2001: 157–167). Zur kontroversen Diskussion um die Entstehung der vidas und razos unter Berücksichtigung der Rolle von Uc de Saint Circ vgl. Rossi (1982: 28–128, hier: 74– 86). 12 Vgl. Rossi, „Il cuore“ (Anm. 11), 110, Anm. 169. Zu Dantes Kenntnis der Trobadordichtung vgl. Folena (2002: 229–240, Kap. „Dante e i trovatori“). 13 Erstmals in Vn 24.4, wo er begründet, dass er für das anschließende Sonett auf eine förmliche Gliederung verzichten könne, weil diese durch die vorausgegangene „ragione“ bereits zureichend einsichtig gemacht worden sei. 14 Für das konzeptionelle Design der Vita nova sind also die Handschriften der Trobadorlyrik, in denen die Gedichte mit razos verbunden waren, mindesten ebenso wichtig wie die Consolatio philosophiae des Boethius. 15 Das erste Gedicht ist nach der werkimmanenten Angabe von Vn 1.20 im Jahr 1283 entstanden, Beatrices Todestag war nach Vn 19.4 der 8. 6. 1290, spätesten 1295 war die Vita nova fertig gestellt und in Umlauf.

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zwischen 9 und 10 Uhr abends, in Gedanken bei seiner Dame war,16 verfiel Dante in einen Schlaf, in dem er besagte Vision hatte: „mi sopragiunse un […] sonno nel quale m’apparve una meravigliosa visione“ (Vn 1.14). Das Epitheton macht das Mirakulöse, zugleich aber auch das Befremdliche namhaft und gibt so einen ersten Hinweis, dass sich das im Schlaf Geschaute für Dante dem Verstehen entzieht. Deshalb schreibt er den Traum in einem Sonett nieder und legt dieses der Gemeinschaft der Liebenden zur Beurteilung vor – bis zu diesem Zeitpunkt ist die Florentiner Minnelyrik (durchaus im Anschluss an die Provenzalen) programmatisch eine Gruppenlyrik, aus der Dante mit seiner Vita nova heraustreten wird. Keiner unter den „fedeli d’Amore“ (Vn 1.20) habe laut Dante die wahre Bedeutung der Vision erkannt, obwohl sie jetzt – und das heißt: vom Ende der Geschichte her – doch offen zutage liege. Das Weinen Amors ist, so gibt Dante zu verstehen, ohne dies freilich auch explizit zu sagen,17 Vorgriff auf den Tod der Herrin, die nach ihrem Ableben in die himmlische Seligkeit eingegangen ist, in der sie der Liebende dann in einer veritablen „visio spiritalis“18 am Ende der Vita nova in himmlischer Verklärung schauen darf.19 Was schlussendlich die Ereignisse offenbar machen, bekräftigt auch die ragione, die dem ersten Gedicht vorangestellt, ihm und dem darin aufgezeichneten Traum jedoch zeitlich nachgeordnet ist. Anders als das Gedicht, das sich auf die lakonische Bemerkung beschränkt, dass Amor weinend von dannen gegangen sei, malt die Prosa aus, wie Amor mit Beatrice im Arm zum Himmel emporgefahren ist. Wenn Dante nun sagt, dass die Bedeutung des nächtlichen Traums im Nachhinein selbst für die allerschlichtesten Gemüter sonnenklar sei („manifestissimo alli più semplici“, Vn 2.2), dann ist dies so übertrieben formuliert, dass man einen kalkulierten Ironie-Effekt nicht ausschließen möchte. Denn trotzt des erhellenden Kommentars durch die nachträgliche Prosanarration bleibt Vieles im Dunkel. Dies gilt insbesondere für das Herzstück des Traums, also das Herzmäre, das, wie schon eingangs erwähnt, bis auf den heutigen Tag eine hermeneutische Herausforderung für die Leser der Vita nova geblieben ist.20 Unter den vielen, die die Traumvision poetisch kommentiert haben21, greift Dante einen heraus, nämlich Guido Cavalcanti. Er benennt nicht nur dessen

16 Ausgangssituation ist also die Minnemeditation, deren Schlüsselbegriff pensare („pensando di lei“, Vn 1.14) ist. 17 Das angeblich Offensichtliche wird mithin in bildhafter Verhüllung gesagt, so dass die suggerierte Schlussfolgerung letztlich zu Lasten des Lesers und seines Interpretationsaktes geht. 18 Nach der Begriffsbestimmung in Augustinus, Gen ad litt 12.7.16. 19 Vn 30.10–13 (Oltre la spera che più larga gira). 20 Zur Bandbreite der Interpretationen der Traumvision vgl. u. a. Bonfils Templer (1973: 30–31). 21 „A questo sonetto fu risposto da molti“, Vn 2.1. Uns sind lediglich drei Antwortsonette erhalten: Naturalmente chere ogni amadore, dessen Zuschreibung (entweder Cino da Pistoia oder Terino da Castelfiorentino) strittig ist; Di ciò che stato sei dimandatore von Dante da

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Korrespondenzsonett, indem er penibel das Incipit zitiert, sondern merkt zudem an, dass dieser gereimte Gedankenaustausch der Ursprung ihrer Freundschaft geworden sei: „primo delli miei amici“ (Vn 2.1) könne er Cavalcanti deshalb nennen. Die Formulierung wird uns noch beschäftigen. Cavalcanti, dessen Antwortsonett Vedeste, al mio parere, onne valore erhalten ist, behandelt die Herzspeise als Kernmetapher seines Verständnisses von Hoher Minne: Liebe ist ethischer Höchstwert und zugleich eine Passion, in der sich Leid und Freude verschränken; Amor selbst ist eine unumschränkt waltende Macht, die über die Liebenden verfügt und deren gegenseitige Hingabe fordert. Symbolisch dafür steht die Herzgabe: Der Liebesgott bringt das Herz des Liebenden der Geliebten dar, weil diese als ihrerseits Liebende sonst den Liebestod zu sterben droht: Der Liebender opfert sich also auf Amors Geheiß für seine Dame, und deshalb ist es ein Opfer, das beglückt. Entsprechend ist der Traum ein „dolce sonno“ (Rime 37, V. 13).22 Dass dieses Glück mit dem Ende des Traums aufhört, ist laut Cavalcanti Anlass für Amors Tränen. Cavalcantis Interpretation ist von einer bemerkenswerten inneren Schlüssigkeit. Diese ist allerdings um den Preis erkauft, dass ein konstitutives Element von Dantes Traumsonett außen vor bleibt: der Hinweis auf den Schrecken, den die Erscheinung des Gottes der Liebe auslöst – „orrore“ (Vn 1.22) ist das Stichwort. Um die Implikate des orrore besser zu verstehen, empfiehlt sich ein methodisch ganz und gar altbackener Blick auf Dantes Quelle. Obschon das gegessene Herz ein mittelalterlich weit verbreitetes Motiv ist, können wir recht präzise sagen, woher Dante es bezogen hat: aus der italienischen Überlieferung der provenzalischen Minnelyrik, genauer, aus einer der razos zur Kanzone Li doutz consire, die dem Trobador Guillem de Cabestanh23 zugeschrieben wird. Es sei daran erinnert, dass die razos, um die es hier geht, die lyrische Repräsentation der Minne mit der Vita ihres Verfassers verschränken. Diese wiederum berichtet, Guillem sei der Minner von Soremonde gewesen, der Gemahlin seines Lehensherrn Raimon de Castel Rossillon, der wiederum über die Minnedichtung Guillems davon erfuhr24 und deshalb als strafender gilos den Maiano, sowie Vedeste, al mio parer, onne valore von Guido Cavalcanti. Gedichte in Dante (³1971: 79–80). 22 Die Rime Cavalcantis werden (mit Nummer und Versangabe) zitiert in der Ausgabe von Contini (1960). Sonno und sogno werden bei Cavalcanti in eins gesetzt. 23 Guillem de Cabestanh (auch Cabestany) stammt aus dem Roussillon und stand im Dienst von Raimon de Castel Rossillon. Zu seiner Biographie vgl. Cots (1978: 23–65); seine historischen Biographien sind enthalten in Boutière / Schultz (²1964: 530–555); seine Minnelyrik ist zugänglich in Langfors (1924); zur Analyse der Guillem betreffenden vidas und razos vgl. im Detail Rossi, „Il cuore“ (Anm. 11); ebd.: 112, der Nachweis, dass für das Traumsonett der Vita nova eine der razos zur Kanzone Li doutz consire die Quelle ist. 24 In der razo zu Li doutz consire, die H überliefert, ist just diese Kanzone Auslöser des Verhängnisses. Vgl. Rossi, „Il cuore“ (Anm. 11, 62).

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Trobador getötet, ihm sein Herz entnommen und dieses dann seiner arglosen Ehefrau zur Speise vorgesetzt habe, die nach Aufklärung über den Sachverhalt alle weitere Nahrung verweigert und sich vom Balkon in den Tod gestürzt habe. Die höfische Öffentlichkeit schließlich habe den Liebestod als Ausdruck der Fin’ Amor gesehen, mit der Konsequenz einer ‚Seligsprechung‘ der Liebenden.25 Die Botschaft dieser Trobador-Biographie für das italienische Publikum ist unter anderem, dass der Konnex von Liebe, Tod und Dichtung nicht bloß stets auf Neue in der zirkulär konzipierten canso26 metaphorisch durchgespielt wird, sondern auf die Vita selbst ‚durchschlägt‘, diese teleologisch orientiert und sie so zu einer ‚wahren‘ Geschichte mit ‚höherer‘ Bedeutung formt. Dante jedenfalls hat diese Botschaft vernommen. In seiner Version wird das Herzmäre zum Vorgriff auf Beatrices Tod. Wie in der vida des Trobadors ist der Tod ein reales Ereignis der Biographie; und weil dieser Tod in die Apotheose27 der himmlischen Minnedame einmündet, kann er dem ganzen Narrativ der Vita nova sein Telos geben. Es ist mit Händen zu greifen, wie sehr Dante die Biographie des Guillem de Cabestanh als Impulsgeber für die prosimetrisch vermittelte Geschichte seiner Liebe zu Beatrice genutzt hat. Gleichwohl nimmt Dante an der Version des Herzmäre, so wie sie die auf Guillem de Cabestanh bezogenen vidas und razos tradieren, eine einschneidende Veränderung vor. Bei ihm ist das Herzmäre ein symbolischer Vorgriff auf den realen Tod, dessen Medium allerdings wieder ein wirklicher, also nicht-fiktiver Traum ist.28 Dadurch wird auch die Umbesetzung der Aktanten-Funktion möglich. Die schaudern machende Anthropophagie ist nun nicht mehr Ergebnis einer grausamen Täuschung, die der eifersüchtige und in seiner Ehre gekränkte Ehemann aus Rachegründen in Szene gesetzt hat. Vielmehr ist Veranlasser und Arrangeur des Geschehens mit Amor eine Gottheit, die ihrem Wesen gemäß Schrecken verbreitet. Mit der Rede vom „Amor […] / cui essenza membrar mi dà orrore“ (Vn 1.22) bringt das Lyrische Ich des Traumsonetts das Tremendum des Numinosen auf den Punkt. Nun ist Amor, wir furchterregend er auch sein mag, in unserem Gedicht zunächst einmal nur eine rhetorische Allegorie29 weltlicher Minne. In dem Augenblick freilich, in dem markante Elemente christlicher Sakralisierung ins Spiel kämen, entstünde für das ob seiner Dunkelheit potentiell 25 Lediglich in den in I und K überlieferten vidas fehlt dieses Schlussmotiv, vgl. Rossi, „Il cuore“ (Anm. 11, 79). 26 Dafür steht die Zirkularität der provenzalischen canso. Vgl. dazu Zumthor (1970: 129–140). 27 Siehe oben, Anm. 19, sowie Jentzmik (1973: 260f.). 28 Durch die Übertragung ins Symbolische, dessen Medium wiederum ein Traum ist, wird das Herzmäre natürlich zu einer verlockenden Vorgabe für psychoanalytische Deutungen aller Art. Auf diesbezügliche Interpretationen – vgl. z. B. Spivak (1980: 73–87) – geht die vorliegende Studie, die sich dezidiert auf eine historische Hermeneutik verpflichtet, aus methodischen Gründen im Folgenden nicht weiter ein. 29 In ihrer Ausprägung als personificatio.

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in alle möglichen Richtungen hin auslegbare Sonett eine neue Situation. Dann nämlich leuchtete hinter dem Motiv der Herzspeise die Passion Christi und, damit verbunden, die Eucharistie auf. Ein solcher kultisch-religiöser Erwartungshorizont wird nun tatsächlich durch die mittelalterlichen Verzweigungen des Motivs vom gegessenen Herzen aufgebaut.30 Denn es zirkuliert in der Dichtung des volkssprachlichen romanischen Mittelalter nicht nur in ernst gemeinten Bearbeitungen, sondern von Anfang an auch in parodistischen Kontrafakturen, die, vermutlich über den Rekurs auf die mittellateinischen Parodien des Abendmahls, dem Bezug zur Eucharistie eine mehr als deutliche Kontur geben.31 Wie sehr die Anspielungen auf das Passionsgeschehen dabei zwischen Parodie und Ernst changieren, belegt zudem der poetische Dialog zwischen den Trobadors Sordello (dem Dante bekanntlich in der Commedia ein Denkmal gesetzt hat)32, Bertran d’Alamanon und Peire Bremon Ricas Novas anlässlich des Todes des Trobadors Blacatz, in dessen Rahmen, ausgehend vom Motiv der Herzspeise, zerstückelter Körper des toten Minnedichters33 und corpus Christi aufeinander projiziert werden.34 Um die Mitte des 13. Jahrhunderts gab es also durchaus ein Dispositiv für eine sakrale Semantisierung des Herzmäre in Richtung auf die Passion Christi und die damit verbundene Eucharistie. Eine solche Vorgabe musste umso virulenter sein, als die zu diesem Zeitpunkt in Italien zirkulierenden Biographien des Guillem de Cabestanh ja ihrerseits das Narrativ vom gegessenen Herzen hagiographisch eingefärbt35 und den Liebenden zum Märtyrer 30 Das motivgeschichtlich auf den Zagreus / Dionysos-Mythos (und damit auf Kultisches) zurückverweist: Zeus zeugt mit Semele Dionysos, wobei er sie veranlasst, das zerriebene Herz seines zuvor getöteten Sohnes Zagreus in einem Trank zu sich zunehmen. 31 Rossi, „Il cuore“ (Anm. 11, 38–50), verweist diesbezüglich auf einen gap von Raimbaut d’Aurenga, und zwar Lonc temps ai estat cubertz (2. Hälfte des 12. Jhdts), sowie den Lai d’Ignaure (um 1200) des Renaut de Beaujeu: dass dort die vom untreuen Minner betrogenen zwölf (!) Damen neben dessen Herz auch lustvoll die Genitalien verspeisen, gibt dem Bankett in besonders pointierter Weise Profil als contrafactum des Letzten Abendmahls. 32 Sordello steht im Zentrum des 6. Gesanges des Purgatorio, wo Dantes Klage über die italienischen Zustände („Ahi serva Italia“, Purg 6, 76–151) von seinem Duktus her an das Klagegedicht über den Tod von ser Blacatz erinnert, so dass man vermutlich nicht falsch liegt, wenn man Dante eine Kenntnis des planh unterstellt, den Sordello um das Motiv der Herzspeise herum organisiert hat. 33 Der gegen Ende der dreißiger Jahre des 12. Jahrhunderts verstarb und zugleich ein großer Feudalherr war. Die Zerstückelung verweist übrigens auf den Dionysos-Mythos, der im Mittelalter bekanntlich gern christologisch ausgelegt wurde. Vgl. dazu, mit Verweis auf die Eucharistie, van Loyen / Regn (2008: 230–246, hier: 235). 34 „Col planh di Peire Bremon […] il corpo del celebre poeta-amante si sostituisce, senza metafore, a quello dello stesso Cristo. Negli anni 37–40 si realizza dunque una vera e propria ‚beatificazione‘ di Blacatz, nella quale è fondamentale […] il recupero del mito del cuore mangiato.“, Rossi, „Il cuore“ (Anm. 11, 74). 35 Zur hagiographischen Stilisierung, deren sichtbarster Zug die ‚Seligsprechung‘ ist, vgl. Rossi, „Il cuore“ (Anm. 11, 91f.), der insbesondere die stilistischen Entsprechungen zu den Heiligenlegenden herausarbeitet.

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der Fin’ Amor stilisiert hatten. Das Herzmäre wäre demnach das Zeichen für Liebe als via Crucis. Wir werden gleich sehen, dass Dantes Hauptanliegen tatsächlich eine Sakralisierung irdischer Minne ist, die in ihrer Radikalität alles hinter sich lässt, was die romanische Liebeslyrik bis dahin kannte. Es ist dies freilich eine Sakralisierung, bei der nicht der Minner im Fokus steht. Dessen Passion kann und soll deshalb auch nicht als Allegorie des Leidens Christi lesbar werden und die Herzspeise nicht als Zeichen der Eucharistie. Vielmehr soll der ins Sonett gesetzte Traum den Beginn einer Minne publik machen, deren wahres Wesen sich erst in ihrem weiteren Verlauf enthüllen wird. Der Minnetraum ist, und zwar nicht nur bezüglich des Todes der Dame, eine Ankündigung dessen, was in einer noch unbestimmten Zukunft zur Erfüllung kommen wird, was aber am Beginn der Geschichte, an dem er geträumt wird, noch unbekannt ist. Es wird der Sprecher der ragione sein, der im Wissen um das Ende retrospektiv die Zeichen benennt, die den rätselhaften Traum überhaupt erst als eine solche Ankündigungsfigur lesbar machen – warum ich in diesem Zusammenhang auf die Begrifflichkeit der bibelexegetischen Typologie zurückgreife, wird gleich klar werden. Zuvor aber gilt es, zumindest in groben Zügen, Dantes Sakralisierung der Minne zu skizzieren. Die Vita nova ist, wie Guglielmo Gorni treffend formuliert hat, das Evangelium der Beatrice (Gorni in Dante 1996: 276). In diesem Buch der Verkündigung ist der Minnedame der Part des Heilsbringers zugedacht. Damit ist mehr gemeint als eine bloße Anreicherung irdischer Minne mit sakralen Konnotationen, wie sie sich schon bei den Trobadors findet.36 Ziel ist vielmehr, unter Rekurs auf zeitgenössisch relevante Theologeme, die weltliche Liebe direkt in den Diskurszusammenhang christlicher Religion einzuschreiben. Dass eine solche poetische Minnetheologie eine konzeptuelle Hybride bleiben muss, nimmt Dante billigend in Kauf (vgl. Regn 2014/2015: 145). Denn für ihn ist dies der geeignete Weg, um das Evangelium der Beatrice zu einem Supplement der christlichen Heilsbotschaft zu machen. Irdische Liebe wird in christlichen caritas verwandelt37 und die Geliebte zur Garantin eines religiös markierten Heils. Beatrice lässt dieses Heil für ihren Minner gegenwärtig werden, indem sie es verkörpert, und zwar auf der Ebene seiner eigenen, als wahr erinnerten Vita. Die Heilsbringerin zeigt sich in mehrerlei Gestalt, denn Hagiographisches kommt ebenso zum Tragen wie Angelologisches oder Mariologisches38. Doch Inkarnation des Heils heißt auch und 36 Zur ‚Ausbeutung‘ des religiösen Referenzsystems bei den Trobadors vgl. Warning (1979: 120– 159). 37 Vgl. Singleton (1979: 77–108). Zuerst als: An Essay on the Vita Nuova, Cambridge, Mass. 1949. Vgl. bes. 107: „L’amore per lei [sc. Beatrice] è un amore che può chiamarsi carità, essendo anche amore per Dio.“ 38 Zum Angelologischen vgl. Santagata (1999: 22–24, vgl. bes. 24): „Mediante questo linguaggio, infatti, Dante può comunicare ai lettori che Beatrice non è come un angelo, ma è un angelo“);

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vor allem, dass die christologische Dimension eine herausragende Rolle zugewiesen bekommt. Die christologische Markierung Beatrices fällt dabei derart prononciert aus, dass Dante sich veranlasst sieht, dem Abgleiten in manifeste Häresie entgegenzuwirken. In dem strukturell besonders hervorgehobenen 19. Kapitel, das ganz der Numerologie gewidmet ist, stellt er deshalb klar, dass die Heilsbringerin nicht umstandslos mit dem Heiland gleichzusetzen ist: Dort wird nämlich in Form einer wissenschaftlich stilisierten tractatio erklärt, weshalb Beatrice, die mit der Neun identifiziert wird („ella era uno nove“, Vn 19. 6), ein Wunder darstellt, dessen direkte Ursache das Wunder der Trinität ist:39 „ella era […] uno miracolo, la cui radice […] è solamente la mirabile Trinitate“ (Vn 19.6). Als Neun ist Beatrice also direktes Produkt der Drei der Trinität von „Padre, Figlio e Spirito Sancto“ (Vn 19.6). Die Differenz zwischen Heiland und Herrin des Heils wird auf diese Weise argumentativ expliziert. Beatrice wird so als direkte Emanation des Göttlichen bestimmt, und in dieser Eigenschaft wirkt sie, zumindest im Leben ihres Minners und unter der Bedingung des Ausfalls der Parusie, auch und vor allem als Supplement Christi.40 Wie schon erwähnt legt die Prosa, die das erste Gedicht umschließt, nahe, dass der Traum eine von niemandem erfasste Prophezeiung des Todes der Herrin gewesen sei. Explizit Christologisches kommt dabei jedoch nicht zur Sprache. Dies ist erst in Kap. 14 der Fall. Konditioniert durch das Ableben von Beatrices Vater entsteht in Dantes Phantasie („fantasia“, Vn 14.4)41 ein Bild vom baldigen

zum Mariologischen vgl. Gorni, (1999: XXX–LX); zum Hagiographischen vgl. Branca (1966: 123–148). 39 Zur donna del miracolo, unter besonderer Berücksichtigung der Numerologie, vgl. Vecce (1994: 61–179). 40 Mit dem Begriff der imitatio Christi lässt sich die Rolle, die Beatrice in der Vita nova spielt, nicht passgenau fassen. Auch der Begriff der allegoria in factis greift in diesem Zusammenhang zu kurz. Natürlich ist Beatrice eine Realallegorie dahingehend, dass sie als (postulierte) Erscheinung der von Gott geschaffenen Welt einen geistigen Sinn hat. Dieser besteht aber nicht einfach darin, dass sie den Heiland als Heilsbringer bloß allegorisch, also per analogiam, signifizieren würde, sondern dass sie als göttliches Wunder für ihren Minner das Heil erneut verkörpert und solcherart gegenwärtig werden lässt. Dies ist m. E. der zentrale Punkt, den der Supplementbegriff recht gut trifft. Das Supplement ist dabei, durchaus wie bei Jacques Derrida De la grammatologie (1967: bes. 203–234), Index eines Mangels (hier des Ausfalls der Parusie), anders als Derrida verbinde ich damit aber keine ontologische Problematisierung des Supplementierten (also Christi). 41 Wenn Dante diesbezüglich von „visi“ (Vn 14.4) spricht, greift er auf die Vorstellung vom visum als inneres Gesicht zurück, in dem jüngst Erlebtes nachwirkt. Der Bezug zum visum als der ersten der fünf Traumkategorien des Macrobius (vgl. Som. Scip. 1.3.7) liegt auf der Hand, nicht zuletzt aufgrund der Bezeichnung der Phantasiebilder als „vana ymaginatione“ (Vn 15.1) – auch Macrobius betont die Nichtigkeit der visa. Es sei bereits an dieser Stelle vermerkt, dass Dante im Rückgriff auf die Kategorien des Macrobius diese einschneidend umwertet, und zwar weil er die Minnemeditation positivieren und solcherart wahrheitsfähig machen möchte. Deshalb wird sich die in Vn 14.4 als „vana“ bezeichnete „ymaginatione“ schluss-

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Ende Beatrices, durch das der Tod der Herrin demonstrativ mit dem Tod des Herrn, also Christi, kurzgeschlossen wird. In beiden Fällen bebt die Erde und die Sonne verfinstert sich.42 Der Tod Jesu ist in den Evangelien eschatologisch eingefärbt, denn seine Signa kehren in der Offenbarung des Johannes wieder.43 Im Einklang damit zitiert auch Dante die johanneische Apokalypse, etwa im Bild der sich rötenden Gestirne.44 Doch nicht genug: Nach ihrem Tod steigt Beatrice zum Himmel empor wie Christus in der Apostelgeschichte. In der Bibel sehen die Jünger, wie der Auferstandene von einer Wolke ihrem Blick entzogen und gen Himmel getragen wird,45 und Vergleichbares sieht Dante in seiner ymaginatione. Er sieht, wie eine Wolke gen Himmel steigt, die von Engeln umschwebt wird,46 die „Osanna in excelsis“ (Vn 14.7) singen, also just jenen Lobgesang, der den Einzug Jesu in Jerusalem begleitet (Mc 11.10). Dass in der mittelalterlichen Ikonographie der entschwebende Christus gern von Engeln umringt ist, sei nur am Rande erwähnt. Dass die Todesimagination des 14. Kapitels eine zutreffende Prophezeiung war und nicht bloß die Phantasterei eines kranken Hirns47, wie Dante anfänglich mutmaßt (er liegt in der fraglichen Situation krank darnieder, vgl. Vn 14.1), bestätigt kurz darauf Kapitel 19, in dem der Tod Beatrices als Faktum berichtet wird. Dieses Kapitel wiederum fängt mit dem lateinischen Zitat des Beginns der (im Mittelalter typologisch gelesenen) Klagelieder des Jeremia an: „Quomodo sedet sola civitas plena populo! Facta est quasi vidua domina gentium.“ (Vn 19.1).48 Die Jeremiaden waren fester Bestandteil der Liturgie der Karwoche, so dass der Konnex zwischen dem Tod Beatrices und dem Tod des Heilands erneut bekräftigt wird.49 Ihre schärfste Kontur erhält die christologische Zeichnung Beatrices an besonders exponierter Stelle, und zwar exakt in der kompositorischen Mitte der Vita nova, die aus 30 Kapiteln und einem Prosaepilog besteht. Das 15. Kapitel, das unmittelbar an die christologisch überformte Todesahnung anschließt, schildert

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endlich als wahr erweisen. Bei Macrobius dagegen sind visa bzw. insomnia, insbes. wenn sie Resultat der curae amoris sind, in der Regel falsch, vgl. Som. Scip. 1.3.6. Vn 14.5: „pareami lo sole oscurare, […] e pareami […] che fossero grandissimi terremuoti“. Die biblischen Bezugspunkte sind Mt 24.29, Lc 23.45, Mt 27.51. Apc 6.12 (Verdunklung der Sonne). Apc 6.12–13 (vom Firmament fallende Sterne, die auch in Mt 24.29 genannt werden, sowie das sich blutrot einfärbende Mondgestirn). Vn 14. 5: „le stelle si mostravano di colore ch’elli mi facea giudicare che piangessero“, vgl. dazu den Kommentar von Gorni, Dante, Vita nova (Anm. 1, 126): „le stelle dunque si arrossano, come gli occhi cerchiati di chi pianga.“ Act 1.9–11. Vn 14.7. Die „moltitudine d’angeli“, die Gott in der Höhe das gloria entbieten, ist aus Lc 2.13 entlehnt (Verkündigung der Geburt Jesu an die Hirten). „farnetica persona“, Vn 14. 4. Die von Dante zitierte Stelle ist Lam 1.1. Zu den Jeremiaden in der Vita nova vgl. auch Brugnolo (2012: 119–132, hier: 122f.).

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eine weitere „ymaginatione“ (Vn 15.1)50, in der dem Liebenden Amor erscheint,51 der Dante darauf aufmerksam macht, dass zwei Frauen auf ihn zukommen, und zwar nacheinander.52 Zunächst sieht er Giovanna. Diese ist die Minnedame seines primo amico Cavalcanti, der die Umworbene wegen ihrer blühenden Schönheit more poetico „Primavera“ (Vn. 154) genannt hat. Für Cavalcanti ist Giovanna also eine Allegorie des Frühlings, und der Name, den er ihr gegeben hat, ist für ihn nichts Anderes als rhetorischer Ornat zum Zweck des Frauenlobs.53 Hinter Giovanna sieht Dante dann seine eigene Herrin, also Beatrice, einherschreiten. Amor kommentiert die Szene, indem er eine interpretatio nominis vornimmt. Er habe, so der Liebesgott zu Dante, Cavalcanti dazu veranlasst, seine Dame ausschließlich wegen der Situation, die Dante gerade sehe, Primavera zu nennen; den Namen selbst wiederholt er jedoch sogleich in leichter Abwandlung und eingeführt durch ein erklärendes cioè: „Primavera, cioè Prima-verrà.“ (Vn 15.4). Aus Primavera, der rhetorischen Allegorie des Frühlings, wird die, die zuerst kommt, und dies ist, wie Amor gleich zu verstehen gibt, eine Charakterisierung, die unter Rekurs auf die Bibeltypologie erfolgt. Diese Namensauslegung ergebe sich laut Amor nämlich aus dem echten Namen der Dame. Cavalcantis Herrin heiße ja in Wirklichkeit Giovanna, und dieser Taufname leite sich von Johannes dem Täufer her, der Christus angekündigt habe. Ich zitiere die fragliche Stelle, an der Dantes Amor seinerseits wörtlich und auf Latein Johannes 1.9 und 1.23 zitiert: E se anche vòli considerare lo primo nome suo, tanto è quanto dire Primavera, però che lo suo nome Giovanna è da quello Giovanni lo quale precedette la verace luce dicendo: ‚Ego vox clamantis in deserto: parate viam Domini.‘ (Vn 15.4)54

Giovanna geht Beatrice voraus, wie einst der Täufer dem Heiland – in der mittelalterlichen Bibelexegese wurde der Täufer als letzter Prophet des Alten Bundes und somit als Typus Christi begriffen (vgl. Jentzmik 1973: 260f.). Amor, der in der Vita nova die Wahrheit spricht, interpretiert die ymaginatione als Analogon der Bibeltypologie und autorisiert so die Installierung von Beatrice als Christusfi50 Zur Interpretation der ymaginatione des 15. Kapitels vgl. Hempfer (1982: 209–232, hier: 220– 222); Santagata (1999: Anm. 40, 50f.), Regn (2014/2015: Anm. 38, 134–138). 51 Das Phantasiebild der ymaginatione ist einerseits Produkt einer eigentlich aktiven Minnemeditation, gleichzeitig betont Dante aber deren passiven Eingebungscharakter, indem er die ymaginatione als Agens über den Liebenden kommen lässt: „mi giunse una ymaginatione“, Vn 15.2. Die cogitatio amoris wird ganz offensichtlich ins Mystische gewendet. 52 „l’una apresso l’altra“, Vn 15.4. Apresso ist nicht lokal, sondern temporal zu verstehen. Vgl. den Kommentar von Gorni in Dante (1996: Anm. 1, 142). 53 ‚Primavera‘ ist bei Cavalcanti als senhal der Dame nicht nachweisbar, wohl aber ‚Giovanezza‘, das ja ein leicht dekodierbares Zeichen für ‚Giovanna‘ ist, vgl. dazu Giunta (1995: 149–179). 54 „Und wenn du nämlich ihren Taufnamen in Betracht ziehst, dann bedeutet dieser so viel wie Primavera, denn ihr Name Johanna kommt von jenem Johannes, der dem wahren Licht vorausging und sagte: ‚Ego vox clamantis in deserto. Parate viam Domini.‘“ Übersetzung von mir.

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gur.55 Wie Christus für die Menschheit, so ist Beatrice für Dante das Heil, italienisch: salute. Dieser Begriff bringt uns wieder zu unserer Traumvision zurück. Der Traum ist Reaktion auf den Gruß der Dame. Im Rahmen der Kommentierung des Traums (also nicht im Sonett selbst) wird Beatrice donna della salute genannt, weil sie kurz zuvor ihren Minner huldvoll gegrüßt hat. Die fragliche Bezeichnung konstituiert sich im Rahmen einer figura etymologica: „la donna della salute, la quale m’avea lo giorno dinanzi degnato di salutare.“ (Vn 1.15) Dante bringt also zunächst einmal nur eine Ursituation der Minnedichtung zur Sprache, nämlich den Gruß der Dame. Doch schon hier, im ersten Kapitel, gewinnt das Gesagte einen sakralen Klang. Dies ist aus mehreren Gründen so. Bereits vor der Grußszene, also ganz am Anfang des Erinnerungsbuchs, wird die allererste Begegnung mit der damals neunjährigen Beatrice als religiös konnotierte Epiphanie berichtet, und zwar nach Maßgabe des mittelalterlichen Begriffsrealismus, der kurz darauf explizit benannt wird: „nomina sunt consequentia rerum“ (Vn 6.4). Dante erscheint somit nicht einfach die konkret wahrnehmbare Beatrice, sondern ihre Essenz, die nichts anderes ist als Beseligung: „Apparuit iam beatitudo vestra“ (Vn 1.6), so Amor auf Latein und damit in der Sprache von Theologie und Liturgie.56 Dies setzt sich in der kurz darauf erfolgenden Benennung Beatrices als donna della salute in gesteigerter Weise fort. Diese Antonomasie ist an die Situation gekoppelt, in der der Träumer die Frau erkennt, wobei Erkennen erwartungsgemäß nicht in der Herstellung einer banalen Wirklichkeitsreferenz aufgeht, sondern eine Wesenserfassung meint, welche die Umschreibung dann begriffsrealistisch indiziert. Die donna della salute ist nicht einfach die Herrin des Grußes, sie ist vor allem die Herrin des Heils – italienisch salute bedeutet ja primär Heil, den Gruß dagegen signifiziert es 55 Die christologische Stilisierung der Minnedame mittels der Typologie wird von Anfang an vorbereitet. Bei der ersten Epiphanie Beatrices verkündet der allegorisierte Lebensgeist dem erbebenden Dante auf Latein, dass von ihm nun eine stärkere Macht als er Besitz ergreife: „Ecce Deus fortior me qui veniens dominabitur michi.“ (Vn 1.5) Diese Formulierung greift die Selbstcharakterisierung des Täufers als Typus Christi von Mt 3.11 auf. Am Beginn der Vita nova ist mit der Macht, die Dante beim Anblick Beatrices erbeben lässt, Amor gemeint, der aber dann in der Folge, und zwar just im Typologie-Kapitel 15, mit Beatrice überblendet wird, und zwar durch Amor selbst, der die Ähnlichkeit zwischen sich und Beatrice betont und ihr deshalb begriffsrealistisch den Namen Amor gibt: „quell’à nome Amor, sì mi somiglia“ (Vn 15.9). Der Name steht also in kausalem Zusammenhang mit der proprietas rei. Biblischer Hintergrund der Situation, in der es um Liebe als Caritas geht, ist natürlich 1 Io 4.8: „Deus caritas est.“ Zum Problem der Typologie bei Dante vgl. Chydenius (1958). 56 Weil sie Heilsbringerin und Beatrix ist, ist ‚Beatrice‘ der dem Sein der Herrin konforme Name, und nicht das kolloquiale „Bice“ (Vn 15.8), wobei diejenige, die sie bei ihrem wahren Namen – also Beatrice – nennen, anders als Dante gar nicht wissen was sie tun. Vgl. Vn 1.2: neun Jahre nach Dantes Geburt „apparve prima la gloriosa donna della mia mente, la quale fu chiamata da molti Beatrice li quali non sapeano che si chiamare.“ Zur sprachhistorischen ‚Aufschlüsselung‘ dieses Passus vgl., mit Verweis auf Contini, den Kommentar von Gorni in Dante (1996: Anm. 1, 6).

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nur sekundär in seiner Eigenschaft als Grußformel, wie Dante sie im ersten Quartett des Traumsonetts gebraucht: „salute in lor segnor“, Vn 1.21. Dass dieses Heil christologisch markiert ist, belegen die temporalen Umstände des Grußes, der zur neunten Stunde erfolgt: „L’ora che il suo dolce salutare mi giunse era fermamente la nona“ (Vn 1.13): Die besondere Wichtigkeit des Zeitpunktes bekräftigt der Zusatz, dass die Zeitangabe über jeden Zweifel erhaben sei.57 Und die neunte Stunde ist, wie jeder mittelalterliche Christ wusste, die Todesstunde Jesu, die Dreh- und Angelpunkt des Heilsgeschehens ist (vgl. die Synoptiker: Mt 27.46, Lc 23.44, Mc 15.34). Und drittens und letztens werden auch mit Blick auf das im Traum Wahrgenommene Signale gesetzt, die direkt auf das christliche Heilsgeschehen verweisen, wobei wieder Beatrice im Fokus steht: Sie wird mit den Requisiten des Erlösers ausgestattet. Im Sonett heißt es, Amor habe die in ein Tuch („drappo“, Vn 1.23) gehüllte Herrin („madonna“, Vn 1.23) im Arm gehalten. Die Prosaerzählung ergänzt dies um einige wenige Hinweise, die freilich bedeutungsträchtig sind. Erstens, dass Madonna die Herrin des Heils ist (die Implikate dieser Prädikation wurden ja eben erläutert), und zweiten, dass Beatrice nackt war, wobei der nackte weibliche Körper weniger gesehen als erahnt wird, ist Beatrice doch locker – „leggieramente“ (Vn 1.15) – in das Tuch gehüllt. Beatrice ist also nackt, und das Tuch, das sie umhüllt, ist blutrot – „sanguigno“, Vn 1.15).58 In ihrer Verknüpfung gewinnen die beiden Daten christologische Aussagekraft. Im blutroten Tuch, das den

57 Fermamente heißt ‚ohne Zweifel‘. 58 In Verbindung mit dem Nacktheits-Motiv hat sanguigno Anlass für ziemlich ‚wilde‘ Interpretationen unseres Traums gegeben, vgl. zuletzt, durchaus unter Rückbindung an die zeitgenössischen Wissensdiskurse Pinto (2008: 25–52, hier: 45): „la prosa può insistere sugli elementi sessuali erotizzando il corpo di Beatrice attraverso la sua nudità.“ (46) wird dann der „drappo sanguigno“ (Vn 1.15) als Zeichen des Menstruationsblutes gelesen: „In tal chiave intensamente sessuale credo che vada letto anche il particolare cromatico del drappo sanguigno che la prosa aggiunge alla scena. […] Esso allude, seconda la teoria della fascinatio che Tommaso raccoglie da Avicenna ed Aristotele, al sangue menstruale […].“ Die ins Spiel gebrachte Thomas-Stelle (ST 1, 117, 3, ad 2) lässt sich für eine Interpretation von Vn 1.15 freilich nicht in Dienst nehmen: Bei Thomas ist die fascinatio ein Negativum, denn es geht ihm vor allem um die Wirkung des bösen und potenziell dämonischen Blicks, der mit demjenigen menstruierender Frauen verglichen wird; bei Dante geht es im Gegenteil um die positive Wirkung der donna della salute. Pintos Interpretation setzt zudem voraus, dass das Adverb leggieramente nicht, wie ich in Anschluss an Barbi, Contini, Gorni und andere ansetze, auf drappo, sondern auf sanguigno bezogen wird. Harrison (1988: 28) begreift den drappo sanguigno dagegen als das zentrale metapoetische Zeichen („a metafigure for the source of figuration“, „a master figure“, (ebd.: 29) des gesamten Werkes, weil das Tuch den nackten Körper Beatrices und dessen sexuell grundierte „otherness“, (ebd.: 30) dem Blick entzieht und so als generative Matrix der rhetorischen Figuren wirkt, die diesen Entzug kompensieren. Die christologische Semantisierung wird dadurch bloß zu einer ästhetischen Figur unter vielen anderen, die alle letztlich die (moderne) Dimension der Selbstreferentialität des Textes akzentuieren.

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Körper bedeckt, verbindet sich das Blutgewand Christi der Johannesapokalypse59 mit dem Purpurmantel des Passionsgeschehens, welcher in Mt 27.28 dem entkleideten, also nackten, Christus vor der Dornenkrönung umgelegt worden war.60 Die ragioni statten Beatrice mit Attributen aus, die sie als christologische Figur lesbar machen. Wichtig ist nun, dass diese Semantisierung bereits fest etabliert ist, bevor das Traumsonett gelesen wird. Unter dieser Vorrausetzung wird der Deutung der Herzspeise als Allegorie von Passion und Eucharistie der Boden entzogen, denn die Position Christi steht für eine Besetzung durch den Liebenden nicht mehr zur Verfügung. Dante geht es vielmehr um die Sakralisierung der Minnedame als Heilsfigur, die auch und vor allem einen christologischen Zuschnitt hat. In diesen Zusammenhang gehört die Markierung der Traumvision als prophetische Ankündigungsfigur. Dies wiederum führt uns nochmals zur kompositorischen Mitte des Werkes zurück, wo mittels des Rückgriffs auf die Bibeltypologie und im Zeichen ausbleibender Parusie Beatrice Profil als ein Supplement Christi erhalten hat. Der Rekurs auf die typologische Exegese hat nämlich noch eine weitere Dimension, und diese betrifft Dante in seiner Rolle als Dichter. Unter dem Diktat Amors hatte Cavalcanti seiner Dame den Namen „Primavera“ (Vn 15.4) gegeben, ohne aber den tieferen Sinn des Diktierten zu verstehen. Anders Dante: Er weiß, dass der Name eine typologische Ankündigungsfigur ist, und zwar für Beatrice in ihrer Funktion als neuer Heiland. Die Verkündigung dieses Wissens obliegt dem Dichter, den der wahre Amor wissend gemacht hat. Von hier aus erschließt sich der tiefere Sinn der Aussage, dass die poetische Korrespondenz anlässlich der Traumvision Cavalcanti zu Dantes primo amico habe werden lassen. So wie Giovanna diejenige ist, die als „Prima-verrà“ (Vn 15. 5) zuerst kommt und Beatrice ankündigt, so ist dies auch ihr Sänger, der als Dichter Dante vorangeht, um ihn anzukündigen. Mit anderen Worten: Dante präsentiert sich mit der Lyrik seiner Vita nova als Vollender der vorgängigen Minnedichtung, zu deren ersten61 Repräsentanten er (den in der Tat auch fünf bis zehn Jahre älteren) Cavalcanti erhebt. Der Weg zur Erfüllung ist nun nicht bloß einer, der von Cavalcanti zu Dante führt, sondern er wird auch in die Syntagmatik der Vita nova eingeschrieben. Dies zeigt die Komposition, die auf der Basis der Gorni-Ausgabe eine neue und, dies sei eigens vermerkt, mittelalterlich höchst aussagekräftige Gestalt erhält.62 Nach Gorni gliedert sich die Vita nova in drei Sequenzen aus je 9 Kapiteln, auf die eine Dreiergruppe folgt sowie ein konziser und gedichtloser Prosaepilog von 59 Apc 19.13: „vestitus erat vestem aspersam sanguine.“ 60 Das Grabtuch Christi von Mt 27.59 („sindone“) ist als komplementäre Referenz zu veranschlagen, die „sindone“ ist allerdings „munda“, also rein. 61 ‚Erster‘ im Verstehen von ‚wichtigster‘. 62 Zur Kapitelgliederung vgl. oben, Anm. 1, sowie Gorni (1995: 204–222).

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10 Zeilen, der das Werk abschließt. Die Numerik der Gliederung korrespondiert mit der zahlensymbolischen Repräsentation Beatrices: Beatrice ist, so Vn 19.6, eine Neun, deren Wurzel die Drei der Trinität ist, aus der sie als göttliches Wunder direkt hervor. Deshalb ereignet sich die erste Begegnung im Alter von 9 Jahren, 9 Jahre später, und zwar zur 9. Stunde, welche die Todesstunde Christi ist, erfolgt der Gruß, der den Minnedienst eröffnet, und im Zeichen der 9 steht auch ihr Tod.63 Auf die erste Neunergruppe – Gorni spricht in Anspielung auf die Liturgie treffend von Novenen (Gorni in Dante 1996: Anm. 1, XXII) – folgt die zweite, die unter dem Zeichen der von Dante selbst so genannten „materia nuova e più nobile“ (Vn 10.1) steht. Diese ist reines Frauenlob, rein deshalb, weil es nicht mehr an das alte Schema der Werbungslyrik gebunden ist, in der Minnedienst und Gunsterweis aufeinander bezogen waren.64 In der neuen Dichtung liegt die beatitudo im Rühmen selbst, wobei die Seligkeit des Minnedichters als Analogon christlicher Heilserfahrung modelliert ist.65 Die dritte Novene kreist um Beatrices Tod und seine Folgen,66 die abschließende Dreiergruppe schließlich ist auf die christologisch aufgeladene Apotheose der himmlischen Beatrice ausgerichtet, denn sie gipfelt in einem visionären Offenbarungserlebnis.67 Wenn die zweite

63 Die Belegstellen für die Ereignisse im Zeichen der Neun sind: Vn 1.2, 1.12, 1.13, 19.4; bezüglich des Todeszeitpunktes dekliniert Dante die Neun gleich dreifach (!) durch, und zwar nach dem arabischen, dem syrischen und dem abendländischen Kalender – in allen Zeitrechnungen ist der Tod mit der Neun verbunden. 64 Vgl. Vn 10. 10–11, wo Dante die „matera“ seines ‚neuen‘ Dichtens auf „quello che fosse loda di questa gentilissima“ festlegt. 65 Man verfehlt Dantes genuin mittelalterliche Intention, wenn man die poesia della lode als Ausdruck einer Poetik der Selbstreferentialität liest, denn dann stellt man, gewollt oder ungewollt, Dantes Prosimetrum in den Horizont der Autonomieästhetik der Moderne. Dies geschieht immer wieder, besonders deutlich bei De Robertis, der auf dieser Basis auch seine kommentierte Ausgabe der Vita nova konzipiert hat. Vgl. De Robertis (1970) und Dante (1980). Zur Kritik an De Robertis vgl. auch Hempfer (1982: Anm. 52, 212–214). Die metapoetische Dimension steht auch im Zentrum des Vita nova-Buches von Harrison, der Dantes Poetik als Vorgriff auf den postmodernen Dekonstruktionismus versteht: „We will see that Dante’s theoretical preoccupations about the status of figurative language prefigure in a striking way the ‚tropological‘ reading of lyric poetry initated by Paul de Man“ (ders. 1988: Anm. 62, 54). 66 Zu den rime in morte, zu denen auch die Gedichte für die donna pietosa gehören, vgl. Santagata (1999: Anm. 40, 63–139). 67 Am Ende der Vita nova , nach einer demonstrativen Engführung von Beatrice und Christus im Pilgersonett (Deh, peregrini, che pensosi andate, Vn 29.9–10), öffnet sich dem Liebenden mittels einer visio spiritalis das Empyreum, in welchem er anstatt des dreieinigen Gottes – damit endet bekanntlich die Himmelsvision des Paradiso – die thronende Beatrice schaut (Vn 30, 1–13). Die mystische visio beatifica wird also von Gott auf Beatrice umgelenkt. Dies wird durch den abschließenden Prosaepilog bestätigt. Dort hofft der Dichter nicht etwa, dass er dereinst im Paradies Gott von Angesicht zu Angesicht schauen darf, sondern vielmehr Beatrice, wie diese Gott schaut, Vn 31.3. Petrarca wird in Levòmmi il mio penser in parte ov’era (Canz 302) auf Dantes Vision aus dem Schlusskapitel der Vita nova deshalb zurück-

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Novene der Ort einer neuen, und das heißt vollkommeneren Minnedichtung ist, müsste die erste Dokument eines alten Dichtens sein, das die wahre Minne lediglich ankündigt, und das in deren Erfüllung deshalb auch verabschiedet und überwunden ist. Und so ist es auch. In den Gedichten der ersten Novene spielt Dante nochmals die Muster der überkommenen Minnelyrik durch: Frauendienst und Werbung, Geheimhaltung der Liebe (hier ist das auch in den vidas und razos präsente Thema der donna dello schermo von besonderem Belang) (vgl. Rossi 1982: Anm. 11, 107 u. 117), samt der dazugehörigen senhals, und immer wieder und vor allem Liebe als Leid und damit ein Konzept, das alle vorgenannten Themen integriert. Prominentester Exponent der Schmerzliebe war zu Dantes Zeit kein anderer als Cavalcanti. So ist es gewiss kein Zufall, dass das strukturell besonders exponierte Sonett des neunten und damit letzten Kapitels der ersten Novene demonstrativ unter das Zeichen Cavalcantis gestellt wird: Spesse fiate vegnonmi alla mente (Vn 9.7–10), dessen Thema die Liebesmarter ist und das deshalb auch das Bild eines grausamen und mitleidlosen Amors zeichnet, ist so etwas wie ein Sonett cum auctoritate, zitiert es doch einen Vers aus Cavalcantis Ballata Perch’ i‘ no spero di tornar giammai (Rime 35) dergestalt, dass dadurch für den kundigen Leser der Nexus von amore und morte, der die Akme der Schmerzliebe ist, maximale Prägnanz gewinnt: Aus Cavalcantis „La morte / mi stringe sì che vita m’abbandona“ (V. 17–18) wird bei Dante nämlich „Amor m’assale […] sì che la vita quasi m’abbandona;“ (Vn 9.8). Das Zitat signalisiert, dass im Zusammenwirken beider Dichter, also von Cavalcanti und Dante, die Konzeption von Liebe als Leid sich in der Figuration Morte/Amor verdichtet und so ihre idealtypische Gestalt erhält. Das ist deutlich, aber noch nicht genug, denn Dante zitiert in Spesse fiate noch weitere Cavalcanti-Stellen. Unter diesen sei hier nur das „onne valor“ (Vn 9.9) aus dem Incipit des Sonetts herausgegriffen, mit dem Cavalcanti auf das Traumgedicht geantwortet hatte, in dem Dantes Liebe zu Beatrice ja erstmals zur Dichtung gerinnt.68 Die Funktion dieses Zitats ist klar: Es schlägt den Bogen vom Schluss der ersten Novene zurück zu ihrem Beginn, wo das Traumsonett ein, um es mit Luciano Rossi zu sagen, veritabler Resonanzraum für Cavalcanti-Echos ist.69 Erwähnt sei hier lediglich der pointierte Schluss von Cavalcantis Perche non fuoro a me gli occhi dispenti (Rime 12, V. 12–14), wo der personifizierte Tod, dessen Causa stets Amor ist, das gemarterte und zum Kreuz geschnittene Herz des Liebenden in seiner Hand hält: „[…] chi gran pena sente / guardi costui e vedrà ‘l suo core / che morte ‘l porta in man tagliato in greifen, um sie als häretisches Phantasma brandmarken und die damit verbundene Minnetheologie verwerfen zu können, vgl. Regn (2015: 97–110). 68 Vedeste, al mio parere, onne valore (Rime 37). Wie erinnerlich zitiert Dante das ganze Incipit im Kontext seiner Kommentierung des Traumsonetts, vgl. Vn 2.1. 69 „Il cuore“ (Anm. 11), 117: „gli echi cavalcantiani che in A ciascun alma risuonano in ogni parte.“

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croce.“ Cavalcanti, der primo amico, dessen Konzept von Liebe als Passion bis zu Guillem de Cabestanh und den Provenzalen zurückverweist, wird zur Chiffre für die Poetik der ersten Novene. Dies bedeutet, dass die bibeltypologische Analogisierung des Konnexes von Giovanna und Beatrice auch auf ihre Dichter übertragen wird. Die Vollendung der alten Minnedichtung in der neuen poesia della lode wird so zum Dokument einer religiös aufgeladenen Erfüllung, die den Liebesdichter zum Evangelisten macht. Das erste Sonett ist deshalb zugleich die erste Ankündigung dessen, was in der „materia nuova“ (Vn 10.1) der Lobdichtung und in den daraus hervorgehenden rime in morte zur Entfaltung kommen wird. Gestützt wird diese Ankündigungsfunktion durch Dantes Entscheidung, die Poesie des Prosimetrums mit einem Traumsonett beginnen zu lassen: Träume sind Prophezeiungen, die der Deutung bedürfen. Für die Alten bemisst sich deren Wahrheitswert nach der Stunde des Traums, denn was wahr sein will, muss nach Mitternacht, gen Morgen hin, geträumt sein (vgl. Nardi 1966: 56). Dante, der sich diese Auffassung in der Commedia zu eigen machen wird,70 hält sich in der Vita nova nicht daran, weil er seinen Minnetraum wahrheitsfähig und damit überhaupt erst interpretationswürdig machen will. Der Minnetraum ist wiederum eng an die Minnemeditation gekoppelt. Wie wir schon am Beispiel des 15. Kapitels gesehen haben, sollen die Minnemeditationen wahre Gesichte generieren.71 Das gleiche muss deshalb für den Minnetraum gelten, der direkt aus der cogitatio amoris hervorgeht.72 Der Minnetraum ist deshalb für Dante nicht den von Macrobius so benannten insomnia zuzuschlagen, die in den Commentarii in Somnium Scipionis bar jeder Wahrheit sind, und zwar vor allem dann, wenn ihre Ursache die dem Traum vorausgegangenen curae amoris sind.73 Dantes prophetische Traumvision ereignet sich vor Mitternacht: „eran […] aterzate l’ore“ (Vn 1.22).74 Gleichwohl soll sie wahrheitsfähig sein. Deshalb interpretiert Dante den Zeitpunkt wie ein scharfsinniger Schriftexeget dergestalt, dass daraus die erste der neun letzten Stunden der Nacht wird: „prima ora delle nove ultime ore della nocte.“ (Vn 1.19) Die Verknüpfung mit der Zahl Beatrices, 70 Vgl. Inf 26.7: „[…] presso al mattin del ver si sogna“, sowie Purg 9.13–18. 71 Die Minnemeditation wird dadurch entpathologisiert und so überhaupt erst für eine Sakralisierung der Minne dienstbar. 72 Vn 1.14: „pensando di lei, mi sopragiunse uno soave sonno“. Soave bedeutet hier ‚sanft‘, mit der Konnotation ‚leicht‘. Im Sonett selbst fehlt diese Prädikation, die Cavalcanti dagegen ins Zentrum seines Antwortsonetts stellt, wobei er „dolce“ und „soave“ implizit vom Schlaf auch auf das im Schlaf Geträumte überträgt. Vgl. Vedeste, al mio parere, onne valore, Rime 37, V. 7 und 13. 73 Vgl. Som. Scip. 1.3.3 und 1.3.6, „amor […] cuius curam semper sequntur insomnia.“ Vgl. Ricklin (1998: 177) sowie oben, Anm. 41. 74 Dante träumt also zwischen 9 und 10 Uhr abends, vgl. den Kommentar von Gorni in Dante (1996: Anm. 1, 21).

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die ja direkt auf die Trinität zurückbezogen ist,75 hat die Funktion, den Makel der Abweichung vom traditionellen Zeitpunkt der Wahrträume zu heilen. Der vormitternächtliche und direkt aus der cogitatio amoris hervorgegangene Traum wird auf diese Weise zu einer Prophetie, die der Interpretation nicht nur würdig ist, sondern zwingend nach ihr verlangt. Die Ankündigung, die das Traumsonett sein will, beginnt mit der Nennung des edlen Herzens, das ja Dreh- und Angelpunkt der stilnovistischen Minnekonzeption ist: „gentil core“ (Vn 1. 21) okkupiert die Reimposition des allerersten Verses der Vita nova und sein Reimwort ist „Amore“ (Vn 1.21). Gleich mit dem ersten Reim des ersten Gedichtes beginnt damit das Spiel der Typologie. Er ist nämlich eine Vorausdeutung auf das Sonett Amore e ‘l cor gentil sono una cosa (Vn 11.3–5), das, typisch für die materia della lode der zweiten Novene, Liebe und ratio eng führt und so demonstriert, dass der amour-passion der ersten Novene nunmehr Geschichte ist. Das Heilsversprechen Beatrices erfüllt sich für das edle Herz, wenn es, bedingt durch das heilbringende Wirken der Dame, die anfängliche ‚Wildheit‘ der Liebespassion überwindet. Deren prägnantester Ausdruck wiederum ist das Motiv der Herzspeise, das ja nicht nur den Horizont des Kultischen evoziert, sondern vor allem auch die Tiefen des Archaischen.76 Dante platziert das Herzmäre im Auftaktkapitel seines Prosimetrums, weil dadurch das Alte scharfe Kontur erhält und so besonders wirkungsvoll die Differenz zum Neuen markieren kann. Wie in der typologischen Bibelexegese ist somit auch in Dantes poetischer Typologie die Erfüllung im Neuen an eine Entleerung des Alten gekoppelt. Unter diesen Bedingungen, und eben nur unter diesen, kann die Liebespassion Vorgriff auf das Heil sein. Von der Erfüllung her lassen sich dann auch die Zeichen lesen, die im Alten auf das Neue vorausdeuten. Von den signa, die die Beatrice des Traums als Herrin des Heils deutbar machen, war schon die Rede. Obschon von großer Wichtigkeit, werden sie noch durch weitere typologische Zeichen ergänzt.77 Besondere Beachtung verdient das brennende Herz, das im Kontext christologischer Modellierung seine Basis-Funktion als Metapher des weltlichen amour-passion weit überschießt. Der „core ardendo“ (Vn 1.23) verweist nämlich auf den „cor […] ardens“ der Emmausjünger von Lc 24.32. In der EmmausErzählung verbinden sich, im Rahmen einer Wiederholung des Abendmahls, Liebe und Erkennen, wobei letzteres das physische Erkennen des Auferstandenen ebenso meint wie die geistige Erkenntnis seiner Essenz. Ermöglicht wird die 75 Die Drei wird übrigens durch die periphrastische Nennung der Zeitangabe ebenfalls ins Spiel gebracht: „aterzate“ (Vn 1.22). 76 Es sei in diesem Zusammenhang nochmals an den Mythos von Dionysos und Zagreus erinnert, vgl. Anm. 30. 77 Von der typologischen Zurichtung der Amor-Allegorie auf die caritas war schon die Rede, vgl. oben, Anm. 55.

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geistige Erkenntnis vor allem dadurch, dass Jesus den Emmaus-Jüngern die Schrift auslegt, und zwar, indem er typologisch die alttestamentarischen Prophezeiungen auf das Passions- und Erlösungsgeschehen zurichtet.78 Exakt diese Doppelung spielt Dante auch in der Traumvision aus. Der Träumer,79 der wie die Emmaus-Jünger ein brennendes Herz hat,80 erkennt die von ihm zunächst nicht identifizierte Frau in Amors Arm als Herrin des Heils: „riguardando molto intentivamente conobbi ch’era la donna della salute“ (Vn 1.15): conobbi wiederholt das cognoverunt von Lc 24.32 genau so wörtlich wie der cor ardente den cor ardens: Die Markierung der Intertextualität steht damit außer Zweifel. Doch nicht genug. Weil der Träumer in der Frau des geträumten Herzmäre die Herrin des Heils erkennt, kann der Traumdeuter, nach dem Dantes Text explizit verlangt, den geistigen Sinn des Traums erschließen. Er kann dies, indem er wie ein typologischer Schriftexeget (und damit anders als die „fedeli d’Amore“, Vn 1.20) das brennende Herz als Vorgriff auf die rechte Minne auslegt, die eine Replik jener caritas sein will, die Christi interpretatio der Schrift in den brennenden Herzen der Emmaus-Jünger bewirkt hat. Im Märtyrer irdischer Liebespassion kündigt sich solcherart der liebende Jünger an, der die Herrin des Heils in ihrer Essenz erkennt und deshalb auch zu ihrem Evangelisten werden kann. Dies wiederum hat zur Folge, dass der poetische Evangelist sein ‚Neues Testament‘ nicht als unabhängiges Schriftzeugnis präsentiert, sondern als Erfüllung des ‚Alten Testamentes‘ der überlieferten Minnedichtung, die bis zu den Provenzalen zurückreicht. Weil Dantes Typologie eine poetische ist, nimmt sie sich die Freiheit, das bibelexegetische Konzept dergestalt umzuformen, dass es für die christliche Sakralisierung der Minne dienstbar wird. Wie die donna dello schermo im Minnegeschehen ist dabei im Mittelalter der Traditionszusammenhang weltlicher Minnedichtung ein konvenienter Schutzschild gegen den Vorwurf der Häresie, den eine derart zugespitzte Sakralisierung der Minne leicht provozieren könnte – Dichtung war ja nur, um es mit dem Aquinaten zu sagen, die „infima inter omnes doctrinas“81 und damit aus theologisch-institutioneller Sicht nicht ganz so wichtig zu nehmen. Gut zwei Jahrhunderte später wird dies dann anders sein, denn zu Zeiten der Gegenreformation werden die scharfsinnigen Leser der 78 „accepit panem et benedixit ac fregit et porrigebat illis / et aperti sunt oculi eorum et cognoverunt eum / […] / et dixerunt ad invicem nonne cor nostrum ardens erat in nobis dum loqueretur in via et aperiret nobis scriptura“, Lc 24.30–32. Die Schriftauslegung Jesu ist eine innerbiblische Vorgabe für die Praxis typologischer Exegese. Vgl. bes. Lc 24.27: „et incipiens a Mose et omnibus prophetis interpretabatur illis in omnibus scripturis quae de ipso erant.“ 79 Genauer: das Erscheinungsbild des Träumers im Traum. 80 Dass das im Traum geschaute brennende Herz das des Träumers ist, expliziert Amor auf Latein: „Vide cor tuum.“, Vn 1.16. 81 ST 1. q 1.9 ob 1.

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Heiligen Inquisition bei der Vita nova gnadenlos den Zensurstift ansetzen (vgl. Friedrich 1964: 94).

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Thomas Klinkert (Zürich)

Zur metapoetischen und epistemologischen Funktion der Träume in Dantes Purgatorio

1. In der Antike und im Mittelalter gibt es eine Semantik des Traumes, die sich in bestimmten kanonischen Texten manifestiert. Die wichtigsten dieser Texte sind Ciceros Somnium Scipionis (= De re publica VI, 9–29) und der Kommentar von Macrobius zu diesem Text, bestimmte Stellen in den Schriften des Augustinus sowie De somno et vigilia von Albertus Magnus. In der Danteforschung wurden seit langem zahlreiche Übereinstimmungen zwischen einzelnen Auffassungen zum Traum, die sich in den genannten (und anderen) Schriften finden, und Dantes eigenen Äußerungen nachgewiesen.1 Eine besonders wichtige Rolle spielt im Mittelalter – im Unterschied zur Antike – die Unterscheidung zwischen Traum und Vision, wobei Vision zu verstehen ist als ein Traum mit besonderem Wahrheitsgehalt (vgl. Basile 2006: 41). Dies ist in der Tradition teilweise schon vorgeprägt: Der Fluchtpunkt von Ciceros Somnium Scipionis, der durch den Kommentar des Macrobius im Mittelalter weit verbreitet war und etwa zu Beginn der berühmtesten mittelalterlichen Traumerzählung, des Roman de la Rose, prominent erwähnt wird,2 ist die Einsicht des Träumenden in die Unsterblichkeit der Seele, d. h. ihm wird eine 1 Beispiele finden sich u. a. bei Busetto (1905: 143–155); Busetto geht besonders auf Albertus Magnus ein. Eine umfassende Darstellung von Dantes Verhältnis zur Tradition findet sich bei Cervigni (1986: Kap. I). – Ich danke Silvia Riccardi (Freiburg i.Br.), die mich bei der Beschaffung und Auswertung der Forschungsliteratur tatkräftig unterstützt hat. 2 „Maintes genz cuident qu’en songe / N’ait se fable non et mençonge. / Mais on puet tel songe songier / Qui ne sont mie mençongier, / Ainz sont aprés bien aparant. / Si em puis traire a garant / Un auctor qui ot non macrobes, / Qui ne tint pas songes a lobes, / Ançois escrit l’avision / Qui avint au roi scipion.“ (Guillaume de Lorris / Jean de Meun 1992: V. 1–10) Auffällig ist an dieser Eingangsstelle des Roman de la Rose, dass einerseits im Verweis auf das Somnium Scipionis der Wahrheitsgehalt von Träumen affirmiert und andererseits der Kommentator Macrobius fälschlicherweise als Autor des Somnium Scipionis bezeichnet wird, was sich als Indiz für die damalige Bekanntheit und Verbreitung vor allem dieses Kommentars deuten lässt.

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besonders wichtige, wahrheitshaltige Erkenntnis zuteil. Cicero zitiert und übersetzt hier eine Stelle aus Platons Phaidros (245 c–e). Wie Tullio Gregory gezeigt hat, wandelt sich die Einstellung zum Traum im 12. und 13. Jahrhundert dahingehend, dass bislang dominante religiöse Erklärungsmuster allmählich durch wissenschaftliche und metaphysische abgelöst werden. Der Traum wird nun tendenziell nicht mehr als „rivelazione proveniente da Dio“ gedeutet, sondern als „modo di conoscenza naturale che si realizza in forme simboliche e metaforiche“ (Gregory 1992: 351). Eine wichtige Rolle für diese neue Deutung des Traumes als Wahrheitsaussage, deren Ursprung nicht das Göttliche, sondern die Natur ist, spielt die Astrologie als „fondamento di tutte le scienze della natura“.3 Angesichts der Tatsache, dass von mittelalterlichen Autoren bestimmten Träumen eine besondere Affinität zur Wahrheit zugeschrieben wurde, nimmt es nicht Wunder, dass man auch Dantes Commedia, die ja gemäß der ihr eingeschriebenen Poetik auf die Enthüllung von Wahrheiten und gültigen Wissensbeständen zielt, mit der Semantik der Vision in Verbindung gebracht hat. Macrobius unterscheidet drei Arten von wahrheitshaltigen Träumen: oraculum, visio und somnium (vgl. Macrobius 1848: Lib. I, Cap. III, 27). Ein oraculum ist ein Traum, in dem dem Träumenden eine ihm nahestehende Person oder auch eine besonders ehrenwerte oder gar göttliche Figur erscheint und eine Prophezeiung macht oder einen moralischen Appell formuliert. Eine visio zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein künftiges Geschehen vorwegnimmt, z. B. die Rückkehr eines lange abwesenden Freundes. Die komplexeste Form der wahrheitshaltigen Träume ist das somnium, dessen Bedeutung verdeckt ist und erst durch Interpretation freigelegt werden kann („Somnium proprie vocatur quod tegit figuris et velat ambagibus non nisi interpretatione intellegendam significationem rei quae demonstratur“, ebd.). Maria Adelaide Basile sieht einen engen Zusammenhang zwischen dieser Typologie und Dantes Commedia: Se ora confrontiamo alcuni passi del commento di Macrobio con la Commedia di Dante possiamo osservare che anche la Commedia, come il Somnium, può essere letta, allo stesso tempo, come oraculum, visio e somnium, e, come nel caso di Scipione, può essere posta in relazione a tutte e cinque le categorie definite da Macrobio. (Basile 2006: 42)4

Die Commedia sei, so Basile, ein somnium proprium, insofern Dante durch sie Auskunft über seine eigene Zukunft erhalte; sie sei ein somnium alienum, weil in ihr der Zustand anderer Seelen betrachtet werde; sie sei ein somnium commune, weil aus ihr hervorgehe, dass dieselben Jenseitsorte für alle Menschen gleichen Verdienstes (oder gleichen Lasters) reserviert seien; sie sei ein somnium publi3 Vgl. Gregory (1992: 16). Die Kenntnis der Himmelskörper und ihrer Bewegungen ist die Grundlage für menschliche Eingriffe in die Natur sowie für alle Arten von Dechiffrierungen geheimer Botschaften, wie sie u. a. auch in den Träumen enthalten sind (ebd.: 18). 4 Zu den fünf Subkategorien des somnium vgl. Macrobius (1848: 29).

Zur metapoetischen und epistemologischen Funktion der Träume im Purgatorio

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cum, weil Dante auf seiner Jenseitsreise die Wahrheit über seine Heimatstadt Florenz und über andere italienische Städte erfahre, und schließlich sei sie auch ein somnium generale, in welchem Dante durch direkte Beobachtung ein Wissen über den Himmel, die Himmelssphären und die Harmonie ihrer Bewegungen erlange. Basile bezieht sich auf Wright Bundy (1927). Ihm zufolge besteht Dantes Purgatorio in seinen ersten acht Gesängen aus einer Reihe von körperlichen Visionen. Im Rest dieser Cantica wie in großen Teilen des Paradiso würden dagegen geistige Visionen dargestellt, während sich im Schlussteil des Paradiso intellektuelle Visionen im Sinne von Augustinus manifestierten: „visions in which one has direct insight into the nature of virtues and vices“ (Wright Bundy 1927: 234, zit. nach Basile 2006: 43). Gemäß dieser Auffassung erscheint die Commedia in doppelter Weise als ein Visionstext: Zum einen handelt es sich auf der Ebene der énonciation um einen Text, der als visio in somniis transzendente Wahrheiten verkündet, zum anderen wird auf der énoncé-Ebene dieses Textes der Traum als Handlung selbst dargestellt. Dadurch ergibt sich ein reflexives Verhältnis zwischen énonciation und énoncé; dieses Verhältnis ermöglicht einen Blick auf die poetologischen Grundprinzipien von Dantes Text, auf den „processo creativo della Commedia“ (Basile 2006: 44). In drei Gesängen des Purgatorio – mithin in jenem Jenseitsreich, welches nicht durch Ewigkeit, sondern durch Transitorik gekennzeichnet ist und daher den Bedingungen des menschlichen Lebens im Diesseits am ähnlichsten ist5 – hat der Jenseitswanderer Dante Träume, deren komplexe Bedeutung schon vielfach erörtert wurde.6 An die Erkenntnisse der Forschung möchte ich anknüpfen und durch eigene Textanalysen einige neue Akzente setzen. Ich gehe davon aus, dass die Transformation diskursiven Wissens in einem literarischen Text wie der Commedia dadurch angemessen beschrieben werden kann, dass man den jeweiligen syntagmatischen Kontext – und das bedeutet in einem erzählenden Text die Einbettung und Funktionalisierung auf der Ebene der narrativen Verknüpfungen, der dargestellten Handlung und des Erzähldiskurses – mitberücksichtigt. Es geht mir also darum, die zu den drei Träumen gehörenden Textelemente in ihrer komplexen strukturellen und poetologischen Funktion zu analysieren. Der Leitgedanke, unter den ich meine Überlegungen stellen möchte, ist folgender: Die Traumdarstellungen im Purgatorio haben eine metapoetische Funktion. Sie dienen der Markierung bestimmter Schwellen, die der Wanderer nicht ohne Mühe zu überschreiten hat. Mittels der Träume erfolgt eine Spiege5 Basile weist darauf hin, dass Dante nur in jenem Jenseitsreich träumen kann, in dem wie im Diesseits auch die Zeit existiert (ebd.: 46). 6 Besonders verwiesen sei hier auf die bereits erwähnten Arbeiten von Cervigni (1986) und Basile (2006) sowie Baran´ski (1989), Calenda (2001), Ciavorella (2008), Hollander (1969) und Mehltretter (2007).

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lung des von Dante beschrittenen Weges und der diesem eingeschriebenen Bedeutungen. Damit sind die Träume Elemente einer Selbstreflexion des Textes der Commedia. Außerdem wird über den epistemischen Status dieser Träume reflektiert. Es wird implizit die Frage gestellt, inwieweit Träume ein Wissen vermitteln können. Zum einen geht es also um eine Reflexion des Textes über sich selbst, zum anderen – noch grundlegender – um eine Reflexion der wahrheitshaltigen Verwendung von Zeichen. Diese doppelte Reflexion über den Text und seine Wahrheit ist insofern von höchster Relevanz, als der Dante’sche Text, der ein Wahrheitstext zu sein beansprucht, mittels dieser Reflexion seine eigenen epistemologischen Grundlagen reflektiert.7

2. Im Zentrum meiner Ausführungen steht die vergleichende Analyse der drei Träume, welche dem erlebenden Ich im Purgatorio zuteil werden. Dabei handelt es sich um folgende Textstellen: Purg. IX, 1–33 sowie die anschließende Erklärung des Traumes, Purg. IX, 34–69. Der zweite Traum wird in Purg. XIX, 1–33 erzählt und in demselben Canto 52–69 erklärt. Der dritte Traum, dem keine Erklärung beigefügt ist, findet sich in Purg. XXVII, 91–108. Was die diegetische Funktion dieser Träume betrifft, so markiert jeder von ihnen eine wichtige Schwelle beim Aufstieg auf den Läuterungsberg. Der erste Traum hängt mit dem Übergang vom Antipurgatorio zum eigentlichen Eingang des Purgatorio zusammen. Der zweite Traum markiert den Einschnitt zwischen dem vierten und dem fünften girone 7 Baran´ski (1989: 213) weist darauf hin, dass die Purgatorio-Träume in der Forschung bis dato vor allem unter zwei Aspekten betrachtet worden seien: zum einen als „important elements in the poet’s organization of the cantica“, zum anderen als „sources of information about future events in the realm“. Das habe dazu geführt, dass man (mit Genette gesprochen) vor allem die proleptische Dimension dieser Träume beachtet habe, kaum jedoch ihre analeptische. Hollander (1969: 136) habe dagegen in Bezug auf den zweiten Traum vor allem dessen analeptische Dimension betont, ohne indes deren Implikationen weiter zu untersuchen. Daran knüpft Baran´ski an, indem er sagt, dass „the backward-looking feature of Dante’s dreams is unusual when compared to dream-passages in other medieval writers“ (Baran´ski 1989: 213). Die von ihm vertretene These lautet, dass die Träume „something more than just simple structural devices“ (ebd.: 214) seien und dass die Spannungen zwischen den diversen Funktionen der Träume „with the general directions of his poem“ (ebd.) korrelierten. Der Schritt, den Baran´ski vollzieht, führt somit von der strukturellen zur metapoetischen Betrachtung der Träume. Auch Basile (2006: 55–56) weist auf die metaliterarische Dimension der Purgatoriumsträume hin, die im Prinzip schon in der mittelalterlichen Traumexegese angelegt gewesen sei. Ein Traumtheoretiker wie Pascalis Romanus habe dichtungsspezifische Begriffe wie integumentum, figura, ambages verwendet, um über den Traum zu sprechen (ebd.: 56). Daran möchte ich anknüpfen, indem ich die metapoetische Dimension der Träume in Verbindung mit ihrer epistemologischen Funktion betrachte und dabei auch die hierbei zutage tretenden Spannungsverhältnisse und Widersprüche herausarbeite.

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des Läuterungsberges. Das entspricht auf der Ebene der Sündenhierarchie dem Übergang zu den Sünden, welche aus übermäßiger Liebe zu den irdischen Gütern begangen wurden. In spiegelbildlichem Verhältnis zum Inferno sind das jene Sünden, die weniger gravierend sind, was sich darin zeigt, dass die sich läuternden Seelen im Purgatorio immer weiter nach oben steigen, um schließlich von den Sünden befreit ins Paradies einzugehen. Mithin markiert der zweite Traum den Übergang in jenen Bereich des Purgatoriums, der dem irdischen Paradies am nächsten gelegen ist. Der dritte und letzte Traum schließlich erfolgt an der Stelle des Übergangs in das irdische Paradies, welches sich auf dem Gipfel des Läuterungsbergs befindet und in dem Dante seiner verstorbenen Geliebten Beatrice wiederbegegnen wird. Auf der Ebene des Stationenwegs also haben die drei Träume eine analoge Funktion, indem sie wichtige Schwellen und Übergänge markieren. Diese Markierung ist doppelt motiviert, denn zum einen wird hier auf die objektive Struktur des zweiten Jenseitsreiches verwiesen, zum anderen handelt es sich um Markierungen von Dantes individuellem Weg, der ihn durch dieses Jenseitsreich führt. Auf dieser zweiten Ebene entfalten die Träume ihre individuelle und subjektive Bedeutung. Dante, der Wanderer, ist das Subjekt dieser Träume. Um zu verstehen, was die Träume für ihn bedeuten, müssen wir nun also ihren Inhalt genauer beschreiben.

2.1 Im ersten Traum (Purg. IX, 1–33) erblickt Dante einen Adler mit goldenen Federn, der über ihm am Himmel schwebt und sich zu ihm herabstürzt, um ihn zu ergreifen und in den Himmel hinaufzuheben. Als er vom Adler nach oben gerissen wird, hat er das Gefühl, er würde verbrennen, wodurch er schließlich aufwacht. Die Situation eines Menschen, der von einem Adler geraubt wird, verweist auf den Mythos von Ganymed, auf den Dantes Text auch konkret Bezug nimmt: „ed esser mi parea là dove fuoro / abbandonati i suoi da Ganimede, / quando fu ratto al sommo consistoro.“ (V. 22–24)8 In Ovids Metamorphosen (X, 155–160) singt Orpheus von Jupiters Liebe zu dem phrygischen Knaben Ganymed, den er als Adler verwandelt ins Reich der Götter entführte, wo dieser „noch heute für Iuppiter den Becher mischt und ihm gegen Iunos Willen den Nektar reicht“.9 Eine semantische Dissonanz ergibt sich allerdings aus der unklaren Äquivalenzrelation zwischen Dante und Ganymed. Gemäß der Logik des zi8 Ich zitiere nach der Ausgabe von Natalino Sapegno (Alighieri 1955). 9 P. Ovidius Naso (1994: 520f.): „qui nunc quoque pocula miscet / invitaque Iovi nectar Iunone ministrat.“

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tierten Handlungsschemas ist Dante mit Ganymed gleichzusetzen, insofern er wie dieser von dem Adler erfasst und geraubt wird. Andererseits heißt es im Text jedoch, dass er den Eindruck habe, sich an jenem Ort zu befinden, wo Ganymeds Angehörige von ihm zurückgelassen worden seien. Der träumende Dante nimmt hier also zugleich die Perspektive Ganymeds, des vom Adler in die Höhe gerissenen Jünglings, und seiner Genossen ein, die Zeugen dieses Raubes wurden. Die in dieser perspektivischen Überblendung sich manifestierende Ambivalenz gilt für den Adlertraum insgesamt. Gemäß Dantes Erzählung erscheint der Adler als eine große Gefahr. Er stürzt sich wie ein Blitz („terribil come folgor“, V. 29) auf seine Beute herab und befördert diese in einen Bereich, in dem Hitze eine weitere Bedrohung darstellt. Offenbar hat der Traum eine illusionierende Wirkung, denn Dante erlebt die Bedrohung durch den Adler als eine tatsächliche und hat das körperliche Gefühl, nach oben gerissen zu werden und durch die Hitze zu verbrennen. Andererseits ist auffällig, dass bei der Beschreibung des Traumes mehrmals auf die Irrealität des im Traum Wahrgenommenen und körperlich Erlebten hingewiesen wird. Dies äußert sich in der wiederholten Verwendung des Verbs „parere“: „in sogno mi parea veder“ (V. 19), „esser mi parea“ (V. 22), „Poi mi parea“ (V. 28) und „Ivi parea“ (V. 31). Außerdem wird die im Traum verspürte Hitze als „lo ’ncendio imaginato“ (V. 32) bezeichnet. Die wiederholte Hervorhebung des Scheinhaften steht nun aber im Widerspruch zu der Behauptung, wonach der Träumende in den Morgenstunden („presso a la mattina“, V. 14) sich einer göttlichen Wahrheitsschau annähere („la mente nostra, peregrina / piú da la carne e men da’ pensier presa, / a le sue vision quasi è divina“, V. 16–18). Das zwischen Wahrheitsschau und Scheinhaftigkeit oszillierende Träumen erscheint somit als höchst ambivalent. Dies möchte ich als Indiz für den problematischen epistemologischen Status des Traumes deuten, der sich auch in seiner syntagmatischen Einbettung manifestiert, wie gleich gezeigt werden soll. Als Dante aus dem Traum erwacht, berichtet Vergil, was inzwischen passiert ist. Während Dante schlief, erschien die heilige Lucia, die ihn von der Valletta dei principi hinauf zum eigentlichen Eingang des Läuterungsberges befördert hat. Während der Schlafende also im Traum wie Ganymed von einem Adler geraubt und nach oben in die Lüfte gezogen wurde, widerfuhr seinem Leib durch das Eingreifen der heiligen Lucia eine analoge räumliche Bewegung. Dadurch lässt sich der Traum zunächst einmal als allegorische Darstellung eines zeitgleich stattfindenden realen Geschehens interpretieren. Der Adler steht allegorisch für die heilige Lucia und somit für das Göttliche; Ganymed entspricht dem schlafenden Wanderer. Die räumliche Erhebung korreliert auf beiden Ebenen mit einer Annäherung an die Sphäre des Göttlichen, denn der Raub des Ganymed durch den in einen Adler verwandelten Jupiter ist ja nichts anderes als die Versetzung eines Sterblichen in die Sphäre der Götter. Ebenso wird der sterbliche

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Dante durch Lucias Eingreifen einen Schritt näher an das Ziel seiner Reise herangeführt.10 Indem Lucia den Leib des Schlafenden hinaufträgt, weist sie ihm und dem ihn begleitenden Vergil den Weg zum Eingang des Läuterungsberges: „Qui ti posò, ma pria mi dimostraro / li occhi suoi belli quella intrata aperta“ (V. 61–62). Auch hier bleiben indes Spannungen und Unschärfen festzuhalten.11 Während Ganymed dauerhaft in der Sphäre der Götter verweilt, befindet Dante sich auf einem transitorischen Weg durch das Jenseits und muss am Ende von dort zurückkehren. Der Unterschied zwischen dem im Traum imaginierten Geschehen und dem, was tatsächlich in der Außenwelt mit Dantes Körper passiert, wird im Übrigen auch durch den Gegensatz von Hitze und Kälte angezeigt. Im Traum hat Dante den subjektiven Eindruck, er würde verbrennen. Nachdem er aufgewacht ist, beschreibt er sein eigenes Erstaunen dagegen mit folgenden Worten: „e diventa’ ismorto, / come fa l’uom che, spaventato, agghiaccia“ (V. 41–42). Damit stehen sich der Inhalt des Traumes und das tatsächlich Geschehene oppositiv, wie Furcht und Trost, Täuschung und Wahrheit, gegenüber: „A guisa d’uom che ’n dubbio si raccerta, / e che muta in conforto sua paura, / poi che la verità li è discoperta, / mi cambia’ io“ (V. 64–67). Die Täuschung des Traums wird durch die Einsicht in die Wahrheit des tatsächlich Geschehenen abgelöst. Neben der erwähnten allegorischen Funktion hat der Traum noch eine weitere Bedeutungsebene. Durch seine syntagmatische Einbettung wird deutlich hervorgehoben, dass die Tatsache des Träumens einem Heraustreten aus dem räumlich-zeitlichen Koordinatensystem der Wirklichkeit entspricht. Wer träumt, überschreitet eine Schwelle und begibt sich imaginär in ein anderes raumzeitliches System. So fällt auf, dass auf der Ebene der Chronologie ein Zeitsprung von ca. neun Stunden vorhanden ist. Die den Canto eröffnende Zeitangabe verweist auf den Abend: Die Nacht hat ihre dritte Stunde fast vollendet, als Dante einschläft; es ist also neun Uhr abends. Der Traum beginnt nun unvermittelt in den Morgenstunden, als die Schwalben anfangen zu zwitschern. Die inzwischen vergangenen neun Stunden werden aber mit keinem Wort explizit erwähnt. Als Dante, bedingt durch die Hitzeempfindung, aus seinem Traum erwacht, fühlt er sich wie Achilles, der von seiner Mutter heimlich auf die Insel Skyros gebracht wurde, um ihn davor zu bewahren, dass er in den Krieg ziehen muss. Die Situation des Erwachens ist also charakterisiert durch die Erfahrung einer raum10 Cervigni (1986: 114) deutet den Adlertraum wie folgt: „Performing for the Pilgrim an action no human could possibly accomplish, the golden eagle represents a supernatural power and must necessarily be identified with Christ Himself. Through Him, the believer is freed from the land of slavery, delivered from the bondage of sin, and wafted upward to salvation.“ Diese vereindeutigende Lesart blendet allerdings die Diskrepanzen und Widersprüche, von denen oben die Rede war und auf die gleich noch zurückzukommen ist, aus. 11 Zu den Diskrepanzen zwischen dem Adlertraum und dem tatsächlichen Geschehen vgl. Calenda (2001: 293) und die dortigen Literaturhinweise.

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zeitlichen Unsicherheit, auf die der Erwachende mit Furcht reagiert. Aufgrund der syntagmatischen Einbettung des Traums, welche durch räumlich-zeitliche Diskontinuität und Verunsicherung gekennzeichnet ist, wird der Akt des Träumens als eine Entrückung, ein Heraustreten aus dem raumzeitlichen Kontinuum charakterisiert. Bezieht man darauf den Inhalt des Traumes, der ja ebenfalls von räumlich-zeitlicher Entrückung handelt, so lässt sich dieser Inhalt auch als Allegorie des Träumens interpretieren. Wer träumt, wird wie Ganymed von einer Wirklichkeitssphäre in eine andere transportiert. Er ist diesem Geschehen passiv und hilflos ausgeliefert und ihm verschwimmen die Wahrnehmungsperspektiven. Damit ist klar erkennbar, dass diesem Traum eine metapoetische Dimension eingeschrieben ist. Das zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass im Text selbst, wie wir schon gesehen haben, von Scheinhaftigkeit die Rede ist. Was im Traum als aktuelle Wirklichkeit wahrgenommen wird, ist eigentlich Schein. Dieser Schein kann allegorisch aber auf eine Wahrheit verweisen. Dass die Traumvision Wahres zutage bringen kann, wird vom Erzähler selbst betont, wenn er sagt, dass in den Morgenstunden die „mente nostra“ (V. 16) „a le sue vision quasi è divina“ (V. 18). Scheinbar wurde Dante im Traum von einem Adler in die Höhe gerissen, in Wahrheit hat ihn Lucia an die Pforte des Purgatorio gebracht. Die durch die räumlich-zeitliche Diskontinuität verursachte Unsicherheit („dubbio“, V. 64) ruft Angst hervor („paura“, V. 65), wird aber durch die Enthüllung der Wahrheit („verità“, V. 66) aufgelöst. Wie zu Beginn des Inferno in der „selva oscura“ befindet sich der Wanderer Dante in einem Zustand der Angst, aus dem er unter Mithilfe eines Adjuvanten befreit wird. Diese Befreiung von der Angst wird an der vorliegenden Stelle durch die Enthüllung der Wahrheit herbeigeführt. Diese besteht darin, zu erkennen, dass Dante keineswegs, wie Ganymed, von einem Adler in eine weit entfernt liegende, andersartige Welt transportiert worden ist, sondern dass er auf seinem vorgegebenen Weg durch das Purgatorio durch die Hilfe von Lucia eine wichtige Schwelle überschreiten konnte. In dieser Hinsicht ist zu konstatieren, dass der Traum in seiner wörtlichen Bedeutung gerade nicht die Wahrheit des Geschehens angezeigt hat. Das Gefühl der Bedrohung und des Verbrennens, welches im Traum hervorgehoben wird, steht im Gegensatz zu der Inobhutnahme durch Lucia. Der Traum steht somit in einer komplexen und widersprüchlichen Relation zu seiner textuellen Umgebung und erhält gerade dadurch eine metapoetische Valenz, dass die poetische Rede über das heilsgeschichtliche Geschehen, dem Dante beiwohnt und dessen Protagonist er zu sein behauptet, zu diesem ebenfalls in einer Relation der Widersprüchlichkeit und Unverrechenbarkeit steht.12 12 Damit ist die grundlegende Frage angesprochen, wie sich bei Dante das Verhältnis zwischen Fiktion und Episteme artikuliert. Hierzu sei verwiesen auf Warning (1999: 325–327), der die

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2.2 Betrachten wir nun den zweiten Traum (Purg. XIX, 1–33). Wie schon der erste, wird auch dieser durch eine komplexe Zeitangabe eingeleitet. Auch hier haben wir es mit einer Diskontinuität zu tun. War im vorangehenden XVIII. Gesang von Mitternacht die Rede (Purg. XVIII, 76) und hatte Dante sich am Ende dieses Gesangs ermüdet hingelegt und war eingeschlafen, so wird nun, zu Beginn des XIX. Gesangs, ein Traum in den frühen Morgenstunden erzählt. Auch hier liegt also eine Ellipse von mehreren Stunden vor, die zudem noch durch den Übergang zwischen zwei Gesängen auf der Textoberfläche markiert wird. Im Traum erscheint Dante diesmal eine hässliche, stotternde, verunstaltete Frau. Diese „femmina balba“ (Purg. XIX, 7) wird nun allerdings alsbald durch das träumende Subjekt verwandelt und erscheint als Sirene, die einen verführerischen Gesang an ihn richtet und ihn dadurch an sich zu fesseln versucht, so wie sie es ihren eigenen Worten zufolge auch mit Odysseus getan habe. Am Ende des Traumes erscheint indes eine andere, heilige Frau, die sich über die Sirene empört und den im Traum ebenfalls anwesenden Vergil dazu aufruft, diese in die Schranken zu verweisen. Vergil leistet dieser Aufforderung Folge, indem er die Bekleidung der Sirene zerreißt und ihren hässlichen und stinkenden Unterleib sichtbar macht. Durch den heftigen, unangenehmen olfaktorischen Eindruck erwacht Dante aus seinem Traum. Wie schon im ersten Traum, so geht es auch hier wieder um das Verhältnis von Schein und Wirklichkeit. Diesmal ist die Traumhandlung noch komplexer, denn wir haben nicht wie im ersten Traum nur das träumende Subjekt und eine zweite Figur, den Adler, sondern eine Frau in hässlicher Gestalt, die durch den Blick des Träumenden in eine schöne Frau verwandelt wird. Die Identität der Traumgestalt löst sich auf bzw. erweist sich als Projektion des träumenden Subjekts. Die verwandelte weibliche Gestalt richtet sodann ihren Sirenengesang an den Träumenden und versucht ihn zu verführen. Daraufhin tritt eine zweite Frauengestalt auf den Plan, die zur Opponentin der Sirene wird und sich dabei Vergils als eines Adjuvanten bedient. Erst durch sein Eingreifen wird die Schönheit der Sirene schließlich als scheinhaft entlarvt: Es wird die unter ihrer Kleidung verborgene Hässlichkeit bloßgelegt. In recht deutlicher Art und Weise wird in diesem Traum also im Rückgriff auf die mittelalterliche Personifikation der Frau Welt von Sexualität und den damit verbundenen Gefährdungen gehandelt. Diese GeAuffassung vertritt, dass die in der Commedia dargestellte objektive Jenseitsordnung in einem grundlegenden Spannungsverhältnis zur Logik des poetischen Textes stehe. Am Beispiel von Inf. XXVI zeigt Warning, dass die „curiositas“ des Odysseus „zu einem Ferment“ werde, „das [den poetischen] Diskurs verwandelt in einen Konterdiskurs zu jenem Wissensdiskurs, dem [die curiositas] entnommen ist“ (ebd.: 327). Zum Spannungsverhältnis zwischen Fiktion und Episteme vgl. auch Regn (2009), Klinkert (2015a) sowie ders. (2015b).

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fährdungen werden als sündhaft gebrandmarkt. Damit verweist der Traum einerseits zurück auf den XVIII. Gesang des Purgatorio, in dem vom Zusammenhang zwischen Liebe und freiem Willen die Rede war.13 Andererseits deutet der Traum voraus auf jenen Bereich des Läuterungsbergs, den Dante im Anschluss betreten wird und an dessen oberstem Ende sich die lussuriosi befinden. Der Traum hat somit zugleich analeptische und proleptische Funktion (vgl. hierzu Norton 1970: 351–365). Wie auch schon beim ersten Traum fällt auf, dass der Bruch der zeitlichen Kontinuität deutlich hervorgehoben wird; bereits erwähnt wurde die Ellipse zwischen Mitternacht und den frühen Morgenstunden. Am Ende des Traums ist die Sonne aufgegangen, nachdem es in V. 5, ganz zu Beginn, noch Nacht gewesen war. Dass im Traum eine andere raumzeitliche Ordnung herrscht, wird somit wiederum deutlich hervorgehoben. Die Traumvision aber hat Dante noch nicht losgelassen. Auf Vergils Frage, warum er den Kopf zu Boden gesenkt habe, antwortet Dante, dass die „novella vision“ (V. 56) in ihm eine ängstliche Befangenheit ausgelöst habe. Vergil erklärt ihm nun die Traumvision, indem er sagt, dass die Frau in seinem Traum die „antica strega“ (V. 58) sei, d. h. die Verführerin, welche Anlass für jene fleischlichen Sünden sei, für die man in den noch zu durchlaufenden Teilen des Läuterungsberges Buße tue, und er habe ja auch gesehen, auf welche Weise man sich von ihr lösen könne. Daher solle er nun neuen Mut fassen und nicht nach unten, sondern nach oben zu den göttlichen Himmelssphären blicken. Im Unterschied zum ersten Traum, in dem mehrmals das Verb „parere“ vorkommt, wird im zweiten die Scheinhaftigkeit weniger explizit hervorgehoben. Die Traumgestalt und ihre Veränderung werden vielmehr in ihrer Phänomenalität als Abfolge von Bildern beschrieben, die durch ihre Wandlungsfähigkeit das Scheinhafte der Traumbilder anzeigen. Zugleich wird die subjektive Perspektive des Träumenden markiert, indem der Erzähler betont, dass die Verwandlung der hässlichen in eine schöne, verführerische Frau durch den Blick des Träumenden („lo sguardo mio“, V. 12) bewirkt wird, wobei auch deutlich wird, dass dieser verwandelnde Blick einer des Begehrens ist: „e lo smarrito volto, / com’amor vuol, cosí le colorava.“ (V. 14–15) Erst nach der Verwandlung durch den Blick des Träumers kann die Frauengestalt mit ihm kommunizieren, und sie tut dies, indem sie singend ihre eigenen Vorzüge anpreist. Dabei stellt sie auch die Behauptung auf, dass sie durch ihren Gesang Odysseus vom Weg abgebracht habe, was im Widerspruch zu der Handlung der Odyssee steht, die Dante zwar nicht direkt, wohl aber indirekt vertraut sein musste. Angesichts der Abweichung von 13 Zu der vielschichtigen Rückverweisungsfunktion des Sirenentraums vgl. Hollander (1969: 136) und Baran´ski (1989: 215–218). Baran´ski analysiert den Sirenentraum als „a mosaic put together from elements related to his guide’s earlier account of the functioning of love in human beings“ (ebd.: 216).

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der homerischen Tradition hat man nach der allgemeinen allegorischen Bedeutung der Sirenen gefragt. So schreibt Florian Mehltretter: „Die Sirenen stehen seit der Antike zunächst einmal für die Verlockungen des Fleisches. Daneben gibt es, vor allem in neuplatonischer Tradition, eine Deutung der Sirenen als Symbole verderblichen Weltwissens“ (Mehltretter 2007: 57). Der metonymische Bezug der Sirenen zu Odysseus und der ihm im Inferno zugeschriebenen Sünde der curiositas lässt in jedem Fall vermuten, dass für Dante die letztgenannte Dimension relevant ist. Robert Hollander interpretiert die Sirenen im Sinne einer „double reference“ auf die Sünden des Fleisches und die Sünden des Geistes.14 Die Frage, ob Dante die (indirekte) homerische Quelle missachtet oder falsch zitiert habe, welche Mehltretter (2007: 56) offenlässt, möchte ich hypothetisch beantworten, indem ich vermute, dass Dantes Traumerzählung möglicherweise bewusst entstellend mit der Odysseus- und Sirenengeschichte verfährt, um indirekt anzuzeigen, dass die subjektive Traumperspektive scheinhafte Bilder produzieren kann, die mit der Wahrheit im Konflikt stehen. Auffällig ist nämlich, dass, im Gegensatz zum ersten Traum, der explizit als Wahrheitsvision des Träumenden angekündigt wurde, davon bei der Einbettung des zweiten Traumes keine Rede ist. Hier wird auf Wahrsager hingewiesen, „geomanti“ (V. 4), deren Vorhersagen sich auf die Sternbilder stützen. Zwischen der Seele des Träumenden und den Wahrsagern besteht kein intrinsischer Zusammenhang. Damit wird von Beginn an subtil Scheinhaftigkeit nahegelegt. Im Verhältnis zwischen der Traumerzählung und ihrer anschließenden Deutung durch Vergil ergeben sich ebenfalls Diskrepanzen. Zum einen bleibt unerklärt, woher Vergil den Inhalt von Dantes Traum kennt, da dieser nur allgemein von seiner „novella vision“ (V. 56) spricht. Zum anderen bezeichnet Vergil die Sirene als „antica strega / che sola sovr’a noi omai si piagne“ (V. 58–59) und schreibt ihr damit einen Objektivitätsstatus zu, der vom konkreten Verlauf des Traumes nicht gedeckt ist. Hier wird, wie oben dargelegt, deutlich, dass es sich bei dieser angeblich bösen Verführerin um eine Wunschprojektion des Träumenden handelt.15 Worin genau besteht nun die Wahrheit des Traumes? Liegt sie in der Präsenz einer verführerischen Vision? Oder liegt sie nicht vielmehr in der Darstellung des Traumes als einer Produktion von Wunschphantasien, die dann 14 Hollander (1969: 165). Im Kontext geht es um Beatrices Kritik an Dante in Purg. XXXI und ihre Ermahnung, dass er, wenn er das nächste Mal die Sirenen höre, stärker sein solle (V. 44– 45). Die „serene“ identifiziert Hollander einerseits mit der fehlgeleiteten Liebe zu einer irdischen „pargoletta“ (V. 59), andererseits mit Dantes „flirtation with the Lady Philosophy, who is to be understood as the wrong kind of thought“ (Hollander 1969: 165). 15 Vgl. auch Cervigni (1986: 131): „Furthermore, although the femmina calls herself a siren, she can hardly lay any legitimate claim to such a condition. In fact, the novel appearance she has acquired is due not to her own power but to the seer’s temporary weakness, and she will soon be dispossessed of it by force and against her will.“

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wiederum von einer inneren Zensur in ihrer Brüchigkeit bloßgelegt werden? Die Tatsache, dass Dante als Wanderer selbst ein Büßender ist und ihm beim Eintritt in das Purgatorium sieben „P“ als Zeichen für die sieben Todsünden vom „angelo portiere“ auf die Stirn geschrieben wurden (Purg. IX, 112), lässt die Annahme als plausibel erscheinen, dass im Traum Triebregungen und Begierden visualisiert werden, die die Buße als notwendig erscheinen lassen. Dann aber wäre die Deutung Vergils, wonach das Böse in der Verführerin steckt, nicht korrekt, sondern es müsste vielmehr gesagt werden, dass das Böse im Begehrenden steckt, der sich seine Wunschphantasie selbst erzeugt. Auch hier also sehen wir eine Reihe von Mehrdeutigkeiten und Diskrepanzen zwischen dem Traum und seiner textuellen Umgebung, die wiederum dafür sprechen, dass der Traum als ein metareflexives Instrument betrachtet werden kann. Es geht hier, wie schon im ersten Traum, um die Frage der Gültigkeit von Bedeutungszuschreibungen und Interpretationen; auch dieser Traum hat somit eine epistemologische Funktion, die zugleich auch eine metapoetische ist, welche das der Commedia zugrundeliegende Problem der Wahrheitsdarstellung mit poetischen Mitteln betrifft.

2.3 Der dritte und auf der Textoberfläche kürzeste Traum (Purg. XXVII, 91–108) wird gleich zu Beginn als einer gekennzeichnet, der die Zukunft vorhersagt („il sonno che sovente, / anzi che ’l fatto sia, sa le novelle“, V. 92–93); das entspricht der visio im Sinne von Macrobius. In diesem Traum erscheint Dante eine junge und schöne Frau in einer Ebene, die Blumen pflückt und dabei singend ihren Namen mitteilt. Sie heißt Lia (Lea) und ihre Schwester, auf die sie bei ihrer Selbstpräsentation sogleich komplementär verweist, ist Rachele (Rahel). Diese beiden Schwestern sind biblische Gestalten (Genesis 29 und 30); gemäß der Deutungstradition verkörpern sie allegorisch die Prinzipien der vita activa und der vita contemplativa.16 In der Traumrede erklärt Lea dementsprechend den Gegensatz zwischen sich und ihrer Schwester durch die Opposition zwischen Tätigkeit („ovrare“) und Kontemplation („vedere“, V. 108). Die prophetische Qualität dieses Traumes erweist sich darin, dass Lea die im XXVIII. Gesang auftretende Matelda antizipiert, die ebenfalls als singende und blumenpflückende „donna soletta“ (Purg. XXVIII, 40) eingeführt wird. Wie schon die beiden früheren Träume wird auch dieser wiederum durch eine komplexe, astronomisch kodierte Zeitangabe eingeleitet, durch welche wir erfahren, dass er wie die beiden anderen kurz vor Tagesanbruch einsetzt (V. 94ff.). 16 Vgl. den Kommentar von Sapegno (Alighieri 1955: 304) mit Verweis auf Gregor den Großen und Thomas von Aquin.

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Nach dem relativ knapp erzählten Traum ist dann davon die Rede, dass die Sonne aufgeht („le tenebre fuggían da tutti lati“, V. 112). Wenn man bedenkt, dass kurz vor Beginn des Traumes berichtet wurde, wie Dante sich zusammen mit seinen Begleitern Vergil und Statius in einer pastoralen Landschaft zur Ruhe legte, während die Sonne gerade unterging („del sol ch’era già basso“, V. 66), dann wird durch die Traumerzählung erneut ein Riss in der zeitlichen Ordnung der Diegese markiert. Außerdem fällt auf, dass dieser Traum, im Unterschied zu den ersten beiden, keine Erklärung mehr durch Vergil findet. Nicht nur die äußere Ausdehnung der Traumerzählung wird also im Vergleich zu den beiden früheren Träumen reduziert, sondern auch die interpretative Absicherung entfällt. Der Wegfall der Traumdeutung korrespondiert mit der nun erfolgenden Trennung von Vergil und seinem Schützling. Der Jenseitsführer erklärt Dante, dass er selbst nicht mehr weiter in das göttliche Jenseitsreich vordringen dürfe („e se’ venuto in parte / dov’io per me piú oltre non discerno“, V. 128–129). Somit markiert der dritte Traum nicht nur die Schwelle zum irdischen Paradies, sondern auch den Abschied von Vergil. In den letzten Gesängen des Purgatorio wird Dante nun also ohne Vergils Begleitung weiterwandern, er wird das irdische Paradies betreten, und dort begegnet ihm zunächst die blumenpflückende Matelda, welche ihm im Traum bereits angekündigt worden ist, und diese wiederum annonciert die eigentlich wichtige Frauenfigur, nämlich Beatrice. So wie die blumenpflückende Lea des Traumes als Verkörperung der vita activa auf ihre Schwester Rahel als vita contemplativa verweist, besteht zwischen Matelda und Beatrice ein Verweisungsverhältnis, und zwar im Sinne einer Präfiguration. Der Traum von Lea und Rahel präfiguriert die Begegnung mit Matelda, und diese wiederum präfiguriert die zweite, noch wichtigere Begegnung mit Beatrice. Der Ausfall der Traumerklärung durch Vergil lässt sich auch deuten als Zeichen für die Emanzipation des Schülers Dante von seinem Lehrer und Führer Vergil. Dante hat also mittlerweile gelernt, die Träume selbst zu verstehen und einzuordnen. Er ist nicht mehr perplex wie noch beim zweiten Traum, was sich allerdings auch dadurch erklärt, dass dieser Traum, anders als die beiden vorherigen, nicht konflikthaft, bedrohlich oder sündhaft war. Man muss außerdem feststellen, dass der dritte Traum, im Gegensatz zu den beiden ersten, sehr viel weniger Interpretationsvorgaben enthält und somit sinnoffener erscheint. Umso stärker wirkt sich das Fehlen einer durch Vergil angebotenen Interpretation aus, weil nämlich nun nicht nur Dante, sondern auch der Leser alleingelassen wird. Wenn man annimmt, dass sich Lea (vita activa) und Rahel (vita contemplativa) zueinander so verhalten wie Matelda und Beatrice, dann müsste auch Beatrice eine Figur der vita contemplativa sein. Dabei wäre indes die Frage zu stellen, ob Beatrice tatsächlich das Prinzip der vita contemplativa verkörpert. Immerhin übernimmt sie in der Commedia die Rolle der Führerin, die sie in Ablösung

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Vergils ausfüllen wird. Sie ist also durchaus durch Aktivität gekennzeichnet. Im Unterschied zu den beiden anderen Träumen fällt außerdem auf, dass dieser Traum zum überwiegenden Teil aus direkter Rede besteht. Leas Gesang umfasst neun Verse, während sich die narrative Darstellung des Traums zuvor nur auf sechs Verse erstreckte. Dies ist auf struktureller Ebene eine deutliche Abweichung von den bisherigen Traumerzählungen. Auch diesbezüglich findet somit eine Reduktion statt. Im Gegensatz zum zweiten Traum und in Wiederanknüpfung an den ersten ist hier außerdem wieder deutlich von der Scheinhaftigkeit des Traumbilds die Rede: „giovane e bella in sogno mi parea / donna vedere“ (Purg. XXVII, 97–98). Das Traumbild erscheint somit als Vision, die sich durch direkte Rede selbst beschreibt, wobei eine weitere Auffälligkeit darin besteht, dass die Hälfte der Rede von Lea sich auf ihre gar nicht im Traum selbst anwesende Schwester Rahel bezieht. Diese wird von Lea lediglich erwähnt und in einen Gegensatz zu ihr selbst gestellt. Sie ist also im Traum gewissermaßen abwesend-anwesend. Es wird deutlich, dass der dritte Traum sich in einem sehr allgemeinen Sinn durch das Prinzip der Verweisung, durch die Reflexion von Semiotizität, auszeichnet. Die beiden Frauenfiguren Lea und Rahel werden als allegorische Figuren eingeführt; sie verkörpern zwei abstrakte Prinzipien. Leas Aktivität besteht darin, sich zu schmücken, um sich, wenn sie sich im Spiegel betrachtet, schön finden zu können. Sie ist somit eine Figur der Selbstbetrachtung, die ihre vollständige allegorische Bedeutung erst im Verweis auf das komplementäre, von ihrer Schwester verkörperte Prinzip erhält. Rahel ist körperlich abwesend, sie wird mit rein sprachlichen Mitteln als jemand vergegenwärtigt, der sich ohne jede äußere Bewegung der bloßen Betrachtung hingibt („mia suora Rachel mai non si smaga / dal suo miraglio, e siede tutto giorno“, V. 104–105). Ihre Präsenz ist rein zeichenhaft, bedarf also, um als solche erscheinen zu können, der Präsenz anderer Zeichen, die auf sie verweisen. Der Text führt uns das Funktionieren solcher sprachlichen Verweisungsstrukturen anschaulich vor. Doch geht es nicht nur im abstrakten Sinn um Zeichenhaftigkeit. Baran´ski hat gezeigt, dass dieser Traum, wie auch die beiden anderen, als Transposition vorangehender Textstellen lesbar ist. „The dream recalls Forese’s descriptions of his wife and of his sister“ (Baran´ski 1989: 219–220. Zu Forese vgl. Purg. XXIII, 37–133). Darüber hinaus werden auch Elemente aus der Begegnung mit Arnaut Daniel (Purg. XXVI, 136–148) wieder aufgegriffen. Es ist kein Zufall, dass Dante durch die intratextuellen Selbstzitate sich vor allem auf Dichter bezieht: „In fact, the dream, on account of its refined insistence on ‚beautiful ladies,‘ can be taken as an ideal stilnovist vignette acted out against a lightly sketched, yet highly suggestive locus amoenus.“ (Baran´ski 1989: 221) Der Verweis auf die Tradition der volkssprachlichen Liebesdichtung, die in den vorangehenden Gesängen des Purgatorio eine wichtige Rolle spielt (Purg. XXIV, 34–63: Bonagiunta da Lucca, XXVI, 88–135: Guido

Zur metapoetischen und epistemologischen Funktion der Träume im Purgatorio

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Guinizelli, 136–148: Arnaut Daniel), macht deutlich, dass Dante hier dem Traum erneut auch eine metaliterarische Funktion zuschreibt. Es geht um den Dialog zwischen verschiedenen Dichtungskonzeptionen, welcher in dem Traum zu einem Bild äußerster Verknappung kondensiert wird. Auch dies ist ein zentraler Aspekt der metapoetischen Dimension des Traumes im Purgatorio.

3. Die drei Träume in Dantes Purgatorio lassen sich, wie gezeigt wurde, auf verschiedenen Ebenen interpretieren. Zum einen markieren sie auf diegetischer Ebene drei wichtige Schwellen bzw. Übergänge, durch die der Weg des Jenseitswanderers gekennzeichnet ist. Vor dem jeweils nächsten, körperlich und mental anstrengenden Schritt muss der erschöpfte Wanderer im Schlaf seine Kräfte sammeln. Auf einer zweiten, metanarrativen Ebene haben die manifesten Trauminhalte intratextuelle Verweisungsfunktionen; sie sind analeptisch und/ oder proleptisch auf die erzählte Handlung bezogen und verdichten diese zu allegorisch lesbaren metapoetischen Bildern, in denen der Text sich selbst spiegelt. Sodann haben die Träume auch eine epistemologische Funktion, denn sie werden vom Text selbst als wahrheitshaltig bezeichnet, besonders deutlich der erste und der dritte. Zugleich wird auch die Frage gestellt, ob und inwiefern die Träume wahrheitshaltig sein können. Dabei werden unterschiedliche Referenzmodi durchgespielt, nämlich der Verweis auf eine simultan erfolgende reale Handlung (Lucia) und der Verweis auf eine vergangene oder künftig eintretende Handlung. Insgesamt betrachtet kann man sagen, dass die Träume eine komplexe metapoetische Funktion haben, was vor allem durch die wiederholt aufgerufene Opposition zwischen Schein und Sein und die damit implizierte Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis und des Sagens markiert wird.

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Thomas Klinkert

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Christiane Conrad von Heydendorff (Mainz)

Zur Relation von Ohnmacht, Schlaf, Traum und Vision in Dantes Commedia Für Uta Störmer-Caysa

1.

Hinführung „[T]ant’ era pien di sonno a quel punto / che la verace via abbandonai“ (DC/Inf. I, 11f.).1

Schlaf und das damit verbundene Abkommen vom ‚rechten Wege‘ sind der Ausgangspunkt der Dant’schen Reise durch Hölle, Fegefeuer und Himmel, die in der Gottesschau endet. Dantes Commedia – so Dinzelbacher – „hält sich im Litteralsinn ganz an den Aufbau klassisch ekstatischer Jenseitsreisen in dieser Tradition, nimmt aber als opus polisemos mehrere Bedeutungsgeschichten auf […]“ (ders. 1989: 16f. mit Verweis auf Can Grande della Scala). Mirko Tavoni (2015: 71) postuliert, dass „the entire otherworld journey is contained within a vision in a dream“. Auch Jean-Pierre Baricelli (1972: 132) formuliert mit großer Sicherheit: „We know that the author’s journey in the Commedia is a vision“. Michele Barbi (1964: 294) widerspricht der Einordnung der Commedia in die Visionsliteratur dezidiert und formuliert: „in tutta la Commedia [Dante] dà a credere d’aver fatto un viaggio reale pei regni ultraterreni, non d’aver avuto una visione nel sonno“. Thomas Klinkert äußert sich im vorliegenden Band (48) vorsichtig, wenn er feststellt, dass es aufgrund der von einigen mittelalterlichen Autoren dem Traum zugeschriebenen Affinität zur Wahrheit nicht Wunder nehme, „dass man auch Dantes Commedia, die ja gemäß der ihr eingeschriebenen Poetik auf die Enthüllung von Wahrheiten und gültigen Wissensbeständen zielt, mit der Semantik der Vision in Verbindung gebracht“ habe. Die Frage, ob Dantes Commedia zur Gänze als Vision oder doch als ein dem Körperlichen verhafteter Reisebericht mit abschließend immanenter Visio Dei zu verstehen ist, treibt die Forschung seit jeher um, soll aber an dieser Stelle nicht neu aufgegriffen

1 Dantes Commedia wird im Folgenden zitiert nach der Ausgabe von Chiavacci Leonardi (2008) und jeweils unter der Sigle DC/Inf., DC/Purg. Bzw. PC/Par. angegeben.

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Christiane Conrad von Heydendorff

werden. Sicher jedoch ist, dass die Beschreibung der Jenseitsreise mit einer symbolischen ‚Nahtoderfahrung‘ und einer Schlaf-Metapher beginnt,2 und über verschiedene Ohnmachts-, Traum- und Visionsszenen mit der zentralen und durchaus ausgestalteten Gottesschau endet, weshalb die verschiedenen Bewusstseinszustände von Ohnmacht, Schlaf, Traum und Vision in der Commedia in ihrem Vorkommen, ihrem Zusammenspiel und ihrer Funktion nähere Betrachtung erfahren sollen. Es kommt dabei ganz explizit weniger auf die einzelnen Aspekte des Inhalts innerhalb der jeweiligen Szene an, sondern auf das Zustandekommen, die Manifestation und Bedeutung im Gesamtkontext der untersuchten Passage. Bereits in der griechischen Mythologie zählt man unter die Kinder der Nyx (Nacht) unter anderen Hypnos, den Schlaf, Thanatos, den Tod – diese beiden sind sogar Zwillinge – und Oneirois, den Traum (vgl. Tuin / Krill 2018: 316). Seit jeher sind diese also in enger Verwandtschaft zu sehen. Auch in Dantes Commedia bilden sie ein Paradigma mit verschiedener Verteilung über den Text, anhand derer man die Entwicklung der Figur Dante vom ‚Sünder‘ zum ‚Seher‘, d. h. zum geläuterten und ‚erleuchteten‘ Subjekt, nachvollziehen kann. Sie illustrieren das Spannungsfeld zwischen ‚Blindheit‘ und ‚Unwissenheit‘ sowie ‚Sehen‘ und ‚Wissen‘. Man kann – so soll angenommen werden – die drei Jenseitsbereiche, die der Ich-Erzähler Dante durchläuft, im Großen und Ganzen drei Bewusstseinszuständen zuordnen: Die Hölle symbolisiert die ‚Bewusstlosigkeit‘, die ‚Unwissenheit‘ und ist damit der Ohnmacht zuzurechnen; das Fegefeuer entspricht einer Art Halbbewusstsein, das dem ‚Mensch-Sein‘ am nächsten kommt und sich vor allem im Traum manifestiert; das Paradies führt zu ‚Bewusstsein‘ und ‚Wissen‘, das mit der Visio Dei vollendet und abgeschlossen wird.3 Es dominieren Isotopien um das Themenfeld des Sehens in Opposition zur Blindheit. Der Schlaf kommt in zweifacher Art vor, einmal metaphorisch als der Sünde zugeordnet – dieser Gedanke rahmt sozusagen die Commedia – und einmal als physischer Schlaf, das allerdings nur im Purgatorium. Es ist daher anzunehmen, dass die Entwicklung des Protagonisten Dante vom ‚Sünder‘ zum ‚Seher‘ mit der Verteilung der einzelnen Elemente des Paradigmas von Schlaf, Ohnmacht, Traum und Vision in der Commedia korreliert. Dies bedeutet zugleich, dass Schlaf, Traum und Ohnmacht strukturell nicht wegzudenken sind 2 „Tant’ è amara che poco è più morte; / ma per trattar del ben ch’i’ vi trovai, / dirò de l’altre cose ch’i’ v’ho scorte. / Io non so ben ridir com’i’ v’intrai, / tant’ era pien di sonno a quel punto / che la verace via abbandonai“ (DC/Inf. I: 7–12). 3 Diese Annahme formuliert bereits Baricelli (1972: 132): „For us, the three parts of Dante’s vision correspond to the three states of awareness: The Inferno to unconsciousness, the Purgatorio to semi-concsiousness, and the Paradiso to consciousness“. In der Analyse reißt er diesen Gedanken jedoch nur an, konjugiert ihn nicht systematisch durch, sondern konzentriert sich auf den Vergleich mit Calderón.

Zur Relation von Ohnmacht, Schlaf, Traum und Vision in Dantes Commedia

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und bis auf die Ebene der Lexik den Leser zu führen vermögen. Die letzte explizite Anspielung auf den ‚Schlaf‘ findet man im Canto XXXII des Paradiso,4 in einem Vers („perché il tempo fugge che t’assonna“, Vers 139), der in der Dante-Kritik zu einiger Verwirrung geführt hat. Giovanni Cerri (2011: 161) bezeichnet ihn als einen der „più disperanti“ des gesamten Werks und auch Tony Cuzzilla (2003: o.P.) bemerkt: „there is still no critical consensus on the meaning oft hat verse“. Dieser Vers soll abschließend besonders im Fokus stehen. Mit Blick auf den Umfang der Commedia mag klar sein, dass dieser Rundgang durch das SchlafTraum-Visions-Paradigma im Gesamten im Rahmen eines Artikels kursorisch bleiben muss.

2.

Zu den Begriffen Ohnmacht, Schlaf, Traum und Vision

Schon bei Aristoteles waren die beiden Bewusstseinszustände Wachen und Schlafen daran gekoppelt, dass ein „Lebewesen […] durch den Besitz der Wahrnehmung bestimmt“ ist. Schlaf ist – so der griechische Philosoph – „die Lähmung und Fesselung, das Wachen die freie Betätigung desselben“ (ders. 1997: 104). Trotz der auf den ersten Blick negativen Konnotation des Schlafes erläutert Aristoteles im Folgenden: „Es ist aus vielen Gründen deutlich, daß der Schlaf nicht darin besteht, daß die Sinne aussetzen oder daß man sie nicht gebraucht oder nicht fähig ist, wahrzunehmen (so etwas tritt ja auch bei Ohnmachtsanfällen ein; dabei handelt es sich um eine Unfähigkeit wahrzunehmen […]) […].“ (ebd.: 106). Schlaf bedeutet also zwar Lähmung, nicht aber umfassendes Aussetzen der Sinne; Letzteres findet im Zustand der Ohnmacht statt. Die Ohnmacht, oder animi deliquium, hat eine ausgewiesene Nähe zum Tod, da in diesem Fall die vegetativen und perzeptiven Fähigkeiten der Seele, der geistigen Kräfte und der Ratio (das, was bei Galen princeps und bei Albertus Magnus superius ist und was Dante im Convivio als mente bezeichnet wird) gemeinsam mit dem Körper erlöschen (vgl. Bartoli / Ureni 2004: 216). Es kommt mithin zu einem todesähnlichen Zustand. Leichtere Formen sind Verwirrungszustände oder Ekstase (vgl. ebd.). Über den Traum vermerkt Aristoteles, dass er ein „Vorstellungsbild“ sei, „das von der Bewegung veranlaßt wird, die von den Erzeugnissen der Wahrnehmung herrührt, sofern dasselbe während des Schlafes und in ursächlicher Zusammenhang mit dem Schlaf auftritt“ (ders. 1997: 129). Im Mittelalter nahm man im Kontext der Humoralpathologie an, Schlaf werde „durch Dämpfe ausgelöst, welche aus dem Körper ins Gehirn aufsteigen und sich hier als Feuchtigkeit niederschlagen“ (Wittmer-Butsch 1990: 56). Bewegungsapparat und Sinne seien während des Schlafes ruhiggestellt, nur eine Art 4 Im Canto XXXIII taucht nur noch einmal als Gerundium das Träumen auf „sognando“ (V. 58).

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„Grundsinn“ zeige Aktivität (vgl. ebd.). Interessant ist an dieser Stelle der Hinweis, dass in diesem Zustand die Seele Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges betrachte, woraus Träume entstünden (Wittmer-Butsch mit Wilhelm von St. Thierry: 1990: 56f.). Selbige sind als eine Art Wahrnehmungsprozess zu verstehen, da „in einem nicht allzu tiefen Schlafe […] dieser Allgemeinsinn immerhin zu einem schwachen Urteil befähigt“ sei. Bei diesem Zustand handle es sich um einen Versuch, wieder „Tagesaktivität“ zu erlangen, weshalb dem Menschen eine gewisse Erkenntnis möglich ist, die „in Form von Traumbildern erlebt werde“ (ebd. 62). Der Traum war im Mittelalter zunächst negativ konnotiert und wurde erst mit der Zeit „mittels intellektueller Kontrolle und Umdeutung entschärft und schließlich im Sinne des Christentums refunktionalisiert“ (Scholler 2017: 228). Dinzelbacher (2017: 102) verweist auf die besondere Eigentümlichkeit des mittelalterlichen Wortgebrauchs, in dem etwa „visio“ und „somnium“ von der Mehrzahl der Autoren eng zusammengezogen würden und auch in der Funktion, in biblischer Tradition, kaum zu unterscheiden seien. Auch Maria Adelaide Basile (2006: 41) bemerkt, dass man anhand der Analysen der Schriften der Patristiker und Gnostiker nachvollziehen könne, dass weder die Bibel noch die antike christliche Tradition Traum und Vision unterschieden haben. Zu dieser Entwicklung kam es im Verlaufe der mittelalterlichen Theoriebildung und erst mit Thomas von Aquin kristallisierte sich klar die schon bestehende Tendenz heraus, Träume als den Visionen untergeordnet zu begreifen (vgl. ebd.). Augustinus (1965: 750, Ennaration in psalmum LXII/4) teilt den Schlaf in eine körperliche (somnus corporis) und eine mentale Komponente ein (somnus animae). Während Erstere nötig und heilsam sei, muss Letztere als Gottvergessenheit und damit als sündhaft betrachtet werden. Er schreibt: Quid est vigilare? Utique non dormire. Quid est dormire? Est somnus animae, est somnus corporis. Somnum corporis omnes debemus habere; […]; malus enim est somnus animae. Bonus somnus corporis, quo reparatur valetudo corporis. Somnus autem animae est oblivisci Deum suum. Quaecumque anima oblita fuerit Deum suum, dormit.5

Von Vision – so Dinzelbacher (1989: 19) sei dann zu sprechen, wenn ein Mensch im Zustand der Ekstase oder des Schlafs den Eindruck empfange, seine Seele werde durch das Walten überirdischer Mächte in einen anderen Raum versetzt, der bildhaft beschreibbar sei und wo ihm eine Offenbarung zuteilwerde. Ety5 Was bedeutet es, wach zu sein? Es bedeutet, nicht zu schlafen. Es gibt den Schlaf der Seele und es gibt den Schlaf des Körpers. Den Schlaf des Körpers benötigen wir alle; […] schlecht ist nämlich der Schlaf der Seele. Gut ist der Schlaf des Körpers, durch den die körperliche Gesundheit wiederhergestellt wird. Der Schlaf der Seele hingegen bedeutet, ihren Gott zu vergessen. Jede Seele, die ihren Gott vergessen hat, schläft (eigene Übersetzung).

Zur Relation von Ohnmacht, Schlaf, Traum und Vision in Dantes Commedia

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mologisch ist die ‚Vision‘, mittelhochdeutsch vision, visiun, das Traumgesicht, eine Erscheinung von lateinisch visio (Genitiv: visionis), was als das Sehen, der Anblick oder die Erscheinung, zu visum (‚Bild, Erscheinung, Traumbild, Phantasie‘) zu verstehen ist. Im Mittelalter wurde also die Unterscheidung zwischen Traum und Vision insofern wichtig, als „Vision zu verstehen ist als ein Traum mit besonderem Wahrheitsgehalt“ (vgl. Klinkert 2020: 47). In der Commedia wird die Visio Dei die höchste Form des Sehens sein (Köhler DC/III 2012: 326)6. Köhler weist ferner darauf hin, dass occhio „mit 263 Stellen das am häufigsten verwendete Substantiv in der Commedia“ ist und dem ‚Sehen‘ somit eine besondere Rolle zukommt (vgl. ebd.). Schlaf (sonno) und Ohnmacht (deliquium animi) verzögern Dantes Jenseitsreise – so formulieren Bartoli / Ureni (2004: 211). Doch tun sie das tatsächlich? Bei genauerem Hinsehen ist dies zu verneinen. Vielmehr tauchen Schlaf und Ohnmacht in Übergangssituationen auf und halten den Wanderer Dante nicht etwa auf, sondern befördern ihn weiter auf seinem Weg. Traum und Vision unterstehen zudem einer besonderen Affinität zu Wahrheit und Wissen. Klinkert (2020: 49) spricht davon, dass die Träume auf Ebene der Narration als Markierung bestimmter Schwellen fungieren.7 Dies lässt sich auf die Phänomene von Schlaf, Ohnmacht und Vision übertragen. Außerdem habe der Traum, so Klinkert, strukturelle Bedeutung, insofern er sowohl analeptisch als auch proleptisch fungiert (vgl. ebd.). Das Sehen bzw. die Vision sind das Endziel in der Entwicklung des Protagonisten; Ohnmacht, Schlaf und Traum zu überwindende Stadien auf dem Weg dorthin. Über die Commedia verteilt finden wir folgende Bewusstseinszustände: den sonno deliquio oder morboso, also die Ohnmacht (Inf. III/IV und V); einen allegorisch zu lesenden Schlaf, der für Sünde und Entfernung von Gott steht (Inf. I, Purg. XVIII sowie in Anklängen Par. IV, XXXII, XXXIII); den natürlichphysiologischen Schlaf, der an onirische Visionen, an Traumbilder geknüpft ist (Purg. IX, XVIII, XIX, XXVII); ‚Visionen‘ und das gezielte (An)Sehen) als ‚Schwellenmarker‘ einschließlich abschließender Visio Dei (Purg. XV, Par. I, II, XIV, XXXIII).

6 Die Kommentare der Herausgeber der Commedia-Ausgaben werden unter Angabe der Hgs. plus der Sigle DC und evtl. der Bandnummer mit Jahr und Seite angegeben. 7 Die Schwelle wird von Klinkert (2020: 49) verstanden als Markierung eines Übergangs, der nicht ohne Mühe vonstattengeht.

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3.

Christiane Conrad von Heydendorff

Der ‚Sündenfall‘: Schlaf und Ohnmacht im Inferno

Der erste Reiseabschnitt, das Inferno, verläuft für seinen Protagonisten traumlos: „Dante does not dream“, stellt Tavoni (2015: 76) fest, er könne es allein aufgrund der narrativen Struktur nicht, denn in der Zeit von Karfreitag bis zum Abend des Karsamstags halte der Pilgerer nicht an, um sich zur Ruhe zu legen, wie er es später im Purgatorium tue (vgl. ebd.). Der Jenseitsbereich der Hölle zeichnet sich hingegen durch seine Verquickung der Bewusstseinszustände von Schlaf und Ohnmacht aus. Sicher indiskutabel ist der eingangs bereits zitierte Einstieg in die Jenseitsreise über die Allegorie des Schlafs als Sünde, den schon Boccaccio (1918: 165) ausführlich und mit Ausblick auf die Bibel kommentiert hat: Il sonno mentale, allegoricamente parlando, è quello quando l’anima, sottoposta la ragione a’ carnali appetiti, vinta dalle concupiscenze temporali, s’addormenta in esse, e oziosa e negligente diventa, e del tutto dalle nostre colpe legata diviene, quanto è in potere alcuna cosa a nostra salute operare. E questo è quel sonno, dal quale ne richiama san Paolo, dicendo; „Hora est iam nos de somno surgere“. E questo sonno può essere temporale e può essere perpetuo. Temporale è quando ne’ peccati e nelle colpe nostre inviluppati dormiamo.

Die Kritik zeigt sich hier in großer Einigkeit. Siro A. Chimenz (DC 1963: 4) versteht den sonno an dieser Stelle als allegorische Umnachtung des Verstandes und als Sünde. Maria Chiavacci Leonardi (DC I 2008: 12) bemerkt, dass sich so das anfängliche Bild des im Wald verirrten Menschen komplettiere und den Metaphernkreis schließe: „Alla selva oscura corrisponde il sonno che ottenebra la mente“. Dies ist der Ausgangspunkt des in Sünde befangenen Protagonisten Dante, sozusagen der Prolog oder öffnende Rahmen. Das nächste Mal, dass dem Leser der Schlaf oder ein schlafähnlicher Zustand beim Protagonisten begegnet, ist zu Ende des dritten Canto, als Dante mit seinem Führer Vergil mithilfe des Fährmanns Charon den Acheron überqueren möchte. Es ist dies ganz eindeutig eine Grenze oder – um mit Klinkert zu sprechen – Schwelle, die vom Protagonisten überschritten werden muss. Im Text wird das folgendermaßen ausgestaltet: Finito questo, la buia campagna tremò sí forte, che dello spavento la mente di sudore ancor mi bagna. La terra lagrimosa diede vento, che balenò una luce vermiglia la qual mi vinse ciascun sentimento; e caddi come l’uom che ‘l sonno piglia. (DC/Inf. III, 130ff.)

Es ist offensichtlich, dass es sich an dieser Stelle weder um physiologischen noch um allegorischen Schlaf handelt. Ganz im aristotelischen Sinne der Ohnmacht

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wird hier das Aussetzen aller Sinne beschrieben („mi vinse ciascun sentimento“). Zudem wird der Zustand nur mit dem eines schlafenden Menschen verglichen und nicht gleichgesetzt („come l’uom che’l sonno piglia“). Bartoli / Ureni (2004: 220) verweisen in diesem Kontext auf die Plötzlichkeit des Auftretens, die Tiefe des ‚Schlafes‘, das Fehlen des Traums und die Art und Weise des ‚Erwachens‘ im folgenden Canto. Köhler (I 2012: 54f.) kommentiert schlicht, dass der ohnmächtig gewordene Wanderer seine Überfahrt nicht miterlebe und konstatiert dies als für Jenseitsreisen verallgemeinerbares Phänomen. Chiavacci Leonardi (DC I 2008: 98) erkennt diesen eindeutig nicht natürlichen Schlaf als enthüllendes Element der Passage für den Leser, das bereits ähnlich in der Antike vorgekommen sei.8 Sie vermutet eine mögliche Nähe zum XXXII Gesang des Paradieses, Vers 139: „Ma perché il tempo fugge che t’assona“: È pensabile se non necessario – che a questo stato egli voglia alludere, come farà appunto alla fine, nel luogo citato del paradiso, anche in questo ingresso nel mondo dell’aldilà. In ogni caso è certo che questo sonno copre l’evento soprannaturale dell’entrata di un vivo nel regno dei morti (vgl. ebd.).

Dem letzten Gedanken, der Illustration des Eintritts eines Lebenden in das Reich der Toten, mag man zustimmen; die hier angedeutete Verbindung zum Vers des Paradieses hat jedoch keinen Bestand, worauf im Verlaufe der Analyse noch eingegangen wird. Chimenz (DC 1963: 33) verweist zusätzlich auf die Analogie zum Erdbeben im Fegefeuer, das den Aufstieg einer geläuterten Seele kennzeichnet, also auch eine Illustration des Übergangs ist. Boccaccio (1918: 265) unterstreicht die allegorische Komponente dieses Übergangs bei bzw. durch Ausschaltung der Sinne. Es sei Torheit zu glauben, es handle sich dabei um einen körperlichen Übergang, es sei im Gegenteil ein geistiger, in Sünde verhafteter, der keinen ‚Rückweg‘ erlaube, sondern nur den Ausgang durch Läuterung („per la via opposita al peccato, la quale nulla altra cosa è che la penitenza“). Der Ohnmachtsanfall Dantes, durch den Schlaf zum Ausdruck gebracht, verbindet den letzten Vers des dritten mit dem ersten Vers des vierten Canto. Siliva de Santis (2011: 622) stellt fest: „L’unico legame tra la fine del terzo canto e l’inizio del quarto sta proprio nella parola sonno che compare nell’ultimo verso del terzo canto e nel primo del quarto, […]. È questo il modo in cui Dante viene traghettato all’altra sponda dell’Acheronte“. Rein lexikalisch weist die Stelle durch das „caddi“ bereits auf einen der bekanntesten Verse der Commedia vorweg („e caddi come corpo morto cadde“, DC/Inf. V: 142). 8 „questo svenimento simile al sonno (sonno non naturale) che cela a Dante – e a noi – il segreto del passaggio, fu già inteso allegoricamente da alcuni tra gli antichi (Benvenuto: clausit mihi oculos corporales et aperuit mentales), ed altri ha ricordato che il sonno spesso indica nel linguaggio scritturale e mistico lo stato proprio di chi ha una visione (Gen 28, 12)“ (dies.: DC I 2008: 89).

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Der vierte Canto öffnet mit einer Vergil-Anleihe,9 bevor er das in der Ohnmacht der Figur vorgenommene Ausschalten der Sinne auch in der infernalischen Landschaft illustriert: Ruppemi l’alto sonno ne la testa un greve truono, sì ch’io mi riscossi come persona ch’è per forza desta; e l’occhio riposato intorno mossi, dritto levato, e fiso riguardai per conoscer lo loco dov’io fossi. Vero è che ‘n su la proda mi trovai de la valle d’abisso dolorosa che ‘ntrono accoglie d’infiniti guai. Oscura e profonda era e nebulosa tanto che, per ficcar lo viso a fondo, io non vi discerna alcuna cosa. „Or discendiamo qua giù nel cieco mondo“ (DC/Inf. IV: 1–13)

Gezeichnet wird hier eine Isotopie um die Begriffe ‚Auge‘ und ‚Sehen‘ herum (occhio, riguardare, ficcare lo viso), die eigentlich zu ‚Erkenntnis‘ führen soll („per conoscer“); doch ist die den Protagonisten umgebende Landschaft dunkel, tief und neblig (oscura, profonda, nebulosa), sodass es nichts zu erkennen gibt („io non vi discerna alcuna cosa“).10 Und nicht nur die Sicht ist ausgeschaltet, auch der Gehörsinn ist nicht funktional, aufgrund des betäubenden Widerhalls im Abgrund („che ‘ntruono accoglie“). Auf den Punkt gebracht wird die Situation von Vergil, der von der blinden Welt („cieco mondo“) spricht. Zu einer ‚Steigerung‘ der Ohnmacht kommt es am Ende des fünften Canto, nach der Wiedergabe der Geschichte von Paolo und Francesca, denn: Hier wird das Schwinden der Sinne nicht nur mit dem Schlaf, sondern gar mit dem Tod in Verbindung gebracht und zwar gleich doppelt, auf Ebene der Verben (morisse) wie der Adjektive (morto): Mentre che l’uno spirto questo disse, l’altro piangea, sí che di pietade io venni men cosí com’io morisse; e caddi come corpo morto cade. (DC/Inf. V: 139ff.). 9 Aen. VII: 458. Ausführungen dazu bei Leonardi Chiavacci (DC I 2008: 105). Im Übrigen ist das ein weiteres verbindendes Glied, denn bereits die „terra lagrimosa“ lässt sich an Vergils Klagefeld („lugentes campi“ Aen. VI: 441) anschließen. 10 Klinkert (2018: 305) führt zu Licht und Dunkelheit in der Commedia an: „Wie wir schon anhand der ersten beiden Canti des Inferno sehen konnten, sind Licht und Dunkelheit als modellbildendes Gegensatzpaar konzipiert. Allerdings, so muss man hinzufügen, ist Dunkelheit nicht einfach ein auf der gleichen ontologischen Ebene wie Licht zu situierendes Prinzip. Dunkelheit ist an Gefährdung und damit an das Böse, die Sünde geknüpft. Licht steht hingegen für das Gute, das Heil, die Rettung“.

Zur Relation von Ohnmacht, Schlaf, Traum und Vision in Dantes Commedia

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Chimenz (DC 1963: 54) annotiert nur knapp die Parallele zu Canto III und sieht keinen allegorischen Befund an dieser Stelle. Etwas aufmerksamer beobachtet Chiavacci Leonardi (DC I 2008: 166) die Langsamkeit des Rhythmus, der durch die Assonanz verstärkt und hervorgehoben wird und das moralische Gewicht wie die Fatalität des Sturzes zu untermalen scheint. Diesem „corpo morto“ spricht sie eine kathartische Funktion zu (vgl. ebd.). Der Illustration des Aussetzens der physischen Kräfte folgt zu Beginn der Verweis auf den Ausfall der geistigen Wahrnehmung („Al tornar de la mente, che si chiuse / dinanzi a la pietà d’i due cognati, / che di trestizia tutto mi confusi, […]“, DC/Inf. VI: 1–3), der die aristotelischen Signale der anima deliquium komplettiert. Hinzu kommt die im Kontext des Christentums als Sünde zu betrachtende „trestizia“, die der Akedia zuzuordnen ist, die im Sündenkatalog der Commedia ohnehin einen besonderen Rang einnimmt.11

4.

Zwischen den Reichen der Zeitlosigkeit: Schlaf und Traum im Purgatorio

Das Purgatorium ist eine Art Zwischenreich, das am meisten ‚Spielraum‘ bietet und die einzelnen Bestandteile des Paradigmas Schlaf, Traum und Vision sozusagen durchkonjugiert. So werden etwa schon Visionen illustriert, die jedoch noch nicht auf direktem Weg ‚nach oben‘ führen, wie es im Paradies der Fall sein wird. Zentral in ihrer Stellung, Funktion und Ausgestaltung sind im Purgatorium hingegen die Träume. Diese sind vielbesprochen und ihr Passagen-Status jeweils vom Vor-Purgatorium zum eigentlichen Purgatorium, von den ersten vier cornici zu den letzten drei und schließlich als Eintritt in das Irdische Paradies, anerkannt (vgl. z. B. Barucci 2013: 77 u. Klinkert 2020: 49). Die Schlaf- und Traumepisoden finden statt im IX. Gesang, zu Ende des XVIII. und entsprechend im Übergang zum XIX. Gesang sowie im XXVII. Gesang, wodurch allein die Rekurrenz der Zahl 9 ihnen einen Sonderstatus gibt (vgl. De Bonfils Templer 1982: 41 u. Barucci 2013: 78). Die drei Träume des Fegefeuers werde alle eingeleitet durch Schlaf oder schlafähnliche Zustände. Sie finden alle zur Morgenstunde statt, was ihnen po-

11 Pamela Williams (2007: 19f.) bemerkt ganz richtig: „Acedia is the central sin in Dante’s ordering if the Christian scheme in the Purgatorio and its treatment appears in the middle canti of the whole poem – its position is an indication of its centrality in relation to the concept of love and sin discussed on the terrace where it is purged. […] It is the falling short of a good that demands to be desired and that measures the desire it demands“. Interessante Beobachtungen zur Acedia im Inferno finden sich bei Klostermann (1964). Übergreifend behandelt das Thema die etwas rezentere Monographie von Rushworth (2016).

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tentiell den Charakter von Wahrträumen zugesteht.12 Alle drei Träume illustrieren die innere oder äußere Bewegung und Entwicklung des Protagonisten Dante. Trotzdem gibt es qualitative Unterschiede zwischen ihnen. So zeichnen sich die erste und dritte Traumsequenz in ihrer jeweiligen Einleitung durch einen tendenziell physiologischen Schlaf, während die zweite mit – zumindest anteilig – allegorisch konnotierten Schlaf ihren Anfang nimmt, was den darauffolgenden Traum unter andere Vorzeichen setzt. Der physiologische, ‚natürliche‘ Schlaf ist allein im Purgatorium möglich, da es nur hier eine ‚natürliche‘ Zeitsukzession gibt, während die anderen Jenseitsbereiche der Zeit enthoben sind. Leonardi Chiavacci (DC II 2008: XXIV) führt dazu aus: Il Purgatorio è immerso nel tempo; esso è l’unico dei tre regni dove il tempo scorre e che un giorno – l’ultimo giorno avrà fine; a differenza di Inferno e Paradiso, che sono in una dimensione metatemporale. Qui per ognuno si contano gli anni per la prossima liberazione da quelle pene che sono comunque a termine […] Qui splende lo stesso sole che illumina la terra abitata, e le notti succedono ai giorni, in un’alternanza di albe e tramonti, di luci mattinali, meridiani e vespertine che sono le stesse luci, con la stesa dolcezza e incanto […]. Siamo nel tempo e nello spazio storico dell’uomo, ma toccato dalla grazia divina, che dà alla vita, nella sofferenza quotidiana, dolcezza e speranza.

Der erste Traum verbindet bereits in seiner Einleitung Menschlichkeit, Sündenfall und Abstieg mit Aufstieg und Göttlichkeit: e la notte de’ passi con che sale fatti avea due nel loco ov’eravamo, e ‘l terzo già chinava in giuso l’ale; quand’io, che meco avea di quel d’Adamo, vinto dal sonno, in su l’erba inchinai là ‘ve già tutti e cinque sedavamo. Nell’ora che comincia i tristi lai la rondinella presso alla mattina, forse a memoria de’ suo’ primi guai, e che la mente nostra, peregrina piú dalla carne e men da’ pensier presa, alle sue visïon quasi è divina, in sogno mi parea veder sospesa

12 Mehltretter (2007: 50) bemerkt dazu: „Dass freilich die imaginative Durcharbeitung des Erlebten und, wie wir sehen werden, Gelernten, in den drei Träumen dominant dem Modus der Offenbarung unterliegt, das ergibt sich sowohl aus dem besonderen Ort, an dem sich der Pilger Dante befindet – einem von Gott zum Zwecke der Reinigung erschaffenen Berg – als auch aus der besonderen Tages- bzw. Nachtzeit des Träumens. Dieses findet nämlich im Morgengrauen statt, in jener Stunde, in der, wie es anlässlich des ersten Traumes heißt, die mens dem Fleisch besonders enthoben ist […]“. Basile (2006) widmet den Wahrträumen des Purgatoriums einen ganzen Artikel.

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un’aguglia13 nel ciel con penne d’oro, con l’ali aperte ed a calare intesa. ed esser mi parea là dove fuoro abbandonati i suoi da Ganimede, quando fu ratto al sommo consistoro […] Poi mi parea che, poi rotata un poco, terribil come folgor discendesse, e me rapisse suso infino al foco. (DC/Purg. IX: 7ff.).

Der Verweis auf den menschlichen Körper („Adamo“) unterstreicht zugleich die Zeitlichkeit des Reiches, die den physiologischen Schlaf zulässt. Interessant ist jedoch, dass es kein ‚friedliches‘, gewolltes Einschlafen ist, das der Protagonist erlebt, sondern er wird vom Schlaf ‚besiegt‘ oder ‚bezwungen‘ („vinto dal sonno“); zwar haben wir es damit an dieser Stelle nicht mehr mit einer tatsächlichen Ohnmacht zu tun, aber immer noch mit einer metaphorischen. Auffällig ist außerdem, dass die gesamte Illustration der Szene mit einer wechselnden Bewegung in der Vertikalen versehen ist. Zunächst ist es die Nacht, die ‚ansteigt‘ („sale“), um sich kurz darauf zu ‚neigen‘ oder ‚(herabzu)senken‘ („chinava“)¸ quasi in einer ‚parallelen‘ Bewegung sinkt die Figur Dante ins Gras, um zu Beginn des Traums die ausgebreiteten Flügel des Adlers erscheinen zu sehen, der im Sinkflug ist („calare“) und dann sogar herabstürzt („folgor discendesse“), bevor er Dante mit sich in die Höhe reißt („me rapisse suso“). Wie die Bewegung wird auch der Flug des Adlers durch die in der Vergil-Anleihe geflügelte Nacht bereits angespielt. Ein ‚äußeres‘, physisch fassbares Ereignis geht dem Traum voraus. Die Morgenstunde wird in der Philomela-Anspielung („tristi lai della rondinella“) expliziert, ebenso wie unterstrichen wird, dass der Traum Potential für göttliche Auslegung besitzt, in der Zeit, in der der Geist weniger abschweift und weiter vom ‚Körper‘ (in der Metonymie „carne“ expliziert) entfernt ist. Trotz dieser recht eindeutigen Ausgangslage bedarf es der Erläuterungen und Traumauslegungen Vergils (vgl. DC/Purg. IX: 46ff.); Dante selbst, der so abrupt erwacht, wie er eingeschlafen ist, ist noch nicht zu selbständiger Erkenntnis fähig, was sich in seinem Status quo nach dem Traum widerspiegelt: 13 In der Bibel Symbol für Gottes Fürsorge, der die Seinen „auf Adlerflügeln“ trägt (Ex 19, 4). Der Adler ist auch Sinnbild für die Erneuerung der jugendlichen Kraft durch Gott (Ps 103,5; Jes 40,31); denn nach antiker Vorstellung fliegt der altgewordene Adler in die Sonne, verbrennt dort seine Gefieder, taucht dann dreimal in eine Quelle und wird wieder jung (im Physiologus ähnlich dem Phönix); er soll auch die Tüchtigkeit seiner Jungen durch einen Flug in die Sonne testen; er kann Menschen und Tiere in den Himmel tragen; Symbol für die Taufe, für Christus (Auferstehung und Himmelfahrt), für die geistige Kraft der Hl. Schrift (Adlerkult); Attribut des Evangelisten Johannes; Im Psalm 103‚ 5 heißt es: „Lobe den Herrn, der deine Seele fröhlich macht und du wieder jung wirst, wie ein Adler.“ Bei Jesaias 40, 31: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler.“

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che mi scoss’io, sì come da la faccia mi fuggì ‘l sonno, e diventa’ ismorto, come fa l’uom che, spaventato, agghiaccia. (DC/Purg. IX: 40ff.)

Der Schlaf ‚entflieht‘, es handelt sich wiederum um kein sanftes Erwachen, Dante schüttelt sich („mi scoss’io“), um seine Sinne wiederzuerlangen. Er wird totenblass („ismorto“) und zudem im Vergleich zum erschrockenen, zu Eis erstarrten Menschen; beides bindet ihn in seinem Zustand noch an die Ohnmachtsanfälle des Inferno, – man erinnere sich beim Bild des Eises an den tiefsten Höllenkreis und den Kokytos – noch immer befindet er sich in körperlicher wie geistiger ‚Unbeweglichkeit‘, durfte jedoch im Traumgesicht bereits einen Hauch Gottesnähe spüren, in der Vokabel „visïon“ kündigt sich das ‚Sehen‘ zumindest an. Der zweite Traum im Purgatorium widersetzt sich eindeutigen Interpretationen. In jedem Fall ist hier der Modus des Einschlafens ein der ersten Szene entgegengesetzter. Kam dort der Schlaf plötzlich und wie auf einen Schlag, so entwickelt er sich im Canto XVIII ab etwa dem Vers 82 mit Unterbrechungen bis zum Ende des Gesangs aus phantasierenden und grüblerischen Gedanken heraus: per ch’io, che la ragione aperta e piana sovra le mie quistioni avea ricolta, stava com’om che sonnolente vana. Ma questa sonnolenza mi fu tolta subitamente da gente che dopo le nostre spalle a noi era già volta. […] Poi quando fuor da noi tanto divise quell’ombre, che veder più non potiersi, novo pensiero dentro a me si mise, del qual più altri nacquero e diversie tanto d’uno in altro vaneggiai, che li occhi per vaghezza ricopersi, e ‘l pensamento in sogno trasmutai. (DC/Purg. XVIII: 85ff.)

War die erste Schlaf- bzw. Traumszene des Purgatoriums von der Bewegung zwischen oben und unten dominiert, so stellt sich an dieser Stelle vielmehr der Eindruck einer Bewegung in der Horizontalen ein, einmal durch die vorbeihastende „gente“ und zum anderen durch die Metapher des ‚Umherwanderns‘ des Geistes, ausgedrückt in den synonymen Verben vanare und vaneggiare („vana“, Vers 87 u. „vaneggiai“, Vers 143).14 Köhler und Chiavacci Leonardi weisen darauf 14 Die beiden Verben sind nicht nur synonym verwendet, sondern auch in ihrer Etymologie verwandt. Beide gehen auf lat. vana¯ri, aus va¯nus ‚vano‘ zurück. Vanare ist wahrscheinlich ein Provenzialismus, „che indica il non pensare a niente di preciso“ (Enciclopedia dantesca V: 873); vaneggiare wird aufgeführt als „[i]l senso di un inane, vuoto passare da un pensiero

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hin, dass die Figur Dante damit an die Menschen, die auf dem fünften Sims für Trägheit büßen, an die accidiosi angeglichen wird.15 Wurde vor dem ersten Traum noch auf das Physisch-Menschliche der Figur Dante hingewiesen („Adamo“), das für das Einschlafen verantwortlich ist, so ist es diesmal das Mental-Geistige („il pensamento“), das sich in einen Traum transformiert („trasmutai“). Damit rückt der an dieser Stelle beschriebene Schlaf – trotz der den physischen Schlaf favorisierenden Zeit und Umgebung – in die Nähe des allegorischen Schlafs der Sünde zu Beginn der Commedia, was für die Stellung des folgenden Traums von Bedeutung ist. Hervorzuheben ist in diesem Kontext auch, dass die Augen durch „vaghezza“ bedeckt sind, also das ‚Sehen‘ wieder unterbunden wird. Das Lexem „vaghezza“ passt sich zum einen – übersetzt im Sinne von ‚Vagheit‘ oder ‚Undeutlichkeit‘ – in die im Gesamten geschaffene Atmosphäre der Unbestimmtheit ein; „vaghezza“ kann aber in einem poetischliterarischen Kontext auch gelesen werden als Lust oder Begehren (desiderio, diletto, piacere, voglia) oder aber auch als ‚Verschönerung des Gesangs‘ (abbellimento del canto),16 womit es den Inhalt des aufkommenden Traumes der Sirene antizipieren würde. Rein rhetorisch reiht sich die Stelle in die bisher besprochenen Passagen allein durch den Vergleich „com’om che sonnolente vana“ ein, der in seiner Struktur wie ein Refrain wiederzukehren scheint. Der zweite Traum ist zentral und das vor allem, weil er seine ‚Position‘ im Zahlengefüge nicht strikt einhält. Barucci (2013: 78) kommentiert das folgendermaßen: Com’è noto i tre sogni rispettano una struttura a base di nove, numero di Beatrice; una struttura imperfetta, peraltro, perché il secondo sogno è sì preannunciato nel XVIII, ma è in realtà illustrato all’inizio del XIX. Uno slittamento minimo, ma di assoluto rilievo, proprio perché sembra incrinare quel percorso numerologico che porta a Beatrice nel Paradiso terrestre. Un’anormalità, peraltro, rafforzato anche dal distacco tra l’assopimento, a chiusa di Pg XVIII, e il sogno in sé. È questa forte cesura a conferire al secondo sogno un’autonomia strutturale e un’evidenza figurativa – accentuata ancor più dalla maggiore estensione (33 versi contro 21 e 20) – assenti negli altri due casi.

Was aber will dieser (scheinbare) Ausreißer im System hervorheben, der sowohl durch seine Position als auch durch den Umstand, dass der Prozess des Schlafens all’altro, senza fissarsi su alcuno, focalizzandolo“ (ebd.: 874). Interessant in diesem Kontext: Der Zingarelli (2020) gibt als Synonyme für vaneggiare unter anderem auch fantasticare und sognare an. 15 Vgl. Köhler (DC II 2011: 363) u. Chiavacci Leonardi (DC II 2008, 535). Letztere führt aus: „Ricordiamo che il torpor e la vagatio mentis, che torneranno in Dante alla fine del canto, sono nominato da Gregorio Magno (Moralia XXXI, XLV 88) tra le conseguenze proprie dell’accidia, quasi figurando nella sua persona l’aspetto tipico di quel peccato“. 16 Diese letzte Bedeutung findet sich in älteren Wörterbüchern, etwa dem Zingarelli aus dem Jahr 1963. Neuere Editionen führen sie nicht mehr auf.

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wieder eher den allegorischen Schlaf als den physiologischen zu illustrieren scheint? Bei einem Blick auf den Inhalt des Traums, bei dem ein hässliches Frauenzimmer unter dem Blick Dantes zur verführerischen Sirene wird, dann aber durch die Hand einer der Sirene gegensätzlich gezeichneten donna santa, die den Bauch der Singenden entblößt, entlarvt wird, fällt zunächst Folgendes auf: mi venne in sogno una femmina balba, ne li occhi guercia, e sovra i piè distorta, con le man monche, e di colore scialba. Io la mirava; e come ‘l sol conforta le fredde membra che la notte aggrava, così lo sguardo mio le facea scorta la lingua, e poscia tutta la drizzava in poco d’ora, e lo smarrito volto, com’amor vuol, così le colorava. (DC/Purg. XIX: 7ff.).

Die Frau taucht brüsk in Dantes Traum auf, das verwendete Verb ist hier venire, und nicht wie in den anderen Träumen an ein vermeintliches ‚Sehen‘ („mi parea vedere“) gebunden (vgl. dazu Barucci 2013: 79). Das Sehen, nämlich der Umstand, dass Dante die hässliche Frauengestalt betrachtet, drückt sich hier durch mirare aus, das mehr als vedere (‚ansehen, gewahr werden, erblicken‘) ein Ziel oder einen Zweck anzustreben scheint. Zudem wird Dantes Blick im Prozess der Metamorphose der femmina balba zur Sirene mit der Sonne verglichen („come ‘l sol … così lo sguardo mio“), die ansonsten Beatrice oder den göttlichen Sphären vorbehalten ist, was metapoetisch für Dante als Autor-Auctor gelesen werden kann, damit aber auch einen Anstrich von Hybris erhält. Von Interesse ist auch die Wortwahl zur Beschreibung des Gesichts der femmina, das als „smarrito“ charakterisiert wird und so lexikalisch auf das Incipit der Commedia und den versperrten Weg zurückverweist. Basile (2006: 51) bemerkt, dass die physische Deformation ein Reflex der moralischen sei, noch einmal akzentuiert durch das Stottern. Barucci (2013: 78f.) liest den Traum in Anschluss an die zuvor geschilderte Szene der accidiosi als Albtraum oder „sogno demoniaco“, da über die Akedia die Brücke zur Melancholie und dem eigens genannten Saturn gegeben sei, die Träume solcherart, vor allem auch metamorphe oder heteromorphe Träume, laut mittelalterlichen Medizinvorstellungen favorisiere. Er sieht außerdem über die Figur der Sirene, die nach eigenen Worten Odysseus verzaubert hat, eine Verbindung zur Sünde der Curiositas (vgl. ebd.: 81): „Io son“, cantava, „io son dolce serena, che’ marinari in mezzo mar dismago; tanto son di piacere a sentir piena! Io volsi Ulisse del suo cammin vago

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al canto mio; e qual meco s’ausa, rado sen parte; sì tutto l’appago!“. (DC/Purg. XIX: 19ff.)

Tatsächlich ergibt sich im Bild eine interessante Verschränkung der Irrfahrten des Odysseus, seinem „cammin vago“, der sich besonders deshalb gut auf die Figur Dantes übertragen lässt, da dieser bereits zu Ende des Canto XVIII „per vaghezza“ einschläft, dessen ambivalente Bedeutung zwischen Unbestimmtheit und Schönheit des Gesangs bereits erläutert wurde. Es wiederholt sich also an dieser Stelle – in einer Variante – die Illustration des Verlustes des rechten Weges, dass im weiteren Verlauf der Traumszene noch indirekt durch die Unzulänglichkeit zu Sehen seitens des Protagonisten unterstrichen wird: Ancor non era sua bocca richiusa, quand’una donna apparve santa e presta lunghesso me per far colei confusa. „O Virgilio, Virgilio, chi è questa?“, fieramente dicea; ed el venìa con li occhi fitti pur in quella onesta. L’altra prendea, e dinanzi l’apria fendendo i drappi, e mostravami ‘l ventre; quel mi svegliò col puzzo che n’uscia.“ Io mossi li occhi, e ’l buon maestro: „Almen tre voci t’ ho messe!“, dicea, „Surgi e vieni; troviam l’aperta per la qual tu entre“. (DC/Purg. XIX: 25ff.)

Teresa Caligiure (2004: 335f.) schlägt vor, diese Passage mit Boethius Consolatio philosophiae zu lesen, der davor warne, die äußere Schönheit zu überschätzen. Auch der an Schönheit kaum zu übertreffende Alkibiades sei hässlich, könne man ihm durch alle Widerstände hindurch bis in die Eingeweide sehen. Der Fehler liege in der Unvollkommenheit der Augen, die ihn ansähen. Im Original heißt es: Formae vero nitor ut rapidus est, ut velox et vernalium florum mutabilitate fugacior! Quodsi, ut Aristoteles ait, Lyncei oculis homines uterentur, ut eorum visus obstantia penetraret, nonne introspectis visceribus illud Alcibiadis superficie pulcherrimum corpus turpissimum videretur? Igitur te pulchrum videri non tua natura, sed oculorum spectantium reddit infirmitas (Boethius 2011: 118).17

17 Der Glanz der Gestalt, wie verfallend, wie entschwindend ist er, flüchtiger als die rasch dahinwelkenden Frühlingsblumen! Wenn die Menschen, wie Aristoteles sagt, sich der Augen des Lynkeus bedienen könnten, so daß ihr Blick durch alle Widerstände dränge, würde dann nicht, wenn man die Eingeweide schaute, auch jener auf seiner Oberfläche herrliche Körper des Alkibiades abstoßend widerwärtig erscheinen? Also läßt dich nicht deine Natur, sondern die Schwäche der schauenden Augen schön erscheinen (ebd.: 119).

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Mit Blick auf die Hässlichkeit der Innereien bei Alkibiades einerseits und auf den geöffneten, stinkenden Unterleib der Sirene andrerseits sei an dieser Stelle ein kleiner Exkurs erlaubt, der diese Szene einmal mehr an antike Vorbilder koppelt und im Gesamtzusammenhang der Commedia wichtig wird. Eine Frauengestalt mit zerrissenem Unterleib, die Menschen in die Irre führt, kennen wir nämlich bereits aus Ovids Metamorphosen: Scylla, die Odysseus Gefährten in den Tod lockt, wurde erst durch die Rache der Circe, die sie um die Liebe Glaucus beneidete, zum Ungeheuer mit einem von schädlichen Säften („latices radice nocenti“) hervorgerufenen und durch Höllenhunde zerfetzen Unterleib (vgl. Ovid Met. XIV: 51–74). Gerade die Verbindung zu Glaucus ist – wie man später sehen wird – von Interesse. Doch zunächst zurück zur Bedeutung des Blicks. Die Unvollkommenheit der Augen, also das Unzulängliche des Sehens bzw. des Blicks, was mit dem Erkenntnisvorgang und -gewinn zu verknüpfen ist, wird bereits einige Canti zuvor thematisiert, nämlich im Canto XV, in dem Dante eine ekstatische Vision erlebt, die ihn jedoch nicht – wie die bisher besprochenen Ohnmachts- oder Traumszenen – sprunghaft weiterführt; er muss auf den eigenen Füßen weiterlaufen. Warum das? Der Canto XV hat laut Chiavacci Leonardi (DC II 2008: 433) kein „vero centro tematico“, allerdings ist auch hier ein kleinerer Übergang angesiedelt, nämlich vom Kreis der ‚Eifersucht‘ zur ‚Wut‘. Auffällig in diesem Canto ist die Zeichnung der Lichtverhältnisse, die im Incipit über die Beschreibung der Sonne und ihrer Strahlen (Verse 1–9) über Wasserund Spiegelvergleiche (Vers 16ff.) zum Widerschein eines Boten Gottes (Verse 22–30) gehen, um jedoch am Ende des Canto mit Dunkelheit zu enden (Verse 142–145). Köhler (DC II 2011: 288) kommentiert mit Blick auf das Purgatorium als Zwischenreich: „Konnte es die Erinnerung an Hölle und Teufel noch nicht gänzlich hinter sich lassen, so nimmt es zum Ausgleich nun Töne und Bilder des Paradieses vorweg“. Besonders interessant ist jedoch nicht nur die Antizipation paradiesischer Szenen, sondern vor allem die Reaktionen Dantes darauf. So muss sich der Protagonist die Augen mit den Händen verdecken (Vers. 13ff. „ond’io levai le mani inver la cima / delle mie ciglia, e fecemi ’l solecchio / che del soverchio visibile lima.“) oder er wendet den Blick ab (Vers 24, „per che a fuggir la mia vista fu ratta“), um von dem Licht nicht geblendet zu werden. Noch auf halbem Weg seiner Katharsis ist Dante nicht in der Lage, Göttliches anzusehen und zu erkennen, was sich in zweifacher Hinsicht expliziert. Einmal in der Erklärung Vergils: „Ed elli a me: ‚Però che tu rificchi / la mente pur alle cose terrene, / di vera luce tenebre dispichi“ (Vers 64f.). Dante – in seiner Nähe zu irdischem Gut – wählt noch das ‚Dunkle‘ aus, statt ins Licht zu sehen. Zum anderen vervollständigt sich dieses Bild zu Ende des Canto, wo Dante und Vergil in Gedanken schon weiter voraus sind, als das Auge im Abendlicht zu sehen vermag (Vers 140ff. „Noi andavam per lo vespro, attenti / oltre quanto potean li occhi allungarsi / contra i raggi seotini e lucenti.“) und ihnen Dunkelheit letzt-

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endlich vollständig die Sicht nimmt: „questo [fummo] ne tolse li occhi a l’aere puro“ (Vers 145). Dieser Zustand wird zu Beginn des XVI. Canto wiederaufgenommen und gar verstärkt, wenn es heißt, Dante sei „come cieco“ (Vers 10).18 Er bedarf der Führung Vergils mehr denn je und auch hier wird lexikalisch an den Anfang der Commedia zurückgegriffen, wenn Dante sich noch enger an seinen Führer anschließt, „per non smarrirsi“ (Vers 11). In der Mitte der Commedia, etwa auf der Hälfte des Läuterungsberges, scheint über einige Canti hinweg ein retardierendes Moment eingebaut zu sein, dass sich in Dantes Unfähigkeit zu Sehen ausdrückt, sich sodann einmal im Lichtspiel des Canto XV illustriert19 und zum anderen im Einschlafen (Canto XVIII) und dem Traum von der femmina balba (Canto XIX) expliziert.20 Spätestens mit dem letzten Traum des Purgatorio im Canto XXVII wird dieser ‚Rückfall‘ des Protagonisten jedoch ausgemerzt. Poco parer potea lí del di fori; ma, per quel poco, vedea io le stelle di lor solere e più chiare e maggiori. Sí ruminando e sí mirando in quelle, mi prese il sonno; il sonno che sovente, anzi che ‘l fatto sia, sa le novelle. Nell’ora, credo, che dell’orïente, prima raggiò nel monte Citerea, che di foco d’amor par sempre ardente, (DC/Purg. XXVII: 88ff.)

Das hier geschaffene Szenario zeichnet sich durch ausgesuchte Helligkeit aus („Le stelle […] più chiare e maggiori“), die durch die in der Alliteration verstärkte Beschränkung des Sichtfeldes („Poco parer potea […] per quel poco“) noch unterstrichen wird. Das Einschlafen des Protagonisten erfolgt wiederum in einem Kontext des Nachdenkens, jedoch auch des (gezielten) ‚Sehens‘. Mit dem Verb ruminare erfolgt einmal ein thematischer Rückbezug zur zuvor geschaffenen bukolischen Landschaft (wiederkäuende Ziegen auf der Weide mit ihren Hirten, Vers 76ff.), zugleich scheint es in seiner Bedeutung weniger ein Umherirren der Gedanken zu illustrieren, als vielmehr das planmäßige noch einmal Durchdenken bereits erlebter Eindrücke, ganz im Sinne der ruminatio als Teil der 18 Im Canto XXVI formuliert Dante, er strebe nach oben, um nicht länger ‚blind‘ zu sein: „Quinci su vo per non esser più cieco:“ (Vers 54). 19 Ähnliche Szenen oder Anmerkungen finden sich auch in anderen Canti, etwa dem XVII, jedoch nicht in dieser Dichte. Ebenso zu Beginn des Canto XXXII, wo in Vers 64ff. auch noch eine knappe Schlafszene angedeutet wird. 20 Man könnte annehmen, es handle sich hier um eine ähnliche „Poetik des Aufschubs“ wie Gerhard Regn sie für Petrarcas Canzoniere plausibel gemacht hat. Ebenso wie im späteren Liederbuch Petrarcas zeichnet sich Dantes Commedia durch die Teleologie einer mutatio vitae aus, die durch semantische ‚Aufschübe‘ ausgebremst wird und so zugleich das „Mundane, von dem die reuige Ein- und Umkehr befreien sollte, selbst noch im Horizont der Negation gegenwärtig halten“ (ders. 2003: 189 u. 208).

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meditatio im Rahmen der lectio divina.21 Im lautmalerischen Verbund mit dem Verb mirare konstituiert sich ein Kontext, der eine sich mehr und mehr Gott zuwendende Zielgerichtetheit suggeriert.22 Der Schlaf, in den Dante versinkt – im Verb prendere weniger stark überwältigend angelegt als im verwendeten Partizip vinto der ersten Traumszene – wird ganz explizit als Morgentraum, der Wahrheit verkündet ausgewiesen (vgl. Vers 92ff.), was dieser Passage durchaus eine Sonderstellung gibt: Albertus Magnus – so Wittmer-Butsch (1990: 147) – sieht als Ursache für Wahrträume die Einwirkung der Bewegung der Himmelskörper auf den Menschen. Die an das Sternenlicht gebundene Übertragung schien ihm nachts wegen der dünnen Luft besser zu funktionieren. Die Traumerscheinungen der Lea und Rachel (als vita contemplativa und vita activa) an dieser Stelle erneut auszulegen, erscheint überflüssig. Angemerkt sei allerdings, dass der Traum im Thema des Spiegels (Vers 103–108) in einem mise en abyme das Sehen als Akt des Erkennens als einen im Inneren der menschlichen Seele stattfindenden Prozess reflektiert. Chiavacci Leonardi (DC II 2008: 102) bemerkt in ihrem Kommentar dazu: „lo specchio rappresenta la stessa anima dell’uomo, il miglior luogo, secondo Riccardo di San Vittore, dove la creatura razionale può vedere Dio“. Während der zuvor betrachtete Canto XV am Ende zurück in die Dunkelheit führt, herrscht an dieser Stelle wiederum Licht vor: E già per li splendori antelucani, che tanto a’ pellegrin surgon più grati, quanto, tornando, albergan men lontani, le tenebre fuggian da tutti lati, e ‘l sonno mio con esse; ond’io leva’ mi, veggendo i gran maestri già levati. […] (DC/Purg. XXVII: 109ff.)

Dass der Bibel (Buch der Weißheit 11.23) entnommene Adjektiv antelucani evoziert ein diffuses und silbriges Strahlen, ein Licht, das dem eigentlichen Sonnenaufgang vorausgeht und somit schwächer, sozusagen eine Vorstufe zum Tageslicht ist (vgl. Chiavacci Leonardi II 2008 II: 812). Nichtsdestotrotz ist es in 21 Als Synonyme für ruminare gibt der Zingarelli an: riconsiderare attentamente, riandare con il pensiero. Daniel Tibi führt zur ruminatio im Kontext der lectio divina an, dass das „beständige Wiederholen eines Verses […] als ruminatio (Wiederkäuen) bezeichnet [wird]. Im Alten Testament gelten Wiederkäuer als reine Tiere (vgl. Lev 11,3; Dtn 14,6), die in allegorischer Auslegung für den Beter stehen, der beständig über das Wort Gottes nachdenkt. […] Er [der Beter] wird gleichsam eine lebendige Konkordanz und eine Bundeslade Gottes, die die Weisung Gottes in sich trägt. […] So wird die ruminatio Grundlage einer biblischen und christozentrischen Frömmigkeit. Die Seele wird in ein Klima versetzt, aus dem heraus die Meditation und das Gebet spontan entspringen können“ (ders. 2008: 18). Für den Hinweis auf den Zusammenhang zur lectio divina in diesem Kontext bedanke ich mich bei Dietrich Scholler. 22 mirare hier gelesen mit Blick auf die (Neben)Bedeutungen ‚anvisieren, anstreben, gezielt betrachten‘.

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der Lage, die Finsternis und mit ihr Dantes Schlaf zu vertreiben. In seiner allegorischen Bedeutung im Spiel um Sünde und Reinigung kommt dies im Verb fuggire anschaulich zum Tragen: Das ‚Schlechte‘ flieht vor dem ‚Guten‘ und ‚Wahren‘. Dieser letzte Traum führt zur Emanzipation Dantes von seinem Führer Vergil, der ihm in einer Geste der Krönung die Herrschaft über sich selbst zurückgibt („te sovra te corono e mitrio.“, Vers 142).

5.

Vom ‚Sünder‘ zum ‚Seher‘: Der Schluss oder das Schließen des Zyklus im Paradiso

Im Paradies soll nun zunächst der Fokus auf der Vision schlicht im Sinne des ‚Sehens‘ liegen, nicht auf dem markierten Erlebnis einer ekstatischen Erleuchtung. Die Illustration des Blicks in die Richtung Gottes manifestiert sich zunächst in einem mittelbaren und dann einem unmittelbaren ‚Sehen‘, das dem wachsenden Reifegrad des Protagonisten entspricht und zudem – wie zuvor Ohnmacht und Traum – zur Überwindung von Grenzen dient. Der erste Canto des Paradieses hat zwei Besonderheiten: Zum einen hat er eine enge Verbindung zum letzten Canto der Commedia, er antizipiert die abschließende Visio Dei (vgl. Chiavacci Leonardi III 2008: 4). Zum anderen reduziert sich die eigentliche Handlung dieses Paradiesprologs auf einen Blick (vgl. ebd.: 5), nämlich den in die Sonne, der den weiteren Aufstieg in diesem Jenseitsbereich initiiert. Dazu im Folgenden mit Fokus auf eine zentrale Textpassage einige Bemerkungen: quando Beatrice in sul sinistro fianco vidi rivolta e riguardar nel sóle: acquila sì non lì s’affisse unqanco. E i come secondo raggio sòle uscir del primo e risalire in suso, pur come pellegrin che tornar vole, così dell’atto suo, per li occhi infuso nell’imagine mia, il mio si fece; e fissi li occhi al sole oltre nostr’uso. (DC/Par. I: 46ff.)

Beatrice wird nicht nur mit Blickrichtung zur Sonne als Äquivalent Gottes inszeniert, sondern indirekt als Adler, der die Fähigkeit haben soll, direkt ins Licht zu sehen (vgl. Chiavacci Leonardi DC III 2008: 23). Zudem entsteht über den Adler eine Verbindung zum ersten Traum des Purgatoriums, wo der majestätische Vogel ebenfalls mit einer Frau assoziiert wird, die als Adjuvantin auf Dantes Weg zu Gott fungiert. Der Vorgang des ‚Nach oben Sehens‘ wird vom Protagonisten in einem Akt intuitiver imitatio übernommen, wobei unterstrichen wird,

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dass – ähnlich wie beim mittelalterlichen innamoramento – die Haltung Eingang über die Augen findet („per gli occhi infuso“).23 Diese ‚gespiegelte‘ Wahrnehmung lässt Köhler (DC III 2012: 18) an das platonische Höhlengleichnis denken, bei dem dem einfachen Sterblichen der direkte Zugang zu göttlichen Ideen verwehrt bleibt. Zwar gelingt es Dante, länger als gewöhnlich Richtung Sonne zu sehen („fissi li occhi al sole oltre nostr’uso“), doch sehr lange hält er es noch nicht aus („io nol soffersi molto“). Es ist dies eine Situation, die angelegt ist zwischen Erfolg und Scheitern des Protagonisten, der noch zu sehr der Menschlichkeit verhaftet ist, die es endgültig zu überwinden gilt, um den Aufstieg in himmlische Sphären möglich zu machen, wie die folgende Szene illustriert: Beatrice tutta ne l’etterne rote fissa con li occhi stava; e io in lei le luci fissi, di là sù rimote. Nel suo aspetto tal dentro mi fei, qual si fé Glauco nel gustar de l’erba che ‘l fé consorto in mar de li altri dèi. Trasumanar significar per verba non si poria; però l’essemplo basti a cui esperïenza grazia serba. S’i’ era sol di me quel che creasti novellamente, amor che ‘l ciel governi, tu ‘l sai, che col tuo lume mi levasti. (DC/Par. I: 64ff.)

Eine Steigerung der Intensität des Blicks im Vergleich zur vorherigen Szene signalisiert das auf Beatrice bezogene „tutta“ in Vers 64; Dante in seiner Unzulänglichkeit hingegen konzentriert seinen Blick wiederum auf sie beziehungsweise genauer auf die Lichter in ihr („in lei / le luci fissi“), Spiegel des göttlichen Lichts, das den Protagonisten schließlich ‚erhebt‘ („levasti“). Das ‚Anblicken‘ Beatrices führt zum vielleicht einzigartigen Vorgang in der Commedia, dem eigens durch einen Neologismus gekennzeichneten Akt der Überschreitung des Mensch-Seins, bildlich illustriert durch die Ovid-Anleihe der Glaucus-Metamorphose.24 Ovids Metamorphosen bieten einige Illustrationen der deificatio an. Warum Dante nun gerade die Geschichte des Glaucus wählt, beantwortet Bodo Guthmüller (2007: 74f.) folgendermaßen: „Glauco widersteht in den Metamorphosen den Verlockungen der Circe, die in Dantes Commedia als eine Erschei23 Hier lässt sich offen ersichtlich der Kreis zur Vita Nova schließen, in dem Traumvisionen Strukturen der späteren Commedia vorwegnehmen. Wehle (2014: 96) kommentiert: „Nichts Geringeres findet in diesem Moment statt als der Gründungsakt der Dante’schen Erkenntnislehre: die Geburt des Denkens aus der Bewegung des Herzens“. 24 Glaucus wird durch den Verzehr eines Krautes zu einem Meeresgott verwandelt (vgl. Ovid: Met. XIII, 940ff.). Detaillierte Ausführungen zum ersten Gesang des Paradieses finden sich in Guthmüller (2007).

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nungsform des Teufels konzipiert ist; dies wird ein Grund für seine Wahl gewesen sein“. An dieser Stelle sei auf den Traum der femmina balba rückverwiesen, in dem indirekt, durch implizite Anleihen an Odysseus, Scylla und Circe die Geschichte des Glaucos schon einmal auf den Plan gerufen wurde. Ebenso als Vorausdeutung lässt sich der mittlere Traum des Purgatoriums lesen, bedenkt man, dass auch dort ein Bezug zu Boethius Consolatio Philosophiae möglich war. Während das Werk bei der Traumszene noch auf die Unzulänglichkeit des Blicks verwies, dient es an dieser Stelle dazu, die Frage nach der Hybris Dantes durch die eigene deificatio aufzulösen, denn: Laut Tröstung der Philosophie Buch 4 – so bemerkt Guthmüller (2007: 76f.) – seien alle guten Menschen göttlich. Auf fast amüsante Weise wird die Aszension in der Blick-Licht-Metaphorik expliziert zu Beginn des zweiten Paradiesgesangs, wo Dante mit der angebeteten Dame gleich einem Schussbolzen in höhere Sphären fliegt („Beatrice in suso, e io in lei guardava; / e forse in tanto in quanto un quadrel posa / e vola e da la noce si dischiava, / giunto mi vidi […];“ Vers 22ff.). Während Dantes Blick auf Beatrice an dieser Stelle der Reise zum Aufstieg führt, so provoziert umgekehrt Beatrices Blick auf Dante noch einen Kontrollverlust des Protagonisten. Im vierten Canto des Paradieses stellt der zweifelnde Dante Beatrice die Frage nach der Ausgleichbarkeit eines gebrochenen Gelübdes: „Io vo’ saper se l’uom può sodisfarvi ai voti manchi sì con altri beni, ch’a la vostra statera non sien parvi“. Beatrice mi guardò con li occhi pieni di faville d’amor così divini, che, vinta, mia virtute diè le reni, e quasi mi perdei con li occhi chini. (DC/Par. II: 133ff.)

Chiavacci Leonardi (III 2008: 124) koppelt die Passage an Vers 72 im fünften Gesang des Inferno zurück und kommentiert: „Lo smarrimento, che è come il perdere di controllo e la coscienza di se sé, proprio dell’uomo sopraffatto da una violenta impressione, situazione che più volte Dante registra nel poema, ha in questo verso una delle sue più intense espressioni“. Und tatsächlich verweist die Isotopie des Abwendens und Flüchtens des Protagonisten, die sich hier in „vinta“, „perdei“ und „occhi chini“ realisiert, auf die jeweiligen kritischen Wendepunkte am Weg des Protagonisten, und – nicht zuletzt – auf den Anfang der Commedia. Eine vergleichbare Stelle des Aufstiegs in Verbindung mit einer tatsächlichen Vision sowie einer Vision im Sinne des ‚Sehens‘ bzw. des ‚Ansehens‘ finden wir bei der Überwindung des vierten zum fünften Himmelskreis, dem Cielo del Sole zum Cielo di Marte im Canto XIV, „einem Gesang der reinen Jenseitsfreude“ (Köhler DC III 2012: 316), in dem der Blick „bis zur äußersten Zeit der Escha-

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tologie“ führt und der Reisende und Fragende etwas erfahren darf, „was ihm selber kaum als Frage bewusst ist“, weshalb Beatrice vermittelt (vgl. ebd.). Der Canto illustriert anschaulich das Zusammentreffen verschiedener Visionsarten. Chiavacci Leonardi (DC III 2008: 383) führt aus: Qui le due forme di visione che costituiscono il narrato del Paradiso, la visione sensibile e la visione intellettuale, vengono di fatto a coincidere, mentre le vaghe e ardenti immagini tolte dal nostro mondo a rappresentare la realtà divina – l’incerto apparire delle stelle sulla prima sera, il biancheggiare della Via Lattea, la danza del pulviscolo luminoso nel raggio che traversa una stanza oscura – stabiliscono quell’abbraccio tra l’umano e il divino che la resurrezione dei corpi – centro ideale e ispiratore del canto – di fatto significa.

Die sich aus Licht konditionierende Vision, explizit benannt in Vers 49 und in den folgenden Versen ausgeführt, ist für das Auge des Protagonisten immer noch nicht zur Gänze auszuhalten („alli occhi miei che, vinti, non soffriro!“ Vers 78). Wieder tritt Beatrice als Mittlerin auf, deren Schönheit sich proportional zum Anstieg Richtung Gott gesteigert hat und die nun zu den ‚unsagbaren‘ Dingen zählt (vgl. Chiavacci Leonardi DC III/2008: 401). Hier allerdings reicht ihr Erscheinen aus, damit Dante wieder die Kraft findet, die Augen zu heben und ins Licht zu sehen: Ma Bëatrice sì bella e ridente mi si mostrò, che tra quelle vedute si vuol lasciar che non seguir la mente. Quindi ripreser li occhi miei virtute a rilevarsi; e vidimi translato sol con mia donna in più alta salute. (DC/Par. II: 79ff.)

Verwiesen werden soll an dieser Stelle noch auf den interessanten Zusammenschluss des pronominalen Verbes vedere mit dem Latinismus translare. Dante sieht sich selbst in einer Art dissoziativen Moment in den nächsten Himmelskreis überführt („e vidimi translato“). Lexikalisch erinnert das „translato“ an die deificatio des Protagonisten, die sich im ersten Canto des Paradieses im Neologismus „trasumanar“ illustriert. Während also die Himmelsreise Dante durch mittelbare Blick-Visionen immer höher getragen und der Sphäre Gottes angenähert hat, waren der Traum oder der Schlaf kein Thema mehr im Dritten der Jenseitsreiche. Kurz vor Ende der Reise jedoch, im Canto XXXII, also nur wenige Verse vor der finalen Visio Dei, spricht der aktuelle Begleiter Dantes, der heilige Bernhard von Clairvaux, mit Blick auf seinen Schützling plötzlich im Vers 139 von „‘l tempo che t’assonna“. Dieser Vers wird unter den Dante-Kritikern kontrovers diskutiert. Das größte Problem scheint dabei, dass es bisher nicht gelungen ist, die Frage um die Bedeutung des Verses 139 von der generellen Frage zu lösen, ob Dantes Reise nun

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zur Gänze eine Vision oder ein Traum ist oder nicht. Das ist aber – so möchte ich an dieser Stelle postulieren – für das Verständnis dieser Passage überhaupt nicht von Belang. Da sich ein Großteil der Kommentatoren auf die Auslegungen Michele Barbis (1965: 294f.) bezieht, sei im Folgenden die ausführliche Wiedergabe jener erlaubt: io credo ch’egli [Dante] voglia far intendere d’esserci stato corporalmente. Certo è che in tutta la Commedia dà a credere d’aver fatto un viaggio reale pei regni ultraterreni, non d’aver avuto una visione nel sonno. Perciò dalla frase fugge il tempo che t’assonna non è da intendere che Dante sia oppresso momentaneamente dal sonno come in principio del XIX del Purgatorio, quando ha la visione della femmina balba; ma o dobbiamo vederci un richiamo alla sua condizione di essere vivente, la quale non permette una troppa lunga vigilia (un richiamo da mettere insieme col mortal pondo di Par. XXVII, 64 e con la nube di sua mortalità di Par. XXXIII, 31–32; e cfr. anche Purg. X, 10); oppure s’intende che il poeta, rapito ormai nella contemplazione dei più profondi misteri, quasi dormiens vigilaret (son parole di S. Agostino a proposito del ratto di S. Paolo, e cfr. Purg. XXIX, 144, ove l’autore dell’Apocalisse si vede „venir d o r m e n d o con la faccia arguta“). Il Passerini ha chiosato t’assonna „ti rapisce in estasi“, e probabilmente ha ragione; ma torna male che poi continui: „Intendi: sta per compiersi il tempo assegnato alla tua visione“, se intende, come pare (cfr. Par. XXXIII, 142), tutta la ‚visione‘ del poema, e non soltanto ciò che vede in quest’ultimo cielo. Ripeto: Dante non descrive una visione, ma un viaggio; e se s’incontra nel poema nell’opera sua (Par. XVII, 128), va intesa in senso oggettivo per ‚ciò che hai veduto‘. Invece il tempo che t’assonna, s’ha da intendere al modo del Passerini, non può essere che il tempo a s s e g n a t o a l l a c o n t e m p l a z i o n e d e i p i ù a l t i m i s t e r i d i v i n i , per i quali occorre la totale astrazione dei sensi, e l’uomo riman quindi come dormente. Nel v.142 dell’ultimo canto del Paradiso, poi fantasia non vale ‚visione‘, ma indica la facoltà con la quale il poetà s’era levato per grazia divina, alla contemplazione dei più sublimi misteri della fede cristiana: cfr. Conv. III; iv, 9. „nostro intelletto, per difetto de la virtù de la quale trae quello che ch’el vede, che è virtù organica, cioè la fantasia, non puote a certe cose salire, però che la fantasia nol puote aiutare, ché non ha lo di che“; e vedi ciò che segue. Anche per fantasia è da distinguere la facoltà che immagina dalla visione fantastica che in essa si forma. Ad es., in Purg. XVII, 25, piove dentro a l’alta fantasia non è da parafrasare, come fa il Passerini, „nella prima visione“, ma è da intendere che, cessata la prima versione, piovve nell’immaginativa di Dante un crocefisso dispettoso e fiero. Nel passo invece della Vita Nuova (XXIII, 18) „allor lassai la nova fantasia“, citato dal Passerini a riscontro, fantasia è veramente la visione che Dante ha avuto (cfr. anche XXIII, 13 „sì mi cessò la forte fantasia“). Cosicché anche nella chiosa a Purg. XVII, 25 una leggera correzione appar necessaria.

Barbi verneint also, dass es sich hier um den physischen Schlaf handeln könne, wie er im Purgatorium beschrieben wird. Er lässt der Annahme Raum, es könne sich bei „‘l tempo che t’assonna“ um die Bedingungen des menschlichen Seins handeln, die kein zu langes Wachen zulassen; er zieht in Betracht, dass der Protagonist im Rückgriff auf die Apokalypse des Paulus mit den Worten Au-

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gustinus ‚fast schlafend wacht“ (quasi dormiens vigilaret)25; er greift auf Passerinis Erläuterung zurück, wonach das „t’assona“ gleichzusetzen sei mit einem ‚in Ekstase überführen‘, geht jedoch nicht den Schritt mit, damit könne die Zeit gemeint sein, die die Vision umfasse, da mit Vision wiederum das gesamte Epos gemeint sei. Wenn, dann müsse man es so lesen, dass die Zeit der Kontemplation der höchsten göttlichen Mysterien, für die man die völlige Abstraktion der Sinne benötige, zu Ende sei.26 Auch Chimenz (DC 1963: 929) spricht bei dem Vers von fragwürdigen Interpretation; auch er schließt den „sonno naturale“, der menschlichen Bedürfnissen entspricht, aus, ebenso wie die Auslegung, es handele sich um „il tempo concesso al tuo sogno“. Sein Schluss ist folgender: L’interpretazione è sottile; ma meglio si giustificherebbe, se il poeta avesse detto il tempo che assonna, invece che ti assonna: ti sembra riferimento specifico a Dante e alla sua particolare condizione in quel momento. – Sarà forse preferibile intendere semplicemente: „il tempo assegnato alla contemplazione della rosa celeste, che ti fa stare stupito come in un sogno“.

Chiavacci Leonardi (DC III 2008: 896) bringt ähnliche Argumente in Anschlag und schließt einen Exkurs an den späteren Petrarca an: ma poiché il tempo che ti tiene in stato di visione sta per terminare … fugge, quasi s’affretta a scomparire per sempre. S. cfr. Petrarca RVF CCLXXII 1 La vita fugge, et non s’arresta una hora… „[…] ti tiene come addormentato“. Il verbo indica lo stato proprio della visione mistica, assomigliato tradizionalmente al sonno, in quanto la mente è come distacca dai sensi: „oportet in contemplationis principio, ut homo quasi consopitus a sensibus alienetur, quasi per somnum…“ (Bonaventura, In Evang. S. Lucae IX 32). Così di Paolo rapito al cielo Agostino scriveva: „quasi dormiens evigilaret“ (Gen. ad litteram XII, v). La precisa corrispondenza di questo significato al contesto rende secondo noi sicura l’interpretazione del verbo in tal senso (Dante stesso del resto presenta l’autore dell’Apocalisse che avanza dormendo a Purg. XXIX 144). Altri intende: il tempo che, essendo tu mortale, non ti permette un troppo lungo stato di veglia; interpretazione che appare molto meno pertinente (né rende ragione del fugge).

Auch De Santis (2011: 623) schlägt vor, den Vers in dieser Richtung zu lesen: „il tempo che ti tiene in stato di visione sta per terminare“,27 ebenfalls mit Verweis auf Bonaventuras „oportet in contempoationis principio, ut homo quasi consopitus a sensibus alientur, quasi per somnum…“. Cerri (2011: 166) möchte eine Erklärung über Boethius herbeiführen, den Dante gelesen und in Teilen übersetzt bzw. paraphrasiert hat: Wenn das menschliche Leben, eingehüllt in Unwissen25 Teodolinda Barolini (1992: 314, Anm. 9) weist darauf hin, dass Barbi zu dieser Aussage keinen genauen Quellennachweis erbringt. 26 Vergleichbare Argumentation bei Sapegno (1996). 27 Ähnlich sieht es Malato (DC 2018: 988): „Ma poiché fugge il tuo tempo umano che induce al sonno (limitato, che porta alla conclusione dell’esperienza oltremondana a te concessa) […]“.

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heit, Schlaf ist, dann kann nur die vollständige Kontemplation der Wahrheit ein tatsächlicher und authentischer Wachzustand des Intellekts sein; die teilweisen Vorahnungen, die notwendige Stufen zum Erreichen des letzten Ziels sind, sind Träume, Wahrträume, die sporadisch den Schlaf des Lebens erhellen. Boethius (2011: 100) expliziert: Vos quoque, o terrena animalia, tenui licet imagine, vestrum tamen principium somniatis, verumque illum beatitudinis finem, licet minime perspicaci, qualicumque tamen cogiatatione prospicitis, eoque vos et verum bonum naturalis ducit intentio et ab eodem multiplex error abducit.28

Dante mache daraus: Das irdische Leben ist Schlaf, erst nach dem Tod kann die Seele, so sie würdig gelebt hat, Gott sehen und erfassen und wahrhaftig ‚wach‘ sein. Nicht allen Seelen ist das vorbehalten, nur jenen, die während des Lebensschlafes in der Lage waren, sporadisch kurze Erleuchtungen zu haben. Diese mystischen Erleuchtungen sind als kognitive Phänomene der vita-sonno Träume, die auf die vita-veglia nach dem Tod vorverweisen. Cerri (2011: 168) schlägt daher vor, die Verse folgendermaßen zu lesen: „Il tempo della vita terrena, il tempo che assonna, è fugace“. Köhler (DC III 2012: 710) kommentiert, „t’assonna“ bedeute wörtlich ‚zum Schlafen bringen‘, ‚am Schlafen halten‘. Doch sei dies keinesfalls so zu verstehen, als schlafe Dante und seine Vision sei ein Traum von begrenzter Dauer, aus dem er bald wieder würde erwachen müssen. „Alle neueren Kommentatoren lehnen eine solche Deutung mit der Begründung ab, dass Dante nirgendwo von seiner Reise als von einem Traum spricht, vielmehr immer den Wahrheitsanspruch unterstreicht.“ Köhler bezieht sich auf Francesco Torraca (1905), der einen Vorschlag gemacht hat, dem sich seither die meisten angeschlossen hätten. Bernhard würde meinen: „Perché già cessa il tuo essere nel tempo, finisco non ritardare la tua partecipazione all’eternità, la tua visione suprema“. Das Verbum t‘assonna sei am besten potentiell zu verstehen: Die Zeit könnte dich schläfrig machen. Alle Führer, Vergil, Beatrice und auch Bernard, hätten ihren Schützling, der bei sich immer sagte: Ich möchte so gerne noch schauen… zum Weitergehen drängen müssen. Auch Cuzzilla (2003: o.P.) sieht den Konnex im mittelalterlichen Glauben, dass „the beatic vision“ zu verstehen sei „as a ‚sleep‘“, mit Ausgangspunkt der Schriften des Augustinus.

28 Auch ihr, ihr irdischen Wesen, habt von eurem Ursprung, wenn er euch auch nur als ein unbestimmtes Schattenbild vorschwebt, doch immerhin noch eine gewisse traumhafte Ahnung, und wenn ihr jenes wahre Ziel der Glückseligkeit auch nicht mehr klar und deutlich erkennt, so ist eine gewisse Vorstellung davon euch dennoch geblieben. Zur Glückseligkeit, zu dem wahren Gut, führt euch ein natürlicher Trieb, aber mannigfach wechselnder Irrtum lenkt eure Schritte wieder vom rechten Wege ab (ebd.: 101).

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Bei einem Blick auf verschiedene Übersetzungen fällt auf, dass im Regelfall darüber hinweggegangen wird, dass im Litteralsinn das verwendete Lexem zunächst einmal zweifelsfrei auf den Schlaf (assonnare zu sonno) verweist. Ein Großteil der einschlägigen Übersetzer aus dem deutschen und englischen Sprachraum interpretiert den Vers jedoch als Verweis auf Traum oder Vision. Bei Köhler (2012) heißt es: „Aber weil die Zeit dahingeht, in der du schauend / träumst, wollen wir hier aufhören, wie der gute Schneider es / beim Kleid macht, wenn der Stoff zu Ende geht.“ Gmelin (1988) übersetzt: „Doch da die Stunde deines Traums entschwindet“. Philalethes (1960) macht daraus: „Doch weil die Zeit flieht deines Traumgesichtes“. Vossler (1969) schreibt: „Die Stunden deines Traumes gehn zu Ende“. Streckfuß (1924) Übersetzung lautet: „Doch bald ist nun dein hoher Traum beendet“. Die Deutschen Dante-Übersetzer gehen konform. Kurt Flaschs (2011) „Einladung Dante zu lesen“ berücksichtigt die eigentliche Wortbedeutung ‚Schlaf‘ in seinem in Prosa übertragenen Text. Hier heißt es (auch recht frei): „Aber die Zeit fliegt. Sie senkt Schlaf über dich“. Flasch umgeht durch das Aufbrechen der Dant’schen Syntax das Problem der Relation zwischen ‚Zeit‘ und ‚Schlaf‘; in seiner Auslegung bleiben die Aussagen parallel und damit absolut ‚gegenwärtig‘. Die Prosaübersetzung mit (mehr als knappen) Erläuterungen von Georg Peter Landmann (1997: 330) hält sich syntaktisch und terminologisch nah am Original („Aber weil die zeit flieht, die dich in schlaf versenkt“ – hier findet sich der Relativbezug), argumentiert aber auch nur mit Bezug zum Apokalyptiker Johannes, Dante spreche vom Ende der Vision, die „wie im traum oder im schlafwandel erlebt“ werde.29 Auch im Englischen wird der wörtliche Sinn ‚Schlaf‘ in der interpretierenden Übersetzung zur ‚Vision‘. Reverend Henry Francis Cary (1965) schreibt: „But (for the vision hasteneth so an end)“ und Henry Wadsworth Longfellow (1904) bringt den Vers folgendermaßen in Form: „But since the moments of thy vision fly“. Übersetzungen in benachbarte romanische Sprachen, etwa ins Französische, bleiben naturgemäß näher am italienischen Original. So heißt es bei André Pézard (1965): „Mais le temps va fuyant qui t’ensommeille“. Pézard ist der einzige in diesem Kanon, der nicht als grundlegendes Problem die Frage sieht, ob nun die Commedia im Ganzen ein Traum oder eine Vision ist. Dennoch verweist er auf die Schwierigkeit, dem Text durch die Übersetzung eine Interpretation zu geben, da man nicht wisse, „comment accorder l’action d’‚ensommeiller‘ au ‚sujet le temps‘“. Als einziger bringt er explizit den Gedanken ein, es könne sich ggf. um den Schlaf der Sünde handeln, wie er zu Beginn in der selva oscura gezeichnet wird, ein Gedanke, den er jedoch in der folgenden Reflexion deutlich verwirft:

29 Von der Norm abweichende Groß- und Kleinschreibung im Original.

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Si Dante peinait encore dans la forêt obscure, nous pourrions penser que ce „sommeil“ dont parle saint Bernard est le même dont jadis était „plein“ le poète: le sommeil de l’âme, errante parmi les tentations, en proie au péché. Mais ses conditions-là sont révolues, ou bien le voyage n’aurait servi à rien.30

Doch genau dieser Gedanke, den Pézard anreißt, um ihn dann wieder als absurd darzustellen, verdient einen genaueren Blick, denn: Natürlich befindet sich Dante nicht mehr in dem wilden Wald und selbstredend hat der Protagonist während der Reise eine kathartische Wandlung durchlaufen und doch: Diese erfolgt Schritt für Schritt. Die Sünde fällt nicht auf einmal von der Figur Dante ab, sondern nach und nach in einem gewissen Zeitraum, der erst mit der Gottesschau – oder, wenn man genau sein möchte, eben ganz knapp davor – sein Ende findet. Storey (1995: 487) stellt die dazu passende Frage: „If Dante, then, is already well on his way in his final preparation for looking upon the ‚divino raggio‘, why does Bernhard undertake the additional […] lessons of Paradiso XXXII“? Und er gibt die Antwort gleich selbst: While others have explained quite well the canto’s final doctrinal aspects, few have examined the surprisingly multiple motifs and techniques of Paradiso’s penultimate canto as an episode of religious and political clarification, integration and summary of the Commedia’s most vital themes. It is here, between the revelation of the Celestial Rose of Paradiso XXXI and the beatific visions of Paradiso XXXIII, that Dante takes final stock of his narrative’s most pivotal trajectories, constructing – in addition – a concluding, rigidly architectural gloss, or commentary, before the final splendor of the divine light. Thus we should consider Paradiso XXXII less a doctrinal digression than a text which clarifies the Empyrean’s hierarchy and closes the long path of the Pilgrims ‚altro viaggio‘, opened in Inferno II and unified by the ‚tre donne benedette‘ to whom the poet returns in this next-to-the-last canto of the Paradiso (ebd.).31

Und so kann man durchaus annehmen – und es scheint an dieser Stelle auch geraten – dass der heilige Bernhard gegen Ende des vorletzten Gesangs, also unmittelbar vor dem der Visio Dei vorangestellten Gebet,32 seinem Schützling ankündigt, dass die Zeit, die diesen ‚schläfrig‘ macht, also mit Rückgriff auf eben 30 In seiner weiteren Reflexion versucht Pézard (1965: 1666), das im Präsens stehende „t’assonna“ als verkappte Vergangenheitsform zu verstehen, um sein Dilemma aufzuheben, als ein passé révolu, um einen Anschluss an Dantes Schlaf der Sünde zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt der Reise sicher ausschließen zu können. Diese Argumentation scheint zu gewollt und herbeigezogen. Warum nicht Dante einmal ‚beim Wort‘ nehmen? 31 Vers 139 und das Verb assonarsi hingegen versteht Storey ebenso wie Barolini und Landmann mit Blick auf die ausgehende Vision bezogen und in Anlehnung an die Johannes-Apokalypse „especially in relation to the common iconography of Jon asleep (‚cecidi ad pedes eius tanquam mortuus‘ [Apoc. 1:17]) and ‚in spiritu‘ usually beneath the depiction of the Son of Man in many manuscript illuminations of the Middle Ages“ (ebd.: 498). 32 Im Kontext der zuvor erwähnten lectio divina wären wir hier beim dritten Schritt, der oratio (Gebet), auf das unmittelbar die contemplatio (Schau) folgt.

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jenen Anfang der Commedia, ‚in Sünde befangen‘ hält, ihrem Ende zugeht. Barolini (1987: 219) erkennt die Zyklik der beiden Stellen, aber auch sie spricht von der Figur Dante, „who is ‚pien di sonno a quel punto / che la verace via abbandonai‘ […] and whose vision draws to an end ‚perché ‘l tempo fugge che t’assonna“. Natürlich liegen der Zeitraum des in Sünde befangenen Dante und der seiner Jenseitsreise bzw. seiner Vision – je nach Auslegung – nahe beieinander, sie sind sozusagen fast kongruent. Aber eben nur fast. Denn das in Sünde verfallen, also das metaphorische ‚Einschlafen‘ oder ‚schläfrig werden‘, geht der Jenseitsreise voraus, ist Anlass für selbige und der Protagonist gilt als vollständig geläutert erst wenige Momente vor der Visio Dei. Betrachtet man die Verteilung der Isotopie des Schlafes in ihrem Vorkommen in der Commedia, so ist dieser, der Schlaf, in der Regel nicht positiv konnotiert.33 Diese Beobachtung lässt sich untermauern, indem man sich die lexikalische Umgebung des Verbes assonnare einmal im zur Disposition stehenden Canto XXXII, aber auch im Canto VII des Paradieses und im Canto XXXII des Purgatoriums ansieht. Im breit diskutierten Gesang XXXII steht assonnare nach der Beschreibung des Personals der Himmelsrose und vor der Aufforderung des heiligen Bernhard an Dante, den Blick nach oben zu wenden, um Gottes Antlitz zu schauen. e contro al maggior padre di famiglia siede Lucia, che mosse la tua donna, quando chinavi, a ruinar, le ciglia. Ma perché ‘l tempo fugge che t’assonna, qui farem punto, come buon sartore che com’elli ha del panno fa la gonna; e dirizzerem li occhi al primo amore, sí che, guardando verso lui, penetri quant’è possibil per lo suo fulgore. (CD/Par. XXXII, 136ff.)

Die letzte Figur, die in Bernhards Ausführungen Raum erhält, ist Lucia. Inhaltlich wird hier zweifellos auf den Anfang der Commedia verwiesen, wenn daran erinnert wird, dass sie es war, die Beatrice dazu brachte, Dante zu retten, als dieser den Blick zum Abgrund wandte („quando chinavi, a ruinar, le ciglia“). Rein inhaltlich ist die Nähe zum metaphorischen Schlaf der Sünde also durchaus gegeben.34 Auch die abwärts gewandte Bewegung der Wimpern, das Senken des 33 Eigentlich ist er nie positiv konnotiert, aber bei einem Werk wie der Commedia sind verabsolutierende Aussagen vermessen, zu schnell kann man ein kleines Detail übersehen. 34 Auch Cerri (2011: 167) verweist von der chinavi-Passage auf den Anfang der Commedia, bietet jedoch eine Interpretation des Incipits an, die den Blick nach unten etwas anders interpretiert, nicht als den Fall in Sünde, auf den der Beginn der Jenseitsreise folgt, sondern auf ein ‚Ins-Mensch-Sein‘ zurückfallen, nach kurzem Traum, den Hügel zu erklimmen. Er führt aus: „Ma ‚quando chinavi, a rovinar, le ciglia‘, ad un livello più profondo, significa anche: ‚nel momento in cui stavi abbassando le ciglia, cioè richiudendo gli occhi al sonno, per la tua

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Blicks, das dem Schließen der Augen beim Einschlafen gleicht, legt das nahe. Wie eine Rahmung schließt sich hier ein Kreis in der Verbindung von Incipit und Explicit: Der Sünder Dante, der im Schlaf vom rechten Wege abkommt, wird hier zum Seher. Um diese Annahme noch einmal zu untermauern, soll an dieser Stelle das Verb chinare näher betrachtet werden. Allein in zehn Nachweisen hat es das Komplement ‚Blick‘ (lo sguardo), ‚Kopf‘ (la testa) oder ‚Stirn‘ (la fronte) und mithin einen „valore fisico-spaziale“ mit einer affektiven Implikation der Ehrfurcht, Bescheidenheit, Reflexion oder der (seelischen) Verstörung (vgl. Enciclopedia Dantesca I: 970). Im siebten Gesang des Paradieses wird chinare in einer Variante – ähnlich wie in Canto XXXII, nur noch expliziter – mit dem Verb assonnare verschränkt. Dort heißt es, dass Dante allein schon beim Klang von Beatrices Namen „[s]i richinava come l’uom ch’assonna“ (Vers 15). Das Präfix „ri-“ verweist darauf, dass der Vorgang des Einschlafens oder ‚Schläfrig-Werdens‘ – auch wenn hier nur als Vergleich („com‘“) in Anschlag gebracht – nicht einmalig, sondern zum wiederholten Male stattfindet. An dieser Stelle erkennt und kommentiert Cerri (2011: 165) die eindeutige Rückbindung an das Incipit: „E la metafora del sonno / ignoranza è, nello stesso tempo, un richiamo al sonno che all’inizio della sua avventura lo aveva indotto nella selva oscura“. Kleinere ‚Rückfälle‘, retardierende Momente während des kathartischen Prozesses, kommen im Laufe der Reise immer wieder zur Darstellung. Auch an dieser Stelle (DC/Par. VII: 15) ist es die Unfähigkeit der Perzeption von etwas Göttlichen, die illustriert wird. Das Verb assonnare findet in der Commedia noch zwei Mal mit nur wenigen Versen Abstand Verwendung, innerhalb eines Vergleichs, den Dante zieht und dieses Mal steht es explizit in lexikalischer Nachbarschaft zum Einschlafen und aus dem Schlaf erwachen. Im Purgatorium heißt es im Canto XXXII (die numerische Parallele wird kein Zufall sein): S’io potessi ritrar come assonnaro li occhi spietati udendo di Siringa, li occhi a cui pur vegghiar costò sì caro; come pintor che con essempro pinga, disegnerei com’io m’addormentai; ma qual vuol sia che l’assonnar ben finga. Però trascorro a quando mi svegliai, e dico ch’un splendor mi squarciò ‘l vel del sonno, e un chiamar: „Surgi: che fai? “ (DC/Purg. XXXII: 64ff.)

rovina‘. Cioè, ‚Stavi per tornare completamente alla vita-sonno, dopo il breve sogno di ascendere il colle, verso la luce‘“. Tavoni (2009: 71f.), der in seiner grundlegenden Interpretation der Passage den Auslegungen Chiavacci Leonardis folgt, fügt mit Blick auf den Kurzschluss zum Incipit der Commedia an, dass für eine Korrelation der Zeit mit der visio in somniis spreche.

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Die zeitweise Blendung Dantes, die hier beschrieben ist, findet bereits zu Beginn des Canto statt. Klinkert (2018: 310) kommentiert das wie folgt: Im XXXII. Gesang wird Dante vorübergehend geblendet. Zunächst heißt es, dass seine Augen exklusiv auf Beatrice gerichtet seien mit dem Ziel, den lange schon bestehenden Durst nach ihr zu stillen. Dabei seien die anderen Sinnesorgane ausgeschaltet. Durch diesen Anblick jedoch, der mit einem Blick in die Sonne verglichen wird, wird Dantes Sehvermögen vorübergehend außer Kraft gesetzt.

Genau diese Unfähigkeit seitens des Protagonisten, das Göttliche – an dieser Stelle ist der Blick auf die sonnengleiche Beatrice gemeint – wahrzunehmen, also der Mangel an coscienza, wird gegen Ende des Canto XXXII des Paradieses endgültig ausgemerzt. Die Zeit entflieht, die dich schläfrig macht, also dich in Sünde befangen hält. Du bist geläutert. Der Schlaf der Sünde und der Seele, der Gottvergessenheit bedeutet – um mit Augustinus zu sprechen – kommt an sein Ende. Du kannst jetzt sehen, so die Aussage Bernhards, der im letzten Gesang seinen Schützling zum Blick nach oben auffordern will, eine Aktion, die bisher ohne fremdes Zutun nicht möglich war: Bernardo m’accennava, e sorridea, perch’io guardassi suso; ma io era già per me stesso tal qual ei volea: ché la mia vista, venendo sincera, e più e più intrava per lo raggio de l’alta luce che da sé è vera. (DC/Par. XXXIII: 49ff.).

An dieser Stelle jedoch emanzipiert sich Dantes Blick und findet seinen Weg selbstständig immer tiefer ins Licht („e più e più intrava“) und: Jetzt kann er es aushalten. Die erfolgreiche Katharsis befähigt ihn zur finalen Gottesschau, ein erneuter Verlust ist nur dann noch eine potentielle Gefahr für den Protagonisten, würde er den Blick erneut abwenden: „Io credo, per l’acume ch’io soffersi / del vivo raggio, ch’i‘ sarei smarrito, / se li occhi miei da lui fossero aversi.“ (DC/Par. XXXIII: 76). Nach dem ursprünglichen ‚Einschlafen‘, dem Durchlaufen von blinden Ohnmachtszuständen, läuternden Traumsequenzen und nach ‚oben‘ führenden ‚Visionen‘ schließt sich der Zyklus im Paradies, die Figur Dante kann den rahmenden metaphorischen Schlaf der Sünde hinter sich lassen und daraufhin seine Jenseitsreise beenden.

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Bibliographie Primärliteratur Alighieri, Dante (2008): La divina commedia. 4 Vl. Commento di Anna Maria Chiavacci Leonardi. 1. ed., 1. rist. Milano: Mondadori. Ovidius Naso, Publius (1994): Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hg. v. Michael von Albrecht: Stuttgart: Reclam. Vergilius Maro, Publius (2015): Aeneis. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Niklas Holzberg, mit einem Essay v. Markus Schauer. Berlin/Boston: De Gruyter.

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Virginie Leroux (EPHE, PSL)

Le songe pétrarquiste dans la poésie latine

Le modèle pétrarquien du songe a fait l’objet de nombreuses études et je ne saurais reprendre ici un dossier éminemment complexe qui doit prendre en compte l’arrière-plan théologique fourni par le débat qui oppose “ François ” et “ Augustin ” dans le Secretum sur la valeur du double fantasma de l’amour et de la gloire. La bipartition structurelle du Canzoniere autour de la mort de Laure met en relief l’exigence de la conversion morale. La critique a largement souligné ce qui oppose les références au songe de la première partie aux songes de la visitation onirique de Laure défunte dans la seconde (cfr. Pasquini 1985: 227–47; Cabaillot 1997: 13–42; Perrus 1997: 43–72; Bokdam 2012: 591–605). Par exemple, le sonnet 143 cantonne au songe le suprême plaisir d’une fixation érotique aliénante qui ne peut se dire au grand jour, tandis que les apparitions oniriques de la morte ouvrent la possibilité d’une expérience de l’erreur et de la frustration qui mène à la vérité. En conjuguant l’objectivité de la vision et la subjectivité du dialogue intérieur elles concilient littérarité et spiritualité. Comme l’ont montré notamment Stefano Carrai et Sylviane Bokdam, le statut nouveau de la poésie pétrarquienne chez les pétrarquistes modifie le sens d’un exemplum moral qui devient surtout modèle poétique et stylistique, fournissant des archétypes appelés à se régénérer (cf. Carrai 1990 et Bokdam 2012). C’est le réinvestissement de ces archétypes dans la poésie néo-latine que je vais analyser en me concentrant sur deux thématiques considérées comme pétrarquistes : d’abord les mutations du songe de plaisir amoureux qui s’est développé en rapport étroit avec le motif de l’éloge du sommeil dans les cercles de l’académie pontanienne, mais aussi chez les néoplatoniciens de Florence, et gagne au cours du XVIe siècle tous les centre de production lyrique d’Italie, puis de l’Europe ; ensuite, le fantasme érotique et, en particulier, l’apparition onirique de l’épouse défunte, une thématique éminemment pétrarquienne. Enfin j’étudierai la façon dont les poètes néo-latins exploitent le songe pétrarquiste pour penser et explorer l’enargeia poétique.

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1.

Virginie Leroux

Felix Endymion : le plaisir du songe

Dans le sonnet 237 du Canzoniere, Pétrarque rêve d’un sommeil éternel en compagnie de “ l’amant de la lune ”, en quelque bois verdoyant, où le jour et le soleil luiraient toujours dans l’onde : Deh or foss’io col vago de la luna Dornamentato in qua’ che verdi boschi Et questa ch’anzi vespro a me fa sera, Con essa et con Amor in quella piaggia Sola venisse a starsi ivi una notte; E ‘l di si stesse e ‘l sol sempre ne l’onde. (Pétrarque, Canzoniere, 237, v. 31–36)1

Consumé par les plaintes et les larmes, le poète convoque l’apaisement d’un sommeil éternel en compagnie de sa maîtresse, faisant d’Endymion le symbole d’une enviable félicité inaccessible dans le réel. C’est cette félicité que célèbrent après Pétrarque les poètes néo-latins en inversant la topique élégiaque qui déprécie le songe-mensonge. Tandis que Lygdamus congédie les “ apparitions vaines et mensongères ” (uani falsique uisus) et les songes qui “ dans la nuit trompeuse, se jouent de nous à la légère ” (Somnia fallaci ludunt temeraria nocte, Corpus Tibullianum, 3, 4, 3 et 7), Ovide écarte, en effet, dans l’élégie 2, 19 le sommeil paisible pour privilégier les obstacles qui alimentent le désir (cfr. Amours 2, 19, 53–58). et, dans l’élégie 2, 9, préfère au sommeil les querelles de sa maîtresse : Infelix, tota quicumque quiescere nocte Sustinet et somnos praemia magna vocat! Stulte, quid est somnus gelidae nisi mortis imago? Longa quiescendi tempora fata dabunt. (Amours 2, 9, 39–42)2

C’est ce passage que Politien détourne dans l’épigramme 109, en réinvestissant une affirmation de Théocrite qui déclare “ enviable ” le sommeil d’Endymion aimé d’une déesse :3

1 Sur la postérité de ce poème, voir notamment Gandolfo (1978: 43–75), Coleman (1980: 449– 458), Carrai (1990: 49), Agapiou (2005: 131–143), Bokdam (2012: 615–620) et Milburn (2014: 63– 65). 2 “ Infortuné celui qui peut reposer la nuit tout entière et qui appelle le sommeil un don précieux ! Insensé, qu’est-ce que le sommeil, sinon l’image de la froide mort ? Assez long est le repos que nous réserve le destin ”. (Ovide 1995: 54). 3 “ Qu’il est digne d’envie, celui qui dort sans retour, Endymion ” (ζαλωτός μὲν ἐμὶν ὁ τὸν ἄτροπον ὕπνον ᾿ιαύων. Ἐνδυμίων (Théocrite, Idylle 3, 49–50). En l’absence de précision contraire, les traductions sont les nôtres.

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In somnos O mihi quanta datis, fallaces, gaudia, Somni ! Invideo, Endymion, Latmia saxa tibi. Iam si nil sopor est gelidae nisi mortis imago, Omnia mors superat gaudia : vita vale. (Politien 1867 : 165)4

Le sommeil d’Endymion, qui devint proverbial dès le IVe siècle avant J.-C., s’est prêté à des interprétations allégoriques : il symbolise ainsi l’inconscience totale de la mort dans les Tusculanes où Cicéron vulgarise les arguments exposés par Platon dans l’Apologie (32 D) (cfr. Tusculanes 1, 92). Dans la Praelectio in priora Aristotelis analytica ou Lamia, Politien reprend à son compte l’assimilation entre plaisir illusoire et sommeil et, comme Cicéron, dans le De finibus, fait du songe le paradigme du faux plaisir de l’inconscience.5 Sicuti nec semper ebrius, nec semper esse puer, nec dormire semper, ad morem Endymionis eligat quispiam. Quanquam enim aliqua etiam in somniis gaudia sunt, falsa illa tamen, adumbrata, imaginaria, non uera, non solida, non expressa sunt gaudia. (Politien 2010 : 224)6

Avec humour, Politien se distingue de Cicéron et d’Ovide pour proclamer dans son épigramme érotique un vœu paradoxal, qui contredit l’affirmation énoncée dans Lamia. Ce faisant, il se distingue aussi d’une tradition qui associe Endymion à l’eschatologie7 et, à la différence de Cariteo, de Sannazar et de Gilles de Viterbe qui célèbrent une félicité céleste conçue comme un sommeil éternel, il ne confère 4 Epigramme citée par Windau (1998: 154). “ Sur les sommes. / Quelles grandes joies vous m’avez donné, Sommes trompeurs ! / Endymion, je t’envie les roches Latmiennes, / si le sommeil n’est rien d’autre qu’une image de la mort glacée, / la mort surpasse toutes les joies : vie, adieu ! ” 5 Itaque, ne si iucundissimis quidem nos somniis usuros putemus, Endymionis somnum nobis uelimus dari, idque si accidat, mortis instar putemus. “ Dussions-nous faire les songes les plus agréables, nous ne voudrions pas du sommeil d’Endymion et, s’il nous était imposé, ce serait pour nous quelque chose de semblable à la mort ” (De finibus 5, 20 ; Cicéron 1989: 143). Analysant la distinction entre la conception cyrénaïque du plaisir en mouvement et la conception épicurienne du plaisir en repos, André Laks (2007: 24 et 39) mentionne un passage de Diogène Laërce (2, 89) qui attribue à l’école d’Aristippe l’assimilation entre “ le plaisir en repos ” ou “ catastématique ” à l’état du dormeur : l’absence de souffrance est comme l’état de quelqu’un qui dort (ἐπεὶ ἡ ἀπονία οἱονεὶ καθεύδοντός ἐστι κατάστασις). 6 “ De même que personne ne choisirait d’être toujours ivre, toujours enfant, ou toujours endormi comme Endymion. Car quoiqu’il y ait certaines jouissances dans les songes, celles-ci sont fausses, en ombre, imaginaires ; ce ne sont pas des jouissances véritables, solides et nettement distinctes ” (traduction Bokdam 2012: 70, très légèrement modifiée). 7 L’interprétation allégorique selon laquelle Endymion serait l’âme humaine et son mythe une allégorie de l’attraction que la lune exerçait sur les âmes qui aspiraient à monter vers l’astre divin, apparaît chez Plutarque (Plutarque, Sur la face de la lune 943c-d) et Tertullien la rapporte aux Stoïciens (et Tertullien, De anima 44). La valeur eschatologique du mythe est, par ailleurs, attestée par l’existence d’une grande production de sarcophages ornés de représentations du mythe d’Endymion et de Séléné. Voir notamment Lochin (1990: 5, 1, col. 599–601 et 5, 2, 608–609).

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pas au sommeil d’Endymion une valeur métaphysique (voir Gandolfo 1978 : 52– 75 et Bokdam 2012 : 615–620). Le poète amoureux désire seulement pallier la déception de la réalité. Ce motif du sort enviable d’Endymion est notamment développé par Cristoforo Landino dans l’élégie 2, 11 de la Xandra et par Giovanni Pontano dans le poème 30 du premier livre des Hendécasyllabes, les deux poètes recourant au macarisme felix Endymion et dépeignant les étreintes sensuelles de la Lune (Xandra, 2, 11, 17–24, Landino 1939: 60 et Hendecasyllaborum liber primus, 30, Pontano 1948: 305–306). Adressant son poème à son ami Cariteo, qu’il invite à profiter de l’atmosphère sensuelle des bains, Pontano se moque vraisemblablement de l’amour trop platonique de ce dernier qui développe précisément le lien établi par Politien entre songe, désir et mort pour faire du sommeil une expérience théophanique : Sestina 1 Le tenebri de gli altri ad me fan luce, Pur che da gli occhi miei non fugga il sonno, Ne m’abbandone a l’apparir del sole Il fugitivo raggio de la Luna. Cosi si chiudan in eterna notte Questi miei lumi, e mai non vedan giorno. Non vide giorno mai più bella luce, Ch’io quella notte, che mi venne in sonno La luna ignuda ornata del suo sole. (Le Rime 1892 : 19)

Cette vision de la “ lune nue ornée de son propre soleil ”, aux accents néoplatoniciens et mystiques, figure la félicité céleste que la Lune donne à Endymion dans la Sextine 3 (Endimion, quella amorosa Luna, / adormentandoil tuo beato lume, / ti diè del ciel la più felice parte, v. 31–33) et associe la mise à nu et l’illumination de l’intellection à une expérience eschatologique du divin.8 C’est cette association que Pontano détourne pour illustrer le topos de la petite mort : Felix Endymion suopte somno: Non curae vigiles amoris illum Torquent, sollicitudo nec diurna, Non suspiria garrulive questus, Quem coelo dea dum petit relicto, Dum Latmon petit et suos amores, Titillat placido toro iacentem, Sopito illecebras facit iocosque, 8 Sur la signification du mythe d’Endymion chez Cariteo, voir Barbiellini (1999) et Bokdam (2014: 615–617). Après Agamben (1981: 132), Bokdam rappelle que dans le Canon d’Avicenne, l’acte d’intellection implique une “ parfaite dénudation ” (denudatio perfecta).

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Sopiti immoritur labris genisque, Parcit sed placidae tamen quieti. (Hendécasyllabes 1, 30, 16–25)9

A la différence de Cariteo, Pontano met l’accent sur le plaisir sensuel de la lune et sur une félicité charnelle. Or, dans un poème consacré à l’insomnie amoureuse, Landino, après avoir reproché au sommeil de lui envoyer en songe des visions de son rival, qui avivent son inquiétude et l’empêchent de dormir, évoque de même la félicité d’Endymion et les jeux érotiques de la déesse pour revendiquer cette fois le plaisir illusoire de songes trompeurs : Felix Endymion, viridi quem mollis in herba pressit et evinxit lumina fessa sopor. Ah quotiens illi gelida sub rupe iacenti incubuit tepido Cynthia pulchra sinu, Et modo formosis puerum complexa lacertis carpebat niveis oscula grata genis, et modo dissimili pingebat tempora flore puniceis nectens lilia cana rosis. His me, vel falsis, potuisses, perfide somne, – nam quoque falsa iuvant – ludere imaginibus. (Landino Xandra 2, 11, 17–26)10

Les saynettes érotiques préparent, en effet, l’évocation de songes semblables qui puissent conférer au rêveur le plaisir que sa maîtresse lui refuse.

Evidence et réalité du plaisir onirique Les poètes néo-latins cultivèrent la thématique du songe de plaisir en décrivant tous les aspects de la possession érotique. Andrea Navagero – dont Fracastor dans la Naugerius fait précisément le représentant d’une poétique pontanienne – invoque le Sommeil et célèbre les joies que celui-ci lui a apportées : 9 “ Heureux Endymion tout à son sommeil: / il ne connaît pas les tortures de l’amour, / ni les soucis qui tiennent en éveil, ni l’inquiétude diurne, / ni les soupirs, ni les plaintes bavardes, / lui que la déesse, lorsqu’elle quitte le ciel / pour gagner Latmos et ses amours, / titille alors qu’il repose paisiblement sur sa couche, / tandis qu’il dort, elle le caresse et le câline, / tandis qu’il dort elle se meurt sur ses lèvres, sur ses joues, / mais elle préserve cependant son tranquille repos ” (Pontano 1948: 305–306). 10 “ Heureux Endymion, qu’un doux somme a figé sur l’herbe verte, / venant à bout de ses yeux fatigués. / Ah que de fois, alors qu’il reposait sur la roche gelée, / la belle Cynthie le couva de son sein tiède ; / tantôt elle serrait le jeune homme dans ses jolis bras / et cueillait de délicieux baisers sur ses joues de neige ; / tantôt elle décorait ses tempes de fleurs variées, / tressant blancs lys et roses purpurines. / Tu aurais pu, perfide sommeil, te jouer de moi par ces illusoires / visions – car l’illusion aussi procure du plaisir ”.

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Facilem Neaeram praebuisti: quin mihi Mille obtulit sponte oscula, Oscula, quae Hymetti dulciora sint favis, Quae suaviora nectare.11

A la différence de Pétrarque et à l’instar de Pontano, Navagero insiste sur la sensualité du baiser et adopte la modalité du souhait pour affirmer au futur de l’indicatif la possession onirique de l’aimée, conférant ainsi plus de force à l’évidence du rêve : Si somnus iste me frequens reviserit, Tenebo te, invitam licet. (Andrea Navagero, Lusus 19, 19–20)12

Certains rêves sont très crus, voire obscènes. Ainsi, Pacifico Massimi insiste avec humour sur les conséquences matérielles de son rêve érotique : Vnde tepet lectus ? calet hac quod parte cubile ? Hic iacui. Alterius pars fuit illa thori. Lectulus hic ambos tenuit. Requeuimus ambo. Pressa sub amborum corpore signa manent. Quae uideo non sunt nostrae uestigia plantae. Est pede caelatus pes minor iste meo. Hic caput apposuit. Dextra haec manus : illa sinistra Hic utroque fuit nixa recurua genu. Linteaque officii uariauit gutta recentis. Sordida siccato culcitra facta loco est. Quid iaceo fessus ? latus hoc quod debile rupit ? Membraque quod lentus caetera langor habet ? Illa falax : quondam quam nullus uicit asellus : En iacet officio mentula functa suo. (Hecatonelegium, 4, 2, 1–34)13

11 “ Tu m’as offert une Néère d’humeur facile: / d’elle-même elle m’a donné mille petits baisers, / des baisers plus doux que le miel de l’Hymette, / plus suaves que du nectar ” (Andrea Navagero, Lusus 19, 9–12). 12 “ Si ce songe vient fréquemment me visiter, / je te possèderai, même malgré toi ”. 13 “ D’où vient que le lit est tiède ? Pourquoi ce côté est-il chaud ? / Ici j’étais couché, là il y a eu quelqu’un d’autre. / Dans ce petit lit, nous avons tenu tous deux, nous avons reposé tous deux: / les formes imprimées par nos deux corps sont encore là. / L’empreinte que je vois n’est pas celle de mon pied: / un pied plus petit que mon pied est dessiné là. / Ici elle a posé sa tête, là la main droite, là la gauche, / ici elle s’est penchée en avant, appuyée sur les deux genoux. / Les gouttes de nos récents travaux ont taché ici et là les draps: / le matelas est sali là où il a séché. / Pourquoi suis-je accablé de fatigue, pourquoi mes reins affaiblis sont-ils rompus ? / Pourquoi donc une langueur paresseuse occupe-t-elle le reste de mon corps ? / Et elle, si lubrique, dont jamais un âne n’a pu vaincre les exploits, / voici qu’elle gît inerte ma queue, après avoir rempli sa tâche ” (Massimi 1986: 159–161, le poème est cité par Galand 1989: 129).

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Massimi énumère des indices concrets de la présence de l’aimée et de la consommation sexuelle (empreintes des corps sur le lit, traces de sperme, fatigue et courbatures) afin de prouver que, pour le sujet qui les expérimente, les effets du plaisir onirique ne se distinguent pas de ceux de la sexualité réelle. Si la théorie médicale et philosophique de l’oneirôgmos a démontré que l’éjaculation du dormeur ne peut constituer une preuve de la réalité de l’acte amoureux (cfr. Pigeaud 1988: 137–46),14 Massimi renoue ici avec le songe de Byblis au livre IX des Métamorphoses ou avec le songe de Sappho dans la quinzième “ héroïde ” qui décrivent les effets organiques de l’oneirôgmos au féminin pour abolir la barrière qui sépare l’imaginaire de la réalité. De fait, le rêve érotique a la particularité d’associer une réalité physiologique à l’illusion des images.

La désillusion du réveil D’autres poètes insistent, au contraire, sur la désillusion du réveil, renouant avec une tradition qui trouve son origine dans les épigrammes de l’Anthologie grecque et particulièrement exploitée dans la lyrique médiévale et pétrarquiste, qui célèbrent la jouissance déceptive, procurée par le sommeil et cultivent le thème du songe-mensonge.15 C’est par exemple le cas d’Alessandro Braccesi, auteur d’un Canzoniere en italien d’inspiration pétrarquiste et d’un livre d’Amores en latin qui imite la Xandra de Landino. Dans une élégie latine, alors qu’un rival l’a séparé de son amante Flora, il souligne le contraste entre l’éclat de songes, plus brillants que le jour éclatant (somnia fulgenti lucidiora die, v. 36), et l’amertume du jour au réveil, fait de douleur et d’un long deuil (Alessandro Braccesi, Carmina 1, 28). Tout en exploitant l’intertexte de l’héroïde XV d’Ovide (vers 123–134) dans laquelle Sappho évoque ses songes “ plus radieux qu’une belle nuit ” (somnia formoso candidiora die) dont les images sont si vivantes qu’elle souffre de leur disparition au réveil, le poème cultive la topique pétrarquiste de l’inversion du jour et de la nuit puisque le jour qui est la cause de son mal est plus obscur que les noires ténèbres (lux infausta nimis, tenebris obscurior atris, v. 3). L’évocation de la sensualité des rêves est cependant bien plus précise que chez Pétrarque puisque le poète mentionne les baisers (quotiens basia nota damus, v. 33), les joutes amoureuses (O Veneris quotiens solitis luctamur in armis, v. 34) et l’union des corps dénudés (Iungimus et quotiens pectora nuda suis !, v. 35). Si l’élégie s’achève 14 Aristote, dans les Problèmes (X, 16–892a), explique que l’éjaculation nocturne est toujours jointe à l’imagination (meta phantasias) et Lucrèce décrit la façon dont “ les promesses d’un beau visage et d’un teint éclatant ” entraînent “ dans l’illusion d’avoir consommé l’acte ” l’épanchement de la semence masculine (De rerum natura, 4, 1030–1036). 15 Voir Méléagre (4, 125 et 127) et Anacréon (ode 8). Sur toute la tradition du songe-mensonge, voir Pigné (2005: 206–210).

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par un souhait, il est cette fois formulé à l’irréel du présent (O quam vellem) pour souligner le caractère inaccessible du bonheur d’Endymion : Est et amara dies postquam, causamque doloris Praebet et in luctu me facit esse diu, O ego quam vellem totis dormire diebus, Clauderet et longus lumina moesta sopor ! (Alessandro Braccesi, Carmina 1, 28, v. 38–41)16

Pic de la Mirandole évoque de même dans une élégie latine les “ vaines joies ” (inania gaudia) oniriques, en soulignant à l’instar de Landino le plaisir qu’elles procurent (haec tamen ex aliqua gaudia parte iuuant, Pic de la Mirandole, Carmina 4, v. 13).17 Il rapporte ainsi les caresses qu’il prodigue en rêve aux doigts et aux seins de l’aimée (et digitos tractare datur, tractare papillas, v. 24), la milita Amoris (conserere et molles rixas et bella videmur, v. 26) et la jouissance sexuelle dont la trivialité est soulignée par le détail du lit qui grince : Vltima (quis credat ?) persaepe ad gaudia ventum est, visus et est tremulus concrepuisse thorus. (Pic de la Mirandole, Carmina 4, v. 28–29)18

A la différence de Pacifico Massimi, Pic de la Mirandole ne cherche pas à prouver la réalité de l’union, mais l’intensité de la joie onirique. S’il insiste sur la puissance d’évidence du rêve c’est pour mieux stigmatiser le caractère illusoire des joies procurées par l’amour qu’il oppose à la réalité de la douleur qu’il engendre : Hei mihi quod cruciat non est quod somnia fingunt, quod iuvat, id vanum est cum tenebrisque fugit. (Pic de la Mirandole, Carmina 4, v. 48–49)19

Pic s’inscrit ainsi dans la thématique pétrarquienne des faux plaisirs, qui exprime l’infirmité de la condition humaine, mais s’inspire aussi de la représentation épicurienne du rêve, telle qu’elle est formulée par Lucrèce : les vers 20 et 21, et en particulier, l’usage du verbe ludere (etsi non potior, videor mea vota potiri, / dum fallax oculos ludit imago meos, Pic de la Mirandole, Carmina, 4, 20–21.)20 fait, en effet, écho non seulement à Virgile (cfr. Enéide, 1, 352) et Tibulle (cfr. élégie, 3, 4, 7) 16 “ Après la venue du jour amer, qui cause ma douleur et suscite en moi un long deuil, combien je voudrais dormir pendant toute la durée des jours et qu’un long somme ferme mes yeux affligés ”. 17 “ De somniis ei amicam referentibus ” (voir Landino Xandra 2, 11, 25–26). 18 “ Souvent (qui le croirait ?) nous avons atteint les plaisirs ultimes / Et j’ai cru entendre grincer le lit ébranlé ”. 19 “ Malheur à moi, ce qui me torture n’est pas forgé par les songes, / mais ce qui m’aide, est vain et s’enfuit avec les ténèbres ”. 20 Il imite lui-même la quatrième élégie de Maximianus, consacrée au même thème : et fallax studium ludit imago suum, (ibid. v. 46).

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mais aussi au vers fameux du De Rerum natura qui condamne l’amour comme simulacre : Sic in amore Venus simulacris ludit amantis (4, 1101). Ainsi, si Pétrarque constitue indéniablement un modèle pour les poètes néolatins, l’usage de la langue latine convoque un ancrage culturel et des formulations qui confèrent une tonalité spécifique au pétrarquisme néo-latin. Dans le cas du songe, l’érotisme néo-latin est indéniablement plus concret, plus cru et plus sensuel.

2.

L’obsession amoureuse

Dans le poème 2, 11 de Xandra précédemment évoqué, Landino évoque les songes qui le tourmentent en utilisant le terme insomnium (De insomnio, tristia … insomnia, v. 1). Dans la classification de Macrobe, l’insomnium – ou ἐνύπνιον – est l’une des deux catégories de rêve qui n’ont pas de caractère divinatoire ; il se produit “ quand une préoccupation oppressante d’origine psychique, physique ou extérieure s’offre au dormeur sous la forme dont elle l’obsédait, éveillé ” ; or parmi les cas de “ préoccupation d’origine psychique ” Macrobe cite l’exemple de l’amoureux qui “ rêve qu’il jouit de l’être aimé ou qu’il en est privé […] ”.21 Ce n’est donc pas au hasard que Conrad Celtis emploie de même le terme insomnium dans le poème III, 4 de ses Amorum libri pour caractériser les songes dans lesquels lui apparaît sa maîtresse Ursula, alors qu’il est loin d’elle : il précise qu’elle hante ses yeux, en particulier durant le sommeil où ses “ sens externes n’ont plus aucune vigueur ” et, comme Landino, il qualifie ses visions nocturnes de simulacra : Nunc tua me horrendis vexant simulacra figuris (Xandra¸ II, 11, 16) et Dum nos sub variis ludunt simulacra figuris (Amorum libri, III, 4, 37). Ce motif de l’hallucination amoureuse a été particulièrement développé par Pétrarque (cfr. Descoings 2010). Après la mort de Laure, il décrit l’omniprésence de l’image de la femme aimée, notamment dans ses rêves. La chanson 359 s’inscrit ainsi dans la lignée des élégies 4, 7 et 4, 11 de Properce dans lesquelles le poète élégiaque latin décrit l’apparition du fantôme de Cynthie et de Cornelia : le fantôme de Laure vient consoler le poète et lui annonce la félicité de la vie céleste. De même dans l’Epître métrique 1, 6, il évoque en latin les apparitions oniriques terrifiantes de Laure qui “ entre, en plein cœur de la nuit, dans [sa] chambre et réclame [son] esclave ” : Insequitur tamen illa iterum et, sua iura retentans, Nunc uigilantis adest oculis, nunc fronte minaci Instabilem uario ludit terrore soporem. 21 Macrobe, Commentaire au songe de Scipion, 1, 3, 4. Sur la tradition antique, voir notamment Pigeaud (1981 et 1983).

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Saepe etiam, mirum dictu, ter limine clauso Irrumpit thalamus media sub nocte, reposcens Mancipium secura suum ; michi membra gelari Et circumfusus subito concurrere sanguis Omnibus ex uenis tutandam cordis ad arcem. (Epître 1, 6, v. 126–133)22

Le poète s’éveille affolé et court par les monts et le bois “ épiant les alentours / pour voir si le fantôme qui [lui] ôte le sommeil / ne [l’]a pas prévenu ” (Epître 1, 6, v. 137–143, trad. P. Laurens 2004). Comme l’a montré Karine Descoings, l’inspiration de l’épître latine “ s’inscrit dans une toute autre veine ” que la poésie en langue vulgaire et doit être rapprochée du Secretum qui associe le rêve à la maladie morale et à l’erreur et dans lequel le personnage d’Augustin rappelle le danger de la contemplation des images terrestres pour les âmes : elles font obstacle à la santé morale et au salut du poète (Descoings 2010: 33–36). A la différence du rêve consolatoire de la chanson 359, le fantasme inquiétant de l’épître latine manifeste le danger d’une fascination qui détourne le poète de la contemplation de la vérité et du divin.

L’apparition onirique de l’épouse défunte dans l’œuvre de Giovanni Pontano Lorsqu’ils s’emparent de la topique des visites en rêves du “ fantôme ” de la femme aimée, les poètes néo-latins illustrent l’ambivalence exprimée dans l’œuvre de Pétrarque. Giovanni Pontano évoque à plusieurs reprises le fantôme d’Ariadna, son épouse disparue prématurément. Le Tumulus 2, 25 célèbre ainsi la présence de l’épouse qui vit dans le regard et dans le cœur de son époux et dont la vision vient hanter ses jours et ses nuits : Viva mihi ante oculos illa obversatur imago, 10 “ Vivante, ton image s’impose à mes yeux ”. On reconnaît la iunctura obuersatur imago, présente chez Lucrèce et dans l’épître métrique 1, 6 de Pétrarque. Lucrèce exploite la valeur du préfixe ob qui transforme le verbe obuersor en fréquentatif qui signifie alors “ se présenter sans cesse à, être opposé à ” (Ernout et Meillet 1967 : 726) pour stigmatiser la folie de l’amoureux, victime comme le rêveur, des illusions causées par les images, qui font obstacle à sa raison,23 et le philosophe 22 “ Elle me suit pourtant, pour recouvrer son bien, / surgissant tout à coup à mes yeux grands ouverts, / ou se jouant de moi terrible, dans mes songes, / souvent, qui le croirait ? forçant ma porte, elle entre, / en plein cœur de la nuit, dans ma chambre et réclame / son esclave ; je sens mes membres se glacer / et mon sang, accourant soudain de tout mon corps / se rassembler pour protéger l’arche du cœur ” (trad. P. Laurens 2004). 23 “ Nam si abest quod ames, praesto simulacra tamen sunt / illius, et nomen dulce obuersatur ad auris. ” (De rerum natura, 4, 1061–62) et “ Sed fugitare decet simulacra, et pabula amoris / absterrere sibi, atque alio conuertere mentem ” (De rerum natura, 4, 1063–1064).

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invite précisément ces malades à “ détourner ” (conuertere) leurs yeux intérieurs vers d’autres objets. Chez Pétrarque, l’expression figure de même dans un passage dans lequel le poète évoque le succès du voyage qui lui a permis de retrouver le sommeil et note que ses hallucinations sont moins fréquentes.24 Dans le tombeau de Pontano, au contraire, la permanence de l’image de l’épouse défunte prouve qu’elle vit en son époux qu’elle accompagne jour et nuit et constitue indéniablement une consolation pour les deux époux. C’est de même le plaisir de la présence de l’aimée, fût-elle seulement onirique, que célèbre l’ode 9 : Uxorem in somnis alloquitur Umbra sis felix mihi ; suntne veri, Uxor, amplexus ? Vigilantis anne cura te in somnis agit atque vana Ludis imago ? Umbra sed quamvis mihi cara, salve, Et mihi felix ades ; osculantem Osculans tete accipioque amansque am Plector amantem. Credit et virgo speculo ; ast imago Ludit indulgens speculi ; perinde Somnia et mentes capiunt amantque Somnia mentes. I, puer, nocti cane sacra, nocti Thura succendens. Per opaca noctis Umbra versatur, volat usa noctis Umbra favore ; Nox parit somnos, hominum quietem : Hi vocant imis animas Avernis, Morte contempta, et simulacra vivis Mortua iungunt. Vos, pii manes, memores senectae Vultimae iam, sacrifica ex acerra Munera haec, stacten capite, et sabaeae Mercis honores ; Dumque nos rursum elisio in recessu Iungat obstringens amor, haud gravare Et senis somnos, Ariadna, amatum et Visere lectum. (Lyra, 9, 1–11)25 24 “ Iam minor occursu minus imperiosa relicte / sensibus in nostris obuersabatur imago. ” (Epître 1, 6, 92–93). “ L’image de l’abandonnée apparaissait moins et elle était moins impérieuse lorsqu’elle se représentait à mes sens ”. 25 “ Ombre, puisses-tu m’apporter la félicité ; sont-ils vrais, / ma femme, ces embrassements. Ou tes soucis de la veille / te troublent-ils en des songes, et, vaine / image, tu te joues de moi ? / Mais bien que tu ne sois qu’une ombre, ma chérie, je te salue, / et ta présence me rend heureux ; tu

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Alors que dans la chanson 359 de Pétrarque, l’apparition onirique de Laure relève, pour reprendre la classification de Macrobe, du χρηματισμός ou oraculum, songe dans lequel un personnage d’autorité (parent, héros, prêtre ou dieu) annonce un événement ou délivre un avertissement véridique, Pontano inscrit son rêve dans la catégorie de l’insomnium, issu des préoccupations de la veille (vigilantis cura). On note la présence du miroir, particulièrement exploité par Ficin pour rendre compte de la phantasia érotique, en écho à l’exploitation par Platon de la métaphore spéculaire, mais aussi à Lucrèce dont la théorie des simulacres fournit une explication à la parenté entre l’image de l’aimée à l’état de veille, dans le sommeil ou renvoyée par un miroir (voir notamment De Rerum natura, 4, 35–43 et 750–64).26 Or, Pontano envisage aussi, en prenant modèle sur la représentation antique de l’Au-delà, une véritable visite en songe de l’ombre d’Ariane convoquée selon un rituel païen. Les Anciens conçoivent le mort comme une ombre (umbra) ou une copie (imago) du vivant qu’il a été. L’ombre n’est que le reflet, la forme sans consistance du corps privé de vie. Cette inconsistance du mort a suggéré à Homère une comparaison de l’âme “ à une ombre ou à un songe envolé ” (σκιῇ εἴκελον ἢ καὶ ὀνειρῳ, Odyssée, 11, 207). De même que l’âme conçue comme un souffle vital semble née de l’observation de la mort qui supprime la respiration, on pourrait supposer que celle de l’âme-fantôme est née du rêve au cours duquel nous apparaissent des images des morts, ce qui laisse supposer que les images subsistent quelque part. Au chant 2 de l’Enéide, le fantôme de Créuse (imago) s’adresse une dernière fois à son mari et disparaît, “ toute semblable à un songe qui vole ” (simillima somno, 2, 790–95). La parenté entre l’ombre d’un mort et l’image onirique est d’autant plus grande que les Anciens conçoivent souvent le rêve comme une réalité extérieure et qu’il se confond généralement avec la visite d’un personnage onirique. Au chant 2 de l’Iliade, Zeus envoie ainsi Oneiros, le rêve personnifié, trouver Agamemnon. Au chant 11 des Métamorphoses, Morphée est l’héritier de la personnification homérique du rêve, mais au lieu de se prém’embrasses et je t’embrasse, / c’est ainsi que je retrouve et plein d’amour, j’embrasse / la femme que j’aime. / La jeune fille croit à l’image du miroir ; mais l’image / du miroir se joue d’elle, sans malice ; de même, / les songes s’emparent des esprits et les esprits / aiment les songes. / Va, enfant, chante pour la nuit les rites sacrés, pour la nuit / enflamme l’encens. Que l’ombre profite de l’opacité / de la nuit ; que l’ombre vole la faveur / de la nuit. / La nuit enfante les sommes, repos des hommes ; / ils appellent les âmes du plus profond de l’Averne, / au mépris de la mort, et ils unissent aux vivants les / simulacres défunts. / Vous, pieux Mânes, vous souvenant de l’ultime vieillesse, / prenez ces présents offerts en sacrifice sur l’autel (où on brûle l’encens), / prenez l’essence de myrrhe, et acceptez l’hommage / de l’encens d’Arabie. / Pourvu que de nouveau dans / l’amour nous lie et nous unisse, dans la retraite élyséenne / n’accable pas, Ariane, les sommes d’un vieillard et viens visiter / la couche aimée ”. (Pontano 1948 : 367). 26 Voir notamment pour Platon, Phèdre (255 d) et Alcibiade (133 a) et plus généralement sur la question, Vernant et Frontisi-Ducroux (1998) et Hadot (1976, 81–108) et sur Ficin, Kodera (1999).

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senter au dormeur en tant que messager des dieux, il adopte la forme du mari mort d’Alcyone, soulignant encore une fois la parenté entre l’ombre du mort et l’image apparue en rêve. C’est ainsi qu’il joue du double sens du mot umbram au 660 : Alcyone doit croire qu’il s’agit du fantôme de son époux, alors qu’il s’agit de l’image d’un rêve. Pontano exploite cette ambiguïté à propos de sa fille Lucia, mais pour exprimer la douleur accrue suscitée par la vision incertaine. Si dans l’ode 9, il envisage une double nature de l’apparition onirique de sa femme défunte – fantasme ou fantôme – lorsque, dans l’Uranie, il évoque l’image de sa fille défunte, il s’interdit tout espoir (voir Descoings 2010 : 38–39): Anne mihi ante oculos grata obuersatur imago, qua mihi te quondam, mea Lucia, qua mihi tete laeta oculis, blanda aspectu, pulcherrima cultu consueras offerre ? En aspicio ora decusque egregium formae et tot honestae frontis honores ? Laetantem amplexu excipio et patria oscula iungo ; affaris iam blanda senem, officiosa parentem ; excutiunt mihi iam lacrimas noua gaudia. Demens, ac demens pater infelixque parensque senexque, funde nouas lacrimas, ne te iam ludat imago et sensus memor et mentis spes credula uanae. Nil, heu, nil reliquum iam Lucia. Cessit in auras, uel somno similis, uel inani corporis umbrae ; aut iacet in parua tantum cinis abditus urna. (Pontano 1905, Urania, 5, 862–875)27

Le poète ne met pas en scène l’apparition onirique de sa fille, mais convoque la comparaison homérique de l’âme semblable à une ombre ou à un songe. Dans le Tumulus 2, 51, en revanche, il invite son ami Sturnus à venir chanter dans ses songes la nuit (v. 20–24). De même, dans l’Eridanus, 2, 32, il déplore que sa femme ne vienne plus le trouver dans ses songes28 parce qu’elle joue dans les champs Elysées avec leur petit garçon Lucio, mort prématurément lui aussi, et il supplie le fantôme de sa femme de revenir le soulager. 27 “ Est-ce bien, représentée devant mes yeux, ton image aimée / celle que jadis, ma Lucia chérie, celle qu’à moi, toi, oui toi, / les yeux rieurs, le minois tendre, la mise parfaite, / tu m’offrais à l’accoutumée ? Suis-je bien là à contempler tes traits, la parure / sans égale de ta beauté, et tout ce qui venait orner si honorablement ton front ? / Je t’accueille rieuse dans mes bras et te couvre de baisers paternels ; / voici que tu parles tendrement au vieillard, pleine de respect envers ton père ; / et voici que ces joies nouvelles chassent mes larmes. Mais insensé, / oui, père insensé, mais aussi parent et vieillard infortuné, / Verse de nouvelles larmes, pour que cessent les leurres tendus par son image, / la mémoire de tes sens et l’espoir crédule d’un esprit creux. / Rien, hélas, plus rien ne reste de Lucia, elle a disparu dans les souffles, / semblable à un songe, ou à l’ombre d’un corps sans substance, / ou simplement gît-elle, simple cendre ensevelie dans une petite urne ” (traduction Descoings 2010 : 38). 28 On retrouve le verbe obversabare à l’imparfait cette fois comme chez Pétrarque.

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Les apparitions de Gélonis dans les Naeniarum libri tres de Jean Salmon Macrin S’il n’a pas la valeur de médiation ontologique que lui confère Pétrarque dans la Chanson 359, le songe est pour Pontano un espace privilégié de remémoration et de consolation. Le poète français Salmon Macrin, valet de chambre et poète de François Ier, en revanche, se montre plus proche du modèle pétrarquien. Après le décès de son épouse Guillonne, qu’il appelle Gélonis, “ la souriante ”, emportée par une tuberculose pulmonaire à l’âge de quarante ans, il compose les Naeniarum libri tres dans lesquels il articule au motif élégiaque de l’absence de la bienaimée les questions de la vie après la mort et de la foi. Perrine Galand a montré que malgré le parallèle entre situation sentimentale et disposition spirituelle de l’amant qui fait songer à Pétrarque, Macrin se distingue de son modèle italien en ce que “ l’image de l’épouse aimante s’altère ” : le poète accuse son épouse de l’oublier (Galand 2005 : 20–22). Les trois songes du recueil s’inscrivent cependant dans la veine pétrarquienne et célèbrent la nature éthérée de la morte venue consoler son époux : De Gelonide Obtulit ecce mihi his eadem nocte videndam Se notisque uxor fulsit imaginibus. O quae colloquia et quas protulit enthea voces ! Naturam visa est ut sapere aetheream ! Non hominem sonuit vox illius, aut Dea certe Aut Geniis superis assimilanda fuit. (Macrin 1550, livre 3 : 91–92)29

Nulle sensualité ici et Macrin est plus proche de Pétrarque que de Pontano. Le contenu des propos de Gélonis n’est pas précisé, mais ils sont vraisemblablement de même nature que ceux de Laure et sont de même inspirés par la divinité. Les paroles consolatoires de l’épouse sont, en revanche, résumés dans un second poème : De Gelonide Candidior nivibus Titane micantior ipso In somnis nuper visa Geloni mihi est. Pollice mananteis lachrymasque abstergere molli, Atque animo posthac esse iubere bono. Admissam referens alto te vivere Olympo, Cum magnis agere ac ocia coelicolis. 29 “ Voici que deux fois en une même nuit s’est présentée à ma vue, éclatante, mon épouse en ses images accoutumées. O quels colloques, quelles paroles elle a proférées, inspirée ! Comme il semblait qu’elle jouissait d’une nature éthérée. Sa voix ne sonnait pas comme celle d’une mortelle : assurément, c’était une déesse, ou elle méritait d’être comparée aux génies d’en haut ” (traduction Bokdam 2012 : 651).

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Haec tristes adeo minuere insomnia curas, Vt grata huc venias sane pios umbra precer Et dulces natos viuo cum patre revisas Cui sine te valeant gaudia nulla dari. (Macrin 1550 : 93–94)30

Comme celle de Laure, l’apparition de Gelonis est une hiérophanie lumineuse. Le poète chrétien réinvestit les métaphores usuelles de la beauté éclatante de la bienaimée pour les rapporter à l’illumination céleste.

3.

Enargeia onirique et enargeia poétique

Le rêve constitue un modèle pour penser l’inspiration poétique et, plus généralement, la création littéraire. Au début de l’Actius de Pontano, Pardus évoque les oracles divins transmis en rêve qu’il explique, en invoquant Aristote, par la loi de sympathie et par une contagion (contagio) qui gagne nos esprits avec le mouvement des étoiles et du ciel. Il mentionne alors les théories naturelles du rêve qui rapportent les visions en rêve au désir, au souci et aux passions humaines et cite à l’appui Claudien.31 Puis il mentionne la théorie humorale du rêve et signale l’importance du moment, de l’état de l’air, de la saison. Si la plupart des rêves se produisent donc de façon naturelle, sans intervention de la sympathie céleste, certains d’entre eux sont inspirés par les dieux. Sur ce point convergent les traditions païenne et chrétienne. C’est alors que Pardus compare les rêves inspirés au furor des poètes. Dans son Traité sur les songes, en hommage à la faculté représentative, Synésius de Cyrène explique que le sommeil supprime provisoirement l’activité des sens et permet l’apparition du songe, produit de l’imagination. Grâce à cette vie imaginative, l’homme est en contact avec les dieux qui lui transmettent différents types de savoir et en particulier l’inspiration poétique (Traité des Songes, 4, 3).32 Marsile Ficin qui traduisit le traité mentionne le sommeil parmi les sept genres de vacances de l’âme (septem sunt uacandi genera) : le sommeil, l’évanouissement, l’humeur mélancolique, l’équilibre de la 30 “ Sur Gélonis. Plus éclatante que la neige, plus brillante que Titan lui-même, / Gélonis m’est apparue récemment dans mon sommeil. / De son tendre pouce, elle essuyait les larmes qui coulaient / et m’enjoignit le réconfort. Elle annonça qu’elle avait été reçue dans l’Olympe élevé / et qu’elle y vivait en compagnie des illustres habitants du ciel. / Ces songes diminuèrent mes tristes soucis / et je te prie, ombre bienfaisante, de venir ici et de revenir voir tes pieux et doux enfants, avec leur père qui est vivant mais pour qui, sans toi, aucune joie n’a de valeur ”. 31 Panégyrique sur le sixième consulat de l’empereur Honorius, préface (v. 1–10). 32 Dans la lettre 154, il affirme que son Traité sur les songes lui a été inspiré directement par Dieu : il aurait été écrit en une fin de nuit, à l’occasion d’une vision ; de même Aristide fait des visites du dieu Asclépios dans son sommeil la source de nombreuses expressions et pensées qui dépassent ses propres possibilités.

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complexion, la solitude, l’admiration et la chasteté (cfr. Théologie platonicienne, 13, 2, Ficin 1964: 214). De même, Pardus établit que la parenté entre le songe prophétique et le furor poétique provient surtout du fait que les dormeurs “ ne sont occupés d’aucun souci, d’aucune pensée ” et “ sont à tel point libérés des sens et en état de vacance qu’il ne paraît plus y avoir quoi que ce soit d’humain en eux ” (Pontano 1984 : 328–30). Il est difficile de faire le partage entre la topique littéraire et la croyance, cependant Pontano semble ici plus proche des théories néoplatoniciennes ficiniennes que de l’augustinisme de Pétrarque. Le rêve constitue aussi un modèle pour la création artistique, depuis les théories de la “ phantaisie ” aux liens établis par Freud entre la création artistique et le rêve diurne (voir Dumora 2005). Comme l’a montré Perrine Galand, les théories esthétiques utilisent le modèle onirique comme paradigme de la représentation et pour penser l’illusion référentielle. C’est ainsi que l’adjectif enarges, qui caractérise chez Homère les apparitions divines en songe et qui évoque à la fois une blancheur brillante et le caractère immédiatement identifiable du personnage ainsi “ mis en lumière ”, devient, dès Théophraste, le qualificatif spécifique de l’art descriptif d’Homère, puis de toute forme de représentation particulièrement vivante, capable, comme un songe, de donner au lecteur l’illusion de voir des objets ou des êtres absents (voir Galand 1995 : 123–34). Horace associe aux songes les monstres hybrides conçus par la fantaisie débridée du poète ;33 au chant XI des Métamorphoses, Ovide fait de sa description de la maison du Sommeil et de la fabrication des Songes par Morphée une allégorie de la composition poétique et Quintilien approfondit le parallèle en rattachant au songe la production des émotions, comparant les visions des orateurs “ aux songes que nous faisons en veillant ” (somnia quaedam uigilantium, Quintilien, Institution oratoire 6, 2, 29–30). Or, cette théorie de l’enargeia onirique trouve une application particulièrement féconde dans les songes érotiques décrits par les poètes de la Renaissance. Dans le poème I, 7 de l’Eridanus, Pontano décrit ainsi ses efforts pour retrouver dans les astres l’image de sa femme absente ; or, cette quête est récompensée par un songe érotique : Tandem, ubi sidereis nox aduenit acta quadrigis Clarus et occiduo Vesper in orbe nitet Ora refert tua nunc mihi candida lucidus Hesper. In Veneris specto te recubare sinu ; Inque tuis oculis figo mea lumina et usque Admoueo collo brachia lenta tuo […]. Praeteritique memor mens fauet ipsa sibi 33 “ … cuius, uelut aegri somnia, uanae / Fingemur species, ut nec pes nec caput uni / Reddatur formae ” (Horace 1978 : 202 : Art poétique, 7–9).

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Mox sopor irrepit membris, sopor ultima praebet Gaudia teque meo collocat ipse sinu, Amplectorque tuis innexus et ipse lacertis : Sic nullum sine te tempus et hora mihi est. (Eridanus, 1, 7, “ Ad Stellam ”, Pontano 1948 : 388–389)34

Perrine Galand-Hallyn a souligné “ l’attitude active ” du poète qui élabore “ artificiellement un rêve dont l’intensité finit par se confondre avec celle du réel ”, en conciliant le souvenir de l’aimée avec les comparaisons usuelles de la beauté féminine avec les astres (cfr. Galand 1995 : 130–131). C’est ainsi que par une inversion du processus métaphorique, Pontano utilise les comparants habituels de la femme aimée et, en particulier, ceux que Pétrarque exploite – aurore, soleil, étoiles –, pour retrouver le comparé absent Stella, dont le nom même signale la reconstitution métaphorique. On peut de même relever dans les différents songes érotiques de nombreux termes qui renvoient à la création poétique. Landino dans le poème 2, 11 de la Xandra, précédemment mentionné, utilise ainsi le verbe fingo pour décrire l’activité de Somnus, qui “ représente ” son rival en train de se réjouir de ses échecs (Nunc illum nostra nimis exultare repulsa / Fingis et e lacrimis gaudia ferre meis, v. 8–9). Le poète flamand Jean Second exploite de même l’enargeia onirique pour nourrir une réflexion sur les capacités mimétiques de l’art et sur la spécificité du genre élégiaque. Le livre I de ses Elégies, consacré aux amours du poète avec une certaine Julie présente l’originalité par rapport aux recueils d’amours antiques ou néo-latins de restituer une chronologie cohérente, puisqu’il s’ouvre sur le vœu de chanter Vénus et Cupidon (élégie 1) pour s’achever par l’Adieu à Julie (élégie 11) rendu nécessaire par l’apparition d’un rival dans l’élégie 7 et par le mariage de Julie, déploré dans l’élégie 8. Dans l’élégie 10, le poète éconduit congédie la tristesse, les lamentations et le souci et célèbre son triomphe, en des termes empruntés à Tibulle et à Ovide ; grâce à Vénus, il possède de nouveau Julie, sans être gêné par des témoins : Iulia te teno, teneant sua gaudia divi, Te teneo, mea lux, lux mea, te teneo, Iulia te teneo, Superi teneatis olympum, Quid loquor ? An vere Iulia te teneo ? Dormione ? an vigilo ? vera haec ? a somnia sunt haec, 34 “ Enfin, quand la Nuit emportée par son quadrige étoile, / Quand le brillant Vesper rayonne à l’Occident, / C’est ton visage blanc que me renvoie l’étincelant Hesper, / Je te regarde t’allonger dans le sein de Vénus ; / Et dans tes yeux j’attache mes regards et lentement / J’approche de ton col mes bras, tout doucement … / Mon âme qui se souvient du passé s’abandonne à ellemême: / Bientôt le sommeil envahit mes membres, le sommeil me donne / Mes dernières joies et lui-même te place sur mon sein, / Et je t’embrasse, enlacé moi-même en tes bras: / Ainsi je ne connais nul moment, nulle heure sans toi ” (traduction Galand 1995 : 130).

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Somnia seu sunt, seu vera, fruamur age. Somnia si sunt haec, durent haec somnia longum, Nec vigilem faciat me, precor, ulla dies. (Elégie 10, 23–36)35

Second imite manifestement le lusus 19 de Navagero, précédemment cité. Faisant sienne la modalité optative cultivée par son modèle, il repousse indéfiniment le réveil. On songe à Ovide, qui, dans l’élégie 1, 13 des Amours, cherche à retarder l’Aurore pour jouir plus longtemps de sa maîtresse. Comme lui, Second fait le vœu d’un temps suspendu (tardaque productae tempora noctis), d’abord longtemps (longum), puis indéfiniment (ulla dies), cultivant une modalité onirique qui est celle des Héroïdes d’Ovide. Cependant, l’interrogation sur la réalité de la vision a probablement aussi une valeur métapoétique (voir Galand 1995 : 123–34). Ulrike Auhagen a ainsi souligné que de nombreux termes de l’élégie 1, 10 de Second avaient un double sens : c’est le cas de fingere (v. 14), mais aussi de lusus (v. 21–22) qui désigne fréquemment un poème érotique (cfr. Auhagen 2004 : 89–101). Ainsi, lorsque Second se demande s’il dort ou s’il veille, il évoque peut-être l’écriture du “ dormir-veille ”, à laquelle les théoriciens de la Renaissance associent l’imagination et la phantasia et une écriture proprement élégiaque du fantasme qui privilégie une modalité irréelle et renvoie à l’autonomie de la sphère poétique comme lieu d’expression de la subjectivité.36 C’est ce caractère onirique qu’exprime, selon nous, de manière symbolique, l’échec du poète à sculpter sa maîtresse raconté dans l’élégie 6. À la sculpture réelle de Julie se substitue une sculpture mentale qui est celle du fantasme et du songe. De même, dans l’élégie 1, 9, Second envisage de contrôler audacieusement (audax speculator, élégie 1, 9, 37) tous les bateaux et tous les chars arrivant à Malines pour voir apparaître sa maîtresse pour le cas où une heure quelconque [lui] rendrait [sa] belle “ transportée sur la roue de Vénus au doux son, / portée sur les flots cristallins par une conque polie / ou échappée du sein de rose de Cypris ” (Elégie 1, 9, 40–42). Cette focalisation du souvenir se nourrit peut-être des uestigia, des traces qui demeurent à Malines et on peut supposer qu’en mentionnant ces traces, Second songe à des simulacres que sa contemplation attentive lui permet de retrouver ; elle se nourrit probablement aussi des images de mémoire que constituent le char ou la conque de Vénus, particulièrement représentés dans la littérature et dans la peinture contemporaine et particulièrement aptes à faire surgir l’image de la 35 “ Ma Julie, je te tiens : que les dieux tiennent leurs plaisirs, / je te tiens, ma clarté, ma clarté, je te tiens, / ma Julie, je te tiens : tenez l’Olympe, dieux d’en haut. / Que dis-je ? Ma Julie, te tiens-je en vérité ? / Je dors ? Je veille ? est-ce réel ou bien est-ce un songe ? / Songe ou réalité, cédons à la jouissance ! / Si c’est un songe, que ce songe dure longtemps, / qu’aucun jour ne m’éveille, je vous en conjure, / […] ”. Sur ce poème, on consultera Auhagen (2004, 89–101) et Leroux (2008). 36 Nous devons beaucoup aux stimulantes analyses de Bokdam (2010).

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femme aimée, en vertu du procédé métonymique par lequel les femmes aimées sont appelées veneres (voir par exemple, Lucrèce, De Rerum Natura 4, 1185). Enfin, le char ou la conque de Vénus représentent peut-être l’imagination, véhicule ou char de l’âme, qui lui permet d’entrer en contact avec les réalités supraterrestres dont elle procède. De même, dans la dixième élégie du frère de Second, Marius, intitulée Cymba Amoris, la barque dont rêve le poète, symbolise, comme celle du Somnium de T. V. Strozzi dont Marius s’inspire probablement, la fantasia onirique (voir Second 1612 : 12–20).37 Tous les scénarios réflexifs du premier livre des Élégies mettent donc en place une représentation cohérente de l’écriture élégiaque, fondée sur l’obsession amoureuse dont le sommeil est une des modalités.38 Marc-Antoine Muret exploite de même cette problématique mais en une épigramme qui s’ouvre par l’interrogation qui clôt l’élégie de Second : Somnium. Euge, an te teneo, mea lux, an somnia demens Fingo mihi ? Certè, lux mea, te teneo. Somnia non haec sunt. Oculis nónne intuor hisce Flammeolósque oculos, purpureásque genas, 5 Lacteolásque manus, et eburnae frontis honorem, Colláque non tacta candidiora niue ? Dulcia collatis ineamus praelia signis, Dum tuta alternis lusibus hora datur. Me miserum ! nusquam es. Fallax me lusit imago. 10 O dolor ! ô animi gaudia vana mei ! Quid queror ? exacta si rem ratione putemus, Vmbra est in misero quicquid amore boni est.39 37 Marius rêve qu’il monte sur une barque où se trouvent deux belles jeunes femmes, une qu’il aime et qui ne l’aime pas et une qui l’aime et qu’il n’aime pas. Une tempête survient, provoquée par le poète qui affirme que les jeunes femmes sont plus belles que les Néréides. Il appelle à son secours Vénus et Cupidon qui lui répondent qu’il doit alléger la barque. Il se réveille en sueur au moment où il s’interroge sur la personne qu’il faut jeter à l’eau. On note que Marius attribue, pour sa part, sa vision au sommeil : “ Si sopor ille fuit, qui tam manifesta uidenda / Obtulit, in media qualia luce solent. ” (v. 19–20). “ Si c’est bien le Sommeil qui m’a présenté des visions si nettes, aussi claires qu’en plein jour ”. Le Somnium de T. V. Strozzi figure dans l’Eroticon 2, 8. Amour lui apparaît en songe pour lui enjoindre d’espérer ; le poète monte demême dans un bateau qui affronte une tempête, mais qui grâce à la protection d’Amour, qui en est le capitaine, réussit à rejoindre le port sans dommage. Sur ce poème et ses variantes, voir Mesdjian (1997 : 30–42). 38 A la Renaissance, des poètes et hommes de lettres, en particulier Tito Strozzi (1424–1505), Pietro Bembo (1470–1547) et Benedetto Varchi (1503–1565) figurent nus et endormi au revers de médailles les représentant. Ce motif iconographique fait référence au modèle platonique, mais aussi mélancolique, de l’inspiration divine et implique la présence d’un rêve inspirateur, lié à une nouvelle vision de la vie de l’esprit (voir Ruvoldt 2004 : 6–39). 39 “ Songe. Je te tiens, ma lumière, ou est-ce un songe que je forge / dans ma folie ? Oui, ma lumière, je te tiens. / Ce n’est pas un songe : mes yeux ne voient-ils pas / les flammes de tes

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A l’hésitation prolongée de Second entre rêve et réalité, Muret substitue une interprétation tranchée, affirmant d’abord la réalité de la vision, fondée sur l’évidence d’une enargeia qui convoque les topoi littéraires de la description de la femme aimée – l’image pétrarquiste des yeux-flammes ou les fameuses “ comparaisons blanches ” – ici le lait, l’ivoire et la neige – qui traduisent depuis l’Antiquité la beauté. Mais c’est pour mieux cultiver l’effet de surprise proper au genre épigrammatique. L’effet de réel est accentué par un encouragement aux luttes amoureuses, justifié par le carpe diem, mais par un brusque retournement, la vanité du songe est dénoncée et le poème s’achève par une sentence qui rappelle à la fois la définition célèbre de Pindare (σκιᾶς ὄναρ / ἄνθρωπος : “ l’homme est le songe d’une ombre ”) probablement médiatisée par un vers célèbre de Pétrarque (veramente siam noi polvere et ombra ”, Pétrarque, Canzoniere, 294, 12), la condamnation lucrétienne de l’amour comme simulacre (Sic in amore Venus simulacris ludit amantis, DNR, 4, 1101) et le premier poème du Canzoniere de Pétrarque qui fait du songe le paradigme des plaisirs terrestres : Ma ben veggio or si come al popol tutto favola fui gran tempo, onde sovente di me medesmo meto mi vergogno ; e del mio vannegiar vergogna è ’l frutto, e ’l pentersi, e ’l conoscer chiaramente che quanto piace al mondo è breve sogno. (Pétrarque, Canzoniere 1, 9–14)

En ne convoquant que des topoi littéraires pour décrire son amante, Muret interroge la spécificité de l’enargeia poétique dont il célèbre à la fois l’évidence et le caractère fictif. Pour conclure, on constate à la fois la vigueur de la tradition pétrarquiste et l’écart instauré par les poètes néo-latins envers la poésie de Pétrarque. Ceux-ci adaptent la topique du songe pétrarquiste à des enjeux génériques variés – modalité optative de l’élégie ou surprise de la désillusion dans l’épigramme – et substituent à la conversion spirituelle une poétique de l’enargeia onirique qui interroge la réalité du plaisir procuré en songe, la nature du fantasme amoureux et les spécificités de l’enargeia poétique. Les enjeux biographiques, philosophiques ou théologiques ne sont pas absents. Dans les poèmes de Macrin l’apparition onirique de l’épouse défunte décrite comme une visitation angélique vient yeux, la pourpre de tes joues, / tes mains de lait, la beauté de ton front d’ivoire, / ton cou plus éclatant que de la neige vierge ? / Lançons-nous à l’assaut et engageons les doux combats, / tant qu’à nos jeux communs une heure est garantie. / Hélas, tu n’es nulle part ; une fausse image m’a trompé. / O douleur ! O vaines joies de mon âme ! / Pourquoi me plaindre ? Un examen lucide le démontre : / dans l’amour malheureux, tout bonheur n’est qu’une ombre ”. (Muret 2009 : 148– 149).

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consoler le poète en lui délivrant un message d’espérance chrétienne, cependant il est souvent difficile d’évaluer la profondeur de ces enjeux. Si on prend l’exemple des songes de Pic de la Mirandole ou de Marc-Antoine Muret, la dénonciation de la vanité des plaisirs érotiques s’inscrit certes dans un contexte philosophique et théologique qui fait du songe un paradigme des plaisirs terrestres, mais s’agissant de Muret, la convocation de ce contexte résulte surtout de la volonté de conférer à la pointe de l’épigramme une forme proverbiale, conformément à un usage recommandé par Cicéron et par Quintilien. Les songes néo-latins témoignent ainsi de l’autonomisation de l’imagination poétique. Ils participent d’un foisonnement de poèmes qui illustrent les mêmes motifs et s’engendrent les uns les autres, exploitant les jeux de résonance d’une écriture topique et de subtils jeux de variation.

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Dietrich Scholler (Mainz)

Überlegungen zur Poetik des Traums in Bembos Rime

I In Texten mittelalterlicher Autoren dienen Träume häufig dazu, zwischen dem Diesseits und dem Jenseits zu vermitteln. Diese Vermittlungsfunktion des Traumes bleibt im Prinzip auch noch bei Petrarca intakt. In Petrarcas Canzoniere finden sich im letzten Teil zahlreiche Traumsonette, in denen sich der Sprecher in das Jenseits träumt, um mit dem Herrn – aber auch mit Laura – im Himmel Kontakt aufzunehmen. Diese Konstellation ändert sich in der Hochrenaissance. Im Windschatten Petrarcas entstehen Gedichtzyklen, in denen – wie in Pietro Bembos Rime – eine ethisch-religiöse Orientierung nicht mehr zwingend gegeben ist. Dementsprechend öffnet sich der Traum nicht nur für neue Vorstellungsinhalte, sondern er verliert zunehmend seine Vermittlerfunktion und rückt stattdessen selbst als ästhetisches Phänomen in den Mittelpunkt der Liebesdichtung. Diese Entwicklung soll im Folgenden – ausgehend von Petrarca – am Beispiel einer Traumgedichtserie aus Bembos Rime nachgezeichnet werden. Wie erwähnt kommt dem Traum in der Epoche Dantes die Funktion eines Mittlers zu. Seit die Institution Kirche ihre tradierten Vorbehalte gegen das Phänomen des Traums nicht mehr weiter pflegte, diente Letzterer als autorisiertes Medium zwischen Diesseits und Jenseits. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass der Traum im Zeitalter der Ähnlichkeiten eine ernstzunehmende Quelle des Wissens war. Göttliche Zeichen und Wunder konnten dank einer gebildeten Traumelite mittels Traumallegorese eindeutig dechiffriert und im Sinne einer ethisch-religiösen Orientierung in entsprechende Handlungsmaximen übersetzt werden. Eine sinnträchtige Quelle für Traumvisionen solcher Art stellt etwa Dantes Prosimetrum Vita nova dar. Das viermalige Traumbild der Beatrice kann dem binnenfiktionalen Sprecher, insbesondere aber dem Leser dank einschlägiger Zeichen den Weg weisen, insofern die Traumallegorien durch den Dreischritt Erzählung – Gedicht – Kommentar nicht nur vor Augen gerückt, sondern darüber hinaus auch ausgelegt werden. Die auf den ersten Blick verwirrenden Traumvisionen des Dante-Sprechers werden mittels Erzählung und Kommentar auf

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Dietrich Scholler

einen eindeutigen allegorisch-heilsgeschichtlichen Sinn festgelegt und weisen in der Summe eine in sich kohärente Zielspannung auf, die in der letzten Vision zum Herrn im Himmel führt.1 Es liegt auf der Hand, dass derartige analogistische Formen ethisch-religiöser oder kosmologischer Wissensschöpfung und -vermittlung in der Renaissance und zumal im aufkommenden Rationalismus nicht länger Geltung beanspruchen konnten.2 Im Gegenteil, der Episteme der Ähnlichkeit als einer veralteten Form des Wissens wird der Stempel des Traums oder Wahnsinns aufgeprägt. Der mit der Privilegierung des Wachbewusstseins einhergehende Prestigeverlust des Traums – so lautet meine These – ist aber zugleich ein Gewinn. Auf dem Feld der Epistemologie hat der Traum zwar spätestens im Seicento seine angestammte Bedeutung verloren, aber er kann dem aus der Wachsphäre vertriebenen Ähnlichkeitsdenken auf dem Feld der Ästhetik eine neue Heimstatt bieten. Schon vor Descartes zeichnet sich eine solche Perspektive in den Hofmannstraktaten italienischer Humanisten ab, zum Beispiel in Giovanni della Casas Erziehungsbuch Galateo overo De’ costumi aus dem Jahr 1558, das schnell weite Verbreitung fand und ähnlich wie der deutsche Knigge sprichwörtliche Berühmtheit erlangte: Male fanno ancora quelli che tratto tratto si pongon a recitare i sogni loro con tanta affezione e facendone sí gran maraviglia, ch’è uno isfinimento di cuore a sentirli […]. Non si dee adunque noiare altrui con si vile materia come i sogni sono, spezialmente sciocchi, come l’uom gli fa generalmente. (Della Casa 1990: 18)

Traumerzählungen sollen demnach nicht länger Gegenstand der höfischen Konversation sein, weil dabei in der Regel eine „vile materia“ zur Sprache kommt und weil sie zudem dem analogistischen Bereich angehören, der nun als sciocchezza gilt. Allerdings gibt es im Kontext dieser Generalabwertung des Traumes 1 Zur erzählten Allegorie in Dantes Vita Nova vgl. Hempfer (1982). Hempfer geht von dem nominalistischen Grundsatz nomina sunt consequentia rerum aus, das heißt, die Namen folgen aus den Sachen. Im Unterschied zur Auffassung der modernen Linguistik wird im mittelalterlichen Sprachdenken eine notwendige Beziehung zwischen Namen und Sachen postuliert, und genau in diesem Sinne erklärt Dantes Sprecher im XXIV. Kapitel der Vita nova den gemeinsamen Auftritt der beiden Damen Giovanna und Beatrice: Über die Lautähnlichkeit zu dem Apostel Johannes (Giovanni) erhält die Begleiterin Giovanna eine spirituelle Bedeutung. Wie der Apostel Johannes im typologischen Denken dem Gottessohn vorangeht, so schreitet Giovanna der Beatrice voran. Durch die Namensexegese wird also der allegorische Prozess expressis verbis thematisiert und damit auf indirekte Weise auch eingefordert. Vgl. auch den aktuellen Beitrag von Regn (2020) in diesem Band, der ebenfalls von einer grundlegenden allegorischen Struktur der Vita nova ausgeht. Dabei liest er das eröffnende Herzmäre christologisch und deutet Dantes Darstellung des verspeisten Herzens als christliche Sakralisierung der profanen Minnelyrik Damit macht sich der Dante-Sprecher letztlich zum Evangelisten der Beatrice. – Eine gekürzte Fassung des vorliegenden Beitrags habe ich an anderer Stelle auch in französischer Sprache veröffentlicht (vgl. Scholler 2019). 2 Zur epochalen Trennung zwischen Traum und Realität in der Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit vgl. grundlegend Niessen (1993).

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eine gewichtige und für unser Argument interessante Ausnahme: den Beispieltraum eines Humanisten namens Flaminio Tomarozzo, den Giovanni Della Casa als „scienziato e di acuto ingegno“ (ebd.) charakterisiert. Träume wie der des scharfsinnigen Tomarozzo hält er für zulässig, und sie können daher ruhigen Gewissens erzählt werden, weil sie sich „con molta diletattione e frutto“ (ebd.) vernehmen lassen, was daran liegt, dass sie dem „pensiero di ben“ gleichen und eben nicht wie die gewöhnlichen Träume „sanza forma e sanza sentimento“ (ebd.) sind. Giovanni della Casa hebt also die Formaspekte von Traumerzählungen hervor. Demzufolge unterliegt die angestammte Mittlerfunktion des Traums im 16. Jahrhundert einem grundlegenden Wandel, nämlich dergestalt, dass nunmehr der Traum selbst in den Mittelpunkt der literarischen Darstellung rückt. In Bembos Rime etwa richtet der lyrische Sprecher seine Rede direkt an den Traum, und zwar so, als wäre dieser ein vertrauter Gesprächspartner. In der Folge wird die im Traum vermittelte Botschaft an Bedeutung verlieren, während im Gegenzug die Form der Traumerzählung selbst ein stärkeres Gewicht erhält. Ich möchte diese Entwicklung im Folgenden am Beispiel einer Gruppe von Gedichten aus Bembos Gedichtsammlung Rime veranschaulichen. Da Bembo auf den ersten Blick als mehr oder weniger orthodoxer Nachahmer Francesco Petrarcas gilt, wird niemand erstaunt darüber sein, dass die im Folgenden ins Auge gefasste Gruppe von Traumgedichten schon aufgrund ihrer Triptychon-Struktur ein Echo zu Petrarcas Canzoniere bildet, nämlich zu jener Dreiergruppe, die in dem berühmten Sonett Nr. 34 kulminiert. Bei näherer Betrachtung wird man erkennen, dass die Sonette 32, 33 und 34 drei Geschichten enthalten, die sowohl semantisch als auch auf der Ebene des lyrischen Sekundärcodes miteinander verbunden sind und deshalb eine Einheit bilden.3

II In Sonett Nr. 32 präsentiert sich der lyrische Sprecher in der ersten Person als alter Mann, der am Ende seines Lebenswegs steht (RVF, 32, V. 1, „al giorno extremo“). Der Lebensabend des Sprechers wird als unerfreuliche Periode wahrgenommen, weil der Körper wie „frescha neve“ (V. 7) in Auflösung begriffen ist. Im darauffolgenden ersten Terzett nennt der Sprecher die Begleiterscheinungen dieses Prozesses: Der körperliche Verfall geht einher mit dem Verlust aller Hoffnungen. Der Strom des Lebens versiegt, weil grundlegende menschliche Eigenschaften wie das Lachen, das Weinen, die Furcht und der Zorn ihren Dienst einstellen. Das zweite Terzett wird mit dem konklusiven Konnektor „sì“ (V. 12) 3 Petrarcas Canzoniere wird im Folgenden unter der Sigle RVF nach der Santagata-Ausgabe (2001) zitiert.

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eingeleitet und enthält die Schlussfolgerung der zuvor angestellten Reflexionen. Dabei bemüht sich der Sprecher im Rahmen sentenzenhafter Belehrung das Publikum zu gewinnen, indem er zum Pluralis Majestatis übergeht (V. 12, „sì vedrem chiaro poi“). Durch diesen Akt der Autorisierung präsentiert er auch im Hinblick auf die Form eine allgemeingültige Wahrheit, die aus ethisch-religiöser Perspektive auf die Abwertung des irdischen Lebens abzielt, das durch „cose dubbiose“ (V. 13) gekennzeichnet ist. In anderen Worten: Der altersmüde Sprecher in Sonett Nr. 32 entwirft in Bezug auf das Leben im Diesseits ein Bild der Hoffnungslosigkeit, wenn nicht schon der meditatio mortis.4 Im anschließenden Sonett Nr. 33 dagegen erzählt uns der lyrische Sprecher eine ganz andere Geschichte. 33 01 02 03 04

Già fiammeggiava l’amorosa stella per l’orïente, e l’altra che Giunone suol far gelosa nel septentrïone rotava i raggi suoi lucente e bella;

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levata era a filar la vecchiarella, discinta e scalza, e desto avea ‘l carbone, e gli amanti pungea quella stagione che per usanza a lagrimar gli appella:

09 quando mia speme già condutta al verde 10 giunse nel cor, non per l’usata via 11 che ‘l sonno tenea chiusa, e ‘l dolor molle; 12 quanto cangiata, oimè, da quel di pria! 13 e parea dir: Perché tuo valor perde? 14 Veder quest’occhi ancor non ti si tolle.

4 Vgl. hierzu Hempfer (2007), der das Sonett in engen Zusammenhang mit der berühmten Canzone Nr. 264 stellt, in der das Thema der meditatio mortis mit Blick auf eine mögliche Umkehr beinahe tiradenhaft in der Form einer Selbstaussprache hin- und hergewendet wird, ohne dass der Sprecher zu einem Ergebnis käme, denn im letzten Vers heißt es frei nach Augustinus „et veggio ’l meglio, et al peggior m’appiglio.“ (RVF, 264, V. 136) Ganz zu Recht weist Hempfer darauf hin, dass der Gedanke an die Stunde des Todes in dieser frühen Lebensphase befremdlich erscheint, zumal Nr. 32 im Unterschied zu den Gedichten mit vergleichbarer Problematik (u. a. 1, 264, 361 bis 365) keine zyklusrelevante Gelenkstelle einnehme und man sich daher fragen müsse, „in quale modo questa dichiarazione, […], si collochi nel quadro sintagmatico dell’intera raccolta“ (ebd.: 100). Eine mögliche Antwort könnte darin bestehen, dass man das Sonett als Bestandteil eines mikrotextuellen Traumtriptychons identifiziert, in dem bereits die gesamte Problematik des Sprechers kurz dargestellt wird, nämlich der unlösbare Konflikt zwischen Laura- und Gottesliebe, zwischen Lorbeerkranz und memento mori und nicht zuletzt zwischen antiker und mittelalterlicher Kultur. Zu einem solchen Gesamtbild gehört die meditatio mortis. Dabei wird die komplexe Sprecherproblematik einer Intarsie gleich in der Kurzform des Traums erzählt (vgl. hierzu Scholler 2017).

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Am Anfang des Gedichts wird uns eine nächtliche Szene präsentiert. Dabei werden wir Zeugen eines außergewöhnlichen Schauspiels, das im Zeichen der Mythologie steht. Im Osten leuchtet Venus in Form der „amorosa stella“ (V. 1), begleitet von der schönen Kallisto, die in Vers 2 periphrastisch als „l’altra che Giunone suol far gelosa“ konzeptualisiert wird. Im zweiten Quartett dagegen werden wir mit einer vergleichsweise ‚realistischen‘ Welt konfrontiert. Dieses Mal verlagert sich das nächtliche Geschehen in eine häusliche Szene, in der ein barfüßiges altes Mütterchen auftritt, das in den frühen Morgenstunden im Begriff ist die verbliebene Glut des Feuers mit dem Schürhaken anzufachen. Bei näherer Betrachtung dienen beide Szenen dazu, das Terrain für eine Traumdarstellung zu bereiten. Denn im darauffolgenden ersten Terzett tritt der lyrische Sprecher als Schlafender auf. Mit Spuren von Tränen in den Augen erzählt er uns von einer Traumvision, die ihn mit neuer Hoffnung alias „Laura“ nährt, wenn in Vers 9 von „mia speme“ die Rede ist. Der Traum gipfelt schließlich in einer dramatischen Szene, als die Traumgestalt „Laura“ das Wort ergreift, um den Sprecher zu ermutigen. In Vers 14 ergeht folgende, modal kaum verhüllte Aufforderung an ihn: „Veder questi occhi ancor non ti si tolle“. Dabei nimmt das Verb „vedere“ gegenüber dem vorangehenden Sonett hier eine andere Bedeutung ein. Während vedere in Sonett Nr. 32 auf die Kognition im Sinne von ‚verstehen‘ oder ‚sich bewusst werden‘ abhebt, wenn nicht gar auf die Bereitschaft zur Einsicht im Angesicht der vita brevis, weist vedere in Sonett Nr. 33 eine perzeptive, wenn nicht sensuelle Konnotation auf und muss daher im Kontext einer im Wandel begriffenen curiositas verortet werden. Beide Bedeutungsfacetten von vedere werden dann im anschließenden Sonett Nr. 34 realisiert, das den Schlusspunkt der kleinen Gedichtserie bildet. Das Sonett Nr. 34 ist eines der berühmtesten Sonette des Canzoniere. Es erzählt die an Ovids Metamorphosen angelehnte Geschichte von Apoll und Daphne. In ihr spiegelt sich die Liebesgeschichte zwischen Sprecher und Laura. Zu Beginn des Sonetts wendet sich der Sprecher an Apoll, den er als sein anderes Ich betrachtet, zumal er als Musengott gilt, der an thessalischen Gestaden beheimatet ist. Der Sprecher erinnert den antiken Gott an eine Liebesgeschichte aus der Vergangenheit, ja, er fordert Apoll dazu auf das Bild der Nymphe Daphne wiederzubeleben. Dabei appelliert der Sprecher an die ‚meteorologische Kompetenz‘ des Wettergottes, von dem er sich eine Schönwetterperiode erbittet (V. 11, „l’aere disgombra“). Dem Literalsinn nach handelt es sich dabei um die ersehnte Ankunft des Frühlings nach einer langen Phase des „tempo aspro et rio“ (V. 5). Aber wie man weiß, enthält die meteorologische Konstellation auch eine allegorische Dimension, insofern die Ankunft des Frühlings für die Wiedergeburt der durch den Musengott repräsentierten antiken Kultur steht. Unter diesen

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Auspizien wird Petrarca in der Forschung zu Recht der Rang eines Diskursbegründers zugesprochen.5 Im Folgenden möchte ich die Aufmerksamkeit zum Ausgangspunkt zurücklenken. Nehmen wir noch einmal das Verb vedere auf. Ich meine, dass das Syntagma „sì vedrem poi“ in Vers 12 eine quasi wortgleiche und positionsidentische Antwort auf das entsprechende Syntagma in Sonett Nr. 32 ist,6 eine Wiederaufnahme, die das serielle petrarkisierende Spiel von Thema und Variation sprengt, weil die ursprünglich damit verknüpfte pessimistische Perspektive zugunsten einer optimistischen Sichtweise auf den Kopf gestellt wird. Bietet doch das dritte Gedicht der kleinen Serie einen überaus erfreulichen Anblick in Gestalt der doppelten „donna nostra sopra l’erba“ (V. 13), eine Art Doppelwesen an einem schönen Ort, das beide Betrachter zu erfreuen vermag. Aus ihrem Doppelcharakter kann man den Schluss ziehen, dass die anmutige Dame sowohl die antike Daphne als auch die moderne Laura und damit letztlich Petrarcas Traum von der Renaissance verkörpert. In anderen Worten: Der italienische Dichter Francesco Petrarca bedient sich auf der Schwelle des ausgehenden Mittelalters des onirischen Dispositivs, um allegorisch verschlüsselte Botschaften in Szene zu setzen. Letztere sind nicht immer vereinbar mit dem postulierten ethisch-religiösen Programm der mutatio vitae, das der Sprecher im Proömialsonett entworfen hat und im weiteren Verlauf der stilisierten autobiographischen Geschichte immer wieder aufs Neue beschwören wird. Vor diesem Hintergrund kann man festhalten, dass das Traumnarrativ bei Petrarca eine Lizenz für he5 Vgl. hierzu Regn (2006), der die These vom Diskursbegründer Petrarca in umfassender Weise entfaltet, nicht zuletzt am Beispiel des Sonetts 34, welches „den renovatio-Gedanken im poetischen Bild“ (ebd.: 25) auf beispielhafte Weise inszeniert. 6 Auf die Positionsidentität der beiden von vedere regierten Syntagmen hat bereits Hempfer (2007) hingewiesen, der von einem „stupefacente parallelismo“ (ebd.: 105) spricht. So gesehen bilden die beiden Sonette 32 und 34 die beiden Flügel des Triptychons und flankieren die zentrale Traumszene des Mittelteils, in der sich Laura in direkter Rede an den Sprecher wendet. Ganz entscheidend für die interne Kohärenz der Gedichtgruppe ist darüber hinaus das Lexem speranza im Verbund mit dem synonymen Ausdruck speme, das von Petrarca – ob bewusst oder unbewusst, das sei dahingestellt – jeweils in den Sprachfluss des neunten Verses eingespeist wird. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass speme im Mittelteil des Triptychons genau in die Versmitte gesetzt wird, während das Lexem in den Sonetten 32 und 34 am Versende steht. Nicht zuletzt entspricht die in der Sonettgruppe erzählte Geschichte dem typischen Erzählprogramm eines Triptychons. Ob man – wie Hempfer im Rekurs auf den Kommentar von Santagata – einen Erzählbogen von der kranken über die im Traum erscheinende und schließlich mit Hilfe Apolls wieder genesende Laura spannen möchte oder in dieser Geschichte darüber hinaus einen allegorischen Sinn erkennen mag – beide Erzählvarianten gehören zum Kernbestand zeitgenössischer Altardispositive. Sowohl die Narrative der Heilung (des Blinden, des Aussätzigen) als auch die der Wiedergeburt bzw. der Wiederauferstehung sind standardisierte heilsgeschichtliche Motive spätmittelalterlicher Flügelaltäre und werden in Petrarcas Gedichtgruppe durch Einbezug der heidnischen Götterwelt hybridisiert. Wir haben es also mit einem Fall von sakraler Intermedialität zu tun, mehr noch, mit einem neuen Forschungsfeld, das einer systematischen Exploration harrt.

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terotopische Szenerien bereitstellt, dabei aber keinen eigenständigen Themenschwerpunkt ausbildet.7

III Ich möchte zu Pietro Bembos Rime übergehen.8 Wenn man Petrarca als Diskursbegründer bezeichnen muss, dann kann Bembo im Gegenzug als dessen Übersetzer oder Kommentator gelten. Die Rime sind in Bezug auf die Thematik, auf die Anlage und sogar in Bezug auf die quantitative Verteilung der Gedichtformen ganz offensichtlich am Vorbild des Canzoniere orientiert.9 Wir wissen, dass Bembo den Canzoniere sowohl zum modello di lingua als auch zum modello di poesia erklärt hat. Besonders stark markiert ist der Petrarca-Bezug in den Einleitungs- und Schlussgedichten.10 So etwa imitiert Bembo im dritten Sonett seiner Rime den Vorgang des innamoramento, der beispielhaft in Petrarcas Sonett 2 erzählt wird. Wie bei Petrarca wird der Vorgang des Sichverliebens mit der klassisch gewordenen Verstrickungsmetapher konzeptualisiert. In Analogie zu Petrarca erscheint das Lexem legare dabei sogar positionsidentisch als letztes Wort des ersten Quartetts. Eine starke Parallele besteht darüber hinaus in der temporalen Schichtung der erzählten Welt, insofern in beiden Gedichten ein Sprecher vorgestellt wird, der auf einen weit in der Vergangenheit liegenden Vorgang zurückblickt, nämlich auf die schicksalhafte Herausforderung des innamoramento, gegen die sich beide Sprecher – eine weitere Parallele – seinerzeit gleichermaßen gewappnet wähnten. Es fügt sich in dieses Bild, wenn Bembos Sprecher bei seinen Abwehrversuchen nicht nur zu den Waffen, sondern darüber hinaus zu dem topischen, wenn nicht schon manierierten Mittel der Selbstvereisung greift, was – das wissen alle zeitgenössischen Petrarca-Leser/ innen – kaum Aussicht auf Erfolg haben dürfte. Ähnliche Übereinstimmungen ergeben sich bei dem Vergleich der Schlusssonette. Bembo kopiert die Gebetssituation aus Petrarcas Sonett 365, indem er eine asymmetrische Situation zwi7 Die beiden wichtigsten Funktionen der im Canzoniere verstreuten Traumgedichte bestehen darin, dass Träume eingedenk der vita brevis zum einen als negativierende Diesseitsmetaphern herangezogen werden und dass sie zum anderen als Mittler nicht nur auf das christlich organisierte Jenseits verweisen, sondern beginnend mit Petrarca darüber hinaus auch auf profane Heterotopien ausgerichtet sind (vgl. Scholler 2017). Die in der Apoll-Anrufung unter Hinweis auf Laura evozierte Wiedergeburt der Antike im Sinne der translatio studii ist womöglich noch um die translatio imperii zu ergänzen. Denn im bel corpo der Laura verkörpert sich nicht zuletzt der wohlgeformte Körper einer zukünftigen Italia, deren protonationale Gestalt Petrarca in seinen politischen Gedichten heraufbeschwört. 8 Sämtliche Zitate aus den Rime folgen der Dionisotti-Ausgabe (Bembo 1960). 9 Vgl. hierzu im Detail Zaiser (1996). 10 Zum Folgenden vgl. ausführlich Scholler (2020).

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schen dem sündhaften Sprecher auf der einen und dem Herrn im Himmel auf der anderen Seite konstruiert, wobei die dominanten Sprechakte in beiden Gedichten um die Vergebung der Sünden kreisen. Ein prägnanter Bezug ergibt sich im letzten Terzett, wo Petrarcas „quel poco di viver che m’avanza“ (V. 12) sich in „quel che m’avanza“ (V. 11) verwandelt und in beiden Fällen auf „speranza“ (Verse 14 und 13) reimt. Auch wenn sich im Hinblick auf den ‚Zerknirschungsgrad‘ der büßenden Sprecher ein großes Gefälle erkennen lässt, handelt es sich doch um einen Fall von stark markierter imitatio auctorum,11 was in der traditionellen Petrarkismusforschung in Bezug auf Bembos Rime zu dem Diktum vom ‚orthodoxen Petrarkismus‘ geführt hat, ein Verdikt, das jedoch im Lichte jüngerer Studien korrigiert werden muss.12 Gleichwohl kommt es nicht ganz von ungefähr, dass Bembos Rime ihrerseits eine Serie von onirischen Gedichten in Form eines Triptychons enthalten. Im Unterschied aber zu Petrarcas Triptychon ist der Traum in allen drei Sonetten auch auf der Ausdrucksebene präsent, und zwar an eminenter Stelle. Im ersten Sonett wendet sich der Sprecher unmittelbar an den Traum, im zweiten Sonett bezeichnet er ihn als „sogno gentile“ und am Ende des dritten Sonetts sorgt das Synonym „sonno“ (V. 12) als konklusiver Marker für das Ende der Traumerzählung. Beginnen wir mit dem Gedicht Nr. 88. 88 01 02 03 04

Sogno, che dolcemente m’hai furato a morte, e del mio mal posto in oblio, da qual porta del ciel cortese e pio scendesti a rallegrar un dolorato?

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Qual angel hai là su di me spirato, che sì movesti al gran bisogno mio? scampo a lo stato faticoso e rio, altro che ‘n te non ho lasso trovato.

09 Beato se, ch’altrui beato fai: 10 se non ch’usi troppo ale al dipartire, 11 e ‘n poca ora mi tôi quel, che mi dai.

11 Zur Skalierung zwischen unmarkierten und markierten intertexuellen Bezügen vgl. Helbig (1996). 12 In seinem immer noch grundlegenden Buch zur italienischen Lyrik schreibt Friedrich „Bembos eigene Lyrik bildet das perfekte Beispiel des orthodoxen Petrarkismus. […] Bembo muss den Canzoniere wie ein Nachschlagewerk benutzt haben.“ (Friedrich 1964: 318) Dagegen hat in jüngerer Zeit Oberto (2016) auf breitester Textbasis und mit vielen überzeugenden Argumenten demonstriert, dass Bembo keineswegs im Windschatten Petrarcas steht, sondern sowohl in Bezug auf die histoire als auch auf den discours eigene Wege geht, mit denen er das petrarkische Modell weiterentwickelt und übertriff.

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12 Almen ritorna, e già che ‘l camin sai, 13 fammi talor di quel piacer sentire, 14 che senza te non spero sentir mai.

Im Auftaktgedicht der Traumserie springt die Bedeutung des Traums unmittelbar ins Auge, weil der Sprecher den Traum sogleich als seinen Gesprächspartner benennt, als handele es sich um eine Person. Schon durch diesen konativen Akt wird klar, dass der Traum bei Bembo mehr ist als ein Medium, das den Kontakt mit anderen Figuren oder Welten ermöglicht. Ganz im Gegenteil wird der als solcher thematisierte Traum hier selbst zum Sujet des Gedichts. Es ist nicht länger der geträumte Kontakt zu einer anderen Person allein, der einen positiven Einfluss auf den Sprecher ausübt, sondern der Traum selbst ist imstande, derartige Effekte hervorzurufen, und zwar ganz unabhängig vom Inhalt der Traumerzählung. Im ersten Sonett wird der Traum rundum positiv dargestellt. Er bewahrt den Liebenden vor dem Gedanken an Elend und Tod („morte“, „mal“, V. 2), und zwar „dolcemente“, ein Attribut, das im Kontext des Petrarkismus eigentlich der Dame zusteht. So gesehen ist der Traum imstande Letztere zu ersetzen. Dabei verdankt sich die heilende Kraft des Traums im Wesentlichen der Tatsache, dass er den Träumenden das aktuelle Elend vergessen lässt (V. 2, „mio mal posto in oblio“). Das Syntagma ist offensichtlich eine wortgleiche Kontrafaktur zu Petrarcas Apoll-Apostrophe, in der eine konträre Strategie verfolgt wird. Während sich Petrarcas Sprecher mit Apoll verbrüdert, um mit einem Akt der Bewusstwerdung gegen das Vergessen anzukämpfen, dankt das lyrische Ich bei Bembo dem „sogno gentile“ für dessen betäubende Wirkung. Die Ausgangssituation der Traumerzählung ist also zunächst mit derjenigen in Petrarcas Sonett 32 vergleichbar, weil auch Bembos Sprecher im Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens von einer tiefen Schwermut ergriffen wird. Freilich lichtet sich der Horizont bereits im Auftaktgedicht. Im Folgenden fragt sich der Sprecher, woher der Traum komme. Ist er aus der Himmelspforte herausgetreten (V. 3, „porta del ciel“)? Das würde den Gebrauch anthropomorpher Attribute wie zum Beispiel „cortese“ und „pio“ (V. 3) erklären. Diese Aufwertung des Traums findet im zweiten Quartett ihre Fortsetzung. Denn der Traum wird als Engel konzeptualisiert, als eine Macht, welche die Schar der Engel befehligt, die darüber hinaus befähigt werden, den Bedürfnissen des Sprechers nachzukommen (V. 6, „al gran bisogno mio“), darunter das eminente Verlangen nach Flucht vor einer Realität, die als dysphorisch erfahren wird. Dabei weisen die evasiven Tendenzen gegenüber denen bei Petrarca einen signifikanten Unterschied auf. Bei Letzterem wird der verliebte Sprecher auf einer bilateralen Straße zum Ziel seiner Wünsche geführt,13 während bei Bembo von einer richtungslosen Flucht die Rede ist, wenn 13 Zum Bild der Straße als einem bilateralen heterotopischen Traumdispositiv in Petrarcas Canzoniere vgl. Scholler (2017).

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man die durch das Verb „scampare“ (V. 7) markierte Raummetapher in Rechnung stellt. Darüber hinaus räumt der Sprecher dem Phänomen des Traums eine exklusive Bedeutung bei, was sich darin äußert, dass Rettung allein von ihm zu erwarten sei. Es steht also zu vermuten, dass die bloße Tatsache des Träumens ausreichend für die Befriedung des aufgewühlten Subjekts sei, eine Vermutung, die im ersten Terzett bestätigt wird: „Beato se’, ch’altrui beato fai:“ (V. 9). Wir hatten bereits festgestellt, dass der Traum in Bembos Serie eine anthropomorphe Seite hat, weshalb er mit Eigenschaften wie „cortesia“ und „pietà“ ausgestattet ist. So gesehen ist es kaum überraschend, wenn der Traum an dieser Stelle darüber hinaus wie eine neue Beatrice auftritt, freilich ohne deren theologische Würde zu besitzen. Aber dennoch ist die Aufwertung des Traums unübersehbar. Sie erfolgt zu Lasten des weiblichen Protagonisten, weil die Eigenschaften der cortesia, der pietà und die der beatitudine von der Dame auf den Traum übertragen werden. Wenden wir uns dem Mittelteil des Triptychons zu. 89 01 02 03 04

Se ‘l viver men che pria m’è duro e vile, nè più d’Amor mi pento esser suggetto, nè son di duol, come io solea, ricetto; tutto questo è tuo don, sogno gentile.

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Madonna più che mai tranquilla umile, con tai parole e ‘n sì cortese affetto mi si mostrava, e tanto altro diletto, ch’asseguir no ‘l poria lingua nè stile.

09 – Perché – dicea, – la tua vita consume? 10 perché pur del signor nostro ti lagni? 11 Frena i lamenti omai, frena ‘l dolore. – 12 E più cose altre: quando il primo lume 13 Del giorno sparse i miei dolci guadagni, 14 Aperti gli occhi, e traviato il core.

In Sonett 89 hat sich die kommunikative Situation gegenüber dem vorangehenden Sonett nicht geändert. Der Sprecher bleibt auch weiterhin dem Traum so zugewandt, als wäre er eine Person mit menschlichen Eigenschaften, zum Beispiel, wenn es in Vers 4 heißt „tutto questo è tuo don, sogno gentile“. Erst im zweiten Quartett tritt die Dame auf. Die Art und Weise ihres Auftretens ist kaum überraschend, weil die von ihr verkörperten Eigenschaften wie „cortesia“ (V. 6) oder „diletto“ (V. 7) bereits antizipiert worden sind: Dank des Traums konnte sich der Sprecher im ersten Sonett der Traumserie bereits daran ergötzen. Gleichwohl wird die Bedeutung des Traums durch das Erscheinen der Dame noch einmal gesteigert, wenn behauptet wird, dass ihre charakterlichen und

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rhetorischen Eigenschaften und Fähigkeiten so außergewöhnlich seien, „ch’asseguir no ‘l poria lingua nè stile“ (V. 8). Bembo greift also zu dem rhetorischen Mittel des Unsagbarkeitstopos und liefert damit auf geschickte Weise einen Vorwand dafür, dass die Dame folgerichtig selbst sprechen muss. Folgerichtig ergreift sie wie bei Petrarca im Mittelteil des Triptychons das Wort; und wie bei Petrarca schlägt sie dabei einen herrischen Ton an: „Frena i lamenti“ (V. 11). Durch diesen Vorgang der Dramatisierung mittels direkter Rede rückt die Dame im Mittelteil des Triptychons auch deutlich erkennbar in den Mittelpunkt der Geschichte. Wie schon im Falle Petrarcas präformieren also die Strukturmuster einer spätmittelalterlichen Kunstform das Erzählprogramm der vorliegenden Mikrosequenz. Im Allgemeinen verweist der Mittelteil von Flügelaltären auf Heiliges, zumal er in verschließbaren Retabeln ursprünglich auch Reliquien enthielt, die man nur an religiösen Feiertagen zu Gesicht bekam. Ein häufiges Motiv für den Mittelteil war seit dem Spätmittelalter das der Mariä Verkündigung, auf den Seitenflügeln häufig eingerahmt von Heiligen, von Aposteln oder auch von Engeln mit der Funktion von Türwächtern: Was sich […] gezeigt hat, ist die unabhängig von Größen und Materialien zu beobachtende Funktionalisierung der Objektform [von Flügelaltären] zur Inszenierung und Beherbergung von Heiligem, sowie die strukturale Entsprechung zu (apokalyptischer) Epiphanie und Offenbarung, der man sich bereits früh bewusst war. Die Flügel bilden vom Betrachter aus gesehen die Türen zur Welt des Bildes und stehen bei öffentlichen Bildern nicht jedem zu jeder Zeit offen. Konsequenterweise können sich an sie Zeichen institutioneller Verfügungsgewalt heften. Mit der Verkündigung auf der Außenseite für den Offenbarungsgedanken und Petrus und Paulus als institutionellen ‚Türwächtern‘ sind uns bereit zwei klassische ikonographische Manifestationen historischen Medienbewusstseins begegnet. (Rimmele 2010: 41)

Unter diesen Auspizien erinnert der Mittelteil des lyrischen Triptychons an eine Verkündigungsszene. Während im Auftaktgedicht der narrative Schwerpunkt auf dem Engel als dem Boten des Trauminhalts liegt, wird das Gewicht im Mittelteil auf die Traumerscheinung der Donna verlegt. Die verkündete Botschaft wiederum ergeht vonseiten der Dame, und ihr Empfänger ist der haltlose Sprecher. Aber man wird den Eindruck nicht los, dass es sich dabei um eine reine Stilübung handelt, die dem Aptum des petrarkisierenden Kontexts geschuldet ist, umso mehr, als die Intervention der Dame nicht von Erfolg gekrönt wird. Ganz im Gegenteil, denn die im Traum erfahrenen „dolci guadagni“ (V. 13) lösen sich angesichts des anbrechenden Tages scheinbar in nichts auf. Während in Petrarcas Sonett 34 Lauras direktiver Sprechakt den Ausgangspunkt für die Beschwörung einer neuen Epoche bildet, bleiben die Worte von Bembos geträumter Madonna ohne Folgen. Aber bei genauerem Hinsehen entsteht durch die unbeschreibliche Erscheinung der Traumgestalt wider Erwarten ein kultureller Mehrwert. Zwar kündigt das Licht des anbrechenden Morgens keine Epochen-

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wende an, aber die zerstreuten „dolci guadagni“ (V. 13) kann man auch als Gewinn begreifen. Einerseits stehen sie für das Zerstieben der Trauminhalte, aber andererseits entstehen aus dem Entzug des geliebten Traumgebildes verstreute Verse („sparse“, V. 13), die das Geträumte in der Dichtung festhalten. Werfen wir abschließend einen Blick auf das letzte Sonett der Traumserie. 90 01 02 03 04

Giaceami stanco, ‘l fin de la mia vita venia, nè potea molto esser lontano, quando pietosa, in atto onesto e piano Madonna apparve a l’alma, e diemmi aita.

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Non fu sì cara voce unquanco udita, nè tocca, dicev’io, sì bella mano, quant’or da me; nè per sostegno umano tanta dolcezza in cor grave sentita.

09 E già negli occhi miei feriva il giorno 10 nemico degli amanti, e la mia speme 11 parea qual Sol velarsi che s’adombre. 12 Gìosene appresso il sonno: ed ella inseme 13 co’ miei diletti, e con la notte intorno, 14 quasi nebbia sparì che ‘l vento sgombre.

Auf der Ebene der Chronologie wird eine beträchtliche Spanne zwischen den Sonetten 89 und 90 überflogen. Daher auch der bereits vermerkte diskontinuierliche Charakter. Mit einem gewaltigen Zeitsprung verlässt der Sprecher den jugendlichen Liebenden, um sich seinem alternden Stellvertreter-Ich zuzuwenden, dessen Leben sich zu Ende neigt. Das kann aber nicht verhindern, dass dem Sprecher auf seine alten Tage die Dame seiner Träume erscheint. Dabei ist Letztere im Unterschied zum Sprecher gänzlich unverändert. Sie ist barmherzig, ehrwürdig und sanft. Das Timbre ihrer Stimme ist einzigartig und das Berühren ihrer Hand löst unbeschreibliche Gefühle aus. Folglich wäre die Dame nach dem Modell der Laura für eine allegorische Indienstnahme prädestiniert. Zur Erinnerung sei gesagt, dass Laura im letzten Gedicht in Petrarcas Traumserie als Verkörperung der Renaissance auftritt. Aber bei Bembo entwickelt sich der Plot in eine ganz andere Richtung. Gewiss, Bembo greift die Szenerie des schlechten Wetters auf, jenen „tempo aspro et rio“, den wir im Apoll-Gedicht Nr. 34 des Canzoniere antreffen. Aber während der Leser bei Petrarca darauf hoffen kann, dass die Schlechtwetterfront vorbeizieht, um dem heiteren Licht der Renaissance in Gestalt Lauras zu weichen, zieht sich Bembos Dame zurück, indem sie sich mit einem Schleier verhüllt, und zwar so, wie sich die Sonne im Nebel versteckt (V. 11: „parea qual Sol velarsi che s’adombre“). Auch hier handelt es sich m. E. um eine

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Kontrafaktur, ob sich Bembo ihrer nun bewusst war oder nicht. Wir konnten ja bereits feststellen, dass Petrarcas Beziehung zwischen Sprecher und Apoll sich bei Bembo in der Beziehung zwischen Sprecher und personifiziertem Traum spiegelt. Außerdem haben wir gesehen, dass es sich bei der Aufforderung an Apoll um einen energisch vorgetragenen, ernstgemeinten Appell handelt. Demgegenüber reduziert sich Bembos Anrufung auf ein abgetöntes „Almen ritorna“ (Nr. 88, V. 12), die allenfalls den Wunsch nach regelmäßiger Konversation enthält. Durch die Schwerpunktverlagerung auf die Routine des gepflegten Wechselgesprächs verlieren Dame und Traumbotschaft naturgemäß an Bedeutung. Dagegen wird der Traum selbst aufgewertet. Unter diesen neuen Voraussetzungen können die Sprechakte im Traum nicht mehr revolutionär im Sinne Lotmans sein, das heißt, sie sind nicht mehr imstande mittels Grenzüberschreitung ein Sujet zu konstituieren. Was allein zählt, das ist die regelmäßige variierende Konversation mit dem „sogno gentile“, der im Cinquecento einen Themenschwerpunkt eigenen Rechts ausbildet. Man könnte noch hinzufügen ‚gelehrte Konversation‘, wenn man die humanistischen Kontexte an den Höfen und in den Kommunen der italienischen Renaissance berücksichtigt; und für Bembo ist das Modell Petrarcas sicherlich ein angemessenes Sujet, was nicht zuletzt der Schleier seiner Dame signalisieren soll. Er dient zwar der Verhüllung, aber weil er durchsichtig ist, gibt er zumindest umrissartig den Blick auf Laura frei.

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Dietrich Scholler

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Susanne Goumegou (Tübingen)

Traum und Illusion im Orlando furioso

Seit jeher oszilliert der Traum zwischen Offenbarung und Täuschung. Schon Penelope verweist in der Odyssee auf die beiden Pforten des Traums: jene aus Horn, durch welche die wahren Träume zum Träumer gelangen, und jene aus Elfenbein, aus der die falschen Träume ihren Ausgang nehmen. In dieser Annahme eines doppelten Ursprungs der Träume reflektiert sich die menschliche Unsicherheit darüber, was von den Gebilden zu halten ist, die sich des Nachts dem Schläfer präsentieren. Die Frage nach der Wahrheit der Träume, die an die Annahme von eventuellen prophetischen Botschaften gebunden ist, stellt dabei freilich nur die eine Seite des Problems dar. Angesichts des Umstands, daß der Traum in der Lage ist, etwas vorzutäuschen, was nicht ist, drängen sich auch ontologische Fragen nach dem Status der Traumbilder auf, die mit Fragen der Erkenntnisfähigkeit des Menschen eng zusammenhängen. Dies schlägt sich vor allem in der philosophischen Reflexion nieder. So nimmt bereits Platon im Theaietetos den Traum als Beleg dafür, daß auf die Sinneswahrnehmung kein Verlaß ist. Umgekehrt hindert ihn dies nicht, in der Politeia unter bestimmten Voraussetzungen im Traum eine Schau der Wahrheit anzunehmen, nämlich dann, wenn der Träumer beim Einschlafen seine Begierden besänftigt und das Vernünftige in sich befördert hat.1 Eine solche Korrelation zwischen dem Wahrheitswert der Träume und ihrem Ursprung findet sich in vielen Traumtheorien. Die aristotelische Traumlehre, die im Anschluß an Vorstellungen der hippokratischen und der galenischen Medizin den Traum als Produkt physiologischer Vorgänge im Körper konzipiert bzw. als das Hervorholen von Sinneswahrnehmungen aus der imaginatio und dabei die Möglichkeit prophetischer

1 Wenn er nämlich „gesund mit sich selbst umgeht und besonnen und sich zum Schlaf begibt, nachdem er das Vernünftige in sich aufgeregt hat und mit schönen Reden und Untersuchungen bewirtet und zum Bewußtsein seiner selbst gekommen ist, […] so sich zur Ruhe begibt, weißt du wohl, daß er in solchem Zustande mit der Wahrheit vorzüglich Verkehr hat und dann am wenigsten ruchlose Gesichter in Träumen zum Vorschein kommen“ (Politeia, 571 d–572 a), Die Ausführungen zur Sinnestäuschung finden sich in Theaitetos (157e–158c).

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Träume weitgehend negiert, stellt hier eine Ausnahme dar.2 Die antike Traumdeutungskunst der Mantik hingegen setzt als Grundsatzunterscheidung die zwischen bedeutungslosen, weil im Körper erzeugten Träumen und solchen göttlichen Ursprungs an, die entweder eine unmittelbar verständliche Offenbarung enthalten oder aber gedeutet werden müssen.3 Das Christentum wiederum führt neben den nach biblischem Vorbild von Gott gesandten Träumen seit der Patristik die Möglichkeit ein, daß der Teufel oder Dämonen Einfluß auf die Träume nehmen, die dadurch zum Mittel der Täuschung werden.4 Dieser kurze Überblick soll genügen, um zu zeigen, daß das Problem der Unterscheidung von wahren und trügerischen Träumen in sehr unterschiedlichen diskursiven Ausformungen präsent ist. Dies gilt auch für die Renaissance, wo durch die PlatonRezeption Ficinos die Konzeption des Traums als Simulakrum ebenso ausgiebig diskutiert wird wie die Möglichkeit dämonischer Träume, nicht ohne daß gleichzeitig der Traum als Zugang zu göttlicher Wahrheit oder als prophetische Botschaft verstanden wird.5 Vor diesem Hintergrund sollen in der vorliegenden Studie die Träume in Ludovico Ariostos Orlando furioso (1532) analysiert werden.6 Die Ausgangshypothese ist dabei, daß es sich beim Orlando furioso um ein Werk handelt, in dem die Täuschungsanfälligkeit des Menschen eines der zentralen Themen darstellt.7 Paradigmatisch hierfür steht im Bereich der Wahrnehmungs- und Erkenntnistäuschung der palazzo incantato Atlantes, der in der deutschen Fassung meist als ‚Illusionspalast‘ bezeichnet wird und in dem durch die Magie Atlantes für jeden ein Trugbild dessen erzeugt wird, was er am meisten begehrt. Diese Sinnestäuschung wird dabei mit dem Begriff der „illusione“ (XXII, 32) belegt, der zeitgenössisch vor allem die Erzeugung einer Täuschung über das Einwirken von Dämonen auf die imaginatio bezeichnet.8 Ariost stellt so über die magische 2 In der Schrift De divinatione per somnum folgt Aristoteles zwar der Annahme Demokrits, daß aus den Objekten Abbilder und Emanationen hervorgehen, die zu der träumenden Seele gelangen könnten, wo sie Erscheinungen hervorbrächten, aufgrund deren die Zukunft vorhersehbar werde, er nimmt jedoch keinen übernatürlichen Ursprung dafür an. 3 Einführend zur antiken Mantik vgl. Manuwald (1994: 15–42). 4 Zum engen Zusammenhang von Traum und dämonischer Täuschung in der frühen Neuzeit vgl. Mac Carthy et al. (2016). 5 Einen Überblick über die Vielfalt des rinascimentalen Traumdiskurses mit Schwerpunkt auf Italien und Frankreich gibt Bokdam (2012). 6 Der Orlando furioso wird hier zitiert nach Ariosto (1982). Die Zitate werden im folgenden ausgewiesen durch Angabe von Gesang und Oktave im Fließtext. 7 Diese Interpretation wurde im Rahmen einer größeren Arbeit entwickelt (vgl. Goumegou 2014: 300–426). 8 „Ruggier riguarda Bradamante, et ella / riguarda lui con alta maraviglia, / che tanti dì l’abbia offuscato quella / illusion sì l’animo e le ciglia.“ (XXII, 32) Detaillierter zum Zusammenhang zwischen der Magie Atlantes und der als ‚illusione diabolica‘ konzipierten Wahrnehmungstäuschung vgl. Goumegou (2016).

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Täuschung das Problem der menschlichen Erkenntnisfähigkeit allegorisch dar und entfaltet zugleich ein ästhetisches Spiel mit Sein und Schein. Die folgenden Ausführungen sollen nun zeigen, daß in diesem Spiel mit der Täuschungsanfälligkeit des Menschen auch den Träumen eine zentrale Rolle zukommt. Trotz ihrer ins Auge fallenden Heterogenität – so die These – folgen sie im Orlando furioso alle einem einheitlichen Modell und stellen mit ihrer täuschenden Imitation der Wirklichkeit eine strukturelle Analogie zu den Trugbildern des palazzo incantato dar. Der Traum, dessen Entstehung sich im Orlando furioso bei genauerem Hinsehen immer aus den Wünschen und Ängsten der Träumenden ableiten läßt und der im zeitgenössischen Verständnis ebenso wie die dämonisch erzeugte Illusion durch eine Fehlleitung der imaginatio zu erklären ist, wird so bei Ariost zum Ort der Täuschung des Subjekts über sich selbst und seinen Zugang zur Welt. Zum besseren Verständnis der im Zusammenhang mit den einzelnen Träumen angeschnittenen Themen sei zunächst das Traumwissen um 1500 in groben Zügen skizziert. Anschließend soll am Beispiel der insgesamt fünf Träume die formulierte These belegt werden. Eine Analyse der Verwendung der Begriffe sogno und sognare im Orlando furioso außerhalb des Kontextes von Traumerzählungen wird dann abschließend deutlich machen, daß Ariost – bei aller Vielfältigkeit der damit verbundenen Vorstellungen – vor allem dann auf den Traum rekurriert, wenn es darum geht, Zweifel an der Sinneswahrnehmung zu artikulieren.

1.

Grundzüge des Traumwissens um 1500

Das Traumwissen um 1500 basiert im wesentlichen auf den wichtigsten Traditionssträngen aus Antike und Mittelalter.9 Stark verbreitet sind die biblischen Offenbarungsträume sowie die mit Gottes Hilfe vollbrachten biblischen Traumdeutungen, daneben aber auch das mantische Modell in der Form, in der es 9 Ein Überblick über die bis 1600 in Frankreich und Italien gedruckten Werke über den Traum zeigt, daß bis etwa 1550 nur antike und mittelalterliche Texte gedruckt wurden, eigenständige rinascimentale Werke zum Traum erscheinen erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (vgl. Cooper 1990). Zum Traumwissen um 1500 in Italien und Frankreich vgl. vor allem Bokdam (2012). Für den weiteren europäischen Kontext vgl. außerdem Gantet 2010 und Weber / Schmidt 2008. Spezieller zur Situation in Ferrara vgl. Longhi (1990), die den Traum Orlandos im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Traumkultur und der literarischen Tradition analysiert. Sie bezieht sich dabei auf die biblische Traumdeutung, den Traum im antiken Epos, den Kommentar des Macrobius zu Ciceros Somnium Scipionis, den Traum in der Chanson de Roland und im höfischen Roman sowie auf die zeitgenössischen Traumschlüssel, die auch am Hof von Ferrara zirkulierten. Zur Gattung der Traumschlüssel von der Antike bis ins 19. Jahrhundert vgl. Carroy / Lancel (2016).

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durch den spätantiken Kommentar des Macrobius zu Ciceros Somnium Scipionis vermittelt ist.10 In der Mantik werden bekanntlich Kategorien entwickelt, die festlegen, unter welchen Bedingungen ein Traum als direkt verständliche göttliche Botschaft, als wahrer, aber deutungsbedürftiger Traum oder aber als bedeutungsloser, da im Körper bzw. der Psyche erzeugter Traum zu interpretieren ist. Die Möglichkeit des trügerischen Traums ist dabei nicht explizit vorgesehen, sie ergibt sich höchstens implizit daraus, daß ein bedeutungsloser Traum, der nur die aktuellen Besorgnisse des Träumers widerspiegelt, als göttliche Botschaft für Zukünftiges fehlinterpretiert wird. Macrobius überträgt in seinem Kommentar, der im ganzen Mittelalter präsent ist und das Traumwissen noch über das Cinquecento hinaus prägt, die griechischen Begriffe ins Lateinische. Dabei werden drei Traumarten unterschieden, die Botschaften enthalten, sowie drei, die in der Psyche des Träumers erzeugt werden und daher ohne Interesse für eine Deutung sind. Während die visio und das oraculum aus sich selbst heraus verständlich sind, erfordert das rätselhafte somnium eine professionelle Deutung. Im Gegensatz dazu steht das insomnium, das aus den Beunruhigungen des Träumers beim Einschlafen entsteht – der Alptraum und das im Halbschlaf angesiedelte visum bleiben ebenfalls ohne Bedeutung für eine eventuelle Deutung (vgl. Macrobius 2001: Buch I, Kap. 3). An diese Terminologie angelehnt, ließe sich meine These zum Orlando furioso so formulieren, daß Ariost alle seine Träume mit Merkmalen des insomnium ausstattet, selbst dann, wenn sie offensichtlich auch auf das Muster der in der epischen Tradition so wichtigen prophetischen Träume rekurrieren oder im Rahmen der Handlung tatsächlich als solche fungieren. Im antiken Epos, zu dessen Grundinventar göttliche Offenbarungen im Traum gehören, sind, wie eingangs schon angedeutet, die Unterscheidungen ein wenig anders gelagert. Es geht nicht darum, ob die Träume eine Bedeutung haben, sondern darum, ob sie wahr oder trügerisch sind. Sowohl Homer im 19. Gesang der Odyssee als auch Vergil im 6. Gesang der Aeneis verweisen auf die schon zitierten zwei Pforten des Traums. Die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Träumen kennen später auch die christlichen Traumtheorien, in denen Dämonen für die falschen Träume verantwortlich sind. Torquato Tasso hat daher guten Grund, den Traum Goffredos in der Gerusalemme liberata (1581) ausdrücklich auf das Wirken Gottes zurückzuführen: Ma vigilando ne l’eterna luce sedeva al suo governo il Re del mondo, 10 Am umfassendsten überliefert ist dieses mantische Traumwissen im Traumbuch des Artemidor von Daldis, das in Italien allerdings erst ab 1539 wieder in einer lateinischen Übersetzung zugänglich ist (vgl. Weber 2008: 42). Auch Macrobius hat es wohl nicht gekannt, greift aber offensichtlich auf ähnliche Quellen zurück (vgl. Manuwald 1994: 25f.).

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e rivolgea dal Cielo al franco duce [Goffredo] lo sguardo favorevole e giocondo; quinci a lui ne inviava un sogno cheto perché gli rivelasse alto decreto (Tasso 1971: XIV, 2).

Dieser Traum prophezeit nicht nur die Rückkehr Rinaldos ins christliche Heer, sondern gibt einleitend, ganz in der Tradition des Somnium Scipionis, eine Initiation in die Geheimnisse des Himmels und der Sterne (XIV, 4). Über die für das unmittelbare Kriegsgeschehen relevante Ankündigung hinaus enthält der Traum also eine göttliche Offenbarung über das Jenseits. Ein solcher Traum kann der Tradition zufolge nur von bedeutenden Persönlichkeiten geträumt werden. Goffredo als christlicher Heerführer ist daher der richtige Adressat für den Traum; zugleich wertet es ihn auf, daß ihm ein solcher Traum gesandt wird. Dies kontrastiert stark mit Ariostos Verwendung des Traums im Orlando furioso. Von den Träumenden hat allenfalls Orlando einen vergleichbaren Status, wobei dessen Traum der erste Schritt in den Wahn ist. Bei Ariost kommt dem Traum daher eine ganz andere Rolle zu. Er konzipiert ihn, so wird zu zeigen sein, in erster Linie als Simulakrum und akzentuiert die daraus folgenden Täuschungen des Subjekts. Auch diese Fragestellung ist in der Renaissance-Philosophie präsent. Vor allem drei Problemfelder werden in diesem Kontext aufgeworfen: erstens die Frage nach dem Verhältnis der Traumbilder zur Imagination, zweitens die Unterscheidbarkeit von Traum und Nichttraum sowie drittens die Frage nach der Bedürfnisbefriedigung im Traum. Der Traum hat, wie oben schon angedeutet, in der Philosophie der Renaissance einen zwiespältigen Status, der nicht zuletzt mit der ambivalenten Bewertung der Imagination zusammenhängt, auf deren Wirkung der Traum zurückgeführt wird. So wird ihr einerseits – gerade im Neuplatonismus und im Anschluß an das vielgelesene Traktat des Synesius – die Fähigkeit zugesprochen, mit der Sphäre des Übernatürlichen zu kommunizieren. (Bokdam 2012: 134–145). Andererseits stellt sie auch das Haupteinfallstor für Dämonen dar, die sowohl im Wachzustand Augentäuschungen wie auch im Schlaf trügerische Träume erzeugen können.11 Die Problematik der grundsätzlichen Unterscheidbarkeit von Traum und Nichttraum, wie sie Platon bereits im Theaitetos aufwirft, wird auch in der Renaissance immer wieder als Problem der Erkenntnisfähigkeit des Menschen unter dem Aspekt der Infragestellung von Sinneswahrnehmung und Realitätssinn diskutiert. Prägnant inszeniert das gegen Ende des Quattrocento Antonio Manetti in seiner Version der Novella del grasso legnaiuolo: Für den Protagonisten Matteo ist es nicht mehr möglich zu wissen, ob das, was er erlebt hat, ein 11 Vgl. hierzu Clark (2007: 300–328, Kap. 9: „Dreams: The Epistemology of Sleep“), Maus de Rolley (2016) sowie Giglioni (2016).

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Traum war, oder ob er jetzt träumt: „[…] e ricordandosi delle cose successe, e dove s’era coricato la sera, e dove si trovava allora, entrò subito in una fantasia d’ambiguità, s’egli aveva sognato quello, o se sognava al presente“ (Manetti 1989: 26).12 Die Möglichkeit, daß es sich um einen Traum handeln könnte, erzeugt also Zweifel am Realitätsstatus des Wirklichen.13 In diesen Kontext gehört weiterhin der Mythos des schlafenden Endymion, der in der Renaissance vor allem in Hinblick auf wahre und falsche Lusterfüllung und die Hierarchisierung von illusorischem und wahrhaftem Glück diskutiert wird.14 Im Mythos wird der junge Schäfer Endymion auf Bitten Dianas von Jupiter in ewigen Schlaf versetzt. Auf diese Weise erhält er ewige Jugend und kann jede Nacht von Diana besucht werden. Während bei Cicero Endymion als Symbol für Selbstverlust, Müßiggang und rein körperliche Lust steht, diskutieren die Humanisten sein Schicksal widersprüchlicher. Poliziano feiert in einem Epigramm die falschen Freuden von Endymions Schlaf, und Viterba betrachtet diesen Schlaf sogar als eine Art Mysterium mit Zugang zum Göttlichen. Jenseits ethischer Fragestellungen zur Problematik von wahrer und falscher Lust bildet sich hier also eine Argumentation heraus, die den illusorischen Genuß im Schlaf über den des sich seiner selbst bewußt seienden und nach wahrer Erkenntnis strebenden Philosophen stellt. Die Unterscheidung von wahren und falschen Lustgefühlen führt schließlich drittens auf die Frage der Bedürfnisbefriedigung im Traum. Während im Fall von Träumen, die Hunger und Durst befriedigen, evident ist, daß sie nur eine illusorische Befriedigung herbeiführen können, ist diese Behauptung für den erotischen Traum nicht so leicht zu halten. Er wird daher zum bevorzugten Gegenstand der philosophischen Diskussion, ist aber auch ein beliebtes Motiv in der neulateinischen Lyrik (vgl. Bokdam 2012: 637–648). Alle diese Thematiken, so wird die folgende Analyse zeigen, gehen in Ariosts Behandlung des Traums im Orlando furioso ein.

12 Dieser Zweifel wird mehrfach wiederholt: „Ed era in grandissima confusione di nuovo s’egli era stato sogno o se sognava allotta“ (ebd. 27); „[…] e ridiceva fra sé medesimo: chi sa s’io m’ho sognato quello o s’io mi sogno testé?“ (ebd. 27); „E girandoglisi quella ambiguità di nuovo nella testa, s’egli era stato sogno o dadovero“ (ebd. 29). 13 Für eine ausführlichere Diskussion vgl. Goumegou (2014: 269–286). 14 Die folgenden Ausführungen beruhen auf Bokdam (2012: 65–72).

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2.

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Die Träume im Orlando furioso

Der Orlando furioso enthält nicht viele Träume, es sind insgesamt fünf an der Zahl, von denen die meisten recht kurz sind.15 Sie variieren beträchtlich, was ihren Inhalt und ihre Funktion für die Handlung angeht, und auch in Hinblick darauf, wie die Träumer und Träumerinnen sie rezipieren. So leitet Orlandos Traum vom Verlust der schönen Angelica im achten Gesang den Weg des edlen Ritters in den Wahnsinn ein. Ganz anders gelagert sind hingegen die Träume im letzten, eher episch ausgerichteten Teil des romanzo: Bradamante sieht im Traum des 33. Gesangs Ruggiero, der sie auffordert, nicht länger zu zweifeln, während Fiordiligi im 43. Gesang die Ankündigung vom Tod Brandimartes erhält. Beide Träume erfüllen damit die Funktion, die ihnen traditionellerweise im Epos zukommt. Das gilt jedoch nicht für den Traum Fiordispinas im 25. Gesang, der in den Bereich erotischer Träume fällt und in virtuosen Spiegelungen die Frage nach der Unterscheidbarkeit von Traum und Nichttraum durchspielt. Der im 18. Gesang nur in kürzester Form evozierte Traum des in der Handlung sonst nicht erwähnten Soldaten Grillo, der vom Trinken träumt, schließlich liegt kaum auf einer literaturwürdigen Ebene. Im folgenden soll nun dahingehend argumentiert werden, daß alle diese Träume mit Merkmalen ausgestattet sind, die sie in den Bereich des insomnium verweisen und daß sie Ariost dazu dienen, die Fehlbarkeit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit zu thematisieren – dies oft genug in einem virtuosen Spiel von Sein und Schein. Als eine Art Präludium sei zunächst der kürzeste Traum zitiert. Es ist der Traum des betrunkenen Soldaten Grillo, der neben einem geleerten Weinfaß einschläft und vom Trinken träumt. Der Traum selbst umfaßt nur drei Wörter, zur besseren Erfassung des Kontextes sei aber die ganze Oktave zitiert: Poi se ne vien [Cloridano, SG] dove col capo giace appoggiato al barile il miser Grillo: avealo vòto, e avea creduto in pace godersi un sonno placido e tranquillo. Troncògli il capo il Saracino audace: esce col sangue il vin per uno spillo, di che n’ha in corpo più d’una bigoncia; e di ber sogna, e Cloridan lo sconcia. (XVIII, 176)

Dieser Traum ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil ihm als Traum von den niedersten Begierden traditionellerweise kein Platz in der Literatur zukommen 15 Die eher spärliche Forschungsliteratur konzentriert sich vor allen auf den Traum Orlandos. Vgl. dazu die ausführliche Studie von Longhi (1990) sowie Boillet (2003), einzelne Aspekte auch bei Mac Carthy (2016). Allgemeiner zu Traum und Schlaf bei Ariost vgl. Rolfs (1976).

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würde. Ironischerweise klingt jedoch in den Worten „e di ber sogna“ eine Anspielung auf einen Dante-Vers an, der im Gegensatz zum einfachen Begehrenstraum des Trinkers die Tradition der prophetischen Wahrträume evoziert: „Quando presso al mattin del ver si sogna“ (Inf. 26, 7, Hervorhebung SG).16 Ariost ruft damit eine wesentlich umfassendere Traumkonzeption auf und ironisiert möglicherweise auch den Glauben an die morgendlichen Wahrträume. Grillos auf ein Minimum reduzierter Traum rückt durch zwei Charakteristika in die Nähe der elaborierteren Träume des Orlando furioso. Erstens handelt es sich um einen Traum, der direkt durch die Tätigkeit und den Gemütszustand vor dem Einschlafen bestimmt ist, hier das Trinken. Zweitens aber ist dieser Traum, wie fast alle anderen, an den Kontext einer Täuschung gebunden. Grillo hatte gedacht, ruhig schlafen zu können, täuscht sich jedoch in dieser Annahme und wird im Schlaf von Cloridano getötet. Dieser teuer bezahlte Irrtum enthebt ihn nun allerdings des Problems der Traumdeutung, das sich den anderen Träumern und Träumerinnen stellt. Ganz explizit adressiert wird die Frage nach der Botschaft des Traums in dem längsten und zugleich bekanntesten Traum des Orlando furioso, dem vier Stanzen umfassenden Traum Orlandos zu Beginn des achten Gesangs. Er ereignet sich im belagerten Paris und hat den Verlust Angelicas zum Inhalt. Orlandos Schlaf geht ganz unkriegerisch eine lange Liebesklage voraus. Der Traum selbst wird dann eingeleitet mit dem Wort parea, jener Formulierung des Scheins, die eines der häufigsten Verben im Orlando furioso darstellt und nicht zuletzt die Trugbilder im palazzo incantato einführt. Er beginnt an einem locus amoenus, an dem die petrarkistisch beschriebene Angelica weilt. Auf das vom Träumer dort empfundene größtmögliche Vergnügen eines glücklichen Liebhabers folgt allerdings ein Sturm, der Blumen und Pflanzen zerstört und ihn irrend zurückläßt. Auch hier dient wieder das Verb parea zur Kennzeichnung des Traums: „Parea che per trovar qualche coperto, / andasse errando invan per un deserto.“ (VIII, 81). Der Unglückliche, der die Geliebte in der Dunkelheit verloren hat, ruft verzweifelt nach ihr und hört schließlich auch ihren Hilferuf, ohne sie jedoch finden zu können: ode la donna sua che gli domanda, piangendo, aiuto, e se gli raccomanda. Onde par ch’esca il grido, va veloce, e quinci e quindi s’affatica assai. (VIII, 82–83)

16 Ich danke Christian Rivoletti für den Hinweis, daß es sich zudem bei „bigoncia“ und „sconcia“ um Reime aus der Commedia (Par 9, 53–55) handelt (vgl. Bigi 1982: 794).

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Die Situation entspricht ganz der späteren Suche im palazzo incantato, wenn die Stimme der vermeintlichen Angelica Orlando dort festhält.17 Im Traum verkündet ihm eine schreckliche Stimme, er möge nicht hoffen, sie je auf Erden wiederzusehen: „Non sperar più gioirne in terra mai.“ (VIII, 83). Ganz offensichtlich setzt der Traum die Gedanken fort, denen Orlando sich vor dem Einschlafen hingegeben hatte und wäre damit als insomnium zu lesen, das keine übernatürliche Botschaft enthalten kann. Die Traumbilder werden von der Erzählinstanz ausdrücklich als falsch bezeichnet und auf einen Ursprung in der Psyche des Träumers zurückgeführt: „Senza pensar che sian l’imagin false / quando per tema o per disio si sogna“ (VIII, 84). Orlando jedoch, der mit einem schrecklichen Schrei und tränenüberströmt erwacht,18 ist sich dessen nicht bewußt. Offenbar noch ganz unter der Wirkung des Affekts verläßt er das Lager Karls des Großen, um Angelica zu Hilfe zu kommen. Diese Reaktion stellt ein entscheidendes Moment im Umgang mit dem Traum dar. Das Vertrauen auf die falschen Bilder steht am Beginn der Verirrungen Orlandos, die ihn schließlich zu den Trugbildern des palazzo incantato und in den Wahn führen werden.19 Erst das Wiedereinflößen seines Verstandes, das übrigens als Erwachen aus einem Schlaf modelliert wird, wird diese Verirrungen beenden, die damit als eine Art langer Traum verstanden werden können. Silvia Longhi hat diesem Traum eine einläßliche Studie mit dem Titel Orlando insonniato (1990) gewidmet, in der sie ihn im Zusammenhang der zeitgenössischen Traumkultur und der literarischen Tradition kontextualisiert. Sie weist nach, daß Ariost die literarischen Modelle, die biblische Traumdeutung sowie den Kommentar des Macrobius gut kennt und arbeitet vor allem die literarische Funktion von Orlandos Traum heraus, d. h. wie er, obwohl als „falscher Traum“ gekennzeichnet, dennoch das kommende Geschehen präfiguriert. Unter Einbezug der intertextuellen Bezüge zu Boiardos Orlando innammorato sowie der intratextuellen Verweise innerhalb des Furioso spricht sie dem Traum insofern prophetische Bedeutung zu, als er folgende Elemente des weiteren Geschehens vorwegnehme: den Hilferuf Angelicas, den Orlando im palazzo incantato zu vernehmen meint, den locus amoenus, an dem er später die Liebesbotschaften von Angelica und Medoro vorfindet, sowie den Wahn, der ihn daraufhin überfällt und der des öfteren mit dem Begriff tempesta gekennzeichnet wird. Diese Bedeutung ergibt sich jedoch rein auf der literarischen Ebene, sie wird dem Traum nicht aufgrund seiner Funktion zugesprochen. Und die ‚Prophezeiungen‘ des 17 „e quel parlar divino / gli par udire, e par che miri il viso, / che l’ha, da quel che fu, tanto diviso. // Pargli Angelica udir“ (XII, 14–15). 18 „A questo orribil grido risvegliossi, / e tutto pien di lacrime trovossi“ (VIII, 83). 19 In ihrem Versuch, Orlandos Wahn im Lichte moderne psychiatrischer Definitionen zu lesen, interpretiert Ita Mac Carthy diesen Umstand als pathologische Unfähigkeit zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden (vgl. Mac Carthy 2016: 31).

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Traums, wenn man sie denn so nennen will, weisen auch nur auf jenen Teil des romanzo voraus, der Orlandos Verirrungen in den Trugbildern des palazzo incantato und seinen Wahn behandelt. Longhi unterstreicht mehrfach, daß Orlando sich mit dem Problem der Traumdeutung, das in der Literatur in der Regel mit dem Träumen einhergeht und das auch die Herangehensweise der kulturellen Bezugsmodelle markiert, kaum beschäftigt. Während üblicherweise, sowohl in der antiken Traumdeutungskunst wie auch in der Bibel oder der höfischen Literatur, der Traum vom Träumer erzählt und einer Auslegung unterzogen wird, unterbleibt dieser Schritt im Fall Orlandos. Er wäre also ein Träumer, der sich entgegen der hermeneutischen Tradition nicht der Notwendigkeit der Traumdeutung bewußt ist. Für diesen Umstand hat Longhi keine rechte Erklärung – vielleicht auch, weil sie sich nur mit der Tradition der Traumdeutung und der literarischen Funktion des Traums beschäftigt, nicht jedoch mit der philosophischen Diskussion über den Status der Traumbilder. Mir scheint dies jedoch der entscheidende Punkt zu sein: Ariost inszeniert Orlando hier als jemanden, der den Simulakren des Traums erliegt, ganz wie alle im palazzo incantato Gefangenen den magischen Trugbildern Atlantes zum Opfer fallen, was sich auf einer allegorischen Ebene als ein ‚Verfangensein‘ des Menschen in seinen eigenen Wünschen und seinem Begehren lesen läßt.20 Am deutlichsten werden die trügerische Macht der von Atlante erzeugten Bilder und die damit zusammenhängende Problematik der Sinnes- und Erkenntnistäuschung in einer Szene des 12. Gesangs ausgewiesen. Bradamante erblickt eine Gestalt, die Ruggieros Aussehen hat. Obwohl Melissa sie davor gewarnt hat, daß es sich um einen Zauber Atlantes handele, mißtraut sie angesichts der Übermacht des Augenscheins den Worten ihrer weisen Führerin: Seco dicea: – Non è Ruggier costui, che col cor sempre, et or con gli occhi veggio? e s’or non veggio e non conosco lui, che mai veder o mai conoscer deggio? Perché voglio io de la credenza altrui che la veduta mia guidichi peggio? che senza gli occhi ancor, sol per se stesso può il cor sentir se gli è lontano o appresso. (XIII, 77)

20 „A tutti par, l’incantator mirando, / mirar quel che per sé brama ciascuno“ (XIII, 50). Vgl. dazu auch die Charakterisierung des Orlando furioso als „poema delle illusioni umane“ (Padoan 1976: 10) und als Darstellung des „human dilemma of illusory vision and blind desire that is at the center of the Furioso“ (Ascoli 1987: 60).

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Diese Stelle ist zentral für die Erkenntnisproblematik im Orlando furioso. Drei Faktoren sind hier in das erkenntnistheoretische Problem involviert: die „credenza altrui“, die „veduta mia“ und das Fühlen des Herzens („per se stesso / può il cor sentir“). Bradamante verwirft die „credenza altrui“, d. h. die Ratschläge Melissas, und setzt auf die vermeintliche Unmittelbarkeit, die das Fühlen ihres Herzens und der Augenschein ihr bieten. Wenn sie den Geliebten, den sie immer im Herzen trage, mit ihren Augen nicht sehen und erkennen könne, was vermöge sie dann überhaupt zu sehen und zu erkennen: „che mai veder o mai conoscer deggio?“ Die fragliche Szene führt allerdings vor, daß die „veduta mia“ und das „sentir del cor“ in die Irre leiten. Bradamante verfällt dem „commune errore“ (XIII, 79), d. h. der vom Begehren (mit Sitz im Herzen) geleiteten Wahrnehmung, und wird selbst zur Gefangenen im palazzo incantato. Liest man dies als Darstellung einer anthropologischen Problematik, so führt Ariost vor, daß der Mensch sich vor allem von seinen Augen, die sich so leicht vom Schein täuschen lassen, und vom Herzen, das den Sitz des Begehrens darstellt, leiten läßt, dadurch aber in die Irre geleitet und von der Erkenntnis bzw. der Unterscheidung von Schein und Sein ferngehalten wird.21 Genau diese auf die Affektivität zurückzuführende Täuschung widerfährt Orlando also lange vor seiner Ankunft im Illusionspalast bereits im Zusammenhang mit seinem Traum, wenn er die aus Furcht oder Begehren entstandenen imagin false für die Wahrheit nimmt. Am Beispiel von Bradamantes Traum im 33. Gesang inszeniert Ariost eine umgekehrte Reaktion. Spiegelbildlich zu Orlando, der den trügerischen Traum für wahr nimmt, verkennt Bradamante die wahre Botschaft ihres Traums und interpretiert ihn fälschlicherweise als Trug. Die Position des Träumers / der Träumerin gegenüber dem Traum ist also in beiden Fällen von Unwissen über dessen Status gekennzeichnet. Dabei ist ihr Traum klar im prophetischen Kontext des Werks situiert. Er folgt auf das Betrachten der Gemälde in der Rocca di Tristano, welche die zukünftige Geschichte darstellen, d. h. auf eine Prophezeiung, die im Rahmen des Orlando furioso als wahr zu gelten hat. Bradamante hat allerdings immer wieder Mühe, daran zu glauben. Ihre Zweifel an dieser Prophezeiung sind umso stärker, als Ruggiero sich trotz mehrfacher Versprechen noch nicht hat taufen lassen und auch nicht zum vereinbarten Zeitpunkt zu ihr zurückgekehrt ist. Zudem hat sie eine (falsche) Nachricht erhalten, daß er Marfisa heiraten werde. Seit diesem Zeitpunkt ist Bradamante von gelosia, ira und rabbia geplagt. Insofern ähnelt ihre affektive Situation vor dem Einschlafen der von Orlando. Unruhig wälzt sie sich hin und

21 Tatsächlich bedarf es zur Befreiung der Ritter und zur Zerstörung des ‚palazzo incantato‘ einer Gegenmagie. Die Vernunft erweist sich als nicht mächtig genug.

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her,22 bevor sie schließlich kurz vor dem Morgengrauen – traditionell dem Zeitpunkt wahrer Träume – einschläft. Sie träumt, daß Ruggiero ihr erscheint, ihr seine Liebe versichert und verspricht, sich taufen zu lassen.23 Obwohl Bradamantes Traum sich leicht aus ihren Wünschen beim Einschlafen ableiten läßt, ist für den Leser, der die Umstände von Ruggieros Fernbleiben kennt, klar, daß es sich um ein wahres Traumgesicht handelt. Bradamante allerdings stellt nach dem Erwachen, ganz im Gegensatz zu Orlando, Reflexionen über den Status des Traums an, die sie dazu verleiten, diesen als falschen Traum zu interpretieren: „Fu quel che piacque, un falso sogno; e questo / che mi tormenta, ahi lassa! è un veggiar vero.“ (XXXIII, 62). Damit wird nicht nur über das implizite Petrarca-Zitat der Topos von der der Flüchtigkeit des Diesseits aufgerufen,24 sondern vor allem das Problem des falschen Traums evoziert, dem die schmerzhafte Realität gegenübergestellt wird. Konzentriert wird die Reflexion dann auf die Sinneswahrnehmung: Perch’or non ode e vede il senso desto quel ch’udire e veder parve al pensiero? A che condizione, occhi miei, sète, che chiusi il ben, e aperti il mal vedete? (XXXIII, 62)

Der Augensinn und der „pensiero“ werden hier ebenso antithetisch gegenübergestellt wie das Wahre und das Falsche sowie in der nächsten Strophe das damit verknüpfte Bittere und Süße.25 Wie bereits im palazzo incantato vertraut Bradamante auf den Augensinn, der ihr in wachem Zustand Ruggiero eben nicht zeigt und sich in diesem Fall wiederum als unzulänglich erweist. Allerdings liegt ihrer Fehleinschätzung auch der Glauben an die Aussage anderer zugrunde, Ruggiero wolle Marfisa heiraten. Auf die in diesem Fall unangebrachte „credenza altrui“ reagiert Ruggiero direkt zu Beginn des Traums mit dem Vorwurf, daß sie dem Unwahren Glauben schenke: „Perché ti consumi, / dando credenza a quel che non è vero?“ (XXXIII, 60). Vor dem Hintergrund, daß der Traum zumeist imagin false präsentiert und nur als scheinbares Sehen bezeichnet werden kann, potenziert diese geträumte Aussage nur die Schwierigkeit, sie als wahr zur erkennen. Indem der wahre Traum von Bradamante nicht als solcher erkannt, sondern als falscher denunziert wird, spielt Ariost offensichtlich mit diesen Widersprüchlichkeiten und stellt die Unmöglichkeit, den Status des Traums zu 22 „Già sendo tutti gli altri addormentati, / Bradamante a corcar si va da sezzo, / e si volta or su questo or su quel fianco, / né può dormir sul destro né sul manco“ (XXXIII, 59). 23 „E par che le suggiunga: – Io son venuto / per battezzarmi e far quanto ho promesso; / e s’io son stato tardi, m’ha tenuto / altra ferita, che d’amore, oppresso“ (XXXIII, 61). 24 „Che quanto piace al mondo è breve sogno“ (Rime I, 14). 25 „Il dolce sonno mi promise pace, / ma l’amaro veggiar mi torna in guerra: / il dolce sonno è ben stato fallace, / ma l’amaro veggiare, ohimè! non erra“ (XXXIII, 63).

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erkennen – gerade in der Gegenüberstellung von Orlando und Bradamante – aus. Darüber hinaus relativiert er damit aber auch die Möglichkeit eines verläßlichen Zugangs zur Welt über die Sinneswahrnehmung. Bradamantes Reflexionen enden in einer Hinwendung zum Traum und dem Wunsch, sich von der unschönen Wahrheit abzuwenden, die die mit dem Endymion-Mythos verbundene Thematik des Genusses aufrufen: Se ’l vero annoia, e il falso sì mi piace, non oda o vegga mai più vero in terra: se ’l dormir mi dà gaudio, e il veggiar guai, possa io dormir senza destarmi mai. (XXXIII, 63)

Bradamante gibt hier ganz offensichtlich der freudegewährenden Illusion den Vorzug vor der unliebsamen Wahrheit und plädiert damit ausdrücklich für das Falsche. Die Fortführung dieser Argumentation führt dann schließlich zur Artikulierung eines Todeswunsches, der den Topos des Schlafs als Tod aufnimmt und das Paradoxon auf die Spitze treibt: „ma s’a tal sonno morte s’assimiglia, / deh, Morte, or ora chiudimi le ciglia“ (XXXIII, 64). Auch der Traum von Fiordispina im 25. Gesang verhandelt das Thema des täuschenden Traums in Zusammenhang mit unerfüllter Liebe, allerdings auf der Ebene des Begehrenstraums und fokussiert dabei den Zusammenhang von Begierde und Wahrnehmungstäuschung. Er ereignet sich im Rahmen einer Verwechslungsgeschichte, in der Fiordispina sich in Bradamante verliebt, weil sie diese aufgrund ihres Äußeren für einen Mann hält. Nachdem Bradamante jedoch ihr wahres Geschlecht offenbart, wird es möglich, daß die beiden Frauen im selben Bett nächtigen, wenn auch mit sehr unterschiedlicher Schlafqualität: Commune il letto ebbon la notte insieme, ma molto differente ebbon riposo; che l’una dorme [Bradamante], e l’altra piange e geme che sempre il suo desir sia più focoso. (XXV, 42)

Dieser Traum benennt das Begehren ganz ausdrücklich als Auslöser des Traums, denn Fiordispina brennt vor Begehren, das sie nur kurze Zeit in Schlaf sinken läßt und einen „sonno imaginoso“ produziert, der ihr das vorspiegelt, was sie sich wünscht: „Bradamante cangiata in miglior sesso“ (XXV, 42). Sie träumt also offensichtlich „per disio“. Die Macht dieses Begehrens vergleicht Ariost – durchaus in Fortsetzung des Traumes von Grillo – mit den Träumen eines Durstigen: Come l’infermo acceso di gran sete, s’in quella ingorda voglia s’addormenta, ne l’interrotta e turbida quiete,

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d’ogni acqua che mai vide si ramenta; così a costei di far sue voglie liete l’imagine del sonno rappresenta. (XXV, 43)

Mit dem Erwachen jedoch endet die Illusion, weil Fiordispina – im Gegensatz zu Orlando oder Bradamante – durch die Nähe des begehrten Objekts eine Realitätsprüfung vornehmen kann: „Si desta; e nel destar mette la mano, / e ritrova pur sempre il sogno vano.“ (ebd.) Durch Tasten mit der Hand stellt sie leicht fest, daß ihr Wunsch nicht Wirklichkeit geworden ist, der Traum also nur ein Trugbild war, was mit dem Topos des „sogno vano“ benannt wird. Ariost bleibt hierbei jedoch nicht stehen, sondern spinnt die Verwechslungen in schwindelerregender Weise fort, indem er den Wunschtraum quasi Wirklichkeit werden läßt. Denn nachdem Bradamante ihrem ihr zum Verwechseln ähnlich sehenden Bruder Ricciardetto von ihrem Erlebnis erzählt hat, macht sich dieser in den Kleidern Bradamantes auf zu Fiordispina. Er erzählt ihr, eine Nymphe habe ihm den Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlung erfüllt, und läßt sie dies mit dem Tastsinn überprüfen: „Così le dissi; e feci ch’ella istessa / trovò con man la veritade espressa.“ (XXV, 65). Fiordispina fühlt und sieht zwar, was sie sich erwünscht hatte, vermag aber nun ihren Sinnen nicht mehr zu glauben und fragt sich, ob sie nicht wieder träumt: così la donna, poi che tocca e vede quel di ch’avuto avea tanto desire, agli occhi, al tatto, a se stessa non crede, e sta dubbiosa ancor di non dormire; (XXV, 67).

Der Zweifel an der Sinneswahrnehmung wird hier also auf den Bereich des Wachlebens verschoben. Tatsächlich muß das Geschehen Fiordispina wunderbar erscheinen, da ihr Magie suggeriert wird, wo lediglich ein Täuschungsmanöver und die Ähnlichkeit der Geschwister zugrunde liegen. Deshalb tritt die Reaktion ein, daß sie ihrer Sinneswahrnehmung nicht glaubt, weder den Augen noch dem Tastsinn, und auf diesem Wege auch ihre eigene Erkenntnisfähigkeit in Abrede stellt: „a se stessa non crede“. Der letztlich nicht zu lösende Zweifel über den Realitätsstatus führt schließlich zu dem Wunsch, niemals aufzuwachen, falls es sich um einen Traum handeln möge: „‚Fa, Dio‘, disse ella ‚se son sogni questi, / ch’io dorma sempre, e mai più non mi desti‘“ (ebd.). Sie äußert also denselben Wunsch nach dem Andauern der Illusion wie später Bradamante, wobei in ihrem Fall das Beispiel Endymions durch die deutliche erotische Komponente noch stärker präsent ist und die Todessehnsucht Bradamantes fehlt. Auch in der Gegenüberstellung von Fiordispina und Bradamante variiert Ariost also zwei Seiten derselben Thematik.

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Der letzte Traum im Orlando furioso unterscheidet sich auf den ersten Blick sehr stark von den vorhergehenden, handelt es sich doch um einen Offenbarungstraum, der Fiordiligi den Tod Brandimartes ankündigt, was sich dann tatsächlich als wahr erweist. Fiordiligi träumt, daß auf dem schwarzen Gewand, das sie für Brandimarte gefertigt hat, rote Tropfen erscheinen: La notte che precesse a questo giorno, Fiordiligi sognò che quella vesta che, per mandarne Brandimarte adorno, avea trapunta e di sua man contesta, vedea per mezzo sparsa e d’ogn’intorno di goccie rosse, a guisa di tempesta: parea che di sua man così l’avesse riccamata ella, e poi se ne dogliesse. (XLIII, 155)

Im Gegensatz zu allen anderen Träumenden ist Fiordiligi in der Lage, die richtigen Schlüsse aus ihrem Traum zu ziehen. Ihr wird ausdrücklich eine korrekte Interpretation des Traums zugesprochen: „Di questo sogno fe’ giudicio rio; / poi la novella giunse quella sera“ (XLIII, 156). Dennoch: Auch dieser Traum, der am deutlichsten in den Bereich prophetischer Träume gehört, ließe sich als Resultat von tema e disio lesen, denn Fiordiligi macht sich beim tatsächlichen Anfertigen des Gewandes bereits Sorgen um Brandimarte.26 Der Traum baut auch keineswegs eine für das Epos typische Spannung zwischen Ankündigung und Erfüllung auf. Der Leser weiß zum Zeitpunkt des Traumes schon, daß Brandimarte tot ist, und auch Fiordiligi muß nicht lange auf die Bestätigung warten. Es scheint vielmehr, als wolle Ariost am Beispiel eines richtig gedeuteten Traums vorführen, daß auch dieser aus tema e disio resultieren kann. Es zeigt aber auch, daß er den Wahrheitswert der Träume an deren Stellung innerhalb des romanzo und die jeweils dominierende Gattungstradition anpaßt. Allerdings garantiert dies keine entsprechende Rezeption seitens der Träumer und Träumerinnen, die sich unabhängig davon mit Zweifeln am Status der Traumbilder konfrontiert sehen. In dem Zusammenhang wäre auch daran zu erinnern, daß diese bei Ariost keine Persönlichkeiten sind, denen, wie Goffredo, göttliche Offenbarungen zuteilwerden können. Bei Orlando ist der Traum bereits das erste Anzeichen seines Wahns, Grillo und Fiordispina, die die einfachsten Begehrensträume träumen, haben nicht den nötigen sozialen Status für wahre Träume, und Bradamante und

26 „Ma da quel dì che cominciò quest’opra, / continuando a quel che le diè fine, / e dopo ancora, mai segno di riso / far non poté, né d’allegrezza in viso. // Sempre ha timor nel cor, sempre tormento / che Brandimarte suo non le sia tolto. […] e questa novità d’aver timore / le fa tremar di doppia tema il core“ (XLI, 32–33).

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Fiordiligi träumen zwar wahr, sind aber aufgrund ihres Geschlechts auf das Schicksal der von ihnen geliebten Männer beschränkt. Was also Ariosts Verwendung der Träume eint, ist die Inszenierung ihrer Fähigkeit, den Menschen zu täuschen. Er verweigert seinen Figuren die Garantie über den Ursprung des Traums und macht diesen immer wieder zum Ort der Täuschung, und zwar in doppelter Hinsicht: Entweder läßt das Subjekt sich vom Traum täuschen, oder aber es täuscht sich in bezug auf die Einordnung des Traums zwischen Wahrheit und Simulakrum. Gleichzeitig nutzt Ariost den Traum auch, um Zweifel an der Realität der Sinneswahrnehmung zu artikulieren, die die Erkenntnisfähigkeit des Subjekts generell in Frage stellen. Dieser Befund wird noch deutlicher, wenn die Stellen einbezogen werden, an denen Ariost die Begriffe sogno und sognare außerhalb des Kontexts von Traumerzählungen benutzt.

3.

Sogno und sognare im Orlando furioso

Das Verb sognare hat insgesamt sieben Okkurrenzen im Orlando furioso, das Substantiv sogno im Singular oder Plural zehn.27 Zieht man die Stellen ab, in denen die Begriffe auf das Erzählen von Träumen angewandt werden, so bleiben sieben Passagen, an denen unterschiedliche Facetten des Ariost’schen Traumbegriffs aufscheinen, sich aber insgesamt der Eindruck bestätigt, daß der Bezug auf den Traum vor allem dazu dient, Zweifel an der Sinneswahrnehmung zu artikulieren. Einen Einzelfall stellt eine Passage dar, in der verschiedene Mittel der Divination aufgeführt werden, die es Atlante ermöglicht haben, Kenntnis von Ruggieros künftigem Geschick zu erhalten: „l’osservate stelle, / le sacre fibre e gli accoppiati punti, / responsi, augùri, sogni e tutte quelle / sorti“ (VII, 58). Für den Magier stellt die Deutung von Träumen offensichtlich kein Problem dar, er liest die für die epische Dimension des romanzo grundlegende prophetische Bedeutung sicher heraus, möglicherweise bestätigt durch andere Zeichen. Eine solche Thematisierung des Traums ist jedoch die Ausnahme. Zahlreicher sind eine Reihe miteinander verwandter Stellen, an denen Ariost seine Figuren in Situationen bringt, in denen sie an ihrer Sinneswahrnehmung zweifeln. Dies ist zum ersten Mal im elften Gesang der Fall, als Angelica nach ihrer Befreiung durch Ruggiero den magischen Ring an ihrem Finger wiederentdeckt, der ihr dann die Flucht vor ihrem zudringlich werdenden Befreier erlaubt:

27 Vgl. die Angaben zur Wortfrequenz in der Biblioteca Intratext.

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Or che sel vede [l’anello], come ho detto, in mano, sì di stupore e d’allegrezza è piena, che quasi dubbia di sognarsi invano, agli occhi, alla man sua dà fede a pena. (XI, 6)

Angelicas Verwunderung über diesen völlig unerwarteten Umstand läßt sie daran zweifeln, daß sie ihren Sinnen trauen kann: „agli occhi, alla man sua dà fede a pena“. Was ihr unerklärlich scheint – und tatsächlich auf einer zufälligen und unwahrscheinlichen Verkettung von Umständen beruht – läßt sie an ihrer Sinneswahrnehmung zweifeln und daher an einen Traum denken. Eine ganz ähnliche Reaktion findet sich im 28. Gesang bei Iocondo, als dieser Augenzeuge des Ehebruchs wird, den die Gemahlin des Königs Astolfo mit einem häßlichen Zwerg begeht: Attonito Iocondo e stupefatto, e credendo sognarsi, un pezzo stette; e quando vide pur che gli era in fatto e non in sogno, a se stesso credette. (XXVIII, 35)

Auch hier löst die Verwunderung über das zu Sehende zunächst die Frage aus, ob es sich nicht um einen Traum handelt, und es dauert eine Weile, bis Iocondo seinen Augen bzw. sich selbst traut: „a se stesso credette“. Wie das „dar fede“ im vorhergehenden Beispiel signalisiert auch das „credere“, daß es sich um ein Problem von Vertrauen auf und Glauben an die eigene Wahrnehmung handelt. Ähnliche Reaktionen sind ferner beim Anblick von mirabilia zu verzeichnen, die auf magische Kräfte zurückzuführen sind. So bietet der Kampf des negromante Orrilo mit Grifone und Aquilante jenen, die ihm beigewohnt haben noch viel Gesprächsstoff, da Orrilo über die Fähigkeit verfügt, sich im Kampf abgeschlagene Glieder sogleich wieder anzustecken: […] del ragionar gran parte si dispensa sopra d’Orrilo e del miracol grande, che quasi par un sogno a chi vi pensa, ch’or capo or braccio a terra se gli mande, et egli lo raccolga e lo raggiugna, e più feroce ognor torni alla pugna. (XV, 78)

Im Gegensatz zu der eher novellistischen Erzählung über Iocondo findet dieser Kampf im Rahmen der romanzo-Ästhetik statt. Es handelt sich also um ein im Rahmen der Fiktion ‚echtes‘, will heißen ein auf Magie beruhendes Wunder, ein „miracol grande“, dessen Erstaunlichkeit jedoch über den Vergleich mit dem Traum besonders hervorgehoben wird. Hier dient der Traum dazu, den Reali-

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tätsstatus des Geschehens oder besser dessen Grad an Unwahrscheinlichkeit zu thematisieren. Dies alles fügt sich ein in eine Rhetorik des Wunderbaren, die durch Betonen des Unglaublichen Zweifel an der Existenz der mirabilia gerade ausräumen will. Schließlich fragt sich auch im 43. Gesang der Richter Anselmo, ob er träumt, als er einen durch magische Kräfte errichteten Luxuspalast erblickt. An dieser Stelle wird freilich der Zweifel, ob es sich um einen Traum handelt, in einem anderen Bezugssystem artikuliert: Per l’alta maraviglia che n’avea, esser si credea uscito d’intelletto: non sapea se fosse ebbro, o se sognassi, o pur se ‘l cervel scemo a volo andassi. (XLIII, 134)

Im Gegensatz zu der vorausgehenden Stelle, die in einer Welt des fictum angesiedelt war, spielt die Geschichte des Richters Anselmo in einer stärker realistisch geprägten Welt. Insofern kommt es hier zu einem Hiat zwischen der magischen Erzeugung des Palastes und der Reaktion des Betrachters, in dessen Bezugsfeld Magie nicht gehört. Zwar wird über den Ausdruck der „alta maraviglia“ die Ästhetik des romanzo aufgerufen, aber Anselmo führt die Wahrnehmung des magischen Palastes allein auf einen Zustand mangelnder Erkenntnisfähigkeit zurück: auf Trunkenheit, Traum oder den Verlust des Verstandes. So wird der Traum hier in die Nähe von Zuständen gerückt, die die Erkenntnisfähigkeit und Urteilskraft aussetzen und somit eine große Distanz zu den Aspekten des Wunders oder des Unglaublichen geschaffen, die in den anderen Passagen mit dem Traum in Verbindung gebracht wurden. Schließlich liegen noch zwei Okkurrenzen von sogno / sognare vor, die dessen Bedeutung in den Bereich der Illusion oder Fiktion stellen. So äußert Ricciardetto im 25. Gesang über seine, wie er meint, aussichtslose Liebe zu Fiordispina: „l‘amar senza speme è sogno e ciancia“. (XXV, 49). Die Bedeutung von „sogno“ geht hier in die Richtung eines realitätsfernen Sich-in-Illusionen-Verlierens. Von besonderem Interesse ist schließlich eine Passage im vierzehnten Gesang in der Agramantes Schwierigkeiten beim Zusammenstellen eines neuen Heeres nach schweren Verlusten geschildert wird. Dort heißt es: „Quantunque il re Agramante non abonda / di capitani, pur ne finge e sogna“ (XIV, 18). Wenn Agramantes Schaffen von neuen Heeresführern hier als fingere und sognare bezeichnet wird, dann verweist das in ironischer, metaleptischer Brechung auf die Tätigkeit des Dichters, der das aus Boiardo bekannte Personal erschöpft hat und neues schaffen muß. Dem sognare kommt in diesem Fall nicht nur täuschendes, sondern auch kreatives Potential zu.

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Auch dies bleibt jedoch, wie die zukunftsträchtige Offenbarung, eine Ausnahme. Es überwiegen die Passagen, die das Träumen als ein Verkennen der Realität oder als Wahrnehmungstäuschung inszenieren – ganz wie in den Träumen selbst. Ariost begnügt sich freilich nicht damit, den Traum als trügerisch zu denunzieren, sondern zeigt in der vielfachen Brechung und Variation dieses Motivs nicht nur die Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntnis auf, sondern auch das ästhetische Potential des Trugs.

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David Nelting (Bochum)

“Un sogno cheto perché gli rivelasse alto decreto…”. On the Poetic and Epistemic Significance of the Dream in Torquato Tasso’s Gerusalemme Liberata1

Introduction Torquato Tasso’s Gerusalemme Liberata [Jerusalem Delivered] first published in 1581 is without doubt the best-known Aristotelian chivalric epic originating in Italy in the second half of the sixteenth century. It does not require great philological acumen to notice that Tasso’s poema eroico connects systems of discourse that belong to both humanist traditions of discourse and the culture of the Counter-Reformation. The question is what to make of this fact. This is not the place to give an appropriate overview of the relevant studies. Yet without going into great detail, the current state of research can be concisely summarized as a mostly persistent modernization of complex historical dynamics and interrelations. As is characteristic of these intellectual premises of modern and usually also ideologically modernizing hermeneutics, the Liberata’s structure is almost invariably understood as a semantic tension or even as an incontrovertible dualism; to put it generally, using Bruno Latour’s phrase from his famous criticism of modernity, Tasso’s poem is dichotomically “purified”. To this day, the prevailing opinion on the Liberata is that it contrasts two fundamentally opposed systems of cultural norms, values, and knowledge with the progressive worldliness of humanism on one side and the restorationist religiosity of the CounterReformation on the other. While the latter does provide the knowledge needed to face a world increasingly perceived as contingent, it does not at all fit into the modern narrative of human history as progress toward autonomy and individual freedom. This is why the claim of the text’s dualist structure, in the past made e. g. by Francesco De Sanctis, Lanfranco Caretti, or Paul Larivaille (De Sanctis 1870; 1 This article is part of a larger research project undertaken by the DFG research group FOR 2305, Diskursivierungen von Neuem. Tradition und Novation in Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Substantial parts of this article have previously been discussed in my 2016 and 2018 publications. On the general theoretical framing of the questions discussed here, see Huss (2016). I would like to thank Andreas Kablitz, Stephan Leopold, and Gerhard Regn in particular for their helpful advice during discussions.

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Caretti 1971; Larivaille 1987), continues to prevail in current research; Giulio Ferroni precisely summarizes the established opinion when he speaks of “contraddizioni insanabili” as the essential characteristic that opens Tasso’s poem up to a “tensione moderna” (Ferroni 1991: 237). In this context the work’s antinomies – and in light of the often latently emancipatory attitude of modern hermeneutics this is hardly surprising – are often understood to mean that beneath the surface of this Counter-Reformation crusade epic the system of meaning articulated prima facie was undermined by poetic license, such as the erotic and aesthetic force of the character of Armida for example, and that the Liberata responded to Tridentine normativity by employing “dissimulation” and “hidden resistance” and thus displayed a humanist this-worldliness and a quasi-modern psychology (Ardissino 1996; Zatti 2006). On the other hand, there are some few attempts at interpreting the dualism along the lines of Christian edification (Stephens 1991; Quint 1993; Potente 2005) – in any case, the field of Tasso research seems to systematically seek to “expurgate” the Liberata by reducing it to a stable interpretive formula that is ultimately authoritative for the text as a whole. This dualist modernization also prevails in the most recent studies of the Liberata. As her book title suggests, Helga Giampiccolo, for example, reads the Liberata as an Epic at the Crossroads of Renaissance Humanism and the CounterReformation, a subversion of a hegemonic Catholic system of meaning (Giampiccolo 2008); meanwhile, Teresa Staudacher in her fruitful dissertation traces a poetics of affect as the dismantling of repressive norms based on the “contradictions” in Tasso’s portrayals of heathens (Staudacher 2013). Staudacher understands affect as subtexts that make explicit norms appear as “surface texts” and thus “questionable,” which continues the dichotomization of mundane and Counter-Reformation discourses in the spatial figure of surface and depth (and perhaps even reinforces it epistemically through this imagery). An exception to this picture – apart from Anne Duprat’s observation on the decidedly “synthetic” and precisely not antinomic character of Tasso’s poem,2 – is Katharina Kerl’s study on the pragmatism of Tasso’s understanding of fictionality (Kerl 2014; for a synopsis of Staudacher and Kerl, see Capparelli 2016). Although Kerl initially 2 While Anne Duprat initially uses the rhetorical figure of concordia discors in order to describe Tasso’s efforts to combine classical or neo-classical traditions with modernist renewals (“[…] il n’est pas indifférent de souligner que le Tasse y avait développé […] les principes de la concordia discors qu’il cherchera toujours à établir entre théories platoniciennes er aristotéliciennes de la poésie, entre systèmes développés par les Anciens et la production poétique moderne, enfin entre la poésie lyrique et l’héroïque,” Duprat 2009: 236), she concludes by describing Tasso’s poetic theory as a synthesis, and according to her, it is precisely this attempt at synthesizing various discourses and discourse processes that defined the “identité et les modes d’écriture d’une épopée chrétienne moderne.” (Duprat 2009: 270).

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assumes discrepancies, paradoxes, and contradictions as the Liberata’s basic structure, and although she ultimately sees Tasso on a path toward an “aesthetics of autonomy” (Kerl 2014: 395), she corrects the presupposition of harsh contradictions with regard to Tasso’s historical understanding of fiction and instead arrives at the impression of a “theoretical indistinguishability” (Kerl 2014: 393) between fictional probability and Christian-dogmatic claims of truth. Georges Güntert, too, concluded his important study of the Liberata by observing that the generally dualistically separated dimensions of this work, meaning “finzione,” “diletto,” “sensualità,” on the one hand and “idealismo astratto,” “significato,” “utile,” and “bene” on the other, merged in an “oxymoron” (Güntert 1989: 206) and thus emphasized the structural interplay of the two areas as an essential principle of Tassoesque text configuration. Yet Kerl’s pithy formula of “indistinguishability” takes the matter a qualitatively decisive step further, and her observation therefore seems to provide an important pointer for analyzing Tasso’s text in a way that is both not dichotomic and appropriate to the specific historical formation of its discourse.3 Inspired by Kerl’s findings, one could ask whether we could and should reconstruct the discursive structure in question as essentially non-dichotomic and as a mutual integration, a hybrid of humanist and Counter-Reformation dimensions. In other words: contrary to those approaches that, in the purification of the historic subject, are taken in by the intellectual premises of their own modernist hermeneutics and seek to pit the humanist and Counter-Reformation dimensions against each other, I wonder whether it wouldn’t make more sense and be more appropriate to reconstruct Tasso’s Liberata as a third in terms of its morphology, function, and place in the history of thought. By now even the most sympathetic reader will wonder what all this has to do with the subject of this volume. I think: quite a lot, for there is a dream sequence in the fourteenth canto of the Liberata that is not only of great importance to the poem’s plot development, but which also particularly illustrates the reciprocal causation and permeation of humanist and Tridentine positions and principles for the Liberata. This is what I would like to suggest in the following.

1. The Liberata’s subject is the First Crusade, which ended with the conquest of Jerusalem in 1099. Tasso embellishes his historical subject with several adventurous entanglements, one of the most significant of which is that Rinaldo 3 I do indeed use this term in the Foucauldian, “archaeological” sense. On the timeliness of this paradigm, see Küpper (2002); Huss (2016: 6).

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leaves the Christian army and retreats, love-stricken, to Armida’s enchanted garden. Without Rinaldo the chances for victory are significantly reduced, however. At this point the above-mentioned dream sequence brings about the decisive turn of events. In this dream sequence the Capetian Hugo de Vermandois appears to the leader of the Christian army of crusaders, Godefroy de Bouillon. Hugo, or Ugone, whose name appears in first place when the army of crusaders is mustered in the Liberata’s first canto, explains to a Goffredo exhausted by the adversities encountered on his campaign that he will soon find his place among the crusaders in the città celeste. But first it was his task to retrieve Rinaldo from his Iliad-like absence and take him back to the army in order to then liberate Jerusalem. While Goffredo was the crusade’s capo, Rinaldo was the mano, whom no one else could replace; only he was able to cut down the magic forest in order to build the siege engines required for the conquest of Jerusalem. Thus the dream is generically one of the last examples of what William V. Harris called a specifically pre-modern “epiphany dream,”4 whose admonitory certainty of destiny Tasso seeks to restore once more before it disappears as a figure of authorization in the Cartesian modern age. Naturally Goffredo fulfills his divine task without delay; the further course of the plot as indicated by the poem’s title is thus both predictable and familiar. The divine intervention at this moment in the plot certainly was not necessitated by an inability on Tasso’s part to let Goffredo recognize the necessity of Rinaldo’s return to the army by other means, i. e. by a process of internal plot logic; and that pio Goffredo is destined for beatitude had already been established in the parade of the crusaders in Dante’s Commedia (Par. XVIII, 47), evidently well-known to Tasso’s readers. The question of the diegetic justification of the dream sequence therefore necessarily becomes one about its conceptual meaning; the question of its function in terms of content becomes one about its representational agenda. To answer these questions in brief: my impression is that Goffredo’s dream condenses and shows poetic and epistemic principles that are most important for an accurate understanding of Tasso’s work. The dream vision itself comprises fourteen octaves; with its framing it runs to a total of twenty octaves (the complete text of the passage is given in the appendix of this article). So what essentially happens in this dream sequence? First of all, the fourteenth canto begins with a description of nightfall: “Usciva omai dal molle e fresco grembo / de la gran madre sua la notte oscura” (XIV.1.1–2).5 Following a longawaited rainfall, the earth is soft and refreshed, and nightfall brings clear dew 4 The “epiphany dream” is generally defined by the following characteristics: “a single visitor to the sleeper”; “the visitor is authoritative”; “the visitant’s appearance is […] usually splendid”; “the visitor conveys an admonition or pronouncement, the meaning of which is clear to the dreamer.” (Harris 2009: 36f.). 5 This and all following quotes are cited from Tasso (1993).

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whose moist veil spreads over little flowers and grasses while light breezes, “aure lievi”(XIV.1.3), caress people’s sleep, sonno (XIV.1.8). The mortals, who surrender their experiences and thoughts of the day to the sweet oblivion of sleep, are watched over by God, the Re del mondo (XIV.2.4), who directs his benevolent gaze at Goffredo in particular. He sends him a dream that is meant to reveal his task to him: “inviava un sogno cheto / perché gli rivelasse alto decreto” (XIV.2.7– 8). Thus to general sleep, sonno, is added an individual dream, sogno, which is explicitly marked as an exogenously “true” revelation of God’s will. The third octave further expands on the significance of this dream in its elaborate imagery. Tasso’s “cristallina porta in oriente” (XIV.3.2) is a variation of the imagery of the porta Somni familiar from the end of the sixth book of the Aeneid (Aeneid VI, 893f.), which he picks up on and combines with a specific time span for the opening of the dream gate in the early morning hours before sunrise: “che per costume inanti aprir si sòle / che si dischiuda l’uscio al dì nascente” (XIV.3.3–4). This corresponds with Horatian topoi, according to which the somnia vera appear after midnight shortly before the morning hours (based on Sermones I, 10, 33). This creates the exterior preconditions for the following dream to truthfully reveal God’s will to the receiving “casta mente,” as Tasso announces in the second half of the octave: “Da questa [porta] escono I sogni, I quai Dio vòle / mandar per grazia a pura e casta mente” (XIV.5.5–6). With the fourth octave the passive experience of the dream expands, for Tasso opens the heaven-sent dream visage up to the specific model of the dream vision that, qua vision, not only confirms the recipient’s purity of the chosen, but also expands their share in the events into an active seeing and speaking in terms of genre typology: “Nulla mai vision nel sonno offerse / altrui sí vaghe imagini o sí belle / come ora questa a lui, la qual gli aperse / I secreti del cielo e delle stelle; / onde, sí come entro uno speglio, ei scerse / ciò che là suso è veramente in elle” (XIV.4.1–6). The ascending sequence of sonno, sogno, and vision transports Goffredo away from earth; traslato (XIV.4.7). The dream vision unfolds as a journey to heaven which, as an “eccelso loco” (XIV.5.1), is characterized by ampiezza, moti, lumi, and – especially emphasized as a rhyme – armonia (XIV.5.2). Terms and color values associated with the metaphysics of light such as auree fiamme (XIV.4.8), rai and foco (XIV.5.3) identify this heaven as a Christian paradise. The rhyme links the visible harmony of this paradise, armonia, to venia in the fourth verse as well as – and this is important to me – parlar udia in the sixth verse, which in addition to seeing also introduces harmonious speech and Goffredo’s listening. Thus the dream vision is introduced as a non-mystical discourse of revelation. The knight who appears to Goffredo in a sphere suffused with divine light introduces himself as Ugone; Goffredo embraces his comrade in arms in a “dolce amico affetto” (XIV.6.5). Although this situation of direct encounter and speech overall creates an authentic presence, Ugone turns out to be a dreamily vague apparition, “quasi leve

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sogno,” or an “aer vago” (XIV.6.8). Tasso thus spells out the Augustinian model of visio in somnis with its “imagines […] non esse vera corpora” that prominently appear as the image of a friend in both Augustine and Tasso,6 and on the cognitive level he connects this incorporeal dream vision with the functionality of what Augustine called the visio spiritalis, which neither rests in the material reality of the visio corporalis nor expands into the spiritual ecstasy of the visio intellectualis in which the visionary’s mens ascends to partake in the divine, but which concerns the dreamer’s cogitatio per spiritum hominis (De Genesi ad litteram 12.6.15). In this context Augustine speaks of four spheres of action of the visio spiritalis – revelatio, agnitio, prophetica, and doctrina (De Genesi ad litteram 12.8.19) – it quickly becomes clear that Tasso’s dream vision allows Goffredo to enter the first three spheres during its course by revealing to him Rinaldo’s specific importance and his task with regard to him (revelatio), the limits of worldly greatness (agnitio), and his own future as well as that of the crusading army (prophetia). Goffredo must, thus Ugone’s warning, liberate the Holy Land and bring it under Christian rule. Only then could he ascend to the eternity of the vive fiamme (XIV.9.3) of paradise to the sound of a celeste lira (XIV.9.6), in comparison to which the earthly world seemed a vain picciolo cerchio (XIV.10.3). The path he had pursued thus far was verace (XIV.12.5), providence had chosen him as sommo capitano (XIV.13.2); yet it had also selected an essecutor soprano (XIV.13.4) as his second, and this was Rinaldo. Even though this Rinaldo was a fer garzon (XIV.17.2) who, driven by ira, had slain Gernando and was now indulging in his love for Armida while shutting out the world around him and neglecting his duties (“vaneggia ne l’ozio e ne l’amore,” XIV.17.6), he had to be brought back into the Christian army. Piero, a hermit and pilgrim to Rome, would receive guidance from heaven and thus know how to lead the knights dispatched for this purpose (XIV.18). This information basically ends the salvifically relevant part of the vision; the following phrase, “Or chiuderò il mio dir” (XIV.19.1), merely begins a short, exactly two verses long hint at the genealogical dimension of Rinaldo’s salvation and reintegration through whose – de facto fictitious – persona Tasso seeks to establish an encomiastic connection to the Este dynasty (“sarà il tuo sangue al suo commisto, e deve / progenie uscirne glorioso e chiara”; XIV.19.2–4). The dreamer, lexemically framing the vision in the periphrastic collocation “pio Buglion” (XIV.3.7 and XIV.20.1), awakens, sees day has dawned, and reaches for his armor.

6 See De Genesi ad litteram libri XII, 12.2.3 (“[…] amico meo, quem similter in somnis videbam, non esse illa corpora, quae videbamus, sed esse imagines somnantium […]”).

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2. If one assumes that the dream’s significance, not only in historical but also in salvific terms with regard to its vision of paradise and the liberation of Christ’s tomb, ends with the eighteenth octave, meaning before the genealogical coda, this suggests a link between Goffredo’s dream vision and Gerusalemme liberata’s overall intention, whose relevance for the text itself cannot be overestimated. For Ugone as the voice of God closes his actual instructions with the words: “Cosí al fin tutti I tuoi compagni erranti / ridurrà il Ciel sotto i tuoi segni santi” (XIV.18.7– 8). Thus Tasso establishes a link to the propositio of the Liberata’s proem, the last two verses of whose first stanza read almost identically: “Il Ciel gli diè favore, e sotto a I santi / segni ridusse I suoi compagni erranti” (I.1.7–8). The wording of these lines is about uniting the knights, who have thus far been on a self-centered odyssey, as a community under the banner of the crusade army. Yet in the dream vision’s couplet the lexeme santi follows after erranti, thus reflecting the project’s telos while the segni prominently placed in in the enjambment “santi / segni” (I.1.7–8) are reminiscent of the providential force and Christian confidence of victory expressed in the topical in hoc signo vinces of Constantine’s dream before the battle of the Milvian Bridge. The lexically striking link between the two passages in cantos I and XIV unmistakably indicates that the dream sequence is meant to pick up on the proem’s objective in a significant manner. However, with regard to the importance of the dream passage one has to keep in mind that the proem is not just concerned with unifying the knights who are riding separately and therefore ‘errant’ under the banner of the crusaders, but also with the poetic task of replacing the nonbinding varietas of the mundane romanzo with the serious and instructive unity of the poema eroico. With regard to the dream sequence in XIV, it therefore makes sense to briefly recapitulate some of the proem’s most important characteristics. The Liberata’s propositio and invocatio read as follows: 1 Canto l’arme pietose e ’l capitano che ’l gran sepolcro liberò di Cristo. Molto egli oprò co ’l senno e con la mano, molto soffrí nel glorioso acquisto; e in van l’Inferno vi s’oppose, e in vano s’armò d’Asia e di Libia il popol misto. Il Ciel gli diè favore, e sotto a i santi segni ridusse i suoi compagni erranti. 2 O Musa, tu che di caduchi allori non circondi la fronte in Elicona,

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ma su nel cielo infra i beati cori hai di stelle immortali aurea corona, tu spira al petto mio celesti ardori, tu rischiara il mio canto, e tu perdona s’intesso fregi al ver, s’adorno in parte d’altri diletti, che de’ tuoi, le carte. 3 Sai che là corre il mondo ove piú versi di sue dolcezze il lusinghier Parnaso, e che ’l vero, condito in molli versi, i piú schivi allettando ha persuaso. Cosí a l’egro fanciul porgiamo aspersi di soavi licor gli orli del vaso: succhi amari ingannato intanto ei beve, e da l’inganno suo vita riceve.7

The Counter-Reformationist, propagandistic thrust of the subject matter is obvious.8 But what does Tasso intend to express aesthetically? The narrowing down 7 The sacred armies, and the godly knight, / That the great sepulchre of Christ did free, / I sing; much wrought his valor and foresight, / And in that glorious war much suffered he; / In vain ’gainst him did Hell oppose her might, / In vain the Turks and Morians armed be: / His soldiers wild, to brawls and mutinies prest, / Reduced he to peace, so Heaven him blest. // O heavenly Muse, that not with fading bays / Deckest thy brow by the Heliconian spring, / But sittest crowned with stars’ immortal rays / In Heaven, where legions of bright angels sing; / Inspire life in my wit, my thoughts upraise, / My verse ennoble, and forgive the thing, / If fictions light I mix with truth divine, / And fill these lines with other praise than thine. // Thither thou know’st the world is best inclined / Where luring Parnass most his sweet imparts, / And truth conveyed in verse of gentle kind / To read perhaps will move the dullest hearts: / So we, if children young diseased we find, / Anoint with sweets the vessel’s foremost parts / To make them taste the potions sharp we give; / They drink deceived, and so deceived, they live. (Tasso 1901, 1–2). 8 The first verses of the propositio make absolutely clear what the text is about: the heroically successful liberation of Christ’s tomb by the military leader, the capitano, Godfrey of Bouillon, during the First Crusade. With this subject Tasso picks up on an established topic of CounterReformation propaganda – already in 1553 Antonio Fiordibello, in a speech written at the instigation of cardinal deacon and papal legate Reginald Pole on the occasion of Mary Tudor’s accession to the English throne (Pignatti 1997: 120), had compared the liberation of Christ’s tomb during the First Crusade under Godfrey of Bouillon with the return of England to Catholicism in its salvific significance, thus appropriating it for the fight against the religious schism (“Admirari solent plerique vel maxime Res a Gottifredo Boemundo et Balduino clarissimis ducibus gestas, qui cum ingentibus olim copijs ex his occidentis partibus in Asiam profecti, victis ac superatis Christiani nominis hostibus, urbem Hierosolyma, & sanctissimum illud Christi liberatoris nostri sepulchrum receperunt. […] Verum meum quidem iudicio factum vestrum gloriosus est […]. Illi enim Christianis hominibus, si qui peregrinari religionis causa vellent, ad Christi sepulchrum iter patefecerunt. Vos tantae huic nationi aditum ad coelestem patriam et ad Christum ipsum aperuistis,” Fiordibello 1555, unpaginated). In Italian literature there is a tradition of the interpretation of Islam as a Christian splinter group; beginning with Dante’s portrayal of Mohammed as sower of religious divisiveness in Inf. 28. The Muslim enemies of the crusaders generically appear not as representatives of a false yet

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of the many donne, cavalieri, arme, amori, and imprese in the famous canto formula of the Orlando furioso’s very first verses9 to one Christian hero (’l capitano) who successfully achieves his goal in one main action, with which the Liberata refers to Virgil’s Aeneid through a conspicuously close, neo-classical connection,10 indicates a strong moment of poetic unity. Through the interaction of humanist and Tridentine restitutions of order Tasso seeks to roll back the validity of the earlier romanzo in a “typically” cinquecento “attempt at nihilation” (Huss 2016: 10–11). This concern continues in the invocatio, which spans the following two octaves and assures a stylized Marian muse of the truth of this epic fiction. Not only does the order of the poema eroico moderno differentiate itself from the earlier romanzo cavalleresco through a neo-classical reference to Virgil at this point, but humanist and Counter-Reformation agendas also overlap, which will be of importance for the dream sequence. In this context the notion of vero is of central importance (I.2.7 and I.3.3). It is an established fact that the humanist Aristotelianism of the secondo cinquecento massively shifts the logically plausible production of probability regardless of the actual truth of the matter as demanded by Aristotle and that it curtails the Aristotelian doctrine of probability in its fictional license quite considerably in favor of the primacy of a prioritized referential truth (see e. g. Kappl 2006; Kablitz 2009; Huss 2014). In his Gli heroici published in 1561 Giovan Battista Pigna already wrote: “imitare è sopra una cosa vera colorire un verisimile” (Pigna 1561: 11), and Ludovico Castelvetro inverts the Aristotelian prioritization of the mimetic production of artistic “truth” over everyday facticity when he declares event-based “truth” an incontrovertible subject of representation. In this context he writes in his Poetica d’Aristotele vulgarizzata e sposta of 1570: “Prima di natura fu la verita che la verisimilitudine, & prima di natura fu la independent religion (such as Dante’s ancient Virgil with his “dei falsi,” Inf. I, 72), but in the time after Christ’s redemptive act simply as schismatics of the one true doctrine. 9 “Le donne, I cavallier, l’arme, gli amori, / le cortesie, l’audaci imprese io canto” (Ariosto 1976: 1). 10 The principle of measuredly locked syntax (verses 2 and 6) refers to the Augustinian classic just as the conspicuous doubling of the lexeme molto in verses 3 and 4 does to the repetition of multum-multa in verses 3 and 5 of the Aeneid. Most importantly, the famous arma virumque cano is evoked by moving the canto to the beginning while maintaining the sequence of weapons and the hero figure, arme e capitano, albeit with a small addition that is important with regard to the semantic consistency of this passage: the arma are pietose. Initially this recalls Aeneas’ classic pietas (“pius Aeneas,” for example Aen. I, 220; I, 378). Yet it is immediately amplified in its validity by the object of his actions in verse 2 and identified as a specifically Christian godliness: the arme pietose are the holy, pious weapons of the Christian crusader. In a demonstrative recourse to the great model of authority of Imperial Rome, Tasso presents his heroic epic as going beyond and salvifically fulfilling the ancient “victor’s epic” (Quint 1993: 9); meanwhile the veritas of the Christian (Catholic-Reformation) Ciel completes the classic figure of epic world creation and world order.

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cosa rappresentata che la cosa rappresentante, & percio, che la verisimilitudine dipende tutta dalla verita […] è di necessita, che s’habbia prima conoscenza intera & ragionevole della verita […]. […] non si puo havere piena notitia della poesia, se non s’ha prima notitia piena dell’historia” (Castelvetro 1978: 13f.). Morphologically entirely in line with this, and incidentally making explicit reference to Aristotle’s Poetics, Bologna cardinal Gabriele Paleotti, who played a part in negotiating the Council’s decrees, declares in his Discorso intorno alle imagini sacre e profane published in 1582: “Il versimile non si può conoscere se non per notizia del vero. […] e perché ogni cosa, naturale o artificiale o morale, o di qualunque altra sorte, si presuppone fatta da certa persona et accaduta in certo tempo, certo luogo, con certa causa e certo modo, però ogni narrazione che vorrà spiegare un azzione o un’altra cosa vera e compita non doverà pretermettere alcuna di queste circostanze. […] Laonde narrazione verisimile si dirà quella, la quale spiegherà medesimamente tutte le circostanze dette di sopra […]” (Paleotti 1961: 364f.). Tasso joins this dual, both humanist and Tridentine field, and he does this with a further curtailing of fictional license on his part. In his Discorsi dell’arte poetica of 1587, he not only calls for actual truth of the subject matter as indispensable, but goes even further when he ontologically grounds historical truth in the Christian sense: “Deve dunque l’argomento del poema epico esser tolto dall’istoria: ma l’istoria o è di religione tenuta falsa da noi, o di religione che vera crediamo, quale è oggi la cristiana e fu già l’ebrea. […] l’argomento dell’epico debba esser tratto da istoria non gentile, ma cristiana od ebrea” (Tasso 1959: 7f.). This is the background for his coyly apologetic announcement of wanting to give in to the central truth, the vero from I.2.7, adornments, fregi, and diletti (I.2.7–8). By contrast to the defensive habitus of the second octave, these diletti gain considerable conceptual significance in the following octave, however. For the third octave seeks to provide an effect-aesthetic justification for Tasso’s fictional license by declaring it beneficial, indispensable even, for rhetorical effect and for rendering didactic and moving subject matter evident. Here the poet becomes a physician whose artful verse can heal the world. As some modern commentators have noted (L. Caretti in Tasso 1993: 14, for example), this image originated in Lucretius’ De rerum natura, where the proem of the fourth book develops precisely this metaphor.11 He sought to use his verse “[q]uasi musaeo dulci con-

11 See De rerum natura IV.11–25 (Lucretius 1972: 222): “…nam vel uti pueris absinthia taetra medentes / cum dare conantur, prius oras pocula circum / contingunt mellis dulci flavoque liquore, / ut puerorum aetas inprovida ludificetur / labrorum tenus, interea perpotet amarum / absinthi laticem deceptaque non capiatur, / sed potius tali facto recreata valescat, / sic ego nunc, quoniam haec ratio plerumque videtur / tristior esse quibus non est tractata, retroque / volgus abhorret ab hac, volui tibi suaviloquenti / carmine Pierio rationem exponere

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tingere melle,” writes Lucretius, in order to help the reader understand his insight into the nature of things for their benefit, just like the child who will only drink bitter medicine if the rim of the glass had sweet honey spread on it. The dulcedo of poetry, Tasso’s dolcezze of the molli versi (I.3.2–3), are not least of an elocutional nature, as the false figura etymologica of the rhyme versi-versi in (I.3.1–3) strikingly illustrates. Yet the dulcedo, the dolcezza of the molli versi, is a characteristic of the Middle Style, the style of poesia lirica, and not of the High Style. Already in the penultimate verse of the second octave, the linking of the lexemes fregi and adorno (I.2.7) points to exactly this, for it ostentatiously echoes the collocation “adorni et fregi” from the final verse of Petrarca’s famous key sonnet “Arbor victorïosa triumphale”(Canz. 263.14). This quote is programmatic, and in this context it is probably also relevant that Bembo in his Prose della volgar lingua had identified the area of stylistic dolcezza as the key possibility for Italian poets to surpass the Latin classics – including Virgil, who was important for Tasso.12 In the Discorsi dell’arte poetica Tasso consistently and repeatedly emphasizes the necessity for elocutional variety in the sense of a unità mista (Discorsi II); varietà recalls the piacevolezza of the romanzatori (Tasso 1959: 391), and the poema thus eventually becomes (Discorsi III) an in-between of the tragic, the sublime, and the lyrical: “Lo stile eroico è in mezzo quasi fra la semplice gravità del tragico e la fiorita vaghezza del lirico […]. Non è disconvenevole al poeta epico, ch’uscendo da‘ termini di quella sua illustre magnificenza, talora pieghi lo stile […] verso le lascivie del lirico” (Tasso 1959: 394). Contrary to his apparently brusque rejection of the romanzo, Tasso thus actually continues the varietas of the romanzo to a certain degree. This is why the entanglement of poema and romanzo in an interplay of rejection and attraction is one of the basic themes in Tasso studies; Sergio Zatti, for example, has traced Ariosto’s problematic presence in Tasso’s works as an ambivalent relationship of constant “temptation” (Zatti 2006: 113); Stefano Jossa has described the relationship between romanzo and poema as a process rather than a break (Jossa 2002); and Gerhard Regn has shown how Tasso keeps representational processes of the romanzo substantially present even in the Liberata by means of the intermediate step of a reformed romanzo, namely the Rinaldo of 1562 (Regn 1991). We need to keep this in mind when reading Tasso’s proem. At the same time it is important to note that the didactic functionalization of his own poetic speech opens Tasso’s poetics for Tridentine principles in constitutive measure. While the nostram / et quasi musaeo dulci contingere melle, / si tibi forte animum tali ratione tenere / versibus in nostris possem, dum perspicis omnem / naturam rerum ac persentis utiltatem.” 12 This is made evident through a dream the character Giuliano de’ Medici has in the Prose della volgar lingua (2.III). In this text it is the “soavissimi concenti e dolcezze” which transfer the first rank in poetry from “romane alle fiorentine Muse,” meaning from the Latin Romans (especially Virgil and Cicero) to the Petrarchan Tuscan. See Bembo (1993): 133–135.

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poetic license demanded by Tasso and unmistakably informed by the romanzo does not feature in the humanist Aristotelian discussion of style in the neoclassical poema apart from a few exceptions and has met with little sympathy in discussions of the Liberata, exactly the same principles can be found in CounterReformation homilectics. In a broad rhetoricization that both obviously and astoundingly departs from the biblical stylistic ideal of Saint Jerome’s sancta simplicitas (Hieronymus, Epistulae 57, 12), large parts of the homilectics of the time (Borromaic rhetoric being the major exception) extensively rely on rhetorical persuasion as well as elocutional varietas and delectatio. Tasso was well acquainted with one of the most important star preachers of his time, the bishop of Asti, Francesco Panigarola (1548–1594). This is documented by Tasso’s letters as well as by several sonnets Tasso wrote to and about Panigarola. Panigarola, who in a 1593 letter confessed to having introduced a “buona moltitudine de’ luoghi della Gerusalemme” into his elocuzione sacra (see Tasso 1827: 343), advocated a radical blend of styles and in his posthumously published Predicatore made this fundamental statement: “Ove al Predicator Cristiano si parino innanzi alcune, ò parole, ò strutture, ò lumi, ò precetti retorici, ò altri ornamenti da essere adoperati, pensi subito se essi, adoperati, fanno, maggiormente fruttuosa la loro oratione, e servano a imprimere più, e far più acquisto d’anime […] niun precetto, e niun’ ornamento rifiutato, purché serva alla gloria di Dio” (Panigarola 1609: 32). This position adopts the guidelines of Cornelio Musso, the bishop of Bitonto who died already in 1574. Musso advocated the determined use of rhetorical ornament in sermons in order to give diletto to those listening and thus appeal to them effectively. Musso’s homiletic guidelines very specifically link to the proem’s third octave when he declares the preacher who, like the “oratori mondani,” was at pains to polish and embellish his speech with respect to diletto – he uses the words limare and ornare – resembled the “medico saggio, che linisce la tazza di dolce, per far bere all’ infermo il molto amaro della medicina” (Musso 1588: 199). This approach overlaps quite considerably with Tasso’s agenda not only on the level of this imagery, but also in the matter itself. For Tasso as for Musso and Panigarola, the dolce on the rim of the cup of bitter medicine is the dulcedo of the secular Middle Style; Panigarola understands the pertinent processes under the rubric of a venustà that results from the leggiadro, florido, vago, gratioso, and ornato stile (see Panigarola 1609: 413f.). The link to Musso not only illustrates the close connection between Tasso’s agenda and the basic principles of Tridentine homiletics, it also significantly mitigates the implications of the Lucretian topos, which are rather tenuous in their intertextuality due to their anti-religious, materialist nature. Meanwhile the Lucretian image of the bitter medicine and the sweet illusion as an illustration of the effectiveness of rhetorical dolcezza is virtually recovered, mitigated, and authorized by the Counter-Reformation through Musso. That these Catholic homiletics formed the

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foundation for the development of the “Baroque style” has been shown by Föcking (1994). Admittedly, Tasso does not go this far yet since he still frames the blend of styles radically propagated and practiced by contemporary homilectics in “neo-classical” terms by functionally limiting it rather than elevating it to a universal principle beyond consensual rhetorical norms, as Panigarola or the poetry of Baroque-Mannerist meraviglia did.

3. Why am I discussing all this at length? It seems to me that the dream sequence of the fourteenth canto does more than emphatically recall the program formulated in the proem. It also acts on this program with particular determination. Studies of the text have long since shown that the visionary truth-speech is entangled with existing humanist texts with regard to their intertextuality. In addition to Virgil, Cicero’s Somnium Scipionis is particularly relevant in this context, as Tasso himself points out in a letter. This applies to the tenth octave, for example, in which the vanitas of earthly life is articulated in a close reference to Cicero, who also described earth as a small island in a great ocean (De re publica 6.21) that, upon beholding heaven, in turn appears inconsiderable (parvus). (Incidentally, this topos is spelled out in the Early Renaissance by Petrarca’s Secretum meum III.85–88 and Africa 2.358–365, where it is reformulated in Christian terms to give geographical evidence of the irrelevance of earthly life.) I don’t want to discuss the interlacing of practical-theological content and Ciceronian speech formula in depth in this context, however. For the relationship between the dream vision and its epic framing seems much more interesting and telling to me. First of all, it is striking that in Goffredo’s vision God’s mouthpiece is not an angel – such as the archangel Gabriel who had mandated the crusade in the first canto – nor is he blessed, but the historical, secular comrade-in-arms Ugone. Although he calls himself a resident, a cittadin, of the città celeste, he has not yet earned his place there when he first appears. In fact, the historical Hugo de Vermandois only died in 1101 in Tarsus, and accordingly Tasso’s Ugone appears twice more in the Liberata after Goffredo’s dream vision, namely in XVII.76 and XVIII.94, as a crusader who is very much alive. Thus the dream vision is conspicuously linked to the epic plot of the worldly vero on the syntagmatic level; this life and the hereafter are therefore not only connected by the final cause of revelation, but they also interlock through God’s agent, Ugone. This interlacing of heavenly dream vision and earthly framing also concerns the discursive level of the canto, and I believe that this is key. The dream vision is introduced by a refreshingly lovely, bucolic scenario in the dolcezza of a stile leggiadro and fiorito not even contradicted by the darkness of nightfall. On the

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contrary, the imagery of the dew is a particularly delicate variation on the lifegiving water of the locus amoenus. The first quality of this place is molle (XIV.1.1), which makes intratextual reference to the third octave of the first canto, recalling the molli versi mentioned there as well as their dolcezza (I.3.2–3). The following relevant lexemes and collocations are: fresco, aure lievi, rugiada preziosa, verdura (XIV.1.1–6) and especially the diminutives fioretti and venticelli (XIV.1.6–7), with the fioretti evoking the scenario of a vernally beautiful world adorning the sun with little flowers as developed in Petrarca’s ninth sonnet, which reads: “le rive e i colli, di fioretti adorna” (Canz. 9.6). The aesthetic persuasiveness of this setting is summed up in XIV.1.8 by the lexeme lusingavano, which, in addition to its Petrarchan recurrences, mainly recalls the lusinghier Parnaso mentioned in the Liberata’s proem as the condensation of a sensually sophisticated ornatus. The sleep of mortals framed in this way leads to a carefree oblio in XIV.2.2 that is, of course, dolce. The salient point is that while the dream vision is temporally moved away from the thusly ornamented initial scenario and into the morning hours of the somnia vera in the third octave, the validity of the rhetorical dolcezza is not questioned by the transfer to the dream vision’s ontologically true level of reality, on the contrary. The imagery of Goffredo’s vision captivates unchanged by vaghezza and bellezza (XIV.4.2), whose armonia (XIV.5.2) produces the sound of a speech that picks up on the central category for the framing of the dream vision, the dolcezza, and in surpassing it integrates it into the more truthful, divinely based level of reality of the dream vision: “un suono, a lato a cui sarebbe roco / qual piú dolce è qua giú, parlar l’udia” (XIV.5.5–6). That which is piú dolce on earth appears lamentably rough by comparison to the voice of the divine messenger Udone; conversely this means, however, that dolcezza as a measure of value also applies to the dream vision as a system of reference. “Mirabilmente adorno” (XIV.6.2), admirably adorned, is how the character of Ugone appears, whose imago is linked by a rhyme to the categorically no less programmatic vago. One could argue at this point that this was merely a simple figure of one-upmanship that should not be paid too much attention, or that it was a fairly unspectacular, even topical falling in line with the idea of a divine harmony of the spheres, with that dolce armonia of paradise which Justinian explains to Dante wandering the hereafter in his great speech in the Divine Comedy – incidentally in a lexical repetition of the dolce under discussion here (“Diverse voci fanno dolci note; /così diversi scanni in nostra vita / rendon dolce armonia tra queste rote”; Par. VI, 126). However, I believe that it is about much more than a topical dolcezza of paradise. I believe that the syntagmatic arrangement of the passage in which the dolcezza of this world virtually extends itself from this world to the kingdom of heaven through a continuation of the discours is of lasting significance. The

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above-mentioned key terms not only seem to anticipate in an Arcadian sense the reality level of the vision from the mundane locus amoenus, but also to expand into it to the effect that they condition the appearance, perception, and comprehension of the ontologically true reality of Goffredo’s epiphany dream to the same extent as the “piccolo cerchio” of this world. What is the effect of such an arrangement? First of all, Tasso smooths over the potential for friction in this situation by extending the earthly dolcezza into the kingdom of heaven through tangible language. A closer examination shows that Tasso goes a significant step further, however. Obviously the speech of a Middle Style dolcezza saturated with mundane lexis and topoi that opens the canto not only is in contrast with the reception of the dream vision as a revelation, but this form of the ornatus is in fact the device for allowing and deploying God’s words as articulated by Ugone. The kingdom of heaven is characterized by a rhetoric that, although heightened beyond comparison, does not fundamentally differ from the mundane dolcezza; it appears as a stylistically coherent continuation of the mundane by its own means. Rhetorical dolcezza is thus no longer portrayed as an ontologically deficient, vain reflection of heavenly beauty. In contrast to contemporary homiletics, the elocutional fregi and diletti are not merely a means to an end, but they also have a substantial share in the vero for which they provide evidence. With regard to humanist discourse tradition, the dolcezza that had gained moralphilosophical validity for courtly sociability in Bembo’s Asolani as a rhetorical device (I am thinking of the end of the first day when a sobbing Perottino is reintegrated into the community in the mode of a “dolcemente racconfortare,” for example) and which in Bembo’s Prose had been reflected and authorized as a Petrarchan model for the courtly volgare, is indeed present as such in Goffredo’s “dolce amico affetto.” But there is another, important aspect here: in Tasso, the dolcezza transcends its worldliness out of itself through the unfolding of the discours, which results in a fundamental blurring of the lines between both spheres, between the discursive regularities of humanist provenance and revealed truth-speech. Such an ontologizing of rhetorical dolcezza goes far beyond its humanist and Counter-Reformationist reference systems, and in a hybridization of this world and the hereafter it opens a “new”, “third” discourse that alters the characteristics of its reference discourses and therefore is not dialectic, dualist, contradictory or subversive in their sense, but instead develops its very own, syncretistic structure.

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4. Now one could ask: what about Armida and her enchanted garden, this very famous and popular motif and setting in the Liberata, towards which Goffredo’s dream is oriented syntagmatically and which has been adopted – certainly not by coincidence – by visual artists from Luca Giordano to Giambattista Tiepolo and Francesco Hayez as a paradigm of earthly delight and sensual dolcezza? Isn’t it true that Armida’s beautiful garden, where Rinaldo is to be found and which, by the way, does not exist in the fiction’s ‘real world’, but is a mere illusion created by the enchanteress and thus ontologically void, is characterized by a dolcezza that strongly resembles that of the opening scenario in XIV? And wouldn’t this mean that according to the Christian ontologizing of rhetorical dolcezza, Tasso conversely portrays and utilizes this very dolcezza as an evil spell and a sign of mundane lust, and that he thus dissembles or even scraps the interlacing of worldly and heavenly dolcezza? At first glance this seems to be the case morphologically, for one of the two “donzellette garrule e lascive” in Armida’s entourage (XV.58.4) does indeed emphasize the “erbetta morbida de’ prati” (XV.64.2) while the narrator highlights her “vezzi perfidi e bugiardi” (XV.65.6) and focuses on her “lusinghiero aspetto e ’l parlar dolce” (XV.65.7), in sum: “tal dolcezza” (XV.66.1). Armida’s “bel giardin” (XVI.9.2), being “de la maga effetto” (XVI.10.5), is characterized by “mobili cristalli / fior vari e varie piante, erbe diverse, / apriche collinette, ombrose valli” (XVI.9.3–5), meaning by sparkling rivulets and the varietas of the fior and piante as an artful arrangement of arte (XVI.9.8) and ornamenti (XVI.10.2). Thus the isotopies are clear, and they are very closely related to those of the lovely framing of Goffredo’s dream vision and in part even identical. But is this a subversive dolcezza that differs in its nature and objective, one in which a mundane hedonism celebrates and affirms itself ? Is Tasso revealing an alternative model to the Christian ontologizing of dolcezza in Goffredo’s vision, does he in fact deliberately thwart this ontologizing in the cantos following it? I don’t think so. Only when this sequence is removed from the syntagma, the text as a whole, in a paradigmatic manner does what is happening here mean a dismantling of the preceding Christian ontologizing of artful dolcezza by a hedonist reduction of dolcezza and bellezza to the mundane sensuality of Armida’s “vaghezze allettatrici e lusinghiere” (XVI.17.2). For if one syntagmatically embeds Armida’s appearance, the conversion of worldly beauty into the truth of Christian salvation as it appears in the fourteenth canto seems to be merely shifted within the text. Armida’s mundane and artificial bellezza, too, is oriented towards an ontologically stable order in the course of Tasso’s poema. The seductive bellezza of Armida is once more demonstratively marked as worldly in the final canto, when, on her golden chariot during the great battle (XX.61.1), she

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is given the antinomical affect structure of ira and desio (XX.61.6) and is presented in a topical Petrarchan oxymoron: “ella si fa di gel, divien poi foco” (XX.61.8). In the following, her appearance is well captured in a “pudica pietà” (XX.134.4) while – and this deserves emphasis – her beauty expressly remains intact during her conversion. She remains as beautiful as she was before; she is “fior” (XX.128.5) and “rosa” (XX.129.4) and three times “bella” (XX.128.7 and 129.1). The holy number three is repeated in her actions: “Tre volte alzò le luci e tre chinolle” (XX.129.7) before she devotes her existence to the Christian side by quoting from Luke 1.38 with the Marian formula “Ecco l’ancilla tua” (XX.136.7). Pagan, mundane beauty and Christian salvation thus also constitutively interlace in the Liberata’s final canto as well; here, too, earthly beauty continues to exist as Christian beauty. Again, this is not a replacement, but a permeation: as in XIV, Armida’s dolcezza and bellezza do not change their ontological status by overcoming the mundane devices of appearance and perception, but rather through their continuation. In sum: Tasso unfolds a poetic and epistemic dynamics of integration in which worldly formats of representation and divine vero mutually permeate one another in the dream vision. This means that the Liberata neither belongs in the area of humanist this-worldliness nor is it absorbed in a restorationist religiosity of Tridentine observance. Instead the Liberata appears as a deliberate hybrid of various earlier and contemporary paradigms; within the scope of fiction (and fictional license) it opens up a poetically and epistemically “new” discourse that seeks to integrate (seemingly or actually) opposing systems of norms and representation, thus guaranteeing broad, even absolute validity for the poema. Moreover, I believe that such a principle, as exhibited and executed in the dream of the fourteenth canto, is key for an historically accurate understanding of the Liberata as a formally “new” project in epic poetry: Tasso seeks to combine Aristotelian rules of mimetic unity, romance-like varietas, a homiletic blending of styles and salvific meaning in order to unfold an up-to-date poem, appropriate to the complex cultural dynamics of the Italian late sixteenth century. It is in the textual showing of this aim that the poetic and epistemic dimension, the structural alto decreto of Goffredo’s dream vision lies.

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Appendix Gerusalemme liberata XIV, 1–20 (Tasso 1993: 421–427) / Jerusalem Delivered XIV, 1–20 (Tasso 1901: 283–287) 1 Usciva omai dal molle e fresco grembo de la gran madre sua la notte oscura, aure lievi portando e largo nembo di sua rugiada preziosa e pura; e scotendo del vel l’umido lembo, ne spargeva i fioretti e la verdura, e i venticelli, dibattendo l’ali, Lusingavano il sonno de’ mortali.

1 Now from the fresh, the soft and tender bed Of her still mother, gentle night out flew, The fleeting balm on hills and dales she shed, With honey drops of pure and precious dew, And on the verdure of green forests spread The virgin primrose and the violet blue, And sweet-breathed Zephyr on his spreading wings, Sleep, ease, repose, rest, peace and quiet brings.

2 Ed essi ogni pensier che ’l dì conduce tuffato aveano in dolce oblio profondo. Ma vigilando ne l’eterna luce sedeva al suo governo il Re del mondo, e rivolgea dal Cielo al franco duce lo sguardo favorevole e giocondo; quinci a lui ne inviava un sogno cheto perchè gli rivelasse alto decreto.

2 The thoughts and troubles of broad-waking day, They softly dipped in mild Oblivion’s lake; But he whose Godhead heaven and earth doth sway, In his eternal light did watch and wake, And bent on Godfrey down the gracious ray Of his bright eye, still ope for Godfrey’s sake, To whom a silent dream the Lord down sent. Which told his will, his pleasure and intent.

3 Non lunge a l’auree porte ond’esce il sole è cristallina porta in oriente, che per costume inanti aprir si sòle che si dischiuda l’uscio al dì nascente. Da questa escono i sogni, i quai Dio vòle mandar per grazia a pura e casta mente; da questa or quel ch’al pio Buglion discende l’ali dorate inverso lui distende.

3 Far in the east, the golden gate beside Whence Phoebus comes, a crystal port there is, And ere the sun his broad doors open wide The beam of springing day uncloseth this, Hence comes the dreams, by which heaven’s sacred guide Reveals to man those high degrees of his, Hence toward Godfrey ere he left his bed A vision strange his golden plumes bespread.

4 Nulla mai vision nel sonno offerse altrui sì vaghe imagini o sì belle come ora questa a lui, la qual gli aperse i secreti del cielo e delle stelle; onde, sì come entro uno speglio, ei scerse ciò che là suso è veramente in elle. Pareagli esser traslato in un sereno candido e d’auree fiamme adorno e pieno;

4 Such semblances, such shapes, such portraits fair, Did never yet in dream or sleep appear, For all the forms in sea, in earth or air, The signs in heaven, the stars in every sphere All that was wondrous, uncouth, strange and rare, All in that vision well presented were. His dream had placed him in a crystal wide, Beset with golden fires, top, bottom, side,

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5 e mentre ammira in quell’eccelso loco l’ampiezza, i moti, i lumi e l’armonia, ecco, cinto di rai, cinto di foco, un cavaliero incontra a lui venia, e ‘n suono, a lato a cui sarebbe roco qual più dolce è qua giù, parlar l’udia: – Goffredo, non m’accogli? e non ragione al fido amico? or non conosci Ugone? –

5 There while he wondereth on the circles vast, The stars, their motions, course and harmony, A knight, with shining rays and fire embraced, Presents himself unwares before his eye, Who with a voice that far for sweetness passed All human speech, thus said, approaching nigh: “What, Godfrey, knowest thou not thy Hugo here? Come and embrace thy friend and fellow dear!”

6 Ed ei gli rispondea: – quel novo aspetto che par d’un sol mirabilmente adorno, da l’antica notizia il mio intelletto sviat’ ha sì che tardi a lui ritorno. – Gli stendea poi con dolce amico affetto tre fiate le braccia al collo intorno, e tre fiate invan cinta l’imago fuggia, qual leve sogno od aer vago.

6 He answered him, “Thy glorious shining light Which in thine eyes his glistering beams doth place, Estranged hath from my foreknowledge quite Thy countenance, thy favor, and thy face:” This said, three times he stretched his hands outright And would in friendly arms the knight embrace, And thrice the spirit fled, that thrice he twined Naught in his folded arms but air and wind.

7 Sorridea quegli, e – non già, come credi, – dicea – son cinto di terrena veste: semplice forma, e nudo spirto vedi quì cittadin della città celeste. Questo è tempio di Dio: quì son le sedi de’ suoi guerrieri, e tu avrai loco in queste. – Quando ciò fia? – rispose – il mortal laccio sciolgasi omai, s’al restar quì m’è impaccio.

7 Lord Hugo smiled, “Not as you think,” quoth he, ”I clothed am in flesh and earthly mould, My spirit pure, and naked soul, you see, A citizen of this celestial hold: This place is heaven, and here a room for thee Prepared is among Christ’s champions bold:” “Ah when,” quoth he, “these mortal bonds unknit, Shall I in peace, in ease and rest there sit?”

8 – Ben – replicogli Ugon – tosto raccolto ne la gloria sarai de’ trionfanti; pur militando converrà che molto sangue e sudor là giù tu versi inanti. Da te prima a i pagani esser ritolto deve l’imperio de’ paesi santi, e stabilirsi in lor cristiana reggia in cui regnare il tuo fratel poi deggia.

8 Hugo replied, “Ere many years shall run, Amid the saints in bliss here shalt thou reign; But first great wars must by thy hand be done, Much blood be shed, and many Pagans slain, The holy city by assault be won, The land set free from servile yoke again, Wherein thou shalt a Christian empire frame, And after thee shall Baldwin rule the same.

9 Ma perchè più lo tuo desir s’avvive ne l’amor di qua su, più fiso or mira questi lucidi alberghi e queste vive fiamme che mente eterna informa e gira, e ‘n angeliche tempre odi le dive sirene, e ’l suon di lor celeste lira. China – poi disse (e gli additò la terra) – gli occhj a ciò che quel globo ultimo serra.

9 “But to increase thy love and great desire To heavenward, this blessed place behold, These shining lamps, these globes of living fire, How they are turned, guided, moved and rolled; The angels’ singing hear, and all their choir; Then bend thine eyes on yonder earth and mould, All in that mass, that globe and compass see, Land, sea, spring, fountain, man, beast, grass and tree.

10 Quanto è vil la cagion ch’a la virtude umana è colà giù premio e contrasto! in che picciolo cerchio e fra che nude solitudini è stretto il vostro fasto! Lei come isola il mare intorno chiude, e lui, ch’or ocean chiamat’e or vasto, nulla eguale a tai nomi ha in sè di magno, ma è bassa palude, e breve stagno. –

10 “How vile, how small, and of how slender price, Is their reward of goodness, virtue’s gain! A narrow room our glory vain upties, A little circle doth our pride contain, Earth like an isle amid the water lies, Which sea sometime is called, sometime the main, Yet naught therein responds a name so great, It’s but a lake, a pond, a marish strait.”

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11 Così l’un disse; e l’altro in giuso i lumi volse, quasi sdegnando, e ne sorrise, chè vide un punto sol, mar, terre e fiumi, che quì paion distinti in tante guise, ed ammirò che pur a l’ombre, a i fumi, la nostra folle umanità s’affise, servo imperio cercando e muta fama nè miri il ciel ch’a se n’invita e chiama.

11 Thus said the one, the other bended down His looks to ground, and half in scorn he smiled, He saw at once earth, sea, flood, castle, town, Strangely divided, strangely all compiled, And wondered folly man so far should drown, To set his heart on things so base and vild, That servile empire searcheth and dumb fame, And scorns heaven’s bliss, yet proffereth heaven the same.

12 Onde rispose: – Poi ch’a Dio non piace dal mio carcer terreno anco disciorme, prego che del camin, ch’è men fallace fra gli errori del mondo, or tu m’informe. – È – replicogli Ugon – la via verace questa che tieni; indi non torcer l’orme: sol che richiami dal lontano essiglio il figliuol di Bertoldo io ti consiglio.

12 Wherefore he answered, “Since the Lord not yet Will free my spirit from this cage of clay, Lest worldly error vain my voyage let, Teach me to heaven the best and surest way:” Hugo replied, “Thy happy foot is set In the true path, nor from this passage stray, Only from exile young Rinaldo call, This give I thee in charge, else naught at all.

13 Perchè se l’alta Providenza elesse te de l’impresa sommo capitano, destinò insieme ch’egli esser dovesse de’ tuoi consigli essecutor soprano. A te le prime parti, a lui concesse son le seconde: tu sei capo, ei mano di questo campo; e sostener sua vece altrui non pote, e farlo a te non lece.

13 “For as the Lord of hosts, the King of bliss, Hath chosen thee to rule the faithful band; So he thy stratagems appointed is To execute, so both shall win this land: The first is thine, the second place is his, Thou art this army’s head, and he the hand, No other champion can his place supply, And that thou do it doth thy state deny.

14 A lui sol di troncar non fia disdetto il bosco ch’ha gl’incanti in sua difesa; e da lui il campo tuo che, per difetto di gente, inabil sembra a tanta impresa, e par che sia di ritirarsi astretto, prenderà maggior forza a nova impresa; e i rinforzati muri e d’Oriente supererà l’esercito possente.

14 “The enchanted forest, and her charmed treen, With cutting steel shall he to earth down hew, And thy weak armies which too feeble been To scale again these walls reinforced new, And fainting lie dispersed on the green, Shall take new strength new courage at his view, The high-built towers, the eastern squadrons all, Shall conquered be, shall fly, shall die, shall fall.”

15 – Tacque, e ’l Buglion rispose: – Oh quanto grato fòra a me che tornasse il cavaliero! Voi che vedete ogni pensier celato, sapete s’amo lui, se dico il vero. Ma dì’, con quai proposte od in qual lato si deve a lui mandarne il messaggiero? Vuoi ch’io preghi o comandi? e come questo atto sarà legitimo ed onesto? –

15 He held his peace; and Godfrey answered so: “Oh, how his presence would recomfort me! You that man’s hidden thoughts perceive and know: If I say truth, or if I love him, see. But say, what messengers shall for him go? What shall their speeches, what their errand be? Shall I entreat, or else command the man? With credit neither well perform I can.”

16 Allor ripigliò l’altro: – Il Rege eterno, che te di tante somme grazie onora, vuol che da quegli onde ti diè il governo tu sia onorato e riverito ancora. Però non chieder tu (nè senza scherno forse del sommo imperio il chieder fòra), ma richiesto concedi; ed al perdono scendi degli altrui preghi al primo suono.

16 “The eternal Lord,” the other knight replied, “That with so many graces hath thee blest, Will, that among the troops thou hast to guide, Thou honored be and feared of most and least: Then speak not thou lest blemish some betide Thy sacred empire if thou make request; But when by suit thou moved art to ruth, Then yield, forgive, and home recall the youth.

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17 Guelfo ti pregherà (Dio sì l’inspira) ch’assolva il fer garzon di quell’errore in cui trascorse per soverchio d’ira, si chè al campo egli torni ed al suo onore e bench’or lunge il giovene delira e vaneggia ne l’ozio e ne l’amore, non dubitar però che ‘n pochi giorni opportuno al grand’uopo ei non ritorni;

17 “Guelpho shall pray thee, God shall him inspire, To pardon this offence, this fault commit By hasty wrath, by rash and headstrong ire, To call the knight again; yield thou to it: And though the youth, enwrapped in fond desire, Far hence in love and looseness idle sit, Year fear it not, he shall return with speed, When most you wish him and when most you need.

18 chè ’l vostro Piero, a cui lo Ciel comparte l’alta notizia de’ secreti sui, saprà drizzare i messaggieri in parte ove certe novelle avran di lui, e sarà lor dimostro il modo e l’arte di liberarlo e di condurlo a vui. Così alfin tutti i tuoi compagni erranti ridurrà il Ciel sotto i tuoi segni santi.

18 “Your hermit Peter, to whose sapient heart High Heaven his secrets opens, tells and shews, Your messengers direct can to that part, Where of the prince they shall hear certain news, And learn the way, the manner, and the art To bring him back to these thy warlike crews, That all thy soldiers, wandered and misgone, Heaven may unite again and join in one.

19 Or chiuderò il mio dir con una breve conclusion che so ch’a te fia cara: sarà il tuo sangue al suo commisto, e deve progenie uscirne gloriosa e chiara.– Quì tacque, e sparve come fumo leve al vento o nebbia al sole arida e rara; e sgombrò il sonno, e gli lasciò nel petto di gioia e di stupor confuso affetto.

19 “But this conclusion shall my speeches end: Know that his blood shall mixed be with thine, Whence barons bold and worthies shall descend, That many great exploits shall bring to fine.” This said, he vanished from his sleeping friend, Like smoke in wind, or mist in Titan’s shine; Sleep fled likewise, and in his troubled thought, With wonder, pleasure; joy, with marvel fought.

20 Apre allora le luci il pio Buglione e nato vede e già cresciuto il giorno, onde lascia i riposi, e sovrappone l’arme a le membra faticose intorno. E poco stante a lui nel padiglione venieno i duci al solito soggiorno, ove a consiglio siedono, e per uso ciò ch’altrove si fa quivi è concluso.

20 The duke looked up, and saw the azure sky With argent beams of silver morning spread, And started up, for praise axed virtue lie In toil and travel, sin and shame in bed: His arms he took, his sword girt to his thigh, To his pavilion all his lords them sped, And there in council grave the princes sit, For strength by wisdom, war is ruled by wit.

Timo Kehren (Mainz)

Calistos Träume: Eros und Thanatos in der Celestina*

Quando […] vos non possum corporali visu aspicere nec super vos constitutum aërem deprehendere, undique contra me cuncta incipiunt allidere genera, nullo possum gaudere solatio, nisi quantum falsa mihi demonstratione dormienti somni sopor adducit. Sed licet falsa me somnus quandoque largitione decipiat, nihilominus tamen ei affectuosas offero grates, quod tam dulci atque nobili me voluit deceptione frustrare. Talis namque somniculosa largitio mihi vivendi viam modumque conservat mortisve me defendit ab ira, quod maximum munus mihi videtur atque praecipuum. Mortue namque frustra medicina porrigitur. (Andreas 2003: 78) Wenn ich Euch […] nicht vor mir sehe und die Luft, die Euch umgibt, nicht atmen kann, ist mir, als wendeten sich alle Elemente gegen mich und verfolgten mich Höllenqualen; dann bin ich trostlos, wäre nicht der Schlaf, der mir im Traum ein trügerisches Bild vorspiegelt. Aber auch wenn mich der Traum bisweilen mit derartigen Zugeständnissen betrügt, dann bringe ich doch von Herzen Dank dafür entgegen, daß er mich mit einer so süßen und edlen Täuschung hinters Licht führen wollte. Denn eine solche Traumvision hält mich auf meinem Lebensweg, läßt mich mit meiner Lebensweise fortfahren und schützt mich vor der Rache des Todes. Dieses ist für mich seine größte und beste Tat, denn der Tote braucht keine Arznei mehr. (ebd.: 79)

Unter den Liebestraktaten des Mittelalters ist De amore wahrscheinlich dasjenige, dem rezeptionsgeschichtlich der größte Erfolg beschert war. Ein nicht weiter bekannter Geistlicher namens Andreas Capellanus soll es gegen Ende des 12. Jahrhunderts auf das Geheiß der Marie de Champagne verfasst haben (vgl. Neumann 2003: 314–318). Im ersten der insgesamt drei Bücher, aus denen sich das Traktat zusammensetzt, ist eine Art Gesprächsleitfaden für Männer enthalten, die eine Frau höheren Standes zu umwerben gedenken. Zu Beginn sagt der Sprecher, der hier exemplarisch das Wort ergreift, dass er sich über die Stunden der Abwesenheit seiner Geliebten hinwegtröste, indem er von ihr träume. Einerseits sei der Traum eine „falsa […] demonstratio[]“, die den Träumenden * Der vorliegende Aufsatz enthält Überlegungen, die ich z. T. bereits in meiner Dissertation verarbeitet habe: Timo Kehren (2020): Königreich Sodom: Politik der Lust in der spanischen Pikareske. Göttingen: V&R unipress (= Romanica 7).

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hinters Licht führt. Andererseits aber stelle diese „tam dulc[is] atque nobili[s] deceptio[]“ eine Möglichkeit dar, den Träumenden vor dem Tod zu bewahren. Mit anderen Worten: Bei dem erotischen Traum handelt es sich um eine Medizin, die den Liebeskranken am Leben hält und ihn in Hinblick auf die Wirklichkeit Hoffnung schöpfen lässt. Die Liebeskrankheit, die laut Andreas Capellanus durch den Traum gelindert wird, ist nicht nur ein beliebter Gegenstand mittelalterlicher Traktate, sondern auch ein literarisches Motiv, das im Mittelpunkt einer Vielzahl zeitgenössischer fiktionaler Texte steht, in denen sich vornehmlich männliche Protagonisten gemäß den Regeln der höfischen Liebe mit masochistischer Lust nach ihrer Herrin verzehren. Solche fiktionalen Texte übersetzen das kulturelle Wissen, das in den Traktaten erfasst ist, in Plotstrukturen und stellen es somit zugleich auf den Prüfstand. Mit der Krise der Ständegesellschaft gegen Ende des Mittelalters wird die Validität dieses kulturellen Wissens zunehmend infrage gestellt. Dadurch verliert auch das Konzept der höfischen Liebe seine Verbindlichkeit (vgl. Luhmann 2012). Einer der Texte, der von dieser Entwicklung zeugt, ist die um 1499 unter unbekanntem Namen veröffentlichte Comedia de Calisto y Melibea, die von dem Bakkalaureus Fernando de Rojas bearbeitet und um 1502 als Tragicomedia de Calisto y Melibea neu herausgeben wurde (vgl. Russell 2008: 16–20). Der Nachwelt ist dieses Drama, das gemeinhin als der literarische Gründungstext des Siglo de Oro gilt, unter dem Namen der Kupplerin bekannt, die dem Liebesglück der beiden ursprünglichen Titelhelden auf die Sprünge hilft: La Celestina. Alan D. Deyermond hat nachweisen können, dass De amore in der Eingangsszene des Dramas, in der Calisto in den Garten seiner Herzensdame eindringt und ihr den Hof macht, der Parodie preisgegeben wird (vgl. Deyermond 1961). Dazu passt die Deutung von Miguel Garci-Gómez und Ricardo Castells, nach der es sich bei der Eingangsszene um einen erotischen Traum des Protagonisten handle, aus dem er in der Folgeszene ungewollt erwache (vgl. GarciGómez 1985; Castells 1990). Getreu der Darstellung bei Andreas Capellanus sucht Calisto im Schlaf Trost, weil er im Wachzustand auf den Anblick Melibeas verzichten und folglich seinen Tod befürchten muss. Anders als es das Traktat verspricht, kann der Traum den Mangel im vorliegenden Fall jedoch nicht kompensieren. Dies hat zur Folge, dass Calisto schließlich der Geduldsfaden reißt: Er will die Zurückweisung seiner Angebeteten nicht mehr hinnehmen und mit dieser schnellstmöglich zur körperlichen Vereinigung gelangen. Deshalb wendet er sich an die Celestina, die ihm mithilfe eines Liebeszaubers weiterhelfen soll. Diese Entscheidung kommt den jungen Aristokraten jedoch teuer zu stehen: Er muss sie mit dem Tod bezahlen. Im Folgenden möchte ich mich mit der Frage befassen, in welchem Verhältnis Calistos Träume zur Handlung der Celestina stehen. Meine These lautet, dass die anfängliche Traumszene die weitere Hand-

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lung unter dem Mantel der Traumzensur ebenso determiniert wie vorwegnimmt. Dadurch wird das Drama als eine Reflexion über das Verhältnis von Sein und Schein lesbar, die an die Metapher des ‚Lebens als Traum‘ anknüpft.

I.

Traumarbeit

Die Eingangsszene der Celestina setzt inmitten eines Dialogs der Protagonisten ein, in dem Calisto zunächst die Schönheit Melibeas zum Thema macht. Wo sich die beiden befinden und wie es zu ihrem Treffen gekommen ist, wird allein durch den Paratext vermittelt, der dem Dialog vorangestellt ist: „Entrando Calisto [en] una huerta empós de un falcón suyo, falló ý a Melibea, de cuyo amor preso començóle de hablar.“ (Argumento del primer auto, 225) Der Paratext kontextualisiert die Szene gemäß der Logik eines Off-Stage-Kommentars und soll auf diese Weise einen Beitrag zu ihrem Verständnis leisten. Dabei stammt der Paratext wie sämtliche Zusammenfassungen, die den einzelnen Akten vorausgehen, nicht aus der Feder der Autoren selbst. Im Prolog, den Fernando de Rojas seiner Lieferung des Dramas voranstellt, heißt es ausdrücklich: „Que aun los impressores han dado sus punturas, poniendo rúbricas o sumarios al principio de cada auto, narrando en breve lo que dentro contenía […].“ (Prólogo, 219)1 Dass Calisto auf der Suche nach seinem Falken in Melibeas Garten geraten ist, wird dem LeserHörer zunächst also nur durch den Erzähleinschub vermittelt, den ein Buchdrucker verfasst und nachträglich in den Text eingefügt hat. Im II. Akt dann weist Pármeno, einer der Diener Calistos, auf die Anwesenheit dieser Elemente hin („perderse el otro día el neblí fue causa de tu entrada en la huerta de Melibea“; II, 3: 289), obgleich nicht sicher ist, dass er sich hier auch auf die Eingangsszene bezieht (vgl. Garci-Gómez 1985: 12). Laut Florence M. Weinberg lassen sich Garten und Falke als Metonymien auffassen: Die „huerta“ beziehe sich im Anschluss an den hortus conclusus der Mariensymbolik auf die Scham Melibeas, während der phallisch konnotierte „falcón“ auf Calistos Geschlechtstrieb verweise (vgl. Weinberg 1971: 137–139). Diese Metonymien lassen sich mit Sigmund Freud als Produkte der Traumarbeit auffassen (vgl. Lacan 1966: 249–289). Sie wären dann Ausdruck von Calistos geheimem Wunsch, Melibea zu beschlafen. Die Flucht des Falken bringt jedoch zum Ausdruck, dass der junge Aristokrat die Kontrolle über seinen Trieb verloren hat. Dies ist insofern problematisch, als die Liebeskonzeption, nach der sich Calisto modelliert, gerade auf die Sublimation des Triebs abhebt. Der höfische Liebhaber unterwirft sich seiner Herrin, 1 Die Celestina wird jeweils unter Angabe des Aktes, der Szene und der Seite zitiert. Getreu der verwendeten kritischen Ausgabe sind die Textstellen kursiviert, die in der zweiten Lieferung des Dramas hinzugefügt wurden.

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um seine Demut unter Beweis zu stellen. Dabei muss er sich strikt an das Gebot der Enthaltsamkeit halten. Die erotische Spannung der höfischen Liebe erklärt sich maßgeblich aus dem Aufschub der Liebeserfüllung, der in der Regel sprachlich gestaltet wird. Calistos Worte geben zunächst Anlass zur Annahme, dass er dem Handbuch des Andreas Capellanus Folge leistet: Calisto:

Por cierto los gloriosos sanctos que se deleytan en la visión divina no gozan más que yo agora el acatamiento tuyo. Mas, ¡o triste! que en esto deferimos: que ellos puramente se glorifican sin temor de caer de tal bienaventurança y yo, misto, me alegro con recelo del esquivo tormento que tu ausencia me ha de causar. (I, 1: 227)

Calisto vergleicht sich mit Heiligen, die den Anblick Gottes nicht mehr genössen als er die Ehrfurcht seiner Geliebten. Der Unterschied zwischen den Heiligen und ihm liege lediglich darin, dass er sich der dauerhaften Glückseligkeit nicht gewiss sein könne. Er müsse jederzeit die Abwesenheit Melibeas befürchten, was ihm Qualen bereite, die ihm im Sinne der dolendi voluptas zugleich aber auch mit Freude erfüllten. Ein weiterer Unterschied zu den Heiligen besteht darin, dass Calisto eine Religion ausübt, die nicht auf Gott ausgerichtet und somit als Ketzerei einzustufen ist. In diesem Zusammenhang sei auf die Stelle verwiesen, wo sich Calisto inmitten seines Liebeswahns als Anhänger des ‚Melibäer‘-Kultes zu erkennen gibt („melibeo soy y a Melibea adoro“; I, 3: 235). Was er darunter tatsächlich versteht, wird deutlich, als er den „galardón“ (I, 1: 227), den seine Angebetete ihm in Aussicht stellt, im Sinne einer körperlichen Liebeserfüllung auffasst (vgl. Russell 2008: 228, Anm. 18). Offenkundig hat er das Konzept der höfischen Liebe nicht verinnerlicht und die Vergeistigung seines Begehrens nur vorgetäuscht. Somit löst sich das Bild des entflohenen Falken ein, das für Calistos verlorene Selbstbeherrschung zu stehen scheint. Der Code der höfischen Liebe ist für ihn zum Vokabular einer Fremdsprache geworden, die er nur gebrochen spricht. Er parodiert die mittelalterliche Liebeskonzeption und bringt somit zum Ausdruck, dass sie funktionslos geworden ist. Melibea aber reagiert äußerst ungehalten auf die vorschnellen Rückschlüsse ihres Besuchers: Melibea:

[…] la paga será tan fiera qual la merece tu loco atrevimiento, y el intento de tus palabras, Calisto, has seýdo [como] de ingenio de tal hombre como tú haver de salir para se perder en la virtud de tal mujer como yo. ¡Vete, vete de aý, torpe: que no puede mi paciencia tollerar que aya subido en coraçón humano comigo el ylícito amor comunicar su deleyte! (I, 1: 228)

Melibea bezeichnet Calistos Worte als „loco atrevimiento“, auf die sie nicht anders als mit Grausamkeit reagieren könne. Für eine tugendhafte Frau wie sie sei es nicht hinzunehmen, dass ihr ein Mann sein körperliches Begehren un-

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verblümt mitteile. Sie bezeichnet ihn als „torpe“ und betont dadurch seine mangelnden Kenntnisse über die höfische Liebe. Dabei scheint es Melibea mit ihrer doppeldeutigen Aussage über den „galardón“ geradezu darauf angelegt zu haben, dass sich Calisto ihr auf diese Weise offenbart. Man gewinnt den Eindruck, dass sie ihn absichtlich in eine Falle gelockt hat, um ihn anschließend zurechtweisen und demütigen zu können. Auch für Melibea scheint es sich bei der höfischen Liebe um ein Spiel zu handeln, das bestimmten Regeln folgt, die es für die Dauer des Spiels einzuhalten gilt. Weil Calisto gegen diese Regeln verstößt, bleibt ihm bis auf weiteres nichts anderes übrig, als die entsprechenden Sanktionen über sich ergehen zu lassen. Dass die höfische Liebe ihre Verbindlichkeit verloren hat und zu einem bloßen Rollenspiel geworden ist, wird letztlich auch an der Verkehrung der Ständehierarchien deutlich, auf die der Leser-Hörer anhand der Onomastik schließen kann: Melibea ist die Tochter des Pleberio und scheint folglich dem Bürgerstand, der plebs, anzugehören. Anders als Andreas Capellanus es in seinem Liebestraktat vorgibt, ist im Falle von Calisto und Melibea also der Mann gesellschaftlich höhergestellt als die Frau. Die Unterwerfungsgeste wird somit zu einem inhaltslosen Zeichen, in dem sich die verbürgten gesellschaftlichen Hierarchien nicht mehr abbilden. Tatsächlich lässt das gesamte Drama eine tiefe Verunsicherung innerhalb der Ständeordnung erkennen. Ausgetragen wird diese Entdifferenzierungsdynamik im Medium der Liebe. Die treibende Kraft ist die Celestina, die sich flexibel über die Standesgrenzen hinwegbewegt und Liebespaare ungeachtet deren Herkunft zusammenführt. Sie verkörpert das Prinzip der Unordnung, das sich in der Welt, der sie angehört, Bahn gebrochen hat. Möglicherweise ist dies auch der Grund dafür, dass sich der Name der Kupplerin als Titel des Dramas durchgesetzt hat.

II.

Vorhersehung

Zu Beginn der zweiten Szene des I. Aktes erwacht Calisto aus einem Traum. Somit endet die erste Szene ebenso unvermittelt, wie sie begonnen hat. Dieser abrupte Übergang scheint das plötzliche Erwachen aus dem Traum auf formaler Ebene zu spiegeln und zugleich auf die grundsätzliche Schwierigkeit zu verweisen, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Der vorangehende Paratext soll auch hier Abhilfe leisten, indem er die Szene wiederum narrativ einbettet: „[Calisto,] rigorosamente despedido, fue para su casa muy sangustiado.“ (Argumento del primer auto, 225–226) Anders als zuvor scheint die narrative Vermittlung dieses Mal in Konkurrenz zur dramatischen Vermittlung zu stehen.2 2 Zur Unzuverlässigkeit der Zusammenfassungen vgl. Castells (1990: 18–20).

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Durch die Erklärung, dass sich Calisto nach der Begegnung mit Melibea – vermutlich zum Schlafen – nach Hause begibt, schafft sie einen weitgehend kohärenten Übergang zwischen Eingangs- und Anschlussszene. Dabei legt der Dialog zwischen Calisto und seinem Diener nahe, dass es sich bei der ersten Szene just um den Traum handelt, aus dem der Held hier erwacht: Calisto: Sempronio: Calisto: Sempronio: Calisto:

¡Sempronio, Sempronio, Sempronio! ¿Dónde está este maldito? Aquí estoy señor, curando destos cavallos. Pues, ¿cómo sales de la sala? Abatióse el girifalte y vínele endereçar en el alcándara. ¡Assí los diablos te ganen! Assí por infortunio arrebatado perezcas, o perpetuo intollerable tormento consigas, el qual en grado incomparable a la penosa y desastrada muerte que espero traspass[e]! ¡Anda, anda, malvado: abre la cámara y endereça la cama! (I, 2: 229)

Nachdem Calisto dreimal vergebens nach Sempronio gerufen hat, fragt er sich erbost, wo sich der Diener wohl befinde. Schließlich erscheint Sempronio und erklärt seine Abwesenheit damit, dass er dem Gerfalken seines Herrn wieder auf die Stange geholfen habe, von der er zuvor herabgestürzt sei. Doch Calisto kriegt sich nicht ein vor Wut und wünscht seinem Diener den Teufel an den Hals. An der Aufforderung, die Vorhänge des Bettes zu öffnen und dieses zu richten, wird deutlich, dass Calisto gerade aus dem Schlaf erwacht ist. Wie dem Leser-Hörer später noch einmal versichert wird, handelt es sich beim Gegenstand der Träume des Protagonisten um Melibea („[e]n sueños la veo tantas noches“; VI, 2: 362). Doch verschaffen ihm die imaginären Begegnungen mit dem Mädchen ganz offensichtlich nicht die erhoffte Befriedigung. Sie lassen sich als Albtraum auffassen, in dem es immer wieder aufs Neue zur gleichen Unlust-Erfahrung kommt. Dieser Albtraum scheint in einem komplementären Verhältnis zur Wirklichkeit zu stehen. So ist anzunehmen, dass sich der Gerfalke, von dem hier die Rede ist, auf den Falken in Calistos Traum bezieht. Nahegelegt wird dieser Konnex auch durch den doppelten Gebrauch des Verbes „endereçar“ – einmal in Verbindung mit dem Gerfalken, einmal in Verbindung mit Calistos Bett. Mit dem Sturz des Gerfalken wird also die Metonymie des Traums fortgesetzt und folglich eine Kontinuität zwischen der ersten und zweiten Szene hergestellt. Der Ausdruck „curar destos cavallos“, den Sempronio bei der Ankunft im Schlafgemach seines Herrn gebraucht, verdeutlicht, dass Calistos Traum erotischer Natur ist. Schließlich handelt es sich beim Pferd um eine traditionsreiche Allegorie des Triebs. Der Absturz des Gerfalken scheint einerseits auf die unmittelbare Liebesenttäuschung des Protagonisten zurückzuverweisen und andererseits auf den Ausgang des Dramas vorauszuweisen. Analog zum Absturz des Raubvogels wird Calisto bei einem nächtlichen Stelldichein in Melibeas Garten zu Fall kommen und den Tod finden. Vor diesem Hintergrund gewinnt die „penosa y desastrada

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muerte“, die sich Calisto herbeisehnt, noch eine zusätzliche Bedeutung. Zunächst bezieht sich die Aussage auf die Todessehnsucht des Liebenden, die sich damit erklärt, dass er im Traum von seiner Geliebten zurückgewiesen worden ist. Fasst man den Absturz des Gerfalken allerdings im Sinne einer allegorischen Prolepse auf, lässt sich Calistos Aussage als ein Ausdruck dramatischer Ironie deuten, insofern der Protagonist damit seinen eigenen Tod unwissentlich ankündigt (vgl. Russell 2008: 229, Anm. 25). Aus Calistos Klagen ist zu schließen, dass er sich ein anderes Ende für seinen Traum wünscht. Doch er weiß, dass ein Traum nicht der Kontrolle des Träumenden unterliegt und dementsprechend nicht bewusst von ihm beeinflusst werden kann. Ist der Träumende einmal erwacht, bleibt ihm lediglich die Hoffnung, dass der Traum beim nächsten Mal einen anderen Ausgang nimmt. Aufgrund dieser Einsicht überkommt Calisto ein Gefühl der Melancholie, das durch eine entsprechende Kulisse untermalt werden soll: Calisto:

Cierra la ventana y dexa la tiniebla acompañar al triste, y al desdichado la ceguedad. Mis pensamientos tristes no son dignos de luz. ¡O bienaventurada muerte aquella que deseada a los afligidos viene! ¡O si [viviesses agora Erasístrato, médico, sentirías] mi mal! ¡O piedad [seleucal], inspira en el plebérico coraçón, por que, sin esperança de salud, no embíe el espíritu perdido con el desastrado Píramo y la desdichada Tisbe! (I, 2: 229–231)

Calisto bittet Sempronio, sein Zimmer zu verdunkeln, damit ihn Finsternis und Blindheit begleiteten. Diese Worte geben zunächst zu erkennen, wie es um den Verstand des jungen Mannes bestellt ist: Calisto sieht nicht klar, er ist sozusagen blind vor Liebe. Als er den Tod dazu auffordert, ihn zu sich zu holen, erreichen seine Klagen ihren Höhepunkt. Dann aber bringt Calisto seine Hoffnung auf ein remedium amoris zum Ausdruck. Hierzu spielt er auf die Legende des griechischen Arztes Erasistratos an, der beim sterbenskranken Sohn des syrischen Königs Seleukos die Liebeskrankheit diagnostizierte (vgl. Russell 2008: 230, Anm. 27). Im Anschluss daran spekuliert Calisto darauf, dass ein medizinischer Eingriff Melibeas Herz erweichen könnte. Der Ausdruck „plebérico coraçón“, den er in diesem Zusammenhang gebraucht, verweist in erster Linie auf das Herz der Tochter des Pleberio. Durch die Adjektivierung erhält der Name des Vaters aber zugleich auch eine kategoriale Dimension, womit noch einmal die plebejische Abkunft des Mädchens unterstrichen wäre (vgl. ebd.: Anm. 29). Anhand des Pyramus-und-Thisbe-Mythos erinnert Calisto daran, dass er dem Tod geweiht ist, wenn sein Leid nicht gelindert wird. Zugleich antizipiert er damit aber auch ein weiteres Mal den tragischen Ausgang des Dramas: Nach dem Vorbild der Thisbe wird sich Melibea beim Anblick ihres toten Geliebten dazu entscheiden, diesem durch einen Sprung vom Turm des Palastes ihrer Eltern in die Ewigkeit zu folgen (vgl. ebd.: 231, Anm. 31).

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In der in Zaragoza gedruckten Ausgabe der Tragicomedia von 1507 ist statt von einer „piedad [seleucal]“ von einer „piedad celestial“ die Rede. Zwar handelt es sich hierbei um einen Fehler, der in der Lieferung der Tragicomedia, die 1570 in Salamanca erschien, wieder behoben ist (vgl. ebd.: 230, Anm. 28), doch ist er in Hinblick auf das Heilmittel, das sich Calisto schließlich auf das Anraten Sempronios zuführt, durchaus aufschlussreich: Calisto: Sempronio:

¿Cómo as penado de fazer esta piedad? Yo te lo diré. Días ha que conozco, en fin desta vezindad, una vieja barbuda que se dize Celestina, hechizera, astuta, sagaz en quantas maldades ay. Entiendo que passan de cinco mill virgos los que se han hecho y desecho por su auctoridad en esta cibdad. A las duras peñas promoverá y provocará a luxuria si quiere. (I, 4, S. 249)

Bei der „piedad“, auf die Calisto hofft, handelt es sich diesmal tatsächlich um eine „piedad celestial“: Sempronio möchte seinen Herrn mit der Celestina bekannt machen, einer alten bärtigen Zauberin, die sich auf Liebesdienste spezialisiert habe, wie es die fünftausend Mädchen zeigten, die ihre Jungfräulichkeit durch ihre „auctoridad“ verloren oder wiedererlangt hätten. Das Lexem „auctoridad“ weist auf den Einfluss der geschäftstüchtigen Kupplerin in der Stadt hin, spielt aber auch auf ihr geheimes Wissen an, mit dem sie die Wünsche ihrer Kunden wahrwerden lassen kann: Sie sei in der Lage, wie Sempronio erklärt, diese zur Todsünde der Wollust anzustiften.

III.

Wunscherfüllung

Am Ende der Exposition steht Calisto vor einem grundlegenden Problem: Anders als es im Andreas’schen Liebestraktat geschrieben steht, verschaffen ihm die Träume von seiner Geliebten keine Linderung vom Liebesleid. Im Gegenteil: Aufgrund der Abweisung, die er in seinen Träumen von Melibea erfährt, steigert sich sein Schmerz ins Unermessliche. Um nicht noch einmal von Melibea abgelehnt zu werden, entscheidet er sich, nach einer Lösung außerhalb seiner Träume zu suchen. Er wendet sich an die Celestina, deren Name sie bereits als Agentin der Wunscherfüllung ausweist: Sie ist die Himmlische, die den Menschen gleichsam den Himmel auf Erden verspricht. Dabei ist die Celestina eine Figur, die fest in der Immanenz verhaftet ist: Sie vermittelt der Geistlichkeit leichte Mädchen und stellt am Vorabend von Hochzeiten Jungfernhäutchen wieder her. Nicht dunkle Mächte treiben sie an, sondern die bloße Profitgier. Doch Calistos Wunsch stellt sie vor eine Herausforderung, die sie scheinbar nicht aus eigener Kraft bewältigen kann.

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Um Calistos Wunsch nachzukommen, ruft die Celestina am Ende des III. Aktes den römischen Gott der Totenwelt Pluto an, der in der Renaissance-Literatur als Stellvertreter für den Teufel gilt. Um sich über Gott zu erheben, geht die Kupplerin also einen Pakt mit seinem ärgsten Gegenspieler ein. Diesen will sie in einen Faden bannen, der Melibea anschließend übergeben werden und ihre Gefühle wecken soll. Durch die Teufelsbeschwörung wird einerseits das bereits erwähnte häretische Moment von Calistos Liebeskult verstärkt, andererseits wird der Bezug zwischen den drei für das Drama zentralen Themen – Traum, Trieb und Tod – expliziert. So ruft die Celestina Pluto mit einer Reihe von Attributen an, die beim Leser-Hörer ein Imaginäres der Totenwelt evozieren, das unverkennbar christliche Züge trägt: Celestina:

Conjúrote, triste Plutón, señor de la profundidad infernal, emperador de la corte dañada, capitán sobervio de los condenados ángeles, señor de los sulfúreos fuegos que los hervientes étnicos montes magnan, governador y veedor de los tormentos y atormentador de las pecadoras ánimas […]. (III, 3: 307–308)

Durch die Attribute, die Pluto hier zugeschrieben werden, kann dieser unzweifelhaft mit Luzifer identifiziert werden (vgl. Russell 2008: 308, Anm. 70): Die „corte dañada“ stellt den Gegenentwurf zum Reich Gottes dar, die Bezeichnung „capitán sobervio de los condenados ángeles“ gemahnt an den gefallenen Engel, wie er etwa im Buch Jesaja beschrieben wird (vgl. Jes 14, 12–14). Nach Maßgabe mittelalterlicher Vorstellungen wird die Hölle in den Tiefen des Ätnas („étnicos montes“) verortet, aus dessen brodelndem Schlund Schwefelfeuer („sulfúreos fuegos“) aufsteigen. Im Innern des Vulkans müssen sündhafte Seelen für die Vergehen büßen, die sie im Verlauf ihres Lebens begangen haben. Die eindrucksvollen Bilder, die hier schlagartig aufeinander folgen, sind an Intensität kaum zu überbieten. Sie erzeugen einen regelrechten coup de théâtre, der den Leser-Hörer in Aufruhr versetzen soll. Alles deutet darauf hin, dass die Celestina Himmel und Hölle im wahrsten Sinne des Wortes in Bewegung zu setzen vermag. Die Beschwörungsszene ist einer der stärksten Auftritte der Kupplerin. Sie hat wohl maßgeblich dazu beigetragen, deren Ruf als gewissenlose Herrscherin über ein düsteres Reich zu etablieren, der die Rezeption des Textes seit der Romantik geprägt hat (vgl. Lida de Malkiel 1962: 220, Anm. 19; Botta 1994: 38). Doch wird diese Vereindeutigung der spannungsvollen Grundstruktur des Dramas nicht gerecht. Auf die gleiche Weise, wie Calisto und Melibea unablässig zwischen hohem und niederem Stil oszillieren, kann auch die Celestina zwei gegensätzliche Ausdrucksformen auf sich vereinen. Demgemäß maßt sie sich an, dem Teufel am Ende der Beschwörung offen zu drohen:

188 Celestina:

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Si no lo hazes con presto movimento, ternásme por capital enemiga; heriré con luz tus cárceres tristes y escuras, acusaré cruelmente tus continuas mentiras, apremiaré con mis ásperas palabras tu horrible nombre. (III, 3: 309)

Die Celestina werde sich gegen den Höllenwart stellen, falls er ihr die Hilfe verwehre. Seine düsteren Verließe werde sie mit Licht durchfluten, seine Lügen aufdecken, seinen Namen verunglimpfen. Das Bild der Kupplerin wird mit dieser karnevalesken Inversion der Machtverhältnisse vervollständigt: Stellt sie sich auf der einen Seite als bedrohliche Zaubermeisterin dar, erweist sie sich auf der anderen Seite als Närrin, die an maßloser Selbstüberschätzung leidet. Diese Eigenschaft soll ihr am Ende zum Verhängnis werden: Aus Habgier will sie ihre Belohnung für den Liebesdienst, den sie Calisto erwiesen hat, nicht mit ihren Komplizen teilen. Diese geraten darüber so sehr in Zorn, dass sie die Achtung vor der Kupplerin verlieren und ihr in einem Akt der Selbstjustiz das Leben nehmen. Wie alle Vergehen in dem Drama bleibt auch diese Übeltat nicht ungesühnt: Die beiden Mörder werden dingfest gemacht und als „públicos malhechores“ (XIII, 3: 505) dem Henker vorgeführt. Die Ambiguität der Celestina hat die Forschung vor die Frage gestellt, ob sie tatsächlich über Zauberkräfte verfüge, oder ob sie ihre Opfer lediglich mittels rhetorischen Geschicks manipuliere (vgl. Folger 2005). Dabei ist unstrittig, dass die Wirkkraft der Sprache vom Text selbst reflektiert wird. Ob sie jedoch mit übersinnlichen Kräften gepaart ist, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Es scheint, also würde der Text hier ganz bewusst ein Fragezeichen setzen. Dafür spricht, dass der Celestina auf dem Weg zum Haus von Melibeas Eltern hinsichtlich ihrer Zauberkräfte Zweifel kommen, die sie in Form eines Monologs zum Ausdruck bringt: „Pues, ¿yré o tornarme he? ¡O dubdosa y dura perplexidad! No sé quál escoja por más sano. En el osar, manifiesto peligro, en la covardía, denostada pérdida. ¿Adónde yrá el buey que no ara?“ (IV, 1: 312) Die Worte der Alten legen nahe, dass sie sich im Unklaren darüber ist, ob der Teufel ihr wirklich beisteht. Zugespitzt ließe sich sagen, dass sie sich des Unheils nicht gewiss sein kann. Entscheidend ist letztlich jedoch, dass das Handeln der Celestina seine beabsichtigte Wirkung erzielt. Bis zu ihrem Ende gelingt es der Kupplerin, die Wünsche ihrer Kunden wahr werden zu lassen. Sie besitzt ein wie auch immer geartetes geheimes Wissen, das es ihr erlaubt, Calisto von seinen Albträumen zu befreien. Auch bei Melibea ist sie erfolgreich, wobei es in diesem Fall zunächst einiges an Vorarbeit zu leisten gilt. Unter dem Vorwand, Gespinst zu verkaufen, verschafft sich die Celestina Zugang zum Palast von Melibeas Eltern. Nachdem die Mutter ihr einen Teil der Ware abgenommen hat, gelangt die Kupplerin zu dem Mädchen und verwickelt es in ein Gespräch, in dem sie dessen Mitleid für ihre Altersbeschwerden erweckt. Als Melibea jedoch den eigentlichen Anlass für den

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Besuch erfährt, beginnt sie, ihren Gast wüst zu beschimpfen. Dabei hebt sie bezeichnenderweise auch auf dessen sprachliches Geschick ab: „No se dize en vano que el más empecible miembro del mal hombre o muger es la lengua.“ (IV, 5: 328–329) Es sind dann auch die Mittel der Rhetorik, mit denen die Celestina das Mädchen wieder beschwichtigen kann. Sie kann es sogar davon überzeugen, ihr seinen Gürtel für Calisto zu überlassen, damit dieser ihm im Sinne eines Fetischs ersatzweise Befriedigung verschafft (vgl. Herrero 1986). Bei diesem Zugeständnis handelt es sich allerdings um einen folgenschweren Fehler, denn mit dem Gürtel als Symbol der Keuschheit gibt Melibea zugleich auch ihre Jungfräulichkeit aus der Hand (vgl. Weinberg 1971: 150). Kurz nachdem die Kupplerin das Haus verlassen hat, beginnt das Mädchen tatsächlich, sich nach dem Mann zu verzehren, den es gerade noch als „perdido“ (IV, 5: 328) und „loco“ (IV, 5: 329) bezeichnet hat. Die Celestina hat ihr Ziel erreicht. Später wird ihr Melibea dafür danken, ihr die Augen hinsichtlich ihres Begehrens geöffnet zu haben: „Muchos y muchos días son passados que esse noble cavallero me habló en amor; tanto me fue entonces su habla enojosa quanto, después que tú me le tornaste a nombrar, alegre“ (X, 3: 451). Die Textstelle zeigt, dass es nicht ausreicht, einfach über Liebe zu sprechen, damit diese entsteht. Calistos Liebesbekundungen sind Melibea nach eigener Auskunft ein Ärgernis, was sich bekanntermaßen mit seinen mangelnden rhetorischen Fähigkeiten erklärt. Erst Celestinas geschickte Werbung kann bewirken, dass das Mädchen sich seinem Verehrer zuwendet und seinen Trieben freien Lauf lässt.

IV.

Traummetapher

Nachdem Melibea der Celestina im X. Akt gestanden hat, dass sie sich in Calisto verliebt hat, begibt sich die Kupplerin zu dem jungen Mann, um ihn vom Erfolg ihrer Intervention zu unterrichten. In diesem Zusammenhang lässt sie ihn auch wissen, dass Melibea ihn nächtens – „en dando el relox doze“ (XI, 3: 462) – zu sehen wünsche. Das Treffen aus der Eingangsszene soll also erneut durchgespielt werden, dieses Mal allerdings nicht im Traum, sondern in der Wirklichkeit. Als es Nacht wird, bricht Calisto zu seiner Herzensdame auf. Fürs Erste muss er sich jedoch mit Süßholzraspeln begnügen: Er ist durch eine verschlossene Tür von Melibea getrennt, sodass es noch nicht zum eigentlichen Liebesakt kommt. Calisto kehrt in seinen Palast zurück und findet in den Schlaf. Erneut schließt sich an das Treffen des Liebespaares eine Szene an, in der Calisto aus seinen nächtlichen Träumen erwacht. Anders als nach dem vorigen Treffen ist er jetzt allerdings frohen Mutes: „¡O, cómo he dormido tan a mi plazer después de aquel açucarado rato, después de aquel angélico razonamiento! Gran reposo he tenido, el sosiego y descanso proceden de mi alegría“ (XIII, 1: 501–502). War Calisto das

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Schlafen vormals ein Graus, ist er nun von „plazer“, „sosiego“ und „descanso“ erfüllt. Sein Traum ist zum Vorboten der Wunscherfüllung geworden. Durch die euphemistische Umschreibung des Treffens mit Melibea als „açucarado“ und der Unterredung mit ihr als „angélico“ verleiht er seinen Glücksgefühlen zusätzlich Ausdruck. Im XIV. Akt findet schließlich die erste Liebesnacht von Calisto und Melibea statt. In der Comedia ist dies zugleich auch die letzte Liebesnacht der beiden. Auf dem Höhepunkt seiner Leidenschaft wendet sich das Glück gegen den Protagonisten. In der Tragicomedia hingegen wird eine weitere Liebesnacht in die Handlung eingeschoben, die synekdochisch für einen ganzen Wonnemonat steht („un mes ha […] que jamás noche ha faltado sin ser nuestro huerto escalado como fortaleza“; XVI, 2: 550). Durch die Wiederholung der immer gleichen Episode erweitert Fernando de Rojas das Komikrepertoire des ursprünglichen Textes. Die Komik speist sich nun nicht mehr nur aus der Parodie der höfischen Liebe, sondern auch aus der für das Lustspiel charakteristischen paradigmatischen Handlungsstruktur (vgl. Warning 1976: 289–290). Calistos Begehren soll sich nach seinen eigenen Vorstellungen fortan immer wieder aufs Neue erfüllen: „De día estaré en mi cámara, de noche en aquel paraýso dulce, en aquel alegre vergel, entre aquellas suaves plantas y fresca verdura. ¡O noche de mi descanso, si fueses ya tornada!“ (XIV, 7: 526). Anstatt sich bei Einbruch der Dunkelheit in sein Bett zu begeben und von Melibea zu träumen, will Calisto die Nächte nun in Melibeas Garten verbringen. Zu träumen gedenkt der Protagonist fortan tagsüber, um so die Zeit bis zum Wiedersehen mit seiner Geliebten zu überbrücken. Allerdings haben Calisto und Melibea ihre Rechnung ohne die „hijas“ (IV, 2: 315) der Celestina gemacht. Die Prostituierten Areúsa und Elicia, deren Geschäfte durch den Tod der Kupplerin ins Stocken geraten sind, wollen Rache an dem Liebespaar nehmen. Aus ihrer Sicht trägt es die Schuld am Tod der Alten und ihrer Komplizen, bei denen es sich zugleich um die Freier der Mädchen handelt. Sie wenden sich an Centurio, um ihn damit zu beauftragen, Calisto zu töten. Centurio behauptet, Areúsa nach einem prämonitorischen Traum bereits zu erwarten: „La noche passada soñava que hacía armas en un desafío por su servicio, con quatro hombres que ella bien conosce, y maté al uno.“ (XVIII, 1: 566) Nachdem Areúsa ihm den Anlass ihres Besuchs vorgetragen hat, zeigt er sich entschlossen, Calisto nach Maßgabe seines Traums den Garaus zu machen. Doch wie den anderen Figuren eignet auch Centurio eine komische Seite: Kaum haben sich die beiden Prostituierten von ihm verabschiedet, gibt er sich als Prahlhans zu erkennen, der den Auftrag entgegen seiner Aussagen nicht auszuführen beabsichtigt. An seiner Stelle will er „Traso el coxo y […] sus dos compañeros“ (XVIII, 2: 570) nach Melibeas Garten schicken. Diese sollen den jungen Mann auch nicht töten, sondern ihm lediglich einen Schrecken einjagen.

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Die Sequenz um Centurio verdeutlicht, wie die Träume in der Celestina zu lesen sind: Bei seinem Plan, Calisto zu verschonen, handelt es sich lediglich um ein retardierendes Moment, das die finale Katastrophe für einen kurzen Augenblick aufschiebt. Centurio stellt sich also vergebens gegen seinen Traum. Die Mächte, die ihm diesen Traum eingehaucht haben, sind stärker als er, und so gelangt die Handlung zu ihrem tragischen Ausgang. Als es Nacht wird, findet sich Calisto einmal mehr in Melibeas Garten ein. Bald wird das vergnügte Liebesspiel von den Rufen Sosias’ unterbrochen, der vor dem Garten Wache hält. Calisto zögert nicht lange und eilt seinem Diener zur Hilfe, wovon Melibea ihn abzuhalten versucht: Calisto: Melibea: Calisto: Melibea:

Señora, Sosias es aquel que da bozes. Déxame yr a valerle. No le maten, que no está sino un pajezico con él. Dame presto mi capa, que está debaxo de ti. ¡O triste de mi ventura! No vayas allá sin tus coraças; tórnate a armar. Señora, lo que no haze espada y capa y coraçón, no lo fazen coraças y capacete y covardía. […] ¡O desdichada yo! Y ¿cómo vas tan rezio y con tanta priesa y desarmado, a meterte entre quien no conosces? Lucrecia, ven presto acá, que es ydo Calisto a un ruydo. Echémosle sus coraças por la pared, que se quedan acá. (XIX, 4: 585–586)

Die Szene ist von einer außergewöhnlichen dramatischen Spannung geprägt, die sich maßgeblich aus den gegensätzlichen Reaktionen der beiden Protagonisten auf die Gefahr außerhalb des Gartens erklärt. Im Handeln Calistos kommt dessen Erregung und Ungestüm zum Vorschein. In aller Eile zieht er sich den Mantel über, auf dem gerade noch Melibea gelegen hat. Das phallisch konnotierte Schwert, auf das hier eigens hingewiesen wird, unterstreicht das impulsive Handeln des Helden. In der Rede Melibeas hingegen häufen sich die Klagen, die den Ausgang der Szene bereits erahnen lassen. Ihr wiederholter Verweis auf Calistos Nacktheit steigert die Komik, von der sein Handeln geprägt ist. Nachdem Calisto von der Leiter gestürzt ist, wird erneut auf seinen Körper Bezug genommen. Die Worte seines Dieners Tristán vermitteln dem Leser-Hörer, dass sich Calisto bei seinem Sturz den Kopf aufgeschlagen hat und sich dessen Innereien auf dem Boden verteilt haben: „Coge, Sosia, essos sesos de essos cantos; júntalos con la cabeça del desdichado amo nuestro.“ (XIX, 6: 587–588) Mit dieser Darstellung wird die Bedeutung des Körpers für Calistos Handeln noch einmal auf den Punkt gebracht. Das ausgetretene Gehirn bringt unmissverständlich zum Ausdruck, dass der junge Aristokrat über seinen Liebeswahn den Verstand verloren hat. Zugleich erfährt sein Körper hier aber auch eine karnevaleske Öffnung, die für gewöhnlich Figuren aus dem Volk vorbehalten ist (vgl. Bachtin 1995: 358–359). Somit wird die Lehre aus dem vanitas-Motiv, der

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zufolge der Tod alle Menschen gleichmacht, ungewöhnlich plastisch in Szene gesetzt. Calistos Tod führt dem Leser-Hörer die grundlegende Problematik des Körpers im Christentum vor Augen. Als Adam und Eva im Garten Eden von der verbotenen Frucht kosten, erkennen sie, dass sie nackt sind (vgl. Gen 3, 7). Die Ursünde geht also mit einer Bewusstwerdung des Menschen über seine Körperlichkeit einher, die in der Folge zum Zeichen der menschlichen Schmach wird. Dadurch gerät der Körper in ein antagonistisches Verhältnis zur Seele, die gemäß der platonisch geprägten Kirchenlehre für die Zeit des Lebens im Körper gefangen gehalten wird. Daraus ergibt sich, dass derjenige, der sich vom Körper abwendet, für sein Seelenheil arbeitet. Calisto scheint daran ganz offensichtlich nicht gelegen zu sein. Nachdem er sich um sein Seelenheil gebracht hat, erwacht er ein letztes Mal aus einem Traum: Es ist der Traum des Lebens. Dem heutigen Leser ist diese Metapher vor allem aus Calderón de la Barcas gleichnamigem Theaterstück bekannt, wo sie anhand der Abirrungen der Hauptfigur exemplifiziert wird. Die Zeitgenossen von Fernando de Rojas konnten die Metapher freilich nur aus antiken und christlichen Quellen kennen (vgl. Schulte 1969: 132– 134). Bei der Traummetapher handelt es sich um eine Übersetzung der christlichen Vorstellung des Menschenlebens als der Ursünde geschuldetem Exil der Seele im Körper. Das Leben ist ein Traum, so die gängige Formel, aus dem man im Tod erwacht. Auch in dieser Hinsicht bleibt das Drama bis zum Ende tragisch-komisch: Mit dem Sturz des Protagonisten wiederholt sich der Sündenfall, mit dem der erste Mensch von Gott ins irdische Exil geschickt wurde. Nahegelegt wird diese Verbindung insbesondere durch die bereits zitierte Paradiesmetapher, die Calisto zur Bezeichnung von Melibeas Garten gebraucht. Im Augenblick seines Todes bittet der junge Aristokrat vergebens um die letzte Beichte. Auf diese Weise wird zu verstehen gegeben, dass er, statt im Paradies zu erwachen, mit den anderen Figuren, die in dem Drama den Tod finden, bis in alle Ewigkeit auf dem Grund des Ätnas schmoren wird.

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I Die Metapher entsteht nach Hans Blumenberg aus der Anthropologie eines Mangelwesens, das zwischen der Armut der Wirklichkeit und dem Reichtum der Möglichkeit seinen lebensweltlichen Horizont hat (vgl. ders. 1998: 88). Mangelhaft ist dabei nicht etwa erst seine Erkenntnis, sondern schon seine Sprache, die sich aus den gegebenen Lebensumständen herausbildet, deren Leistung sich jedoch auf das Unbekannte und das Mögliche beziehen muß. Diesen Mangel vermag nun die Metapher damit zu beheben, daß sie die Sprachbereiche des primären Wirklichkeitsbezuges und der sekundären Möglichkeitsbeziehung verbindet. In dieser Funktion ist die Metapher – hier zitiert Blumenberg Cicero – vergleichbar mit der Bekleidung, die ursprünglich dem Schutzbedarf des Körpers, später aber dessen Dekoration bzw. symbolischer Kennzeichnung dient (vgl. ebd.: 89). Ähnlich vollzieht sich, so Blumenberg weiter, in der Metapher ein Prozeß, bei dem eine Mangellage – die Unzulänglichkeit des Wirklichen – in eine Luxuslage – der Fülle des Möglichen – übergeht. Die Metapher erweist sich dadurch nicht nur als das „Instrument eines expansiven Weltverständnisses“ (ebd.: 88), sondern bewirkt zugleich eine affektische Umkehr: So hat das Mögliche seine negative Kehrseite im Unvorhersehbaren und ist daher stets latent mit Angst verbunden. In der Metapher – und besonders bei einer kühnen Metapher – wird jedoch das Unvorhersehbare zur Überraschung und derart gezähmt, daß das Mögliche keinen Schrecken mehr erzeugt, sondern allein als ästhetischer Genuß erfahrbar wird (vgl. ebd.: 27f.).1 Blumenbergs Überlegung zur Metapher scheint mir bemerkenswert im Hinblick auf einen besonderen Aspekt der barocken Traumthematik. Es geht dabei 1 Die Umkehrung bezieht sich Blumenberg zufolge zunächst auf den Begriff im Allgemeinen: „Der Erfolg des Begriffs ist zugleich die Umkehrung seiner Funktion: Er leitet nur den Prozeß ein, in welchem ein zum Gegenstand gewordenes trememdum, Unbekannt-Schreckendes als genießbarer Gegenstand wiederkehrt.“ (Blumenberg 1998: 27f.). Diese Umkehrung gilt auch für die Metapher, die ja „in der Ursprungssphäre des Begriffs beheimatet ist “ (ebd.: 28).

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um den paradoxalen Status des Traums, darum näherhin, daß dieser mit dem Verfall des analogischen Denkens als Wissensträger einerseits an Bedeutung verliert, sich jedoch anderseits als die dominante Metapher des spanischen Barocks etabliert, die das Lebensgefühl und die kulturelle Stimmung der gesamten Epoche zum Ausdruck bringt.2 Ein solcher Gegensatz äußert sich in der Literatur durch eine Dissoziation zwischen dem Traumwissen und der Traumpoetik: Während der Traum als narratives Ereignis immer wieder der Manipulation nahesteht, das Traumwissen mithin radikal relativiert wird,3 zeichnet sich die Dichtung durch eine höchst metaphorische Sprache aus, die sich dergestalt der schon bei Artemidor als metaphorisch verstandenen Sprache des Traums anverwandelt.4 Der Traum – so könnte man diesen Umstand zusammenfassen –, der keine epistemologische Gültigkeit mehr hat, kommt in der poetischen Sprache zu neuer Geltung. Diese Entwicklung scheint Blumenbergs Idee nachgerade zu illustrieren, wonach die Metapher den Wandel vom Mangel des Wirklichkeitsbezugs zum Luxus der Möglichkeitsbeziehung leistet. Demnach ließe sich das Verhältnis zwischen Traum und Metapher im spanischen Barock folgendermaßen definieren: Indem der Wirkungsbereich des Traums sich vom Wissen zur Poetik verschiebt, entsteht dem Traum ein Defizit des Wirklichkeitsbezugs, das nun vermittels der Metapher in einen Überschuß der sekundären Sinnangebote überführt wird. Diese Umkehrfunktion der Metapher stellt den Leitgedanken der nachstehenden Lektüre von Góngoras Fábula de Polifemo y Galatea. Das 1613 entstandene, posthum erschiene Werk besteht aus einer kurzen Verserzählung, die den Galatea-Mythos weitgehend nach Ovids Vorlage im 13. Buch der Metamorphose behandelt. Die res ist damit mehr als bekannt: Es handelt von der unerwiderten Liebe des Zyklopen zu der Meernymphe Galatea, deren Geliebter – der Hirtenknabe Acis – nach erfülltem Liebesglück von seinem Nebenbuhler mit einem Felsen erschlagen wird. Stilistisch steht der Text exemplarisch für den gongorismo, jenen nach Góngora benannten ‚dunklen Stil‘, zu dessen Merkmalen komplexe Syntax, hermetische Metaphorik und gelehrte Anspielungen gehören. In der spanischen Philologie wird der gongorismo meistens unter dem Schlagwort des culteranismo bzw. des conceptismo rubriziert.5 Von Traum ist dabei 2 Nahezu sprichwörtlich geworden der Titel von Calderóns Drama La vida es sueño für den von Traum und barocker Weltanschauung. 3 So exemplarisch in La vida es sueño, wo der Traum einerseits der politischen Manipulation des Königs dient, anderseits Segismundo dazu verhilft, mit dem desengaño das sowohl moraltheologisch konformes als auch kluges Handeln lernt (vgl. hierzu XUAN 2004: 135f. u. 154– 168). 4 Zur Artemidors Deutung des Traums als Metapher bzw. allegoria continua vgl. Walde (2001a: 192). 5 Für eine neuere Beleuchtung dieses Gemeinplatzes der Góngora-Forschung vgl. Blanco (2002).

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kaum die Rede. Daß jedoch ein Nexus zwischen dem Traum und der Sprache Góngoras besteht, hat keine geringere als die mexikanische Barockdichterin Sor Juana Inés de la Cruz erkannt. Sor Juana hat bekanntlich ihrem berühmten Traumgedicht Primer sueño die paratextuelle Notiz „imitando a Góngora“ (Sor Juana 1951: 335) vorangestellt. Damit deutet sie auf den oneirischen Charakter der Gongorinischen Sprache hin, die sie eben darum auch für die Darstellung ihrer kosmischen Traumvision nachahmt. Mit Sor Juana ließe sich mithin eine Verwandtschaft zwischen dem Traum und der Sprache Góngoras postulieren, die im Fall von Polifemo nun gerade deshalb interessant ist, weil der Traum im Text gar nicht zur Sprache kommt. Dort wird zwar der Schlaf dargestellt; doch er führt nicht zum Traum, sondern zu einer Liebesvereinigung. Die schlafende Galatea wird von Acis beobachtet, der dann seinerseits einen Schlaf fingiert, um die scheue Nymphe zu sich zu locken. Was darauf folgt, ist eine Liebesszene, deren Darstellung eine derart sinnliche Metaphorik eignet, daß Damaso Alonso sie einst als „el pasaje más sensual de toda la poesía española clásica“ (ders. 1985: 725) bezeichnet hat. Mit dem Fokus auf die Spracherotik in Polifemo wird es in der Folge zu zeigen sein, inwiefern der Metapher bei Góngora ebenjene Umkehrleistung im Sinne Blumenbergs eignet. Daß der Traum in der Handlung ausfällt, hat in diesem Zusammenhang einen programmatischen Sinn, nämlich, daß dem Traum dergestalt sein Wirklichkeitsbezug in der erzählten Welt entzogen wird. Erst dann kann an seiner Stelle eine Traumsprache treten, die es vermag, die erotischen Phantasien auf eine Weise zu Erfüllung zu bringen, wie es in der referenziellen Sprache schlechthin unmöglich wäre.

II La fábula de Polifemo y Galatea6 beginnt mit einer kollektiven Mangelsituation. Polifemo, Glauco und Palemo, drei göttliche Wesen, begehren Galatea; aber die keusche Nymphe lehnt sie allesamt ab. Dies tut sie allerdings nicht ohne Grund; denn alle drei Kandidaten sind als erotische Mangelwesen markiert: Da ist zunächst Polifemo, der mit seinem einen Auge das Zeichen der Kastration trägt.7 Ähnlich verhält es sich bei Glauco, der „el pecho no escamado“ (V. 117), also nur die Brust ohne Schuppen hat – ein euphemistischer Ausdruck für den bekannten Umstand, daß der Unterleib des Tritons aus einem wenig männlichen Fischschwanz besteht. Bei Palemo fällt schließlich das männliche mit dem ästhetischen 6 Zitiert wird nach: Góngora (1990). 7 Der Klassiker zum Thema Auge und Kastrationsangst ist Freuds Abhandlung „Das Unheimliche“ (vgl. Freud 1999: 239–268, insbes. 243f.).

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Problem zusammen; denn der junge Meergott hütet noch die blauen Köpfe „del más tierno coral“ (V. 122), wobei die weiche Koralle auf die ausstehende Erektion verweist. Hinzu kommt, daß Palemo auch noch „la gracia igual“ (V. 125) wie Polifemo hat, was im Klartext heißt: Er ist ebenso wie der Kyklop sehr häßlich. Angesichts der derart unbefriedigenden Bewerberlage zieht die schöne Nymphe verständlicherweise die Flucht vor. Herrscht damit auf der Geschichtsebene der sexuelle Mangel, so zeigt sich auf der metaphorischen Ebene, wie sich im Gegensatz dazu erotische Möglichkeiten öffnen. Dies sieht man bereits an der Beschreibung der Galatea, als sie im Morgengrauen erscheint: Purpúreas rosas sobre Galatea la Alba entre lilios cándidos deshoja: duda el Amor cuál más su color sea o púrpura nevada, o nieve roja. (V. 105–108)

Die Morgenröte, die auf die Nymphe strahlt, kommt mit deren weißen Haut in einem ambivalenten Farbenspiel zusammen. Dies erkennt man an den beiden Leitmetaphern – der Rose und der Lilie –, womit Góngora einen Klassiker der spanischen Renaissance-Dichtung zitiert: Garcilasos Sonnet En tanto que de rosa y d’acuzena.8 Dort werden der rote Teint und das helle Gesicht der Dame jeweils mit der Rose und der Lilie verglichen. Die unterschiedlichen Farben haben auf der metaphorischen Ebene darin eine Entsprechung, daß die Lilie als die emblematische Blume der Jungfrau für die Keuschheit steht, wohingegen die Rose spätestens mit dem Roman de la Rose als Standardmetapher für die sinnliche Liebe gilt. Eine solche metaphorische Opposition ruft vorderhand jenen Topos der contrari affetti auf, der in der Petrarkistischen Dichtung den zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwankenden Liebenden charakterisiert (vgl. dazu Regn 2003). Ungewöhnlich ist jedoch bei Garcilaso der Umstand, daß er die antinomische Affektstruktur nicht auf den Liebenden, sondern auf die Dame bezieht. Das auf den ersten Blick konventionelle Frauenportrait erweist sich mithin als keineswegs systemkonform; denn anstelle der stets unerreichbaren donna petrarkischer Prägart scheint die Dame bei Garcilaso nicht eindeutig tugendhaft zu sein, sondern sich auf der Schwelle zwischen dem jeweils durch die Lilie und die Rose symbolisierten Reinheitsgebot und erotischem Verlangen befinden.9 In einer ähnlich paradoxalen Affektstruktur (vgl. Regn 1987: 36) stellt nun auch Góngora Galatea vor, deren manifeste Keuschheit auf der Handlungsebene durch das metaphorische Farbspiel von rot und weiß erotisch kontaminiert wird. 8 Sonett XXIII in: Garcilaso de la Vega 1996. 9 Nur so versteht man das Sextett, als der Sprecher die Dame dazu auffordert: „Coged de vuestra alegre primera, / el dulce fruto“. Ganz im Sinne des carpe diem soll also die Dame ihre jugendlichen Reize auskosten, bevor ihre Haare so weiß wie die Lilien wird.

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Dafür spricht vor allem das Bild des roten Schnees – „nieve roja“ (V. 108) –, das einigermaßen unmißverständlich den Sekundärsinn der Defloration evoziert. Auch der weiteren Schönheitsbeschreibung liegt eine antithetische Dynamik zugrunde, die sich auf der Textebene gleichfalls durch den farblichen Kontrast von rot und weiß zeigt: De su frente la perla es, eritrea, émula vana. El ciego dios se enjoa, y condenado su esplendor, la deja pender en oro al nácar de su oreja. (V. 109–112)

Mit ihrer Stirn wetteifert also vergeblich die eritreische Perle; und Amor, verärgert, läßt diese Perle in Gold eingefaßt an ihrem Perlmutt-förmigen Ohr hängen. Der Farbkontrast zwischen rot und weiß kehrt implizit wieder und zwar vermittels der Metapher „perla eritrea“, bei der das oberflächliche Weiß der Perle durch ein hintergründiges Rot konterkariert wird: eritreo bedeutet nämlich ‚aus dem Roten Meer stammend‘. Daß Amor gerade eine solche sinnlich gefärbte Perle zum Ohrring für Galatea macht, führt dann auch am Ende der Schönheitsbeschreibung zu einer Körperöffnung: „oreja“ (V. 112). Das Liebesversprechen, das im Erscheinungsbild der Galatea angedeutet wird, erfährt im zweiten Teil der Fábula eine Bestätigung, als nämlich die anfängliche sexuelle Abstinenz in die erotische Übererfüllung umkippt. Letzteres verdankt vor allem Acis, der schon bei seinem ersten Auftritt als „venablo de Cupido“ (V. 193) metaphorisch vorstellt wird. Damit weist Acis ebenjenes phallische Attribut auf, das den anderen Prätendenten der Galatea ermangelt. So wird etwa die Höhle von Polifemo mit einen „seno obscuro“ (V. 37) verglichen, dessen weibliche Konnotation im Kontrast zur virilen Gestalt des Acis als Amors Stab deutlich ins Auge fällt. Der mythologische Zweitsinn ist auch in einer weiteren, intertextuellen Hinsicht aufschlußreich. Bemerkenswert ist hierzu der Umstand, daß die Liebeshandlung zwischen Acis und Galatea bei Ovid lediglich elliptisch erzählt wird (vgl. ders. 1994: 750–753). Gerade diese Leerstelle in der klassischen Vorlage schreibt Góngora mit einer metaphorischen Sprache aus, die unter dem Leitbild des „venablo de Cupido“ (V. 193) die narrative Enthaltsamkeit in einen sinnlichen Exzeß überführt. Die Liebesszene spielt sich vor einer bukolischen Kulisse ab: Die fliehende Galatea ruht sich an einer Quelle aus und schläft unter dem Schatten eines Lorbeerbaums ein. Acis, der sie zufällig entdeckt, stellt einen Geschenkkorb an ihre Seite und entfernt sich wieder. Was sich in dem Korb befindet, ist keineswegs nebensächlich, sondern entspricht der phallischen Konnotation von ‚Amors Stab‘: El celestial humor recién cuajado que la almendra guardó entre verde y seca, en blanca mimbre se lo puso al lado,

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y un copo en verdes juncos de manteca; en breve corcho, pero bien labrado, un rubio hijo de una encina hueca, dulcísimo panal, a cuya cera su néctar vinculó la primavera. (V. 201–208)

Den Naturprodukten – „almendra“, „manteca“, „panal“ – eignet allesamt eine männliche Sexualmetaphorik: Butter und Honigwaben stellen die harte Form der ursprünglich flüssigen Milch bzw. des Honigs dar – ganz im Gegensatz zu der weichen Form, wie sie etwa die mit Fischschwanz oder Koralle assoziierten Körper der maritimen Bewerber Galateas charakterisieren. Auf noch mehr Männlichkeit spielt schließlich die Mandel an, die an jenen bei Pausanias aufgeführten Mythos erinnert, wonach Zeus im Schlaf seinen Samen auf die Erde fallen läßt und so den hermaphroditischen Agdistis zeugt (s. Der Neue Pauly, Sp. 245 – Agdistis). Ein reproduktiver Nebensinn eignet bei Góngora jener Steineiche, deren Nektar das Bienenwachs mit dem Frühling verbindet und so die Honigwabe als „rubio hijo“ (V. 206) hervorbringt. Inwiefern dieser metaphorische Zeugungsakt mit der Mandel zusammenhängt, erfährt man durch den Ausgang des Hermaphroditen-Mythos: Aus Furcht vor Agdistis schneiden ihm die Götter das männliche Geschlechtsorgan ab und aus der Erde, in der dieses begraben wird, wächst ein Mandelbaum. Die erotische Botschaft von Acis scheint nun durchaus anzukommen, als die aufgewachte Galatea den Korb findet und sich sofort auf die Suche nach dessen Besitzer begibt. Auf dem Feld findet sie den schlafenden Acis, der, wie erwähnt, den Schlaf nur vortäuscht, um die schreckhafte Nymphe zu sich zu locken. Im Zusammenhang mit seinem Geschenkkorb – vor allem mit den darin befindlichen Mandeln – weist der Schlaf von Acis noch einen weiteren erotischen Nebenton auf; denn er erinnert an den Schlaf des Zeus, dessen Zeugungskraft sich in dem vom Agdistes Männlichkeit befruchteten Mandelbaum manifestiert. Die Stimmung steigert sich noch, als Galatea den Körper des Hirtenknaben unter der Anweisung des Erzählers betrachtet: en lo viril desata de su vulto lo más dulce el Amor, de su veneno bébelo Galatea, y da otro paso por apurale la ponzoña al vaso. (V. 285–288).

Im sensus literalis geht es hier um das virile Gesicht von Acis, das Galatea fasziniert und von dem sie immer mehr zu sehen verlangt. Das Motiv des obsessives Blicks verweist auf die bereits in der antiken Medizin behandelte Liebeskrankheit, deren Ursache nach der Vermögenspsychologie ein Liebesobjekt darstellt, das sich als Bild in das Gehirn des Liebenden einprägt und dort ein unablässiges

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Sehen auslöst.10 Topisch scheint es auch, daß die visuelle Fixierung bei Góngora vermittels einer Trinkmetapher – „bébelo Galatea“ (V. 287) – zum Ausdruck kommt; findet sich doch die figurative Liaison von Trinken und Sehen, um ein späteres, dafür aber berühmtes Beispiel zu nennen, in Calderóns La vida es sueño. So spricht Segismundo bei seiner ersten Begegnung mit Rosaura von seinen Augen als „ojos hidrópicos“,11 da sie die schöne Fremde bei jedem Anblick noch mehr anschauen wollen. Gleichwohl geht es bei Góngoras Trinkmetapher um mehr als um das reine Sehen. Das direkte Objekt von „beber“ ist nämlich das Gift Amors, dessen flüssige Form im Zusammenhang mit dem „venablo del Cúpido“ (V. 206) deutlich sexuelle Assoziationen hervorruft. In der Tat kann man hier mit Gerhard Poppenberg von einer „claridad pornográfica“ sprechen (ders. 2015: 219, Anm. 23): Die Trinkmetaphorik führt die Oral-Erotik plastisch vor Augen, bevor der Guß in das Gefäß den „otro paso“ (V. 287), also den weiteren Schritt des Koitus sinnbildlich antizipiert. Die Oral-Erotik bleibt in der darauf folgenden Szene der Liebesvereinigung weiterhin das Leitmotiv: No a las palomas concedió Cupido juntar de sus dos picos los rubies cuando al clavel el joven atrevido las dos hojas le chupa carmesies. (V. 329–332)

Auf der Handlungsebene geht es hier um einen Kuß, den Acis der immer noch scheuen Galatea aufzwingt und deren Widerstand damit endgültig bricht. Semantisch schließt sich diese Stelle durch die Farben-Isotopie an das Portrait der Galatea an, wobei der vorherige Weiß/Rot-Kontrast nunmehr der Dominanz des sinnlichen Rot – „rubíes“, „clavel“, „carmesí“ – weicht. Das Rot steht metaphorisch für die Lippen der Galatea, die Acis so kräftig ableckt, bis sie sich wie zwei Blätter der Nelken öffnen. Inmitten der metaphorischen Bildersprache fällt nun ein völlig unpoetisches Wort eklatant auf: „chupar“ (V. 332). Der Stillbruch hat insofern einen Signalcharakter, als das Wort aus dem niedrigen Register auf einen am unteren Körperteil der Galatea ausgekosteten amor lascivo hindeutet. Aus diesem Blickwinkel gilt die karmesinrote Farbe dann auch nicht nur für die heftig geküßten Lippen, sondern dient implizit auch dazu, die Defloration zu visualisieren. Eine solche Lektüre bestätigt sich in den darauffolgenden Zeilen, wo das erotische Vorspiel geradeaus in den tálamo, also ins Ehebett führt: 10 Zur Theorie der Liebeskrankheit und deren Bedeutung für die frühneuzeitliche Literatur Spaniens vgl. Folger (2002). 11 „Ojos hidrópicos creo / que mis ojos deben ser, / pues cuando es muerte el beber / beben más y desta suerte, / viendo que el ver me da muerte / esto muriendo por ver“ (V. 227–232). Zitiert nach: Calderón (1996).

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Cuantas produce Pafo, engendra Gnido, negras vïolas, blancos alhelíes, llueven sobre el que Amor quiere que sea tálamo de Acis ya y de Galatea.(V. 333–336)

Das Kontrastprogramm der Farben wird hier ein weiteres Mal variiert: Während das Weiß – „blancos alhelíes“ (V. 334) – unverändert bleibt, wird das Rot durch das Schwarz – „negras vïolas“ (V. 334) ersetzt. Die gegensätzlichen Farben haben gleichwohl einen gemeinsamen Ursprung; denn ebenso wie die schwarzen Veilchen stammen auch die weißen Levkojen von Paphos und Neapel, d. h. von zwei gleichermaßen berühmten Kultstätten der Aphrodite. Die Liebe verbindet jedoch nicht nur die Blumen, sondern auch das damit eigentlich gemeinten Liebespaar, also Acis, dessen schwarzes Haar durch die „negras violas“ (V. 334) repräsentiert wird, und Galatea, auf deren weiße Haut die „blancos alhelís“ (V. 334) anspielen. Überdies sind die beiden Blumen in phonetischer Hinsicht zweifach bemerkenswert; zum einen deshalb, weil vïolas qua Homophonie „violas“, also die sexuelle Gewalt aufruft, zum andern insofern, als sich bei „vïolas“ und „alhelíe“ der Vokal i auf orthographisch markierter Weise wiederholt. Letzteres erweist sich als signifikant im Hinblick auf einen autographen Intertext, genauer: auf das berühmte Ring-Sonett von Góngora, das in den Anthologien gemeinhin den Titel „De una dama que, quitándo se una sortija, se pica con un alfiler“ trägt. Der damit benannte, eher banale Sprechgegenstand, daß nämlich eine Dame sich bei der Entfernung eines Rings an den Fingern verletzt, erhält dank der metaphorischen Sprache einen ausgeprägten erotischen Zweitsinn. Dies gilt insbesondere für die Beschreibung jenes Moments, als die Dame sich verletzt und deren weiße Haut von Blut rot gefärbt wird: „púrpura ilustró menos indïano / marfil; invidïosa sobre nieve, / claveles deshojó la Aurora en vano (V. 11–14). Im Licht des Farbkontrastes von rot/weiß aktiviert die florale Metapher für die Schnittwunde die Assoziation der Defloration. Darauf folgt weiterhin eine phonetische Rekurrenz des Vokals i, die am Anfang des Sextetts durch die Interjektion von „ay“ eingeleitet und sich fortan insgesamt nicht weniger als 15 mal wiederholt und so ebenfalls erotisch lesbar wird.12 Nachgerade lautmalerisch ertönt damit ein Schmerzgeschrei, der sich primär auf die Handverletzung, im sekundären Sinne jedoch auf die voluptas dolendi der Penetration beziehen läßt. Ähnlich bedeutungsvoll ist nun auch das Klangbild in der Liebesszene von Polifemo, als sich Acis und Galatea unter dem Blumenregen von „vïolas“ und „alhelíes“ vereinigen: Ein weiteres Mal wirkt hier das ‚i‘ als ein phonetisches Signal, womit der Liebesakt gleichsam zu einem onomapoetisch artikulierten Höhepunkt kommt. 12 „Mas ay, que insidïoso latón breve, / en los cristales de su bella mano / sacrílego divina sangre bebe: / púrpura ilustró menos indïano / marfil; invidïosa sobre nieve, / claveles deshojó la Aurora en vano. (V. 9–14, Zitiert nach Góngora 1985).

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Wie man an der bisherigen Lektüre der Liebesszene sieht, fällt die Liebeserfüllung auf der Handlungsebene mit einem metaphorischem Exzeß in der Rhetorik zusammen. Damit stellt Polifemo nicht nur ein ideales Beispiel für jene Überfunktion des Stils dar, mit der Hugo Friedrich die Barocke Dichtung charakterisiert hat (vgl. ders. 1964: 545). Überdies deutet eine ebensolche Überfunktion bei Góngora noch auf etwas anderes hin und zwar auf jenen Mangel, den Blumenberg in seiner Überlegung zur Metapher als deren Wesensbedingung definiert hat. Dieser Mangel bezieht sich freilich nicht auf die Erotik, sondern gerade auf das, was sie ersetzt, nämlich auf den Traum. Dessen Ausfall, wie sich demnächst anhand einer weiteren Vergil-Referenz zu zeigen sein wird, hat eine politische Bedeutung: Während der traumlose Schlaf der Acis und Galatea zu einer symbolisch leeren Erotik führt, ist es umgekehrt Polifemo, der den Traum des Goldenen Zeitalters als Habsburger Reichsmythos in einer monströsen Gestalt verkörpert.

III Der Liebeserfüllung von Acis und Galatea geht, wie schon erwähnt, ein doppelter Schlaf der beiden Figuren voraus: Die schlafende Galatea wird zunächst von Acis entdeckt, der sodann, als die Nymphe sich ihm nähert, selbst den Schlafenden spielt. Folgt nun auf diesen doppelten Schlaf die Liebeshandlung, so tut sich damit eine signifikante Leerstelle auf; denn mit dem ausgefallenen Traum fällt ebenjene Aktivität aus, die Zeichen produziert und den Schlaf wie auch die Erotik bedeutungsvoll macht. Als Kontrastfolie dient hierzu ein meines Erachtens wichtiger Intertext von Polifemo, in dem der Schlaf, die Erotik und der Traum eine politisch sinnhafte Motivtrias bilden. Es handelt sich um Ovids Fasti, näherhin um das dritte Buch, in dem die Legende der Rhea Silvia bzw. deren Schwängerung durch Mars als der römische Gründungsmythos erzählt wird (Ovid 2014: 96–99). Ovid erzählt die Legende folgendermaßen: Die Vestalin Rhea geht zur Quelle, um heilige Gegenstände zu waschen. Dabei schläft sie in einer bukolischen Landschaft ein. Mars – so heißt es bei Ovid kurz und bündig – „videt hanc visamque cupit potiturque cupita“ (V. 3.21). Währenddessen schläft Rhea weiter und hat einen Traum, von dem besonders ein Aspekt, wie man sehen wird, in Bezug auf Polifemo ins Gewicht fällt: Aus ihrer Haarbinde, die ihr bei der Diensttätigkeit herunterfällt, erwachsen zwei wunderbare Palmen, von denen eine größer ist als die andere. Sie ist derart gigantisch, daß ihre Zweige den ganzen Erdkreis bedecken und ihre Krone den Himmel berührt. Nach dem Aufwachen rätselt Rhea über den Sinn ihres Traums. Für die Leser bedarf es jedoch keiner großen hermeneutischen Anstrengung, den Traum zu entziffern: Während das Herunterfallen der Haarbinde auf den Verlust der Jungfräulichkeit

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hindeutet, steht das Wachsen zweier Palmen – ebenfalls symbolisch – für die Zeugung der Zwillingsbrüder Romulus und Remus. Die Fasti sind in der Góngora-Forschung kaum als Referenz-Text behandelt worden. Es gibt jedoch einige Parallelen zwischen der Schlafszene bei Ovid und der bei Góngora, die eine Bezugnahme als durchaus naheliegend erscheinen lassen. Dies gilt insbesondere für die idyllische Kulisse, vor der sowohl Ovids Vestalin als auch Góngoras Nymphe zwischen den schattenspendenden Pflanzen und Vogelgesang am Wasserufer einschläft.13 Wichtiger für den Traum-Aspekt scheint mir indes weniger die Gemeinsamkeiten in den Details als vielmehr der große Unterschied, daß nämlich der Schlaf bei Ovid zum Traum führt, bei Góngora hingegen nicht. Dieser Unterschied ist kein Zufall, sondern hängt mit der Rolle des jeweiligen Liebhabers zusammen. Mars und Acis reagieren völlig anders angesichts der schlafenden Schönheit: Während der Kriegsgott die begehrte Frau unmittelbar erobert, geht der Hirtenknabe gleichsam über den Umweg der Metapher: Er bietet seiner Dame einen Geschenkkorb an, um ihr eine symbolisch verschlüsselte, intime Botschaft zu übermitteln. Diese Diskrepanz im erotischen Umgang ist im Hinblick auf das Traummotiv durchaus von Belang. Denn das Heroische verbindet bei Ovid Eros mit Polis – geht doch Mars’ erotische Eroberung mit Rheas Traum einher, der die römische Reichsgründung emblematisch ankündigt. Im Gegensatz dazu fällt bei Góngora mit dem Traum die Polis vom Eros mit der Folge ab, daß der Liebe von Acis und Galatea jedwede politische Symbolik entbehrt. An deren Stelle tritt eine metaphorische Sprache, die das Bedeutungsdefizit des Liebesaktes mit einem Exzeß an beinahe pornographischer Konnotation kompensiert. Die Entkoppelung von Polis und Eros, die der Liebeshandlung bei Góngora im Kontrast zum Ovidischen Hypotext eignet, erweist sich mit der Figur des Polifemo als programmatisch. Polifemo verkörpert das dunkle Gegenbild der oft als kristallin beschriebenen, hellen Erscheinung der Galatea. Als „obscuro seno […] / de la noche“ (V. 37f.) wird seine Grotte am Anfang vorgestellt, deren Eingang – dem Körpermaß des Zyklopen entsprechend – einem „bostezo, el melancólico vacío“ (V. 42), also einem melancholischen leeren Gähnen der Erde gleichkommt. Die Melancholie gilt metonymisch auch für den einäugigen Riesen selbst, dem als „horror de aquella sierra“ (V. 43) der Genuß des amönen pastoralen Lebens versagt bleibt. Seine Melancholie rührt gleichwohl nicht nur von seiner physischen Monstrosität her. Vielmehr kommt der Figur des Polifemo eine politische Bedeutung zu – ebenjener Sekundärsinn also, der dem bukolischen Liebesglück von Acis und Galatea abgeht. Dies erkennt man gleich am Anfang, als Polifemo in seiner Eigenschaft als Hirte mit einer Tasche voller Früchten vorgestellt wird. Dabei bekommt die Eichel eine besonders ehrenvolle 13 Vgl. Ovid, Fasti, 3. 17.18; Góngora, Polifemo, V. 177–182.

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Erwähnung; denn sie wird gepriesen als „honor de la montaña / pavellón al siglo fue dorado“ (V. 85f.). Die Periphrase spielt auf die legendäre Lebensform im Goldenen Zeitalter an, als man sich von Fürchten ernährt und unter der Eiche geruht haben soll. Im Zusammenhang mit Polifemo hat man sich das Goldene Zeitalter allerdings weniger vegetarisch vorzustellen, sondern vielmehr als ein politisches Kennwort zu verstehen. Dies wird im letzten Teil der Fábula deutlich, als Polifemo sich über seine enttäuschte Liebe beklagt und dabei seine königliche Genealogie hervorhebt: Del Júpiter soy hijo, de las ondas, aunque pastor; si tu desdén no espera a que el monarca de esa grutas hondas, en trono de cristal te abrace nuera, Polifemo te llama, no te escondas; (V. 401–405)

Als Jupiters Nachfahren stellt sich also Polifemo vor und seinen Vater – Poseidon – nennt er den Monarchen auf dem Kristallthron. Der Königsmetaphorik zufolge verkörpert Polifemo das Goldene Zeitalter als einen Herrschaftsmythos, der im weiteren Verlauf des Textes noch eine zusätzliche, imperiale Konnotation aufweist. Neben seiner edlen Herkunft ist Polifemo auch stolz auf seine Körpergröße. „Sentado“ (V. 410), so gibt er an, „a la alta palma no perdona“ (V. 410), d. h. er kann also sitzend mit seiner rauen Hand die Früchte der hohen Palme erreichen. Symbolisch relevant ist hier die Palme, deren politische Bedeutung auf Ovids Fasti zurückgeht. Dort wachsen nämlich in Rheas Traum zwei Palmen, von denen eine größer als die andere ist: inde duae pariter, visu miraile, palmae surgunt: ex illis altera maior etat, et gravibus ramis totum protexerat orbem contigeratque sua sidera summa coma. (V. 3. 30–34)

Wie die wenig später erwähnte Wölfin deutlich macht, stehen die beiden Palmen für die Zwillingsbrüder Romulus und Remus. Die größere Palme ließe sich folglich als Siegeszeichen sowohl für Romulus als auch für das römische Reich lesen. Für letzteres sprechen die Expansionsmetapher, daß nämlich die Zweige der Riesenpalme den ganzen Erdkreis bedecken. Hat die imperiale Glorie Roms bei Ovid ein weiteres Sinnbild darin, daß die Krone der Palme die höchsten Sterne berührt, so wird diese kosmische Größe von Góngoras Polifemo noch übertroffen. Dies tut er in einer Spiegelszene, die gleich auf den Palmen-Passus folgt: […] el día que espejo de zafiro fue luciente

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la playa azul, de la persona mía. Miréme, y lucir vi un sol en mi frente, cuando en el cielo un ojo se veía: neutra el agua dudaba a cuál fe preste o al cielo humano, o al cíclope celeste. (V. 418–424)

Man kann hier von einer grotesken Transposition des Narziß-Mythos sprechen; denn anstelle des schönen Jünglings ist es nunmehr das einäugige Monster, das sich im Wasser anschaut und dabei an seinem Spiegelbild ergötzt. Gefallen findet er ausgerechnet an seinem Auge, das er im Wasser so einzigartig leuchten sieht wie die Sonne im Himmel: Miréme, y lucir vi, un sol en mi frente, cuando en el cielo un ojo se veía: neutra el agua dudaba a cúal fe preste, o al cielo humano, o al cíclope celeste. (V. 421–424)

Die Selbstverherrlichung des Polifemo hat ihre Pointe nicht nur in der Doppeldeutigkeit der Frage, ob sein Auge das Spiegelbild der Sonne oder umgekehrt die Sonne das Spiegelbild seines Auges ist. Vielmehr identifiziert er sich mit Sonne – sind sie sich doch aus der Sicht von Polifemo so ähnlich, daß das neutrale Wasser nicht zwischen dem menschlichen Himmel und dem himmlischen Zyklopen zu unterscheiden weiß. Das Spiegelbild und die Sonne – diese beiden Elemente werden durch Polifemos narzißtische Selbstbetrachtung auf eine politisch bedeutsame Weise zusammengebracht. Dabei erfährt die Sonne als traditionelles Herrschersymbol durch das Auge des Polifemo eine anormale Verdoppelung: Als Spiegelbild der Sonne ist das Auge des sich zum „cielo humano“ (V. 424) stilisierenden Unholdes ein irdisches Herrschaftszeichen; als Zeichen seiner Monstrosität stellt jedoch das Auge zugleich umgekehrt das Spiegelbild einer Herrschaft dar, die bereits deformiert ist und nur noch die Reminiszenz jener imperialen Palme aufweist, von der die Mutter der römischen Gründungsbrüder bei Ovid träumt. Gehört dort die Palme mithin zum Traum vom Römischen Reich, so ist der Traum als Ursprung der Palme bei Góngora verloren gegangen. Was ein solcher Verlust für das Goldene Zeitalter bedeutet, das ja als Herrschaftsmythos durch die Figur des Polifemo aufgerufen wird, läßt sich ebenfalls am Sonnen-Vergleich des zyklopischen Auges ablesen. Hierzu muß man sich daran erinnern, daß das Auge in der Literatur des Siglo de Oro eine spezifische Bedeutung hat: nämlich als Anal-Metapher. Dies belegt etwa der Titel einer humoristischen Kleinschrift Quevedos, Gracias y desgracias del ojo del culo (Quevedo 1996); oder aber auch der Eintrag im Diccionario de la Real Academia, der besagt, daß das Diminutiv von ojo, ojete bis heute in der Umgangssprache Anus bedeutet (vgl. RAE 1992: 1042). Wie sich das Auge in diesem übertragenen

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Sinne zur Sonne verhält, erklärt Octavio Paz in seinem berühmten Essay-Band Conjunciones y disjunciones (ders. 1991). Paz begreift die Anal-Erotik als eine kulturelle Chiffre der hispanischen Welt. So weist sie nicht nur mit dem pikaresken Genre eine eigene literarische Tradition auf. Wichtiger noch für Paz ist die Vorstellung, die der oben erwähnten Formulierung von Quevedos „el ojo del culo“ (ders. 1996) zugrunde liegt, wonach also der Anus ein anderes Gesicht darstellt. Die damit implizierte Analogie zwischen den beiden Körperteilen hat ferner einen subversiven Charakter. Dies erläutert Paz mit Góngoras Polifemo und zwar gerade anhand der oben zitierten Szene von dessen Selbstbetrachtung: Polifemo ve su cara disforme como otro firmamento. Transformaciones: el ojo del culo: el del cíclope: el del cielo. El sol disuelve la dualidad cara y culo, alma y cuerpo, en una sola imagen, deslumbrante y total. Recobramos la antigua unidad pero esa unidad es ni animal ni humana, sino ciclópea, mítica. (Paz 1991: 12)

Die Sonne bei Góngora löst demnach die Körper/Seele-Opposition als eine der dominanten Dichotomien christlicher Kultur auf und macht es folglich möglich, eine gleichsam totale Einheit antiken-mythischen Ursprungs zurückzugewinnen. Die Anal-Erotik vermag jedoch nicht nur die herrschende Kulturordnung zu destabilisieren, sondern wirkt – weiterhin nach Paz – ebenfalls subversiv im Hinblick auf ihre antikapitalistische Symbolik. So läßt sich die Sonne durch das tertium comparationis der Farbe mit dem Gold verbinden, das Paz weiterhin nach Freuds Theorie der analen Phase der sexuellen Entwicklung als die „visión excremental“ (Paz 1991: 31) symbolisch liest. Auf dieser Weise entsteht mit Auge – Anus – Sonne – Gold – Exkrement – schließlich eine perverse – für Paz daher anti-bürgerliche – Isotopie: Das Auge verweist auf den Anus, der weiterhin metonymisch das Exkrement als faules Abbild der Sonne aufruft: „[E]l excremento es el doble del falo como el falo lo es del sol. El excremento es el otro falo, el otro sol. Aismismo, es sol podrido, como el oro es luz congelada […]“ (ebd.: 32). Überträgt man nun die von Paz aufgezeichnete Verweiskette auf die Figur des Polifemo, so ergibt sich daraus eine obszöne Herrschaftsallegorie: Polifemos Auge steht im figurativen Sinne des „sol podrido“ (ebd.) für ein verkommenes Reich, das vom Mythos des Goldenen Zeitalters nur noch den exkrementösen Abglanz hat. Worauf sich diese allegorische Dekadenz bezieht, läßt sich im historischen Kontext unschwer erraten. Gemeint ist das Regnum Philips III., der als erster der Austrias Menores die nationale decadencia initiiert hat. Wenn seine Epoche dennoch glanzvoll war, so aufgrund einer translatio in dem Sinne, daß das Goldene Zeitalter von der Politik auf die Literatur überging. Vor diesem Hintergrund erweist sich Góngoras Polifemo dann auch als eine doppeldeutige Symbolfigur, die nicht nur das deformierte corpus politicum, sondern auch die sprachlich extravagante Barockdichtung verkörpert. So wird Polifemos Klage nicht zufällig als eine „horrenda voz“ (V. 465) charakterisiert; denn gerade darin

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erfährt seine physische Deformation eine ästhetische Umwandlung. Dabei ist die horrende Stimme, die Polifemo mit einer „zampoña ruda“ (V. 358), also mit einer rauen Hirten-Flöte begleitet, insofern metapoetisch zu verstehen, als sie die Stimme des bukolischen Erzählers verdoppelt, der zu Beginn der Fábula seine „rimas sonora“ (V. 1) „al son de la zampoña mía“ (V. 6) ankündigt. So besehen stellt Polifemo eine figura auctoris dar, deren dunkler Stil in der dunklen Gestalt des Zyklopen ein monströses Gleichnis findet. Dieses Gleichnis, in dem das Ungeheuer zum Sinnbild der Dichtung wird, gilt schließlich auch exemplarisch für eine metaphorische Sprache, der – um ein letzteres Mal auf Blumenberg zu rekurrieren – die Umkehrfunktion zukommt, den Mangel in der politischen Wirklichkeit in den Luxus des ästhetischen Genusses zu verwandeln. Eine solche Umkehrleistung zielt jedoch bei Góngora nicht auf eine ästhetische Evasion. Dagegen spricht das Ende des Polifemo, bei dem die pastorale Liebesidylle einer gewaltsamen Gründung zum Opfer fällt. Als Gründungsgewalt läßt sich nämlich der an Acis verübte Mord lesen, der ja von mimetischer Rivalität14 herrührt – Acis und Polifemo begehren dieselbe Frau – und damit ebenjene Ursache aufweist, die im römischen Gründungsmythos den Brudermord herbeiführt. Sinnvoll scheint folglich auch das Schlußbild des Polifemo, das den erschlagenen Acis – gleichsam eine Sündenbock-Figur – als zerstückelten Leib zeigt:15 Seine Körperteile kleben noch an der Klippe, während seine weißen Knochen bereits mit den Wellen dahinfließen. Arcis ist – metapoetisch gelesen – das Gründungsopfer für eine poetische Sprache, worin der Schrecken des politischen Zerfalls ebenso ästhetisch salviert wird, wie der verdrängte Traum des Imperiums gewaltsam wiederkehrt.

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Stephan Leopold (Mainz)

Soñadas invenciones. Traumwissen und Traumpoetik im Don Quijote

I Don Quijote behandelt die Fallgeschichte eines Mannes, der zu wenig schläft, dafür aber zu viele Ritterromane liest. Er tut dies, wie es heißt, „las noches […] de claro en claro, y los días de turbio en turbio“ (DQ: I.1, 39)1, also genau genommen unausgesetzt. Letzteres hat zur Folge, [que] se le secó el cerebro de manera que vino a perder el juicio. Llenóse la fantasía de todo aquello que leía en los libros, así de encantamentos como de pendencias, batallas, desafíos, heridas, requiebros, amores, tormentas y disparates imposibles; y asentósele de tal modo en la imaginación que era verdad toda aquella máquina de aquellas soñadas invenciones que leía, que para él no había otra historia más cierta en el mundo. (ebd.)

Die gefährliche Mischung aus Schlafentzug und exzessiver Lektüre führt nach dem vermögenspsychologischen Modell der Epoche dazu, daß der letzte der drei Hirnventrikel – die memoria – von dem Gelesenen nicht nur überfrachtet wird, sondern das Gelesene auch als erlebte Erfahrung abspeichert. Dem unterliegt eine physiologische Begründung, wonach die hochgradig affektisch aufgeladene Lektüre im Verein mit dem Schlafentzug eine Austrocknung des Gehirns bewirkt, so daß sich das Gelesene besonders nachhaltig in die memoria einprägen kann. Dies beeinträchtigt wiederum die Funktionsfähigkeit des zweiten Hirnventrikels – der vis aestimativa –, der nun Außenreize nicht mehr gemäß der Welterfahrung bewerten kann, sondern ausschließlich anhand des Gelesenen bemißt, das eben diese Welterfahrung weitgehend verdrängt hat (Vgl. Folger 2002: 235–239). Der Landjunker Alonso Quijano2 wird also in der Tat zu einem fahrenden Ritter, der 1 Cervantes Saavedra, Miguel de (2001): Don Quijote de la Mancha, hg. von F. Rico. Barcelona: Crítica. [1605/15]. Zur Entlastung des Fußnotenapparats zitiere ich den Don Quijote im Haupttext unter Angabe der Sigle, des Teils sowie Kapitels und der Seite. 2 Im ersten Teil des Romans gibt sich der Erzähler noch unsicher hinsichtlich des Namens – „Quijada“, „Quesada“ oder „Quijana“ (DQ: I.1, 37) –, am Ende des zweiten Teils nennt sich der wieder zur Vernunft gekommene Don Quijote selbst „Alonso Quijano“ (DQ: II.74, 1217).

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einen Erfahrungsschatz besitzt, der ihn von demjenigen, der er einst war, grundlegend unterscheidet: Er wird zu Don Quijote. Was nun die für die Selbstentfremdung ursächlichen Ritterromane angeht, so kommt hier, wie der Erzähler darlegt, erschwerend hinzu, daß sie voll von Abstrusem – „disparates imposibles“ – sind und darum seiner Meinung nach auch den Status von „soñadas invenciones“, also ‚geträumten‘ bzw. ‚erträumten Erfindungen‘ haben. Es versteht sich, daß auf diese Weise Lesen und Träumen in beträchtliche Nähe geraten, denn wer dergleichen Traumgespinste liest, der träumt gleichsam. Im gegebenen Fall gilt dies um so mehr, als unser Landjunker, da er nicht schläft, keine Traumarbeit mehr leisten kann und die oneirischen Fiktionen im Gegenzug sein Wachbewußtsein gänzlich in Beschlag nehmen. Doch weshalb wird er überhaupt nach ihnen süchtig? Daß es dabei womöglich nicht nur um das Abstruse geht, offenbart uns sehr viel später Sancho Panza, wenn er gegen Ende des zweiten Teils folgendes über Schlaf und Traum zu sagen weiß: [E]n tanto que duermo, ni tengo temor, ni esperanza, ni trabajo, ni gloria; y bien haya el que inventó el sueño, capa que cubre todos los humanos pensamientos, manjar que quita la hambre, agua que ahuyenta la sed, fuego que calienta el frío, frío que templa el ardor, y, finalmente, moneda general con que todas las cosas se compran […]. (DQ: II.68, 1180)

Für Sancho ist Schlaf zweierlei: Vergessen und Wunscherfüllung. Dies liegt daran, daß im Spanischen „sueño“ gleichermaßen Schlaf wie Traum bedeutet. Der Schlaf entbindet vom Wachbewußtsein und dessen Unzulänglichkeiten; der Traum ist die Münze, mit der sich alle Dinge kaufen lassen, was es so zu verstehen gilt, daß derjenige, der träumt, all das erlangen kann, was ihm im Wachzustand fehlt. Laut Sancho hat der Traum demnach vor allem eine kompensatorische Funktion, er kommt mithin für den im Wachzustand bestehenden Mangel auf. Ein solcher Mangel scheint nun auch ausschlaggebend für die Lesesucht des Alonso Quijano, ist doch der Alltag, den der alternde Junggeselle an der Seite seiner Haushälterin und seiner Nichte in dörflicher Abgeschiedenheit fristet, äußerst ereignisarm, will heißen ziemlich langweilig. Noch im 15. Jahrhundert hatte der kastilische Landadel Sommer für Sommer an den Maurenkriegen teilgenommen und damit letztlich zur territorialen Einheit des Landes beigetragen;3 um 1600 ist er ebenso funktionslos geworden wie jene verrosteten Rüstungsteile und Lanzen, die Alonso Quijano in einer vergessenen Ecke seines 3 Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das romanische Jahreszeitenfresco, das sich im Panteón Real zu León befindet. Dort ist für den Monat die Kriegstätigkeit gegen die Mauren angezeigt. Einschlägig ist hier auch Carcel de amor (1492) von Diego de San Pedro, wo der Erzähler gleich zu Beginn sagt, er befinde sich auf der durch den anbrechenden Winter bedingten Rückreise von der „guerra del año pasado“ (vgl. San Pedro 1995: 65).

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Hauses aufbewahrt. Und so paart sich denn bei dem zu Tatenlosigkeit verdammten Edelmann nahezu unausgesetzter Müßiggang mit einer gehörigen Portion Nostalgie, um nicht zu sagen Melancholie. Auch erklärt sich vor diesem Hintergrund, weshalb er gerade Ritterromane liest, bieten sie ihm doch mit ihren „soñadas invenciones“ einen Raum des Imaginären an, der kompensatorisch für die verlorene gesellschaftliche Funktion aufkommen kann. Eben darin besteht freilich die Gefahr, denn Alonso Quijano liest nicht, um seinen Alltag besser zu ertragen, sondern um ihm gänzlich zu entfliehen. Er liest deshalb so lange, bis die für das Realitätsprinzip normalerweise gültigen Binäroppositionen Wachen und Traum bzw. Wirklichkeit und Fiktion zusammenbrechen und er sich in ein Traumgeschöpf, man könnte auch sagen, in seinen Traummann verwandelt. Es ist daher kaum erstaunlich, daß er als Don Quijote während seiner Ausfahrten auch nachts lieber wacht als schläft, träumt er doch, wenn man so will, mit offenen Augen. Für unsere Fragestellung ließe sich daraus eine erste Überlegung ableiten, die sowohl Traumwissen als auch Traumpoetik betrifft. Cervantes begreift Träume zum einen nach Maßgabe der Wunscherfüllung, zum anderen bewertet er sie im Sinne der Fiktion, also als Erfindung des Träumers. Will man für den Don Quijote eine Poetik des Traums veranschlagen, so müßte man dies allerdings dahingehend spezifizieren, daß die Traumwelt Don Quijotes stets von der zeitgenössischen Lebenswelt kontrastiert wird, und es gerade die traumhafte Verblendung des Protagonisten ist, die letztlich einer Poetik des Realismus Vorschub leistet.4 Dies gilt insbesondere für den ersten Teil, in dem Don Quijote weitgehend allein mit seinem Ritterwahn steht, dafür aber die Lebenswelt eine detailreiche Schilderung erfährt und auch eine Reihe von Figuren aufweist, die mit alles anderem als imaginären Problemen geschlagen sind. Gleichwohl zeichnet sich bereits hier eine sukzessive Verwandlung der Lebenswelt ab. So etwa, wenn sich der Dorfgeistliche und der Barbier auf die Suche nach Don Quijote begeben und sich hierzu gemäß dem ritterlichen Code verkleiden: der Geistliche als „doncella andante“ (DQ: I.25, 298), der Barbier als deren Knappe. Die Absicht hinter diesem durchaus pikanten cross dressing5 zielt auf Don Quijotes Reizmuster, wonach er in Not geratenen Damen beizustehen hat und sich – so der Plan des Geistlichen – unter diesem Vorwand auch vielleicht 4 Ich folge hier in leichter Abänderung Fredric Jameson, der davon ausgeht, daß der Realismus des Don Quijote erst aus der Kollision eines feudalen Narrativs mit der frühkapitalistischen Kulturrevolution entsteht (vgl. Jameson 1992: 164–167). 5 Um sich in die „doncella andante“ zu verwandeln, legt er seine Soutane ab, was nicht ganz unproblematisch ist, da ein Geistlicher seinen Status eigentlich nicht verbergen darf. Das neue Outfit weist dazu deutlich burleske Züge auf, trägt er doch neben altmodischen Frauenkleidern auch eine aus einem Strumpfband gefertigte Maske, die seinen Bart verbirgt. Dies bringt selbst Sancho, der von seinem Herrn ja einiges gewohnt ist, zum Lachen. (DQ: I.27, 300).

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nachhause locken lasse. Wenn dieser Plan letztlich eine Korrektur erfährt, so deshalb, weil sich mit der schönen Dorotea eine in der Tat in Not geratene junge Frau zu den beiden gesellt. Dorotea hat sich in der Hoffnung aufgemacht, ihren wortbrüchigen Verführer aufzuspüren. Zwar ist ihr dies bislang nicht gelungen, dafür kennt sie sich in Sachen Verkleidung um so besser aus, schließlich ist sie ja in Männerkleidung unterwegs. Es bedarf daher keiner langen Überredung, um sie dazu zu bewegen, in die Rolle der Prinzessin Micomicona zu schlüpfen und Don Quijote eine Verfolgung durch einen bösen Riesen vorzugaukeln. Auf die Charade fällt Don Quijote erwartungsgemäß herein. Auch bewirkt sie mittelbar seine Gefangennahme und Rückkehr in die heimatliche aldea, womit der erste Teil schließt. Im zweiten Teil wird die Verwandlung der Lebenswelt noch dadurch gesteigert, daß nun der erste Teil innerhalb der Fiktion als Buch verfügbar ist und dessen Leser für Don Quijote eine Ritterwelt nachstellen, die nicht selten – wie die Abenteuer in der langen Sequenz bei den Herzögen – deutlich oneirischen Charakter aufweisen. Bevor ich mich jedoch diesen nächtlichen, mit großem Statistenaufgebot und allerlei Spezialeffekten aufgeführten Traumspielen zuwende, will ich zunächst auf die beiden Episoden eingehen, in denen Don Quijote selbst als Träumer thematisch ist. Dort läßt sich nämlich ein Wandel in seiner Traumaktivität feststellen, der für das Verhältnis der beiden Romanteile wesentlich ist und ohne den sich das Ingenium der herzoglichen Traumspiele nur unzureichend erschlösse. Gemeint sind der Kampf mit dem Riesen bzw. den Weinschläuchen sowie die Zauberwelt in der Höhle von Montesinos.

II Der Kampf mit dem Riesen im 35. Kapitel des ersten Teils trägt sich in der Schänke des Juan Palomeque zu, wo Don Quijote bereits zuvor allerhand Schabernack getrieben hatte. Dorthin kehrt er jetzt nach einem mehrtägigen Bußeaufenthalt in der Sierra Morena zurück. Mittlerweile sind der besagte Dorfgeistliche, der Barbier und Dorotea zu ihm gestoßen und auch ist die Charade um die Prinzessin Micomicona bereits in vollem Gange. Aufgrund des entbehrungsreichen Bußeaufenthaltes ist Don Quijote jedoch vorerst zu erschöpft, um gegen den bösen Riesen – er heißt Pandafilando – auszuziehen, weshalb er auch gleich nach der Ankunft in der Schänke darum bittet, daß man ihm ein Nachtlager bereite. Kaum gebettet, schläft er ein. Die anderen Gäste vertreiben sich unterdessen den Abend mit der Lektüre einer Novelle, zu der es vorerst nur soviel zu sagen gilt, daß sie aufgrund ihrer beträchtlichen Länge die Aufmerksamkeit des Lesers von der Haupthandlung ablenkt. Um so effektvoller ist es daher, daß, gerade als die Novelle ihren ersten Höhepunkt erreicht hat, Sancho aufgeregt in

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die Stube stürzt und die erstaunten Gäste auffordert, seinem Herrn im Kampf gegen den Riesen beizustehen. Diese eilen herbei, woraufhin sich ihnen folgender Anblick bietet: Estaba [don Quijote] en camisa, la cual no era tan cumplida que por delante le acabase de cubrir los muslos y por detrás tenía seis dedos menos; las piernas eran muy largas y flacas, llenas de vello y nonada limpias; tenía en la cabeza un bonetillo colorado, grasiento, que era del ventero; en el brazo izquierdo tenía revuelta la manta de la cama […], y en la derecha, desenvainada la espada, con la cual daba cuchilladas a todas partes, diciendo palabras como si verdaderamente estuviera peleando con algún gigante. Y es lo bueno que no tenía los ojos abiertos, porque estaba durmiendo y soñando que estaba en batalla con el gigante: que fue tan intensa la imaginación de la aventura que iba a fenecer, que le hizo soñar que ya había llegado al reino de Micomicón y que ya estaba en la pelea con su enemigo; y había dado tantas cuchilladas en los cueros, creyendo que las daba en el gigante, que todo el aposento estaba lleno de vino. (DQ: I.35, 415f.)

Wenn es von Don Quijote, der keine Hose trägt, heißt, sein Hemd reiche ihm vorne nicht bis zu den Oberschenkeln und hinten sei es noch eine Handbreit kürzer, so bedeutet dies nichts geringeres, als daß er von der Hüfte abwärts nackt ist. Seine äußere Erscheinung steht mithin in krassem Gegensatz zu der von ihm ausgeführten heroischen Kampfhandlung. Sie ist jener Poetik des Realismus geschuldet, die sich erst im Kontrast zur Poetik des Traumes voll entfaltet. Letztere ist hier ganz in das Innere des Subjekts verlegt, denn nur der schlafwandelnde Don Quijote, der sich träumend bereits im Reiche Micomicón wähnt, gewahrt unter seinen geschlossenen Lidern den Riesen Pandafilando. Die anderen sehen einen unzüchtig bekleideten Irren, der inmitten einer Rotweinlache frenetisch mit seinem Degen auf lederne Weinschläuche einsticht. Was das Auseinandertreten von subjektiver und objektiver Wahrnehmung angeht, unterscheidet sich die Szene kaum von Don Quijotes vorherigen Abenteuern. Sie ist jedoch insofern eine Steigerung, als hier Don Quijote in gewisser Weise nicht mehr mit der Wirklichkeit kollidiert und so ein wesentliches traumspezifisches Merkmal gänzlich zu Entfaltung kommen kann: die Wunscherfüllung. Seiner Verlaufsform nach handelt es sich dabei um einen Episodentraum, also um eine voll entwickelte Sequenz, die, mit Freud gesprochen, auf Tagesreste zurückgreift, um diese gemäß dem Begehren des Träumenden weiter auszugestalten. Dies ist darum von Bedeutung, weil die Fürbitte der Dorotea als Prinzessin Micomicona das erste spezifisch ritterliche Ereignis ist, das von der Lebenswelt ungebrochen und ohne nachträgliche Korrektur auf Don Quijote gekommen ist. Es bietet ihm daher die Möglichkeit, sich im Traum als vollwertiger Ritter zu erfahren, mithin eine Glückserfahrung zu machen, die ihm bislang aufgrund der widerständigen Lebenswelt in dieser Form verwehrt blieb. Nicht nur für Sancho, auch für Don Quijote ist der Traum also jene Münze, mit der sich alle Dinge kaufen lassen. Das Problem daran ist allerdings, daß Don Quijote kein

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passiver Träumer ist, sondern als Schlafwandler Traum und Wachzustand miteinander in demselben Maße verschwistert, wie er die Fiktion in die Wirklichkeit trägt. Dies richtet beträchtlichen Schaden an, und spätestens, wenn der Wirt seinen Wein ersetzt haben will, zeigt sich, daß man für manche Träume auch in der Lebenswelt bezahlen muß. Letzteres schlägt die Brücke zu der langen Schaltnovelle, die den Titel El curioso impertinente trägt und die durch Don Quijotes Kampf gegen den Riesen unterbrochen wird. Getrieben von unbotmäßiger Wissensgier will dort Anselmo überprüfen, ob seine Frau Camila ihm unter allen Umständen treu bleibe, weshalb er seinen besten Freund Lotario dazu überredet, die Probe aufs Exempel zu machen. Die Probe fällt, wie man sich denken kann, negativ aus. Lotario und Camila verlieben sich und während sie bald mit großer Regelmäßigkeit die Ehe brechen, erhält Anselmo von Lotario immer neue Belege für die außerordentliche Tugendhaftigkeit seiner Frau. Die Lage kompliziert sich, als Lotario den nächtlichen Galan von Camilas Zofe für deren zweiten Liebhaber hält und blind vor Eifersucht den vermeintlichen Treuebruch gegenüber Anselmo zur Anzeige bringt. Dieser will nun Camila auflauern, um seine Schande mit eigenen Augen zu sehen. Doch in der Zwischenzeit hat Lotario seinen Irrtum eingesehen und Camila gewarnt, was dazu führt, daß Anselmo anstatt der vermeintlichen Wahrheit nunmehr ein perfektes Schauspiel geboten bekommt. Hierzu tritt Lotario in Camilas Gemach, um ihr dort unmißverständliche Avancen zu machen. Als er sich jedoch Camila brüsk nähert, ruft sie aus, der Untreue ziehe sie den Tod vor, woraufhin sie sich mit einem Dolch theatralisch in eine zuvor als ungefährlich ausgemachte Stelle unter dem Schlüsselbein sticht. Anselmo ist überglücklich. Mehr denn je von der Treue seiner Gattin überzeugt, „quedó […] el hombre más sabrosamente engañado que pudo haber en el mundo.“ (DQ: I.34, 414). Wenn nun gerade an dieser Stelle Sancho den Vortrag der Novelle unterbricht, so ist dies alles andere als ein Zufall, läßt sich doch der schlafwandelnde Don Quijote unschwer als das groteske Gegenstück zu dem hinters Licht geführten Anselmo erkennen. Beide verbindet außerdem ein unsachgemäßer Umgang mit dem Wissen. Anselmo will das Wesen der Frau ergründen und erlangt dadurch eine Fiktion; Don Quijote hält die Fiktionen der Ritterromane für verbriefte Wahrheiten und häuft damit ein Wissen an, das ihn blind für die Wirklichkeit macht. Daraus ergibt sich eine weitere Parallele, denn Anselmo will sich ja gerade nicht mit der lebensweltlichen Frau zufrieden geben, von der man in der Frühen Neuzeit weiß, daß sie sich bei aller Tugend durchaus in Versuchung führen läßt. Er hängt also einem Frauenideal an, das ihn in nicht unbeträchtliche Nähe zu Don Quijote rückt, liebt dieser doch die unvergleichliche Dulcinea del Toboso, die allerdings sein ureigenes Hirngespinst ist. Es ist also, so paradox es anmuten mag, erst der betrogene Anselmo, der wirklich glücklich ist. Gerade deshalb

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streicht Cervantes die groteske Leiblichkeit Don Quijotes auch so deutlich heraus. Ideal und Wirklichkeit könnten nicht weiter auseinandertreten, und wenn Anselmo eine gleichsam körperlose Frau will, bekommt der Leser mit dem nackten Don Quijote die, wenn man so möchte, unverhüllte kreatürliche Wahrheit geboten. Der Umstand, daß Dorotea, nachdem sie einen kurzen Blick auf Don Quijotes Bekleidungsgrad geworfen hat, nicht in dessen Kammer treten will (DQ: I.35, 416), scheint mir auf dieser Linie zu liegen. Auch Dorotea ist ein Opfer der Verkennung von Ideal und Wirklichkeit, war sie doch den Heiratsschwüren eines aristokratischen Schwerenöters aufgesessen und steht nunmehr als doncella que dejó de serlo (DQ: I.28, 327)6 im Zeichen unsymbolisierter Kreatürlichkeit. Ihr altes Selbst als „doncella“ hat sie verloren, ein neues Selbst kann sie nur erlangen, wenn sie ihres Verführers habhaft wird und ihn dazu bewegt, das Eheversprechen einzulösen. Daher auch die ursprüngliche Verkleidung als Knabe, die Dorotea nicht nur vor männlichen Zugriffen schützen soll, sondern zugleich auch ihren problematischen Status verbirgt. Es geschieht also weniger aus Schamgefühl, wenn sie sich weigert, mit Don Quijotes grotesker Leiblichkeit konfrontiert zu werden. In ihrer neuen Verkleidung als Prinzessin Micomicona ist sie zum Schein wieder zur „doncella“ geworden und hat als solche Don Quijote erst die Blaupause für seine Traumhandlung an die Hand gegeben. Seine groteske Leiblichkeit steht jedoch in jähem Gegensatz zu diesem ritterlichen Schein und entlarvt ein rein kreatürliches Sein, das bis auf weiteres auch Doroteas eigens Stigma ist.7 Von dergleichen Ambivalenz bleibt Don Quijote selbst verschont. Für ihn geht das Prinzip der Wunscherfüllung zur Gänze auf, er bringt seinen Riesen zur Strecke und erfährt sich euphorisch im Sinne seines Ideal-Ich. Als er daraufhin einmal kurz erwacht, kniet er denn auch, wie er meint, vor der Prinzessin Micomicona nieder, um ihr sodann treu den Abschluß seiner Heldentat zu melden. Es folgt eine lange Rede in der für Don Quijote üblichen anachronistischen Diktion, bei der „alta y fermosa señora“ (DQ: I.35, 417) handelt es sich jedoch um den Dorfgeistlichen, der in seiner Verkleidung als „doncella andante“ das Ideal holder Weiblichkeit nur sehr unzureichend erfüllt. Dementsprechend groß ist das Gelächter der Anwesenden, denn so kommt zu allem Überfluß auch noch ein 6 Ich habe das Zitat hier angepaßt. Wortwörtlich heißt es: „y con volverse a salir del aposento mi doncella, yo dejé de serlo“. Das Zeugma spielt mit der Polysemie von doncella als Zofe und Jungfrau: Als die Zofe das Zimmer verließ, hörte Dorotea auf, eine Jungfrau zu sein. 7 Walter Marx weist in diesem Zusammenhang auf die unterschiedlichen Bedeutungen von Micomicona hin. Mico bedeutet ‚Affe‘, in der Verdoppelung mit comicona, ‚Schauspielerin‘, wäre dann das Nachäffen gemeint, das ja Dorotea in der Tat betreibt, wenn sie sich auf Don Quijotes Wahn einläßt. Gleichzeitig gibt es um 1600 aber auch die Fügung „hacer mico“ und diese meint ‚jmd. unter falschen Versprechungen verführen‘. So besehen verweist Doroteas nom de guerre also auch immer schon auf das, was sich unter der Verkleidung verbirgt: ihre nicht symbolisierte Körperlichkeit (vgl. Marx 2008: 75).

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Moment des Karnevalesken ins Spiel, das der grotesken Leiblichkeit endgültig die Krone aufsetzt. Damit ist die Episode allerdings noch nicht an ihr Ende gekommen. Die Schaltnovelle erweist sich im weiteren Verlauf als ernste Kontrafaktur zu Don Quijotes traumhafter Glückserfahrung, wenn die Affäre zwischen Lotario und Camila schließlich doch auffliegt und sowohl die Ehebrecher als auch der eben noch glücklich verblendete Gatte sämtlich zu Tode kommen. Anders ist es Dorotea beschieden, der der Zufall noch in derselben Nacht ihren flüchtigen Verführer in die Hände spielt. Der Ausgang dieses Wiedertreffens bleibt dabei bis zu einem gewissen Grad ungewiß, auch wenn Don Fernando, so sein Name, Dorotea erneut die Ehe verspricht. Wie Don Quijote ist Don Fernando ein Verblendeter mit Wiederholungszwang, weshalb es sich erst noch zu zeigen hat, ob er überhaupt in der Lage ist, seinem chronischen Drang zum erotischen Abenteuer Zügel anzulegen.8 Für unsere Fragestellung ist dies aber nebensächlich, denn Don Quijote erfährt von all dem nichts. Er reist am nächsten Morgen mit der Prinzessin Micomicona weiter und obgleich er sich manchmal wundert, weshalb sie so offensichtlich mit einem Mann turtelt, folgt er doch unverbrüchlich seinem ritterlichen Wahn. Eben dies wird sich im zweiten Teil des Romans grundlegend ändern, wenn nunmehr die Kreatürlichkeit in Don Quijotes Traumwelt einbricht und damit nicht zuletzt das Prinzip der Wunscherfüllung schwächt.

III Ich komme zum Abenteuer in der Höhle von Montesinos, das sich im 23. Kapitel des zweiten Teils befindet. Der Ort ist real, für Don Quijote jedoch vor allem deshalb von Interesse, weil Montesinos eine Figur aus dem Rolandstoff ist und ihren Platz in der Romancero-Dichtung hat.9 Don Quijote, der an die Einheit von Worten und Dingen glaubt, nimmt das Toponym ernst und will in die Höhle hinabsteigen, da er sich von Montesinos wichtige Auskünfte bezüglich der verwandelten Dulcinea erhofft. Hierzu muß man wissen, daß Don Quijote mit Sancho zu Anfang des zweiten Teils nach Toboso gereist war, um seiner Dame die Aufwartung zu machen. Dies ist schon deshalb absurd, weil der Erzähler uns wiederholt davon unterrichtet hat, daß es sich dabei um die Bäuerin Aldonza Lorenzo handele, die eine besonders gute Hand beim Schweineeinsalzen habe und laut Sancho zudem einen 8 Der Roman ist hier so angelegt, daß sich Don Quijotes ritterlicher Wahn in einer Reihe von Figuren, darunter Don Fernando, spiegelt, die einem romanesken Paradigma entstammen und nach und nach sämtlich in der Schenke des Juan Palomeque zusammentreffen. Zur romanesken Kontrafaktur siehe Leopold (2016a: 178–182). 9 Einschlägig ist hier etwa der romance „Cata Francia, Montesinos“, in: Roig Díaz (1991: 186).

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„olorcillo algo hombruno“ (DQ: I.31, 359) verströme. Genau genommen aber weiß Sancho gar nichts über die Frau, denn ebensowenig wie Don Quijote hat er je ihre Bekanntschaft gemacht. Im ersten Teil hatte er jedoch seinem Herrn, da dieser in der Sierra Morena Buße tat, versprochen, Dulcinea in Toboso davon Kunde zu geben. Dort war er jedoch nie angelangt, denn unterwegs waren ihm der Dorfgeistliche und der Barbier begegnet. Als die drei sodann auf die in einem Fluß badende Dorotea stießen, ersann der Dorfgeistliche die besagte Charade um die Prinzessin von Micomicona, deren Ausgang wir bereits kennen. Damit steht nun Sancho, als er mit seinem Herrn im Morgengrauen in Toboso anlangt, vor einem gravierenden Problem, will er doch nicht zugeben, daß er ihn bezüglich seiner Begegnung mit Dulcinea belogen hat. Er weiß sich allerdings dadurch aus der Affäre zu ziehen, daß er, als drei Schweinemägde auf Eseln vorüberreiten, kurzerhand auf die mittlere der dreien zeigt und diese als Dulcinea ausweist. Für Don Quijote ist dies ein großer Schock, er sieht nämlich, anders als man es aus dem ersten Teil gewohnt war, in der Tat nichts als eine Schweinemagd, die zudem noch recht kräftig nach Knoblauch riecht. Da Sancho nun aber nach ritterlicher Manier die überirdische Erscheinung der hohen Dame lobt, kann Don Quijote nicht umhin, der Schweinemagd seine Ehrerbietung zu erweisen und ihr sein Bedauern darüber auszusprechen, daß er nicht in der Lage sei, ihre strahlende Schönheit zu erkennen. Die Schweinemagd fühlt sich naturgemäß auf den Arm genommen und reitet unter Protest von dannen. Don Quijote bleibt in tiefer Melancholie versunken zurück, bevor er zu dem einzigen für ihn sinnvollen Schluß kommt: daß nämlich Dulcinea verzaubert sein müsse (DQ: II.10, 706–710). Die Verzauberung der Dulcinea ist das große hermeneutische Problem, das den zweiten Teil überschattet, denn ohne eine veritable Dame droht Don Quijotes ganze ritterliche Existenz zusammenzubrechen. Dem Abstieg in die Höhle von Montesinos fiebert er daher mit großer Erwartung entgegen. Dieser Abstieg ist ebenfalls dem Rolandstoff entlehnt, näherhin Ariosts Orlando furioso, wo im zweiten Gesang Bradamante in die Zaubergrotte Merlins gelangt, um dort von diesem nicht nur ihr späteres Eheglück mit Ruggiero verheißen, sondern auch gleich den daraus hervorgehenden Stammbaum der Este mitgeliefert zu bekommen (vgl. Weinberg 1986: 259–288). Nachgebildet ist die Episode bei Ariost den Hadesfahrten der antiken Helden, insbesondere denjenigen des Odysseus und des Aeneas.Was nun das Abenteuer in der Höhle von Montesinos von ihren Vorlagen unterscheidet, ist der Umstand, daß Don Quijote niemals den Höhlengrund erreicht, sondern auf einem Felsabsatz unterhalb des Eingangs einschläft und zu träumen beginnt. Der Traum, in dem Don Quijote von Montesinos in einen kristallinen Palast geführt wird, entspricht gattungsgeschichtlich dem, was William V. Harris in seiner Studie zum Traum in der Antike als Epiphanie-Traum bezeichnet hat (vgl. Harris 2009: 23–90). Um einen solchen handelt es sich, wenn dem Träumer ein

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Gott oder anderweitiger Bote erscheint, der ihm sodann einen Auftrag erteilt oder von etwas Kunde gibt. In der antiken Epik ist dies der mit Abstand häufigste Traumtypus, er besteht jedoch, wie Harris belegt, im christlichen Mittelalter in modifizierter Form fort – es sind hier nun vor allem Engel oder die Jungfrau, die dem Träumer entgegentreten. Diese Konjunktur endet Harris zufolge auf der Schwelle zum 17. Jahrhundert, wenn dort im Zuge der voranschreitenden Säkularisierung der Epiphanie-Traum jenem bereits erwähnten Typus weicht, den er als Episodentraum bezeichnet. Für den Traum in der Höhle von Montesinos ist dieser Paradigmenwechsel nun deshalb von Interesse, weil es sich dabei um eine Kombination der beiden Traumtypen handelt. Das Movens des Träumers ist hier wie bereits zuvor das Prinzip der Wunscherfüllung. Diesem ist es geschuldet, daß Montesinos auftritt und Don Quijote am Ende verspricht, er werde ihn zu gegebener Zeit wissen lassen, wie sich die Entzauberung der Dulcinea bewerkstelligen lasse. Der Epiphanie-Traum erfährt damit freilich eine nur unvollkommene Realisierung. Der Episodentraum ist dafür um so reicher, denn er weist eine Reihe grotesker Entstellungen auf, wie wir sie aus der eigenen Traumerfahrung kennen. Diese „disparates“ werden dominant, sobald Montesinos Don Quijote durch die Palastwelt führt und hinter einer Kristallwand Belerma, die Geliebte eines bei Roncevaux gefallenen Ritters erscheint. Belerma entspricht so gar nicht den Erwartungen Don Quijotes: Ihre Augenbrauen sind zusammengewachsen, ihre Nase platt, der Mund groß, die Zähne spärlich und schief, zudem weist sie große Augenringe und einen gelblichen Teint auf. Letzteres, so versichert Montesinos, nicht etwa deshalb, weil sie, wie man meinen könnte, mit dem Monatsleiden geschlagen wäre, sondern aufgrund ihrer Verzauberung, die sie im Zustand tiefer Trauer über die Jahrhunderte konserviert habe. Unter normalen Umständen, so führt er weiter aus, würde sie selbst die Schönheit der unvergleichlichen Dulcinea del Toboso weit in den Schatten stellen. Spätestens jetzt versteht man, was es mit diesem unvermittelten Einbruch grotesker Leiblichkeit auf sich hat. Die verzauberte Belerma ist eine Stellvertreterfigur für jene häßliche Schweinmagd, die Don Quijote in Toboso gesehen hat und deren Antlitz ihn seither phantasmatisch verfolgt. Es muß deshalb auch nicht überraschen, wenn Montesinos in der Folge auf drei wild herumspringende Schweinmägde deutet, unter denen Don Quijote sogleich die unvergleichliche Dulcinea del Toboso erkennt – dies allerdings wiederum in der Gestalt, wie sie ihm von Sancho gezeigt wurde. Zu Don Quijotes Erleichterung erläutert Montesinos daraufhin, daß die Anwesenheit der drei Frauen keineswegs ungewöhnlich sei, denn schließlich werde die Höhle von unzähligen verzauberten Damen aus den gegenwärtigen und vergangenen Jahrhunderten bevölkert. Bis hierher folgt der Traum, einem wenn man so möchte, dialektischen Prinzip. Die zunächst perfekte Zauberwelt wird jäh von grotesker Leiblichkeit heim-

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gesucht, diese jedoch gleichsam synthetisch darin aufgehoben, daß eben sie der Normalzustand der Verzauberung sei. Die groteske Leiblichkeit ist damit allerdings noch nicht gebannt. Sie wird im Gegenteil noch dadurch befördert, daß auf Montesinos’ Versprechen hin, er werde späterhin Don Quijote Wege und Mittel für die Entzauberung der Dulcinea aufzeigen, eine der drei Schweinemägde auf Don Quijote zutritt und diesen darum bittet, er möge ihr für ihre Herrin auf ein Bündel Baumwollstoff sechs Real borgen. Der pekuniäre Diskurs gehört nun, wie der Leser von Sanchos steter Sorge um seinen Knappensold bereits weiß, in den Bereich des Körpers und dessen Aufrechterhaltung. Daß eine hohe Dame in Geldschwierigkeiten sei, will Don Quijote daher zuerst auch nicht einsehen. Letzteres wohl schon deshalb nicht, weil in der Frühen Neuzeit Frauen, die sich auf diese Weise um Geld bemühen nicht weit von jenen entfernt sind, die bereit sind, anstatt des Baumwollstoffs gegebenenfalls auch den eigenen Körper einzusetzen. Ganz im Zeichen des Körpers endet denn auch der Traum, wenn die Schweinemagd, nachdem ihr Don Quijote seine ganze Barschaft – es sind vier Real – ausgehändigt hat, anstatt eines Knickses einen Bocksprung macht, der sie „dos varas“ (DQ: II.35, 828) – also etwa einen Meter siebzig – in die Luft hebt. Geld und Bocksprung mögen nun zwar nicht zum ritterlichen Paradigma passen, beides gehorcht indes einer Traumlogik, die ihrerseits mit der Traumpoetik des Don Quijote verbunden ist. Dies sieht man spätestens dann, wenn Don Quijote in allen nachfolgenden Abenteuern für den angerichteten Schaden aufkommen muß, er also für die Aufrechterhaltung seiner ritterlichen Identität bar bezahlt. Insofern eignet dem Geldmotiv ein kataphorisches Prinzip, wie es sich vielfach im Don Quijote beobachten läßt: Etwa dann, wenn nach Don Quijotes großer Rede zu den armas y letras am Ende des ersten Teils (DQ: I.37, 442ff.) in der Tat ein Soldat und ein letrado auftreten (DQ: I.39-41 u. DQ: I.42f.). Der Bocksprung der Schweinemagd gehorcht einem hierzu gegenläufigen, anaphorischen Prinzip, denn er weist auf die bereits wiederholt angesprochene Buße Don Quijotes in der Sierra Morena zurück. Damit Sancho der Dulcinea wahrhaftig Kunde vom Liebeswahnsinn ihres Ritters bringen könne, schlägt dort der nur mit einem Oberhemd bekleidete Don Quijote ein Rad bzw. eine Art mißglückten Purzelbaum, von dem es heißt, er habe Sancho Dinge zu sehen geben, die dieser kein zweites Mal hätte sehen wollen (DQ: I.25, 290). Eine vergleichbare Einsicht dürfte nun auch die hoch in die Luft springende Schweinemagd gewähren, denn Schweinemägde tragen in der Frühen Neuzeit unter ihren Röcken keine Unterhosen. Purzelbaum wie Bocksprung verweisen damit, so würde ich meinen, auf ein obszönes Moment im Don Quijote und dieses zielt auf die Frage nach dem Geschlecht, die ein zentrales Motiv am Hof der Herzöge sein wird.

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IV Eignet dem Bocksprung damit auch eine kataphorische Funktion, so gilt dies in nicht geringerem Maß für den Höhlentraum selbst. Letzteres darum, weil Sancho wenig später der Herzogin davon Bericht erstattet und diese daraufhin mit ihrem Gatten Traumspiele ins Werk setzt, die bewußt auf die dortige Problemlage abzielen. Einschlägig ist bereits die erste Inszenierung, mit der die Herzöge Don Quijote im Anschluß an eine Treibjagd im nächtlichen Wald aufwarten. Aus allen Ecken des von Irrlichtern erleuchteten Waldes ertönt Hörnerschall, der von maurischem Kriegsgeschrei und einer Vielzahl anderer Blechinstrumente überlagert wird. Es erscheint der Teufel, und nach ihm treten eine Reihe von Zauberern auf, bis schließlich ein Triumphwagen einfährt, auf dem sich Merlin und die verschleierte Dulcinea befinden. Merlin, in Gestalt des Todes, verkündet nun, die Entzauberung der Dulcinea lasse sich nur erwirken, wenn sich Sancho dreitausend Peitschenhiebe auf seine „valientes posaderas, al aire descubiertas“ (DQ: II.35, 923), also auf seine nackten Hinterbacken, versetze. Sancho will dies erwartungsgemäß nicht einsehen. Als er sich jedoch rundheraus weigert, der Aufforderung nachzukommen, entblößt Dulcinea ihr Antlitz und richtet empört das Wort an ihn. Sie tut dies „con un desenfado varonil y una voz no muy adamada“ (ebd., 924), d. h. mit männlicher Ungezwungenheit und einer nicht eben damenhaften Stimme.10 Es ist nämlich so, daß das, wie es heißt, über Gebühr schöne Antlitz der „argentada ninfa“ (ebd.) in der Tat einem Pagen gehört. Auch ist dessen lange Schmährede auf Sancho nicht eben damenhaft: Pon, ¡oh miserable y endurecido animal!, pon, digo, esos tus ojos de machuelo espantadizo en las niñas destos míos, comparados a rutilantes estrellas, y veraslos llorar hilo a hilo y madeja a madeja, haciendo surcos, carreras y sendas por los hermosos campos de mis mejillas. Muévate, socarrón y malintencionado monstro, que la edad tan florida mía […] se consume y marchita debajo de la corteza de una rústica labradora; y si ahora no lo parezco, es merced particular que me ha hecho el señor Merlín, que está aquí presente, sólo porque te enternezca mi belleza, que las lágrimas de una afligida hermosura vuelven algodón los riscos, y los tigres en ovejas. Date, date en esas carnazas, bestión indómito, […] y pon en libertad la lisura de mis carnes, la mansedumbre de mi condición y la belleza de mi faz […]. (ebd. 925)

Der Page stellt sich hier als die vorübergehend von ihrer Verzauberung befreite Dulcinea dar und vergleicht sich gemäß seiner Rolle mit der typischen petrarkistischen Dame, deren Augen bzw. Pupillen, glänzende Sterne seien. Darüber

10 Das Verb adamar ist gleichbedeutend mit amar, ‚lieben‘. Das Adjektiv adamada heißt soviel wie ‚edel‘, ‚liebreizend‘, ‚reizvoll‘. Vgl. Francisco Rico, der Herausgeber der hier zugrunde liegenden kritischen Ausgabe, paraphrasiert daher „una voz no muy adamada“ in einer Fußnote als „no muy propio de una dama“.

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hinaus bedient er sich des topischen Tränenstroms, der die schönen Felder seiner bzw. ihrer Wangen mit tiefen Ackerfurchen, Rillen und Wegen versehre. Durchbrochen wird diese noch normkonforme, wenngleich nicht ganz astreine Metaphorik, sobald es um Sancho geht. Die „argentada ninfa“ beschimpft ihn als verstocktes Tier, schreckhaftes Männchen bzw. als ein noch nicht zugerittenes, bockiges Pferd, denn er müsse doch wahrhaft ein Unhold sein, wenn ihn ihre strahlenden Schönheit nicht dazu bewegen könnte, sich endlich vor aller Augen den, wie sie sagt, fetten Hintern auszupeitschen. Das ist nun schon deshalb recht lustig, weil sich in den jähen Registerwechseln das holde Frauenideal mit derber, wenn nicht derbster Kreatürlichkeit vermischt, und die „argentada ninfa“ damit eine Sozialisierung preisgibt, die der Gosse doch wohl weit näher steht als dem Palast. Eben dies veranlaßt Sancho auch, sich sogleich die Frage zu stellen, wo denn „la mi señora Dulcinea del Toboso […] aprendió el modo de rogar que tiene“ (ebd.: 926). Don Quijote nimmt indes an der Erscheinung keinen Anstoß, für ihn handelt es sich dabei zweifelsfrei um die echte Dulcinea. Nun könnte man sagen, alles sei besser als eine Schweinemagd. Doch wird man es nicht unbeachtet lassen dürfen, daß Don Quijote hier einen schönen Knaben als seine Herrin anerkennt, der zudem wie eine Straßendirne – dies ist in der Zeit eine geläufige Bedeutung von ninfa11 – bzw. wie deren männliches Pendant spricht. Den Herzögen scheint all dies sehr zu gefallen, weshalb sie auch Don Quijote in seinem nächsten Abenteuer mit einer noch grelleren Form des gender trouble konfrontieren. Diesmal ist es die Gräfin Trifaldi, die tief verschleiert im Gefolge von nicht minder verschleierten Zofen vor Don Quijote tritt. Wie im ersten Teil Dorotea als Prinzessin Micomicona hat sich auch die Gräfin Trifaldi aus einem fabulösen Reich aufgemacht, um Don Quijotes Beistand zu erbitten und hier wie dort ist der Gegner ein gefährlicher Riese. Damit machen sich die Herzöge, die den ersten Teil gelesen haben, ein Schema zu Nutze, von dem sie wissen, daß es für Don Quijote die nötigen Schlüsselreize enthält. Doch nicht nur das. Die Gräfin und ihre Zofen sind auch noch verzaubert, und dieser Zauber wird effektvoll inszeniert, wenn die hohen Frauen auf einen Schlag hin plötzlich ihre Schleier lüften und dem entsetzten Don Quijote ihre dichten Vollbärte präsentieren (DQ: II.39, 948). Die Strukturanalogie zur Verzauberung der Dulcinea ist offensichtlich, zumal es ja Don Quijote obliegt, die Verzauberung der hohen Frauen durch einen Sieg über den bösen Riesen rückgängig zu machen. Interessanter erscheint mir die Verschiebung der Phantasmatik. War es bislang die kreatürliche Frau, die in vielerlei Gestalt Don Quijotes ritterliche Traumwelt heimsuchte und das Ideal der Dulcinea entstellte, so bricht nun mit dem verkleideten Pagen und den bärtigen 11 Vgl. hierzu den einschlägigen Eintrag in Alonso Hernández (1976).

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Frauen eine Form von Männlichkeit hervor, die auf der anderen Seite des Spektrums steht, indes kaum weniger obszön ist. Ich wäre daher auch zögerlich, all das unter dem Rubrum karnevalesker Inversion still zu stellen. Mir will eher scheinen, daß die Herzöge in ihren oneirischen Inszenierungen, ein Traumwissen zu erkennen geben, das dem unseren durchaus verwandt ist. Der unvergleichlichen Dulcinea del Toboso steht die Herzogin von Anfang an skeptisch gegenüber, sie hält sie für eine „dama fantástica“ (DQ: II.32, 897), und daher interessiert sie auch, was sich hinter dieser Projektion verbirgt. Inwiefern sie bereits eine konkrete Vermutung hat, belegt das erste Traumspiel, mit dem sie ja auch ins Schwarze trifft. Damit erweist sich die Herzogin nun als der Antitypus des neugierigen Anselmo, der in El curioso impertinente ebenfalls das Wesen einer Frau ergründen wollte, dabei jedoch der Verblendung verfiel. Wie Don Quijote will Anselmo eine Idealfrau, sein Begehren bewirkt jedoch das Gegenteil und treibt die kreatürliche Frau erst hervor. Die Herzogin verfährt genau umgekehrt. Sie glaubt nicht an die Idealfrau, und wenn sie die „dama fantástica“ durch die „argentada ninfa“ ersetzt, erhält sie den Schlüssel zu Don Quijotes wahrem Begehren. Ich würde darum meinen, daß die Herzogin Dulcinea im Sinne eines Deckmotivs begreift, das, der Zensurarbeit geschuldet, ein verdrängtes, weil unbotmäßiges erotisches Imaginäres verbirgt. Sanchos ins Blaue gesprochene Bemerkung, Dulcinea würde ein bißchen wie ein Mann – nach einem „olorcillo algo hombruno“ (DQ: I.31, 359) – riechen, scheint sich im Nachhinein also durchaus als zutreffend zu erweisen. Und auch mutet jetzt der Plan des Dorfgeistlichen, Don Quijote in Gestalt einer „doncella andante“ zur Heimkehr zu bewegen, nicht mehr ganz so absurd an wie noch im ersten Teil. In diesem Sinne entspräche die schockartige Entblößung der bärtigen Frauen dann einer Wiederkehr des Verdrängten, oder, um es in einer lacanianischen Kategorie zu fassen, der Offenlegung eines Realen, das sich der Symbolisierung entzieht. Dieses Reale kann man nicht genießen, und so erklärt sich meines Erachtens auch die Bereitwilligkeit, mit der Don Quijote zuvor den schönen Pagen als seine Herrin akzeptiert hat. Dessen zureichende Verhüllung maskiert das Skandalon und erlaubt es Don Quijote, seine unbewußte Triebstruktur zumindest halbwegs zu sublimieren. In ihrer dritten großen Inszenierung machen die Herzöge nun die Gegenprobe, wenn sie Don Quijote eine vermeintlich liebestolle junge Frau zuführen. Altisidora, so ihr Name, entspricht durchaus dem ritterlichen Paradigma, ist es doch in der höfischen Literatur keineswegs ungewöhnlich, daß sich Burgfräulein des Nachts einem tapferen Recken hingeben (vgl. Schnell 1985: 400 u. 409). Für derlei Stelldichein ist Don Quijote indes nicht zu haben. Im Anschluß an einen romance, worin sich ihm Altisidora als eine „pucela tierna“ anbietet, die an einem gleichsam neronischen „incendio“ verglühe (DQ II.54, 989), stößt der alte Junggeselle einen langen Seufzer aus, bevor sich folgendermaßen Luft macht:

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¡Qué tengo de ser tan desdichado andante que no ha de haber doncella que me mire que de mi no se enamore! ¡Que tenga de ser tan corta de ventura la sin par Dulcinea del Toboso que no la han de dejar a solas gozar de la incomparable firmeza mía! ¿Qué la queréis, reinas? ¿A qué la perseguís, emperatrices? ¿Para que la acosáis, doncellas de a catorce a quince años? Dejad, dejad a la miserable que triunfe, se goce y ufane con la suerte que Amor quiso darle en rendirle mi corazón y entregarle mi alma. Mirad, caterva enamorada, que para sola Dulcinea soy de masa y de alfenique, y para todas las demás soy de pedernal […]. (ebd., 990)

Die Komik besteht hier darin, daß sich Don Quijote allen Ernstes als ein unwiderstehlicher Frauenschwarm begreift, den Damen aller Lebensalter und Stände scharenweise verfolgen, um so Dulcinea ihren Platz in seinem Herzen streitig zu machen. Für sich genommen unterscheidet sich das Gesagte zwar nicht maßgeblich von früheren Treuebekundungen dieser Art, doch während Dulcinea dort eine kaum je Kontur annehmende „dama fantástica“ gewesen war, hat sie nun mit dem schönen Pagen ein Gesicht und vor allem auch eine wenig damenhafte Stimme bekommen. Eben deshalb hat es eine durchaus neue Qualität, wenn Don Quijote mit diesem noch frischen Eindruck im Gedächtnis für alle anderen Bewerberinnen um seine Gunst aus Stein sein will. Die kecke Altisidora läßt indes nicht nach und als Strafe für die erfahrene Zurückweisung vollstreckt sie an Don Quijote in einer anderen Nacht ein Charivari, bei dem ihm eine Hundertschaft von Katzen das Gesicht zerkratzen. Wie man weiß, dienen Charivaris in der Frühen Neuzeit vor allem dazu, in sexueller Hinsicht deviantes Verhalten zu bestrafen.12 Hierzu hat Altisidora folgendes zu bemerken: Todas esta malandanzas te suceden, empedernido caballero, por el pecado de tu dureza y pertinencia; y plega a Dios que se olvide Sancho tu escudero el azotarse, porque nunca salga de su encanto esta tan amada tuya Dulcinea, ni tú lo goces, ni llegues a tálamo con ella […]. (DQ: II.56, 1002)

Auf den ersten Blick sind dies kaum mehr als die Worte der Eifersucht, doch darf man nicht übersehen, daß Altisidora Don Quijotes Widerständigkeit als „pecado“, mithin als Sünde begreift. Daher möge auch Gott davor sein, daß sich Dulcinea durch Sanchos Zutun je in ein veritables Liebesobjekt verwandle und Don Quijote in der Tat mit ihr zur Sache komme. Durch diesen Zusatz bezieht sich nun das Sündenmotiv nicht mehr allein auf die Zurückweisung der Altisidora, sondern erstreckt sich darüber hinaus auch auf den Liebesakt mit Dulcinea, deren wahres Geschlecht die Sprecherin kennt. Damit aber nicht genug. Das 12 So existierten etwa in den französischen Städten seit dem Mittelalter Jugendgesellschaften, sog. abbayes de jovens confréries joyeuses, die sich aus dem Lehrlingswesen rekrutierten und an den für ‚schuldig‘ befundenen Frauen Spottrituale wie das Eselsreiten oder das Charivari (‚Katzenmusik‘) vollzogen (vgl. hierzu Zemon Davis 1971: 41–75).

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Sündenmotiv erfährt späterhin noch eine beträchtliche Ausfaltung, wenn Don Quijote und Sancho auf der Rückreise von Barcelona abermals bei Herzögen einkehren und dort an das Grabmal der vermeintlich aus Liebesleid verstorbenen Altisidora geführt werden. Sie müssen hierzu in ein „teatro“ eintreten, auf dessen Empore die Herzöge platzgenommen haben, und sogleich nimmt sich Sanchos ein „ministro“ an: Y llegándose a Sancho le echó una ropa de bocací negro encima, todas pintada con llamas de fuego, y quitándole la caperuza le puso en la cabeza una coraza, al modo de las que sacan los penitenciados por el Santo Oficio […] Mirábase Sancho de arriba abajo, veíase ardiendo en llamas, pero como no le quemaban no las estimaba en dos ardites […]. (DQ: II.69, 1185)

Thematisch ist hier ein Autodafé, also ein öffentliches Inquisitionsgericht, wie es im Spanien der Frühen Neuzeit auf den Hauptplätzen der großen Städte abgehalten wurde und das mit der Verbrennung der für schuldig Befundenen endete (vgl. Kamen 42014: 257–260). Sancho muß den dazu üblichen Spitzhut – „coraza“ – tragen und sieht sich aufgrund der Bemalung seines Gewandes, des sog. sanbenito, bereits inmitten der Feuersbrunst. Der Umstand, daß dieses Autodafé im Zusammenhang mit dem Liebestod der Altisidora inszeniert wird, kommt nicht von ungefähr. Altisidora ist gestorben, weil Don Quijote sie nicht erhörte und statt dessen auf jenem Begehren nach Dulcinea beharrte, das Altisidora selbst zuvor im Zeichen des „pecado“ angesiedelt hat. Aufgrund der Verkoppelung von Sündenthematik und Autodafé präzisiert sich nun auch ihr Hinweis auf den wenig gottgefälligen Charakter dieses Begehrens: Es handelt sich dabei nicht um irgendeine Sünde des Fleisches, sondern um das, was man in eingeweihten Kreisen der Zeit als el pecado zu bezeichnen pflegte. Gemeint ist der sog. pecado nefando, die ‚schändliche Sünde‘ der Sodomie, der seit den Katholischen Königen unter die Zuständigkeit des Heiligen Offizium fiel und im Wiederholungsfall mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bestraft wird.13 Gerade in der Entstehungszeit des zweiten Teils sind Autodafés dieser Art in Spanien keine Seltenheit.14 All das wird freilich nur angedeutet und zudem schnell komisch enthoben. Weder muß Sancho in den Flammen sterben, noch ist Altisidora wirklich tot. Auch scheint die Inszenierung auf Don Quijote keine besonders abschreckende 13 „[E]stablecemos y mandamos, que qualquier persona de qualquier estado, condicion, preeminencia, o dignidad que sea, que cometiere el delito nefando […] sea quemado en llamas de fuego, en el lugar, y por la justicia à quien perteneciere.“ (vgl. Díaz de la Carrera 1982: 348). 14 Vgl. Garza Carvajal (2002). Ein besonders spektakulärer Fall ist die Ermordung des Grafen von Villamediana, der am Abend des 21. August 1622 vermutlich auf höchstes Geheiß auf offener Straße niedergestochen wurde und dem ein Verfahren wegen des pecado nefando anhängig war. Seine männlichen Hausangestellten wurden öffentlich verbrannt (vgl. Rosales 1969: 39f.).

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Wirkung zu haben. Kaum haben sich nämlich Herr und Knappe wieder auf den Weg gemacht, fordert Don Quijote, daß sich Sancho nun unverzüglich die zur Entzauberung der Dulcinea notwendigen Peitschen- bzw. Stockhiebe verpasse. Als sich Sancho nach einigen Verhandlungen über die finanzielle Entgeltung tatsächlich bereit erklärt, sich, wie er sagt, ‚das Fleisch aufzureißen‘, kann Don Quijote seine Vorfreude kaum noch zügeln: Llegó la noche, esperada de don Quijote con la mayor ansia del mundo, pareciéndole que las ruedas del carro de Apolo se había quebrado y que el día se alargaba más de lo acostumbrado, bien así como acontece a los enamorados, que jamás ajustan la cuenta de sus deseos. (DQ: II.71, 1200)

Der Vergleich hat es in sich, denn Don Quijote sehnt die Nacht, da Sancho sich die Hinterbacken peitschen will, mit einer Heftigkeit herbei, wie sie sonst nur bei Liebenden vorkomme, die auf ein Stelldichein warten. Dies kann man nun auf das erhoffte Resultat der Flagellation beziehen, mithin auf die Wiederkehr des androgynen Pagen, der es Don Quijote offenbar sehr angetan hat.15 Denken wir an das eingangs erwähnte vermögenspsychologische Modell der Epoche, so müßten wir hier davon ausgehen, daß der Eindruck der „argentada ninfa“ Don Quijotes memoria fest in Beschlag genommen hat und diese Imago nunmehr beständige libidinöse Gedanken freisetzt, die für jene „mayor ansia del mundo“ verantwortlich sind, mit der Don Quijote der Schicksalsnacht entgegenfiebert. Wäre dem so, was ich glaube, dann hätte das erste Traumspiel der Herzöge die „dama fantástica“ in der Tat durch ein konkretes Liebesphantasma ersetzt und Don Quijote eine – zumindest für ihn – unentstellte Dulcinea an die Hand gegeben.16 In diese Richtung weisen auch Don Quijotes Dankbarkeitsbekundungen gegenüber Sancho: ¡Oh Sancho bendito, oh Sancho amable! […] y cuan obligados hemos de quedar Dulcinea y yo a servirte todos los días que el cielo nos diere de vida! Si ella vuelve al ser perdido, que no es posible sino que vuelva, su desdicha habrá sido dicha, y mi vencimiento, felicísimo triunfo. (DQ: II.71, 1200)

Don Quijote imaginiert sich hier bereits einen gemeinsamen Lebensabend mit der entzauberten Dulcinea. Für dieses Glück wären beide, Dulcinea und Don 15 „The Jesuit Francisco Arias in his Spiritual Progress (Madrid, 1603) warned clergy that ‚they must guard their eyes not only from too much looking at women, but should also take care not to look with liberty at the beauty of boys of tender age.‘“ (Kamen 42014: 288). 16 Folger hat die These vertreten, daß Sanchos Intervention in Toboso im Sinne eines remedium amoris wirkt, die abstoßende Imago der Schweinemagd mithin Don Quijotes memoria infiltriert und so den Prozeß seiner langsamen Genesung vom Wahnsinn ermöglicht (vgl. Folger 2002: 245–248). Das erste Traumspiel, auf das Folger nicht eingeht, wäre hierzu freilich insofern gegenläufig, als es Don Quijote mit einer positiven Imago versorgt, an der er ja auch bis ganz zum Schluß festhält.

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Quijote, dem wackeren Sancho bis ans Ende ihrer Tage verpflichtet, könnten sie doch durch sein Zutun endlich den lange aufgeschobenen „felicísmo triunfo“ ihrer Liebe feiern. Das sind nun wahrlich ganz neue Töne, denn derart konkrete Vorstellungen von seinem Umgang mit Dulcinea hat Don Quijote bislang noch nie verlauten lassen. Nun muß man in diesem Zusammenhang allerdings wissen, daß er mittlerweile seines Amtes als fahrender Ritter enthoben ist. Am Strand von Barcelona hat ihn der als Caballero de la Blanca Luna verkleidete Sansón Carrasco in einem Lanzenkampf geschlagen und auf seine Ehre hin verpflichtet, heimzukehren und ein ganzes Jahr die Rittertätigkeit auszusetzen. Don Quijote ist mithin in seinem Selbstbild angeschlagen und daraus scheint sich auch die Nachdrücklichkeit zu erklären, mit der er Sancho gerade jetzt zu Selbstgeißelung anhalten will: Was bleibt ihm schließlich noch außer Dulcinea? Nichtsdestoweniger ist der oben zitierte Vergleich ein Stück weit ambig. Und so will ich meine Vermutung nicht verhehlen, daß es Don Quijote möglicherweise durchaus auch auf die Flagellation selbst ankommt. Sancho ist allerdings gerieben genug, die Schläge nur zu simulieren: Während er wild auf die Stämme von Buchen eindrischt und Don Quijote freudig jeden Schlag zählt, stöhnt er, was das Zeug hält: „con unos suspiros de cuando en cuando, que parecía que cada uno dellos se le arrancaba el alma“ (ebd.: 1201). Die Hiebe bringen hier Laute hervor, wie man sie aus jenem Kellergelaß kennt, in dem bei Proust der junge Marcel der Zusammenkunft des Baron de Charlus mit einem Westenschneider heimlich beiwohnt (vgl. Proust 1988: 11). Auch wird man hinzufügen dürfen, daß die Herzöge die Strafe der Auspeitschung vielleicht nicht ohne Hintergedanken verhängt haben, stellt sie doch im Spanien der Frühen Neuzeit eine erste Ahndung der Sodomie dar (Garza Carvajal 2002: 98).17 Ich will das hier nicht vertiefen; der Bereich des Konnotativen ist bekanntlich weit. Don Quijote erbarmt sich jedenfalls Sanchos nach einer Weile und es folgt eine rührende, fast ist man versucht zu sagen: Bettszene, wenn Don Quijote dem halbnackten Sancho sein Oberhemd überläßt und Knappe und Herr Seit an Seit unter den Bäumen einschlafen.

17 In Aragonien wurde häufig die Strafe der öffentlichen Auspeitschung statt der Verbrennung gewählt. Siehe hierzu auch Garza Carvajal (2012). Carvajal ediert und kommentiert hier die Inquisitionsakten eines Prozesses gegen zwei Lesbierinnen, Inés de Santa Cruz und Catarina Ledesma, aus den Jahren 1603/04. Die Praktiken contra naturam werden mit Peitschenhieben und Verbannung geahndet.

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V Die Frage der Flagellation ist damit erledigt. Zudem hat Don Quijote noch andere Sorgen, denn mittlerweile ist eine apokryphe Fassung seiner Abenteuer erschienen, die Segunda parte von Avellaneda. Don Quijote weiß dies, seit er in Barcelona eine Druckerei besucht hat. Das ihm mißliebige Buch kommt indes noch einmal zur Sprache und zwar just im Zusammenhang mit dem besagten Autodafé. Auf wundersame Weise wieder zum Leben erwacht, berichtet dort Altisidora von ihrer Erfahrung in der Vorhölle, die ihr schon deshalb mitteilungswert erscheint, weil dort die Teufel eben jene Segunda parte in den tiefsten Abgrund verbannten. Altisidora, das haben wir gesehen, ist eine Figur, die für die Norm bürgt und Don Quijote auch, wie im Charivari und eben dem Autodafé, mit seiner abweichenden Subjektposition konfrontiert. Ich finde es darum durchaus bezeichnend, daß es gerade sie ist, die Don Quijote die Existenz seines Doppelgängers ins Gedächtnis ruft. Der Doppelgänger, darauf hat Freud hingewiesen, ist insofern unheimlich, als er die Autonomie des Subjekts in Frage stellt und eben dies tut der apokryphe Don Quijote (vgl. Freud 1999: 247).18 Zwar versichert der uns vertraute Don Quijote gegenüber Altisidora „[que] no hay otro yo en el mundo“ (DQ: II.70, 1195), doch so ganz stimmt das nicht. In der Folge muß er sich nämlich wiederholt von seinem ‚falschen‘ Doppelgänger absetzen und als das ‚wahre‘ „yo“ behaupten. Dies wird jedoch in dem Maße schwieriger, wie er die Konstituenten seines Ich einbüßt. Ich würde daher auch meinen, daß Altisidora als Vertreterin der Norm zumindest implizit für jenen Ichverlust steht, den Don Quijote schließlich in der Tat erleiden muß. Aus dieser Warte ist Don Quijotes Drängen auf die Flagellation Sanchos eine letzte Bekräftigung seines bislang verteidigten, normabweichenden Selbst. Die Hoffnung auf dessen Aufrechterhaltung läßt er jedoch spätestens am Eingang seines Heimatortes gänzlich fahren, wenn er dort hört, wie ein Knabe zu einem anderen sagt: „No te canses, Periquillo, que no la has de ver en todos los días de tu vida“ (DQ: II.73, 1210). Don Quijote deutet diesen Satz nämlich – unabhängig von dessen tatsächlicher Semantik – als ein gleichsam göttliches Zeichen, das ihm den unwiederbringlichen Verlust der Dulcinea anzeigt. Damit ist dann aber von jenem „yo“, das Don Quijote Altisidora gegenüber noch so firm behauptet hatte, genau genommen nichts mehr übrig. Bleibt die Frage, in welchem Verhältnis die beiden Konstituenten dieses „yo“ – also die fahrende Ritterschaft und die unvergleichliche Dulcinea – zueinander stehen. 18 Ein zeitgenössisches Beispiel findet sich in Shakespeares A Comedy of Errors. Dort gelangt ein Mann namens Antipholus in das ihm unbekannte Ephesus, wo er ständig für seinen dort ansässigen, ihm jedoch ebenfalls nicht bekannten Zwillingsbruder gehalten wird. Der damit verbundene Autonomieverlust ist nicht nur beträchtlich, sondern auch unheimlich und gegen Ende des Stücks ist Antipholus kurz davor den Verstand zu verlieren.

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Nach dem, was wir mittlerweile über Dulcinea wissen, scheint Don Quijotes Liebe zu ihr insofern in Gegensatz zu seinem ritterlichem Wahn zu stehen, als dieser ja auf einem konventionellen Männlichkeitsideal basiert. Wie ich andernorts gezeigt habe, begreift sich Don Quijote in der Nachfolge des Aeneas und, wenn er wiederholt in Richtung Montiel ausreitet, nimmt er zudem einen Erinnerungsort der spanischen Monarchie für sich in Anspruch. Dort hatte 1369 Heinrich von Trastámara seinen Halbbruder Peter den Grausamen getötet und damit jene Dynastie begründet, die mit Isabel der Katholischen den Grundstein zum spanischen Weltreich legen würde (vgl. Leopold 2016: 172–178). Man könnte nun so argumentieren, daß es Cervantes mit Don Quijote weniger um eine in sich konsistente Figur gegangen ist, als vielmehr um eine Kritik an der heteronormativen Maskulinität, wie sie dem imperialen Gedanken der Epoche unterliegt. Das will ich nicht in Abrede stellen. Ich möchte dennoch eine genuin traumspezifische Antwort formulieren, die uns zu den eingangs diskutierten Überlegungen Sanchos zurückführen: zum Traum als Mangelbewältigung. Alonso Quijano verbringt den größten Teil seines Lebens in einer ereignisarmen Welt und leidet an der Funktionslosigkeit seines Standes. Zudem steht er einem Frauenhaushalt vor, was in Anbetracht seiner Neigung für ihn wohl keine große Verbesserung seiner Lage dargestellt haben dürfte. Hinzu kommt, daß die dörfliche Gemeinschaft wenig Raum für normabweichende Selbstentwürfe läßt. Daher übt Alonso Quijano auch zunächst mit der Jagd eine dem Edelmann angemessene Freizeitbeschäftigung aus. Das geht so lange gut, bis er den Ritterromanen verfällt, deren „soñadas invenciones“ es ihm schließlich erlauben, sich in die Traumgestalt Don Quijote zu verwandeln. Als solche kann er nun aus der dörflichen Gemeinschaft ausbrechen und sich über die Normen und Gepflogenheiten seiner Zeit hinwegsetzen. Dies äußert sich, wie wir anhand des Kampfes gegen die Weinschläuche gesehen haben, nicht selten in einer regelrechten Zerstörungswut. Auch macht Don Quijote nicht vor der Staatsmacht halt, wenn er Galeerensträflinge (vgl. DQ: I.22) befreit oder Vertreter der Santa Hermandad – einer Vorform der Polizei – angreift (vgl. DQ: I.45). So besehen wäre der wütende Don Quijote das manische Gegenstück zu dem melancholischen Alonso Quijano. Während dieser ersten Phase kann die Figur der Dulcinea noch weitgehend unbestimmt bleiben, dient sie doch vorrangig zur Beglaubigung und vor allem auch als Lizenz für Don Quijotes abnormes Verhalten. Dies ändert sich in dem Maße, wie Don Quijotes ritterliche Existenz im zweiten Teil Risse bekommt, die „soñadas invenciones“ mithin nicht mehr ganz so undurchlässig sind wie noch im ersten Teil. Zwar vollführt Don Quijote auch jetzt noch die eine oder andere Heldentat – etwa die Zerstörung eines Puppentheaters, bei der er, wie er glaubt, für die gute christliche Sache gegen die Mauren kämpft (vgl. DQ: II.26) –; doch dominant beschäftigt ihn, seit er die Schweinemagd gesehen hat, die Frage nach

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der wahren Gestalt der Dulcinea. Diese Frage ist für ihn nun nach dem ersten Traumspiel der Herzöge gelöst und fortan ist es vor allem die dort geschaute „argentada ninfa“, die sein Begehrensvermögen bewegt. Um so dramatischer ist es, wenn er nach seiner Heimkehr Dulcinea für immer verlustig geben und damit auch sein bislang aufrecht erhaltenes Selbst gänzlich abschreiben muß. Er ist dennoch weiterhin verrückt genug, um sich zu behelfen und eine andere der Lektüre geschuldete „soñada invención“ herbeizuzitieren: die alternative Welt der Bukolik. Mit der Bukolik hat er im Laufe seines Parcours immer wieder geliebäugelt, etwa als er sich im ersten Teil der schönen Männerfeindin Marcela – sie bevorzugt die Gesellschaft von Ziegenhirtinnen – anschließen und diese sogar als seine neue Herrin anerkennen wollte (vgl. DQ: I.14 / Leopold 2016b: 115–145).19 Diejenige Schäferwelt, die ihm jetzt in Ermangelung Dulcineas vorschwebt, ist allerdings rein männlich, will heißen rein homosozial gedacht. Seine Weggefährten sollen hier Sansón Carrasco, der Dorfgeistliche und Sancho sein. Damit alles seine Ordnung hat, bräuchten nun freilich alle die nötigen einschlägigen Namen: Respondió don Quijote que él se había de llamar el pastor Quijótiz; y el bachiller, el pastor Carrascón; y el cura, el pastor Curiambro, y Sancho Panza, el pastor Pancino. (DQ: II.73, 1213)

Wie man sieht, feiert hier die Travestie fröhliche Urständ und so homosozial das neue Arkadien auch gedacht ist, eignet ihm doch kein unbeträchtliches Maß an Effeminierung. Dies gilt zumindest für den „pastor Quijótiz“, dessen letzte Namensilbe im spanischen das Femininum – z. B. in emperatriz – indiziert. Doch zu dieser, mit Foucault gesprochen, Kompensationsheterotopie20 kommt es nicht, da Don Quijote alsbald ein Fieber ereilt, das ihn für sechs Tage ans Bett fesselt. Der Erzähler läßt es offen, ob dies aus Melancholie über den Verlust seines alten Selbst oder aus göttlicher Vorsehung geschieht. Don Quijote ist jedenfalls sehr traurig und der herbeigerufene Arzt vertritt auch die Meinung, daß diese Melancholie ursächlich für seine rapide schwindende Gesundheit sei. Als er daraufhin Don Quijote eröffnet, er dürfe auf die Heilung des Körpers nicht vertrauen und möge sich statt dessen um das Heil seiner Seele sorgen, bittet dieser darum, allein gelassen zu werden, um ein wenig zu schlafen. Don Quijote schläft sechs geschlagene Stunden „tanto que había de pensar el ama y la sobrina que se había quedado en el sueño“ (DQ: II.74, 1216). Der Zusatz ist für unsere Fragestellung nicht unbeträchtlich. Man kann ihn so übersetzen, daß die Haushälterin und die Nichte 19 Vgl. hier zur Marcela-Episode Leopold (2016b: 128–131). 20 Den Begriff der „hétérotopie […] de compensation“ hat Foucault ursprünglich an der Kolonie entwickelt, da diese mit ihrer perfekten in sich abgeschlossenen Ordnung für das chaotische und unkontrollierbare Moment des besetzten Landes aufkommt (vgl. Foucault 1984: 1580).

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glauben, Don Quijote würde aus dem Schlaf nicht mehr erwachen. Doch quedarse en el sueño heißt eben auch ‚im Traum verbleiben‘ bzw., ‚im Traum sterben‘. Daß letzteres keine Spitzfindigkeit ist, zeigt sich sobald Don Quijote wieder zu sich kommt: ¡Bendito sea el poderoso Dios, que tanto bien me ha hecho! En fin, sus misericordias no tienen límite, ni las abrevia ni impiden los pecados de los hombres. […] Las misericordias, sobrina, son las que en este instante ha usado Dios conmigo, a quien, como dije, no le impiden mis pecados. Yo tengo juicio ya libre y claro, sin las sombras caliginosas de la ignorancia que sobre él me pusieron mi amarga y continua leyenda de los detestables libros de las caballerías. […] Yo me siento, sobrina, a punto de muerte: querría hacerla de tal modo, que diese a entender que no había sido mi vida tan mala, que dejase renombre de loco; que, puesto que lo he sido, no querría esta verdad en mi muerte. (ebd.)

Wenn Don Quijote durch göttliches Zutun wieder zu Verstande kommt, erwacht er aus den „soñadas invenciones“ und stirbt also gerade nicht in jenem Traum, der ihn lange Zeit für verrückt gelten ließ. Der zweimalige Hinweis auf die damit verbunden Sündigkeit, läßt unterschiedliche Lektüren zu. Zum einen bezieht er sich auf die unausgesetzte Lektüre, durch die sich dem Landjunker der für den Christenmenschen unerläßliche freie Wille vernebelte. Zum anderen läßt er sich auf den Wahn selbst und damit auch auf jenen spezifischen „pecado“ beziehen, von dem oben die Rede war. Gottes Barmherzigkeit ist jedenfalls größer als die Sünden des Don Quijote, soviel steht am Ende fest. Ob Don Quijote all dies aus einem Epiphanietraum weiß, in dem Gott zu ihm gesprochen hat, oder ob er nur einfach vernünftig aufwacht, ist dabei nebensächlich. Das Leben ist um, und wenn es auch ein sündhafter Traum war, Gott wird es Don Quijote verzeihen.

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Marc Föcking (Hamburg)

„Il credere à sogni, è un sogno“. Schlafen und Träumen in Marinos Adone

Giovanni Battista Marinos Adone als prominenten Text über Traumwissen und Traumpoetik im Seicento zu behandeln, mag sich aus Marinos Bedeutung für die Epik des frühen 17. Jahrhunderts rechtfertigen. Nicht aber – auf den ersten Blick – durch die Rolle, die Marino dem Traum in seinem Opus magnum zukommen lässt, denn diese scheint ziemlich marginal. Erstes Indiz dafür ist die geringe Lexemdichte von „sogno/sogni“: Marino verwendet das Wort im Singular wie im Plural ganze sieben Mal – und das in der gewaltigen Textmenge von 5123 Oktaven – das sind 40.984 Verse. „Sonno“ allerdings 30 Mal. Zum Vergleich: Die Worthäufigkeit von „sogno/sogni“ in Tassos Gerusalemme liberata liegt bei 14, also bei weniger als halb so großer Textmenge (15.328 Verse) absolut doppelt, relativ viermal so oft wie Marino. Andererseits verwendet Tasso nur zwanzigmal das Lexem „sonno“, also annähernd so oft wie „sogno/sogni“. Ob wir daraus den Schluss ziehen können, dass bei Tasso dem Schlaf funktional der Traum zugeordnet wird, bei Marino aber mehr geschlafen als geträumt wird, die Koppelung von „sonno“ und „sogno“ also zumindest geschwächt ist, werden wir sehen. Aber dass diese quantitative Differenzen auf die geringere Prominenz der Traumthematik bei dem neapolitanischen Großautor hinweist, zeigt auch ein kursorischer Blick auf den Inhalt des Adone: Während in den Epen der europäischen Literatur seit dem von Zeus dem Agamemnon gesandten täuschenden Traum in der Ilias (II, 1–35) permanent, von prominentem Personal und mit steter Relevanz für den Plot geträumt wird, bringt es Marinos Adone zu einem einzigen, sich über drei Oktaven (von 5123) erstreckenden Traum im dritten Gesang (III, 92– 94), der – wie wir sehen werden – für die Handlung ebenso irrelevant ist wie das zweite, wichtige Auftreten der Traumtematik: die Reise Merkurs, Venus’ und Adones auf die Insel der Träume im zehnten Gesang. So dysphorisch dieser allererste Befund auch ist, erlaubt er doch zumindest die Frage, warum sich Marino dieses nicht nur, aber ganz besonders epenspezifische Thema weitgehend entgehen lässt. Das könnte vor dem Hintergrund der Episode von Venus und Adonis aus den Metamorphosen (X, 525–739), die Mitte des Cinquecento eine Reihe von Kurzepen (von Dolce, Tarcagnota und Para-

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bosco) hervorgebracht hat, eine schnell beantwortete Frage sein, denn für Ovid und die rinascimentalen Kleinepiker spielt in der Venus-Adonis-Episode der Schlaf kaum eine und der Traum überhaupt keine Rolle. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage auch umdrehen: Warum rekurriert Marino überhaupt im Adone auf „sonno“ und „sogno“ und mit welchen Kriterien greift er auf zeitgenössische Traumdiskurse in einem Text zurück, dessen mythologische Thematik überhaupt nicht nach einem solchen Rückgriff verlangt? Ich möchte dazu zunächst kurz drei Register von „sonno/sogno“ skizzieren, auf die Marino zurückgreifen konnte: ein vor allem lyrisches, ein episches und ein naturphilosophisches. Das lyrische Register von Traum/Schlaf hat Stefano Carrai (Carrai 1990) bis auf die griechischen orphischen Hymnen und ihre Enkomiastik des ausschließlich nächtlichen Schlafes als Tröster und Kraftspender zurückverfolgt, der sich in seiner therapeutischen Funktion deutlich von der täuschenden wie prognostisch-strategischen Funktion des Schlafes in der Epik seit Homer unterscheidet. Entscheidend für die italienische Lyrik des Cinquecento wird, dass diese Enkomiastik des Schlafs schon in der Antike auf die Träume als dessen Söhne ausgeweitet wird, die etwa Ovid in den Metamorphosen XI, 592ff. unter den Namen Morpheus, Icelos und Phantasos kennt. Die Einheit von Nacht, Schlaf und Traum, wie sie Ovids nächtlich-lichtlose Grotte des Somnus repräsentiert, gerinnt in der zeitgenössischen Ikonologie etwa bei Antonfrancesco Doni, Vincenzo Cartari und Cesare Ripa zur feststehenden Einheit, deren allegorische Repräsentanten mit den Insignien der Nacht, des Schlafes (Waschbärpelzen, Mohnbett) und des Traums (Füllhorn, aus dem Rauch quillt) ausgestattet werden (Ripa 2012: 547f.) und bei Vincenzo Cartari das Verwandtschaftsverhältnis von „sonno“ und „morte“ betonen. In der Abbildung der „notte“ bei Cartari sind sie als zwei Kinder auf dem Schoß der die Nacht repräsentierenden allegorischen Figur dargestellt (Abb. 1). Die im weitesten Sinne petrarkistische Lyrik des Cinquecento kontrastiert diese Einheit von Nacht/Schlaf/Traum als ersehntes Therapeutikum mit der durch die Liebesqual verursachten Schlaflosigkeit des Liebenden. Auch Marinos vier Sonette „Al sonno con trè altri seguenti“ aus den Rime von 1602 bauen auf diesem Kontrast auf.1 Hier sind Nacht, Schlaf und Traum korreliert, der „sonno“ ist als der Sohn der Stille und der Nacht „Padre di vaghe imaginate forme“ (Marino 2007: Bd.I, 48), also des Traums als Vorspiegelung der Präsenz des Absenten im Schlaf. Eines Absenten, das in der „Al sonno“-Tradition zumeist positiv und ersehnt ist, und so etwa bei Giovanni della Casa der physischen wie psychischen Entlastung der „mortali egri“ durch „conforto, oblío dolce de’ mali/ sì grave ond’è la vita aspra e noiosa“ (Della Casa 2000: 162, Son. 54) dient. Dieses Enkomium der therapeutischen Wirkung aber wird kontrastiert durch die 1 Dazu siehe ausführlich Scholler (2018).

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Abb. 1: Vincenzo Cartari, Degli dei degli antichi (Cartari 1608: 306)

Schlaflosigkeit des lyrischen Ich, die schon Petrarca in RVF 223 oder 332 an Abwesenheit, Unzugänglichkeit oder den Tod der Dame bindet.2 An die Konstatierung der Schlaflosigkeit schließt sich dann die topische Bitte um Schlaf und Traum an, der meistenteils der Person der Dame und der von ihr gewährten Liebe gilt, so schon in Petrarcas Sestine RVF 22, in der sich der (allerdings schlaflose) Liebende „sol una nocte“, die nie enden möge, mit Laura wünscht. Die „Al sonno“-Texte gestalten diese Träume nie in actu als präsentisch, sondern als aus der Wachposition gewünschten potentiellen oder futurischen Traum – zu dem es wegen der Schlaflosigkeit des Liebenden nie kommen wird. Marino, der es beim ersehnten Traum des „bel volto, in ch’io mirar m’appago/A consolar il vedovo 2 Dazu ebenfalls unlängst Scholler (2017).

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desio“ (Marino 2007: Bd.I, 48) belässt, ist hier erheblich weniger explizit als der von „sonno“ erbetene erotischen Traum, den ein zeitgenössisches anonymes Madrigal um 1600 bereithält: Sonno (…) Tu quel ch’Amor mi niega Doni cortese almeno, e fai ch’entro al bel seno questa man lieta si rivolge e spiega. (zit. nach Carrai 1990: 95).

Diese onirische Wunscherfüllung bleibt in den Texten des Cinque- und frühen Seicento aber stets durchschaut als inkompatibel mit dem Verhältnis zur Donna im Wachzustand, das nach der petrarkistischen Norm eines der Unverfügbarkeit des Liebesobjekts und der Exklusion des erotischen Vollzugs sein muss. Die „Al sonno“-Texte leisten so gleichzeitig die Stabilisierung der petrarkistischen Grundaufstellung wie ihre Transgression im Traum. In ihnen lässt sich das ansonsten Unaussprechliche aussprechen und wünschen und gleichzeitig in seiner Irrealität erkennen und denunzieren. In dieser Möglichkeit ist der Traum im petrarkistischen Kontext allerdings nicht exklusiv, er wiederholt und intensiviert das Begehren, das sich auch im Wachzustand – etwa im Typ der „Lontananza“-Gedichte – ausdrücken lässt. Der Traum des lyrischen Registers hat also keinen Ereignis-Charakter, er wiederholt schon in Petrarcas RVF 212 „Beato nel sogno et di languir contento“ den über Jahrzehnte auf Dauer gestellten „grave et lungo affanno“ des Liebesdienstes (Petrarca 1996: 900). Konsequenterweise schließt auch Marino seine vier TraumSonette an eine Sequenz von drei „Lontananza“-Sonetten und vier auf den sehnsüchtigen „pensiero“ an die Dame an (Marino 2007: Bd. I, 45–48). Und da sich die Dame bei Marino bereits im imaginierten Traum stolz und hochmütig gibt – im Sonett „Dunque la notte ancor“ zeigt sie im Traum ihr „bel sembiante altero“ (Marino 2007: Bd. I, .49) –, läßt sich die Traumbotschaft auch nicht mehr der klassischen Alternative von „falsch“ und „wahr“ unterwerfen. Die Frage „da quel uscio del ciel volando uscisti/Vago pittor d’imagini liete“ wird in Marinos viertem Traumsonett explizit nicht mehr an die aus Homers Odyssee und Vergils Aeneis VI bekannten Alternativen der Tore aus „avorio“ oder des „corno“ gebunden. Marino lässt ihn vielmehr aus einer der Tradition unbekannten, neuen Tür heraustreten, der des „cristallo oriental“, durch die die „luce“ der Dame strahlt. Was heißt: Der Liebestraum des lyrischen Registers hat weder einen prognostischen Sinn – denn die Erfüllung ist ausgeschlossen –, noch den der Täuschung, denn das lyrische Ich weiß um diese Unmöglichkeit. Er hat keine

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epistemische oder dianoetische, sondern allein eine affektisch-repetitive oder imaginäre Funktion.3 Dadurch unterscheidet sich das lyrische Register des „sonno/sogno“ deutlich von dem des Epos. Seit Homers Ilias dienen Träume dort als bevorzugtes Kommunikationsmittel zwischen Göttern und Menschen und als Markierung und Forcierung von handlungslogisch markanten Ereignissen.4 Während im lyrischen Register die „lievi sogni“ allein dem lyrischen Ich geschickt (oder von diesem ersehnt) werden und aus dem auch physiologischen Bedürfnis des „conforto“ der „egri mortali“ (Della Casa 2000: 162, Son. 54) entstehen, haben die epischen Träume göttliche Sender – „kommt doch der Traum von Zeus auch“ (Homer 1976: 8, I, 63) –, menschliche Empfänger und die Funktion des göttlichen Rates, der Offenbarung vergangener wie der Vorhersage kommender Ereignisse, aber auch der strategisch eingesetzten Täuschung, so im Agamemnon von Zeus geschickten Traum im zweiten Gesang der Ilias (II, 1–80). Durch letzteren wird die Handlung nach der festgefahrenen Belagerungssituation vor Troia erst in Gang gesetzt. Ähnlich, wenn auch deutlich auf göttliche Hilfe für den privilegierten Protagonisten Aeneas abgestellt, ist in der Aeneis II, 268–300, die Traumerscheinung des toten Hector Voraussetzung für die Flucht des Aeneas’ und setzt so die Handlung des Epos überhaupt in Gang. Und sobald die Handlung retardiert oder die Mission Aeneas unterstrichen werden muss, bleiben von Göttern geschickte Träume das probate Mittel der Deblockage von Handlungshindernissen: So in IV, 719ff. wo Merkur im Traum Aeneas auffordert, sofort aus Didos Karthago abzusegeln.5 Ohne ins Detail gehen zu können, bleibt im nachantiken Epos einerseits diese Funktion vertikaler-unidirektionaler Kommunikation, der handlungslogischen Ereignishaftigkeit und des Prognostischen wie des Proairetischen der Handlungsanweisung für die an dieser privilegierten Kommunikation teilhabenden Protagonisten relevant, von den Träumen Karls des Großen in der Chanson de Roland bis zu den Träumen Goffredos in Tassos Gerusalemme liberata (siehe Zatti 2003). Diese Träume sind Medium göttlicher Botschaften, die sich indes auch anderer Medien wie der nicht an den Schlaf/Traum gebundenen Vision oder Erscheinung bedienen können. So der des Erzengels Gabriel in Gerusalemme liberata I, 15, oder in Goffredos Vision der Himmlischen Heerscharen in Gerusalemme liberata XVIII, 92ff. (siehe hierzu Gigante 1995). Die Frage nach 3 Zum neuartigen Traumtor aus „cristallo oriental“ und der Suspendierung der dianoetischen Alternativen von „vero“ und „falso“ siehe auch Scholler (2018: 213), der hier das Imaginäre als „dritten Raum“ charakterisiert. 4 Zur Vertiefung dieser notgedrungen höchst kursorischen Bemerkungen zur Funktion des Traumes im antiken und rinascimentalen Epos siehe Grillone (1967), Bárberi-Squarotti (1993), Bouquet (2001). 5 Zum Traum in der Aeneis siehe McNeely (1977).

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der Höherwertigkeit von Vision und Erscheinung außerhalb des Traumes vor solchen im Traum ist auch um 1600 noch diskutiert worden, was sich auch bei Tasso niederschlägt: Himmlische Botschaften geringerer Tragweite – wie der Trost der toten Clorinda für den sich in Schuldgefühlen und Liebe verzehrenden Tancredi in Gerusalemme liberata XII, 91ff. – und solche an weniger ausgezeichnetes Personal wie den Muslim Arsete, den der Heilige Georg auffordert, Clorinda zu taufen und über ihre Herkunft aufzuklären, geschehen ausschließlich im Schlaf und im Traum und wären nach Macrobius’ Terminologie „oracula“ durch autoritative im Traum erschienene Figuren (Macrobius 1963: I, iii, 2, 18– 25).6 Diese sind durch den Traumzeitpunkt gegen Ende der Nacht, fast schon am Morgen, als Wahrträume ausgewiesen. Das entspricht antiker Tradition etwa bei Ovid, Heroides, XIX, 195f. („namque sub aurora, iam dormitante lucerna,/ somnia quo cerni tempore vera solent“, Ovid 2000: 242), die auch Dante im Inferno XXVI, 7, aufgreift: „Ma se presso al matin del ver si sogna“ (Dante 2004: Bd.I, 768). Andererseits setzen auch die gegnerischen Mächte der Hölle Träume ein, um den Erfolg der christlichen Seite zu unterbinden. Diese sind nicht minder ereignishaft, etwa wenn die Furie Alecto im Auftrag des Teufels Astragorre den christlichen Ritter Argillan in Gestalt eines sprechenden Leichnams im für die Christen kritischen Moment der Todesnachricht Rinaldos zum Aufstand gegen Goffredo überredet (Gerusalemme liberata VIII, 57–62). Nach Macrobius ließe sich dieser Traum als „insomnium“, als sich auf die Schrecknisse des (Schlacht-) Tages zurückbeziehender Albtraum klassifizieren. Doch anders als für Macrobius ist das „insomnium“ bei Tasso kein intramundaner Albtraum, sondern vielmehr von der negativen Seite der übernatürlichen Mächte geschickt: Die epistemische Opposition „wahr“ vs. „falsch“ bei Macrobius koppelt sich bei Tasso mit der metaphyischen „göttlich“ vs. „diabolischen“ und der moralisch-dianoetischen „gut“ vs. „böse“.7 Das dritte Register von „sonno/sogno“, das ich kurz beleuchten möchte, ist das der Naturphilosophen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. Dazu werde ich auf Giambattista della Portas unter dem Titel Dell’humana e celeste fisionomia das ganze 17. Jahrhundert hindurch vielfach übersetzte De humana physiogno6 Zu Macrobius’ Traumkategorien und ihrer Rezeption in der Renaissance siehe den Abriss von Desrosiers-Bonin (1990). 7 Jenseits dieser ideologischen, metaphysischen Opposition gibt es bei Tasso aber auch v. a. Angstträume, die Macrobianischen insomnia im eigentlichen Sinne sind. Dazu zählt etwa der Angsttraum Erminias um Tancredi in Gerusalemme liberata VI, 65–66, der sie dazu treibt, sich in der Rüstung Clorindas ins christliche Lager zu begeben. Dazu und zum Visions- und Traumgeschehen in der Gerusalemme liberata siehe die ausgezeichtete, von Mara Santi und Claudio Gigante betreute Masterarbeit von Van den Bossche (2013: 66–72 zu Erminias insomnium).

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monia (1586) und einen unbekannteren Text aus der unmittelbaren Entstehungszeit des Adone zurückgreifen, der für unseren Zusammenhang aber hochinteressant ist: auf die 1613 erschienenen Ragionamenti domestici intorno alla natura de’sogni von Paolo Grassi, der Leibarzt am Hof einer Gonzaga-Seitenlinie im oberitalienischen Novellara war. Beide setzen sich zu Beginn mit der Frage auseinander, ob Träume Medium göttlicher Botschaften sein können – und beide bejahen das: Questa maniera d’indovinare (…) è per coloro, che castamente, e religiosamente vivono lontani dal cammercio, dove si vede quanta gran parentado, & amicitia habbi l’anima nostra co’l Cielo, che nel sogno se fà quasi partecipe della divina gratia, per essernogli rivelata i celesti secreti (Della Porta 1668: 4)

Della Porta schränkt diese prophetische Funktion des Traums bzw. die Befähigung zu ihrer richtigen Deutung aber dreifach ein: Erstens kann nur der wahre – christliche – Gott derartige Träume schicken, von Visionen in paganem oder weltlichen Kontext kann also keine Rede sein. Zweitens befähigt Gott dazu nicht jedermann, sondern nur die, die „castamente, e religiosamente vivono lontanti dal commercio“ (Della Porta 1668: 4) – also nur Geistliche oder Mystiker. Und drittens sind rivelatorische Träume und ihre Deutung der Kontrolle der „charissima Madre S. Chiesa“ (ebd.) unterworfen, die nicht-autorisierte TraumKommunikation mit Gott also delegitimiert. Das ist eine deutlich konfessionelle, katholische Aussage gegen jede freie, kirchlich-institutionell ungebundene (Traum-)Kommunikation, die sich an die biblischen Warnungen vor falscher Prophetie in Deuteronomium 13, 1–5, oder Math. 7, 15–23, anschließt und ihren Weg in den Katechismus des Konzils von Trient gefunden hat, auf den sich della Porta beziehen dürfte: „Qui somniis, auguriis, ceterisque vanissimis rebus fidem haben“, sind Sünder und eine Gefahr für die Orthodoxie (Cathechismus 1924: 332, III, ii, 7).8 Für Della Porta unterliegen sie einer selbst schon traumähnlichen Selbsttäuschung: „Il credere à sogni, è un sogno“ (Della Porta 1668: 4), was heißt, dass nicht der theologisch-metaphysische Diskurs für sie zuständig ist, sondern der medizinisch-humoralphysiologische. In ihr ist bei della Porta auch die Mikro-Makrokosmos-Relation gekappt, denn den Astrologen spricht er die Deutungsmacht über die „fattezze de gli huomini“ ab und unterwirft diese ganz den physischen Kausalitäten der humoralpathologischen Temperamentenlehre: „le fattezze de gli huomini sono causate da’ temperamenti non da le stelle“ (Della Porta 1668: 423). Eine ähnliche Zweiteilung nimmt dreißig Jahre später der Arzt Paolo Grassi vor, wenn er sich explizit und mit einem ungenauen Verweis auf J. C. Scaliger 8 Zu kirchlichen Reserven gegen Traum und Visonen zur Zeit des Tridentinums siehen Gowland (2014: 73f.).

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– gemeint ist dessen noch 1610 aufgelegtes Hippocratis liber De Somniis cum Iulii Scaligerie commentariis von 1539 (siehe dazu De La Garanderie 1990) – nicht Macrobius’ skalare Traumkategorisierung übernimmt (Grassi 1613: 31), sondern eine binäre nach Traum-Ursachen entwirft. Nach „Cagioni dentro di noi“, die „naturale“ oder „animale“ sein können, also entweder von der humoralphysiologischen Kondition des Träumenden oder seiner Imagination abhängen; und nach „Cagioni fuori di noi“ als „corporali“ wie die „Cieli, quali così ponno movere & imprimere in noi li fantasmi“ und „spirituali (…) come Dio, e l’Angelo“ (Grassi 1613: 33). Den Bereich des Planeteneinflusses verwirft er allerdings ähnlich wie Della Porta als „cose indegne di buon filosofo, e di vero Christiano“ (Grassi 1613: 37)9, so dass allenfalls externe Phänomene wie etwa Wettereinflüsse als äußere Traumanlässe übrigbleiben, wenn man etwa nach einem Regentag „la notte havrà sognato tempo piovoso“ (ebd.). Die „cagioni spirituali“ reduzieren sich bei Grassi wie bei Della Porta auf Gott, die Heiligen oder „angioli buoni, & cattivi“ (Grassi 1613: 41). Als Belege läßt er allein die „sacre lettere“ zu, während er die der „antichi“ ausschließt, „perche non hebbero cognitione del vero Dio: ma solo di quei vani, & quei bugiardi Dei, da’ quali finalmente restavano delusi,& ingannati“ (ebd.). Wahrheitsfähige Träume können allein solche des christlichen Kontextes sein, denen des paganen wird retrospektiv ein prophetisch-prognostischer Anspruch abgespochen und diese als missgedeutete „sogni naturali“ oder „animali“ klassifiziert. Deren Ursachen sind rein körperlicher oder imaginativer Natur: Verursacht durch prädominierende Humores, durch unterschiedliche Speisen, durch Tageserlebnisse, durch Transformation und Rekombination von Wacheindrücken im Schlaf – also ganz durch das, was sich in den von Grassi oft zitierten klassischen Referenztexten wie Aristoteles’ „Über Schlafen und Wachen“, „Über Träume“ und „Über Traumdeutung“ aus dem Korpus der Parva Naturalia und den Schriften Galens findet. Als sich Marino ab 1614 mit Energie daran macht, den seit 1605 geplanten Adone auf der Basis der Metamorphosenepisode von Venus und Adonis zu einem Epos ungekannter Länge auszuarbeiten, hat er sich gegen seine eigenen, auf Halde liegenden Versuche eines Poema eroico entschieden. Von der Gerusalemme distrutta hat er nur wenige, fragmentarische Gesänge geschrieben, – wegen der Arbeit am Adone und – wie Marino in Adone IX, 6, – mit einer Captatio benevolentiae vermerkt – seines „rozzo stil [che] non lice tanto“ (Marino 2010: Bd. I, 466).10 Sattdessen setzt er im in Anlehnung an Tassos Gerusalemme liberata 9 Cfr. ganz ähnlich die Invektiven, die Marino Venus im Adone (XI, 185–208) gegen die Astrologie in den Mund legt, siehe Marino (2010: Bd. I, 639–645). 10 Zur Abfassungsgeschichte des Adone siehe Kommentar von Giovanni Pozzi in Marino (2010: Bd. II, 101–140), zum Gesamtprofil siehe Russo (2008: 251–297). Zum zweiten Gegenentwurf Marinos gegen das Poema eroico, das erst poshum erschienenen Märtyrer-Epos La strage degli innocenti (1632) siehe Dissertation von Nendza (2019).

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ursprünglich auf zwölf canti angelegten11 (dann aber auf 20 angeschwollenen) Adone mit einem an ein Poema cavalleresco anspielendes Inzipit in I, 1–3 (Anruf der Venus um Beistand beim Dichten, Evozierung von „venture e le glorie alte e superbe“ (Marino 2010: Bd.I, 49) und den eigenen „canto“ à la Vergil, Ariost und Tasso) ein, um dann die gänzlich unkriegererisch-pagane Liebesgeschichte von Venus und Adonis zu erzählen. Mit der Wahl des Venus-Adonis-Stoffes geht eine durchaus system- und gattungsrationale Reduktion und Umakzentuierung der Traum-Thematik einher, denn die beiden literarischen Traum-Register stehen für den Adone-Stoff nicht zur Verfügung: Die unproblematische erotische Liebe von Venus und Adonis (die unproblematisch bleibt, auch wenn man sie platonisierend-philosophisch zu überhöhen versucht)12 schließt den Einsatz der mehr oder minder petrarkistischen „Al sonno“-Topik aus. Auch das epische Register verbietet sich für Marino aus mehreren Gründen: Handlungslogisch ist sein Text vor allem von Adones passivem und langsamem Durchschreiten verschiedener Räume und Orte – Insel und Palast der Venus, der Planeten Mond, Merkur und Venus – und durch seine ebenso passive Flucht und Irren in den Canti 12 bis 13 geprägt. Ein Telos, auf dessen Spur er durch göttlichen Beistand gehalten werden müßte, gibt es ebensowenig wie eine Kette ereignisreicher Handlungsumschwünge. Die ‚eventfulness‘ epischer Träume kann hier keine Rolle spielen. Und schließlich weiß Marino offensichtlich um die bei Tasso implizite, bei della Porta und Grassi explizite Bindung von Wahrträumen an die Bedingungen des Christlichen. Es entbehrt nicht einer gewissen Konsequenz, wenn Marino diese – wie wir sehen werden – aus der histoire des Adone heraushält. Konsequent in diesem Sinne ist ebenfalls, dass er die Histoire auch als Ganze nicht als Vision mit epistemologischem Anspruch allegorisch vermittelter Wahrheit präsentiert. Den Weg Francesco Colonnas, mit dessen gut einhundert Jahre älterer Hypnerotomachia Poliphili der Adone gern in Zusammenhang gebracht wird13, geht Marino jedenfalls nicht. Denn während Colonna die gesamte Histoire als fiktionsintern von Poliphilo geträumte anlegt und den Traum intern durch einen weiteren Traum doppelt14, erzählt bei Marino ein epentypischer heterodiegetischer, allwissender Erzähler „del giovinetto amato/le venture e le glorie alte e superbe“ (Marino 2012: 49; I, 3) als in einer fiktiven Welt ‚reale‘ Geschichte, deren mögliche allegorische Bedeutung Marino textintern wie paratextuell eher knapp und lustlos markiert (Marino 2010: 51; I, 10, vgl. Föcking 2017: 354–365). 11 Marino an Fortunio Sanvitale 1615, ep. Nr. 110, zitiert nach Marino (2010: Bd.II, 110). 12 Diese Richtung pflegt besonders extrem Marie-France Tristan (2008), differenzierter Dickhaut (2012: 233–292). 13 Vgl. Dickhaut (2012: 235–252), wobei ich, wie noch zu zeigen sein wird, Adone als alles andere als „idealtypischen Menschen“ (236) sehen würde. 14 Siehe zum Traumgeschehen bei Colonna Polizzi (1990); Dickhaut (2012: 144–232).

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Diese Zurückhaltung Marinos hat aber nicht nur ideologische Gründe. Wie angedeutet ist die Traumthematik in den Basis-und Prätexten der Adone-Thematik absent, in Ovids Metamorphosen X, 519–739, ebenso wie in den Kurzepen Lodovico Dolces (Stanze nella favola d’Adone, 1545), Giovanni Tarcagnotas (La favola d’Adone 1550) und Girolamo Paraboscos (La favola d’Adone, 1553).15 Wenn Marino dennoch mit Adones Traum im dritten und der Reise zur Insel der Träume im zehnten Gesang zwei kleinere Traumepisoden einbaut, mag sich das aus dem Bemühen begründen, seinen Adone mit epentypischen Elementen auszustatten, ohne diese jedoch – wie oben dargelegt – epentypisch begründen zu können. Marinos Weg zur Traumthematik muss also über einen anderen Weg führen: über – so meine These – einen im Sinne Della Portas und Grassis physiologischen. Nehmen wir dazu kurz die Anlage des Protagonisten Adone in den Blick: Bei Ovid ein sich selbst an Schönheit übertreffender Mann und gegen Venus’ Rat wagemutiger Jäger des ihn schließlich tötenden Wildschweins, verwandelt er sich in den Kleinepen des Cinquecento in einen Anti-Helden, der eher wagemutig als stark ist (so bei Lodovico Dolce, Tallini 2012: 216), feminisiert wird – bei Tarcagnoto verliebt sich das Wildschwein in ihn und tötet ihn aus leidenschaftlichem Vesehen (ebd.: 238f.) – und zu einem zum Schlaf neigenden Halbwüchsigen „tutto beltate e leggiadria“ wird, den Parabosco in der ersten Stanze seiner Favola d’Adone traumlos schlafend nach der Jagd unter einem „ombroso pesco“ vorführt (Tallini 2012: 262f.). Der derart aus der Trias Nacht/Schlaf/Traum gelöste Schlaf verhindert als Adone vernebelnden „oscuro velo“ und „ignave ombre del sonno“ (Parabosco, La favola d’Adone III, IX, Tallini 2012: 263, 265), dass er der bereits völlig für ihn entbrannten Venus ansichtig wird, ja der „sonnolente giovane […] timido in vista“ ist zu verwirrt, die eindeutigen Angebote der Venus („ecco il bel seno; prendilo in dono“, (XII, ebd.: 266) zu verstehen. Parallel zur auch stilistisch inszenierten weiteren Verschiebung der Geschlecherrollen – Venus preist die Augen Adones mit der Lexik eines taditionell männlichen Liebenden der zeitgenössischen Liebenslyrik – (XIII, ebd.) –, wird Adone bei Parabosco bereits ansatzweise zu dem, was Marino dann weiter ausbauen wird. Marinos Adone schließlich ist, wie Pozzi schön zusammenfasst (Marino 2010: Bd.II, 34f.), der perfekte Anti-Held: Ein halbwüchsiger mit blondem Bartflaum (I, 59), passiv in der Liebe zu Venus, tolpatschig (denn er entfesselt unwissentlich eine Schlacht, XIV, 44–154), feige (er verweigert in XIV, 190, ein Duell), „a navigar mal atto“ (Marino 2010: Bd. I, 842; I,79), effeminiert (IV, 8–14) und daher permanentes Liebesobjekt von Frauen, Männern und einem Wildschwein. Letzteres bezeichnet Pozzi zutreffend als „vero maschio del poema“ (Marino 2010: Bd.II, 15 Alle leicht zugänglich in Tallini (2012).

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35). Er ist ohne Ehrgeiz – die Herrschaft über Cythera akzeptiert er nur auf Druck der Venus und gibt sie ebenso schnell wieder ab, XVI, 172f.) – und wenig intelligent, denn ein guter Schachspieler ist er auch nicht (XV, 168f.). Er ist aber auch – was Pozzi in diesem Zusammenhang entgeht – der schläfrigste Protagonist der Weltliteratur vor Gontscharovs Oblomov: Sein „innamoramento“ im dritten Canto (68ff.) droht er zu verpassen, weil er sich von der Jagd und der Mittagshitze erschöpft zum Mittagschlaf niedergelegt hat. Nicht einmal der von Venus gesandte Traum beschleunigt das Innamoramento – ich kommme darauf zurück. Bei der als warnendes Exempel inszenierten Theateraufführung der Geschichte des Aktaion im fünften Canto verschläft er „instupidito“ den entscheidenden letzten Akt auf dem Schoß der Venus (Marino 2010: Bd. I, 301; V, 147). Beim Besuch der Insel der Träume auf dem Mond im zehnten Canto schließlich drohen ihm angesichts des dort aus seinem Venus-Traum wiedererkannten „simulacro bello/dela sua bella ed amorosa diva“ die „luci (…) stupidi e bassi“ zuzufallen (ebd.: 545; X, 104). Im XIII. Gesang schläfert ihn Falsirena mit einem „oppio forte“ (ebd.: 753; XIII, 112) ein, um ihm den Ring der Venus zu stehlen, und im XIV. Canto wird er im Schlaf von Räubern überfallen (15–21), deren Hauptmann sich sogleich in ihn verliebt. In Canto XVI, 168, schläft er unversehens im Venus-Tempel ein. Einen Traum aber hat Adone nur ein einziges Mal, und dieser bleibt folgenlos. Die Anfangsvermutung, dass im Adone die sowohl im lyrischen wie epischen Register gängige Einheit von Schlaf und Traum zerrissen ist, bestätigt sich also ebenso wie die, dass Marino ähnlich wie della Porta oder Grassi die orphischpythagoräische Auffassung, dass die Seele während des Schlafes ihre maximale Freiheit vom Körper erlangt und frei zwischen lunarer und sublunarer Welt verkehren kann, verwirft. Stattdessen kommt ein naturalistischer Ansatz zum Tragen, der der humoralpathologischen Temperamentenlehre. Denn vergleicht man Marinos Text mit Giambattista della Portas De humana physiognomonia, ergeben sich erstaunliche Übereinstimmungen zwischen Adone und dem „temperamento flemmatico“. Dieses kennzeichnet sich bei della Porta durch die Mischung aus „umori freddi & humidi“ und prägt auch die „complessione delle donne“, weil le donne sono timide e fiacche. Sono di mutabil parere, e proposito, & hora desiderano star fermi; & hor camminare; come fiacchi e timidi, non pensando di nuocere a niuno. Amano i luoghi acquosi (Della Porta 1668: 449).

Weiß von Hautfarbe, sind die „flemmatici“ voller „mollezza“, „di poche forze“ und „di duro ingegno“ (Della Porta 1668: 18). Schon bis hierher deckt sich das mit den schwächlichen, weiblichen, ängstlichen und wenig intelligenz-betonten Anlagen Adones. Aber noch mehr, weil die „flemmatici“ „dormono molto, per la freddezza del cervelo, chè sonno vien

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dall’humido e freddo“ (Della Porta 1668: 18). Da sie nach aristotelisch-galenischer Auffassung durch verengte Gefäße gekennzeichnet sind, können die durch die Verbrennung der aufgenommenen Nahrung erzeugten, in den Kopf steigenden und daher den Schlaf verursachenden Dämpfe nur langsam in Richtung Herz zurückweichen, so in „Über Schlafen und Wachen“ aus Aristoteles Parva Naturalia (Aristoteles 1997: 110–112). Schlafneigung und Schlafdauer sind bei „flemmatici“ also bis zur Schläfrigkeit erhöht: Noi chiamiamo i sonnacchiosi quelli che così dannosi al sonno che non fanno cosa di maggior voglia que questa. La cagion di questo essere l’humidità, la freddezza del cervello, come dicono i Medici. (…). Il capo gonfio più del dovere, le vessichette delle palpebre gonfie. (…) Dice Aristotele nel libro del sonno e della veglia. La strettezza dei meati per i quali passano gli spiriti dal capo, con ogni minima cosa piccola quanti si voglia, e serra e l’impedisce, che non ponno passare, laonde il sonno dura finché non siano passati a poco a poco. (Della Porta 1668: 293f.)

Della Porta sieht sich bestätigt durch Ovids Portrait des Schlafes im Metamorphosen XI, 592ff., der in Nebeln und Dünsten („nebulae caligine mixtae“, Ovid 1990: 424) seine Augen kaum aufhalten kann, was Della Porta als Beleg für die „palbebre gonfie“ des „sonnacchioso“ zitiert: „E gl’occhi che giacean per la gravezza“ mit direktem Bezug auf Metamophosen XI, 618 „deus gravitate iacentes/vix oculos tollens“ (Della Porta 1668: 294; Ovid 1990: 426). Von Della Porta und Ovid läßt sich nun den Weg zurückfinden zum schlafenden Adone in Canto III. Das Reizwort „sonnacchioso“ taucht im ganzen Text nur fünf Mal auf. Hier, in Canto III beklagt sich Venus darüber, dass Amor „sonnacchioso“ im „pigro – („faulen“) cor“ Adones schlafe (Marino 2010: 165; III, 91). Später, im zehnten Gesang, erleidet Adone auf der Insel der Träume seinen geradezu narkoleptischen Anfall, in dem der ebenfalls „faule“ Schleier der Nacht („pigro e lusinghier drappello“ seine „Lider beschwert“ („per gravagli le ciglia“, ebenda: 545; X, 104) und auf Della Portas/Ovids Thematik der „palbebre gonfie“ des phlegmatischen Schläfers verweist. Dass dessen Schlaf humoralpathologisch konnotiert ist, markiert Marino durch die Thematisierung von Feuchtigkeit und Dämpfen („vapor notturno“/„humida notte“, ebd.: 543; X, 98, und 545; X, 106), aber auch durch auf Feuchtigkeit anspielende Verben: „Gli appanna il sonno le celesti forme“ (ebd.: 160; III, 68) heißt, dass der Schlaf die himlischen Formen „trübt“, aber auch, dass er sie Wortsinn „beschlägt“ – „apannare“ bezeichnet einen Kondensationsvorgang durch Kälte und paßt zur physiologischen Theorie des durch feuchte Dämpfe verursachten Schlafes. Ebenso spielen wenig später die „vapori accensi“ der Luft im Zusammenhang mit dem „sonno tenace“, der „sopisce i pensier“ (ebd.: 163; III, 80) auf humoralpathlogische Zusammenhänge an, was Venus in ihrem Monolog auf den der

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Liebe hinderlichen Schlaf – den „dell’ombre gelido (…) compagno“ (ebd.: 165; III, 90) – bestätigt. Wie wenig (und in Übereinstimmung mit Della Porta oder Grassi) dieser hier eingeflochtene humoralpathologische Diskurs mit prophetisch-rivelatorischen Träumen des epischen Registers kompatibel ist, zeigt sich an Marinos Schwierigkeiten, einen solchen Traum in die Innamoramento-Szene einzubauen. Denn die Klagen der Venus über den liebesverhindernden Schlaf Adones in der Mittagshitze enden mit ihrem Wunsch, den „sonnacchioso Amor“ im faulen Herzens Adones durch ihr eigenes, dem Schlafenden im Traum erscheinendes und anzuschauendes Simulacrum aufzuwecken. Diesem Wunsch kommt Morpheus bereitwillig nach. Dessen Vater Somnus hatte die Göttin nach der wenige Oktaven zuvor mitgeteilten Erzählung die Grazie Pasithea zu Frau gegeben. Marino greift hier auf Homers Ilias (14, 231ff.), Catulls Carmen 63, 43, Anthologia Palatina 9, 517, oder das entsprechende Gemälde „Il sonno in grembo a Pasithea“ von Ippolito Andreasi zurück, dem er zwei Madrigale in seiner Galeria (1619) gewidmet hatte (vgl. Marino 2005: 24). Morpheus, der nach Ovids Metamorphosen für die Traumbilder in menschlicher Gestalt zuständig ist (Metamorphosen XI, 634) fabriziert aus Luft und Dünsten ein „simulacro leggiadro e peregrino“ der Venus, das Adone im als „teatro del sonno“ (Marino 2010: 166; III, 92) bezeichneten Traum erscheint und ihm dort mit der Aufforderung „‚Adon, dammi il tuo cor‘“ (ebd.: III, 94) die Brust öffnet, ihm das Herz entnimmt und damit entschwindet: „Adon, dammi il tuo cor“ gli prende a dire. E fu quasi un sol punto aprirgli il fianco, dispiccarglielo a forza e disparire. Sognando il bel garzon si dole e geme, siché la vera dea ne langue insieme. (Marino 2010: Bd. I, 166; III, 94)

Marino scheint hier das Wirkungsvollste aus zwei Traumtraditionen aufbieten zu wollen: Zum einen das „oraculum“ der Makrobianischen Tradition, da er aus dem Mund der Autoritätsfigur Venus im Traum eine Voraussage für die Zukunft macht: Adone wird sein Herz an die Göttin verlieren. Zum anderen den prophetischen Traum von der unbedingten Gewalt Amors und dem aus Dantes Vita Nova I bekannten Vorzeigen des eigenen Herzens in der Traumvision des Protagonisten, den Dante in die „quarta della notte“ (Dante 1996: 21) legt, was etwa der Zeit zwischen 21 und 22 Uhr entspricht und hier der Horazischen Tradition der Stunde für „somnia vera“ folgt.16

16 Siehe dazu den Kommentar von Gorni, Dante (1996: 21, A.1). Zu den prophetischen Träumen in der Vita Nova siehe Carrai (2006), zu deren medizinischen Hintergrund Bartoli (2006).

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Indes: Morpheus’ Traum bleibt folgen- und funktionslos, zumal er Adone zur Mittagszeit geschickt wird, die in keiner der antiken Traditionen mit einem Wahrtraum verbunden wird. Anders als die Alcyone Ovids, die nach dem nächtlichen Albtraum vom Tod ihres Mannes erwacht und den tatsächlichen Tod des Gatten Ceyx beklagt (Metamorphosen XI, 677), anders als der Protagonist der Vita Nova, der vor „angoscia“ aus dem Traum schreckt und ihn den „famosi trovatori“ zur Deutung vorlegt, ein Sonett darüber verfaßt und in der Liebe bestärkt wird, die ihn schon seit der Traumvison neun Jahre zuvor durchdrungen hat, schläft Adone weiter. Er erwacht erst durch den rein physischen „suon del bacio“ (Marino 2010, 168; III, 102), den Venus dem noch Schlafenden gibt, und kann sich an den Traum zunächst nicht einmal erinnern. Das spätere Innamoramento in die in aller Körperlichkeit präsentierte, aber sich noch nicht als Göttin offenbarende Venus kommt ohne Rekurs auf den Traum aus und baut stattdessen auf den ganz physischen Kontakt der Körper – Venus inszeniert eine Fußverletzung, Adone reinigt die Wunde. Erst nach dem Innamoramento erkennt Adone in Venus die Göttin des Traumes wieder. Aber dieses „vero“ des „sogno“ (ebd.: 175; III, 127) wird sogleich banalisiert, denn Adones „confusion“ über das Einbrechen des Numinosen in sein Leben währt nur eine Oktave, die Herzallegorie des Traums wird zur metaphorischen Dutzendware der „rubatrice del cor“ (ebd.: Nr.III, 127)17 und der Traum selbst aus der Perspektive der Venus zum „di mia deità scherzo amoroso“ (ebd.: III, 128). Die narrative Dysfunktionalität des Traums wird so durch seine relative Folgenlosigkeit und den Kontrast zwischen pagenem Oraculum (oder Dantesker Liebesvision) und humoralphysiologischem Naturalismus unterstrichen. Aber mehr noch: Canto III weist das Traumbild der Venus einerseits aus als „fabrica d’aria e di vapori“ (ebd.: 166; III, 92), als Gebilde aus Luft und Dämpfen. Das ist die perfekte Umschreibung des Traums in aristotelischer Terminologie, denn der Traum ist an den durch die Dämpfe der Coctiones verursachten Schlaf gebunden. Andererseits als „bella larva“, als „Maske“ im „teatro dei sogni“ (ebd.). Beides, die physiologische wie die Theater-Metapher, reduzieren den prophetischen Wert von Wahrträumen im – so müßte man einschränkend mit Blick auf die zeitgenössische Naturphilosophie sagen – paganen Kontext. Das unterstreicht ein abschließender Blick auf die „isola dei sogni“, die Adone, Venus und Merkur im zehnten Gesang auf dem Mond besuchen. Es ist bekannt, dass Marino hier auf das Bildungsgut der antiken Tradition der Grotte des Schlafes aus Ovids Metamorphosen XI, des Hauses des Schlafes in Statius’ Thebais 10, 84–117, und vor allem der Insel des Schlafes in Lukians Wahrer Ge17 Die Gespielin eines anderen, weniger ruhmreichen Cavaliere des 21. Jahrhunderts – Silvio Berlusconi – ist als „Ruby rubacuori“ in die Annalen der Justiz und der Regenbogenpresse eingegangen.

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schichte, 2, 32–34, zurückgreift. Dass er diese allegorische Insel auf dem Mond loziert, schuldet sich dem nun mikro-makroskopisch gewendeten humoralpathologischen Denken: Wenn auch della Porta das phlegmatische Temperament und des von „freddezza, e dall’humiditá“ verurachten Schlafes genetisch nicht mit dem Planeteneinfluss des Mondes verbunden sieht (Della Porta 1668: 319), ist doch bei Marino das analogische Denken in der poetischen Phantasie der Zeitgenossen stärker: Die Heimstätte des Schlafes kann sich nur auf dem kaltfeuchten Planeten par excellence, dem Mond, befinden, von dem etwa Vincenzo Cartaris Imagini degli dei degli antichi 1608 mit Blick auf die Erklärung der Mondflecken durch Plinius als von der Erde gezogenem Wasser sagt: „Luna per essere pianeta humido“ (Cartari 1608, 100). In zeitgenössischen bildkünstlerischen Planetenallegorien wird Luna stets in Zusammenhang mit Wasser, Meer, Meerestieren etc. gebracht, aber auch zum Planeten der „flegmatici“ erklärt, so etwa in Marten van Heemskerks Die vier Temperamente von 1556, deren Blatt „Phlegmatici“ Luna mit der Mondsichel, den Sternzeichensymbolen des Skorpions, der Fische und des Krebses und der ganzen winterlich-feuchten Welt der Küste, des Wassers und der Fischer zeigt.18 Womit wir wieder beim „flemmatico“ Adone wären. Dass Marinos „paese dei sogni“ erwartungsgemäß von feuchter Beschaffenheit ist – von Wasser umgeben und Nebeln durchzogen (X, 88) –, und eine Synthese auch auf zeitgenössischen allegorischen Derstellung von „Luna“ und „Notte“ versammelter Objekte, Landschaften, Tieren und Pflanzen bietet, kann hier weder überraschen noch weitergehend untersucht werden. Und auch nicht, dass es die zwei bekannten Traumtore Vergils – Elfenbein und Horn – auf die vier aus Lukians Wahrer Geschichte (II, 32–34) („terra“, „ferro“, „corno“, „avorio“) erweitert. Entscheidend ist hier, dass im Zusammenhang der Tore zwar von der klassischen (homerischen, virgilianischen) Alternative „o falsi o veri“ oder „bugiarda/d’ingannatrici imagini“ versus „vaghe visioni del ver spesso presaghe“ (Marino 2010: 543; X, 97) gespochen wird. Dann aber wird diese Alternative zugunsten der „fantastiche bugie mostruose apparenze“ (ebd.: X, 99) fallengelassen und einen Triumphzug von grotesken Fantasiefiguren („quasi vive grottesche o spiriti astratti“, ebd.: 544; X, 103) vorgeführt: Chi tutto è capo e’l capo è poi senz’occhi […] Altri di faccia umana è si orecchiuto Che convien ch’ogni orecchio il terren tocchi; […] 18 Siehe zur Darstellung des phlegmatischen Temperaments in niederländischen Graphikserien der Frühen Neuzeit Lütke Notarp (1998: 247–282, zur Verbindung Mond-Phlegmatiker 261 f.); ferner insgesamt Wenderholm (Hg.) (2014).

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Vedresti (…) Visi di can con trombe d’elefante Colli di gru con teste di cavallo, busti di nano e braccia di gigante, ali di parpagion, creste di gallo, con code di pavon, grifi di pegasi, fusi per gambe e pifferi per nasi. Con un mantice alcun di vento pregno Gonfia e sgonfia soffiando il corpo vuoto E tanti fiati accumula nell’epa Che come rospo alfin ne scoppia e crepa. (ebd.: 544; X, 100–102)

Diese Traumgestalten lesen sich trotz entfernter Anklänge an Dantes Inferno (etwa an den aufgeblähten Bauch Maestro Adamos in Inferno XXX, 100–129, mit dem Reim „epa/crepa“, Dante 2004: 904) und an Wunderfiguren des fabelhaften Ostens oder der Antipoden (dazu siehe Wittkower 1977) wie entstiegen aus den Bildern Hieronymus Boschs oder seiner italienischen Nachfolger Marcantonio Raimondi (1475–1534) oder Battista Dossi (1517–1548), deren mit „Il sogno di Raffaello“ bzw. mit „Allegoria della notte“ betitelte Werke aus dem GiorgioneUmkreis stammen und deren Verbindung zu Marinos „vive grotteschi“ noch genauer auf den Grund gegangen werden müsste.19 Marino bezeichnet die Traumfiguren als „scherzi del caso e del pensiero abbozzi“ (ebd.: X, 103) – also reine Phantasiegestalten des „pensiero“, mithin verankert im Traum-Bereich der Grassi’schen „cagioni animali“ und fern jeder Festlegung auf eine divinatorische Funktion. Der Trauminhalt als „scherzo“ läßt sich zurückbeziehen auf Venus’ Redimensionierung des Adone geschickten Traum als „di mia deità scherzo amoroso“ (ebd.: 175; III, 128), was sich in X, 104, bestätigt: Adone erkennt unter den „scherzi del caso“ auch den „simolacro bello“, „quello/che‘n Cipro già quand’ei tra fior dormiva“ (ebd.: 545; X, 104) wieder, das Traumbild der Venus selbst. Dass Adone sofort einzuschlafen droht, als er das Traumbild wiedererkennt, spricht nicht nur für Marinos Kenntnis der Ovid’schen Traumgrotte – auch Iris droht, kaum hat sie ihren Auftrag bei Somnus erledigt, einzuschlafen (Metamorphosen XI, 631) –, sondern noch einmal für die Unterwerfung des Traums unter die Physiologie des Schlafes. Und so steckt auch hinter Marinos „isola“ der Träume und ihrer Schein-Alternative der Tore für „ingannatrici imagini“ und „vaghe visioni“ die Deligitimierung des

19 Weder Dossi noch Raimondi tauchen als Maler in Marinos Galeria auf, der Rezeptionsweg muss also anderswo gesucht werden. Zur Bosch-Rezeption im italienischen Cinquecento siehe Holländer (1976: 180–185), und Gibson (1992); zum Zusammenhang von Traum, Capriccio und Groteske im Cinquecento Das Capriccio als Kunstprinzip (1996).

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Traums als Erkenntnismittel. Oder, mit della Porta: „Il credere à sogni, è un sogno“ (Della Porta 1668: 4).

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Robert Folger (Heidelberg)

Der letzte Traum des Barocks: Sor Juanas Primero Sueño (1692) und die Emergenz des punctual self

1.

Einleitung

Mit der Ausnahme der Psychoanalyse ist der Traum heute außerhalb des epistemischen Feldes angesiedelt, produziert also lediglich symptomatisches Wissen, aber keine Erkenntnis über die Welt. Mit der Frühneuzeit und dem Mittelalter befasste Historiker, Literatur- und Kulturwissenschaftler sind sich dessen bewusst, dass diese epistemische Disqualifizierung des Traums selbst eine Geschichte hat. Sie wissen, dass der Traum in der Vor- und Frühmoderne eine Quelle göttlicher Inspiration war oder sein konnte und von daher gesicherte Erkenntnisse produzieren konnte, die sowohl der empirischen Beobachtung als auch den Operationen der rationalen Vermögen des Menschen überlegen waren. Wie aber Pedro Calderón de la Barcas großartiges Schauspiel La vida es sueño anzeigt,1 wurde der epistemische Wert des Traums schon im spanischen Barock hinterfragt oder gar in einer skeptischen epoché eingeklammert. Calderón steht exemplarisch dafür, dass das Interesse für und die Beunruhigung über den Traum und sein Verhältnis zu einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit seine Zeitgenossen umtrieb. Jüngere Untersuchungen haben das Augenmerk auf die zentrale und vielfältige Rolle des Traums in der Emergenz neuer Epistemologien im 16. und 17. Jahrhundert gelenkt – in Spanien und in ganz Europa. Im Jahr 2010 legte Claire Gantet eine Monographie mit dem lapidaren lapidarischen Titel Der Traum in der Frühen Neuzeit vor. Ausgehend von einer detaillierten Analyse vormoderner medizinischphysiologischer und theologisch-philosophischer Modelle der Wahrnehmung, Kognition und Verstandestätigkeit beschreibt Gantet den Traum als eine Art Gravitationsfeld für die Entwicklungen, die für den Übergang in die Neuzeit von eminenter Bedeutung waren. Ich meine damit den allmählichen Triumph des 1 Nach Isidoro Arén Janeiro (2008: 297) war der Traum für die Dichter des Barocks lediglich ein Vehikel für die „ficcionalización“ des „yo-poético“ und dessen Liebeserfahrung (vgl. Vollet 2012).

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Empirismus und damit verbunden die Herausbildung einer subjektzentrierten Wissensproduktion. Letztlich lässt sich eine neue Form der Subjektivität konstatieren, die wesentlich auf Selbstbeobachtung, Selbstdisziplinierung und Reflexivität beruht. Dieses Subjekt sieht sich einer Welt von Objekten gegenübergestellt, die vom ihm manipuliert werden kann.2 Eine weitere Konsequenz dieser Entwicklung bestand darin, dass der Traum zu einem reinen ästhetischen Problem oder Ausdrucksmittel wurde (ebd.: 334–343). Die Beziehung zwischen der Herausbildung neuer Formen der Subjektivität und des Wissens und dem manifesten Interesse am Traum als ästhetischer oder literarischer Form ist wesentlich, um ein scheinbares Paradoxon der Wissenschaftsgeschichte im Bereich des frühneuzeitlichen Spaniens aufzulösen. Neuere Studien zur empirischen und wissenschaftlichen Basis des spanischen Weltreichs haben dazu beigetragen, den in Standarddarstellungen üblichen Ausschluss Spaniens aus der Erfolgsgeschichte der modernen Wissenschaften zu hinterfragen.3 Dennoch ist eine ausgeprägte Diskrepanz zwischen den vielfältigen und beinahe ubiquitären Manifestationen neuzeitlicher Formen der Subjektivität in literarischen und historischen Zeugnissen und dem Fehlen eines zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurses über diese modernen Formen der Subjektivität, das heißt, der Beziehung von Geist und Körper und Mensch und Natur, unübersehbar.4 Mit anderen Worten: Das Modell des menschlichen Wesens und seiner epistemischen Verfasstheit in der Naturphilosophie des Goldenen Zeitalters ist nicht wesentlich verschieden von den Lehren eines Aristoteles, Galen, Avicenna oder Thomas von Aquin.5 Der emblematische Text der modernen Literatur, Miguel de Cervantes’ Don Quijote, illustriert die Diskrepanz von literarischer Modernität und vermeintliche 2 Siehe Gantet (2010: 189–287). Diese neue Form der Subjektivität artikulierte sich auch in der frühneuzeitlichen Mystik, verschieden Formen der Schwärmerei und alchimistischen Spekulationen. 3 Siehe, zum Beispiel, Jorge Cañizares-Esguerra (2004) und José Ramón Marcaida López (2014). 4 In meinen eigenen Untersuchungen zeichne ich sowohl die Entstehung neuer Formen der Subjektivität innerhalb des traditionellen Rahmens im späten 15. Jahrhundert nach (Folger 2009) als auch die Subversion hegemonischer Ideen der Naturphilosophie durch Autoren des Siglo de Oro nach (Folger 2008: 2012). 5 In den Ländern, die als Vorreiter und Protagonisten des Triumphs des Empirismus gelten, finden wir in dieser Epoche Philosophen, die in einer Art eklektischen Renaissance der antiken Philosophie mit starken neoplatonischen und hermetischen Einflüssen neue Modelle der Subjektivität ersannen. Selbst diese Denker stellten die traditionelle Fakultätenpsychologie (siehe Fußnote 6) jedoch nicht in wesentlich in Frage. Ein Vergleich der Illustrationen des menschlichen Geistes in Gregor Reisch’ Margarita philosophica (Freiburg im Breisgau: Schott, 1503, s.p., reproduziert in Folger [2009: 47]) und dem berühmten Stich Robert Fludds in seiner De praeternaturali utriusque mundi historia (Abbildung 1, reproduziert in Joscelyn Godwin [1979: 70]) zeigt, dass der englische Esoteriker das vormoderne Modell der drei Hirnventrikel, die die Vermögen der anima sensitiva beherbergen, getreu wiedergibt.

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wissenschaftlicher Rückständigkeit aufs Beste. Der Wahnsinn des Helden lässt sich bis in das letzte Detail in den Begriffen der traditionellen aristotelischgalenischen Vermögenspsychologie und der Humorologie (oder Vier-SäfteLehre) beschreiben;6 zugleich aber zeichnet sich in Cervantes’ Meisterwerk eine moderne Form der Subjektivität ab, die George Mariscal (1991: 91) als „singularity“ bezeichnet hat, die also durch eine subjektzentrierte Epistemologie bestimmt wird. Dieses Beispiel deutet darauf hin, dass die Medien und Mechanismen des epistemisch-historischen Wandels nicht allein in den philosophischen Traktaten der Zeit, sondern in den literarischen und para-literarischen Formen zu finden sind. Der Traum spielt hierbei, wie wir sehen werden, eine besondere Rolle. Die Literatur wurde zum Supplement der vormodernen Wissenschaft, die die Symbolisierungen der menschlichen Erfahrungen nicht mehr leisten konnte.7 Ein faszinierendes Beispiel dieses Prozesses ist der Primero sueño der letzten großen Autorin des Siglo de Oro: die mexikanische Nonne Juana Inés de la Cruz, die zehnte Muße, wie sie von Karl Vossler (1934) getauft wurde. In einer kürzlich erschienenen Studie hat Sigmund Méndez die Behandlung wissenschaftlicher Themen im Sueño von Sor Juana als eine „forma de extender el dominio del lenguaje poético de estirpe gongorina a otras regiones de la experiencia humana“ (Méndez 2016: 999) interpretiert. Im Folgenden werde ich darstellen, wie die mexikanische Nonne in einer enzyklopädischen Art und Weise traditionelle Wissensbestände und epistemologisch-wissenschaftliche Konzepte in Form einer Phänomenologie des Traumes darstellt.8 Wenn auch der Primero sueño eine „síntesis poética de una parte del legado de la onirología occidental desarrollada hasta el Barroco como época frontera de una gran transfiguración epistemo6 Ich verwende den Begriff Vermögenspsychologie in Analogie zum in der angelsächsischen Forschung etablierten Begriff faculty psychology. Diese postuliert, dass die in einem systematischen Zusammenhang stehenden mentalen Vermögen (grundsätzlich: Vorstellungsvermögen, Urteilsvermögen und Gedächtnis) in von Autor zu Autor variierenden Konstellationen in bestimmten Gehirnregionen (genauer den Gehirnventrikeln) verankert und über den Geist (spiritus, pneuma) mit den niederen und höheren Vermögen des Menschen verbunden sind. Vgl. Folger (2002: 234–248). Bezüglich einer Beschreibung des Basismodells der vormodernen Psychologie (als Synthese von zumeist terminologisch heterogenen und widersprüchlichen Darstellungen) siehe Folger (2009: 42–71). Der Libro de la Anothomia del hombre von Bernardino Montaña de Monserrate (1998) spiegelt das volkstümliche psychologische Wissen des 16. Jahrhunderts wieder, weil er mit der Zielsetzung geschrieben wurde, dieses einem Laienpublikum darzulegen. 7 Hinsichtlich der Produktion medizinisch-psychologischen Wissen siehe auch Folger (2008 und 2012). 8 Roger Friedlein untersucht ein weiteres Beispiel der Verzahnung literarischer Formen und wissenschaftlicher Erkenntnisse: Er zeigt, wie der Traum in Epik der Romania ein Dispositiv der „Inszenierung“ (2014: 16) von geographischen und kosmologischen wissenschaftlichen Kenntnissen sein konnte.

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lógica“ (Méndez 2016: 1024) darstellt, so ist ihr Werk doch nicht bloß eine Synthese, sondern überschreitet die „Grenze“ zur „epistemischen Transfiguration“. Ich werde zeigen, dass in der abschließenden Beschreibung der gescheiterten Reise zu den himmlischen Sphären im Sueño, die zugleich eklektisch und „orthodox“ ist, vermittels der manieristisch-gongoristischen Sprache ein neues Wissenssubjekt aufblitzt, dass man in den Worten von Charles Taylor (1989: 159) als „punctual self“, als punktuelles Ich, beschreiben kann. Der Traum Sor Juanas markiert so den Untergang des Traumes als epistemisches Feld.

2.

Der Traum in der Frühen Neuzeit: Modelle

Die Theoretiker des Traums im Mittelalter und in der Renaissance gingen von einer fundamentalen Unterscheidung aus. Sie postulieren einerseits, dass der Traum das Resultat von physiologischen Prozessen sein kann, in denen die Produkte des Metabolismus das Gehirn und die Vermögen der anima sensitiva überschwemmen,9 die sich in den Gehirnventrikeln befinden. Die Kontamination führt einer mehr oder weniger chaotischen und arbiträren Produktion von mentalen Bildern. Diese Art beinahe pathologischer Träume hat keine tiefere Bedeutung. Anderseits kann der Traum auch verborgene Erkenntnisse vermitteln oder gar prophetisch sein, wenn er von einem Engel oder Gott selbst inspiriert wird oder wenn der Traum den Aufstieg der vom körperlichen Ballast befreiten Seele in das Reich der Ideen oder gar die Schau des Göttlichen ermöglicht. Diese Form von Traum wurde als eine privilegierte Quelle des Wissens über die materielle und die geistige Welt und der Selbsterkenntnis betrachtet. Diese basale Unterscheidung stand in einem Zusammenhang mit einer Reihe von fundamentalen philosophischen Problemen der Zeit. Sie zeigt an, wie schwierig es war, Wissensformen zu vereinbaren, die man einerseits als aristotelisch-galenisch bezeichnen kann, andererseits als neoplatonisch, verbunden in verschiedenen Konstellationen mit der christlichen Dogmatik, der Mystik und dem Hermetismus.10 Das Phänomen des Traums hängt zudem mit den fundamentalen Fragen nach der Natur der Seele, dem Körper-Geist-Problem und der Beziehung der Seele zu einer Ich-Instanz zusammen. Als vermeintlich todesähnlicher Zustand kann der Traum auch Aufschlüsse über die Unsterblichkeit der Seele und die Möglichkeit einer Auferstehung in corpore bieten.

9 Hinsichtlich der wirkmächtigen antiken Theorien zum Traum und der spezifisch spanischen onirischen Tradition siehe Cerghedean (2006); Teuber (1989: 228–309) untersucht den Traum in den romanischen Literaturen der Frühneuzeit. 10 Gantet (2010) beschreibt den Prozess detailliert, mit einem impliziten Fokus auf die protestantische Welt.

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In der Polemik über den Traum, die zugleich eine religiöse Polemik war, wurde die aristotelische Prämisse der eidetischen Qualität, also der wesentlich Bildhaftigkeit der Wahrnehmung und aller mentalen Prozesse nicht in Frage gestellt: Es gibt kein Denken ohne Bilder (siehe Folger 2009: 48–49). Dennoch zeichnet sich in dieser Diskussion die Ablösung der „schwachen Subjektivität“ ab,11 also der Idee, dass das Subjekt nicht den Objekten gegenüber steht (res cogitans vs. res extensa), sondern in die Welt der Dinge eingebettet ist und von diesen konstituiert wird. Ein Beispiel für den Ablösungsprozess der „alten Psychologie“, bietet Agrippa von Nettesheim, der argumentierte, dass die Seele zur mens, dem Geist, aufsteigen konnte (vgl. Gantet 2009: 98–99). Die mens wurde zum Nukleus der Essenz des Menschen,12 wie wir etwa im Modell von Robert Fludd (Abb. 1) sehen können, in dem die mens die anderen mentalen Vermögen „umschließt“ und so auf die „Punktualisierung“ des Ich vorausweist, die ich im Folgenden nachzeichnen werde. Durch die Spiritualisierung der Seele und dem Verblassen der aristotelischen Idee der Seele als Form oder Entelechie des Körpers, wurde die Erforschung der Seele und des Traums zu einer Erforschung des inneren Menschen, verbunden mit Selbst-Beobachtung: gno¯thi seauton, erkenne dich selbst.13 Es kam zu einer Ausdifferenzierung zwischen dem Wissen von der Welt, dem Empirismus, und dem spirituellen Wissen, also der Mystik. Die heilige Theresa von Ávila beschreibt die mystische Erfahrung als todesähnlichen Zustand, in dem sich die Seele vom Körper abtrennt, obwohl die Funktionen der Sinne nicht verloren gehen (ebd. 2010: 212–214). Entscheidend ist, dass Theresa die mystische Erfahrung und den Prozess der Selbsterkenntnis paradoxerweise in Begriffen der Unmöglichkeit diese auszudrücken formuliert. Das medizinisch-psychologische Vokabular der Zeit erscheint ihr ungenügend oder nutzlos. Das traditionelle Wissen wird somit nicht explizit negiert, sondern unterdrückt oder eingeklammert, ebenso wie der Körper in der mystischen Erfahrung hinter sich gelassen wird. Zugleich wurde das Geist-Körper-Problem ästhetisiert: Wenn die Erkenntnis der Geheimnisse der Welt und der Erkenntnisse des Ich über sich selbst nicht mittels der Alltagssprache ausdrückbar ist, brauchen wir eine andere Sprache, eine andere Ästhetik, die Mittel des Ausdrucks und zugleich der Dechiffrierung der verborgenen Erfahrung sein muss. Die Alchemie stellte eine derartige Aus11 Das Konzept der schwachen Subjektivität stammt von Dünne (2003: 59). In meiner Studie Escape from the Prison of Love (Folger 2009) analysiere ich den Übergang von einer Form der schwachen Subjektivität zu Formen der Subjektivität, die das Subjekt als der Welt entgegengestellt imaginieren. 12 Dieser Prozess spiegelt sich in der Herausbildung einer neuen Disziplin wider, die pneumatologia oder pneumatica genannt wurde (vgl. Gantet 2010: 186). 13 Vgl. Gantet (2010: 228–232).

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Abb. 1: Robert Fludd (1621): De Praeternaturali Utriusque Mundi Historia. Frankfurt am Main: De Bry, s.p.

drucksweise zur Verfügung, die sich auf den Prinzipien der Differenz, der Verstellung und der Simulation beruhte (ebd.: 2010: 237–253). Die Übereinstimmungen zwischen der alchemistischen Sprache und dem barocken Konzeptismus sind nicht zufällig. Der Konzeptismus bestand, wie es Baltasar Gracián, der wichtigste Theoretiker des concetto ausdrückte, in einem „acto del entendimiento“, einem Urteilsakt, der die „primorosa concordancia“ und „armónica correlación“ zwischen „dos o tres cognoscibles extremos“ (Gracián, 2004: 27) ausdrückt. Von daher hat diese Ästhetik eine epistemische Funktion, denn die „ursprüngliche Übereinstimmung“ („primorosa concordancia“), „se halla entre

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los objetos“ (ebd.), das heißt, sie ist eine Realität. Das concetto ist eine Form der Erkenntnis. Das Beispiel des Primero sueño zeigt, dass nicht nur die wissenschaftlichphilosophische Reflektion über die Seele und den Traum neue Formen der Subjektivität hervorbrachte, sondern auch die konzeptistische Dichtung ästhetische Lösungen bot.

3.

Sor Juana und der gescheiterte Traum der Erkenntnis

Die Edition des Primero sueño Sor Juanas von Alberto Pérez-Amador Adam, veröffentlicht zuerst im Jahr 1994 und dann noch einmal überarbeitet und erweitert im Jahr 2015, dokumentiert das Ingenium und die Gelehrsamkeit der Autorin.14 In dieser Edition füllen die Glossen und erläuternden Kommentare Pérez Amador Adams zu den 975 Versen fast fünfhundert Seiten, denen zu entnehmen ist, dass Sor Juana neben den wichtigsten scholastischen Lehren ihrer Zeit und den traditionellen Autoritäten auch die Arbeiten des Universalgelehrten Athansius Kircher nebst den Ideen einer innovativer Naturphilosophen kannte.15 In die Abfassung des Primero sueño flossen sowohl die reiche literarische Tradition des Siglo de Oro als auch die Emblematik der Zeit ein (vgl. OlivaresZorrilla 2010). Wie wir sehen werden, ist die Grundlage der esoterischen Wissensbestände nach wie vor das aristotelisch-galenische Modell der Vermögen des Geistes, die untrennbar mit körperlichen Prozessen verbunden sind und wiederum von den Körpersäften und dem Lebensgeist, dem Pneuma, bestimmt werden.16 Der Primero sueño wurde zuerst im Jahr 1692 in den Obras Sor Juanas veröffentlicht, obwohl er bereits einige Jahre zuvor von der Autorin abgefasst worden war (vgl. Pérez-Amador Adam 2015: 23–26). Der vollständige Titel lautet „Primero Sueño, que assí intituló, y compuso la Madre Juana Inés de la Cruz, imitando à Góngora“ (1692: 247). Er geht vermutlich nicht auf Autorin zurück, aber der Hinweis auf die aemulatio Góngoras, des größten Dichters des Barocks, deutet an, dass es sich um einen sprachlich und konzeptionell hochkomplexen 14 Die Forschungsliteratur zum Primero sueño ist zum umfangreich, um sie hier abzuhandeln. Pérez-Amador Adam (2015: 19–42) bietet einen Überblick über die wichtigsten Forschungsfelder und Studien zum Thema. 15 Die Ideen Kirchers wurden in Neuspanien durch den Jesuiten Alexandro Favián, einem in Puebla geborenen criollo, verbreitet (vgl. Olivares Zorrilla 2007: 435–436). 16 Diese Vorstellungen wurden etwa durch Pedro Mexías (2003: 740) Silva de varia lección (zuerst 1540) popularisiert: „ El sueño es un adormecimiento y descanso de todos los sentidos, que se causa de la evaporación y humos que del estómago y manjar suben al celebro […]“ (vgl. Méndez 2016: 995–996).

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Text handelt. Das Sujet des Gedichts, das aus drei Teilen besteht, ist dennoch einfach. Eine Einführung berichtet vom Einbruch der Nacht samt einer Beschreibung des Prozesses des Einschlafens und des Beginns des Traums, in der eine Korrespondenz zwischen Mikro- und Makrokosmos hergestellt wird (vgl. ebd.: 272). Der Hauptteil handelt von einer Seelenreise, also vom Aufstieg der Seele in die Sphären. In einem abschließenden Teil beschreibt die Dichterin das allmähliche Erwachen und macht im letzten Vers deutlich, dass das lyrische Ich eine Frau ist: Sor Juana Inés de la Cruz selbst. Im einleitenden Teil präsentiert Sor Juana das concetto, „artificio conceptuoso“ (Gracián 2004: 27), das getreu der Formulierung von Gracián, die Übereinstimmung einer Reihe von Extremen herstellt. Ich beziehe mich auf der Konkordanz zwischen der Unmöglichkeit der Erkenntnis und dem Erfolg des gno¯thi seauton und auch auf die Konkordanz zwischen dem unendlichen Universum und dem punktförmigen Ich. Die ersten Zeilen des Gedichts sind fulminant: „Piramidal, funesta, de la tierra / nacida sombra, al cielo encaminaba“ (PS: 1–2).17 Ein geheimnisvoller pyramidenförmiger Schatten strebt nach den Sphären der Gestirne. Doch die Schattenpyramide erreicht noch nicht einmal die Sphäre des Mondes. Die Sterne „burlaban tan distantes la tenebrosa guerra“ (PS: 10). Die Dichterin beschreibt in diesem dunklen Bild den Beginn der Nacht in den Begriffen der Wissenschaft der Zeit. Schon im Jahr 1934 versuchte der große Romanist Karl Vossler dieses Bild zu erhellen, indem er auf das kosmologische Modell von Athanasius Kircher Bezug nahm, welcher wiederum vom englischen Esoteriker Robert Fludd beeinflusst war. Obwohl neuere Studien gezeigt haben, dass Kircher keine der direkten Quellen von Sor Juana war,18 ist es aufschlussreich über die Implikationen des Pyramiden-Modells nachzudenken, das seine eleganteste visuelle Darstellung in den Kupferstichen Fludds gefunden hat. Die Pyramidenmodelle des Kosmos haben gemein, dass sie von zwei Polen ausgehen (oder Extremen, wie Gracián sagen würde): Einer entspricht dem Licht und dem absoluten Klang, dem Geist, also dem Göttlichen, der andere entspricht der Materie, der Dunkelheit und dem Schweigen. Von jedem der beiden Pole aus werden Pyramiden projiziert, so dass nur die Spitze der jeweiligen Pyramiden die Basis der anderen berührt. Es resultieren zwei sich gegenseitig durchdringende Pyramiden. Die dunkle Version der Pyramide ist die „piramidal sombra“ Sor Juanas, die danach strebt in die Sphären vorzudringen. Es ist leicht ersichtlich, dass es sich nicht einfach um eine Übernahme der Modelle von Kircher und Fludd handelt, denn in diesen erreicht und durchquert die dunkle Pyramide die 17 Im Folgenden zitiere ich nach der Edition von Pérez-Amador Adam unter Angabe der Sigle PS und der Versnummerierung. 18 Vgl. Antonio Alatorre (1995: 393–394), Olivares-Zorilla (2010: 120–123). Héctor Garza (2004) analysiert die Parallelen zwischen dem Iter extaticum coeleste Kirchers und Sor Juanas Sueño. Die Ergebnisse sind mager.

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Abb. 2: Robert Fludd, Philosophia sacra et vere Christiana, seu meteorologia cosmica. Frankfurt am Main: De Bry, 1636, S. 212

Sphären und berührt, wenn auch nur punktuell, das Göttliche. Sor Juana hingegen benutzt das kosmologische Bild, um die Dämmerung mit dem Motiv des Scheiterns des Aufstiegs in die himmlischen Sphären und der Erlangung der Erkenntnis in Bezug zu setzen. Das Bild der beiden Pyramiden ist zugleich ein Modell der Subjektivität, denn es drückt nicht nur die Dualität und Verwobenheit von Materie und Geist aus, sondern auch die von Körper und Seele bzw. dem Intellekt. Nach Kircher identifizierten die Ägypter des Lichts, die in seinem Oedipus Aegyptiacus mit der Sigle ABC symbolisiert wird, mit der Seele, während gegenläufige Pyramide EDF, die ihre Basis in der materiellen, korruptiblen Welt hat, das Äquivalent des Körpers ist (Abb. 3).

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Abb. 3: Atanasius Kircher, Oedipus Aegyptiacus, Rom, 166619

Welche auch immer die Filiation des Pyramiden-Modells von Sor Juanas Sueño sein mag,20 Kircher und Fludd wurden von der sogenannten figura p[aradimatica] (Abb. 4) inspiriert, die Nikolaus von Kues in seinem zwischen 1440 und 1444 verfassten Werk De coniecturis auslegt. Cum ergo nunc ad hoc perveneris, ut omnia ex unitate et alteritate coniecturando videas, unitatem lucem quandam formalem atque primae unitatis similitudinem, alteritatem vero umbram atque recessum a primo simplicissimo atque grossitiem materialem concipito. Facque pyramidem lucis in tenebras et tenebrae pyramidem in lucem progredi, et omne inquisibile in figuram redigito, ut sensibili manuductione ad arcana coniecturam. convertere possis. Et ut in exemplo allevieris, universum in eam figuram hie subtus conspice redactum. (1971: 46–48).

Abb. 4: Nikolaus von Kues, De coniecturis, figura p21

Wie Sor Juana benutzt Cusanus die figura p, um die Annäherung des Menschen an Gott zu beschreiben. Ziel ist es, ausgehend von der Dunkelheit der Materie, das Licht zu erreichen, das der Welt der Ideen oder Gott entspricht. Die totale Vereinigung, unitas, mit der „basis pyramis lucis“ ist aber nicht möglich, denn es 19 Pérez-Amador Adam (2015: 171) reproduziert dieses Bild. 20 Alatorre (1994: 394) identifiziert Pierio Valeriano und Celio Agostino Curione als Quellen Sor Juanas. 21 Reproduziert als Appendix in der Edition von Joseph Koch und Wilfried Happ (Nikolaus von Kues 1971: s.p.).

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bleibt immer ein dunkler Punkt, ebenso wie der Punkt des Lichts, der Erkenntnis immer die alteritas der „basis pyramis tenebrae“ berührt. Nach der Einführung der Pyramiden, beschreibt Sor Juana die nächtliche Szenerie und die unheimlichen Figuren, die sie bewohnen. Zuerst erscheint Nyktimene, die Tochter des Königs von Lesbos, Epopeus, die für ihre inzestuöse Beziehung zu ihrem Vater in eine Eule verwandelt wurde. So führt Sor Juana das Motiv der Transgression ein, eine der Isotopien, die das Gedicht strukturieren.22 Nach der Darstellung der Aktivitäten der Kreaturen der Nacht, ihrer chaotischen, unheimlichen Gesänge, führt sie über zu einer Szene, die durch absolute Stille gekennzeichnet ist. Nicht nur ist der Wind eingeschlafen, sondern auch alle Geschöpfe der Natur, eingeschlossen die Tiere, die die äußeren Sinne des Menschen symbolisieren: der Löwe, der Adler, der Hirsch. In dieser frühen Phase der Nacht, die dem „ersten“, also dem frühen Schlaf entspricht, sind auch die Sinne „suspendidos“ (PS: 172), der Pflichten des Tages ledig, auch wenn sie nicht vollständig untätig sind („privados no“; ebd.). Es handelt sich um einen todesähnlichen Zustand („retrato del contrario / de la vida“; PS: 173–174). Nur das Herz und die Lungen erhalten die vitalen Funktionen des Körpers aufrecht, während die Seele aller regulativen Funktionen entbunden ist: „El alma, pues, suspensa / del exterior gobierno“ (PS: 192). Der Magen, „templada hoguera del calor humano“ (PS: 253), erfüllt nach wie vor seinen Dienst: al cerebro enviaba húmedos más tan claros, los vapores de los atemperados cuatro humores, que con ellos no sólo no empañaba los simulacros que la estimativa dió a la imaginativa y aquésta, por custodia más segura, en forma ya más pura entregó a la memoria (que, oficiosa, grabó tenaz y guarda cuidadosa), sino que daban a la fantasía lugar de formarse al contrario voraz, necio la expuso imágenes diversas. (PS: S. 254–267)

Sor Juana beschreibt in dieser Passage das konventionelle aristotelisch-galenische Modell der Funktionen der alma vegetativa und ihrer Organe.23 Der spiritus, 22 Vgl. Pérez-Amador Adam (2015: 415), dessen Kommentare die gelehrten Anspielungen Sor Juanas erläutern. 23 Ich beziehe mich auf die sogenannte Vermögenspsychologie, die auf Galen zurückgeht und über die Jahrhunderte von Medizinern und Philosophen wie Avicenna und Albertus Magnus elaboriert und diversifiziert wurde (vgl. Fußnote 6). Bezüglich des naturalistischen Rahmens

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der noch nicht vollständig sublimiert ist, steigt zum Gehirn hoch, aber die Dämpfe sind klar genug, um die inneren Sinne nicht vollends zu verwirren. Die Imagination ist immer noch fähig „imágenes diversas“, also mehr oder weniger chaotische Bilder zu produzieren. Obwohl die Dichterin behauptet, dass nicht nur Bilder der „figuras sublunares“, sondern auch die „claras estrellas intelectuales“ – „en el modo posible / que concebirse puede lo invisible“ (PS: 288–289) erkennbar sind, muss berücksichtigt werden, dass sie wesentlich die Ätiologie eines Traumes beschreibt, der durch somatische Prozesse hervorgerufen wird, also eines Traumes, der keinen tieferen Sinn birgt. Eine aufmerksame Lektüre zeigt, dass in dieser Passage die vermeintlich detaillierte Darstellung einer visio, also einer echten Vision, eine bloße Illusion ist.24 El sueño es sueño. So wie im Makrokosmos die Nacht vergebens zu den Sternen strebt, versucht der Körper als Mikrokosmos sich vergebens von seiner materiellen Basis zu lösen. Wie Rocío Olivares Zorrilla zeigt, wurde Sor Juana beeinflusst durch die Tradition des Neoplatonismus von Plotin bis Giordano Bruno und den erwähnten Fludd und Kircher, die den Aufstieg in die Sphären und die Vereinigung des individuellen nous und dem Nous der Archetypen postulieren (vgl. Olivares Zorrilla 2007: 431–432, Méndez 2016: 998, Gantet 2010: 16–22). Dieser Aufstieg scheitert im Sueño Sor Juanas. Die Scheidung der Seele vom Körper ist eine Unmöglichkeit, wie die Tatsache zeigt, dass in der visio (dem wahrlich prophetischen Traum), weiterhin die äußeren Sinne von Nöten sind, um das zu verarbeiten, was man glaubt wahrzunehmen, wodurch die Seele an den Körper gebunden bleibt. Tatsächlich nimmt die Seele sich selbst wahr: „aquella contemplaba, participada de alto Sér, centella“ (PS: 293–294). Der Suche nach der Erkenntnis wohnt ein Moment der Reflektion inne, der am Ende des Gedichts im Aufblitzen des Ich gipfelt. Der Aufstieg und die Suche nach der Erkenntnis als Seelenreise scheitern, weil in dem Moment, als die Seele die „elevación inmensa“ (PS: 326), also die Spitze der Pyramide erreicht, es sich herausstellt, dass der platonische oder mystische Aufstieg auch nicht ex negativo eine Vereinigung mit dem Göttlichen hervorruft. Geschlagen, bestürzt und eingeschüchtert, zieht sich die Seele zurück.

des ersten Teils des Primero sueño vgl. die informative Untersuchung von Méndez (2016: 995– 997). Pérez-Amador Adam (2015: 265–266) führt ein Zitat von Thomas von Aquin an: „Si vero motus vaporum aliquantulum fuerit remissior, apparent phantasmata, sed distorta et inordinata“ (Summa Theologiae, Pars Prima, Quaestio 84, A8). 24 Ich beziehe mich auf die in der Vormoderne am weitesten verbreiteten Klassifikation des Traumes, die von Macrobius stammt: visio (prophetische Vision), oraculum (prophetischer Traum), somnium (der in dunkle Bilder gehüllte Wahrheiten birgt), visum (die Erscheinung von Bildern, die keine tiefere Bedeutung haben) und insomnium (Nachtmahr, die durch körperliche oder mentale Beeinträchtigungen hervorgerufen wird) (vgl. Cerghedean 2006: 40–43).

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a la comprensión no, que –entorpecida con la sobra de objetos, y excedida de la grandeza de ellos su potencia– retrocedió cobarde. (PS: 450–454)

Die Seele versucht erneut, die Wahrheit zu erkennen, diese Mal durch nicht durch extatische oder intuitive Kontemplation, sondern auf rationalem Weg, indem sie die Leiter des Seins der Dinge vom Bereich des Mineralischen, des Pflanzlichen und des Tierischen bis hin zur Phänomenologie des Menschen erklimmt. Neuerlich scheitert sie an der Größe der Aufgabe. In diesen Versen drückt sich ein profunder Skeptizismus aus. Der Traum bringt nicht mehr Erkenntnisse über das Universum hervor, ebenso wenig wie das Ich sich selbst erkennt oder affirmiert. Das Scheitern ist jedoch nicht total. Als letzte Figur der Transgression der natürlichen Grenzen des Menschen erscheint (u. a. nach Ikarus) im Gedicht Phaeton, „auriga lativo del ardiente carro“ (PS: 787). Die Geschichte des Sohns des Sonnengottes Helios ist ein Mythos von kaum zu überschätzender Bedeutung für das spanische Siglo de Oro (vgl. Gallego Morell: 1961). Pérez-Amador Adam hat den Titel seiner Edition und Studie El precipicio de Faetón mit Bedacht gewählt. Das Erscheinen des Mythos von Phaeton am Ende der gescheiterten onirischen Reise, unmittelbar vor der Rückkehr zur Erde, zum Tag und zum Erwachen, ist einer der Schlüssel für das Verständnis des Gedichts als Ganzes. Im Gegensatz zu anderen Figuren der Transgression, die Sor Juana defilieren lässt, so etwa Ikarus, der eine Art Unfall erleidet, ist Phaeton sich dessen bewusst, dass er fallen wird. Es ist der Preis, den er gewillt ist für ewigen Ruhm zu bezahlen. Deshalb nennt die Dichterin ihn „tipo“ oder „modelo“ und „pernicioso ejemplar [que] alas engendra a repetido vuelo, del ánimo ambicioso“ (PS: 803–805). Er ist die exemplarische Figur des Ruhms, der dem Scheitern und der Zerstörung innewohnen kann. al ánimo arrogante que, el vivir despreciando, determina su nombre eternizar es su rüina […] las glorias deletrëa entre los caracteres del estrago. (PS: 809–810).

Phaeton ist also der Typus der Dichterin und sie der Antitypus, der sich an eine so schwere Materie wie den Traum und seine psychosomatischen Grundlagen wagt, seine theologischen und epistemologischen Implikationen – und dies in einem

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Stil, der mit dem des großen Góngora wetteifert, in der Hoffnung, Ruhm im Scheitern zu erlangen.25 Das Scheitern ist nicht nur auf dem extradiegetischen Niveau, also im Leben der Autorin ein Triumph, sondern auch in der Welt, die im Gedicht evoziert wird, denn in letzter Instanz erkennt die Seele auch auf der Reise eine Wahrheit. Im letzten Teil beschreibt Sor Juana wie Nacht allmählich dem Tag weicht, so wie die Natur aus ihrem Todesschlaf erwacht. In einem Vorgang, der sich invers zum Einschlafen vollzieht, verziehen sich die pneumatischen Dämpfe, die den Traum hervorriefen, beim Erwachen. Nun behindern sie den Geist nicht mehr. Y del cerebro, ya desocupado, los fantasmas huyeron, y, como de vapor leve formadas en fácil humo, en viento convertidas, su forma resolvieron. (PS: 868–872)

In dem Moment, in dem die Seele sich dazu entscheidet, dem Beispiel Phaetons zu folgen, verweht der Wind die onirischen Phantasmen. Das Erwachen ereignet sich, als die ersten Sonnenstrahlen die Erde erreichen: „–líneas, digo, de luz clara– salían“ (PS: 947). Das Gedicht gipfelt in der Emergenz der poetischen Stimme als Ich: Consiguió, al fin, la vista del ocaso […] Mientras nuestro hemisferio la dorada ilustraba del sol madeja hermosa, que con luz judiciosa de orden distributivo, repartiendo a las cosas visibles sus colores iba, y restituyendo entera a los sentidos exteriores su operación, quedando a luz más cierta el mundo iluminado, y yo despierta. (PS: 959–975)

Pérez-Amador Adam kommentiert wie folgt: Al final del poema se manifiesta como una revelación del conocimiento a partir de la no-revelación: el alma, en su intento por alcanzar el conocimiento, después de fracasar en su ensayo de comprehenderlo [sic] en un solo instante y luego de intentar inútilmente aprehenderlo en forma metódica, llega al conocimiento por el no-conocimiento. (PS: 434)

25 Bezüglich des poetisch-hermeneutischen und epistemischen Prinzips von Typus-Antitypus vgl. Auerbach (1938).

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Diese in der Mystik der Zeit verbreitete Idee impliziert ein emphatisches Verständnis des Subjekts als Erkenntnisquelle gegenüber der Welt der Natur. In der von „luz más cierta“ erleuchteten Welt erwacht das Ich (Yo). Es erscheint nicht als neutrales lyrisches Ich, sondern als konkretes weibliches Yo, nämlich als Sor Juana, die mexikanische Nonne. Der Leser wird gewahr, dass Sor Juana selbst die Reise zu den Sternen unternommen hat, die die Ausprägung eines insomnium oder Albtraums genommen hat (vgl. Fußnote 24). Das Etikett Albtraum erscheint berechtigt, denn die Suche nach der Erkenntnis im Inneren, die ein Vordringen in die Sphären der Wahrheit verspricht, ist gescheitert. Mit dem Aufwachen, findet sich das Yo wieder an der „basis pyramis tenebrae“ der figura p und ist der alteritas unterworfen. In einer konzeptistischen Resemantisierung ist das Schattenreich aber der helle Tag, in dem die Sinne in der Lage sind, ohne die Behinderung durch die kontaminierten pneumatischen Dämpfe zu operieren. Jetzt erkennt sich das Ich selbst:

Abb. 5: das Ich (Yo) als Funke des Subjekts

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Die Entfremdung vom Göttlichen fällt mit der „centella“ des Ich zusammen, das beinahe triumphal Selbstbewusstsein und Zugriff auf die materielle Welt gewinnt. Wie Nikolaus von Kues deutlich macht, ist weibliche Natur der Welt nicht zufällig, sondern ein Attribut des Materiellen: Contrarium in infimo mundo, ubi indivisibilitas in divisibilitatem degenerat; unitas enim formae indivisibilis sequitur naturam divisibilem, ut quaelibet pars aquae sit aqua, terrae terra. Stabilitas ibi est in instabilitate, immortalitas in mortalitate, actualitas in potentialitate, masculinitas in feminitate, atque ita de singulis. (Nikolaus von Kues 1971: 52)

Die weibliche Natur, die Cusanus sicherlich als inferior betrachtet, gewinnt im Primero sueño Wert als einzige Quelle der Erkenntnis. Die Suche der platonischen oder mystischen Seele erweist sich als Traum, in der Bedeutung, wir sie heute mit dem Begriff verbinden. Dieser Traum wird gewissermaßen ästhetisch überwunden. Nach Méndez (2016: 998–999) ist der philosophische Eklektizismus Sor Juanas und die Tatsache, dass das Werk einer „función revelatoria claramente determinable en términos externos“ entbehrt, ein Indiz dafür, dass es ausschließlich eine „poetische“ Wirkabsicht verfolgt. Doch ist die poetische Logik auch eine philosophische Logik, die versucht, die Skepsis zur Grundfeste eines Ich als einzige Instanz der Erkenntnis zu machen. Am Ende erscheint in der sinnlichen, materiellen Welt das erwachte Yo (despierta) als Spitze der pyramis lucis und somit als Quelle der Selbsterkenntnis. Dieses Subjekt ist in der Lage, die materielle und vermeintlich dunkle Welt mit seinen Sinnen zu erkennen.

4.

Schlussüberlegungen

Am Ende des Primero sueño präsentiert Sor Juana ein epistemologisches Fundament, das in Analogie zum Begriff des menschlichen Geistes gesehen werden kann, wie ihn der englische Philosoph John Locke in seinem 1698, also ungefähr zu dem Zeitpunkt als Sor Juana ihren Sueño verfasste, formulierte. Nach Locke ist das Ich (Self) that conscious thinking thing, (whatever Substance, made up of whether Spiritual or Material, Simple or Compounded, it matters not) which is sensible, or conscious of Pleasure and Pain, capable of Happiness or Misery, and so is concern’d for it self, as far as that consciousness extends. (1979: 341 [II,27,§17])

Wie Descartes postuliert Locke eine radikale Unterscheidung von Ich und Welt, aber im Gegensatz zum französischen Philosophen verwirft er die Existenz eingeborener Ideen. Unser Verständnis der Welt basiert, so Locke, auf Sinneseindrücken, die sich dem Geist wie einer tabula rasa einprägen.

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In seiner monumentalen Studie Sources of the Self: The Making of the Modern Identity hat Charles Taylor (1989: 159) die Locke’sche Reflexivität, die es dem Geist erlaubt, sich selbst als Objekt zu begreifen, mit dem Begriff des „punctual self“ getauft. Das punctual self ist in der Lage, über seine eigenen Gedanken, seinen Willen und seine Begehren so zu reflektieren, als ob sie ihm äußerlich wären. Dieses Ich hat keine Ausdehnung, es ist also punktförmig, und kann nur in Relation zu anderen Objekten beschrieben werden.26 Diese Distanz von Ich und Welt versetzt das Subjekt in die Lage, empirische Daten zu erlangen und die materielle Welt zu manipulieren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sor Juana die Ideen der Philosophie Lockes und deren Implikationen verworfen hätte, aber ihr Gedicht hat eine Logik, die von der Intention der Autorin unabhängig ist. Im Primero Sueño werden die eingeborenen Ideen nicht explizit negiert, aber sie sind dem Subjekt nicht mehr zugänglich. Vielleicht sind sie ein Produkt von Verdauungsstörungen (insomnium). Am Ende der illusorischen Vision, in dem Moment, wenn die Spitze der Schattenpyramide erreicht ist oder vielleicht schon früher, erscheint in einer coincidentia oppositorum das punctual self, „yo despierta“, das die materielle Welt mit seinen Sinnen erforscht und den Funken des Selbstbewusstseins erkennt. In diesem Moment verwandelt sich die Sinnenwelt in Taylors Worten in eine Quelle (source) des Selbst, während das Onirische aus dem Bereich der Realität ausgeschieden wird und zum Ort des Nicht-Ichs, zur Schattenseite des Ich außerhalb der Realität wird. Der Primero sueño eifert nicht nur dem Genie des Konzeptismus Góngoras nach, sondern inszeniert auch die wissenschaftlichen Kenntnisse der Autorin. Während Sor Juana als Dichterin triumphiert, kommen ihre kosmologischen und epistemologischen Kenntnisse nicht dem gleich, was in dieser Zeit im protestantischen Raum gedacht oder dargestellt werden konnte. Denn der Sueño zeigt, dass die literarische Form, die konzeptistische Dichtung, nicht nur Ornament war, sondern ein Vehikel für die Konstitution sowohl neuer Formen der Subjektivität als auch der Instrumentalisierung der materiellen Welt und ihrer Objekte sein konnte. Im Primero Sueño Sor Juanas beobachten wir den schwindelerregenden Übergang vom Versuch, eine visio des göttlichen Wissens zu erlangen, dem Scheitern dieses Versuchs, über einen Moment der Skepsis hin zum Aufblitzen eines Ich, das rational und sich seiner selbst gegenüber der Welt bewusst ist.

26 Mark Blackwell (2006: 78–80) kritisiert die teleologische Perspektive Taylors, indem er zeigt, dass eine der Implikationen von Lockes Denken darin besteht, dass das Subjekt keine Eigenschaften „besitzt“, und somit die Möglichkeit besteht, dass diese Eigenschaften von den Anderen usurpiert werden.

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Wie Catherine Hobbs Peaden (1992) zeigt, versteht Locke sein Subjekt als ein männliches Subjekt und will die Philosophie von der weiblichen Rhetorik der Interiorität reinigen. Die zweifache Ironie des Sueño Sor Juanas besteht darin, dass das punctual self am Ende des Textes als Resultat eines Vorgangs der Introspektion und vermittels der poetischen Sprache erscheint. Während der englische Philosoph zur Konstruktion eines „discursive system that has been used to oppress women“ beiträgt (Peaden 1992: 74), malt die neuspanische Nonne in einer Urszene ein Bild des emanzipatorischen Potentials der Aufklärung, nämlich die Ideen von „non essentialism, tolerance, an inchoate social constructivism“ (ebd.: 74). Von daher gehören die Dichtung Sor Juana und ihre gongoristische Sprache einer residualen, im Vergehen begriffenen barocken Epistemologie an und sind zugleich konstitutiv für die Emergenz einer neuen Wissensordnung, in der der Traum nur noch Traum ist.27

Bibliographie Primärliteratur Juana Inés de la Cruz, Sor (2015): Primero sueño [zitiert als PS], hg. von Alberto PérezAmador Adam: El precipicio de Faetón: edición y comento de Primero sueño de Sor Juana Inés de la Cruz. Frankfurt am Main/Madrid: Vervuert, Iberoamericana. Juana Inés de la Cruz, Sor (1692): „Primero Sueño, que assí intituló, y compuso la Madre Juana Inés de la Cruz, imitando à Góngora“, in Obras de Soror Juana Inés de la Cruz, hg. von Juan de Orue y Arbieto. Sevilla: Tomás López de Haro, 247–276.

Sekundärliteratur Alatorre, Antonio (1995): „Notas al Primero sueño de Sor Juana“, in: Nueva Revista de Filología Hispánica 43.2, 379–407. Arén Janeiro, Isidoro (2008): „Soñar en el Siglo de Oro: ¿Sueño cruel o falsa ilusión?“, in: eHumanista 11, 261–302. Auerbach, Erich. (1938). „Figura“, in: Archivum Romanicum, 22, 436–489. Blackwell, Mark (2006): „The People Things Make: Locke’s Essay Concerning Human Understanding and the Properties of the Self“ in: Studies in Eighteenth-Century Culture 35, 77–94. 27 Die Unterscheidung kultureller Erscheinungen und Formationen in „residuale“ (die einer vorausgehenden historischen Formationen angehören, aber weiterhin aktiv und produktiv sind), „dominante“ (die der hegemonischen Formation angehören) und „emergente“ (die Bestandteil des Prozesses der Herausbildung einer neuen Hegemonie sind) stammt von Raymond Williams (1977: 121–127).

Der letzte Traum des Barocks

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Claire Gantet (Fribourg)

Descartes und der Traum

Wissensbestände und -inhalte sind in Träumen enthalten und werden dort entfaltet. Daher ist es keinesfalls paradox, dass sich der Rationalist René Descartes (1596–1650) Zeit seines Lebens mit Träumen befasst hat. Eine eigene Traumerfahrung wurde zum Schlüsselereignis bei dem Entschluss, sich der Philosophie zu widmen. Dieser überlieferte Berufungs- bzw. Bekehrungstraum aus der Nacht vom 10. November 1619 wurde in einer mittlerweile verschollenen Handschrift, betitelt als Olympica, niedergeschrieben und von Descartes’ erstem Biographen Adrien Baillet 1691 abgeschrieben oder paraphrasiert.1 In seinem unvollendeten Werk Cogitationes privatae verstand der junge Descartes Träume im traditionellen Sinne als Zeichen. In seinem privaten Briefwechsel sind andere Traumberichte zu finden, deren Traumbilder größtenteils aus dem damaligen Bildreservoir der Novellen entnommen sind.2 Eine physiologische Grundlage des Traums hat Descartes in seinem Traité de l’Homme entworfen.3 Descartes hat aber vor allem erkenntnistheoretische Fragen bezüglich des Traums aufgegriffen. In seinem Discours de la méthode (Leiden 1637) sowie in allen seinen Meditationes de prima philosophia (1641) außer der vierten widmete er dem Thema des Traums längere Abschnitte. Die Argumentation der Meditationes de prima philosophia erfuhr einige entscheidende Änderungen in der französischen Übersetzung von Louis Charles d’Albert de Luynes, die in Paris unter aktiver Mit1 Adrien Baillet (1691): La Vie de Monsieur Des-Cartes, Bd. I, Paris: Hortelemels, 80–86. Œuvres de Descartes, publiées par Charles Adam & Paul Tannery, Bd. X, Paris: Librairie philosophique J. Vrin, 1986, 171–188 [1908]. Im Folgenden werden den üblichen Abkürzungen folgend die Adam-Tannery-Ausgabe unter der Sigle AT und die Ferdinand Alqué-Ausgabe (Œuvres philosophiques, Paris: Garnier, 1967, Neudruck Paris: Classiques Garnier, 2010 [1967]) unter Alq. und den entsprechenden Bandnummern zitiert. 2 So beispielsweise als er Guez de Balzac in Holland einladen will und sich auf seinen Besuch freut: Descartes an Balzac, Amsterdam, 15. April 1631 und 5. Mai 1631, AT, I, 196–199 (hier 198–199) und 202–204. 3 Diese Abhandlung wurde 1632 verfasst. Sie erschien erstmals 1662 – aus dem Französischen ins Latein übersetzt von Florentius Schuyl – unter dem Titel De Homine, und 1664 auf Französisch.

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wirkung von Descartes selbst im Jahre 1647 erschien.4 Die Untersuchung der physiologischen Aktivität der Seele im Traum hat der Philosoph in seinem Aufsatz Des Passions de l’âme aus dem Jahre 1649 wieder aufgegriffen. Noch in einem unvollendeten Dialog, betitelt als Recherche de la Vérité par la lumière naturelle, wird das Thema des Traums im Zuge des methodischen Zweifels knapp erwähnt.5 Angesichts der Stofffülle und deren breiten inhaltlichen Spektrums scheint es zu kurz gegriffen, Descartes’ Beschäftigung mit dem Traum lediglich abwertend als „Schreckbild“ zu bezeichnen.6 Die Zeitspanne von 30 Jahren zwischen den ersten und den letzten Schriften, die Heterogenität der herangezogenen Textgattungen, der Sprachenwechsel und die Textvarianten zwischen den französischen und den lateinischen Versionen werfen vielmehr zwei Fragen auf: Vertrat Descartes im Laufe der Zeit eine bestimmte Sichtweise bezüglich des Traums, gar eine eigene Traumtheorie? Welche Rolle spielte die cartesianische autobiographische und philosophische Beschäftigung mit dem Traum bzw. die Verwendung des Traummotivs bei der konzeptuellen Auffassung vom Traum? Nicht zuletzt aufgrund des sprachlichen und argumentativen Wechsels nach der anvisierten Leserschaft und erhofften Rezeption dürfen die cartesianischen 4 Eine französische Übersetzung der Meditationes de prima philosophia erschien in Paris in Quart im Jahre 1647. Sie war von Louis Charles d’Albert de Luynes bewerkstelligt, von Descartes aber überarbeitet und revidiert worden; in einigen Textpassagen änderten Descartes’ Ergänzungen den Sinn der lateinischen Originalfassung. Die französische Übersetzung wurde 1661 und 1673 in 4°, dann 1724 in-12° in Paris neugedruckt. 5 Die Recherche de la vérité par la lumière naturelle wurde erstmals in niederländischer Übersetzung in Amsterdam 1684 in einer Briefsammlung Descartes’ (Renatus Descartes Brieven, Hg. v. Jan Hendrik Glazemaker, Amsterdam: Jan Rieuwertsz.) und in lateinischer Übersetzung in den Opuscula posthuma, physica & mathematica (Amsterdam: Blaev, 1701) veröffentlicht. Die ersten Seiten des französischen Originals wurden erst 1908 entdeckt und von Adam/ Tannery (AT, X, 495–532) publiziert. Siehe auch Alq., II, 1106–1141. 6 Wie z. B. in den wenigen Zeilen, die ihm Peter-André Alt widmet: „Im europäischen Rationalismus wird der Traum zunächst konsequent vom Feld der wissenschaftlichen Beobachtung ferngehalten. Er bleibt dem Zugriff der Gelehrten entzogen, weil man ihn nur ex negativo – als besondere Spielart einer Abwesenheit der Vernunft – definiert. Im Traité de l’homme (1632) geht Descartes noch von Grundbeständen der frühneuzeitlichen Medizin aus, um die Interaktion zwischen Leib und Seele zu beschreiben. Der Schlaf wird bestimmt als Phase, während der die Lebensgeister von ihrem Geschäft des Kraft- und Informationstransports ausruhen. […] Eine nähere Analyse der Traumtätigkeit unterbleibt hier ebenso wie im Discours de la méthode (1637), der nur lapidar vermerkt, dass unsere Gedanken im Traum keine Wahrheit besäßen. Der Traum ist ein Stadium der Absenz der Vernunft und verkörpert damit für den aufgeklärten Rationalismus ein Schreckbild, in dem sich die Angst vor der Unterbrechung einer kontinuierlichen, selbstgesteuerten Geistestätigkeit manifestiert. Der Traum gefährdet die Abgeschlossenheit der Verstandesarbeit, die wiederum eine entscheidende Bedingung für die Konstruktion des modernen Individuums ausmacht. In den Meditationes (1641) heißt es, der Traum sei ein Medium der undeutlichen Vorstellungen und unterscheide sich daher fundamental vom bewußten Wachstadium.“ (Alt 2002: 131f.).

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Schriften nicht voreilig harmonisierend gelesen werden (vgl. Cossutta 1997: 111– 185).7 Auch inhaltlich zeichnen sie sich durch gewisse Brüche aus. Obgleich autobiographisch geprägt nimmt beispielsweise der Discours de la méthode in keiner Weise Bezug auf die eigenen Bekehrungsträume aus dem Jahr 1619. Die Traumerfahrung, das philosophische Problem des leibseelischen Zusammenhangs und die erkenntnistheoretische Frage nach den Grenzen der sinnlichen Erkenntnis scheinen daher heterogene, aufeinander nicht reduzierbare Untersuchungsgegenstände zu sein. Folgende Ausführungen setzten sich allein als Ziel, Descartes’ Ansichten zum Traum und zur Verwendung des Traum-Motivs in dreifacher Hinsicht zu kontextualisieren: zunächst in der gelehrten Tradition der Traumbeschäftigung, anschließend in den damals aktuellen Debatten zum Traum und nicht zuletzt in Descartes’ persönlicher Strategie sowohl gegen die herkömmliche Philosophie als auch gegen den Skeptizismus. Etlichen maßgebenden Traditionen schenkte Descartes kaum Aufmerksamkeit. In einem als De Genesi ad litteram (12,2) betitelten Text hatte schon Augustinus die Traumerfahrung ergründet.8 Einer derartigen introspektiven Untersuchung der Traumbilder, der Erfahrung des Träumenden wollte Descartes nicht nachgehen. Er untersuchte den Traum vielmehr von dem Gesichtspunkt des Wachzustands aus. Eine zweite, weitaus prägendere Traditionslinie stellte seit Platon den Philosophen als wachenden Mann dem Nicht-Philosophen als schlafendem Mann gegenüber. Der Wachzustand als Handlungsraum von Willen und Freiheit wurde folglich vom Schlaf als Moment der seelischen Passivität unterschieden und der Traum als unkontrolliertes Spiel der Bilder der Fantasie im Schlaf interpretiert in dem Zeitraum, in dem die fünf Sinne von der Außenwelt teilweise oder gänzlich abgeschottet sind. Descartes äußerte sich ebenfalls wenig über den Traum als Spielfeld der Fantasie im Schlaf. Derjenige Philosoph, dem Descartes vielleicht am Nächsten stand, war Heraklit, der die gemeinsame Welt des Wachzustands mit der einsamen Welt des Traums kon-

7 Die jüngsten deutschsprachigen Ausführungen über Descartes und den Traum stützen sich dagegen lediglich auf eine moderne deutsche Übersetzung von Descartes’ Schriften und auf deutschsprachige Sekundärliteratur (vgl. Uhlig 2015: 35–64). 8 „Cum enim vel in somnis, vel in ecstasi, corporum exprimuntur imagines, non discernuntur omnino a corporibus, nisi cum homo redditus sensibus corporis, recognoscit se in illis fuisse imaginibus, quas non per sensus corporis hauriebat. […] Cui et hoc dicebam, neque id verum esse quod pariter loqueremur, sed etiam ipsum tunc aliud aliquid videre dormientem, et utrum ista ego viderem omnino nescire; verum cum eidem ipsi persuadere moliebar quod ipse non esset, adducebar ex parte etiam ipsum putare esse, cui profecto non loquerer, si omni modo sic afficerer quod ipse non esset. Ita non poterat, quamvis mirabiliter vigilans, anima dormientis, nisi duci imaginibus corporum, ac si corpora ipsa essent.“ (Augustinus 401–416).

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trastierte.9 Bei Descartes ist der Traum eine einsame Angelegenheit. Er schrieb erstmals metaphysische Abhandlungen in der Form eines Gedankengangs in der Ich-Person, als ob der Unterschied zwischen Wachsein und Schlaf nicht vollkommen eindeutig wäre. Darin greift er jedoch weder auf die physiologischphilosophische Herangehensweise Montaignes noch auf das Vanitas-Motiv oder auf einen rein derealisierenden Ansatz zurück. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Traumgattungen deutet die Plastizität des Traummotivs bei Descartes einen doppelten Wandel an. Erstens weist die rätselhafte Komponente des Traums nicht mehr auf geheimnisvolle Zeichen und eine eigene Kunst der Interpretation hin wie beispielsweise in der Hypnerotomachia Poliphili (1499) bzw. in der allegorischen Traumsymbolik der Renaissancetradition. Die cartesianische Beschäftigung mit dem Traum markiert eine Abkehr von der theologisch geprägten Traumdeutung und vom literarischen Renaissance-Schrifttum hin zu einer Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Traum und Wachzustand: Ergründet wird nicht mehr sosehr der moralische und symbolische (wahre, falsche oder indifferente) Gehalt des Traumes nach seiner jeweiligen göttlichen, teuflischen oder natürlichen Ätiologie, sondern vielmehr sein epistemologischer Status. Zweitens veranschaulichen sämtliche Schriften Descartes’ eine gewisse Kontinuität zwischen Traum und Wachzustand, die sich in einen Kontext des pyrrhonischen Zweifels bzw. der Hinterfragung der sinnlichen Erkenntnis einbetten lässt (Popkin 1992 u. 2003: 143– 173). Sie verweist auf den schillernden und damals sehr beliebten Spruch, wonach das Leben ein Traum sei.10 Diente der Traum zwischen Epistemologie und Pyrrhonismusdebatte bei Descartes nur als Vorwand, eine eigene, originelle Philosophie aufzubauen?

1.

Descartes Bekehrungsträume (10. 11. 1619): Topoi und Umdeutungen

Als Descartes – damals ein ehrgeiziger, jedoch zweifelnder 23jähriger Mann11 – als Freiwilliger in der Armee des Herzogs Maximilian von Bayern diente, hatte er nach oder eher im Zuge einer wichtigen Entdeckung12 in der Nacht vom 10. November auf den 11. November 1619 einen dreifachen Berufungstraum. 9 Gemelli Marciano (2007: Heraklit, Fragment B 89): „Den Wachenden ist Welt die eine und gemeinsame. Von den Schlafenden aber wendet sich jeder (von der gemeinsamen) ab in eine eigene.“ 10 Seine Wurzeln sind in der antiken Philosophie zu suchen (vgl. Cicero in Plasberg 1908: 65– 154). 11 Vgl. grundlegend: Brown (1977: 256–273). Zum autobiographischen Kontext vgl. Mehl (2001).

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Noch am Anfang des 17. Jahrhunderts empfingen etliche Gelehrte13 solche Berufungsträume, zumal wenn sie bei den Jesuiten erzogen waren. So sah im Traum der Universalgelehrte Athanasius Kircher (1602–1680), als er 1631 im Würzburger Jesuitenkolleg übernachtete, sein Gebäude vom Feind angegriffen. Da er umherrennend nur schlafende Kommilitonen fand, schloss er im Traum zutiefst erschrocken daraus, dass es sich um einen Traum handelte.14 Kircher beschloss anschließend, sich einer heilsamen Wissenschaft zu widmen. Das Motiv der Bekehrung als Bericht eines radikalen Wandels von Loyalität und Weltverständnis geht auf Augustinus’ Confessiones (III, 11) zurück. Ebenfalls fühlte sich Kircher inspiriert vom Traum: Nicht nur könne er altägyptische Hieroglyphen dank göttlichen Wissens entziffern und in die Heilsgeschichte einbetten, sondern er selbst sei mittels göttlicher Sendung zum Gelehrten geworden. Es handelte sich um eine religiöse Bekehrung, die den göttlichen Visionen glich, die im Übrigen auch der Gründer des Jesuitenordens Ignatius von Loyola erlebt hatte. Die Jesuiten hatten eine intellektuelle Tradition der Selbstüberprüfung und des Erlernens mittels der Imagination begründet (vgl. Fontes narrativi de Ignatio de Loyola: 354–507 u. O’Malley 1993: 213–228). Nicht von ungefähr prangerte der Anglikaner Meric Casaubon (1599–1671) Descartes’ Lehre als jesuitische Introspektion an, als gleichermaßen ungeheure Äußerung von Verzweiflung und Selbstvertrauen, und er bezeichnete seine Philosophie als vana gloria: Descartes autobiographische Träume seien auf seine Ausbildung im Jesuitenkolleg La Flèche zurückzuführen (vgl. Casaubon 1668: 13f.).15 Ohne konfessionelle Pointe kam Leibniz zu dem gleichen Schluss.16 Vom Modell der jesuitischen Selbstuntersuchung wich Descartes jedoch entscheidend ab. Und auch sein Traumbericht sticht stark aus seinen anderen Schriften hervor. Descartes’ Traumbericht ist nach dem Topos der übernatürlichen Träume aufgebaut. Nicht nur besteht er aus einer Abfolge von drei aufeinanderfolgenden 12 Der französische Text lautet: „tout rempli de son enthousiasme, et tout occupé de la pensée d’avoir trouvé ce jour-là les fondements de la science admirable“. Baillet versah jedoch seinen Text mit lateinischen Anmerkungen, hier an dieser Stelle: „X. Novembris 1619, cum plenus forem Enthusiasmo, & mirabilis scientiae fundamenta reperirem“ (AT, X, 179): Die Träume ereigneten sich nicht nach, sondern im Zuge der Entstehung einer neuen Wissenschaft. 13 So beispielsweise Girolamo Cardano (1562, zitiert nach Brown 1977: 262, Fußnote 20) oder Johann Baptista Van Helmont, in drei Abhandlungen – Confessio Authoris, Studia Authoris, Imago Mentis und Imago Dei (beide letzte sind Variationen vom gleichen Text), die im Orbus Medicinae (1648) erst erschienen. Van Helmonts Traumberichte stützen sich deutlich mehr auf die biblische Tradition der göttlichen Sendung als Descartes’. Zu den zeitgenössischen protestantischen Visionen siehe Gantet (2015: 299–311). 14 Vgl. grundlegend: Grafton (1999: 1–31, hier 1–6). 15 Eine ähnliche These entwickelt Jama (1998). 16 Leibniz (1689: 2057): „Cartesius diu Flexiae in collegio Jesuitarum studiis operam dedit, juvenisque emendandae Philosophiae consilium cepit post somnia quaedam et illud Ausonii diu expensum: quod vitae sectabor iter? Ita loquuntur ipsius schedae manuscriptae.“

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Sequenzen, sondern der ‚Träumer‘ (bzw. das Erzähler-Subjekt) betont selbst, sie seien „von oben“ gekommen.17 Die Träume ereigneten sich zudem in der symbolisch bedeutsamen Sankt-Martins-Nacht, als sich Descartes für die neue bewundernswerte Wissenschaft zu begeistern begann. In diesem Bericht lassen sich also sämtliche herkömmlichen Komponenten übernatürlicher Träume nachweisen: Der dreifache Traum setzt zunächst den Träumer in Verwunderung, d. h. in den einzigen nicht körperbezogenen Affekt (vgl. Descartes 1649: 373), er wird nachträglich erfüllt, begründet das Ansehen des Träumers und wird indirekt vermittelt – hier in der Biographie Adrien Baillets aus dem Jahre 1691.18 Bei Descartes künden sie allerdings eine rein persönliche biographische Wende an, nämlich die Hinwendung zur profanen Philosophie. Ob als rosenkreuzerischer Einweihungsritus, mystische Krise, hagiographische Übertreibung Baillets, sexuelles Schuldbekenntnis, später Nachklang des Renaissancesymbolismus oder Ausdruck einer universellen Folklore: Dieser Traumbericht wurde von zahlreichen Dichtern, Historikern und Psychologen aus dem 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt von Sigmund Freud, unter die Lupe genommen.19 An dieser Stelle möchte ich nur den dritten, zukunftsweisenden Traum von den zwei ersten, vergangenheitsbezogenen unterscheiden und seinen eigenen Status verdeutlichen. Wie Athanasius Kircher beschließt darin der Träumer bereits im Traum, dass seine nächtlichen Bilder keine Vision, sondern ein authentischer Traum sind. Macrobius’ Einteilung der Traumgattungen gemäß handelt es sich also weder um eine klare göttliche visio oder ein oraculum, noch um ein täuschendes visum (oder phantasma) oder auch bedeutungsloses insomnium, sondern um ein rätselhaft vorhersagendes Somnium.20 Macrobius’ Terminologie gemäß wäre Kirchers Traum ein ungewisses oraculum, Descartes’ Traum dagegen ein persönliches somnium: Obwohl Descartes’ Traum als eindeutig übernatürlich dargestellt wird, wird er nicht als prophetische Vision wahrgenommen. Weder behandelt er einen theologischen Gegenstand, noch besitzt er die Transparenz göttlicher Träume. Es ging um eine säkulare Wissenschaft, die Philosophie, und der Traum musste ausgelegt werden. Anschließend entwickelt der Träumer eine Auslegung im Traum selbst, die ohne Unterbrechung im Wachzustand fortge17 „il s’imagina ne pouvoir être venus que d’en haut“ (AT, X: 179). 18 Adrien Baillet behauptet, er habe nur Descartes’ Notizen aus dem Lateinischen ins Französische übersetzt. Zum biographischen Problem vgl. Keevak (1992: 373–396). 19 Vgl. hierzu grundlegend Brown (1977), Dumora (2005: 327–331), Zittel (2009: 36–43, ders.: 2000: 309–362), Cole (1992: 81–95), Hallyn (1995: 91–111, ders. 1990: 41–51, hier 47), Gaukroger (1995: 104–111), Maritain (1965). 20 Macrobius unterschied fünf Traumbildertypen: Oneiros (somnium, bedeutungsvoller Traum), orama (visio, Vision), chrèmatismos (oraculum, Orakel), enhypnion (insomnium, Träumerei, gewöhnlicher Traum, Schlaflosigkeit), phantasma (visum, Phantasma, Erscheinung, Gespenst) (vgl. Macrobius 1990: 88–89).

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setzt wird. Wie rätselhaft der Status der Meditation über den Traum auch ist (luzider Traum oder Aufwachen im Traum), die Auslegung beginnt bereits im Traum. In der herkömmlichen Traumdeutung wird dagegen der Traum erst im Wachzustand ausgelegt. Descartes’ Bericht betont die Kontinuität des Denkens im Traum und im Wachzustand, sodass der Träumer sogar zweifelt, ob er träume oder ob er wach sei. Auch in der ersten Meditatio de prima philosophia beschließt der wache Philosoph sein Nachsinnen im Traum fortzusetzen. Descartes’ eigener Traumbericht und seine metaphysischen Schriften behandeln die Frage nach der Kontinuität des Denkens im Wachzustand und im Traum. Damit verlagerte sich die Fragestellung. Spätestens seit Macrobius war der Traum zum Gegenstand unterschiedlicher Typologien je nach der vorhersehenden, daher wahrheitsdeutenden Kraft der Bilder geworden. In seinen metaphysischen Schriften wollte dagegen Descartes die philosophischen Prinzipien der Erkenntnis hinterfragen und neu begründen.

2.

Traum, Zweifel, böser Dämon. Das Traumargument in Discours de la Méthode, Meditationes de prima philosophia und Méditations métaphysiques

Nach seinem Studium im Jesuitenkolleg La Flèche bei Le Mans bereiste Descartes 1618 die Vereinigten Provinzen und das Heilige Römische Reich. Etwa 1628–1629 kam er nach Paris, wo er vermutlich in Mersennes Zirkel eingeführt wurde. Dort lernte er alle prominenten ‚nouveaux pyrrhoniens‘ kennen. Er hatte damals schon lange Cornelius Agrippa, Montaigne und Charron gelesen und war auf der Suche nach einer Erwiderung (vgl. Popkin 2003: 145f.). Seine Beschäftigung mit einer möglichen Kontinuität zwischen Schlaf- und Wachzuständen wurde nicht zum „Ausgangspunkt eines umfassenden Zweifels“ (Uhlig 2015: 38), sondern zur Konsequenz seiner Überzeugung, eine definitive Widerlegung des pyrrhonischen Zweifels setzte seine weiteste Anwendung voraus. Der erste Teil des Discours de la méthode legt das Nachdenken des Verfassers während seines Holländischen Exils dar, gerade in dem Winter 1619, in dem er den dreifachen Bekehrungstraum hatte. Er berichtet darin über die Reisejahre und ersten Schritte der Methode, verschweigt jedoch die Berufungsträume. In der aristotelischen Überlieferung ging Erkenntnis aus der Sinneswahrnehmung der Welt hervor. Mystiker hatten dagegen immer wieder mögliche Sinnestäuschungen vorgebracht und sich auf höhere, nicht materielle ‚göttliche Träume‘ berufen. Zunehmende wissenschaftliche Schriften hatten zudem seit den 1570er Jahren die Verlässlichkeit der sinnlichen Erkenntnis hinterfragt. Besonders der Sehsinn

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wurde zum Gegenstand wissenschaftlicher und theologischer Untersuchungen. Wenn das Auge nur ein umgekehrtes Bild der Außenwelt bekäme, wie könnte die sinnliche Erkenntnis einen Status der Wahrheitswiderspiegelung beanspruchen (vgl. Bartisch 1583, AT, XI: 1–290)? Da der Traum als Sequenz von Bildern, d. h. als visuelle Erfahrung, aufgefasst war, führten solche Fragen zu einer Hinterfragung des Traumes. Seit Johannes Wiers De praestigiis daemonum (1650) sprach das dämonologische Schrifttum die Realität des Hexensabbats an: Hatten Hexen nur davon geträumt? Waren solche Träume ggf. vom Teufel inspiriert? In anderen Worten: Besaß der Teufel die Macht, bestimmte (bereits erlebte) Bilder in der Einbildungskraft seiner Opfer zu prägen und derart zu verwirren, dass sie die Realität vom Traum nicht mehr unterscheiden könnten? Nicht nur die Sinnesdaten der äußeren Welt, sondern die Seelenkräfte wären dann irrig. In den dämonologischen Abhandlungen zeichnete sich bereits ein Wandel von der Traumdeutung zur Traumepistemologie ab.21 Erneut grenzte sich Descartes sowohl gegenüber der aristotelischen Tradition als auch gegenüber mystischen und skeptischen Aussagen ab. Der Discours de la méthode erörtert zunächst Sinnestäuschungen, Denkfehler und Trugbilder bzw. die Eventualität eines Traumes. Anschließend wird die herkömmliche Wahrheit, und folglich die Wissenschaft in Zweifel gezogen: Et enfin, considerant que toutes les mesmes pensées, que nous avons estant esueillez, nous peuuent aussy venir, quand nous dormons, sans qu’il y en ait aucune, pour lors, qui soit vraye, je me resolu de feindre que toutes les choses qui m’estoient iamais entrées en l’esprit, n’estoient non plus vrayes que les illusions de mes songes. [AT, VI: 32] Quapropter ex his forsan non male concludemus Physicam, Astronomiam, Medicinam, disciplinasque alias omnes, quae a rerum compositarum consideratione dependent, dubias quidem esse… (AT, VII: 20)

An dieser Stelle wird der Wahrheitsstatus des Traums zweimal abgewertet: Nicht nur erscheinen die Gedanken im Traum zunächst als grundsätzlich irreführend gegenüber den Gedanken des Wachzustands, sondern der Traum wird auch mit falschen Gedanken in Einklang gebracht. Descartes leitet daraus die erste Gewissheit des ‚cogito‘ ab: Mais aussitost aprés, ie pris garde que, pendant que ie voulois ainsi penser que tout estoit faux, il falloit necessairement que moy, qui le pensois, fusse quelque chose. Et remarquant que cete verité : ie pense, donc ie suis, estoit si ferme et si assurée, que toutes les plus extrauagantes suppositions des Sceptiques n’estoient pas capables de l’esbranler, ue iugay que ie pouuois la receuoir, sans scrupule, pour le premier principe de la Philosophie, que ie cherchois. (AT, VI: 32)

21 Vgl. grundlegend Clark (2007, besonders 300–328) und Popkin (2003: 148).

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Gegen die Skeptiker will Descartes dann zeigen, dass die Leugnung der Existenz Gottes den Beweis der Existenz der Welt noch erschwert. Car, encore qu’on ait vne assurance morale de ces choses [i. e. d’avoir un corps, et qu’il y a des astres et une terre], qui est telle, qu’il semble qu’à moins que d’estre extrauagant, on n’en peut douter, toutefois aussy, a moins que d’estre déraisonnable, lorsqu’il est question d’vne certitude metaphysique, on ne peut nier que ce ne soit assés de suiet, pour n’en estre pas entierement assuré, que d’auoir pris garde qu’on peut, en mesme façon, s’imaginer, estant endormi, qu’on a vn autre cors, & qu’on voit d’autres astres, & vne autre terre, sans qu’il en soit rien. (Alq., I: 610; AT, VI: 37f.)

Anhand von verschachtelten Negationen werden nun Traum und Wahn gegenübergestellt. Alle Menschen, außer den extravaganten und wahnsinnigen, haben eine empirisch-moralische Gewissheit der Existenz der Welt. Eine metaphysische Gewissheit der Welt könne aber nur nach der Überwindung des Zweifels an sämtlichen überlieferten Wahrheiten, d. h. nach der Behebung der Gleichsetzung von Realität und Traum, gewonnen werden. Der Traum wird hier dem methodischen Zweifel, nicht dem Wahn angeglichen. Umgekehrt wäre eine prinzipielle Ablehnung des Zweifelns trotz der landläufigen Erfahrung des Traumes unvernünftig. Wahnsinnig sind diejenigen, die das Zweifeln nicht auf metaphysische, sondern auf moralische Gewissheiten anwenden. In der ersten Meditatio bzw. Méditation taucht das Traum-Motiv ebenfalls im Zusammenhang mit dem Wahn auf. Diese Textpassage lieferte in den späten 1960er Jahren den Stoff eines bedeutsamen Streits zwischen Michel Foucault und Jacques Derrida.22 Jean-Marie Beyssade, Florence Dumora und Denis Kambouchner machten zu Recht darauf aufmerksam, dass es dabei allerdings um den gegenseitigen Ein- oder Ausschluss von Vernunft und Wahn und weniger um das Thema des Traums ging.23 Foucault stützte sich auf die erste Meditation, um seine These der „großen Einschließung“ („grand renfermement“) des Wahns im 17. Jahrhundert zu begründen, zu der sie den Auftakt bildete: „Mais quoi? ce sont des fous (amentes); et je ne serais (viderer) pas moins extravagant (demens), si je me réglais sur leurs exemples“ (AT, IX: 14). Derrida bestritt, dass die erste Meditation eine willkürliche Geste der Ausschließung des Wahns aus dem philosophischen Diskurs markierte. In seinen Augen besaß der Wahn in der Eskalation des Zweifels eine unterlegene Stellung gegenüber dem Traum. Foucault zufolge war der Traum eine Reminiszenz des nachsinnenden Subjekts, welches sein Nachdenken beim Vortäuschen vom 22 Dieser Disput ist deutlich später als Foucaults Histoire de la folie à l’âge classique (Paris, Plon, 1961) entstanden. (vgl. Derrida 1979: 293–340 u. Foucault 1972: 583–603. Siehe grundlegend zu den Meditationen: Kambouchner (2005). 23 Im Folgenden stütze ich mich auf Beyssade (1973/2002), auf Dumora (2005: 191–197) und auf Kambouchner (2010: 213–222).

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Träumen fortsetzen kann, während der Wahn als unmöglicher Vergleich verworfen wird. Während Derrida zufolge der Traum als Hyperbel des Wahns den Zweifel auf sämtliche Wahrnehmungen anwendete, war der Traum nach Foucault nur das Ergebnis einer Täuschung, die das kontrollierte Nachdenken nicht wesentlich erschwerte.24 Wie der Historiker der cartesianischen Philosophie Jean-Marie Beyssade und die Literaturwissenschaftlerin Florence Dumora bemerkt haben, verweisen die cartesianischen Termini auf die Gegensätzlichkeit von Geistesabwesenheit (amens) und gewolltem Geistesentzug (de-mens). Descartes rekurriert zudem auf den Konditional viderer im Wortfeld der Überzeugung: Um verstanden zu werden, darf der Philosoph nicht als Wahnsinniger erscheinen. Der Ausschluss des Wahns ist demnach für die erste Wahrheit nicht erforderlich. In der gesamten Textpassage greift Descartes einerseits auf herkömmliche galenische Topoi zurück – wie sich im Traum vorstellen, ein Krug, aus Glas oder ein König zu sein –, andererseits beruft er sich auf recht wenig extravagante Situationen (das Kaminfeuer, die Kleidungen, das Papier): Et comment est-ce que ie pourrois nier que ces mains et ce corps-cy soient à moy ? si ce n’est peut-estre que ie me compare à ces insensez, de qui le cerueau est tellement troublé & offusqué par les noires vapeurs de la bile, qu’ils assurent constamment qu’ils sont des roys, lorsqu’ils sont tres-pauvres ; qu’ils sont vestus d’or & de pourpre, lorsqu’ils sont tout nuds ; ou s’imaginent estre des cruches, ou avoir vn corps de verre. Mais quoy ? ce sont des fous, & Ie ne serois pas moins extrauagant, si ie me reglois sur leurs exemples. Toutesfois i’ay icy à considérer que ie suis homme, & par conséquent que i’ay coûtume de dormir et de me représenter en mes songes les mesmes choses, ou quelquefois de moins vray-semblables, que ces insensez, lorsqu’ils veillent. Combien de fois m’est-il arriué de songer, la nuit, que i’estois en ce lieu, que i’estois habillé, que i’étois auprès du feu, quoy que ie fusse tout nud dedans mon lict ? Il me semble bien à present que ce n’est point auec des yeux endormis que ie regarde ce papier… (AT, IX-1: 14, Hervorhebung durch den Verfasser).

Derridas polemischer Rekurs auf das Argument der Extravaganz der Maler als Wahn überzeugt daher wenig: Die französische Fassung erwähnt zwar eine „imagination […] extravagante“, im lateinischen Original wird jedoch „excogi-

24 „Arge ego somniemus, nec particularia ista vera sint, nos oculos aperire, caput movere, manus extendere, nec forte etiam nos habere tales manus, nec tale totum corpus“ (AT, VII, 19). In der Übersetzung Clerseliers : „Supposons donc maintenant que nous sommes endormis, et que toutes ces particularités-ci, à savoir, que nous ouvrons les yeux, que nous remuons la tête, que nous étendons les mains, et choses semblables, ne sont que de fausses illusions; et pensons que peut-être nos mains, ni tout notre corps, ne sont pas tels que nous les voyons“ (AT, IX, 15).

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tant“ verwendet, wobei excogitare die kreative Imagination der Maler bezeichnet.25 Diese Abschnitte betten weiter den Traum in die von Foucault wie Derrida kaum beachtete galenische Tradition der Melancholie ein. Bei Descartes besaß der Wahn eine körperliche Komponente, durch die der Wachzustand zu einer gewissen Trockenlegung des Hirns und daher zum ‚Blockieren‘ der Lebensgeister (‚esprits animaux‘) führen könnte. Descartes reihte an dieser Stelle die etwas zahlreicheren und verschiedenartigen gewöhnlichen Träume der gesunden Melancholiker und die extravaganten (extravagare) Träume der Wahnsinnigen aneinander. Die cartesianische Auffassung einer gewissen Kontinuität zwischen Melancholie und Traum entspricht den zeitgenössischen Vorstellungen, den Abhandlungen etwa des königlichen Leibarztes André du Laurens (vgl. ders. 1594): Der einzige Unterschied zwischen gesunden melancholischen Träumen und Träumen der Wahnsinnigen ist, dass Letztere sich von ihren Träumen beeindrucken lassen. Der Wahnsinnige kann Wachzustand und Traum nicht mehr unterscheiden. Foucault wie Derrida schließlich setzten voraus, dass die Hypothese des bösen Dämons das Traum-Argument ablöste bzw. ersetzte. Keiner von beiden bemerkte die Wiederverwendung des Traumarguments im letzten Teil der ersten Meditatio, allein allerdings in der lateinischen Fassung: Putabo coelum, aërem […] nihil aliud esse quam ludificationes somniorum, quibus insidias credulitati meae tetendit… Ie penseray que le Ciel, l’air, la terre, les couleurs, les figures, les sons et toutes les choses exterieures que nous voyons ne sont que des illusions & tromperies, dont il se sert pour surprendre ma credulité [AT, VII: 22 und AT, IX: 17–18].

Dabei geht es um den bösen Dämon als Urheber täuschender Träume („ludificationes somniorum“). In der ersten Meditatio taucht übrigens der Terminus Traum („somnium“) nur einmal auf, während die Thematik des Schlafes („in somnis“, „somnus“) öfter vorkommt. Außer dem Terminus somnia der zweiten Meditation, der körperliche Bilder („insomnia“) abwertend bezeichnet (mit „songes ou chimères“ übersetzt) und der Aufforderung „somniemus“ der ersten Meditation (französisch: „supposons que nous dormons“), befindet sich die einzige Okkurrenz von „somnium“ gerade in der Textpassage, die in der französischen Übersetzung übersehen wurde und den entscheidenden Moment vor dem hyperbolischen Zweifel bildet. Die Dämonologie war damals eine durchaus ernstzunehmende und besonders aktuelle Wissenschaft, in der der epistemolo25 „…si peut-estre leur imagination est assez extrauagante pour inventer quelque chose de sy nouveau, que iamais nous n’ayons rien vu de semblable…“, (AT, VII, 20 und IX, 15). Excogitare wird bei Cicero cogitare gegenübergestellt: eine Lösung finden oder erfinden, von einem Problem träumen.

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gische Status des Traums, die Grenze zwischen Realität und Traum und die Zuverlässigkeit sinnlicher Erkenntnis ohne Angst vor Heterodoxieverdacht besprochen wurden. Böse Dämonen waren sogar so aktuell und so wichtig, dass bereits Scipion Dupleix (1569–1661) ihnen drei ganze Bücher seiner Métaphysique (1610) widmete und der Traumtypologie des Macrobius eine sechste Kategorie teuflischer Träume beifügte (s. Dupleix 1606). Descartes distanziert sich jedoch an dieser Stelle stark von der zeitgenössischen Dämonologie. Er erwähnt dämonische Träume lediglich, um ein erstes metaphysisches Prinzip zu formulieren: Der Dämon täuscht mich, also bin ich. Wie lässt sich das Thema des Traums der Meditationes bzw. Méditations zusammenfassen? In der ersten Meditation dient der Traum bloß als heuristisches Instrument einer Hinterfragung der Erfahrung im Wachzustand. Die zweite Meditation beginnt mit dem hyperbolischen Zweifel und der Kritik an der sinnlichen Erkenntnis. Da im Traum der Träumer denkt, dass er etwas wahrnimmt, scheint die Wahrnehmung nicht zu einer gewissen Erkenntnis des existierenden Ich beizutragen (AT, VII: 27 und IX: 21). Das Aufwachen zeigt, dass die Existenz des eigenen Körpers für das Wahrnehmen erforderlich ist. Nachdem Descartes das Ich als res cogitans definiert hat, verbindet er die imaginationsgeleitete Suche des Ich („quid praeterea? […] imaginabor“) abwertend mit Träumen bzw. Trugbildern („songes ou chimères“). Die Suche nach einem intelligiblen Gegenstand mittels der Imagination sei genauso absurd wie das absichtliche Einschlafen, um diesen Gegenstand im Traum besser zu erkennen: En suitte de quoy ie voy clairement que i’aurois aussi peu de raison en disant: i’exciteray mon imagination pour connoistre plus distinctement qui ie suis, que si ie disois : ie suis maintenant éueillé, et i’aperçoy quelque chose de réel & de veritable ; mais, par ce que ie ne l’aperçoy pas encore assez nettement, ie m’endormiray tout exprés (data opera abdormiam), afin que mes songes (somnia) me representent cela mesme avec plus de verité & d’euidence. (AT, IX: 22)

Anschließend greift Descartes auf das Thema der Sinneswahrnehmung und des Denkens zurück, in dem das Vorstellen begriffen ist.26 Denken, wahrnehmen, sich vorstellen: das ist genauso gewiss als ich bin, auch wenn ich stets schlafen würde („quamvis semper dormiam“). Auch wenn ich mir falsche Dinge vorstelle, nimmt die Vorstellungs- bzw. Einbildungskraft wirklich an meinem Denken teil: „Falsa haec sunt, dormio enim“. Die Wahrnehmung wird als Form des Denkens aufgefasst. Zusammenfassend fungiert das Traumargument in der zweiten Medi26 „Mais qu’est-ce donc que je suis ? Une chose qui pense. Qu’est-ce qu’une chose qui pense ? C’est-à-dire une chose qui doute, qui conçoit, qui affirme, qui nie, qui veut, qui ne veut pas, qui imagine aussi, et qui sent“ (AT, IX, 22). Zur Imagination in den Regulae ad directionem ingenii vgl. Pasini (1992: 160–176).

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tation als Einwand gegen die phänomenologische Reduktion der Wahrnehmung und der Imagination („sentire visus sum in somnis“), als Vorbehalt gegen die Bezugnahme auf die Imagination im Traum bei der Suche nach der Wahrheit, dann als vielfacher Einwand, um die Wahrnehmung als Form des Denkens einzuschließen. Im Discours de la méthode hatte Descartes das Traumargument bündig dargelegt: Car d’où sçait on que les pensées qui vienent en songe sont plutost fausses que les autres, vû que souuent elles ne sont pas moins viues et expresses ? Et que les meilleurs esprits y estudient, tant qu’il leur plaira, ie ne croy pas qu’ils puissent donner aucune raison qui soit suffisante pour oster ce doute, s’ils ne presupposent l’existence de Dieu. (AT, VI: 38)

In der sechsten Meditation erscheint der frühere „hyperbolische und lächerliche“ Zweifel (doutes „hyperboliques et ridicules“) bezüglich Traum und Wachzustand als hinfällig. Das Gedächtnis als Seelenvermögen verbindet die Erfahrungen mit der räumlich-zeitlichen Grundlage der Existenz, so dass Wachzustand und Traum zwei kontrastierende Momente sind: car à present i’y rencontre une tres-notable difference, en ce que nostre memoire ne peut iamais lier & joindre nos songes les vns aux autres & auec toute la suite de nostre vie, ainsi qu’elle a de coustume de ioindre les choses qui nous arriuent sytant éueillés. (AT, IX: 71) nunquam insomnia cum reliquis omnibus actionibus vitae a memoria conjungantur… (AT VII: 89)

Die unzusammenhängende und geschlossene Natur der Traumbilder wird hier in der lateinischen Fassung mit den vagen Termini „spectrum“ und „phantasma“ ausgedrückt, in der französischen Übersetzung jedoch deutlich präziser wiedergegeben: Et, en effect, si quelqu’vn, lorsque je veille, m’apparaissoit tout soudain & disparaissoit de mesme, comme font les images que ie voy en dormant, en sorte que ie ne pusse remarquer ny d’où il viendroit, ni où il iroit, ce ne seroit pas sans raison que ie l’estimois vn spectre ou vn phantosme formé dans mon cerueau, et semblable à ceux qui s’y forment quand ie dors, plutost qu’vn vrai homme. Mais lorsque i’aperçoy des choses dont ie connois distinctement & le lieu d’où elles viennent, & celuy où elles sont, & le temps auquel elles m’aparoissent, et que, sans aucune interruption, ie puis lier le sentiment que i’en ay, auec la suitte du reste de ma vie, ie suis entierement asseuré que je les apperçoy en veillant, & non point dans le sommeil. Et ie ne dois en aucune façon douter de la verité de ces choseslà, si, apres auoir appelé tous mes sens, ma memoire & mon entendement pour les examiner, il ne m’est rien rapporté par aucun d’eux, qui ait de la repugnance auec ce qui m’est raporté par les autres. Car de ce que Dieu n’est point trompeur, il suit necessairement que ie ne suis point en cela trompé. (AT, IX: 71) Celuy qui dort & songe, ne peut pas ioindre & assembler parfaitement & auec verité ses resueries auec les idées des choses passées, encore qu’il puisse songer qu’il les assemble.

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Car qui est-ce qui nie que celuy qui dort se puisse tromper ? Mais aprés, estant éveillé, il connoistra facilement son erreur. (Quatrièmes objections, AT, IX:152)

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Descartes in den Meditationes bzw. Méditations keine Theorie des Traums entfaltet, sondern unterschiedliche Aspekte bezüglich des Traums im Dienste der Metaphysik verwendet. Anhand von Traumerinnerungen erörtert er lediglich in den zwei ersten Meditationen den Wachzustand als virtuellen Traum und in der sechsten Meditation den Traum aus dem Gesichtspunkt des Wachzustands heraus. Das Denken im Traum ist für Descartes eine Tätigkeit des Verstands: I’ai souuent aussi fait voir clairement que l’esprit peut agir independamment du cerueau ; car il est certain qu’il est de nul usage lorsqu’il s’agit de former des actes d’une pure intellection, mais seulement quand il est question de sentir ou d’imaginer quelque chose […] nous experimentons néanmoins que, lorsque nostre imagination n’est pas si forte, nous ne laissons pas souuent de conceuoir quelque chose d’entierement different de ce que nous imaginons, comme lorsqu’au milieu de nos songes nous aperceuons que nous resvons : car alors c’est bien un effet de nostre imagination de ce que nous resvons, mais c’est un ouurage qui n’appartient qu’a l’entendement seul de nous faire apercevoir de nos resueries. (Réponses de l’auteur aux cinquièmes objections, VII, Alq., II: 800)

Descartes löst also nicht das Problem der Unterscheidung zwischen Traum und Wachsein, sondern zeigt lediglich, dass diese Aporie die Möglichkeit einer Gewissheit und daher die metaphysische Gründung der Erkenntnis in keiner Weise gefährdet. Das innere Traumerleben interessiert Descartes kaum. Descartes befasst sich mit dem Traum entweder aus dem Erwachen heraus oder als beobachtbares Phänomen im Gehirn.

3.

Die Traumaktivität in Traité de l’Homme und Passions de l’âme

Die cartesianische Beschäftigung mit dem Traum erfolgte im weiteren Kontext einer Hinterfragung der aristotelischen sinnlichen Erkenntnis und Seelenlehre. Descartes bestritt zunächst die scholastische Erkenntnistheorie als progressive Verfeinerung der Sinnesdaten in den Ventrikeln der Imagination, anschließend des Gedächtnisses, letztlich des Verstands. Er vereinfachte die Psyche und unterschied lediglich die sinnlich wahrnehmbare Welt vom intelligiblen Bereich, die Ausdehnung („res extensa“) vom Denken („res cogitans“). Sämtliche Seelenoperationen – die Wahrnehmung, die Vorstellung und das Verstehen – versteht er als Formen des Denkens: Ainsi, à cause que nous ne concevons point que le corps pense en aucune façon, nous avons raison de croire que toutes les sortes de pensées qui sont en nous appartienent à l’ame. (Passions de l’âme, article IV, AT XI: 329).

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Descartes widerlegte darüber hinaus die aristotelische Unterscheidung von drei Seelen bzw. Seelenteilen – die vegetative, die sensitive und die rationale. Für Descartes bildet die Seele eine Einheit, eine Substanz. Der nicht intelligible, jedoch substantielle Zusammenhang von Seele und Körper ermöglicht eine Analyse des Traums – anhand der Vorstellung des Flusses von Lebensgeistern und mittels einer Untersuchung der Seelentätigkeit im Traité de l’homme und in den Passions de l’âme.27 Der Vorgang des Traums im L’Homme beruht auf der physiologischen Zirkulation von aus dem subtilen Teil des Bluts hergestellten Lebensgeistern, die die treibende Kraft des Leib-Seele-Zusammenhangs bilden. Ihr Lauf wird in zwei berühmten Stichen dargestellt, die die Hirntätigkeit im Wachzustand und im Schlaf, d. h. im Traum darstellen (s. Carrique 2002 u. 1995: 13–36). Or, la substance du cerueau estant molle et pliante, ses concauités seroient fort étroites, & presque toutes fermées, ainsi qu’elles paroissent dans le cerueau d’un homme mort, s’il n’entrait dedans aucun esprit ; mais la source qui produit ces esprits est ordinairement si abondante, qu’à mesure qu’ils entrent dans ces concauités, ils ont la force de pousser tout autour la matière qui les enuironne, & de l’enfler, & par ce moyen de faire tendre tous les petits filets des nerfs qui en viennent : ainsi que le vent, étant vn peu fort, peut enfler les voiles d’un navire, & faire tendre toutes les cordes auxquelles elles sont attachées. D’où vient que pour lors que cette machine, estant disposée à obéir à toutes les actions des esprits, représente le corps d’vn homme qui veille ; ou du moins ils ont la force d’en pousser ainsi et faire tendre quelques parties, pendant que les autres demeurent libres et lâches : ainsi que font celles d’vne voile, quand le vent est vn peu trop faible pour la remplir. Et pour lors cette machine représente le corps d’vn homme qui dort, & qui a divers songes en dormant. Imaginez-vous, par exemple, que la différence qui est entre les deux figures M & N est la mesme qui est entre le cerueau d’un homme qui veille, & celui d’vn homme qui dort, & qui reue en dormant. (L’Homme, I, 172, 445)

Um 1630 verwies das Verb „songer“ auf den Traum, der Terminus „rêver“ dagegen auf Wahn bzw. Verirrungen. Der letzte eingeschobene Satz „et qui rêve en dormant“ weist also nur auf den extravaganten und erratischen Lauf der Traumaktivität, nicht auf den Trauminhalt hin. Die gleiche Zirkulation der Lebensgeister bietet eine mechanische Erklärung des unwillkürlichen Gedächtnisses und der Tagträume, die genau wie der Traum auf den zufälligen Fluss von Lebensgeistern in einem Zustand der Ausschaltung des Willens zurückzuführen sind:

27 L’Homme (1632 verfasst, 1664 von Clerselier ediert); Passions de l’âme (erschienen 1649), Artikel XXI „Des imaginations qui n’ont pour cause que le corps“ und XXVI, „Que les imaginations, qui ne dependent que du mouvement fortuit des esprits, peuvent estre d’aussi véritables passions, que les perceptions qui dépendent des nerfs“ (AT, XI, 344f. und 348f., Alq., I, 475–477 und III, 968–970 sowie 973).

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Elles ne procedent que de ce que, les esprits estant diversement agitez, & rencontrant les traces de diverses impressions qui ont precedé dans le cerveau, ils y prenent leurs cours fortuitement par certains pores, plustost que par d’autres. Telles sont les illusions de nos songes & aussi les resueries que nous avons souvent estant éveillez, lors que nostre pensée erre, nonchalamment, sans s’appliquer à rien de soy-mesme. (Passions de l’âme, article XXI, AT, XI: 344f.) Et c’est ainsi que les choses passées reuiennent quelquefois en la pensée, comme par hasard, & sans que la mémoire en soit fort excitée par aucun objet qui touche les sens. Mais si plusieurs figures se trouuent tracées en ce mesme endroit du cerveau, presque aussi parfaitement l’vne que l’autre, ainsi qu’il arrive le plus souuent, les esprits receuront quelque chose de l’impression de chacune, & ce, plus ou moins, selon la diverse rencontre de leurs parties. Et c’est ainsi que se composent les chimères, et les hippogriffes, en l’imagination de ceux qui reuent estant éueillés, c’est-à-dire qui laissent errer nonchalamment çà et là leur fantaisie, sans que les objets extérieurs la divertissent, ni qu’elle soit conduite par la raison. (L’Homme, I, 184: 460–461 [bezüglich des Gedächtnisses])

Schlaf und Traum unterscheiden sich vom Wachzustand einerseits durch eine quantitative Variation bzw. Spannung der Hirnmaterie. Der Schlaf wird aber andererseits lediglich durch die Abwesenheit von Wahrnehmung und Regung gekennzeichnet. Allein die Deutlichkeit und Heftigkeit ihrer Bilder in der entspannten Hirnsubstanz grenzen Nachtträume von Tagträumen ab. ne diffèrent en rien […] si ce n’est que les images qui se forment pendant le sommeil peuuent estre beaucoup plus distinctes & plus viues que celles qui se forment pendant la veille. (Ebd.: 475)

Aus diesem mechanischen Unterschied leitet Descartes eine Art Übertragung der psychischen Spur in Bilder ab: Et cette mesme raison montre aussi que, s’il arrive que l’action de quelque objet qui touche les sens puisse passer iusqu’au cerveau pendant le sommeil, elle n’y formera pas la mesme idée que pendant la veille, mais quelque autre plus remarquable & plus sensible : comme quelquefois, quand nous dormons, si nous sommes piqués par une mouche, nous songeons qu’on nous donne vn coup d’épée ; si nous ne sommes pas du tout assez couverts, nous nous imaginons estre tout nuds ; & si le sommes quelque peu trop, nous pensons estre accablés d’une montagne. (Ebd.)

Ferdinand Alquié betonte in Bezug auf diese Textpassage die Unterscheidung von zwei traumspezifischen Vorgängen: einerseits die besondere Heftigkeit der Traumbilder, die die Illusion im Traum bewirkt, andererseits die Übersetzung einer äußeren Sinneswahrnehmung: d. h. einerseits die Kraft bzw. enargeia der Traumrepräsentation, andererseits die spontane Symbolisierung im Traum bzw. hermeneia, weit über die bloße Wiederholung und Kombination von Gedächtnisspuren hinaus. Descartes liefert also hier kein rein mechanisches Modell. Die Schlussfolgerung von Ingo Uhlig, wonach „im Schlaf es keine als geistig zu be-

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zeichnende Aktivität [bei Descartes]“ (Uhlig 2015: 68) gibt, greift daher viel zu kurz.

4.

Das Vergnügen im Traum

Die Aussage „das ist ein Traum“ ist ein Urteil. Descartes übersieht hier das Paradox des Traums im Traum, das von Augustinus und Synesius von Kyrene bis Pascal den Stoff empirisch gestützter Überlegungen über den Traum geliefert hatte.28 Der cartesianische Ansatz bezüglich des Traums ist spekulativ. Die erste Meditation endet dennoch mit einer Darstellung der mühsamen Entsagung des Zweifels und mittels eines Vergleichs sowie verschachtelter Negationen mit einem halbklaren Traum. Mais ce dessein est penible & laborieux, & vne certaine paresse m’entraine insensiblement dans le train de ma vie ordinaire. Et tout de mesme qu’vn esclave qui ioüissoit dans le sommeil d’vne liberté imaginaire, lorsqu’il commence à soupçonner que sa liberté n’est qu’vn songe (se dormire), craint d’être réueillé, & conspire avec ces illusions agreables pour en estre plus longuement abusé, ainsi ie retombe insensiblement de moymesme dans mes anciennes opinions, & i’apprehende de me réueiller de cet assoupissement, de peur que les veilles laborieuses qui succéderoient à la tranquillité de ce repos, au lieu de m’apporter quelque iour & quelque lumiere dans la connoissance de la vérité, ne fussent pas suffisantes pour éclaircir toutes les tenebres des difficultez qui viennent d’estre agitées. (AT, IX: 18)

Nach dem arbeitsamen Wachzustand („laboriosa vigilia“), der die Askese des hyperbolischen Zweifels möglich macht und in faule Schläfrigkeit rückt, veranschaulicht Descartes das Nachlassen des Zweifels mit dem Traum eines Gefangenen, der gegen das Erwachen kämpft. Gerade als Descartes die Metaphysik gegen das Argument des Traums gründen will, spielt er mit dem an Platons Höhlengleichnis erinnernden Gleichnis des Gefangenen auf die Metapher des Lebens als Traum an. Wie Florence Dumora feststellte, ist dieser Traum des Gefangenen der einzige in den sechs Meditationen, der nicht unmittelbar im Dienst der Demonstration steht. Kennzeichnend ist erneut die innere Vermutung im Traum, dass er ein Traum ist, jetzt aber auch der Wille im Traum, in der Illusion zu bleiben, d. h. den 28 Pascal (1670: 164/L 131/B 434 [gestrichener Absatz]): „Comme on rêve souvent qu’on rêve, entassant un songe sur l’autre, il se peut aussi bien faire que cette moitié de la vie où nous pensons veiller n’est elle-même qu’un songe, sur lequel les autres sont entés, dont nous nous éveillons à la mort, pendant laquelle nous avons aussi peu les principes du vrai et du bien que pendant le sommeil naturel, tout cet écoulement du temps de la vie et ces divers corps que nous sentons, ces différentes pensées qui nous y agitent n’étant peut-être que des illusions pareilles à l’écoulement du temps et aux vains fantômes de nos songes“.

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Traum für die Wirklichkeit zu halten. Dieser Traum ist also als negative empirische Folie des methodischen Zweifels zu verstehen. Die erste Meditation wurde von dem Traum des Philosophen im Winterrock in seinem Zimmer, neben dem Kaminfeuer („ces mains, ce papier, ce feu“) eröffnet und wird mit dem Traum des Gefangenen geschlossen. Der Traum des Gefangenen hat zwar wie Träume von ausländischen Sprachen, Erfindungen oder Berechnungen einen topischen Hintergrund. Seine Deutung ist jedoch weder klar noch eindeutig, je nachdem, ob die Befreiung mittels des Traums oder die beständige Haft des Träumenden hervorgehoben wird. Der Traum selbst kann als Flucht aus der räumlich-zeitlichen sterblichen Welt oder als Gefangenschaft, Lähmung und Unverständigkeit interpretiert werden. Hier kann auch eine nächtliche Praxis der genussvollen Entfremdung in Betracht gezogen werden. Das Motiv des Lebens als Traum war nicht nur ein herkömmliches gelehrtes Thema seit Platons Theaitetos und Sextus Empiricus,29 nicht nur eine literarische und theatralische Konvention (s. Forestier 1988: 213–235) und nicht nur ein Gemeinplatz der Moraltheologie, sondern das alles – und Descartes schloss sich an diese vielschichtige Überlieferung an. In seinem unvollendeten Werk La Recherche de la vérité fragte Eudoxe den ‚honnête-homme‘ Poliandre: N’avez-vous iamais ouï ce mot d’étonnement dedans les comédies: Veillé-je, ou si je dors? Comment pouuez-vous estre certain que votre vie n’est pas vn songe continuel? (AT, X: 511)

Jean-Pierre Cavaillé wies darauf hin, dass genau diese Frage „Veillé-je, ou si je dors?“ in Jean Rotrous Komödie Les Occasions Perdues (III, 3) aus dem Jahre 1636 gestellt wurde (vgl. Cavaillé 2003: 73–89). Das zeitgenössische Theater entfaltete nämlich eine traumähnliche Ästhetik der Illusion bzw. des Wunders. Vielleicht knüpfte das cartesianische Thema des Erstaunens und der Überzeugung bezüglich der Traumillusion an diese Ästhetik an: Ie voy si manifestement qu’il n’y a point d’indices concluans, ny de marques assez certaines par où l’on puisse distinguer nettement la veille d’auec le sommeil, que i’en suis tout estonné : et mon estonnement est tel qu’il est presque capable de me persuader que ie dors. (Première Méditation, AT, IX, 15)

Die Verzahnung des ‚cogito‘ und des Traumarguments erwies sich als einflussreich, wie Constantijn Huygens’ Epigramm, betitelt als „Somnium“, es bezeugt:

29 Heraklit, nach Gemelli Marciano (2007: Fragment B 21); Platon (1970: Theaitetos 157e–158e); Sextus Empiricus (2002: Pyrrhoneíai hypotypôseis, 104); Cicero (1995/45 v. JC: Academica priora, § XVI–XVII und XXVIII); Schlapbach (2003: Augustinus, Gegen die Akademiker, Kap. XI und XII).

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Qui cogitando somnio Et somniando cogitio, Vel cogitans, vel somnians, Implexa cogitatio est, Et impeditum somnium, Seu somnians, seu cogitans, An somniando cogitem An cogitando somniem.30

Der Traum wird bei Descartes also bald zum Medium einer wissenschaftlichen Berufung, bald zum metaphysischen Argument, bisweilen zur Hinterfragung der Hirntätigkeit, oder zum ästhetisch geprägten Motiv. An keiner einzigen Stelle wird der Traum als göttlich inspiriert dargestellt. In Descartes’ Briefwechsel kommt sogar manchmal ein gewisser Hedonismus zu Sprache: Je dors icy dix heures toutes les nuits, & sans que iamais aucun soin ne me réueille, apres que le sommeil a longtemps promené mon esprit dans des buys, des iardins et des palais enchantez, où i’éprouve tous les plaisirs qui sont imaginez dans les Fables, ie mesle insensiblement mes reveries du jour avec celles de la nuit ; & quand ie m’aperçoy d’estre éveillé, c’est seulement afin que mon contentement soit plus parfait, & que mes sens y participent. (AT, I: 198f.)31

Hier wird nicht die Traumauslegung im Wachzustand fortgeführt, sondern der Traum in der Alltagserfahrung genussvoll weiterverfolgt. In der Nacht vom 10. November 1619 hatte Descartes eine Melone in seinem ersten Traum gesehen, die man ihm schenken wollte und die den rein menschlichen „Reiz der Einsamkeit“ andeuten sollte: Le melon, dont on vouloit luy faire présent dans le premier songe signifioit, disait-il, les charmes de la solitude, mais présentez par des sollicitations purement humaines. (AT, X: 185)

Eine mögliche Quelle dieser Verbindung von Melone und Einsamkeit ist im ersten Buch der Essays zu finden, in dem Montaigne schrieb, Diokletian verzichte auf den Thron, pour se retirer au plaisir d’une vie privée ; et quelque temps après, la nécessité des affaires publiques requérant qu’il revint en prendre la charge, il respondit à ceux qui l’en

30 Huygens d. Ä. (1655: 152), Cavaillé (2003: 128 und ders. 1995: 83f.) weisen auf den parasitären Zusammenhang von Denken und Traum in diesen Versen hin. Die Gegensätzlichkeit zwischen Denken und Traum wird nicht aufgehoben, sondern nur konstatiert. Zwar greift Huygens auf Descartes’ Terminologie zurück. Inhaltlich ist er aber eher Montaignes Skeptizismus verhaftet: „Nous veillons dormans, et dormans veillons“ (Essais, II, 12, Zusatz zur Apologie de Raimond Sebond, Ausg. 1965: 596). 31 Descartes an Guez de Balzac, Amsterdam 15. 4. 1631 (AT, I, 196–199). Vgl. Ebd. 5. 5. 1631, AT, I, 202–204.

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prioient: Vous n’entreprendriez pas de me persuader cela, si vous aviez veu […] les beaux melons que j’y ay semez.32

Dieses Streben nach einem schlafähnlichen, faulen, jedoch legitimen Rückzug aus der Öffentlichkeit wurde ebenfalls von Balzac geäußert und von einigen ‚libertins érudits‘ geteilt.33 Faszinierend ist abschließend die Vielfältigkeit der cartesianischen Beschäftigung mit dem Traum. Descartes entwickelte keine Traumtheorie, bediente sich aber mehrerer zeitgenössischer Themen, verwarf maßgebende Interpretationsraster und blieb schließlich in der Schwebe – er schlug weder ein rein mechanistisches Modell noch eine pure spekulative Metaphysik vor. Vielleicht erwiesen sich seine Schriften deshalb als besonders inspirierend und als nachhaltig prägend. Bezeichnend für Descartes’ anvisierte und tatsächliche Rezeption ist, dass er sehr früh vorwiegend als Naturwissenschaftler in Laienzirkeln und (weiblichen) Salons heftig diskutiert und verfochten wurde (vgl. Azouvi 2002). Seine Argumentation diente als Basis für deutlich radikalere Kritiken der sinnlichen Erkenntnis, so dass Richard Popkin ihn einen „sceptique malgré lui“ nannte (Popkin 2003: 158–173). Bereits vor Descartes wurde die Lehre von der Zirkulation der Lebensgeister bei der Erklärung von psychologischen Vorgängen aufgegriffen, wenn auch nicht systematisch. Mit Descartes wurde sie verbreitet und von nun an, über Thomas Hobbes, Pierre Gassendi und bis ins 18. Jahrhundert hinein vertreten. Descartes leitete vor allem die Untersuchung einer Traumphysiologie ein, die den Hirnnerven eine bedeutsame Rolle zuwies und sich im 18. Jahrhundert als folgenreich erwies. Bereits vor Descartes war der Pyrrhonismus anhand des Traumarguments erörtert worden, jedoch nur einzeln und wie beiläufig.34 Das Traumargument schien in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ebenfalls deutlich stärker vorzukommen, auch bei den ‚libertins érudits‘.35 Noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein wurden Traum und Skeptizismus epistemologisch hinterfragt, bei David Hume etwa (vgl. Imlay 1993: 198–200). 32 Michel de Montaigne: Essais, XLII, „De l’inégalité qui est entre nous“. Ich folge hier Cavaillés Interpretation. Zu diesem Bild vgl. Gabbey/Hall (1998: 651–668). 33 Guez de Balzac (1657: 213): „Il y a une certaine douceur à ne rien faire, une certaine mollesse voluptueuse, de la nature de celles qui se trouvaient dans les Palais enchantés, au siècle des Amadi. Quand on a une fois goûté de cette douceur, il est aisé de s’en enivrer, et étant ivre de perdre la mémoire de toutes chose. Elle nous fait oublier le soin que nous deons avoir de notre réputation, les promesses que nous avons faites au Public…“. Ders. (1645: 85f.): „Je voudrais souvent être enchanté dans quelque palais d’uen île inconnue, sans action, parole, ni mouvement, ne vivant que pour le seul dormir“. 34 So beispielweise Richelieus Sekretär Jean de Silhon (1634). Zum möglichen Einfluss Descartes’ auf Pascal (Blaise Pascal, Fragment Contrariétés, 14/14) vgl. Gouhier (1986: 163, 178 bezüglich AT VI, 32; Alq. I, 603; AT VI, 37–40; Alq. I, 610–613). 35 Zum Thema des Traums bei Charles Sorel vgl. etwa Popkin (1995: 174f.).

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Der Wandel der Auffassung vom Traum von einer Typologie der Traumursachen hin zur Wachzustand-Schlaf-Problematik lässt sich allgemein feststellen. Das Traumargument diente bei Marin Mersenne der Begründung wissenschaftlicher Wahrheit (Mersenne 1625: 233f.). Gassendi bezog sich ebenfalls auf das cartesianische Traumargument in seiner Metaphysik: Zwar könne man im Traum nicht erkennen, ob man träume oder nicht; im Wachzustand sei man sich jedoch sicher, dass man nicht schlafe (vgl. Gassendi 1644: 46). Vor dem Hintergrund maßgebender dämonologischer Diskussionen, der Hinterfragung der aristotelischen Seelenlehre und der Pyrrhonismusdebatte schlug Descartes originelle Antworten vor. In seinem Werk tritt Descartes abwechselnd als Neugründer der Philosophie, als Autor auf der Suche nach einem Publikum oder als persönlicher Berater auf. In seinem Briefwechsel mit Elisabeth von der Pfalz (1618–1680) etwa behauptet Descartes, dass eine bestimmte Steuerung der eigenen Affekte, also der eigenen Träume, möglich sei.36 Stets ist bei ihm der Traum eine einsame Angelegenheit. Er empfing einen dreifachen Bekehrungstraum, als er entdeckte, dass Wissenschaften verschleiert seien und von einem einzigen Mann fortentwickelt werden sollten.37 Diese geforderte wissenschaftliche Einsamkeit ist besonders auffällig in einer Zeit, in welcher Wissenschaft kollektiv betrieben wurde (vgl. Daston/Lunbeck 2010). Am 1. Januar 1619 kennzeichnete er mit etwas Selbstmisstrauen seine wissenschaftliche Herangehensweise als maskiert und einsam: Er trete in das Theater der Welt mit einer Maske auf wie ein Schauspieler, damit man ihr Lampenfieber nicht bemerkt.38 Ebenfalls stellte er durch die Meditation und das Thema des Traums eine verborgene Seite seiner wissenschaftlichen Persona39 vor. Der Traum galt nicht mehr als göttlich inspiriert. Daher markiert Descartes’ Beschäftigung mit dem Traum gewissermaßen einen Wandel von ‚songe‘ zu ‚rêve‘ im modernen Sinne.

36 „Ainsi je puis dire que mes songes ne me représentent jamais rien de fâcheux, et sans doute qu’on a grand avantage de s’être dès longtemps accoutumé à n’avoir point de tristes pensées“, Descartes an Élisabeth de Bohême, (1. 09. 1645, AT, IV). 37 „Larvatae nunc scientiae sunt : quae, larvis sublatis, pulcherrimae apparerent. Catenam scientiarum pervidenti, non difficilius videbitur, eas animo retinere, quàm seriem numerorum“, (AT X: 214). 38 „Ut comoedi, moniti ne in fronte appareat pudor, personam induunt: sic ego hoc mundi theatrum conscensurus, in quo hactenus spectator exstiti, larvatus prodeo.“ (Adam: 305 und AT, X: 213). 39 Daston Lorraine J./H. Otto Sibum (2003).

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