Staatsverständnisse in Italien. Von Dante bis ins 21. Jahrhundert 9783848734993, 9783845278872


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German Pages 342 [341] Year 2019

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Staatsverständnisse in Italien. Von Dante bis ins 21. Jahrhundert
 9783848734993, 9783845278872

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Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Norbert Campagna, Luxemburg Wolfgang Kersting, Kiel Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Tine Stein, Kiel Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau

Staatsverständnisse herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 109

Norbert Campagna | Stefano Saracino [Hrsg.]

Staatsverständnisse in Italien Von Dante bis ins 21. Jahrhundert

© Titelbild: Geographische Karte Italiens von Guillaume de l’Isle (1675 –1726).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-3499-3 (Print) ISBN 978-3-8452-7887-2 (ePDF)

1. Auflage 2018 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Editorial

Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Veränderungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die »Entgrenzung der Staatenwelt« jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien der Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Globalisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema »Wiederaneignung der Klassiker« immer wieder zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsverständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Weimarer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideologie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer von einander zu trennen sind. Auch die Verstrickungen Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusammenhang nicht verzichtet werden.

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Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen, sondern vor allem auch an Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. So wird auch der / die Studierende unmittelbar in die Problematik des Staatsdenkens eingeführt. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Inhaltsverzeichnis

Norbert Campagna/Stefano Saracino Einleitung

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Teil 1: Von den Anfängen der Renaissance bis zur Generation Machiavellis Benjamin Schmid Aegidius Romanus und Dante Alighieri. Anmerkungen zu monarchischen Denkfiguren in ihren Werken und deren Bezug zur politischen Realität Italiens

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Manuel Knoll/Stefano Saracino Die Staatsräson bei Niccolò Machiavelli und Giovanni Botero

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Volker Reinhardt Staatsräson bei Francesco Guicciardini. Ein Versuch

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Francesca Russo Donato Giannottis Theorie von der gemischten Regierung und ihr Erfolg im deutschen Sprachraum

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Teil 2: Barock und Aufklärung Norbert Campagna Die Kompatibilität von Signoria und politischer Freiheit in Battista Guarinis Trattato della politica libertà

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Norbert Campagna Tommaso Campanellas Projekt einer katholischen Weltrepublik

147

Stefano Saracino Als man anfing, über den Staat zu lachen: Das Staatsdenken Traiano Boccalinis

179

Stefano Biancu Der Staat, edel und bescheiden: Vicos Staatsverständnis im Kontext der Scienza Nuova

195

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Alberto Bondolfi Cesare Beccarias Dei delitti e delle pene im Kreuzfeuer der inoffiziellen und offiziellen theologischen Kritik

217

Teil 3: Vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart Markus Krienke Staat und Zivilgesellschaft bei Antonio Rosmini

233

Norbert Campagna Errico Malatesta: Radikale Staatskritik im Namen der menschlichen Freiheit

255

Martin Beckstein Giovanni Gentiles nichtidealtheoretischer Rechtfertigungsversuch des Faschismus

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Pierpaolo Portinaro Die Erbschaft des politischen Realismus. Elitentheorie und Demokratieskepsis als Schlüssel der politischen Kultur

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Autoren

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Norbert Campagna/Stefano Saracino Einleitung

1. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Bevor man sich die Frage stellt, wie man den Staat in Italien verstanden hat und versteht, muss man sich zunächst einmal darüber klar werden, wie man oder was man genau unter Italien verstehen soll. Der heutige Name des Landes stammt ursprünglich, und etymologisch, von der Volksgruppe der Italier oder Italioten ab, die um das Jahr 1000 vor Christus einen Teil des heutigen Italiens besiedelten.1 Es kann allerdings nicht behauptet werden, dass man sich damals einer italienischen Nationalität bewusst gewesen wäre. Und dasselbe gilt hinsichtlich der Etrusker und der Römer, die in den kommenden Jahrhunderten die Geschichte jenes stiefelförmigen Landstrichs im Süden Europas prägen sollten – und die Römer prägten selbstverständlich mehr als nur die Geschichte dieses Landstrichs. Was ist also Italien? Eine rein geographische Gegebenheit, ein Territorium, dessen Konturen man auf einer Landkarte erkennen kann – Konturen die natürlich erst durch politische Entscheidungen zu Grenzen wurden? Dann existiert Italien – das geographische Gebiet, das heute in den Grenzen des politisch-definierten Italiens zu finden ist – schon seit Jahrmillionen, und ein Buch über die Staatsverständnisse in Italien müsste mit den ersten Reflexionen über die Formen politischer Organisation in jenem Gebiet beginnen, das wir heute Italien nennen, und das heißt mit den Römern (etwa Cato, Cicero, Seneca, Tacitus,…). Man kann Italien aber auch als eine sprachliche und kulturelle Gegebenheit betrachten. Italien würde dann ungefähr ab dem XIII. Jahrhundert existieren, als Francesco Petrarca in seinen Gedichten und dann Dante Alighieri in der Divina Commedia durch ihren Gebrauch der italienischen Sprache eine Entwicklung in Gang setzten, durch die das Italienische zur Kultur- und Literatursprache erhoben wurde. Mag auch zu Dantes Zeit der italienische Stiefel noch politisch zerfetzt gewesen sein und aus einer Vielzahl kleiner mehr oder weniger autonomer und auch mehr oder weniger mächtiger politischer Gemeinwesen bestanden haben, so spricht oder versteht man doch grundsätzlich so gut wie überall dieselbe Sprache bzw. Dialekte als Vari-

1 Eine detaillierte Geschichte Italiens von den Anfängen vor etwa 3000 Jahren bis heute bietet Milza 2013. Auf mehr als tausend Seiten werden hier die wichtigsten Etappen der Geschichte Italiens dargestellt.

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anten dieser Sprache, und eine Hochliteratur in dieser Sprache beginnt sich zu entwickeln. Die italienische Kultur ist weitaus älter als die italienische Nation. Man könnte Italien auch mit dem Wunsch beginnen lassen, alle ausländischen Invasoren (die „Barbaren“ in der Sprache des Humanismus) vom Stiefel zu verjagen, um damit den vielen Kleinstaaten oder Republiken die Gelegenheit zu geben, ihre Geschäfte ohne fremden Einfluss zu regeln. Es wäre dies noch kein Wunsch nach einem politisch geeinten Italien, wohl aber nach einem nicht durch fremde Einflüsse – und den Einmarsch fremder, alles zerstörender Truppen – politisch ungeeinten geographischen Italien. Man würde dann bei Petrarcas „canzone“ Italia mia oder Machiavellis Principe ansetzen – dessen Schlusszeile aus Petrarcas Italia mia stammt. Man kann dann drittens Italien als eine einheitliche politische Wirklichkeit auffassen, als Nationalstaat, in welchem der Florentiner oder der Venezianer zunächst Italiener sind, bevor sie Florentiner oder Venezianer sind, und in dem Florenz und Venedig nicht mehr eigenständige Gemeinwesen sind, sondern lediglich Provinzhauptstädte. Dieses nationalstaatliche Italien entsteht erst im XIX. Jahrhundert, unter dem Impuls Cavours und, vor allem, Garibaldis. Man könnte ein Buch über die Staatsverständnisse in Italien prinzipiell hier beginnen lassen – und ein erstes Kapitel über Garibaldis Staatsverständnis vorsehen –, wäre dann aber gezwungen, bedeutende Denker wie Machiavelli oder Vico zu ignorieren. In diesem Band haben wir uns für die zweite Möglichkeit entschieden, das heißt, wir haben ihn ungefähr dort beginnen lassen, wo das Italienische zu einer eigenen Sprache wird, derer man sich auch bedient, um Traktate über den Staat bzw., allgemeiner, über die Organisation des politischen Gemeinwesens zu verfassen. Diese Wahl präjudiziert nicht den terminus ad quem der Beiträge – man schreibt heute immer noch auf Italienisch über den Staat –, wohl aber den terminus a quo: das politische Denken der Römer wird ausgeklammert bzw. taucht es nur dort auf, wo Denker des späten Mittelalters und der folgenden Jahrhunderte auf es zurückgreifen. Dieses Denken ist somit kein unmittelbarer und eigenständiger Untersuchungsgegenstand dieser Aufsatzsammlung, sondern allenfalls ein mittelbarer. Dass wir den Band im ausgehenden Mittelalter beginnen lassen, erklärt sich zum Teil aber auch dadurch, dass sich zu dieser Zeit jenes politische Gebilde zu entwickeln beginnt, das wir heute als Staat bezeichnen (wenn auch nur in Ansätzen, die erst über einen Prozess vieler Jahrhunderte zur Herausbildung von Staatlichkeit im neuzeitlichen Sinne führten). Auch wenn die freien italienischen Städte des Mittelalters noch nicht als Staaten im strengen Sinn des Wortes bezeichnet werden können – auch nicht jene im Zentrum des Stiefels liegende Stadt, die in der Antike die Hauptstadt des Römischen Reichs war, um dann zum politischen Zentrum der westlichen Christenheit zu werden –, so kann man doch schon hier erste Elemente staatlicher Organisation – wenn auch nur im Kleinen – entdecken.

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Durch das Weglassen der Römer wurde die Zahl der behandelbaren Autoren eingegrenzt, aber sie war trotzdem noch so groß, dass eine Auswahl getroffen werden musste. Wollte man dem Reichtum des italienischen Staatsdenkens gerecht werden, so müsste man eigentlich für jedes Jahrhundert einen Band vorsehen – und für manche Jahrhunderte würde es mit einem Band wahrscheinlich nicht genügen. Die Liste der in diesem Band behandelten Autoren kann Anlass zu zwei entgegengesetzten Kritiken geben. Einerseits kann man beanstanden, dass manche bedeutende Denker fehlen. Wo sind, um nur sie zu nennen, die Humanisten des Quattrocento, Lodovico Settala, Giaccomo Leopardi, Vittorio Alfieri, Giuseppe Mazzini, Antonio Labriola, Gaetano Mosca, Piero Gobetti, Carlo Rosselli, Santi Romano, Benedetto Croce oder noch Norberto Bobbio und Giorgio Agamben?2 Andererseits kann man aber auch beanstanden, dass manche kaum bekannte Denker behandelt werden. Warum von Guarini oder Facchinei sprechen, wo sie doch – zumindest was die politischen Schriften des ersten betrifft – höchstens einigen Spezialisten bekannt sind und bisher als kaum würdig gehalten wurden, einem größeren Publikum zugänglich gemacht zu werden? An ihrer Stelle hätte man, so ließe sich dieser zweite Einwand mit dem ersten verbinden, die abwesenden Großen behandeln sollen. Auch wenn einige Namen in diesem Band fehlen – doch ein Fehlen bestimmter Namen in Überschriften impliziert noch nicht, dass diese Namen nicht doch im Korpus des Beitrags auftauchen und in Verbindung mit dem behandelten Autor gebracht werden3 –, so glauben wir doch, dass wir keine nennenswerte Denkrichtung oder Denktradition vergessen haben. Das katholische Staatsdenken ist ebenso vertreten wie das marxistische, das anarchistische ebenso wie das absolutistische, das republikanische ebenso wie das monarchistische, das faschistische ebenso wie das demokratische. Wenn uns ein Vorwurf gemacht werden kann, dann höchstens der, dass keine italienische Staatsdenkerin in dem Band erwähnt wird, dass es in dem Band also nur um das Staatsdenken von Männern geht. Doch dieser Vorwurf wäre ungerecht. Es ist zu hoffen, dass die Forschung zukünftig die Schriften bedeutender klassischer italienischer Staatsdenkerinnen an den Tag fördern wird – Christine de Pizan, obwohl italienischer Abstammung, hat in Frankreich gelebt und ihre Schriften auf Französisch verfasst –, doch im Augenblick hat sie das unseres Wissens noch nicht getan. Der bedeutende Beitrag von Frauen für die Kultur und Literatur in Italien, beispielsweise

2 Insofern ein kürzlich erschienener Band der Staatsverständnisse Gramsci behandelt, haben wir auf die Inklusion eines Beitrags zu diesem für das XX. Jahrhundert zentralen Denker des Staates verzichtet. 3 Portinaros Beitrag gibt eine ausgezeichnete Übersicht über wichtige Tendenzen des italienischen Staatsdenkens im XX. Jahrhundert.

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der Renaissance, ist hingegen besser erforscht.4 Um sich auf dem Feld des politischen Denkens zu betätigen, mussten Frauen in der Vormoderne erhebliche Hürden (etwa in der Gesellschaft und im Bildungssystem) überwinden. Die Abwesenheit von Staatsdenkerinnen in diesem Band sollte demnach als nur durch den gegenwärtigen Stand der Forschung bedingt angesehen werden und entspringt keineswegs einer bewussten Absicht. Wir würden uns als erste darüber freuen, in einigen Jahren einen Band über „Staatsdenkerinnen in Italien“ herausgeben zu können.

2. Der Staat in Italien Seitdem die heute unter dem Namen „Italien“ bekannte stiefelförmige Halbinsel im Süden Europas besiedelt ist, hat es dort zahlreiche, sehr unterschiedliche Organisationsformen der politischen Herrschaft gegeben. Schon in vorrömischer Zeit lebten die Menschen dort in politischen Gemeinschaften, aber Genaueres über sie wissen wir nicht. Rom selbst war am Anfang, glaubt man klassischen Historikern wie Titus Livius, eine Monarchie, die sich dann aber, nachdem die monarchische Macht missbraucht wurde und die Könige nicht mehr erwünscht waren, in eine Republik verwandelte. Das Wort „Republik“ – das später als „Commonwealth“ im Englischen und als „Gemeinwesen“ im Deutschen auftauchen wird – bezeichnet, etymologisch gesehen, nichts anderes als einen Zustand, in dem die politischen Angelegenheiten eine Sache sind, die alle angeht, also eine allen gemeinsame Sache.5 Die Universalität ist allerdings immer eine beschränkte, da u.a. die Frauen und die Sklaven nicht unmittelbar teilhaben. Die politischen Angelegenheiten gehören denjenigen, um deren gemeinsame Sache es geht. Diese Republik wird sich einige Jahrhunderte behaupten können, wobei sie aber unterschiedliche Organisationsmodi kennen wird. In ihrem Rahmen entfalten sich Kämpfe um die Macht, die ihren Höhepunkt im ersten Jahrhundert vor Christus erleben werden und, nach einem kurzlebigen Triumvirat, zum Übergang der Republik in eine kaiserlich-imperiale Herrschaft führen werden. Auch diese wird unterschiedliche Formen annehmen, so dass es neben der Aufeinan4 Zu den Dichterinnen, Malerinnen, Mäzeninnen und Herrscherinnen in der Renaissance etwa Osols-Wehden 1999; Hoeges 2001. Zur proto-feministischen Autorin Lucrezia Marinelli (1571-1653) Allen/Salvatore 1992. Zum Beitrag von Frauen für die Aufklärung in Italien Green 2014, S. 90-101. 5 Viroli definiert die Republik als „politische Gemeinschaft von souveränen Bürgern, die auf dem Recht und dem Allgemeinwohl gründet“ (Viroli 1999, S. vii). Die drei Pfeiler sind also die demokratische Bürgersouveränität – wobei die zentrale Frage ist, wer den Bürgerstatus besitzt –, die Begrenzung durch das Recht und die Ausrichtung auf das Allgemeinwohl. Dabei wird man entweder annehmen können, dass die zwei ersten Pfeiler nur den dritten garantieren sollen, oder aber einen Eigenwert besitzen. Das republikanische Denken, wie es Viroli versteht, entscheidet sich für diese zweite Variante, etwa indem es dem Recht nicht bloß eine herrschaftslimitatorische Funktion zuweist, sondern einen qualitativen Unterschied in der Herrschaft der Gesetze statt der Menschen erkennt.

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derfolge von Alleinherrschaften seit dem Prinzipat des Augustus zum Beispiel auch noch die durch Diokletian eingerichtete Tetrarchie geben wird, in welcher vier Kaiser – wovon zwei den Titel „augustus“ und zwei den Titel „caesar“ tragen – sich die Herrschaft über das Römische Reich teilen. Nach dem Untergang des westlichen Römischen Reichs kennt die italienische Halbinsel eine Reihe unterschiedlicher Herrschaftsformen – die sogenannten barbarischen Königreiche –, mit dem sogenannten Kirchenstaat in der Mitte. Dieser sich rational organisierende Kirchenstaat wird, ab dem Beginn des zweiten Jahrtausends, zu einem Modell für die bürokratisierten Nationalmonarchien, die sich ab dem ausgehenden Mittelalter in einigen europäischen Ländern – England, Spanien, Frankreich – bilden. Die italienische Halbinsel wird allerdings nicht den Weg zum territorialen Nationalstaat einschlagen, sondern kennt eine Vielzahl von kommunalen Republiken, also von politischen Gemeinwesen, deren Grenzen sich mit den Grenzen einer Stadt und deren unmittelbaren Peripherie decken. Wenn manche dieser Stadtstaaten Republiken im strengen Sinn des Wortes sind, nehmen andere nicht-republikanische Formen an – man denke etwa an das Herzogtum Mailand oder an die Herrschaft der Medici über Florenz. Das Recht, sich an den politischen Entscheidungsfindungsprozessen zu beteiligen, macht hier das alles bestimmende Merkmal aus: je mehr Menschen über ein solches Recht verfügen, umso näher kommt man dem Ideal der Republik – wobei allerdings Geschlechts- und Klassenunterschiede eine Grenze setzen, die nicht überschritten werden darf, will man nicht der Anarchie Tür und Tor öffnen. Ungeachtet der republikanischen Rhetorik aus der humanistischen politischen Traktatistik, die gelegentlich den Eindruck vermittelt, als hätte es sich in den italienischen Stadtstaaten um quasi-demokratische Herrschaftsformen gehandelt, hat die Forschung deren oligarchischen Charakterzug betont. Nur eine sehr geringe Minderheit hatte (etwa in Florenz oder Venedig) die Möglichkeit zur politischen Teilhabe.6 In diese Epoche des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit fällt auch die Suche nach der besten Staatsform und das Verfassen sogenannter Fürstenspiegel. Dieser Literaturgattung geht es nicht so sehr um die Tugenden sozialer Institutionen, sondern um die Tugenden des idealen Herrschers. Das Wohl der politischen Gemeinschaft, so der Grundgedanke, hängt letzten Endes von den moralischen und außermoralischen Charaktereigenschaften des Fürsten ab, so dass es wichtig ist, dem Fürsten ein nachzuahmendes Modell vor Augen zu führen.

6 Auch wenn in Venedig mehrere Tausend Angehörige patrizischer Familien unterschwellig partizipierten (etwa bei der Ämterbestellung), so lagen die politischen Geschicke der Serenissima in der Hand eines sehr kleinen Personenkreises, s. Riklin 2006, S. 133. Selbst mit den „demokratischen“ Reformen, die im Dezember 1494 in Florenz unter dem Einfluss Savonarolas durchgeführt wurden, bekamen nur 3000 Bürger aus der ca. 90.000 Personen zählenden Stadtbevölkerung politische Partizipationsrechte, s. Cadoni 1981.

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Auch Machiavelli führt den Fürsten seiner Zeit ein nachzuahmendes Modell vor Augen, bloß dass er bei diesem Modell davon ausgeht, dass in einer (im Sinne der konventionellen christlichen Moralvorstellungen seiner Zeit) nicht-moralischen Welt der Fürst gegebenenfalls bereit sein muss, die Waffen des Rechts beiseite zu legen, um mit denjenigen des Löwen oder des Fuchses zu kämpfen. Mag man sich auch einen Zustand wünschen – und Machiavelli tut es –, in welchem man immer mit den Waffen des Rechts kämpfen kann, so gibt es diesen Zustand noch nicht, und wer nicht bereit ist, auf andere Waffen als die des Rechts zurückzugreifen, wird das Erreichen eines idealen Zustands nicht beschleunigen, sondern vielmehr bremsen.

3. Frühneuzeitliche Entwicklungsschübe des Staates als Herrschaftsapparat Die ideengeschichtliche und historische Forschung insistiert, dass der Begriff „Staat“ ebenso wie das mit ihm Bezeichnete, also der Staat als Herrschaftsapparat, historisch gewachsene, vom Menschen gemachte Dinge sind. Hinzu kommt, dass der Staat unter ganz spezifischen (europäischen) Rahmenbedingungen zu dem geworden ist, was er heute ist. 7 Auch wenn die Historiker streiten, wann von der Genese des Staates als Herrschafts- und Verwaltungsapparat auszugehen ist, so handelt es sich in jedem Fall um einen Entstehungszeitraum, der gemessen an der Geschichte der Menschheit relativ neuen Datums ist. Aufgrund monarchischer Zentralisierungstendenzen und der Differenzierungsleistungen im Rechtswesen optieren manche für das Hochmittelalter.8 Andere wiederum fokussieren das Zeitalter der Glaubensspaltung und Konfessionalisierung, die einerseits zu einer Destabilisierung des politischen Kosmos führten, auf die aber andererseits die politischen Gebilde in ganz Europa mit dem Ausbau der staatlichen Kompetenzen und ihrer Emanzipation von den universalistischen Herrschaftsansprüchen von Kaiser und Papst reagierten.9 Zahlreiche Frühneuzeit-Historiker betonen andererseits, dass von einer Staatspraxis, die den heute gängigen, aus der Staatslehre des XIX. Jahrhunderts stammenden Kategorien nahe kommt, eigentlich erst mit der Ausreifung staatlicher Institutionen im späten XVII. und im XVIII. Jahrhundert gesprochen werden könne.10

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Reinhard 1999; Creveld 1999; Ottmann 2001, S. 8f. Post 1964; Harding 2002. Zur Bedeutung des konfessionellen Zeitalters für die Genese des Staatsdenkens und des (absolutistischen) Staates mit Betonung des Beitrags, der aus dem paneuropäischen Diskurs über die Staatsräson hervorging, der seinen Ursprung im italienischen politischen Denken hat, s. Foucault 2004, Reinhard 1983, Münkler 1987, Stolleis 1990. 10 Die das ganze Territorium umfassende und effiziente Besteuerung der Staatsbürger, die Entstehung staatlicher stehender Heere oder die Entwicklung eines Beamtenapparates treten in vielen europäischen Ländern erst im XVIII. Jahrhundert in Erscheinung, s. Reinhard 1999, 2004; Landwehr 2007.

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Der Begriff „Staat“ (auf italienisch „stato“) entwickelt sich in Italien schon früh von einem polysemischen Konglomerat verschiedener Bedeutungen (wie im Falle des lateinischen „status“ kann er ebenso den Zustand, wie den gesellschaftlichen Stand oder das Herrschaftssystem bezeichnen) zu einem im engeren Sinne politischen Begriff. Die Forschung hat auf diese Vorreiterrolle des italienischen politischen Denkens und seiner politischen Sprache hingewiesen, in der sich die Realität der von Kaiser und Kirche relativ autonomen politischen Gebilde im Italien der Renaissance niederschlug.11 Die mit ihm eng verbunden Schlüsseltermini, wie „Souveränität“ und „Staatsräson“, entstehen im XVI. Jahrhundert.12 Letzterer („ragion di stato“) ist eine „Erfindung“ italienischer politischer Denker wie Machiavelli (der ihn noch nicht dem Wortlaut, aber der Sache nach gebraucht), Guicciardini (der ihn erstmals verwendet) und Botero (der 1589 einen ersten Traktat über die „ragion di stato“ veröffentlichte).13 Auch auf dem Gebiet der Staatspraxis sind in den frühneuzeitlichen politischen Gebilden in Italien Entwicklungsschübe zu verbuchen.14 Insofern ist durchaus eine Teilwahrheit in Jacob Burckhardts nostalgischer Verbrämung der Renaissance in Italien, in der der moderne Staat als Kunstwerk erschaffen worden sei.15 Machiavellis Epoche zeichnet sich, wie erwähnt, auch dadurch aus, dass in ihr das Wort „stato“ sich nicht mehr nur ganz allgemein auf einen Zustand bezieht, sondern jenes politische Gemeinwesen bezeichnet, das man auch heute noch „Staat“ nennt – und aus dem „s“ wird auch im Italienischen mit der Zeit ein „S“. Damit ist auch die Möglichkeit gegeben, zwischen „stato“ und „governo“ – Regierung – zu unterscheiden, wobei man aber zugleich beide aufeinander bezieht: Aufgabe des „governo“ ist es, den „stato“ zu organisieren und aufrecht zu erhalten – „mantenere lo stato“, wie es bei Machiavelli heißt. Der governo ist nur ein Organ des Stato, und er hat seine Daseinsberechtigung prinzipiell nur solange, wie er seine Organfunktion erfüllen kann.16 Um den Zustand erhalten zu können, muss man aber die interne Logik des „stato“ kennen. Und diese interne Logik muss nicht mit der ihr externen Logik der Religion 11 Weinacht 1968, Quaritsch 1986. 12 Zum Begriff der Souveränität, der in Jean Bodins Six livres de la République 1576 in seiner neuzeitlichen politiktheoretischen Bedeutung festgelegt wurde, siehe die Beiträge in Philipp 2016. 13 Siehe die Beiträge von Reinhardt und Knoll/Saracino in diesem Band. Zum Staatsdenken in der Renaissance Saracino/Knoll 2013. 14 Zur Genese von Staatlichkeit unter der Herrschaft des Großherzogs von Toskana Cosimo I. de’ Medici (1537-1574) Fasano 1973 oder zur Entstehung diplomatischer Apparate im Italien der Frühen Neuzeit Frigo 1999. 15 Reinhardt 2004 hat allerdings zu Recht herausgestellt, dass die Faszination, die in Burckhardts Cultur der Renaissance (1860) der Staatskunst der italienischen Fürsten oder den Staatskünstlern wie Machiavelli entgegengebracht wird, einen nostalgischen Reflex des gebildeten Bürgertums im XIX. Jahrhundert darstellt. 16 U.a. Santi Romano hat mit aller Klarheit auf diesen Punkt hingewiesen (Romano 1969, S. 130).

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oder der Moral übereinstimmen. Der ragion divina tritt somit die ragion di Stato17 entgegen: die Vernunft der Inhaber oder des Inhabers des governo erkennt das, was die Vernunft der Sachlage verlangt und führt es auch aus. Aufgabe des governo ist es nicht mehr, die Menschen auf einen jenseitigen Zustand vorzubereiten, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, friedlich im Rahmen einer gesicherten Rechtsordnung zu leben. Bereits in der Frühen Neuzeit verschwinden in Italien nach und nach die zahlreichen Stadtstaaten des Mittelalters und werden durch wenige Fürstentümer ersetzt. Die politische Zersplitterung der Halbinsel bleibt zwar, aber es sind doch weniger Stücke. Zu einem territorialen Nationalstaat wird Italien erst im XIX. Jahrhundert, wobei dieser Nationalstaat politisch gesehen zunächst die Form einer Monarchie annimmt. In der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts wird Italien während zwei Jahrzehnten den autoritären Staat des duce erleben18, bevor die Niederlage im Zweiten Weltkrieg den Weg für die Republik einläuten wird. Ein italienischer Shakespeare, der ein Theaterstück über die sieben Jahrzehnte schreiben würde, die Italien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter einer republikanischen Verfassung gelebt hat, würde sicherlich einen Protagonisten sagen lassen: C’è qualcosa di corrotto nella repubblica d’Italia. Die politischen Skandale um die Democrazia Cristiana, die Affären um Berlusconi, die Erfolge des Movimento Cinque Stelle19 oder der Einfluss der Mafia und ähnlicher krimineller Organisationen auf Politik und Gesellschaft werfen ein schlechtes Licht auf die politische Situation der Halbinsel. Hinzu kommt heute die prekäre Wirtschaftssituation und das Problem der Flüchtlinge aus dem afrikanischen Raum, für die Italien – vor allem die Insel Lampedusa – das am schnellsten zu erreichende Ziel in Europa ist. Zu erwähnen wäre auch der immer noch schwelende Konflikt zwischen einem reichen industrialisierten Norden und einem armen agrarischen Süden. Auch wenn sezessionisti17 Zu dieser Thematik, siehe u.a. Borelli 1993. 18 Es gibt zahlreiche Versuche, die Ursachen des Erfolges des Faschismus in Italien zu erklären. Vivarelli führt ihn etwa auf die Unfähigkeit des italienischen Liberalismus zurück, die beiden Werte der Ordnung und der Freiheit auf eine zufriedenstellende Weise miteinander in Einklang zu bringen. Dabei führt er auch fünf Schwachpunkte des liberalen italienischen Staates an: Vorherrschaft der exekutiven Gewalt, Verwaltungszentralismus, freiheitsbeschränkende Rechte in den Händen der exekutiven Gewalt, zunehmende Identifikation von governo und stato, Tendenz, die Gegner der Regierung als Staatsfeinde zu betrachten (Vivarelli 1981, S. 30). Inwiefern diese fünf Schwachpunkte des liberalen Staates im vorfaschistischen Italien auch noch auf heutige Staaten zutreffen, soll jede Leserin und jeder Leser für sich ausmachen. 19 Dieses Phänomen wirft die Frage auf, ob und inwiefern ein neuer Akteur, nämlich die politische Bewegung, dabei ist, das politische Feld zu besetzen und den seit dem XIX. Jahrhundert traditionellen Akteur – die politische Partei – von der Szene zu verdrängen. Im Jahre 1947, so Pombeni, galten die Parteien als die wahren Akteure auf der politischen Szene – dazu auch Mortati 1998 –, auch und vor allem wenn es um den verfassungsgebenden Akt ging (Pombeni 1995, S. 167). Diese Rolle scheinen die Parteien aber zu verlieren, wie es u.a. auch Tarantino diagnostiziert, der das Erscheinen eines neuen politischen Akteurs prophezeit (Tarantino 1997).

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sche Stimmen im Augenblick noch kaum Einfluss haben, so könnte dies sich eines Tages wieder ändern, und Italien könnte dann den Weg gehen, den u.a. die einstige Tschechoslowakei gegangen ist. Welchen Weg der italienische Staat in den nächsten Jahren und Jahrzehnten gehen wird, ist ungewiss. Ende 2016 hat eine Mehrheit des Volkes sich einem Versuch widersetzt, über ein Referendum das Mandat für eine Verfassungsrevision zu bekommen, durch welche die Exekutive noch gestärkt werden sollte. Doch was 2016 noch scheiterte, kann, sollte sich eine akute Krisensituation einstellen, einige Jahre später erfolgreich sein.

4. Übersicht über die Beiträge Der erste der dreizehn Beiträge dieses Bandes führt uns ins späte Mittelalter zurück, als das Papsttum den Anspruch erhob, allen weltlichen Mächten, der kaiserlichen inbegriffen, übergeordnet zu sein. Zwei für Italien relevante Figuren in der damals zum Teil mit Exkommunikationen und militärischer Gewalt geführten Politik – man denke an das Attentat von Anagni (1303) – sind Aegidius Romanus und Dante Alighieri. In seinem Beitrag lädt uns Benjamin Schmid dazu ein, uns eine mögliche Diskussion zwischen diesen beiden Denkern vorzustellen. Beide sehen in der Monarchie die beste aller Staatsformen, aber während Aegidius Romanus sich als Kämpfer auf die Seite des Papsttums engagieren wird, tritt Dante als Verteidiger des Kaisers auf. Wir bewegen uns hier noch auf einer vor- und überstaatlichen Ebene, aber insofern Dante im Kaiser vor allem ein Instrument sieht, durch das die Probleme auf der italienischen Halbinsel gelöst werden können, lassen sich hier erste Spuren einer nationalen Ordnungsmacht erkennen. Ob Niccolò Machiavelli, in dessen Oeuvre eine Neuvermessung des politischen Kosmos angestellt wird, einen ausgereiften Begriff vom Staat besaß, wird in der Forschung häufig bestritten. Machiavellis Pionierleistung auf diesem Gebiet wird von Manuel Knoll und Stefano Saracino anhand des bedeutenden problem-, diskurs- und begriffsgeschichtlichen Beitrags des Florentiners zur Entstehung des Begriffs der Staatsräson veranschaulicht, der durch Giovanni Boteros Della Ragion di Stato (Venedig 1589) salonfähig gemacht wurde. Den Konflikt zwischen den Erfordernissen der Politik und jenen der Moral und Religion lösen Machiavelli und Botero völlig unterschiedlich. Machiavelli fordert einen, je nach den politischen Erfordernissen, flexiblen Umgang mit den Geboten der christlichen Moral, der jedoch insofern stets moralisch konnotiert ist, weil er an politische Kernziele (wie die Erhaltung von Sicherheit und Ordnung im Staat) gekoppelt bleibt. Botero kehrt diese Präzedenz um und deklariert religiöse Normen (conscienza, legge di Dio) zur Rechtfertigungsin-

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stanz für den unvermeidbaren Verstoß politischen Handelns gegenüber den Geboten des Rechts und der Moral. Wenn es um die Frage nach dem Beitrag Francesco Guicciardinis zur Entstehung des Begriffs der Staatsräson geht und um dessen Wurzeln im Florenz des Cinquecento, beschränkt man sich in der Forschung meistens auf die Erwähnung der Tatsache, dass der Begriff erstmals in Guicciardinis Dialogo del reggimento di Firenze (im Plural als „ragione degli stati“) aus den 1520er Jahren verwendet wird. Volker Reinhardt lotet in seinem Beitrag jenseits dieser isolierten Begriffsokkurrenz die psychopolitischen Grundlagen aus, auf denen Guicciardinis Konzeption politischer Herrschaft und politischer Ordnung gründet. Dessen rein empirisch gewonnene „neue Humankunde“ (Reinhardt), die frei von theologischen und philosophischen Prämissen sei, verfeinerte und differenzierte die politische Psychologie und Anthropologie seines Zeitgenossen Machiavelli. Der in seinem politischen Realismus kaum zu überbietende Guicciardini sah (ähnlich wie Vettori) Machiavelli als politischen Phantasten und Mythenbilder an und nicht als Begründer des politischen Realismus, für den man Machiavelli heute hält. Im Beitrag von Francesca Russo werden die Kanäle erforscht, über die Donato Giannottis einflussreiches Libro de la Republica de’ Vinitiani (Rom 1540) im Heiligen Römischen Reich rezipiert wurde. Giannottis Auseinandersetzung mit dem Paradigma der politischen Ordnung Venedigs erwuchs dabei ursprünglich aus der Krise des Republikanismus in seiner Heimatstadt Florenz. Russo rekonstruiert die Rolle, die die Kreise der florentinischen Exilrepublikaner (fuoriusciti) und ihre transalpinen Verbindungen, aber auch italienische Anhänger der Reformation (Bernardino Ochino) spielten, damit das Buch Giannottis ins Alte Reich gelangen konnte. Es wurde hier von 1557 bis 1669 in zahlreichen Editionen aufgelegt, deren von Russo analysierte Paratexte die Einbindung von Giannottis Werk in den politisch-konfessionellen Interessenshorizont der deutschen Herausgeber und Leser dokumentieren. Battista Guarini ist vielen als Autor des Pastor fido (Venedig 1590) bekannt. In seinem Beitrag geht Norbert Campagna auf das politische Denken Guarinis ein, wobei er den Versuch des Italieners diskutiert, die absolute Herrschaft der signoria mit dem Gedanken der politischen Freiheit in Einklang zu bringen. Wie seine republikanischen Widersacher, erhebt Guarini den Begriff der politischen Freiheit zum Zentralbegriff seines politischen Denkens, aber im Gegensatz zum republikanischen Denken glaubt er nicht, dass eine Republik in der Lage ist, diese Freiheit zu garantieren. Nur eine signoria kann es, aber eine signoria, in welcher es eine möglichst breite politische Partizipation gibt und in welcher ein weiser Herrscher an der Spitze steht. Aus dem Recht, sich an den politischen Geschäften zu beteiligen, wird bei Guarini eine Pflicht, es zu tun, und die Freiheit wird dabei als eine Freiheit konzipiert, im Sinne des Gemeinwohls zu arbeiten. Im Denken Guarinis, das die Grenzen zwischen den widerstreitenden monarchistischen und republikanischen Denktradi-

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tionen seiner Zeit hybridisiert, ist der Begriff der Freiheit an den Begriff des Guten gebunden. Tommaso Campanella ist vielen nur als Autor der Città del Sole (vefasst 1602, erstmals gedruckt 1623) bekannt, jener Utopie, die gewöhnlich in einem Atemzug mit Mores Utopia und Bacons New Atlantis zitiert wird. Der Dominikaner ist aber weit mehr als nur der Autor eines Buches, und die Città del Sole ist wie die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs. In seinem Beitrag versucht Norbert Campagna der Gesamtheit seines politischen Denkens gerecht zu werden, indem er dieses an einer einheitlichen Problematik festmacht. Campanella, so die These, ist der Theoretiker der Rückkehr des einst verlorenen Goldenen Zeitalters und der mit diesem Zeitalter einhergehenden Einheit der Menschheit. Welche Rolle auch immer Gott und die göttliche Vorsehung bei der Rückkehr dieses Goldenen Zeitalters spielen mögen, so müssen die Menschen doch auch das ihre dazu beitragen. Den Papst sieht Campanella als Obersten Herrscher eines christlichen Weltstaates. Da der Papst aber nicht über die materiellen Mittel verfügt, um diesen Weltstaat herbeizuführen, müssen Nationalstaaten – Campanella erwähnt zunächst Spanien, dann Frankreich – zum Instrument der Vereinheitlichung werden. Stefano Saracino beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der in ihrer Zeit überaus erfolgreichen und einflussreichen Satire Traiano Boccalinis Ragguagli di Parnaso (1612/13). Schon allein die Tatsache, dass sich in diesem Werk die satirische Nemesis gegen den Staat und die Mentalität seines Personals richtet, ist für die Frage nach dem Staatsdenken und seiner Entfaltung im frühneuzeitlichen Italien von Belang. Zudem wird anhand der Themenkomplexe der Machiavelli-Rezeption, des Tacitismus und des Begriffs der Staatsräson, die in Boccalinis Denken (auch jenseits seiner Satire) präsent sind, die Position dieses wenig beachteten Autors bestimmt. Boccalinis Satire, die in zahlreichen Folgeeditionen in Italien und in ganz Europa verfügbar war und auch außerhalb des engen Kreises der Gelehrten rezipiert wurde, war ein Katalysator für die Ausbreitung von auf den Staat bezogenen Semantiken und Denkfiguren. In seinem Beitrag gibt Stefano Biancu einen verständlichen Einblick in das nicht immer leicht verständliche barocke Denken Vicos, wobei Vicos Gedanken über den Staat im Mittelpunkt stehen. Diese Gedanken entfalten sich aber im Rahmen eines Gesamtkonzepts, das seinen Ausdruck in der Scienza Nuova findet, jenem Buch, durch das Vico eine neue Wissenschaft der Geschichte begründen wollte. Im Rahmen dieser neuen Wissenschaft entwickelt Vico ein dreistufiges Modell der Abfolge der Regierungsformen: zunächst glauben die Völker, dass sie von Göttern regiert werden, dann folgen aristokratische Regierungsformen, die dann in der dritten Epoche den Volksherrschaften und Monarchien Platz machen. Für Vico spielt der Staat eine zentrale Rolle in der Entwicklung der Menschheit. Dass er seinen Ursprung in der Bedürfnisnatur des Menschen hat, soll uns nicht den Blick darauf versperren,

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dass er, wie andere menschliche Institutionen, ein Instrument zur Vervollkommnung des Menschen ist. Im Jahre 2014 feierte man in ganz Europa das 250. Erscheinungsjahr von Beccarias Dei delitti e delle pene. Mit diesem kleinen Traktat hat der junge Mailänder marchese und Jurist sowohl eine der einflussreichsten als auch meist diskutierten strafrechtlichen Schriften aller Zeiten verfasst. In seinem Beitrag zeigt Alberto Bondolfi, wie die theologischen Kreise auf Beccarias Schrift reagierten. Der Mönch Ferdinando Facchinei verfasst die erste Widerlegung, bevor dann der Jesuit Lazzari, im Auftrag Roms, die Akte zusammenstellt, die zur Verurteilung und Indexierung der Schrift führen sollte. Aus theologischer Sicht sind sowohl die kontraktualistischen Prämissen als auch die Bewertung der Verbrechen problematisch. Während Beccaria eine politische Gemeinschaft konzipiert, in welcher die politische Autorität dem Konsens aller Mitglieder entspringt und in welcher Verbrechen nur noch in ihrer weltlichen Dimension betrachtet werden, gehen seine Gegner davon aus, dass die politische Autorität göttlichen Ursprungs ist und dass Verbrechen gegen Gott die schlimmsten sind und entsprechend vom Staat geahndet werden müssen. Wie Bondolfi überzeugend nachweist, sind die damals aufgeworfenen Fragen zur Folter und Todesstrafe immer noch aktuell – ja angesichts rezenter Entwicklungen in der Türkei und Amerika, könnte man hinzufügen, aktueller denn je. In seinem Beitrag über Antonio Rosmini (1797-1855) zeigt Markus Krienke, wie der Vordenker eines Liberalkatholizismus die Ideale der Freiheit und der Gerechtigkeit miteinander in Einklang zu bringen versuchte. Dabei wird der Zivilgesellschaft eine bedeutende Rolle zugewiesen. Es ist dies eine vom Staat unabhängige Sphäre, in welcher die Menschen ihr Handeln selbstverantwortlich regeln. Es soll allerdings nicht eine Sphäre des wilden Individualismus sein, sondern in ihr soll vielmehr die menschliche Person sich frei entfalten können, die Rosmini als letzten normativen irdischen Bezugspunkt – eingebettet, selbstverständlich, in ein normatives katholisches Weltbild, an dessen höchster Spitze Gott steht – nimmt. Eingebettet in der Familie und der religiösen Gemeinschaft, erlebt das Individuum sich als relationale Person. Mit Tocqueville, dessen Werk er kannte, ist Rosmini gewiss einer jener Denker der Politik, die es heute lohnt, wiederzuentdecken. Mit Errico Malatesta hat Italien der anarchistischen Bewegung nicht nur einen ihrer größten Aktivisten, sondern auch einen ihrer interessantesten Theoretiker geliefert. In seinem Beitrag geht Norbert Campagna auf einige der Grundideen Malatestas ein. Im Gegensatz zum Marxismus – der den Staat zumindest noch in einer Übergangsphase für notwendig hält – und zum Liberalismus – vom Konservatismus nicht zu sprechen – behauptet der Anarchismus, dass eine menschliche Gesellschaft auch ohne staatliche Autorität funktionieren kann. Malatesta verlangt von den Staaten seiner Zeit, dass sie die Anarchisten ihr Leben so führen lassen sollen, wie sie es für richtig halten und dass sie sich auch der Verbreitung der anarchistischen Ideen nicht

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widersetzen. Dabei stellt sich für ihn einerseits die Frage, ob diese Forderung, wenn der Staat ihr nicht nachkommt, mittels Gewalt durchgesetzt werden kann, und andererseits die Frage, ob und inwiefern die Anarchisten sich an politischen Wahlen beteiligen dürfen, um zumindest eine partielle Kontrolle über jenen Staat zu erlangen, der sie nicht frei ihr Leben führen lässt. Martin Beckstein setzt sich mit dem Versuch Giovanni Gentiles auseinander, das Regime Mussolinis philosophisch zu rechtfertigen. Im Gegensatz zu einer gängigen Leseweise, wonach dieser Rechtfertigungsversuch auf einem idealistischen und idealtheoretischen Fundament ruhe, bemüht sich Beckstein um eine andere Interpretation. Es sei eine Entfremdung oder Deformation der schon früher entwickelten aktualistischen Theorie Gentiles nötig gewesen, die von der idealistischen Philosophie inspiriert wurde und eigentlich auf dem Wert der individuellen Autonomie gründete, die das philosophische Rüstzeug zur Verfügung stellte, um ab den 1920er Jahren das faschistische Konzept des totalen Staates zu unterstützten. Dieser Schritt sei in dessen aktualistischem Staatsdenken nicht angezeigt gewesen, sondern willentlich erzwungen worden, wobei die These diskutiert wird, ob realistische Erwägungen zum faschistischen System als (aus seiner Sicht) am wenigsten schlechte Staatsform bei Gentile im Spiel gewesen sein könnten. Der politische Realismus hat in Italien lange Tradition; eine Tradition, die nicht nur über die Rezeption Machiavellis auch außerhalb Italiens ihren Einfluss auf das politische Denken ausgeübt hat. Pierpaolo Portinaro spürt in seinem Beitrag den Epigonen dieser Denkrichtung ab 1900 bis in die Gegenwart anhand des politischen Elitismus nach, also der Verfechter einer Auffassung, wonach Politik stets von Eliten gemacht wird, die um die Macht kämpfen. Von den „klassischen“ Ausformungen dieser Denkrichtung durch Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto ausgehend diskutiert Portinaro, inwiefern der politische Realismus als eine Klammer des zeitgenössischen politischen Denkens in Italien zu begreifen ist und wie er seinen Niederschlag in den – in sich divergierenden – Werken von liberalen Philosophen wie Norberto Bobbio, empirischen Politikwissenschaftlern wie Giovanni Sartori, linksgerichteten Politiktheoretikern wie Toni Negri und Danilo Zolo oder Althistorikern wie Luciano Canfora gefunden hat.

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Teil 1: Von den Anfängen der Renaissance bis zur Generation Machiavellis

Benjamin Schmid Aegidius Romanus und Dante Alighieri. Anmerkungen zu monarchischen Denkfiguren in ihren Werken und deren Bezug zur politischen Realität Italiens

Einleitung Begleitet von Dante Alighieri (1265-1321) ist man ein gern gesehener Gast. Regelmäßig ergehen Einladungen, sich mit ihm und seinem Werk zu befassen.1 Als Gesprächspartner droht Dante dabei jedoch zu enttäuschen und die Konversation mit ihm rasch zu einem Erliegen zu kommen. Denn wahrhaftig Neues ist von ihm nur schwerlich zu erfahren. Man wähnt, dass der Jenseitswanderer bereits alles gesagt hat, mit ihm bereits alles besprochen wurde. Selbst für die Commedia, sein „notorisch der Kommentierung bedürftige[s] Großgedicht“,2 könnte dies gelten. Als beschwerlich erweist sich auch der Austausch mit Dantes rund zwanzig Jahre älterem Landsmann Aegidius Romanus (1243-1316). Nicht allein sein nüchtern scholastisches Latein vergällt die Unterredung3, auch die bislang nur eingeschränkt erfolgte Erschließung seiner Werke fördern den Gesprächsfluss nur bedingt.4 Erschwernisse, die auch durch das mühevolle Bestreben, sein politisches Denken in 1 Zuletzt sprach etwa Kurt Flasch die Einladung Dante zu lesen aus (Flasch 2012). Ossip Mandelstam führte bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein Gespräch über Dante (Mandelstam 1994, S. 113-175). Karlheinz Stierle schließt seine jüngst erschienene Dante-Monographie mit dem Versprechen, dass die Lektüre Dantes „auch heute noch und immer wieder neu zu einer Reise anderer Art für seine Leser werden, einer Reise, die diese bis an die Grenzen des Vorstellbaren führt, sie aber auch unvergessliche Gestalten und Gesten menschlicher Größe und Niedertracht erfahren lässt“ (Stierle 2014, S. 222) und Ruedi Imbach lädt in der Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Ausgabe der philosophischen Werke des Dichters dazu ein, einen anderen Dante kennenzulernen (Imbach 2015, S. VII-XXXVIII [VII]). In diesem Zusammenhang stellt auch Henning Ottmann den Dichter in seiner Geschichte des politischen Denkens vor; nicht ohne darauf hinzuweisen, dass es einer barbarische Kürzung gleichkomme, Dante auf seine Aussagen zur Politik zu reduzieren (Ottmann 2004, S. 232). 2 Schwarz 2009, S. 7. 3 Wilhelm Berges etwa moniert die „langweilige Abstraktheit seiner Sätze“ (Berges 1952, S. 121) und auch Richard Scholz konstatiert, dass „überhaupt der Stil [des Aegidius, B.S.] zu wünschen übrigläßt“ (Scholz, 1961, S. XI). Auch Dante ist dieser Duktus nicht fremd. Fern der sprachgewaltigen Commedia macht er von diesem präzisen, aber sachlichen Ton in der Monarchia Gebrauch. Dahingestellt bleibt freilich, ob man dem Urteil von Berges und Scholz beipflichtet. 4 Eine kritische Edition seines Gesamtwerks liegt ebenso wenig vor, wie deutsche Übersetzungen von De regimine principum oder De ecclesiastica potestate. Wenigstens letztere Schrift ist durch die Übersetzung ins Englische einem breiteren Publikum zugänglich. De regimine principum hingegen liegt übersetzt lediglich in Auszügen vor. So finden sich zum Beispiel zwei Kapitel

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einen systematischen Zusammenhang zu bringen, um so die Diskrepanz zwischen den beiden politischen Hauptschriften des Augustinereremiten aufzulösen, kaum Entlastung erfahren. Denn während Aegidius in seinem Fürstenspiegel De regimine principum noch die Vorzüge des Königtums preist, schwenkt er im Traktat De ecclesiastica potestate über zu einer dem Papsttum gegenüber verpflichteten Argumentation. Eine Veränderung in seinem Schrifttum, die zu Nachfragen und Spekulationen anregt und für die man nur allzu gerne eine Erklärung liefern möchte. Doch Aegidius hüllt sich in Schweigen. Über das Verhältnis von regnum und sacerdotium erfährt man im Fürstenspiegel praktisch nichts, da die Kirche in ihm nicht näher behandelt wird. Über das Verhältnis von regnum und sacerdotium erfährt man aber auch in De ecclesiastica potestate insofern nichts, als dass hier die weltliche Gewalt nahezu aus dem Blick des Autoren verschwindet.5 Eine hiermit vergleichbare Widersprüchlichkeit findet sich im Schrifttum Dante Alighieris nicht. Für das Kaisertum und dessen vom Papsttum unabhängigen Stellung tritt er im Stile unterschiedlich, doch in der Absicht identisch im Convivio und der Monarchia ebenso ein wie in der Commedia. Im Folgenden kann lediglich der Versuch unternommen werden, das Gespräch durch die Begegnung der beiden Denker wieder zu beleben.6 Von einer Schilderung der Gesprächssituation ausgehend werden monarchische Denkfiguren in den Werken von Aegidius Romanus und Dante Alighieri präsentiert und mit Blick auf die Wahrnehmung Italiens sowie der weltlichen und geistlichen Gewalt skizziert.

1. Tischgespräch mit Aegidius und Dante Unterschiedlicher könnten die Tischgesellschaften nicht sein. Hier die Tafel am Hofe des Königs, an der Aegidius’ Ratschlag Folge geleistet und dessen Fürstenspiegel verlesen wird.7 Dort das Gastmahl Dante Alighieris, beschränkt nicht mehr nur auf die Mitglieder der Hoftafel, sondern verstanden als ein für die Menge ausgerichtetes Mahl.8 Mit seiner Gästeliste demokratisiere Dante dabei das philosophische Denken. Denn ihm seien all jene willkommen, die bislang aufgrund von „Sorge um die Familie und um die Gemeinschaft“ von der Philosophie Abstand halten mussten und daher dem naturgemäßen Wunsch aller Menschen nach Wissen nicht nachgehen konn-

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des Fürstenspiegels abgedruckt in Giles of Rome 2000, S. 149-152. Auszüge aus De regimine principum in Englischer Sprache sind abgedruckt ferner in Lewis 1954. Einen Einblick in die Forschung zu Aegidius Romanus geben Homann 2004, S. 13-16 und Krüger 2007, S. 4-5. Miethke 2008a, S. 96. Miethke 2008b, S. 77-111 [96]. Ottmann 2004, S. 228. Fenske/Mertens/ Reinhard/Rosen 2001, S. 216. Koch 2010, S. 13-15 [14]. Berges 1952, S. 216-217. Dyson 2004, S. xi-xxxiv [xi]. Das Dante mit Aegidius’ Werk, zumindest mit De regimene principum, vertraut war, belegt Dante Alighieri 2004, IV,24,9, S. 175. Aegidius Romanus 1968, II,3,20, S. 236r. Berges 1952, S. 223. Cheneval 1998, S. 352-380 [353].

ten.9 Folgt man jedoch den weiteren Ausführungen des Dichters, erweist sich die Behauptung, dass Dante das Denken demokratisiert habe, als zu hoch gegriffen. Dante denkt an die Edelleute, nicht an die breite Masse. Er denkt an Prinzen, Grafen und Ritter, die er an seiner Tafel bewirten möchte.10 Und dennoch verringert Dante den Abstand der Menge zur Philosophie durch die Verwendung der Volkssprache erheblich. Anstelle des scholastischen Lateins, dessen sich Aegidius in De regimine principum bediente und das er als idioma philosophicum titulierte,11 anstelle auch der als Sprachen der Weisheit ausgewiesenen, Hebräisch, Chaldäisch, Griechisch und Aramäisch, deren Kenntnis noch Roger Bacon in seinem Compendium studii philosophiae als unverzichtbar für die Beschäftigung mit der Philosophie nannte,12 macht Dante vom Italienischen Gebrauch, dessen Loblied er auch in De vulgari eloquentia anstimmt und ihm sogar den Vorrang vor dem Lateinischen einräumt.13 Latein sei zwar eine die Zeit überdauernde Sprache, während die Volkssprache einem beständigen Wandel unterzogen sei,14 aber Latein werde nur von den Gelehrten verstanden, könne der Belehrung der Vielen somit nicht dienlich sein.15 Weit geht Dante hierin über den Anspruch des Aegidius hinaus, der De regimine principum zwar ebenfalls einem jedem zur Lektüre empfiehlt, diese Empfehlung in seinem auf Latein verfassten Werk aber mit einer anderen Absicht ausspricht. Nicht wegen des Anspruchs aller Menschen nach Wissen ergeht sein Ratschlag, sondern damit ein jeder seinen Platz innerhalb der Fürstenherrschaft kenne.16 Der Mensch ist

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Dante Alighieri 1996, I,1,4, S. 3-5. Zum Streben des Menschen nach Wissen: ebd. I,1,1, S. 3 und Aristoteles 2000, 980a, S. 17. Ottmann 2004, S. 234. Cheneval 1996, S. XI-CV [LI-LVI]. Cheneval 1998, S. 325-380 [354-355]. Aus der Gruppe derer, die nach Wissen streben ausgenommen sind jedoch all jene, die nur um des Geldes oder des Ansehens willen studieren: Juristen, Ärzte und beinahe alle Ordensleute (Dante Alighieri 1998, III,11,10, S. 79). Dante Alighieri 1996, I,11,5, S. 45. Über die Befähigung der Volksmenge zum philosophischen Denken weiß Dante nichts positives zu berichten (Dante Alighieri 1996, I,11,6, S. 55). Cheneval 1996, S. XI-CV [XXXVIII-XL]. Aegidius Romanus 1968, II,2,7, S. 180r. Wobei es bereits im Mittelalter zu einer Vielzahl an volkssprachlichen Übersetzungen seines Fürstenspiegels kam. Vgl. die Auflistung bei Berges 1952, S. 321-328. Bacon 2015, VI,83, S. 63. Die Belehrung der Menge wies Roger Bacon entschieden zurück. In seinem Kompendium notiert der Franziskaner: „Aber die Meinung der Menge ist am schädlichsten. Denn schon seit dem Beginn der Welt war die [Meinung der] Menge von der Meinung der Heiligen, der Philosophen und der anderen Weisen geschieden und alle Weisen haben die Wege der Menge schon immer verachtet. Sie haben ihr nie die Geheimnisse der Weisheit mitgeteilt, weil die Menge sie nicht verstehen kann, […]. Denn die Perlen der Weisheit dürfen nicht vor die Schweine geworfen werden […]“ (Bacon 2015, III,52, S. 42). Dante Alighieri 2007, I,3-4, S. 3-5. Hingegen wertet Roger Bacon Latein nicht als Fremdsprache, sondern als eine Englisch und Französisch gleichende Muttersprache (Bacon 2015, VI,83, S. 63). Hierzu Imbach/Rosier-Catach 2007, S. VII-XXXIII [X-XIV]. Dante Alighieri 1996, I,5,7, S. 25. Ebenda, I,7,12, S. 37. Aegidius Romanus 1968, I,1,1, S. 2r-3v und II,3,20, S. 236r. Miethke 2008b, S. 77-111 [95].

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damit nicht als Aktiver, nach Wissen Suchender ausgewiesen, sondern als Passiver, Wissen lediglich Empfangender. Dieser Divergenz zum Trotz ähneln sich Aegidius und Dante in ihrer Selbstpositionierung als Erkenntnis Vermittelnde. Ein monarchischer Wesenszug in ihren Denkansätzen zeichnet damit beide gleichermaßen aus. Der Augustinereremit versteht sich als Lehrmeister der Könige und aller innerhalb der Königreiche. Die Pluralität monarchisch strukturierter politischer Ordnungsformen bei Aegidius wird durch die Verwendung des Lateinischen ebenso wie durch die Ansprache an jedermann um einen universellen Anspruch erweitert. Mit seinen Ratschlägen bezieht sich Aegidius damit nicht allein auf die Erfordernisse der Krone Frankreichs, an die er seinen Fürstenspiegel richtet,17 sondern offeriert universell gültige Lehren insofern, als sein Denken für jedermann gedacht ist und von jedermann verstanden werden kann, wenn er nur Latein spricht. Demgegenüber entwirft Dante, der Verfechter einer universellen Monarchie, einen lokal begrenzten monarchischen Denkansatz. Monarchisch ist er, da sich der Dichter Dante innerhalb der nach Wissen Suchenden selbst in den Rang ihres Fürsten erhebt. Es ist sein Gastmahl, seine Tafel, die er bereitet hat. „Im höfischen Kontext der Adressaten Dantes ist dies zunächst eine Anlehnung an das vom freigiebigen Fürsten veranstaltete Gastmahl am Hof.“18 Dantes Gastmahl stellt indes keinen Ersatz der höfischen Tafel dar, sondern ist als deren Ergänzung zu verstehen. Denn Dante begreift den Wissenden nicht als personifizierte Vereinigung politischer Macht und philosophischer Erkenntnis. Er begreift ihn als unverzichtbaren Berater der weltlichen Gewalt, die ohne die Beratung des Philosophen nicht nur schwach, sondern auch gefährlich sei.19 Lokal begrenzt ist Dantes Ansatz dabei, als dass sein Blick auf Italien bezogen bleibt. Auch wenn Dante nicht allein die Machthaber unterweisen möchte, gelten seine mahnenden Worte doch nur jenen, die sich Italiens bemächtigt haben.20 Lokal begrenzt ist Dantes Ansatz ferner durch den Gebrauch der Volkssprache. Das Italienische ersetzt das nur von den wenigen Gelehrten beherrschte Latein. Aber nicht nur ein lokal begrenzter, sondern auch ein monarchischer Zug ist hier erkennbar, da Dante das Italienische als richtungsweisend und königlich benennt.21 Während Dante somit alle Menschen belehren will und dabei doch auf Italien beschränkt bleibt, erscheint es bislang, als habe Aegidius Romanus Italien, trotz seines Beinamens, nahezu vergessen.

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Aegidius Romanus 1968, I,1,1, S. 1v. Cheneval 1996, S. XI-CV [XXXVIII-XLI]. Cheneval 1998, S. 352-380 [353-354]. Dante Alighieri 2004, IV,6,6-20, S. 45-51. Ottmann 2004, S. 236. Dante Alighieri 2004, IV,6,20, S. 51. Dante Alighieri 2007, XIX,1-3, S. 65.

2. Über die Monarchie in Aegidius Romanus’ Fürstenspiegel Aegidius schreibt für den französischen Kronprinzen und späteren König Philipp IV. (genannt der Schöne), widmet ihm De regimine principum22 und verortet sich und sein Denken an die Tafel seines Hofes. Man ist leicht versucht zu meinen, er habe Italien, sein Heimatland, hinter sich gelassen, versuche nun „die noch junge französische Territorialgewalt zu stützen“,23 habe sich gar „mit Leib und Seele dem französischen Königsgedanken verschrieben“.24 Doch erweist sich dieses Urteil über den Augustinereremiten als zu vorschnell. Weder will er nichts von seinem Heimatland wissen, noch ist dem doctor fundatissimus weitergehend der Vorwurf zu machen, er habe kein Verständnis für die politische Praxis gehabt.25 Die politische Praxis begegnet dem Leser nur selten in seinem überwiegend den Ausführungen des Aristoteles folgendem Fürstenspiegel, aber sie begegnet. Und sie begegnet auch in Bezug auf Italien. In der Auseinandersetzung mit dem Verfassungsschema des Aristoteles im zweiten Teil des dritten Buchs von De regimine principum nimmt Aegidius Bezug auf die italienischen Kommunen seiner Zeit.26 Zuvor benennt er, hierin dem Philosophen gewissenhaft folgend, die Regierungsformen der Monarchie und Aristokratie wie deren negative Ausformungen Tyrannis und Oligarchie. Etwas ausführlicher präsentiert Aegidius dann die Herrschaft der Vielen und dies zudem unter Bezugnahme auf die politischen Ordnungsformen Italiens. Dort, in den Städten der Apennin-Halbinsel, sei ein Beispiel für die dritte Form politischer Verfasstheit zu finden, würden diese doch von den Vielen, dem ganzen Volk (totus populus) beherrscht.27 Populus könne in dieser Passage, so die Auslegung von Ulrich Meier, „getrost mit popolo, der korporativ verfaßten Bürgerschaft der italienischen Kommunen dieser Zeit, [wiedergegeben werden].“28 Denn Aegidius verweise im Text auf typische Elemente der städtischen Gemeinschaften Italiens: Er führt Wahl und Zurechtweisung der potestates durch das Volk an, weist darauf hin, dass das Volk fernerhin Gesetze erlassen könne, die für diese bindende Wirkung haben, und weist schließlich das Wohl der Armen, Mittleren und Reichen als Ziel

22 Aegidius Romanus 1968, I,1,1, S. 1v. Auf Philipp den Schönen kommt auch Dante zu sprechen, jedoch nur kurz und auch weiß er nicht wirklich Gutes über ihn zu berichten (Dante Alighieri 2006, Par. XIX,118-120, S. 340). Verklausuliert begegnet er auch in der Gestalt des Riesen in ebd. Pur. XXXII,148-153, S. 261. 23 Koch 2010, S. 13-15 [14]. 24 Berges 1952, S. 121. 25 Ebenda, S. 121. 26 Aegidius Romanus 1968, III,2,2, S. 268r-269v. 27 Ebenda, III,2,2, S. 268r-269v. 28 Meier 1994, S. 117. Ein Missverständnis jedoch wäre es die politische Realität als Volksherrschaft zu verstehen. Das Wesen des politischen Systems im Florenz Dantes umschreibt beispielsweise Azzaro 2016, S. 44-47 vielmehr als ein oligarchisches, in dem die Magnaten (popolo grasso) der Masse an Handwerkern oder Kleinhändlern (popolo minuto) gegenüberstand.

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dieser Verfassung aus, die Politia genannt werden könne, besser aber als gubernatio populi bezeichnet werde.29 Lässt sich bei Aegidius Romanus, gleichwohl er gemeinhin als Verfechter eines „energischen und strukturellen Monarchismus“ ausgewiesen wird,30 hiermit eine Präferenz oder wenigstens eine wohlwollende Haltung gegenüber einer anders strukturierten politischen Ordnungsform herauslesen? Eine Ordnung, die nicht mehr nur an der Tafel des Königs verlesen wird, sondern an der die gesamte Bürgerschaft zur Mitsprache aufgerufen ist? Aegidius könnte hierin beeinflusst worden sein nicht allein durch die Wahrnehmung der politischen Lage Italiens, sondern womöglich auch durch seinen Lehrer Thomas von Aquin. Über die Beteiligung der Menge an der Politik hatte sich der Aquinate insbesondere in seiner Auseinandersetzung mit der Mischverfassung im Kommentar zur Politik des Aristoteles, der Summa Theologiae und einer kurzen Sequenz seines Fürstenspiegels De regno ad regem Cypri geäußert.31 Ob man bei Aegidius indes ein Echo der Worte seines einstigen Lehrers zu vernehmen mag, muss zumindest fraglich bleiben. Zwar weiß auch Thomas vom Einfluss des Volkes auf die Politik zu berichten, doch gebraucht er hierfür ein anderes Vokabular; spricht nicht von gubernatio populi, sondern von regimen mixtum, nicht von totus populus und orientiert sich in seinen Abwägungen weniger an den italienischen Verhältnissen als an der römischen Geschichte, insbesondere aber an der Heiligen Schrift.32 Schließlich argumentiert der Aquinate auch nicht dahingehend, dass ein Ausgleich zwischen Armen, Mittleren und Reichen zu suchen sei. Diesem ökonomisch angelegten Argument, für Aristoteles und in seiner Nachfolge auch für Aegidius bedeutsam,33 begegnet man bei Thomas nicht. Der Dominikaner hebt stattdessen hervor, dass Beteiligung an der Herrschaft ein Gleichgewicht der Kräfte her-

29 Aegidius Romanus 1968, III,2,2, S. 269v. Meier 1994, S. 117-118. 30 Miethke 2008a, S. 96. Zur Idealisierung der Monarchie bei Aegidius ferner auch Berges 1952, S. 216. Fenske/Mertens/Reinhard/Rosen 2001, S. 216-217. Koch 2010, S. 13-15 [14]. Diese Wertung gilt für den weltlichen wie für den geistlichen Bereich, wie Aegidius’ Ausführungen zur plenitudo potestatis des Papstes deutlich machen (Giles of Rome 2004, III,9, S. 360-371. Krüger 2007, S. 176-208). 31 Thomas von Aquin 1971, A 145. Thomas von Aquin 1977, I-II,95,4, S. 106; I-II,97,1, S. 132; III,105,1, S. 422-423. Thomas von Aquin 2004, I,4, S. 18-19. Vgl. hierzu etwa Schmid 2014, S. 51-71 [60-61]. 32 Vom republikanischen Rom spricht Thomas in De regno ad regem Cypri. Aber nicht in wohlmeinender Absicht, sondern um auf die Gefahr der Uneinigkeit hinzuweisen (Thomas von Aquin 2004, I,4, S. 18-19. Schmid 2014, S. 51-71 [61]). In der Summa Theologiae zieht Thomas etwa Deuteronomium und Exodus zu Rate (Thomas von Aquin 1977, I-II,105,1, S. 421-426). 33 Aristoteles 2003, IV,11,1295a-1296b, S. 224-228. Ein Vorläufer für Aegidius’ Argumentationsmuster kann im Schrifttum des Albertus Magnus gesehen werden. Im Kommentar zur Nikomachischen Ethik und dem Augsburger Predigtzyklus entwirft Albert eine gemischte Verfassung aus Monarchie, Aristokratie und Timokratie (Albertus Magnus 1891, VIII,3,2, S. 539-542. Albertus Magnus 1969, S. 105-147 [111]).

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stellen könne, das die Gefahr von Aufständen mindere.34 Machtkalkül nimmt bei Thomas somit den Platz sozio-ökonomischen Ausgleichs ein.35 Allerdings argumentiert auch Aegidius nicht ausschließlich mit Blick auf diesen Ausgleich. Sein Argument analysiert die Gegebenheiten auch anhand von Standeskategorien: Arme, Mittlere und Reiche sind an der Politik beteiligt. Doch ergänzt und relativiert wird die ökonomische Kategorisierung der Bevölkerung durch ihre jeweilige Standeszugehörigkeit.36 Anders als für Aristoteles geht es dem Augustinereremiten daher weniger um sozialen Ausgleich, als um die Berücksichtigung und Wahrung der sozialen Ordnung seiner Zeit. Fern der Frage, von wem Aegidius im Aufbau seiner Beweisführung beeinflusst wurde, ist in der Reminiszenz an die italienischen Verhältnisse keine darüber hinausgehende Fürsprache zu Gunsten der Beteiligung der Volksmenge an der Politik zu erkennen. Unangefochten ist für Aegidius die Monarchie die beste denkbare Form politischer Ordnung. Eine ernsthafte Option stellt die Beteiligung des Volkes demgemäß nicht dar.37 Der Vorzug der Monarchie vor den beiden anderen positiv bewerteten Formen innerhalb der aristotelischen Verfassungsschematik gipfelt in Aegidius’ Gleichsetzung des Königs mit Gott, wie sie im Diktum princeps quasi semideus ersichtlich wird.38 Implizit entwirft Aegidius mit diesem Argument einen bipolaren Monarchismus, da der Monarch, Fürst oder König – nicht der Kaiser, von dem bei Aegidius keine Rede ist! – auf eine Stufe gestellt wird, die für den Papst als Stellvertreter Gottes vorgesehen war. Dieser bipolare Monarchismus ist indes nur schwach ausgeprägt, da Aegidius weder auf die Rolle der Kirche noch auf die Rolle des Papstes in De regimine principum explizit zu sprechen kommt. Der bipolare Monarchismus ist ferner nur schwach ausgeprägt, weil er in De ecclesiastica potestate wieder auf einen monopolaren zurückgeführt wird, indem Aegidius dem Papst die plenitudo potestatis zuweist und nun den vicarius Christi mit Gott vergleicht, ihn als imitator Dei bezeichnet.39 Die Betrachtung der Monarchie als bevorzugte Form politischer Ordnung erfährt in De regimine principum eine auf mehreren Säulen ruhende Begründung, die in Aristoteles ihren namhaftesten, aber nicht einzigen Zeugen aufzurufen weiß. Im dritten Kapitel des zweiten Teils des dritten Buches führt Aegidius den Nachweis, dass die Herrschaft über eine Stadt und ein Reich (civitas et regnum) besser von einem als von vielen übernommen wird, weswegen die Monarchie den fünf anderen von

34 Thomas von Aquin 1971, A 145. Schmid 2014, S. 51-71 [60-61]. 35 Hierauf verweist zwar auch Aristoteles, doch ist dieser Argumentationsstrang für ihn nur von nachgeordneter Bedeutung (Aristoteles 2003, V,8,1308b, S. 269-270. Schmid 2014, S. 51-71 [61]). 36 Aegidius Romanus 1968, III,2,2, S. 269v. 37 Fenske/Mertens/Reinhard/Rosen 2001, S. 216. Koch 2010, S. 13-15 [14]. 38 Aegidius Romanus 1968, II,2,8, S. 184v und III,2,32, S. 321r. 39 Giles of Rome 2004, III,9, S. 360-371. Krüger 2007, S. 176-208.

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Aristoteles genannten Verfassungsformen überlegen sei. Denn Herrschaft, die nur von einem ausgeübt werde, könne Frieden und Eintracht besser herstellen, als Herrschaft durch viele.40 Ferner sei eine Kraft auch umso größer, je mehr Menschen sich unter der Führung eines Alleinherrschers vereinten. Dies lehre die Natur, in der man beobachten könne, dass alles auf ein anleitendes Prinzip zurückgeführt werden könne und nicht zuletzt lehre dies auch die Erfahrung.41 Die beiden zuletzt genannten Punkte greift Aegidius in De regimine principum wiederholt auf. Die aus der Natur zu ziehenden Lehren etwa spiegeln sich bereits im Aufbau des Werkes wider. Die drei Bücher des Fürstenspiegels erweitern den Blickwinkel der Untersuchung sukzessive vom einzelnen Menschen in Buch I, über die Familie in Buch II, hin zur Betrachtung des Gemeinwesens in Buch III. Wie im einzelnen Menschen der Intellekt als leitendes Element identifiziert werden könne, so kennen auch die Familie, die Stadt und das Reich je einen Leiter.42 Auf die aus der Erfahrung zu gewinnende Erkenntnis weist Aegidius etwa in jenem Kapitel hin, in dem er die Frage beantwortet, ob es für die Bestimmung eines Königs oder Fürsten besser sei, dem Grundsatz der Erbfolge oder der Wahl zu folgen. Der Augustinereremit wendet dabei zunächst ein, dass die Übertragung von Herrschaft mittels der Erbfolge dahingehend Unsicherheit mit sich bringen könne, dass die Eignung des Thronfolgers nicht gewährleistet sei.43 Doch führt er in der Folge eine dreifache Begründung dafür an, dass die Erbmonarchie der Wahlmonarchie überlegen sei und scheut dabei auch nicht davor zurück, Aristoteles in seinem Sinne als einen Apologeten der Erbmonarchie zu interpretieren.44 Zuerst meint Aegidius, dass sich der Monarch nicht allein um sich, sondern auch um seine ihm nach-

40 Aegidius Romanus 1968, III,2,3, S. 269r-270v. Das durch Marsilius von Padua angeführte Argument, wonach eine Regierung immer schon eins ist, wenn sie nur in sich geschlossen auftritt, gleichviel wie groß die Zahl der an ihr Beteiligten ist, wird von Aegidius nicht diskutiert (Marsilius von Padua 1958, XVII, § 2, S. 205-207). Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf Bartolus von Saxoferrato. Seiner Ansicht nach sei nicht in der Monarchie, sondern erst im von ihm so bezeichneten „regimen ad populum“ Frieden und Einheit vollkommen verwirklicht, wie am Beispiel seiner Heimatstadt Perugia zu erkennen sei (Bartolus von Saxoferrato 1983, S. 147-170 [163]. Vgl. Walther 1992, S. 111-126 [120]). Noch einen Schritt weiter ging Niccolò Machiavelli, für den ein gewisses Maß an Uneinigkeit und innerer Konflikte unverzichtbare Bestandteile des Staates sein müssen, da sie, wie die römische Geschichte zeige, der Garant für Freiheit und Macht im Gemeinwesen seien (Machiavelli 2007, I,4, S. 17-19.). Zur Rolle des Streits bei Machiavelli Saracino 2010. 41 Aegidius Romanus 1968, III,2,3, S. 270v-r. In vielem ähnelt die von Aegidius hier vorgetragene Argumentation überdies der seines Lehrers Thomas von Aquin. Vgl. hierzu etwa Thomas von Aquin 2004, I,2-5, S. 10-21. 42 Aegidius Romanus 1968, I,1,3, S. 6v. 43 Ebenda, III,2,5, S. 272r. 44 Derart gedeutet wird Aristoteles nicht allein von Aegidius Romanus. Vergleichbar mit seiner Auslegung sind auch die Erläuterungen des Petrus von Alvernia zur Politik des Aristoteles (Petrus von Alvernia 1992,III,17, S. 169-227 [216]. Flüeler 1992, S. 122-126). Wider die Praxis der Erbfolge argumentiert hingegen Marsilius von Padua 1958, IX, § 4-9, S. 81-89, der sich hierin ebenfalls auf die Autorität des Aristoteles beruft.

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folgenden Söhne sorge. Somit verschmelze in einer Erbmonarchie das Gemeinwohl mit dem Partikularinteresse des Herrschers.45 Zweitens seien die als Erben auserkorenen Söhne für ihre Aufgabe besser vorbereitet als jene, die erst infolge des Ausganges einer Wahl mit den Erfordernissen eines Amtes konfrontiert würden.46 Und drittens führt Aegidius an, dass es dem Volk zur zweiten Natur werde, nach den Vätern auch den Söhnen zu folgen. Die mit dem Akt der Wahl verbundene Gefahr des Streits unter den Wählern sei demnach ausgeschlossen.47 Und so lautet Aegidius’ Urteil denn auch, dass die Wahlmonarchie an sich besser sein möge, doch zeige die Erfahrung, dass Erbfolge vorzuziehen sei, da das verdorbene Verlangen (corruptum appetitum) vieler Menschen den Modus der Wahl untauglich werden lasse.48 Der Verweis auf den corruptum appetitum der Menschen lässt es naheliegend erscheinen, dass sich Aegidius in der Folge für die Vorzüge des leidenschaftslosen Gesetzes aussprechen und sich den diesbezüglichen Erläuterungen des Aristoteles anschließen werde. Denn wo der Mensch herrsche, da herrsche das Tier, so der Philosoph im dritten Buch der Politik. Deshalb müsse das Gesetz gebieten, das vom aufbrausenden Wesen des Menschen unbehelligt sei.49 Doch diesem Schluss möchte sich Aegidius nicht beugen. An seiner Statt entwickelt er eine anderslautende, dem Monarchen und den Ausführungen des Thomas von Aquin zugeneigte Rechtfertigung dafür, dass die Herrschaft des Königs jener des Gesetzes überlegen sei. Denn die Wendung vom princeps quasi semideus50 ist auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass der König als vollkommener Mensch zum lebendigen Gesetz werde,51 da der Natur ein stetiger Aufstieg vom Unvollständigen zum Vollständigen eigen sei. Der einzelne Mensch, weil als animal sociale bestimmt und für ein auf sich selbst gestelltes Dasein untauglich, bedarf des Lebens in der Gemeinschaft.52 In ihrer ersten Ausformung findet er diese in der Gemeinschaft des Hauses (communitas domus).53 Aus dem Zusammenschluss mehrerer Häuser sei sodann die Gemeinschaft des Dorfes (communitas vicus) hervorgegangen, die ihrerseits in die communitas civitatis, die Stadtgemeinschaft übergegangen sei.54 Die vollkommene Gemeinschaft sei indes nicht bereits in der Stadt, sondern erst im Königreich zu sehen, dessen Ver-

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Aegidius Romanus 1968, III,2,5, S. 273v. Ebenda, III,2,5, S. 273r. Ebenda, III,2,5, S. 273r-274v. Ebenda, III,2,5, S. 272r. Flüeler 1992, S. 127. Aristoteles 2003, III,15, 1286b, S. 193 und III,16, 1287a, S. 196. Aegidius Romanus 1968, II,2,8, S. 184v und III,2,32, S. 321r. Ebenda, I,2,12, S. 48v-r. Miethke 2008b, S. 77-111 [96]. Berges 1952, S. 218-219. Aegidius Romanus 1968, I,1,4, S. 8v. Homann 2004, S. 45. Vgl. auch Thomas von Aquin 2004, I,1, S. 5-7. 53 Aegidius Romanus 1968, II,1,5, S. 136r. 54 Ebenda, III,1,4, S. 241r-242v. Homann 2004, S. 46-47.

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körperung in der Person des Königs zu finden sei.55 Dergestalt emporgehoben könne die Person des Königs dem Gesetz besser Geltung verschaffen, vor allem aber auch Fehler des im Buchstaben niedergelegten Gesetzes ausbessern.56

3. Italien und die universelle Monarchie bei Dante Alighieri Psychopolitische Erwägungen einen die Ausführungen zur Monarchie bei Aegidius Romanus und Dante Alighieri. Denn auch im Werk des Dichters spielen sie eine gewichtige Rolle, um die Überlegenheit dieser Herrschaftsform zu belegen. Wie Aegidius negiert auch Dante die Existenz von Leidenschaften im Monarchen. Ihr Fehlen begründet er aber auf eine andere Art und Weise und zugleich bezogen auf eine andere Ausformung der Monarchie. Denn es geht Dante nicht darum, die Herrschaft eines Königs, dem Herrscher über ein regnum, zu untermauern. Die von Aegidius formulierte Reihung menschlicher Gemeinschaftsformen Haus (domus), Dorf (vicus), Stadt (civitas) und Reich (regnum) erweitert Dante um die monarchia sive imperium, den Herrschaftsbereich des Kaisers, den er dem regnum particulare überordnet.57 Erst in der Person des Kaisers, des universellen Monarchen, erkennt Dante den leidenschaftslosen Herrscher. Denn erst der Kaiser, dessen Herrschaft begrenzt wird allein durch die Ufer des Ozeans, kenne nichts mehr, was er noch begehren könne.58 Dieses Freisein von Begehren mache die Herrschaft des Kaisers zur wahrhaft gerechten, da Gerechtigkeit allein dann Erfüllung finden könne, wenn jemand die Fähigkeit besitze, einem jedem das Seine zu geben ohne hierin durch die eigenen Begierden beeinflusst zu werden.59 Es mutet indes paradox an, dass Dante die Ankunft des Kaisers ersehnt, nicht primär um universelle Probleme zu lösen, sondern lokale; die Probleme Italiens und von Florenz sind es, die er im Blick hat. Der Raum der Apennin-Halbinsel bleibt der Bezugspunkt seines politischen Denkens.60 Ersichtlich wird dies zwar nicht in De

55 Aegidius Romanus 1968, III,1,1, S. 238v. Homann 2004, S. 48-51. Vgl. Thomas von Aquin 2004, I,1, S. 9-10 und I,12, S. 49. Zu Aegidius und Thomas Miethke 2008b, S. 77-111 [88-89 und 95-96]. Zur Verkörperung des Gemeinwesens im Leib des Königs bei Thomas von Aquin beispielsweise Schmid 2015, S. 117-134 [124-125.]. 56 Berges 1952, S. 218. Siehe hierzu auch die Ausführungen des Aquinaten bezüglich der Epikie in Thomas von Aquin 1943, II-II,120,1, S. 263-264. 57 Dante Alighieri 1998, I,v,1-10, S. 73-77. 58 Ebenda, I,xi,12, S. 91. Zu den Grenzen kaiserlicher Herrschaft auch Dante Alighieri 2004, IV,9,2, S. 67. Das Fehlen von Begierde im Kaiser wird thematisiert ferner ebenda, IV,4,3-4, S. 29. 59 Dante Alighieri 1998, I,xi,1-8, S. 87-89. 60 Dies gilt freilich nicht ausnahmslos. So nimmt Dante im neunzehnten Gesang des Paradiso auch den Rest Europas in den Blick, betrachtet dort etwa Frankreich und Böhmen, Ungarn und Navarra (Dante Alighieri 2006, Par. XIX,112-148, S. 340).

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monarchia, das Werk entbehrt der Anspielungen auf die zeitgenössische Politik,61 ersichtlich wird dies jedoch in der Commedia. Blickt man auf Struktur und Beginn des Werks, ist dies jedoch nicht direkt ersichtlich. Denn der Dante der Commedia ist an keinem Ort. Dieser Dante ist fortwährende Bewegung.62 Eine Bewegung durch Raum und Zeit, durch Diesseits und Jenseits. Eine Bewegung auch durch die Welten politischen, philosophischen und theologischen Denkens. Aber vielleicht gerade weil Dante an keinem Ort ist und vielleicht auch, weil der Jenseitswanderer als Exilierter gezwungen ist, fern der Heimat zu leben, weitet sich sein Blick weniger auf die Probleme des gesamten vom Kaiser zu beherrschenden Raums, sondern verengt sich auf die Geschehnisse Italiens.63 Im jeweils sechsten Gesang von Inferno, Purgatorio und Paradiso berichtet Dante von den italienischen Verhältnissen. Wenig Schmeichelhaftes erfährt die Leserschaft des Dichters etwa in der Strafrede auf Italien und Florenz im sechsten Purgatorio-Gesang: „Italien, Sklavin, Ort des tiefen Schmerzes, / Schiff ohne Steuermann in großen Stürmen, / Nicht Herrin von Provinzen, Haus der Schande! / […] Und jetzt ist in dir niemals ohne Kriege / Dein lebend Volk, und jeder nagt am andern, / Selbst die, die in den gleichen Mauern wohnen.“64

Als von Streit, Zwietracht und Krieg beherrscht schildert Dante sein Heimatland. Ihm fehlt die ordnende Gewalt des Kaisers. Denn nur er könne die vorherrschenden Missstände ausräumen.65 Die von Aegidius Romanus vorgenommene Schilderung der politischen Verhältnisse Italiens anhand der gubernatio populi wird von Dante mitnichten geteilt. Allein das Kaisertum kommt für ihn infrage. Auf die Abrechnung mit Italien lässt Dante die Ansprache an Florenz folgen. Deren Verse beginnen neutral, verheißungsvoll geradezu, wenn der Jenseitswanderer spricht: „Du, mein Florenz, kannst wohl zufrieden bleiben / Bei dieser Rede, du bist nicht betroffen, / Dieweil dein Volk sich so verständig zeiget.“66

61 Imbach/Flüeler 1998, S. 11-57 [26]. Ottmann 2004, S. 237. Miethke 2008a, S. 159. 62 Helmrath 2011, S. 209-231 [211]. Als zu statisch ist daher die von Karlheinz Stierle verwendete Metaphorik zu sehen, die Dantes Werk „in monumentaler und einsamer Größe“ am Beginn des 14. Jahrhunderts stehend bezeichnet (Stierle 2014, S. 9). 63 Passerin d’Entrèves sieht in Dantes politischer Philosophie im Kern eine bürgerliche, im Sinne einer auf die Stadt, konkret auf Florenz bezogenen. Kosmopolitisches Denken hingegen sei die bittere Lektion gewesen, die ihn das Exil gelehrt habe (Passerin d’Entrèves 1952, S. 9-11 und 24). 64 Dante Alighieri 2006, Pur. VI,76-84, S. 158. 65 Hierzu unter anderem: Dante Alighieri 2006, Par. XXX,133-142, S. 382. Dante Alighieri 2004, IV,4,1-4, S. 27-29. 66 Dante Alighieri 2006, Pur. VI,127-129, S. 159.

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Doch dies ist eine Täuschung des Lesers. Nicht minder bitter wie die Wertung Italiens erweist sich Dantes Beurteilung seiner Heimatstadt. Verhüllt ist sie hier lediglich durch den Mantel der Ironie. Unverkennbar jedoch lüftet ihn der Dichter am Ende des Gesangs, wenn er über die Stadt am Arno schreibt: „Und wenn du selber dich genau betrachtest, / So siehst du, daß du jener Kranken gleichest, / Die keine Ruhe findet in den Kissen / Und sich in Schmerzen auf dem Lager wendet.“67

Schon zuvor auf seiner Reise, in der politischen Stellungnahme zu Florenz im sechsten Inferno-Gesang, äußerte sich Dante über den Hochmut, Neid und die Habsucht, von denen die Herzen der Florentiner bemächtigt und die Stadt gespalten worden sei.68 Trotz dieser Invektiven wider Florenz bleibt Dantes Haltung seiner Heimatstadt gegenüber nicht durchweg negativ. So beklagt er im ersten Buch von De vulgari eloquentia zwar, dass ihn seine Liebe zu Florenz in die „ungerechte Verbannung“ zwang, doch trübt das traumatische Erlebnis des Exils Dantes Urteil nicht so sehr, dass er Florenz nicht dennoch als den Ort benennt, der für die „Befriedigung unserer Sinnlichkeit auf Erden“ lieblich wie kein zweiter sei.69 Sein Leid an der Verbannung spricht Dante wiederholt an. So auch im Paradiso, wenn er in den Anfangsversen des fünfundzwanzigsten Gesanges davon dichtet, wie ihn jene Grausamkeit aus der „schönen Hürde“ seiner Heimat getrieben, die ihm Sicherheit vor den Wölfen der Außenwelt geboten habe.70 Und auch im Schreiben an Cangrande della Scala wird sein erzwungener Kosmopolitismus thematisiert. Florentiner sei er der Geburt nach, nicht jedoch der Lebensweise, wie er dem Adressaten mitteilt.71 Aber dass Verbitterung von Dante noch nicht in Gänze Besitz ergriffen, dass er sich von Florenz nicht abgewendet hat, darauf lässt sich verweisen nicht zuletzt mittels der Symbolik des Jupiterhimmels, wie sie Hartmut Köhler in seiner jüngst besorgten Übersetzung der Commedia gedeutet hat. 72 In Begleitung Beatrices formen die Lichter der hiesigen Seelen vor den Augen des Wanderers den Satz „diligite iustitiam qui iudicatis terram“ („liebt die Gerechtigkeit, die ihr die Erde regiert“). Ehe sie jedoch auseinanderstieben und sich in Form von Hals und Haupt des Reichsadlers vereinen,73 nehmen sie die Form einer Lilie an, dem Symbol von Florenz. Noch verbindet Dante mit seiner Heimatstadt die Hoffnung, dass sie zur Ret-

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Ebenda, Pur. VI,148-151, S. 160. Ebenda, Inf. VI,61-75, S. 27-28. Dante Alighieri 2007, I,6,3, S. 17. Dante Alighieri 2006, Par. XXV,4-6, S. 360. Dante Alighieri 1993, (28), S. 13. Dante Alighieri 2012, Kommentar zu Par. XVIII,97-114, S. 412-413. Dante Alighieri 2006, Par. XVIII,91-108, S. 335-336.

tung Italiens beitragen könne, würde sie sich nur besinnen und ihre Rolle unter der Führung des Kaisers einnehmen, der als Hirte den Menschen vorangeht.74 In diesem auf Besinnung und Belehrung, auf dem Vermeiden von Irrwegen abzielenden Anliegen ihrer Werke sind sich Dante und Aegidius sehr nahe. Dante beansprucht die Rolle des Sehers, der einem jedem seinen Platz im Jenseits zuweist – auch den noch Lebenden75 –, er beansprucht Florenz und ganz Italien einen Ausweg aus ihrer Misere zu prophezeien. Als Wissender um die Erfordernisse der Politik gibt sich auch Aegidius aus, wenn er seinen Fürstenspiegel zur Verlesung an der Tafel des Königs empfiehlt, wenn er sein Werk zudem einem jedem zur Lektüre anrät, damit ein jeder um seine Rolle innerhalb einer Fürstenherrschaft wisse.76

4. Ein Meer, zwei Schwerter und zwei Sonnen: Zur Stellung von Papst- und Kaisertum bei Aegidius Romanus und Dante Alighieri Nahe kommen sich Aegidius und Dante in Bezug auf den zuletzt genannten Anspruch ihrer Werke. Nahe kommen sie sich ferner in ihrem Eintreten für die Überlegenheit des leidenschaftslosen Monarchen. Sofern man die territoriale Ausdehnung der Monarchie außer Acht lässt, sind sich beide Denker auch in der Bewertung dieser Verfassungsform nahe. Zieht man die Territorialität indes mit in Betracht, fällt auf, dass für Aegidius ein auf den Raum bezogenes Argumentieren lediglich von nachgeordneter Bedeutung ist – wenn überhaupt –, da für den Augustinereremit in De regimine principum Fragen der Erziehung und der Ethik im Vordergrund stehen.77 Und auch in De ecclesiastica potestate weist Aegidius die Bestimmung politischer Ordnungsformen über ihr Territorium zurück. Denn politische Macht wird nicht von einem Grundherren ausgehend gedacht, sondern ist von der geistlichen Gewalt verliehen. Somit könne diese sie auch wieder entziehen und an einen anderen Ort übertragen.78 Dagegen erweist sich bei Dante politische Macht als eine auch territorial definierte Form von Macht. Politische Ordnungsformen deutet Dante mittels klarer räumlicher Begrenzungen: Mauern, Türmen und Toren, Land und Meer.79

74 Zur Führungsfunktion des Kaisers beispielsweise Dante Alighieri 2006, Pur. XVI,94-99, S. 197. 75 Die diesbezüglich womöglich prominenteste Gestalt ist Papst Bonifaz VIII., dessen Ankunft in der Hölle bereits erwartet wird (Dante Alighieri 2006, Inf. XIX,52-54, S. 74). 76 Aegidius Romanus 1968, I,1,1, S. 2r-3v und II,3,20, S. 236r. Miethke 2008b, S. 77-111 [95]. 77 Zu Dantes Staat als ethischem Staat siehe Lüddecke 2013, S. 43-67 [49-60]. 78 Giles of Rome 2004, I,4, S. 17-19. 79 Über ihre Befestigungsanlagen bestimmt Dante sowohl Florenz als auch die civitas diaboli Dis und die Stadt des Paradieses (siehe beispielsweise Dante Alighieri 2006, Par. XXV,4-6, S. 360, Pur. VI,84, S. 158, Inf. VIII,67-IX,133, S. 34-39 und Pur. XVI,95-96, S. 197.). Der elementare Gegensatz von Land und Meer bestimmt die Grenzen kaiserlicher Macht (Dante Alighieri 1998, I,xi,12, S. 91).

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Im elementaren Gegensatz von Land und Meer findet schließlich die größte Differenz zwischen den beiden ihren Ausdruck. Bei Dante ist das Land der Jurisdiktion der weltlichen Gewalt unterworfen.80 Gottes dagegen ist das Meer. Es ist Ort und Element der vom Allmächtigen verhängten Strafen. Am Meer werde die Seemacht Pisa dereinst ihr Ende finden, wie der Wanderer im neunten Kreis der Hölle preisgibt. Das Element, das Pisas Macht im Diesseits begründet, wird den Untergang der Stadt im Jenseits bewirken, wenn der Arno, durch die Inseln Capraia und Gorgona aufgestaut, die Stadt überflutet.81 Strafende Funktion kommt dem Meer auch in der Odysseus-Episode gegen Ende des Inferno zu. Odysseus, der die Säulen des Herakles hinter sich gelassen hat und aufs offene Meer hinausfährt, wird für sein Tun, das Verlassen der dem Menschen gesetzten Schranken, bestraft, indem ein Sturm sein Schiff in die Tiefe der See zieht.82 Die Tiefe des Meeres stellt eine Grenze für das Menschengeschlecht auch in anderer Form dar. Mit ihr bringt Dante die Beschränkungen menschlicher Erkenntnisfähigkeit zum Ausdruck. Die dem Menschen gewährte Einsicht gleiche dem vergeblichen Versuch, den Grund des Meeres mit bloßem Auge zu erkennen. Er existiere, doch in der Tiefe bleibt er im Verborgenen.83 Vom Meer weiß auch Aegidius Romanus zu berichten, gleichwohl er nicht viel über die See schreibt. Zunächst fasst er sie in einer Dante vergleichbaren Art auf. Auch bei ihm ist das Meer Gottes, ist Gott das Meer.84 Und auch bei ihm steht die Meeresmetaphorik in Verbindung mit den Grenzen menschlichen Erkennens.85 Politisch ausgelegt weiß Aegidius allerdings darum der Meeresmetaphorik eine gänzlich von Dante abweichende Ausrichtung zu geben. Die Gleichsetzung Gottes mit dem Meer und ebenso auch die Verbindung des vicarius Dei, des Papstes mit dem Meer, ist Aegidius ein Gleichnis dafür, dass sich aus dieser Quelle die Legitimation aller Mächte speist, seien sie nun geistlicher oder weltlicher Art.86 Diese hierarchische Anordnung der Gewalten ist eine Konsequenz, die Dante nicht zieht und nicht zu ziehen bereit ist. Kaum ferner voneinander könnten Aegidius und Dante stehen, betrachtet man nun die beiden Pole ihres monarchischen Denkens: geistliche und weltliche Gewalt. Einem hierarchisch geordneten Monarchismus bei Aegidius steht ein bipolarer Monarchismus bei Dante gegenüber.

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Dante Alighieri 1998, I,xi,12, S. 91. Dante Alighieri 2006, Inf. XXXIII,79-84, S. 128. Lüddecke 2013, S. 43-67 [58]. Dante Alighieri 2006, Inf. XXVI,91-142, S. 102-103. Ebenda, Par. XIX,58-63, S. 338. Zum Meer bei Dante: Lüddecke 2013, S. 43-68 [53-58]. Giles of Rome 2004, III,2, S. 287. Ebenda, III,2, S. 287-289. Krüger 2007, S. 218. Giles of Rome 2004, III,2, S. 291. Im Gebrauch dieser Metaphorik weicht der Augustinereremit von Augustins Auffassung des Meeres als Gleichnis der civitas terrena ab (Augustinus 2010, XIII,17,20-21, S. 380).

Virulent wurde die bei Aegidius und Dante neuerlich geführte Debatte um die Stellung von geistlicher und weltlicher Gewalt, von Papst- und Kaisertum, durch die unter Papst Bonifaz VIII. erlassene Bulle Unam sanctam (1302). Für Aegidius und Dante ist Unam sanctam zentral. An der in ihr vertretenen Sichtweise arbeitete sich Dante ab, an ihr arbeitete Aegidius möglicherweise mit, lieferte mit seiner Schrift De ecclesiastica potestate zumindest wichtige Argumente für die Bulle.87 Noch einmal wird mit Unam sanctam der universelle Machtanspruch des Papstes verfochten und noch einmal werden darin die altbekannten Argumente aufgefahren. Allen voran die Lehre von den zwei Schwertern. Auf das Lukas-Evangelium zurückgehend wird den Worten des Evangelisten im Zuge der Publizistik im Investiturstreit eine politische Deutung erstmalig durch Gottschalk von Aachen beigegeben.88 Im Sinne einer Unterordnung des Kaisers unter den Papst deutete dann der Zisterziensermönch Bernhard von Clairvaux die entsprechende Passage bei Lukas. Denn rechtmäßig habe Christus und in seiner Nachfolge hätten auch die Päpste die Verfügungsgewalt über beide Schwerter für sich reklamieren können. „Beide Schwerter stehen also der Kirche zu,“ wie Bernhard in De consideratione ad Eugenium Papam folgert, „selbstverständlich das geistliche, aber auch das weltliche. Das zweite wird freilich für die Kirche, das erste dagegen von der Kirche geführt. Dieses gehört in die Hand des Priesters, jenes in die des Kriegers, wird aber auf die Weisung des Priesters und den Befehl des Kaisers hin eingesetzt.“89 An Bernhard von Clairvaux anknüpfend fordert Unam sanctam sodann, „daß ein Schwert dem anderen Schwert untergeordnet ist und daß die zeitliche Autorität der geistlichen Macht unterworfen ist […].“90 Auf diese Rangfolge der beiden Schwerter besteht die Bulle unter Zuhilfenahme auch von Aegidius’ De ecclesiastica potestate. Denn die Gewalten wären nicht geordnet, „wenn nicht ein Schwert dem anderen Schwert unterstellt wäre und nicht das Niedere durch das andere auf das Höchste zurückgeführt würde.“91 Aegidius seinerseits nimmt mit seinen Ausführungen in De ecclesiastica potestate Bezug wiederum auf die von Bernhard von Clairvaux vorgelegte Auslegung der Zweischwerterlehre und nutzt die Ausführungen des Zisterziensers, um der geistlichen einen der weltlichen Gewalt gegenüber höheren Rang zuzuweisen.92 Dagegen betont Dante Alighieri die Unabhängigkeit der weltlichen von der geistlichen Gewalt. Die Vereinigung der beiden Schwerter in einer Hand stellt für ihn

87 Scholz 1961, S. X. Miethke 2008a, S. 95. Ottmann 2004, S. 226. Krüger 2007, S. 16-17. 88 Lk 22,38. Zu Gottschalk von Aachen: Ottmann 2004, S. 93. Erdmann/Gladiß 1939, S. 115-174 [115]. Zu Gottschalks Auslegung der Zweischwerterlehre ebenda, S. 115-174 [159-160]. 89 Bernhard von Clairvaux 1990, IV,3,7, S. 625-841 [749]. 90 Bonifaz VIII. 1998, S. 347-355 [351]. 91 Ebenda, S. 347-355 [351]. Vgl. Giles of Rome 2004, I,4, S. 19. 92 Giles of Rome 2004, II,15, S. 261-266. Krüger 2007, S. 266-269.

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keineswegs eine Heilsnotwendigkeit dar, wie es Unam sanctam postulierte.93 Ganz im Gegenteil liege in der Verbindung von Schwert und Hirtenstab in der Hand der römischen Kirche eine Ursache für das Leid Italiens.94 Als legitimierende Instanz der weltlichen Gewalt scheiden die Päpste bei Dante folglich aus. Gott allein wählt und bestätigt. Nicht der Papst wird von Dante genannt, auch nicht der Modus der Erbfolge, wie von Aegidius in De ecclesiastica potestate beziehungsweise in De regimine principum angeführt wurde; am Ende wählt und bestätigt Gott allein.95 Im Bild der zwei Sonnen bringt der Dichter das Nebeneinander der beiden Gewalten zum Ausdruck. Gemeinsam hätten sie dereinst Rom den Weg zum irdischen und himmlischen Heil erleuchtet.96 Ein Weg, den es wieder zu beschreiten gelte. Gebrauch vom Gleichnis zweier Gestirne macht schließlich auch Aegidius Romanus. Doch ist es für ihn das Motiv von Sonne und Mond, das Eingang in sein Werk gefunden hat. Auch bei ihm repräsentieren die beiden Gestirne die beiden Gewalten. Doch weil der Mond, die königliche Gewalt, nicht imstande sei, selbst Licht zu erzeugen, er lediglich das Licht der Sonne, der geistlichen Gewalt, reflektiere, sei die geistliche Gewalt der des Königs überzuordnen.97 War die politische Ausformung von Aegidius’ Monarchismus noch auf lokale Gewalten bezogen, erweist sich sein theologischer Monarchismus als ein Plädoyer für die Unversehrtheit einer universellen Gewalt in der Hand des Papstes.

Schluss Die wenigen im Vorangegangenen notierten Anmerkungen zu monarchischen Denkfiguren bei Aegidius Romanus und Dante Alighieri sollten das ins Stocken geratene Gespräch wieder in Bewegung setzen. Gleichwohl oder gerade weil die Ausführungen beider Denker nicht auf alle Fragen Antworten geben konnten, sie auch bei manchem die Stille vorzogen,98 hinterließen sie manch paradoxe Position, die der Unterredung neuen Schwung gab. Bereits die Eröffnung des Gesprächs konnte verwundern. Sprach Aegidius zunächst allein den französischen Königshof an, weitete sich seine Argumentation sodann und erhob Anspruch auf universelle Gültigkeit. 93 94 95 96

Bonifaz VIII. 1998, S. 347-355 [355]. Dante Alighieri 2006, Pur. XVI,109-129, S. 198. Dante Alighieri 1998, III,xv,13, S. 247. Lüddecke 2013, S. 43-68 [64]. Dante Alighieri 2006, Pur. XVI,106-108, S. 197. Dante Alighieri 1998, III,xv,10, S. 245. Lüddecke 1999, S. 144-148. Thumfart/Waschkuhn 2005, S. 6. Miethke 2008a, S. 159. 97 Giles of Rome 2004, III,10, S. 373. Dante dekonstruiert diesen Gedanken in Dante Alighieri 1998, III,iv,1-22, S. 191-199. 98 Zum Schweigen und anderen Motiven für fehlende Ausführungen Dantes vgl. Imbach/Maspoli 1999, S. 291-321 [292-293]. Bei Aegidius wird sein Schweigen über die Frage der Vereinbarkeit seiner beiden politiktheoretischen Hauptwerke auch mit opportunistischen Neigungen erklärt (Berges 1952, S. 211-212, FN 4. Miethke 2008a, S. 95).

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Die Betrachtung eines einzelnen Monarchen, Herrn über nur ein regnum, wich in De ecclesiastica potestate schließlich einer Fürsprache zu Gunsten der Suprematie päpstlicher Universalgewalt. Dehnte sich der mit den vorgestellten monarchischen Denkfiguren erhobene Machtanspruch bei Aegidius Romanus vom Lokalen aufs Globale, war bei Dante Alighieri eine entgegengesetzte Bewegung zu beobachten. Dante, der Verfechter eines universellen Monarchismus, zog sich immer wieder auf die Anschauung klar abgegrenzter Räume zurück, verließ das Globale und betrachtete die lokalen Gegebenheiten Italiens und seiner Heimatstadt Florenz.

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Manuel Knoll/Stefano Saracino Die Staatsräson bei Niccolò Machiavelli und Giovanni Botero

1. Die Idee der Staatsräson In zeitgenössischen politischen Debatten spielt der Begriff „Staatsräson“ keine nennenswerte Rolle mehr. Wenn heute ein Politiker eine Entscheidung mit Verweis auf die Staatsräson rechtfertigen würde, dann klänge das seltsam antiquiert. Der Terminus scheint ein Relikt aus einer früheren geschichtlichen Epoche zu sein.1 Dennoch spielt der Sache nach die Orientierung des Handelns an der Staatsräson auch in der heutigen praktischen Politik eine bedeutende Rolle. In der Literatur finden sich verschiedene Definitionen und Interpretationen des Begriffs „Staatsräson“. Nähert man sich dem Terminus aus begriffsgeschichtlicher Perspektive, dann lassen sich die ersten Okkurrenzen 1525 bei Francesco Guicciardini (im Plural: ragione degli stati) und 1547 bei Giovanni della Casa (ragion di Stato) aufweisen.2 Entscheidend für die Karriere des Begriffs ist jedoch, dass Giovanni Botero ein von ihm 1589 veröffentlichtes Buch mit Della ragion di Stato betitelte. Unmittelbar zu Beginn seines Werkes definiert Botero den Begriff: „Staatsräson ist Kenntnis der Mittel, die geeignet sind, eine Herrschaft zu gründen, zu bewahren und zu vergrößern (Ragione di Stato si è notizia de’ mezzi atti a fondare, conservare e ampliare un dominio).“3

Botero führt drei verschiedene Zwecke an, auf die politisches Handeln abzielt: Gründung, Bewahrung und Vergrößerung einer Herrschaft bzw. eines Staates. Die Staatsräson bestimmt er als die Erkenntnis der Mittel, die erforderlich sind, um diese Zwecke zu erreichen. Er fügt jedoch sogleich hinzu, dass sich die Staatsräson im engeren Sinne vor allem auf die Bewahrung einer Herrschaft bzw. eines Staates bezieht.4 1 Bereits Friedrich Meinecke erklärt in seinem 1924 veröffentlichten Werk über Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte: „Das Schlagwort der Staatsräson wurde im 19. Jahrhundert und wird auch nur noch selten in den Mund genommen“ (Meinecke 1929, S. 511). 2 Weder Guicciardini noch Della Casa geben eine Erklärung oder Definition des Begriffs „Staatsräson“ (Guicciardini 1932, S. 161–163; Della Casa 1897, S. 206 f.; vgl. Continisio 2009, S. XII). 3 Botero 1948, I/1, S. 55 (Übers. M.K. und S.S.). 4 Es ist bemerkenswert, dass sich die Staatsräson nach Boteros weiterer Hierarchisierung der drei Zwecke mehr auf die Vergrößerung als auf die Gründung einer Herrschaft bezieht (ebenda). Das Wachstum des Staates ist auch noch für Meinecke ein bedeutendes Ziel. Ihm zufolge gibt „die Staatsräson auch die Wege und Ziele dieses Wachstums an“ (Meinecke 1929, S. 1).

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Für die vorliegende Untersuchung und in terminologischer Hinsicht ist von Bedeutung, dass Botero der angeführten Definition der Staatsräson in der Ausgabe seines Werks von 1590 eine Bestimmung von „Stato“ voranstellt: „Stato ist eine beständige Herrschaft über Völker (Stato è un dominio fermo sopra popoli)“.5 In dieser Bestimmung von „Stato“ verwendet Botero den Terminus bereits im Sinne eines modernen Verständnisses von „Staat“. Nach der bekannten Definition von Georg Jellineck ist der Staat ein soziales Gebilde, dessen drei entscheidende Merkmale ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt sind.6 Boteros Definition von „Stato“ kombiniert die letzteren beiden Merkmale und impliziert das erstere. Unter „Staatsräson“ versteht er vor allem die Vernunft des Staates, die die Mittel erkennt, durch die die staatliche Ordnung stabil bewahrt werden kann. Boteros Definition steht im Einklang mit den Bestimmungen, die zeitgenössische Lexika zur Politik unter dem Stichwort „Staatsräson“ anführen. Nach dem Lexikon der Politik ist Staatsräson ein „grundsätzliches Orientierungs- und Handlungsprinzip, welches die Erhaltung des Staates bzw. der staatlichen Autorität und/oder sogar deren Steigerung zur entscheidenden polit. Maxime erklärt. Da im äußersten, letztlich vom Inhaber der Staatsgewalt selbst zu definierenden Fall gegen bestehendes Recht und generelle moralische Normen anwendbar, diente das Argument der S. […] auch der vordergründigen Legitimierung zahlreicher Verfassungs- und Völkerrechtsverletzungen […].“7

Der zweite Satz der Definition bezieht sich auf das ethische Kernproblem, das mit der Konzeption einer Staatsräson verbunden ist. Es betrifft das spannungsvolle Verhältnis von einerseits Politik und andererseits Moral und Recht, das ein zentrales Thema des vorliegenden Aufsatzes darstellt: Darf der Inhaber der Staatsgewalt zur Bewahrung der staatlichen Ordnung „bestehendes Recht und generelle moralische Normen“ übertreten, und wenn ja, wie weit?8 Zum Ausdruck kommt dieses ethische Kernproblem auch in einer anderen Definition der Staatsräson als „besonderer Eigenwert der Existenz und Einheit eines Staates sowie seiner Macht, der in Ausnahmefällen die Aufhebung rechtlicher und ethischer Schranken staatlichen Handelns rechtfertigt bzw. rechtfertigen soll. Die S. hat als oberstes Ziel den Erhalt der staatlichen Ordnung“.9

5 Botero 1948, S. 55 (Übers. M.K. und S.S.). 6 Nach Jellinek sind die drei „Elemente“ des Staates „Land, Volk und Herrscher“ (Jellinek 1929, S. 144). 7 Nohlen/Schultze/Schüttemeyer 1998, S. 615. 8 Nach Norbert Campagna geht es bei der Staatsräson kurz gefasst „darum zu wissen, wie eng der Inhaber der politischen Macht an moralische Normen gebunden ist, d.h. wie weit ein Handeln, das sich als Zweck den Erhalt und die Förderung des Gemeinwesens setzt, jene Normen respektieren muss, die den guten Menschen definieren […]“ (Campagna 2012, S. 57). 9 Lenz/Ruchlak 2001, S. 206 f.

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In seiner umfassenden Untersuchung Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, die der Historiker Friedrich Meinecke 1924 veröffentlichte, definiert er die Staatsräson als eine „Idee“, „die als solche den geschichtlichen Wandlungen in hohem Grade entrückt ist“: „Irgendwie wird überall nach Staatsräson regiert“.10 Nach Meinecke hat die Staatsräson einen der Zeit enthobenen und universalen Kern, der jedoch in der Geschichte unterschiedlich ausgeformt wird: „Zeitlos und generell ist der staatliche Egoismus, Macht- und Selbsterhaltungstrieb, das Staatsinteresse, einmalig und individuell sind die konkreten Staatsinteressen, die dem Staate aus seiner besonderen Struktur und Lagerung inmitten anderer Staaten erwachsen“.11 Obwohl Meinecke die Zeitlosigkeit der Idee der Staatsräson unterstellt, beginnt für ihn die abendländische Geschichte der Reflexion über ihr „Wesen“ erst mit Machiavelli.12 Auch wenn noch heute Forscher mit Meinecke übereinstimmen, wurde sowohl seiner Auffassung widersprochen, es gebe ein zeitloses „Wesen der Staatsräson“, als auch seiner Ansicht, Machiavelli sei ihr erster Denker.13 In der Literatur lassen sich mindestens vier Begründungsstrategien erkennen, denen zufolge der Florentiner aus der Tradition der Denker der Staatsräson ausgeschlossen werden muss. Die schwächste dieser Begründungen folgt aus dem überholten Rezeptionsmuster, das sich mit dem Terminus „Anti-Machiavellismus“ charakterisieren lässt. Wenn der Teufel Machiavelli die Hand bei der Niederschrift des Principe geführt hat oder der Florentiner als „Lehrer des Verbrechens“ oder „des Bösen“ anzusehen ist, dann kann von einer rationalen Abwägung der Frage, ob der Staatserhalt den Einsatz unmoralischer Mittel oder einen Bruch bestehenden Rechts rechtfertigt, nicht die Rede sein.14 Die zweite Begründung wurde von Carl Joachim Friedrich in seinem 1957 zuerst auf Englisch erschienen Buch Die Staatsräson im Verfassungsstaat vorgetragen. Darin behauptet Friedrich, dass für Machiavelli „die Notwendigkeit, den Erfordernissen des Staates entsprechend zu handeln, keiner Rechtfertigung bedarf“.15 Denn Ma10 11 12 13

Meinecke 1929, S. 20. Ebenda, S. 21 (Hervorhebungen von F.M.). Ebenda, S. 36. Nach Gaines Post ist das Prinzip der Staatsräson „zeitlos“ und bereits im Hochmittelalter ausgeprägt (Post 1961, S. 16). Post untersucht „medieval concepts of ‚reason of State‘ as a principle of public law [...] in the intellectual history of the period (ca. 1100-1300), in which the modern age began perhaps as much as in the Italian Renaissance“ (ebenda, S. 247). Dagegen erklärt Paul-Ludwig Weinacht: „Staatsräson ist keine Universale, sondern ein geschichtlichkonkreter Begriff“ (Weinacht 1975, S. 65 f.). Vgl. zum Gegensatz zwischen einem universalistischen und einem historisch-partikularistischen Zugang zur geschichtlichen Rolle des Begriffs der Staatsräson auf einem internationalen und interdisziplinären Kolloquium in Tübingen 1974 (Berkowitz/Roux1975, S. 602 f.). Manche Autoren, wie Herfried Münkler, stimmen nur einer von Meineckes beiden Auffassungen zu: „Wenngleich die vorliegende Untersuchung Meinecke darin folgt, die Staatsraison-Debatte mit Machiavelli zu eröffnen, so widerspricht sie diesem doch entschieden in allen Tendenzen zur Universalisierung der Staatsraison-Idee“ (Münkler 1987, S. 17; vgl. zur Kritik von Münklers Auffassung mit Machiavelli beginne die neuzeitliche Staatstheorie, Kersting 1987, S. 172 f.). 14 Vgl. zur Tradition des Antimachiavellismus Knoll/Saracino 2010, S. 10 f. 15 Friedrich 1961, S. 35.

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chiavelli statte den „Staat (wenn er damit die Regierung oder politische Ordnung meint)“ mit „einem so überragenden Wert“ aus, „daß er die Quelle aller übrigen Werte wird. Der Staat ist für Machiavelli das höchste und alles umfassende Gut, und deshalb ist nichts wirklich Gutes außerhalb des Staates anzutreffen“.16 Friedrichs Urteil, dass der Staat für Machiavelli ein überragender Wert und ein extrem hohes Gut ist, trifft zu. Daraus folgt jedoch keineswegs, dass Machiavelli ein an der Staatsräson orientiertes politisches Handeln nicht zu rechtfertigen bräuchte. Denn ein solches Handeln steht zwangsläufig oft im Gegensatz zu den Geboten des Rechts, der christlichen Moral und der Religion, die zu seiner Zeit auch einen überragenden Wert und ein extrem hohes Gut darstellten.17 Nach der dritten Begründung, die begriffsgeschichtlich argumentiert, kann man von einem Denken der Staatsräson erst dann sprechen, wenn auch der Begriff „Ragione di Stato“ verwendet wird.18 Machiavelli gebraucht zwar in einem Brief an Francesco Vettori das Verbalnomen „ragionare dello stato“.19 Auch kombiniert er, wie noch genauer zu untersuchen sein wird, „lo stato“ mit Verben wie „mantenere“, „salvare“, „conservare“ oder „tenere (sicuramente)“.20 Aber die Wendung „Ragione di Stato“ findet sich bei ihm tatsächlich nicht. Dennoch ist dieser „begriffsgeschichtliche Mangel“, wie Friedrich Meinecke und Herfried Münkler zu Recht argumentieren, kein hinreichender Grund dafür, Machiavelli aus der Ideengeschichte des Staatsräson-Denkens auszuschließen.21 Denn entscheidend ist nicht die Okkurrenz des Begriffs, sondern dass Machiavelli die mit ihm bezeichnete Sache vor Augen hat und reflektiert. Und es lässt sich schwer bezweifeln, dass der Florentiner in Kategorien der Staatsräson denkt und ein Problembewusstsein von dem spannungsvollen Verhältnis von einerseits Politik und andererseits Moral und Recht hat. Inwiefern er allerdings dabei auch an den neuzeitlichen Staat dachte, wird noch zu diskutieren sein. Denn der Staat ist für sich ebenso wenig ein zeitloses Phänomen wie die Staatsräson, sondern ein unter besonderen historischen („europäischen“) Bedingungen gewachsenes und sich historisch wandelndes Phänomen. Die Verdichtung

16 Ebenda, S. 35, vgl. S. 11 und 38. 17 Auch Herfried Münkler kritisiert Friedrich dafür, dass er Machiavelli aus problemgeschichtlichen Gründen aus der Staatsräson-Debatte ausschließt: „Der Briefwechsel mit Guicciardini und Vettori belegt, wie genau Machiavelli den Gegensatz zwischen moralischen Anforderungen und politischen Erfordernissen, zwischen Religion, Moral und Politik wahrnahm. Daß er, anders als Botero, die Politik über die Religion gestellt hat, ist kein Grund, ihn aus der Staatsräson-Debatte zu verbannen“ (Münkler 1987, S. 17; vgl. hierzu Friedrich 1961, S. 14). 18 Dieses Argument formulieren etwa Lenz 1925 und Nitschke 1995, S. 37. 19 Brief an Vettori vom 9. April 1513, in Machiavelli 1961, S. 239 f. 20 Machiavelli 2003, II, XV, XVIII, IXX, XX; S. 8 f., 120 f., 138–141, 152 f., 162 f. Hexters Studie über Machiavellis Verwendung von „lo stato“ kommt zu dem Ergebnis, dass von den 110 Okkurenzen im Principe, in denen „lo stato“ im politischen Sinn verwendet wird, in 61 Fällen „lo stato“ mit den fünf „exploitative verbs“ „acquistare, tenere, mantenere, togliere, perdere“ kombiniert und von diesen „kontrolliert (controlled)“ wird (Hexter 1973, S. 156, 160). 21 Meinecke 1929, S. 36 f.; Münkler 1987, S. 16.

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und Zentralisierung staatlicher Herrschaft und die Ausbildung von Herrschaftsstrukturen, die den Staat zu einer effizient operierenden Anstalt werden lassen, sind historisch relativ rezente Phänomene.22 Der vierten Begründung zufolge müsste deshalb Machiavelli aus der Tradition der Denker der Staatsräson ausgeschlossen werden, weil er „keineswegs über den Begriff des Staates, schon gar nicht über einen modernen“ verfügte.23 Die gängige Behauptung, Machiavelli habe noch keinen Begriff des Staates, stellt von den angeführten vier Begründungen die größte Herausforderung dar.24 Deshalb wird ihrer Behandlung im Folgenden ein eigener Abschnitt (2) gewidmet, in dessen Zentrum eine Reflexion über den Staatsbegriff und eine Analyse von Machiavellis Verwendung des Wortes „stato“ steht. Der nachfolgende Abschnitt (3) argumentiert für Meineckes Auffassung, dass Machiavelli als der geschichtlich erste Denker der Staatsräson anzusehen ist. Dabei begründet er die These, dass der Florentiner – aus der Perspektive der zeitgenössischen Ethik betrachtet – als Vertreter einer konsequenzialistischen Ethik der Staatsgründung und -erhaltung verstanden werden muss.25 Gründung und Erhaltung einer guten staatlichen Ordnung sind für Machiavelli ethisch gute und wertvolle Zwecke des politischen Handelns, die den begrenzten Einsatz von unmoralischen Mitteln rechtfertigen. Abschnitt 4 behandelt als Ausblick den Beitrag von Giovanni Botero zur Entwicklung des Begriffs der Staatsräson und allgemein des Staatsdenkens, wobei auch Boteros Verhältnis zum politischen Denken Machiavellis in den Blick genommen werden soll.

2. Machiavelli und der moderne Staatsbegriff Die gängige Behauptung, dass Machiavelli „keineswegs über den Begriff des Staates, schon gar nicht über einen modernen“ verfügte, veranlasst zu einer Reflexion über den Begriff „Staat“ im Allgemeinen und über den „modernen Staatsbegriff“ im Besonderen. Zu beiden Themen existiert eine Fülle an Literatur.26 Das Wort „Staat“ und seine Äquivalente in anderen europäischen Volkssprachen wie „stato“, „état“, „estado“, „state“, gehen auf den lateinischen Terminus „status“ zurück. Im Mittelalter bedeuteten sie mindestens bis ins 14. Jahrhundert vor allem „Stand“ im Sinne 22 Zur historischen Genese des neuzeitlichen Staates und zur realgeschichtlichen Herausbildung staatlicher Strukturen (z.B. Staatsgrenzen, Staatsbeamte, Staatsheere) erst in der Spätphase der Frühen Neuzeit siehe Stolleis 1990; Creveld 1999, S. 9f.; Reinhard 2000; Landwehr 2007, S. 21-192. Laut Reinhard kann nur mit Vorbehalt für das 16. und 17. Jahrhundert vom „Staat“ gesprochen werden. 23 Nitschke 1995, S. 37 (Hervorhebungen von P.N.). Nitschke stützt sich auf Kersting 1987, S. 172 f. 24 Vgl. Saracino 2012, S. 77; Maissen 2010. 25 Vgl. zum Konsequentialismus Birnbacher 2003, S. 173–240. 26 Chabot 1967, Mager 1968, Rubinstein 1971, Suerbaum 1977, Weinacht 1968 (auf S. 16–24 präsentiert Weinacht einen Überblick und eine Kritik der älteren Literatur).

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von Rang bzw. Position in der Sozialordnung oder den „Zustand“ bzw. die „Verfassung“ einer Sache. Machiavelli, der den Terminus „stato“ nicht einheitlich verwendet, gebraucht ihn auch im Sinne vom gesellschaftlichen Status einer Person. So bezeichnet er sich in der Widmung des Principe als „Mann von geringem und durchaus niedrigem Stande (uomo di basso ed infimo stato)“.27 Im Übergang vom späten Mittelalter zur Frühen Neuzeit entwickelte sich die Bedeutung des Wortes „stato“ allmählich zur heute gängigen Verwendung im Sinne des modernen Territorialstaats. Ein wichtiger Schritt zur Ausbildung des modernen Staatsbegriffs ist der von Bodin und Hobbes ausgebildete Gedanke der Souveränität, der dazu diente, sowohl die Herrschaftsansprüche äußerer Mächte wie diejenigen des Papstes und des Kaisers im Heiligen Römischen Reich abzuwehren als auch diejenigen innerer Mächte wie der Stände, d.h. des Adels, der Prälaten und des Bürgertums der Städte. Thomas Maissen charakterisiert den modernen Staat folgendermaßen: „Dem Bürger und der Gesellschaft tritt eine unpersönlich gedachte, von ihren Repräsentanten und Amtsträgern gelöste juristische Person gegenüber, die souverän ist, also keine selbständigen Partikulargewalten unter sich oder Universalgewalten über sich anerkennt und die Gesetzgebung als Kern ihrer Herrschaftsgewalt und Kompetenzen ansieht und wahrnimmt“.28

Diese Definition grenzt den modernen Staat vom vormodernen „Personenverbands-“ und „Ständestaat“ des mittelalterlichen Lehenssystems ab. Aus dieser Perspektive kann Machiavelli, der vor allem die selbstständigen Herrschaftsgebilde Italiens und ihre „souveränen“ Gewalten vor Augen hatte, bereits als Vertreter des modernen Staatsbegriffs verstanden werden. Denn in Entsprechung zur vorherrschenden politischen Wirklichkeit des zeitgenössischen Italiens denkt der Florentiner das politische Gemeinwesen weder feudal noch ständisch noch universal.29 Die gängige Kategorie des modernen Staates muss jedoch als einheitliche Kategorie selbst hinterfragt werden. Gewiss bestehen bedeutende Unterschiede zwischen einem modernen Großflächenstaat, einem „mittelalterlichen Staat“, dem römischen Imperium, der römischen res publica und einer griechischen Polis der klassischen Antike. Stellten die „mittelalterlichen Staaten“ ein Gemisch an Hoheits- und Herrschaftsrechten von Gewalten auf verschiedenen Ebenen dar, war die antike Polis ein 27 Machiavelli 2003, Widmung, S. 4 f. 28 Maissen 2010, S. 55. 29 Nach Ernst Cassirer war die Quelle der Ehrfurcht und Bewunderung, die Machiavelli für Cesare Borgia empfand, „nicht der Mann selbst, sondern die Struktur des neuen Staates“, die „er geschaffen hatte. Machiavelli war der erste Denker, der vollständig begriff, was diese neue politische Struktur wirklich bedeutete. Er hatte ihre Entstehung gesehen und er sah ihre Wirkung voraus. Er nahm in seinen Gedanken den ganzen Verlauf des künftigen politischen Lebens Europas vorweg. Es war dieses Verstehen, das ihn bewog, die Form der neuen Fürstentümer mit der größten Sorgfalt und Gründlichkeit zu studieren“ (Cassirer 1985, S. 176; Hervorhebungen von E.C.).

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kleiner unabhängiger Personenverband, dessen Ausdehnung sich in der Regel auf ein überschaubares Territorium beschränkte. Sie bestand aus einer ummauerten Stadt und einem zugehörigen Stück Land. War eine antike Polis letztlich vor allem mit ihrer Bürgerschaft identisch, wurde der moderne Staat als eine eigenständige Rechtspersönlichkeit gedacht, der man – nach dem berühmten Wort Friedrichs des Großen – dienen konnte. Trotz derartiger Unterschiede zu geschichtlich vorangehenden politischen Gemeinwesen war auch der moderne Territorialstaat in einem steten und signifikanten Wandel begriffen. So erweiterte sich der moderne Staat sukzessive zum Nationalstaat, zum Rechtsstaat, zum demokratischen Volksstaat und zum Sozialstaat. Diese bedeutenden Veränderungen lassen die Einheit suggerierenden Wendungen wie der Staat oder der neuzeitliche oder moderne Staat als höchst fragwürdig erscheinen. Auch wenn der Staat als geschichtliches Phänomen ebenso wenig zeitlos ist wie der Terminus „Staat“, existieren doch Merkmale, die allen politischen Gemeinwesen bzw. Gemeinschaften geschichtlich übergreifend zukommen. Als solche sind etwa die von Jellinek angeführten drei „Elemente“ Land, Volk und Herrscher anzusehen. Machiavelli wurde vorgeworfen, dass er trotz seiner klaren und deutlichen Schreibweise nicht immer präzise im Ausdruck sei und dasselbe Wort für verschiedene Begriffe benutze oder identische Begriffe mit unterschiedlichen Wörtern bezeichne.30 Für die Klärung der Frage, ob der Florentiner als der erste Denker der Staatsräson verstanden werden muss, ist die Frage, ob er über einen Begriff des Staates oder gar bereits einen modernen Staatsbegriff verfügte, von zentraler Bedeutung. Im Principe kommt das Substantiv „stato“ 114 oder 115 Mal vor; seine Verwendung im Plural („stati“) ist das erste Substantiv des Buches.31 Über Machiavellis Verwendung des Terminus „stato“ im Principe und in den Discorsi gibt es eine Vielzahl an Studien.32 Die meisten Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass Machiavelli den Terminus uneinheitlich verwendet und in den wenigsten Fällen in der Bedeutung, die der Begriff „Staat“ im modernen politischen Vokabular angenommen hat. Dennoch gibt es gute Gründe, dieser Auffassung zu widersprechen.33 So stimmt bereits die erste Verwendung von „stato“, die im ersten Satz des Principe vorkommt, mit dem modernen Gebrauch des Terminus überein: 30 Prezzolini 1954, S. 3; vgl. Hexter 1973, S. 150. 31 Hexter 1973, S. 154, zählt 115 Okkurenzen, Maissen 2010, S. 61, lediglich 114. 32 Chabot 1967; Chiappelli 1952, S. 59–73; Chiapelli 1969; Condorelli 1923; De Vries 1957; Ercole 1926 (2. Kapitel: Lo Stato nel persiero di Machiavelli); Hexter 1973; Maissen 2010; Rubinstein 1971. 33 Dies ist in der Literatur bereits geschehen. So kommt die Studie von Fredi Chiappelli 1952 zu dem Resultat, dass das Wort „stato“ in 75 % der Okkurenzen im Principe „die Bedeutung von ,der Staat‘ in vollständiger Reife (tutta la sua maturità)“ hat (Chiappelli 1952, S. 68; vgl. Chiapelli 1969). Auch nach dem Übersetzer der Discorsi ins Deutsche, Rudolf Zorn, gebraucht Machiavelli „stato“ „häufig nur in der allgemeinen Bedeutung von Gemeinwesen oder Staat“ (Machiavelli 1977, S. LXIX).

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„Alle Staaten (stati), alle Reiche (dominii), die über Menschen Macht (imperio) hatten und haben, waren oder sind entweder Republiken oder Alleinherrschaften (sono stati e sono o republiche o principati)“.34

Machiavelli verwendet „stato“ hier sowohl in einem geschichtlich übergreifenden als auch in einem absoluten und unpersönlichen Sinne als Synonym für „dominio (Reich, Herrschaftsgebilde)“ und als Oberbegriff für verschiedene Herrschaftsordnungen, die er in Alleinherrschaften (principati) und Republiken (republiche) – definiert als Nicht-Alleinherrschaften – unterscheidet.35 Ein Staat (stato) ist nach Machiavelli eine Form von Herrschaft über eine Gruppe von Menschen.36 Diese Bestimmung kommt Boteros Definition von „Stato“ als „beständige Herrschaft über Völker“ und damit auch Jellinecks Staatsbegriff mit seinen drei Kernelementen Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt sehr nahe. In seiner Untersuchung über Machiavellis Verwendung von „lo stato“ stellt Hexter eine Reihe von Okkurrenzen zusammen, in denen „stato“ jeweils entweder „das Volk“, „das Land“, „das Volk und das Land“, „die Regierung“, oder die Kombination von „das Volk, das Land, und die Regierung“ bedeutet.37 Für Machiavellis absolute und unpersönliche Verwendung von „stato“, nach der das Wort ein dauerhaftes Herrschaftsgebilde bzw. ein politisches Gemeinwesen bezeichnet, lassen sich viele konkrete Beispiele anführen. So spricht er vom „Reich des Türken (stato del Turco)“ oder vom „französischen Staat (stato di Francia)“ und erklärt in einem Brief an Vettori, er widme sich seit 15 Jahren dem „Studium der Staatskunst (studio dell’arte dello stato)“.38 Machiavelli führt zudem aus, „alle Staaten (tutti li stati)“ hätten als zentrale Grundlagen gute Gesetze und ein gutes Militärwesen.39 In den Discorsi spricht er von einem „Staat, der sich eine freiheitliche Verfassung erkämpft hat (lo stato che diventa libero)“.40 Des Weiteren kennt Machiavelli eine „Majestät des Staates (maestà dello stato)“, die unabhängig von der Würde des Herrschers besteht, ja sogar das unwürdige Verhalten der Herrscherperson zu kaschieren vermag.41 In seinem Discursus florentinarum rerum post mortem iunioris Laurentii Medices, der an den Medici-Papst Leo X. und den Kardinal Giulio de’ Me34 „Tutti gli stati, tutti e’ dominii che hanno avuto e hanno imperio sopra gli uomini, sono stati e sono o republiche o principati“ (Machiavelli 2003, I, S. 8; Übers. M.K. und S.S.). 35 Vgl. ähnliche Verwendungen von „stato“ als Oberbegriff für die zwei Herrschaftsordnungen (republica, principato) in seinem Discursus florentinarum rerum post mortem iunioris Laurentii Medices, in: Machiavelli 1986, S. 205 und in den Discorsi: Machiavelli 1977, I.26, S. 78f. 36 Bereits der Anfangssatz des Principe falsifiziert Wolfgang Kerstings Behauptung: „nie wird von Machiavelli das Gemeinwesen, eine politische Lebensordnung, eine bürgerliche Gemeinschaft oder auch ein Königreich als ,stato’ bezeichnet“ (Kersting 1998, S. 103). 37 Hexter 1973, S. 161. Jellineks berühmte Trias wird von Hexter nicht erwähnt. 38 Brief an Vettori vom 10. Dezember 1513, in Machiavelli 1990, S. 435; Machiavelli 2003, IV, S. 32f. 39 Machiavelli 2003, XII, S. 92–94. 40 Machiavelli 1977, I.16, S. 57. 41 Machiavelli 2003, XVIII, S. 138 f.

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dici adressiert ist, möchte Machiavelli den Medici für Florenz einen „stato“ vorschlagen, der so eingerichtet ist, dass er sich nicht bloß von selbst erhalten, sondern auch regieren werde. Sie bräuchten dann nur noch ein halbes Auge auf ihn haben.42 Diese absoluten und unpersönlichen Verwendungen von „stato“ haben Vorläufer in den Florentiner Ratsprotokollen (Consulte e pratiche). Darin finden sich bereits um 1400 Wendungen wie „necessità di stato“, „pericolo di stato“ und „sicurezza di stato“.43 Um dieselbe Zeit ist auch bereits der Terminus „Kirchenstaat (stato di santa Chiesa)“ gängig, der sich auf das von der Kirche beherrschte Territorium bezieht.44 Dass dessen ungeachtet die Herrschaftspraxis im Kirchenstaat in der Frühen Neuzeit nur geringfügig Qualitäten eines Beamten- oder Anstaltsstaates aufweist, hat Wolfgang Reinhard mit seinen Forschungen zur Bedeutung der freundschaftlichen und klientelaren Patronagenetzwerke am päpstlichen Hof zu untermauern versucht.45 Machiavellis Verwendung von „stato“ impliziert, dass ein Herrschaftsgebilde bzw. dauerhaftes Gemeinwesen von seinen besonderen Herrschern abgelöst werden und als solches wissenschaftlich betrachtet werden kann. Das lässt sich zum einen durch die differenzierte Typologie der Fürstentümer veranschaulichen, die Machiavelli im ersten Kapitel des Principe skizziert und in Kapitel II–XIV ausarbeitet.46 Machiavelli verdeutlicht seine Differenzierung zwischen beständigen Staatsgebilden und ihren wechselnden Herrschern zum anderen durch seine Wendung der „ererbten Fürstentümer (principati erditari)“ bzw. der „ererbten Staaten (stati ereditari), die an das Geschlecht ihrer Fürsten gewöhnt sind“; solche Staaten zu bewahren (mantenerli) sei viel leichter als neu erworbene.47 Es lässt sich somit festhalten, dass Machiavellis politische Sprache (so wie auch jene anderer politischer Denker der Frühen Neuzeit wie Bodin, Botero oder Hobbes) durchaus den Staat in seinem neuzeitlichen Erscheinungsbild vorwegnimmt, ungeachtet der Tatsache, dass sich dieser in seiner historischen Epoche realgeschichtlich (als Herrschaftsinstitution und Herrschaftspraxis) noch in einem frühen Entwicklungsstand befindet.

42 Er spricht von „ordinare lo stato in modo che per se medesimo si amministri, e ch’alla Santità Vostra basti tenervi la metà di un occhio volto“ (Machiavelli 1986, S. 205). Da Machiavelli hier von einem „stato“ spricht, der sich quasi wie eine Verwaltungsmaschinerie selbst verwaltet („per se medesimo si amministri“), wird er mit dem Begriff die Herrschaftsordnung im Sinne haben und nicht einfach den Zustand von Florenz. 43 Vgl. Maissen 2010, S. 59, Gilbert 1957 und Tenenti 1987, S. 71 f. Diese Wendungen wecken starke Zweifel an Hexters Behauptung, der Terminus „stato“ wäre zu Beginn des 15. Jahrhunderts „not used in its modern political sense in any Western European language“ (Hexter 1973, S. 152). 44 Vgl. Maissen 2010, S. 60, und Tenenti 1987, S. 56. 45 Reinhard 2004. 46 Vgl. hierzu Knoll 2010, S. 110 f.; zu einer graphischen Darstellung der Begriffspyramide der Arten des Fürstentums, Ottmann 2006, S. 18. 47 Machiavelli 2003, II, S. 8 f.

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3. Machiavelli und die Staatsräson Im zweiten Kapitel des Principe erklärt Machiavelli, dass er sich in seiner Schrift der Frage widmen wird, wie die verschiedenen Fürstentümer „regiert und bewahrt werden können (come questi principati si possino governare e mantenere)“.48 Die Erhaltung einer Herrschaft bzw. eines Staates und die Reflexion auf die Mittel, die für diesen Zweck erforderlich sind, sind nicht bloß die zentralen Themen des Principe, sondern auch der Staaträson. Machiavelli bringt seine Zielsetzung, die staatliche Ordnung stabil zu bewahren, mit seiner berühmten Wendung „mantenere lo stato“ zum Ausdruck.49 Um dieses Ziel zu erreichen, so macht er wiederholt deutlich, muss ein Fürst auch in der Lage sein, unmoralische Mittel einzusetzen. In der Literatur finden sich verschiedene Übersetzungen und Interpretationen von Machiavellis Wendung „mantenere lo stato“, die den drei Bedeutungen von „stato“ entsprechen. Nach der ersten Deutung meint der Florentiner „damit lediglich die Bewahrung eines gegebenen Zustandes“.50 Die zweite Interpretation kommt in der gängigen Übersetzung mit „seine Herrschaft (zu) behaupten“ zum Ausdruck.51 In dieser Übertragung wird „stato“ vor allem mit dem „Stand“ bzw. der Position identifiziert, die der Fürst in der sozialen Hierarchie einnimmt. Wenn man wie Harvey Mansfield bei Machiavelli noch keine Konzeption eines „impersonal state“ erkennen kann, dann liegt es nahe, „stato“ vor allem auf den Herrscher zu beziehen.52 Diese Übersetzung suggeriert, dass Machiavelli „mantenere lo stato“ vor allem als das egoistische Ziel des Fürsten versteht. Nach der dritten Deutung meint Machiavellis Wendung „mantenere lo stato“ „mehr als den Status des Fürsten – er will seinen herrschaftlichen Zustand erhalten, aber er bewahrt so unbesehen davon auch die staatliche Ordnung“.53 Dieser Deutung zufolge fallen die drei Bedeutungen von „stato“ in Machiavellis Wendung zusammen. Kann der Fürst seine soziale Position als Herrscher behaupten, bewahrt er zugleich den bestehenden Zustand des Gemeinwesens und die staatliche Ordnung. Die verschiedenen Stellen im Principe, an denen Machiavelli die Wendung „mantenere lo stato“ verwendet, erlauben für sich betrachtet noch keine eindeutige Klärung der Frage, welche der drei Interpretationen die angemessenste ist. Für die Deutung, dass er mit der Wendung auf mehr als nur auf den Status des Fürsten abzielt, lassen sich jedoch bereits einige sprachliche Argumente anführen. So äußert der Florentiner im Kontext dieser Stellen auch, dass ein Fürst in der Lage sein muss, unmo48 49 50 51

Ebenda, II, S. 8 (Übers. modifiziert von M.K. und S.S.). Ebenda, XVIII, XIX; S. 138–141, 152 f. Campagna 2012, S. 61 (Hervorhebungen von M.K. und S.S.). Machiavelli 2003, XVIII, XIX; S. 139, 141, 153; vgl. Machiavelli 1978, S. 73 f., Machiavelli 1990, XVIII., S. 98. 52 Mansfield 1983, S. 849–857. 53 Maissen 2010, S. 62.

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ralische Mittel einsetzen, um sich selbst bzw. seinen „stato“ zu bewahren (volendosi mantenere).54 Diese Differenzierung legt es nahe, dass „mantenere lo stato“ mehr als nur den Status des Fürsten meint. Dafür spricht vor allem die Definition von „stato“, die Machiavelli zu Beginn des Principe präsentiert. Des weiteren führt Machiavelli aus: „Lass nur einen Fürsten siegen und den Staat erhalten (vincere e mantenere lo stato), dann werden die Mittel dazu immer für ehrenvoll gehalten und von jedermann gelobt werden“.55 In diesem Satz differenziert der Florentiner zwischen einem nicht näher erläuterten Sieg des Fürsten und der von ihm geleisteten Erhaltung des „stato“. Es ist unwahrscheinlich, dass „stato“ hier lediglich den Status des Fürsten meint und nicht auch die stabile Bewahrung der staatlichen Ordnung. Denn sonst wäre es nicht nachvollziehbar, warum der Fürst für seine Erfolge trotz des Einsatzes von unmoralischen Mitteln allgemeine Anerkennung erfahren sollte. Aus mehreren Stellen des Principe geht eindeutig hervor, dass Machiavelli durchaus die positiven Wirkungen der Stabilisierung staatlicher Ordnung (wie die Unterbindung nicht-staatlicher Gewalt oder die Gewährleistung der Sicherheit von Leben und Besitz der Untertanen) im Blick hat und diese als das Ziel politischer Herrschaft begreift. Die These, dass die dritte Deutung von Machiavellis Wendung „mantenere lo stato“ die angemessenste ist, lässt sich somit vor allem mit inhaltlichen Argumenten begründen. In seinem Werk sieht Machiavelli sowohl die Gründung einer guten staatlichen Ordnung als auch deren stabile Bewahrung durchgängig als vorrangige Zwecke und letzte Richtpunkte des politischen Handelns an. Für die Erreichung beider Ziele kann der Fürst von geschichtlichen Vorbildern lernen, die er – zumindest partiell – nachahmen (imitare) soll. So muss er etwa „von Severus übernehmen, was zur Gründung seiner Herrschaft nötig ist, und von Mark Aurel, was zur Erhaltung eines bereits gefestigten und gesicherten Staates geeignet und rühmlich ist (pigliare … quelle parti … che sono convenienti e gloriose a conservare uno stato che sia di già stabilito e fermo)“.56 In dieser Passage verwendet Machiavelli die Wendung „conservare uno stato“, in der sich „stato“ auf eine bereits etablierte staatliche Ordnung bezieht, gleichbedeutend mit „mantenere lo stato“. Die gängige, allein auf den Status des Fürsten fixierte, Übersetzung von „mantenere lo stato“ blendet aus, dass von einem Scheitern nicht nur er selbst, sondern ebenso seine Untertanen betroffen sind. Dessen ist sich Machiavelli wohl bewusst. Denn der Machtverlust eines Fürsten ging zu seiner Zeit häufig mit einem gewalt54 Machiavelli 2003, XV, S. 118 f. Hexter überträgt „mantenere lo stato“ mit „keep lo stato in hand“ oder mit „keep a grip on lo stato“ und behauptet über Machiavelli: „He does not distinguish at all between the prince maintaining lo stato and the prince maintaining himself in lo stato or simply maintaining himself“ (Hexter 1973, S. 157; Hervorhebungen von M.K. und S.S.). Die oben angeführte Passage belegt, dass Hexters Behauptung unzutreffend ist. 55 Ebenda, XVIII, S. 140 (Übers. modifiziert von M.K. und S.S.). Auch Russell Price übersetzt „mantenere lo stato“ hier mit „to preserve the state“ und erläutert: „the context seems to imply that stato signifies ,political community‘, not just ,the government‘“ (Machiavelli 1988, S. 63). 56 Machiavelli 2003, XIX, S. 162 f. (Übers. modifiziert von M.K. und S.S.).

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samen Umsturz einher oder hatte gar einen Bürgerkrieg zur Folge. An der sich hartnäckig haltenden Fehldeutung, Machiavelli trenne Politik und Moral unaufhebbar, dürften derartige Übersetzungs- und Interpretationsprobleme nicht ganz unbeteiligt sein.57 Denn sie führen dazu, dass die ethische Dimension, die für Machiavelli mit der Staatserhaltung verknüpft ist, kaum in den Blick kommt. Diese wird deutlich, wenn man sich das Leiden und die Schrecken vergegenwärtigt, die ein gewaltsamer Umsturz oder ein Bürgerkrieg für die Untertanen bedeuten. Die Erhaltung der staatlichen Ordnung verhindert solche schrecklichen Folgen. Aus der Perspektive einer konsequenzialistischen Ethik, der zufolge die Moralität von Handlungen im Hinblick auf ihre Folgen beurteilt werden muss, wird deutlich, dass die stabile Bewahrung der staatlichen Ordnung, die dem Fürsten von Machiavelli vorgegeben wird, als ethisch guter und wertvoller Zweck des politischen Handelns begriffen werden muss.58 Dasselbe trifft für die Gründung einer guten staatlichen Ordnung zu, vor allem wenn davor anarchische oder – wie in Italien zu Machiavellis Zeit – bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Der Florentiner erklärt über Romulus’ Brudermord bei der Stadtgründung: „Spricht auch die Tat (fatto) gegen ihn, so wird er doch durch ihre Folgen (effetto) entschuldigt. Und wenn diese gut sind wie bei Romulus, so werden sie ihn immer entschuldigen. Denn nur wer Gewalt braucht um zu zerstören und nicht, wer sie braucht um aufzubauen, verdient Tadel.“59 In diesem Passus äußert Machiavelli unmissverständlich die Ansicht, dass in der Politik die Folgen einer (moralisch schlechten) Handlung durch die positiven Konsequenzen für das Gemeinwesen im Nachhinein betrachtet gerechtfertigt werden können. Die Erkenntnis der Mittel, die zur Gründung einer Herrschaft bzw. eines Staates erforderlich sind, ist nach Boteros Definition eines der drei Themen der Staatsräson. Die gängige, allein auf den Status des Fürsten fixierte, Übersetzung von „mantenere lo stato“ blendet zudem aus, dass Machiavelli den Staat als moralische Instanz ansieht, die den Menschen durch Gesetze, Sitten, Erziehung und Religion verbessern kann. Der Florentiner spricht dem Staat, genauer, einer guten staatlichen Ordnung, eine moralische und sittliche Dignität zu. So führt er ein Beispiel aus der römischen Geschichte an, das ihm zufolge bezeugt, dass „die Menschen nur von der Not (necessità) gezwungen etwas Gutes tun. Wenn ihnen freie Wahl (elezione) bleibt und 57 Die Deutung, Machiavelli trenne Politik und Moral, wurde paradigmatisch von Benedetto Croce formuliert. Nach Croce entdeckt Machiavelli die Autonomie der Politik, die ihre eigenen Gesetze habe und vom moralisch Guten und Schlechten getrennt sei (Croce 1973, S. 137). In der neueren Literatur wird diese Deutung etwa von Mittermaier 1990, S. 398, und Schwaabe 2007, S. 112–117, vertreten. 58 Vgl. zur Begründung der Thesen, dass Machiavelli als konsequentialistischer Verantwortungsethiker verstanden werden muss, und dass Max Webers Auffassung von der Verantwortungsethik als der spezifisch politischen Ethik auf Machiavelli zurückgeht, Knoll 2003 und Knoll 2015. 59 Machiavelli 1977, I. 9, S. 36 f. (Abwandlung der Übersetzung von Rudolf Zorn durch M. K. und S.S.).

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sie tun können, was sie wollen, gerät alles sofort in Verwirrung und Unordnung. Darum sagt man: ,Hunger und Armut machen die Menschen arbeitsam, Gesetze machen sie gut‘“.60 Aus der moralischen und sittlichen Dignität, die Machiavelli einer guten staatlichen Ordnung zuerkennt, folgt zwingend, dass er ihre Gründung und Erhaltung als erstrangige und moralisch wertvolle Ziele politischen Handelns ansieht. Die moralische und sittliche Dignität einer guten politischen Ordnung verdeutlicht, wie unangemessen die immer noch vorherrschende Interpretation ist, nach der Machiavelli die Politik von der Moral trennt. Wolfgang Kersting behauptet zudem die „Ausgrenzung der Ethik aus der Politik“, und dass es für den Florentiner „zur Steigerung der Handlungsmächtigkeit eines Fürsten notwendig ist, das politische Handlungsfeld von allen sittlichen Einflüssen frei zu halten“.61 Ebenso unangemessen wie diese Ansicht ist Herfried Münklers Auffassung, dass bei Machiavelli die „Abweisung aller ethischen Normierungen der Politik“ zu konstatieren sei bzw. dass bei ihm das „Feld der Politik“ „moralisch nicht normiert“ sei.62 Machiavelli beurteilt den Staat als eine wertvolle rechtlich-sittliche Institution, die die Moralität und Tüchtigkeit der Bürger ermöglicht und fördert. Als solche ist der Staat ein zentraler Bestandteil des „Felds der Politik“ bzw. des „politischen Handlungsfelds“. Allein schon deshalb erweist sich die vorherrschende Interpretation, nach der Machiavelli die Politik von der Moral trennt, als unangemessen.63 Die Gründung und stabile Bewahrung eines Staates sind moralisch und sittlich wertvolle Zwecke der Politik. Die erfolgreiche Verwirklichung dieser Zwecke durch virtuoses politisches Handeln rechtfertigt für Machiavelli auch den Einsatz von moralisch verwerflichen Mitteln.

60 Ebenda, I. 3, S. 18. Analog dazu erklärt Machiavelli im Principe: „die Menschen werden sich dir gegenüber immer als böse erweisen, wenn sie nicht gezwungen werden, gut zu sein (sempre ti riusciranno tristi, se da una necessità non sono fatti buoni)“ (Machiavelli 2003, XXIII, S. 186 f.). Die moralische bzw. ethische Dimension von Machiavellis Staatsdenken wurde von der Literatur schon lange erkannt. So erklärt Friedrich Meinecke über den Florentiner: „Moralische Güte und Gerechtigkeit waren für ihn also Werte, die gemacht wurden und gemacht werden konnten durch die Zwangsgewalt des Staates, – wie hoch stand da der Staat, wie tief das menschliche Individuum in seiner Schätzung“ (Meinecke 1929, S. 42). Hans Freyer führt treffend aus: „Der Staat als Ordnungsgebilde ist für Machiavelli ein Wert ersten Ranges. In ihm wird der Mensch erst zum moralischen Wesen, erst zum Menschen“ (Freyer 1986, S. 81). Nach Leonhard von Muralt muss „der Staat in den Bereich der ethischen Werte eingeordnet werden“: „Der Staat ist dazu da, sittliches Handeln in einem bestimmten Sinne überhaupt erst möglich zu machen“ (Muralt 1945, S. 91 f.). In der neueren Literatur erklärt Carl Joachim Friedrich: „Denn für Machiavelli war der Staat, oder vielmehr die civitas, die wesentliche Voraussetzung aller Tugend, der Schöpfer aller Werte“ (Friedrich 1961, S. 11; Hervorhebungen von C.F.). Analog dazu äußert Herfried Münkler: „Indem der Staat seinen Zwang und seine Gewalt gegen das dem menschlichen Wollen und Handeln immanente Böse richtet, wird er selbst zum Schöpfer des Guten. Recht, Sitte und Moral entstehen bei Machiavelli erst durch den Staat“ (Münkler 1984, S. 266, vgl. S. 284; Hervorhebungen H.M.). 61 Kersting 1988, S. 240 f. 62 Münkler 1984, S. 290, 292. 63 Vgl. zu weiteren Argumenten gegen die vorherrschende Interpretation, Knoll 2003.

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Die geschichtliche und zeitgenössische Erfahrung lehrt den politischen Realisten, dass Gewaltmittel in verschiedenen politischen Situationen unumgänglich sind. Münklers Auffassung, dass bei Machiavelli die „Abweisung aller ethischen Normierungen der Politik“ zu konstatieren sei, ist nicht bloß im Hinblick auf die vorrangigen Zwecke und letzten Richtpunkte des politischen Handelns unzutreffend. Diese Interpretation übersieht auch, dass Machiavelli den unumgänglichen Einsatz von unmoralischen Mitteln zur Erhaltung des Staates einschränkt und ethisch reglementiert. So erklärt er in Kapitel XV des Principe, der Fürst müsse „die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein, und diese anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Notwendigkeit (secondo la necessità)“.64 Dass es sich hierbei um einen ethischen Imperativ handelt, zeigt die Reformulierung dieses Handlungsprinzips im berüchtigten Kapitel XVIII. Darin führt er aus, der Fürst benötige Seelenstärke und müsse bereit sein, „vom Guten so lange nicht abzulassen, wie es möglich ist, aber sich zum Bösen zu wenden, sobald es nötig ist (non partirsi dal bene, potendo, ma sapere intrare nel male, necessitato)“.65 Machiavelli ist davon überzeugt, dass sich das Kriterium dafür, ob eine solche Notwendigkeit besteht oder nicht, der geschichtlichen und zeitgenössischen politischen Erfahrung entnehmen lässt.66 Nach Machiavelli besteht eine derartige Notwendigkeit etwa dann, wenn man in einem Staat nach einer Alleinherrschaft eine Republik gründen will. In einem solchen Fall ist es notwendig („necessario“), die Feinde der neuen Ordnung zu töten.67 Andernfalls kann die Republik nicht stabil bewahrt werden, weil diese – getrieben von ihrem Ehrgeiz – sie früher oder später umstürzen werden. Nach Machiavelli zeigt die Erfahrung, dass diese Regel richtig ist. Während die römische Republik nach der Exekution der Söhne des Brutus dauerhaft erhalten werden konnte, scheiterte die neue Republik Florenz, weil Piero Soderini ihre Feinde nicht töten ließ.68 Machiavelli zieht aus diesem Vergleich und aus Soderinis Scheitern eine weitere Lehre: Niemals darf man „aus Rücksicht auf etwas Gutes einem Übel freien Lauf lassen, wenn dies Gute von dem Übel leicht erdrückt werden kann. Da man seine Handlungen und seine Absichten nach dem Erfolg zu beurteilen hatte, so mußte er doch glauben, daß er, wenn ihm Glück und Leben erhalten geblieben worden wären, jedermann hätte überzeugen können, daß er alles nur zum Wohl des Vaterlandes (salute della patria) und nichts aus Ehrgeiz getan hätte.“69

64 Machiavelli 2003, XV, S. 118 f. 65 Ebenda, XVIII, S. 138 f. 66 Vgl. zu Machiavellis wissenschaftlichen und methodischen Ansatz und zu seinem Verfahren, aus dem Vergleich zeitgenössischer und geschichtlicher Fälle politischen Handelns allgemeine Regeln abzuleiten, Knoll 2010. 67 Machiavelli 1977, I. 16, S. 58; III. 3, S. 281. 68 Ebenda, I. 16, S. 58 f.; III. 3, S. 281 f. 69 Ebenda, III. 3, S. 282.

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Machiavelli sieht selbst den Einsatz von grausamen Mitteln als gerechtfertigt an, wenn ein Machthaber aus der geschichtlichen und zeitgenössischen Erfahrung erkennen kann, dass er sich selbst und damit eine neu erworbene staatliche Ordnung nicht anders erhalten kann. Eine derartige Zwangssituation erlaubt allerdings nur ihre begrenzte Anwendung; und damit sie tatsächlich gerechtfertigt ist, muss sie zusätzlich noch den größtmöglichen Nutzen der Untertanen zur Folge haben, den er dem Fürsten als Zweck vorgibt. Gut angewandt kann man Grausamkeiten nur „nennen – wenn es erlaubt ist, vom Schlechten etwas Gutes zu sagen –, die man auf einen Schlag ausführt aufgrund der Notwendigkeit (necessità), sich zu sichern, und bei denen man dann nicht verharrt, sondern sie – soweit wie möglich – in Wohltaten für die Untertanen verwandelt (in più utilità de’ sudditi)“.70 Der Nutzen und das Wohl der Untertanen bzw. Bürger sind für Machiavelli wichtige Kriterien der Bewertung des politischen Handelns. Das zeigt sich auch daran, dass er an der traditionellen Kategorie des Gemeinwohls („commune utilità“, „bene comune“) festhält.71 In seinen Werken argumentiert Machiavelli häufig mit Vergleichen, in denen er jeweils ein politisches Handeln, das unmoralische Mittel für gute Zwecke einsetzt, einer Handlungsweise gegenüberstellt, die dies unterlässt. Die Lehre dieser Vergleiche ist, dass politisches Handeln, das davor zurückschreckt, unmoralische oder grausame Mittel einzusetzen, in der Regel schlechte und moralisch verwerfliche Folgen für den Staat zeitigt. So vergleicht er die Politik von Florenz in Pistoia mit Cesare Borgias Politik in der von ihm eroberten Romagna. Die Florentiner schreckten davor zurück, mit Gewalt den Bürgerkrieg zu beenden, was katastrophale Folgen nach sich zog. Cesare Borgia gelang es, durch den begrenzten Einsatz von grausamen Mitteln die Romagna zu ordnen, zu einen und zu befrieden: „Bei genauer Betrachtung wird man feststellen, daß er so viel mehr Milde besaß als das Volk von Florenz, das – um dem Ruf der Grausamkeit zu entgehen – zuließ, daß Pistoia zerstört wurde (si vedrà quello essere stato molto più pietoso)“.72 Machiavellis scharfsinnige Überlegungen zur Logik der staatlichen Selbsterhaltung und der dazu erforderlichen Mittel rechtfertigen es, ihn als den geschichtlich ersten Denker der Staatsräson anzusehen. An seiner politischen Ethik der Staatsgründung und Staatserhaltung ist nicht bloß bemerkenswert, dass er lange vor Jeremy Bentham und John Stuart Mill die moralische Qualität von Handlungen nach ihren Folgen beurteilt.73 Bemerkenswert ist auch, dass er knapp 300 Jahre vor Entstehung des modernen Nationalismus den Staat, den es zu gründen oder zu erhalten gilt, bereits auf „proto-nationalistische“ Weise versteht.74 So ruft er im Schlusskapi70 71 72 73 74

Machiavelli 2003, VIII., S. 72 f. Machiavelli 1977, I. 2, S. 14; II. 2, S. 169. Machiavelli 2003, XVII, S. 126–129. Bentham 1948, Mill 1976. Vgl. zu Machiavellis „Frühnationalismus“ und zu seiner Deutung als Patrioten im Kontext des deutschen und des italienischen Nationalismus Knoll/Saracino 2010, S. 13–15.

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tel des Principe wortgewaltig dazu auf, Italien („Italia“) mit italienischer Tüchtigkeit („virtù italica“) von den Barbaren zu befreien.75 Zudem erklärt er, dass eine „nazione“ „lange die gleichen Gewohnheiten“ behält, und dass die alten Germanen und Gallier dieselben Eigenschaften hatten wie die Deutschen und Franzosen seiner Zeit.76 Nach Machiavelli rechtfertigt der ethisch gute Zweck der Erhaltung des Staates vor allem dann den Bruch bestehenden Rechts und den Einsatz von unmoralischen Mitteln, wenn es sich dabei um das eigene Vaterland (patria) handelt: „Wo es um das Wohl und Wehe des Vaterlandes (salute della patria) geht, darf man nicht überlegen, ob es recht oder unrecht (né di giusto né d’ingiusto), mild oder grausam, löblich oder schändlich ist. Man muß vielmehr jede Rücksicht beiseitelassen und darf nur die Maßnahmen ergreifen, die ihm Leben und Freiheit retten.“77

4. Giovanni Boteros Della Ragion di Stato (1589) zwischen Kirchenräson und Staatsräson Es ist den Philosophie- und Ideenhistorikern längst bekannt, dass die Spurensuche im Hinblick auf die Entstehung des Begriffs der Staatsräson und der mit ihm einhergehenden politischen Handlungslogik in den Bereich der Kirchenpolitik und der dogmatisch-konfessionellen Streitliteratur führt. Seit Augustinus galt die Maxime, dass es zum Schutz der Kirche und der von der Kirche vertretenen religiösen Wahrheit nötig sein kann, Handlungsmittel einzusetzen, die gegen ihre eigenen Werte verstoßen. Die Auffassung, wonach man sich von den Geboten des Rechts, der Moral und sogar der Religion dispensieren dürfe, um die Kirche und den Glauben vor ihren Feinden zu schützen, erhielt nach der Glaubensspaltung in Europa und im Rahmen der hierauf folgenden Konfessionalisierung höchste Relevanz.78 Sowohl was seine Biographie als auch was die Signatur seines Traktats über die Staatsräson anbelangt, scheint Botero perfekt in dieses Bild zu passen. Der 1544 im piemontesischen Bene bei Cuneo geborene Botero war mit Leib und Seele Kirchen75 76 77 78

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Machiavelli 2003, XXVI, S. 204 f. Machiavelli 1977, III. 43, S. 396 f. Ebenda, III. 41, S. 395. Bereits Carl J. Friedrich hat darauf hingewiesen, dass die Logik der Staatsräson verstanden als Außerkraftsetzung moralischer, rechtlicher und religiöser Normen zum Zweck der Erhaltung des Staates häufig bei konfessionellen Autoren (wie Botero oder den Monarchomachen in Frankreich) anzutreffen ist, die den Staat als Schutzmacht für die Konfession gegenüber den Konfessionsfeinden begreifen (s. Friedrich 1961). Zu Augustinus’ Lehre vom bellum iustum als Orientierungspunkt der katholischen, kirchennahen Autoren von Traktaten über die Staatsräson, die sich gegen den Machiavellismus und dessen Priorisierung der Politik gegenüber der Religion richten, Campagna 2012, S. 57f., 62f. Laut Birley liegt das Geheimnis des rezeptionsgeschichtlichen Erfolges von Boteros Schrift darin, dass sie die Lehre von der Staatsräson an das historische Klima der Konfessionalisierung und der konfessionellen Auseinandersetzungen anpasste und neu formulierte, s. Bireley 1990, S. 45.

mann. Er genoss seine Ausbildung im Jesuiten-Orden, aus dem er jedoch aufgrund mangelnder Disziplin gegenüber den Ordensoberen austreten musste. Später war er als Sekretär und Berater von Kardinälen (aus der Mailänder Familie Borromeo) tätig.79 Gegenüber den Idealen der Gegenreformation vertrat er ein auf rigorose Weise loyales Staatsdenken, weshalb seine Schrift Della Ragion di Stato (Erstdruck in Venedig 1589) als „gutes Brevier für politisierende katholische Beichtväter“ bezeichnet worden ist.80 Laut dem besten Kenner seiner Biographie, Luigi Firpo, war die geistige und emotionale Heimat von Botero die römische Kirche.81 Die von Artemio Enzo Baldini ausgewerteten Archivmaterialien aus dem Geheimarchiv des Vatikans legen zudem nahe, dass Boteros Della Ragion di Stato im Auftrag der obersten Zensurbehörde des Vatikans entstand (der Congregatio Indicis Librorum Prohibitorum), für die er in den 1580er Jahren auch als Gutachter und Rezensent tätig war. Mit seinem Werk sollte Botero offensichtlich die „häretischen“ Lehren Machiavellis und Bodins unschädlich machen.82 Er sollte auf Wunsch der Kongregation einen (lang ersehnten) Traktat vorlegen, der als Antidot gegen den Einfluss des Machiavellismus zu fungieren vermochte. Die uralte Handlungslehre, wonach unmoralische, unrechtliche und sogar unreligiöse Mittel in der Politik unter Umständen zulässig sein konnten, sollte in ihrer säkularisierten Version, wie sie Machiavelli formuliert hatte, widerlegt und wieder dem summum bonum der Erhaltung der Kirche und der von ihr verwalteten religiösen Wahrheit unterstellt werden. Dies war eines von zahlreichen intellektuellen und publizistischen Projekten dieser Epoche, mit denen man auf die akute Bedrohung des katholischen Glaubens durch die protestantischen Konfessionen zu reagieren versuchte. Das Ersinnen von politischen Mitteln, mit denen die Religions- und Konfessionsfeinde (die protestantischen „eretici“ und die osmanischen „infedeli“) geschwächt werden können, die „Kirchenräson“ in ihrer Reinform also, füllt tatsächlich viele Seiten in Boteros Schrift. Ähnlich wie Machiavelli antike politische Autoren im Horizont der Problem- und Fragestellungen seines Denkens „ausschlachtete“, zog Botero die berüchtigten Ratschläge des Aristoteles heran, wie man die tyrannische Herrschaft in der Polis stabilisieren und auch (moralisch) bessern könne, um die Umgangsformen des Staates mit anderskonfessionellen Untertanen festzulegen. Von der 79 Zu Boteros Biographie Chabod 1934; Firpo 1971; Baldini 1992. 80 Meinecke 1929, S. 81; zur Vereinnahmung von Boteros Staatsdenken vom Klima und von den Idealen der Gegenreformation auch Lutz 1961. 81 „La vera patria del cuore fu pel Botero la Chiesa di Roma“ (Firpo 1948, S. 27). 82 Baldini 2001; vgl. Reinhardt 2015. Diese Zielsetzung von Boteros Werk wurde bereits von seinem Zeitgenossen, dem politischen Satiriker Boccalini, erkannt. Boccalini warf ihm vor, eine Lehre von der Staatsräson entworfen zu haben, die vor allem der Kirche zupass kam. Trotz seiner Tätigkeit als Beamter des Kirchenstaates und seiner Kontakte zum hohen römischen Klerus war Boccalini höchstwahrscheinlich nicht darüber im Bilde, dass Boteros Buch einem offiziellen Auftrag durch die Congregatio Indicis Librorum Prohibitorum entsprang, vgl. Beitrag Saracino in diesem Band.

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Prämisse ausgehend, dass die Glaubenseinheit zur Gewährleistung nicht nur des Seelenheils der Untertanen, sondern auch des Friedens und der Stabilität im Staat unverzichtbar sei, schlägt Botero eine Reihe von Maßnahmen vor, durch die man die anderskonfessionellen Gruppen im Staat materiell und psychologisch schwächen könne. Ein Wiederhall der militanten Praktiken der gegenreformatorischen Kirche ist hier schwer zu überhören.83 Das Schlusskapitel von Boteros Della Ragion di Stato, das den Titel trägt „Contra chi si debbano voltar le forze“ (Gegen wen die Kräfte [des Staates] zu richten sind), ruft dazu auf, alle Energien gegen die Protestanten („eretici“) und die Ungläubigen („infedeli“) zu richten. Im Stil des Fürstenspiegels hält Botero in seiner Schrift zudem am traditionellen Katalog der Herrschertugenden fest, wobei vor allem die Bedeutung des Besitzes der Tugend der Frömmigkeit (religione) seitens des Herrschers im Sinne des Wohls des Gemeinwesens hervorgehoben wird.84 Die Strategie, die Botero wählt, um die Bedrohung des Machiavellismus und des Tacitismus zu entschärfen, besteht darin, deren ruchlose und falsche Lehre von der Staatsräson, die laut Botero an den Höfen allenthalben im Umlauf sei, durch eine gute und konfessionell geläuterte Auffassung von der Staatsräson zu ersetzen: „[...] Es hat mir größte Verwunderung bereitet, dass man den ganzen Tag hindurch die Staatsräson im Munde führt und sich auf diese Weise mal auf Niccolò Machiavelli, mal auf Cornelius Tacitus bezieht: Diesen, weil er Anweisungen erteilt, die auf die Regierung und die Beherrschung der Völker bezogen sind, jenen, weil er plastisch die Künste beschreibt, die von Tiberius Caesar verwendet wurden, um die Regierungsgewalt über Rom zu erlangen und zu erhalten. [...] Solcherart, weil ich mir vorgenommen hatte sowohl dem einen als auch dem anderen einen Schlag auszuteilen, fand ich heraus, dass Machiavelli insgesamt die Staatsräson auf dem Mangel an Gewissen [poca conscienza] gründet und dass Tiberius Caesar seine Tyrannei und seine Grausamkeit mit einem äußerst barbarischen Majestätsgesetz [legge di maestà] bemäntelte sowie mit anderen Handlungsweisen, die nicht einmal von den feigsten Frauenzimmern auf der Welt hingenommen worden wären, geschweige denn von den Römern, wenn C. Cassius nicht der letzte ihrer Sorte gewesen wäre. Mithin wunderte ich mich deshalb sehr, dass ein derart gottloser [empio] Autor und derart niederträchtige Handlungsweisen eines Tyrannen so hoch geschätzt werden und nahezu für die Norm und Idee dessen gehalten werden, was die Verwaltung und die Regierung der Staaten [nell’amministrazione e nel governo degli Stati] ausmacht.“85

83 Zu den von Botero vorgeschlagenen Maßnahmen gehört der Entzug von Adelstiteln, das Verbot des Waffenbesitzes und des Reitens von Pferden, besondere Vorschriften für die Bekleidung, bis hin zum Verbot, Bücher zu drucken oder sich an öffentlichen Orten zu versammeln, s. Botero 1948, V/2-8; vgl. Aristoteles, Politik, V/11, 1313a-1315b. 84 Botero behandelt 6 Tugenden, die nacheinander erörtert werden: giustizia (I/12-18), liberalità (I/19-22), prudenza (II/1), valore (II/10), religione (II/15-16), temperanza (II/17), s. Bireley, 1990, S. 56. 85 Botero 1948, Proömium, S. 51f. (Übersetzung M.K. und S.S.); zum Kontrast von wahrer und falscher ragion di stato im frühneuzeitlichen Diskurs über die Staatsräson Campagna 2012.

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Der römische Historiker Cornelius Tacitus ist der in Della Ragion di Stato am häufigsten zitierte antike Autor. Dessen schonungslose Offenlegung der Herrschaftstechniken der römischen Kaiser wurde in der Frühen Neuzeit zum Surrogat für Machiavellis Lehre, weil die Werke des Florentiners von der Kirche auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt worden waren und deshalb von den Gelehrten nicht mehr zitiert werden durften.86 Für Botero besteht Machiavellis Hauptvergehen darin, dass er das Problem der Staatsräson losgelöst vom göttlichen Recht (legge di Dio) und vom Gewissen (conscienza) betrachtet habe.87 In einer anderen der wenigen Stellen, wo der verfemte Florentiner in Boteros Traktat namentlich genannt wird, zeigt sich dieser darüber skandalisiert, dass Machiavelli alles Erdenkliche zum Nachteil der Kirche vorgetragen habe, sich jedoch über die größte Bedrohung der Christenheit, dem Vormarsch der Türken, ausgeschwiegen habe.88 Damit dass man Botero als „politisierenden katholischen Beichtvater“ und als fanatisch-militanten Anhänger der Gegenreformation verortet, ist es jedoch noch nicht getan. Überaus signifikant ist, dass die politischen Führungsriegen der Kirche, die Della Ragion di Stato in Auftrag gegeben hatten, auf Boteros Schrift mit sichtlicher Enttäuschung reagierten. Laut einem Brief des Kardinals Filippo Sega habe sich Botero mit diesem Werk eher als kompetenter Philosoph hervorgetan, denn als eifriger Streiter für die konfessionelle Sache.89 Denn letzteres hieß im geschichtlichen Kontext der späten 1580er Jahre vor allem, dass man als Bekämpfer sowohl der französischen Hugenotten in Erscheinung trat als auch der Herrschaftsambitionen des Protestanten Heinrich von Navarra und der säkularisierenden Haltung der politiques.90 Boteros Werk ist mehr als nur ein Zeugnis für den propagandistischen Schlagabtausch der Konfessionen und für die zahllosen konfessionellen Streitschriften, die in seiner Zeit durch die Druckerpressen liefen. Begriffsgeschichtlich ist sein Werk vor allem bedeutsam, weil es, zumal es von höchster kirchlicher und politischer Stelle 86 Siehe die Quantifizierung von Boteros Zitaten aus antiken Autoren bei Schellhase 1992, S. 252. 87 Botero 1948, S. 52. 88 „In der Tat weiß ich nicht mit welchem Dafürhalten sich die Staatsräson gegenüber den Christen als feindseliger herausstellen soll, als gegenüber den Türken oder anderen Ungläubigen: Machiavelli ruft auf gottlose Weise gegen die Kirche aus, und gegen die Ungläubigen öffnet er nicht einmal den Mund“ (Botero 1948, X/9, S. 338, Übersetzung M.K. und S.S.). 89 „[…] weil er [Botero] meines Erachtens mehr darum bemüht ist, sich als guter Philosoph hervorzut, denn als Verfolger ex professo dieser neuen Sekte der Republikaner [gemeint sind die politiques in Frankreich], die mit jener lesbischen Regel der Staatsräson [quella Regola Lesbia della ragione di Stato] […] all das rechtfertigen, was ihnen am meisten bequem ist“ (zitiert nach Baldini 2001, S. 15). 90 Botero rechtfertigt sich bezeichnender Weise am Ende seiner Schrift dafür, so oft von den französischen Angelegenheiten gehandelt zu haben, denn es gäbe kein ehemals wohlgeordnetes Königreich, das so plötzlich (aufgrund der konfessionellen Wirren) in Unordnung geraten sei: „Non si meravigli alcuno, che in questa opera io abbia così spesso allegato esempi presi dal regno di Francia, perchè non fu mai regno, che in un tempo fosse meglio governato, nè che poi precipitasse con più rovina“ (Botero 1948, X/9, S. 339).

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akkreditiert war, den Begriff „Staatsräson“ in Europa hof- und salonfähig machte.91 Es ist die erste einer langen Reihe von Schriften, die in der Frühen Neuzeit von Gelehrten in ganz Europa über die Staatsräson verfasst wurden, und fungiert somit als Architext dieses Genres. Außerdem folgte Botero dem prima facie als Hauptgegner und als Ursache allen Übels identifizierten Machiavelli in vielerlei Hinsicht. Das lässt wiederum die Enttäuschung römischer Kardinäle über seine Schrift verständlich werden. In den mit „Capi di Prudenza“ (Maximen der Klugheit) und „Della secretezza“ (Von der Geheimhaltung) betitelten aufeinanderfolgenden Kapiteln räsoniert Botero über eine Politik, die (vor allem im Bereich der Außenpolitik) auf List, Täuschung und Geheimhaltung gründet.92 Das Staatsinteresse – dieser Begriff ist bei Botero klarer ausgeprägt als bei Machiavelli – solle stets der Leitfaden sein, an dem sich der Staat zu orientieren habe. In Machiavellis Spuren schreitet Botero aber auch auf einem Gebiet, auf dem man es vermutlich am wenigsten erwarten würde: der instrumentellen Betrachtungsweise der Religion, also ihrer Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für den Staat.93 So betont er – freilich die Verbindlichkeit der religiösen Ziele für das Handeln und Wandeln des Staates zugrunde legend – den Nutzen der Religion für die Staatsführung und pariert Machiavellis Kritik am Christentum auf dessen utilitaristischer Argumentationsebene: „unter allen Religionen gibt es keine, die für die Fürsten vorteilhafter ist, als die christliche, denn diese unterwirft ihnen nicht nur Leib und Vermögen der Untertanen, sondern auch den Sinn und das Gewissen; sie bindet nicht nur die Hände, sondern auch die Affekte und die Gedanken.“94

Trotz der vehementen Ablehnung der Entkoppelung von Staatsführung und Religion, die Machiavelli gefordert hatte, räumt Botero dem Staat einen erheblichen Grad an Autonomie und Eigendynamik ein. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, wieso katholische Monarchen (wie Spaniens Philipp II. oder der bayerische Herzog Wilhelm V.) dem Werk Boteros applaudierten.95 Wie bereits einleitend bemerkt, unterscheidet Botero drei Ziele der Staatsführung: die Gründung (fondare), die Erhaltung (conservare) und die Expansion oder Ausdehnung (ampliare). Die Staatsräson be91 De Mattei 1979, S. 53. 92 Botero 1948, II/6-7. Zentrale Kompetenz des Staatspersonals, wobei Botero Staatsräte („consiglieri“), Botschafter („ambasciatori“), Sekretäre („secretari“) und Spione („spie“) erwähnt, sei es, Geheimnisse zu halten („sogliono essere ministri ordinari de’ secreti“), s. ebenda, S. 113. 93 Ebenda, II/6, S. 104. Vgl. Machiavelli 1977, I.11-15, S. 43-56. 94 Botero 1948, II/16, S. 137. Schon in seiner Frühschrift De Regia Sapientia (Mailand 1583) argumentiert Botero in einem Kapitel, das den Titel trägt „In Niccolaum Macchiavellum digressio“ (Buch I, Kap. 7), gegen Machiavellis Ansicht, dass die christliche Religion die militärische Stärke und Wehrhaftigkeit in den Gemeinwesen geschwächt habe, s. Botero 1583, S. 12; vgl. Machiavelli 1977, S. 171 f. (= Discorsi II/2). 95 Dass Boteros Werk bei den katholischen Monarchen Europas und vor allem beim König von Spanien und beim Herzog von Bayern auf großen Beifall gestoßen seien, bezeugt Apollinare Calderinis Discorso sopra la ragione di Stato del Signor Giovanni Botero von 1597; s. Calderini 1597, Proemio, fol. 3.

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steht laut Botero in der Reflexion oder Beratschlagung über die Mittel, die zu diesen drei Zielen führen, wobei er einräumt, sich (im Unterschied zu Machiavelli) nicht mit der Gründung von Staaten aufhalten zu wollen, sondern vor allem mit deren Erhaltung und Ausdehnung. Botero begreift in seiner Schrift die Staatsexpansion nicht so sehr als Expansion des Staatsterritoriums (etwa mit den Mitteln der dynastischen Politik oder der militärischen Eroberung), sondern als Wachstum des Staates von innen heraus, durch den Ausbau seiner demographischen, wirtschaftlichen und pekuniären Ressourcen. Damit nimmt er das vor allem im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert in der Blüte stehende merkantilistische Staatsdenken voraus. 96 Boteros Della Ragion di Stato beinhaltet auf die Prosperität des Staates ausgerichtete Überlegungen zum Umgang mit den Untertanen und mit auswärtigen Bedrohungen (IIIVI), zur Bevölkerungs-, Finanz- und Wirtschaftspolitik (VII-VIII) sowie dem Kriegs- und Militärwesen (IX-X). Ein besonderer Fokus wird dabei auf die staatliche Förderung von Landwirtschaft, Gewerbe und Handel gelegt.97 Boteros Staatsdenken liegt die Trias essentieller Machtressourcen (forze) von Bevölkerung (gente, moltitudine), Bewaffnung (armi) und Geld (denari) zugrunde, wobei die Quantität und Betriebsamkeit der Bevölkerung als Hauptgrundlage staatlicher Macht in ökonomische und militärische Stärke konvertibel ist.98 Eine reguläre und effiziente Besteuerung der immobilen Güter der Untertanen durch den Staat, die in den Herrschaftsgebilden Europas zur Zeit Boteros (schon allein wegen den fehlenden Möglichkeiten zu deren katasterlichen Erfassung) noch in ferner Zukunft lag, wird von Botero gefordert und wie folgt begründet: „Aus den Gütern, die unmittelbar den Untertanen gehören, bezieht der Fürst [il prencipe] Gelder aus Steuern [tasse] und Abgaben [imposizioni], welche angesichts der Bedürfnisse des Gemeinwesens [republica] legitim und gerecht sind. So legt jedwede Vernunft nahe, dass die privaten Güter [beni particolari] dem Gemeinwohl [bene comune] dienlich sein müssen, denn ohne letzteres könnten sich erstere nicht erhalten.“99

Boteros aufwendiges, in vier Teilen erschienenes Weltmanual Relationi Universali (1591-1595), das Länder und Staaten weltweit der Reihe nach hinsichtlich ihrer geographischen, kulturellen und politischen Merkmale sowie ihrer sozioökonomischen Ressourcen als territorial abgegrenzte Entitäten darstellt, gründet auf diesem innovativem Verständnis vom Staat und seinen essentiellen Machtgrundlagen. Für Botero, der 17 Jahre nach dem Ableben des Florentiners zur Welt kam und 1617 starb, gilt, wie für Machiavelli, dass seine auf dem Papier bzw. in der Theorie entwickelte Leh96 Aus dieser Perspektive betrachtet ist Boteros Beitrag für den Staatsräson-Diskurs und der in ihm entwickelten neuen (biopolitischen) Lehre von der Regierungskunst laut Foucault auch als wichtiger einzustufen als jener von Machiavelli; siehe hierzu Mazumdar 2010. 97 Siehe insbesondere die Kapitel VIII/2 (Dell’agricoltura), VIII/3 (Dell’industria) und VIII/14 (Della mercatanzia e se convenga al re l’esercitarla). 98 Botero 1948, VII/1; VII/11; VIII/3. 99 Ebenda, VII/4, S. 227; vgl. Stolleis 1983, S. 71f., 107f.

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re von den Machtgrundlagen und Handlungsmodi des Staates dem realgeschichtlich gegebenen Zustand politischer Organisation im 16. Jahrhundert weit vorauseilt.

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Volker Reinhardt Staatsräson bei Francesco Guicciardini. Ein Versuch

Als Vordenker einer neuen Geschichtsschreibung, die von den vermeintlichen Gewissheiten der historia magistra vitae für immer Abschied nimmt, stattdessen die Totalität des Wandels entdeckt und damit als einzig sichere Prognose für die Zukunft deren Unberechenbarkeit und Nichtvorhersagbarkeit postuliert, hat Francesco Guicciardini einen festen Platz unter den Begründern neuer Wissenschaften.1 Mit seinem religiösen Skeptizismus, seiner erfahrungszentrierten Sicht der Welt und der Natur ist er sogar das Urbild für Jacob Burckhardts Mythos vom Menschen der Renaissance schlechthin geworden2, was die Stellung des florentinischen Patriziers in seiner Zeit allerdings grotesk verzerrt. Mit seiner Agnostik, seiner Ablehnung des Wunderglaubens, seiner systematischen Hinterfragung aller Autoritäten, Traditionen, Konventionen, nicht zuletzt auch der eigenen Standpunkte und Interessen, steht Guicciardini ganz für sich und allenfalls für einen kleinen Kreis von Intellektuellen, die wie er an den kirchlichen und humanistischen Bewertungsmustern gleichermaßen irregeworden sind und nach neuen Wegen innerweltlicher Erkenntnis zum Menschen und seiner Geschichte suchen. Dieser neuen Humankunde, die ohne theologische und philosophische Prämissen und Systemzwänge auskommen soll, liegt – ganz ähnlich wie einige Jahrzehnte später bei Michel de Montaigne – die reine anthropologische Empirie zugrunde: Was und wie der Mensch ist, wie er denkt, glaubt und handelt, lässt sich aus unvoreingenommener Beobachtung ableiten und erkennen, ohne dass sich daraus jedoch starre Regeln nach dem Entweder-Oder-Schematismus oder gar nach der simplen Erfolg-Misserfolg-Kategorisierung aufstellen lassen.3 Eben diese starre Schwarz-Weiß-Sortierung bildet denn auch das Leitmotiv der Kritik, die Guicciardini an den Ergebnissen und mehr noch an der Vorgehensweise und Denkbewegung seines älteren Zeitgenossen Niccolò Machiavelli in dessen Discorsi über den römischen Historiker Titus Livius übte4: Machiavelli – so Guicciardinis luzide Analyse – argumentierte vom Ziel her, also teleologisch. Geschichte hatte als reines Beweismaterial für bereits gezogene anthropologische und politische Schlussfolgerungen zu dienen, wurde also nicht mehr offen, um ihrer selbst willen 1 2 3 4

Klassische Würdigung dieser Leistung bei Gilbert 1965. Vgl. Reinhardt 2002. Grundlage der nachfolgenden Ausführungen: Reinhardt 2004, Reinhardt 2016. Vgl. Huber 2004.

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betrachtet und daher heillos verzeichnet. Nicht minder schwer ins Gewicht fielen die ungeheuerlichen Verallgemeinerungen, derer sich der historische und politische Denker Machiavelli laut Guicciardini schuldig machte. So stand unter dem Strich ein Geschichts- und Menschenbild der grobschlächtigsten Art, das den vielschichtigen Entwicklungsgängen der Vergangenheit ebenso wenig gerecht wurde wie den komplexen Mechanismen des Staates.5 Entsprechend harsch fiel Guicciardinis Urteil über Machiavellis historisch-politisches Hauptwerk denn auch aus: Die Idee der republikanischen Staatsräson, in der es gipfelt, ist aufgrund mehrfacher fundamentaler Denkfehler untauglich.6 Verfehlt ist vor allem Machiavellis Lieblingsgedanke der produktiven Konfliktualität im Inneren: Ein Staat, in dem es permanent zwischen Patriziern und Volk brodelt, kann diese Spannungshaftigkeit nicht, wie Machiavelli behauptet, in erfolgreiche Expansion ummünzen, sondern wird unweigerlich implodieren. Nicht das Prinzip der permanenten Reibung zwischen oben und unten, sondern das schiere Gegenteil: die Kunst der Ausgleichsfindung, Einbindung und Konsensbildung zwischen oben und unten macht einen Staat stark und funktionstüchtig. Rom wurde groß, weil Rom jahrhundertelang Lösungen für innere Auseinandersetzungen fand, deren ungemilderte Austragung die Republik zerrissen hätte – so lässt sich Guicciardinis alternatives Erklärungsmodell knapp zusammenfassen.7 Doch was ging die Florentiner des frühen 16. Jahrhunderts eigentlich dieser längst untergegangene Staat an? Für Machiavelli war schon die Frage historische Blasphemie pur: Rom zeigte für alle Zeit die ewig gültigen Regeln des politischen Handelns auf, war also ein Paradigma für alle Zeit. Für Guicciardini aber war dieses angebliche monumentum aere perennius zur Unmaßgeblichkeit geschrumpft. Wer sich an den konstitutionellen Vorgaben der römischen Republik orientierte, würde im Italien der Gegenwart böse Überraschungen erleben, so wie ein unberatener Reiter, der die Gangarten von Pferd und Esel miteinander verwechselte.8 Eine schneidendere Absage an die Glaubensbekenntnisse italienischer Humanisten lässt sich schwerlich denken. Rom stand für Rom und für sonst gar nichts mehr. Aus der römischen Geschichte ließ sich lernen, wie ein soziopolitisches System mit ganz speziellen Voraussetzungen aufstieg und wieder unterging – mehr nicht. Einer Übernahme von Gesetzen und Verfassungs-Versatzstücken in der Gegenwart stand eine Andersartigkeit von wahrhaft kolossalen Ausmaßen entgegen. Geschmack, Sitten, Religion, in einem Wort: Mentalitäten hatten sich umfassend gewandelt, und dieser Wandel verbot kategorisch unmodifizierte Entlehnungen. Anders ausgedrückt: der Aufbruch ins Unbekannte war unvermeidlich, Geschichte bot keine 5 6 7 8

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Guicciardini, Considerazioni, S. 652, 663, 665. Guicciardini, Considerazioni, S. 642, 656. Guicciardini, Considerazioni, S. 620f. Guicciardini, Ricordi C 110, S. 759f.

Rückzugsrefugien mehr. Neue Probleme erforderten neue Lösungen. Dabei konnten Historiker durchaus hilfreiche Findungsarbeit leisten. Sie allein vermochten zu eruieren, warum sich die Geschichte so und nicht anders entwickelt hatte. Dieses Wissen war zwar rückwärtsgerichtet und nicht in Zukunftsvorhersagen umsetzbar, bot dem nachdenklichen Politiker aber Erfahrungs- und damit Anschauungsmaterial, auf dessen Grundlage sich begründete Hypothesen aufbauen ließen: Wenn sich in einer durch sorgfältige Analyse aller nur denkbaren Faktoren genau bestimmten historischen Konstellation Entwicklungen so und nicht anders vollzogen hatten, sprach ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit dafür, dass die einen gezielt eingesetzten Maßnahmen Erfolg haben würden und die anderen nicht – es sei denn, Elemente des Wandels hatten diese Plausibilitäten durch Umschichtung von Machtfaktoren und Interessen außer Kraft gesetzt. So blieb auch bei minutiösester Berücksichtigung aller potentiellen Einflüsse ein gewisses Maß an Entwicklungsoffenheit, das absolute politische Planungssicherheit weiterhin ausschloss.9 Machiavellis entgegengesetzter Theorie des starken Staates lag die Überzeugung zugrunde, dass sich der Mensch durch die Politik umerziehen, ja sogar weitgehend umformen ließ. Bei einer solchen Verwandlung, wie sie die römische Republik der Frühzeit exemplarisch für alle Zeit bewältigt hatte, blieben die Grundkoordinaten der menschlichen Natur, ambizione und avarizia, zwar erhalten, wurden jedoch vom individuellen Egoismus auf die kollektive Begehrlichkeit des Staates ausgedehnt: Der römische Bürgersoldat kämpfte in gleitender Ausweitung seiner anthropologischen Basisausstattung nicht mehr für seinen persönlichen Ruhm, sondern für die Größe „seiner“ respublica.10 Für Guicciardini war das Westentaschen-Psychologie par excellence: Warum sollte ein römischer Kleinbauer oder ein florentinischer Ladenbesitzer sich und seine Interessen mit denen des Staates gleichsetzen, wenn doch in Wirklichkeit nur wenige von Siegen profitierten, die Niederlagen hingegen von den kleinen Leuten ausgebadet werden mussten? Mit Zwang und Gewalt war hier schon gar nichts zu erreichen, sie erzeugten nur Gegenkräfte, die das Gemeinwesen völlig zugrunde richten mussten. Dabei ging der allzu grobschlächtige Theoretiker Machiavelli laut Guicciardini durchaus von richtigen Prämissen aus. Der Mensch war in der Tat ein stets ungesättigtes Triebwesen, sein Streben nach mehr Macht, Ansehen, Genuss wahrhaft unstillbar.11 Damit war das Grundproblem aller Politik ganz klar bezeichnet. Es bestand darin, den Expansionsdrang des Individuums so einzudämmen, dass ein geordnetes Leben in Gesellschaft und Staat überhaupt erst möglich werden konnte. Doch galt auch hier der Grundsatz, dass Druck Gegendruck hervorbrachte, reine Repressi9

Zu Guicciardinis historischer Methodik außer den in den Anmerkungen 1 und 3 genannten Titeln: Phillips 1977; Palumbo 1988; Godman 1998. 10 Vgl. Reinhardt 2012. 11 Guicciardini, Dialogo, S. 434.

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on etwa durch rigorose Strafjustiz12 und ähnliche Maßnahmen auf Dauer also nicht nur untauglich war, sondern sogar kontraproduktiv ausfallen musste. Für Guicciardini war das Koordinatensystem der menschlichen Antriebskräfte mit ambizione und avarizia, so wirkungsmächtig diese auch waren, nicht einmal ansatzweise ausgelotet. Anders ausgedrückt: eine politische Theorie, die der conditio humana gerecht werden wollte, und eine Staatslehre, die den Menschen erfolgreich anleiten und führen sollte, mussten auf einer gründlichen Erforschung des Menschen beruhen. Politik war Anthropologie, Anthropologie aber war empirische Psychologie. Diese Psychologie aber steckte allenfalls in den Kinderschuhen: Der Mensch, das unbekannte Wesen, war bislang von Psychologen und Theologen bestenfalls im Sollzustand umrissen, doch nie so beschrieben und gedeutet worden, wie es wirklich war. Dieser Meinung war auch Montaigne, der vor allem sich selbst als Studienobjekt zugrunde legte. Guicciardini war in dieser Hinsicht diskreter; in seinen Ricordi teilt er zwar auch viel über sich mit13, doch betrachtete er den Menschen bei allem Interesse an der gesamten Bandbreite seelischer Phänomene sehr viel stärker als der Franzose mit soziologisch sortierenden Augen. Dieser für die Suche nach dem besten, angesichts des unhaltbaren Zustands des Menschen notwendigerweise stärkeren, ja starken Staat zu nutzenden „Sozial-Psychologie“ liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Menschen durch ihre gesellschaftliche Herkunft und ihre wirtschaftlichen Lebensbedingungen überindividuell bestimmt werden.14 Schichtenzugehörigkeit und ökonomische Rahmenbedingungen sind nicht die einzigen Prägefaktoren, doch ohne Zweifel die wichtigsten; weitere Differenzierungen ergeben sich durch das Lebensalter, durch die Einbindung in Klientelverbände, durch Bildung und Akkulturation. Alle diese Faktoren müssen miteinbezogen werden, wenn es darum geht, einen Menschen ganzheitlich zu erkennen oder gar zu beherrschen. Völlig gelingen kann eine solche psychologische Aufschlüsselung des Menschen für die Zwecke der Macht und des Staates trotzdem nicht; wie in der Geschichte insgesamt bleibt hier immer ein beträchtlicher Spielraum des Unkalkulierbaren. Doch damit kann der Staat durchaus leben. Für seine Zwecke genügt es, die größeren gemeinsamen Schnittmengen zu erfassen und damit das für ihn allein ausschlaggebende kollektive Handeln vorauszusehen und für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Eine solche Beschränkung auf die im Individuum wirksamen überindividuellen Triebkräfte schützt den Staat und seine Lenker nicht vor aus dem Rahmen fallenden Einzelaktionen wie Anschlägen oder Verrat, bietet jedoch normalerweise ausreichende Gewähr für die Stabilisierung der sozialen und politischen Verhältnisse, so ungleich diese auch ausfallen. 12 Guicciardini, Dialogo, S. 325; zur Florentiner Justiz als Herrschaftsmittel vgl. Brackett 1992. 13 Vgl. etwa die „Selbstbeschreibung“ in Guicciardini, Ricordi C 156, S. 773. 14 Diese Sortierung wird schon in den frühesten politischen Texten vorgenommen, vgl. Guicciardini, Discorso di Logrogno.

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Die Stärke des Staates entspricht somit der Tiefe der psychologischen Auslotung, die dem Aufbau seiner Institutionen und der Verteilung der Macht in seinem Inneren zugrunde liegt. Diese Gleichung fiel für Guicciardini schon im alten Rom sehr viel komplexer aus, als Machiavelli es mit seiner vereinfachenden Gleichsetzung der inneren Politik mit dem Gegensatz von „Großen“ und „Volk“ wahrhaben wollte. Dieser Fehler wiederum ging laut Guicciardini auf tiefer liegende anthropologische Irrtümer zurück. Der Mensch ist nicht, wie von Machiavelli in seinem Buch vom Fürsten behauptet, von Natur aus grausam und wankelmütig, sondern neigt im Gegenteil grundsätzlich zum Guten.15 Allerdings steht diesem Ziel seine fast unbegrenzte Verführbarkeit entgegen: Arme wollen reich, Machtlose mächtig werden, von der unstillbaren Gier nach Mehr unter den bereits Mächtigen ganz zu schweigen.16 In diesem Punkt stimmte der Agnostiker Guicciardini mit den zeitgenössischen Theologen überein, die dem Menschen als Folge der Erbsünde eine alles dominierende Konkupiszenz und damit die permanente Bereitschaft zur Sünde bescheinigten. Guicciardini diagnostiziert die Omnipräsenz der Verlockungen sehr viel nüchterner, ohne Rückführung auf die Vertreibung aus dem Paradies, ja letztlich sogar ohne moralisierende Untertöne, allerdings auch ohne die Sympathie, die sein Mit-Patrizier Francesco Vettori17 für die Überlebenskämpfe der kleinen Leute hegte: Die extrem ungleiche Verteilung der irdischen Güter macht es erforderlich, Schranken einzuziehen, die den Menschen dazu bewegen, den Sirenengesängen des süßen Lebens zu widerstehen. Da die meisten Menschen unvernünftig, also zu einer rationalen Abwägung von Vor- und Nachteilen ihres Handelns unfähig sind, ist es nicht damit getan, ihnen die Risiken aufzuzeigen, die mit der Überschreitung der vom Staat verhängten Verbote verbunden sind. Zudem hat die Masse der Armen, in Florenz mehr als die Hälfte der Bevölkerung, außer dem nackten Leben kaum etwas zu verlieren. Eine soziale Revolution, wie sie Florenz 1378 im Aufstand der Ciompi erlebte, war also jederzeit zu erwarten, wenn sich die Unterschicht, so wie es der Ciompi-Führer in Machiavellis Ciompi-Kapitel seiner Istorie Fiorentine vormachte, ungeschönt Rechenschaft über ihre tatsächlichen Lebensverhältnisse ablegte. Dann lockte ungeheurer Gewinn bei geringem Risiko – Sprengstoff für jede soziopolitische Ordnung. Voraussetzung für die Erkenntnis, wenig mehr als Ketten zu verlieren und eine Welt zu gewinnen zu haben, war bei Machiavelli die Einsicht, dass alle Macht nicht, wie die Kirche auf das 13. Kapitel des Römerbriefs gestützt lehrt, von Gott, sondern vom Raub kommt. Die Mutigen und Dreisten – so Machiavelli und Guicciardini18 ein weiteres Mal unisono – haben sich die Güter dieser Welt angeeignet, als ob sie ein von höherer Macht ver15 16 17 18

Guicciardini, Ricordi C 134, 135, S. 766. Guicciardini, Dialogo, S. 354. Vgl. Reinhardt 2007, 2013. Guicciardini, Ricordi C 48, S. 742.

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bürgtes Anrecht darauf hätten. Doch das ist eine eigennützige Erfindung, die die Kirche von jetzt an immer wieder einschärfen wird – ihr Gott und ihre Moral rechtfertigen Usurpation im Nachhinein als himmlischen Willen. Machiavelli schildert den Ciompi-Aufstand mit bis heute nachzitternder Empathie; für Guicciardini ist er der größte Unfall der Geschichte und daher in Zukunft um jeden Preis zu verhindern. All sein politisches Denken kreist um dieses Problem: Wie lässt sich die Anziehungskraft der Begehrlichkeiten so weit reduzieren, dass die Menschen Gesetze respektieren, die eine hohe Ungleichheit des Besitzes, der Macht und des Prestiges garantieren? Dass hier im marxistischen Sinne ein „Klassenstandpunkt“ eingenommen wird, tritt deutlich genug hervor – und würde von Guicciardini, der sich stets als Vertreter einer durch generationenübergreifende politische Bewährung gerechtfertigten sanior pars verstand, auch gar nicht geleugnet werden.19 Allerdings sah er die damit umrissene Problemstellung genauso wie Vettori als schichten- bzw. zeitgebunden und überzeitlich zugleich an: Macht war immer asymmetrisch und deshalb streng moralisch betrachtet böse, so wie auch die wirtschaftlichen Ressourcen immer ungleich und damit rein ethisch gesehen ungerecht verteilt waren. Daran würde auch eine erfolgreiche Ciompi-Revolution nichts ändern: Politik bestand im Gegeneinander von oben und unten, politisch und wirtschaftlich, das würde auch durch den Einzug der vormals Armen in die Paläste der enteigneten Reichen nicht anders werden. Zu einem Schlaraffenland für alle würde es selbst in einer so reichen Stadt wie Florenz niemals reichen. Insofern war der Bedarf an einer neuen Staatsräson, die eine ungleiche Gesellschaft zu einem starken Staat verschweißte, immer und überall gegeben.20 Stark sollte dieser Staat im Inneren sein, um den Menschen taub für die Sirenengesänge der Begehrlichkeiten zu machen. Im Gegensatz zu Machiavelli münzte Guicciardini staatliche Potenz nicht in Expansionskraft um; gesicherte Selbstbehauptung nach außen reichte aus, die wahre Kraft des Staates hatte sich im Inneren zu entfalten. Vollendete Staatsräson bestand also darin, die Interessen des Staates so tief in das Innere der Staatsbürger einzusenken, dass diese stets nach dessen Maximen handelten. Der Staat war so stark, wie seine Werte von seinen Bürgern angenommen und damit internalisiert wurden. Gelang diese Verschmelzungs-Operation, waren äußere Zwangsmittel im Inneren verzichtbar – gegen wen sollten sie unter diesen Voraussetzungen noch angewendet werden? Auch in diesem Punkt gingen Machiavelli und Guicciardini konform. Doch wie ließ sich dieser erstrebenswerteste aller politischen Zustände in der spröden Wirklichkeit herbeiführen? Guicciardinis Absage an die von Machiavelli vorgeschlagenen Methoden einer totalen Umerziehung des Menschen wurde bereits vorweggenommen; sie entsprachen mit ihrer ungefügen Urgewalt nicht seinem vielschichtigen Bild vom Menschen, auch wenn sich 19 Reinhardt 2004, S. 13-38. 20 Vgl. Cavallar 1993.

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Grundelemente der Machiavellischen Rezeptur in seinem Konzept einer psychologisch fundierten Staatsräson wiederfinden.21 Diese empirisch entwickelte Psychologie ist auf die Leitmotive der Selbsttäuschung und der Verdrängung gestützt. Der Mensch vermag sich nicht nur selbst nicht zu erkennen, er sieht sich geradezu gesetzmäßig gegenbildlich zur Wahrnehmung der anderen. Seine Selbsteinschätzung weicht daher immer von der Beurteilung durch die anderen ab. Konkret heißt das, dass der Mensch grundsätzlich dazu neigt, sich selbst schönzureden, Verantwortung und Schuld von sich zu weisen und bei den anderen zu suchen. Aus diesem Grund wird er Verleumdungen immer dann Glauben schenken, wenn sie ihn frei und andere schuldig sprechen. Diesen psychologischen Grundtatbestand hat Guicciardini wie in einer Art Selbstversuch nachgewiesen. Nach der Katastrophe des Sacco di Roma, an der er als einer der Chefberater Papst Clemens’ VII. keineswegs unbeteiligt war, hat er seine Rolle in den dramatischen Monaten des Jahres 1527 aus einer dreifachen Perspektive mit dreifachen Schuld- und Unschuldszuweisungen dargestellt: als Anklagerede gegen sich, als Verteidigungsrede für sich und als Trost-, das heißt: Rechtfertigungsschrift in eigener Sache.22 Dass dabei die Argumente pro mehr als die contra zählen, entspricht fraglos der inneren Überzeugung, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt zu haben, doch spiegelt der Selbstfreispruch auch die höhere Gesetzmäßigkeit wider, dass sich der Mensch aufgrund seines inhärenten Egoismus gar nicht schuldig fühlen kann. Insofern ist das finale „ego me absolvo“, so gut begründet es im Einzelnen auch zu sein scheint, anthropologisch auch wiederum entwertet. Der Mensch sieht beim Blick in den Spiegel also nicht sein wahres Wesen, sondern ein grotesk idealisiertes Bild seines wahren Ichs. Er erkennt sich daher nicht, wie es das Orakel von Delphi wollte, selbst, sondern er erkennt, dass er sich selbst nie erkennen kann, ja sich selbst nie so sehen kann, wie ihn die anderen sehen. Das aber ist eine der wertvollsten Erkenntnisse für das Leben, speziell das politische, überhaupt. Denn wer sie gewonnen hat, gewinnt die Verfügung über sein Bild: Er kann mit ihm spielen, er kann es verändern, wechselnden Bedürfnissen anpassen, so wie man eine Maske trägt und austauscht.23 Vor allem weiß er, dass seine Mitmenschen nichts weniger wissen möchten, als wie sie wirklich sind, sondern um jeden Preis das Bild bestätigt sehen wollen, das sie sich in wahnhafter Selbstüberhöhung von sich selbst gemacht haben. Damit wird der eigentliche Rohstoff der Politik freigesetzt: die unbegrenzte Eitelkeit des Menschen. Nicht, wer den Menschen Liebe oder Furcht einflößt, sondern wer ihnen schmeichelt, beherrscht sie wirklich. Nichts ist so unbeschränkt wie die Sehnsucht des Menschen nach einem schöneren, höhe-

21 Guicciardini, Considerazioni, S. 642. 22 Vgl. Reinhardt 2004, S. 100-111. 23 Guicciardini, Ricordi C 103, S. 757; vgl. Fournel 1985.

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ren, edleren Ego. Wer sich dieses unstillbare Streben nach Selbstverleugnung zunutze macht, gründet seine Herrschaft wahrhaftig auf das Innere des Menschen.24 Diese Einsicht haben sich – so Guicciardini – die Medici, die politischen Meisterpsychologen von Florenz, bei ihren diversen Machteroberungen und Machtrückgewinnungen virtuos wie niemand sonst in der Geschichte zu eigen gemacht. Das begann schon mit dem seit Cosimo dem Älteren durchgesetzten Prinzip, dass das veduto genauso viel zählen sollte wie das seduto, dass also der Nachweis, ein Amt theoretisch bekleiden zu können, als gleichwertig mit dessen Ausübung angesehen wurde.25 Von diesem Ausgangspunkt her war die ganze Politik der Medici ab 1434 letztlich auf die Beschaffung von Ersatz ausgerichtet: Ersatz für die Macht, die sich immer einseitiger beim Chef des Hauses konzentrierte, Ersatz aber auch für das bloße Mitwirken am Staat in Räten und untergeordneten Gremien, Ersatz schließlich auch für diejenigen, die vom Spiel der Politik vollständig ausgeschlossen waren, aber auch etwas geboten haben wollten. Diesen Ersatz spendeten die Medici für die höheren Schichten in Form von symbolischem Kapital und in sozialem Prestige, für das Volk durch Feste und Spiele. Auf diese Weise – so weiter Guicciardini – begründeten sie eine Tyrannei26, die sich als mildtätig tarnte, aber bei Bedarf mit aller Härte zuschlagen konnte. Dass sie damit Erfolg hatten, lag jedoch weniger an der Repression als an der phänomenalen Fähigkeit des Menschen, unangenehme Sachverhalte zu euphemisieren und das schlichtweg Unerträgliche zu verdrängen. Verdrängung ist Selbsttäuschung in höchster Potenz, gewissermaßen im Endstadium.27 Sie gehört gleichfalls zur psychologischen Standardausstattung des Menschen durch die Natur. Wer oder was hinter dieser Natur steht, lässt Guicciardini in seinen Ricordi tunlichst offen; theologisch betrachtet, kämen eigentlich nur Gott oder der Teufel in Betracht, doch beide spielen in Guicciardinis Geschichts- und Menschenbild keine Rolle mehr. Bleibt also die Natur als eine Art élan vital, der den Menschen zum Leben anhalten will,28 was ja ohne Selbstbetrug und Verdrängung nicht möglich ist. So verdrängen die Menschen vor allem ihren Tod, ja ihre Sterblichkeit insgesamt. Das zeigt sich am krassesten daran, dass die Alten am geizigsten sind, obwohl sich ihnen das Leben doch bereits zu entziehen beginnt.29 Diese Verdrängungs-Kraft des Menschen, mit der Selbsttäuschung die stärkste im Menschen, ist für den Konstrukteur eines starken Staates also eine starke Stütze. Zusammen mit der Eitelkeit reinigt sie die Wahrnehmung und damit auch das Gewissen des Menschen von allen störenden Hemmnissen und Skrupeln. Das zeigte sich mit aller 24 Guicciardini, Dialogo, S. 309-312; vgl. Cadoni 1983. 25 Vgl. Rubinstein 1997. 26 Die früheste, noch stark abgemilderte Kennzeichnung der Medici als Tyrannen in Guicciardini, Storie Fiorentine, S. 84; vgl. Zhang 1993. 27 Guicciardini, Ricordi C 160, S. 774. 28 Guicciardini, Ricordi C 190, S. 783. 29 Guicciardini, Ricordi C 63, S. 746.

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Deutlichkeit nach 1434, als die Medici aus der Republik eine cosa nostra machten und kaum jemand dagegen Widerspruch erhob – mit Ausnahme derjenigen, die nach dem neuen Verteilungsschlüssel der materiellen und immateriellen Güter mit leeren Händen dastanden. Doch sie fielen am Ende nicht wirklich ins Gewicht. Allerdings hatte die Neigung zur Verdrängung für den Staat auch gefährliche Seiten. Sie konnte dazu führen, dass Risiken minimalisiert oder sogar völlig ausgeblendet wurden, was tollkühne Staatsverbrechen und andere aussichtslose Unternehmungen gegen die herrschende Ordnung zur Folge hatte. Selbsttäuschung, Verdrängung, Eitelkeit, Egoismus – das waren die Fundamente, auf die jede Politik der Staatsräson aufbauen musste. Sie hatte sich dieser Grundeigenschaften des Menschen so zu bedienen, dass daraus eine festgefügte soziopolitische Ordnung erwuchs. Das hieß: aus Schlecht mach Gut, eine Entwicklung, die in der Geschichte in doppelter Schubumkehr regelmäßig zu beobachten war30 und die gängigen moralischen Schwarz-WeißZeichnungen obsolet machte. Wie konnte diese Maxime, psychologisch zu erkennen und darauf aufgebaut effizient zu herrschen, konkret funktionieren? Die Devise lautete: von den Medici lernen, aber deren Methoden für diametral entgegengesetzte Zwecke verwenden. Auch mit dieser Sicht der jüngeren Vergangenheit von Florenz steht Guicciardini Machiavelli durchaus nahe – und fern zugleich. Für Machiavelli31 waren die großen Drei der Familie – Cosimo, Piero (ja, auch er) und Lorenzo – Prototypen des uomo virtuoso, des vollendeten Staatsmannes und Staatenbauers, allerdings gewissermaßen auf der falschen Baustelle: Sie wollten aus einer klientelär konstruierten Republik einen Familien-Prinzipat auf der Basis eines ihnen ergebenen Gefolgschaftsverbandes machen und lenkten damit die politischen Energien von Florenz in fataler Weise vom eigentlichen Ziel, der Stärkung des Staates, auf das Gegenteil, die Festigung von Partikularmacht, ab. Wie sie diese komplizierte und riskante Operation bewältigten, nötigte Machiavelli bei aller Ablehnung Bewunderung ab. So lässt er Lorenzo nach der gerade überstandenen Todesgefahr der Pazzi-Verschwörung eine Rede an das florentinische Volk halten, in der er die unauflösliche Verbundenheit, ja Einheit zwischen diesem und seiner Familie beschwört. Dieses scheinbare Bekenntnis zu den Grundwerten des Vaterlands aber ist dissimulazione in höchster Potenz, dient die Ansprache doch keinem anderen Zweck, als die republikanische Freiheit am Arno endgültig verschwinden zu lassen. Der Erfolg gibt nicht seinen Zielen, wohl aber den dabei verfolgten Strategien Recht: Nicht nur von Freiheit, auch von Volk in der altrömischen Bedeutung kann in Florenz von jetzt an keine Rede mehr sein – übrig geblieben ist allein eine durch Korruption verfügbar, ja gefügig gemachte Bevölkerung, die nach weiteren „Wohltaten“ ihrer Herren giert. 30 Die klassische Werte-Verkehrung in der Geschichte des Papsttums von weltabgewandten Anfängen bis zum Versuch, die Weltherrschaft zu erobern, in Guicciardini, Storia d’Italia, IV, 12. 31 Vgl. Reinhardt 2012, S. 342-350.

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Guicciardinis Sicht der Medici-Herrschaft fällt in seinem nach der Katastrophe von 1527 verfassten Dialogo sul reggimento di Firenze in vieler Hinsicht deckungsgleich aus, doch ist hier das Interesse an den Methoden, derer sich die Medici bei der Fundierung und Transformierung ihrer Macht bedienen, ungleich ausgeprägter.32 Denn diesen Methoden liegt eine psychologische Tiefenanalyse zugrunde, die den Erfolg des Mitteleinsatzes überhaupt erst garantiert: Angst und Ehrgeiz sind die archimedischen Hebel, an denen die perfide Staatskunst der Medici ansetzt. Sie kennen „die Natur, die Beschaffenheit, die Bedingungen, die Neigung, in einem Wort: die Stimmung der Stadt und ihrer Bürger“.33 Diese zuvor sorgfältig erforschten Mentalitäten machen sie sich virtuos zunutze, und zwar durch ein vollendet elaboriertes System der Verlockungen und Abschreckungen zugleich. Dabei sind Anreize und Hemmnisse perfekt auf die jeweiligen Aspirationen und Erwartungen abgestimmt. Für die Patrizier wird eine geradezu höfisch anmutende Hierarchie der Gnaden- und Gunstbeweise erfunden, die den damit Ausgezeichneten ein Plus an Prestige und damit höheren Status einbringt. Für die Mittelschicht sind die Lockmittel naturgemäß leichter zu beschaffen; sie bestehen in der Verheißung von sozialem Aufstieg mit allen damit verbundenen Herrlichkeiten wie Ansehen, Luxus und der Vorspiegelung von Macht. Die eigentliche Umpolungsleistung aber besteht darin, diese neuen Werte an die Stelle der alten zu implantieren. Das gelingt – auch darin sind sich Guicciardini und Machiavelli noch einmal einig – durch eine Propaganda, die genauso minutiös auf die Psychologie der Adressaten abgestimmt ist wie das System von Belohnung und Bestrafung. Diese seelische Grundstimmung ist wie gehabt von Selbstbetrug, Verdrängung und Beschönigung bestimmt. Anders ausgedrückt: Vorteilsnahme und Gewissen, Gewinn und Gesinnung sollen miteinander vereinbar gemacht werden, ja geradezu in eins fallen – Grundformel aller politischen Konsensbildung einst wie jetzt. Die Menschen wollen profitieren und ein gutes Gefühl damit haben; wohl befinden sie sich jedoch erst, wenn sie sich selbst suggerieren können, dass die Wertordnung intakt ist. Das wiederum heißt, dass sich in ihrer von Selbstbetrug geprägten Wahrnehmung allenfalls äußere Formen gewandelt haben, die Substanz des politischen Systems aber dieselbe geblieben oder besser noch: höherwertiger als zuvor geworden ist. Genau diese Werte-Identität und Werte-Kontinuität ist die Botschaft der Medici-Propaganda, die schon die Machteroberung von 1434 einleitete und danach mit geradezu atemloser Intensität über die Florentiner hereinbricht: Wir, die Medici, sind Florenz, wir verkörpern die Republik, unsere Werte und Ziele sind eure Werte und Ziele. Diese Aussage glaubhaft zu lancieren, ist höchste Kunst der Manipulation, denn de facto zielen die Strategien der herrschenden Gruppe ja auf das schiere Gegenteil ab. Die Symptome des politischen Systemwandels sind unübersehbar, die Konsequenzen drastisch, ist doch nur ein sehr kleiner Kreis 32 Guicciardini, Dialogo, S. 437f. 33 Guicciardini, Dialogo, S. 399.

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ausgewiesener Parteigänger für die Führungsämter überhaupt noch auslosbar. Dass das Unternehmen „Werteaustausch“ trotzdem gelingt, zeigt eindrucksvoll, wie ausgeprägt die Neigung des Menschen zur Selbsttäuschung ist, wenn ihm dieser zum persönlichen Vorteil gereicht. Die Bestechlichkeit des Menschen ist so grenzenlos wie seine Neigung, sich in allen Situationen gerecht zu sprechen. Das eröffnet zusammen mit der Angst, seinen Status wieder zu verlieren, einem geschickten Tyrannen wie Lorenzo de’ Medici ein faszinierend breites Spektrum der Einflussnahme im Einzelnen.34 Der Natur des Menschen gemäß, der primär an sich, seine Familie und seine nützlichen Freunde und erst lange danach an die res publica denkt, also letztlich Politik für private Zwecke betreibt, kommen dabei überwiegend sanfte Mittel zum Einsatz. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer Machtkrisen schrecken die Medici, im ausgeprägten Gegensatz zur Politiklehre Machiavellis, vor Blutvergießen zurück. Die einzige Ausnahme von dieser Regel, die nichts mit Humanität, sondern nur mit Staatsräson, der ragione degli stati, zu tun hat, wie sie Guicciardini im Dialogo del reggimento di Firenze als extreme Maßnahme der Eroberung und Quelle zahlloser Übel zugleich anspricht, die Lynchnacht im Anschluss an das Attentat im Florentiner Dom, verwickelt den überlebenden Lorenzo denn auch in einen Krieg, der ihn um ein Haar doch noch die Macht in Florenz gekostet hätte.35 Verfeinerte Machttechniken bewirken also einen Schub an Zivilisiertheit; auch das gehört zum System der Lockungen und Abschreckungen. Man muss weder Patriziern noch Angehörigen der kleineren Zünfte mit dem Verlust des Lebens drohen, um sie politisch zur Räson zu bringen; dazu reicht die Gefahr, auf der von den Medici konstruierten sozialen Rangordnung abzustürzen und damit der eigenen Familie den sozialen Tod zu bringen, völlig aus. Für die unteren Schichten galt das natürlich nicht, doch auch für sie hat das Verführungssystem der Medici adäquate Angebote parat: Brot, und zwar erschwingliches, und Feste, wie man sie am Arno nie zuvor gesehen hatte. Reichten diese Methoden nicht aus, besorgte eine repressive Justiz den Rest; allerdings sollte sie nicht allzu oft zum Einsatz gelangen, um die durch die psychologische Staatsräson bewirkte politische Stabilisierung nicht in Frage zu stellen.36 Die eigentliche Problemzone der Politik aber ist die Mitte.37 Wenn Handwerker und Ladenbesitzer mit den rechtlosen Wollarbeitern gemeinsame Sache machten, war alles verloren. Zugleich konnte kaum zweifelhaft erscheinen, dass sie diesen wirtschaftlich und mental näherstanden als den großen Familien. Ihnen gegenüber musste die Kunst, Surrogate zu schaffen, daher zur höchsten Entfaltung gelangen, und zwar nach der Regel, dass keine Propaganda wirksamer war als sorgfältig aus34 Guicciardini, Dialogo, S. 377, 466; zu den Dimensionen der Medici-Propaganda Cox-Rearick 1984. 35 Zur Pazzi-Verschwörung: Martines 2004; Daniels 2013. 36 Zur Rolle der Justiz im Florenz der Medici vgl. Cohn 1978. 37 Guicciardini, Discorso, S. 255-292; vgl. Moulakis 1998.

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gewählte Versatzstücke der Realität. So machten einzelne Mitglieder des Mittelstands schwindelerregende politische und sozioökonomische Karrieren, die sie nach zwei Generationen nicht nur in florentinische Spitzenpositionen, sondern unter derselben Ägide der Medici bis in Führungsstellen der gleichfalls mediceischen Kurie führen konnten. Solche Exempel des Aufstiegs sollten zeigen, was bei entsprechender Gefügigkeit möglich war. Die handverlesenen Glücklichen, die durch die Protektion der Mächtigen nach oben kamen, schürten Neid und Begehrlichkeit, die psychologischen Grundkonstanten der mittleren sozialen Lagen schlechthin. Ohne diese Umleitung unter die Patronage der Medici würden sich diese Basisinstinkte in sozialer Unruhe38 oder – schlimmster anzunehmender Unfall überhaupt – in chiliastisch erregter Agitation wie unter Savonarola39 ab 1494 austoben; so aber wurde der destruktive politische Grundtrieb zum Stützpfeiler des Systems umfunktioniert. Alle diese Strategien dienten – es bleibt zu wiederholen – der Fundamentierung der klientelär begründeten Republik und damit der pervertierten Variante des Freistaats schlechthin. Auf diese Weise dienten die potentiell destruktiven Anlagen des Menschen einem auf Egoismus in allen Schattierungen fundierten System. Doch das musste nicht so bleiben. Die Kunst der Staatsräson bestand darin, die von den Medici zur Perfektion erhobenen Methoden der Verlockung und Verführung dem konträren System, einer klientelfreien Republik, zuzuführen. Dass eine solche Indienststellung des eigentlich Schlechten zum Aufbau eines guten, den zerstörerischen Tendenzen des Menschen unüberwindliche Hindernisse entgegenstellenden und daher im inneren starken Staats machbar war, dafür stand in den Augen Guicciardinis das Beispiel Venedigs, auch wenn er weit davon entfernt war, dem Staatsmythos der Markusrepublik Glauben zu schenken.40 Doch war es hier immerhin gelungen, die in Florenz ewig unruhige Mittelschicht in ein stabiles politisches System zu integrieren, das die Feuerproben in Gestalt verlorener Kriege und Territorien (etwa im Krieg gegen die Liga von Cambrai) nach 1509 glänzend bestanden hatte. Auch wie man dabei vorzugehen hatte, machten die Venezianer im Großen und Ganzen adäquat vor. Sie mischten nicht, wie es Humanisten wie Gasparo Contarini41 dem staunenden Europa einzureden versuchten, die Elemente der drei guten Verfassungen zu einer vollendeten Synthese, sondern sie stellten Egoismen gegen Egoismen, um durch dieses antagonistische Prinzip das Schlechte auszuwaschen und das Gute so rein wie möglich herauszufiltern. Wenn jeder das Expansionsstreben des anderen mit Argusaugen beobachtete und den kleinsten Fehler seines Konkurrenten öffentlich anklagte, erwuchs aus Neid und Misstrauen der bestmögliche Staat. Dessen innere Gegensätze wurden damit nicht aufgehoben und auch nicht wie in der Idealrepublik Ma38 39 40 41

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Guicciardini, Dialogo, S. 322. Guiccardini, Storia d’Italia, III, 15. Vgl. Reinhardt 2004, S. 93ff. Vgl. Gleason 1993.

chiavellis in äußere Expansion umgeleitet, aber immerhin zu einer dauerhaften Verklammerung der eigentlich auseinanderstrebenden Antagonisten Patriziat und Mittelstand genutzt. Diese patriotische Aktionseinheit war Ideologie und Programm der Republik des governo largo, die sich nach der Vertreibung des Medici-Hauptzweigs im Herbst 1494 für knapp achtzehn Jahre in Florenz mehr schlecht als recht etablierte.42 In diesem nach innen äußerst labilen und nach außen kaum behauptungsfähigen Staat machten Machiavelli und Guicciardini ihre Ersterfahrungen mit der Politik.43 Beide zogen aus dem schnell scheiternden Experiment einer breit abgestützten Republik negative Schlussfolgerungen. Für Machiavelli war sie im Inneren nicht durchlässig für Verdienst und nach außen viel zu defensiv; zudem herrschte das alte Klientelsystem auch ohne die Medici fort, so dass sich keine wirklich produktive Konkurrenz zwischen oben und unten entfalten konnte. Dieser Meinung war auch Guicciardini, der in diesem System als Angehöriger der primi in jungen Jahren eine beachtliche Karriere machte, das Potential der Aktionseinheit aus Patriziat und Mittelschicht jedoch durch eine defizitäre Verfassung unausgeschöpft und unter wichtigen Aspekten geradezu blockiert sah. Am Grundprinzip der produktiven Antagonismen44, das im governo largo zumindest als Rohform umgesetzt war, hielt Guicciardini jedoch fest, auch wenn diese Synthese je länger desto mehr zu einer politischen Quadratur des Kreises zu werden drohte. Das geradezu mathematische Formel-Gestalt annehmende Grundproblem bildete dabei die Austarierung der divergierenden Mentalitäten und Interessen, die nur mit immer komplizierteren Abwägungen und Ausgewichtungen in konstitutionelle Formen umgesetzt werden konnten. Die ambizione der Patrizier tendierte – das wusste Guicciardini aus eigener Erfahrung nur allzu gut – zu kühn ausgreifenden Aktionen, während Handwerker und Ladenbesitzer zur Defensive, zur Bewahrung von Traditionen und vor allem zu einer sparsamen Haushaltsführung neigten, um sich vor drückenden Steuern zu schützen. So musste man beiden Gruppierungen die jeweils angemessenen Aufgaben im Staat zuteilen: den primi die wesentlichen Bereiche der Exekutive und die äußere Politik als Monopol, doch unter einer Basiskontrolle der kleinen Leute, um das Ausufern in Hochrisiko-Politik zu verhindern. Das Streben nach Ehre und Ruhm und das Drängen nach Schutz und Besitzstandswahrung trafen dabei hart aufeinander, so dass die Gefahr eines Patts oder fauler Kompromisse groß war. Die Kunst der psychologischen Staatsräson allein konnte ein Absinken in solche Niederungen vermeiden. Durch die richtige Kombination von Dynamik und Abfederung, Antrieb und Hemmung konnte sie aus Oppositionen ein organisches Ganzes schmieden, das sich durch die ausgewogene Mischung von Impetus, Abwehr und Flexibilität allen politischen Situationen wie kein 42 Vgl. Baker 2013; Maxson 2014. 43 Perini 1997, Flemer 1989. 44 Guicciardini, Ricordi C 126, S. 764.

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anderes gewachsen zeigen konnte. Zumindest in der Theorie – je länger Guicciardini am Reißbrett der perfekten republikanischen Staatsordnung Institutionen gegeneinander- und nebeneinanderstellte, um daraus ein in Offensive wie Defensive gleichermaßen durchsetzungsfähiges Staatswesen zu konstruieren, desto komplexer, unübersichtlicher und schließlich überladener wurde dieser Grundriss. Dass er auf diese Weise einen Staat entwarf, der eigentlich nur noch als Kunstwerk, nicht aber mehr als Alltagsmodell denkbar und anschaubar war, blieb Guicciardini, dem politischen Architekten, nicht verborgen.45 An den Grundprinzipien der Konstruktion hielt er dennoch fest. Ein tragendes Element dieses zunehmend utopischen Staates musste, dessen psychologischer Fundierung entsprechend, die Religion46 als zentrales Element der politischen Mentalitäten bilden. Damit scheint sich eine weitere Parallele zum politischen Denken Machiavellis aufzutun, doch reicht sie in Wirklichkeit nicht sehr weit. Für Machiavelli war die richtige Staatsreligion bekanntlich die tragende Achse der Politik schlechthin; ohne einen solchen für die Staatsbürger verbindlichen und von ihnen internalisierten Staatsglauben konnte es keine höher entwickelte Staatlichkeit geben. Das Christentum in seinen historisch gewachsenen Erscheinungsformen war für diese Rolle jedoch untauglich und musste daher durch eine stärker innerweltlich, auf die Heiligung des Staates ausgerichtete Religion ersetzt werden. Guicciardini kannte als Chefberater eines Medici-Papstes die Praktiken der Kirche aus intimer Anschauung. Seine Kritik an den Zuständen und Methoden der Kurie fiel daher mindestens so hart aus wie bei Machiavelli.47 Die Kirche als politische Schlüsselinstitution erfüllt ihre Aufgabe nicht, schlimmer noch: sie veruntreut diese geradezu. Sie macht die Religion, die sie verwaltet, durch den eklatanten Widerspruch zwischen Lehre und Leben unglaubwürdig und schwächt damit den Staat gravierend – soweit denken Guicciardini und Machiavelli noch parallel. Doch damit ist der Punkt der Abweichung auch schon erreicht. Für Machiavelli musste jetzt die Suche nach einer besseren Staatsreligion einsetzen. Luther zeigte eine solche Alternative immerhin auf: Er unterstellte seine Kirche den weltlichen Machthabern, was an sich ganz im Sinne Machiavellis sein musste. Leider hat sich der Florentiner zu dieser umstürzenden Entwicklung im Reich nicht geäußert.48 Dass die Umformung der zuvor autonomen Kirche zu einer Behörde des Staates und damit im Dienste des Staates in seinem Sinne gewesen wäre, darf trotzdem vorausgesetzt werden. Auch Guicciardini scheint auf den ersten Blick dem Lutherschen Gegenmodell einiges abgewinnen zu können; immerhin hebt es die Monopolstellung des Papsttums auf, die sich mental wie politisch für Italien als verhäng45 46 47 48

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Vgl. Cutinelli-Rendina 2009; Cadoni 1999; Jacobelli 1998; Sasso 1984. Vgl. Barbuto 2000; Marcucci 1985. Guicciardini, Ricordi C 28, S. 735f. Reinhardt 2015.

nisvoll erwiesen hat. Doch sollte man den Ton des Irrealis, der den berühmten Ricordo C 28 durchzieht, nicht überhören: Irreal ist die Trennung von Rom deshalb, weil sie mit ungeheuren mentalen Umwälzungen verknüpft wäre, wie die Gleichzeitigkeit von Reformation und Bauernkrieg zeigt. Veränderungen im hypersensiblen Sektor von Kirche und Reform sind die Todsünde der Politik; sie entfachen zerstörerische Leidenschaften, die Staaten wie Staubkörner hinwegfegen. Machiavelli – so ein Grundzug von Guicciardinis Kritik, der bis heute mehr denn je Bestand hat – unterschätzt die Macht der Glaubens- und Bewusstseinswelten und damit der Tradition; fällt die Kirche, stürzt auch der Staat, das ist die eigentliche Lehre der Ereignisse in Deutschland ab 1517. Aus dem falschen Gebrauch der Religion ergibt sich der richtige. Das Christentum ist eine absurde Erfindung der Kleriker, die damit ihre Macht auf Erden begründen wollen und damit leider Gottes auch Erfolg haben.49 Daher muss man ihnen dieses Herrschaftsinstrument entwinden und an seinen wahren Platz stellen: zur Beruhigung, ja Ruhigstellung des Volkes. Religion ist das wirksamste Mittel der Verführung zum Staat, als solches effizienter als Ämter, Würden und billige Grundnahrungsmittel. Wenn die kleinen Leute felsenfest davon überzeugt sind, dass ihnen als verdienter Ausgleich für Entbehrungen und Leiden hienieden das Paradies in alle Ewigkeit bescheiden ist, werden sie jede wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit klaglos akzeptieren. Die höher Gebildeten wissen es besser; sie erkennen, dass das Christentum ursprünglich genau aus diesem Grunde nach obskuren Anfängen von Kaiser Constantin legalisiert wurde und wenig später zur alleinigen Staatsreligion aufstieg. Der zerstörerische Ehrgeiz der Geistlichen war damit jedoch nicht gestillt, im Gegenteil: Sie wollten schon bald über dem Kaiser stehen und erfanden zu diesem Zweck den politischen Primat des Papsttums und fälschten Urkunden wie das Constitutum Constantini, die den Vorrang des Sacerdotium vor dem Imperium belegen sollten.50 Diese Entwicklung muss rückgängig gemacht werden, um das Christentum wieder zur Staatsreligion im besten Sinne zu machen: als Sedativum für die unteren Schichten, die im neuen, starken Staat noch weniger zu gewinnen hatten als im alten, also als politisch heilsamer Selbstbetrug der Frommen. Guicciardinis psychologisch fundierte Staatsräson blieb in seiner Zeit Utopie, hatte aber noch eine große Zukunft vor sich. Im 21. Jahrhundert ist Politik Medien-Sache geworden, und zwar mit einer vorher unvorstellbaren Totalität. Der neue Totalitarismus stützt sich auf Internet, Facebook und andere „soziale“ Medien – die Steuerung des Menschen setzt innen an, ganz so, wie es Guicciardini vorausdachte.

49 Guicciardini, Ricordi B 32, S. 803f., B 135, S. 832. 50 Guicciardini, Storia d’Italia, IV, 12.

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Francesca Russo Donato Giannottis Theorie von der gemischten Regierung und ihr Erfolg im deutschen Sprachraum

1. Leben und Werk Giannottis Donato Giannotti kam am 27. November 1492 in Florenz als Sohn des Lionardo und der Alemanna Gherardini zur Welt.1 Sein Vater war Goldschmied, ein Handwerk, das die Familie traditionell schon seit Generationen ausübte. Von seiner sozialen Herkunft her, die der Machiavellis nicht unähnlich war, kann man ihn ohne weiteres als Mitglied des Florentiner „Mittelstandes“ bezeichnen, beziehungsweise den „popolani grassi“ zuordnen, die schon immer die soziale und ideologische Basis der Republik gebildet hatten. Seine Familie erfreute sich demnach eines bescheidenen Wohlstands, der allerdings nicht ausreichend war, ihm ein gänzlich abgesichertes Leben während der langen, harten Jahre des Exils zu garantieren. Daher klagte er häufig über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen er leben musste und die ihn zwangen, Hilfe seitens vermögender Freunde in Anspruch zu nehmen. Trotz seiner breiten und profunden intellektuellen Bildung, die ihn in die höchsten Ränge der Gesellschaft hätte bringen können, musste er sich damit begnügen, Sekretärsarbeiten bei bedeutenden Männern seiner Zeit auszuführen, vor allem bei geistlichen Herren. Giannottis Aktivität beschränkte sich selbstverständlich nicht darauf, Erfüllungsgehilfe der Wünsche anderer zu sein. Während der langen Jahre an der Seite der Kardinäle Niccolò Ridolfi und François de Tournon zeichnete er sich in seiner Rolle als fähiger politischer und diplomatischer Berater aus, womit er den formellen Rahmen der ihm zugedachten Aufgabe bei Weitem überschritt. Gleichzeitig erhielt er sich durchwegs seinen hohen intellektuellen Standard, verfasste insbesondere in der Zeit seiner Zusammenarbeit mit Ridolfi politische und literarische Werke, nahm eine führende Rolle in den unterschiedlichen Zirkeln im Kulturleben seiner Heimatstadt ein

1 Ridolfi 1942, S. 55-164. Ridolfi geht die gesamte biographische Literatur zu Giannotti durch, indem er deren Vorzüge und Fehler ans Tageslicht bringt. Er stellt damit den Wert seiner Forschungen heraus sowie jenen von Cecil Roth über die letzte Florentiner Republik, angesichts der Möglichkeit im British Museum aufbewahrte Briefwechsel Giannottis zu veröffentlichen. Die kurze Biographie Ridolfis ist nach wie vor interessant, da er das Biographische mit einer philologischen Betrachtung der Quellen verbindet. Natürlich fehlen dabei auch nicht spätere Primärquellen zu Giannotti, wie jene aus der Bibliotheca Alessandrina, die von Randolph Starn herausgegeben wurden, und andere, über die in der Folge noch zu reden sein wird und die nachträglich einen erweiterten Blick auf das Leben des Autors erlauben.

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und brachte sich dort mit seiner lebhaften Intelligenz und seinen klugen geschichtlichen und politischen Überlegungen ein.2 Donato Giannotti ist eine emblematische Figur der Florentiner Renaissance. Dank seiner ausgeprägten humanistischen Bildung, die sich nicht zuletzt dadurch herausbildete, dass er in den bestimmenden Kreisen seiner Zeit verkehrte, entwickelte er eine vielseitige kulturelle Feinfühligkeit, die es ihm ermöglichte, in vielen Bereichen ein herausragendes Niveau zu erreichen. Als Dozent für Rhetorik und griechische Literatur versuchte sich Giannotti sowohl an der Dichtkunst als auch an der Prosa, wobei er sich vor allem der Produktion von Theatertexten widmete. Als Übersetzer aus dem Griechischen und dem Lateinischen verfasste er lateinische Epigramme, die sich der höfischen Tradition verschrieben.3 In dieses bereits sehr breite Tätigkeitsfeld kam sein Interesse für das hinzu, was seine „Paradedisziplin“, seine vorrangige Leidenschaft werden sollte: die Politik. Abgesehen davon, dass er zum passionierten Politiker wurde, entwickelte sich Giannotti in den 1520er Jahren zu einem Experten für Verfassungssysteme, vor allem für das venezianische Modell. Beide Schienen überschnitten sich oft. Seine literarischen Interessen und sein Engagement in den konstitutionellen Ereignissen der Arnostadt, Italiens und Europas schlagen sich deutlich in Giannottis Tätigkeit nieder, auch wenn die Politik in seinem Leben wiederholt seine Motivation belebte und für seine Überlegungen und seine Schreibproduktion eine wesentliche Bedeutung erlangen sollte.4 Er wies mit Nachdruck auf die Notwendigkeit hin, Antworten auf die Krise des Florentiner Republikanismus zu finden und auf den fortschreitenden Freiheitsverlust der italienischen politischen Gemeinwesen. Diese Fragestellung machte er zum grundlegenden Ausgangspunkt für seinen intellektuellen und persönlichen Einsatz. Selbstverständlich verlor er dabei nicht seinen Geschmack an Bildung und literarischem divertissement. Oftmals scheint hierbei seine Haltung als begabter Autor und Experte sowie als feinsinniger Kulturmensch durch, wenn er seinen politischen Werken eine akkuratere Form angedeihen lässt. Deshalb überrascht es nicht, dass das Libro de la republica de’ Vinitiani, eine Beschreibung, wie die Institutionen der Serenissima funktionierten, in Form eines Dialogs zwischen Intellektuellen verfasst wurde, die von der Neugierde getragen sind, eine spezifische institutionelle und soziale Realität zu erforschen. Ebenso versteht man, wie sich in den De’ giorni che Dante consumò nel cercare l’Inferno e’l Purgatorio hinter einer rein literarischen Fragestellung eine politische Debatte zwischen dem Verfasser und seinem Freund Michelangelo, seinem Gefährten im tapferen Widerstand und Überlebenskampf der

2 Ebenda. 3 Ebenda. 4 Russo 2016.

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zweiten Florentiner Republik von 1530, verbirgt.5 Auch in diesen Texten drückt sich die Empfindsamkeit des Autors nicht in Fragestellungen aus, die fern von der Wirklichkeit seiner Zeit stehen. Ganz im Gegenteil prägen die Politik und die Leidenschaft des Anhängers der Republik Giannotti seine Überlegungen in Bezug auf Dantes Commedia. Die intellektuelle Reifung des jungen Donato fand in der außergewöhnlichen und stimulierenden Atmosphäre der Stadt Florenz zu Beginn des 16. Jahrhunderts statt. Er profitierte in vollen Zügen vom geistigen Klima seiner Zeit, das in Florenz von den großen Meistern der humanistischen Tradition bestimmt wurde. Leider sind die Nachrichten über diese Phase seines Lebens nicht sehr zahlreich, dennoch gewinnt man aus ihnen das Bild eines politischen Denkers und eines Mannes mit reifen Gedanken, der den politischen Bedürfnissen seiner Zeit mit Feinfühligkeit und Aufmerksamkeit begegnete. Hauptziel der vorliegenden Studie ist es, einige Aspekte hinsichtlich des Erfolgs einer seiner ersten Schriften, und zwar Il libro de la Republica de’ Vinitiani, im deutschen Raum zu untersuchen.6 Dieses bedeutende Werk verfasste Giannotti während seines Aufenthalts in Venedig und Padua, als er Gelegenheit hatte, das Verfassungssystem der Serenissima eingehend zu studieren.

2. Il libro de la Republica de’ Vinitiani Giannotti unterrichtete an der Universität in Pisa griechische Rhetorik, als er sich entschloss, um eine freiwillige Suspendierung auf Zeit anzusuchen, damit ihm in Padua als Gast seines Freundes Giovanni Borgherini mehr Zeit für Forschungen und wissenschaftliche Vertiefungen zur Verfügung stehen würde. Dieser erste Aufenthalt im Veneto dauerte von Juni 1525 bis November 1526.7 Ein zweites Mal war er im Jahre 1527 zu Studienzwecken in Padua und Venedig.8 Er wollte unmittelbar die Institutionen jener Republik und deren Funktionsweise kennenlernen, von der in Florentiner Kreisen so viel, auch in kritischer Weise, gesprochen wurde. Es ist bekannt, dass Machiavelli die venezianische Verfassung nicht schätzte. Als Anhänger der Mischverfassung, kritisierte er daran ihre nur formell gemischte Natur, die aber im Grunde genommen oligarchisch war. Es erscheint wahrscheinlich, dass Giannotti von einer intellektuellen Neugierde getrieben war, das venezianische Modell, das durch die vornehmlich in den Orti Oricellari geführten humanistischen Debatten bekannt war, mit der politischen und sozialen Wirklichkeit der Zeit zu vergleichen. Ve5 6 7 8

Giannotti 1540; Giannotti 1939; Giannotti 1968; Riklin 1996. Giannotti 1540. Ridolfi 1942, S. 65-68. Ebenda, S. 75.

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nedig mochte eine nicht „perfekte“ Republik sein, dennoch handelt es sich bei ihr um eine alte republikanische Institution, die seit Jahrhunderten frei und autonom war. Giannotti selbst begründete in seinem Vorwort zum Libro de la republica de’ Vinitiani seine Entscheidung damit, er wolle den Blick auf die Gegenwart richten. Dabei bestritt er weder den Wert der theoretischen Modelle (Aristoteles, Cicero, Polybios) noch der institutionellen Modelle (die römische Republik) früherer Epochen, wobei allerdings für ihn wesentlich war, was von dieser glorreichen Vergangenheit sowohl vom theoretischen Gesichtspunkt als auch vom institutionellen in seiner Zeit tatsächlich umsetzbar war.9 Es handelte sich im Grunde um eine Lehre, die ihre Inspiration aus dem machiavellischen Realismus zog. Giannottis Absicht bestand darin, die Republik Venedig einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, um daraus Lehren für sein geliebtes Florenz zu gewinnen, das – in jener Zeit unter der Herrschaft der Medici – eine tiefe institutionelle Krise durchlebte. Seiner venezianischen Erfahrung entsprang die Abfassung von Il Libro de la republica de’ Vinitiani und markierte einen grundlegenden Schritt in Giannottis Schaffen weg von den literarischen hin zu einer Bevorzugung der politischen Interessen. Er studierte mit diesem Text das von Venedig repräsentierte Modell der gemischten Regierung und entwickelte sich zu einem Verfechter dieses Modells. Er schlug dieses Modell auch in seinem erst 1721 posthum erschienenen Traktat Della repubblica fiorentina zur Anwendung für eine Florentiner Regierung vor.10 Der Traktat, der sich mit den Institutionen der Serenissima auseinandersetzt, hat nach Ansicht der Verfasserin eine große Bedeutung, auch weil er die Grundlage für seine nachfolgenden wichtigen Theorien zur gemischten Regierung lieferte. Das Libro de la republica de’ Vinitiani wurde von Giannotti in einer ersten Fassung zwischen 1525 und 1526 geschrieben und dann – nach einer Korrektur und Erweiterung – dank der Unterstützung des Kardinals Niccolò Ridolfi 1540 von der Druckerei des Antonio Blado d’Asola veröffentlicht.11 In seiner Vorrede erklärt der Verfasser die Gründe, die ihn dazu veranlassten, jeden Aspekt der von ihm so hoch geschätzten und an der Universität von Padua und in Venedig untersuchten venezianischen „Konstitution“ deutlich und bekannt zu machen. Giannotti tut dies mittels eines Widmungsbriefs an Francesco Nasi, einem der führenden Köpfe der Partei der Medici-Gegner und Schwiegersohn des Niccolò Capponi. Er beklagt darin die mangelnde Kohärenz der Menschen seiner Zeit, die oftmals hinter einer Verteidigung der Vergangenheit und der veralteten Tugenden, Haltungen verbergen, die mit den genannten Tugenden nicht viel zu tun haben. Dabei hängen sie politischen Modellen

9 Giannotti 1974, S. 30. 10 Giannotti 1721; Giannotti 1997. 11 Vgl. Giannotti 1540. Die folgenden Zitate wurden der kritischen Edition der Werke Giannottis entnommen, die von Diaz herausgegeben wurde. Vgl. Giannotti 1974, S. 29-151.

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an, die die Freiheiten der Vorfahren unterdrücken, für die sie gleichzeitig voll des Lobes sind. So liest man in der Vorrede seines Traktats, es gäbe niemanden, der nicht in den höchsten Tönen die Tugenden der Vorväter lobe und nicht von sich behaupte, ihr eifriger Nachahmer zu sein. Wenn man dann aber die Sitten betrachte, nach denen diejenigen leben, finde man darin keinerlei Ähnlichkeit.12 Hieran schließt sich die Einladung des Verfassers an, dem Beispiel der Alten zu folgen, in dem Sinne allerdings, dass man von der moralischen Pflicht geleitet sein solle, am lebendigen Beispiel jene Dinge kennenzulernen, die man vermeiden müsse und jene die man nachahmen solle.13 So habe es auch Aristoteles gemacht, der zum Wohle der Menschheit von den Regierungen aller Republiken, die zu seiner Zeit existierten und die ihm bekannt waren, besondere Bücher verfasste.14 Giannotti kritisiert offensichtlich nicht die Überlegungen Machiavellis zur Mischverfassung, wie sie die römische Republik kennzeichnete. Er hebt sich aber vom großen Meister gerade dadurch ab, dass er dessen Lehre gegenwärtig macht und seine Absicht verfolgt, jene republikanische Tugend, die von Machiavelli mit einer Studie über die römische Republik gerühmt wird, in der eigenen Gegenwart zu suchen. Im Unterschied zum großen „Florentiner Sekretär“, der 1527 verstorben war, erlebte er das wiederholte Scheitern der republikanischen Hoffnungen für Florenz sowohl bei der dramatischen spanisch-päpstlichen Belagerung von Florenz im Jahre 1530, die das Ende der zweiten Florentiner Republik einleitete, als auch im Zuge der misslungenen Aktion der Florentiner Exilrepublikaner, deren Scheitern sich 1537 in der Niederlage von Montemurlo endgültig abzeichnete und die den Weg zur Fürstenherrschaft der Medici eröffnete.15 Angesichts der extremen Schwierigkeiten, die freien republikanischen Institutionen seiner Zeit zu erhalten, hielt Giannotti es für notwendig, von Modellen Abstand zu nehmen, denen zwar ein reicher Zauber innewohnte, die aber aus der weit entfernten Geschichte entnommen waren. Hingegen sollte man aufmerksam das Funktionieren der einzigen Republik studieren, die seit vielen Jahrhunderten auf der italienischen Halbinsel frei geblieben war: die Republik Venedig. Tatsächlich hegt er mit dem Libro de la republica de’ Vinitiani nicht die Absicht, einen theoretischen Traktat über die Vorzüglichkeit des politischen Systems Venedigs auszuarbeiten, sondern er möchte vor allem die konkreten Mechanismen beim Funktionieren der Institutionen der „Serenissima“ detailliert analysieren.16 In einem Augenblick akuter Krise des italienischen Republikanismus zog Giannotti es vor, sich von der Perspektive zu lösen, die eine Orientierung an theoretischen politischen Modellen im Blick behielt, zugunsten eines empirischen Modells der von ihm bevorzugten Mischver12 13 14 15 16

Ebenda, S. 29. Ebenda. Ebenda. Vgl. Russo 2009, S. 207-222. Vgl. Giannotti 1974.

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fassung. Er hatte die Absicht, sich auf Fragen der institutionellen Beschaffenheit zu beziehen, denn er war überzeugt, dass es notwendig war, genaue Bezüge in der Gegenwart auszumachen. Daher traf er seine Entscheidung für das venezianische Modell, das vielleicht nicht das absolut beste darstellte, aber zweifellos jenes war, das sich seit Jahrhunderten am Leben hielt und mit Gewalt dem voranschreitenden Absolutismus die Stirn bot. In der Prefazione del Libro de la republica de’ Vinitiani wird seine Wahl deutlich.17 Er erklärt darin sein Bestreben, die institutionellen Mechanismen der „Serenissima“ herauszuarbeiten, um deren Grundsätze, Ausweitung und Ordnung zu verstehen.18 Dazu bedurfte es eines langen Studiums, das darin bestand, unterschiedliche Quellen zur Geschichte der Lagunenstadt sowie juristische Akten miteinander zu vergleichen und während seiner langen Aufenthalte in Padua und Venedig jeden Aspekt venezianischen Lebens zu untersuchen. So schrieb Giannotti, dass er nur nach langen Mühen, zu einem Verständnis der zivilen Administration in der Republik Venedig gelangt sei.19 Das Libro de la republica de’ Vinitiani ist demnach ein Kompendium des politischen Lebens und der politischen Ordnung Venedigs und wurde, nachdem es 1540 veröffentlicht wurde, gemeinsam mit De magistratibus et republica venetorum des Kardinals Gasparo Contarini20 zum „Klassiker“ unter den Beschreibungen des institutionellen Modells Venedigs. Innerhalb weniger Jahre erlebte der Text auf der Apenninenhalbinsel viele Ausgaben. Außerdem hatte Giannottis Werk auch einen Erfolg auf europäischer Ebene, was James Harrington im Vorwort zu seinem Traktat über The Commonwealth of Oceana zu seiner berühmten Behauptung bewog, Donato Giannotti als den „bedeutendsten Geschichtsschreiber der Republik Venedig“ anzusehen.21

3. Giannottis Rezeption bei den Exil-Florentinern in Frankreich Eine erste Spur hinsichtlich des europäischen Erfolgs Giannottis führt in die Umgebung der Exil-Florentiner und in die Diaspora der italienischen Häretiker. In Lyon, einem der klassischen Ziele derjenigen, die aus politischen oder religiösen Gründen von der Apenninenhalbinsel fliehen mussten, erschien nämlich im Jahre 1569, gedruckt von Antonio Gryphio, La republica di Vinegia di Messer Donato Giannotti.22 Diese wichtige Edition zeigt deutlich den Wunsch der italienischen Exilanten in Frankreich, ein politisches Modell zu verbreiten und eine ideelle Unterstützung der Werte des italienischen Republikanismus zu erlangen. Dies tat man durch die Beibe17 18 19 20 21 22

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Ebenda, S. 29-30. Ebenda, S. 30. Ebenda. Vgl. Contarini 1543; vgl. auch Contarini 2003. Vgl. Harrington 1992; Harrington 1985, S. 99. Russo 2011-2012, S. 247-270. Vgl. Giannotti 1569.

haltung und Verbreitung der hervorragenden Aspekte der politischen Tradition der Apenninenhalbinsel, die mittlerweile dem alles verschlingenden Absolutismus ausgeliefert war. Das Werk wird den Lesern durch den Herausgeber Giovanni Michele Bruto, einem venezianischen Geschichtsschreiber, vorgestellt, der, nachdem er den Weg der Reformation eingeschlagen und waldensische Kreise frequentiert hatte, nach Lyon floh und 1565 vom Inquisitionsgericht in contumacia wegen Häresie verurteilt wurde. Bruto stand dem Florentiner Exilantenkreis sehr nahe.23 In seiner Widmung, „Al molto magnifico messer Giulio Rinieri“, legt er die Gründe für seine Veröffentlichung dar.24 Neben den offensichtlichen Höflichkeitsfloskeln, die mit der Freundschaft zwischen ihm und dem Empfänger der Widmung in Zusammenhang stehen, erkennt man deutlich politische Beweggründe. Sie hängen damit zusammen, dass der Traktat Giannottis zum einen bekannt gemacht werden soll, um ihm, dem Verfasser, der damals ein betagtes Mitglied der Florentiner Exilgesellschaft war, die gebührende Hochachtung zu zollen, und zum anderen, um damit die Stadt Venedig zu rühmen. Darum erklärt Bruto in seiner einleitenden Widmung, dass Giannottis Abhandlung über die venezianische Republik ihm dazu eine gute Gelegenheit biete. Er habe eine Ausgabe zur Hand, die abgenutzt und an vielen Stellen beschädigt sei, so dass er sich veranlasst sehe, sie, nachdem er sie überarbeitet und korrigiert habe, drucken zu lassen.25 Das Motiv für die Veröffentlichung liege in der Liebe und der Reverenz des Herausgebers gegenüber jenem tapferen alten Mann, der ihn immer wie einen eigenen Sohn behandelt habe. Aber er sehe auch eine Bringschuld gegenüber der «patria». Bruto glaubt zudem, dass er der Menschheit einen wichtigen Dienst leiste, indem er mit einem Druck von Giannottis Republica de’ Vinitiani ein wahres Bild des guten und gerechten Regierens der Städte und der Republiken verewige und verbreite, das nicht einmal die Platoniker und ebenso wenig die Aristoteliker bei aller intellektuellen Großartigkeit zu malen verstanden hätten.26 Bruto fällt demnach ein sehr positives Urteil über Giannottis Traktat als eine detaillierte Darstellung der Republik Venedig, die sowohl eine Mischverfassung darstellt als auch ein Modell der guten Herrschaft, die er sogar höher einstuft als jene, von denen Aristoteles und Platon berichtet hatten.27

23 24 25 26 27

Vgl. Caccamo 1972; Caccamo 1999. Giannotti 1569, S. 3-7. Ebenda, S. 5. Ebenda, S. 6. Ebenda, S. 6-7.

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4. Giannotti in Deutschland 1: Res publica Venetum. Der grossen Commun der Statt Venedig. Ursprung. Erbawung und Aufnehmung [...] aus italienischer Sprach verdeutscht Für die Verbreitung von Giannottis Text im deutschen Sprachraum waren sehr komplexe Gründe ausschlaggebend, was einerseits mit einem starken Interesse am Modell der Res publica mixta in der deutschen juridischen Kultur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu tun hat, wobei aber wahrscheinlich auch eine Verbindung zum Umfeld der italienischen Häresie bestand.28 Es richteten vor allem Gelehrte – Männer aus dem Bereich der Kultur und der Rechtsprechung, die nach Italien gereist, Rechtswissenschaft an der Hochschule von Padua studiert und in Venedig gewesen waren –, ihr Augenmerk auf die venezianische „Verfassung“. Sie hatten dabei die politisch-institutionellen Mechanismen der „Serenissima“ von Nahem kennengelernt und gedachten, mit der Übersetzung Giannottis Gedanken im deutschen Umfeld zu verbreiten. Die erste Ausgabe und Übersetzung des Libro de la republica de’ Vinitiani im deutschen Raum erweist sich als insgesamt außergewöhnlich. Sie ist gespickt mit polemischen Spitzen gegen die katholische Kirche, die als „das römische Babylon“ bezeichnet wurde. In der Vorrede zur Übersetzung des Giannotti-Texts ist der Bezug zum Modell der venezianischen Regierungsform stark verhüllt, wie auch Giannottis Name hier überhaupt nicht genannt wird. Stark ausgeprägt sind hingegen die Passagen mit einem apologetischen Tonfall und auch die starke anti-katholische Polemik fällt auf. Das Libro de la republica de’ Vinitiani wird im deutschen Sprachraum 1557 unter dem Titel Res publica Venetum. Der grossen Commun der Statt Venedig. Ursprung. Erbawung und Aufnemung [...] aus italienischer Sprach verdeutscht herausgebracht.29 Herausgeber des Textes war Hans Kilian.30 Das Werk war dem Kurfürsten Ottheinrich von der Pfalz gewidmet, den Kilian mit äußerster Hochachtung tituliert.31 Hans Kilian, Gelehrter im Bereich der Geisteswissenschaft, eine geistige Größe der deutschen Renaissance, leidenschaftlicher Anhänger der Theorien des Paracelsus sowie der heterodoxen philosophischen Doktrinen und Verfechter der evangelischen Reformation, hatte 1544 eine Verlagsanstalt gegründet, wobei ihn Ottheinrich von der Pfalz maßgeblich unterstützte. Beide waren Anhänger der Reformation und sannen darauf, die Lehren der Reformatoren in den angrenzenden Regionen des Heiligen Römischen Reiches zu verbreiten. 28 Vgl. Stolleis 2003. 29 Respublica Venetum. Der grossen Commun der Statt Venedig. Ursprung, Erbawung, Aufnemung [...] aus italienischer Sprach verdeutscht, Neuburg an der Donau 1557. 30 Ich habe alle Vorworte der deutschen Ausgaben des Libro de la republica de’ Vinitiani ins Italienische übersetzt. Auch was die folgenden Editionen betrifft, zitiere ich aus meinen Übersetzungen in die italienische Sprache. Russo 2016, S. 313-342. 31 Ebenda, Vorrede, unpag.

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Der Katalog der von Kilian im Schloss von Neuburg an der Donau gedruckten Ausgaben, der anlässlich der Ausstellung Hans Kilian. Buchdrucker im Dienste Ottheinrichs und der Reformation herausgegeben wurde, offenbart sein verlegerisches Programm.32 Er publizierte alle wesentlichen Texte der Reformatoren und ihre Predigten: von Luther und Calvin über Martin Bucer, Melanchthon und Francesco Stancaro bis zur deutschen Übersetzung der Predigten von Bernardino Ochino. Die einzigen „politischen“ Texte, die Kilian herausgab, sind der Traktat Giannottis und der 1545 herausgegebene Defensor Pacis von Marsilius von Padua.33 Kilian war demnach intensiv damit beschäftigt, verschiedene reformatorische Ideen zu verbreiten, was unter der Ägide Ottheinrichs aus seiner Druckerei in Neuburg an der Donau ein wirkliches Zentrum kultureller Behauptung der neuen reformatorischen Konfessionen und der Opposition vor allem gegen die Katholische Kirche und das Haus Habsburg machte.34 In der auf den 20. März 1557 datierten Vorrede lässt sich Kilian über die Gründe aus, die ihn dazu veranlasst haben, den betreffenden Text, dessen Verfasser er nicht nennt, zu übersetzen. Er widmet ihn Ottheinrich und bezeichnet sich selbst als dessen „secretarius“.35 Die Angriffe gegen die Römische Kirche, die er „babylonische Hure“ nennt, und gegen den Papst, den „Antichristen von Rom“, sind sehr scharf. Es ergeht eine vehemente Ermahnung, sich vom „Götzendienst und der römischen Korruption“ zu befreien, die zur Spaltung der Christen geführt hätten.36 So schreibt Kilian, der Antichrist in Rom und seine Glieder hätten zahlreichen Seelen mit ihren gegenüber Gott verfälschenden Worten geschadet.37 Jahrhunderte von Fehlern, Bestechung und Entartung hätten die Geschichte der Kirche geprägt. Darum stellt er die Forderung, den Widerstand der Völker, vor allem des deutschen, gegen den Papst und gegen Rom zu unterstützen. Kilian geht davon aus, Gott werde seinem Volk dazu die Waffen liefern und – angesichts des übermächtigen Feindes, den es zu schlagen gilt, wird eine Parallele zum Kampf Davids gegen Goliath gezogen – seine Gläubigen unterstützen, um die Christenheit vom Götzendienst, von der Vetternwirtschaft und den Verfälschungen zu befreien. Sobald das erledigt sei, würde es auch möglich sein, siegreich gegen die Türken, den Feind der Christenheit, vorzugehen. Es sei demnach vorstellbar, den Christen den Frieden zurückzubringen und eine neue Ordnung einzurichten. In diesem Sinne verficht Kilian die Überlegungen zu einer guten Herrschaft, die eingeführt werden könne, sobald der Kampf gegen die Feinde der wirklichen Christen gewonnen sei. Kilian hält sich nicht bei der

32 Siehe den Katalog in Robold 1994. Die Anmerkungen bezüglich Kilian wurden den Beiträgen entnommen, die diesem Katalog vorangestellt sind. 33 Ebenda, S. 81-162. 34 Ebenda. 35 Respublica Venetum. Der grossen Commun der Statt Venedig. Ursprung. Erbawung. Aufnemung [...] aus italienischer Sprach verdeutscht, unpag. 36 Ebenda. 37 Ebenda.

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guten Herrschaft auf und kommentiert nicht den politischen Inhalt des Textes, den er übersetzt und veröffentlicht.38 Er erklärt seine Überzeugung, dass Gott auf der Seite der wahrhaft Gläubigen stehen werde, und so wie er ihnen helfen werde, sich von der „babylonischen Hure Roms“ und der „Tyrannei des Türken“ zu befreien, so werde er sich auch einsetzen für einen „Erfolg des allgemeinen Friedens“, für die „gute Herrschaft“ und „die gute Policey“, indem er einen neuen Bund mit seinen Gläubigen eingehen und ihnen helfen werde, Friedensverträge untereinander zu schließen.39 Kilian stellt keine speziellen Bezüge zum Inhalt von Giannottis Text her noch verrät er, wie er mit ihm in Kontakt gekommen ist. Ein interessanter Anhaltspunkt ist aber hervorzuheben. Kilian behauptet, die Übersetzung des Texts der „Respublica Venetum“ bereits im Jahre 1546 unter dem Schutz Ottheinrichs von der Pfalz begonnen zu haben.40 Es ist der gleiche Zeitraum, in dem Bernardino Ochino nach Augsburg kommt. Dessen Predigten, so Cantimori, waren bei vielen reichen Händlern der Stadt sehr beliebt, die bereits die Gelegenheit gehabt hatten, nach Italien zu reisen und vor allem nach Venedig. Dort hatten sie die Grundlagen der italienischen Sprache erlernt und waren dem berühmten Prediger begegnet, der dann in ihre Stadt kam. 41 Kilian bringt die Predigten des Ochino heraus, ebenso wie den Text Giannottis, der möglicherweise durch den berühmten Prediger in seine Hände gelangt war. Vielleicht aber auch durch deutsche Händler, die fasziniert waren vom Regierungsmodell der Lagunenstadt. Leider gibt Kilian in seiner Vorrede keine weiteren Auskünfte darüber, wie er Giannottis Text kennenlernte. Es ist sicherlich kein Zufall, dass sowohl die Schrift Libro de la republica de’ Vinitiani als auch der Defensor pacis des Marsilius unter den vielen in Neuburg an der Donau gedruckten Schriften, die sich auf das Gedankengut und die Lehre der Reformation bezogen, als einzige „politische“ Text von Kilian in deutscher Übersetzung publiziert wurden. Offensichtlich stellten diese beiden Texte im politisch-kulturellen Programm des Buchdruckers und vor allem des Ottheinrich von der Pfalz zwei bedeutsame Modelle dar, an denen man sich bei der Organisation der deutschen Staaten inspirieren sollte.

5. Giannotti in Deutschland 2: Respublica. Der Herrlichen Statt Venedig Ursprung, Anfang, Auffnemung, Erbawung Eine zweite deutsche Edition von Giannottis Text erschien 1571 in Frankfurt am Main. Respublica. Der Herrlichen Statt Venedig Ursprung, Anfang, Auffnemung, Erbawung wurde von der Druckerei des Hieronymus Feyerabendt und des Johann 38 39 40 41

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Ebenda. Ebenda. Ebenda. Vgl. Cantimori 1992; Roth 1907, S. 242; Gotor 2013.

Schmidt veröffentlicht und von Sygmund Feyerabendt mit einem interessanten Vorwort an den wohlwollenden Leser versehen.42 Der Ton ist vollkommen verschieden von dem Vorwort Kilians. Die religiösen Bezüge verschwinden, so dass das Thema der Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten in diesem Text gänzlich fehlt. Die Thematik wird bereits im langen Titel deutlich herausgestellt. Es geht darum, Erklärungen zu liefern über den Ursprung und die Entwicklung der venezianischen Erfolgsgeschichte, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Herrschaftsform, auf die Institutionen und auf die Regelung der Steuereinnahmen sowie der Ausgaben gelegt wird. In der auf das Jahr 1571 datierten Vorrede erläutert Feyerabendt die Gründe für sein Interesse an den venezianischen Institutionen. Indem er sich an alle Leser hohen und niedrigen Standes wendet, unterstreicht er die Notwendigkeit, sich mit den bestehenden politischen Modellen nicht nur in ihrer gegenwärtigen Handhabung zu beschäftigen, sondern auch ihr Entstehen in der Geschichte mit in die Überlegungen einzubeziehen.43 Nur durch die Analyse der Ursprünge einer politischen Gemeinschaft, ihrer Staatsform und ihrer jahrhundertelangen Entwicklung sei es möglich zu lernen und hilfreiche Ratschläge für die Organisation einer weltlichen Obrigkeit zu erhalten. So erläutert Feyerabendt dem geschätzten Leser, dass er bei der Lektüre des Buchs eine kurze, aber gute und nützliche Beschreibung der Ursprünge, des Aufbaus, der Entwicklung der politischen Herrschaft und aller anderer Fragen zur Stadt Venedig finden werde, einer Stadt, die in der ganzen Welt überaus berühmt sei und von der er mit aller Überzeugung sagen könne, dass es in seiner Zeit keine andere Stadt gäbe, die sich mit ihr vergleichen könne.44 Venedig erscheint demnach als ein einzigartiges Modell für eine Verfassung, die fest und dauerhaft ist. Deswegen muss man seine institutionellen Mechanismen untersuchen und kennen. Feyerabendt behauptet, er habe lange in Venedig gelebt und dabei aus unmittelbarer Nähe die Aspekte des politisch-institutionellen Lebens beobachten können. Dabei habe er viele unterschiedliche und gerechte Gesetze und Einrichtungen kennengelernt, auf die er immer nur mit Bewunderung schauen könne.45 Das venezianische Modell eigne sich demnach zur Nachahmung und er hoffe von ganzem Herzen, dass in allen politischen Fragen und in allen politischen Ordnungen solche Gesetze, Anordnungen und Statuten angewandt, verankert und beibehalten würden, wie jene von Venedig. Wenn dies geschähe, dann, so der Herausgeber des Textes, gäbe es in solchen politischen Systemen weniger Kriege, Aufstände und Aufruhr der

42 Vgl. Respublica. Der Herrlichen Statt Venedig Ursprung, Anfang, Auffnemung, Erbawung ihrer Herrschaft, Erweitterung, Regiment, Ordnung, Rüstung, Einkommens und Außgebens, auch wie sie sich undereinander von Anfang biß auff diese Zeit unzertheilt in Einigkeit erhalten haben und noch erhalten. Allen hohen und niedrigen Standts sehr nützlich zu wissen und zu lesen, Franckfurt am Main, Feyerabendt-Schmidt, 1571. 43 Ebenda, Vorrede, unpag. 44 Ebenda. 45 Ebenda.

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Untertanen gegen die Obrigkeit.46 Die „venezianische Verfassung“ gilt demnach als Modell für politische Stabilität und Möglichkeit zum Erhalt der staatlichen Einheit. Auch hier wird das Thema des Vergleichs mit dem römischen Modell angeschnitten. Feyerabendt meint, dass Rom und Venedig sehr ähnliche Eigenschaften aufweisen.47 Beide Städte wiesen eine „ärmliche Herkunft“ auf und hätten ihre große Entwicklung dank vernünftiger Gesetze erlebt, die „männlicher Geist“ hervorgebracht habe. So wie das römische Modell dank der Beiträge von Geschichtsschreibern und politischen Autoren angepriesen wurde, glaubt Feyerabendt, dass ein wichtiger Augenblick gekommen sei, der Geschichte und der „Verfassung“ der Stadt Venedig zur Bekanntheit zu verhelfen, da sie ein positives Modell darstelle, das man in seiner Zeit imitieren und befolgen sollte.48 Feyerabendts Text wurde 1574 in einer zweiten Auflage veröffentlicht.49 Respublica. Das ist Warhaffte eigentliche und kurzte Beschreibung der herrlichen und weltberümpten Statt Venedig brachte den Text Giannottis nur drei Jahre später wieder an die Öffentlichkeit unter Hinzufügung einer bewegten und langen Geschichte der Dogen, vom ersten bis zum gegenwärtig regierenden, die von dem in Frankfurt bekannten Juristen und Richter Heinrich Kellner verfasst worden war.50 Feyerabendt änderte leicht den Titel seiner Übersetzung und fügte seiner „wahren und vollständigen Beschreibung der prachtvollen Stadt Venedig“ einige glaubwürdige Nachrichten bei, über das, was im Leben und während der Regentschaft jedes einzelnen Dogen geschehen sei. Um sein Werk zu vervollständigen und die Kenntnis über das venezianische politische Leben und die dortigen Institutionen zu fördern, erklärt der Herausgeber dem Leser im neuen Vorwort , dass er seiner Arbeit die wichtige Chronik über das Leben der Dogen und über ihre „gute Regierung“ angefügt habe, eine Schrift von Heinrich Kellner, die zuvor nicht in deutscher Sprache vorlag.51 Seine Absicht bestand darin, jeden Aspekt des politischen und institutionellen Lebens Venedigs bekannt zu machen und alle positiven Aspekte dieses politischen Systems aufzuzeigen.

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Ebenda. Ebenda. Ebenda. Vgl. Respublica. Das ist: Warhaffte eigentliche und kurze Beschreibung der herrlichen und weltberümpten Statt Venedig [...], Franckfurt am Main: Feyerabendt 1574, herausgegeben gemeinsam mit H. Kellner, Chronica. Das ist: Warhaffte eigentliche und kurze Beschreibung aller Hertzogen zu Venedig Leben [...] von dem ersten biß auff denn jetzt regierenden, Franckfurt am Main: Feyerabendt 1574 (s. Kellner 1574). 50 Trumpold 1975. 51 Respublica. Das ist: Warhaffte eigentliche und kurze Beschreibung der herrlichen und weltberümpten Statt Venedig [...] etc., Vorwort, unpag.

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6. Giannotti in Deutschland 3: Respublica. Das ist: Warhaffte eigentliche und kurze Beschreibung der herrlichen und weltberümpten Statt Venedig In der Ausgabe von 1574 gibt es eine von Heinrich Kellner verfasste Präsentation. Diese enthält einige interessante Ansätze zur politischen Theorie, anhand derer die Bedeutung und der intensive Bezug der deutschen Kultur jener Zeit zum Modell der Res publica mixta ersichtlich wird, das aufgrund des venezianischen Modells nachgeahmt wurde.52 Venedig ist hierbei für Kellner eine Res publica, die dank ihrer besonderen politischen Mischform, die eine weise Dialektik zwischen dem monarchischen und dem aristokratischen Prinzip hervorbrachte, im perfekten Gleichgewicht war.53 Das demokratische Prinzip erscheint angesichts der institutionellen Dynamik Venedigs an den Rand gedrängt, ohne dass sich aber das politische System der „Serenissima“ in ein Unterdrückerregime, das den republikanischen Freiheiten feindlich gegenüberstand, verwandelt hätte.54 Kellner hatte im Jahr 1561 den Unterricht der juristischen Fakultät der Universität Padua besucht und war dort in direkten Kontakt mit der italienischen Kultur gekommen. Er hatte die italienische Sprache gelernt und ein großes Interesse für die venezianische Geschichte entwickelt, was den Ausschlag gab für seine Lebensgeschichte der Dogen, die Venezianische Chronik.55 Im Vorwort behauptet Kellner, er habe ein Kompendium der venezianischen Geschichte schreiben wollen, vor allem darüber, was sich von der Zeit des ersten bis zu den damals zeitgenössischen Dogen ereignet hatte. Dabei griff er auf mehrere Quellen zurück. Er beschreibt seine Arbeit als eine kurze Zusammenfassung der gesamten venezianischen Geschichte, die er mit Fleiß aufgeschrieben und aus den in Latein und Italienisch verfassten venezianischen Historien zusammengestellt habe, wobei er vor allem auf jene von Pietro Marcello und Silvestro Giello hinweist. 56 Kellner setzt dem Leser auseinander, dass er dieses Werk aus literarischem und historischem Interesse unternommen habe, um darüber hinaus beim Gebrauch der italienischen Sprache in Übung zu bleiben, aber vor allem um Venedig zu ehren, eine Stadt, wo man „das Unmögliche im Unmöglichen“ sehe. Venedig ist seiner Meinung nach tatsächlich einzigartig und nicht einfach zu verstehen, wenn man die Stadt nicht für längere Zeit besucht habe. Sie stellt ein künstlerisches, architektonisches, aber vor allem soziales und kulturell-politisches Modell dar, an das man sich halten soll und das man so gut wie möglich bekannt machen sollte, durch die Verbreitung von venezianischen Chroniken.57

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Kellner 1574, unpag. Ebenda. Ebenda. Trumpold 1975, S. 30-31. Kellner 1574, Vorwort, unpag. Ebenda.

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Kellner war beeindruckt von der Stabilität des politischen Systems der Stadt, die sehr wohl Augenblicke der Krise und der Umbrüche erlebt hatte, sich aber im Prinzip über Jahrhunderte – anders als anderswo – in ihrem Kern hatte stabil erhalten können. In der Regel haben Regierungsformen eine Art Ablauffrist, während es hingegen die Venezianer verstanden, ihre Institutionen vital und friedlich zu erhalten, trotz der Entwicklungen und Veränderungen in ihrer Stadt und ihren Herrschaftsgebieten vom Jahr 742 angefangen bis zur damaligen Zeit.58 Kellner macht sich auf die Suche nach den Gründen für diesen venezianischen „Erfolg“ und findet ihn einerseits darin begründet, dass die politisch Verantwortlichen die institutionellen Regeln respektieren, und andererseits in der positiven Funktion der Dogen, dem monarchischen Element in dieser Mischverfassung. Sie hatten die Rolle von Garanten für die venezianische „Verfassung“ und für die Einhaltung der guten Ordnung inne.59 So dass auch die Form und die Ernsthaftigkeit, mit der die Regierung in der Vergangenheit und Gegenwart geleitet wurde, dazu geführt habe, dass man die Verfassung Venedigs als langlebigste Regierungsform in höchstem Ansehen halten müsse.60 Das venezianische Modell sei also in höchstem Maße beispielhaft und daher zur Verbreitung geeignet und auch dazu, in anderen politischen Kontexten bekannt gemacht zu werden. Bei der Definition der venezianischen Regierungsform konzentriert sich Kellner auf zwei Grundprinzipien der „Verfassung“ der „Serenissima“: auf das monarchische Prinzip, das von den Dogen repräsentiert wird, und auf das aristokratische, das die übrigen städtischen Institutionen verkörpern. Venedig ist seines Erachtens ein „perfektes“ Regierungssystem, denn in seinem institutionellen Gleichgewicht erweise es sich als eine Monarchie vermischt mit der Aristokratie, in der der Doge nicht zu viel Regierungsgewalt und Macht haben dürfe und die Patrizier und Adeligen die Funktion der Kontrolle und Überwachung des Dogen innehätten, so dass sie sich gegenseitig in der Regierungstätigkeit mäßigten.61 Auf diese Weise schließe man eine Übermacht des monarchischen Elements über das aristokratische und umgekehrt aus. In der Tat fehle, was schon Machiavelli zu Recht an der „venezianischen Verfassung“ bemängelte, eine wirkliche Einbeziehung des „demokratischen“ Elements in die gemischte Regierungsform. Dieses Element scheint fern von den Orten der politischen Entscheidungen angesiedelt. Nach Ansicht Kellners gelang es in Venedig, ein ausgezeichnetes Gleichgewicht in der Regierungsform zu halten, weil die institutionell Handelnden immer darauf bedacht seien, die „Verfassung“ zu befolgen, indem sie ausführen, was ihnen zustehe und ihnen befohlen werde. Auf diese Art und Weise brächten sie ihre Einrichtungen und die damit verbundenen Gesetze gekonnt weiter.62 Kellners Einleitung schließt außer mit einer Widmung an 58 59 60 61 62

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Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

Graf Philipp II., den Jüngeren, von Hanau, Kenner der italienischen Angelegenheiten und „Schutzherr“ seiner Arbeit, mit einem Dankeswort an Sigmund Feyerabendt. Er, der lange in Venedig gewesen war, habe bereits mit seinen Editionen das Wissen über Venedig gefördert und Kellner gebeten, sein Werk mit einem erschöpfenden und detaillierten Kompendium über das Leben in Venedig zu vervollständigen, das von der Zeit der ersten Dogen bis in die Gegenwart reichte. Erstmals lieferte eine solche Abhandlung italienische und lateinische Quellen in deutscher Übersetzung und steuerte weitere Informationen zur Vergangenheit und Gegenwart Venedigs bei, um einer Stadt die gebührende Ehre zukommen zu lassen, die das „Unmögliche im Unmöglichen“ verwirklicht hat, insbesondere die politische Stabilität, die sie seit Jahrhunderten bewahrt.63 Aber auch in diesem Fall sucht man vergeblich nach Bezügen zu Donato Giannotti und zu den Umständen der Herausgabe seines Werks, das allerdings als perfekte Beschreibung der venezianischen „Verfassung“ herangezogen wird.

7. Giannotti in Deutschland 4: Venediger Herrlichkeit und Regiment 1602 erscheint in Frankfurt am Main eine weitere neue Edition von Giannottis Text. Venediger Herrlighkeit und Regiment stammte aus der Druckerei des Joachim Brathering und hatte eine Übersetzung aus dem Italienischen ins Deutsche von Hieronymus Megiser zur Grundlage.64 Auch in diesem Fall wird der Name Giannottis nicht erwähnt. Megiser, ein wichtiger Gelehrter seiner Zeit, ist eine ausgesprochen interessante Persönlichkeit mit einer breiten Bildung. Nachdem er sich an der Universität von Padua, wo er in direkten Kontakt mit der venezianischen „Verfassung“ gekommen war, mit den Geisteswissenschaften, aber auch mit dem Recht beschäftigt hatte, veröffentlichte der Philologe und Experte für alte und moderne Sprachen 1592 in Graz das Dictionarium quattuor linguarum (Deutsch-Latein-Slowenisch-Italienisch).65 Megiser wurde von Erzherzog Karl 1590 am Gymnasium von Graz zum Dozenten für Geschichte ernannt, wo er Kepler kennenlernte, mit dem er enge Freundschaft schloss. Nach dem Tod des Erzherzogs verließ er aus politischen und religiösen Gründen, die mit seiner Unterstützung für die Reformation in Zusammenhang standen, Graz, um zunächst nach Frankfurt und dann nach Klagenfurt zu ziehen, wo er Rektor des dortigen Gymnasiums wurde. Im Jahre 1603 ernannte ihn der sächsische Kurfürst Christian II. zum Professor für Geschichte an der Universität 63 Ebenda. 64 Venediger Herrligkeit und Regiment. Das ist: Wahrhaffte [...] Beschreibung der [...] Statt Venedig, Alles aus Italienischer in unser Deutscher Sprach von einem Liebhaber der Historien mit Fleiß ubersetzt und in Druck gegeben. Durch Hieronimus Megister, Franckfurt: Joachim Brathering 1602. 65 Vgl. Friggieri/Freller 1988, S. 4-12.

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Leipzig.66 Sein Interesse für Venedig stand im Zusammenhang mit seinen Studien in Padua. Seine Leidenschaft als Historiker und bedeutender Reisender kommt in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Texts von Giannotti deutlich zu Tage. Megiser erläutert, er wolle das Wunderwerk Venedig in all seinen künstlerischen, kulturellen, sozialen, aber auch politischen Aspekten beschreiben. Mit der Schrift Venediger Herrlichkeit und Regiment lege Megiser eine tatsächliche und vollständige Beschreibung der Stadt Venedig vor, die überall in der Welt berühmt sei. Darin bespricht er ihre „inneren und äußeren Wunder“, ihre schönen Paläste, ihre Kirchen und ihre Klöster, die Stadtviertel, ihre Herrschaft über Land und Meer, ihren Reichtum und ihre finanziellen Einkünfte.67 Megiser will zudem gründlich und klar erklären, wie die Venezianer in ihren Herrschaftsterritorien und über ihr Volk schon seit 1200 Jahren regierten und wie Venedigs lange bestehenden Sitten und Gebräuche funktionieren, die so trefflich auf die Gesellschaft abgestimmt seien.68 Megiser geht von einer klaren Überlegenheit des venezianischen Regierungssystems gegenüber den griechischen und römischen Modellen aus, da Venedig mit seiner „Kraft und seinen guten Ordnungen“ über das beste und am meisten ausgeglichene politische System verfüge. Er glaubt deshalb, dass es von grundlegender Bedeutung sei, das Wissen über diese institutionelle Ordnung zu verbreiten, um dann die Aufmerksamkeit auf zeitgenössische Modelle zu richten und zu verstehen, wie man die Regierungsformen erneuern könnte.69 1616 brachte Megiser seine Arbeit noch einmal in Leipzig und Frankfurt am Main heraus, jedoch mit einem leicht abgeänderten Titel: Res publica Venetorum.70 In dieser neuen Ausgabe erfährt man sowohl anhand des Titels als auch des Vorworts, dass er die politischen Einrichtungen Venedigs mehr in den Mittelpunkt rücken wollte. Zudem erwähnt der Herausgeber der Übersetzung zum ersten Mal den Verfasser des Ausgangstexts: Donato Giannotti.71 Megiser erklärt, dass er die venezianische Macht, die guten Ordnungen und das gut organisierte politische System so beschreiben wolle, dass dieses Wissen für viele hundert Jahre aufgezeichnet und bewahrt werde, zum Wohle für das Land und die Menschen.72 In seiner Vorrede zu dieser Edition gibt Megiser eine durchwegs positive Bewertung der Republik von Venedig, die durch 1200 Jahre die Menschen und Gebiete, 66 67 68 69 70

Ebenda. Venediger Herrligkeit und Regiment [...] etc., Vorrede, unpag. Ebenda. Ebenda. Vgl. Respublica Venetorum. Das ist Wahrhafftige unnd außführliche Beschreibung der fürtrefflichen hoch weitberühmten Stadt Venedig, sampt derselben inner und eusserlichen Herrligkeiten, prächtigen Gebäuwen, schönen Kirchen und Klöstern, grossen Städten, starcken Vestungen, mechtigen Herrschaften zu Wasser und zu Land [...] Alles aus Italienischer in unser Deutsche Sprach von einem Liebhaber der Historien mit Fleiß ubersetzt und in Druck gegeben. Durch Hieronimus Megiser, Leipzig-Franckfort am Mayen: Grosse 1616. 71 Ebenda, Vorwort, unpag. 72 Ebenda.

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die ihr untertan waren, „weise beherrscht und regiert“ sowie „in guter Ruhe, in Frieden und Sicherheit“ gehalten habe.73 Megiser fordert, dass dieses politische Modell von den Historikern und politischen Schriftstellern gleichermaßen gelobt und gefeiert werden müsse, so wie man in der Vergangenheit die politischen Tugenden Roms, Athens und Korinths gepriesen habe. Genau wie in der Ausgabe von 1602 wiederholt er seine Behauptung, dass Venedig in vielen Aspekten den zuvor genannten Städten überlegen sei, denn dank der verfassungsmäßigen Gewohnheiten seiner Regierung durchlebe die Stadt seit Langem eine Zeit großer Prosperität.74 Deshalb sei es wichtig, das Wissen über die Charakteristiken Venedigs zu verbreiten, indem man das, was viele von den politischen Tugenden der „Serenissima“ begeisterte Schriftsteller gesagt und verfasst hatten, vervollständigt und in die Überlegungen einbezieht. In diesem Sinne und mit Bezug zum venezianischen Modell und dem Vergleich mit anderen Modellen von Res publicae, scheint es Megiser nützlich und sogar notwendig, den Traktat des Herrn Donato Giannotti zu veröffentlichen, dem endlich die „Autorschaft“ des nunmehr seit mehreren Jahrzehnten in deutscher Übersetzung vorliegenden Textes zuerkannt wird.75 Auch dieser Fall dokumentiert wie wesentlich die Auseinandersetzung mit der Verbreitung und den Übersetzungen von politischen Werken ist, die oft an die Bedürfnisse des Übersetzers angeglichen wurden und die Absichten des Verfassers vernachlässigten, dessen Name oftmals noch nicht einmal erwähnt wurde.

Schlussbemerkungen Im Jahre 1669 wurde das Libro de la republica de’ Vinitiani ein weiteres Mal in deutscher Übersetzung als Werk eines anonymen Herausgebers veröffentlicht, aber mit der Zuschreibung an Donato Giannotti. Diese Edition weist andere Eigenschaften auf als die vorangehenden.76 Respublica Venetiae. Das ist: Der welt-beruffenen Stadt Venedig, und selbiger Signoriae Ursprung [...] in einem anmuthigen Gespräch zweyer Adels-Personen erörtert wurde zusammen mit der Chronik der dramatischen kriegerischen Auseinandersetzung veröffentlicht, in der von 1645 bis 1669 Türken und Venezianer um die Insel Candia (Kreta) gekämpft hatten. Bei dieser Gelegenheit hatte Venedig sein Heldentum und seinen Widerstandsgeist unter Beweis gestellt und damit das Bild von einer Macht verstärkt, die befähigt war, dem Vormarsch der 73 74 75 76

Ebenda. Ebenda. Ebenda. Vgl. Respublicae Venetiae. Das ist: der welt-beruffenen Stadt Venedig, und selbiger Signoriae Ursprung [...] in einem anmuthigen Gespräch zweyer Adels-Personen erörtert; Dene beygefügt, Der Venetianer und Türken Niederlags-Register, die Vestung Candia betreffend, Durch Donatum Giannotti Florenthinern, o.O. 1669.

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Osmanen zu begegnen. Trotz der Niederlage am Ende dieses Krieges stellte die Gegenwehr der dort kämpfenden Venezianer einen starken symbolischen Akt dar für den Willen, dem osmanischen Expansionsdrang Einhalt zu gebieten. Die Vorrede der Edition von 1669 von Giannottis Text folgt dem Bestreben, die Tugenden der venezianischen Helden zu feiern, die die dort zitierte Ciceronische Mahnung umsetzten, die verfasst worden war, um die Menschen dazu aufzufordern, mutige Taten zu vollbringen und die eigene Memoria mit tugendhaftem Handeln unsterblich zu machen.77 Ebenso wie es den Bürgern von Athen zuvor wiederfahren war, wussten sich auch die Venezianer mutig zu geben und kämpften bis zum letzten Opfer eine schwierige Schlacht, um die Werte ihrer Stadt zu verteidigen. Dafür müsse Venedig, das so viele Helden hervorgebracht hat, gelobt werden. Venedig erscheint hier als „Bollwerk der Christenheit“, weil es gekämpft und in bewundernswerter Weise Wiederstand geleistet hat gegen die „schrecklichen Türken“, die Feinde der Christenheit.78 Dafür, so das Vorwort, werde das Ansehen Venedigs für immer bestehen bleiben. Um die „Serenissima“ zu rühmen, erläutert der Herausgeber, habe er dieses kleine Buch durch die Drucklegung verfügbar gemacht.79 Darin finde man Informationen über den Ursprung der Stadt, ihre Anfänge, ihre Entwicklung und die Form ihrer Regierung, ihre Einnahmen und Ausgaben und ebenso darüber wie sie bis dahin in Frieden verwaltet wurde.80 Die Übersetzung von Donato Giannottis Il libro de la Republica de’ Vinitiani hat, wie diese Überlegungen zeigen, eine weite Verbreitung im deutschen Sprachraum erfahren. Dabei handelt es sich nicht um einen Erfolg, der auf den Ruf des Verfassers zurückzuführen ist, sondern der Erfolg rührt eher von der Bekanntheit und der Attraktivität des Modells der venezianischen res publica her. In der Mischung seiner politischen Prinzipien und institutionellen Ordnungen scheint es gut anwendbar auf die unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedener Rezipientenkreise. Es wird daher detailreich und durchwegs positiv dargestellt, wobei aber den Interessen des Übersetzers der Vorzug gegeben wird. All das legt dafür Zeugnis ab, welcher Erfolg und welche Verbreitung Donato Giannottis Gedanken beschieden waren, und darüber hinaus, welch gutes Ergebnis er mit der Herausgabe seiner Schrift erzielt hatte, die in der Lage war, eine detaillierte und klar gegliederte Erklärung zur Form und dem Funktionieren der venezianischen Staatseinrichtungen zu liefern, was – wie gezeigt werden konnte – auch außerhalb der italienischen Grenzen eine nützliche Aufnahme fand. Giannotti gelang es also, dem politischen und institutionellen Denken in Europa einen Text als Erbschaft zu hinterlassen, mit der die Kenntnis über die veneziani-

77 78 79 80

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Ebenda, Vorrede, unpag. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

sche „Verfassung“ verbreitet wurde, indem er ihre institutionellen Eigenschaften beschrieb. Im Libro de la republica de’Vinitiani beschreibt der Autor detailliert die Funktionsweise der venezianischen Verfassung. Giannotti hat sie, nach mehreren Aufenthalten in Venedig und eingehenden Studien dort und in Padua, erkundet. Als er 1540 sein Buch veröffentlichte, dachte er natürlich auch an die schwierige politische Lage in Florenz. Aus diesem Grund war sein Interesse für das venezianische Modell sehr stark und hat deshalb eine aufmerksame Beschreibung der venezianischen Verfassung gegeben. Damit bewies er, wie sehr die politische Tradition Italiens im Stande war, mit dem Rest Europas in einen geistigen Austausch zu treten. Mitunter war diese Tradition nur latent vorhanden, aber immer wurden politisch-institutionelle Modelle angeboten, über die man nachdenken konnte, mit denen man sich auseinandersetzen musste und die, in einigen Fällen, Beispiele der guten Herrschaft und einer vollkommenen und ausgeglichenen „Verfassung“ bereithielten. Donato Giannotti als Beschreiber und Theoretiker der gemischten Regierungsform hatte also, vor allem dank des Libro de la republica de’ Vinitiani, eine weite Verbreitung in Europa und hat in dessen Bewusstsein eine unauslöschliche Spur hinterlassen.

Literaturverzeichnis

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Teil 2: Barock und Aufklärung

Norbert Campagna Die Kompatibilität von Signoria und politischer Freiheit in Battista Guarinis Trattato della politica libertà

Einleitung In seinem Trattato della politica libertà aus dem Jahr 1599 setzt sich Battista Guarini1 eine Aufgabe, die, zumindest aus der Sicht seiner republikanisch gesinnten Zeitgenossen und vor allem der – am Ende des 16. Jahrhunderts schon stark angeschlagenen – republikanischen Tradition der italienischen Stadtstaaten, so gut wie der Quadratur des Kreises gleichkommt. Guarini will nämlich zeigen, dass das politische Regime der Signoria, das man mit der absoluten Monarchie gleichsetzen kann2, die politische Freiheit nicht nur nicht ausschließt, sondern sogar besser bewahrt, als es ein republikanisches Regime tun kann. Guarini ist sich durchaus bewusst, dass er eine paradoxe These vertritt, und zwar paradox, muss man hinzufügen, im ursprünglichen Sinn des Wortes. „Paradox“ ist hier nämlich nicht mit „paralogisch“ gleichzusetzen, also mit dem, was dem logos, der Vernunft, widerspricht. Die These, dass, um sie in Guarinis eigenen Worten zu 1 Giovanni Battista Guarini wurde 1538 in Ferrera geboren und nach seinem Studium lehrte er dort auch Literatur und Philosophie. Er wird diese Tätigkeit allerdings aufgeben, um in den Dienst des Herzogs Alfons II. von Ferrera zu treten, der ihn u.a. mit Gesandtschaften beauftragt. In den darauf folgenden Jahren wird Guarini auch noch für andere Fürsten, wie etwa Ferdinand I. von Toscana oder dem Herzog von Urbino, tätig sein. Seine Kenntnis der Politik ist demnach aus erster Hand und sein Trattato della politica libertà nicht das Werk eines bloßen Theoretikers, sondern auch eines Praktikers. In dieser Hinsicht kann man Guarini mit Machiavelli vergleichen. Allerdings ist es nicht dieses zuerst 1818 veröffentlichte Traktat – übrigens das einzige wirklich politische Werk Guarinis –, das aus dem gebürtigen Ferraresen eine wichtige Persönlichkeit des kulturellen Lebens Italiens gemacht hat. Neben seinen vielen anderen Tätigkeiten, war Guarini auch Schriftsteller – auch hier lässt sich ein Vergleich mit Machiavelli machen –, und als solcher hat er ein poetisches Oeuvre verfasst, aus dem das bukolische Gedicht Il pastor fido herausragt. In den folgenden Jahrhunderten wurde dieses Werk vielfach adaptiert und auch als Grundlage für musikalische Kompositionen benutzt. Guarini stirbt im Jahr 1612 in Venedig. 2 Die absolute Monarchie, so wie sie im 17. Jahrhundert verstanden wurde, befreit den Fürsten zwar von der vis coercitiva des auf das Gemeinwohl gerichteten Gesetzes, nicht aber von dessen vis directiva. Der absolute Fürst kann nicht von Menschenhand bestraft werden, wenn er das Gemeinwohl verletzt, er ist aber trotzdem durch das Gesetz gebunden, dessen Einhaltung das Gemeinwohl garantiert. Insofern unterscheidet sich die absolute Monarchie von der Tyrannei, vornehmlich von der Tyrannis ab exercitu. Der Tyrann aufgrund der Amtsausübung lässt sich nicht einmal durch den Gedanken des Gemeinwohls – mag dieses als das Wohl aller Untertanen oder das Wohl des Abstraktums Staat verstanden werden, wie im Rahmen bestimmter Formen der Staatsräson – leiten, sondern handelt immer nur im Sinne seines Privatwohls.

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formulieren, „non repugna alla libertà di buon suddito la signoria di buon Principe“ (Guarini 1818, S. 1), steht zwar sehr wohl im Widerspruch zur öffentlichen Meinung – für Platon war die doxa nur eine Meinung und unterschied sich vom eigentlichen Wissen (episteme) –, aber sie steht nicht im Widerspruch zur Vernunft. Damit ist implizit gesagt, dass die republikanisch geprägte doxa nicht dem entspricht, was die Vernunft lehrt. Guarinis Traktat kann in diesem Sinne als ein Versuch betrachtet werden, mit rationalen Argumenten eine auf Vorurteilen beruhende Meinung zu ändern, und damit zu zeigen, dass die absolute Alleinherrschaft eines guten Fürsten der Freiheit eines guten Untertanen genauso wenig widerspricht, wie die These einer solchen Widerspruchsfreiheit der Vernunft widerspricht.3 Der sozialontologischen Kompatibilität von politischer Freiheit und Signoria entspricht somit eine logische Kompatibilität – die Behauptung der Kompatibilität ist vernunftgemäß. Es fällt aber sofort auf, dass Guarini einerseits von einem „buon suddito“, also einem guten Untertan, und andererseits von einem „buon Principe“, also einem guten Fürsten spricht.4 Insofern sowohl der Untertan als auch der Fürst gut sind, wollen sie dasselbe, nämlich das Allgemeinwohl – das Wollen des Gemeinwohls ist gewissermaßen das, was sie zu guten Untertanen oder einem guten Fürsten macht. Wenn nun, wie wir weiter unten sehen werden, die politische Freiheit, und genauer noch die wahre politische Freiheit als Freiheit konzipiert wird, im Dienste des Gemeinwohls zu arbeiten, dann kann ein guter Fürst nur wollen, dass seine Untertanen ihre politische Freiheit ausüben, denn dann wollen sie nämlich nur das, was er auch will. Damit sind der Wille des Fürsten und der Wille der Untertanen hinsichtlich ihres Inhalts deckungsgleich. Und wenn dem so ist, warum sollten die Untertanen dann noch einen anderen Fürsten wollen? Wer von ihnen einen anderen Fürsten will, der drückt damit nur aus, dass sein Wille nicht dem Willen des Fürsten entspricht. Aber vorausgesetzt der Fürst ist gut, dann ist mit diesem abweichenden Willen zugleich ausgedrückt, dass der betreffende Untertan kein guter Untertan ist. Für die republikanische Denktradition, wie sie im Italien des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit florierte, und wie man sie später auch in England – etwa bei den Levellers5 oder bei Algernon Sidney6 – oder in Frankreich – etwa bei Jean-Jacques Rousseau – wiederfinden wird, schließen sich politische Freiheit und Signoria oder absolute Monarchie kategorisch aus. Politische Freiheit, so die republikanischen Autoren, kann es immer nur in Republiken geben, wobei unter „Repu3 Zitate aus dem Italienischen wurden von mir ins Deutsche übertragen. An einigen Stellen wurde das italienische Original hinzugefügt. Zitate aus dem Englischen wurden in der Originalsprache gelassen. 4 Insofern ist er vorsichtiger, als Filmer es sein wird, wenn er schreibt: „The greatest liberty in the world (if it be duly considered) is for people to live under a monarch“ (Filmer 1991, S. 4). Hier wird nicht gesagt, dass es sich um ein gutes Volk und um einen guten Fürsten handeln muss. 5 Siehe hierzu den im Literaturverzeichnis erwähnten, von Andrew Sharp herausgegebenen Sammelband einiger der wichtigsten Schriften der Levellers (Sharp 1998). 6 Sidney 1996.

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blik“ eine Staatsform verstanden wurde, in welcher das Volk – in Wirklichkeit immer nur ein Teil der gesamten Einwohnerschaft7 – die souveräne Gewalt besaß, und somit höchstens deren Ausübung, und immer nur provisorisch bzw. unter Bewahrung der Möglichkeit, sie wieder zurückzunehmen, an eine Regierung übertrug. Damit war die Möglichkeit einer legitimen Auflehnung des eigentlichen Souveräns gegen den bloßen „Ausüber“ der Souveränitätsrechte, also gegen die Regierung, gegeben, falls dieser unterstellt werden konnte, die politische Freiheit oder gar die Freiheit schlechthin zu gefährden bzw. das Wohl ihrer Mitglieder über das Gemeinwohl zu stellen, und damit zum Tyrannen ab exercitu zu werden, wie ihn die mittelalterliche Tradition dargestellt hat, um ihn vom Tyrannen ab origine zu unterscheiden. Um dem Elend der Unterdrückung zu entgehen, setzte man sich dem Risiko des durch die Revolution bzw. den Bürgerkrieg produzierten Elends aus.8 Allerdings konnte man die Notwendigkeit, auf die Revolution zurückzugreifen, dadurch herabsetzen, dass man periodisch Wahlen veranstaltete, um dem Volk die Möglichkeit zu geben, seine Regierung auf friedliche Weise abzusetzen, falls es dies als notwendig empfand. Aus der Sicht der republikanischen Denker wurde die signoria oder die absolute Monarchie mit dem Elend der Unterdrückung assoziiert, während aus der Sicht der absolutistischen Denker die Republik mit dem Elend der Bürgerkriege in Verbindung gesetzt wurde, und dies trotz periodischer Wahlen – und sogar vielleicht gerade wegen der Durchführung von Wahlen.9 Für die absolutistischen Denker war die von den Republikanern so gepriesene politische Freiheit somit nicht ohne den – aus ihrer Sicht viel zu hohen – Preis der permanenten Gefahr des Bürgerkriegs und des mit ihm einhergehenden Elends zu haben, während für die republikanischen Denker die signoria notwendigerweise den – aus ihrer Sicht auch viel zu hohen – Preis des Aufgebens der politischen Freiheit implizierte. Politische Freiheit und politische Unordnung einerseits, politische Ordnung und politische Unfreiheit andererseits, schienen somit die zwei einzigen Optionen einer politischen Alternative zu sein, vor welcher jedes Gemeinwesen aus der Sicht der absolutistischen Denker stand. Die republika7 Frauen wurden etwa systematisch ausgeschlossen. Ebenso Sklaven – wenn es welche gab – oder Dienstleute, sowie Arme. Die Frage nach dem Hiatus oder gar Widerspruch zwischen republikanischer Theorie und republikanischer Praxis – oder besser: Praxis von sich zum Republikanismus bekennender (menschlicher, allzumenschlicher) Menschen – wurde noch 1787 von James Madison aufgeworfen: „Where slavery exists the republican Theory becomes still more fallacious” (Madison 1999, S. 72). 8 In seinem Leviathan wird Hobbes umgekehrt räsonnieren. 9 Eines der Argumente zugunsten einer Erbmonarchie bezog sich auch auf das Problem des Interregnum, das sich im Falle einer Wahlmonarchie stellte – für die Erbmonarchie war die Regentschaft für den Fall ausgedacht worden, wo der Nachfolger noch zu jung war, um sich mit den politischen Angelegenheiten zu befassen. Zwischen der Verkündigung „Le roi est mort“ und dem Jubelruf „Vive le roi“, wie es in Frankreich hieß, verging in einer Erbmonarchie so gut wie keine Zeit. Sobald der Tod des Königs festgestellt worden war, wurde sein ältester Sohn zum neuen König proklamiert. Siehe hierzu Kantorowicz 1994.

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nischen Denker hielten ihnen entgegen, dass politische Freiheit in ihrem Sinn, also als Abwesenheit einer signoria, das Wohlergehen eines Gemeinwesens nicht in Frage stellte, sondern im Gegenteil förderte. Für sie war die Alternative demnach: Republik oder Elend. Aber auch: signoria oder politische Freiheit. Genau diese Alternativen will Guarini sprengen, indem er zeigt, dass man die politische Freiheit auch in einer signoria bewahren kann. Das gelingt ihm aber nur, indem er dem Begriff der politischen Freiheit eine ganz bestimmte Bedeutung gibt und indem er, wie schon angedeutet, einen guten Fürsten und gute Untertanen voraussetzt. Guarini schreibt aber keinen klassischen Fürstenspiegel, in dem er sich mit den Eigenschaften des guten Fürsten befasst und mit dessen Erziehung. Es geht ihm nicht darum, dem Fürsten beizubringen, sich bestimmte Tugenden anzueignen, um somit dem Ideal des guten Fürsten zu entsprechen. Seine Adressaten sind vielmehr die Untertanen, und genauso wie Guarinis Ideal einen guten Fürsten voraussetzt, setzt es auch einen „buon suddito“, einen guten Untertanen voraus. Wenn schon ein Spiegel, dann ist Guarinis Traktat ein Untertanen- oder Bürgerspiegel. Und was der Untertan in diesem Spiegel sehen soll, ist der im eigentlichen Sinn des Wortes politisch freie Untertan. Aus der Tatsache, dass ein Untertan unter einem bösen Fürsten nicht politisch frei ist, folgt noch nicht, dass es schon die Tatsache, einem Fürsten unterworfen zu sein, ist, die für die Abwesenheit politischer Freiheit verantwortlich gemacht werden kann. Während seine republikanischen Gegner die Frage der Freiheit mit der Quantität der Regierenden in Verbindung bringen, richtet Guarini den Blick auf deren Qualität und verknüpft die Freiheit mit dieser letzteren, so wie es auch später die Vertreter des Frühliberalismus machen werden – wobei diese aber weniger auf einen guten Fürsten als auf gute Institutionen pochen werden. Guarinis Hauptanliegen besteht darin, den Begriff der politischen Freiheit so umzudeuten, dass politische Freiheit und signoria kompatibel werden. Es geht also auch letztlich darum zu wissen, was unter politischer Freiheit verstanden werden soll. Nicht die signoria soll an den im republikanischen Lager vorherrschenden Begriff der Freiheit angepasst werden – wodurch sie ihrer Substanz entledigt werden würde –, sondern der Begriff der Freiheit soll an den Begriff der signoria angepasst werden. Guarinis These ist also, dass ein Staat, der die politische Freiheit wirklich garantiert, kein anderer sein kann als eine signoria. Damit widerspricht er den republikanischen Denkern radikal, die die These vertraten, dass ein Staat, der die politische Freiheit garantiert, kein anderer sein kann als eine Republik. Eine solche Verteidigung der signoria im Namen der Freiheit ist keine Novität, hatte doch schon Coluccio Salutati behauptet, es gäbe „keine größere Freiheit als der Gehorsam gegenüber den gerechten Befehlen eines tugendhaften Fürsten“ (Salutati 2014, S. 128). Während Salutati aber den Begriff der Freiheit nicht weiter erläutert, setzt Guarini sich

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mit ihm auseinander und stützt sich einen Begriff der politischen Freiheit zurecht, der es ihm dann erlauben wird, seine Kompatibilitätsthese zu verteidigen. In diesem Beitrag werde ich mich zuerst mit Guarinis Bestimmung des Begriffs der Freiheit befassen, wobei gezeigt werden soll, dass dieser Begriff eine starke axiologische Komponente erhält, vor allem wenn Guarini die wahre Freiheit erwähnt. In einem zweiten Teil werde ich auf Guarinis Argumentation eingehen. Diese besteht einerseits in dem Beweis, dass Republiken die politische Freiheit auf Dauer nicht sichern, und andererseits in dem Beweis, dass man eine solche Sicherung durchaus in signorie finden kann. Dabei wird auf die anthropologischen Prämissen von Guarinis Argumentation einzugehen sein, denn die Argumentation ist nur dann plausibel, wenn man, wie Guarini, annimmt, dass die große Mehrheit der Menschen hab- und machtsüchtig ist, dass es aber einzelne Exemplare des Menschengeschlechts gibt, die in dem Sinne gut sind, dass sie das Gemeinwohl ihrem eigenen Wohl vorziehen. Im dritten Teil befasse ich mich mit Guarinis Lösung der Frage, wie man in einem Staat das Verhältnis von vita activa und vita contemplativa zu regeln hat. Guarini greift hier ein Problem auf, das schon von Glaukon in Platos Politeia aufgeworfen wurde: was tun, wenn die Philosophen nicht Könige werden wollen? Darf dann Zwang eingesetzt werden? Und wenn ja, wird damit nicht die Freiheit derjenigen verletzt, die gezwungen werden? Guarini stellt sich diese Frage, weil er die politische Freiheit als Freiheit versteht, im Sinne des Gemeinwohls zu arbeiten. Frei sein bedeutet nicht, von der Politik frei zu sein, sondern vielmehr, in der oder durch die Politik, oder noch besser für die Politik frei zu sein. Setzt man diese Definition voraus, dann kann man die Frage aufwerfen, ob und inwiefern man die Menschen dazu verpflichten und zwingen kann, von ihrer politischen Freiheit Gebrauch zu machen. Dass diese Frage immer noch aktuell ist, zeigen etwa die Debatten, die im Frühling 2015 in Frankreich geführt wurden, nachdem einige Politiker die Einführung einer Wahlpflicht angeregt hatten.10

1. Vier Typen von Freiheit Auch wenn er zwischen vier Typen von Freiheit unterscheidet, betont Guarini, dass diese Unterschiede lediglich die, so könnte man sagen, Akzidenzien betrifft, nicht aber die Substanz, die bei allen vier Typen dieselbe ist. Und diese gemeinsame Substanz erlaubt es auch, in den vier Fällen von Freiheit zu sprechen. Das gemeinsame und damit auch das eigentliche Wesen der Freiheit betreffende Element ist die Wahlfreiheit (Guarini 1818, S. 3). Frei ist derjenige, der die Möglichkeit hat, zwischen einer Handlung A und einer Handlung B zu wählen, so dass es also letztlich von ihm

10 Zur Problematik der Wahlpflicht siehe Campagna 2011.

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selbst abhängt, ob er sich für A oder für B entscheiden wird. Das schließt nicht aus, dass man sich eher zu A als zu B geneigt spürt, aber solange man sich dieser Neigung widersetzen kann und somit trotzdem noch B wählen kann, ist Freiheit gegeben. Dieses der Freiheit wesentliche Element der Wahl findet man in der Definition der natürlichen Freiheit wieder, die bei Guarini als erster Freiheitstyp auftaucht, eigentlich aber als das gemeinsame Grundelement der drei anderen Freiheitstypen angesehen werden könnte. Als natürlich betrachtet Guarini diese Freiheit, weil sie in der Natur jener Wesen liegt, die sowohl ein Intellekt als auch einen Willen haben (Guarini 1818, S. 5), wobei der Intellekt jene Fähigkeit ist, die es uns erlaubt, etwas als ein anzustrebendes oder anstrebenswertes Gut zu erkennen, und der Wille jene Fähigkeit ist, dieses – wirkliche oder vermeintliche – Gut dann auch tatsächlich anzustreben. Insofern ein Wesen über Intellekt und Willen verfügt, verfügt es auch über Freiheit, so dass Guarini in einer Sartres berühmte Formel („Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt“11) schon vorwegnehmenden Behauptung schreiben kann: „[D]er Mensch wird mit der Notwendigkeit geboren, frei zu sein“ (Guarini 1818, S. 5-6). Es handelt sich hier um eine Wesensnotwendigkeit, also um eine Notwendigkeit, die in dem liegt, was der Mensch ist. Und zwar ist der Mensch ein mit einer Vernunft und einem Willen ausgestattetes Lebewesen. Die natürliche Freiheit ist bei Guarini ihrem Wesen nach eine Wahlfreiheit und keine Handlungsfreiheit. Sie betrifft in erster Linie die Ebene der inneren Entscheidung und kann prinzipiell auch noch dann gegeben sein, wenn keine Möglichkeit besteht, die innere Entscheidung auch tatsächlich zu verwirklichen. Guarini macht, wie wir noch sehen werden, einen für seine These der Kompatibilität zwischen signoria und politischer Freiheit wesentlichen Unterschied zwischen der politischen Freiheit als solcher und der Ausübung oder Verwirklichung dieser Freiheit. Aus der Tatsache, dass ein Akteur nicht tun darf, was er tun will, folgt demnach noch nicht, dass seine politische Freiheit, oder seine Freiheit überhaupt, eingeschränkt ist. Gesetze oder Befehle, so könnte man auch sagen, können zwar die Ausübung der politischen Freiheit beeinflussen, nicht aber diese Freiheit als solche. Wenn die Freiheit tatsächlich, wie Guarini es behauptet, eine Wesensnotwendigkeit des Menschen ist, dann kann sie letztendlich nur mit der Vernichtung dieses Wesens vernichtet werden. Insofern Gesetze oder Befehle nicht das Wesen des Menschen vernichten, vernichten sie auch nicht seine Freiheit. Vielmehr können sie, wie wir noch sehen werden, einen Kontext schaffen, in welchem dieses Wesen sich so aktualisieren kann, wie es sich eigentlich aktualisieren sollte. Auch wenn die konkreten Objekte der Wahl sehr vielfältig sind, lassen sie sich doch zwei großen Kategorien zuordnen, die man mit den Begriffen des Guten und

11 Sartre 1996, S. 39.

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des Bösen bezeichnen kann, wobei das Gute dasjenige ist, was man anstrebt, und das Böse dasjenige, von dem man sich abwendet. Der Mensch, als ein mit Intellekt und Vernunft begabtes Wesen, steht also immer vor der Wahl zwischen dem Guten und dem Bösen bzw. zwischen dem, was ihm als gut, und dem, was ihm als böse erscheint – denn die Vernunft kann sich hinsichtlich ihrer Bestimmungen irren. Guarini behauptet nun, dass die menschliche Seele sich zwar vom – wirklichen oder vermeintlichen – Guten angezogen fühlt, dass diese Anziehungskraft aber niemals derart stark ist, dass sie die Wahlmöglichkeit als solche vernichtet (Guarini 1818, S. 7). Diese Behauptung Guarinis lässt sich auf zwei mögliche Weisen deuten. Eine starke Deutung wäre, dass der Mensch nicht nur das Böse als solches wählen kann, sondern auch das ihm als das Böse Erscheinende. Eine schwache Deutung wäre, dass der Mensch zwar das Böse als solches wählen kann, nicht aber das ihm als das Böse Erscheinende, d.h. wenn er das Böse wählt, dann nur, weil es ihm als das Gute erscheint. Die Intention geht in dem Fall nicht auf das Böse, sondern auf das Gute, aber diese Intention verfehlt ihr Objekt, weil ein Irrtum vorliegt. Guarinis weitere Ausführungen legen eher diese zweite, schwache Deutung nahe, behauptet er doch, dass der Mensch niemals etwas anderes als das Gute wollen kann, wiewohl er sich durchaus irren kann (Guarini 1818, S. 17). Insofern Guarini der Vernunft eine Beraterfunktion und dem Willen eine Herrschaftsfunktion zuweist (Guarini 1818, S. 16), scheint das Wollen des an sich Bösen letztendlich nicht dem Willen anzukreiden zu sein, sondern indirekt der Vernunft, die sich bei der Bestimmung des Guten geirrt hat. Allerdings, und dies scheint eine Lesart zu sein, die die starke und die schwache Deutung zu synthetisieren in der Lage ist, steht der Wille nicht unter einer naturgesetzähnlichen Nötigung, das zu wollen, was die Vernunft ihm als das Gute präsentiert. Der Wille kann zwar nicht von sich aus das Gute und das Böse erkennen, aber er kann darüber entscheiden, ob er das anstreben wird, was die Vernunft ihm als das Gute präsentiert. Man könnte sagen, dass der Wille, insofern er keinen anderen Kompass hat als die Vernunft, dazu geneigt sein wird, dieser zu vertrauen und dass er sich somit zu dem hingezogen fühlt, was die Vernunft ihm als das Gute präsentiert. Wichtig ist aber, dass er stets die Möglichkeit behält, sich von dem abzuwenden, was die Vernunft ihm als das Gute präsentiert. Darin, also in dieser Möglichkeit, das als Böse erkannte Böse zu wollen, liegt das eigentliche Wesen der Freiheit. Das Gute identifiziert Guarini mit der menschlichen Glückseligkeit, und die Unterschiede hinsichtlich dieser Glückseligkeit werden es Guarini erlauben, verschiedene Typen der menschlichen Freiheit zu unterscheiden. Ihrem Wesen nach ist Freiheit die Möglichkeit, sich für oder gegen das zu entscheiden, was die Vernunft dem Willen als Glückseligkeit präsentiert. Insofern der Mensch nun aber wenigstens drei Identitäten annehmen kann – isoliertes Individuum, Staatsbürger und Geschöpf Got-

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tes12 –, lassen sich auch drei Typen von Glückseligkeit unterscheiden, und jeder dieser Typen ist konstitutiv für einen spezifischen Typ von Freiheit. Die menschliche Freiheit wird also nicht nur eindimensional, sondern dreidimensional gedacht. Die moralische Freiheit wird mit der individuellen menschlichen Glückseligkeit in Verbindung gebracht. Hier greift Guarini auf aristotelisches und stoisches Gedankengut zurück. Der Mensch ist nicht nur ein Vernunftwesen, sondern er hat auch Leidenschaften, so dass sich die Frage nach dem angemessenen Verhältnis zwischen der Vernunft und den Leidenschaften stellt. Soll die Vernunft über die Leidenschaften herrschen, oder sie gar vernichten, oder soll – und kann – sie nichts anderes sein, als die Sklavin dieser Leidenschaften, wie Hume es später formulieren wird? Guarini sieht die Leidenschaften als eine Kraft, die den Menschen zum Bösen verführen kann. Will der Mensch sich demnach vor dem Bösen bewahren, muss er Herr über seine Leidenschaften bleiben. In diesem Kontext definiert Guarini die moralische Freiheit (als zweiter Freiheitstypus) als „ein Habitus, der darin besteht, die Affekte zu unterdrücken, die die Seele unter dem Joch der Sünde halten […]“ (Guarini 1818, S. 9). An sich hätte man hier erwartet, dass Guarini die moralische Freiheit als die Möglichkeit definiert, die Affekte zu unterdrücken oder ihnen aber freien Lauf zu lassen. Das Problem ist dabei nicht, dass der erworbene Habitus die Möglichkeit als solche aufhebt. Wie Guarini selbst bemerkt, bewahrt der Mensch auch dann noch die Kraft (potenza), Böses zu tun, nachdem er den Habitus erworben hat. Wohlgemerkt: die Kraft. Der Habitus, könnte man sagen, hält die Kraft, Böses zu tun, in Schach. Die Affekte, wie Guarini selbst schreibt, werden bloß unterdrückt, und nicht vernichtet. Würden sie nämlich vernichtet, so würde die menschliche Natur vernichtet und damit auch deren Wesensnotwendigkeiten. Da Freiheit eine dieser Wesensnotwendigkeiten ist, würde sie auch vernichtet. An dieser Stelle wird deutlich, dass Guarini zwischen zwei Begriffen der Freiheit schwankt, und zwar zwischen einerseits einem axiologisch neutralen Begriff, der die Freiheit mit der Kraft oder bloßen Möglichkeit gleichsetzt, H zu tun oder nicht zu tun, und andererseits einem axiologisch geprägten Begriff, der die wahre Freiheit mit der Möglichkeit identifiziert, das Gute zu tun. Guarini schreibt in diesem Zusammenhang selbst: „[D]ass man aus tugendhafter Gewohnheit nicht das Böse tun kann, ist keine Knechtschaft, sondern wahre Freiheit“ (Guarini 1818, S. 10). Guarini hätte hier vielleicht besser daran getan, von einem richtigen/wahren und einem falschen bzw. von einem wertvollen und einem wertlosen oder gar wertwidrigen Gebrauch der Freiheit zu sprechen, statt den verwirrenden Begriff der „vera libertà“, der wahren Freiheit einzuführen. Wenn man den Menschen noch loben und 12 Gewöhnlich betrachtete man den Menschen als Einzelwesen, als Mitglied eines Haushalts und als Mitglied eines Staates. Guarini übernimmt hier nur das erste und das letzte Element und fügt ein weiteres Element hinzu: der Mensch als Teil der Schöpfung.

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tadeln will, dann muss man in ihm immer die Fähigkeit oder die Kraft voraussetzen, auch noch das Böse tun zu können. Diese Fähigkeit ist die natürliche Freiheit, die auch durch die Aneignung eines Habitus, immer nur das Gute zu tun, nicht zerstört werden kann. Wie Guarini selbst behauptet, wurde die natürliche Freiheit dem Menschen nicht gegeben, damit er sich auch für das Böse entscheiden darf, sondern damit er sich durch eine freie Entscheidung zur Unterlassung böser Handlungen moralischen Verdienst erwerben kann (Guarini 1818, S. 9). Unter der wahren Freiheit wäre somit ein nicht missbräuchlicher Gebrauch der Freiheit zu verstehen, ein Gebrauch der Freiheit, der mit dem eigentlichen Zweck einhergeht, für welchen die Menschen mit der Freiheit ausgestattet wurden. Wir haben zwar die Freiheit, Böses zu tun, aber wir haben diese Freiheit nicht, um Böses zu tun, sondern wir haben sie, um uns durch die Abwendung vom Bösen moralischen Verdienst anzueignen. Hätte Gott – wenn er es denn war – den Menschen die Freiheit nicht gegeben, dann hätten sie sich keinen moralischen Verdienst erwerben können. Aber einen solchen Verdienst hätten sie sich auch nicht erwerben können, wenn Gott es unterlassen hätte, einen bestimmten Gebrauch seiner Freiheit zu machen. Gott musste dem Menschen somit die Freiheit geben, und der Freiheit musste er einen bestimmten Zweck vorgeben. Anstatt „vera libertà“ hätte es besser „vero uso della libertà“ heißen sollen. Wer sich eine tugendhafte Gewohnheit aneignet, nur noch das Gute zu tun, obwohl immer noch die Möglichkeit besteht, das Böse zu tun, orientiert die Freiheit auf jenes ihrer zwei möglichen Ziele hin, für welches sie uns ursprünglich gegeben wurde, und macht dementsprechend einen richtigen Gebrauch von ihr. Guarini selbst macht diesen Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Gebrauch der Freiheit später in seinem Werk ausdrücklich, nämlich wenn er über Florenz spricht (Guarini 1818, S. 119). Obwohl die Freiheit von ihrem rein formalen Wesen her nicht auf einen bestimmten Zweck orientiert ist, so hängt doch der Wert ihres Gebrauchs von einem bestimmten Zweck ab. Die moralische Freiheit zielt auf die individuelle Glückseligkeit ab, und diese lässt sich nur dadurch erwerben, dass man seine Affekte unterdrückt und demnach nicht sie, also die Affekte, sondern die Vernunft zum Berater des Willens macht. Auch wenn sie in Guarinis Aufzählung erst an vierter Stelle kommt, wollen wir hier als nächstes die christliche Freiheit erwähnen, und überspringen damit die politische Freiheit, auf die wir aber gleich zurückkommen werden. Diese christliche Freiheit bzw. Freiheit des Menschen als Christen definiert Guarini als „Fähigkeit des Intellekts und des Willens, entweder das Gute oder das Böse zu wählen, sofern es die ewige Glückseligkeit betrifft“ (Guarini 1818, S. 15). Diese Formulierung betrifft zunächst nur die rein formale Dimension der Freiheit, und sie präjudiziert noch nicht, zumindest nicht explizit, die Frage nach dem richtigen Gebrauch dieser Freiheit und somit die Frage nach der „vera libertà“ eines Christen.

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Während wir durch bestimmte Entscheidungen nur unser privates irdisches Wohl gefährden, und durch andere das irdische Wohl der Gemeinschaft, der wir angehören, können wir durch andere Entscheidungen die ewige Glückseligkeit gefährden, und zwar sowohl unsere eigene als auch gegebenenfalls die einer ganzen politischen Gemeinschaft (Guarini 1818, S. 7). Woran Guarini genau gedacht hat, als er die christliche Freiheit mit dem Wohl der Gemeinschaft in Verbindung brachte, geht nicht klar aus dem Text hervor. Will man die Hypothese entkräften, er habe es nur getan, um die christliche Freiheit von der individuellen und der politischen abzugrenzen – die erste bezieht sich nur auf die individuelle Glückseligkeit, die zweite nur auf die öffentliche Glückseligkeit, so dass man, wenn es neben diesen beiden keine dritte Form der Glückseligkeit gibt, nur noch die Konjunktion der beiden ersten anführen kann –, so wird man annehmen müssen, dass zumindest der Herrscher durch seine Entscheidungen – etwa eine bestimmte Religion als einzige Religion durchzusetzen – nicht nur seine eigene ewige Glückseligkeit aufs Spiel setzt, sondern auch diejenige seiner Untertanen, denen er einen religiösen Glauben – und wenn nicht den Glauben, so doch wenigstens die religiöse/konfessionelle Praxis – aufzwingt. Aber wie dem auch sei, wichtig ist hier, dass wir es bei der Freiheit des Christen mit einer Freiheit zu tun haben, deren Ausübung einen jenseitigen Zustand der Glückseligkeit betrifft. Diese Freiheit des Christen setzt Guarini mit dem liberum arbitrium gleich (Guarini 1818, S. 15), also mit jener Freiheit, die Gott dem Menschen gegeben hat, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden, wobei aber auch hier gilt, dass der Mensch diese Freiheit nur dann nicht missbraucht, wenn er sich für das Gute entscheidet. Als Gott den beiden ersten Menschen die rein formale Freiheit ließ, sich für das Gute und das Böse zu entscheiden, ließ er ihnen diese Freiheit nicht, damit sie sich für das Böse entscheiden, sondern damit sie sich für das Gute entscheiden. Diese Freiheit des Menschen als Christen ist nicht von den anderen Freiheiten losgekoppelt, sondern diese anderen Freiheiten können dazu beitragen, sie zu erlangen (Guarini 1818, S. 15). Guarini deutet hier auf die Möglichkeit hin, mittels der Selbstdisziplinierung zum Zweck der Erreichung der moralischen und der politischen Freiheit, die Basis zu legen für das Erlangen auch der christlichen Freiheit. Die Leidenschaften gefährden nämlich nicht nur unsere irdische Glückseligkeit, sondern auch die ewige, so dass wir, wenn wir sie unter die Kontrolle der Vernunft bringen zum Zwecke der Erlangung unserer irdischen Glückseligkeit, gleichzeitig etwas zum Zwecke der Erlangung unserer ewigen Glückseligkeit getan haben, auch wenn wir es nicht unbedingt bewusst und absichtlich für diesen weitergehenden Zweck getan haben. Wenden wir uns dann schließlich noch der politischen Freiheit zu, bei der es um den Menschen als Untertan und um das Gemeinwohl der politischen Gemeinschaft

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geht. Guarini definiert die politische Freiheit wie folgt: „[E]ine Fähigkeit, die weder durch eine innere, noch durch eine äußere Herrschaft daran gehindert wird, so zu leben oder zu wirken, wie ein anderer es will, im Einklang mit den guten Gesetzen“ (Guarini 1818, S. 14; Original: „una facoltà non impedita da predominio interno od esterno di vivere, ed operare, come altri vuole13, conforme alle buone leggi“). Politisch frei ist demnach derjenige, der ungehindert darüber entscheiden kann, sein Leben so zu gestalten, wie ein außer ihm liegender und dem Gesetz konformer Wille es will. Ein möglicher Hinderungsgrund kann entweder im handelnden Individuum selbst oder außerhalb von ihm liegen. Das erste ist etwa der Fall, wenn jemand durch seine Leidenschaften oder Begierden kontrolliert wird, die ihn davon abhalten, sich dem gesetzeskonformen fremden Willen zu unterwerfen. Das zweite ist der Fall, wenn ein anderer Mensch einen daran hindert das zu tun, was der gesetzeskonforme fremde Wille verlangt. Wenn etwa dieser Wille von mir verlangt, wählen zu gehen, und jemand hindert mich daran, dann stellt dies eine Verletzung meiner politischen Freiheit dar. Die politische Freiheit lässt sich nicht unabhängig vom Gesetz verstehen – der Bezug zum Gesetz ist schon in ihrer Definition enthalten. Eine Freiheit, die sich von jeglichem Gesetz emanzipieren will, ist keine Freiheit mehr, sondern nur noch Willkür (licenza) (Guarini 1818, S. 15).14 Insofern beschränkt das Gesetz nicht nur die Freiheit, sondern es konstituiert sie allererst als Freiheit.15 Guarini ist sich zunächst der Tragweite seiner These nicht ganz bewusst, wenn er sich damit begnügt zu behaupten, das Gesetz nehme nicht die Freiheit weg, sondern helfe ihr (Guarini 1818, S. 13). Das Gesetz tut mehr, als einer schon existierenden politischen Freiheit zu helfen. Es verwandelt vielmehr eine noch nicht politische in eine politische Freiheit. Solange das Gesetz nicht da ist, gibt es noch keine politische Freiheit. Das Gesetz, so könnte man vielleicht sagen, hilft der Willkür, zur politischen Freiheit zu werden. Das Gesetz nimmt den Menschen sehr wohl die Willkür weg bzw. das Recht, nach ihrer bloßen Willkür zu handeln, nicht aber die Freiheit. Würde es dies nämlich tun, so Guarini, dann könnte eigentlich niemand frei sein. Die politische Freiheit, so noch Guarini, besteht in der Fähigkeit des Bürgers, seinen Beitrag zum Allgemeinwohl zu leisten (Guarini 1818, S. 11). Dies ergibt sich 13 „Altri“ ist zwar die Pluralform von „altro“, aber da das Verb im Singular steht („vuole“), habe ich in der Übersetzung auch die deutsche Singularform benutzt. Der Singular steht auch im Einklang mit der Absicht Guarinis: die Alleinherrschaft zu verteidigen und deren Kompatibilität mit der politischen Freiheit zu zeigen. 14 Die Unterscheidung zwischen der geregelten Freiheit und der regellosen Willkür ist ein topos der politischen Philosophie. 15 Montesquieu schreibt in De l’esprit des lois: „[D]ie politische Freiheit besteht keineswegs darin, das zu tun, was man will. In einem Staat, das heißt in einer Gesellschaft in welcher es Gesetze gibt, kann die Freiheit nur darin bestehen, das tun zu können, was man wollen soll, und nicht dazu gezwungen zu werden das zu tun, was man nicht wollen darf“ (Montesquieu 1979, S. 292).

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daraus, dass die guten Gesetze auf die Förderung des Allgemeinwohls abzielen. Genauso wie die Freiheit, sich dem guten Gesetz zu unterwerfen, die politische Freiheit konstituiert, konstituiert die Förderung des Allgemeinwohls die Güte des Gesetzes. Gute Gesetze sind Gesetze, die das Allgemeinwohl fördern, und politisch freie Untertanen sind Untertanen, die nicht daran gehindert werden, guten Gesetzen gemäß zu handeln. Politische Freiheit, gute Gesetze und das Allgemeinwohl bilden somit eine unzertrennliche Trias, die selbst nicht durch die Tatsache, dass ein absoluter Fürst für die Wirksamkeit der guten Gesetze sorgt, in Frage gestellt werden kann. Guarini hält auch noch fest, dass es nicht damit getan ist, die Menschen lediglich dazu zu bringen, Handlungen auszuführen, die dem Allgemeinwohl förderlich sind, wobei die Handlungsmotive gleichgültig sind. Man sollte sie vielmehr dazu bringen, diese Handlungen nicht bloß aus Angst vor einer Bestrafung auszuführen, sondern weil es für sie eine Ehre ist, im Sinne des Allgemeinwohls zu handeln (Guarini 1818, S. 12). Die politische Freiheit erhält somit ihren eigentlichen Wert dadurch, dass man sie freiwillig ausübt. Den höchsten Grad politischer Freiheit hat insofern derjenige, der den guten Gesetzen folgt, weil sie gut sind und weil es einem politisch freien Wesen entspricht, sich durch die Erkenntnis der intrinsischen Güte des Gesetzes zum Handeln bestimmen zu lassen. Guarinis Aussagen zur politischen Freiheit haben, mit Wittgenstein gesprochen, einen grammatischen Charakter, d.h. sie beschreiben kein von ihnen unabhängiges Objekt – die politische Freiheit –, sondern sie geben einem Begriff eine spezifische Bedeutung und konstituieren somit allererst die politische Freiheit als einen spezifischen Gegenstand, der von anderen Gegenständen, etwa der Willkür, abgegrenzt wird. Guarinis Argumentationsstrategie zugunsten der Signoria besteht darin, dass er zunächst den Begriff der politischen Freiheit an den Begriff des Gesetzes koppelt, diesen Begriff des Gesetzes an denjenigen des Allgemeinwohls und den Begriff des Allgemeinwohls an den der Signoria. Auf diese Weise ergibt sich dann für ihn, dass die politische Freiheit am besten durch eine Signoria bewahrt wird. Seine republikanischen Gegner stimmen mit ihm überein, was die ersten beiden Koppelungen betrifft, aber sie lehnen die dritte ab. Für Guarini schließt die politische Freiheit nicht aus, dass man sich einem fremden Willen unterwirft, vorausgesetzt, dieser Wille ist den guten Gesetzen konform. Die republikanischen Denker stellen dies aber in Frage, und für sie schließt die politische Freiheit eine Unterwerfung unter einen fremden menschlichen Willen aus.

2. Das Schicksal der politischen Freiheit in einer Republik und in einer Signoria Wenn Guarini seine These, dass die politische Freiheit sich besser in einer Signoria als in einer Republik bewahren lässt, angemessen beweisen will, muss er zeigen,

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dass die Republiken aufgrund bestimmter Charakteristiken nicht in der Lage sind, einen angemessenen Ort für die politische Freiheit zu bilden. Dabei ist aber zu berücksichtigen, wie schon vorhin angedeutet wurde, dass Guarini einen Unterschied zwischen der politischen Freiheit und der Ausübung der politischen Freiheit macht, und dass es eigentlich dieser Unterschied ist, auf den es ihm ankommt. An und für sich ist die politische Freiheit sozusagen mit dem Menschen als vernunft- und willenbegabtem Wesen gegeben. Man kann niemandem die Fähigkeit nehmen, sich für oder gegen das Allgemeinwohl zu entscheiden. Die politische Freiheit als reine oder formale Wahlfreiheit wird nicht durch das Gesetz zerstört, wie Guarini betont. Das Gesetz schreibt nur vor, wie diese Freiheit zu gebrauchen ist, d.h. es schreibt vor, welche der zwei Handlungsoptionen – für oder gegen das Allgemeinwohl – man zu wählen hat, indem es bestimmte Handlungstypen verbietet – diejenigen, die gegen das Allgemeinwohl verstoßen, sind verboten, und diejenigen, die das Allgemeinwohl fördern, sind geboten.16 Und wenn Guarini sagt, dass das Gesetz einem die Freiheit nicht nimmt, sondern dieser Freiheit hilft, so könnte das bedeuten, dass das Gesetz einerseits der Vernunft mitteilt, welche Handlungen dem Gemeinwohl entsprechen, und dass es andererseits den Willen darin unterstützt, diese Handlungen auch auszuführen. Das Gesetz hilft gewissermaßen der rein formalen politischen Freiheit sich zur wahren politischen Freiheit zu entwickeln. Es klärt den Untertanen über die Mittel auf, die dem Allgemeinwohl förderlich sind, und durch die Sanktionsandrohung motiviert es ihn – falls die bloße Erkenntnis der Güte des Gesetzes nicht genügen sollte –, diese Mittel auch einzusetzen. Die politische Freiheit, so Guarini, ist ein Gegenstand, nach dem alle Menschen zu allen Zeiten gestrebt haben (Guarini 1818, S. 29). Im Gegensatz zu Hobbes konzipiert Guarini den Menschen nicht als ein Wesen, das sich nur aus egoistischem Kalkül mit seinesgleichen zusammentut, um eine Gesellschaft zu bilden, sondern er geht von der Prämisse aus, dass der Mensch von Natur aus ein animal sociale ist (Guarini 1818, S. 11). Wenn dem so ist, dann kann man davon ausgehen, dass alle Menschen auch das Allgemeinwohl wollen, denn das Allgemeinwohl ist das Wohl der Gesellschaft, zu der sie sich von Natur aus hingezogen fühlen. Eine politische Philosophie, die dem universellen Freiheitsstreben widersprechen würde, würde sich selbst zum Scheitern verurteilen. Guarini verurteilt somit nicht das allgemeine Streben nach politischer Freiheit, wie man es vielleicht von einem Verfechter des politischen Absolutismus erwartet hätte. Für ihn ist es wichtig, die Kompatibilität zwischen Signoria und politischer Freiheit zu zeigen. Er will die republikanischen Denker sozusagen mit ihren eigenen Waffen schlagen. Es ist nur weil viele Menschen diese Kompatibilität nicht sehen, dass sie, weil sie die politische Freiheit wollen, die Signoria nicht wollen und ihr Freiheitsstreben in einer Republik 16 Bloß erlaubt wären diejenigen Handlungen, die das Allgemeinwohl nicht unmittelbar tangieren.

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verwirklichen wollen. Wenn es Guarini zu zeigen gelingt, dass die Signoria und die politische Freiheit kompatibel sind, und wenn es ihm darüber hinaus zu zeigen gelingt, dass die politische Freiheit, wenn überhaupt, nicht so gut in einer Republik gedeihen kann, dann wird er seine Leser dazu bringen können, sich für eine Signoria zu entscheiden. Um das Schicksal der politischen Freiheit in einer Republik zu zeigen, beschreibt Guarini, wie es der politischen Freiheit in Republiken ergangen ist. Er greift also auf historische Beispiele zurück. Von den Israeliten im Alten Testament über Athen, Sparta und Rom bis hin zu den italienischen Republiken, deren Namen man zu Guarinis Zeiten und noch darüber hinaus mit der Freiheit assoziierte, untersucht der Autor das Schicksal der Freiheit in jener Staatsform, die ihr, zumindest dem allgemeinen Glauben zufolge, angeblich am Günstigsten sein soll. Und überall ergibt sich dieselbe Schlussfolgerung: in Republiken entwickelt sich immer nur ein Missbrauch der politischen Freiheit, d.h. Republiken sind nicht in der Lage, die wahre politische Freiheit zu institutionalisieren oder zu stabilisieren. In den Republiken nimmt immer die Willkür die Überhand, und dies auf Kosten der wahren Freiheit (Guarini 1818, S. 91). Für Guarini steht fest, dass viele derjenigen, die die politische Freiheit auf ihre Fahnen geschrieben haben, eigentlich nur die Willkür wollten, und d.h. dass es ihnen lediglich darum ging, ihre rein individuellen und privaten Interessen frei durchsetzen zu können, indem sie andere ausbeuteten (Guarini 1818, S. 30-31).17 Es ging diesen Befürwortern der Freiheit also nicht darum, alle Menschen von der Herrschaft eines Fürsten zu befreien, sondern sich selbst der Unterwerfung unter den Willen eines Fürsten zu entziehen, um somit die Freiheit zu haben, den anderen Menschen ihren eigenen Willen aufdrängen zu können. Hinter diesem Abdriften in die Willkür diagnostiziert Guarini die Ambition: die Menschen wollen immer mehr als das, was sie haben, und um sich dieses Mehr anzuschaffen, streben sie danach, über andere zu herrschen. Wenn sie demnach nach Ämtern streben, dann nicht, weil sie auf diese Weise dem Allgemeinwohl dienen können, sondern weil sie auf diese Weise ihre Besitz- und gegebenenfalls Machtgier besser stillen können.18 Dabei ist zu betonen, dass Guarini nicht das Streben nach 17 Guarinis Argument ist also, dass die republikanischen Befürworter der politischen Freiheit, und damit die Gegner der Signoria, eigentlich böse Menschen sind, die ihre Mitmenschen täuschen wollen. Unter dem Vorwand, das Allgemeinwohl zu verfolgen, wollen sie nur ihre eigenen Interessen besser durchsetzen können. Bei Algernon Sidney heißt es, in einem ähnlichen, aber auf entgegengesetzten Prämissen aufgebauten ad hominem Argument: „[I]t will easily appear why the worst men have ever been for absolute monarchy, and the best against it; and which of the two in so doing can be said to desire an unrestrained liberty of doing that which is evil“ (Sidney 1996, S. 195). Bei Sidney wollen die Befürworter der absoluten Monarchie diese Staatsform, um Böses tun zu können, und bei Guarini wollen die Befürworter der Republik diese Staatsform, um Böses tun zu können. 18 Guarini unterlässt es aber, wie Platon es getan hatte, das Privateigentum für die Herrschenden abzuschaffen.

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öffentlichen Ämtern als solches tadelt, sondern dass es ihm lediglich darum geht, eine bestimmte Motivation zu verurteilen.19 Guarini will keineswegs die Menschen davon abhalten, durch die Übernahme von öffentlichen Ämtern im Sinne des Gemeinwohls zu handeln, sondern er will diese Übernahme wieder auf ihren eigentlichen Zweck hin orientieren. Es ist nicht verwerflich, öffentliche Ämter ausüben zu wollen, aber es ist verwerflich, sie bloß aus eigennützigen Gründen ausüben zu wollen. Die Ausübung öffentlicher Ämter ist ein Mittel zur Förderung des Allgemeinwohls, so dass die Untertanen nicht nur ein Recht haben, diese Ämter auszuüben, sondern auch eine Pflicht. Aber diese Pflicht erfüllen sie eigentlich nur dann, wenn sie die Ausübung öffentlicher Ämter nicht zweckentfremden. Laut Guarini sind es die Privatinteressen, die meistens die Form von Gruppenoder Klasseninteressen annehmen, die die Einrichtung der wahren politischen Freiheit verhindern. Jede der sich gegenüberstehenden Gruppen will an die Macht, um ihre spezifischen Gruppeninteressen durchzusetzen. Dies führt dann zu Streitereien, die ganz oft mit einem Bürgerkrieg enden, durch welchen die Republik abgeschafft wird. Die Republik ist somit keine stabile Staatsform, und wo eine bestimmte Stabilität zu sein scheint, lässt sie sich durch die Angst vor einem äußeren Feind erklären. Solange es gilt, einen äußeren Feind abzuwehren, hält man zusammen, denn es ist im Interesse einer jeden Gruppe oder Klasse, sich gegen einen äußeren Feind zu schützen. Ist dieser Feind abgewehrt, beginnen die Konflikte wieder und die Republik steht erneut auf der Schwelle eines sie zerstörenden Bürgerkriegs (Guarini 1818, S. 106). Die Tatsache, dass in einer Republik die Menschen an der Ausübung der politischen Macht beteiligt sind, lässt Guarini nicht als Argument zu Gunsten der Wirklichkeit der politischen Freiheit in der Republik gelten. Denn, so ein Argument, es wird niemals eine Republik geben, in welcher alle Bürger der politischen Klasse angehören (Guarini 1818, S. 97). Es ist insofern falsch zu behaupten, dass in einer Republik alle Bürger Mitglieder der politischen Klasse sind. Die angebliche Regierung aller durch alle ist ein Unding. Es wird somit immer und in jeder Republik Menschen geben, die von den öffentlichen Ämtern ausgeschlossen sind. Die fundamentale politische Unterscheidung ist somit nicht die zwischen Staaten, in denen niemand ausgeschlossen ist, und Staaten, in denen eine gewisse Zahl ausgeschlossen ist, sondern wichtig ist zu sehen, wer ausgeschlossen ist, so dass man zwischen Staaten unterscheiden muss, in denen diejenigen ausgeschlossen sind, denen man zu Recht kein öffentliches Amt anvertrauen soll, und Staaten, in denen andere Ausschlusskri19 Varotti macht darauf aufmerksam, dass zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Ambition nicht unbedingt negativ konnotiert war, sondern den Willen des Bürgers ausdrückte, öffentliche Ämter zu bekleiden (Varotti 1998, S. 1-2). Guarini würde sagen, dass dieser Wille nur dann legitim ist, wenn er gleichzeitig der Wille ist, sein Privatinteresse zwischen Klammern zu setzen, um dem Gemeinwohl zu dienen. Es geht nicht um Partizipation als solche, sondern um die Motive und die Finalität der Partizipation.

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terien funktionieren, wie etwa die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei oder Gruppe. Wenn sowieso immer eine bestimmte Anzahl von Bürgern ausgeschlossen werden muss, dann sollte man diejenigen ausschließen, die nicht würdig sind, ein öffentliches Amt zu bekleiden. Und das sind diejenigen, die die Ausübung eines öffentlichen Amtes einem anderen telos unterwerfen als demjenigen, das dem öffentlichen Amt inhärent ist: die Sorge um das Allgemeinwohl. Wie Guarini festhält, gibt es kein Gemeinwesen, in welchem alle Bürger fähig wären, die öffentlichen Ämter so auszuüben, wie es die Vernunft vorschreibt, weil sie sich ihren Begierden und Leidenschaften unterwerfen und dementsprechend ihre eigenen persönlichen Interessen dem Allgemeinwohl überordnen (Guarini 1818, S. 133). Guarini geht es also darum zu zeigen, dass der politischen Freiheit dann am besten gedient ist, wenn man die öffentlichen Ämter in die Hände der Tugendhaftesten legt, und dass man die politische Freiheit keineswegs verletzt, wenn man die Nicht-Tugendhaften von der Ausübung öffentlicher Ämter ausschließt. In den Republiken, so Guarini, hat man zwar sehr wohl die natürliche Freiheit, aber nicht die politische, man ist als Mensch frei, nicht aber als guter Bürger (Guarini 1818, S. 134). Die Freiheit des guten Bürgers, und d.h. die eigentliche oder wahre politische Freiheit, besteht darin, das dem Allgemeinwohl Förderliche zu tun. Sie ist keineswegs schon dadurch gegeben, dass man sich de facto sowohl für das Gute als auch für das Böse entscheiden kann. Diese Entscheidungsfreiheit ist mit der natürlichen Freiheit identisch. Man sollte sich nicht dadurch täuschen lassen, dass in einer Republik jeder am politischen Leben teilnehmen kann. Viele Menschen glauben, dass ein Volk umso freier ist, je mehr die Menschen sich am politischen Leben beteiligen können (Guarini 1818, S. 133). Wichtiger als die Beteiligung sind für Guarini die Motive für die Beteiligung. Wo die politische Teilnahme auf Leidenschaften oder Begierden beruht, wo man sich nur beteiligt, um seine persönlichen Interessen durchzusetzen, kann nicht von politischer Freiheit im eigentlichen Sinn des Wortes gesprochen werden. Wahre politische Freiheit besteht nicht schon im Ausüben äußerer Handlungen, sondern sie verweist immer auf die Motivationsquelle für diese Handlungen. Wahre politische Freiheit besteht nur dort, wo die politisch Teilnehmenden sich für das Allgemeinwohl einsetzen und die Teilnahme nur die Förderung dieses Allgemeinwohls im Auge hat. Aber, so wird man vielleicht sagen, in einer Republik wird abgestimmt und jeder kann an der Abstimmung teilnehmen. In einer Signoria muss man sich dem Willen des Fürsten unterwerfen. Und dies, so das Argument weiter, macht einen wesentlichen Unterschied zwischen den zwei Staatsformen aus und erlaubt den Schluss, dass eine Republik der politischen Freiheit günstiger ist als eine Signoria. Hierauf antwortet Guarini, dass zwar jeder an der Abstimmung teilnehmen kann, dass aber auch jeder das Resultat der Abstimmung akzeptieren muss, ob es ihm passt oder nicht (Guarini 1818, S. 135). Man kann demnach nicht behaupten, dass man in einer Re-

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publik immer nur seinem eigenen Willen gehorcht. Um Guarini zu zitieren: „[D]ie Verpflichtung dem Fürsten gegenüber, ihm zu gehorchen, ist ein und dieselbe Sache mit der Verpflichtung die Du eingegangen bist, dem Gesetz der Wahl (legge dello squittinio) zu gehorchen“ (Guarini 1818, S. 136). In beiden Fällen, so Guarini, akzeptiert man, sich einem fremden Willen zu unterwerfen. Wenn man demnach die politische Freiheit mit der Tatsache gleichsetzt, keinem fremden Willen unterworfen zu sein, lässt sich kein merklicher Unterschied zwischen einer Republik und einer Signoria feststellen. Wer sich in der Republik in der Minderheit befindet, muss sich dem Willen der Mehrheit unterwerfen. Genau dieses Argument wird ein gutes halbes Jahrhundert später von Thomas Hobbes in seinem Leviathan aufgegriffen. Hobbes beginnt dort mit der Feststellung, dass in Athen oder Rom nicht die Individuen frei waren, sich der politischen Autorität zu widersetzen, sondern dass es die politische Autorität war, die die Freiheit besaß, sich äußeren Angriffen zu widersetzen und gegebenenfalls andere Länder zu erobern. Die politische Freiheit der antiken Republiken war somit eine kollektive und keine individuelle Freiheit.20 Und Hobbes fährt dann fort: „There is written on the Turrets of the city of Luca in great characters at this day, the word LIBERTAS; yet no man can thence inferre, that a particular man has more Libertie, or Immunitie from the service of the Commonwealth there, than in Constantinople. Whether a Common-wealth be Monarchical, or Popular, the Freedom is still the same” (Hobbes 2002, S. 149).21 In jedem Gemeinwesen müssen die Individuen der politischen Autorität gehorchen, ob diese politische Autorität von einem oder von mehreren Menschen ausgeübt wird. In keinem Gemeinwesen kann ein Individuum das Recht für sich in Anspruch nehmen, dem Gemeinwesen nicht zu dienen, und noch weniger, dem Gemeinwesen zu schaden. Für Hobbes gibt es allerdings keine politische Freiheit, wie sie Guarini versteht, also als Dienst an der Allgemeinheit. Wie aus der eben zitierten Stelle hervorgeht, begreift der Autor des Leviathan die Freiheit höchstens als „immunitie from the service of the Commonwealth“, also als Freiheit, sich nicht um die politischen Angelegenheiten kümmern zu müssen. Bei Guarini ist die Freiheit eine Freiheit zum Politischen, wohingegen sie bei Hobbes – und bei den meisten sogenannten Modernen – eine Freiheit vom Politischen ist. Er konzeptualisiert sie primär 20 Benjamin Constant wird in diesem Kontext in seiner berühmten Rede aus dem Jahr 1819 den Unterschied zwischen der liberté des Anciens und der liberté des Modernes machen. In den Republiken der Antike durfte zwar jeder – sprich: jeder freie männliche Bürger – mit abstimmen, aber er musste auch das Resultat der Abstimmung akzeptieren, selbst wenn dieses Resultat sein Exil zur Konsequenz hat. 21 Guarini erwähnt auch die Stadt Lucca, aber in seiner Darstellung ihrer Geschichte zeichnet er das Bild einer Stadt, die nur ganz selten frei war. Zunächst war sie dem Römischen Reich Untertan, dann folgten unterschiedliche lokale und regionale Herrscher, dann kamen kurze Episoden der Freiheit, und zu Guarinis Zeit lebte Lucca glücklich, so der Autor, unter einem Fürsten (Guarini 1818, S. 91f.).

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als eine „Liberty to refuse“ (Hobbes 2002, S. 151). Unter bestimmten Umständen kann das Individuum den Gehorsam verweigern, u.a. dann, wenn er durch den Gehorsam seine Überlebenschancen drastisch minimieren würde. Insofern haben „men of feminine courage“ das Recht, vom Schlachtfeld wegzulaufen, vorausgesetzt, ihre Flucht erfolgt aus Angst und nicht weil sie den Untergang ihres Gemeinwesens wollen (Hobbes 2002, S. 151). Aber für beide Autoren steht fest, dass man nicht behaupten kann, dass das Individuum in einer Republik freier ist als in einer absoluten Monarchie. Um Guarini zu zitieren: „Wenn diese Deine Handlungsmacht durch Gesetze begrenzt ist, welchen Unterschied machst Du dann noch zwischen einer richtigen (corretta) Freiheit in der Republik und der richtigen Freiheit im Fürstenstaat?“ (Guarini 1818, S. 132). Die Frage ist also nicht, ob man Gesetzen unterworfen ist, über die man selbst mitbestimmen durfte, oder ob man Gesetzen unterworfen ist, an deren Zustandekommen man nicht beteiligt war, sondern es geht lediglich darum zu wissen, ob man guten Gesetzen unterworfen ist. Damit die Gesellschaft funktionieren kann, muss die menschliche Handlungsmacht durch Gesetze begrenzt werden, und damit diese Begrenzung der Handlungsmacht keinen Einschnitt in oder Verletzung der wahren politischen Freiheit bedeutet, muss sie so gestaltet sein, dass die Handlungsmacht nicht in jenen Dimensionen begrenzt oder verletzt wird, in denen sie dem Gemeinwohl förderlich ist. Die wahre politische Freiheit besteht letztendlich also nicht darin, die Gesetze zu machen oder an ihrem Entstehungsprozess beteiligt zu sein, sondern sie besteht darin, keinen Gesetzen unterworfen zu sein, die ein Handeln gebieten, das dem Gemeinwohl schädlich ist bzw. ein Handeln verbieten, das dem Gemeinwohl nützlich ist. Wo die Handlungsmacht zum Schaden des Gemeinwohls eingesetzt oder gebraucht wird, drückt sich nicht die politische Freiheit aus, sondern die individuelle Willkür. Die Grundprämisse von Guarinis Argument gegen die Republiken ist anthropologischer Natur: die Menschen sind macht- und besitzgierige Wesen, und wenn man die Individuen über sich selbst bestimmen lässt, dann wird jeder nur seine Partikularinteressen im Auge haben. In dieser Hinsicht nimmt Guarini schon Hobbes’ Argument vorweg. Die Menschen müssen einem Gesetz unterworfen werden, und dieses Gesetz, wie wir schon gesehen haben, ist auf das Allgemeinwohl ausgerichtet und macht somit die wahre politische Freiheit erst möglich. Solange kein Gesetz das Handeln der Menschen leitet, herrscht Willkür, sobald ein Gesetz dieses Handeln auf das Allgemeinwohl hin orientiert, entsteht politische Freiheit. Das Gesetz muss allerdings auch wirksam sein, und Wirksamkeit erlangt es nur dadurch, dass es eine Macht gibt, die ihm Wirksamkeit verleiht. Die Unwirksamkeit des Gesetzes wird ebenso mit der Herrschaft der Willkür gleichgesetzt wie seine Abwesenheit. Wer aber soll dem Gesetz Wirksamkeit verleihen, d.h. wer soll dafür sorgen, dass dem Gemeinwesen gedient und nicht geschadet wird? Nicht derjenige, so Guarini, der dem Gesetz selbst unterworfen ist (Guarini 1818, S. 120). Denn wenn

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A und B alle beide dem Gesetz unterworfen sind, dann sind sie gleich. Wenn sie aber alle beide gleich sind, dann wird keiner von beiden einsehen, wieso er sich dem anderen unterwerfen sollte. Unter diesen Umständen wird es nicht möglich sein, dem Gesetz Wirksamkeit zu verschaffen. Die Wirksamkeit des Gesetzes setzt also Ungleichheit zwischen den Menschen voraus und ist somit nicht mit der egalitaristischen Prämisse der republikanischen Theorien vereinbar. Da man das Problem der Wirksamkeit des Gesetzes nicht dadurch lösen kann, dass man das Gesetz zum Ursprung seiner eigenen Wirksamkeit macht – nach dem Motto: Nicht die Menschen sollen herrschen, sondern das Gesetz –, und da Guarini nicht bereit ist, seine anthropologische Grundprämisse aufzugeben und anzunehmen, dass die Menschen sich gewissermaßen aus freien Stücken dem Gesetz unterwerfen werden, geht er davon aus, dass nur ein Fürst, eine über den Gleichen stehende Autorität, dem Gesetz Wirksamkeit verschaffen kann, und dass nur so die Möglichkeit politischer Freiheit bewahrt werden kann. Dieser Fürst muss aber selbst über dem Gesetz stehen, ansonsten stellt sich das Problem wieder, auf das wir im Zusammenhang der Republiken hingewiesen hatten. Auch Hobbes wird darauf pochen, dass der Souverän nicht durch das Gesetz gebunden werden kann, denn, so der Autor des Leviathan, im Falle eines rechtlichen Streits zwischen den Untertanen und dem Souverän, gäbe es keinen Dritten mehr, der unparteiisch den Rechtsstreit lösen könnte.22 Die Wirksamkeit des Gesetzes zu garantieren ist aber nur eine der Aufgaben des Fürsten. Ihm obliegt es auch, das Gesetz zu interpretieren, Fälle zu entscheiden, für die es kein Gesetz gibt, neue Gesetze zu schaffen, sowie jeden Aufruhr schon im Keim zu ersticken (Guarini 1818, S. 28). Hier erscheint der Fürst als lex viva, als das lebende Gesetz. Der Gesetzestext muss der Wirklichkeit angepasst werden bzw. muss er auf sie angewendet werden. Gegebenenfalls muss das Gesetz auch geändert werden oder es müssen neue Gesetze geschaffen werden. Der tote Gesetzestext kann sich nicht von selbst der lebendigen Wirklichkeit anpassen, sondern er muss durch etwas Lebendiges dynamisiert werden, und zwar durch den Fürsten. Der Fürst ist der Garant dafür, dass das Gemeinwesen immer Gesetze hat, die das Allgemeinwohl fördern. Die Einrichtung einer signoria ist in Guarinis Augen auch das einzige Mittel, um eine kranke, den Tumulten ausgesetzte Republik wieder zu einem gesunden Staat werden zu lassen, in dem nicht mehr die Willkür der Einzelnen sich durchsetzt, sondern das Gesetz, das im Dienste der politischen Freiheit der Einzelnen und des Wohlstandes des Staates steht. Nur Gesetze, die diese Ziele haben, sind gerechte Gesetze, und nur wo solche Gesetze herrschen, herrscht auch Freiheit. Wer ungerechten Gesetzen unterworfen ist, lebt in der Sklaverei (Guarini 1818, S. 27). In diesem Punkt wird Hobbes sich von Guarini entfernen, da für den englischen Denker die

22 Insofern gilt für Hobbes auch, dass der Souverän keinen Vertrag mit den Untertanen schließt.

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Gesetze es sind, die allererst die Gerechtigkeit definieren, so dass also der Ausdruck „ungerechte Gesetze“ eine con-tradictio in adiecto ist. Der von Guarini herbeigesehnte Fürst hat allerdings mehr mit einem göttlichen als mit einem rein menschlichen Wesen gemein. Der Krankheitszustand einer Republik kann nämlich nur durch einen „nobilissimo Principato“ überwunden werden (Guarini 1818, S. 130), an dessen Spitze ein weiser, gerechter und mächtiger Fürst ist, der über allen Gruppen und Parteien steht, und dem nur daran gelegen ist, dass diese Gruppen und Parteien im Frieden zusammenleben und sich gegenseitig respektieren, wobei jedem Menschen das zukommt, was er verdient. Die Geschichte zeigt, so Guarini, dass kranke Republiken sich dieses Mittels bedient haben, um wieder gesund zu werden (Guarini 1818, S. 130). Dadurch haben sie ausgedrückt, dass für sie die republikanische Staatsform kein Endzweck bzw. nichts an sich Gutes war, sondern dass sie die Staatsform höchstens als ein Mittel zur Erreichung eines Zwecks betrachteten. Für die betroffenen Menschen zählte einzig und allein das Wohlergehen der politischen Gemeinschaft und die politische Freiheit – im Sinne Guarinis –, und falls diese Ziele nicht mehr im Rahmen einer republikanischen Staatsform erreicht werden konnten, dann musste eben diese Staatsform geopfert werden. Guarinis Fürst wird allerdings die Urwurzel der sozialen Konflikte, nämlich die ökonomischen Ungleichheiten, bestehen lassen, da diese nicht aus der Welt geschaffen werden können. Es wird immer Reiche und Arme geben, und der Fürst kann nur dafür sorgen, dass die Arroganz der Reichen nicht die Wut der Armen, und dass der Neid der Armen keine brutalen Panikreaktionen bei den Reichen hervorrufen (Guarini 1818, S. 122).23 Dies kann er u.a. dadurch erreichen, dass er die öffentlichen Ämter und die mit ihnen einhergehende Ehre so verteilt, dass jeder diese Ämter gemäß seinen Fähigkeiten bekleiden kann. Auf diese Weise wird keine soziale Gruppe a priori – im Gegensatz zu dem, was oft in Republiken passiert – von den öffentlichen Ämtern ausgeschlossen werden. Die öffentlichen Ämter stehen all jenen offen, die sie kompetent und ehrenvoll ausüben können, und dem Fürsten obliegt es, sie mit adäquaten Amtsinhabern zu besetzen. In Guarinis Augen stellen Gesetze, die den legitimen Reichtum begrenzen oder den geschaffenen Reichtum ständig umverteilen, eine Gefahr für das Gemeinwesen dar. Ein Gemeinwesen kann nur dann prosperieren und kann sich nur dann adäquat verteidigen, wenn es über Reichtum verfügen kann. Wenn den Einzelnen verboten wird, sich über ein bestimmtes Maß hinaus zu bereichern, dann wird damit gleich23 Dieser Konflikt zwischen nobiltà und popolo spielt eine zentrale Rolle in einigen Werken Machiavellis, so etwa in den Istorie fiorentine. Gleich zu Beginn dieses Buches tadelt Machiavelli die Historiker, die die sozialen Konflikte unerwähnt lassen, denn, so Machiavellis Begründung seines Tadels, „wenn irgendeine Lektion den Bürgern, die eine Republik leiten, nützlich ist, dann jene, die ihnen die Ursachen des Hasses und der Parteiungen der Gemeinwesen zeigt, damit sie aus den Gefahren, denen andere unterworfen waren, weise und geeint werden können“ (Machiavelli 1992, S. 632).

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zeitig der kollektive Reichtum begrenzt, also der Reichtum, auf den das Gemeinwesen zurückgreifen kann, wenn es nötig ist. Und wenn der Reichtum stets umverteilt wird, dann wird niemand mehr arbeiten und Reichtum produzieren, da jeder weiß, dass er sowieso, ob er arbeitet oder nicht, einen Teil des existierenden Reichtums bekommen wird. Und dies würde dann ebenfalls eine drastische Senkung des kollektiven Reichtums mit sich bringen (Guarini 1818, S. 124). Wenn der Staat sich also nicht selbst schwächen will, muss er die ökonomischen Ungleichheiten bestehen lassen. Gleichzeitig muss er aber dafür sorgen, dass diese ökonomischen Ungleichheiten nicht zu gefährlichen Konflikten zwischen den Armen und den Reichen führen. Dies ist nur möglich, wenn an der Spitze des Staates eine Person steht, die „ein Anhänger weder dieser noch jener ist, der einen äußerst erhabenen und menschlichen Charakter hat, der dafür sorgt, dass die Adligen geehrt werden und dass gleichzeitig die Plebejer respektiert werden, der jenen die Ehren gibt und diesen jene Ämter, die ihren Fähigkeiten entsprechen und angemessen sind“ (Guarini 1818, S. 127). In Guarinis Idealstaat soll also jeder gemäß seinen Fähigkeiten an der Förderung des Gemeinwohls beteiligt sein. Und diese Beteiligung ist nicht nur, wie wir sogleich sehen werden, der Gegenstand eines Rechts, sondern auch einer Pflicht.

3. Vita contemplativa und vita activa Die Frage der politischen Partizipation stellt sich meistens als Frage nach dem Recht auf Partizipation, und die Theoretiker des politischen Republikanismus sehen es als einen wesentlichen Vorteil der Republiken an, dass diese, im Gegensatz zu den absolutistischen Staaten, die Partizipation aller Bürger zulassen, so dass die Bürgerschaft über sich selbst bestimmt und keinem fremden Willen unterworfen ist. Wie wir aber schon im vorigen Teil gesehen haben, sieht Guarini diesen republikanischen Diskurs als eine Verfälschung der wirklichen Verhältnisse an, denn für ihn sind die einzelnen Bürger in einer Republik letzten Endes nicht freier als die Untertanen eines absoluten Fürsten. Alle sind auf gleiche Weise dem Gesetz unterworfen, und allein diese Unterwerfung unter das Gesetz kann als politische Freiheit angesehen werden. Aber während in einer Republik das Gesetz keine oder kaum Wirksamkeit hat, so dass auch die politische Freiheit sich nicht verwirklichen kann, gibt der absolute Fürst dem Gesetz Wirksamkeit und damit auch der politischen Freiheit. Wie auch schon angedeutet, sieht Guarini in der politischen Freiheit bzw. in der Ausübung der politischen Freiheit keinen Selbstzweck. Als Freiheit im allgemeinen oder formalen Sinn, besteht die politische Freiheit in der Möglichkeit zu entscheiden, ob man dem Allgemeinwohl dienen, oder ob man ihm gegenüber indifferent bleiben oder ob man ihm sogar schaden wird. Jeder Mensch hat die Möglichkeit,

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einen dieser drei Wege zu begehen, und kein Gesetz kann ihm diese Möglichkeit wegnehmen. Nun steht aber für Guarini fest, dass der Zweck der Freiheit sich nicht darin erschöpfen kann, willkürlich zwischen diesen drei Optionen zu wählen, so dass die freie Entscheidung für das Allgemeinwohl an und für sich denselben Wert hätte wie die freie Entscheidung gegen das Allgemeinwohl. Man muss hier zwischen der faktischen und der axiologischen Dimension unterscheiden: der Mensch steht de facto vor drei Möglichkeiten, aber diese drei Möglichkeiten sind nicht gleich wertvoll. Aber wenn sie nicht gleich wertvoll sind, dann wird man nicht von vornherein eine Maßnahme verurteilen können, die die Verwirklichung einer dieser Möglichkeiten erschwert bzw. die Verwirklichung einer anderen Möglichkeit erleichtert. Der Wert der Freiheit liegt nicht in ihrer bloßen Ausübung, sondern in ihrer richtigen Ausübung, und diese richtige Ausübung – die die wahre Freiheit konstituiert – setzt voraus, dass der Ausübende sich nach dem Allgemeinwohl richtet und dieses zu fördern versucht: „[D]ie politische Freiheit ist keines jener Güter, die man als Selbstzweck begehrt, und die nicht über sich selbst einen anderen, edleren oder beglückenderen Gegenstand hätten“ (Original: „la politica libertà non è un di que’ beni che sono per se stessi disiderabili e che non hanno sopra di loro alcun altro, nè più nobile nè più giovevole oggetto“, Guarini 1818, S. 129). Der Endzweck des politischen Handelns besteht somit nicht in der reinen Ausübung der politischen Freiheit im formalen Sinn, sondern dieses Handeln ist nur dann wertvoll und schützenswert, wenn es einen höheren Zweck verfolgt. Ein politisches Gemeinwesen verwirklicht nicht schon dann die wahre politische Freiheit, wenn es die politische Partizipation eines Jeden erlaubt. Gerade hierin liegt für Guarini der grundsätzliche Fehler der republikanischen Denker: sie verabsolutieren den formalen Begriff der Freiheit und denken die politische Freiheit unabhängig von jedem substantiellen Inhalt. Für sie geht es nur darum, dass jeder öffentliche Ämter bekleiden darf. Und vor allem, und hier stoßen wir auf das schon vorhin erwähnte ad hominem Argument: man verlangt nach einer republikanischen Staatsform, um selbst an die Hebel der Macht gelangen zu können und um somit seine eigenen Interessen oder die Interessen seiner Familie oder seiner Gruppe oder Klasse durchsetzen zu können. Wer aber nach der politischen Freiheit strebt, bloß um seine Privatinteressen durchzusetzen, verrät eigentlich die politische Freiheit und strebt nur nach seiner eigenen Willkürherrschaft. Er will sich der öffentlichen Ämter bemächtigen, nicht um diese Ämter im Hinblick auf einen ihnen innewohnenden Zweck auszuüben, sondern um deren Ausübung in den Dienst seiner Privatinteressen zu stellen. Für Guarini ist die wahre politische Freiheit nichts anderes als die Möglichkeit, im Dienste des Allgemeinwohls zu arbeiten, genauso wie die wahre moralische Freiheit nichts anderes ist als die Möglichkeit, im Dienste seiner eigenen irdischen Glückseligkeit zu arbeiten. Wenn man es demnach jemandem schwerer macht, dem Gemeinwesen zu

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schaden, nimmt man ihm nicht seine wahre politische Freiheit weg, sondern man begrenzt lediglich seine Willkür. Und wenn man jemanden von den öffentlichen Ämtern ausschließt, weil man weiß, dass er diese Ämter nur missbrauchen wird, um seine persönlichen Interessen auf Kosten des Allgemeinwohls zu fördern, dann begrenzt man auch wieder nur seine Willkür, nicht aber seine wahre politische Freiheit. Diese wahre politische Freiheit ist die Freiheit, dem Allgemeinwohl zu dienen. Nun taucht aber ein Problem auf, und zwar das Problem, ob der Staat jemanden dazu zwingen kann, sein kontemplatives Leben und die mit diesem einhergehende Glückseligkeit aufzugeben, um ein öffentliches Amt zu bekleiden (Guarini 1818, S. 20). Der Missbrauch der politischen Freiheit könnte nämlich nicht nur darin bestehen, dass man ein öffentliches Amt bekleidet und es dann bloß zur Verfolgung seiner Privatinteressen benutzt, sondern auch darin, dass man, obwohl man zur Ausübung eines öffentlichen Amtes befähigt ist, dieses Amt nicht bekleiden will, um einem kontemplativen Leben zu frönen. Eine Handlungsunterlassung kann sich u.U. genauso schädlich für das Gemeinwesen erweisen wie eine Handlung bzw. die Nichtausübung einer Fähigkeit kann genauso schädliche Folgen haben wie die „Ausübung“ einer Fähigkeit, die man zu besitzen glaubt, aber in Wirklichkeit nicht besitzt. Wenn derjenige zu verurteilen ist, der dem Gemeinwesen mit seiner Inkompetenz schadet, dann ist auch derjenige zu verurteilen, der dem Gemeinwesen nicht durch seine Kompetenz beisteht.24 Das Problem ist nicht neu, sondern man findet es schon in Platons Politeia. Nachdem Sokrates ihm das Leben der Philosophen und das Ideal des Philosophenkönigs vorgestellt hat, stellt Glaukon die Frage, ob denn die Philosophen bereit sein werden, die mit der Kontemplation der Idee des Guten einhergehende Glückseligkeit aufzugeben, um sich mit den Alltagsgeschäften der Menschenwelt abzugeben. Im Höhlengleichnis musste der Gefangene nicht nur gezwungen werden, sich dem Licht des Feuers in der Höhle zuzuwenden und dann aus der Höhle zu gehen und das Sonnenlicht zu sehen, sondern er musste auch wieder mit Zwang in die Höhle zurückgeführt werden. Wer einmal auf der Insel der Glückseligen war, wird sie nicht so leicht wieder verlassen wollen. Wenn der Aufenthalt auf dieser Insel bzw. im Reich der Ideen ihn für die politischen Geschäfte unfähig machen würde, bestünde kein Problem. Ein Problem entsteht vielmehr dadurch bzw. stellt sich erst mit äußerster Akutheit dadurch, dass die Kontemplation der Idee des Guten den Gefangenen dazu befähigt, die Rolle des Philosophenkönigs zu übernehmen. Die Kontemplation der Idee des Guten ist in dieser Hinsicht so etwas wie ein vergiftetes Geschenk: sobald man es genossen hat, muss man es wieder aufgeben, und zwar weil man es genossen hat. Die Kontemplation 24 So meint etwa d’Alembert: „Wenn also ein Fürst die nötigen Talente hat, um zu regieren, ist es ein Verbrechen, ihnen jeden Nutzen zu nehmen, indem er freiwillig abtritt“ (d’Alembert 1805, S. 39).

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der Idee des Guten befähigt einen zur Übernahme der Regierung, aber sie hält einen auch gleichzeitig davon ab, da sie mit einer unvergleichlichen Glückseligkeit verbunden ist. In Platons Dialog greift Sokrates auf den Pflichtbegriff zurück, um die Rückkehr des Philosophen in die Alltagswelt zu rechtfertigen. Zum kontemplierenden Philosophen konnte das Individuum nur werden, weil die politische Gemeinschaft ihm den Rahmen dazu bereitstellte.25 Der Philosoph hat somit seine Glückseligkeit nicht sich selbst zu verdanken, sondern der politischen Gemeinschaft. Insofern ist das Individuum der politischen Gemeinschaft gegenüber in der Schuld, und diese Schuld kann es nur dadurch abtragen, dass es sich während einer bestimmten Zeit der vita activa hingibt, und, statt die Idee des Guten zu kontemplieren, die vergänglichen menschlichen Angelegenheiten so ordnet, dass sie, soweit dies möglich ist, der Idee der ewigen Gerechtigkeit entsprechen. Da die politische Gemeinschaft dem Individuum geholfen hat, seine Glückseligkeit zu erlangen, muss das Individuum der politischen Gemeinschaft helfen, ihr Glück bzw. ihr Wohlergehen zu erlangen. Bei Platon hat der Philosoph also dem Gemeinwesen gegenüber eine Pflicht, öffentliche Ämter auszuüben, allen voran das Amt des Königs. Insofern allerdings ein wohlgeordnetes Gemeinwesen viele Philosophen hervorbringen kann, lässt sich die Zeit, die jeder einzelne von ihnen dem Gemeinwesen widmen muss, verkürzen. Platon braucht also nicht von den Philosophen zu verlangen, dass sie für den Rest ihres Lebens auf die Glückseligkeit der Kontemplation verzichten, sondern jeder von ihnen muss nur während eines bestimmten Teils seines Lebens darauf verzichten. Und je wohlgeordneter die Gemeinschaft ist, so könnte man hinzufügen, umso weniger wird der Philosoph sich um sie kümmern müssen.26 Wie Hans Baron in seiner epochemachenden Studie über den Bürgerhumanismus der italienischen Renaissance darlegt, setzt sich ab dem Beginn des Quattrocento in Italien der Gedanke durch, dass „the perfect life is not that of the ‚sage‘ but that of the citizen“ (Baron 1966, S. 7). Vor dieser Zeit diagnostiziert er „a disinclination on the part of the humanistic and semi-humanistic literati to accept the burdens and responsibilities of the citizen“ (ebenda, S. 330). Während also bis etwa 1400 die vita contemplativa als höchstes Ideal angesehen wurde, dem alle anderen Lebensformen geopfert werden durften, rückt ab ungefähr 1400 die vita activa in den Vorder-

25 Er erwähnt allerdings auch Menschen, die von Natur aus Philosophen sind und die demnach das Leben in einer politischen Gemeinschaft nicht benötigen, um kontemplieren zu können. Diese Menschen unterliegen nicht der Pflicht, die Kontemplation zugunsten des Regierens aufzugeben. 26 Es ist bekannt, dass Platon in seinem Spätwerk Die Gesetze das Ideal des Philosophenkönigs durch das Ideal der Herrschaft der Gesetze ersetzt. Der Hauptgrund hierfür ist, dass sich selten Menschen finden lassen, die dem Ideal des Philosophenkönigs entsprechen. Man könnte allerdings auch argumentieren, dass, wenn die Gesetze herrschen, die Philosophen sich der Kontemplation widmen können.

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grund27, und damit das politische Engagement im Dienste seiner Heimat. Während die Humanisten vor 1400 die Lasten und Opfer der Politik nicht auf sich nehmen wollten und lieber der sich aus der Kontemplation ergebenden Glückseligkeit frönten, waren die meisten Humanisten nach 1400 bereit, die kontemplative Glückseligkeit aufzugeben und sich ganz in den Dienst ihrer Heimat zu stellen. Wir hätten somit zwei sich widersprechende Positionen: ein extremer politischer Quietismus auf der einen Seite, und ein extremes politisches Engagement auf der anderen. Wie wir im Folgenden sehen werden, wird Guarini, nachdem er schon zuvor versucht hat, den Anhängern der politischen Freiheit und den Anhängern der signoria gerecht zu werden, auch hier wieder versuchen, beiden Seiten gerecht zu werden, und sowohl die Pflicht zur vita activa als auch das Recht auf die vita contemplativa zu begründen. Guarini beginnt mit der Bemerkung, dass kein Gemeinwesen auf Dauer bestehen kann, in dem jeder nur kontempliert und somit niemand sich um die öffentlichen Angelegenheiten kümmert (Guarini 1818, S. 22). Das öffentliche Leben einer politischen Gemeinschaft muss organisiert werden, und es kann nur organisiert werden, wenn Menschen sich um diese Organisation kümmern. Kümmert sich niemand darum, dann bricht die öffentliche Ordnung zusammen, und mit ihr das politische Gemeinwesen. Wenn aber das Gemeinwesen zusammenbricht, fällt auch der Rahmen weg, innerhalb dessen Kontemplation überhaupt erst möglich ist. Die Kontemplation setzt nämlich ein gut funktionierendes und stabiles Gemeinwesen voraus. Somit steht fest, dass nicht alle sich permanent der Kontemplation hingeben können. Es muss zumindest einige Menschen geben, die sich der öffentlichen Angelegenheiten annehmen und dafür sorgen, dass die auf das Allgemeinwohl zielenden Gesetze eingehalten werden. Das eine Extrem, also das einer politischen Gemeinschaft, in welcher jeder kontempliert, fällt somit weg, da es sowohl die politische Gemeinschaft als auch die Kontemplation als solche unmöglich macht. Das andere Extrem wäre ein Gemeinwesen, in dem niemand die Möglichkeit hat, zu kontemplieren, in welcher also alle Individuen sich ständig um die Angelegenheiten des Gemeinwesens kümmern müssen. Ein solches Gemeinwesen könnte zwar durchaus bestehen, aber es würde seine Mitglieder einer höchst wertvollen Glückseligkeitsmöglichkeit berauben. Es kann aber nicht das Ziel des Staates sein, die Menschen unglücklich zu machen bzw. ihnen die Möglichkeit zu nehmen oder nicht bereitzustellen, glücklich zu werden. Guarini verlangt also keineswegs, dass das Individuum sich komplett dem Gemeinwesen unterordnet und aufhört, an sich selbst und an seine eigene Glückseligkeit zu denken. Die Verfolgung der eigenen Glückseligkeit, insofern sie dem politischen Gemeinwesen nicht schadet, ist durchaus legitim.

27 Die Spannung zwischen diesen beiden Lebensformen findet man auch bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik wieder.

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Guarini verwirft somit sowohl einen Zustand, in dem alle kontemplieren, als auch einen Zustand, in dem niemand kontempliert. Aber er verwirft ebenso einen Zustand, in dem man zwei klar voneinander getrennte Gruppen hat, deren eine die göttlichen Dinge kontemplieren darf, während die andere stets arbeiten muss, um somit die Bedingungen herzustellen, unter denen die erste überhaupt kontemplieren kann (Guarini 1818, S. 22). Eine solche Aufteilung ist ungerecht, weil sie die Mehrzahl einer Glückseligkeit beraubt, „die jedem Menschen eigen ist“ (ebenda). Guarini schränkt also die Möglichkeit, überhaupt kontemplieren zu können, nicht auf eine bestimmte Gruppe von Menschen ein, sondern er sieht in jedem Menschen ein mögliches Subjekt der Kontemplation. Die Möglichkeit zu kontemplieren ist eine Wesenseigenschaft des Menschen, und niemandem sollte sie durch eine bestimmte Organisation des politischen Gemeinwesens genommen werden.28 Aber nicht nur den Arbeitenden bzw. den Nicht-Kontemplierenden geschieht Unrecht durch eine derart rigide Aufteilung der Gemeinschaft, sondern auch den Kontemplierenden selbst. Indem ihnen nämlich dadurch verwehrt wird, im Dienste des Gemeinwesens zu arbeiten, wird ihnen gleichzeitig die Möglichkeit genommen, jene Verdienste zu erwerben, die mit dieser Arbeit verbunden sind. Man könnte auch sagen, dass man, wenn man eine bestimmte Gruppe zur Kontemplation zwingt bzw. ihr nicht erlaubt, öffentliche Ämter zu übernehmen, dieser Gruppe die wahre politische Freiheit wegnimmt. Nicht alle können kontemplieren, aber niemand kann a priori von der Kontemplation ausgeschlossen werden. Es stellt sich somit die Frage, wer wann kontemplieren kann und wer sich wann um politische Angelegenheiten kümmern soll. Um das sich hier stellende Problem zu lösen, greift Guarini auf ein Kompetenzkriterium zurück. Wer die Kompetenz besitzt, für das Allgemeinwohl zu arbeiten, soll dies tun können und er muss auch gegebenenfalls dazu gezwungen werden. Die Partizipation, hier verstanden als Partizipation an der Förderung des Gemeinwohls und nicht einfach als Mitmachen um des Mitmachens willen oder bloß um seine eigenen privaten Interessen durchzusetzen, wenn nötig auf Kosten des allgemeinen Interesses, ist somit zugleich ein Recht und eine Pflicht. Wer das Allgemeinwohl fördern will, soll das Recht haben, es zu tun, denn dieses Recht ist nichts anderes als das Recht, seine wahre politische Freiheit auszuüben. Und der Zweck des Staates besteht in der Förderung der wahren politischen Freiheit. Diese Förderung geschieht u.a. dadurch, dass ein „weiser Gesetzgeber“ dafür sorgt, dass die Menschen lernen, mit öffentlichen Angelegenheiten umzugehen, dass sie also den wahren Gebrauch der politischen Freiheit erlernen (Guarini 1818, S. 23). Wenn sie diesen erlernt haben und 28 Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass bestimmte Menschen de facto nicht fähig sind, ein kontemplatives Leben zu führen. Betont wird nur die Notwendigkeit, jedem Menschen die Möglichkeit offen zu lassen. Der Staat muss so organisiert sein, dass nicht immer dieselben sich der politischen und administrativen Angelegenheiten annehmen müssen.

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wenn er ihnen gewissermaßen zur Gewohnheit, zum Habitus, geworden ist, dann kann man ihnen die öffentlichen Ämter überlassen, denn dann werden sie diese Ämter gemäß ihrer eigentlichen Bestimmung, also im Sinne des Allgemeinwohls, ausüben. Gleichzeitig wird man diese Menschen dann auch dazu verpflichten können, ihren jeweiligen Kompetenzen entsprechend, öffentliche Ämter auszuüben. Aber widerspricht eine solche Verpflichtung nicht der Freiheit der Individuen? Liegt hier nicht eine Form der Knechtschaft vor? In seinem Vergleich zwischen Republiken und Fürstentümern lässt Brandolini einen der Gesprächspartner sagen, in Republiken herrsche Knechtschaft, da alle sich stets um das Allgemeinwohl kümmern müssen und niemand somit je zur Ruhe kommen kann, wenn er ein guter Bürger sein will (Brandolini 2009, S. 88).29 In einer Republik muss man also stets im Dienste des Gemeinwohls handeln und man hat keine Zeit, sich um seine eigenen Belange zu kümmern. Die individuelle Glückseligkeit muss dem Allgemeinwohl geopfert werden und das Individuum wird so zum Knecht des Gemeinwesens. Im Gegensatz zu Guarini, plädiert Brandolini in seiner Verteidigung der signoria allerdings nicht für eine Verpflichtung zur Übernahme öffentlicher Ämter, so dass sich für ihn das Problem nicht stellt, vor das sich Guarini gestellt sieht. Guarini muss zeigen, dass sein Modell den Individuen keine unerträgliche Knechtschaft auferlegt. Hat er zunächst gezeigt, dass die Unterwerfung unter eine signoria keine notwendige Verletzung der politischen Freiheit bedeutet, so muss er jetzt zeigen, dass die Pflicht zur Übernahme öffentlicher Ämter auch keine notwendige Verletzung der politischen Freiheit bedeutet, aber auch keine Verletzung des legitimen Strebens nach privater Glückseligkeit. Guarini betont ausdrücklich, dass eine Verpflichtung zur Übernahme öffentlicher Ämter keineswegs eine Einschränkung oder Verletzung der politischen Freiheit bedeutet (Guarini 1818, S. 24). Denn, um es noch einmal zu wiederholen, die wahre politische Freiheit besteht darin, für das Allgemeinwohl zu arbeiten, so dass eine Verpflichtung zu einer solchen Arbeit durchaus mit der politischen Freiheit kompatibel ist. Es ist, könnte man sagen, eine Verpflichtung, die wahre politische Freiheit wahrzunehmen. Oder noch anders formuliert: die Menschen werden dazu verpflichtet, im wahren Sinn des Wortes politisch frei zu sein. Das erinnert ganz stark an Rousseaus ebenso berühmte wie auf den ersten Blick paradoxe Formulierung: „[O]n le forcera d’être libre“ (Rousseau 1964, S. 186).30 Genauso wie bei Rousseau die po29 Der Gesprächspartner ist Janos, der Sohn des ungarischen Königs Mattias (Corvinus). Letzterer ist der zentrale Charakter des Gesprächs, und verteidigt die Monarchie gegen Domenico. Hier der genaue Wortlaut von Janos’ Aussage: „Omnes enim communi bono invigilare necesse est, quo fit nulli unquam, si modo bonus civis velit esse, solida quies aut tranquillitas esse possit“. 30 Wer in Rousseaus Staat dem eigenen Willen folgt, ist nicht frei. Genauso ist derjenige nicht frei, der einem anderen individuellen Willen folgt. Frei ist nur, wer dem allgemeinen Willen folgt. Dieser allgemeine Wille drückt sich in den Gesetzen aus. Diese bilden den letzten Maßstab für das individuelle Handeln.

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litische Freiheit bzw. die Freiheit des Mitglieds einer politischen Gemeinschaft darin besteht, sich der „volonté générale“ zu unterwerfen, besteht bei Guarini die politische Freiheit darin, im Dienste des Allgemeinwohls zu arbeiten. Für Rousseau ist derjenige, der die von allen akzeptierten Gesetze verletzt, nicht frei, und der individuelle Wille, der ihn zur Gesetzesverletzung trieb, steht im Widerspruch zu seinem wahren Willen, der sich im allgemeinen Willen ausdrückt. Insofern nur letzterer Wille der freie Wille ist, kann der individuelle Wille dazu gezwungen werden, sich dem allgemeinen Willen anzupassen und somit zu einem freien Willen zu werden. Oder anders ausgedrückt: der individuelle Wille ist nur dann frei, wenn er nicht im Widerspruch zum allgemeinen Willen steht. Letzterer bildet den Maßstab der Freiheit des individuellen Willens. In Guarinis Staat werden die Menschen vom Gesetz dazu verpflichtet, öffentliche Ämter zu bekleiden, und somit ihrer Heimat zu dienen, wobei die Kompetenzen des Einzelnen darüber bestimmen, welches Amt oder welche Art von Ämtern er ausüben wird.31 Die Menschen müssen zu jedem Augenblick bereit sein, der Heimat zu dienen, wenn diese sie braucht, und sie müssen dabei auch bereit sein, alle privaten oder individuellen Freuden aufzugeben. Wie groß auch immer die Glückseligkeit sein mag, die man durch die Kontemplation erreichen kann, sie muss letzten Endes vor der vita activa zurücktreten, wenn dies absolut notwendig ist. Allerdings sieht Guarini in diesem Zusammenhang eine Altersgrenze vor. Wer diese Grenze erreicht hat und wer lange Jahre im Dienste des Vaterlandes tätig war, kann sich in die vita contemplativa zurückziehen und braucht keine öffentlichen Ämter mehr auszuüben. Auf diese Weise hat jeder die Möglichkeit, sowohl eine vita activa als auch eine vita contemplativa zu führen, und zwar jede Art von Leben zu einem anderen Zeitpunkt seines Lebens (Guarini 1818, S. 25). Damit ist eine Kompromisslösung gefunden, die derjenigen Platons ziemlich ähnlich sieht und die man übrigens auch bei Thomas Jefferson wiederfinden wird.32

Schlussfolgerung In diesem Beitrag habe ich Guarinis auf den ersten Blick paradoxe Verteidigung der signoria im Namen der politischen Freiheit darzustellen versucht. Diese Verteidi31 Darin unterscheidet sich Guarinis Staat von der athenischen Republik, in welcher die Ausübung der meisten öffentlichen Ämter über den Weg der Auslosung bestimmt wurde. Ausgenommen waren öffentliche Ämter, von deren korrekten Ausübung das Überleben der polis abhing, wie etwa die wichtigsten militärischen Ämter. 32 In einem Brief an James Monroe aus dem Jahr 1782 schreibt Jefferson, dass die Vernunft jedes Individuum dazu verpflichtet „if called on to an equal tour of political duty“, fügt aber gleich hinzu, „it can never go so far as to submit to it his whole existence“. Und weiter: „Nothing could so completely divest us of that liberty as the establishment of the opinion that the state has a perpetual right to the services of all its members“ (Jefferson 1999, S. 6-7).

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gung sollte als direkte Antwort auf den Republikanismus gelesen werden. Anstatt die politische Freiheit zu verwerfen und an ihre Stelle die öffentliche Ordnung zu setzen, geht Guarini von der republikanischen Prämisse aus, dass die politische Freiheit etwas Wertvolles ist. Er tritt somit den republikanischen Denkern auf deren ureigenem Kampfplatz entgegen, und will sie, so könnte man sagen, mit ihren eigenen Waffen schlagen. Guarini zufolge muss der Staat die politische Freiheit seiner Bürger garantieren, und diese Garantie findet man nur in einer signoria. Das Paradoxe an Guarinis Verteidigung der signoria unter Rückgriff auf die politische Freiheit verschwindet erst dann, wenn man mit Guarini das Wesen der wahren politischen Freiheit im Dienste am Gemeinwohl sieht. Frei ist nur, wer dem Gemeinwohl dient. Und dieser Dienst am Gemeinwohl wird durch die Gesetze definiert. Da Gesetze nicht von selbst entstehen und da sie auch ihre eigene Wirksamkeit nicht selbst garantieren können und da ferner, zumindest Guarini zufolge, Gleiche sich nicht den Befehlen von Gleichen unterwerfen werden, muss ein Ungleicher – in dem Sinne, dass er nicht den Gesetzen unterworfen ist – für die Wirksamkeit der Gesetze sorgen. Somit kann allein eine signoria die politische Freiheit garantieren. Guarinis These setzt allerdings voraus, dass sich ein idealer Fürst finden lässt. Brandolini legt dem König Mattias folgende Worte in den Mund: „[D]iese Regierungsform [scil. die Monarchie – N.C.] hat den Vorzug vor allen anderen, solange wie der König, der Fürst oder der Kaiser ein hervorragender und höchst integrer Mensch ist, der gerecht und maßvoll regiert und ebenso alle seine Untertanen schützt, wie es ihrem, und nicht seinem Interesse entspricht“ (Brandolini 2009, S. 250). Für Brandolini steht also ganz klar fest, dass der Vorzug der Monarchie mit dem Charakter des Monarchen zusammenhängt, und dass dieser Vorzug nur solange existiert, wie der Monarch im Interesse seiner Untertanen regiert und nicht in seinem eigenen. Um plausibel zu sein, setzt Guarinis Argumentation zweierlei voraus. Erstens setzt sie voraus, dass es in Republiken nie möglich sein wird, die politische Freiheit zu garantieren, zumindest nicht langfristig, dass dies aber manchmal in einer signoria der Fall sein kann. Diese erste Voraussetzung beruht dann auf einer zweiten, nämlich dass es manchmal möglich ist, einen Menschen zu finden, der sein eigenes Interesse ganz zurückstellt und nur das Allgemeinwohl im Auge hat. Nur wenn man nämlich davon ausgeht, dass es tugendhafte Menschen gibt, kann man behaupten, dass es auch einen „buon Principe“ geben kann. Auch wenn man Guarini darin zustimmt, dass ein solcher „buon Principe“ die beste Garantie für die wahre politische Freiheit ist, so wird man sich doch fragen müssen, wie sichergestellt werden kann, dass ein Gemeinwesen einen solchen Fürsten hervorbringt und wie darüberhinaus garantiert werden kann, dass dieser Fürst auch dann noch tugendhaft bleibt, wenn er die Macht tatsächlich ausübt. Guarini

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mag wohl gezeigt haben, dass es im Bereich der reinen Theorie möglich ist, signoria und politische Freiheit miteinander in Einklang zu bringen, aber sein Beweis gilt noch nicht unbedingt für die realen Bedingungen. In seinen Ausführungen weist Guarini zwar darauf hin, dass Florenz erst unter den Medici zu einer freien und sicheren Stadt geworden ist, und er stellt dabei die Tugend Lorenzos (des Prächtigen) der Boshaftigkeit der Florentiner gegenüber (Guarini 1818, S. 116). Während es zur Zeit der Republik nur den Schein der Freiheit in Florenz gegeben hat (ebenda, S. 97), haben die Medici der Stadt die wahre politische Freiheit geschenkt, d.h. sie haben Florenz zu einer Stadt gemacht, in welcher das Handeln eines jeden Bürgers nur noch auf das Allgemeinwohl zielte. Auch Brandolini findet lobende Worte für Lorenzo. Ohne dessen Tugend und Autorität, so Mattias, litte Florenz an den schlimmsten politischen Übeln (Brandolini 2009, S. 194). Nur ein mächtiger, weiser und gerechter Herrscher kann ein Gemeinwesen vor der Selbstzerstörung bewahren. Wenn wir von Guarinis zum Teil stark utopisch geprägtem Projekt absehen, bleibt sein Versuch einer Rekonzeptualisierung oder Substanzialisierung des Begriffs der politischen Freiheit diskussionswert. Für Guarini ist die politische Freiheit keine bloß formale Freiheit, d.h. sie lässt sich nicht bloß als die Freiheit verstehen, auf das Allgemeinwohl einzuwirken bzw. an der Gestaltung des Gemeinwesens mitzuarbeiten. In seinen Augen kann es wahre politische Freiheit immer nur im Rahmen eines ihr vor- und übergeordneten Gesetzes geben, und sie existiert nur solange als wahre politische Freiheit, wie sie mit dem Gesetz im Einklang steht, und d.h. mit der Bewahrung und Förderung des Allgemeinwohls. Die Gewährung der politischen Freiheit ist also nicht mit einem Blankoscheck zu vergleichen, sondern sie ist an Bedingungen geknüpft, aber an Bedingungen, die im Prinzip von jedem erfüllt werden können. Diese politische Freiheit ist allerdings nicht mit politischer Souveränität zu vergleichen. In Guarinis Staat ist der Fürst allein Souverän, d.h. er allein macht die Gesetze und legt in letzter Instanz ihren Sinn fest. Dabei muss er aber stets das Allgemeinwohl im Auge haben, ansonsten wird auch er die wahre politische Freiheit in reine Willkür verwandeln. Bei Guarini sind somit alle Mitglieder des politischen Gemeinwesens dem Allgemeinwohl verpflichtet. Allerdings vermisst man bei Guarini Aussagen darüber, wie man sich gegenüber einem Fürsten verhalten soll, der nicht im Sinne des Allgemeinwohls handelt und zum Tyrannen wird. Wie soll man Guarini verstehen? Sollte man sich an den strikten Wortlaut halten und aus der Tatsache, dass nirgends von einem Recht auf Widerstand die Rede ist, die Schlussfolgerung ziehen, dass die Untertanen jeden Herrscher erdulden müssen? Oder sollte man zwischen den Zeilen lesen, und aus der Tatsache, dass Guarini die wahre politische Freiheit als ein Handeln im Interesse des Gemeinwesens definiert, die Schlussfolgerung ziehen, dass die Ausübung der wahren politischen Freiheit

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manchmal darin bestehen kann, einen Tyrannen aus dem Gemeinwesen zu entfernen? Als Gesetz würde dann hier folgendes fungieren können: Salus populi suprema lex esto.

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Norbert Campagna Tommaso Campanellas Projekt einer katholischen Weltrepublik

Einleitung1 Tommaso Campanella (1568-1639)2 ist heute allgemein bekannt durch seine im Jahr 1602 in der Gefangenschaft3 entstandene Città del Sole4, die mit Mores Utopia und Bacons New Atlantis zu den drei großen Utopien der Frühen Neuzeit gehört. In diesem Dialog – „dialogo poetico“, wie Campanella sein Werk selbst benannt hat – zeichnet der aus Kalabrien stammende Dominikanermönch das Bild einer idealen5 Gemeinschaft, an deren Spitze ein Sol – oder auch noch Metafisico – genannter Herrscher steht, der sowohl die weltliche als auch die geistliche Macht besitzt – er ist ein „Principe Sacerdote“, ein Priesterfürst –, und dem die drei Fürsten Potestà, Sapienza und Amore zur Seite stehen.6 Auch wenn man die Città del Sole zum literarischen Genre der Utopie zählen muss, so lässt sich doch nicht bestreiten, dass Campanella das in seinem Dialog vorgestellte Modell der politischen Gemeinschaft und der politischen Herrschaft als ein – sieht man von einigen „Schönheitsflecken“ ab – zu verwirklichendes Ideal konzipierte. Anstatt sich bei einigen skandalträchtigen Details – so die von Platon übernommene Frauengemeinschaft7 – aufzuhalten, sollte man vor allem die Schlussseiten des Werkes genauer lesen, denn dort bringt Campa1 Alle Übersetzungen stammen von mir. 2 Für eine knappe Übersicht über Leben und Werk Campanellas siehe Campagna 2016. 3 1598 war Campanella in einem Projekt involviert, das zur Errichtung einer Republik in Kalabrien führen sollte. Campanella wird festgenommen und verhört. Während des Verhörs simuliert er geistige Umnachtung, um auf diese Weise der Todesstrafe zu entgehen. Er wird zu lebenslanger Haft verurteilt, wird aber 1626 freigesetzt, um aber einige Zeit später in Rom inhaftiert zu werden. 4 Der vollständige Titel lautet übrigens: Appendice della politica detta La Città del Sole. Das Werk sollte demnach nicht als eigenständiges Werk gelesen werden, sondern als Anhang der Politica, ein anderes Werk Campanellas. Ursprünglich auf Italienisch verfasst, erfolgt der Erstdruck 1623 auf Lateinisch. 1637 wird Campanella sich um einen Neudruck der lateinischen Fassung kümmern. 5 Man müsste eigentlich „fast idealen“ sagen, denn die Einwohner des politischen Gemeinwesens sind Heiden. 6 Womit gesagt werden soll, dass ein Fürst sowohl über faktische Macht verfügen, als auch die Tugenden der Weisheit und Liebe – ähnlich der Liebe des Vaters zu seinen Kindern – besitzen sollte. 7 In den Questioni sull’ottima republica setzt sich Campanella mit Vorwürfen auseinander, die gegen seine Città del Sole erhoben wurden. Ein großer Teil der Schrift ist dem Problem der Frauengemeinschaft gewidmet, wobei es dem Autor darum geht zu zeigen, dass diese Frauengemeinschaft nicht gegen das natürliche Recht verstößt, sondern dass ein Verbot einer solchen

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nella seinen Gedanken einer Vereinheitlichung der Welt – die „union del mondo“ (Campanella 1983, S. 76) – zum Ausdruck. Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden8 durch die politischen Schriften Campanellas9 und soll deshalb auch im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen. Der Beitrag legt dabei nicht primär Wert auf die Entwicklungsgeschichte des Denkens des kalabresischen Dominikaners, sondern auf das, was hinter diesen vielfältigen Entwicklungen konstant bleibt. Mag Campanella auch Spanien durch Frankreich als Agens der Vereinheitlichung ersetzt haben, so ist für ihn die Einheit der Welt unter der Oberherrschaft des Papstes der von Gott gewollte Endzweck des irdischen oder politischen Lebens der Menschen und zugleich auch die Bedingung dafür, dass die Menschen ein glückliches Leben führen. Die Zeit in der Campanella lebte, war insofern paradox, als sie einerseits auf die Vereinheitlichung der Welt hoffen lassen, man aber andererseits auch an der Möglichkeit ihrer Verwirklichung zweifeln konnte. Die Hoffnung ergab sich aus der Entdeckung der sogenannten Neuen Welt, durch die die Menschen damals glaubten, die ganze Welt endlich zu kennen. In den Augen der Christen war damit die Möglichkeit gegeben, den ganzen Erdball zu christianisieren und die Menschheit somit zum einen Volk Gottes bzw. zur einen ecclesia zu vereinheitlichen. Der Zweifel entstand erstens durch die sich damals schon voll im Gange befindliche Entstehung von autonomen politischen Gebilden, die sich weder dem Kaiser noch dem Papst unterordnen wollten, und zweitens durch die ab dem ersten Viertel des XVI. Jahrhunderts grassierende konfessionelle Spaltung in der christlichen Welt. Hier ging es nicht mehr darum, dass kleinere religiöse Gruppen die Orthodoxie in Frage stellten, sondern ganze Nationen hatten sich zur Reformation bekannt, und die religiöse Spaltung erweiterte sich zu einer politischen – und dies zu einer Zeit, als das Osmanische Reich noch stark darauf hoffte, sein Herrschaftsgebiet in Richtung Westen ausdehnen zu können. Angesichts der Türkengefahr wird Campanella zur politischen Einheit der christlichen Fürsten unter der Oberleitung des Papstes aufrufen, wobei diese Einheit nicht Gemeinschaft seinen Ursprung einzig und allein im positiven göttlichen Willen findet. Campanella merkt aber an, dass der „vago concubito“ nur dann vom natürlichen Recht erlaubt ist, wenn er aus eugenischen Zwecken praktiziert wird. Es geht also nicht darum, seine sexuellen Begierden mit so vielen Frauen wie möglich befriedigen zu können, sondern es geht darum, diese in den Dienst eines – zumindest in den Augen Campanellas – vernünftigen Zwecks zu stellen. 8 Ottmann schreibt etwa: „Das Erstaunliche ist freilich, die Idee einer Universalherrschaft und einer Einheit der Welt vertritt Campanella sein Leben lang“ (Ottmann 2006, S. 158). Wirklich erstaunlich erscheint dies nicht, wenn man bedenkt, dass Campanella ein Christ war. Man sollte auch bedenken, dass die Idee einer Universalherrschaft mehrere Formen annehmen kann, und dass eine Universalherrschaft, die alle Einzelstaaten abschafft, nicht dasselbe ist wie eine Universalherrschaft, welche die Einzelstaaten bestehen lässt und sie lediglich einer übergeordneten Schiedsinstanz unterwirft. 9 Es sei daran erinnert, dass Campanella nicht nur politische Schriften verfasst hat, sondern dass er u.a. auch der Autor metaphysischer Schriften – dazu gehört eine dreißig Bände umfassende Theologie – und einer Verteidigung Galileis ist. Wer an Campanellas Theologie interessiert ist, findet eine Gesamtdarstellung bei Amerio 1982.

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nur eine rein defensive sein sollte, deren einziger Zweck darin bestanden hätte, die Gefahr aus dem Osten abzuwenden – und die sich dementsprechend nach dem Verschwinden dieser Gefahr aufgelöst hätte –, sondern auch die endgültige Vereinheitlichung der Welt zum Zweck haben sollte. Oder noch anders ausgedrückt: die Einheit aller christlichen Fürsten sollte nicht nur taktischer oder strategischer Natur sein, sondern sie ergab sich aus dem Sein der Menschen selbst bzw. durch sie allein konnte das „phänomenale“ Sein der Menschheit seinem eigentlichen oder wesentlichen Sein entsprechen. Mag auch die Bestrafung der Menschen anlässlich des Turmbaus zu Babel die Menschheit zersplittert haben10, so entspricht diese Zersplitterung doch nicht dem Zustand, in dem die Menschheit sich eigentlich befinden sollte. Die Türkengefahr erscheint sozusagen als eine willkommene occasio, d.h. sie ist für die Staaten ein politisches Motiv, ihre nationale Souveränität zumindest zum Teil aufzugeben und sich dem Papst zu unterwerfen. Da die eigenen militärischen Mittel des Papstes relativ begrenzt sind, muss der Heilige Vater sich einer existierenden politischen Macht bedienen, um die gottgewollte Vereinheitlichung der Menschheit zu verwirklichen. Setzte Campanella hier zunächst auf die spanische Monarchie, deren Reich, wie bekannt, ein solches war, über dem die Sonne nie unterging, so wird er gegen Ende seines Lebens, nachdem er aus Italien geflüchtet war und sich in Frankreich niedergelassen hatte, der französischen Monarchie den Vorzug geben. Aber sowohl die monarchia di Spagna als auch die monarchia di Francia sind nur Instrumente zur Errichtung der monarchia messiae bzw. der monarchia christianorum.11 Campanella ersetzt zwar die spanische durch die französische Monarchie, aber es geht ihm nicht darum, zunächst den spanischen und dann später den französischen König zum absoluten Weltherrscher zu machen. Genauso wie in der Città del Sole soll auch auf Weltebene ein „principe sacerdote“ herrschen, und das einzige Individuum, das diesem Ideal entspricht, ist der Papst, der Stellvertreter Gottes auf Erden. Die Einheit der Menschen ist die Einheit der sich zum Katholizismus bekennenden Menschen, und die Einheit des Katholizismus wird durch den Papst dargestellt und garantiert. Diese Einheit kann er aber nur dann garantieren, wenn er über den weltlichen Herrschern steht. Entgegen dem allgemeinen Trend seiner Zeit, dem Papst keinen Einfluss auf die politischen Angelegenheiten der Einzelstaaten zu geben, schließt Campanella sich einer Denktradition an, die sich im Übergang vom XIII. zum XIV. Jahrhundert bei Denkern wie Aegidius Romanus oder Wilhelm von Viterbo manifestierte, die sich aber auch in den Handlungen bestimmter Päpste – Gregor VII., Innozenz III. oder noch Bonifaz VIII. – ausdrückte.

10 Campanella sieht die Spaltung schon viel früher entstehen, nämlich beim Brudermord Kains. 11 Es sind dies alles Titel von Werken Campanellas, wobei das letztgenannte Werk allerdings verloren gegangen ist.

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Wirft man einen flüchtigen Blick in einige Geschichten des politischen Denkens, so wird man feststellen, dass Campanella hier meistens, wenn überhaupt, nur ganz am Rande erwähnt wird und dass, wenn er erwähnt wird, nur auf die Città del Sole eingegangen wird12, so als ob alle seine anderen politischen Schriften nur ein „appendice della Città del Sole“ wären, womit das Verhältnis zwischen Hauptwerk und Nebenwerk bzw. Anhang umgekehrt wäre. Wenn die Città del Sole auch wegen ihrer Dialogform für das allgemeine Publikum leichter zugänglich ist, so sollte ihr doch nicht allein deshalb der Vorrang gegeben werden. In der Città del Sole kommen vielmehr einige der wichtigsten Prinzipien zur Anwendung, die Campanella in seinen anderen Schriften entwickelt und begründet. Wie schon vorhin angeklungen, wird es mir in diesem Beitrag primär darum gehen, Campanellas Projekt einer politisch-religiösen Vereinheitlichung der Welt genauer zu beleuchten und zu diskutieren. Ich beginne im ersten Teil mit einer Diskussion des Gedankens eines Goldenen Zeitalters, den man in fast allen politischen Schriften Campanellas findet, wobei das Goldene Zeitalter sowohl der terminus a quo als auch der terminus ad quem ist. Es hat alles mit einem Goldenen Zeitalter begonnen und es soll alles zu einem Goldenen Zeitalter zurückgeführt werden – wobei diesem Goldenen Zeitalter allerdings noch das Letzte Gericht folgen wird, und das dementsprechend lediglich als der rein weltliche oder irdische terminus ad quem verstanden werden muss. Wie es im Goldenen Zeitalter ausgesehen hat bzw. aussehen wird, und warum es verschwunden ist, soll im ersten Teil dieses Beitrags diskutiert werden. Im zweiten Teil des Beitrags soll genauer auf die Rolle des Papstes bei der Wiederherstellung des Goldenen Zeitalters bzw. der Einheit der Menschheit eingegangen werden, wobei auch das Problem seines Machtbereichs angesprochen werden soll. Steht der Papst bloß in kirchlichen oder religiösen Angelegenheiten über den Fürsten, oder ist er ihnen auch in weltlichen und politischen Angelegenheiten übergeordnet? Wie wir sehen werden, spielt der Papst eine Schlüsselrolle in Campanellas Projekt einer unter dem Banner der katholischen Religion vereinigten Welt. Wichtig wird uns dabei die Analyse des Modells sein, das Campanella vorschlägt, und das die Form eines Senats der christlichen Fürsten annimmt. Der dritte Teil des Beitrags geht der Frage nach, wieso Campanella seinen ursprünglichen Gedanken 12 In seiner tausendseitigen Geschichte des politischen Denkens nennt Alan Ryan nur einmal Campanellas Città del Sole – im Kapitelteil zu Harringtons Oceana – und geht mit keinem Wort auf den Inhalt des Buches oder auf Campanellas politisches Denken im Allgemeinen ein (Ryan 2012, S. 510). In der von Fenske e.a. verfassten Ideengeschichte wird nur der Sonnnenstaat erwähnt und Campanella wird nur als Autor einer Utopie genannt. Auch in der zweibändigen und von Caillé e.a. herausgegebenen Histoire raisonnée de la philosophie morale et politique wird nur die Città del Sole kurz diskutiert, und Domenico Taranto, der Autor des Beitrags über die utopischen Staatsentwürfe, beendet seinen Beitrag über Campanella mit dem Hinweis, dass es in dem utopischen Staatsmodell des Kalabresen nicht um „die politische Leitung der Gesellschaft“ geht, sondern um „ihre moralische und soziale Reform“ (Taranto 2007, S. 338). Dem ist zuzustimmen, was die Città del Sole betrifft, aber in seinen theoretischen Schriften hat sich Campanella auch mit der Frage der politischen Leitung befasst.

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einer Vereinheitlichung der Welt durch die spanische Monarchie aufgegeben hat, um fortan in der französischen Monarchie jene Macht zu sehen, die die Einheit verwirklichen soll. Wie stark auch immer persönliche Motive dabei gewesen sein können, so hat Campanella doch versucht, seinen Gesinnungswandel durch allgemein nachvollziehbare Argumente – ob sie gut oder schlecht sind, ist damit noch nicht gesagt – zu begründen. In einem vierten und letzten Teil des Beitrags soll schließlich kurz auf die Mittel eingegangen werden, deren sich eine katholische Politik bedienen darf, um ihre Ziele zu erreichen. Campanellas Hauptschaffenszeit fällt nämlich in eine Epoche, in welcher die Debatte um die sogenannte Staatsräson – ragion di Stato – auf Hochtouren läuft. Auch wenn man Machiavelli zugestand, dass man sich im Rahmen des politischen Handelns nicht in allen Hinsichten nach dem Vorbild Jesu orientieren konnte, so scheute man doch vor den radikalen Konsequenzen zurück, die der Florentiner zog, und die darauf hinausliefen, die Politik gänzlich von den religiös begründeten Normen zu befreien. Für Machiavelli galt also nicht nur, dass der Fürst mit Gewalt auf Gewalt reagieren durfte – anstatt, wie Jesus, die andere Wange hinzuhalten –, sondern die Gewaltanwendung des Fürsten sollte durch keine andere Norm als die der Wirksamkeit geleitet werden. Die Antwort auf die Frage, wann und wie viel Gewalt anzuwenden war, sollte man dementsprechend nicht in der Heiligen Schrift oder in den moraltheologischen Kommentaren zur Heiligen Schrift suchen, sondern man sollte sie in der gegebenen Wirklichkeit finden. Campanella hat zwar mit seinem Atheismus triumphatus eine klassische anti-machiavellistische Schrift vorgelegt, aber wenn man seine Schriften durchgeht, wird man bestimmte Passagen finden, die durchaus auch aus der Feder Machiavellis hätten stammen können.13 Dieser Beitrag versteht sich als ein – zugegebenermaßen noch ganz bescheidener – Versuch, in Tommaso Campanella mehr zu sehen als bloß den schwärmerischen und chiliastischen Verfasser eines utopischen Dialogs. Die Città del Sole ist sonder Zweifel ein Werk, das man auf nationaler Ebene für die Verfolgung sozialreformerischer Ziele einsetzen kann. Es ist, wenn man so will, die Präfiguration eines kommunistischen Gemeinwesens, in dem es keine Armut und keinen Reichtum mehr gibt und in dem alle Menschen glücklich sind. Hier soll es aber nicht um diese rein nationale Ebene gehen, sondern um die internationale Dimension des Denkens Campanellas. Im Vorstellungstext auf der Rückseite einer rezenten lateinisch-französischen Ausgabe14 der Monarchia messiae heißt es, das Buch sei „ohne Zweifel der einzige moderne Text, der die Idee einer sich verwirklichenden Weltregierung entwickelt“. 13 Eine Gegenüberstellung beider Autoren findet man z.B. bei Bouvier 2007. Siehe auch Frajese 2002. 14 Es ist interessant festzustellen, dass man in Frankreich darum bemüht ist, die wichtigsten politischen Schriften Campanellas einem allgemeinen Publikum in leicht erhältlichen – aber den wissenschaftlichen Standards entsprechenden – Ausgaben zugänglich zu machen. Außerdem enthalten diese Ausgaben, neben der Übersetzung, den Originaltext.

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Und einige Zeilen vorher hieß es schon: „Kann man nicht in diesem Reich des Papstes die theologisch-politische Präfiguration jenes weltweiten politischen Reiches sehen, das sich heute, zu Beginn des XXI. Jahrhunderts, abzeichnet?“. Auch vier Jahrhunderte nach Campanella ist der Gedanke einer politischen Einheit der Welt immer noch aktuell, wobei sich zwei Fragen als besonders wichtig erweisen, nämlich: (1) Unter wessen Leitung soll diese Einheit zustande gebracht werden? und (2) Wie viel Autonomie werden die Nationalstaaten noch in einer vereinheitlichten Welt besitzen bzw. wie soll diese geeinte Welt politisch geführt werden?

1. Das Goldene Zeitalter als terminus a quo und terminus ad quem Auch wenn der Gedanke eines Goldenen Zeitalters in vielen politischen Schriften Campanellas erwähnt wird, findet man ihn besonders in der Monarchie des Messias wieder. Dieses Werk wurde zuerst im Jahre 1606 auf Italienisch verfasst. Zu jener Zeit saß Campanella schon seine Strafe wegen eines versuchten Aufstandes ab. Veröffentlicht wird die Schrift aber erst 1633. Der Gedanke des Goldenen Zeitalters ist natürlich keine Erfindung Campanellas15, sondern der Kalabrese greift hier auf ein wohlbekanntes Motiv der politischen Literatur seit der Antike zurück. Das Goldene Zeitalter ist, um es ganz kurz zu sagen, ein Zeitalter des vollendeten irdischen Glücks. Dabei wird vorausgesetzt, dass das durch Gott geschaffene Sein der Menschen kein Sein zum Tode ist, sondern ein Sein zum Glück. Als Gott die Menschen geschaffen hat, wollte er nicht ihr Unglück, sondern ihr Glück. Die Menschen hatten dieses Glück auch, als sie erschaffen wurden, aber sie haben es dann verloren. Allerdings können sie es wiedererlangen und damit auch das Goldene Zeitalter wiederaufleben lassen. Und genau hier liegt der Schwerpunkt des Denkens Campanellas und der letzte Bezugspunkt seines politischen Denkens: wie kann man, von den existierenden Bedingungen ausgehend, den Weg für das Goldene Zeitalter wieder ebnen? Während die Città del Sole uns in die utopische Gemeinschaft versetzt, ohne uns zu sagen, wie wir von einer unvollkommenen zu einer vollkommenen politischen Gemeinschaft kommen können, sagt Campanella seinen Zeitgenossen in seinen anderen politischen Schriften, welche ersten Schritte nötig sind, um sich wieder dem Goldenen Zeitalter zu nähern. In der Überschrift des dritten Kapitels der Monarchie des Messias heißt es: „Felicitatem saeculi aurei existere, si totius mundi unus sit […]“. Die ganze Welt war eine Einheit, als Gott sie geschaffen hat, und die ganze Welt kann wieder zu einer Einheit werden. Und da die einheitliche Welt am Anfang eine glückliche Welt war, kann die wieder zur Einheit gewordene Welt auch eine glückliche werden. Wenn al-

15 Ausführlich behandelt wird das Thema des Goldenen Zeitalters bei Campanella in Ernst 1998.

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so die ganze Welt eine Einheit wäre, dann würde das Glück des Goldenen Zeitalters existieren. Glück und Einheit der Menschen werden in diesem Kapiteltitel miteinander in Verbindung gesetzt. Aber während die einheitliche Welt des Anfangs unmittelbar durch Gott geschaffen wurde, liegt die Wiederherstellung der verlorenen Einheit bei den Menschen, die als Instrumente Gottes tätig sind – so dass die wieder hergestellte Einheit in diesem Fall nur das mittelbare Werk Gottes ist. Durch die Menschen wurde die ursprüngliche Einheit zerstört bzw. hat die ursprüngliche Einheit aufgehört, als Erscheinung zu existieren. Durch die Menschen kann die ursprüngliche Einheit wieder als Erscheinung existieren. Zu keinem Augenblick hat diese ursprüngliche Einheit aber aufgehört, als wesentliche Form des menschlichen Seins zu existieren. In diesem ersten Teil des Beitrages wollen wir uns zunächst mit den Ursachen für den Verlust der ursprünglichen Einheit und des mit ihr einhergehenden Glücks befassen, um uns dann in einem zweiten Schritt etwas genauer mit dem Glückszustand im Goldenen Zeitalter zu befassen. Die Mittel zur Wiederherstellung des Goldenen Zeitalters sollen dann in den nächsten Teilen des Beitrags behandelt werden. Die Einheit, um die es hier geht, soll sich vor allem in zwei Dimensionen manifestieren, und zwar einerseits in der politischen, und andererseits in der spirituellen Dimension. Eigentlich hätte die Welt eine politisch-religiöse Einheit sein sollen, d.h. es hätte nur einen einzigen Herrscher über eine sowohl territorial als auch religiös geeinte Menschheit geben sollen. Als Gott die Welt schuf, schuf er sie als Einheit, und zwar, wie Campanella es betont, nicht weil er sie nicht als fragmentiert hätte schaffen können – dies wäre ihm durchaus möglich gewesen, denn er ist allmächtig –, sondern weil die Einheit seinem göttlichen Wesen entsprach. Anstatt nur einen Menschen, hätte Gott ursprünglich mehrere Menschen schaffen können und jedem dieser Menschen einen bestimmten Teil der Erde geben können, damit er sein Reich dort errichtet. Gott hat aber nur einen Menschen geschaffen, und die ganze Menschheit soll sich als von diesem einen Menschen abstammend denken und sich somit auch als Einheit denken. Alle Menschen sind Kinder Adams und haben somit denselben Ursprung. Die Menschheit bildet somit eine Einheit. Die Einheit der Welt ist das, was Gott will, und weil der menschliche Wille dem göttlichen Willen entsprechen soll, soll auch der Mensch die Einheit wollen. Somit stellt sich die Frage nach dem Ursprung der politischen und religiösen Vielfalt, die Campanella zu seiner Zeit als gegebenes Faktum vorfindet. Diesen Ursprung findet er im Teufel, „der als erster eine Vielzahl von Fürstentümer einführte, die nicht von einem Menschen abhängen“ (Campanella 2002, S. 94). Prinzipiell sollte es nur einen Oberherrscher über die Vielzahl der Fürstentümer geben, aber wegen des Teufels gibt es keinen solchen anerkannten Oberherrscher, sondern es gibt einen Oberherrscher für jedes Fürstentum. Die Welt ist somit politisch fragmentiert. Aus dieser zunächst nur politischen Vielheit folgte dann die religiöse Vielheit, und

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Campanella kann wieder auf denselben Schuldigen hinweisen: „Es war der Teufel, der die Götzenanbetung und die Schismen einführte“ (Campanella 2002, S. 108). Auch die religiöse Vielfalt ist auf den Teufel zurückzuführen. Ist der Teufel die causa ultima der Spaltung der Menschheit, so ist der Brudermörder Kain die unmittelbare Ursache (Campanella 2002, S. 110). Der Mensch hat sich durch den Teufel verführen lassen, und statt sich durch den göttlichen Geist der Einheit leiten zu lassen, hat er sich durch den teuflischen Geist der Spaltung leiten lassen. Wenn man ganz genau sein will, dann muss man sagen, dass die Menschheit an sich immer eine Einheit bildet und dass sie nur als Vielzahl erscheint. Ihr eigentliches Wesen ist göttlichen, und ihre Erscheinung satanischen Ursprungs. Der Teufel hat nichts an der wesentlichen, überhistorischen Natur der Menschheit geändert, sondern er hat nur auf die konkrete historische Erscheinung der Menschheit gewirkt. Es geht Campanella in erster Linie darum, den trügerischen Schein zu entlarven und die Autoritäten dazu aufzurufen, die Menschheit in ihrer Erscheinung wieder zu dem werden zu lassen, was sie in Wirklichkeit ist. Mag auch der Teufel die Spaltung provoziert haben, so sind es die Menschen im Allgemeinen und die politischen Autoritäten im Besonderen, die sie weiterbestehen lassen. Die Menschheit braucht somit nicht zu ihrer ursprünglichen Natur zurückzufinden, sondern muss sich vielmehr nur wieder dieser ursprünglichen Natur gewahr werden. Es geht somit nicht darum, das Sein der Menschheit zu verändern – dies könnte allein Gott bewerkstelligen –, sondern lediglich ihr Bewusstsein und, sich daraus ergebend, ihr Handeln. Mit der Einheit wird auch das Goldene Zeitalter wiederkehren. Denn es ist der Verlust der Einheit, der den Krieg, die Pest und die Hungersnot hervorruft (Campanella 2002, S. 94). Das Goldene Zeitalter ist ein Zeitalter ohne Krieg, ohne Pest und ohne Hungersnot, ein Zeitalter, in dem alle Menschen in Unschuld und glücklich leben. Es gibt keine Kriege, so Campanella, weil es nichts zu erobern gibt. Wo es nämlich nur eine politische Gemeinschaft gibt, gibt es keine Territorien mehr, die diese Gemeinschaft von einer anderen erobern könnte. Aber, so wird man fragen, droht nicht doch der Bürgerkrieg, dessen Existenz ja nicht zwei Territorien, sondern nur zwei verfeindete Gruppen innerhalb eines Territoriums voraussetzt? Das Übel des Bürgerkriegs sieht Campanella dadurch gebannt, dass die politische Einheit zugleich auch die spirituelle oder kulturelle Einheit mit sich bringt, so dass auf diese Weise die Wurzeln der Bürgerkriege ebenfalls ausgemerzt sind.16 Dabei scheint Campanella allerdings zu vergessen, dass aus der ursprünglichen Einheit der Menschheit die Zersplitterung entstanden ist. Wie wichtig auch immer die Vereinheitlichung der Menschheit sein mag, an und für sich kann sie die Menschheit noch nicht vor den Versuchungen des Teufels bewahren. Nur wenn 16 In der Città del Sole weist Campanella darauf hin, dass die Einwohner der idealen Gemeinschaft mit allen Mitteln zu verhindern versuchen, dass sich Teilgruppen bilden, die einen Bürgerkrieg hervorrufen könnten (Campanella 1983, S. 57).

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man den Menschen ein für allemal gegen diese Versuchungen immunisieren kann, wird sich der Traum eines immerwährenden Goldenen Zeitalters verwirklichen lassen. Interessant sind Campanellas Überlegungen zu den Seuchen und Hungersnöten. Diese, so der Autor, entstehen nie überall zur selben Zeit, so dass immer die Möglichkeit besteht, die betroffenen Gebiete zu evakuieren und den betroffenen Menschen somit zu erlauben, unter günstigeren Bedingungen zu leben (Campanella 2002, S. 98). Während im Fall einer durch Grenzen getrennten Menschheit die Betroffenen sich gegebenenfalls durch Waffengewalt Zugang zu Nahrungsquellen verschaffen oder auf Gewalt zurückgreifen müssen, falls sie ein seuchenbefallenes Gebiet verlassen und sich in einem anderen Staat niederlassen wollen, werden solche Kriege in einer Welt ohne politische Grenzen verschwinden. Und anstatt dass die Migrationsbewegungen chaotisch verlaufen, werden sie zentral organisiert, so dass sie geordnet über die Bühne laufen können und so, dass etwa die von einer Hungersnot Bedrohten in eine Gegend versetzt werden, in welcher es einen Überfluss an Nahrung gibt – bzw. kann man den Transport der überflüssigen Nahrung in jene Gebiete organisieren, in denen es nicht genügend Nahrung gibt. Was im XX. Jahrhundert zum Teil verwirklicht wurde, hatte Campanella schon etwa 400 Jahre früher gedacht. Wie man hier sieht, ist das Goldene Zeitalter bei Campanella kein Zeitalter, in welchem es gar keine Übel mehr gibt – ein solches Zeitalter wird erst nach dem Jüngsten Gericht möglich sein –, sondern es ist lediglich ein Zeitalter, in dem das Übel des Krieges keinen Platz mehr hat und in dem man den Übeln, die durch die Seuchen und Hungersnöte entstehen, ausweichen kann. Es ist ein Zeitalter, in dem es noch natürliche oder naturbedingte Übel gibt, aber in dem sich diese Übel nicht auch noch mit menschlich bedingten Übeln paaren. Es wird Situationen geben, in denen nicht genug Nahrung zur Verfügung stehen wird, um eine bestimmte Gruppe von Menschen zu ernähren, aber dieser Lebensmittelknappheit wird sich nicht auch noch ein Bürgerkrieg zugesellen, so dass man den Hungernden nicht helfen kann. Hier liegt m.E. ein Gedanke, der heute mehr denn je aktuell ist, vor allem angesichts der sich anbahnenden Konsequenzen des Klimawandels, durch welche bestimmte Inselstaaten wahrscheinlich ganz verschwinden werden. Hier wäre es jetzt schon angebracht darüber nachzudenken, wo man den betroffenen Menschen eine Möglichkeit geben könnte, sich niederzulassen, um ein neues Leben zu beginnen. Und dies umso mehr als jene Staaten, die für den Klimawandel verantwortlich sind, über hinreichend Ressourcen verfügen, um den Bedrohten zu helfen. Campanella kann den Kriegen, Seuchen und Hungersnöten allerdings auch etwas Positives abgewinnen: „Zumindest erlaubt Gott die Kriege, die Hungersnöte und die Pest, und zwar damit der so notwendige Handel und die so notwendigen Beziehungen zwischen den Menschen stattfinden“ (Campanella 2002, S. 100). Wir haben es

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hier mit einer Art Theodizee zu tun: wie groß auch immer die Übel der Kriege, Hungersnöte und Seuchen sein mögen, sie bringen die Menschen miteinander in Verbindung und erlauben somit die Bewusstwerdung der Einheit aller Menschen bzw. erlauben sie es den Menschen, sich wieder bewusst zu werden, dass sie eigentlich eine große Einheit bilden.17 Und diese Bewusstwerdung ist ein wichtiges Element auf dem Weg zur politischen Vereinheitlichung des Menschengeschlechts. Durch das Erleiden der Übel wird die Menschheit in einen Zustand versetzt, durch den eine Situation geschaffen werden kann, in der man nicht mehr unter diesen Übeln leiden wird. Was die Menschen nicht von sich aus einsehen wollen, muss ihnen gewissermaßen durch das Leiden eingeprägt werden.18 Der Teufel, so Campanella, „möchte, dass wir alle und jeder von uns, in den Grenzen unserer Gegend bleiben, wie Würmer im Käse, und dies, um uns unwissend zu halten und uns zu täuschen“ (Campanella 2002, S. 100). Der Mensch ist somit das Instrument in einem kosmischen Kampf zwischen dem Teufel und Gott, wobei er sich aber frei entscheiden kann, dem Teufel oder Gott zu folgen. Während der erste die menschlichen Gruppen voneinander isolieren will, so dass sie sich ihrer Einheit nicht bewusst werden können, will der zweite sie miteinander in Beziehung setzen und somit ein Bewusstsein der Einheit schaffen. Wir haben somit eine Situation, in welcher der Teufel, durch die Spaltung der Menschheit, die Bedingung geschaffen hat, damit es Kriege überhaupt geben kann, und in welcher Gott, der eine Menschheit ohne Kriege will, die Kriege zulässt, damit die Menschheit sich wieder vereinigen kann. Eine der Konsequenzen der Spaltung erweist sich somit als eine der Ursachen ihrer Aufhebung, und wenn Gott die Kriege zulässt, dann nur als ein notwendiges Übel. Die Existenz von Kriegen spricht somit nicht gegen die Existenz Gottes, sondern gehört zu einer unvollkommenen Welt, in welcher die Menschen oft nur durch das Leiden zur Vernunft gebracht werden können. Allerdings wird man sich fragen können, ob sie auch immer dauerhaft aus ihren Fehlern lernen können. Ist der Frieden einmal durch die politisch-religiöse Einheit der Menschheit hergestellt worden, dann werden die Wissenschaften prosperieren und mit ihnen auch die Menschen (Campanella 2002, S. 100). Wie More und Bacon, ist auch Campanella von der Wichtigkeit der Wissenschaften überzeugt, und wie sie glaubt auch er, dass die Wissenschaften notwendig sind, damit die Menschen in einem Goldenen Zeitalter leben können. Die Entwicklung der Wissenschaften setzt den Frieden insofern voraus, als sich nur unter den Bedingungen des Friedens eine sichere und rege Kommunikation unter den Menschen etablieren wird, so dass sie ihr jeweiliges Wissen 17 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte entstand auch nach dem Trauma des Zweiten Weltkriegs und des menschenverachtenden Naziregimes. 18 Auch hier könnte man auf die heutige Situation hinweisen: spätestens die sich anbahnende Klimakatastrophe hat uns bewusst werden lassen, dass unser Schicksal ein gemeinsames ist und dass jedes Volk nur dann hoffen kann, glücklich zu leben, wenn es mit den anderen Völkern zusammenarbeitet.

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miteinander tauschen können. Kriege führen zwar dazu, dass die Menschen miteinander in Kontakt treten, aber sie führen noch nicht unmittelbar zu einer Kooperation. Sie sind sozusagen nur die Vorstufe für die Kooperation, die den Frieden und die Erkenntnis der ursprünglichen Einheit aller Menschen voraussetzt. An einer Stelle der Monarchie des Messias behauptet Campanella, dass „es [scil. das Goldene Zeitalter – N.C.] schon jetzt existiert, aber gar nicht erscheint“ (Campanella 2002, S. 124). Das schließt an das an, was wir oben gesagt hatten, nämlich dass die Einheit der Menschheit in Wirklichkeit gegeben ist, dass sie aber nicht in der historischen Welt erscheint. Damit diese wesentliche Einheit auch erscheint, muss die Welt politisch und religiös vereint werden bzw. muss die Welt wieder als die Welt erscheinen, die sie tatsächlich ist, nämlich eine einheitliche Welt. In einem späteren Kapitel des Werkes gebraucht Campanella ein botanisches Bild, um seinen Gedanken auszudrücken, und er schreibt dort: „Und so wird das Goldene Zeitalter wieder aufblühen“ (Campanella 2002, S. 420).19 Es geht also nicht darum, das Goldene Zeitalter überhaupt erst, und zum ersten Mal, herzustellen, sondern darum, wieder von seinen Blüten zu profitieren. Der Teufel hat die Einheit zwischen den Menschen nicht zerstört, sondern er hat sie lediglich aus ihrem Bewusstsein vertrieben bzw. er hat bloß ihre Erscheinung zerstört. An sich ist die Menschheit also immer noch eine Einheit, und sie ist nur für uns eine Vielheit. Die Rolle des Philosophen besteht darin, an die immer noch an sich bestehende Einheit zu erinnern, und die Aufgabe der politischen Mächte besteht darin, die Erscheinung der politischen Welt wieder ihrem eigentlichen Wesen entsprechen zu lassen. In der Monarchia di Spagna weist Campanella an einer Stelle auf ein Verschwinden der Monarchien und auf die Entstehung eines Reichs der Heiligen hin (Campanella 1997a, S. 24), wobei er einige Seiten früher auf Elemente hingewiesen hatte, die auf das Ende der Welt hindeuten (ebenda, S. 18). Geht man von dieser eschatologischen Position aus, dann wird auch die spanische Monarchie eines Tages verschwinden. Aber wenn die spanische Monarchie verschwinden wird, welches Interesse kann der spanische König dann noch an einer Vergrößerung seines Herrschaftsgebietes haben? Campanella stößt hier auf ein Problem, dessen er sich vollkommen bewusst ist. So schreibt er einerseits, dass Spanien – aber es gilt im Prinzip für jede Monarchie – auf seinen Untergang zusteuert, wenn es sich über den Papst stellen will. Will Spanien seinen Weg zur Beherrschung der Welt siegreich fortsetzen und beenden, dann muss es sich dem Papst unterwerfen. Aber dann wird es kein Weltreich errichten können, wenn man unter einem Weltreich ein solches versteht, das alle existierenden Nationen einschließt. Wie wir nämlich noch sehen werden, tritt Campanella für den Respekt der staatlichen Souveränität zwischen katholischen Staaten ein, wobei der

19 „Et sic saeculum aureum reflorebit“.

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Papst, der über den Staaten steht, diese Souveränität schützt und garantiert – aber zugleich auch begrenzt. Unter diesen Umständen wird Spanien – oder eine andere Monarchie, der die Aufgabe Spaniens zufallen kann – zwar die Gebiete der Ungläubigen erobern dürfen, nicht aber die Gebiete, über die katholische Fürsten herrschen.20 Damit sind dem Weltreich des spanischen Königs territoriale Grenzen gesetzt. Und insofern der spanische König dem Papst untersteht und nur Handlungen ausführen darf, die der Papst gutheißt, hat er stets eine Autorität, die über ihm steht, und kann demnach auch nicht als Weltsouverän im starken Sinn des Wortes angesehen werden. Die weltlichen katholischen Fürsten sind eigentlich nur Instrumente, derer sich der Papst bedient, um die ursprüngliche Einheit des Menschengeschlechts wieder in Erscheinung treten zu lassen. Dass der Papst sich ihrer bedienen kann, hängt u.a. damit zusammen, dass die Interessen der Nationalfürsten und die ihnen übergeordneten Interessen der durch den Papst vertretenen katholischen Religion übereinstimmen. So haben sowohl der Papst als auch der spanische König ein Interesse daran, dass Mittel- und Südamerika erobert werden. Allerdings ist die Natur des Interesses eine jeweils andere: der spanische König will erobern, damit Spanien davon profitiert; der Papst will, dass erobert wird, damit die Menschheit davon profitiert. Spanien sähe kein Problem darin, alle Staaten zu erobern, auch die katholischen, um somit ein wahres universales Reich zu errichten. Der Papst sieht aber hierin ein Problem, da er im Falle einer zum Weltreich im wahren Sinn des Wortes gewordenen spanischen Monarchie seine Macht sicherlich einbüßen würde. Solange es neben Spanien noch andere katholische Fürsten geben wird, kann der Papst noch an sie appellieren, um sich gegebenenfalls gegen den spanischen König durchzusetzen. In diesem Zusammenhang kann man erwähnen, dass Campanella die Möglichkeit in Betracht zieht, dass der spanische König sich tatsächlich zum obersten Weltherrscher etablieren und eine unter der spanischen Krone vereinte Welt herstellen will. Damit ihm dies gelingt, muss er eine neue Religion einführen (Campanella 1997a, S. 46), da die bestehende katholische Religion den Gedanken einer einheitlichen Menschheit enthält, aber unter der Oberherrschaft des Papstes. Der spanische König – oder irgendein anderer König – kann nicht gleichzeitig Katholik bleiben und Oberherrscher eines einheitlichen Weltreichs sein wollen. Er muss entweder auf seinen Herrschaftsanspruch verzichten, oder eine neue Religion gründen. Der Papst steht vor folgendem Problem: um das Ziel einer vereinten Menschheit zu erreichen, bedarf er der Hilfe durch die Nationalstaaten. Denkt man aber dieses Ziel einer vereinten Menschheit konsequent bis zum Ende, d.h. bleibt man nicht auf 20 Campanella ist, wie es Fournel in seinem Buch beschreibt, auf der Suche nach einem Modell, das zwar einerseits eine Kohärenz anstrebt, diese aber nicht um den Preis der Aufgabe der Unterschiedlichkeit will (Fournel 2012).

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halbem Weg stehen, dann impliziert es eigentlich das Verschwinden der Nationalstaaten. Will der Papst aber auf die Hilfe der Nationalstaaten zählen, dann darf er ihnen nicht sagen, dass sie durch ihre Eroberungspolitik letztendlich auf ihren eigenen Untergang hinarbeiten, dass sie Instrumente des göttlichen Heilsplans sind, die, wie der berühmte Mohr, wieder gehen können, sobald sie ihre Pflicht getan haben.21 Insofern versteht man folgende Aussage Campanellas: „Aber man muss diese Dinge im Geheimen behandeln und nichts schreiben“ (Campanella 1997a, S. 24).22 Es gibt allerdings eine Möglichkeit, dem Problem zumindest zum Teil auszuweichen, und zwar dadurch, dass man sich das Weltreich als eine Art Föderation denkt. Der Papst ist zwar der Oberherrscher, aber das schließt nicht aus, dass es noch Nationalstaaten mit ihren jeweiligen Monarchen oder sonstigen Regierungen gibt. Die Souveränität dieser Nationalstaaten wird dann zwar einerseits eingeschränkt sein, aber sie muss nicht vollständig aufgehoben werden. Wichtig ist nur, dass alle Nationalstaaten sich als Teile einer Föderation erkennen, deren Wohl über dem Wohl der einzelnen Staaten steht und über deren Wohl der Papst in letzter Instanz zu entscheiden hat. Dabei sind auch die Entscheidungen des Papstes nicht durch ein Partikularwohl bestimmt, sondern durch das Wohl der einen vereinten Menschheit. Auf diese Weise lassen sich Einheit und Pluralität zusammendenken. Und auch wenn der Einheitsgedanke dabei überwiegt und im Konfliktfall den Vorrang hat, so bleibt doch noch Platz für eine bestimmte Pluralität. An und für sich haben wir hier eine Situation, die dem mittelalterlichen Kaiserreich ziemlich ähnlich ist, mit dem einzigen Unterschied, dass der Papst die Rolle des Kaisers übernimmt.

2. Die Rolle des Papstes Die von Campanella verteidigte Einheit des Menschengeschlechts ist nicht nur politischer, sondern auch, und vielleicht sogar vor allem, religiöser Natur. Es geht also nicht nur darum, alle Völker der Erde einem Weltherrscher zu unterwerfen, sondern auch, und primär, darum, sie alle unter dem Banner des Katholizismus zu vereinigen. Dabei geht Campanella davon aus, dass alle Menschen Gott als ihren gemeinsamen Schöpfer haben und somit auch alle Gott unterworfen sind. Der absolute Souverän bzw. der letztinstanzliche Inhaber der Souveränität ist Gott, und seine Macht

21 In der Monarchia di Francia schreibt Campanella: „Die Monarchie Christi hat als Haupt den Papst und als Arme die Könige; woraus folgt, dass jener durch das Haupt und diese durch die Schultern die geheiligte Funktion des Regierens bekleiden“ (Campanella 1997b, S. 381). Eine Passage wie diese lässt vermuten, dass die Könige zumindest bis zum Letzten Gericht noch über ihr jeweiliges Herrschaftsgebiet herrschen werden, allerdings werden sie dem Papst untergeordnet sein. 22 In demselben Werk heißt es später, man solle sich nicht schriftlich über die großen Staatsgeheimnisse äußern.

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über die Menschen ist absolut, so dass Gott also tun kann, was er will (Campanella 2002, S. 54).23 Auch wenn Gott der letztinstanzliche Souverän über dem Menschengeschlecht ist, übt er seine Macht nicht unmittelbar aus, sondern delegiert sie an die Menschen. Die Legitimität der politischen Macht hängt somit von Gott ab und sie ist damit auch an die von Gott gesetzten Regeln gebunden. Allerdings hebt Campanella noch einen anderen Aspekt hervor, und zwar dass der Einheit der göttlichen Macht auch eine Einheit der dem Menschen von Gott delegierten politischen Macht entsprechen muss. Insofern diese politische Macht von Gott kommt und insofern Gottes Macht nicht nur weltliche, sondern auch spirituelle Ziele verfolgt, muss der Einheit im Weltlichen auch eine Einheit im Spirituellen entsprechen. Und diese Einheit im Spirituellen gibt es für Campanella nur im Katholizismus. Daraus folgt, dass nur der unmittelbare Vertreter Gottes auf Erden die höchste Macht in der katholischen Weltrepublik besitzen kann. Dieser unmittelbare Vertreter ist der Papst. Somit plädiert Campanella für eine katholische Weltrepublik unter der Oberherrschaft des Papstes.24 Aus dem Alten Testament erwähnt Campanella zunächst u.a. die Beispiele Adams und Noahs, die gleichzeitig Väter, Fürsten und Priester waren (Campanella 2002, S. 80). Von Moses heißt es, er sei König, Priester, Philosoph und Prophet gewesen (ebenda, S. 88). Was diese Beispiele zeigen, ist, dass die weltliche und die spirituelle Macht vereinigt sein müssen bzw. dass Gott sie von Anfang an als vereint gewollt hat, so dass ihre Trennung nur Menschen- bzw. Teufelswerk ist. Auch hier muss die Erscheinung wieder ihrem Wesen gemäß gestaltet werden, was nur möglich ist, wenn die weltlichen Fürsten sich auch in weltlichen Angelegenheiten dem Papst unterwerfen. Dabei betont Campanella allerdings an einer Stelle, dass diese Unterwerfung der weltlichen Fürsten unter die Macht des Papstes nicht nach dem feudalen Modell zu denken ist, sondern dass sie dem Papst unterworfen sind, wie Kinder ihrem Vater (Campanella 2002, S. 374). Die Menschheit ist wie eine große Familie, an deren Spitze ein Vater steht, dessen Söhne stets auf ihn angewiesen sind. Der Teufel hat die Menschen dazu gebracht, gegen den Vater zu rebellieren bzw. zu vergessen, dass es einen gemeinsamen Vater gibt. Die Harmonie kann erst dann wieder hergestellt werden, wenn sich alle Menschen dem Papst unterwerfen und sich wieder als seine Söhne begreifen. Will man Campanellas Modell einer katholischen Weltrepublik angemessen verstehen, so muss man es auch – allerdings nicht ausschließlich – gemäß diesem Bild 23 Gott kann sogar die natürlichen Gesetze verletzen, allerdings nicht als Gesetzgeber, sondern als Oberherrscher (Campanella 2001, S. 80). Diese absolute Macht Gottes sollte uns aber keine Angst machen, denn, so Campanella, Gott ist gerecht und sorgt sich um unser Wohl (ebenda, S. 166). 24 Zu dieser Thematik siehe etwa Headley 1997.

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der Familie verstehen. Insofern er an der Spitze der Familie steht und insofern es seine Familie ist, hat der Familienvater immer das Wohl der gesamten Familie im Blick, wohingegen die Söhne unter Umständen nur das Wohl ihres jeweiligen Teils der Familie im Blick haben können.25 Allerdings, und das ist ein wichtiger Punkt, bedeutet die Tatsache, dass die gesamte Familie einem einzigen Vater untersteht, nicht, dass dieser Vater ständig und unmittelbar in die Angelegenheiten der Haushalte seiner Söhne eingreift. Hier begegnet Campanella einem Einwand, den Aristoteles gegen den Gedanken eines Weltstaates erhoben hatte, nämlich dass ein solcher Weltstaat funktionsunfähig sei, da ein einziges Individuum nicht in der Lage ist, die ganze Welt zu beherrschen. Diesem Einwand setzt Campanella den Gedanken einer Machtdelegation entgegen (Campanella 2002, S. 102-104). Auch wenn er den Gedanken nie explizit formuliert und detailliert ausarbeitet, so trägt Campanellas katholische Weltrepublik in manchen Hinsichten die Züge eines Weltbundestaates. Campanella spricht nicht davon, dass die nationalen Grenzen ganz verschwinden sollen, dass es Frankreich, Spanien, usw. nicht mehr geben wird und dass alle Staaten aufhören sollen zu existieren. Zumindest in einer ersten Phase werden die Nationalstaaten weiter bestehen bleiben, aber sie werden nicht mehr im vollen Sinne des Wortes souverän sein, sondern sie werden einem Oberherrscher unterworfen sein. Campanellas Projekt einer katholischen Weltrepublik sollte als der Versuch betrachtet werden, zwei Extreme zu vermeiden. Auf der einen Seite ist das Extrem einer gänzlich zersplitterten Welt, in welcher es keine einheitliche Autorität gibt, die von allen Parteien anerkannt wird. Auf der anderen Seite ist das Extrem einer in allen Hinsichten einheitlichen Welt, in welcher es nur den Papst als Herrscher gibt, in welcher es also keine nationalen Herrscher mehr geben wird. Hätte Campanella für dieses zweite Extrem plädiert, dann hätten die weltlichen Herrscher seinem Projekt von Anfang an den Rücken zugekehrt. Campanella muss demnach eine Lösung finden, die, ohne den nationalen Herrschern eine absolute Souveränität zu belassen, ihnen dennoch einen Teil ihrer Macht übrig lässt. Es geht Campanella also nicht darum, eine einzige religiös-weltliche Macht zu schaffen und alle anderen Zentren bloß weltlicher Macht ganz abzuschaffen, sondern es geht ihm lediglich darum, die vielen Zentren weltlicher Macht bestehen zu lassen, sie aber einer ihnen übergeordneten religiös-weltlichen Macht zu unterwerfen, wobei diese Macht nur eingreift, wenn es nötig ist.26 Die nationalen Staaten können durchaus weiter bestehen bleiben, aber die Politik dieser nationalen Staaten muss fortan so sein, dass sie die Interessen der katholischen Religion fördern und dass sie die Ideale der katholischen Religion verwirklichen. Solange sie das tun, besteht kein Grund, den jeweiligen nationalen 25 Sozusagen nach dem Motto: „Was geht mich mein Bruder an?“. 26 Dieser Macht obliegt es allerdings auch, ein für alle verbindliches Ziel zu formulieren und dafür zu sorgen, dass alle Staaten dieses Ziel auch anstreben.

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Herrschern das Recht zu nehmen, über ihre Völker zu herrschen. Campanellas katholische Weltrepublik verwirklicht somit zwar eine spirituelle und politische Einheit, aber nicht unbedingt auch eine territoriale Einheit in dem Sinne, dass fortan alle Staaten verschwinden werden und die gesamte Welt nur noch aus einem einzigen Staat besteht. Die katholische Weltrepublik wird weiterhin aus vielen Staaten bestehen. Die Staaten verlieren lediglich einen Teil ihrer Autonomie. In einigen Schriften listet Campanella die Funktionen des Papstes in der katholischen Weltrepublik auf. An erster Stelle steht dabei die Schiedsrichterfunktion. Wenn Konflikte zwischen christlichen Fürsten entstehen, dann sollten diese nicht durch Waffengewalt gelöst werden, sondern durch einen Schiedsspruch des Papstes, den alle Parteien als für sie verbindlich anzuerkennen haben (Campanella 2002, S. 288). Rein religionspolitisch gesehen, geht es Campanella hier in erster Linie darum, blutige Konflikte innerhalb der Christenheit zu vermeiden, von denen die Ungläubigen – an erster Stelle die Osmanen – profitieren könnten. Wenn der Papst einerseits dafür sorgen soll, dass die Fürsten sich nicht entzweien, muss er andererseits alles daran setzen, die Einheit und darüber hinaus auch die Solidarität unter den christlichen Fürsten zu fördern, damit sie gemeinsam die Ungläubigen bekämpfen. In diesem Kontext erwähnt Campanella, dass der Papst auch dafür Sorge tragen muss, dass kein christlicher Fürst davon profitiert, dass sein Nachbar die Türken bekämpft, um diesen Nachbarn anzugreifen. Mit diesem letzten Punkt stoßen wir auf einen wichtigen Aspekt in Campanellas Argumentation. Dem Dominikaner ist nämlich viel daran gelegen, den Nationalfürsten zu zeigen, dass die Universalherrschaft des Papstes weit davon entfernt ist, sie ihrer legitimen Machtausübung zu berauben, vielmehr eine Garantie für diese bildet, dass sie also, auch wenn dies auf den ersten Blick paradox erscheinen kann, ein Interesse daran haben, die Autorität des Papstes anzuerkennen. Besonders deutlich kommt dies in den Discorsi politici ai principi d’Italia zum Vorschein. In einer auf den ersten Blick paradoxen Formulierung heißt es dort: „[F]ür die Sicherheit der Staaten […] ist ein reiches und mächtiges Papsttum notwendig“ (Campanella 1854b, S. 72). Normalerweise würde man erwarten, dass vor einem mächtigen Papsttum gewarnt wird, da dieses seine Macht gebrauchen könnte, um sich die Fürstentümer einzuverleiben. In den Discorsi geht es Campanella in erster Linie darum, die italienischen Fürsten davon zu überzeugen, dass sie die spanische Monarchie unterstützen sollen. Das Problem ist dabei allerdings folgendes: einerseits kann nur eine mächtige spanische Monarchie die Christenheit, und damit auch die italienischen Fürsten, vor der Türkengefahr schützen; andererseits stellt eine mächtige spanische Monarchie eine Ge-

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fahr für die italienischen Fürsten dar.27 In diesem Kontext muss Campanella den italienischen Fürsten zeigen, dass sie keine Angst vor den Spaniern zu haben brauchen. Und dies tut er, indem er ihnen sagt, dass der Papst sie ebenso vor dem spanischen König schützen wird, wie dieser sie vor den Türken schützt (Campanella 1854b, 74). Der Papst, auf sich allein gestellt, kann die italienischen Fürsten nicht vor den Türken schützen; dafür bedarf es einer militärischen Macht, über die höchstens große politische Gebilde, wie etwa Spanien, verfügen. Der spanische König, lässt man ihm absolut freie Hand, wird, durch seinen Eroberungsdurst angeregt, soviele Territorien wie möglich erobern wollen. Der Papst allein bietet somit keinen Schutz gegen die Ungläubigen und der spanische König allein bildet eine große Gefahr. Wenn die italienischen Fürsten den Schutz vor den Türken haben wollen, müssen sie Spanien unterstützen, und wenn sie den Schutz vor den Spaniern haben wollen, müssen sie sich dem Papst unterordnen. Die Spanier schützen die Christenheit vor den Türken mittels weltlicher Waffen, und der Papst schützt die italienischen Fürsten vor den Spaniern mittels spiritueller Waffen. Wie Campanella in diesem Zusammenhang betont, dürfen die christlichen Fürsten nämlich nur den Ungläubigen ihre Herrschaft aufzwingen, und kein christlicher Fürst darf das Gebiet eines anderen christlichen Fürsten erobern. In den Aforismi politici heißt es, der Papst stelle sich der Expansionspolitik der christlichen Fürsten entgegen (Campanella 1854a, S. 27).28 Der Papst erscheint somit als überparteischer Garant der politischen Autonomie der Staaten, zumindest der christlichen Staaten. Aber diese Garantenrolle kann er nur dann erfüllen, wenn alle christlichen Staaten ihn als oberste Autorität anerkennen, wenn sie also auf einen Teil ihrer politischen Souveränität verzichten. Unter anderem zeigt sich hier, wieso es für Campanella nicht genügt, dass der Papst nur in spiritueller Hinsicht über den christlichen Fürsten steht. Nur wenn man dem Papst das Recht zugesteht, sich auch in die weltlichen Angelegenheiten der Staaten zu mischen, kann er die politische Autonomie der Staaten in ihrem Miteinander schützen. Gleichzeitig weist Campanella darauf hin, dass der Papst auch die Herrscher vor den eigenen Landsleuten schützen kann, falls letztere sich auflehnen sollten. So schreibt der Dominikaner etwa vom französischen König, „es sei sicherer und nützlicher, vom Vikar Gottes abhängig zu sein als vom Parlament der Republik“ (Campanella 2002, S. 286). In diesem Zusammenhang betont er, dass der Papst nicht nur über den weltlichen Fürsten steht, sondern auch über dem geeinten Volk (ebenda, S. 350). Und damit auch dieses geeinte Volk den Papst als oberste Autorität aner27 Erinnern wir hier daran, dass die Spanier zur damaligen Zeit einen relativ großen Teil der italienischen Halbinsel unter ihrer Kontrolle hatten. Vgl. zur Polemik gegen die spanische Herrschaft in Italien in den Schriften von Campanellas Zeitgenossen Traiano Boccalini Saracino in diesem Band. 28 Wo diese auf Kosten anderer christlicher Fürsten geschieht.

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kennt, beteuert Campanella, dass der Papst es vor der Tyrannei der Fürsten schützen kann. Dem Papst kommt somit eine Schlüsselrolle im internationalen Kontext zu, denn er garantiert nicht nur die territoriale Integrität der katholischen Staaten, sondern darüberhinaus auch die legitime Machtausübung der katholischen Fürsten und die Freiheit der katholischen Völker. In den Aforismi politici führt Campanella noch einen weiteren Grund an, der die christlichen Fürsten dazu bringen soll, sich dem Papst auch in weltlichen Angelegenheiten zu unterwerfen. Der Papst, so die implizite Grundprämisse des Arguments, orientiert alle seine Entscheidungen und Handlungen an der Verbreitung des Ruhmes Gottes und an der Ausbreitung des Christentums. Für die Fürsten gilt diese Grundprämisse nicht, denn ihre Entscheidungen und Handlungen dienen oft nur den eigenen Interessen. Wenn die Fürsten sich nun aber entscheiden, sich in den Dienst des Papstes zu stellen, können sie ihre aus eigenen Interessen hervorgehende Expansionspolitik so darstellen, als geschehe diese bloß um der Ausbreitung der Religion willen (Campanella 1854a, S. 26). Der Papst legitimiert somit auf eine indirekte Weise die Verfolgung der weltlichen Interessen der weltlichen Fürsten.29 Aber er tut dies nur dann, wenn diese Interessen mit denen der katholischen Religion und der unter dieser Religion vereinheitlichten Menschheit übereinstimmen. In der Monarchia di Spagna meint Campanella etwa, dass die christlichen Fürsten erst dann das Recht haben werden, Konstantinopel wiederzuerobern, wenn sie ihre Streitereien beigelegt haben (Campanella 1997a, S. 60). Nur eine vereinigte Christenheit kann das Türkenreich besiegen, und nur eine unter dem Papst vereinte Christenheit darf das Türkenreich erobern. Ein zentrales, wenn nicht sogar das zentrale Element in Campanellas Modell einer katholischen Weltrepublik ist die Institution eines in Rom ansässigen Kollegiums der Christenheit – Campanella spricht auch von einem Senat. In diesem Kollegium sind alle christlichen Fürsten vertreten und an seiner Spitze steht der Papst – der aber nicht unbedingt an den Sitzungen teilnimmt (Campanella 1854b, S. 74). In diesem Kollegium werden alle Angelegenheiten diskutiert, welche die Christenheit als Gesamtheit betreffen, wozu etwa die Streitigkeiten zwischen christlichen Fürsten gehören, oder auch der Krieg gegen die Ungläubigen. Wichtig ist, dass jeder Fürst 29 In der Monarchia di Spagna heißt es: „[W]er die Sache des Papstes verteidigt, verteidigt die universelle Vernunft des Christentums, die vom Papst abhängt. Man hält ihn dementsprechend für einen gerechten und religiösen Menschen und alle folgen ihm“ (Campanella 1997a, S. 32). Und als Echo auf diese Stelle heißt es gegen Schluss des Buches: „[O]bwohl der spanische König einen bewaffneten Priester über sich stehen hat, ist letzterer ihm nützlich für sein Schicksal und für die Staatsräson“ (ebenda 1997a, S. 322). Aus der Perspektive der Staatsräson spielt es keine Rolle, ob man tatsächlich gerecht und religiös ist, sondern es genügt, als gerecht und religiös zu erscheinen. Und diesen Schein, so Campanella, kann man schon dadurch erlangen, dass man sich dem Papst unterwirft und in seinem Namen – statt im eigenen Namen – die Gebiete der Ungläubigen erobert. Und in demselben Werk lesen wir über den spanischen König: „Er muss auch behaupten, dass seine Staatsräson nicht nur auf den Waffen beruht […], sondern auch auf den unabwendbaren Auspizien des Christentums“ (ebenda 1997a, S. 60).

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dasselbe Gewicht hat, so dass bei Abstimmungen die Stimme Frankreichs nicht mehr zählt als die Stimme eines kleinen italienischen Fürstentums (Campanella 2002, S. 288). Hier profiliert sich der Gedanke einer Gleichheit aller Staaten, wie man ihn auch in der UNO kennen würde, gäbe es nicht das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats.30 Campanella hat erkannt, dass eine wirksame Zusammenarbeit der Staaten nur dann möglich ist, wenn sie sich als Gleiche anerkennen. Campanella sieht auch vor, dass dieses Kollegium über eine Zwangsmacht verfügt, so dass es seinen Mitgliedern die getroffenen Entscheidungen notfalls mit Waffengewalt aufzwingen kann. Was dieser letzte Punkt konkret bedeuten kann, geht aus einer Stelle der Monarchia di Spagna hervor, in welcher Campanella schreibt, dass es nötig ist, dass „der König ein Gesetz für die Christen erlässt, das befiehlt, dass, wenn jemals ein Volk die römische Religion verändert, alle anderen Fürsten dazu verpflichtet sind, es zu entvölkern und zu unterwerfen, und wenn sie es nicht tun, dann verlieren sie ihren Staat“ (Campanella 1997a, S. 96). Die Bewahrung des katholischen Glaubens in einem Staat ist somit eine Frage, die alle katholischen Staaten betrifft, und deshalb sollen sie alle explizit dazu verpflichtet werden, überall für diese Bewahrung einzutreten. Und damit diese Hilfspflicht kein leeres Wort bleibt, muss ihre Missachtung sanktioniert werden. Es sollte hier betont werden, dass die Erhaltung der katholischen Religion allen katholischen Fürsten durch ein Gesetz des – in diesem Fall: spanischen – Königs aufgezwungen wird und dass diese Pflicht somit keine frei von allen Fürsten eingegangene Selbstverpflichtung ist. Nichts schließt aber aus, dass der vorhin erwähnte Senat aller katholischen Fürsten das betreffende Gesetz erlässt. Bevor wir diesen Teil des Beitrags abschließen, soll noch kurz von den Mitteln gesprochen werden, über die der Papst verfügt, um sich zu behaupten und um seiner Rolle als Universalmonarch gerecht zu werden. In den Aforismi politici weist Campanella darauf hin, dass Moses sich sowohl der Zunge als auch des Schwertes bedient hat, um seine politisch-religiöse Macht über die Juden zu etablieren (Campanella 1854a, S. 22). Dieses alttestamentliche Beispiel hat für Campanella eine universelle Bedeutung: wer sich dauerhaft behaupten will, kann dies nicht tun, indem er sich nur auf die Waffen stützt, aber er kann es auch nicht tun, indem er sich nur auf die Religion stützt. Wenn dem so ist, dann genügt es nicht, dem Papst nur das spirituelle Schwert zu verleihen. Er muss auch das weltliche Schwert besitzen, und alle Päpste, die nicht auf eine bewaffnete Macht zurückgreifen konnten, wurden unter-

30 In der amerikanischen Verfassung ist die Gleichheit aller Bundestaaten im Senat verwirklicht, da dort jeder Bundesstaat, unabhängig von seiner Größe und seiner Einwohnerzahl, über zwei Vertreter verfügt.

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worfen (ebenda, S. 23).31 Ein derart bewaffneter Papst bildet auch eine Garantie dafür, dass die Fürsten nicht dem Irrglauben verfallen (ebenda, S. 26).32 Dabei ist aber nicht ganz klar, ob der Papst unmittelbar über ein gewaltiges Heer verfügen soll, oder ob es genügt, dass er ein solches Heer mobilisieren kann, indem er etwa an die katholischen Fürsten appelliert, ihm Truppen zur Verfügung zu stellen bzw. an seiner Stelle militärisch einzugreifen. In der Monarchia di Spagna nennt Campanella, neben den Waffen und der Religion, noch ein drittes Element, und zwar die guten Menschen: „[D]ie bewaffnete Religion, wenn gute Menschen sie predigen, findet keine Macht vor sich, die ihr Widerstand leisten könnte“ (Campanella 1997a, S. 192). Wer demnach über diese drei Elemente – Waffen, Religion, gute Menschen – verfügt, wird sich gegen jede irdische Macht durchsetzen können.33 Trägt man allen hier erwähnten Elementen Rechnung, so läuft Campanellas katholische Weltrepublik auf eine Art von Staatenföderation hinaus, die unter der Obhut des Papstes steht und innerhalb welcher alle Staaten gleichberechtigte Partner sind. Campanella plädiert nicht offen für eine Abschaffung der Territorialstaaten, auch wenn er an einigen Stellen der Monarchia di Spagna den Eindruck erweckt, als ob die Territorialstaaten letztendlich gänzlich verschwinden werden zugunsten einer Herrschaft der Heiligen: „Ich sage also, dass das Ende der Monarchien bereits gekommen ist, und dass alles dem Reich der Heiligen und der Kirche zuerteilt werden soll […]“ (Campanella 1997a, S. 24). In einer stark eschatologisch geprägten Passage der Monarchia di Spagna spricht Campanella davon, dass der spanische König mit Hilfe der Engel die Welt erobern wird, und dass er dann „alles den Händen der Heiligen übergeben wird“ (ebenda, S. 34). Danach wird es noch zu einem Kampf der vereinigten Menschen gegen Gog und Magog34 kommen, aus welchem die Christen siegreich hervorgehen werden. Und erst nach diesem Kampf wird Christus zum Letzten Gericht kommen. An diesem Endpunkt der Geschichte angelangt, wird es sicherlich keine Staaten mehr geben. Auch wenn der Anfangspunkt und der Endpunkt klar zu sein scheinen, ist dem nicht ganz so, was die Zwischenetappen betrifft. Der Anfangspunkt ist ein Zustand, in dem viele souveräne Staaten ihre eigenen Ziele verfolgen. Der Endpunkt ist ein Zustand, in dem es keine souveränen Staaten, ja sogar überhaupt keine Staaten mehr geben wird. Die Frage ist dann, wie man von dem einen Punkt zum anderen gelangt. Hier scheint Campanella zwei Möglichkeiten ins Auge zu fassen. Einerseits kommt ein Zustand in Frage, in welchem dem religiösen Monismus auch ein weltlicher Mo31 Dachte Campanella hier an Machiavellis unbewaffnete Propheten? 32 Siehe dazu auch Campanella 2001, S. 146ff. 33 In den Discorsi kommt noch ein zusätzliches Element hinzu: „[D]ie bewaffnete und reiche Religion, keine Macht kann sie besiegen“ (Campanella 1854b, S. 47). 34 In der Johannesoffenbarung stehen Gog und Magog stellvertretend für die nicht-christlichen Nationen, die Satan gegen die Heiligen führen wird und die im Endkampf besiegt werden.

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nismus entspricht: Ein Papst – ein Kaiser.35 Andererseits lässt sich aber ein Zustand denken, in welchem es einen Staatenpluralismus gibt, wobei aber immer noch der Papst die Oberherrschaft hat: Ein Papst – viele Könige, wovon eventuell einer über ein Weltreich herrschen wird.36 Diese letzte Option entspricht dem Szenario eines Senats aller katholischen weltlichen Herrscher, die als gleichberechtigt in diesem Senat sitzen.

3. Die spanische und die französische Monarchie In den meisten seiner Werke stellt Campanella die spanische Monarchie als jene Macht dar, die, unter der Kontrolle des Papstes, die Einheit der Menschheit faktisch wieder herzustellen hat. Ganz zu Ende seines Lebens aber, als er sich nach Frankreich abgesetzt hat, weicht er von dieser seiner ursprünglichen Position ab und ersetzt die spanische durch die französische Monarchie. In diesem Teil des Beitrags soll kurz auf diesen Gesinnungswandel Campanellas eingegangen werden. Das wohl stärkste Plädoyer für Spanien findet sich, wie nicht anders zu erwarten, in der Monarchia di Spagna. Gleich zu Beginn des Werkes wird Spanien als Endpunkt einer gottgelenkten geschichtlichen Entwicklung gesehen, durch welche die Universalmonarchie sich im Laufe der Jahrhunderte von Osten nach Westen, bis eben nach Spanien, dem äußersten Westen des europäischen Kontinents, verlagerte (Campanella 1997a, S. 2). Wenn Spanien aber seiner weltgeschichtlichen Rolle gerecht werden will, dann darf es sich nicht der machiavellistischen – sprich: atheistischen – Staatsräson bedienen, sondern es muss sich in den Dienst des göttlichen Willens stellen, was u.a. bedeutet, dass die spanische Monarchie sich dem Heiligen Stuhl unterwerfen muss (ebenda, S. 24). Der spanische König muss sich als unter der „vollständigen Abhängigkeit vom Papst“ stehend ansehen (ebenda, S. 50). Spanien soll seine Eroberungspolitik nicht in eigener Regie durchführen, sondern unter der Obhut des Papstes (ebenda, S. 54). Zu Beginn der Monarchia di Francia fasst Campanella die Gründe zusammen, die ihn beim Verfassen der Monarchia di Spagna dazu bewogen hatten, den Spaniern die Aufgabe zuzuschreiben, eine Universalmonarchie zu etablieren. Diese Gründe sind: (1) weil die spanischen Könige katholische Könige sind37, (2) weil die spanischen Könige von Tubal, einem Sohn Japhets, abstammen, dem die Monarchie versprochen worden war, (3 + 4) weil Cyrus das Weltreich versprochen wurde und die Spanier ein Reich besitzen, auf dem die Sonne nicht untergeht, so dass dank 35 Dieser Kaiser untersteht aber dem Papst. 36 Dieses Weltreich umfasst aber nicht die katholischen Fürstentümer. 37 Die ersten reyes catholicos waren Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragòn. Der Titel wurde ihnen 1494 vom Papst Alexander VI. gewährt.

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ihrer auf der ganzen Welt die Messe gehalten wird, (5) weil die Spanier sich anpassen können und gehorchen, (6) weil Spanien am Ende der Alten Welt liegt, aber gleichzeitig der Neuen Welt zugewandt ist, und somit ein Verbindungsglied bildet, (7) weil die Universalmonarchie mit der Sonne von Osten nach Westen geht, und jetzt bei den Spaniern angelangt ist, (8) weil die Spanier alles erobert haben, was noch zu erobern war und sie ihr Reich wesentlich schneller gegründet haben als die Römer, (9) weil Gott bei jeder Reichsgründung neue Waffen entstehen lässt und die Spanier die Arkebusen, die damals neu waren, haben, und (10) weil die Sterne der spanischen Monarchie günstig stehen und sie als neue Universalmonarchie ankündigen (Campanella 1997b, S. 382-386). Hinter dieser bunten Vielfalt von Gründen profiliert sich aber ein zentraler, sie alle vereinigender Grund: Gott hat Spanien dazu bestimmt, die Universalmonarchie und damit die Einheit der gesamten Menschheit wieder de facto herzustellen. Dass Gott die Spanier dazu bestimmt hat, bedeutet allerdings noch nicht, dass die Spanier sich auch ihrer Aufgabe würdig zeigen werden. Auch wenn er einen großen Wert auf die Astrologie legt, geht Campanella doch davon aus, dass die Menschen frei sind und sich frei entscheiden können. Mehr als einmal kritisiert er in dieser Hinsicht die Kalvinisten. So etwa an folgender Stelle der Monarchia di Spagna: „Die Kalvinisten sagen nämlich, dass der Mensch sündigt und das Gute tut, durch göttliches Schicksal gezwungen, was sich aber mit keiner Politik vereinbaren lässt […]: die Politik will, dass die Freiheit Gutes und Böses zu tun in uns liegt, damit wir die Gesetze beachten oder missachten, und die Belohnung oder Bestrafung erhalten können […]“ (Campanella 1997a, S. 266). Gleich im Vorwort der Monarchia di Spagna hatte Campanella angekündigt, er spreche „nicht als Naturkundler, nicht als Theologe, sondern als Politiker“ (ebenda, S. 2).38 Es geht ihm also nicht darum, naturwissenschaftliche oder theologische Wahrheiten zu verteidigen, sondern Behauptungen, die für politische Zwecke relevant sind. Die Frage ist also nicht, ob der Mensch tatsächlich frei ist oder nicht, sondern wie man sich den Menschen zu denken hat, wenn man die Welt umgestalten bzw. etwas in ihr bewirken will. Bestimmte für den Bereich der Politik relevante Praktiken sind nur dann möglich oder sinnvoll denkbar, wenn der Mensch als ein freies Wesen gedacht wird. Die theologische Wahrheit eines Gedankens wird hier zwischen Klammern gesetzt und es wird lediglich oder doch zumindest hauptsächlich seine politische Nützlichkeit betrachtet. In De politica schreibt Campanella: „Die lutheranischen und kalvinistischen Sekten, die die menschliche Freiheit, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden, leugnen, dürfen auf keinen Fall in einem Staat geduldet werden, vor allem wenn es sich um einen freien Staat handelt“ (Campanella 2001, S. 138).

38 „[N]on da fisico né da teologo parlando, ma da politico“.

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Auch wenn die Spanier in den meisten Schriften Campanellas als Vollstrecker des göttlichen Willens betrachtet werden, so darf dies doch nicht so verstanden werden, dass sie willenlose Instrumente in den Händen Gottes sind, so dass sie weder gelobt noch getadelt werden können bzw. ihnen die Rolle als Vollstrecker des göttlichen Willens wegen ihrer eigenen Unzulänglichkeiten abgesprochen werden kann. Prinzipiell kann jede katholische Nation sich zur Vollstreckerin des göttlichen Willens erheben, und wenn es einer Nation schlecht ergeht, dann liegt dies nicht an einem unabänderlichen Schicksal, sondern, so Campanella in De politica, alles geht schlecht wegen der Sünden (Campanella 2001, S. 158). In der Monarchia di Francia stellt Campanella fest, dass die Spanier ihre göttliche Aufgabe nicht mehr erfüllen (Campanella 1997b, S. 470). Die Spanier, so der Dominikaner, „sind allen Nationen verhasst wegen ihrer Grausamkeit und ihrer übertriebenen Arroganz, und weil sie sich nicht mit anderen verbinden können, ohne ihnen Leid zuzufügen“ (ebenda, S. 394).39 Und von den Spaniern heißt es weiter, dass sie „nicht den Reichtum horten können, noch hispanisieren40, noch die verschiedenen Nationen mit unterschiedlichen Gesetzen regieren41, aber alle auf dieselbe Weise“ (ebenda, S. 458). Hinzu kommt, dass auch die Sterne den Spaniern nicht mehr günstig sind (ebenda, S. 398), so dass ihr Untergang sich abzeichnet und es an der Zeit ist, sich nach einer anderen Nation umzusehen, die die Aufgabe übernehmen kann, eine Universalmonarchie zu errichten. Campanella zählt insgesamt zwölf Symptome auf, die auf einen baldigen Untergang Spaniens schließen lassen. Dazu gehört etwa die Tatsache, dass Spanien nicht in der Lage ist, sich aus eigenen Kräften aufrecht zu erhalten, sondern auf die Hilfe anderer angewiesen ist (Campanella 1997b, S. 420-422). Spanien ist aber auch dem Untergang geweiht, „weil in ihnen [scil. den Spaniern] die Religion vorgetäuscht ist, und nicht wirklich; und wenn ein Gebäude auf der Täuschung beruht, dann bricht es zusammen“ (ebenda, S. 426). Der Untergang Spaniens kommt somit nicht wie ein unverdienter Schicksalsschlag, für den die Spanier nicht die geringste Verantwortung tragen, sondern die Schuld liegt auch bei den Spaniern selbst.

39 Schon in der Monarchia di Spagna hatte Campanella sich von der Art und Weise distanziert, wie die Spanier die Neue Welt eroberten (Campanella 1997a, S. 344). 40 Campanella schreibt: „spagnolizare“. In der Monarchia di Spagna hatte Campanella vom spanischen König geschrieben: „[Er] muss alle Nationen hispanisieren, d.h. sie spanisch machen und sie an der Regierung und am Heer teilnehmen lassen“ (Campanella 1997a, S. 108). Und am Schluss desselben Werkes schreibt er: „Man muss diejenigen unter ihren Königen nach Spanien transferieren, die bekehrt wurden, und man muss aus ihnen Barone machen, um dem Reich Glanz zu geben und jenen Völkern eine Neigung für unser Land“ (ebenda, S. 348). Genauso wie die Römer, als sie ihr Weltreich errichteten, die eroberten Völker romanisierten, sollen die Spanier die von ihnen eroberten Völker hispanisieren. 41 Campanella meint, wie nach ihm Montesquieu, dass man die Gesetze dem Klima und den Sitten anpassen muss (Campanella 1997a, S. 104).

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Spanien wird aber nicht von selbst zusammenbrechen, sondern es muss gestürzt werden. Von allen bestehenden Königreichen kann nur das französische das spanische Reich stürzen. Oder um den Titel des VIII. Kapitels zu zitieren: „Es gibt keinen Fürsten, sei er ungläubig oder gläubig, der den kurz bevorstehenden Ruin der hispanisierten österreichischen Monarchie herbeiführen kann, es sei denn der Papst und der König von Frankreich, de possibili, aber de facto der König von Frankreich (ebenda, S. 480). Wenn der Papst nicht de facto in der Lage ist, den Untergang Spaniens herbeizuführen, dann liegt das daran, dass „die Päpste so töricht waren, Spanien und Frankreich das Recht zu geben, selbst Bischöfe und kirchliche Benefizien zu verleihen“ (ebenda, S. 484). Mit anderen Worten, der Klerus dieser beiden Länder steht nicht auf der Seite des Papstes, sondern auf derjenigen des jeweiligen Königs. Würde der Papst sich unter diesen Umständen gegen Spanien wenden, dann würde der spanische Klerus sich gegen ihn auflehnen und der Papst hätte es nicht nur mit einem politischen, sondern auch mit einem religiösen Widerstand zu tun: „Aber in jeder Nation hat die Religion immer über die Politik geherrscht, mag die Religion wahr oder falsch sein […]“ (ebenda, S. 484). Wenn die Bischöfe das Volk dazu aufrufen, sich aus religiösen Gründen dem Papst zu widersetzen, dann wird der Papst keine Chance haben zu siegen. Anders wenn der gesamte Klerus hinter dem Papst steht: „Aber es ist sicher, dass, wenn die Bischöfe der gesamten Welt und alle Kardinäle sich einig wären, dann könnte der Papst irgendetwas gegen irgendwelche großen Monarchen unternehmen (ebenda, S. 484). Weil der Papst aber die spanischen Bischöfe und Kardinäle nicht auf seiner Seite hat, kann er de facto nicht der Arm sein, der das spanische Reich stürzt. De facto kommt nur Frankreich in Frage, weil es eine ganze Reihe von notwendigen Bedingungen, etwa militärischer Natur, erfüllt. Diese Bedingungen erfüllte Frankreich nicht in der Vergangenheit, so dass Campanella schreiben kann: „Aber was Campanella 1598 sagte, als er schrieb, ist nicht mehr wahr im Jahr 1620“ (ebenda, S. 492). Hiermit will Campanella zum Ausdruck bringen, dass sein Gesinnungswandel objektiv begründet ist bzw. dass er sich Spanien ab- und Frankreich zugewendet hat, weil die objektive Situation sich verändert hat. Gab Frankreich 1598 noch den Eindruck eines gespaltenen Landes, so haben Ludwig XIII. und der Kardinal Richelieu an der Einheit des Landes gearbeitet. 1598 war Frankreich nicht in der Lage, in die Rolle einer Universalmonarchie zu schlüpfen42, in den 20er Jahren des XVII. Jahrhunderts ist es in der Lage, dies zu tun, und weil Spanien seiner Aufgabe nicht mehr gerecht wird und sonst niemand die Rolle von Spanien übernehmen kann, obliegt es dem französischen König, Spanien den Todesstoß zu versetzen. Und genauso wie 42 In der Monarchia di Spagna hieß es, sowohl das Schicksal als auch Gott und die Gelegenheit hätten Frankreich von der Universalmonarchie ausgeschlossen, da die Natur der Franzosen derart sei, dass sie nicht in der Lage sind, ein erobertes Gebiet zu bewahren (Campanella 1997a, S. 249).

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Campanella in der Monarchia di Spagna dem spanischen König Ratschläge gab, um den französischen König zu besiegen (Campanella 1997a, S. 256f.), zeigt er in der Monarchia di Francia dem französischen König, wie er es sich angelegen sein soll, um Spanien die Universalmonarchie abzunehmen (Campanella 1997b, S. 494f.). Für Campanella steht allerdings fest, dass Frankreich seinen legitimen Titel auf die Universalmonarchie nur solange behalten wird, wie es sich dem Papst unterwirft und die weltliche Universalmonarchie nur anstrebt, um die Bedingung der Möglichkeit einer unter dem Katholizismus vereinheitlichten Menschheit herzustellen. Ob Spanien, Frankreich oder ein sonstiges Königreich, die weltliche Universalmonarchie darf niemals zum Selbstzweck werden. Oder anders formuliert: die Universalmonarchie dieses oder jenes weltlichen Königs muss immer vor der Universalmonarchie des Messias zurücktreten, deren irdischer Vertreter der Papst ist.

4. Die Staatsräson Wie schon in der Einführung bemerkt wurde, lebte Campanella zu einer Zeit, als in West- und Südwesteuropa die Debatte um die Staatsräson Hochkonjunktur feierte. Prinzipiell ging es darum zu wissen, ob sich die Politik von bestimmten religiös-moralischen Normen emanzipieren durfte, wobei das Lügen- oder Täuschungsverbot einen wichtigen Platz einnahm. Ein wichtiger Begriff in dieser Debatte war derjenige der prudentia. In einer zum Teil kontingenten Welt, in welcher das moralische Handeln nicht immer zum Erfolg führte, und zwar selbst dann nicht, wenn man durchaus moralisch legitime Zwecke verfolgte, konnte ein starres Festhalten an allgemeinen Normen negative Konsequenzen mit sich bringen. Es war demnach wichtig über eine Tugend zu verfügen, die es einem erlaubte, in einer bestimmten Situation die angemessene Entscheidung zu treffen, wobei diese Entscheidung nicht einfach aus einer allgemeinen Norm abgeleitet wurde, sondern aus der Konfrontation des Handelnden mit der Wirklichkeit der Welt gewonnen werden musste. Diese Tugend war die prudentia. Allerdings kam es im XVI. und XVII. Jahrhundert ganz schnell zu einer Debatte darüber, wie weit diese prudentia sich von den religiösen und moralischen Normen entfernen, d.h. wie weit man der von der Wirklichkeit vorgegebenen Notwendigkeit folgen durfte. Denn auch wenn man einerseits als politisch Handelnder kein Heiliger sein konnte, so stand doch andererseits für viele damaligen Denker fest, dass es nicht erlaubt war, zum Teufel zu werden – zu jenem Mac Evil, den der Engländer Reginald Pole in Machiavelli sah. In seinem Atheismus triumphatus setzt sich Campanella u.a. mit den Thesen Machiavellis auseinander und er verurteilt sie aufs Heftigste. Diese Kritik an Machiavelli findet man auch in anderen Schriften Campanellas wieder. Dabei geht es Cam-

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panella aber nicht darum, die prudentia als solche zu verurteilen, sondern sein Ziel ist es vielmehr, die prudentia vor ihrer Vermischung mit der astuzia zu bewahren, denn was Machiavelli lehrt, ist, Campanella zu Folge, nicht die Kunst, sein Handeln der Wirklichkeit anzupassen, sondern die Kunst, andere Menschen zu täuschen, um seine eigenen Interessen durchzusetzen. Eine relativ systematische Gegenüberstellung der beiden Fertigkeiten findet man etwa in der Monarchia di Spagna. Auch wenn Campanella dort festhält, dass die prudentia die Gelegenheit nicht entweichen lassen sollte, so präzisiert er doch, dass sie sich immer Gott zu unterwerfen hat. Während im Fall der astuzia der Handelnde bloß seinen Launen folgt, beugt er sich im Fall der prudentia dem göttlichen Willen (Campanella 1997a, S. 38). Die astuzia wird dabei mit der Staatsräson gleichgesetzt, und die Staatsräson wird ihrerseits auf die Partikularinteressen des Herrschers reduziert. Das Hauptunterscheidungskriterium liegt somit nicht primär auf der Ebene der verwendeten Mittel, sondern auf derjenigen der Handlungsmotive und derjenigen der Handlungszwecke. Insofern kann man behaupten, dass für Campanella der Zweck die Mittel heiligt, und wenn er die Staatsräson verurteilt, dann nicht, weil diese die Mittel durch die Zwecke heiligt, sondern weil sie die falschen Zwecke verfolgt, also Zwecke, die die gebrauchten Mittel gar nicht heiligen können. Dies sieht man etwa in der Tatsache, dass Campanella die Täuschung keineswegs schon als solche verurteilt. Wenn die Täuschung gebraucht wird, um dem Volk zu schaden, dann ist sie verurteilenswert. Wenn sie aber gebraucht wird, um Gutes zu bewirken, dann ist sie durchaus zulässig (Campanella 1997a, S. 40). In den Aforismi politici heißt es, dass die prudentia „die Völker mittels einer Täuschung täuscht, die ihnen nützlich ist, und die, wird sie entdeckt, umso mehr geschätzt wird“, wohingegen die astuzia eine Täuschung produziert, „die nur sich selbst nützlich ist, und die, wird sie entdeckt, umso hassenswerter ist“ (Campanella 1854a, S. 28). Wer auf die astuzia zurückgreift, ist entweder ein Wolf, d.h. ein Tyrann – er ernährt und schützt die Herde, aber nur, um die fettesten Schafe anschließend zu verschlingen – oder ein Söldner – er tötet zwar niemanden, aber er sucht nur seinen eigenen Vorteil und nimmt keine Schutzfunktion wahr (Campanella 1997a, S. 86). Diesen beiden negativen Gestalten setzt Campanella den guten Hirten entgegen, dem es nur um das Wohl der eigenen Herde geht. Das Wohl des eigenen Volkes muss der Fürst u.a. deshalb wollen, weil Gott das Wohl aller Menschen will. Dieser Gedanke des Allgemeinwohls ist, so könnte man sagen, der Artikulationspunkt, der Punkt, an dem der gottgewollte Ablauf der Geschichte und die menschliche Wirkungsmächtigkeit aufeinandertreffen. Der Mensch hat die Möglichkeit, an dem göttlichen Heilsplan teilzunehmen, was voraussetzt, dass er an ihn glaubt. Und dieser Glaube wird ihm durch die Religion vermittelt. Wenn dem so ist, kann die prudentia sich nicht von der Religion emanzipieren. Es ist aber gerade eine solche Emanzipation, die man bei Machiavelli wiederfindet, und

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die ein Handeln zum Scheitern verurteilt, das sich nach ihm richten würde: „Machiavelli bedient sich nicht der prudentia, um die Dinge des Schicksals zu verstehen, sondern der astuzia, um die besonderen Dinge zu verstehen; und die Macht der Religion, die versteht er nicht“ (Campanella 1997b, S. 486). Machiavelli sieht also davon ab, das menschliche Handeln in ein größeres Ganzes zu integrieren, vor dessen Hintergrund es allein seine Legitimität beziehen kann. Verdeutlichen wir dies am Beispiel des Umgangs der politischen Autoritäten mit Martin Luther. Luther wurde sicheres Geleit bis zum Kaiser Karl V. versprochen. Machiavelli hätte sicherlich gesagt, dass man dieses Versprechen durchaus hätte missachten können. Und diese Missachtung hätte er mit der Bewahrung der weltlichen Interessen des Kaisers begründet.43 Machiavelli interessiert sich nicht für die rein religiöse Dimension der Problematik. Diese bildet aber den impliziten Hintergrund von Campanellas Haltung. Hier seine Position zur Frage, wie der Kaiser mit Luther hätte umgehen sollen: „Ich sage also, dass man das Versprechen hätte halten sollen, das man ihm auf der Diät gegeben hatte; dass man ihn aber danach hätte zerstören sollen, noch bevor er in seine Heimat zurückgekehrt war“ (Campanella 1997a, S. 282). Für Campanella steht also fest, dass man jemanden wie Luther hätte töten sollen. Allerdings scheint er dem Versprechen Luther gegenüber doch noch einen gewissen Wert zuzuerkennen, denn er räumt ein, dass man ihn nicht vor seinem Auftritt vor dem Kaiser hätte hinrichten sollen. Und was den legitimen Grund für die Hinrichtung Luthers betrifft, so ist dieser bei Campanella nicht das weltliche Interesse dieses oder jenes Fürsten oder ein weltliches Interesse überhaupt, sondern die Integrität der Christenheit, also jener Einheit, ohne die es keine Rückkehr zum Goldenen Zeitalter geben kann. Luther bildet eine Gefahr für die Einheit der Christenheit, und da diese Einheit notwendig ist, um die Türken zu besiegen und um jenen Zustand wieder in Erscheinung treten zu lassen, den Gott gewollt hat, muss Luther verschwinden. In den Augen Campanellas sind die politischen Entscheidungen immer dann legitim, wenn sie das Interesse der Religion fördern. Allerdings weist er auch darauf hin, dass die Religion der Politik keine unnötigen und unvernünftigen Hindernisse in den Weg stellen darf, wie etwa das Verbot, am Sonntag zu kämpfen (Campanella 1854a, S. 25). Er spricht in diesem Zusammenhang von einer natürlichen Politik, mit welcher die Religion übereinstimmen muss. In der Monarchia di Spagna hält er fest, dass die Politik eine Wissenschaft ist, die Gott den Menschen gegeben hat, und der sich die Menschen bedienen, um jene Mittel auszumachen, durch die sie zusammengehalten werden können (Campanella 1997a, S. 216). Insofern Gott die Einheit des Menschengeschlechts will, muss auch die von Gott gegebene Politik diese Einheit 43 „Mantenere lo stato“ ist eine Formel, die Machiavelli in diesem Zusammenhang oft gebraucht. Man sollte sie allerdings nicht mit „Erhalten des Staates“ übersetzen, sondern eher mit „Erhalten des gegebenen Zustandes“.

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anstreben, und damit muss auch die im Dienste der Politik stehende prudentia auf die Wiederherstellung der Einheit gerichtet sein. Die Abhängigkeit der prudentia von der Religion zeigt sich in der Behauptung, dass erstere nicht in der Lage ist, von sich aus zu bestimmen, was an sich gut oder böse ist (Campanella 1854a, S. 24). Um dies zu bestimmen, ist man auf die Religion angewiesen, da Gott die letzte Instanz in solchen Fragen bildet. Und wie wir vorhin gesehen haben, hat Campanella ein voluntaristisches Gottesbild, so dass bei ihm Gott souverän darüber entscheiden kann, was gut und was böse ist. Falls ein normatives Kriterium Gott bindet, dann höchstens dieses: „Gut ist, was die Verbreitung der einzig wahren Religion fördert. Böse ist, was die Verbreitung der einzig wahren Religion hindert“. Die religiöse Einheit der Menschheit unter der Herrschaft des Papstes ist der letzte Zweck der Schöpfung – zumindest bis zum Eintreten des Letzten Gerichts. Alles was diese Einheit begünstigt, ist legitim, und alles was ihr im Wege steht, ist illegitim. Wenn Campanella sich gegen Machiavelli wendet, dann tut er dies, wie schon angedeutet, weil der Florentiner sich hinsichtlich des politischen Legitimitätskriteriums geirrt hat. Da wo Machiavelli von „mantenere lo stato“ spricht, würde Campanella ein „ristabilire l’unità“ setzen, wobei diese Einheit in erster Linie eine religiöse ist, aber zugleich auch eine politische, und letztere ist ein Mittel, um erstere herzustellen und auch zu bewahren. Insofern wird man sich nicht wundern, bei Campanella Stellen zu finden, in denen er den Fürsten Ratschläge gibt, die sich oberflächlich kaum von denjenigen unterscheiden, die Machiavelli im Principe anführt, so dass der frühneuzeitliche deutsche Jurist Hermann Conring durchaus Recht hatte als er behauptete, Campanella kritisiere zwar aufs Schärfste den Florentiner, sei aber zugleich ein schlauer Meister in puncto machiavellistische Maximen.44 So sagt etwa Campanella, dass, wer ein neues Königreich erobert, die dort herrschende Familie ausrotten muss (Campanella 1854a, S. 29). In der Monarchia di Spagna rechtfertigt Campanella die gezwungene Aussiedlung (Campanella 1997a, S. 154) und den Frauenraub mit anschließender Zwangsheirat (ebenda, S. 136). Gleichzeitig behauptet er aber auch, dass es moralisch nicht zulässig ist, den Feind dadurch zu ermüden, dass man ihm zuerst wertlose Soldaten entgegenschickt, die massakriert werden, um dann erst die Elitetruppen einzusetzen, für die es einfacher sein wird, den schon ermüdeten Feind zu besiegen (ebenda, S. 148). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Campanella zwar einerseits die Staatsräson in ihrer rein weltlichen Dimension verurteilt, dass er andererseits aber nicht vor der Befürwortung bestimmter Mitteln zurückschreckt, derer sich die weltliche Staatsräson bedient. Und auch was die Verurteilung der weltlichen Staatsräson be-

44 Zitiert in der Einleitung zu Campanella 1997a, S. xxii.

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trifft, gilt es zu nuancieren. Campanella verbietet es den Fürsten nicht, ihrem durch die weltliche Staatsräson gerechtfertigten Eroberungsdrang nachzugeben. Er verlangt nur, dass sie diese rein weltliche Staatsräson in eine ihr übergeordnete „Gottesräson“ integrieren. Dies gelingt ihnen aber nur dann, wenn sie sich dem Papst unterwerfen und wenn sie den Papst darüber bestimmen lassen, welche Gebiete sie erobern dürfen. Die päpstliche Erlaubnis heiligt sozusagen die weltliche Staatsräson und sorgt dafür, dass sie als eine gerechte und religiöse erscheint – auch wenn es den erobernden Fürsten letztendlich nur darum geht, ihre rein weltlichen Interessen zu fördern. Auf diese Weise entsteht, wie man heute sagen würde, eine „win-win“ Situation. Mit anderen Worten: dadurch dass die weltlichen Fürsten sich dem Papst unterwerfen, verlieren sie nichts auf weltlicher Ebene, sondern sie gewinnen. Campanella begnügt sich somit nicht mit der Behauptung, es sei die Pflicht der weltlichen Herrscher, sich dem Papst auch in weltlichen Dingen zu unterwerfen, sondern er zeigt diesen Herrschern auch, dass eine solche Unterwerfung, wie paradox es auch immer klingen mag, ebenfalls in ihrem Interesse liegt.

Schlussfolgerung Campanella ist davon überzeugt, dass die Menschheit eine Einheit bildet und dass es möglich ist, den Zustand der real-existierenden Fragmentierung zu überwinden und dadurch zu einem Goldenen Zeitalter zurückzukehren. Und diese Rückkehr ist nicht nur möglich, sondern sie ist auch gottgewollt. Die Staatenvielfalt ist kein Werk Gottes, sondern Teufelswerk. Allerdings bedarf es der Staaten, um die Einheit wieder herzustellen. Und um noch etwas genauer zu sein: die den weltlichen Interessen der Staaten entstammende Eroberungspolitik ist ein Instrument, mittels dessen sich die Einheit der Menschheit wieder herstellen lässt, so dass man sagen kann, dass diese Eroberungspolitik, die auf den ersten Blick der jeweiligen Staatsräson dient, letztendlich Gott und der Verwirklichung der Monarchie des Messias dient. Auch wenn einzelne Staaten – zunächst Spanien, dann Frankreich – als Agenten einer Universalmonarchie dargestellt werden, so sind sie doch immer nur Instrumente, und die Universalmonarchie, mag sie auch mit ihren jeweiligen kurzfristigen Nationalinteressen übereinstimmen, läuft doch letztendlich auf ein Verschwinden der absolut souveränen Nationalstaaten hinaus. Insofern Campanella davon ausgeht, dass es einen Gott gibt und dass dieser Gott die Einheit der Menschen will, ist für ihn der Papst – als irdischer Vertreter der einzig wahren Religion – jene Instanz, die die Entstehung der Universalmonarchie zu koordinieren hat. Der Papst muss zunächst mit den Nationalinteressen und so auch mit der Staatsräson der einzelnen Staaten leben, da er sich sonst die Unterstützung der Staaten bei der Verwirklichung des gottgewollten Projektes verspielen würde. In

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diesem Kontext geht es Campanella darum zu zeigen, dass es im eigenen Interesse der Staaten ist, sich dem Papst auch in weltlichen Angelegenheiten zu unterwerfen. Der päpstliche Segen kann nämlich die Eroberungspolitik der Staaten legitimieren. Aber der Papst kann auch die katholischen Staaten voreinander schützen. Sieht man einmal ganz von dem religiösen Hintergrund der Theorie Campanellas ab, so lassen sich bei ihm einige Gedanken zurückbehalten, die auch heute noch diskussionswürdig sind. So etwa die Idee eines Gremiums, in dem sich alle Staaten zusammentun und wo ihre Konflikte auf eine friedliche Art und Weise beigelegt werden können. Campanella hat sich nicht detailliert mit dem Funktionieren dieses Gremiums befasst, aber er hat doch einen wichtigen Aspekt erwähnt, nämlich die Gleichheit aller Staaten. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Zwangsgewalt, die dieses Gremium gegen seine Mitglieder ausüben darf, falls diese sich nicht an die gemeinsam oder zumindest mehrheitlich getroffenen Entscheidungen halten sollten. Campanella liefert hier, wenn auch noch ganz in embryonaler Form, den Plan für eine föderalistische Struktur der Menschheit. Die Einzelstaaten werden nicht abgeschafft, aber sie geben doch einen relativ großen Teil ihrer nationalen Souveränität auf. Bei Campanella tun sie dies, damit ein ihnen übergeordnetes Interesse verwirklicht werden kann. Das bei Campanella in religiösen Termini konzipierte übergeordnete Interesse lässt sich durchaus umformulieren bzw. lässt sich der Gedanke eines Goldenen Zeitalters auch ohne den religiösen Rahmen konzipieren. Was die Aktualität Campanellas ausmacht, ist der Gedanke, dass man hinter oder jenseits der Staatenwelt immer und sogar prioritär die Einheit der Menschheit sehen sollte, und dass die Staaten letztendlich nicht als Selbstzweck existieren, sondern als Instrumente im Dienste dieser einheitlichen Menschheit. Sieht man sich heute die Lage all jener Menschen an, die vor Kriegen, Hungersnöten, Klimakatastrophen usw. fliehen müssen, wird man sich gewahr, wie wichtig es ist, die Menschheit als Einheit zu denken. Allerdings gilt es Abschied zu nehmen von den imperialistischen Tönen Campanellas. Waren es für ihn zunächst Spanien und dann Frankreich, die die treibende Kraft hinter der Entstehung einer Universalmonarchie sein sollten, so erheben heute die Vereinigten Staaten von Amerika den Anspruch auf eine Führungsrolle, wobei dies meistens im Namen des Schutzes der Menschenrechte geschieht. Diese neue imperiale Macht erkennt aber keine Autorität mehr über sich an. War die Autorität des Papstes auch schon zu Campanellas Zeit abgeschwächt, so ist sie heute noch weitaus schwächer, und es ist kaum daran zu denken, dass sich die Vereinigten Staaten an die gegebenenfalls durch Rom – oder durch eine andere Instanz – gesetzten Grenzen halten werden.

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Stefano Saracino Als man anfing, über den Staat zu lachen: Das Staatsdenken Traiano Boccalinis

Boccalini kam 1556, also knapp 30 Jahre nach dem Tod Machiavellis (1527), in Loreto zur Welt. Er starb am 29. November 1613 in Venedig, also genau 100 Jahre nachdem Il Principe das Licht der Welt erblickt hatte. In dieser Zeitspanne hatten die Staaten in Italien (und auch außerhalb) realhistorisch einen erheblichen Entwicklungsschub vollzogen. Der Staat prägte nun stärker die Realität der Menschen als noch zur Zeit Machiavellis, auch wenn es noch dauern sollte, bis die Organisation und Konzentration von Staatsgewalt Züge annehmen sollte, die dem heutigen Staat ähneln.1Laut den Boccalini zeitgenössischen politischen Schriftstellern waren der Staat („stato“) und die Staatsräson („ragion di stato“) in ihrer Zeit in aller Munde.2 Im politischen Wortschatz der Zeit begegnet der Neologismus „statista“ als Synonym für den in Staatsangelegenheiten erfahrenen und erfolgreichen politischen Praktiker.3 Man fing aber auch an, über den Staat zu lachen und über ihn und die Mentalität seines Personals (Fürsten, Fürstenberater, Sekretäre, Minister) Witze zu machen, was wohl viel über seinen realhistorischen Entwicklungsstand und über seine Wahrnehmung als zugleich abstrakte und personalisierte Handlungsinstanz aussagt. Das eindrucksvollste zeitgenössische Dokument, das das Auftauchen des Staates im Humor der Menschen für Italien belegt, ist Boccalinis politische Satire Ragguagli di Parnaso (in zwei Bänden erstmals 1612 und 1613 gedruckt), die im 17. Jahrhundert ein Bestseller war. Für die Untersuchung des umschriebenen Phänomens sind die er1 Zum benannten Entwicklungsschub v.a. in der zweiten Hälfte des 16. Jh. für das Herzogtum Toskana Fasano Guarini 1973, für Venedig Bouwsma 1960 und Landwehr 2007, für den Kirchenstaat die Beiträge in Reinhard 2004; vgl. allgemein Saracino/Knoll 2013. Zur Genese und zum Wachstum der Staatsgewalt in der Frühen Neuzeit grundlegend Reinhard 1992 und 1999. 2 Botero notiert in seiner Schrift Della Ragion di Stato von 1589, dass sich die Gespräche an den Herrscherhöfen („nelle corti di Re, e di Principi“) um nichts anderes drehen, als um den Staat und seine Räson: „mi ha recato somma meraviglia il sentire tutto il dì mentovare Ragione di Stato“ (Botero 1948, S. 51). Laut Zuccolo, der ebenfalls einen Traktat über die Staatsräson (Della Ragion di Stato, 1621) verfasste, seien es nicht bloß Fürstenberater und Gelehrte, die sich über die Staatsräson ausließen, sondern auch die Barbiere und Handwerker: „E quindi nasce che non pure i consiglieri nelle corti e i dottori nelle scuole, ma i barbieri eziandio e gli altri più vili artefici nelle boteghe e nei ritrovi loro discorrono e questionano della ragione di Stato“ (Zuccolo 1930, S. 25). 3 Beispiele für eine solche Verwendung von „statista“ bei Boccalini, s. Boccalini 1910, S. 169, 304 = Ragg. I/47 und I/84; sowie in Boccalini 1678, S. 99 und 105 = Bil. Pol. I. Valeriano Castiglione gab seiner Staats- und politischen Handlungslehre den Titel Statista regnante (Torino 1628).

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heiternden Inhalte von Boccalinis Satire ebenso signifikant wie ihr rezeptionsgeschichtlicher Erfolg. Boccalinis Beitrag zum Staatsdenken beschränkt sich jedoch nicht darauf, die Staatskomik begründet zu haben. Gerade aufgrund der enormen Beliebtheit, derer sich seine Satiren erfreuten, wurden über sein Werk des Weiteren mit dem Staat verbundene Ideen und Wahrnehmungsmuster durch ganz Europa und durch verschiedene gesellschaftliche Schichten gestreut.4 Boccalinis Machiavellirezeption, sein Tacitismus und seine Haltung zur Staatsräson, dem zentralen politischen Begriff (ja Modebegriff) seiner Zeit, sollen deshalb im Folgenden ebenfalls anhand seiner Ragguagli di Parnaso, aber auch seines unvollendet und unveröffentlicht gebliebenen Tacitus-Kommentars (Osservazioni a Cornelio Tacito) behandelt werden. Boccalini kannte die Politik und die staatliche Organisation aus der Praxis. Der gelernte Jurist Boccalini versah bis 1612 unter den Pontifikaten Clemens VIII. und Pauls V. im Kirchenstaat verschiedene Ämter als Lokalgouverneur (etwa in Trevi, Tolentino und Benevento) sowie als Richter (etwa am Strafgerichtshof auf dem Kapitol). Er war zudem selber Teil der Mikropolitik klientelarer Netzwerke, deren Bedeutung für den vormodernen Staat Wolfgang Reinhard und seine Schüler herausgestellt haben. Boccalini besaß gute Kontakte zu führenden Akteuren des Staates unter Paul V., etwa zum Kardinal Scipione Caffarelli-Borghese, der unter Paul die segreteria di stato leitete und der Boccalini protegierte.5 Dem Kardinal Caffarelli-Borghese widmete Boccalini auch die erste Zenturie seiner Ragguagli di Parnaso.6 Die von Gaetano Cozzi ausgewerteten Berichte von Marco Catigi, einem Gondoliere des päpstlichen Nuntius in Venedig Berlinghiero Gessi, der für die Serenissima als Spion tätig war, zeigen, dass Boccalini in den Monaten vor seinem überraschenden Tod, die er in Venedig verbrachte, um seine Ragguagli di Parnaso in den Druck zu geben, ein gern gesehener Gast des päpstlichen Nuntius war. Cozzi stellt sogar die Hypothese auf, dass er, der gute Kontakte zur politischen Führungselite in Venedig besaß, in dieser Zeit für den Kirchenstaat als Agent und Informant tätig war. Ein Brief vom Dezember 1612 an Caffarelli-Borghese belegt, dass er sich jedoch um die Rückkehr auf einen staatlichen Posten in der Verwaltung des Kirchenstaates bemühte.7 Wie 4 Allein in Italien erschienen zwischen 1612 und 1680 28 Folgeeditionen der Ragguagli di Parnaso (Firpo 1955). Zahlreiche Ausgaben erschienen im 17. und 18. Jahrhundert in deutscher, lateinischer, englischer, französischer, spanischer und holländischer Sprache (s. Hendrix 1995). Vgl. De Pol 1990. 5 Cozzi 1956. Vgl. zu Boccalinis Ämtern Firpo 1969 und zum Papsttum Pauls V. und zur Rolle von Mikropolitik und personaler Klientelnetzwerke an dessen Kurie Reinhard 2004; ders. 2009. 6 Siehe den Widmungsbrief in Boccalini 1910, S. 3f. 7 „E perché lo star sempre per tanto tempo a Venezia a me è dispendioso e molto incomodo, supplico con ogni umiltá Vostra Signoria illustrissima farmi per sua benignitá grazia di uno dei tre governi: Lugo, Cento o Comacchio, aggiungendo che Comacchio, come piú vicino, mi sarebbe d’infinita comodità. Di nuovo la supplico a farmene grazia, ché poi, stampata ch’io avrò quest’altra Centuria, spero in Dio por fine alle fatiche de’ miei studi e di andare in volta per i governi“ (Brief vom 15.12.1612, Boccalini 1948, S. 368f.).

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schon Machiavelli vor ihm, schrieb somit Boccalini als „Insider“ über den Staat, und wie der Florentiner bemühte auch er sich um die Enthüllung der geheimen Handlungsmaximen und verborgenen Machenschaften der Herrscher und ihres politischen Personals.

1. Machiavellirezeption Nachdem Machiavelli 1559 von der Kirche auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt worden war, stellte das Zitieren aus seinen Schriften, zumal wenn es auf eine Kenntnis seiner Werke oder auf eine positive Haltung zu ihnen hindeutete, eine Straftat dar. Sowohl in der politischen Satire als auch im Tacitus-Kommentar Boccalinis begegnet man dennoch mit Regelmäßigkeit Zitaten aus Machiavelli. Denn trotz des kirchlichen Verbots blieben dessen Werke in den Bibliotheken der Gelehrten gegenwärtig. So berichtet eine Episode aus den Ragguagli di Parnaso, dass man auf dem Parnass Machiavelli in seinem Versteck, in der Bibliothek eines geheimen Unterstützers, aufgegriffen und vor das Strafgericht Apolls gezerrt habe, dem Herrscher der imaginären Welt, die Boccalini in seiner Satire beschreibt.8 Machiavelli muss sich dort gegen die Anklage verteidigen, mit seinen Schriften und den darin enthaltenen politischen Maximen die Menschheit verführt und verdorben zu haben („seduttore e corruttore del genere umano“, „seminatore di scandalosi precetti politici“). In seiner ausgesprochen eloquenten Verteidigungsrede schafft es Machiavelli, seine Ankläger für sich einzunehmen und davon zu überzeugen, dass er sich in seinen Schriften um eine einfache, durch empirische Beobachtung der Handlungen der Fürsten („azioni di alcuni prencipi“) und durch historische Kenntnis („istorie“) gesicherte Beschreibung der Regeln des Staates („regole di Stato“) bemüht habe, nicht mehr und nicht weniger.9 Dennoch wird Machiavelli letztendlich zum Tode verurteilt, weil dem Gericht ein weiteres Vergehen zu Ohren gekommen ist: Er sei des Nachts dabei ertappt worden, wie er sich in einer Schafsherde herumgetrieben und wie er den Schafen Hundezähne eingepflanzt habe: „Grandemente si commossero i giudici a queste parole, e parea che trattassero di rivocar la sentenza, quando l’avvocato fiscale fece saper loro che il Macchiavelli per gli abbominevoli ed esecrandi precetti che si leggevano negli scritti suoi, così meritamente era stato condannato, come di nuovo severamente doveva essere punito per esser di notte stato trovato in una mandra di pecore, alle quali s’ingegnava di accomodare in bocca i denti 8 Siehe Boccalini 1910, S. 326-328 =Ragg. I/89: Niccolò Macchiavelli, capitalmente sbandito da Parnaso, essendo stato ritrovato ascoso nella biblioteca di un suo amico, contro lui vien eseguita la sentenza data prima del fuoco. Vgl. zum Folgenden, aber auch zu Boccalinis Anlehnungen an Machiavellis Republikanismus, die hier außer Acht gelassen werden müssen, auch Saracino 2016. 9 Boccalini 1910, S. 327.

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posticci di cane, con evidente pericolo che si disertasse la razza de’ pecorai, persone tanto necessarie in questo mondo, i quali indecente e fastidiosa cosa era che a quello scellerato fossero posti in pericolo di convenirli mettersi il petto a botta e la manopola di ferro, quando avessero voluto munger le pecore loro o tosarle.“10

Der Machiavelli-Prozess auf dem Parnass, mit dessen Schilderung Boccalini zur Debatte über Machiavelli und den Machiavellismus auf raffinierte und geistreiche Weise Stellung nimmt, schreibt dem politischen Denken des Florentiners zwei „Leistungen“ zu. Einerseits habe er in seinen Werken ein realistisches Bild von der Politik und der Funktionsweise der Staaten gezeichnet – wobei sich Boccalini woanders affirmativ zum von Machiavelli begründeten politischen Empirismus und Realismus als Grundlage seines eigenen politischen Denkens bekennen wird.11Andererseits habe Machiavelli als erster die geheimen Herrschaftsmaximen (für die in Boccalinis Zeit der aus Tacitus entlehnte Begriff der arcana imperii geläufig wurde) für das Volk publik gemacht, um es damit politisch zu bewaffnen (im Sinnbild Boccalinis die Schafe mit Hundezähnen auszustatten). 12 Die pastorale Metaphorik, das Bild der „Bewaffnung“ der Schafe und der Gefährdung des Standes der Schäfer, erinnert an eine Symbolik der Befreiung und Aufklärung. Wird man allerdings Boccalini gerecht, wenn man ihn hier als Vorreiter der republikanischen Machiavelliapologie versteht, der die kontrafaktische und volksaufklärerische Deutung des Principe bei Jean-Jacques Rousseau vorwegnimmt?13 Dass Boccalini eine augenzwinkernde Haltung zum antimachiavellistischen Furor seiner Zeitgenossen einnimmt und ihn für überzogen und verlogen hält, ist kaum von der Hand zu weisen. Dass er zudem Machiavellis Schriften einen volksemanzipatorischen Charakter zuschreibt, erscheint ebenfalls plausibel. Es gibt jedoch gute Gründe, um in Zweifel zu ziehen, dass Boccalini deshalb dem Oeuvre Machiavellis positiv gegenübersteht. Einer vom Bild der Emanzipation der Schafe/des Volkes getragenen frühaufklärerischen oder protodemokratischen Deutung Boccalinis widerspricht sein tiefes Misstrauen gegenüber den politischen Kompetenzen des einfachen Volkes.14 Aufgrund der politischen Inkompetenz des Volkes und allgemein aufgrund der von Affekten geleiteten Natur des Menschen und ihrer für das soziale Miteinander 10 Ebd., S. 327f. 11 „ma ragionando Noi conforme a questo, che Platone, Aristotele, e altri grandissimi letterati hanno scritto nell’aria, e in Theorica, veniamo Noi all’atto prattico, e a quelle cose che si veggono non ne’ libri antichi proporzionati a fatti de’ tempi presenti, ma a quelle che si veggono nelle cose moderne“ (Boccalini 1678, S. 341 = Bil. Pol. I). 12 Das Symbol der Bissigkeit und die damit zum Ausdruck gebrachte Angriffslust sind aber auch Erkennungsmerkmale satirischen Schreibens: Horaz, Sermones, 2.1.50ff, Persius 1957, S. 174. 13 Sterpos (1971, S. 257) erkennt bei Boccalini eine Rehabilitierungsabsicht gegenüber Machiavelli: „[Boccalini] attribuisce alla sua [Machiavellis, S.S.] opera un significato decisamente positivo: si tratta di un riconoscimento“. Hendrix (1995, S. 245) betont hingegen als Absicht die Kritik an den Kritikern Machiavellis und sieht diese als primäre Intention Boccalinis an. 14 Boccalini beschimpft das Volk als „popolaccio“ (Boccalini 1912, S. 132 = Ragg. II/31; ders. 1678, S. 154 = Bil. Pol. I) und sieht es für unfähig an, an der politischen Regierung beteiligt zu

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abträglichen Eigenschaften, begründet Boccalini – wie schon Machiavelli vor ihm – den Staat anthropologisch.15

2. Tacitismus In den Geschichtswerken des Tacitus über die römische Kaiserzeit erkannten die Gelehrten der Frühen Neuzeit ihre eigene Zeit und ihre politische Situation wieder.16 Tacitus’ Beschreibung der Macht- und Herrschaftstechniken der römischen Kaiser wurde zum Spiegelbild des absolutistischen Fürstenstaates. Besonders prominent war in diesem Rezeptionszusammenhang die Beschreibung der skrupellosen Herrschaft des Tiberius am Anfang von Tacitus’ Annalen. Die Herrschaft des Tiberius, dessen Fähigkeit zur Verbergung und Verstellung und dessen Effizienz bei der Ausschaltung politischer Konkurrenten Tacitus herausgestellt hatte, galt (auch Boccalini) als Paradebeispiel für die Staatsräson. Tacitus, der dem Untergang der Republik nachweinte und die schrittweise Entmachtung der römischen Senatsaristokratie unter dem Prinzipat mit Wehmut geschildert hatte, übte aber auch auf nostalgische Republikaner Faszination aus, zu denen auch Boccalini als Verfechter einer republikanischen Regierungsform nach dem Vorbild Venedigs zählte. In den Ragguagli di Parnaso präsentiert Boccalini Tacitus – nach dem gleichen Muster wie im Falle Machiavellis – als enthüllenden politischen Denker. Er fällt auf dem Parnass in Ungnade, weil er Brillen angefertigt habe, die für die einfachen Leute („persone semplici“) die innersten Regungen der Herrscher sichtbar werden lassen und zudem den Sand abhalten, den diese ihnen in die Augen streuen.17 Boccalini arbeitete über Jahrzehnte an einem voluminösen Kommentar zu Tacitus’ Annalen, dessen Historien und der Vita des Agricola. Das Werk war bei seinem

werden: „essendo nel vero il popolo un mostro pieno d’errori, e di confusioni per l’instabilità, e leggierezza di tanti cervelli, di tanti pareri, di tante volontà, ne nasce che lo stato popolare è sempre pieno di tante sedizioni civili, che di necessità precipita in Tirannide“ (ebd., S. 337). 15 Laut Boccalini kartographieren die Historiker in ihrer Beschreibung der Menschenwelt ein Meer, das von den Wellen der Leidenschaften („passioni“) und Interessen („interessi“), vom Ehrgeiz („ambizione“) und vom Neid („invidia“) aufgepeitscht werde (s. Boccalini 1678, S. 3 = Bil. Pol. I). Die Habgier („avarizia“) und das Streben nach Rache („vendetta“) seien zwei Furien („furie“), die das menschliche Gemüt beherrschten (ebd., S. 50). Zur anthropologischen Staatsbegründung bei Machiavelli Knoll 2013. 16 Zum Tacitismus in der Frühen Neuzeit Toffanin 1921, Stackelberg 1960, Schellhase 1976, Suppa 2003 und Ottmann 2006, S. 235-239. 17 Boccalini 1912, S. 247f. = Ragg. II/71. Tacitus wird aber auch als „sommo statista e arcifanfano di tutta la moderna politica“ (Boccalini 1910, S. 169 = Ragg., I/47) und als Lehrer der „vera pratica della piú sopraffina ragion di Stato“ (ebd., S. 89 = Ragg., I/29) bezeichnet. Vgl. zu Boccalini als Tacitist Tirri 2003.

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Tod noch nicht abgeschlossen.18 Im Widmungsbrief für Kardinal Caffarelli-Borghese, der der ersten Zenturie der Ragguagli di Parnaso vorangestellt ist, stellt Boccalini eine klare Hierarchie zwischen seinen beiden Werken auf: der Kommentar zu Tacitus sei sein Haupt- und Lebenswerk, die Ragguali ein harmloser Zeitvertreib zur Erheiterung des Autors und seiner Leser.19 Boccalinis Söhne bemühten sich (und zwar gegen die Instruktion ihres Vaters) darum, das unfertige Werk nach dessen Tod in Venedig drucken zu lassen, konnten jedoch vom venezianischen Staat keine Drucklizenz erhalten.20 Die von Harald Hendrix veröffentlichten Gutachten, die der Rat der Zehn als Zensurorgan der Republik Venedig in der Angelegenheit 1627 einholen ließ, monierten die politisch brisanten Inhalte, vor allem die in diesem Werk enthaltenen Schmähungen gegen auswärtige Potentate, wie den spanischen König oder den Papst.21 In Analogie zu Tacitus’ Enthüllung der Herrschaftstechniken der römischen Kaiser, verstand Boccalini sein Studium von Tacitus tatsächlich als patriotisches Unterfangen, mit dem seinen (italienischen) Lesern die Herrschaftstechniken der spanischen Monarchie enthüllt werden sollten, die im 16. Jahrhundert ihre Herrschaft über große Teile Italiens (Königtum Neapel und Sizilien, Lombardei) ausgebaut und gefestigt hatte.22 Das Streben der Spanier nach der Universalmonar-

18 Laut Firpo (1969, S. 13) begann er bereits 1590 mit der Arbeit an diesem Werk. Posthum kamen Teile dieser Schrift in zwei Editionen in Amsterdam (vermutlich herausgegeben von Pieter Bleau) und Genf (herausgegeben von H. Widerhold mit einem Kommentar von Ludovico du May) in den Druck (s. Boccalini 1677; ders. 1678). Dem Genfer Druck von 1678 ist in einem dritten Band eine falsifizierte Sammlung von Briefen Boccalinis angehängt, s. Firpo 1942. Zur Überlieferung des Werkes in Manuskripten Tirri 1998. Der Kommentar zum Agricola ebenso wie bisher unveröffentlichte, nur in Manuskriptform überlieferte Kommentare zum 11. und 12. Buch der Annalen sind nun in modernen Editionen verfügbar (s. Boccalini 2007 und ders. 2015). 19 „[...] quel tempo che avanza alle fatiche de’ miei Comentari, che ogni giorno fabbrico sopra gli Annali e le Istorie del principe degli scrittori politici Cornelio Tacito, volentieri per mia ricreazione spendo nella piacevol composizione de’ Ragguagli di Parnaso“ (Boccalini 1910, S. 3). 20 Boccalini hatte in seinem Manuskript die salvatorische Klausel aufgenommen, wonach alle unkonformen Passagen nur deshalb niedergeschrieben worden seien, weil es sich um eine noch unfertige Version handle, die nicht für den Druck bestimmt sei. Seine Söhne forderte er auf, das Manuskript im Falle seines Todes zu zerstören: „se accadesse, che la Maestà di Dio volesse levarmi la vita, avanti che queste fussero ridotte alla sua perfezzione da me, commando a Ridolfo e Clemente miei figliuoli, e quelli che mi nasceranno, che subito senza mostrarle ad alcuno, si abbruggino, essendo questo solo il primo sbozzo, e quello dal quale dovendosi cavar l’Originale, che deve publicarsi, io ho lasciata scorrer la penna in molti luoghi più di quello, che si deve a colui, che scrivendo solo per gloria propria, non ha animo d’offendere alcuno“ (Boccalini 1678, S. 350 = Bil. Pol. I). 21 Dass das Werk sowohl überschwängliches Lob für die Republik Venedig als auch Schmähungen gegen auswärtige Potentaten (v.a. den Papst und den spanischen König) beinhalte, wird von allen vier Gutachtern festgehalten: s. Gutachten von Vincenzo Gussoni, in: Hendrix 1995, S. 272-274, v.a. S. 272; Gutachten von Girolamo Lando, ebd., S. 274f.; Gutachten von Donà Morosini, ebd., S. 275-277, v.a. S. 276; Gutachten von Polo Morosini, ebd., S. 278. 22 Boccalini 1678, S. 28 = Bil. Pol. I. Die Spanier herrschten nämlich „conforme i precetti di Tiberio, raccontati dal nostro Auttore [Tacitus, S.S.]“ (ebd.).

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chie und ihre Herrschaft in Italien sind deshalb bevorzugte Zielscheiben der Polemik Boccalinis. In seinem Kommentar zu Tacitus entwickelt Boccalini eine Typologie der Regierungsformen, die für sein Verständnis vom Staat von Belang ist. In Anlehnung an die Lehre vom Kreislauf der Verfassungen und von der Mischverfassung, die Tacitus in der Tradition Platons und des Polybios in den Annalen (IV/33) in überaus knapper und rudimentärer Ausführung präsentiert, unterscheidet er die reinen Formen des „stato monarchico“, des „stato aristocratico“ und des „stato democratico“, sowie eine aus diesen zusammengesetzte Mischform („governo misto“).23 Auch wenn Boccalini zu allen drei reinen Regierungsformen von strukturellen Vor- und Nachteilen zu berichten weiß, so fällt sein Votum klar und deutlich zugunsten der Aristokratie aus.24 Wie seine Vorlage Tacitus, steht Boccalini der Mischverfassung hingegen skeptisch gegenüber, auch wenn sein Votum im Tacitus-Kommentar in dieser Angelegenheit ausgewogener ausfällt, als in den Ragguagli di Parnaso, wo die „republica mista“ in Bausch und Bogen verworfen wird.25 Dass Boccalini die Mischverfassung als Ursache für Instabilitäten ansieht und nicht wie in der traditionellen Lehre als institutionelle Vorkehrung, durch die das Gemeinwesen stabilisiert werden kann, da Regierungsanteile auf verschiedene Institutionen und auf die verschiedenen gesellschaftlichen Stände verteilt werden, mag von der Bodinschen Lehre von der Souveränität beeinflusst sein, die eine ebensolche Umwertung der Mischverfassung auf den Weg gebracht hatte.

3. Staatsräson Der Begriff der Staatsräson wurde, abgesehen von vereinzelten früheren Verwendungen des Begriffs bei Francesco Guicciardini und Giovanni della Casa, in Giovanni Boteros Della Ragion di Stato (Venedig 1589) eingeführt und zugleich salonfähig gemacht. Mit seiner Schrift beabsichtigte Botero, zwischen der interessengeleiteten Machtpolitik der absolutistischen Fürstenstaaten und den religiösen und konfessionellen Anliegen der gegenreformatorischen Kirche zu vermitteln. Durch den Nachweis, dass das Wohl von Kirche und Staat gleichsam symbiotisch aufeinander ange23 Ebd., S. 336-345 = Bil. Pol. I. 24 „tutte le Republiche che hanno havuta lunga vita, sono state Aristocratiche“ (ebd., S. 338). 25 „Alle Nationen und Städte insgesamt lenkt entweder das Volk, oder der Adel, oder ein einzelner; eine mit Auswahl aus diesen Elementen zusammengesetzte Staatsform kann leichter gelobt werden als zustande kommen, und kommt sie zustande, unmöglich von Dauer sein“ (Tacitus 2004, S. 427 = Annalen IV/33). Vgl. die Fundamentalkritik an der Mischverfassung in Boccalini 1912, S. 19 = Ragg. II/6. Im Tacitus-Kommentar diskutiert Boccalini Möglichkeiten einer institutionellen Mischung der reinen Regierungsformen, hält sie jedoch nur unter der Prämisse zuträglich, dass der „humore aristocratico“ überwiegt und dominiert (Boccalini 1678, S. 344f. = Bil. Pol. I).

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wiesen seien, sollte zudem die von Machiavelli und Bodin geforderte Unterordnung von Kirche und Religion unter den Staat entkräftet und widerlegt werden.26 Wir werden gleich sehen, dass Boteros Traktat der satirischen Nemesis Boccalinis nicht entkam. Interessant ist aber, dass sich die Wege der beiden nicht nur auf dem Papier kreuzten. Der Geistliche Botero, der später als hochrangiger Funktionär des Kirchenstaates, aber auch als Prinzenerzieher und Diplomat für das Haus Savoy tätig war, war 1563 in Loreto, wo Boccalini geboren wurde und die Schulausbildung genoss, an der Jesuitenschule als Rhetoriklehrer angestellt, weshalb spekuliert werden kann, ob sich beide dort begegneten.27 Botero ist – so wie viele andere politische Denker der Epoche (neben Machiavelli auch Bodin und Lipsius) – Protagonist einer in den Ragguagli di Parnaso geschilderten Episode.28 Apoll lässt Boteros Buch seinen Zensoren überstellen, da es von den an seinem Hof versammelten Herrschern in den höchsten Tönen gelobt worden sei, obwohl diese für gewöhnlich den Werken politischer Denker, in denen ihre Herrschaftspraktiken zum Gegenstand gemacht werden, äußerst negativ gegenüberstehen. Und tatsächlich ist Apolls Misstrauen berechtigt, denn das Gutachten der Zensoren fällt nicht günstig aus. Der Autor des Werks sei von den Fürsten gebeten, vielleicht sogar bestochen worden, eine ihnen überaus zuträgliche, aber nicht sachgemäße Definition von der Staatsräson aufzustellen: „[...] l’autore del libro [...] forse pregato o corrotto da Prencipi le haveva data la speciosa diffinitione che a tutta la Politica si conveniva, havendo detto, che la Ragion di Stato era cognitione di mezzi atti a fondare, a mantenere, e ad ampliare uno Stato, con la quale inorpellata diffinitione cosa buona si era forzato di far parer altrui quella Ragion di Stato, che gli huomini dotti, e più timorati di Dio, che innamorati de’ Prencipi liberamente havevano detto, essere una legge del Diavolo.“29

Apoll dekretiert hierauf eine neue (aufrichtigere) Definition der „Ragion di stato“, die zukünftig überall gelten soll. Demnach sei die Staatsräson eine Handlungsmaxime, die mit sämtlichen Rechtsformen („legge di Dio“, „legge delle genti“, „legge degli huomini“) in einem unlösbaren Konflikt stehe.

26 In der Widmung der Schrift, symbolträchtig einem gleichzeitig geistlichen und weltlichen Fürsten, dem Fürstbischof von Salzburg Wolf Dietrich von Raitenau (1559-1617) zugeeignet, erklärt Botero seine Absichten: Er möchte der in Herrscherkreisen grassierenden und abzulehnenden Staatslehre, die von einer Unvereinbarkeit von Staatsräson (ragion di stato) und Religion (conscienza, legge di Dio) ausgehe, eine mit Glauben und Moral kompatible Staatsräson entgegenstellen, s. Botero 1948, S. 52; vgl. Campagna 2012 und den Beitrag von Knoll/Saracino in diesem Band. 27 Diese Spekulation stellt Firpo (1969, S. 11) an. 28 Boccalini 1912, S. 289f. = Ragg. II/87. 29 Ebd. Boteros generische Definition der Staatsräson, die von Boccalini hier zitiert wird, lautete: „Ragione di Stato è notizia dei mezzi atti a fondare, conservare ed ampliare un dominio“ (Botero 1948, S. 55).

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Dem Projekt Boteros, eine Staatslehre zu präsentieren, die den absolutistischen Monarchien und der Kirche gleichermaßen zupass kommt, wird von Boccalini eine deutliche Absage erteilt.30 Der von Bodin und der Partei der Politiques in Frankreich propagierten konfessionellen Neutralität des Staates, kann Boccalini wohlgemerkt auch nichts abgewinnen.31 Worauf es Boccalini in seiner Auseinandersetzung mit Botero ankommt, ist auf die Unvereinbarkeit der Staatsräson mit den göttlichen und menschlichen Gesetzen hinzuweisen. Es wäre aber verfehlt, deshalb anzunehmen, dass Boccalini dem Staat und dessen eigener Räson und Handlungsnotwendigkeit prinzipiell feindlich gegenübersteht. Statt die Staatsräson, wie Botero es tut, mit semantischen Umdeutungen schönzureden, nennt er den unausweichlichen Konflikt zwischen Politik und Moral vielmehr beim Namen.32 Mit seiner sprachlichen Aufrichtigkeit wandelt Boccalini in den Spuren Machiavellis.

4. Humor und politische Satire über den Staat Blicken wir nun genauer darauf, wie bei Boccalini der Staat selbst zum Gegenstand der Komik wird. Hierfür ist es zweckmäßig, kurz bei der Frage zu verweilen, welches Verständnis Boccalini von der politischen Satire hatte. Boccalini fasst sein satirisches Werk und sein satirisches Schreibverfahren als ausgesprochen innovativ auf.33 Auch wenn er nicht versäumt, seine Innovationsleistung zu unterstreichen, so stellt er sich doch in die Tradition der römischen Satiriker sowie einiger neuerer italienischer satirischer Autoren. Da sich die Satire, wie Boccalini betont, aus dem degenerierten Zustand der Gesellschaft und Politik nähre, sei es den zeitgenössischen Italienern leicht gefallen, im Genre der Satire die Meisterschaft der antiken Autoren zu übertrumpfen. So berichten die Ragguagli di Parnaso von einem Wettstreit zwischen den antiken römischen Satirikern (Persius, Horaz, Juvenal) und ihren modernen italienischen Kollegen (Francesco Berni, Pietro Aretino, 30 „Trajano Boccalini zählt zu den wenigen, die den von Botero hergestellten Kompromiß zwischen Staatsinteresse und christlicher Ethik für trügerisch erachten und durchbrochen haben“ (Münkler 1987, S. 284). 31 Bodin überreicht Apoll sein staatstheoretisches Werk, erntet hierfür aber statt des erwarteten Lobes dessen Zorn. Dafür dass er dazu geraten habe, dass die Fürsten zur Befriedung der konfessionellen Auseinandersetzungen ihren Untertanen die Freiheit des Gewissens gewähren sollen („nella sua Republica avea pubbliato al mondo, esser ottimo consiglo per quiete degli stati concedere ai popoli la libertà della conscienza“), wird er zum Tod im Feuer verurteilt, s. Boccalini 1910, S. 221f. = Ragg. I/54; vgl. Cremer 1976. 32 Zum unausweichlichen Konflikt zwischen der Politik einerseits und der Moral und Religion andererseits Boccalini 1678, S. 304 = Bil. Pol. I. 33 Von politischen und moralischen Gegenständen („cose politiche e morali“) hätten auf ernste Weise („seriamente“) viele geschrieben, in der Form des Scherzes und der Unterhaltung („con gli scherzi e con le piacevolezze“) aber noch niemand (Boccalini 1912, S. 4 = Ragg. II, Widmung an Kardinal Cataneo). Woanders spricht Boccalini von seinen Ragguagli di Parnaso als „nuova invenzione“ (Boccalini 1910, S. 87 = Ragg. I/28).

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Lodovico Ariosto). Diese Rangstreitigkeit wird zugunsten der modernen Satiriker entschieden, obwohl die Überlegenheit der antiken Satiriker in Sprache und Stil außer Frage steht. Juvenal gesteht Apoll die eigene Niederlage ein, indem er betont, dass sich die Satire von der politisch-moralischen Dekadenz der Epoche eines Autors speise. Die modernen Italiener besäßen deshalb eine bei weitem bessere Ausgangsposition als die alten Römer.34 Gemäß Horaz strebt Boccalini mit der Satire nach einer ausgewogenen Balance zwischen dem Angenehmen (dulce) und dem Nützlichen (utile); Unterhaltung und Belehrung, Lachen und Kritik reichen sich die Hand.35 Die Satire wird vom Autor Boccalini aber auch genutzt, um seine Mitteilungsfreiheit im Angesicht von staatlicher und kirchlicher Zensur und der Gefahr politischer Verfolgung möglichst groß zu halten. Die Satire ermöglicht es, politische Kritik zu verharmlosen und zu verschleiern. Boccalini war sich dieses Vorteils bewusst und thematisiert ihn im Vorwort zur zweiten Zenturie: „[…] dilettar con le facezie il lettore e non lo stomacar con le buffonerie; trattar materie alte e servirsi di concetti bassi; parlar di uno e intender di un altro; scoprirsi e non voler esser veduto […] punger con la satira e non mordere con la maldicenza; scherzare e dir daddovero; trattar cose politiche e non offender chi domina […] mischiar l’utile col dolce.“36

Auch in einem Brief an den englischen König James I. von 1612, der die Drucklegung der Ragguagli di Parnaso in England auf den Weg bringen sollte, betont Boccalini, dass er dank der Satire die offene Wahrheit („l’aperta verità“) hinter dem Schleier der Fazetien verborgen habe, um sich vor dem Unmut der Herrscher zu schützen. Wohlgemerkt muss er James eingestehen, dass er mit dieser Strategie des Selbstschutzes gescheitert sei, da man seine (versteckten) Angriffe gegen die Herrscher sehr wohl erkannt habe. Von James erhoffte und erbat sich Boccalini ein größeres Maß an Duldsamkeit.37 Boccalini, der wegen seiner Schriften mehrmals in den Fokus der Inquisition geriet, thematisiert den schwierigen Umgang der Schriftsteller politischer oder histo-

34 „perché ne’ secoli grandemente corrotti sopramodo feconde sono le vene de’ poeti maldicenti, e l’età mia punto non può paragonarsi con la moderna, tanto peggiorata, infurbita, intristita“ (ebd., S. 214 = Ragg. I/60). Quintilian sieht die Satire als typisch römisches Genre an: „Satura quidem tota nostra est“ (10.1.93ff.). 35 Boccalini 1910, S. 4 = Ragg. II, Proömium; vgl. Horaz, Ars Poetica, 343f. 36 Boccalini 1912, S. 4. 37 „affinchè l’aperta verità, della quale ho fatto particolare professione, non m’apporti danno concitandomi contro lo sdegno di quei prencipi grandi, degli interessi e pensieri de’ quali ho ragionato, l’ho coperta con le vesti delle facezie, mascherata con le larve delle metafore; ma non mi è riuscito il disegno, perchè anche così occultata è stata però riconosciuta, perseguitata e cacciata dalle stampe“ (Brief an James I., 27.8.1612, in: Boccalini 1948, S. 363). Zur Rezeption Boccalinis in England Saracino 2015.

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riographischer Werke mit der Wahrheit.38 Könne man auch nachvollziehen, dass die weltlichen und geistlichen Potentaten solchen seriösen literarischen Gattungen mit Misstrauen begegnen, so fordert er von ihnen Toleranz gegenüber dem gegen sie gerichteten harmlosen Scherz („scherzare“) im Unterschied zur Beleidigung („maldicenza“). Auch in seinem Tacitus-Kommentar beschäftigt sich Boccalini mit dieser Unterscheidung und sieht es als unverhältnismäßig an, wenn die Herrscher Poeten und Schriftsteller wegen ihrer Worte („delitto di parole“) schwer bestrafen.39 Auch am Verständnis für Spaß scheiden sich für Boccalini die Tyrannen von den guten Herrschern. Die Ragguagli di Parnaso erzeugen nicht nur ein Spiegelbild der Gesellschaft und des Zeitgeistes, sondern sie spiegeln auch das Staatengefüge Europas und die Mentalität der den Staat tragenden funktionalen und adligen Eliten an den Herrscherhöfen. Von näher betrachtet, ist dieses Spiegelbild ein Kippbild. Zwar beschreibt Boccalini auf dem Parnass einen „stato felice“40, der von dem Idealherrscher Apoll regiert wird, der seinerseits von den größten Denkern und bedeutendsten Gelehrten aller Zeiten beraten wird. An Apolls Hof residieren aber auch die Herrscher der großen und kleinen Staatengebilde Europas. Boccalini versäumt keine Gelegenheit, um diese Staatengebilde, ihre Innen- und Außenpolitik, durch den Kakao zu ziehen. Wenn man will, ist auf dem Parnass ein immerwährender Staatenkongress versammelt. Dies veranschaulicht ein Kapitel, das zu einer Reihe von Textsequenzen gehört, die für die Ragguagli di Parnaso bestimmt waren, deren Veröffentlichung Boccalini aber nicht gewagt hat. Sie wurden von Luigi Firpo 1948 in einer dritten Zenturie herausgegeben. So hätten die „prencipi tutti d’Europa“ zum Zweck der Friedenssicherung und der Stabilisierung des politischen Gleichgewichts beschlossen, sich alle 15 Jahren im griechischen Phokis zu versammeln, um sich wiegen zu lassen und somit dem übermäßigen Machtzuwachs eines Mitglieds der Staatengemeinschaft zuvorzukommen und gegebenenfalls Gegengewichte zu bilden.41 Mit der Durchführung dieses politischen Verfahrens wird Lorenzo de’ Medici (der Prächtige) beauftragt, einer der Protagonisten, die an der Erhaltung des pentarchischen Systems von Lodi beteiligt waren, das der italienischen Staatenwelt von 1454 bis 1494 38 Bereits der unter Nero schreibende Persius verstand die Satire als Genre, das den Poeten vor der Zensur schützen sollte (Persius 1957, S. 175). Zu den Inquisitionsprozessen, die gegen Boccalini anhängig waren, jedoch – auch Dank der Intervention seiner mächtigen Gönner – ohne Verurteilung endeten, s. Firpo 1969, S. 13f. Zum schwierigen Umgang der Historiker mit der Wahrheit Boccalini 1910, S. 126, 194 = Ragg. I/35 und I/54. 39 Boccalini 1678, S. 233f, 352, 411. So wie Tacitus die Redefreiheit unter manchen Kaisern (wie Augustus und Trajan) der strengen Zensur unter anderen Kaisern gegenüberstellt, kontrastiert Boccalini Päpste, die ein hohes Maß an Redefreiheit zuließen (wie Gregor XIII.), mit solchen, die die Urheber oppositioneller Sprechakte aufs Härteste bestraften (wie Sixtus V.). 40 Boccalini 1910, S. 302 = Ragg. I/83. 41 „dove si dovessero pesar le forze di ciascheduno e si desse poi il contrapeso e la debita mortificazione a colui che fosse trovato essere cresciuto in odiosa e pericolosa grandezza al compagno“ (Boccalini 1948, S. 34 = Ragg. III/12).

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eine Periode des Friedens und der Stabilität beschert hatte. Es ist kaum verwunderlich, dass die meisten Staaten, die auf die Waage gestellt werden, davon überrascht sind, dass sie weniger Gewicht auf die Schale bringen, als sie angenommen hatten.42 Blicken wir auf die Innenpolitik und auf die Mentalität der den Staat beseelenden Personengruppen. Boccalini berichtet, dass die Politiker („politici“) auf dem Parnass ein Warenlager („fondaco“) eröffnet hätten, in dem allerlei wundersame Waren zum Verkauf angeboten würden: Neben den schon weiter oben angetroffenen taciteischen Brillen ist da ein Kompass, der im Dickicht von Intrigen und Verstellung bei Hof Orientierung bietet, ferner ein indianischer Papagei, der den Höflingen ein Vorbild gibt dafür, dass man bei Hof stets das wiederholen soll, was die Fürsten gerne hören.43 Der Berufsstand der Berater („consiglieri“) und Sekretäre („segretari“) kann sich hingegen mit wohlriechenden Konfekten („confetti muschiati“) ausrüsten lassen, die ihnen einen wohlriechenden Atem verleihen, trotz der abgestandenen, schmutzigen Staatsgeheimnisse, die sie in sich tragen müssen („che sono obbligati lasciarsi infracidar i secreti in corpo“).44 An anderer Stelle muss sich der Fürst von Lakonien vor Apoll dafür rechtfertigen, dass er seinen Sekretären von niederer Geburt mehr Bedeutung und Huldigung entgegenbringe, als den höchsten (adligen, kirchlichen) Würdenträgern.45 Er begründet diese seine Handlungsweise damit, dass die Sekretäre durch ihre Verschwiegenheit („secretezza“) dem Staate sehr dienlich seien.46 Zu einer anderen Gelegenheit wird der Antrag eingereicht, dass die Monarchen den Luxus und Pomp sowie die Verschwendungen am Hof und allgemein in der Gesellschaft eindämmen mögen, da sie die Untertanen in den Ruin treiben.47 Die Verschwendung als Mittel der Zurschaustellung von Status und Rang waren im absolutistischen Fürstenstaat eine Prämisse für den gesellschaftlichen und sozialen Aufstieg. Peter Burke hat hinsichtlich des Teufelskreislaufs von Verschwendung, Prestigeerwerb und wirtschaftlichem Ruin vom „Versailles-Syndrom“ gesprochen.48 Wiederum an anderer Stelle diskutieren die Weisen auf dem Parnass das Motto „ubi bonum ibi patria“. Angesichts wachsender fiskalischer Ambitionen des Staates sei es zur Richtlinie Vieler geworden, um den raubgierigen Krallen der Steuerbehörden („le rapaci unghie de’ Fischi“) zu entkommen, ihren Wohnsitz in Italien zu haben,

42 Es werden der Reihe nach folgende Staaten von Lorenzo gewogen: Kirchenstaat, Heiliges Römisches Reich, Frankreich, Spanien, England, Osmanisches Reich, Polen, Venedig, Schweizer Kantone, Herzogtum Piemont, Großherzogtum Toskana (ebd., S. 34-45). 43 Boccalini 1910, S. 9-14 = Ragg. I/1; vgl. die Fortsetzung dieser Episode ebd., S. 37-42 = I/10. 44 Ebd., S. 13 = Ragg. I/1. 45 Ebd., S. 136-140 = Ragg. I/28. Zu den Sekretären und zum Entstehen eines Beamtenapparats in der Frühen Neuzeit Kraus 1960; Stolleis 1990. 46 Die Sekretäre würden mit höchster Verschwiegenheit („somma secretezza“) vorgehen; „l’eccellenza e il sommo valore di un secretario, non, come credono molti, sta posto nel parlar con eleganza, ma nel tacer con fedeltá“ (Boccalini 1910, S. 139). 47 Ebd., S. 219f. = Ragg. I/63. 48 Burke 1990, S. 149; vgl. Elias 2002, S. 115-134.

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ihre Güter jedoch in Japan anzulegen („santissima cosa era abitar in Italia e avere i suoi beni al Giapone“).49

Fazit Boccalinis politische Satire greift zahlreiche Themen auf, die das Staatsdenken in Italien und in Europa an der Wende zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert beschäftigten, ebenso wie sie die institutionelle Entwicklung der vormodernen staatlichen Gebilde prägten. Seine Haltung zum absolutistischen Fürstenstaat war überaus kritisch. So meint David Wootton, dass Boccalini in seiner Zeit „by far the most savage critic of absolutism“ gewesen sei.50 Es stimmt zwar, dass Boccalini der absolutistischen Monarchie ablehnend gegenüberstand und der Republik, vor allem einer nach dem Vorbild Venedigs ausgeformten Adelsrepublik, deutlich den Vorzug erteilte. Es ist allerdings zu bedenken, dass die Neigung des Autors hier nicht das einzige Kriterium ist, das zur Sache tut. Das satirische Schreibverfahren zwingt den Autor, grundsätzlich eine kritisch bis ablehnende Haltung zu den Realitäten der politischen Welt einzunehmen. In der Satire bekommen alle ihr Fett weg. Keiner entkommt ihrer Nemesis. Boccalinis Werk mag deshalb zwar seine Leser zum kritischen Denken angeregt haben. In einer Welt, in der der Staat aber gerade erst begonnen hatte, in das Denken und in das Leben der Menschen einzudringen, konnte die politische Satire Ragguagli di Parnaso aber auch viel zur Dissemination von staatsbezogenen Gedanken und Attitüden beitragen. Sie konnte dem Staat dabei behilflich sein, überhaupt erst zur Realität zu werden. Zumal es sich um ein überaus erfolgreiches Werk dieser Epoche handelte, trug die boccalinianische Satire unweigerlich zur Verbreitung und Festigung des mit dem Staat verbundenen neuen Gedankenguts und der für ihn typischen politischen Mentalität bei.

49 Boccalini 1910, S. 187 = Ragg. I/57. 50 Wootton 1983, S. 72.

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Stefano Biancu Der Staat, edel und bescheiden: Vicos Staatsverständnis im Kontext der Scienza Nuova

Vittorio Hösle gewidmet

Einleitung Giambattista Vico (1668-1744) setzt sich an mehreren Stellen seines Werks mit der Frage des Staates auseinander. In seinen Schriften ist die Problematik schon in De nostris temporis studiorum ratione (=De rat.)1 aus dem Jahr 1708 präsent, und eine tiefergehende Untersuchung findet man in der Schrift Diritto Universale (=Du) aus den Jahren 1721-1723.2 Aber es ist in der Scienza Nuova (=SN)3, dass der Frage eine absolut eminente Rolle im komplexen Gesamtprojekt des Autors zugeordnet wird.4 In der nachfolgenden Untersuchung werden wir uns auf die SN konzentrieren, und besonders auf die letzte Fassung, die 1744 (=Sn44) posthum erschienen ist. Dabei werden wir selbstverständlich nicht die früheren Werke vernachlässigen, bloß sollen sie uns nur zu einem besseren Verständnis der SN dienen: als deren unverzichtbarer hermeneutischer Schlüssel. Am Ende seines menschlichen und intellektuellen Lebensweges angelangt, betrachtet Vico nämlich die SN als sein einziges Lebenswerk, und behält dabei von den vorigen Werken nur das zurück, was mit den

1 Vico beklagt sich darüber, dass im Erziehungsprogramm der Jugend die Lehre des Staates („amplissima praestantissima de republica doctrina“) vernachlässigt und unbehandelt bleibt („deserta ferme et inculta iacet“): Siehe De nostri temporis studiorum ratione (1708), cap. VII, in: Vico 1990, S. 132. 2 Siehe Vico 1974. 3 Wie allgemein bekannt, gibt es drei Fassungen der Scienza Nuova, die 1725, 1730 und 1744 veröffentlicht wurden. Wir werden uns auf folgende Ausgaben beziehen: Giambattista Vico, Principi di scienza nuova intorno alla natura delle nazioni per la quale si ritruovano i principi di altro sistema del diritto naturale delle genti (1725), in: Vico 1990, S. 975-1229; La Scienza Nuova 1730, in: Vico 2004; La Scienza Nuova 1744, in: Vico 2013; deutsche Übersetzung in: Vico 1990b. In den Zitaten, die hier aus der Sn44 gemacht werden, bezieht sich die erste Nummer auf den Paragraphen des Textes von Vico, gemäß der Ausgabe, die seiner Zeit Nicolini etabliert hat, während zwischen eckigen Klammern die Seite des Originaltextes Vicos angegeben wird. 4 Für eine Gesamtdarstellung Vicos und seines Denkens siehe Hösle 1990, 1997.

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Errungenschaften der geistigen Reife vereinbar ist.5 Und auch was den Staat betrifft, erreicht Vicos Denken seine volle Reife in der SN. Nachdem wir einen schnellen Blick auf den Gesamtrahmen geworfen haben werden, innerhalb dessen Vicos Überlegungen über den Staat sich entwickeln, ein Rahmen, der durch das große philosophische und erkenntnistheoretische Projekt des Autors gekennzeichnet ist (§ 1), werden wir eine genauere Analyse der Wissenschaft anstellen, die er begründen wollte (§ 2). Daran anschließend werden wir uns bei der architektonischen Funktion der Sprache in dieser Wissenschaft aufhalten (§ 3). Diese drei Teile werden uns den Zugang zu einem besseren Verständnis von Vicos Behandlung der Frage nach dem Staat ermöglichen. Im Mittelpunkt stehen dabei sowohl die genetische Rekonstruktion, die er vom Staat gibt, als auch die wesentliche anthropogenetische Funktion, die er ihm anerkennt (§ 4).

1. Der Kontext der Reflexion über den Staat Vicos Staatsanalyse lässt sich nicht auf den Typ einer bloß politisch-institutionellen Analyse reduzieren, sondern sie ist Teil eines weit größeren Projekts, das – was die Form anbelangt – den innovativen Versuch darstellt, eine moderne Wissenschaft der Geschichte zu begründen, und das – was den Inhalt anbelangt – die Welt der Kultur und ihrer Produktionen und Institutionen als bevorzugten Untersuchungsgegenstand behandelt. Vicos Grundintuition – die gleichzeitig auch den grundlegenden Gesichtspunkt bildet, von dem aus er sich der Frage nach dem Staat annimmt – ist das Ungenügen des cartesianischen Dualismus, der die res cogitans von der res extensa unterscheidet. Auf der einen Seite lässt die Menschheit sich nicht auf eine körperlose, und damit auch geschichtslose res cogitans reduzieren; sie hat einen ihr eigenen Stammbaum, eine eigene Entwicklung, nach deren Gesetzen – soll sie zum Gegenstand der Wissenschaft werden – man forschen soll. Auf der anderen Seite gilt, dass die angemessenste Herangehensweise für eine solche Erforschung darin besteht, dass man sich den Menschen nicht von innen ansieht, mittels einer einfachen Introspektion (wie es beim cartesianischen cogito der Fall ist), sondern dass man einen Blick von außen auf ihn wirft: um die Entwicklung der Menschen zu untersuchen, mit dem Ziel, deren Gesetzmäßigkeit zu ermitteln, muss man demnach die geschichtlichen Produktionen untersuchen, die sich nicht auf die bloße res extensa reduzieren lassen. Somit überwindet Vico gleichermaßen die cartesianische Alternative zwischen der 5 Siehe den Brief 36 (an Bernardo Maria Giacco – 25. Oktober 1725) in: Vico, 1992, S. 113-115. Siehe auch die Correzioni, Miglioramenti, ed Aggiunte Terze poste insieme con le Prime, e Seconde; e tutte coordinate per incorporarsi all’Opera nella Terza Impressione della Scienza Nuova [=CMA4], in: Vico 2004, S. 547-549.

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Innerlichkeit und der Äußerlichkeit. Auf der einen Seite ist der Mensch eine Mischung aus Innerlichkeit und Äußerlichkeit: genau gesagt ist er eine äußerlich vermittelte Innerlichkeit, die sich selbst zugänglich ist – und sich selbst produziert – dank der Vermittlung von etwas Äußerlichem, indem sie eben etwas anderes als sie selbst produziert (die Welt der Kultur und der Geschichte). Auf der anderen Seite, und wie im Spiegelbild, nimmt die äußere Welt die Form einer innerlich vermittelten Äußerlichkeit an, in dem Sinne, dass sie nie einfach ein bloß lebloses Objekt darstellt, eine reine res extensa, sondern gerade die Veräußerlichung von etwas Innerem ist. In Vicos Begriffen: man hat eine vollkommene Übereinstimmung zwischen der inneren Welt des „Geistes“ (mente) und der äußeren der „politischen Welt“ (mondo civile); um den Geist zu kennen, muss man also die großen sozialen und kulturellen Institutionen studieren, die die Menschheit in der Geschichte produziert, und dabei sich selbst macht, indem sie sie macht. Es handelt sich um die Begegnung zwischen „Philosophie“ und „Philologie“: die universelle Sorge um das „Wahre“, die für die Philosophie typisch ist, kann nicht von einer partikularen Erkenntnis des „Gewissen“ absehen – dessen, was geschehen ist und instituiert wurde – das von der Philologie behandelt wird, eine Wissenschaft, die rekonstruiert und – eben dadurch – versichert. Das „Gewisse“, das die Philologie versichert, erlaubt es der Philosophie, die allgemeinen und universellen Gesetze der Geschichte zu untersuchen, sowie auch die Gesetze der Entwicklung des menschlichen Geistes (der Ort des „Wahren“), dessen Veräußerlichung gerade die historischen Produktionen sind. Vicos Reflexion über den Staat nimmt ihre Form somit innerhalb einer genetischen Untersuchung an, nämlich einer Selbstanalyse des menschlichen Geistes durch seine historischen Produktionen6: die philologische Erkenntnis der historischen Produktionen und der äußeren kulturellen Institutionen – unter ihnen der Staat – bildet den Zugangsweg zu einer philosophischen Erkenntnis der allgemeinen Gesetze der Entwicklung der Geschichte und des Geistes (die Welt der Innerlichkeit). Vicos Wissenschaft der menschlichen Welt ist also eine Wissenschaft des von außen betrachteten Menschen, aus der Perspektive seines sich selbst Machens, durch die historischen Produkte dieses Machens hindurch.

2. Eine neue Wissenschaft Sehen wir uns jetzt etwas näher an, worin diese Wissenschaft besteht, die Vico – ohne vorgetäuschte Demut – als „neu“ bezeichnet. Ab den ersten Seiten der Sn44, die sich der Erklärung des „Bildes“ (dipintura) widmen, die dem Werk vorsteht, wird

6 Siehe Berlin 1976; italienische Übersetzung in Berlin 1996.

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diese Wissenschaft durch eine „Neue Kritische Kunst“ (Nuova Arte Critica) gekennzeichnet (Sn44, 7[6]). In Vicos Augen wäre sie in zumindest zwei Hinsichten „neu“. Sie wäre es zuallererst in Bezug auf die Materie (im Sinne des untersuchten Gegenstandes). Die Materie der Wissenschaft, die er zu begründen beabsichtigt, müssen die Ereignisse der „politischen“ Welt sein, anders gesagt die menschlichen Produktionen: die Welt der Geschichte. Der Blickwinkel seines Werkes – so macht er deutlich – ist derjenige der „Metaphysik“ (Sn44, 2[1]), in dem Sinne, dass der Gegenstand der Untersuchung durch jene innere Welt dargestellt wird, die Welt der „Geister“ und der „Seelen“, die die Basis der „politischen“ Welt bildet, die aber – gerade deshalb – nur durch die Vermittlung jener politischen Welt und ihrer historischen Institutionen erkennbar ist. Was diesen Punkt betrifft, will Vico sich von den Forschungen abgrenzen, die die Philosophen vor ihm angestellt haben, da diese, nach seinem Urteil, alle die Ereignisse und die Gesetze der Natur zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht hätten (siehe Sn44, 2[1]). Gemäß dem Prinzip, dass man nur das erkennen kann, was man selbst gemacht hat, wäre die Wissenschaft der natürlichen Welt und ihrer Gesetze dem menschlichen Geschlecht sowieso unzugänglich und würde nur Gott gehören. Das einzige Gebiet, von dem die Menschen Wissenschaft besitzen können, ist also jene politische Welt, deren Autoren sie selbst sind. Es handelt sich um das bekannte Prinzip des verum-factum, das Vico einer langen Tradition entnimmt7 und das er selbst in der Zeit reifen lässt. Schon im De rat. (1708) sprach er von einer Erkenntnis „per caussas“8, der gemäß man etwas nur in dem Moment wirklich erkennt, wenn man weiß, wie es entstanden ist, wie es gemacht wurde. Zu jener Zeit vertrat Vico allerdings einen halbcartesianischen Standpunkt: Modell der wissenschaftlichen Erkenntnisse wäre somit die Mathematik (deren Elemente gerade menschliche Schöpfungen sind), während er der geschichtlichen Erkenntnis einen eher niederen Rang zuerkannte. Die große Umkehr erfolgt auf der Höhe des De uno (1720), wo Vico die Hierarchiegrade invertiert und – das Prinzip des verum-factum auf die geschichtliche Erkenntnis anwendend – sie zum Modell der wissenschaftlichen Erkenntnis erhebt. Die Geschichte hat fortan einen höheren Status und wird über die Naturwissenschaften gestellt, als Form einer Selbsterkenntnis: Erkenntnis, eben, per caussas. Denn weil in der Tat das Gesetz, das die Entwicklungen des Geistes regiert, dieselbe ewige ideale Geschichte ist, der gemäß sich die historische Entwicklung eines jeden Volkes ereignet, bedeutet ein Nachdenken über dieses Gesetz ein Wiedermachen eben jener Geschichte. Erkennen ist somit tun, tun ist erkennen. Wie schon festgestellt wurde, gilt in diesem Sinne für Vico, dass „die Suche nach der Wahrheit zum größten Teil eine genetische Forschung in der Form einer Selbstanalyse ist. Überall dort, wo der Mensch mehr ist als ein bloßer Zuschauer, überall 7 Siehe Mondolfo 1969. 8 Siehe für die folgenden Gedanken Berlin 1976, S. 11-41; it. Übersetzung Berlin 1996, S. 33-55.

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dort, wo er als Akteur teil hat, also außerhalb der Provinz der Naturwissenschaften, dessen objektive Gesetze er nur beobachtet, und der der Mathematik, die er erfindet und die deshalb keine Informationen über die reale Welt liefern können, untersucht er die Aktivität des eigenen Geistes in seiner Interaktion mit der äußeren Welt. Diese Aktivität modelliert die menschlichen Institutionen – deren wichtigsten die Sprache, die Sitten, die religiösen Riten, die Legenden, die Mythen, die moralischen und legalen Systeme, die Literatur und die Künste sind – und hinterlässt eine sichere Spur ihrer selbst in ihnen, und all dies zusammen genommen konstituiert eine Kultur oder eine Lebensweise“.9 Soviel sei zunächst zum Forschungsgegenstand gesagt. Diese kritische Kunst beabsichtigt allerdings, auch vom Standpunkt der Methode „neu“ zu sein: keine Kritik mehr, die vom Nichts ausgeht (wie diejenige des cartesianischen cogito, die in der epoché alles ausklammert, mit Ausnahme des Denkens), sondern eine Kritik, die die „Philologie“ (die als allgemeine Lehre der menschlichen Kultur verstanden wird) befragt: und das bedeutet „die ganzen Geschichten der Sprachen, der Sitten und der Ereignisse, sowohl im Frieden wie im Krieg der Völker“ (Sn44, 7[6]). Die also von der Fülle einer Geschichte ausgeht. Nicht, um bei ihr stehen zu bleiben, sondern um ihr die „Form einer Wissenschaft“ zu geben, indem sie deren universelle Konstanten und allgemeinen Gesetze wiederfindet: jene „ewige ideale Geschichte“10 als Wirken der Vorsehung, die, so Vico, das Modell der geschichtlichen Entwicklung aller Nationen darstellt. Aus der Sicht Vicos machen ein neuer Gegenstand und eine neue Methode aus einer solchen Wissenschaft zugleich eine „rationale politische Theologie der Vorsehung“ (Sn44, 385[145], eine „Philosophie der Autorität“ (Sn44, 386-390[146]), eine „Geschichte der menschlichen Ideen“ (Sn44, 391[148-149]), eine „Philosophische Kritik“ (Sn44, 392[149]), eine „Ewige Ideale Geschichte“ (Sn44, 393[49-150]), ein „System des natürlichen Rechts der Völker“ (Sn44, 394-398[150-152]) und schlussendlich der „Anfänge der Universalgeschichte“ (Sn44, 399[152-153]). Es wäre vieles über einen jeden dieser „Hauptgesichtspunkte“ zu sagen, unter denen man, so Vico, diese neue Wissenschaft betrachten kann. Hier soll die Beobachtung genügen, dass die SN als eine Theologie der vernünftig gestalteten göttlichen Vorsehung vorgestellt wird, und also nicht einer geoffenbarten Vorsehung. Die Vorsehung gehört, in der Tat, zu den normalen dynamischen Kräften der Geschichte: sie stellt eine Art von DNA oder eines (idealen und ewigen) Projekts dar, an das sich die historischen Entwicklungen halten, auf Hinwegen und Rückwegen. Sie stellt also keine Einmischung des Übernatürlichen dar, sondern vielmehr eine natürliche Ord9 Berlin 1976, S. 57; it. Übersetzung Berlin 1996, S. 74. 10 Siehe Sn44, 7[6], 35[31], 145[77]; ihre Prinzipien werden dargelegt in §§ 239-245[93-95], während in den §§ 294[105], 349[124], 393[149-150] die ideale ewige Geschichte eben die SN ist, insofern sie unter einem ihrer „Hauptgesichtspunkte“ betrachtet wird.

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nung, die sich auf ein ihr vorangehendes göttliches Projekt stützt (siehe Sn44, 136[75]). In diesem Sinne besteht der Zweck der SN darin, das Sich-Darbieten einer „Vorsehung in der Welt des menschlichen Gemütes, das heißt der politischen Welt oder der Welt der Völker“ zu zeigen (Sn44, 2[1]). Diese gesuchte ideale ewige Geschichte hat demnach einen Autor, der sicherlich der Mensch ist, aber ein Mensch, der sich durch eine ideale und ewige Ordnung leiten lässt, die er selbst nicht schafft. Es ist eben gerade diese Frage nach dem Ursprung und dem Autor, die (neben anderen Dingen) aus der SN auch eine „Philosophie der Autorität“ macht: ein Ausdruck, der in der SN mindestens zwei Bedeutungen hat.11 Auf der einen Seite ist die SN eine Philosophie der Autorität auf Grund einer methodologischen Wahl. Sie ist, anders gesagt – und wie wir gesehen haben –, eine Philosophie, die methodisch auf jene Autoritäten angewendet wird, die die Materie der Philologie bilden, wo der Begriff „Autorität“ also die Bekundung dessen bezeichnet, was historisch gewesen ist. Es ist die Welt des „Gewissen“: dessen, was sich zu einem bestimmten Moment und an einem bestimmten Ort ereignet hat. Die SN ist also eine Philosophie der Autorität, insofern ihre Wahl auf die Methode fällt, zum Universellen, zu jenem Wahren, dessen sich die philosophische Vernunft annimmt, durch eine genaue Betrachtung des abgesicherten Partikularen zu gelangen. Auf der anderen Seite betrifft der Ausdruck „Philosophie der Autorität“ die Natur der Materie, mit welcher es diese neue Wissenschaft zu tun hat. Indem sie sich mit der Genealogie der Menschlichkeit des Menschen befasst, und insofern sie deshalb ihren Ausgangspunkt bei jenem „Gemeinsinn“ (allen Menschen und allen Völkern gemein) nehmen muss, von dem Vico hypothetisch annimmt, dass er die Menschheit geleitet hat, als sie noch nicht den höchsten Grad ihrer eigenen Verfassung und also ihrer eigenen Rationalität erreicht hatte, zeichnet sich die SN als eine philosophische Untersuchung ab, die auf die Gesamtheit all jener vorrationalen vertrauenswürdigen (autorevoli) Gewissheiten angewendet wird, die alle Menschen eint. Indem die SN auf diese Weise die Geschichte des menschlichen Geistes zurück verfolgt, reproduziert sie auf eine perfekte Weise die Geschichte der menschlichen Angelegenheiten, die – so Vico – eine Geschichte ist, die seit jeher vom „Gewissen“ des Gemeinsinnes ausgeht und zum „Wahren“ der Vernunft fortschreitet: vom vorrationalen Gemeinsinn zu den reifen Früchten der wahren Reflexion. Der Gemeinsinn der Völker ist somit zugleich das von der Vorsehung gewollte Instrument, um die noch nicht „rationale“ Menschheit (die auch niemals ausschließlich rational sein wird) zu führen und das hermeneutische Kriterium zum Verständnis der menschlichen Dinge (siehe Sn44, 348[124]). Ein solcher „Gemeinsinn“ wird von Vico definiert als „ein Urteil ohne jede Reflexion, allgemein empfunden von einem ganzen Stand, einem ganzen Volk oder dem ganzen Menschengeschlecht (SN44, 142[76]). Es handelt sich also 11 Zu diesem Punkt sei es uns erlaubt, auf einen eigenen früheren Beitrag hinzuweisen: Biancu 2011.

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um eine Erkenntnis („ein Urteil“), die sich durch die Gewissheit auszeichnet, aber noch (nicht) den Charakter der Wahrheit besitzt. Auch dieses Mal handelt es sich also um ein „Gewisses“: etwas Gesetztes, Gegebenes, auf eine autoritative Weise Instituiertes. Fassen wir also zusammen: die Prinzipien, die die politische Welt beherrschen, sind erkennbar durch die „Veränderungen des menschlichen Geistes, oder anders gesagt durch die Etappen seiner Geschichte (von seiner Vorgeschichte aus, oder von dem, was jeder bewussten Reflexion vorausgeht). Um eine solche Geschichte des Geistes zu rekonstruieren, bedarf es eines Blickes von außen, der demnach darauf bedacht ist, die allgemeinen und universellen Elemente aus dem Material zu ziehen, das ihm die Philologie liefert, das heißt jene Dinge, bezüglich derer die Menschen immer und überall übereinstimmten: was Vico als „uniforme Ideen“ (Sn44, 333[115]) bezeichnet, und ihrer historischen Konkretisierungen. Es gibt also einen offensichtlichen Zirkel zwischen den Institutionen der politischen Welt und der Geschichte des Geistes: die politische Welt ist verstehbar durch eine Geschichte des Geistes, welche – ihrerseits – nur rekonstruierbar ist durch einen aufmerksamen Blick auf die großen kulturellen Institutionen der Geschichte der Menschheit. Als Bindeglied zwischen ihnen teilt Vico dem Staat eine vorrangige Rolle zu.

3. Die architektonische Rolle der Sprache Als bevorzugter Untersuchungsgegenstand seiner Wissenschaft wählt Vico jene großen kulturellen Institutionen, die in seinen Augen einen spezifischen anthropogenetischen Wert haben: es handelt sich, mit anderen Worten, um menschliche Produktionen, die ihrerseits Menschheit produzieren, in dem Sinne, dass der Mensch, indem er sie hervorbringt, sich selbst hervorbringt. Solche Institutionen – und zu ihnen zählt der Staat – befinden sich allerdings nicht alle auf derselben Ebene, da eine von ihnen eine sozusagen architektonische Funktion gegenüber den anderen erfüllt: sie unterstützt die anderen und bildet in gewissem Sinne das Paradigma. Es handelt sich um die Sprache: laut Vico ist sie das „fundamentale Organ“ der Kultur.12 Im Hinblick auf die anderen Institutionen ist die Sprache ein konstitutiver und strukturierender Bestandteil des Menschlichen: in der Tat ist „der Mensch eigentlich nichts anderes“ „als Geist, Körper und Sprache“ (Sn44, 1045[478]). Neben der Sprache, die als menschliche Fähigkeit verstanden wird, gibt es die historisch entstandenen und besonderen Sprachen, die in jener Fähigkeit ihre Wurzel haben. Aber es gibt auch die von Vico sogenannte „gemeinsame geistige Sprache“, die allen Völ-

12 Berlin 1976, S. 48; it. Übersetzung Berlin 1996, S. 65.

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kern gemeinsam ist (Sn44, 161-162[80-81]), die ihrerseits auf einem „geistigen Wörterbuch“ beruht (Sn44, 35[30], 162[81], 445[182]). Eine solche Sprache und ein solches Wörterbuch sind an der Basis des „Gemeinsinns“, von dem schon die Rede war: es ist kein Zufall, dass Vico es unternimmt zu diesem zu gelangen, indem er jene rekonstruiert, mittels einiger fundamentaler Ideen, die er eben als allen Völkern gemeinsam zurück behält: Götter, Familie, Heroen, Wahrsager, die väterliche Macht, Opfer, Rechte, Befehle, Autorität, Eroberung, Mut, Ruhm…13 Die Aufgabe der SN wird es demnach sein, diesen mentalen Wortschatz zu rekonstruieren, um, so Vico, „die verschiedenen artikulierten Sprachen die Bedeutungen zu geben, indem wir sie sämtlich auf bestimmte Einheiten der Ideen ihrer Substanz nach zurückführten, die dann, von den Völkern nach verschiedenen Modifikationen betrachtet, von diesen mannigfache und verschiedene Bezeichnungen erhalten haben“ (Sn44, 445[182]).14 Doch noch mehr als an der Entstehung der historischen Sprachen ist Vico jedoch – da die Lehren zusammen mit ihren Gegenständen anfangen müssen (siehe Sn44, 314-315[110]) – an dem interessiert, was man heute als die semiotische Fähigkeit des Menschen bezeichnen würde15: die Fähigkeit, der Welt einen Sinn zu geben, indem man den Gegenständen den Status bedeutender Zeichen zuerkennt, durch Wörter, Gesten, Zeichen und Symbole. Die historischen Sprachen werden in der Tat von Vico in ein weitaus größeres linguistisches Phänomen platziert, das auch durch eine Entwicklung und eine Geschichte gekennzeichnet ist. Als philosophisch erhellend betrachtet Vico in diesem Zusammenhang eine antike ägyptische Überlieferung, die man bei Herodot findet (siehe Sn44, 52[43-44]) und die Homer in einem gewissen Maße bestätigt (Sn44, 174), und der gemäß sich, vor der ägyptischen Zivilisation, drei Epochen in der Welt aufeinander gefolgt seien, die sich durch drei Sprachen kennzeichneten (und durch drei Typen von Charakteren, die wesentlich mit den Sprachen verbunden waren).16 Folgt man den Angaben in Sn44, 31[26-27], kann man die Epochen und Sprachen der Völker auf folgende Weise schematisieren: 1. In einer ersten Epoche – die Epoche der Götter – glauben die Völker, durch die Sinne beherrscht, dass sie durch die Götter regiert werden, mittels Wahrsager und Orakel: ihre Sprache ist hieroglyphisch, heilig und geheim, also eine stumme Sprache, die sich durch Zeichen – Gesten und Körper – ausdrückt, die natürliche Verbindungen zu den Ideen haben.

13 Ebd., it. Übersetzung, ebd., S. 66. 14 Zur Originalität von Vicos Vorschlag betreffend die Leitlinien des okzidentalen Denkens, siehe Trabant 2001, S. 193-201. 15 Siehe Trabant 1994; it. Übersetzung Trabant 1996. 16 Zur Bedeutung des Begriffs „carattere“ bei Vico, siehe Trabant 1994, S. 49-52, it. Übersetzung Trabant 1996, S. 43-46.

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2. Eine zweite Epoche – die Epoche der Heroen – zeichnet sich durch aristokratische Regierungsformen aus und durch den Gebrauch einer symbolischen Sprache, die durch heroische Devisen spricht (das heißt durch Ähnlichkeiten, Vergleiche, Bilder, Metaphern und natürliche Beschreibungen). 3. In der dritten Epoche – die Epoche der Menschen – hat endlich die Vernunft die Vorherrschaft, die Individuen erkennen sich untereinander als gleich an und rufen Volksstaaten und, am Ende, Monarchien ins Leben: eine solche Epoche kennzeichnet sich durch den Gebrauch einer Volkssprache, die sich aus Wörtern zusammensetzt, die die Völker gebildet haben, so dass letztere also deren absolute Herrscher sind. In dieser engen Verbindung von Ideen, Institutionen, Sprachen und Zeichen ist Vico überzeugt, dass man die Entwicklung der menschlichen Angelegenheiten verstehen kann. Den wesentlichen Charakter dieser Verbindung nicht gesehen zu haben, bildet für Vico einen der gravierendsten Fehler seiner Vorgänger, von denen er aber zugibt, dass er ihnen in seinen vorigen Werken gefolgt ist, Sn25 inbegriffen.17 Der ägyptische Beweis scheint ihm jetzt in der Lage zu sein, die fundamentale Struktur der Hinwege und Rückwegen zu liefern, durch die hindurch sich die ideale ewige Geschichte artikuliert: also durch drei Arten von Naturen, Sitten, natürlichen Rechten, Regierungen, Sprachen, Schriftzeichen, Jurisprudenz, Autoritäten, Rechten, Gerichten, Epochen des Zeitgeistes (siehe Sn44, Bücher IV und V: „Von dem Lauf, den die Völker nehmen“ und „Von der Wiederkehr der menschlichen Dinge beim Wiedererstehen der Völker“). In den ersten beiden Epochen – den vormenschlichen – erscheinen die Sachen den Menschen auf eine mythopoetische Weise als beseelt und vergöttlicht: die menschlichen Wesen, die der Sprache noch nicht mächtig sind und demnach auch noch nicht abstrahieren können, leben in einer „mitempfindenden Natur“ (Sn44, 378[141]). Es handelt sich selbstverständlich um Produkte der Einbildungskraft, aber das Interessante ist, dass es sich nicht um eine subjektive Einbildungskraft handelt, sondern eher um eine transzendentale – universelle – Modalität des Menschlichen. Die Entdeckung einer als Gegebenheit existierenden stummen und schöpferischen Sprache – die der von den vielen Völkern geschaffenen Sprachen vorangeht – ist das was Vico als „Hauptschlüssel“ der SN definiert. In der Epoche der Götter, wie auch in der Epoche der Heroen (also in der Vorgeschichte der eigentlich menschlichen Zeit) drückt man sich durch „Poetische Charaktere“ aus (Sn44, 34[29]), das heißt 17 Vico hatte in der Tat die Sn25 gemäß einer klaren Teilung zwischen Geschichte der Ideen (die im Buch II behandelt wird) und Geschichte der Sprachen (Buch III) aufgebaut. Doch schon in Sn30 überdenkt er diese Teilung: siehe die Correzioni, Miglioramenti, ed Aggiunte Terze poste insieme con le Prime, e Seconde; e tutte coordinate per incorporarsi all’Opera nella Terza Impressione della Scienza Nuova [=CMA4], in: Vico 2004, S. 547-549.

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„phantastische Gattungsbegriffe“ oder „Ideale Porträts“ (Sn44, 209[89]), auf die sich alles Partikulare zurückführen lässt, das einem Genus angehört. Da eine begriffliche Abstraktion fehlt, greift die Menschheit auf Personifizierungen zurück, Bilder beseelter Substanzen: „Mythen“, die man allerdings im Sinne Vicos verstehen muss: „wahre Erzählungen“ (Sn44, 34[29]).18 Es handelt sich um archetypische Figuren, die es erlauben, die Einzelfälle zu verstehen: exemplarische Figuren, die noch nicht zur Abstraktion fähige Geister bilden, um doch auf irgendeine Weise zu verallgemeinern. So wird Jupiter – bei jedem Volk – der poetische Charakter des über die Erde herrschenden Himmels, Herkules der Charakter aller Nationsgründer, usw. In einem wichtigen Punkt unterscheidet sich allerdings die Sprache der Epoche der Götter von derjenigen der Epoche der Heroen. Die erste ist in der Tat wesentlich stumm, insofern sie wesentlich religiös ist: rituale Sprache, für die es wichtiger ist, zu tun, als zu sprechen (siehe Sn44, 32[27-28]). In der Zeit der Heroen wird die Sprache gemischt: sie spricht durch sogenannte „imprese“, das heißt symbolische Repräsentationen, die aus einem Bild und einem Spruch (einem verbalen Ausdruck) bestehen, die sich gegenseitig interpretieren: die Wörter erklären das Bild, das Bild die Wörter.19 Man befindet sich also noch im Lager einer externen Autorität, die nicht nur aus stummen körperlichen Riten besteht – nach dem Modell der großen vergöttlichten kosmischen Bewegungen (siehe Sn44, 215-217[90]) –, sondern auch aus stereotypischen, standardisierten und gewissen linguistischen Formeln. Erst in der dritten Epoche, die Epoche der Menschen, wird die Sprache schließlich zu dem, was sie in Wahrheit ist. Auf dieser Ebene ersetzt das Verständnis der Gesetze den blinden Gehorsam einer höheren Instanz gegenüber, die durch die Objekte spricht (wie es zur Zeit der Götter geschah) oder begrenzter élites (wie es in der Epoche der Heroen der Fall war). Im dritten Zeitalter ist es demnach nicht mehr die Autorität eines Objekts, die die Menschen in Bewegung setzt, eine (liturgische) Geste oder eine Rechtsformel, sondern ein volles Verständnis dessen, was wahr und gerecht ist: die Sprache ist die Domäne eines jeden und alle sind insofern gleich.20 Erst in diesem Zeitalter kann man wirklich von Menschen sprechen: und dies nur insofern sich erst in dieser Epoche das Gewisse der Autorität seine vollkommene Be-

18 Die Mythen sind „wahr“ (siehe Sn44, 34[29], 51[43]), insofern sie eindeutig sind und die ersten Geschichten der heidnischen Völker bilden (sie haben also immer eine Referenz): für Vico ist die Phantasie sonst nichts als ein „erweitertes oder zusammengesetztes Gedächtnis“ (Sn44, 211-212[90]). Aber die Mythen sind auch „wahr“, insofern sie die Wahrheit der Geschichte und ihres Fundaments ausdrücken: Sn44, 205[88] stellt klar, inwiefern sie „Wahrheiten der Idee“, wenn auch „manchmal in Wirklichkeit falsch“ sind. Und sie waren nicht bloß „wahr“ [vere – N.C.], sondern auch „streng“ [severe – N.C.] (Sn44, 81[55]), das heißt moralisch. 19 Was die „imprese“ betrifft, projiziert Vico wahrscheinlich auf die Vorgeschichte der Menschheit einen Gebrauch, der im Barock en Vogue war: siehe Battistini 2000. 20 Siehe Sn44, 321-329[111-113] und die Sektion VII des IV. Buches. Es ist kein Zufall, dass die dritte Sprache die einzig wirklich „menschliche“ ist, konventionell und also ganz abhängig von den Völkern.

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stätigung im Wahren der Vernunft findet. Somit fällt die Notwendigkeit einer jeden Vermittlung weg und das universelle Prinzip der Gleichheit kann sich behaupten. Man würde sich allerdings irren, interpretierte man diese Stadien so, als würden sie einfach aufeinander folgen. Vico selbst verwirft diese Leseweise (siehe Sn44, 446[183-184]). Es handelt sich nicht bloß um eine Chronologie, sondern eher um den Weg der Aneignung der Voraussetzungen der eigenen Menschlichkeit, auf dem die einzelnen Etappen nicht gleichgültig sind, auch dann nicht, wenn der Weg vollständig zurückgelegt wurde. Nur die drei Sprachen zusammen genommen bilden in der Tat das gemeinsame „mentale Vokabular“ und die Sprache, in welcher die SN spricht, wenn sie sich darum bemüht, den vielseitigen Reichtum des menschlichen Geistes zu rekonstruieren. Nur die drei Sprachen zusammen genommen – Körper, Gesten, Wörter – bilden eine wahrhaft menschliche Sprache. Noch eine letzte Anmerkung: als Basis seiner genealogischen Herangehensweise nimmt Vico ein ganz präzises epistemologisches Prinzip, demzufolge das Verständnis der Natur einer Sache notwendigerweise den Weg einer Untersuchung über die Modalitäten ihrer Entstehung nehmen muss. „Die Natur der Dinge“ – schreibt er – „ist nichts anderes als ihre Entstehung, Geburt zu bestimmten Zeiten und auf bestimmte Weise; immer dann, wenn diese so sind, entstehen die Dinge daraus so und nicht anderes“ (Sn44, 147[77]).21 Somit ist es unmöglich, die Ontologie von der Geschichte, das Wesen der Dinge von der Zeit, die Universalität der Natur von der Partikularität der Bedingungen zu trennen, die ihren Ursprung bestimmt haben. Den Menschen studieren bedeutet somit für Vico, die Genealogie studieren: die Bedingungen seiner Menschwerdung, seiner „Geburt“ als Menschen. Die Sprache ist das grundlegende Paradigma dieser Menschwerdung.

4. Die Geburt des Staates und die Regierungsformen Nachdem wir den allgemeinen Kontext von Vicos Überlegungen freigelegt haben, den epistemologischen Status seiner neuen Wissenschaft und die architektonische Rolle, die in ihr die Sprache spielt, ist es jetzt möglich, sich näher mit dem Problem des Staates zu befassen: eine sektorielle Problematik, die in Vicos theoretischem Denken eine exemplarische Funktion erfüllt. Wie von anderen Autoren gezeigt wurde22, tritt Vicos Interesse für das Problem des Staates auf der Höhe eines Wechsels des anthropologischen Paradigmas auf: durch eine „größere Aufmerksamkeit für den Körper“, „ändert sich auch die Be21 Zum Thema der Gleichsetzung von Geburt und Natur, siehe Auerbach 1967, S. 256f. 22 Für das, was folgt, siehe Montano 2010. Montano zeigt sehr gut, wie die Zuordnung Vicos zu den großen politischen Denkern der Moderne an und für sich rezent ist, weit entfernt von den durch Croce beeinflussten neo-idealistischen Lesarten.

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trachtungsweise der Politik“23 bei Vico. Wo er zur Zeit der Orazioni inaugurali das menschliche Wesen als ein Kompositum von Geist, Seele und Sprache definierte und den (bloßen) Körper ausdrücklich aus der wesentlichen Struktur des Menschlichen ausschloss24, so liest man hingegen – wie wir gesehen haben – in der SN, dass das menschliche Wesen nichts anderes ist als „eigentlich Geist, Körper und Sprache“ (Sn44, 1045[478]). Der mittlere Begriff ist somit nicht mehr die Seele, sondern der Körper. Nun ist der Körper der Ort des Bedürfnisses, das heißt jener „Bedürfnisse“ und „Vorteile“, die, laut Vico, an der Wurzel des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der politischen Institutionen stehen. Aber in einem wesentlichen Punkt distanziert sich Vico hier von den Hypothesen der großen Theoretiker des Naturrechts und des Kontraktualismus, mit denen er sich auseinandersetzt – Grotius, Pufendorf, Hobbes, Spinoza: das Bedürfnis ist laut Vico nicht der letzte Grund des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Vico verurteilt keineswegs die Bedürfnisse und die Vorteile, er setzt sie nicht herab, sondern ganz im Gegenteil findet er eine Wahrheit in ihnen: sie treiben den Menschen dazu, seine Wahrheit als ein (von Geburt aus) gemeinschaftliches und auf die Gerechtigkeit hin orientiertes Wesen wieder zu entdecken. In Vicos Vokabular bilden die Bedürfnisse und die Vorteile somit nicht die „Ursachen“, die letzten Gründe, für die Geburt der politischen Welt – der politische Ort des Staates –, sondern die „Gelegenheiten“ für dieses Geborenwerden.25 Die Ursachen sind jene angeborenen und schlummernden Dispositionen – Soziabilität und Neigung zur Gerechtigkeit – in Bezug auf welche die Bedürfnisse – die Bedürfnisse und die Vorteile – die Gelegenheiten einer Wiederentdeckung darstellen. Diese Unterscheidung zwischen Ursachen und Gelegenheiten ist von grundlegender Wichtigkeit und bildet den Ort der heftigsten Polemik zwischen Vico und den modernen Theoretikern der Politik. An der Basis einer solchen theoretischen Distanz steht eine anthropologische Differenz. Sowohl Hobbes als auch Spinoza haben ein binäres anthropologisches Modell postuliert, das auf der natürlichen Feindschaft unter den Menschen fußte: ein Modell, demzufolge auf den natürlichen Menschen – der ganz in seinem Körper und seinen Begierden aufgeht und der seine Kräfte benutzt, um seinen Nutzen zu verwirklichen – das Moment des durch die natürliche, rechnende und utilitaristische Vernunft geleiteten Menschen folgen würde; ein Mensch also, der sich mit den anderen einigt und die Souveränität (den Staat) schafft, welcher er sein natürliches Recht 23 Ebd., S. 37. 24 Siehe Orazione VI (1707): „Et an vera dicam quisque vestrum in se ipsum descendat, et hominem contempletur. Is enim vero se nihil aliud esse sentiat, quam mentem, animum et sermonem; corpus namque ac cetera discernet, et aut bruta, aut cum brutis communia esse iudicabit“ (Vico 1982, S. 192-193, Kursiv hinzugefügt). 25 Zu diesem Punkt siehe das Kapitel XLVI von De Uno (Giambattista Vico, De universi iuris uno principio et fine uno, in: Vico 1974, S. 17-346, S. 61).

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übergibt (ganz, wie es bei Hobbes der Fall ist, oder zum Teil, wie es bei Spinoza der Fall ist), mit dem Ziel, seine natürlichen Instinkte im Zaum zu halten und seine Begierden zu regeln. Wie mit aller Klarheit aus dem De Uno hervorgeht26, postuliert Vico ein ternäres anthropologisches Modell, das er aus der christlichen Anthropologie übernimmt und das sich in drei Momenten artikuliert (und also nicht in zwei). Das erste ist das ursprüngliche Moment der Integrität („natura hominis integra“), in dem der Mensch nicht nur Kraft besitzt (die im Dienste des Privatnutzens steht), sondern auch Weisheit und Güte; er ist also nicht nur Körper, sondern auch Geist: er trägt also eine angeborene Neigung zur Soziabilität und zur Gerechtigkeit in sich.27 Das zweite Moment ist dasjenige des Falls („natura humana corrupta“), in Folge dessen der Egoismus und die Feindschaft vorherrschen, die Konsequenzen eines bösen Gebrauchs jener Freiheit, mit welcher er ursprünglich ausgestattet ist. Das dritte Moment ist die Erlösung. Die Soziabilität und die Neigung zur Gerechtigkeit sind also ursprünglich, aber sie schlummern: das Bedürfnis ist die Gelegenheit, derer sich die Vorsehung bedient, um sie im Geiste des Menschen zu erwecken. Die Ursprünge und die Anfangsgründe des Staates sind also nicht verständlich, so Vico, wenn man nicht eine doppelte ternäre Struktur akzeptiert: die – synchrone – des Körpers, des Geistes und der Sprache, und die – diachrone – der Integrität, des Falls, der Erlösung. Auf der einen Seite bedeutet die Vernachlässigung der Tatsache, dass der Mensch Körper und Geist ist (die, wie wir sahen, beide linguistisch vermittelt und instituiert sind), in der Tat, das Bedürfnis zu verabsolutieren – die an sich körperliche Welt der Bedürfnisse und der Vorteile –, wobei man die angeborene Tendenz des Menschen zur Soziabilität und zur Gerechtigkeit vergisst. Auf der anderen Seite vergisst man, dass es zwischen dem ursprünglichen und dem vollkommenen Menschen den tragischen Übergang des Falles und der Schuld gibt, so bedeutet das, dass man im Gegensatz zum soeben genannten Punkt die positive Funktion unterbewertet, die gerade das Bedürfnis – die körperliche Welt der Bedürfnisse und der Vorteile – erfüllt. Jenes Bedürfnis des Körpers wird in der Tat nicht verachtet, und zwar in dem Maße nicht, als ihm eine Wahrheit innewohnt: es ist die Welt der Gelegenheiten, die die Ursachen wecken, anders gesagt die Samenkörner der Wahrheit – die Tendenz zur Soziabilität und zur Gerechtigkeit –, die die Vorsehung in den menschlichen Geist gepflanzt hat. Die Geburt des politischen Lebens und seiner Institutionen geschieht also bei Gelegenheit des Bedürfnisses, aber auf dem Fundament einer Neigung zur Soziabilität und angeborenen Gerechtigkeit. 26 Siehe im De Uno die Kapitel X-XXXII (ebd., S. 45-53). 27 Siehe die Kapitel XLIV-XLV von De Uno (ebd., S. 57-59). Siehe auch die Sinopsi del diritto universale (1720). Während Vico klarstellt, dass die „Vorteile“ die „Gelegenheit“ und die „Gleichheit“ der „ewige Grund“ der Gerechtigkeit sind, wirft er „Epikur, Machiavelli, Hobbes, Spinoza, Bayle“ (ebd., S. 6) vor, den Fehler begangen zu haben, die Gelegenheit und die Ursache miteinander zu verwechseln.

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Wie also geschieht die geschichtliche Entwicklung der Formen des politischen Lebens und dessen Institutionen? Der genetischen Methode seiner neuen Wissenschaft treu bleibend, zeichnet Vico ein Bild der Geschichte dieser Entwicklung, über verschiedene Entwicklungsetappen, auf der Suche nach den Konstanten und universellen Gesetzen, die sie beherrschen. Er übernimmt im Besonderen die, zumindest seit Aristoteles, zum Gemeinplatz gewordene Dreiteilung der reinen Regierungsformen28: Monarchie, Aristokratie, Demokratie, die er in den lateinischen Schriften „respublica regia“, „respublica optimatum“, „respublica libera“, und in den italienischen „regno“ (oder „monarchia“), „repubblica aristocratica“ (oder „eroica“), „repubblica popolare“ (oder „libera“) nennt. Aber mehrmals ändert er die Reihenfolge dieser Dreiteilung.29 Im De Uno erscheint die Dreiteilung als Homologie zur fundamentalen Dreiheit, die aus der römischen Geschichte stammt, auf welcher das ganze Werk aufbaut: „dominium“ (die Herrschaft, die der Monarchie entspricht), „tutela“ (Obhut, die der Aristokratie entspricht), „libertas“ (die Freiheit, die der Demokratie entspricht). Aber deren Reihenfolge erscheint auf eine mit der Tradition brechende Art und Weise: nicht Monarchie, Aristokratie und Demokratie, sondern Aristokratie, Monarchie, Demokratie.30 Von jetzt an und bis auf weiteres identifiziert Vico jene Korrespondenz zwischen Regierungsformen und Erkenntnisformen, die er im weiteren Verlauf der SN vertiefen wird: die „sensuum tutela“ kennzeichnet die aristokratische Republik, die „affectum libertas“ die Monarchie (hier als Despotismus verstanden), das „dominium rationis“ das demokratische Regime der populären Republik. In der SN wird die Ordnung sowieso noch einmal ändern: der Staat wird ursprünglich unter der Form von aristokratischen Republiken geboren, auf die populäre Republiken folgen, und auf diese die Monarchien (wobei letztere nicht mehr als Formen des Despotismus betrachtet werden, sondern als vollkommenere Formen der Herrschaft der Vernunft). In Wirklichkeit ist die Dreiteilung in der SN auch als eine Zweiteilung lesbar (die Trias als Dyade): auf die aristokratischen oder heroischen Republiken, die den vormenschlichen Epochen angehören, folgen die menschlichen Republiken, die durch populäre Republiken und Monarchien gebildet werden (wobei die zweiten menschlicher als die ersten sind). Um eine solche Sequenz der Staatsformen zu verstehen, muss man sich die – schon im Kontext der Sprache begegnende – Unterscheidung zwischen den drei Zeitaltern vergegenwärtigen: der Götter, der Heroen, der Menschen. Das Zeitalter der Götter geht der Geburt des Staates voraus: in ihm herrscht das vorstaatliche Regime der Familien, an deren Spitze patres stehen (diese besitzen Autorität über die 28 Für einen Gesamtüberblick über die Tradition, von Platon bis Hegel, siehe Bobbio 1976. 29 Für das Folgende siehe die ausgezeichneten Studien von Norberto Bobbio: Bobbio 1976, S. 117-132 und Bobbio 1978. 30 Siehe De Uno, Kapitel CXLIV (Vico 1974, S. 177-179).

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Söhne und das „Gesinde“: die Dienstleute besitzen noch einen tierischen Status). In dem durch die Phantasie eines spontanen Geistes gekennzeichneten Zeitalter der Heroen erscheint der Staat zum ersten Mal, und genauer in der aristokratischen Form. Im Zeitalter der Menschen, und das heißt der Vernunft und eines vollständig entfalteten reflexiven Geistes, findet man also zwei Formen des Staates und der Regierung: die demokratisch-populäre und die monarchische, die sich durch eine zunehmende Angleichung der Bürger und eine immer größere Gerechtigkeit der Gesetze kennzeichnen. Wenn es also zwischen der Aristokratie und den anderen beiden Formen eine Mutation gibt – es kommt zu einem Qualitätssprung, in dem Maße wie der Mensch vollkommen menschlich wird: es ändert sich also die soziale Basis des Staates –, so besteht hingegen Kontinuität zwischen den beiden anderen: es ändert sich nur die politische Form des Staates (auch wenn ein solcher Wechsel mit einem späteren Zunehmen der Rationalität zusammenfällt). Ist somit die chronologische Ordnung der drei Regierungsformen klar – und es handelt sich um eine ideale und notwendige Ordnung –, muss man sich anschließend fragen, ob sie auch einen axiologischen Wert hat: wird durch ein solches Folgen von Staats- und Regierungsformen ein Werturteil unterstellt? Ist es also auf das Beste gerichtet? Die Antwort hierauf kann nur unklar sein. Setzt man seine Philosophie der Geschichte voraus – die um die Idee partikularer Geschichten organisiert ist, die sich nach dem Modell einer durch die Vorsehung geleiteten idealen ewigen Geschichte organisiert –, so leuchtet ein, dass, für Vico, eine solche Folge von Staats- und Regierungsformen zugleich chronologisch und axiologisch ist: die an letzter Stelle der Ordnung stehende Form entspricht einer Zunahme an Rationalität im Vergleich zu den vorhergehenden Formen: im Vergleich zur ersten, vormenschlichen, aber auch zu zweiten, die schon menschlich ist. Und doch – wie Bobbio festgestellt hat – gilt, dass sich das traditionelle Problem der besten Regierungsform für Vico eigentlich „nicht stellt“.31 Aus seiner Sicht kann es in der Tat keine einzige und exemplarische Staatsform geben, gegeben die Tatsache, dass die aristokratische Republik die bestmögliche Form für die heroischen Zeitalter darstellt, während es die populäre und die monarchische für die unterschiedlichen Phasen der menschlichen Zeitalter tun. Vico erkennt also die „relative Absolutheit“32 einer jeden politischen Form an, die er in der Formel „jede nach ihrer Art die Beste“ (Sn44, 1097[515]) zum Ausdruck bringt: es gibt keine Staats- und Regierungsform, die für jede Zeit in einem absoluten Sinn die beste ist. Es steht aber trotzdem außer Zweifel, dass Vico seine Vorliebe für die Monarchie ausspricht, in welcher er die letzte Etappe des historischen Zyklus sieht: die Monarchien sind in

31 Bobbio 1978, S. 14. 32 Ebd.

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der Tat „der menschlichen Natur in der am höchsten entwickelten Form der Vernunft am angemessensten“ (Sn44, 1008[461]).33 Damit es klar sei: die chronologisch (und damit auch axiologisch) untergeordneten Formen sind nicht schlecht oder verkommen. In Vicos zugleich progressiver und zyklischer Auffassung der Geschichte ist der Fortschritt kontinuierlich und die negativen Momente befinden sich nur am Anfang (der tierische Zustand) und am Schluss des Zyklus (das Moment der Barbarei der Reflexion, das den „Hinweg“ beendet und den Aufbruch zum „Rückweg“ einläutet). Diese terminalen Phasen sind aber der Soziabilität fremd: der tierische Zustand ist vorgesellschaftlich (er geht dem Staate voraus), während der Zustand, in dem der Staat sich auflöst, nachgesellschaftlich ist.34 Um diesen Aspekt zu verstehen, muss man einen genaueren Blick auf die Etappen der Geschichte werfen, in welche sich die drei Regierungsformen einfügen. In Sn44 unterscheidet Vico deren sechs: 1) der tierische Zustand, der dem Hobbesschen Naturzustand entspricht35 und sich durch eine „einsiedlerische“ Autorität eines jeden Individuums über sich selbst kennzeichnet, unter der Herrschaft der Sinne; 2) die vorstaatlichen und theokratischen Regierungen des Familienzustandes, die sich also durch eine „ökonomische“ – im etymologischen Sinn des Wortes – Autorität auszeichnen; 3) die unter staatlicher Form erscheinenden heroischen oder aristokratischen Regierungen: die ersten Formen einer „politischen“ Autorität, in welchen die Phantasie vorherrscht; 4) die unter staatlicher Form erscheinenden ganz menschlichen Regierungen, der populären Republiken in einem ersten Schritt, und dann, in der Folge 5) der Monarchien, die das Zeitalter der vollkommen entwickelten Vernunft kennzeichnen; 6) die Auflösung der Barbarei, bedingt durch einen übermäßig autonomen Gebrauch der Vernunft, und die dem Hinweg ein Ende setzt und den Rückweg einläutet. Es handelt sich um eine Entwicklung, die um drei große Dichotomien aufgebaut ist, deren Vico sich bedient, je nachdem, welcher Perspektive er den Vorzug geben will:36

33 Bobbio macht auch noch darauf aufmerksam, dass zur Zeit der großen Monarchien, in welcher Vico lebte, es „natürlich [war], dass die monarchische Regierungsform als die höchste und letzte Stufe der historischen Entwicklung erschien“. Und somit gilt für die Monarchie, dass sie „anstatt am Anfang der historischen Bewegung zu stehen, so wie es die Alten sahen, schlussendlich am Ende erschien“ (ebd., S. 21). In diesem Punkt trifft sich Vico mit den großen Denkern der modernen politischen Philosophie: Bodin, Hobbes, Montesquieu, Hegel. 34 Zum Thema der Dekadenz siehe Caporali 1995. 35 Mit dem Unterschied – wie Bobbio bemerkt hat –, dass „für Vico der tierische Zustand ein historischer Zustand ist, es ist also ein Zustand, der am Ursprung der wahren Geschichte der Menschheit steht; für Hobbes ist der Naturzustand eine rationale Hypothese, also die Hypothese, die sich aus dem Gedankenexperiment ergibt, was das menschliche Leben wäre, wenn es keine gemeinsame Macht gäbe, die den freien Lauf der Instinkte verhindern würde“ (Bobbio 1976, S. 121). 36 Siehe Bobbio 1978, S. 26f.

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die Dichotomie zwischen der vormenschlichen (vorgesellschaftlichen) und menschlichen (sozialen) Welt: zur ersten gehört der tierische Zustand (1), zur zweiten der Zustand der Familien und die darauf folgenden staatlichen Formen (2, 3, 4, 5); die Dichotomie zwischen vorstaatlichen und staatlichen Zeitaltern: zu den ersten gehören der tierische Zustand und der Zustand der Familien (1, 2), zu den zweiten die aristokratische, demokratische und monarchische Regierungsformen (3, 4, 5); die Dichotomie zwischen der Welt der Barbarei (oder dunkle Zeiten) und die Geschichte der zivilisierten bürgerlichen Völker: zur ersten gehören der anfängliche tierische Zustand; der Zustand der Familien und die aristokratischen Regierungsformen (1, 2, 3), zur zweiten die populären Republiken und die Monarchien (4, 5).

In all diesem ist Vico evidenter Weise zugleich antik und modern. Seine Geschichtsphilosophie folgt in der Tat einer progressiven Bewegung, die zugleich linear und zyklisch ist: insofern sie zyklisch ist übernimmt sie das Modell der Antiken, aber insofern sie progressiv ist, „tritt sie mit vollem Recht in den Kreis der Interpretationen der Geschichte, die das moderne Denken kennzeichnen“.37 Was man noch einmal als interessant hervorheben kann, ist, dass der Übergang von einer Etappe der Entwicklung zur anderen sicherlich durch die Vorsehung beherrscht wird, die die ewige ideale Geschichte so gestaltet hat, dergemäß jede partikulare Geschichte sich entwickeln soll, aber die Instrumente, derer sich die Vorsehung bedient, um ihre Herrschaft auszuüben, sind – wenn man sich so ausdrücken kann – keine edlen, idealer und rationaler Natur, sondern bescheidene, die der Welt der Bedürfnisse angehören: es handelt sich um die Bedürfnisse und Vorteile. Es ist in der Tat durch die Bedürfnisse und die Vorteile, dass der Mensch aus dem tierischen Zustand austritt, um Familien zu gründen, und es ist durch eben diese Bedürfnisse und Vorteile – und besonders durch die Ambitionen der beherrschten und am meisten benachteiligten Klassen –, dass sich jeder folgende Übergang entscheidet: der Übergang vom Zustand der Familien zur aristokratischen Republik geschieht als Folge des Aufstandes der Sklaven (die „Famuli“), der Übergang zur populären Republik findet unter dem Impuls des Aufstandes der Plebejer statt (eine Ausnahme ist aber der Übergang zur Monarchie, der zum Schutz der Freiheit angesichts des Kampfes der in sich zerstrittenen Faktionen stattfindet). Vico versteht im Grunde, dass sich „die sozialen Institutionen unter dem Druck der Klassenkonflikte entwickeln, Konflikte die den Besitzverhältnissen entspringen“.38 In dieser Hinsicht ist er ein äußerst moderner Denker. 37 Ebd., S. 24. 38 Berlin 1976, S. 68, it. Übersetzung Berlin 1996, S. 85.

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5. Schlussfolgerungen: Edelheit und Bescheidenheit des Staates Im Lichte des bislang zurückgelegten Weges stellt sich heraus, dass Vico eine Wissenschaft der Geschichte als Wissenschaft des Menschen begründen wollte: eine Wissenschaft, die auf den großen menschlichen Produktionen fußte, unter denen die Sprache eine paradigmatische Rolle spielt und der Staat eine Rolle erster Ordnung, und zwar derart, dass die chronologischen Grenzen der Geschichte – zwischen der Vorgeschichte der Ursprünge und der am Schluss stehenden Auflösung in die durch einen übertrieben autonomen Gebrauch der Vernunft hervorgerufene Barbarei – mit der Geburt und eben der Dekadenz des Staates zusammenfallen. Vico zufolge kann es erst dann eine wirklich vollkommene Menschheit geben, wenn es Geschichte gibt, aber die Geschichte gibt es erst dann, wenn es (und solange wie es) den Staat gibt und soziale Ordnung, die er garantiert. Vico erkennt vor allem den wesentlich edlen Charakter der Geschichte an – ein ideales und ewiges Projekt, das sie durchzieht, sie beherrscht und auf das Beste hin leitet –, aber auch eine ebenso wesentliche Bescheidenheit der Geschichte, die aus Bedürfnissen besteht und dem Verlangen, von ihnen erlöst zu werden. Die Geschichte besteht nicht nur aus niederen Begierden, aber sie baut auf der bescheidenen Alltäglichkeit von Ereignissen auf, deren Auslöser das Bedürfnis ist. Hier findet man sicherlich eines der wichtigsten neuartigen Elemente von Vicos Weltsicht: diese bescheidene Komponente der Geschichte wird in dem Sinne nicht missachtet, als sie als privilegiertes Instrument der idealen und rationalen Komponente (auch in den vollkommen menschlichen Zeiten) angesehen wird. Der Staat ist Teil dieser Geschichte, zugleich edel und bescheiden. Der Eingang der Menschheit in die Geschichte selbst fällt mit der Geburt des Staates zusammen, und das Ende der Geschichte (oder zumindest ihres Hinweges) mit der Auflösung des Staates, der selbst – zugleich – Werk der durch die Bedürfnisse angetriebene Menschen ist, und Produzent einer Menschheit, zu dessen Vervollkommnung er beiträgt. Dem Staat – wie auch den anderen großen Institutionen der Geschichte und der Kultur – erkennt Vico somit einen fundamentalen anthropogenetischen Wert zu: er lebt von einer bescheidenen Alltäglichkeit, die aus Bedürfnissen besteht, aus Armut, aus Kämpfen, aber hierdurch trägt er dazu bei, den Menschen zu machen, ihn menschlich zu machen. In den Augen Vicos, so lässt sich zusammenfassend sagen, „erhält man durch den Staat die wahre humanitas zurück und wird die Gleichheit geboren. Mit dem Staat behauptet sich die ratio wieder und verfestigt sich, während die vis, die Gewalt, eingedämmt wird. Vor allem wird die Gewalt entprivatisiert. Mit dem Staat stellt sich wieder ein Gleichgewicht her und die wahre Natur der Ordnung und der Institutionen verfestigt sich. Gemeint ist damit ihr eigentlich inspirierendes Motiv, also die Fähigkeit, sich gemäß einem Prinzip zu organisieren, das nicht bloß

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ein Kräfteverhältnis ist, sondern idealer Natur, mit einer rationalen Einprägung“.39 Der Staat ist, anders gesagt, ein fundamentaler Teil des Weges des Menschen zu seiner eigenen Menschlichkeit: seine Geburt und seine Entwicklung durch die drei Regierungsformen und ebensoviele Etappen der Entwicklung hindurch sind ein Zeichen für ein bedeutsames Fortschreiten des menschlichen Wesens auf seine eigene menschliche Vollkommenheit hin. Vico ist sonder Zweifel ein Mensch seiner Zeit: die großen Tragödien des 20. Jahrhunderts, gekennzeichnet durch sich verabsolutierende Staatsformen, die sich gegen das Menschliche gewendet haben, hat er nicht gekannt – und er konnte sie sich auch nicht vorstellen. Es gebührt anderen40 – angesichts der Katastrophen des Krieges und des Totalitarismus – Vicos grundlegende Intuitionen betreffend den anthropogenetischen Wert des Staates aufgegriffen und weiterentwickelt zu haben, im Bewusstsein – das durch die tragischen Erfahrungen der Geschichte reifer geworden ist –, dass die wirkliche Vollendung des Staates in seiner Überwindung besteht: verschlossen im Partikularismus der eigenen Interessen, hat der Staat aufgehört, Menschlichkeit zu produzieren, und nimmt demzufolge ein unmenschliches Antlitz und entmenschlichende Formen an. Nur wenn er auf die politische Schaffung einer geeinten und solidarischen menschlichen Familie hin orientiert ist, kann er sich von diesem Rückzug auf sich selbst befreien und sich selbst und seine eigenen Zwecke wiederfinden. Aber das ist eine andere Geschichte, die heute noch unserer Zukunft angehört. Eine Geschichte, jedoch, deren Prämissen Vico gesetzt hat. Aus dem Italienischen übersetzt von Norbert Campagna

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Alberto Bondolfi Cesare Beccarias Dei delitti e delle pene im Kreuzfeuer der inoffiziellen und offiziellen theologischen Kritik

Dei delitti e delle pene erschien 1764 anonym in Livorno. Die Reaktionen auf die Veröffentlichung dieses Buches waren damals zahlreich und vielfältig. Sie reichen vom lebhaftesten Enthusiasmus bis zur härtesten, ja sogar böswilligen Kritik.1 In diesem Beitrag werde ich mich auf die Darstellung einiger Themen und Argumente beschränken, die Facchinei in seinem 1765 veröffentlichten Pamphlet vorbringt.2 Dieses Pamphlet stellte zu jener Zeit die umfassendste Antwort auf die Positionen Cesare Beccarias dar, die aus der Feder eines Vertreters des religiösen Denkens stammte. Will man diesen Text angemessen bewerten und interpretieren, so muss man selbstverständlich auch andere Stellungnahmen berücksichtigen, die demselben italienischen klerikalen Kontext entstammen. Vor kurzem ist eine solche Analyse möglich geworden, nachdem die internen Berichte der damaligen Offiziumskongregation veröffentlicht wurden. Es war nämlich diese Institution, die Beccarias Werke auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt hatte.3 Die im Bericht des Jesuiten Pietro Lazzari4 festgehaltenen Bemerkungen bilden das zweite Thema dieses zusammenfassenden Beitrags. Den Schlussteil bilden einige Überlegungen zur Aktualität des Werkes und Denkens Beccarias und der Gruppe Mailänder Intellektueller im XVIII. Jahrhundert, wobei besonders die Frage der Zwecke des Strafrechts und der damit einhergehenden Praktiken der Folter und der Todesstrafe im Mittelpunkt stehen soll.

1 Die Literatur zur Rezeption des Denkens Beccarias ist unüberschaubar und es kann ihr hier nicht adäquat Rechnung getragen werden. Ich beschränke mich auf jene Werke, die ich direkt bei der Erstellung dieses Beitrags einsehen konnte und die sich auf die Aspekte der Beziehung zwischen Strafrecht und religiösem Denken zur Zeit der Aufklärung beziehen. Für eine umfassende Darstellung des Denkens Beccarias siehe Audegean 2010. Neuere globale Darstellungen der Rezeption des strafrechtlichen Denkens Beccarias findet man bei Ferrone/Ricuperati 2016 und in einem 2010 in Rennes herausgegebenen Sammelband. Interessant ist des Weiteren der von Wenzel (2010) herausgegebene Band. 2 Die Verteidigung Beccarias wurde noch im selben Jahr von Pietro und Alessandro Verri in einem in Lugano, bei Agnelli, herausgegebenen Büchlein übernommen (Verri/Verri 1765). Da es noch keine Digitalfassung dieser Ausgabe gibt, habe ich eine spätere Ausgabe des Buches benutzt. 3 Siehe den in Pisani 2013 übernommenen Text. 4 Man findet auch manchmal die Schreibweise „Lazzeri“ oder „Lazeri“. Ich verwende im Folgenden konsequent die Schreibweise „Lazzari“.

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Man könnte meinen, dass eine solche Rekonstruktion Gegenstand einer bloßen Geschichte der strafrechtlichen Theorien sei, ohne jeglichen Bezug zu zeitgenössischen Debatten. Eine Lektüre der betreffenden Texte, die sich sowohl auf die Konflikte einer Gesellschaft konzentriert, die gerade dabei war, die Ideologien des ancien régime hinter sich zu lassen, als auch aufmerksam ist für das, was in den heutigen Debatten über das Strafrecht und dessen Praktiken vor sich geht, bringt erstaunliche Parallelen an den Tag. Das Thema der Folter und der Todesstrafe sind und bleiben aktuell, ebenso in Ländern, die wir als „entwickelt“ bezeichnen, wie in der sogenannten Dritten Welt, und die Präsenz von Argumenten, die aus einer angeblich religiösen Tradition stammen, ist unbestreitbar.5 In meinem Beitrag will ich versuchen, diese Analogien zu beleuchten, wobei ich aber nicht die Unterschiede vergessen werde, die es zwischen dem XVIII. und dem XXI. Jahrhundert gibt.

1. Wer war Ferdinando Facchinei? Die mir zugänglichen biographischen Informationen6 zeigen mit aller Deutlichkeit den ambivalenten Charakter des Lebenslaufs dieses Mönches. Geboren wurde er 1725 in Forlì und er war noch jung, als er in den Orden der Benediktiner von Vallombrosa trat. Er studierte nicht nur Theologie, sondern auch Naturwissenschaften. Er wurde Professor für Biblische Studien im Mutterkloster von Vallombrosa und zog durch seine Übersetzungen der Werke Melanchthons und de Bèzes – beide protestantische Theologen des XVI. Jahrhunderts – die Aufmerksamkeit seiner Ordensbrüder auf sich. Er wurde Opfer ordensinterner Sanktionen und ein Widerruf erlaubte es ihm, im Jahre 1751 aus einem Gefängnis des Ordens befreit zu werden. Diese negativen Erfahrungen brachten ihn dazu, stark reaktionäre Positionen zu vertreten und sich eines besonders polemischen Stils zu bedienen, ohne dabei einen direkten Kontakt mit den Quellen zu haben, die er aufs Schärfste kritisiert. Er verbrachte einige Zeit in Novara und Bergamo, und als diese letzte Stadt von den französischen Truppen besetzt wurde, bezeichnete er sich auf eine klare Weise als „Republikaner und Demokrat“. Aber als die Österreicher 1799 wieder die Kontrolle über Norditalien gewannen, wurde Facchinei erneut festgenommen. Das Datum seines Todes ist nicht bekannt, aber man weiß, dass er das Alter von 90 Jahren erreichte. Was sein Buch Note ed osservazioni betrifft, so muss gesagt werden, dass in der zeitgenössischen öffentlichen Meinung seiner Zeit diese Monographie als ein Werk aufgefasst wurde, das durch die Strafrechtspolitik der Republik Venedig veranlasst 5 Zu diesen Themen gibt es eine kaum noch zu überblickende Literatur, so dass hier nicht näher auf sie eingegangen werden kann. Ich verweise deshalb nur auf die philosophischen und religiösen Texte, die ich in einer von mir zusammengestellten Anthologie zusammengetragen habe (Bondolfi 1985). 6 Ich beziehe mich auf Preto 1994.

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wurde, die den Ideen der Aufklärung auf dem Markt der Veröffentlichungen wohlgesinnt war, aber konservativ auf dem Gebiet der Praktiken war. Die Rezeption des Werkes Facchineis entspricht allerdings nicht den theoretischen Orientierungen seines Autors. Dies gilt auch für die Reaktion der päpstlichen Kurie auf das Werk des mailändischen Intellektuellen Beccarias und seiner Gruppe um den „caffè“. Als die Offiziumskongregation Dei delitti e delle pene auf den Index setzte, hatte der Mönch keinen direkten Einfluss auf diese Entscheidung.7 Ungeachtet der theoretischen und praktischen Grenzen des Einflusses des Mönches aus Vallombrosa – die auch und vor allem den zeitgenössischen Lesern des Pamphlets auffallen –, hatte dieser aber vielleicht trotzdem, zur Zeit Beccarias und der Brüder Verri, einen indirekten Einfluss auf die Tätigkeit der, österreichischen und römischen, Zensoren. Aber darum soll es in diesem Beitrag nicht gehen, der sich vorwiegend damit beschäftigen wird, den Inhalt der Gedanken Facchineis bekannt zu machen, und nicht so sehr die historischen Details, die mit der Indexierung des Werkes Beccarias zusammenhängen. Diese biographischen Elemente, die ich der dem Mönch gewidmeten Sekundärliteratur entnehmen konnte, zeigen uns einen sonderbaren Menschen. Seine religiösen und politischen Ansichten haben die, insgesamt doch laue, Aufmerksamkeit seiner Oberen auf ihn gelenkt. Zeit seines Lebens verspürte er ein großes Bedürfnis, als „Experte in weltlichen Angelegenheiten“ anerkannt zu werden. Zugleich wollte er sich aber auch den politischen Entwicklungen seiner Zeit anschließen, ohne sich dabei zu sehr der Repression auszusetzen. Angesichts der spärlichen Dokumente, die wir über ihn besitzen, wäre es ziemlich ungerecht, in ihm einen einfachen „Opportunisten“ zu sehen.

2. Einige Kritikelemente aus den Note ed osservazioni Facchinei ist davon überzeugt, dass er über Argumente verfügt, die stark genug sind, um Beccarias Angriff auf das Strafrechtssystem seiner Zeit in toto abzuwehren. Der vorgestellte Leser seiner Texte scheint der – dem Adel oder dem Bürgertum zugehörige – Staatsbürger zu sein, der sich loyal gegenüber den im XVIII. Jahrhundert in Italien herrschenden Monarchien fühlt. Dieser Leser kennt, wenn auch vielleicht nur oberflächlich, einige französische philosophes, auch wenn er sie nicht gelesen hat. Dies erlaubt es Facchinei, seinen Lesern den schlimmsten Einfluss auf das Denken Beccarias vor Augen zu führen. Facchinei glaubt, dass es sich dabei um Rousseau handelt, der Philosoph des Gesellschaftsvertrags par excellence – jener Ausdruck des Allgemeinwillens der Menschen, die sich sozial und politisch organisieren. Die-

7 Mehr Informationen hierzu in Imbruglia 2005-2006.

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ser Hinweis auf Rousseau und auf dessen politische Philosophie ist nicht ganz fehl am Platz. Ganz im Gegenteil: Facchinei hat verstanden, dass hinter Beccarias gesamtem Denken – nicht nur auf dem Gebiet des Strafrechts, sondern auch auf dem des sozial organisierten menschlichen Lebens überhaupt – eine allgemeine Auffassung des Ursprungs und der Interpretation des Politischen steht. Der Denkfigur eines „Ursprungsvertrags“ stellt Facchinei die Denkfigur einer „Ursprungsunterwerfung“ entgegen, die in der Familie beginnt um sich spontan auch auf die politischen Autoritäten zu erstrecken: „Aufgrund der natürlichen Gesetze sind alle Menschen von Kindheit an Untertanen ihrer Eltern, da sie von diesen das Leben und die Erziehung erhalten haben; wenn sie dann erwachsen werden, unterwerfen sie sich denjenigen, die im Besitz der Macht in jenem Staat sind, in dem sie erzogen wurden und denen sie, gemäß desselben natürlichen Gesetzes, gehorchen müssen und sich gemäß den Gesetzen verhalten, denen man dort folgt; und wer diese Prinzipien verneint, zerstört das Fundament einer jeden Gesellschaft.“ (Facchinei 1765, S. 14)8

Facchinei ist sich bewusst, dass sein Plädoyer von Anfang an parteiisch ist, und er erklärt dies auch schon ganz unverfroren in der Einleitung seines Essays. Er zählt eine Reihe von „pregiudizi“ auf, von „Vorentscheidungen“, die ihn dazu motiviert haben, einen Text gegen Beccaria zu verfassen. Von den sechs Vorentscheidungen, die er seinen Lesern vorstellt, bietet vor allem der dritte Diskussionsstoff an, behauptet er doch, dass „es mehr die schlechten Gewohnheiten sind, die die schlechten Bücher hervorbringen, als die schlechten Bücher die schlechten Gewohnheiten“ (Facchinei 1765, S. 5). Man muss also davon ausgehen, dass Facchineis Text einen mehr oder weniger offen zugestandenen Moralismus enthält, der auf alle anderen Bemerkungen im Buch abfärben wird. Wie noch später gezeigt werden soll, wird dieser Moralismus auch die Interpretation beeinflussen, die er dem religiösen Denken Beccarias geben wird, indem er in ihm eine explizite antichristliche Absicht aufdeckt. Das ist allerdings noch nicht der tiefste Schlag unter die Gürtellinie, den Facchinei der mailändischen Aufklärung auf dem Gebiet der politischen Philosophie gibt. Dieser Schlag erfolgt, wenn der Mönch den „Ursprungspakt“ als ein empirisches Phänomen deutet, dessen schriftliche Spuren, wenn es ihn gegeben haben soll, man ausfindig machen kann. Nimmt man die Texte Rousseaus als gemeinsame Quelle beider Autoren für die hier vorliegende Streitfrage, so wird man leicht zeigen können, dass es Facchinei immer darum geht, die überprüfbare Existenz eines solchen Ereignisses zu widerlegen, um dann somit behaupten zu können, dass er endgültig die politische Philoso-

8 Anmerkung des Übersetzers: Alle Zitate Facchineis und anderer italienischer Autoren wurden unmittelbar aus dem Italienischen übersetzt.

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phie Beccarias und seines „Meisters“ Rousseau von Grund auf zerstört hat.9 Der polemische Wille Facchineis treibt ihn dazu, Beccaria des Irrtums zu bezichtigen, wenn dieser den Ursprung des Sozialvertrages darstellt : „[I]ch komme zur Schlussfolgerung, dass die Hypothese dieses Autors und aller Schriftsteller, die seine Denkmeister sind, falsch und absurd ist, eine wahre Chimäre“ (Facchinei 1765, S. 13). Sein Vorverständnis des „Naturrechts“ ist auch ziemlich verschwommen, wenn man es vor dem Hintergrund seiner theologischen Ausbildung betrachtet, und erlaubt es ihm nicht, die philosophischen Wurzeln Beccarias und seines Essays zu verstehen. Immer noch aufgrund eines verkürzten Verständnisses des Gesellschaftsvertrages wirft Facchinei Beccaria vor, ein Verständnis der Souveränität zu haben, das notgedrungen dazu führt, dass man die Macht der etablierten Autoritäten ständig in Frage stellt und somit jede bestehende Regierung radikal unterhöhlt: „Wenn das Recht der Regierenden kein anderes ist als das, das sie von den Völkern erhalten, so ist es ein Recht, das stets auf Widerspruch stoßen wird, vor allem wenn man es mit einer Situation zu tun hat, in welcher die Zahl derjenigen, die dem Vertrag treu sind, im Gleichgewicht steht zu der Zahl derjenigen, die ihn nicht mehr einhalten wollen.“ (Facchinei 1765, S. 14)

Man kann hier leicht feststellen, dass es Facchinei nicht gelingt, die moderne Idee der Volkssouveränität in ihrem allgemeinsten Sinn zu erfassen. Nur eine absolutistische Sicht der Macht des Souveräns, die sich auf einen göttlichen Entschluss stützt, dem Souverän seine Aufgabe zu übertragen, kann eine a priori stabilisierende Wirkung auf eine derart strukturierte und beherrschte Gesellschaft haben. Eine solche Ansicht des Ursprungs des Politischen beeinflusst selbstverständlich auch seine Wahrnehmung und seine Interpretation des Rechts zu strafen in einer derart gedachten Gesellschaft. Um zu verstehen, welche Funktion Facchinei der Religion und der mit ihr einhergehenden Moral zuschreibt, muss man von seinen Überlegungen zur Macht zu strafen ausgehen. Hier zeigt sich m.E. der größte Unterschied zwischen beiden Denkern, aber auch die Unfähigkeit Facchineis zu verstehen, was wirklich neu im Zugang der gesamten Mailänder Gruppe ist. Der qualitative Unterschied zwischen der Sünde, einer zugleich theologischen und moralischen Kategorie, und dem Verbrechen, einer spezifisch rechtlichen Kategorie, war schon vor der Aufklärung bekannt, aber im Bereich der Rechtspraktik hatte man ihn nicht systematisch durchgezogen.10 Beccaria übernimmt die Unterscheidung vor allem deshalb, weil er keine Polemik entfachen will, die explizit auf dem Terrain der Moraltheologie seiner Zeit stattfinden und notgedrungen die politische und religiöse Zensur allarmieren würde. Im Gegensatz dazu trägt Facchinei die 9

Für einen ersten Einstieg in die politische Philosophie des Staatsvertrages siehe Bobbio/Bovero 19842 und Duso 2005. 10 Zum Unterschied zwischen Sünde und Verbrechen siehe Prodi 2006, besonders S. 329-340.

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Polemik ganz offen auf dieses Terrain, um somit zeigen zu können, welche Rolle der Mailänder der Religion im öffentlichen Leben zuschreibt, und dies sowohl auf dem Gebiet der Moral als auch auf demjenigen, auf das sich das Strafrecht unmittelbar bezieht. Laut Facchinei tut man besser daran, sich bei der Festlegung der Strafen für Verbrecher an der Verletzung der Ehre Gottes zu orientieren, als an dem Schaden, den die Gesellschaft erlitten hat. Indem er unmittelbar Beccarias Aussagen zu den Kriterien einer gerechten Strafe angreift, ist er überzeugt, dass es „sicherer, gerechter und einfacher ist, das Maß der Strafe in der Regel der Beleidigung Gottes zu finden, so wie die Christen sie verstehen und erklären, als in dem Ausmaß des Schadens, den die Nation erlitten hat, so wie es unser Politico11 versteht“ (Facchinei 1765, S. 39). Nimmt man diesen Standpunkt ein, so ist es klar, dass die Verbrechen gegen die Religion und ihre Lehren mit einer größeren Strenge behandelt werden müssen als die Verbrechen gegen das menschliche Leben und das Eigentum. Beccaria will keineswegs ausschließen, dass Verbrechen, die unmittelbar Gott betreffen, schwerwiegend sind. Aber indem er eine Argumentationsstrategie benutzt, mit der er Frontalangriffe vermeiden will, unterstreicht er die Tatsache, dass wir Menschen nicht wissen können, wie Gott diejenigen bestrafen würde, die ihn beleidigen. Facchinei zitiert ausdrücklich Beccarias Äußerungen zu dieser Frage, aber es gelingt ihm nicht ihre Originalität, auch in theologischer Hinsicht, zu verstehen. Der polemisierende Mönch begreift nicht, dass der Mailänder Intellektuelle sowohl seine Sympathisanten überzeugen will, als auch den unmittelbaren Angriffen der Zensur entkommen möchte. Facchineis Unternehmen wird dadurch erschwert, dass Beccaria keine Aussage macht, die man als antireligiös betrachten könnte. Es ist so gut wie unmöglich nachzuweisen, dass ihn antichristliche Gefühle bewegen. Insofern wird es ein leichtes Spiel für die Gebrüder Verri sein, in ihrem direkt gegen Facchinei geschriebenen Büchlein zu dokumentieren, dass ihr Freund „religiöse“ Gedanken vertritt. Ihr Text besteht aus „Antworten“ auf die direkt dem Pamphlet entnommenen „Anklagen“, und die sechzehn ersten Antworten betreffend unmittelbar die „religiösen“ Aspekte der Polemik. Die Absicht der Gebrüder Verri besteht in der Tat darin, eine politische Repression der Mailänder Intellektuellen zu verhindern, und es geht ihnen nicht primär darum, sich in eine ausdrücklich theologische Diskussion zu verstricken. Die Mühe lohnt sich allerdings, einige Elemente dieses Streits zu erwähnen, um die gemeinsamen Elemente herauszuarbeiten, sowie die Unterschiede gegenüber den Ar-

11 Anmerkung des Übersetzers: Das Substantiv Politico – das ich hier bewusst nicht übersetze – kommt aus dem Französischen Politiques. Dieser Begriff wurde im XVI. Jahrhundert geprägt, um jene Denker zu bezeichnen, die dem politischen Ziel der Herstellung des gesellschaftlichen Friedens den Vorrang vor dem religiösen Ziel der Verbreitung oder Herrschaft der wahren Religion den Vorrang gaben.

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gumenten der römischen Zensoren, denen es gelungen war, Dei delitti e delle pene auf den Index setzen zu lassen.

3. Einige Themen und Argumente des Zensors Das Pamphlet des Mönchs aus Vallombrosa war nicht die einzige Stimme, die die Thesen Beccarias einer schonungslosen Kritik unterzog. Die Veröffentlichung des „Berichts“ des Jesuiten Pietro Lazzari, der von der Kongregation des heiligen Offiziums beauftragt worden war, Argumente für eine eventuelle Indexierung des Werkes Cesare Beccarias zusammenzustellen, zeigt uns heute, 250 Jahre später, was damals die Sorgen und Bedenken der Zensoren der römischen Kurie waren.12 Die Kommentare zur Expertise, zu denen ich Zugang hatte, geben fast alle dieselbe Interpretation der Beziehungen, die es zwischen einerseits der römischen Instanz, andererseits den Aussagen Facchineis und den Entscheidungen der Autoritäten der Republik Venedig, sowie der Stellungnahmen der spanischen Inquisition gab.13 Auch wenn die historische Bilanz bezüglich dieser Quellen und ihrer mehr oder weniger reziproken Beziehungen vorzuliegen scheint, so fehlt noch eine globale Einschätzung des Beitrags, den Beccaria und die „Mailänder Aufklärung“ zur gesamten Strafrechtsproblematik im XVIII. Jahrhundert geleistet haben. Wir müssen uns noch um ein genaueres Verständnis der Unterschiede bemühen, die es zwischen den philosophes der Aufklärung hinsichtlich der Todesstrafe gibt.14 Und wir müssen auch noch versuchen, diejenigen Elemente ausfindig zu machen, die heute noch aktuell sind und ihren Platz in der ethischen Reflexion finden.15 Ich werde mich hier darauf beschränken zu zeigen, was Lazzaris Herangehensweise an Beccarias Werk von der Lektüre unterscheidet, die Facchinei von diesem Werk gemacht hat. Auch werde ich zeigen, welche Folgewirkungen die Verurteilung des Werkes durch die Kongregation einerseits auf die Verbreitung von Dei delitti e delle pene hatte, und andererseits auf die Verurteilung durch andere politische Mächte in Europa.

12 Wer einen direkten Zugang zum Text der Expertise haben möchte, kann sie beim Archivio della Congregazione della dottrina della fede einsehen, und zwar in den Diari, Band XVIII (1764-1807) ff. 10-12. Für eine moderne Ausgabe der Expertise – auf die ich mich berufen werde – siehe Pisani 2013, S. 55-70. Eine historische Einordnung und eine Interpretation der Expertise Lazzaris liefern Brukhardt 2007, Orlandi 2008 und Imbruglia 2005-2006. 13 Hierzu Torio 1971. 14 Siehe hierzu Delia/Hoarau 2012. 15 Innerhalb der katholischen Kirche hat eine breite, immer noch aktuelle Reflexion zur Frage nach der moralischen Zulässigkeit der Todesstrafe und der gerichtlichen Folter stattgefunden. Aus den vielen Publikationen zu diesem Thema seien nur erwähnt Eusebi 2013, Bondolfi 2008 und Bondolfi 2007.

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Pietro Lazzari war ein Zensor, der sich der politischen Gefahr bewusst war, die Beccarias Traktat für diejenigen Länder darstellte, die unter dem Einfluss der päpstlichen Macht blieben. Deshalb hat er für die Indexierung plädiert, wobei er aber vermeiden wollte, dass man Beccaria wegen Häresie verurteilte. Eine solche Verurteilung mit der einhergehenden Sanktion hätte sicherlich weit schlimmere Auswirkungen auf die gesamte Mailänder Gruppe gehabt. Wer war dieser Jesuit, dem man die Aufgabe anvertraute, Beccaria zu lesen und ihn im Lichte der offiziellen katholischen Lehre zu beurteilen?16 Die Kongregation hatte jemanden ausgesucht, der mit der aus den Naturwissenschaften hervorgegangenen Kultur der Zeit vertraut war. Der 1710 in Siena geborene Lazzari wurde in Florenz bei den Jesuiten ausgebildet, und dies sowohl in Philosophie, Mathematik und Astronomie. Am Heiligen Kollegium in Rom lehrte er Kirchengeschichte, und diese Lehrtätigkeit setzte er auch fort, als er unter Papst Klemens XIV. zum Berater, d.h. Experten, der Kongregation des heiligen Offiziums wurde. Sieht man sich die Berichte zu einigen Werken an, die Lazzari im Hinblick auf eine mögliche Verurteilung verfasst hat, wird man in diesen Berichten den Willen erkennen, eine Liste der verbotenen Bücher nicht definitiv und „auf alle Ewigkeit“ zu erstellen, sondern als revidierbar im Lichte der Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnisse. So schlug er, übrigens mit Erfolg, eine Revision des Verbots der „libri omnes docentes mobilitatem et immobilitatem solis“ – also der Bücher aller Gelehrten zur Frage der (Nicht)Bewegung der Sonne – vor.17 Was seinen Bericht über Dei delitti e delle pene betrifft, kann man, ganz allgemein, beobachten, dass die Gutmütigkeit, die der Zensor gegenüber dem Mailänder Intellektuellen walten ließ, nicht in einer positiven Einstellung zu den Positionen Beccarias zum Ausdruck kam, sondern vielmehr in der Wahl der Qualifizierungen, mit denen er das untersuchte Buch bedachte und in den Sanktionen, die er bezüglich seiner Verbreitung forderte. Man kann den von Lazzari der römischen Kongregation vorgelegten Bericht wortwörtlich lesen und interpretieren, indem man dem Inhalt seiner Argumente folgt. Man kann in ihm aber auch eine Absicht ausmachen, die sich nicht ausdrücklich manifestiert, aber die man indirekt ableiten kann, indem man den internen Mechanismen der Entscheidungen des Tribunals Rechnung trägt und indem man die Aussagen Lazzaris mit denjenigen Facchineis vergleicht. Und man wird schließlich auch, im Hintergrund, die Verteidigungsstrategien der Gebrüder Verri berücksichtigen müssen. Untersucht man den Bericht Lazzaris und zieht man auch die Überlegungen hinzu, die man in der mir zugänglichen zeitgenössischen Literatur findet, so kann man 16 Informationen zu seinem Leben findet man in den in der vorigen Fußnote erwähnten Texten. Für weitere Informationen zu Lazzaris Leben siehe Spruit 2005. 17 Siehe hierzu Spruit 2005.

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feststellen, dass dem als Experten fungierenden Jesuiten das Pamphlet Facchineis sowie die Antworten der Gebrüder Verri zur Verfügung standen, wobei letztere so interpretiert wurden, als stammten sie aus der Feder Beccarias. Diese uns heute zugänglichen Dokumente erlauben uns die Hypothese zu formulieren, dass Lazzari sich nicht nur der rein theoretischen Wichtigkeit der Schrift Beccarias bewusst war, sondern dass er auch wusste, welchen Folgewirkungen der Traktat für das Leben der treuen Katholiken sowie für das politische Leben derjenigen Länder hatte, die sich zur katholischen Kirche bekannten. Es galt demnach Dei delitti e delle pene nicht nur von einem der katholischen Lehre internen Standpunkt aus zu qualifizieren, sondern auch aus einer im weitesten Sinn des Wortes „politischen“ Perspektive. Ich werde hier versuchen, die beiden Lektüreebenen des Lazzari-Berichtes zu skizzieren, allerdings mit der Vorsicht, die man immer dann walten lassen muss, wenn man einen Text liest, der im Hinblick auf eine durch ihn herbeizuführende gerichtliche Entscheidung verfasst wurde. Und weiter ist zu bedenken, dass dieser Text nicht verfasst wurde, um veröffentlicht zu werden, sondern ganz im Gegenteil einer Disziplin der Geheimhaltung unterworfen war. Lazzari konzentriert sich vor allem auf die Quellen Beccarias, und zwar sowohl auf die explizit genannten als auch auf die impliziten. Er übernimmt den Hinweis auf Rousseau, den schon Facchinei emphatisch unterstrichen hatte, stellt ihn aber in einen weiteren Kontext. Da er vermutlich belesener war als der Mönch aus Vallombrosa, erwähnt er auch andere Autoren, die Beccarias Denken beeinflusst haben könnten. Lazzari weiß, dass die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags nicht von Rousseau erfunden wurde, sondern dass sie die philosophische Diskussion schon seit wenigstens einem Jahrhundert kennzeichnet. Er findet somit im Protestantismus die gemeinsame Wurzel einer solchen Philosophie der Gesellschaft. Man muss diese konfessionelle Perspektive allerdings gemäß einer dem kulturellen Milieu Italiens im XVIII. Jahrhundert spezifischen Sensibilität interpretieren. Es geht Lazzari nicht in erster Linie darum, eine theologische Orientierung zu verurteilen, die ihm fremd oder sogar der seinigen entgegengesetzt ist, sondern vielmehr darum offenzulegen, dass „fremde“ Lehren die politische und rechtliche Kultur der katholischen Länder beeinflussen, die dem Heiligen Stuhl treu geblieben sind. Im Bereich der Staats- und Sozialphilosophie orientiert sich dieser gebildete – mehr als Facchinei es war – Jesuit vor allem an dem Kardinal Roberto Bellarmino. Bellarmino war ebenfalls ein Jesuit und galt nach dem Konzil von Trient als der „offiziellste“ Theologe des Katholizismus. Er hatte sich auch mit Strafrechtsproblemen befasst, da er Luthers Positionen zur Todesstrafe bekämpfen und widerlegen wollte.18 Luther geht von der Unterscheidung zwischen „Gesetz und Evangelium“ aus, die ihn dazu führt, deutlich zwischen zwei Anwendungsbereichen zu unterscheiden. Auf der 18 Für einen Zugang zu den einschlägigen Texten Luthers, anderer Reformatoren und auch Bellarmins verweise ich hier auf Bondolfi 1985.

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einen Seite hätten wir die Anwendung des Strafrechts im Allgemeinen und der Todesstrafe im Besonderen insofern es darum geht Verbrechen zu bekämpfen, die dem Leben der Individuen oder der Gesellschaft schaden. Auf der anderen Seite finden wir die Anwendung des Strafrechts im Bereich der „Verbrechen gegen die Religion“.19 Der deutsche Reformator hatte demnach, wenn auch nur andeutungsweise, den Unterschied zwischen Verbrechen und Sünde antizipiert, und es ist kein Zufall, dass Bellarmino diese Position sowohl auf theologischer als auch auf politischer Ebene angreifen wollte. Der jesuitische Zensor erinnert an Bellarmino, um die Kardinäle zu überzeugen, dass Beccaria – über die Indexierung von dessen Schrift sie entscheiden müssen – sich an „protestantischem“ Gedankengut inspiriert. Sobald es darum geht, genauere Angaben zu den Quellen Beccarias zu machen, nennt Lazzari ausdrücklich Hobbes, Bodin und Pufendorf. Er kennt diese Autoren zumindest in ihren großen Linien, und er weist dabei nach, dass der Haupteinfluss auf Beccaria derjenige Rousseaus ist. Was das Widerstandsrecht im Namen des Gesellschaftsvertrags betrifft, vertritt der Franzose allerdings eine Position, die stark von derjenigen des Thomas Hobbes abweicht. Lazzari verteidigt selbstverständlich die klassische Position des Aristoteles, die er etwas schnell als der gesamten Philosophie der klassischen Antike gemeinsam ansieht. Dabei unterstreicht er vor allem, dass sie mit der Bibel übereinstimmt und theologische Kohärenz besitzt. Der Mensch, so behauptet er, ist von Natur aus ein soziales Wesen und die menschlichen Autoritäten haben ihren Ursprung unmittelbar in Gott und nicht in einem menschlichen Konsens.20 Nach diesen allgemeinen Überlegungen zur Denkfigur des Gesellschaftsvertrags setzt sich der Zensor mit dem spezifischen Problem der Todesstrafe auseinander. Der Bericht geht, betrachtet man ihn genauer, nicht im Detail auf Beccarias Argumentation ein, sondern beschränkt sich auf einige allgemeine Kritiken. Diese Tendenz, sich mit den konkreten Beispielen Beccarias statt mit dessen prinzipiellen Argumenten zu befassen, findet man auch bei der moralischen Beurteilung der Folter wieder. Lazzari wirft Beccaria vor, dass er als Beispiel die Gerichte der „protestantischen“ Länder wählt, die die Folter abgeschafft haben, und es dabei unterlässt, die Praxis der „katholischen“ Länder zu untersuchen. Der Praxis der katholischen Völker und Gerichte zieht er, so Lazzari, diejenige der Häretiker vor.21 Beccaria, so immer noch Lazzari, vergesse die Überlegungen der Theologen, die sich über die Folter ausgesprochen haben.

19 Für eine erste Einführung in die Positionen der Reformatoren auf dem Gebiet des Strafrechts siehe Mayer 19733, dort besonders S. 77-105. Für weiterführende Gedanken verweise ich auf Bondolfi 1983. 20 Siehe den hier relevanten Text des Berichtes bei Pisani 2013, S. 58. 21 Siehe ebd., S. 64.

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Aber trotz allem geht der Jesuit nicht auf Beccarias prinzipielle Argumente gegen die Folter ein. Was könnte der Grund für diese Nachlässigkeit sein, betrifft sie doch ein Buch, das einen derartigen Erfolg gehabt hat? Will man eine angemessene Antwort auf diese Frage geben, so wird man auf eine Hermeneutik zurückgreifen müssen, die sowohl der internen Logik des Kirchenrechts Rechnung trägt, das die Praktiken der Kongregation des heiligen Offiziums begleitet, als auch den subjektiven Absichten, die man mit großer Wahrscheinlichkeit dem Jesuiten unterstellen kann. Die neuere Literatur, die die Veröffentlichung des Beccaria-Dossiers seitens des Heiligen Stuhls kommentiert, scheint sich auf nur einen Interpretationstyp festzulegen. Lazzari bezeichnet das Werk Beccarias als „gefährlich“, als ungerecht gegenüber der katholischen Lehre und gegenüber den Gerichten der katholischen Länder. Er sieht in der Schrift Beccarias ein Werk, das durch die „protestantische“ Lehre inspiriert wurde, aber er bezeichnet sie nicht als häretisch. Hätte der Heilige Stuhl das Werk wegen Häresie verurteilt, dann wären die kirchenrechtlichen und politischen Konsequenzen für den Mailänder Autor weit schlimmer gewesen. Auch wenn der Zensor Ausgaben des Traktats zur Verfügung hatte, in denen der Autor namentlich erwähnt war, so zitiert er doch ständig aus der 1764 anonym in Livorno erschienenen Ausgabe, womit er indirekt die Person Beccaria schützte. Man kann demnach sagen, dass der Bericht des Jesuiten so verfasst wurde, dass die Risiken sowohl für den Verfasser des Berichtes als auch für den durch die kirchlichen Instanzen zu Verurteilenden minimiert wurden. Die Fakten werden diese Interpretation des Textes Lazzaris bestätigen. In der Tat wird die römische Verurteilung eine weite Verbreitung von Beccarias Buch in ganz Europa nicht verhindern können. Auch wird sie nicht verhindern können, dass Beccarias Thesen positiv in den intellektuellen Kreisen seiner Zeit aufgenommen und diskutiert werden. Und die Verurteilung durch Rom wird auch nicht verhindern können, dass „aufgeklärte“ (auch katholische) Fürsten Beccarias strafrechtliche Theorien in eine strafrechtliche Praxis verwandeln werden.

4. Die permanente Aktualität von Dei delitti e delle pene Sollte man demnach die Veröffentlichung des Beccaria-Dossiers durch die römische Kurie als ein bloß kulturelles Faktum betrachten, über das sich lediglich Intellektuelle freuen werden, die der Ideengeschichte frönen? Ich bin mir dessen nicht sicher, denn viele gerichtliche Praktiken in der Welt des XXI. Jahrhunderts zeigen uns die permanente Aktualität der Gedanken des Mailänder Philosophen. Dies gilt sowohl für die katholische Kirche, also für jene Institution, die im Hintergrund der Aussagen Facchineis und Lazzaris steht, als auch für die Gerichte der

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heutigen demokratischen Länder. Dabei mögen die Kriterien, anhand derer man die Aktualität bewertet, durchaus verschieden sein. Was die der katholischen Kirche interne Diskussion um die Todesstrafe betrifft, so muss man zugeben, dass die klassische Position – dem Staat sollte in Extremfällen das Recht zugestanden werden, mit dem Tod zu bestrafen – langsam aber sicher an Zuspruch verloren hat.22 Die drei letzten Päpste haben sich in den vergangenen Jahrzehnten mehrmals für eine vollständige Abschaffung der Todesstrafe ausgesprochen.23 Die öffentliche Meinung der Mitglieder der verschiedenen christlichen Kirchen folgt nur zum Teil den Behauptungen der Autoritäten dieser Kirchen, wobei die regionale Verortung der christlichen Gemeinschaften Unterschiede erklären kann. Was die Staaten und ihre rechtlichen Systeme betrifft, so muss man feststellen, dass, auch wenn die Rechtsstaaten die Folter verbannt haben24, die Todesstrafe im Gegenteil immer noch zum rechtlichen Arsenal von Staaten gehört, die man durchwegs als in ihrem Wesen demokratisch betrachten kann. Beccaria und seine Botschaft bleiben also noch immer ganz aktuell. Die historische Rekonstruktion der Wirkungen seines Werkes ist somit nicht nur eine Luxusbeschäftigung für Berufshistoriker(innen), sondern eine „Parabel“, die uns alle noch anspricht und die uns alle dazu anspornt, das Strafrecht und die Strafpraxis auf eine zumindest ein wenig gerechtere Bahn zu lenken. Aus dem Französischen übersetzt von Norbert Campagna

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22 Zu neueren Entwicklungen siehe Eusebi 2014 und Hendrickx 1996. 23 Siehe hierzu die Dokumentation in Tamanti 2004. 24 Hierzu Campagna/Delia/Garnot 2014.

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Teil 3: Vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Markus Krienke Staat und Zivilgesellschaft bei Antonio Rosmini

„Nun besteht das höchste Tätigsein der Natur und das einzige Tätigsein der Person im Gebrauch der Freiheit. Der angemessene und natürliche Gebrauch der Freiheit ist folglich das höchste subjektive Gut des Menschen und das einzige Gut der menschlichen Person.“ (Rosmini 1999, S. 499)1

Einführung Das politische Denken des im trentinischen Rovereto geborenen Liberalkatholiken Antonio Rosmini (1797-1855) ist durch die beiden Zentralbegriffe Soziale Gerechtigkeit und Zivilgesellschaft geprägt – im Hinblick auf beide Begriffe hat er auf entscheidende Weise die politische Ideengeschichte mit beeinflusst. Die Historie wollte es jedoch, dass sein Name bislang hinter der Wirkungsgeschichte seines Denkens zurücktrat. In dem Maße, in dem beide Begriffe in der Spätmoderne in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit politischer Philosophie geraten, scheint eine Beschäftigung mit dem Denken Rosminis lohnenswert, gehört er doch zu den ersten Theoretikern überhaupt, die diese Begriffe formten. Beide Ideen stehen im inneren Zusammenhang mit seiner Ausarbeitung einer Musterverfassung zunächst für den Kirchenstaat, die dann aber auf die von Rosmini anvisierte föderale Einheit Italiens angepasst und als Verfassung gemäß der sozialen Gerechtigkeit (La Costituzione secondo la giustizia sociale) eines der Pionierwerke für die Begriffsgeschichte der sozialen Gerechtigkeit und der Zivilgesellschaft wurde (Rosmini 2010b).2 Im Jahr 1848 veröffentlichte er dieses Werk in Mailand zusammen mit dem Anhang Über die Einheit Italiens und geriet aufgrund seiner Ideen zu den Grundfreiheiten und dem zivilgesellschaftlichen Gesellschaftsaufbau einerseits, aber auch wegen seines italienischen Nationalpatriotismus andererseits, sowohl mit der kirchlichen Hierarchie als auch mit Österreich, das fast ganz Norditalien besetzt hielt, in Konflikt. So verwundert es nicht, wenn sich bereits im Jahr darauf diese Schrift auf dem Index der verbotenen Bücher wiederfand, übrigens zusammen mit 1 Alle Werke Rosminis werden hier nach der Seitenzahl zitiert. Sofern das Original nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, wurde diese vom Autor dieses Beitrags angefertigt. 2 Dabei ist eine spezifische Weiterentwicklung des rosminischen Denkens zu beobachten, sowohl was die Ideen von Religions- und Gewissensfreiheit als auch was die Trennung von Kirche und Staat angeht.

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dem vielleicht bekanntesten Werk Rosminis, seiner in Lugano ebenfalls 1848 anonym publizierten kirchenreformerischen Frühschrift Die fünf Wunden der Kirche aus dem Jahr 1832/33 (Rosmini 1971; vgl. Conzemius 1972), sowie zusammen mit den politiktheoretischen Abhandlungen zur italienischen Einheit der beiden Priester Vincenzo Gioberti und Gioacchino Ventura (Bergamaschi 1998).3 Die gleichzeitige Veröffentlichung von La Costituzione secondo la giustizia sociale und Delle cinque piaghe della Santa Chiesa ist wohl der stärkste Ausdruck seines katholischen Liberalismus, der eine liberal-rechtsstaatliche Grundordnung in engem institutionellen Zusammenhang mit einer entsäkularisierten Kirche sieht, die gerade als solche dem säkularen Staat stets konstitutive Grenzen setzt. Durch diese institutionelle Trennung und zivilgesellschaftliche Inbezugsetzung von Staat und Kirche suchte Rosmini seine Grundüberzeugung konstitutionell zu realisieren, dass Grundfreiheiten moralisch realisiert sein müssen, damit sie sich nicht politisch ad absurdum führen. Diese Absicherung kann jedoch nicht wiederum eine politische sein, sondern die drohende ‚Tyrannei der Werte‘ soll dadurch verhindert werden, dass der Kirche größtmögliche Handlungsfreiheit in der Zivilgesellschaft garantiert wird, was auch dadurch möglich scheint, dass sie aufgrund einer inneren Reform weltlichen Herrschaftslogiken entsagen und keine politische Macht anstreben soll (Traniello 1997, S. 355f.; Traniello 2007). Die Wahl des als liberal geltenden Papstes Pius IX. im Jahr 1846, welche den italienischen Einigungshoffnungen Auftrieb gab, dessen anfängliche Reformtätigkeit sowie die Tatsache, dass Rosmini von der sardisch-piemontesischen Regierung in Turin offiziell zum Papst gesandt wurde, um über ein gesamtitalienisches Bündnis, hauptsächlich zwischen Sardinien-Piemont, dem Kirchenstaat und dem Fürstentum Toskana, zu verhandeln, sowie schließlich die Tatsache, dass er bei seiner Ankunft in Rom 1848 von Pius IX. zum persönlichen Berater befördert wurde (Dossi 2003, S. 91), waren für den Roveretaner Zeichen der göttlichen Vorsehung, dass für seine Idee einer groß angelegten Kirchen- wie Gesellschaftsreform in katholischem wie liberalem Geist die Zeit reif sei. Dabei schwebte ihm eine föderale italienische Einheit, auch unter Einbeziehung der von Österreich besetzten Gebiete sowie des Reiches der beiden Sizilien, vor, welche den Kirchenstaat als gleichrangiges Mitglied in der in Rom zu bildenden nationalen parlamentarischen Vertretung anerkannte.4 Wenn auch diese angestrebte Quadratur des Kreises der italienischen Nationalstaatsbildung unter Einbeziehung des Kirchenstaates keinen Erfolg hatte, so enthalten doch seine beiden 1848 veröffentlichten Schriften wertvolle Reflexionen zur Reform 3 Im Unterschied zu Gioberti, der sich diesem Verbot widersetzte, unterwarfen sich Rosmini und Ventura der kirchenhoheitlichen Entscheidung. Vgl. auch die Dokumentsammlung in Malusa 1999. 4 Eben aus diesem Grund musste Rosmini in der Figur des Papstes das Kirchenoberhaupt vom weltlichen Fürsten trennen. Damit formulierte der Roveretaner den letzten Vorschlag des NeuGuelfischen Projekts, Italien um die Führungsfigur des Papstes zu vereinen.

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von Staat, Zivilgesellschaft und Kirche. Durch die Indizierung beider Werke setzte Pius IX. ein sprechendes Zeichen für seine Abkehr von liberalen Reformvorstellungen in der Kirche und von der Idee der gesamtitalienischen Nationaleinheit. Als Rosmini am 6. Juni 1849 ein letztes Mal bei ihm vorsprach, empfing dieser ihn nur noch mit den Worten: „Sie finden mich nun antikonstitutionell vor“ (Rosmini 1998, S. 153).5 Rosmini zog sich daraufhin nach Stresa auf piemontesisches Gebiet zurück, wo er die Gunst des Königs Karl Albert, der sein Herrschaftsamt gerade an seinen Sohn weitergegeben hatte, niemals verloren hatte. Er brachte in den letzten sechs Lebensjahren viele Abhandlungen zu Ende und äußerte sich in Zeitungsartikeln zu tagesaktuellen Debatten der Politik, in denen es um die Grundsätze des zu schaffenden italienischen Staates ging. Und ein guter Freund aus dieser Zeit wich ihm auch in Piemont nicht von der Seite: Es war der italienische Dichter Alessandro Manzoni, den Rosmini 1825 in Mailand kennengelernt hatte. Damals hatte er an seinen ersten politischen Abhandlungen gearbeitet: Wie Rosmini selbst sagte, war es vor allem sein politisches Interesse, das ihn dazu brachte, eines der vollständigsten philosophischen ‚Systeme‘ epistemologischen Stils in der Neuzeit zu erarbeiten. Mehr noch als bei vielen seiner Zeitgenossen, stand für ihn die Frage nach der politischen Neuordnung Europas nach der Französischen Revolution, der Napoleonischen Zeit und der Restauration im Mittelpunkt seines Interesses. Sein anfänglich, in der sogenannten ‚Roveretaner‘ und ‚Mailänder Politik‘ erarbeitetes politisches Denken war noch stark restaurativ geprägt. Doch wurde sich Rosmini, auch dank des intensiven Dialogs mit Manzoni, immer deutlicher der Inkohärenz der restaurativen Vorschläge bewusst. Dabei blieb es ihm ein Anliegen, auch das neue politische Gemeinwesen auf die ethischen Prinzipien der Gerechtigkeit zu begründen: Es ging ihm mithin darum, diesen klassischen Ansatz mit der neuen Freiheitsidee zu vermitteln, d. h. die Gerechtigkeitsidee als moderne Gesellschaftsprinzipien zu formulieren.

1. Methode: Gerechtigkeit und Zivilgesellschaft als politische Stabilisatoren Rosminis politische Philosophie zeichnete sich, wie Christiane Liermann herausgearbeitet hat, dadurch aus, den Staat von seiner Krisenresistenz her zu denken (Lier-

5 Und Rosmini fügt seinem Bericht dieses Treffens mit dem Papst bei, dass auf seinen Hinweis, dass diese Entscheidung einen gravierenden Richtungswechsel des Pontifikats bedeuten würde, und auf dessen Appell an den Papst, nicht alle Türen und Hoffnungen auf die Verfassung zu schließen, dieser geantwortet hätte, dass er die Verfassung „nicht mehr gewähren würde, auch nicht stückweise“. Rosmini verwies noch auf die Bedeutung der Verfassung für den Erhalt des Kirchenstaates in einem rechtsstaatlichen föderalen Italien, doch der Papst hätte ihm nur noch entgegnet, dass wenn „etwas intrinsisch schlecht ist, man keine Kompromisse eingehen dürfe, koste es, was es koste“ (Rosmini 1998, S. 153).

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mann 2004, S. 85-91). Damit machte er die neue politische Situation im Gefolge der Französischen Revolution zum Ausgangspunkt seines Denkens, was ihn gleichzeitig auf spezifische Weise sowohl von Hobbes, Locke, Rousseau und Kant, denen es um die Genese des Staates aus der Vertragsidee heraus ging, sowie von Fichte und Hegel, die den Staat als moralische Zielkategorie ansahen, unterschied. Nach Rosmini heißt, den Menschen im Mittelpunkt von Staat und Politik zu sehen, ein stabiles liberales Gemeinwesen als Voraussetzung für das Erreichen des persönlichen Wohlbefindens eines jeden zu sichern. Dies ist für Rosmini der unabdingbare Rahmen für soziale Gerechtigkeit. Im Gefolge der Französischen Revolution rückt gleichzeitig das Konzept der Masse in den Mittelpunkt der rosminischen Überlegungen. Denn auch wenn Rosmini die Idee der Zivilgesellschaft scheinbar traditionell-aristotelisch als Zusammenschluss der durch Grundbesitz ausgewiesenen Familienväter fasst (Rosmini 1966-1969, V, S. 1203; vgl. Cotta 1985, S. 30), so sieht er diese doch bei genauerem Hinschauen in deutlich ähnlicherer Weise zu Hegel und Tocqueville als Sphäre der freiheitlichen Artikulation von Individualinteressen, wie sie sich vornehmlich durch die ökonomische Dynamik in der Moderne gesellschaftlich und nicht nur privat artikulieren. Dies wird vor allem durch seine Unterscheidung zwischen Zivilgesellschaft und Regierung (Staat) deutlich, in welcher sich ersterer Begriff auf die Herstellung eines Konsenses der Bürger bzw. Familienväter, der zweite hingegen auf die konkrete legislative und exekutive Tätigkeit bezieht und sowohl parlamentarisch als auch monarchisch ausgeführt werden kann (Botto 1992, S. 181f.). Konsequenterweise bezieht Rosmini die Legitimität des Gesellschaftsvertrags somit nur auf die Konstitution der Gesellschaft, nicht auf die Einrichtung der Regierung (Rosmini 1966-1969, V, S. 1248; III, S. 773). Die republikanische Regierungsform könne man folglich nur dann als die beste ausgeben, wenn man nicht zwischen Gesellschaft und Regierung unterscheide und jene für Rosmini so wesentliche Lehre von der „Modalität der Rechte“ vernachlässige (Rosmini 1966-1969, V, S. 1288). Diese besagt, dass keine Regierung die grundlegenden Rechte ‚schaffen‘ könne, da diese in der menschlichen Person selbst verankert und damit gesellschaftlich vorgegeben sind; die Aufgabe der Politik bestehe darin, deren Modalität zu regeln, d. h. ihre konkrete Ausformung. Diese Überlegung Rosminis zielt mithin auf eine auf den moralischen Wert der menschlichen Person begründete Politik. Die Begrenzung der Regierung durch individuelle Grundrechte und eine Ethik der Person stellt für die Gesellschaft eine Entwicklungsstufe dar, auf der sich die menschliche Intelligenz am besten artikuliert, da sie hier in einem richtigen Verhältnis zum „praktischen Verstand der Massen“ steht. „Das Handlungsmotiv der Massen ist der gegenwärtige, unmittelbare Nutzen, und dieser konstituiert die praktische Vernunft“ (Rosmini 1999, S. 95). Während die Dynamik der reinen Massengesellschaft einem einfachen Aufstiegs- und Verfallsschema gleicht, wird sie komplexer,

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wenn man davon ausgeht, dass die Gesellschaft das Resultat eines komplexen Zusammenspiels von „individueller Vernunft der Individuen“ und „praktischem Verstand der Massen“ ist. Dabei lässt Rosmini keinen Zweifel daran, dass vor allem das Christentum zur Ausbildung der „spekulativen Intelligenz der Individuen“ führte: „In den christlichen Gesellschaften [...] gibt es eine Prägekraft und Bildung, die die einzelnen Menschen über die Massen erhebt, indem sie sie von den Massen löst und ihnen eine ganz neue Energie verleiht, die imstande ist, sich der blinden Bewegung der Massen zu widersetzen, und zwar erfolgreich zu widersetzen, wenn die Umstände günstig sind“ (Rosmini 1999, S. 102).6 Das Christentum trägt mithin zu einer guten Gesellschaftsentwicklung und Politik bei, indem es die Individuen moralisch erhebt und somit einen konkreten zivilgesellschaftlichen Fortschritt ermöglicht (Botto 1992, S. 112-114). Auch aus diesem Grund muss die Kirche vom Staat zwar getrennt sein, in der Zivilgesellschaft aber ihren größtmöglichen Einfluss realisieren.7 Diese komplexere Sichtweise auf das Zusammenspiel von „individueller Vernunft der Individuen“ und „praktischem Verstand der Massen“ ergibt für Rosmini, dass nur die beiden mittleren von vier „Gesellschaftszeitaltern“ ein ausgewogenes Verhältnis hervorbringen. Während es im ersten Stadium allein um die Realisierung des natürlichen Gemeinsinnes, d. h. um „die Existenz, die Gründung und die Verteidigung der Gesellschaft“, mithin um die Überwindung des Naturzustandes geht (Rosmini 1999, S. 314), stehen im zweiten Zeitalter die Installation einer Regierung und allgemeiner Gesetze im Vordergrund.8 Die moderne, marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaft repräsentiert das dritte Zeitalter, in welchem sich die Dimensionen der Individualintelligenz und der Massenvernunft sozial am besten organisiert haben: „Die Massen, die danach streben, durch den Handel reich zu werden, erwerben den größten Intelligenzgebrauch“ (Rosmini 1999, S. 314). Was Rosmini jedoch als die Gefahr dieses dritten Zeitalters, d. h. der gegenwärtigen marktwirtschaftlichen Organisation der Intelligenz in der Massengesellschaft, ausmachte, ist ihr Umschlagen in ein viertes Stadium, in welchem es nur um den unmittelbaren Genuss und um direkte, unmittelbare Ziele geht. Aus dieser epochentheoretischen Überlegung schlussfolgert Rosmini, dass man das marktwirtschaftliche Modell niemals auf Gesellschaften anwenden kann, welche sich nicht in einer Lage befinden, die dem dritten hier geschilderten Epochenstatus vergleichbar ist (D’Addio 2000, S. 129).9 6 In diesem Aspekt bezieht sich Rosmini ausdrücklich auf Tocqueville (Rosmini 1999, S. 334f.). 7 Aus diesem Grund nimmt das Thema der libertas Ecclesiae einen zentralen Ort im politischen Denken Rosminis ein (Molteni 1972, S. 15-80). 8 Den systematischen Zusammenhang zwischen Vernunft und Gesellschaft als Grundprinzip aller geschichtlichen Entwicklung entnimmt Rosmini dabei wohl von Giambattista Vico (Cacciatore 2009, S. 23f.). 9 D’Addio verweist auf Rosminis Tocqueville-Rezeption, in welcher der Roveretaner hervorhebt, dass die Anwendung des wettbewerblichen Systems auf die amerikanischen Indianer mit der dazu gehörenden Produktion von Bedürfnissen nicht zu einer Produktivitätssteigerung der Indianer oder einer kulturellen Fortentwicklung führte, sondern im Gegenteil zur Auflösung und Zerstö-

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Denn für Rosmini sind die institutionellen Einrichtungen von Demokratie und Gewaltenteilung nicht per se Allheilmittel gegen ‚despotische‘ Gesellschaftsstrukturen. Sich an den Analysen Tocquevilles orientierend, ist für Rosmini der ‚Despotismus‘ nicht nur ein Charakteristikum des feudalen Gesellschaftssystems, das durch die Französische Revolution überwunden wurde, sondern realisiert sich auch in der Demokratie durch die von Tocqueville thematisierte „Tyrannei der Mehrheit“ bzw. in der Konsumgesellschaft, dem vierten Entwicklungsstadium, in welchem der Bürger zum passiven Objekt konsumistischer Imperative wird. So kritisieren beide die „reine Demokratie“, in der stets die Gefahr des Despotismus lauere, da „die Mehrheit der weniger Intelligenten, die regiert, leicht von einigen Demagogen, die intelligenter und schlauer sind als die Mehrheit, zum privaten Nutzen dieser wenigen gelenkt wird“ (Rosmini 1999, S. 379, Anm. 5). Wie Tocqueville, so sucht auch Rosmini nach einer Bestimmung der Zivilgesellschaft, welche die moralische Kraft der Religion voraussetzt (Tocqueville 1987, I, S. 375f. 440-444). Da der Roveretaner den despotischen Eingriff in das Gewissen der Bürger gar in der demokratischen Gesellschaft als am höchsten ausgeprägt ansieht, spricht er sich unter Voraussetzung einer funktionierenden Zivilgesellschaft und der Garantie der individuellen Freiheitsrechte gar für eine monarchische Regierungsform aus, in der die Gefahr der Invasion in die persönliche Gewissenssphäre am niedrigsten sei (Rosmini 1966-1969, V, S. 1290; vgl. Botto 1992, S. 190-192). Wie hierin deutlich wird, sieht Rosmini im Verhältnis zu Tocqueville im Zweifelsfall eine größere Einschränkung der demokratischen Idee vor, um gesellschaftliche Freiheit zu sichern. Dies kommt dann auch in Rosminis Verhältnisbestimmung zwischen religiöser, familiärer und ziviler Gesellschaft zum Ausdruck (Rosmini 1979, S. 33f.): Während Tocqueville auf die Notwendigkeit der sittlichen Wirklichkeiten von Familie und Religion für die Stabilisierung der Demokratie abhebt, besteht Rosminis Strategie eher in der institutionellen Begrenzung der Zivilgesellschaft durch ein naturrechtliches Verständnis von „häuslicher“ und „religiöser Gesellschaft“. So kommen diese Unterschiede auch erst in der rosminischen Rechtsphilosophie zum Tragen, nicht jedoch in der Philosophie der Politik und der Verfassung gemäß der sozialen Gerechtigkeit, die beide von einer eingehenden TocquevilleLektüre durch Rosmini zeugen.

rung von deren Kultur und Gemeinwohl. In der Philosophie der Politik schreibt Rosmini: „Die Annahme, der Mensch werde durch den Stachel der gesteigerten Bedürfnisse stets zum Gewerbefleiß stimuliert, ist falsch. In bestimmten Situationen produziert dieser Stimulus lediglich die Verarmung und sogar das äußerste Elend der Völker, die dem Drängen der Bedürfnisse nicht mehr widerstehen können und sogar die lebensnotwendigen Dinge veräußern, um die Bedürfnisse zu befriedigen. Nun ist die Verringerung der lebensnotwendigen Dinge gleichbedeutend mit der Verringerung der Bevölkerung. Daher sind die vermehrten Bedürfnisse unter diesen Bedingungen eher dazu angetan, die ohnehin schon armen, primitiven Völker zu vernichten, als dazu, sie zivilisiert und reich zu machen“ (Rosmini 1999, S. 471).

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2. Rosminis Konzeption der Zivilgesellschaft Bereits in seiner Philosophie der Politik aus dem Jahr 1838 sticht vor allem der Begriff der Zivilgesellschaft hervor, den Rosmini von allen Herrschaftsverhältnissen abgrenzt und zum normativen Kriterium der politischen Gemeinschaft macht. Während die politische Organisation stets auf Über- und Unterordnungsverhältnissen beruht, drückt die Zivilgesellschaft die Realität innerer Bande zwischen Personen aus, in welchen allen ein gleiches ursprüngliches Recht zukommt. Als Sozialdimension der Person ist sie mithin eine anthropologische Realität. In seiner Rechtsphilosophie drückt Rosmini dies durch den Grundsatz aus, dass die Person „das subsistierende menschliche Recht“ ist. Zusammen mit Alexis de Toqueville,10 dessen Schriften Rosmini vor der Abfassung der Endversion seiner politischen Philosophie studierte (Buscemi 2004), avancierte Rosmini zum Theoretiker der liberalkatholischen Idee dieser Sphäre der freien und eigenverantworteten Organisation freier Menschen, die in dieser Sphäre ihre natürliche, oder wie Rosmini definiert, „außer-gesellschaftliche“ Freiheit realisieren. Als Realität des Politischen ist die Gesellschaft mithin auf vorgesellschaftliche Voraussetzungen verwiesen, und diese sind die natürlichen Beziehungen der Personen, die unter gegenseitiger Anerkennung ihrer natürlichen Rechte in einen nutzenmaximierenden gesellschaftlichen Zusammenhang treten:11 „Die Politik in ihrer Komplexität zu betrachten, bedeutete, Montesquieu zu folgen und die Gesellschaft zu betrachten“ (Liermann 2004, S. 74). Die Gesellschaft setzt sich aber aus konkreten Personen zusammen, die danach streben, ihr Leben zu realisieren. Gute Politik zeichnet sich demnach für Rosmini dadurch aus, die Gesellschaft zu diesem Ziel zu führen. Insofern weist jede Zivilgesellschaft auf eine grundlegende Idee von menschlicher Gesellschaftlichkeit zurück (Rosmini 1999, S. 138). Aufgrund dieser Grundreflexion wird bereits deutlich, dass Rosmini sich dagegen wendet, die politische Zivilgesellschaft mit der Gesellschaft an sich gleichzusetzen, bzw. sie als Prototyp aller Gesellschaftlichkeit anzusehen (Rosmini 1887, S. 65).12 Dies wäre für Rosmini der Grund aller Verabsolutierungen des Politischen und der politischen Ordnung in den Konzeptionen der Neuzeit.

10 Herb und Hidalgo betonen, dass Tocqueville „das Christentum als erstes Moralsystem“ ansieht, das die Idee der gleichen Rechte in seine Lehre integriert habe“ (Herb/Hidalgo 2005, S. 34). 11 „Die Ursache für alle sozialen Ereignisse liegt im Menschen, dem Bestandteil der Gesellschaft. Alles, was in den Nationen auf einer größeren Skala und mit anderen Proportionen entsteht, besteht vorher keimhaft im Bewusstsein der Einzelpersonen, welche die Gesellschaft bilden“ (Rosmini 1999, S. 391; Rosmini 1966-1969, III, S. 604). Zum rosminischen Personenbegriff als Strukturprinzip seines politischen Denkens vgl. Krienke 2008, S. 121-138. 12 Hier stellt Rosmini heraus, dass Gesellschaft in ihrem Vollsinn die universale Menschheitsgesellschaft ist. Nur in dieser universalen Perspektive könne das Ziel des Glücks und der Moralität vollkommen eingesehen und realisiert werden. Konkret wird sie, deren „Vorsitz“ Gott selbst innehat, in der Kirche symbolisiert (Rosmini 1966-1969, IV, S. 888f., 896, 901-903, 915).

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Gleichzeitig geht es Rosmini jedoch auch darum, ein starkes Konzept von Zivilgesellschaft gegen den hegelianisch-marxianischen Terminus zu profilieren. So präsentiert er eine historische Erklärung der modernen Zivilgesellschaft, die nicht wie in der liberalen Interpretation auf der Durchsetzung des Individualismus beruht, sondern sie als Synthese des zivilgesellschaftlichen Elements aus dem römischen Reich und des familiär-autoritativen Elements aus dem Germanischen ansah. Beginne somit das Mittelalter mit der Vorherrschaft des letzteren, indem es die politische Herrschaft aus der familiären Logik herleite, der Rosmini stets herrschaftliche Unterordnung und Egoismus bescheinigt, würde sich im Laufe des Mittelalters immer deutlicher das zivilgesellschaftliche Element durchsetzen. Letztlich gehe die moderne Gesellschaft Europas aus einer Fusion beider Elemente hervor, zu der die Kirche einen geschichtlich-kulturell konkreten Beitrag geleistet habe (Rosmini 1966-1969, S. 1341-1344, 1368f.). Insofern Rosmini diesen Prozess nicht als linear-harmonische Entwicklung darstellt, sondern in seiner Konfliktgeschichte herausstellt – mithin beschreibt, dass diese Synthese nur durch Kampf hervorging13 – stellt er eine dem hegelschen oder marxistischen Modell der historisch-politischen Deutung alternatives Konzept gegenüber. Da dies in der Französischen Revolution zur Überwindung des familiären Prinzips des Feudalismus geführt hat, sieht Rosmini in diesem Ereignis einen bedeutenden Schritt in Richtung Moderne (Rosmini 1966-1969, V. S. 1401). Im Gegenteil wirft Rosmini vielen seiner Zeitgenossen vor, dass „die aufrichtigsten und religiösesten Personen zu allem Unglück nicht die innige Stimme, die drückende Not der Gesellschaft verstanden, in der sie lebten, und nicht einmal ihre eigene Berufung. Und dies ist das größte Unglück der Nationen“ (Rosmini 1966-1969, V, S. 1401). Diese Geschichte der Durchsetzung des zivilgesellschaftlichen Elements führte zum wachsenden Bewusstsein des vor- bzw. außer-‚sozialen‘ Charakters der Person, die damit bei Rosmini zum Kriterium der Gesellschaft wird. Demzufolge ist es die grundlegende Aufgabe aller Politik, die soziale und die außersoziale Dimension des Menschen in ihrem richtigen Verhältnis zur vollen Entfaltung zu bringen. Während er sich einerseits vehement gegen die sozialistische Politisierung aller Rechte wendet, stellt er sich auch andererseits gegen einen jegliche soziale Verhältnisse auflösenden Rechtsindividualismus. In der Tat formuliert er einerseits in einem Werk, in welchem er sich im Jahr 1849 gegen die frühen Sozialisten sowie das gerade veröffentlichte Manifest der Kommunistischen Partei wandte, seinen fundamentalen Einspruch gegen die Aufhebung jeder vorsozialen Individualität des Menschen in einem 13 D’Addio stellt heraus, dass für Rosmini das Prinzip des Antagonismus das historische Entwicklungsprinzip ist (D’Addio 2000, S. 162f.), da nach Rosmini die „höchste moralische Perfektion“, welche somit jedem politischen „Perfektismus“ radikal entgegengesetzt ist (Rosmini 1999, S. 118), „sich nur unter der Bedingung des Antagonismus realisieren ließe“, sodass der „maximale Antagonismus“ das „unabdingbare Mittel ihrer maximalen moralischen Vollkommenheit“ ist (Rosmini 1977, S. 437).

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politischen Sozialkonstruktivismus: „Es kann nicht verwundern, dass das Individuum nichts mehr wert ist, wo die Regierung alles ist“ (Rosmini 1978, S. 99).14 Andererseits formuliert er in seiner Philosophie der Politik eine Kritik am Rechtsindividualismus, wie er dann Kennzeichen des späteren Libertarismus werden sollte: „Es kommt allzu häufig vor, daß jemand, der weiß, daß er ein Recht besitzt, glaubt, dieses Recht unbegrenzt und nach Lust und Laune gebrauchen zu können. Das ist ein verhängnisvoller Irrtum, der in der Gesellschaft auf der Seite der Mitglieder Unbotmäßigkeit und Rebellion gegen die Regierung und Zwangsmaßnahmen und Despotismus seitens der Regierung erzeugt“ (Rosmini 1999, S. 195). Damit entwirft Rosmini eine moralische Sichtweise auf das individuelle Recht persönlicher Selbstentfaltung und Lebensführung, die einerseits rechtliche Schranken zur Vermeidung der Rechtskollision mit korrespondierenden Rechten anderer, andererseits aber auch moralische Grenzen vorsieht: „Der Gebrauch eines so bedeutenden Rechts darf in keiner Weise nach dem Belieben der Regierung eingeschränkt werden. Es darf lediglich moralische Einschränkungen erfahren, wie sie sich aus konkreten Pflichten ergeben. Von daher muß die Lebensweise, die jeder zu wählen das Recht hat, erstens in jeder Hinsicht statthaft sein. Sie darf zweitens die positiven, bereits vereinbarten Verpflichtungen nicht verletzen. Von diesen Verpflichtungen darf sie drittens in keiner Weise die Verpflichtung zum Beitrag an die Gesellschaft verletzen“ (Rosmini 1999, S. 245). Es zeichnet Rosmini aus, dass er diese moralische Verpflichtung nicht durch politische Institutionen zu garantieren sucht; es ist nicht einmal Aufgabe der Zivilgesellschaft, moralischen Konsens herzustellen – zu sehr ist diese positiver Ausdruck der Dynamik von Interessensgegensätzen und freiem Assoziationswesen. Die die Zivilgesellschaft humanisierenden Institutionen sind für Rosmini die beiden die menschliche Person vervollkommnenden Gesellschaften der societas theocratica und der societas domestica als vor-gesellschaftliche Realisierungsweisen der menschlichen Person in ihrer metaphysischen Freiheitsdimension: Wie für Hegel, so ist auch für Rosmini die Familie die erste ethische Realisierungsform von Freiheit. Im Unterschied zu diesem ist sie für Rosmini aber eine Perfektionsform der menschlichen Natur. Für Hegel muss sie zunächst in der Zivilgesellschaft und dann im Staat „aufgehoben“ werden, also von diesen her ihre negative Legitimation erhalten. Nur indem sie sich in die Zivilgesellschaft hinein auflöst, erfüllt sie ihre sozial-ethische

14 Die frühsozialistischen Philosophen, so Rosmini, würden nicht bedenken, „dass wenn das menschliche Individuum nur noch als Maschine betrachtet wird und keine innere Motivation mehr hat, auch die freie Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten aufhörte und damit jeder Fortschritt versiegte. Es gäbe keine großen Innovatoren mehr und auch keine Unternehmer oder unermüdliche Arbeiter. Die Menschheit wäre schlecht dran, wo sich das Mittelmaß, die Monotonie und die Langeweile mit der geringen Produktion, der ungenügenden Ausbildung der Arbeiter und der Armut aller (mit Ausnahme jener glücklichen Regierenden, die allen Reichtum innehaben) verbinden würde“ (Rosmini 1978, S. 99).

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Funktion. Für Rosmini dagegen ist sie Vollgestalt der Perfektion der menschlichen Natur und zeigt an, dass die Gesellschaftsdimension in der Natur des Menschen selbst angelegt ist (Rosmini 1999, S. 162). Die „theokratische Gesellschaft“ – dieser Begriff ist für Rosmini eben kein politischer Ausdruck – hingegen steht für die Perfektion des personalen Aspekts des Menschen, d. h. letztlich in seiner moralischen Freiheitsdimension. Diesen Bezirk der letzten Wahrheiten, tiefsten Überzeugungen und absoluten Bindung der Person darf sich die Politik nicht aneignen – genau dies geschieht in fundamentalistischen, despotischen oder totalitären Regimen. Dennoch ist die Religion für die Realisierung des säkularen Personenrechts für Rosmini von größter Bedeutung, da ohne den Bezug zur Religion der Rechtsbegriff „unterbestimmt“ bleibt (Rosmini 1966-1969, IV, S. 851). Durch diese Inbezugsetzung zur „theokratischen“ und „häuslichen“ Gesellschaft kommt dem rosminischen Begriff der Zivilgesellschaft ein subsidiärer Charakter zu. Als „künstliches Seiendes“ ist sie den natürlichen Sozialformen der „theokratischen“ und der „häuslichen“ Gesellschaft nachgeordnet (Rosmini 1966-1969, V, S. 1206f.; Peratoner 2014). Alle drei Gesellschaftssphären verknüpfen sich in der menschlichen Person, die für Rosmini Inbegriff des Rechts ist. Gleichzeitig entzieht Rosmini dadurch die familiäre und religiöse Dimension den Möglichkeiten der politischen Gesellschaft: Letztlich wird deutlich, dass die bereits genannte rosminische Reform des Verhältnisses von Staat und Kirche genau hier ihre zutiefst politische Motivation erlangt. Die Kirche als die „theokratische Gesellschaft“ kann nicht zur ‚Partnerin‘ des Staates werden; auch kann der Staat nicht die religiöse Dimension beanspruchen und somit Formen ‚politischer Theologie‘ oder ‚politischer Religion‘ annehmen, da sie einem Gesellschaftstypus zukommt, der von der Zivilgesellschaft getrennt ist. In dieser „sozialen Perichorese“ der drei Gesellschaftstypen, die voneinander getrennt sind, sich aber gegenseitig ergänzen und nur so die soziale Wirklichkeit der Person darstellen, präsentiert Rosmini ein wirkliches sozialethisches Alternativkonzept zu Hegel. Die Möglichkeit, dass sich die politische Dimension verabsolutiert, wird durch den subsidiären Charakter der Zivilgesellschaft ausgeschlossen, der es – in der Institution der Regierung – lediglich zukommt, die „Modalitäten aller Rechte der Bürger zu regeln, damit sie wenigstmöglich miteinander kollidieren, geschützt und fortgebildet werden. Dies ist das erste und präzise Ziel, und eigentlich die gesellschaftliche Aufgabe. Die Lehre von diesem Ziel vermeidet in der Gesellschaft jedweden Despotismus“ (Rosmini 1887, S. 9). Generell traue man, so Rosmini, der Gesellschaft zu viel zu, als ob sie alle sozialen Probleme lösen könne. In diesem Sinn ist Rosminis Despotismusverdacht, wie D’Addio andeutete, durchaus nochmals radikaler als derjenige Tocquevilles, da er nicht bei der „Tyrannei der Mehrheit“ haltmacht, sondern auf die Zivilgesellschaft als solche ausgedehnt wird (D’Addio 2000, S. 190). Gleichwohl meint die subsidiäre Stellung der Zivilgesellschaft, dass sie als nachgeordnete Gesellschaft dennoch un-

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abdingbar für die beiden anderen ist: Einerseits überwindet die Zivilgesellschaft den familiären Egoismus, den Rosmini als eigentliche moralische Grenze der Familie ansieht, andererseits bildet sie das notwendige Pendant zur religiösen Gesellschaft und verortet diese in einer Rechtsgemeinschaft. Sie ist somit das notwendige Mittelglied, welches den natürlichen ‚Egoismus‘ der Familie und die übernatürliche ‚Geistigkeit‘ der Kirche in die zwischenmenschliche Realität einordnet.15 Gerade die Rechtsbegründung der Zivilgesellschaft, ihre Autonomie gegenüber Staat und Kirche, deren weitgehende Selbstbestimmung und demzufolge die Vermittlung von Wirtschaft und Interessen lässt den rosminischen Zivilgesellschaftsbegriff mehr der lockeschen denn der montesquieuschen Tradition ähneln.16 Zwar ist es naheliegend, über die Vermittlung Tocquevilles17 Rosmini der montesquieuschen Tradition zuzuschreiben, doch äußert sich Rosmini nicht zur Idee der corps intermédiaires und der Assoziation bzw. zur Stellung der Gemeinde bei Tocqueville, wenn auch letzterer zweifelsohne der zentrale Bezugspunkt des politischen Denkens Rosminis darstellt.18 In Abgrenzung zu Hegel, der zwischen beiden Traditionen zu vermitteln sucht, und dessen institutioneller Ausgestaltung der Zivilgesellschaft als solcher profiliert sich jedoch der rosminische Begriff, der dem kantschen nicht unähnlich ist, vor allem was die Ersetzung der intermediären Strukturen bei Montesquieu durch den Rechtsbegriff angeht.19 Die Zivilgesellschaft braucht für diese bedeutende Funktion eine stabile Verankerung, was Rosmini durch die Idee der Verfassung gemäß der sozialen Gerechtigkeit realisiert. Die Grunddimension der Zivilgesellschaft ist die unbedingte moralische Anerkennung des anderen, die nicht mit modernen bürgerlichen Ziviltugenden der moralischen Gefühle wie gegenseitiger Nutzen, Gegenseitigkeit, Wohlwollen verwechselt werden darf (Hoevel 2013, S 225). Analog zu seiner Definition, dass die 15 In diesem Sinn klingt bei Rosmini bereits jene bereits von Hegel und dann von Gramsci thematisierte Dimension an, dass „Zivilgesellschaft“ nicht einfach wie bei Tocqueville das freie Assoziationswesen besagt, sondern die Vermittlungsinstanz aller gesellschaftlichen Wirklichkeit (Bobbio 1976, S. 29). In diesem präzisen Sinn, nicht im Sinne der „vertikalen Subsidiarität“, kann man von einem subsidiären Gesellschaftsbegriff bei Rosmini sprechen. 16 Charles Taylor hat die beiden Begriffe (von Locke und Montesquieu) als idealtypische Dimensionen des modernen Zivilgesellschaftsbegriffs hervorgehoben und die entsprechenden Traditionen als „L-Strang“ und „M-Strang“ bezeichnet (Taylor 1989, S. 65). 17 Von Tocqueville übernimmt Rosmini in seiner Philosophie der Politik vor allem die Analyse, wie die industrielle ‚Produktion‘ von Bedürfnissen in Gesellschaften, die wie die amerikanischen Indianer nicht dafür vorbereitet sind, destruktive Folgen hat (Rosmini 1999 S. 470-473), sowie die Despotismuskritik an der Demokratie und die Überlegungen zur Bedeutung der „Intelligenz der Individuen“ gegenüber dem „Verstand der Massen“ (ebd. S. 331-335; Tesini 1987). Nach Piovani sind gar die zentralen Ideen der rosminischen Politik, wie „die politische Gerichtsbarkeit und die Modalitäten des Rechts […] wahrscheinlich“ von Tocqueville beeinflusst (Piovani 2013, S. 454, Anm. 107). 18 Vgl. über das Urteil Piovanis hinaus auch Del Noce 2008, S. 235. 19 Während Montesquieu die corps intermédiaires vor allem in einer Monarchie als nötig erachtet, sieht sie Rosmini nicht einmal für diesen Regierungstyp (den er, wie bereits geschildert, unter gewissen Bedingungen den anderen sogar vorzieht) eigens vor.

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Person „das subsistierende menschliche Recht“ ist (Rosmini 1966-1969, I, S. 191), betont er in seiner Philosophie der Politik, dass die Bürger ihre Regierung sind bzw. „in einer einzigen, öffentlichen, bürgerlichen Regierung“ vereinigt sind (Rosmini 1999, S. 327). Rosmini sieht die Idee politischer Parteien nicht mit dieser Konzeption der Zivilgesellschaft vereinbar, da es Parteien immer um Partikularziele, nicht um das Gemeinwohl geht. In dieser Analyse stimmt er mit Hume, Tocqueville20 oder den Autoren der Federalist Papers überein (Nicoletti 1999, S. 162). Daraus folgt für Rosmini nicht die Forderung nach deren Abschaffung, wohl aber deren Verpflichtung auf das Gemeinwohl als regulatives Prinzip (D’Addio 2000, S. 94-96). Es ist mithin deutlich, wie Rosmini stark auf die Rechtsidee als Ausgleich für die Interessensdivergenz in der Zivilgesellschaft baut: Weder berufsständische Gruppen wie bei Hegel noch Parteien oder sonstige Assoziationen, sondern das auf die natürliche Person, auf Familie und Kirche verweisende Recht. Die grundlegende Idee ist, dass die Ausbreitung marktwirtschaftlicher Dynamiken mit einer Vertiefung und immer weiteren Absicherung der Rechte verbunden sein muss (Armellini 2008 S. 56). „Die eigentliche gesellschaftliche Dialektik ist daher jene, die innerhalb der Beziehung von Person und bürgerlicher Gesellschaft zum Tragen kommt, denn dort und nicht woanders – im Staat – kann die relationale Daseinsform ihre fundamentale gesellschaftliche Dimension, die Dimension der Freiheit, entfalten“ (Campanini 1999, S. 139).

3. Die Verfassung gemäß der sozialen Gerechtigkeit Rosmini bejaht die Französische Revolution als Ereignis, welches dem feudalistischmonarchischen Despotismus ein Ende bereitete – doch ist die neuzeitliche Zivilgesellschaft keine Garantie für die Unterbindung von ungerechtfertigter Macht von Menschen über andere. Im Gegenteil, Rosmini erkennt gerade im Despotismus der Zivilgesellschaft dessen „radikalste und tiefgreifendste“ Form, „weil es sich hier um den Despotismus handelt, der allen Regierungsformen vorausgeht und daher den ursprünglichen und entblößten Despotismus darstellt“ (Rosmini 2010a, S. 311).21 So ist auch der liberal-säkulare Rechtsstaat nicht per se Garantie für Freiheit, wie dieser bei Hegel gedacht ist: Diesen und die Frühsozialisten für deren „statolatrisches“ Denken kritisierend, mahnt Rosmini in tocquevillescher Manier, dass man den „extremen Absolutismus in jeder beliebigen Demokratie antreffen kann“ (Rosmini 1999,

20 Tocqueville ist hier jedoch nuancierter als Rosmini meint (Tocqueville 1987, I, S. 254). 21 Zuvor hatte Rosmini den Despotismus definiert als „die Ungerechtigkeit der Macht, jene Ungerechtigkeit, die darin besteht, dass der Mensch die Gesellschaft nach seinem eigenen Willen lenken will, statt gemäß der ewigen Vernunftprinzipien“ (Rosmini 2010a, S. 310).

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S. 191, Anm. 6).22 In der freiheitlich-säkularen Staatsverfassung müsse, so Rosmini, die Idee der Gerechtigkeit zum Ausdruck kommen, d. h. die Frage beantwortet werden, wie sich eine Gesellschaftsverfassung auf Gerechtigkeitsgrundsätze basieren lässt, die nicht der Kontingenz der schwankenden Mehrheitsmeinung und statistisch vorherrschenden Stimmungen im Volk abhängig ist. Nach Giandomenico Romagnosi (Romagnosi 1791) und Taparelli d’Azeglio (Taparelli 1840-1843) ist Rosmini der dritte Denker, welcher dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit eine spezifische Kontur verleiht und demnach zu den Ideatoren dieses Konzepts gezählt werden kann.23 Für Rosmini sind die beiden Grundsätze einer solchen Verfassung „Eigentum“ und „Freiheit“. Sozial gerecht ist eine Verfassung, welche beide Dimensionen in ihr richtiges Verhältnis bringt und institutionell verwirklicht. Politisch werden beide Dimensionen in zwei verschiedenen Kammern repräsentiert: Das Parlament wird aufgrund des ersten Elements bestellt, weswegen Rosmini für dieses ein Zensuswahlrecht vorsieht. Nur gesellschaftlich beitragende Besitzbürger haben zu dieser Instanz Zugang, da es in ihr um den Interessensausgleich der Besitzer geht. An der Spitze der Regierung steht ein Verwalter, welcher durch die Volksvertreter eingesetzt wird und im Stile einer Unternehmensführung die Gesellschaft bestmöglich voranbringen soll. Die zweite Kammer ist das politische Tribunal, das nach Rosmini „eine sehr fortschrittliche und aufgeklärte Gesellschaft sowie eine weit entwickelte Sittlichkeit in der Menschheit“ (Rosmini 1887, S. 316; vgl. S. 25-28, 317-322), mithin ein hohes Gerechtigkeitsbewusstsein, voraussetzt. Zu diesem tribunale politico haben alle gleiches Stimmrecht, da es in ihm um die Garantie gleicher Grundfreiheiten und damit der Grundrechte aller Bürger geht. Auch Besitzlose haben demzufolge Stimmrecht und müssen gesellschaftlich in ihren Freiheiten repräsentiert sein. Beide Kammern haben somit eine unterschiedliche Struktur, da sie jene beiden Aspekte der Interessen und der Gerechtigkeit verwirklichen, die gleichermaßen anthropologischer Ausdruck der menschlichen Person sind und als solche die Zivilgesellschaft strukturieren (Rosmini 1887, S. 116-119). Während letztere Kammer unpersönlich-unabhängig ist, ist die erstere interessiert-strategisch ausgerichtet: „Der Richter spricht seine Urteile nach festen, unwandelbaren und absoluten Normen, während der Verwalter seine Anordnungen gemäß wandelbaren und den Bedingungen angepassten Regeln trifft; die Normen der Gerechtigkeit betreffen das Universa22 Und er fügt hinzu: „Tatsächlich besteht das Prinzip des Absolutismus darin, als einzige und höchste Gesetzesquelle den Willen des Souveräns anzuerkennen. Es ist dann gleichgültig, ob der Souverän ein einzelner Mensch oder mehrere Menschen oder das ganze Volk ist“ (Rosmini 1999, S. 191, Anm. 6). 23 Während bislang in deutschsprachigen Studien lediglich festgestellt wurde, dass Rosmini zusammen mit Taparelli die erste Wortverwendung des Begriffs ‚soziale Gerechtigkeit‘ zugeschrieben wird, ist weder der bereits vorgängige Gebrauch bei Romagnosi noch der Unterschied der rosminischen Begriffsbestimmung im Vergleich zum Gebrauch Taparellis genügend bekannt (Veith 2004, S. 319; Küppers 2008, S. 166f.).

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le und sind daher allen Menschen gemeinsam und gewissermaßen angeboren, wohingegen die Nützlichkeitsregeln unbegrenztem Wandel ausgesetzt sind, von den Geschäften abhängen, auf die sie sich beziehen, und nur durch Erfahrung erlernt werden können, wobei sie je nach Situation der Menschen zu unterscheiden sind“ (Rosmini 1966-1969, VI, S. 1605). Staatsaufgabe ist für Rosmini mithin der Ausgleich von Eigentum und Freiheit, von individuellem und sozialem Aspekt der menschlichen Natur. Soziale Gerechtigkeit meint für ihn in einem John Rawls stark antizipierenden Sinn die gesellschaftliche Realisierung der Grundrechte einer jeden Person in universaler Gleichheit und wirtschaftlicher Freiheit (Rosmini 1999, S. 191; Rosmini 2010a, S. 281, 285). Dieses politische Tribunal untersagt dabei sämtliche Akte der Legislative, die unberechtigt in den Bereich individueller Freiheiten eingreifen, und d. h. für Rosmini in den moralischen Bereich persönlicher Freiheit. Es ist mithin deutlich, wie Rosmini die moderne Idee der Gewaltenteilung verfeinert und vor allem im Bereich des Grundrechtsschutzes und der juridischen Gewalt stärkt (Armellini 2008, S. 38). Das politische Tribunal wird nicht eigeninitiativ tätig, sondern nur aufgrund von Anträgen seitens der Bürger und kann nicht positiv Gesetze verabschieden, sondern sie nur in dem Falle „kassieren“, dass sie den individuellen Freiheiten der Bürger schaden, weswegen es auch als „hemmende Gewalt“ bezeichnet wurde (Nicoletti 1999, S. 159). Rosmini selbst hebt hervor, dass er dadurch eine alternative Idee von Demokratie realisieren wollte, und zwar „nicht in dem Sinn, dass alle Menschen teilhaben, sondern dergestalt, dass alle Menschen teilhaben können: Und sie können teilhaben, da sie an der Aufrichtigkeit und Tugend, diesen höchsten Gütern, die allen zugänglich sind, teilhaben können, derentwegen allein das Tribunal, von dem wir sprechen, allen zugänglich sein muss“ (Rosmini 1887, S. 332).24 Hierin sieht er gar eine im Verhältnis zur französischen Verfassung und den frühsozialistischen Denkern fortschrittliche Idee von Demokratie. Doch schlägt sich Rosmini damit auch auf die Seite liberal-patrimonialistischer Denker der Moderne, deren vorrangige Befürchtung die Überdehnung staatlicher Macht durch parteien- und parlamentsdemokratische sowie sozialstaatliche Einrichtungen ist. Staat und Regierung auf ein Minimum an Legislative und Exekutive beschränkend (Muscolino 2006, S. 82), stärkt Rosmini jedoch die Zivilgesellschaft, zusammen mit den anderen beiden vorgesellschaftlichen Institutionen der Familie und der Religion. Selbstverwirklichung des Subjekts ist für Rosmini zuallererst eine moralische und religiöse Dimension; sie geht das zwischenmenschliche Verhältnis an, weswegen sie jedem staatlichen Zugriff und seiner Gestaltungsmöglichkeit entzogen ist. 24 Hier formuliert Rosmini auch seine Definition von ‚Demokratie‘ über die Überlegung, „wie die Gerechtigkeit demokratisch ist: Denn diese fordert […], dass alle Menschen und alle moralischen Personen sich als gleiche betrachten, wenn sie vor diese treten, um ihr Urteil zu empfangen“ (Rosmini 1887, S. 331f.).

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Durch diese Idee der differenzierten Repräsentanz meint Rosmini, eine anthropologisch fundierte und vor allem sozial gerechte Weise politischer Legitimation ausgearbeitet zu haben. Während er im Bereich der Rechtsverwirklichung eine avantgardistische Position einnimmt und in gewisser Weise die Idee eines Verfassungsgerichts vorwegnimmt, erweist er sich mit der Idee eines Zensuswahlrechts für das politische Parlament als stark seiner Zeit und dem damaligen patrimonialistischen Denken verhaftet. Er bringt das allgemeine Wahlrecht zur Legislative wohl unmittelbar mit der sozialistischen Idee der staatlichen Bevormundung zusammen: Soll die Mehrheit über das Privatvermögen Einzelner entscheiden können, dann sieht Rosmini die wirtschaftlichen Interessen unterrepräsentiert. Für Rosmini ist dagegen das Parlament reine Interessensvertretung, und aus diesem Grund muss die Bevölkerung nach der Maßgabe ihrer material-wirtschaftlichen Interessen vertreten sein (Nicoletti 1999, S. 158). Man kann dies zwar durchaus als Maßnahme zur „Transparenz“ sehen, denn damit können Korruption, Steuerhinterziehung und auch Lobbyismus besser bekämpft werden. Diese Interessen bemessen sich allerdings nach dem Beitrag, den ein jeder zum Gesellschaftsganzen liefert. Da Rosmini die Besteuerung nur auf privaten Besitz, nicht auf Arbeit und Konsum vorsieht, entspricht die reale Repräsentanz der Gesellschaft den Beitrags- bzw. Eigentumsverhältnissen (Botto 1992, S. 206). Das allgemeine Wahlrecht würde nach Rosmini im Gegenteil dazu führen, dass die Besitzlosen über den Besitz anderer bestimmen, was seinem Gerechtigkeitsverständnis zuwider läuft. Während für einige Interpreten Rosmini durch diese Lehre seine Grundkonzeption sozialer Gerechtigkeit konterkariert (Conigliaro 1985, S. 282), die sich wesentlich im Begriff der Freiheit und der Sicherung der Grundrechte mit allgemeinem Wahlrecht zum Politischen Tribunal ausdrückt, sehen andere das Verhältnis genau umgekehrt und verstehen die Garantie freiheitlicher Grundrechte durch das Politische Tribunal als Korrektur des bürgerlichen Patrimonialismus (Campanini 1999, S. 143), wieder andere erklären diese Spannung im rosminischen Denken mit seiner Abhängigkeit von patrimonialistischen bzw. englisch-liberalen Lehren (Traniello 1997, S. 49f., 113f .) bzw. sehen darin eine Konzeption größerer Kohärenz als in den anderen zeitgenössischen Vorschlägen (Mercadante 1975, S. 185-218). Mancher erkennt gar in der Idee, die politische Regierung als gemeinsame Administration des gesellschaftlichen Reichtums zu verstehen, eine grundlegend demokratische Konzeption, welche den oder die bestellten Administrator(en) nicht einfach zu „Dienern der Gesellschaft“ machen, sondern diesen durchaus eigene Rechte zubilligen, was jedoch in jedem Fall ein anderes Rechtsverhältnis beschreibt als das einer feudalen Über- bzw. Unterordnung (Botto 1992, S. 116f.). Durch das Zusammenspiel von Interessens- und Rechtsrepräsentation bringt Rosmini ein Gesellschaftsverständnis zum Ausdruck, das in Eigeninitiative und sozialer Verantwortung die Grunddimensionen des Bürgerdaseins erkennt. Damit identifiziert er als Grundlage seiner Idee sozialer Gerechtigkeit konkret das Grundprinzip

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jenes ordnungspolitischen Gedankens, der ein Jahrhundert später „soziale Marktwirtschaft“ genannt werden sollte. Sowohl die Förderung des wirtschaftlichen Wachstums als auch die universale Befähigung aller zur aktiven Teilhabe an der Zivilgesellschaft sind für Rosmini grundlegende Staatsaufgaben (Rosmini 1966-1969, V, S. 1392). Weiterhin spricht er sich für eine staatliche Ordnungspolitik aus, die auf Abbau von Monopolen und Privilegien zielt sowie privates Unternehmertum fördert (Hoevel 2013, S. 183f.).25 Deswegen gilt für ihn, dass eine Gleichverteilung der Güter ausgeschlossen ist, wenn dadurch das Gesamtgut der Gesellschaft sinken würde. Dies wäre, so unterstreicht der Roveretaner, eine „Verletzung der Tugend der Menschlichkeit“ (Rosmini 1999, S. 435). Er verficht ein Gesellschaftsmodell, das davon ausgeht, dass das gesellschaftliche materielle und moralische Gut nur von freien Subjekten aufgebracht werden kann und deswegen die gesellschaftlichen Gesetze „alle in gleicher Weise zum Wettbewerb um die gesellschaftlichen Güter“ aufrufen (Rosmini 1999, S. 445). Weiterhin kann man die rosminische Überlegung, dass die sozialen Ungleichheiten, wie sie aus der Industrialisierung resultierten, auf ein zu schnelles Wachstum zurückzuführen sind, welches unmöglich allen Menschen auf einen Schlag Arbeitsmöglichkeiten beschaffen konnte, als ein Plädoyer zur Gestaltung des wirtschaftlichen Rahmens und marktkonformer Wirtschaftspolitik lesen. Rosmini betrachtet mithin die „sozialen Kosten“ (D’Addio 2000, S. 131) der schnellen Industrialisierung Europas. Seiner moralischen Interpretation der Rechte entspricht eine ebenso moralische Betrachtung der Wirtschaft: Er spricht sich keinesfalls gegen die moderne Bedürfnissteigerung aus, wohl aber gegen dessen Instrumentalisierung, die viele Menschen verarmen und in Abhängigkeit geraten lässt. Aus diesem Grund ist der Wettbewerb nicht per se ein Allheilmittel für Rosmini, sondern nur dann, wenn er auf Gerechtigkeitsgrundsätzen fundiert ist: „Gewiß ist keiner mehr als ich ein Freund des freien Wettbewerbs um alle Güter, sofern man dieses – ehrlich gesagt, unbestimmte und mehrdeutige – Wort Wettbewerb nicht mißversteht. Ich befürworte keinesfalls jenen Wettbewerb, der zur einzigen Quelle und zum einzigen Prinzip von Gerechtigkeit erhoben wird. Ich befürworte nur den Wettbewerb, der nicht etwa Ursache der Gerechtigkeit, sondern nur ein Effekt von ihr ist – ein Effekt der Gerechtigkeit, die dem Recht auf Wettbewerb vorausgeht und dieses Recht festlegt, weil sie ihm vorausgeht. Wenn man diese wichtige Unterscheidung wegläßt, bleibt das Wort ‚Wettbewerb‘ letztlich mißverständlich und öffnet das Feld für viele unselige Trugschlüsse“ (Rosmini 1999, S. 482f .). Rosmini denkt den Staat nicht von der Souveränität her, sondern von der Beteiligung der Bürger durch Inklusion: Diese Beteiligung wird aber durch konkrete wirt25 Dabei spezifiziert Rosmini, dass solch liberalisierende Maßnahmen nur dann unternommen werden sollten, wenn eine Volkswirtschaft ausreichend stabil an Kapital, Fähigkeiten und Eigeninitiative sei, da ansonsten die Öffnung der Märkte destruktiv wirken würde (Hoevel 2013, S. 206).

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schaftliche Prozesse bestimmt, in welchen jeder sich mit den anderen „assoziiert [...] allein um des Vorteils willen, den er für sich durch diese Assoziierung erwartet“ (Rosmini 1999, S. 169). Durch die Differenzierung in der wirtschaftlichen Partizipation realisiert sich die universale wechselseitige Anerkennung aller Gesellschaftsmitglieder und damit der Sozialisationsprozess. Rosmini sieht in der Ausdehnung des gesellschaftlichen Zusammenschlusses durch individuelles Vorteilsstreben eine Dynamik, die auch die „Ausdehnung des Radius‘ von Gerechtigkeit und Solidarität“ mit sich bringt (Liermann 2004, S. 155; mit Verweis auf Rosmini 1999, S. 150), da jeder Mensch Anspruch auf Anerkennung in seiner Würde hat (Rosmini 1999, S. 152). Damit ist der sozialpolitische Ausgleich nach Rosmini, ähnlich wie im Verständnis der sozialen Marktwirtschaft, subsidiär zu verstehen, und greift vor allem dort ein, wo der Markt seine ihm grundsätzlich zuerkannte soziale Inklusionskraft nicht erfüllt.

4. Schluss: Der rosminische Rechtspersonalismus im Spiegel aktueller Herausforderungen Rosminis Begriffe der Zivilgesellschaft und der sozialen Gerechtigkeit beruhen auf seinem spezifischen Verständnis der Person, welche in erster Linie in kantisch-idealistischer Perspektive als Wesen der Freiheit und der moralischen Differenz zwischen Gut und Böse angesehen wird. Gleichzeitig kritisiert er jedoch die sozialethischen Schlussfolgerungen, die Kant und Hegel für die Rechts- und Gesellschaftsidee der praktischen Vernunft ziehen. Alternativ sucht er der Person soziale Gerechtigkeit zu verschaffen durch die gegenseitige Ergänzung von Legislative und politischem Tribunal einerseits, sowie durch die Gegenüberstellung von säkularem Staat und Religion mittels subsidiärer Zuordnung von ziviler und religiöser Gesellschaft andererseits. Weder die republikanische Versicherung eines Gemeinwesens vernunftbegabter Wesen (Kant), noch die ethische Realisierung des Menschseins im Rechtsstaat (Hegel) sind für Rosmini die entscheidenden Sinnkategorien der Politik, sondern die Realisierung der Person in ihrer moralischen Freiheit.26 Es sind in der Tat letztlich anthropologische Grundeinsichten, welche Rosmini zu dieser Architektur politischer Ordnung führen. Nun steht auch im Fall der politischen Philosophie Kants und des Idealismus die Person im Zentrum, aber auf spezifisch unterschiedliche Weise. Für Kant ist die Per26 „Kant zufolge ist das Recht die Ordnung, die auch ein Volk von Teufeln hätte: Das Recht als reines Werk der Vernunft […]. Nach Hegel ist das Recht im Wesentlichen die Geschichte, es ist die Kraft, welche die Geschichte und den Staat personifiziert. Das Recht nach Rosmini ist das Individuum, sofern es in seinen unzählbaren Formen in den unendlichen Sorgen und Besorgnissen des Seins sein personales Leben lebt. Daher ist nur für Rosmini das Recht Freiheit“ (Capograssi 1959, S. 349f.; vgl. Campanini 1993).

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son Ziel, aber nicht Prinzip der politischen Institutionen, insofern sich diese aus einem abstrakt-individuellen Freiheitsbegriff herleiten, der an keine konkrete gemeinschaftliche oder religiöse Moralität gebunden ist; für Hegel ist sie Prinzip aber nicht Ziel derselben, da die Freiheitsrechte letztlich nur in der sittlich-gesellschaftlichen Ordnung des Staates aufgehoben bzw. affirmiert werden. Nur für Rosmini ist die Person „dagegen, beim Wort genommen, Prinzip und Ziel“ (Piovani 1958, S. 420): Sowohl die Individualfreiheiten als auch die moralisch-gesellschaftliche Dimension werden aus einem anthropologisch anspruchsvollen Personbegriff hergeleitet. Bezeichnenderweise findet sich diese Systematik im Personalismus von Gaudium et spes, dem sozialethischen Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils, wieder, wo die Person als „Wurzelgrund, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen“ definiert wird (Rosmini 1999, S. 55). Individual- und Sozialdimension der Person können nur zusammen gedacht werden, wenn erstere durch liberale Grundrechte, letztere aber durch eine moralische Instanz gesichert wird, die nicht mit dem Staat selbst zusammenfällt. Dies ist, formelartig zusammengefasst, das Grundprinzip der rosminischen Staats- und Gesellschaftskonzeption. In dieser Perspektive moralischer Freiheit, die individuelle Freiheit und ethische Realisierung derselben zusammendenkt, nehmen – so beschreibt es Rosmini – die Grundrechte relationale Form an, d. h. sie werden nicht individualistisch verkürzt: „Die wirklichen Menschenrechte sind keine dem Individuum inhärente Qualitäten, sondern moralische Relationen zwischen den Individuen, so wie sie aus der gemeinsamen menschlichen Natur resultieren“ (Rosmini 1966-1969, II, S. 400). Damit eröffnet Rosmini eine neue rechtsethische Verständnismöglichkeit der politischen Moderne, in der sich das Rechtsverständnis immer deutlicher auf subjektive Individualfreiheiten hin entwickelt hat, nun aber unter den aktuellen Bedingungen des politischen „Narrativs von der Rückkehr der Religionen“ (Hidalgo/Zapf/Hildmann 2017) von neuem vor der Herausforderung einer moralisch-gesellschaftlichen Rechtshermeneutik steht. Aus rosminischer Perspektive ergäbe sich jedoch die Strategie, diese Herausforderung als Reflexionsanstoß über unser Verständnis von Staat und Zivilgesellschaft anzunehmen: Einerseits müsste das Säkularisationsparadigma überdacht werden. Die Trennungs- bzw. Differenzierungsthese des Politischen vom Religiösen geht bei genauem Hinsehen mit neuen Konfliktfeldern des Aufeinanderstoßens beider einher. Religion und Familie – beide natürlich in neuer, pluralismusfähiger wie pluralismuskritischer Weise – müssen als positive Gegenüberstellung zu der durch individuelles Gewinn- und Vorteilsstreben marktwirtschaftlich bestimmten Zivilgesellschaft verstanden werden, um in letzterer Raum für jene Dimensionen zu gewinnen, die vor allem in den anderen beiden ‚Gesellschaften‘ gepflegt werden: Relationalität, Unentgeltlichkeit und der Vorrang der Anerkennung des Anderen und der moralischen Pflicht gegenüber individualisierten Rechten. Umgekehrt wären

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dann Religion und Familie von neuem ausgehend von diesem erneuerten Gesellschaftsbegriff zu beleuchten. Insofern diese Dimensionen in den Staats- und Gesellschaftskonzeptionen Kants und Hegels keinen Platz haben, da Familie und Religion jeweils der säkularen Gesellschaftsidee, die vom selbstbestimmten Individuum ausgeht, untergeordnet werden, präsentiert Rosmini ein grundlegend alternatives Konzept von Staat und Zivilgesellschaft, das zweifelsohne in Vielem zeitverhaftet bleibt, aber aufzeigt, dass die europäische Moderne eine größere Pluralität von Konzeptionen und Ansätzen hervorgebracht hat, als es bisweilen bekannt ist. Alternativen bedeuten jedoch stets neue Denkanstöße und die Möglichkeit, in Situationen neuer Herausforderungen unbekannte Denkwege zu eröffnen.

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Norbert Campagna Errico Malatesta: Radikale Staatskritik im Namen der menschlichen Freiheit

Einleitung1 Der 1853 in der süditalienischen Provinz Caserta geborene Errico Malatesta galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eine der gefährlichsten Persönlichkeiten Italiens und Europas, und er wurde dementsprechend von den italienischen und europäischen Polizeikräften überwacht und verfolgt. Dies erklärt, warum er über Jahre hinweg sein Heimatland und sogar manchmal den alten Kontinent verließ, um sich u.a. in Argentinien niederzulassen, wo er erheblich zur Ausbreitung des anarchistischen Gedankenguts, aber auch zur Bildung anarchistischer Gruppen beitrug. Malatestas Handeln zu Gunsten der Benachteiligten begann sehr früh, denn schon mit 14 Jahren fiel er durch einen Brief auf, den er dem italienischen König schrieb, um seiner Empörung gegenüber einer lokalen sozialen Ungerechtigkeit Ausdruck zu verleihen. Der zuerst durch Mazzini und den revolutionären Republikanismus Garibaldis inspirierte Malatesta wird 1871 der Ersten Internationalen beitreten und sich dort ganz schnell dem bakuninistischen Flügel anschließen, der ein Jahr später die Initiative zur Gründung einer neuen, Zweiten Internationale nehmen wird, die sich der vor allem durch Marx und den Marxisten kontrollierten Ersten Internationale entgegensetzen, und als antiautoritäre Internationale in die Geschichte eingehen wird. Einer der Hauptanstöße, die zur Spaltung der Internationalen geführt haben, war das Schicksal des Staates unmittelbar nach der sozialistischen2 Revolution. Scheinen sich sowohl Marxisten als auch Anarchisten darin einig zu sein, dass langfristig gesehen der Staat als Herrschaftsinstrument verschwinden muss, kann und wird3, so divergieren ihre Meinungen hinsichtlich der Frage, ob der Übergang vom Jetzt zum Dann mit oder ohne 1 Soweit nicht anders angemerkt, wurden alle Zitate aus dem Französischen und Italienischen von mir ins Deutsche übertragen. Englische Zitate wurden nicht übersetzt. 2 Sowohl die Marxisten als auch die Anarchisten beschreiben sich als Sozialisten. In einem Artikel aus dem Jahr 1897 schreibt Malatesta, dass die Wörter „Anarchie“ und „Sozialismus“ dieselbe Bedeutung haben (Malatesta 1979, S. 257). Sie beleuchten nur zwei unterschiedliche Aspekte eines und desselben Phänomens. Während das Wort „Anarchie“ die politische Dimension hervorhebt, hebt das Wort „Sozialismus“ die ökonomische Dimension hervor. 3 Wobei allerdings manche Anarchisten, wie etwa Malatesta, dieses Verschwinden nicht als eine Art Naturnotwendigkeit sehen, sondern die Rolle des menschlichen Willens in der sozialen Entwicklung anerkennen: der Staat wird nur dann verschwinden, wenn die Menschen wollen, dass er verschwindet.

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einen wie auch immer gearteten Staat gedacht werden muss. Während die Marxisten davon überzeugt sind, dass eine Diktatur des Proletariats notwendig sein wird, um die alte Ordnung gänzlich zu zerstören und die Bedingungen der Möglichkeit einer fundamental neuen Ordnung herzustellen – also den Übergang vom Reich der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit zu organisieren –, lehnen die Anarchisten jeden zentral gesteuerten und sich mit repressiven Mitteln behauptenden Eingriff ab. Für sie muss der Übergang vom Reich der Repression zum Reich der Freiheit das freie Werk der Individuen sein. In den siebziger Jahren ist Malatesta, der ein Universitätsstudium abbrach und das Elektrikerhandwerk erlernte, an mehreren bewaffneten Aufständen beteiligt – etwa 1874 in Bologna oder 1877 in der Campania. Auch wenn das soziale Klima damals in Italien in manchen Gegenden sehr heiß ist und den Erfolg eines Aufstandes zumindest erhoffen lassen kann, so scheitern doch alle Versuche, die bestehende Sozial- und Staatsordnung zu stürzen. Wie schon erwähnt wurde, wird Malatesta der auf die Aufstände folgenden Repression durch mehrere Auslandsaufenthalte entgehen, die er benutzen wird, um seine anarchistischen Gedanken zu verbreiten. Auch wenn Malatesta die sogenannte Propaganda durch die Tat bevorzugte, verfasste er eine ganze Reihe von Pamphleten und vor allem Artikeln, in denen er versuchte, sowohl konkrete Handlungsausrichtungen auszuarbeiten, als auch die theoretischen Gedanken des Anarchismus einem breiteren Publikum verständlich zu machen – so etwa in seiner aus dem Jahr 1884 stammenden Schrift Fra contadini, einem Dialog zwischen einem Anarchist und einem Bauern.4 Im Gegensatz zu Proudhon, Bakunin oder Kropotkin – deren Gedanken er kritisch aufnimmt5 –, wird Malatesta allerdings kein umfangreicheres Werk hinterlassen, in dem er seinen Anarchismus systematisch aus bestimmten philosophischen Grundlagen entwickelt. Insofern ist Malatesta kein Philosoph – im engeren Sinn des Wortes – des Anarchismus, aber man kann ihn trotzdem, mit Berti, als „den letzten großen ‚klassischen‘ Denker der Geschichte des Anarchismus“ (Berti 1998, S. 141)6, und auch, zweifelsohne, mit Senta, als „den größten Exponenten der italienischsprachigen anarchistischen Bewegung“ (Senta 2015, S. 42) bezeichnen. Was 4 Dieser Dialog erschien zuerst 1884 und wurde dann mehrmals neu aufgelegt. Er wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Von den Broschüren, die zu Malatestas Lebzeiten veröffentlicht wurden, seien hier nur L’anarchia aus dem Jahr 1894, Il nostro programma aus dem Jahr 1905 und die aus dem Jahr 1927 stammende Schrift Organizzazione e anarchia erwähnt. 5 In einem Artikel aus dem Jahr 1926 schreibt er, er sei am Anfang Bakuninist gewesen, habe sich dann aber vom russischen Anarchisten distanziert. Bakunin, so Malatesta, sei auf theoretischer Ebene noch zu marxistisch gewesen und habe eine zu mechanistische Sicht der sozialen Entwicklung (Malatesta 1979, S. 408). 6 In der Einleitung zu einer zuerst 1994 veröffentlichten und 1998 neugedruckten Textsammlung schreibt derselbe Berti allerdings: „Malatesta war kein Theoretiker des Anarchismus […]“ (Berti 1998a, S. 15). In dieser Einleitung wird Malatesta auch als der „italienische Lenin“ bezeichnet (Berti 1998a, S. 7). Wenn damit nur gemeint ist, dass er einen sehr großen Einfluss hatte oder dass er sich genauso engagierte wie Lenin, kann man der Bezeichnung zustimmen. Wenn man

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den Menschen Malatesta betrifft, lässt sich mit Marshall sagen, er sei ein „outstanding example of the modest, independent individual“ (Marshall 2008, S. 361) gewesen. Malatesta ist insofern bescheiden, als er keinen Personenkult um seine Person sucht, sondern sich ganz in den Dienst einer Idee stellt7, und zwar nicht, weil diese Idee dem unwiderstehlichen Lauf der Geschichte entspricht, sondern weil sie in seinen Augen richtig ist bzw. seinem Gerechtigkeitsideal entspricht. Malatesta ist ein Mann der Überzeugung, aber zugleich auch ein Mann der Toleranz: Er verlangt nicht, dass alle, wenn nötig durch Gewalt, zur anarchistischen Lebensweise bzw. zu einer bestimmten anarchistischen Lebensweise8 gebracht werden, sondern nur, dass den Anarchisten zwei Freiheiten gewährt werden, und zwar erstens die Freiheit, ihre Gedanken in der Öffentlichkeit auszudrücken, und zweitens die Freiheit, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es für richtig halten. In einem Artikel aus dem Jahr 1921 behauptet Malatesta, der Faschismus werde gleich von der Bildfläche Italiens verschwinden (Malatesta 1979, S. 342).9 Ein Jahr später muss er aber zugeben, dass der Faschismus sich durchsetzen konnte (Malatesta 1979, S. 342). Den Faschismus sieht er dabei nicht nur als eine politische Bewegung, sondern als eine bestimmte Geisteshaltung, die man durchaus auch bei Menschen wiederfinden kann, die sich nicht auf der Seite Mussolinis engagiert haben und ihn vielleicht sogar bekämpfen. Das Wesen der „faschistischen Seele“, heißt es in einem Artikel aus dem Jahr 1923, besteht darin, jemanden ungerecht anzugreifen, wohl wissend, dass man der Stärkste ist (Malatesta 1998, S. 93). Der Faschismus entpuppt sich somit in seinem Wesen als die Doktrin des Rechts des Stärkeren, ein Recht dessen sich, in den Augen der Anarchisten, auch der Staat bedient. Will man demnach den Faschismus besiegen, so genügt es nicht, ihn als politische Bewegung zu besiegen, sondern man muss die Mentalität der Menschen ändern. Wie wir noch sehen werden, verlangt der Anarchismus nicht nach einem „neuen Menschen“, aber er verlangt trotzdem, dass sich neben den Änderungen auf institutioneller Ebene – aber von Lenin die autoritäre Führerpersönlichkeit zurückbehält, kann Malatesta überhaupt nicht mit dem russischen Revolutionär verglichen werden. Ich gehe hier davon aus, dass Nico Berti und Giampetro N. Berti dieselbe Person sind. 7 Im Jahr 1928 schreibt er, dass es nicht darauf ankommt, dass das anarchistische Projekt sich durchsetzt, sondern dass die Menschen lernen, frei zu leben (Malatesta 1979, S. 134). Damit meint er, dass es nicht darum geht, dieses oder jenes konkrete Projekt durchzusetzen, sondern darum, die Menschen dazu zu bringen, gemeinsam, von unten, ein eigenes, ihren jeweiligen Lebensumständen passendes Projekt zu entwerfen. 8 Die anarchistische Wahrheit, heißt es in einem Artikel aus dem Jahr 1927, ist nicht das Privileg einer Gruppe (Malatesta 1979, S. 112). Sieben Jahre zuvor hatte er geschrieben, dass niemand mit Gewissheit wissen kann, wo die Wahrheit liegt, und dass deshalb jedem die Freiheit gelassen werden sollte, nach der Wahrheit zu suchen (Malatesta 1998, S. 102). 9 Malatesta konnte aber auch korrekte Prognosen machen, wie etwa die folgende: “[E]s werden keine zwanzig Jahre vergehen […] bis die Deutschen in Paris einmarschieren werden, vielleicht mit den Italienern verbündet, um sich für jene Entwürdigungen zu rächen, denen sie heute unterworfen sind“ (Malatesta 1979, S. 355). Diese Zeilen stammen aus dem Jahr 1922, also 18 Jahre vor dem Einmarsch der Truppen des mit Italien verbündeten Nazideutschlands in Paris.

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Verschwinden des Staates, Abschaffung des Privateigentums – auch etwas in der psychologischen Struktur des Menschen ändert. Der Faschismus, der am Anfang als ein bloßes Instrument in Erscheinung trat, dessen sich die herrschende Klasse bediente, um den Aufstand der Arbeiterklasse zu besiegen, entwickelte sich zu einer eigenständigen politischen Kraft, die während gut zwei Jahrzehnten Italien beherrschen sollte. Für Malatesta stellt der Faschismus die Verneinung der menschlichen Freiheit und Würde dar (Malatesta 1979, S. 351). Während die italienischen Anarchisten ihr Heimatland damals zu Tausenden verließen, um nicht eingekerkert, verbannt oder getötet zu werden, wird der schon siebzigjährige Malatesta in Rom bleiben, wo das Regime ihn aber unter strengste polizeiliche Aufsicht stellen wird. Das wird ihn allerdings nicht darin hindern, weiterzuschreiben und durch seine Artikel in die Diskussionen um den Anarchismus einzugreifen. Dass er nicht weiter belästigt wird und sein Leben nicht im Exil beendet – viele politische Dissidenten wurden auf einsame Inseln oder in einsame Gebiete Süditaliens verbannt10 – kann zwar mit seinem hohen Alter und seinem europäischen Renommee zu tun haben, könnte aber auch der Beweis sein, dass Mussolini, der seine politische Karriere als revolutionärer Sozialist begann, seinem Landsmann einen gewissen Respekt entgegenbrachte (Woodcock 1963, S. 334). Malatesta stirbt 1932 im Alter von 79 Jahren. Seiner Beisetzung wohnten, so wird gesagt, mehr Polizisten als „Trauergäste“ bei. Während die Marxisten und die klassischen Liberalen darin übereinstimmen, dass der Staat an sich ein notwendiges Übel ist und sie sich u.a. darin unterscheiden, dass die ersten diesem Übel bloß den Charakter des Provisorischen verleihen und die zweiten sich keine geordnete menschliche Gesellschaft ohne zumindest einen Minimalstaat vorstellen können, stellt Malatesta die Notwendigkeit des Staates radikal in Frage. Im ersten Teil dieses Beitrags werde ich zeigen, wie Malatesta seine radikale Staatskritik – die eigentlich nur Teil einer radikalen Autoritätskritik ist – begründet. Im vierten und letzten Teil des Beitrags werde ich Malatestas Konzeption einer staatenlosen anarchistischen Gesellschaft darstellen und dabei vor allem auf die Frage eingehen, ob und wie man den Staat in jenen Funktionen ersetzen kann, von denen jeder von uns im Alltag profitiert, wie etwa die Funktion, uns vor der Gewalt unserer Mitmenschen zu schützen. Den Übergang zwischen diesen beiden Teilen bilden zwei Teile, in denen es um die Frage nach den Mitteln geht. Im zweiten Teil des Beitrags befasse ich mich mit der Frage der legitimen Gewalt. Wie gelingt es Malatesta, der in der Gewalt ein Übel sieht, den Rückgriff auf dieses Übel zu rechtfertigen, aber zugleich auch zu begrenzen? Der dritte Teil ist der Frage gewidmet, ob und inwiefern die Anarchisten sich an den Wahlen beteiligen sollen und dürfen. Kurz vor der Jahrhundertwende kam es diesbezüglich zu einer Polemik zwischen Merlino und

10 Man denke hier an Carlo Levi und an seinen Roman Cristo si è fermato a Eboli.

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Malatesta. Dieser dritte Teil wird uns auch erlauben zu sehen, wie sich der Anarchismus zum Parlamentarismus verhält.

1. Die Kritik am Staat Staatskritik kann, vereinfacht gesehen, drei Formen annehmen. Sie kann sich erstens als Kritik an einer bestimmten Regierung ausdrücken und entspricht dann eher einer Regierungskritik als einer Staatskritik. Es geht nicht darum, den Staatsapparat als solchen und in seinen Grundfesten zu ändern, sondern die innerhalb dieses Apparats entscheidenden Menschen. Wenn natürlich die Regeln des Funktionierens des Staatsapparats nichts anderes sind als die Willensäußerungen bestimmter Menschen11, dann können Regierungskritik und Staatskritik zusammenfallen. Staatskritik kann sich dann zweitens als Kritik an einer bestimmten Staatsform artikulieren. Hier trifft die Kritik grundlegende Mechanismen des Funktionierens des Staates, und es gilt nicht nur, eine Regierung durch eine andere zu ersetzen, sondern eine Staatsform (etwa die absolute Monarchie) durch eine andere (etwa die konstitutionelle Demokratie).12 Wie verschieden die absolute Monarchie und die konstitutionelle Demokratie auch sein mögen, so haben sie doch etwas gemeinsam, das sich in der letzten Silbe des Substantivs ausdrückt: es handelt sich in beiden Fällen um Herrschaftsformen, d.h. in beiden Fällen herrschen Menschen über andere Menschen. Im Fall der Monarchie herrscht ein Mensch über alle anderen und im Fall der Demokratie herrscht das Volk – oder zumindest die Mehrheit – über die einzelnen Individuen.13 Dieser rein quantitative Unterschied lässt die Herrschaft als solche nicht verschwinden, und auch der durch die Adjektive (abgeleitet von arche und kratos) gekennzeichnete qualitative Unterschied lässt die Herrschaft als solche bestehen, bloß dass in dem einen Fall diese Herrschaft prinzipiell grenzenlos ist, während sie im anderen Fall einer Begrenzung durch Verfassungsnormen unterliegt.14 Von diesen beiden ers-

11 Wo das „L’État, c’est moi“ gilt, wird die Kritik am regierenden Ich zugleich zu einer Kritik am Staat an sich. 12 Wenn man ganz genau sein will, muss man innerhalb der Regierungskritik wiederum zwei Formen unterscheiden. Die Staatsform wird durch den Besitz der Souveränität bestimmt, die Regierungsform durch die Ausübung der Souveränität. So kann ein demokratischer Staat durchaus eine monarchische Regierung haben: das Volk ist Inhaber der Souveränität, delegiert deren Ausübung aber an einen Monarchen. Das Volk kann nun entweder mit der Monarchie als solchen unzufrieden sein, oder aber mit einem bestimmten Monarchen. Insofern kann man zwischen einer auf die Regierungsform und eine auf das Regierungspersonal gerichtete Kritik unterscheiden. 13 Auch eine konstitutionelle Demokratie verweist, letzten Endes, immer auf das Volk als Souverän. Die Verfassung ist nämlich Ausdruck des Volkswillens. 14 Wobei diese Verfassungsnormen nicht einfach so entstanden sind, sondern das Werk der verfassungsgebenden Generation darstellen. Inwiefern diese Generation aber das Recht hat, durch von ihr selbst als schwer veränderlich bestimmte Normen, wenn nicht gar durch Ewigkeitsnor-

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ten Formen der Staatskritik ist eine dritte, viel radikalere zu unterscheiden, da diese sich nicht nur auf die Regierung oder auf die Staatsform bezieht, sondern auf die Institution Staat schlechthin. Hier geht es also nicht nur darum, die Legitimität oder Kompetenz bestimmter Menschen zu hinterfragen, noch die Legitimität eines bestimmten politischen Organisationsprinzips, sondern die Existenz des Staates und somit der politischen Herrschaft schlechthin. Die Frage ist also nicht, ob diese Staatsform besser ist als jene, und, wenn ja, ob man die schlechtere durch eine bessere ersetzen sollte, sondern ob die Existenz des Staates überhaupt mit bestimmten als absolut gesetzten Werten kompatibel ist. Es geht also nicht nur um das Wie der Herrschaft, sondern um die Herrschaft schlechthin. Im Rahmen des klassischen liberalen Denkens wurde die Existenz des Staates oft dadurch gerechtfertigt, dass er, wenn er gut organisiert ist, bestimmte als absolut gesetzte Werte schützen kann und dass er gegebenenfalls sogar notwendig ist, um diese Werte wirksam zu schützen. So wurde etwa das Gesetz nicht nur in seiner freiheitsbeschränkenden Dimension gesehen, sondern auch in seiner freiheitsermöglichenden Dimension. Ohne Gesetze und ohne einen Staat, der für ihre Einhaltung sorgt, herrscht das Recht des Stärkeren und das Leben der Menschen gleicht jenem Naturzustand, den Hobbes in seinem Leviathan dargestellt hat. Dank des Staates und seinen Gesetzen hört die Freiheit auf, eine rein abstrakte zu sein, denn der Staat schafft die Bedingungen der Möglichkeit einer konkreten und geordneten Freiheit. Wer ständig befürchten muss, von seinesgleichen überfallen und getötet zu werden, kann sich zwar sagen, dass auch er die Freiheit hat, seine Mitmenschen zu überfallen und zu töten, aber diese Freiheit nützt ihm sehr wenig, wenn er der Schwächere ist. Die Kraft des Gesetzes – wobei diese Kraft aber auch gleichzeitig die des Staatsapparates sein muss – tritt sozusagen an die Stelle der mangelnden Kraft der Individuen. Diesen Zusammenhang zwischen Freiheit und Gesetzen finden wir etwa ganz schön in Montesquieus De l’esprit des lois (1748) formuliert: „Die Freiheit ist das Recht, alles zu tun, was die Gesetze erlauben: und, wenn ein Bürger tun könnte, was sie verbieten, besäße er keine Freiheit mehr, denn die anderen hätten diese Macht auf die gleiche Weise“ (Montesquieu 1979, S. 292). Malatesta teilt die konkrete Freiheitsauffassung, die man in den Texten der klassischen Liberalen wiederfindet. So schreibt er etwa in einem Artikel aus dem Jahr 1897: „Die Freiheit ist kein abstraktes Recht, sondern die Möglichkeit, eine Sache zu tun“ (Malatesta 1979, S. 100). Und in einem Artikel aus dem Jahr 1924 heißt es, die Freiheit sei ein leeres Wort, wenn man nicht über die Macht verfügt, sie auszuüben (Malatesta 1979, S. 362).15 Dabei geht Malatesta aber einen Schritt über die men, über die auf ihr folgenden Generationen zu herrschen, ist eine Frage, die schon Thomas Jefferson aufgeworfen hat. 15 Bei Marx findet man auch den Unterschied zwischen der abstrakten Freiheit, die die Bourgeoisie jedem zuerkennt, und der konkreten Freiheit, die erst in einer kommunistischen Gemeinschaft möglich sein wird.

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Liberalen hinaus, indem er nicht nur sagt, dass Freiheit nur da herrscht, wo niemand an ihrer Ausübung gehindert werden kann, sondern auch fordert, dass jeder über die Mittel verfügen muss, um einen sinnvollen Gebrauch seiner Freiheit zu machen. Wo der Liberale sich damit begnügt zu sagen: „Säe, und Du wirst ungehindert ernten können“, ohne zu fragen, ob der Angesprochene überhaupt Saatgut hat, will Malatesta sicherstellen, dass der Betroffene auch über Saatgut verfügt.16 Die Freiheit, heißt es in einem Artikel aus dem Jahr 1921, setzt das Leben voraus, und dieses die Produktion, und diese die freie Verfügung über die Produktionsmittel (Malatesta 1998, S. 19). Und diese freie Verfügung gilt nicht nur für diejenigen, die in der bestehenden Gesellschaftsordnung Eigentümer dieser Mittel sind, sondern jeder soll frei über Produktionsmittel verfügen können, so dass auch jeder tatsächlich frei sein kann und sich keinem zu unterwerfen braucht, um sein Leben zu erhalten. Auch wenn der Anarchismus, wie der Liberalismus, die menschliche Freiheit als einen hohen Wert ansieht, lehnt er doch die These ab, der Staat sei ein notwendiges und nützliches Instrument, um dieser Freiheit die Möglichkeit zu geben, sich auch in der konkreten Lebenswelt der Menschen auszudrücken. In den Augen der Anarchisten ist der Staat ein Übel tout court, und eines der größten Hindernisse für die Verwirklichung der menschlichen Freiheit besteht in dem Glauben, der Staat sei ein notwendiges Übel, das man in einer unvollkommenen Welt akzeptieren muss. Es ist also nicht damit getan, den Paradigmenwechsel vom Staat als Gut zum Staat als Übel zu vollziehen, sondern es ist ein weiterer Paradigmenwechsel notwendig, und zwar ein solcher, der das menschliche Zusammenleben ohne Staat, und allgemeiner noch, ohne repressive Autorität konzipiert. Eine solche Konzeption gab es zwar schon im Lauf der Geschichte bei bestimmten religiösen Gruppierungen – man denke etwa an die Wiedertäufer –, aber da wo diese Gruppierungen die Ablehnung eines irdischen Herrschers mit der Anerkennung Gottes als alleinigem Herrscher koppelten, heißt die Devise der Anarchisten: „Weder Gott, noch Herr“. Obwohl Malatesta meistens von einer Abschaffung des governo spricht, so ist damit doch die Abschaffung des Staates als solchem gemeint17, und darüberhinaus die Abschaffung einer jeden Funktion, die die Ausübung von Herrschaft eines Menschen über einen anderen Menschen, und damit auch die Ausübung von Gewalt18, impliziert. Die Menschen werden erst dann wirklich menschlich leben, wenn ihr Zu16 Malatesta nimmt insofern schon den von Martha Nussbaum entwickelten capability approach vorweg. 17 In einem Beitrag aus dem Jahr 1920 weist er darauf hin, dass das Wort „Staat“ mehrdeutig ist, und fügt dem gleich hinzu: „[W]ir ziehen es vor, klare Wörter zu gebrauchen, die jede Mehrdeutigkeit ausschließen“ (Malatesta 1979, S. 287). Im Italienischen ist das Wort „stato“ mehrdeutig und bedeutet etwa „Staat“, „Zustand“ oder „Stand“. Bei Machiavelli findet man manchmal die Formel „mantenere lo stato“, was zunächst einmal nur bedeuten kann, dass man den gegebenen Zustand einer Gesellschaft, also die gegebene gesellschaftliche Ordnung aufrecht erhält. 18 Oder zumindest die Androhung von Gewaltanwendung im Falle des Ungehorsams.

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sammenleben nicht nur keine Gewalt mehr kennen wird, sondern auch kein irgendwie legitimiertes Monopol der Gewaltandrohung, wie etwa Max Weber es für den modernen Staat konzipiert hat. Insofern Malatesta den Staat mit der Androhung und Ausübung von Gewalt assoziiert und insofern der Anarchismus letztere ausschließt – zumindest insofern ihr Zweck darin besteht, der Aufforderung zu einer Handlung die nötige ‚Überzeugungskraft‘ zu geben –, muss er sich radikal gegen den Staat aussprechen. In einem Text aus dem Jahr 1910 definiert er die Regierung bzw. den Staat als eine Instanz, die sich der Macht bedient, um all denjenigen das Gesetz aufzuzwingen, denen das Gesetz nicht gefällt (Malatesta 1979, S. 60). Und da es höchst unwahrscheinlich ist, dass jedes Gesetz jedem gefallen wird, wird es in jedem Staat Zwang geben. Dreizehn Jahre zuvor hieß es in einem Aufsatz, die Autorität sei die Fähigkeit, jemandem seinen Willen aufzuzwingen (Malatesta 1979, S. 94).19 Insofern die Regierenden über den repressiven Apparat der Polizei und des Heeres verfügen, können sie den ihnen unterworfenen Menschen ihren Willen aufzwingen. Und das gilt nicht nur für diese oder jene Staatsform, sondern für den Staat schlechthin. Der Staat ist ein repressiver Apparat, der die Menschen dazu zwingt das zu tun, was sie nicht tun wollen. Und auch wenn in einer Monarchie normalerweise mehr Menschen gezwungen werden als in einer Demokratie, in welcher der Wille der Mehrheit „nur“ einer Minderheit aufgezwungen wird20, so ändert dieser bloß quantitative Unterschied nichts am Wesen der Sache: Zwang bleibt Zwang. Insofern genügt es nicht, die Zahl derjenigen zu erhöhen, die an der Regierung teilnehmen bzw. den Gesetzgebungsprozess beeinflussen können. Ziel muss es vielmehr sein, die Macht und die Zuständigkeitsbereiche des Staates ständig zu mindern (Malatesta 1979, S. 60), und zwar bis nichts mehr davon übrigbleibt und die Individuen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Wo die radikalsten Liberalen – und selbst noch Libertarier – zumindest noch einen Minimalstaat anerkennen, lehnt Malatesta auch diesen ab, da eine minimale Zwangsgewalt immer noch eine Zwangsgewalt ist. An einigen Stellen seiner Schriften setzt Malatesta sich mit der Frage auseinander, ob bestimmte Staatsformen nicht doch besser sein können als andere, insofern 19 Die eine oder andere Passage lässt aber auch eine nuancierte Sicht durchscheinen. So sagt Malatesta etwa in einem Artikel aus dem Jahr 1928, dass man entweder durch Ratschläge und durch das Beispiel leiten kann, oder aber durch Gewalt (Malatesta 1979, S. 130). Eine intellektuelle Autorität, die sich nur auf die freie Zustimmung derjenigen stützt, die sich ihr unterwerfen, und die sich keiner Gewaltmittel bedient, um diese Unterwerfung aufrechtzuerhalten, kann insofern durchaus legitim sein. Wenn man allerdings, wie Malatesta dies tut, das Macht- oder Gewaltmoment in den Autoritätsbegriff integriert, bleibt kein Platz mehr für den Begriff einer reinen intellektuellen Autorität. In einem Artikel aus dem Jahr 1897 weist er darauf hin, dass auch in einer anarchistischen Gemeinschaft, wenn sie denn funktionieren soll, die Menschen die Autorität des Bahnhofvorstehers akzeptieren müssen (Malatesta 1979, S. 94). 20 Doch sogar hier muss man aufpassen, denn in einer Demokratie, die nach dem Majorzsystem funktioniert, kann durchaus eine Minderheit der Mehrheit ihren Willen aufzwingen. Ein gutes Beispiel wäre hier Frankreich.

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sie dem Menschen mehr Freiheitsmöglichkeiten gewähren. In einem Artikel aus dem Jahr 1924 schreibt er: „[D]ie schlechteste Demokratie ist immer der schlimmsten Diktatur vorzuziehen, und sei es nur aus erzieherischer Perspektive“ (Malatesta 1998, S. 99f.). Diese Passage könnte vermuten lassen, dass Malatesta sich auf das Spielchen eines Vergleichs der Staatsformen einlässt und damit auch unterschiedliche Legitimitätsgrade und somit qualitative Differenzen zwischen den Staatsformen zulässt. Dem ist aber nicht so21, und wenn Malatesta der Demokratie einen Vorzug gegenüber der Diktatur zuschreibt, dann muss dies in taktischen Begriffen verstanden werden: eine bestimmte Rechte – wie etwa das Recht auf Ausdrucks- und Versammlungsfreiheit – anerkennende Demokratie lässt der anarchistischen Bewegung größere Freiheitsräume als eine Diktatur, die diese Rechte nicht anerkennt und skrupellos gegen alle ihre Gegner vorgeht. Außerdem, und das ist die an der eben zitierten Stelle erwähnte erzieherische Funktion der Demokratie, erhält die Illusion der Freiheit zumindest den Gedanken an die Freiheit aufrecht (Malatesta 1998, S. 100). Allerdings darf man die Illusion nie mit der Wirklichkeit verwechseln und so tun, als ob es nicht mehr nötig sei, sich die Freiheit zu erkämpfen. Solange sich der Mensch nicht vom Staat emanzipiert hat, so Malatestas Grundgedanke, wird er immer nur einen Schatten der Freiheit besitzen. Dem Platonischen Austritt aus der Höhle entspricht bei Malatesta ein Austritt aus dem Staat. Malatesta ist sich vollends bewusst, dass auch hinter der freiheitlichen Fassade der Demokratie der Zwang lauert, dass also auch die Inhaber einer demokratisch legitimierten Regierungsmacht stets bereit sind, denjenigen ihren Willen aufzuzwingen, die nicht mit ihnen einverstanden sind bzw. die die demokratisch abgestimmten Gesetze nicht als bindend anerkennen wollen. Um aber an die Macht zu kommen, mussten diese Regierenden der Mehrheit des Volkes den Respekt bestimmter Rechte versprechen. In den Augen Malatestas war dieses Versprechen zwar eine reine Lüge, aber eine Lüge, die man nicht zu offen als solche zeigen kann bzw. eine Lüge, durch die sich der Lügner selbst zum Teil die Hände gebunden hat (Malatesta 1998, S. 100). Wenn aber die Gegner der Regierung wirklich die Interessen gefährden sollten, die die demokratische Regierung schützt22, dann wird sich zeigen, dass eine Demokratie sich schnell in eine Diktatur verwandeln kann und dass das Wesen des die menschliche Freiheit zu Nichte machenden Zwangs sich in jeder Staatsform wiederfindet. Die wirkliche Freiheit kann der Mensch demnach nur dann erlangen, um es noch einmal zu wiederholen, wenn er den Staat als solchen abschafft. Insofern warnt Malatesta in einem 1922 veröffentlichten Artikel davor, dem sich allmählich durchsetzenden Faschismus durch eine Ausweitung der staatlichen Macht 21 Schon 1884 hatte Malatesta mit aller gewünschten Klarheit behauptet, dass es keine qualitativen Unterschiede zwischen politischen Regimen gibt (Malatesta 1979, S. 205). 22 Und es handelt sich dabei nicht um die Interessen der Arbeiterklasse, sondern um diejenigen der Bourgeoisie und um die eigenen.

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entgegenzuwirken. Er geht sogar so weit zu behaupten, dass eine Konsolidierung der staatlichen Macht schlimmer wäre als der Faschismus, denn, so die Begründung, der Staat hat in der menschlichen Geschichte mehr Unheil angerichtet als der Faschismus (Malatesta 1998, S. 86). In einer für ihn charakteristischen Konkretisierung abstrakter Gedanken schreibt Malatesta, man könne aus der unbestreitbaren Tatsache, dass die Polizei uns vor Kriminellen schützen kann, „nicht ableiten, dass, aus einer der Allgemeinheit und Komplexität der Dinge Rechnung tragenden Perspektive betrachtet, die carabinieri der Gesellschaft weniger schädlich sind als die Delinquenten“ (Malatesta 1998, S. 86). Malatesta bestreitet also keineswegs, dass es Situationen gibt, in denen die Menschen auf die Hilfe der Polizei angewiesen sind und auch froh sind, dass es sie in dem Augenblick gibt und dass sie zur Stelle ist.23 Aber der Arbeiter, dem die Polizisten heute geholfen haben, sich vor einem Gewaltverbrecher zu schützen, wird vielleicht von denselben Polizisten niedergeschlagen werden, wenn er eine Woche später friedlich mit seiner Gewerkschaft für bessere Arbeitsbedingungen demonstriert. Malatesta verlangt hier von jedem, dass er die gesamtgesellschaftliche Funktion der Polizei betrachtet. Er wird dann sehen, dass diese primär darin besteht, jene sozio-ökonomischen Bedingungen aufrechtzuerhalten, die allererst die Kriminalität hervorbringen. Malatesta spricht hier das Problem der Janusköpfigkeit des – zumindest liberalen – Staates an: Auf der einen Seite blickt der Staat auf die menschliche Freiheit, auf der anderen Seite auf die Sicherheit. Das Problem besteht darin, dass es oft Situationen gibt, in denen eine größere Sicherheit nur um den Preis einer größeren Einschränkung der Freiheit zu bekommen ist – ein Problem, das sich unserer der Gefahr blinder terroristischer Anschläge ausgesetzten Gesellschaft seit etwa zwei Jahrzehnten stellt.24 Vielleicht wäre die allgemeine Sicherheit größer, wenn jedem bei der Geburt eine DNA-Probe genommen würde, mittels derer man dann später einen Täter leichter identifizieren und fassen könnte. Aber würde eine solche Maßnahme nicht die Freiheit gefährden? Oder denken wir an die Möglichkeit einer genetischen oder hormonellen Beeinflussung des menschlichen Verhaltens.

23 Eine ähnliche Bemerkung betrifft die Gerichte. Auch wenn die Anarchisten das Gerichtswesen, als Teil des repressiven Staatsapparates, zerstören wollen, verteidigen sie sich vor Gericht, wenn sie angeklagt sind oder wenn sie glauben, dass man ihre Rechte missachtet hat. In seiner Polemik mit Merlino, auf die ich noch im dritten Teil genauer eingehen werde, weist Malatesta darauf hin, dass das Leben der Menschen in einem unvollkommenen Gesellschaftssystem stets mit Widersprüchen behaftet sein wird, und er weist dabei auf den Gebrauch des Gerichtswesens durch die Anarchisten hin. Es sei durchaus erlaubt, so seine Schlussfolgerung, sich eines jeden guten bzw. nützlichen Elements einer Institution zu bedienen, auch wenn man die Institution als solche ablehnt (Malatesta/Merlino, S. 100). In einem Artikel aus dem Jahr 1904 hatte Malatesta geschrieben, der Anarchist leide daran, im Widerspruch mit seinen Ideen leben zu müssen (Malatesta 1979, S. 48). 24 In den 60er und 70er Jahren stellte sich das Problem auch, wobei der Feind damals der Kommunismus war.

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Bei seinen die Sicherheit betreffenden Überlegungen denkt Malatesta nicht nur an den Schutz gegen Kriminalität. In einem Artikel aus dem Jahr 1920 spricht er auch die soziale Gesetzgebung an, zu der etwa das Arbeitsrecht zählt. Auch wenn er nicht leugnet, dass bestimmte Dispositionen des Arbeitsrechts die Arbeiter schützen – vor der reinen Willkür der Industriellen, vor den Gefahren bei der Arbeit, vor den Konsequenzen eines unfallbedingten Arbeitsverlustes –, sieht er darin doch eher einen Schritt in Richtung Unterwerfung als in Richtung Freiheit (Malatesta 1979, S. 296). Die vom Staat stammenden Sicherheitsgarantien drücken nicht den Willen aus, die Arbeiter wirklich zu schützen, sondern sie sind sozusagen – und das war der Gedanke hinter der Bismarckschen Sozialgesetzgebung – ein Mittel, um die Arbeiter ruhig zu halten, indem man in ihnen den Eindruck erweckt, die von ihnen angestrebten Ziele – bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne, usw. – könnten auch im Rahmen der gegebenen Gesellschaftsordnung erreicht werden. Der bürgerliche Staat hat erkannt, dass er sein Ziel besser dadurch erreicht, dass er in den Arbeitern den Eindruck erweckt, er würde sich um ihr Wohl kümmern, als wenn er nur auf repressive Mittel zurückgreift. Man befriedigt die Arbeiter, indem man ihnen Häppchen gibt, und hält sie somit davon ab, nach dem Ganzen zu verlangen. Man lässt sich auf Reformen ein, um die Revolution zu verhindern.25 Malatesta geht zwar nicht soweit, die Arbeiter dazu aufzurufen, nicht von den Garantien des Arbeitsrechts zu profitieren, aber er sagt ihnen, dass sie sich auf keinen Fall als bloße passive Empfänger staatlicher Gaben betrachten sollten, sondern dass sie alles tun müssten, um dem Staat weitere und immer weiter gehenden Konzessionen abzuringen. Oder anders ausgedrückt: Anstatt, wie es die Regierung erhofft, den Kampf aufzugeben, sobald Verbesserungen ins Arbeitsrecht gebracht wurden, sollte der Kampf weitergehen.26 Und in diesem Kampf wird man an die Grenze dessen gelangen, was der Staat bereit ist, den Arbeitern zu konzedieren. Und an diesem Punkt angelangt wird sich dann mit aller Klarheit zeigen, dass es dem Staat nicht wirklich darum ging, die Arbeiter zu schützen. Die Gedanken Malatestas betreffend die durch den Staat garantierte Sicherheit erinnern zum Teil an die Lockesche Hobbeskritik. Hatte Hobbes in seinem Leviathan behauptet, dass eine über eine absolute Macht verfügende Regierungsinstanz dem Naturzustand vorzuziehen sei, weist Locke darauf hin, dass es weniger gefährlich ist, den Angriffen wilder Katzen ausgesetzt zu sein als denjenigen eines Löwen. 25 Malatesta wirft den Arbeitergewerkschaften vor, in ihrem Wesen auf einen rein reformistischen Kurs festgelegt zu sein, der sie daran hindert, die bestehende Ordnung radikal in Frage zu stellen. Hinzu kommt, dass die Gewerkschaften immer auch partielle Interessen durchsetzen wollen, anstatt sich ganz einem diese Interessen transzendierenden Ideal hinzugeben. In demselben Zusammenhang wirft er auch der Mehrzahl der Arbeiter vor, egoistisch und ängstlich zu sein (Malatesta 1979, S. 170). 26 Wie Malatesta es in einem Artikel aus dem Jahr 1920 formuliert, sollten die Arbeiter sich selbst gegen die Besitzenden verteidigen, statt jemanden – sprich die Gerichte und die Polizei – zu bezahlen, der sie verteidigt (Malatesta 1979, S. 283).

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Mag der Löwe einen auch manchmal vor dem Angriff wilder Katzen schützen, so besteht keine Garantie, dass er nicht selbst zum Angreifer werden kann, und zwar zu einem Angreifer, der einem einen weit größeren Schaden zufügen kann als die wilden Katzen. Während aber Locke hieraus die Lehre zieht, dass man sich zum Schutz gegen die Wildkatzen eine Instanz suchen muss, deren Macht begrenzt ist – einen Löwen den man ankettet und den man, wenn er wild wird, durch ein festes Ziehen an der Kette würgen kann27 –, geht Malatesta einen Schritt weiter und lehnt jeden Rückgriff auf eine schützende Instanz, also auf einen mit repressiven Mitteln ausgestatteten Staat ab. Wo die liberalen Denker nur der Diktatur den Krieg erklären, erklärt Malatesta der Diktatur und der Demokratie – auch in ihrer liberalen oder konstitutionellen Variante – den Krieg (Malatesta 1998, S. 100). Der Staat ist als solcher ein Unterdrückungsinstrument, und die Lösung des Problems der Kriminalität – ein Problem das Malatesta keineswegs leugnet – kann nur auf dem Weg einer radikalen Veränderung der gegebenen sozio-ökonomischen Bedingungen gefunden werden.28 Es geht nicht darum, mehr Polizisten einzustellen, sondern die Gesellschaft, die den Rückgriff auf Polizisten erst nötig macht, muss abgeschafft werden. Die Polizisten sind keine Lösung des Sicherheitsproblems, sondern sie sind ein Teil dieses Problems.29 Die bestehende, und aus anarchistischer Sicht zu überwindende, sozio-ökonomische Situation ist durch den Unterschied zwischen Besitzenden und Besitzlosen gekennzeichnet. Wer die Produktionsmittel besitzt, kann bestimmen, unter welchen Bedingungen die Besitzlosen arbeiten werden. Wie der Marxsche Sozialismus, mit dem er eng verwandt ist, soweit die Analyse der gegebenen sozio-ökonomischen Wirklichkeit betroffen ist, geht auch der Anarchismus vom Faktum der Ausbeutung aus, insistiert aber stärker als dies der Marxsche Sozialismus meistens tut, auf die dieser Ausbeutung als Hintergrund dienende Unterwerfung des Menschen unter einen fremden Willen. Für Marx steht der Begriff der Ausbeutung im Mittelpunkt, für Malatesta ist der Begriff der Fremdbestimmung zentral. Solange bestimmte Menschen über die Produktionsmittel verfügen werden30, können sie sich andere Menschen – die über keine Produktionsmittel verfügen – unterwerfen, da diese auf die

27 Bei Locke gibt es ein Recht auf Revolution. 28 Wir werden im letzten Teil dieses Beitrages noch einmal auf diese Frage zurückkommen, da man die Anarchisten oft mit der Frage konfrontiert, wie man in einer anarchistischen Gemeinschaft mit denjenigen umgehen wird, die sich nicht an die Spielregeln halten wollen. 29 Man soll die Bourgeoisie nicht mit der Polizei, sondern mit der proletarischen Masse bekämpfen, heißt es in einem Artikel aus dem Jahr 1921 (Malatesta 1998, S. 21). Und fünf Jahre später verlangt Malatesta die Abschaffung des Gendarmen (Malatesta 1998, S. 25). 30 Und wie Proudhon vor ihm, ist auch Malatesta der Auffassung, dass, wie er es in einem Artikel aus dem Jahr 1911 behauptet, der Diebstahl die Wurzel des Eigentums der Kapitalisten ist (Malatesta 1979, S. 241). Der Staat schützt somit die eigentlichen Diebe vor denjenigen, die ihre legitimen Ansprüche geltend machen wollen.

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Arbeit angewiesen sind und eine solche Arbeit oft nur als Arbeit für einen bestimmten anderen finden können. Die anarchistische Gemeinschaft kann nur erreicht werden, wenn der Privatbesitz an den Produktionsmitteln abgeschafft wird. In der real-existierenden Gesellschaft wird dieser Privatbesitz durch den Staat geschützt, und dieser Schutz ist in den Augen Malatestas auch die Hauptfunktion des Staates. Mag dieser akzidentell die Arbeiter schützen, so schützt er doch wesentlich die Besitzenden. Der Zweck ist der Schutz der Besitzenden, und der Schutz der Arbeiter wird höchstens als Mittel zur Erreichung dieses Zwecks gesehen. Insofern ist es falsch, im Staat eine neutrale Schiedsrichterinstanz zu sehen, die im Namen eines die Partikularinteressen der unterschiedlichen Klassen transzendierenden Gemeinwohls handelt. Selbst wenn man davon ausginge, dass der Staat sich neutral gegenüber den Interessen der Arbeiter und der Industriellen verhält, so werden die Regierenden selbst Partikularinteressen haben, gegenüber denen sie sich nicht neutral verhalten werden. Ohne den Gedanken des Allgemeinwohls und der sozialen Harmonie aufzugeben, vertritt Malatesta in einem Artikel aus dem Jahr 1920 die Ansicht, dass es unmittelbar an den Individuen selbst ist, diese Harmonie herzustellen, anstatt dem Staat diese Aufgabe zu überlassen (Malatesta 1979, S. 282). Genauso wenig wie er an eine unsichtbare Hand glaubt, glaubt Malatesta an eine Harmonisierung von oben herab. Die Harmonisierung muss unmittelbar das Werk derjenigen sein, die von ihr profitieren sollen. Dem Staat die Aufgabe der Harmonisierung zu überlassen ist nicht nur insofern falsch, als der Staat immer im Interesse der Besitzenden handeln wird. Es ist darüberhinaus auch insofern falsch, als die Menschen, wenn sie sich für alles auf den Staat verlassen, jeden Initiativgeist verlieren, was dazu führt, dass die Gesellschaft sich nicht weiterentwickelt. Weit davon entfernt, die Entwicklung auf allen Ebenen des menschlichen Daseins voranzutreiben, ist der Staat eine konservative Kraft, deren Funktion in der Aufrechterhaltung des status quo besteht. Der Staat unterdrückt somit nicht nur die menschliche Freiheit, sondern auch die Vervollkommnung der menschlichen Spezies, wobei die Freiheit als notwendige Vorbedingung der Vervollkommnung gesehen wird – ein Gedanke, den man auch bei klassischen Liberalen wie Constant, Mill oder Tocqueville finden kann. Der große Fehler vieler Menschen besteht darin zu glauben, dass der Staat notwendig ist, dass man das soziale Leben nicht ohne einen Staat, und sei es auch nur einen Minimalstaat, organisieren kann. Mag dieser Glaube auch zum Teil im Menschen als solchen liegen – und zum Teil auch noch durch die größere Komplexität des gesellschaftlichen Lebens verstärkt werden –, weist Malatesta darauf hin, dass der Staat ihn selbst unterhält, indem er die Menschen daran gewöhnt, ihr Leben gemäß den Gesetzen zu führen und diese sodann als notwendig zu sehen (Malatesta 1979, S. 72). Es entsteht somit der Glaube, dass jedes zivilisierte menschliche Zusammenleben zusammenbrechen würde, wenn es keine Gesetze mehr geben würde.

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Eine zur Gewohnheit gewordene Lebensweise schafft ihre eigenen Evidenzen und versperrt den Blick für andere mögliche Optionen. Und da gleichzeitig der Glaube herrscht, dass, wie schon Hobbes es andeutete, Gesetze ohne das Schwert nur leere Worte sind31, implizierte der Glaube an die Notwendigkeit des Gesetzes den Glauben an die Notwendigkeit einer das Gesetz durchsetzenden Macht. Will man den Menschen diesen Glauben an die Notwendigkeit des Gesetzes austreiben, dann genügt es nicht, den Staat zu kritisieren, sondern man muss ihnen auch zeigen, was die Alternative zu einem durch Gesetze geleiteten sozialen Leben ist. Auf diese Alternative, die nichts anderes als die Anarchie ist, werden wir im vierten Teil dieses Beitrages eingehen. Diesen Glauben an die Notwendigkeit des Staates findet Malatesta auch bei den sich an Marx orientierenden Sozialisten wieder, wobei allerdings die Marxisten nicht eine überhistorische oder absolute Notwendigkeit behaupten, sondern nur eine provisorische. Gemeint ist damit nicht nur, dass der Staat bislang in allen Perioden der Geschichte der Menschheit notwendig war, sondern auch, dass es ihn ebenfalls für eine bestimmte Zeit nach der sozialistischen Revolution geben wird, und zwar unter der Form einer Diktatur des Proletariats. Die Arbeiterklasse muss sich nicht nur der Produktionsmittel bemächtigen, sondern auch des Staatsapparates. Die Marxsche Revolution ist zunächst keine Revolution gegen die staatliche Macht, sondern eine Revolution für die Erlangung der staatlichen Macht. Aus einem Instrument zur Unterdrückung der Arbeiterklasse wird der Staat zu einem Instrument zur Bekämpfung der gegenrevolutionären Kräfte und damit auch zur Konsolidierung der neuen sozioökonomischen Ordnung. Erst wenn alle Feinde der neuen Ordnung verschwunden sind und die Arbeiter gelernt haben, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wird auch der Staat verschwinden. Aber bevor er abstirbt, muss er zunächst noch einmal kräftig aufleuchten, eben als Diktatur des Proletariats. Hatte Marx noch darauf verzichtet, der Diktatur des Proletariats konkrete Konturen zu geben, wird Lenin, für den sich das Problem nach der Oktoberrevolution de facto und nicht nur in der Theorie stellte, die Diktatur des Proletariats im Sinne einer Diktatur der bewussten Avant-Garde des Proletariats, also der kommunistischen Partei verstehen.32 Als Zeitgenosse der Russischen Revolution konnte Malatesta nicht reaktionslos gegenüber der epochalen Veränderung bleiben, die in Russland bzw. in der UdSSR stattfand. Sind Lenin und Trotsky in seinen Augen auch Individuen, die es ehrlich

31 Bei Hobbes sind Verträge ohne das Schwert leere Worte. Aber was von den Verträgen gilt, gilt auch für die Gesetze – wie man es ganz deutlich bei den natürlichen Gesetzen sehen kann, an die sich im Naturzustand niemand freiwillig hält. 32 Bei Malatesta finden sich manchmal Spuren des Avantgardismus, allerdings ohne die Konsequenzen, die Lenin aus der Theorie der aufgeklärten Avantgarde zieht. So schreibt der italienische Anarchist in einem Artikel aus dem Jahr 1927, man müsse in jeder Protestbewegung, neben der Mehrheit, die nur für ihre materiellen Interessen kämpft, Menschen finden, die für Ideale kämpfen (Malatesta 1979, S. 108).

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mit ihrem Willen einer Befreiung der Arbeiter meinen und die sich keine persönlichen Vorteile durch den Übergang zu einer neuen Ordnung erwarten, so glaubt er doch, dass die beiden großen Protagonisten von 1917, „den Regierungsrahmen33 vorbereiten, der denjenigen zugute kommen wird, die danach kommen werden, um von der Revolution zu profitieren und um sie zu töten“ (Malatesta 1998, S. 72). Und in demselben Artikel aus dem Jahr 1919 sieht Malatesta voraus, dass Lenin und Trotsky die ersten Opfer ihrer eigenen Methode sein werden. Ob der Tyrann Lenin – so bezeichnet Malatesta ihn in einem Artikel aus dem Jahr 192434 –, wenn er nicht frühzeitig gestorben wäre, dasselbe Schicksal erlebt hätte wie Trotsky, ist ungewiss, fest steht aber, dass die Sowjetunion den Weg gegangen ist, den Malatesta ihr vorausgesagt hat, und der nicht so sehr durch das feindliche Umfeld zu erklären ist, als durch die Beibehaltung eines Staatsapparates. Das Scheitern der Russischen Revolution35 findet seinen Ursprung in der Marxschen Theorie selbst. Und innerhalb dieser Theorie liegt der blinde Fleck in einer zu optimistischen – oder sollte man sagen: einer zu naiven – Anthropologie. Man sollte keinem Menschen die Staatsmacht anvertrauen, da man keinem Menschen trauen kann, der Macht besitzt – ein Punkt, auf den wir gleich noch genauer eingehen werden. In mehreren Artikeln aus den Jahren 1920 und 1921 setzt sich Malatesta mit der Idee einer Diktatur des Proletariats auseinander. Eine solche Diktatur, so meint er in einem Artikel aus dem Jahr 1920, auch wenn sie als Diktatur des gesamten Proletariats möglich wäre und auch wenn die Diktatoren die ehrlichsten Absichten hätten und nicht von diesen Absichten abweichen würden, wäre überflüssig. Denn, so die Beweisführung, eine solche Diktatur setzt den Erfolg der Revolution voraus. Aber wenn die Revolution erfolgreich war, wieso braucht man dann noch eine Diktatur, die ihr den Erfolg sichern soll? Also ist die Diktatur des Proletariats überflüssig (Malatesta 1979, S. 305). Dass man mit einem solchen sophistischen Argument – das sich die Mehrdeutigkeit des Wortes „Erfolg“ zu Nutze macht36 – kaum Chancen hat, die Theorie der Diktatur des Proletariats zum Sturz zu bringen, liegt auf der Hand. Malatesta konzentriert seine Attacke deshalb auf einen anderen Punkt und fragt nach den Verwirklichungsmodalitäten der Diktatur des Proletariats. Das russische Beispiel hat ihm ge33 Bei Malatesta heißt es „quadri governativi“. 34 Malatesta 1998, S. 78. In einem Artikel aus dem Jahr 1921 wird Lenin als fanatisch und autoritär dargestellt und mit Torquemada und Robespierre verglichen (Malatesta 1979, S. 308). Der Artikel aus dem Jahr 1924 ist eine Reaktion auf Lenins Tod. 35 Eine Revolution, von der es in einem Artikel aus dem Jahr 1922 heißt, dass sie gut anfangen hatte, u.a. mit den Sowjets. 36 Wann kann von einem Erfolg im Kampf gegen die Bourgeoisie gesprochen werden? Wenn man der Bourgeoisie die Kontrolle über die Produktionsmittel abgenommen hat? Die Kontrolle über den Staatsapparat? Oder erst wenn man eine Situation geschaffen hat, in welcher es niemanden mehr gibt, der sich der neuen Ordnung entgegensetzt? Und niemand mehr wo gibt? Im Inland? Auf der gesamten Erde?

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zeigt, dass die Diktatur des Proletariats sich ganz schnell in eine Diktatur der Parteispitze verwandeln kann. Dieses Beispiel lässt auch erahnen, dass eine sich zunächst als provisorisch behauptende Diktatur die Tendenz hat, sich weiter zu erhalten, so dass aus dem Provisorium ein Definitivum wird (Malatesta 1979, S. 288). Auch besteht die Gefahr, und das hat sich ebenfalls nach dem Oktober 1917 gezeigt, dass sich die Diktatur des Proletariats in eine Diktatur gegen das Proletariat verwandelt (Malatesta 1979, S. 302). Eine solche Diktatur gegen das Proletariat ist kein Novum, sind doch alle bisherigen Staaten solche Diktaturen gewesen, da sie die Interessen der Besitzenden gegen die Interessen der Besitzlosen geschützt haben. In Malatestas Augen ist aber die sich offen als Diktatur des Proletariats ausgebende Diktatur der Parteispitze schlimmer als alle anderen Diktaturen, und der italienische Anarchist gibt zu, dass er die kommunistische Lüge – das Proletariat ist an der Macht – weit mehr hasst als die demokratische – das Volk ist an der Macht (Malatesta 1979, S. 319). Im Staatskommunismus, wie er sich in der UdSSR etabliert hat, sieht er gar die schlimmste Tyrannei, die es je gegeben hat. Aus den fanatischen und autoritären Revolutionären, die keinen Augenblick an der absoluten Wahrheit ihrer Theorie zweifelten und die allen Menschen diese Theorie aufzwingen wollten, sind tyrannische Machthaber geworden, die in ihren Gewalttaten die Mitglieder aller bisherigen regierenden Klassen in den Schatten stellen (Malatesta 1979, S. 317). Die Entwicklung der UdSSR dient Malatesta als Beispiel oder als Illustration, nicht als Begründung der These, dass auch die Diktatur des Proletariats die Menschen nicht zur Freiheit führen kann, und dies obwohl sie sich dieses Ziel auf die Fahne geschrieben hat und obwohl man Menschen wie Lenin oder Trotsky, die federführend bei der Durchsetzung dieser Diktatur in der UdSSR waren, die besten Absichten der Welt unterstellen kann. Die These findet ihre Begründung vielmehr in einer, wenn auch nicht ganz negativen, so doch in mancher Hinsicht skeptischen, Anthropologie, eine Anthropologie die ihren theoretischen Standort eher im klassischen Liberalismus als im Marxschen Sozialismus oder in Rousseau findet. Auch wenn Malatesta davon überzeugt ist, dass die Menschen ein friedliches, zivilisiertes und glückliches Leben auch ohne Staat leben können37, ist er doch nicht so naiv, dass er den Menschen als ein völlig gutes Wesen ansieht, als ein Wesen, das auch noch dann gut bleibt, wenn es sich vor eine Versuchung gestellt sieht. In einem Artikel aus dem Jahr 1897 schreibt Malatesta: „[D]er Mensch ist so gemacht, dass er, wenn er über die Macht verfügt, andere zu beherrschen und ihnen seinen Willen aufzuzwingen, davon Gebrauch und Missbrauch macht, bis er sie in eine widerliche Sklaverei versetzt hat“ (Malatesta 1979, S. 249). Wie Lord Acton, meint also auch Malatesta, dass der Machtbesitz nicht ohne Einfluss auf die Psyche oder das Verhalten des Machtbesitzers bleibt, und dass der Mensch, sobald er über andere Menschen

37 Man müsste eigentlich sagen, dass sie ein solches Leben nur ohne den Staat leben können.

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herrschen kann, d.h. sobald er sie durch Gewalt(androhung) dazu zwingen kann, seinen Willen auszuführen, diese Macht ge- und vor allem missbrauchen wird. Je größer die Macht über die jemand verfügt, umso größer der Missbrauch dieser Macht und umso größer auch die Versuchung, die Macht bis an ihre äußersten Grenzen auszuüben. Und wie aus der eben zitierten Stelle hervorgeht, handelt es sich dabei nicht nur um eine kontingente Tatsache, sondern es ist, könnte man sagen, eine anthropologische Konstante. In einem Artikel aus dem Jahr 1920 schreibt Malatesta, dass „die Menschen, die am besten geeignet sind, die politische Macht zu ergreifen, nicht die ehrlichsten sind und auch nicht diejenigen sind, die sich dem öffentlichen Wohl am meisten widmen“ (Malatesta 1979, S. 303). Hier lässt Malatesta ein Problem durchscheinen, das man schon bei Platon findet: Man sollte sich vor denjenigen in Acht nehmen, die nach Führungspositionen im Staat streben, da die Gefahr besteht, dass dieses Streben nicht den Willen ausdrückt, dem Allgemeinwohl zu dienen, sondern vielmehr durch die persönlichen Vorteile motiviert wird, die man sich durch den Besitz der Macht erwartet, oder gar um den Besitz der Macht um der Macht willen. Aber angenommen man hat ganz ehrliche Menschen, Menschen die sich voll und ganz dem Allgemeinwohl verschrieben haben, kurz gesagt, so wollen wir einmal annehmen, Anarchisten wie Malatesta. Kann man nicht von ihnen erwarten, dass sie, ähnlich den Philosophenkönigen bei Platon, sich ganz vergessen werden und nur das Wohl der Allgemeinheit vor Augen haben werden? Dass sie im Namen ihres Ideals und nicht ihrer Interessen handeln werden? Wäre eine sich aus Anarchisten zusammensetzende Regierung keine ideale Regierung – einmal von der Frage abgesehen, ob eine solche Regierung nicht schon aus rein begrifflichen Gründe auszuschließen wäre? Hier sind, zumindest analytisch, zwei Sachen voneinander zu unterscheiden. Es könnte durchaus sein, dass ehrliche Anarchisten die politische Macht nicht missbrauchen würden, um sich zu bereichern und um sich in eine neue Klasse von Privilegierten zu verwandeln. Nehmen wir einmal an, es wäre tatsächlich so.38 Ist damit das Problem schon gelöst? Aus Malatestas Sicht nicht, denn es genügt nicht, dass man die Macht nicht zur Erlangung eigener Vorteile missbraucht, sondern man darf sie auch nicht zur Unterdrückung seiner Mitmenschen gebrauchen, selbst dann nicht, wenn dieser Unterdrückung die ehrlichsten Motive zugrunde liegen, wenn man also durch die Unterdrückung die Menschen zu ihrem eigentlichen Glück hinführen will. Damit ist aber zugleich gesagt, dass man die Macht nie gebrauchen darf, da jeder Gebrauch schon ein Missbrauch ist. 38 Wir bewegen uns hier im Raum der reinen Hypothesen, da Malatesta in einem Artikel aus dem Jahr 1931 schreibt, dass die Anarchisten nicht besser sind als die anderen Menschen, und dass auch sie, wenn sie an die Machtpositionen kämen, diese benutzen würden, um sich persönliche Vorteile zu verschaffen – und diese Positionen dementsprechend auch nicht wieder abtreten würden (Malatesta 1979, S. 235).

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In einem Artikel aus dem Jahr 1931 schreibt Malatesta, dass Anarchisten weitaus gefährlicher an der Macht wären als alle anderen Menschen, „denn [sie sind] fest davon überzeugt, Recht zu haben und das Gute zu tun“ (Malatesta 1979, S. 405). Problematisch ist hier nicht die mögliche Unehrlichkeit der Anarchisten, sondern genau das Gegenteil, also ihre Ehrlichkeit. Wer fest davon überzeugt ist, im Besitz der alle Menschen seligmachenden Wahrheit zu sein – mag die Seligkeit eine irdische oder jenseitige sein –, wird, gibt man ihm die Macht, in die Logik des Fanatismus fallen und bereit sein, die konkreten Menschen der abstrakten Wahrheit zu opfern. Wenn die Anarchisten also auch gegen die Logik der Korruption immunisiert werden könnten, würden sie doch noch immer der Logik des Fanatismus ausgesetzt sein.39 Und diese Logik, insofern sie noch mehr als die Logik der Korruption die menschliche Freiheit negiert, ist die gefährlichste aller Logiken. Es ist die Logik, die Torquemada und Robespierre geleitet hat, aber auch Lenin. Und wenn in den Augen Malatestas die durch Lenin in der UdSSR errichtete Tyrannei die schrecklichste ist, die die Menschen je gekannt haben, so könnte es durchaus sein, dass eine im Namen des Anarchismus handelnde Regierung die schrecklichste Tyrannei wäre, die man sich überhaupt vorstellen könnte. Der Anarchist, so wollen wir als Abschluss dieses ersten Teils und als Übergang zum zweiten Teil festhalten, darf sich auf keinen Fall der staatlichen Macht bedienen, um seine Gedanken mittels der staatlichen Zwangsgewalt durchzusetzen, aber er darf, wie wir sogleich sehen werden, der staatlichen Gewalt eine revolutionäre Gegengewalt entgegensetzen, deren Ziel nicht ein Zwang, sondern vielmehr nur die Abwendung eines jeden Zwangs ist.

2. Die Rolle der Gewalt In den Köpfen vieler Menschen wird der Anarchismus mit Gewalt assoziiert, und den typischen Anarchisten stellt man sich oft als jemanden vor, der eine Bombe wirft oder mit einer Waffe auf andere Menschen schießt. Auch wenn diese Assoziation und diese stereotypische Vorstellung einer historischen Realität entsprechen, so wäre es doch falsch, den Anarchismus auf das Gewaltmoment zu reduzieren oder eine solche Reduktion einfach nuancenlos vorzunehmen. Tatsache ist, dass Anarchisten Menschen umgebracht haben. Allein im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts fielen zwei gekrönte Häupter – die Kaiserin Elisabeth

39 Malatesta warnt vor dieser Logik, und seine Warnung gilt vor allem den Anarchisten und all denjenigen, die sich nicht nur für Interessen, sondern auch für ein Ideal engagieren.

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von Österreich (1899) und der italienische König Umberto (1900)40 –, ein nichtmonarchischer Staatschef – der französische Präsident Sadi Carnot (1894) – und der spanische Ministerpräsident Antonio Canovas (1897) Attentaten zum Opfer, die durch italienische Anarchisten begangen wurden. Wie diese Beispiele zeigen, richtete sich die anarchistische Gewalt in erster Linie gegen die Machthaber, die als stellvertretend für das gesamte Unterdrückungssystem anvisiert wurden. Anarchisten konnten sich aber auch an bewaffneten Aufständen beteiligen, wie etwa das Beispiel Malatestas zeigt, der mehr als einmal auf der Seite der bewaffneten Arbeiter stand, die in Kämpfe gegen die Polizei verwickelt waren. Eine genaue Bilanz der Opfer anarchistischer Gewalttaten ist schwer aufzustellen, da bei einer Reihe von Anschlägen nicht ganz klar ist, ob sie tatsächlich das Werk von Anarchisten sind oder vielmehr von agents provocateurs, die auf Befehl der Regierung handelten, um eine härtere Repression gegen die Anarchisten rechtfertigen zu können, denen die Schuld für die Attentate und die Toten zugeschoben wurde. Aber auch bei fehlender gesicherter Bilanz kommt man nicht an der Tatsache vorbei, dass die Anarchisten Menschen getötet haben, und dass sie deren Tod nicht nur als Nebenwirkung bzw. Kollateralschaden ihrer Handlungen hingenommen haben, sondern der Tod war in vielen Fällen das unmittelbare Ziel der Handlung. Unter Anarchisten war die Frage nach der Legitimität und Opportunität der Gewalt umstritten.41 An einem der beiden Extreme findet man die Verherrlichung der revolutionären Gewalt, wie sie im Katechismus eines Revolutionärs zum Ausdruck kommt. Dieses Pamphlet, das im Jahr 1869 verfasst wurde, stammt aus der Feder Netchaievs, der sich damals mit Bakunin in Genf aufhielt. Auch wenn Bakunin die Energie und den Tatendrang seines jüngeren Mitstreiters bewunderte, konnte er dessen Skrupellosigkeit nicht teilen42 und distanzierte sich von einer radikal amoralischen Politik, die scheinbar nur die Effizienz der zerstörenden Gewalt berücksichtigte, ohne sich die geringste Frage bezüglich ihrer Legitimität zu stellen. Mehr noch

40 Malatesta hat sich in einem Artikel zum Attentat gegen König Umberto geäußert: „Ein König wurde getötet: und insofern ein König auch ein Mensch ist, ist die Tatsache bedauernswert. Eine Königin ist Witwe: und da eine Königin auch eine Frau ist, verstehen wir ihr Leid“ (Malatesta 1979, S. 238). Malatesta weist aber gleich darauf hin, dass das Leid der Königsfamilie sich in nichts von dem Leid unterscheidet, das tagtäglich die Besitzlosen trifft und das die Öffentlichkeit kaum, wenn überhaupt berührt. Die Witwe und die Kinder des bei der Arbeit getöteten Bergarbeiters verdienen viel mehr das Mitleid als die Königsfamilie. Und Malatesta schließt den Artikel mit folgenden Worten ab: „Dennoch, die Leiden der Monarchen sind auch menschliche Leiden, die man bedauern soll. Aber die Klage bleibt fruchtlos, wenn man nicht nach den Ursachen sucht, um sie aus der Welt zu schaffen“ (Malatesta 1979, S. 239). 41 Unter der großen Mehrzahl der Anarchisten war vor allem die Frage der Opportunität umstritten. Denn auch wenn viele Anarchisten den Rückgriff auf Gewalt als an sich legitim ansahen, so waren doch einige der Meinung, dass ein solcher Gebrauch, wie legitim er ansonsten auch war, der anarchistischen Propaganda schaden konnte. 42 Anders Lenin, für den der Katechismus durchaus vertretbare Positionen hinsichtlich des Gebrauchs von Gewalt im revolutionären Kampf formulierte.

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als ein Anarchist, war Netchaiev ein Terrorist.43 Am anderen Extrem finden wir etwa den russischen Schriftsteller Leo Tolstoi, dessen stark christlich geprägter Anarchismus mit einer radikalpazifistischen Position einhergeht und der jeden Gebrauch von Gewalt ablehnt. Was für viele Anarchisten die Autorität ist, ist für Tolstoi die Gewalt. Wo die meisten Anarchisten die Autorität als das absolute Übel ablehnen, lehnt Tolstoi mit diesem Übel zugleich auch die Gewalt unter allen ihren Formen ab, da in seinen Augen die Gewalt das Instrument ist, dessen sich die Autorität typischerweise bedient. Wer die Gewalt außer sich bekämpfen will, muss zuerst einmal die zur Gewaltanwendung neigenden Instinkte in sich besiegen. Die meisten anarchistischen Denker befinden sich zwischen diesen beiden Extrempositionen. Auch wenn sie den herrschenden Moralansichten nicht in allen Punkten zustimmen44, gehen sie doch davon aus, dass es bestimmte moralische Normen gibt, denen sich auch der Kampf der Anarchisten zu beugen hat. Gewalt ist erlaubt, aber nicht immer und nicht jede Gewalt. In seinem Theaterstück Les justes, hat der französische Philosoph und Schriftsteller Albert Camus das Bild eines russischen Anarchisten gezeichnet, der zwar bereit ist, ein erwachsenes Mitglied der herrschenden Dynastie zu töten, nicht aber gleichzeitig die ihn begleitenden Kinder – auch wenn diese Mitglieder der herrschenden Dynastie sind.45 Die Position Netchaievs bedeutet für viele Anarchisten ein Verrat an den Idealen, für die sie kämpfen. Aber die radikalpazifistische Position Tolstois kann auch einem Verrat gleichgesetzt werden, denn sie scheint jede Möglichkeit auszuschließen, die gegebenen Verhältnisse und das mit ihnen einhergehende Unheil abzuschaffen und die Gesamtheit der Menschen auf den Weg der Freiheit und des Glücks zu bringen. Die meisten Anarchisten stehen somit vor der theoretischen Herausforderung, die Bedingungen einer legitimen Gewaltanwendung zu formulieren. Malatesta nimmt diese Herausforderung auf sich. Als er über die Frage der Gewalt nachzudenken anfängt, hatte sich u.a. schon sein Landsmann Carlo Cafiero zur Frage geäußert, und in einem 1880 in der Schweiz erschienenen Artikel eine Position vertreten, die derjenigen Netchaievs ziemlich ähnlich sieht und sich prägnant in folgendem Satz ausdrückt: „Everything is right for us which is not legal“ (zitiert in Marshall 2008, S. 632). 43 Wo die Grenze zwischen beiden liegt, ist nicht immer leicht zu bestimmen, umso mehr als in den 70er Jahren Gruppen auftauchten, die sich zwar selbst als anarchistisch bezeichneten, von den politischen Autoritäten und der Bevölkerung aber als terroristisch angesehen wurden. 44 Malatesta greift das Problem in einem Artikel aus dem Jahr 1904 auf (Malatesta 1979, S. 47). In der bestehenden Moral unterscheidet er zwei Gruppen von Normen, und zwar einerseits die Normen, die die Ausbeutung fördern, und andererseits die Normen, ohne die es kein soziales Leben geben kann. Der Anarchist wird zwar die erste Gruppe von Normen ablehnen, aber er kommt nicht umhin, die zweite Gruppe von Normen zu akzeptieren. 45 Camus’ Ansichten müssen vor dem Hintergrund des Algerienkriegs gesehen werden. Während Jean-Paul Sartre den Rückgriff der algerischen Freiheitskämpfer auf „blinde“ Attentate rechtfertigte, widersetzte sich Camus einem solchen in seinen Augen terroristischen Gebrauch von Gewalt.

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Der Rückgriff auf gewaltsame Aktionen wurde oft als „Propaganda durch die Tat“ bezeichnet. Anstatt sich nur in Schriften gegen die bestehenden Institutionen zu erheben, griff man diese Institutionen frontal an, indem man die in ihrem Namen handelnden Menschen angriff. Dieser Gedanke einer Propaganda durch die Tat wurde in Italien besonders durch Carlo Pisacane popularisiert. Malatesta, der sich mit Cafiero und Costa an Aufständen in der Romagna und Apulien beteiligt hatte, wird sich zum Gedanken einer Propaganda durch die Tat bekennen, gleichzeitig aber auch eine normativ bestimmte Überlegung zur Rolle der Gewalt im revolutionären Prozess entwickeln. In einem aus dem Jahr 1892 stammenden Artikel betont Malatesta – und dies tut er, um jedes Missverständnis zu vermeiden –, dass die Anarchisten die Gewalt auf keinen Fall als einen Zweck an sich betrachten dürfen, sondern immer höchstens nur als ein Mittel. Ist die Gewalt als Zweck an sich selbst keiner Begrenzung fähig, so ist die lediglich als Mittel verstandene Gewalt einer solchen Begrenzung unterworfen. Unter bestimmten Bedingungen, so Malatesta, ist der Rekurs auf das Übel der Gewalt notwendig, wenn man ein bestimmtes Ziel erreichen will, dessen Wert den Unwert der Gewalt und der durch sie produzierten negativen Konsequenzen übersteigt. In solchen Fällen sollte aber immer nur soviel Gewalt verwendet werden, wie absolut nötig (Malatesta 1979, S. 38). Und dies nicht nur, weil der Gebrauch von mehr Gewalt als nötig kontraproduktiv oder irrational wäre46, sondern weil Gewalt an sich ein Übel ist. In einem Artikel aus dem Jahr 1925 schreibt Malatesta, dass die Gewalt zum Verbrechen gegen die Menschheit wird, wenn sie in einem größeren Ausmaß angewendet wird, als unbedingt nötig (Malatesta 1998, S. 45). Eine solche Aussage zeigt ganz deutlich, dass der Anarchismus Malatestas der Gewaltanwendung nicht nur amoralische Grenzen setzt, Grenzen die mit Wirksamkeit der Gewaltanwendung zu tun haben, sondern dass er sie auch einer moralischen Begrenzung unterwirft. Unnötige Gewalt setzt nicht nur den Erfolg der Handlung aufs Spiel, sondern sie verletzt auch die Würde derjenigen, gegen die sie ausgeübt wird. In dem eben zitierten Artikel spricht Malatesta von einer Liebe zu allen Menschen, ein Gedanke, den er schon 1892 formuliert hatte (Malatesta 1979, S. 38). In diesem frühen Artikel sagt er ausdrücklich, dass man nach der Revolution die früheren Reichen nicht hassen sollte, da der Hass zur Unterdrückung führt, die aber mit einer anarchistischen Gemeinschaft unvereinbar ist. Die anarchistische Gewalt sollte demnach nicht dem Hass gegenüber bestimmten Menschen qua Menschen entspringen, sondern höchstens dem Hass gegenüber bestimmten sozio-ökonomischen oder politischen Strukturen. Sind diese einmal abgeschafft, wird man nicht mehr auf Gewalt zurückgreifen müssen, denn dann wird es

46 Irrational in dem Sinn, dass man mehr Energie ausgibt, als nötig.

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nämlich keine Polizei und kein Heer mehr geben. Und genau diese Kräfte sind es – Kräfte die im Namen des Staates handeln –, die die Arbeiter vor die Notwendigkeit stellen, auf Gewalt zurückzugreifen. Denn Heer und Polizei hindern die Arbeiter daran, sich diejenigen Produktionsmittel wieder anzueignen, die eigentlich ihnen gehören und die ihnen von den Besitzenden gestohlen wurden. Wenn überhaupt, dann dürfen die Menschen nur dann auf Gewalt zurückgreifen, wenn sie sich nicht anders gegen diejenigen verteidigen können, die sie daran hindern wollen, so zu leben, wie sie es für richtig halten. Die Gewalt ist also immer nur als Gegengewalt legitim, und das legitime Ausmaß an Gewalt wird durch den zurückzudrängenden Gegner bestimmt. Anders gesagt, die Gewalt muss dann aufhören, wenn der Gegner einen so leben lässt, wie man leben will, und man darf immer nur soviel Gewalt gebrauchen wie unbedingt nötig ist, um ihn dazu zu bringen, uns in Ruhe leben zu lassen. Meine Gewaltanwendung muss da aufhören, wo die des anderen aufhört. Und sie darf umgekehrt da beginnen, wo die des anderen beginnt. In einem Artikel aus dem Jahr 1924 weist Malatesta darauf hin, dass zwei Menschen nur dann friedlich zusammenleben können, wenn alle beide auf den Gebrauch von Gewalt verzichten (Malatesta 1998, S. 41). Das Problem stellte sich schon den Individuen im Hobbesschen Naturzustand: solange nicht jeder bereit war, auf den Gebrauch von Gewalt zu verzichten, war niemand dazu verpflichtet, dem natürlichen Gesetz zu folgen, das zur friedlichen Beilegung der Konflikte aufrief. Nicht nur durfte er auf sein natürliches Recht zurückgreifen, sondern er konnte diesen Rückgriff sogar durch die Anführung des höchsten aller natürlichen Gesetze rechtfertigen, nämlich des Gesetzes, das uns vorschreibt, alles zu tun, um unser Leben zu erhalten, und nichts zu tun, was unser Leben gefährden könnte. Solange aber der Gewaltverzicht nicht allgemein war, herrschte der Naturzustand und das Leben der Menschen war armselig und tierisch. Während bei Hobbes der Gebrauch von Gewalt im Naturzustand primär durch die Bewahrung des biologischen Lebens gerechtfertigt wird47, und von Hobbes angedeutet wird, dass derjenige, der im Naturzustand auf diesen Gebrauch verzichten würde, obwohl alle anderen es nicht tun, lediglich als dumm betrachtet werden könnte48, ergänzt Malatesta die Hobbessche Argumentation, indem er ihr eine moralische Dimension hinzufügt. In dem soeben erwähnten Artikel aus dem Jahr 1924 erwägt Malatesta die Möglichkeit, dass von zwei Personen, die eine nicht bereit ist, auf Gewalt zu verzichten, wohingegen die anderen einen solchen Verzicht leistet. In 47 Eine Rechtfertigung, die sich auch auf den gesellschaftlichen Zustand erstrecken kann, wenn weit und breit kein Polizist ist und ich meine körperliche Integrität oder gar mein Leben nur dadurch bewahren kann, dass ich mich mit Gewalt gegen einen Angreifer wehre. 48 Hobbes sagt meines Wissens an keiner Stelle, dass es unmoralisch ist, sich nicht zu wehren, wenn man angegriffen wird. Er mag zwar gegen ein natürliches Gesetz verstoßen bzw. ein solches Gesetz nicht einhalten, aber die Hobbesschen natürlichen Gesetze sind weit davon entfernt, moralische Gesetze im strengen Sinn des Wortes zu sein.

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einer solchen Situation gilt für diesen anderen, dass er, wenn er „seine Würde als Mensch bewahren und nicht in die widerlichste Sklaverei fallen will49, dazu verpflichtet ist, sich der Gewalt mit angemessenen Mitteln zu widersetzen, und dies trotz seiner Liebe für den Frieden und die Harmonie“ (Malatesta 1998, S. 41-42).50 Es geht hier nicht nur um die rein physische Existenz, sondern auch um die menschliche Würde. Wer sich der Gewalt nicht, wenn nötig, mit Gewalt widersetzt, setzt nicht nur seine körperliche Integrität aufs Spiel, sondern auch seine menschliche Integrität, also das, was aus ihm ein Wesen macht, das Respekt verdient. Der radikale Pazifist der, gemäß dem evangelischen Gebot, die andere Wange hinhält, nachdem man ihn auf die eine geschlagen hat bzw. der das Nichttötungsverbot als kategorische Norm ansieht, ist kein nachzuahmendes Beispiel, denn weit davon entfernt, seine Würde zu bewahren, indem er sich die Hände nicht beschmutzt, opfert er genau diese Würde. Gewalt ist somit nicht nur erlaubt, sondern unter bestimmten Umständen ist sie auch geboten – wenn wir voraussetzen, dass es für jeden Menschen ein Gebot gibt, seine Menschenwürde zu bewahren.51 Und sie ist immer dann geboten – und dementsprechend auch erlaubt52 –, wenn die Würde auf dem Spiel steht. Insofern die durch den Staat gegen die Arbeiter ausgeübte Gewalt nicht darauf abzielt, die Würde irgendeines Menschen zu verteidigen, sondern lediglich die illegitimen Privilegien einer Klasse, ist sie an sich illegitim. Kriminell ist somit nicht die Gewalt der Anarchisten, sondern die staatliche Gewalt. Die durch die Anarchisten angewandte Gewalt ist, laut Malatesta, die einzige nicht-kriminelle Form von Gewalt (Malatesta 1998, S. 43). Die anarchistische Gewalt, heißt es an derselben Stelle, ist durch die Vernunft begrenzt – als bloße Antwort auf eine sie provozierende Gewalt hat sie ihr Maß in dieser Gewalt bzw. in der Zurückdrängung dieser Gewalt. Die anarchistische Gewalt, heißt es dann weiter, entspringt nicht dem Hass, was u.a. bedeutet, dass sie sich nicht als Racheakt konzipieren lässt. Und drittens, so immer noch Malatesta, 49 Ich denke nicht, dass Malatesta hier die Herr-Knecht Episode bei Hegel im Hinterkopf hatte – umso mehr es der Knecht ist, der bei Hegel als endgültiger Sieger hervorgeht. 50 „Harmonie“ übersetzt den italienischen Ausdruck „buon accordo“. 51 Die Frage, ob es ein solches Gebot gibt, würde zu ihrer adäquaten Beantwortung eine eigene Abhnadlung verlangen. Hier sei nur angemerkt, dass ein solches Gebot sowohl als Pflicht gegenüber sich selbst als auch als Pflicht gegenüber anderen und nur in Hinsicht seiner selbst gedeutet werden kann. Im zweiten Fall würde das Argument lauten, dass man die Würde der anderen respektieren muss, und dass nur ein Wesen, das seine eigene Würde respektiert, in der Lage ist, auch die Würde der anderen zu respektieren. 52 Es wird oft bestritten, dass das Gebotene zugleich auch erlaubt ist bzw. dass eine Pflicht, X zu tun, die Freiheit ausschließt, X zu tun. Ich stimme dem nicht zu: wenn ich die Pflicht habe, X zu tun, dann muss dafür gesorgt werden, dass ich X auch frei tun kann. Um ein konkretes Beispiel zu geben: wenn ich die legale Pflicht habe, wählen zu gehen – eine Pflicht die es etwa in Luxemburg gibt –, dann muss der mich verpflichtende Staat auch dafür sorgen, dass ich mich frei ins Wahllokal begeben kann und dass ich dort in aller Freiheit alle diejenigen Handlungen ausführen kann, die zum Wahlakt gehören – und dazu gehört auch die Möglichkeit, einen weißen oder sonstwie ungültigen Wahlzettel abzugeben.

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verfolgt die anarchistische Gewalt das Ziel einer Befreiung aller Menschen. Die Freiheit ist nämlich kein Privileg, das nur einer Gruppe von Menschen zusteht, sondern sie ist ein Gut, in dessen Genuss alle Menschen kommen sollen. In diesem Ziel – also in der anarchistischen Gemeinschaft, die jedem Menschen eine gleiche Freiheit garantiert –, heißt es in einem Artikel aus dem Jahr 1892, ist der eigentliche Ort der Moral zu suchen. Somit ist es das zu erreichende Ziel, das die Legitimität der Mittel, oder, um noch genauer zu sein, die Legitimität des Gebrauchs der Mittel bestimmt. Rein als solche betrachtet, ist Gewalt ein Übel, aber daraus folgt noch nicht, dass der Rückgriff auf Gewalt unter allen Umständen illegitim ist. Man kann einen legitimen Gebrauch an sich böser Mittel machen, wenn man diese Mittel zur Erreichung eines guten Ziels benutzt. Würden die Menschen in einer idealen Welt leben, würde sich ein Rückgriff auf an sich böse Mittel erübrigen und der Gebrauch solcher Mittel wäre sogar illegitim. Ganz anders verhält es sich aber in der real existierenden Welt: „Unsere Mittel sind die, die die Umstände uns erlauben und aufdrängen“ (Malatesta 1979, S. 34). Es ist der Gebrauch von Gewalt seitens der Polizei, der den Gebrauch von Gewalt seitens der Arbeiter notwendig macht und rechtfertigt. Und es ist die Tatsache, dass die besitzende Klasse die Macht nicht aus freien Stücken abgibt, die die bewaffnete Revolution notwendig macht. Und eine solche Revolution bringt notwendig Leid mit sich. Aber, so Malatesta, das durch eine Revolution bewirkte Leid wird geringerer sein als das Leid, das ohne eine Revolution bestehen würde (Malatesta 1979, S. 36). Malatesta geht hier vom Prinzip des geringeren Übels aus: Das Leid, das auf dem Weg zur anarchistischen Gemeinschaft in Kauf genommen werden muss, ist geringer als das Leid, das in einer staatlich organisierten Gesellschaft besteht. Es genügt also nicht, bloß das durch die Revolution produzierte Leid zu sehen, sondern man muss auch in Betracht ziehen, wie viel Leid man stattfinden lässt, wenn man keine Revolution macht. Und man muss selbstverständlich auch das Wohlergehen in Betracht ziehen, das sich nach der erfolgreichen Revolution in der ganzen Gemeinschaft ausbreiten wird. Malatesta geht in diesem Zusammenhang sogar so weit zu behaupten, dass in einer anarchistischen Gemeinschaft selbst die Reichen glücklicher sein werden, denn, so seine Begründung, sie werden in einem besseren Umfeld leben und werden sich nicht mehr vor Kriminellen fürchten müssen (Malatesta 1979, S. 196).53 Wenn Malatesta die von Individuen ausgehende Gewalt legitimiert, insofern sie die Freiheit aller zum Ziel hat, so verurteilt er entschieden jede vom Staat ausgehende Gewalt, selbst dann, wenn diese Gewalt sich in den Dienst jenes Zweckes stellt, den auch die Anarchisten verfolgen. Hier zeigt sich, dass letzten Endes doch nicht das Ziel allein den Rückgriff auf Gewalt rechtfertigen kann. Man kann hier ver-

53 Ich glaube nicht, dass Malatesta hier sarkastisch ist – was er durchaus sein kann.

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suchen, Malatestas Position in der Begrifflichkeit der Theorie des gerechten Krieges auszudrücken, wobei wir uns hier auf die iusta causa, die intentio recta und die autoritas legitima beschränken werden.54 Die Kategorie der iusta causa betrifft die Gründe, die einen Rückgriff auf Gewalt rechtfertigen können. Als iusta causa der revolutionären Gewalt hätten wir die Ausbeutung, die Wiedererlangung des Eigentums und die Selbstverteidigung. Wer ausgebeutet wird, wem etwas weggenommen wurde, was ihm gehörte und was man ihm nicht zurückgeben will, und wer angegriffen wird, ohne diesen Angriff durch eine illegitime Handlung bewirkt zu haben, darf prima facie auf Gewalt zurückgreifen. Die Kategorie der intentio recta betrifft die Absicht die man verfolgt. Sie fällt nicht unbedingt mit der iusta causa überein: so kann jemand davon profitieren, dass jemand ihm einen gerechten Kriegsgrund liefert, um seine Rachegelüste durch einen verheerenden Krieg zu befriedigen. Als intentio recta der revolutionären Gewaltanwendung durch die Anarchisten hätten wir das friedliche Zusammenleben in der Freiheit. In diesen beiden Hinsichten liegt Malatesta ganz nahe bei den Antworten der meisten Theoretiker des gerechten Krieges. Einen großen Gegensatz zu ihnen gibt es aber hinsichtlich der Antwort auf die Frage, wer Gewalt gebrauchen darf (autoritas legitima). Für die Theoretiker des gerechten Krieges war es einzig und allein der Fürst, also der Staat, der über den legitimen Einsatz von kriegerischer Gewalt entscheiden konnte. Das Monopol der legitimen Gewaltanwendung – zumindest im Kriegsfall – lag also beim Staat. Insofern Malatesta aber dem Staat als solchen jede Legitimität abspricht, muss er ihm auch die Legitimität der Gewaltanwendung absprechen, und zwar jeder Gewaltanwendung. In den Augen Malatestas ist die staatliche Gewalt nicht nur dann illegitim, wenn sie sich gegen die Arbeiter richtet, sondern sie ist es auch dann, wenn sie für die Arbeiter eingesetzt wird. Wir hatten schon im vorigen Teil den Fall erwähnt, in dem die Polizei durch Gewalteinsatz einen Arbeiter gegen Kriminelle schützt. Aus der Sicht des betroffenen Arbeiters ist dieser polizeiliche Gewalteinsatz sicherlich zu begrüßen, aber in seinem Wesen bleibt er doch illegitim. Essentiell gesehen ist er zu verurteilen, auch wenn er akzidentell begrüßenswert ist.55 Und dasselbe gilt für die Gewalt, die eine Diktatur des Proletariats gebrauchen würde, um den Sieg der sozialistischen Revolution sicherzustellen. In einem Artikel aus dem Jahr 1920 hält Malatesta fest, dass die Gewalt legitim ist, wenn sie sich gegen eine andere Gewalt wendet, nicht aber, wenn man mittels ihrer jemanden zu etwas zwingen will. Insofern er den Staat a priori mit einem Zwangsinstrument gleichsetzt, kann er die durch den Staat angewendete Gewalt nicht anders denn als Zwangsgewalt konzipieren. Eine 54 Ich übergehe die Prinzipien der Proportionalität und der Opportunität. 55 Man vergleiche dies mit folgendem Beispiel: A wurde von der Mafia beauftragt, B zu töten. Er tötet B genau in dem Augenblick, als dieser dabei ist, auf C zu zielen, um diesen zu töten. Dass A dem C das Leben gerettet hat, ist sonder Zweifel zu begrüßen, legitimiert aber nicht den Mord, den er an B begangen hat.

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solche Zwangsgewalt kann durchaus nützlich sein, und dies sogar manchmal für die Arbeiter, aber Nützlichkeit und Legitimität sind nicht dasselbe.56 Malatestas Position stellt uns vor die Frage, wer in letzter Instanz über die Legitimität des Gewaltgebrauchs urteilen soll. Der italienische Anarchist gibt uns durchaus eine Reihe brauchbarer Kriterien an die Hand, aber wer soll darüber urteilen, ob in einem konkreten Fall die Kriterien vorliegen oder nicht, ob Gewalt gebraucht werden darf und, wenn sie gebraucht werden darf, was das erlaubte Ausmaß ist? Und wenn, wie Malatesta es behauptet, ein nicht notwendiger Gebrauch von Gewalt mit einem Verbrechen gegen die Menschheit57 gleichgesetzt werden kann, wer wird dann ein solches Verbrechen ahnden dürfen oder gar müssen? Wie soll man den staatlichen Gewaltgebrauch denken, wenn er solche Verbrechen gegen die Menschheit ahndet? Oder was soll man vom einzelnen Polizisten denken, wenn er sich gegen einen in seinen Augen unnötigen Gewaltgebrauch, und damit eben gegen ein Verbrechen gegen die Menschheit, zur Wehr setzt? Malatesta lässt hier viele Frage offen stehen, und solange der Anarchismus sich nicht ernsthaft mit diesen Fragen befasst, wird er mit einem blinden Fleck behaftet bleiben. Wichtig ist aber, und das wollten wir in diesem Teil des Beitrags hervorheben, dass der Anarchismus Malatestas moralischen Überlegungen einen großen Platz einräumt und dass er den Gewaltgebrauch weder pauschal akzeptiert, noch ihn pauschal ablehnt. Eine solche pauschale Ablehnung gilt hingegen der Wahlbeteiligung, wie wir in dem nächsten Teil sehen werden.

3. Das Problem der Wahlbeteiligung Aus einer politischen Perspektive kann man die Menschheitsgeschichte als die Geschichte einer sich stets ausweitenden Beteiligung an den politischen Entscheidungsprozessen sehen.58 Diese Beteiligung kann direkter oder indirekter Natur sein, sie kann sich bloß in einer beratenden oder aber in einer auch mitentscheidenden Funktion ausdrücken. In den modernen Demokratien nimmt das Staatsvolk auf eine indi-

56 In einem Artikel aus dem Jahr 1927 schreibt Malatesta, dass die Anarchisten, würden sie sich nach dem Modell der bolschewistischen Partei organisieren, eine größere gesellschaftliche Wirkungskraft hätten, aber er fügt gleich hinzu, dass sie durch einen solchen Organisationsmodus ihre Ideale verraten würden (Malatesta 1979, S. 121). Die Nützlichkeit hinsichtlich des Einflusses auf die Gesellschaft wird also mit dem Hinweis auf den Verrat höherer Ideale verworfen. 57 Man sollte dieser Begriff hier natürlich nicht jene Bedeutung geben, die er nach dem Zweiten Weltkrieg erlangt hat. 58 Es muss aber zugegeben werden, dass man sie auch anders deuten könnte. Die athenische Demokratie oder die zum Teil kollektiven Entscheidungsfindungsprozesse bei bestimmten Völkern wurden durch Strukturen ersetzt, in denen die Entscheidung von einer Person oder von Wenigen getroffen wurde.

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rekte Weise mitentscheidend59 an den politischen Entscheidungsprozessen teil. In einer repräsentativen Demokratie wählen alle wahlberechtigten Staatsbürger ihre Repräsentanten, und diese Repräsentanten stimmen dann über die Gesetze ab, durch die das Leben aller sich auf dem Staatsterritorium aufhaltenden Menschen bestimmt wird. Die Forderung einer Repräsentation des Volkes in den politischen Entscheidungsverfahren wurde vor allem im XVIII.. Jahrhundert laut und hat seinen konkreten Niederschlag im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und in der Französischen Revolution gefunden. Da in Großstaaten wie Frankreich oder den Vereinigten Staaten von Amerika das athenische Modell der direkten Demokratie nicht verwirklicht werden konnte, „erfand“ man das moderne Modell einer repräsentativen Demokratie.60 Und auf die Frage, wie man die Repräsentanten des Volkes zu bestimmen hatte, antwortete man nicht mit der Einführung des Losverfahrens, sondern man führte das Wahlsystem ein. Dieses System hat sich heute in allen Demokratien durchgesetzt und würde ein demokratischer Staat die Wahlen abschaffen, wäre automatisch auch der demokratische Charakter dieses Staates abgeschafft. Bis auf weiteres gelten die freien Wahlen als das non plus ultra eines freien demokratischen Staatswesens.61 Und das Wahlrecht gilt als das wichtigste politische Recht eines jeden Staatsbürgers, ein Recht das vielen so wichtig erscheint, dass sie es nicht nur den Staatsbürgern überlassen wollen, sondern seine Ausweitung auf alle Einwohner verlangen – das sogenannte Einwohnerwahlrecht.62 In einer wirklichen Demokratie, so das Argument, müssen alle durch die politischen Entscheidungen Betroffenen direkt oder indirekt am politischen Entscheidungsprozess beteiligt sein, und es genügt nicht zu verlangen, dass alle lediglich berücksichtigt werden. Um sicherzustellen, dass alle berücksichtigt werden, müssen alle zumindest durch von ihnen gewählte Repräsentanten vertreten werden.63 Und dies setzt voraus, dass alle zumindest über das aktive Wahlrecht verfügen. 59 Es kann in vielen Ländern auch manchmal direkt mitentscheidend – imperatives Referendum – oder direkt beratend – konsultatives Referendum – an den politischen Entscheidungsprozessen teilnehmen. 60 Ein Modell, das schon in England, wenn auch auf eine noch höchst unvollkommene Weise, verwirklicht war. 61 Es werden aber Stimmen laut, die die Wahlen radikal in Frage stellen, ohne aber gleichzeitig die Demokratie als solche abschaffen zu wollen. Siehe etwa van Reybrouck 2014. 62 Im Juni 2015 entschied sich eine große Mehrheit der Wahlberechtigten Luxemburgs gegen eine Ausweitung des aktiven Wahlrechts auf Nicht-Luxemburger – die inzwischen fast 45% der Gesamtbevölkerung ausmachen. 63 Hier stellt sich natürlich das Problem der Minderjährigen, die nicht an den Wahlen teilnehmen dürfen. Hinsichtlich ihrer ließe sich sagen, dass ihre Eltern stellvertretend für sie wählen – sie bestimmen ihre künstlichen Repräsentanten sozusagen indirekt über den Umweg ihrer natürlichen Repräsentanten. Ein weiteres Problem betrifft die kleinen Parteien und deren Wähler. Gemeint sind damit die Parteien, denen es nicht gelingt, einen Kandidaten ins Parlament zu schicken. Besonders akut ist dieses Problem in einem Mehrheitswahlsystem, wo es nicht nur kleine, sondern auch große Parteien betrifft. Zu erwähnen wäre hier das Beispiel Frankreichs, wo

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Was in den Augen vieler Menschen als ein Kernstück eines demokratischen und freien Rechtsstaats gilt, nämlich das Wahlrecht, wird von Malatesta als ein „Recht, auf seine eigenen Rechte zu verzichten“ bezeichnet (Malatesta/Merlino, S. 111).64 Diese negative Charakterisierung stammt aus einem Artikel, den Malatesta im Jahre 1897 verfasst hat und der ein Teil einer sich über ein Jahr erstreckenden Polemik mit Francesco Saverio Merlino ist.65 Merlino, ein Rechtsanwalt und Sozialhistoriker, war ein Schulfreund Malatestas66, und bis zur Polemik über die Beteiligung an den Wahlen bzw. bis zu einem bestimmten Punkt innerhalb dieser Polemik, unterhielten beide das freundschaftliche Verhältnis, das aus ihrer Schulzeit stammte, u.a. weil Merlino die Ansichten Malatestas betreffend die zukünftige Gesellschaftsordnung in den großen Linie teilte. Über das Ziel waren sich beide also weitgehend einig, und der Streit zwischen ihnen betraf die Haltung der Anarchisten vor der Erreichung des Ziels, und vor allem ihre eventuelle Teilnahme an den Wahlen bzw., noch allgemeiner, ihre Involvierung in die Wahlkampagne. Ausgelöst wurde die Debatte durch Merlino, der am 29. Januar 1897 einen Artikel in der Zeitschrift Il Messaggero veröffentlichte. Anlass oder Hintergrund waren die für März desselben Jahres anberaumten Parlamentswahlen und bestimmte Aussagen, die Merlino im Hinblick auf eine mögliche Wahlbeteiligung gemacht hatte und die unterschiedlich interpretiert wurden. Mit seinem Artikel wollte Merlino klarstellen, wie man seine Aussagen zu verstehen hatte und wie sich Anarchisten zur Frage der Wahlbeteiligung verhalten sollten. Sollten sie die Wahlen gänzlich ignorieren, mit dem Argument, dass sie lediglich ein Mittel zur Erlangung der politischen Macht sind, und die Anarchisten alles wollen, nur nicht in den Besitz der politischen Macht kommen und auch niemanden, sei er ein Verfechter der anarchistischen Ideen oder nicht, wählen und damit dazu beitragen, dass er ins Parlament kommt? Oder sollten sie die Wahlen ernst nehmen und, wie andere Parteien auch, Kandidaten aufstellen die, wenn sie gewählt würden, auf legislativem Weg die Bahn für die Einrichtung einer anarchistischen Gemeinschaft frei machen konnten? Soll-

der Front National zwar über 20% der Wählerstimmen bei den letzten Parlamentswahlen auf seine Listen vereinigen konnte, aber nur zwei Abgeordnete in der Assemblée nationale hat. Auch wenn man keine Sympathien für den FN und seine Ideen hegt, versteht man doch, dass die Partei und deren Wähler sich ungerecht behandelt fühlen. 64 In seiner berühmten Rede aus dem Jahr 1819, in welcher er die Freiheit der Alten mit der Freiheit der Modernen vergleicht, hält Constant bezüglich des modernen Individuums fest: „Seine Souveränität ist begrenzt, fast immer suspendiert; und wenn er zu bestimmten, seltenen und durch Vorsichtsmaßnahmen und Hindernissen umgebenen Zeitpunkten diese Souveränität ausüben kann, so tut er dies immer nur, um sie abzutreten“ (Constant 1980, S. 496). 65 Vom 29. Januar 1897 – erster Artikel Merlinos zur Frage – bis zum 13. Januar 1898 – letzter Beitrag Malatestas zur Polemik. Die Artikel sind unter der Form eines durch Amazon.co.uk gedruckten Sammelbandes erhältlich. Leider hat dieser Band aber keine Seitenzahlangaben. Die von mir angegebenen Seitenzahlen entsprechen dementsprechend meiner eigenen Nummerierung. Deren Seite 1 fängt mit dem ersten Artikel Merlinos an. 66 Er hatte auch 1878 Malatesta vor Gericht verteidigt.

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ten die Anarchisten sich der legalen Mittel zur möglichen Veränderung der Gesellschaft bedienen, oder sollten sie diese Mittel meiden? Merlino wird sich weder einer Politik der vollkommenen Gleichgültigkeit gegenüber den Wahlen verschreiben, noch einer Politik der vollständigen Akzeptanz. Dabei geht er vom Prinzip aus, dass ein parlamentarisches System mit Wahlen besser ist als ein absolutistisches System ohne Wahlen (Malatesta/Merlino, S. 3), da man im ersten eine Instanz hat, die die Regierung kontrollieren und interpellieren kann. Er weist denn auch darauf hin, dass viele Feinde des parlamentarischen Systems in reaktionären Kreisen zu suchen sind, da diese Kreise sich ein System wünschen, in welchem die Regierung eigenständig handeln kann, ohne sich vor den gewählten Vertretern des Volkes verantworten zu müssen (Malatesta/Merlino, S. 93). Damit ist zwischen den Zeilen gesagt, dass die Anarchisten, wenn sie nicht mit den Reaktionären in einen Topf geworfen werden und deren Sieg fördern wollen – und das wollen sie selbstverständlich nicht67 –, besser daran täten, den Parlamentarismus zu verteidigen – nicht unbedingt als Verkörperung der höchsten politischen Vernunft, aber zumindest als Instrument, dessen man sich zur Erreichung des bestmöglichen gesellschaftlichen Zustandes bedienen kann. Merlino plädiert dafür, dass die Anarchisten, wo sie es besitzen, ihr aktives Wahlrecht ausüben und alles daran setzen, den Sieg der Kandidaten der für eine Unterdrückung der legitimen Forderungen der Arbeiter eintretenden Parteien zu verhindern (Malatesta/Merlino, S. 4) und den Sieg der Kandidaten der regierungsfeindlichen Parteien zu fördern (ebd., S. 11). Es geht Merlino also keineswegs primär darum, anarchistische Kandidaten aufzustellen, sondern sich vielmehr der Wahlen zu bedienen, um die Regierung zu schwächen. Desweiteren kann ein Engagement der Anarchisten in der Wahlkampagne, und sei es auch nur in der Form einer Unterstützung bestimmter Kandidaten, die Sichtbarkeit der Anarchisten erhöhen und sie kann somit als Propagandainstrument dienen. Merlino ist weit davon entfernt, den Parlamentarismus und die Wahlen als absolute politische Güter anzusehen. Er sieht vielmehr in ihnen Mittel, derer man sich bedienen sollte, wenn es nützlich ist, ohne dass aber diese Instrumentalisierung des Parlaments und der Wahlen alle anderen Handlungsformen – wie etwa die Propaganda durch die Tat – ausschließen (Malatesta/ Merlino, S. 12). Die Aktionen im Rahmen der politischen Spielregeln der parlamentarischen Demokratie haben allerhöchstens einen komplementären Charakter zu allen anderen politischen Aktionen der Anarchisten. Merlino macht dabei einen Vergleich zwischen der Teilnahme an den Wahlen und dem Rückgriff auf Gewalt: die Anarchisten sind zwar prinzipiell gegen den Ge67 Ein Zweifel ist durchaus angebracht, was den zweiten Punkt betrifft. Auch wenn man nicht behaupten kann, dass die Anarchisten eine reaktionäre Regierung als Selbstzweck wollen, so können sie sich doch eine solche Regierung wünschen, da sie mehr als eine sozial fortschrittliche Regierung dazu beiträgt, die Massen in das Leid zu stürzen und sie dadurch, selbstverständlich ganz ungewollt, empfänglicher für die anarchistischen Ideen zu machen.

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brauch von Gewalt, aber das hindert sie nicht daran, wenn es absolut sein muss, auf Gewalt zurückzugreifen (Malatesta/Merlino, S. 23). Und wie wir weiter oben schon gesehen hatten, sagt auch Malatesta, dass es den Anarchisten nicht untersagt ist, sich der Gerichte zu bedienen, um ihre Rechte einzuklagen, und dies obwohl das Gerichtswesen ein integraler Bestandteil des abzuschaffenden Systems ist. Wenn also die Anarchisten Gewalt und Gerichte als Übel verurteilen, aber sich ihrer nichtsdestotrotz bedienen, warum sollten sie dann nicht dasselbe mit den Parlamentswahlen tun? Wenn das bestehende System den Anarchisten Möglichkeiten gibt, es abzuschwächen und es zu bekämpfen, dann sollten die Anarchisten nicht heiliger als der Papst sein wollen, und aus prinzipiellen Gründen auf das Ergreifen dieser Möglichkeiten zu verzichten. Im Verlauf der Polemik leidet nicht nur das Freundschaftsverhältnis zwischen Malatesta und Merlino68, sondern letzterer wird auch, in einer am 26. August 1897 in der Zeitschrift Agitazione abgedruckten Erklärung, seinen Bruch mit den Anarchisten ankündigen und sich fortan als libertärer Sozialist bezeichnen (Malatesta/ Merlino, S. 91). Sieht man sich die Beiträge Merlinos genauer an, so stellt man fest, dass er dem Parlamentarismus viel näher steht, als man es von einem radikalen Anarchisten, wie etwa Malatesta ihn verkörpert, erwarten könnte. Merlino geht nämlich davon aus, dass es auch in einem anarchistischen Gemeinwesen immer noch ein Parlament und eine Regierung geben wird (Malatesta/Merlino, S. 12). Diese Institutionen werden zwar nicht die tragende Rolle haben, die sie in der jetzigen Gesellschaft besitzen, aber ohne sie lassen sich Merlino zu Folge keine allgemeinverbindlichen Entscheidungen treffen und durchsetzen – und solche Entscheidungen wird man auch in einem anarchistischen Gemeinwesen treffen müssen (Malatesta/Merlino, S. 46f.). An einer Stelle unterstellt Merlino seinem Gegner sogar, dem bestehenden System kein radikal anderes entgegenzustellen, sondern ein „verbessertes und gebessertes parlamentarisches System“69 (Malatesta/Merlino, S. 106). Auch Malatesta, so Merlino, wird letztendlich einsehen müssen, dass in einer anarchistischen Gesell-

68 In der ersten Reaktion Malatestas ist noch von „mio amico Merlino“ die Rede (Malatesta/ Merlino, S. 5), und Merlino beginnt seine Antwort auf diese Reaktion mit einem „l’amico Malatesta“ (Malatesta/Merlino, S. 8). Diese Freundschaft, die nicht nur vorgetäuscht wird, überlebt die ersten Schlagaustausche, die alle in einem sachlichen Stil ausgetragen werden, auch wenn manchmal durchaus mit harten Bandagen diskutiert wird. Am 23. Dezember 1897 schreibt Malatesta aber die Zeilen, die zu weit gehen: „Die These, die Merlino vertritt, muss sicherlich sehr schlecht sein, da er sich dazu gezwungen sieht, auf die Lügereien (barzellette) der Reaktionären zurückzugreifen“ (Malatesta/Merlino, S. 121). Eine Woche später erscheint die Antwort Merlinos: „Ich dachte, dass Malatesta und ich, und sei es nur wegen der Freundschaft die uns verbindet, miteinander hätten polemisieren können, ohne uns gegenseitig als Gauner (farabutto) oder als Rüpel (mascalzone) zu bezeichnen. Aber ich habe mich geirrt“ (Malatesta/ Merlino, S. 124). Merlino wird die Polemik mit diesem Artikel abbrechen, während Malatesta noch zwei Beiträge verfassen wird. Der letzte Beitrag schließt, auf Merlino bezogen, mit den Worten: „O santa ingenuità“ (Malatesta/Merlino, S. 130). 69 „[S]istema parlamentare corretto e migliorato“.

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schaft kollektive Entscheidungen getroffen werden müssen und dass dazu so etwas wie ein Parlament nötig ist. Es geht also nicht um einen radikalen Paradigmenwechsels hinsichtlich des geeignetsten Mittels zur kollektiven Entscheidungsfindung, sondern jeder sollte seine Energie darin investieren, das bestehende System zu verbessern. Wie aus den Artikeln hervorgeht, dreht sich der Streit nicht nur um die Frage der Einmischung in die Wahlkampagne und in die Wahlen bzw. um die Unterstützung bestimmter Kandidaten, sondern es geht auch darum, das Profil eines anarchistischen Gemeinwesens zu konkretisieren. Wie sich Malatesta dieses Profil vorstellt, wollen wir im nächsten Teil des Beitrags untersuchen. Vorerst soll seine Position zur Frage der Einmischung in die Wahlkampagne diskutiert werden. Gleich in seiner ersten Reaktion auf Merlinos Befürwortung einer solchen Einmischung stellt Malatesta klar, dass die Anarchisten nicht nur Gegner des Parlamentarismus sind, sondern auch der parlamentarischen Taktik (Malatesta/Merlino, S. 6). Wer die Institutionen ablehnt, wird es auch vermeiden, einen ersten Schritt in Richtung langer Marsch durch die Institutionen zu tun. Für Malatesta kommt der Parlamentarismus also weder als Organisationsprinzip, noch als Mittel in Frage. Nicht als Ziel, denn die zukünftige Gesellschaft wird eine solche sein, in der die Individuen unmittelbar selbst die eigenen Geschicke in die Hand nehmen, so dass eine gesetzgebende Gewalt, wie sie das Parlament darstellt, überflüssig sein wird: frei geschlossene Verträge werden die Gesetze ersetzen, und solche Verträge werden nicht durch Repräsentanten geschlossen, sondern durch die unmittelbar Betroffenen. In einem Artikel aus dem Jahr 1922 hatte Malatesta zwischen parasitären und nützlichen Institutionen unterschieden, und dabei für die Abschaffung der ersten und die Verbesserung der zweiten plädiert (Malatesta 1998, S. 65). Das Parlament und die Wahlen zum Parlament fallen für Malatesta unter die erste Kategorie, während Merlino sie eher der zweiten Kategorie zuordnen würde. Der Parlamentarismus sollte auch nicht als Taktik benutzt werden, da er die Menschen daran gewöhnt, sich auf andere zu verlassen, anstatt zu erkennen, dass jeder sein eigenes Schicksal in die Hand nehmen sollte. Was Malatesta hier befürchtet, ist die Passivität der Massen, die sich auf ihre Abgeordneten verlassen. Diese Passivität ist in den Augen des italienischen Anarchisten der Ursprung der Autorität (Malatesta 1979, S. 97). Wenn die Menschen nicht von sich aus für Ordnung sorgen, dann wird jemand es an ihrer Stelle tun – denn kein soziales Leben ist ohne Ordnung möglich –, und von Menschen, die sich nicht um die Herstellung der Ordnung kümmern, wird man auch nicht erwarten können, dass sie sich automatisch an die nicht von ihnen hergestellte Ordnung halten werden. Damit entsteht die Notwendigkeit einer die Ordnung durch Zwang aufrecht erhaltende Macht. Anders gesagt: es entsteht eine Autorität.

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Man sollte also unter keinen Umständen die Kunde verbreiten, es sei nützlich, für bestimmte Kandidaten zu wählen, denn es könnte dadurch ganz schnell der Eindruck entstehen, dass nicht nur die Kandidaten nützlich sind, sondern das Wählen als solches. Und diesen Eindruck will Malatesta auf keinen Fall aufkommen lassen. Denn wie er es in einem Beitrag vom 28. März 1898 sagt: „Die Enthaltung [scil. die Nicht-Teilnahme am parlamentarischen Spiel – N.C.] ist für uns eine Frage der Taktik; aber sie ist so wichtig, dass, wenn man auf sie verzichtet, man auch auf die Prinzipien verzichtet. Und dies wegen der natürlichen Verbindung zwischen Mitteln und Zweck“ (Malatesta/Merlino, S. 54). Hatte Merlino die Teilnahme als rein taktischen Zug gesehen, dreht Malatesta das Ganze um und erklärt die Enthaltung als taktischen Zug. Aber dieser taktische Zug ist ein ganz besonderer, erlaubt er doch, dass man sich nicht auf die Dauer an eine Handlungsweise gewöhnt. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass er Aristoteles oder aber liberale Autoren wie Tocqueville gelesen hat, so scheint Malatesta wie sie zu spüren, dass der Mensch bestimmte Gewohnheiten annehmen kann und dass diese Gewöhnung ihn dazu bringen kann, Dinge zu schätzen, die er zunächst nicht schätzte. Und was könnte für Malatesta schlimmer sein, als wenn die Menschen plötzlich die Teilnahme an Wahlen, und mit ihr den Parlamentarismus als Organisationssystem, schätzten? Deshalb schreibt er in seiner Polemik mit Merlino, die Anarchisten sollten mit allen Mitteln zu bewirken versuchen, dass die Menschen Ekel für die Wahlen empfinden (Malatesta/Merlino, S. 30). Will man dieses Ziel erreichen, dann muss man gleich den ersten Schritt auf der glitschigen Bahn vermeiden und jeden Gedanken eines taktischen Nutzens der Wahlbeteiligung bekämpfen. Dieses Bild einer glitschigen Bahn benutzt Malatesta im Rahmen seiner Polemik mit Merlino, und zwar im Kontext etwaiger Protestkandidaturen. Es handelt sich dabei um Kandidaturen, die die regierungsfeindlichen Parteien aufstellen, um der Regierung Hindernisse in den Weg zu stellen. Merlino hatte die Diskussion entfacht, indem er auf die parlamentarische Immunität hinwies: Abgeordnete besitzen Rechte, die ein Normalbürger nicht besitzt, und regierungskritische Äußerungen, die einen Normalbürger hinter Gitter bringen würden, können ohne größere Gefahr von einem Abgeordneten getätigt werden. In Italien stellte sich damals auch noch das Problem, dass einige Anarchisten, wie etwa der von Malatesta erwähnte Luigi Galleani, unter Hausarrest standen. Wäre Galleani ins Parlament gewählt worden, dann hätte man den Hausarrest aufheben können und der Kommilitone hätte wieder frei reden und handeln können. In den Augen Merlinos sollte man eine solche Chance nutzen und Galleani als Kandidaten aufstellen. Malatesta, seinerseits, lässt zwar keinen Zweifel darüber entstehen, dass man Merlinos Position durchaus nachvollziehen kann, dass man ihr aber trotzdem kritisch begegnen sollte. Eine Sache ist es nämlich, die Lebensbedingungen eines einzelnen Anarchisten verbessern zu wollen, eine andere ist es, an die

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mittel- und langfristigen Konsequenzen zu denken. Es wäre eine gute Sache, wenn Galleani sich wieder frei bewegen könnte, aber dies sollte nicht durch das Aufgeben prinzipieller Positionen erreicht werden. Das Schicksal eines einzelnen Anarchisten muss vor der Prinzipientreue weichen. Neben dem Argument der glitschigen Bahn, auf das schon hingewiesen wurde, macht Malatesta darauf aufmerksam, dass man sich nie sicher sein kann, welche Motive einen Anarchisten bei der Wahl leiten werden (Malatesta/Merlino, S. 27). Nur wenn man sicher sein könnte, dass das einzige Motiv der Stimmabgabe zugunsten des Protestkandidaten darin besteht, diesen von bestimmten Sanktionen zu befreien, und nicht auch, diesen zu einem Mitgesetzgeber zu machen, wäre eine aktive Teilnahme an den Wahlen gegebenenfalls zulässig. Eine solche Garantie kann man aber nie haben, denn die Motive der Wahlbeteiligung sind nur dem Wählenden bekannt. Doch auch wenn man sie hätte, würde sich ein weiteres Problem stellen, das diesmal nicht den Wähler, sondern den Gewählten betrifft: wie kann man sicherstellen, dass der Gewählte auf die Ausübung seines Mandates verzichten wird (Malatesta/Merlino, S. 28)? Dass jemand sich vor den Wahlen dahingehend äußert, dass er, wenn er gewählt wird, auf die Ausübung seines Mandates verzichten wird, könnte sehr wohl damit zu tun haben, dass der Kandidat glaubt, sowieso keine Chancen zu haben, gewählt zu werden, so dass seine Aussage schnell und leicht gemacht werden kann. Doch es ist alles andere als sicher, dass er sich auch tatsächlich an sein Versprechen halten wird, wenn er, wider Erwarten, gewählt wird. Anstatt abzuwarten, bis die Wirklichkeit gewordene Versuchung es erlaubt, die Ehrlichkeit des Kandidaten zu testen, scheint es ratsamer, die Versuchung erst gar nicht aufkommen zu lassen. Und das ist nur dadurch möglich, dass die Anarchisten keinen Kandidaten, auch keinen Protestkandidaten, aufstellen. Anstatt kurzfristig zu denken und die sich anbahnende Chance der Befreiung dieses oder jenes Anarchisten zu ergreifen, sollte man Malatesta zufolge darauf hinarbeiten, eine Situation zu schaffen, in der man nicht mehr auf Protestkandidaturen zurückzugreifen hat, um Anarchisten wieder die Möglichkeit zu geben, frei zu leben, zu handeln und zu reden (Malatesta/Merlino, S. 28). Mögen Protestkandidaturen auch der leichtere Weg sein, Kommilitonen zu befreien, so ist es doch ein Weg, der nur punktuell helfen kann, der einigen Anarchisten zu Gute kommt, nicht aber der großen Mehrheit, und der unter Umständen dazu führen kann, dass der Parlamentarismus als salonfähig erscheint. Um diesen Beitragsteil über den Parlamentarismus abzuschließen, möchte ich noch kurz auf einen Aspekt der Debatte zwischen Merlino und Malatesta eingehen, der die internationale Politik betrifft. Malatesta hat sich insgesamt wenig mit dieser

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Frage befasst70, aber in seiner Polemik mit Merlino hat er, sozusagen als ad absurdum Argument, einige Überlegungen zur internationalen Politik angestellt. Der zu widerlegende Gedanke Merlinos ist folgender: irgendetwas wie ein gewähltes Parlament ist notwendig, um das Zusammenleben der Menschen zu organisieren. Malatesta kontert mit dem Hinweis, dass niemand auf den Gedanken kommen würde, das internationale Zusammenleben der in Staaten organisierten Menschen durch ein internationales Parlament bzw. durch eine internationale Regierung oder einen Weltstaat zu organisieren, der sowohl die legislative, die exekutive als auch die richterliche Macht besitzen würde (Malatesta/Merlino, S. 53). Dass kein Staat die Gründung einer solchen Organisation vorschlägt hat damit zu tun, dass jeder – und vor allem die schwächeren Staaten – sieht, dass ein solches System nur im Interesse der mächtigeren Staaten ist. Kein Staat, so kann man zwischen den Zeilen lesen, wird bereit sein, seine Souveränität aufzugeben. Aber wenn kein Staat dies tun würde, warum sollte dann ein Individuum es tun? Warum sollte ich als Individuum meine souveräne Entscheidungsfreiheit aufgeben, indem ich mich in einem Parlament vertreten lasse und mich den dort durch eine Mehrheit getroffenen Entscheidungen unterwerfe, wenn der Staat, dem ich angehöre, nicht bereit ist, seine souveräne Entscheidungsfreiheit aufzugeben, indem er sich den Entscheidungen eines alle Staaten vertretenden Parlaments unterwirft? Warum sollte meine Freiheit mir weniger wichtig sein als diejenige, die der Staat für sich in Anspruch nimmt, wenn er anderen Staaten entgegentritt? Wenn der Gedanke einer Repräsentation der Staaten in einem internationalen Parlament absurd ist, dann, so Malatestas Überlegung, ist es auch der Gedanke einer Repräsentation der Individuen in einem nationalen Parlament. Absurd, versteht sich, wenn man in einer solchen Repräsentation eine Garantie der Freiheit der Staaten sieht. So schreibt Malatesta, Griechenland wäre um keinen Deut freier, wenn es einen Vertreter in ein internationales Parlament schicken könnte (Malatesta/Merlino, S. 62). Griechenland, oder irgendein anderer Staat, wird nur dann frei sein, wenn es dem Willen keines anderen Staates bzw. dem Willen keiner Mehrheit anderer Staaten unterworfen ist. Und was für die Staaten gilt, gilt auch für die Individuen. Die Stärke des Parlaments, so Malatesta in seiner Polemik mit Merlino, ist kein Symptom der Freiheit, denn, so immer noch Malatesta, es war mehr Freiheit in Italien, als das Parlament schwach war (Malatesta/Merlino, S. 32). Will man nämlich den Grad der Freiheit in einem Land messen, so muss man die Messlatte nicht bei den Institutionen sehen, sondern im menschlichen Handeln. Der konkrete Ort der Freiheit ist nicht der Staat, sondern die Gesellschaft. Der Parlamentarismus täuscht inso70 Ich spreche hier natürlich nicht über die Frage nach einer internationalen Organisation der Arbeiter. Wie u.a. Jean Préposiet hervorhebt, lag Malatesta sehr viel daran, den Kampf der Unterdrückten auf internationaler Ebene zu organisieren, was etwa Malatestas Engagement in der anarchistischen Internationale erklärt (Préposiet 2012, S. 296). An dieser Stelle steht das Staatenverhältnis zur Diskussion.

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fern nur die Freiheit vor, und wenn die Menschen die wirkliche Freiheit erlangen und sich nicht mit ihrem bloßen Schatten begnügen wollen, dann müssen sie aus der Höhle des Parlamentarismus heraustreten.

4. Die anarchistische Gemeinschaft In einem Artikel aus dem Jahr 1924 gibt Malatesta eine ganz allgemeine Bestimmung der Anarchie, indem er sie als eine Situation beschreibt, in welcher niemand einem anderen seinen Willen mittels Gewalt aufdrängt (Malatesta 1998, S. 41). Jeder muss also die Möglichkeit haben, so zu leben, wie er es für richtig findet, und nicht, wie ein anderer es für richtig hält. Eine spezifischere Definition finden wir in einem 1910 veröffentlichten Artikel. Dort heißt es, die Anarchie sei „eine Gesellschaft, die sich auf die freie und freiwillige Zustimmung gründet, in welcher niemand in der Lage ist, einem anderen seinen Willen aufzudrängen, wo alle so handeln können, wie sie es für richtig halten und freiwillig zum Allgemeinwohl beitragen können“ (Malatesta 1979, S. 57). In seinem Leviathan hatte Thomas Hobbes darauf hingewiesen, dass die Menschen im Naturzustand u.a. die zwei folgenden Begierden besitzen: anderen ihren eigenen Willen aufdrängen und keinem fremden Willen unterworfen zu sein. Man kann leicht sehen, dass diese Begierden, wenn sie in jedem Individuum anzutreffen sind, ein friedliches Zusammenleben unmöglich machen, und dass beide somit aufgegeben werden müssen. Hobbes, wie später Rousseau, wird aber ein System konstruieren, in welchem beiden Begierden doch auf eine gewisse Weise Rechnung getragen wird. Denn wenn der Wille des Souveräns der Wille des Volkes ist und jedes Individuum sich als ein Teil des Volkes versteht, dann ist man eigentlich keinem fremden Willen unterworfen, wenn man sich den Gesetzen des Souveräns unterwirft, und gleichzeitig kann man sich sagen, dass die vom Souverän gewollten Gesetze den Mitmenschen den eigenen Willen aufdrängen, ist der Wille des Souveräns doch der Wille der Untertanen. Zumindest kann man sich dies sagen, solange man de facto nichts anderes will als das, was auch der Souverän will. Malatesta lässt sich nicht auf derart subtile Gedanken ein. Auch wenn er im Rahmen seiner Anthropologie – die nicht systematisch ausgearbeitet wird, sondern nur fragmentarisch in den Schriften durchschimmert –, genauso wie Hobbes, eine Herrschaftsbegierde in den Menschen diagnostiziert, glaubt er nicht, dass man sie dadurch stillen sollte, dass man einen Staat schafft, in dem sich die Menschen als Autoren der Entscheidungen des Souveräns wiedererkennen können, so dass sie sich keinem anderen als sich selbst unterwerfen, wenn sie sich dem Staat unterwerfen. Insofern für Malatesta die politische Macht prinzipiell jeden Menschen korrumpieren kann, so dass der Souverän, statt die Rousseausche volonté générale durchzuset-

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zen, nur seine eigene volonté particulière oder die einer gesellschaftlichen Gruppe – wobei es keine Rolle spielt, ob sie die Mehrheit der Gesellschaft oder nur eine Minderheit darstellt – für alle verbindlich macht, sollte keinem Menschen die Macht gegeben werden, seinen eigenen Willen anderen Menschen aufzwingen. Dabei ist zu bemerken, dass Malatesta nicht nur daran gelegen ist, dass de facto niemand einen anderen zwingt. Der Zustand der Anarchie wird erst dann erreicht sein, wenn es keine institutionelle Möglichkeit mehr geben wird, jemandem seinen Willen mittels Gewalt aufzuzwingen.71 Wenn man nicht damit rechnen kann, die Struktur der menschlichen Begierden radikal zu verändern, zumindest nicht kurzoder mittelfristig, wenn, wie es Malatesta an einer schon im ersten Teil zitierten Stelle behauptet, „der Mensch so gemacht ist“, dass er jede Zwangsmacht nicht nur ge-, sondern auch missbrauchen wird, dann scheint es nur einen gangbaren Weg zu geben: alle jene Institutionen abzuschaffen, innerhalb derer ein Mensch einem anderen Menschen seinen Willen aufdrängen kann, wobei besagte Strukturen diesen Zwang auch noch als legitim erscheinen lassen. Es geht wohlverstanden nicht nur darum, die Möglichkeit einer Willensaufdrängung innerhalb der Institutionen abzuschaffen. Der zunächst in Platons Gesetzen, dann in der naturrechtlichen Tradition der mittelalterlichen politischen Philosophie und dann bei den klassischen liberalen Denkern vorzufindende Gedanke einer Herrschaft des Gesetzes – die einer Herrschaft der menschlichen Willkür entgegengesetzt wird – ist Malatesta fremd, und sei es nur, weil Gesetze nicht von selbst herrschen können, sondern immer durch den Mund und die Handlungen der Menschen sprechen und wirksam werden. Nur die Abschaffung der Institutionen kann jede Möglichkeit einer sich als legitim darstellenden Willensaufdrängung abschaffen.72 Auch wenn durch die Abschaffung der Institutionen die Möglichkeit einer legitimen Willensaufdrängung verschwindet, so verschwindet damit noch nicht die Möglichkeit einer illegitimen Willensaufdrängung. Wenn die Hobbesschen Individuen im Naturzustand beschließen, sich dem legitimen Willen eines Souveräns zu unterwerfen, dann tun sie dies nur, weil sie darin die einzige Möglichkeit sehen, nicht mehr 71 Hier nähern sich Malatestas Gedanken denjenigen der sogenannten Republikaner, wie etwa Philip Pettit (siehe Pettit 1999 und 2001). Im Rahmen dieser Strömung der zeitgenössischen politischen Philosophie wird Freiheit wesentlich als Abwesenheit von Domination verstanden. Allerdings geht Malatesta weiter als Pettit, denn für den italienischen Anarchisten genügt es nicht, die „non-domination“ zu erreichen, sondern den Menschen muss deutlich gemacht werden, dass sie den Zustand der „non-domination“ nur solange aufrecht erhalten können, wie sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Und, zweiter Punkt, Malatesta plädiert für die Abschaffung des Staates, während Pettit eine „theory of freedom and government“ – Hervorhebung von mir – entwickelt, wie der Untertitel eines seiner wichtigsten Bücher lautet – in dem er, das sei nur nebenbei gesagt, nicht auf das Freiheitsideal der Anarchisten eingeht. 72 Otfried Höffe fasst es kurz und bündig zusammen: „Die Idee der Herrschaftsfreiheit löst das seit Platon entwickelte Ideal der gerechten Herrschaft ab“ (Höffe 1989, S. 195). Hatte man bisher immer nur versucht, das Adjektiv anders zu interpretieren, so kommt es Malatesta darauf an, die durch das Substantiv bezeichnete Wirklichkeit zu zerstören.

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dem illegitimen – oder zumindest alegitimen73 – Willen ihrer Mitmenschen unterworfen zu sein. Mag man Hobbes auch vielleicht vorwerfen können, dass die mit der letztgenannten Unterwerfung verbundene Gefahr ihn – vielleicht nicht ganz, so aber doch zum Teil – blind gemacht hat für die mit der Unterwerfung unter den Willen des Souveräns verbundenen Gefahr, so könnte man den liberalen Denkern, und mehr noch den anarchistischen Denkern vorwerfen, vergessen zu haben, dass nicht nur der Staat gefährlich sein kann, sondern auch die Mitmenschen. In einer staatenlosen Gemeinschaft wird man zwar nicht den Staat zu befürchten haben, aber die Furcht vor gewaltsamen Handlungen seitens seiner Mitmenschen wird noch weiter bestehen bleiben können bzw. ist es nicht auf den ersten Blick ersichtlich, wieso letztere automatisch mit der ersten verschwinden sollte. Merlino wird Malatesta unmittelbar mit dem Problem der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in einer anarchistischen Gemeinschaft konfrontieren, und damit die Gretchenfrage für den Anarchismus stellen: „Anarchist, wie hältst Du es mit der öffentlichen Sicherheit?“. Aus der Sicht Merlinos verfällt Malatesta einem nuancenlosen Denken der Extreme zum Opfer, so dass es für ihn nur noch zwei Möglichkeiten gibt: entweder keine kollektiv organisierte Sicherheitsbehörde mit Zwangsgewalt, oder eine Regierung klassischen Stils mit Zwangsgewalt (Malatesta/Merlino, S. 56). Weder Malatesta noch Merlino wollen diese zweite Option. Und die erste Option ist in den Augen Merlinos völlig utopisch, scheint sie doch vorauszusetzen, dass es in einer anarchistischen Gemeinschaft keiner Zwangsgewalt mehr bedarf. Aber wie kann man eine solche Voraussetzung machen, wenn man, wie es für Malatesta der Fall ist, nicht naiv an die völlige natürliche Güte der Menschen glaubt? Selbst wenn man davon ausgeht, dass es nach mehreren Generationen keiner solchen Zwangsgewalt mehr bedarf, so kann man nicht erwarten, dass die Menschen sich von heute auf morgen alle in brave Anarchisten verwandeln werden, die sich stets freiwillig an alle Abmachungen und Verträge halten werden, denen sie sich aus freien Stücken unterworfen haben. Für Merlino gilt, wie für Hobbes, dass man nie ganz ohne das Schwert auskommen kann, so dass die Frage nicht lautet, wie man ohne Autorität leben kann, sondern wie man die Autorität zu gestalten hat, damit sie keinen Schaden mehr anrichten kann. Malatesta ist sich bewusst, dass es nicht genügt, den Staat einer radikalen Kritik zu unterziehen, ohne sich gleichzeitig Gedanken darüber zu machen, wie das Leben der Menschen nach dem Verschwinden des Staates aussehen wird. Dabei sind zwei Szenarien zu unterscheiden. Im ersten Szenario, das auch der ersten Stufe der geschichtlichen Entwicklung entspricht, kündigen einige Individuen dem Staat den Gehorsam auf und ziehen sich irgendwo zurück, um dort ihr Leben frei zu organisieren. Sie hören dann auf, den Gesetzen unterworfen zu sein, zahlen keine Steuern mehr,

73 Im Naturzustand gibt es keine normativen Bestimmungen.

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nehmen auch nicht mehr die staatlichen Institutionen in Anspruch, wie etwa Schulen, Krankenhäuser, usw. Diese Menschen leben dann zwar nicht mehr im Staat, aber der Staat lebt noch weiter neben ihnen. Im zweiten Szenario ist der Staat tatsächlich verschwunden, und zwar nicht nur dieser oder jener Staat, sondern alle Staaten. Ob dieses zweite Szenario jemals Wirklichkeit wird, kann Malatesta nicht sagen, da er nicht davon ausgeht, dass sich dieser Zustand auf Grund von irgendwelchen geschichtlichen Gesetzmäßigkeiten durchsetzen wird. In diesem Punkt distanziert sich Malatesta nicht nur von Marx bzw. einer bestimmten, größtenteils durch Engels begünstigten deterministischen, um nicht zu sagen fatalistischen Deutung der Marxschen Theorie, sondern auch von anderen Anarchisten, wie etwa Kropotkin. In einem Artikel aus dem Jahr 1925 wirft Malatesta diesem vor, die menschliche Welt ganz nach dem Muster der natürlichen Welt gedacht zu haben, was ihn u.a. dazu geführt hat, die menschliche Welt deterministischen Gesetzen unterworfen zu haben (Malatesta 1998, S. 115). Ohne die Wichtigkeit der Naturwissenschaften zu leugnen, verweist Malatesta diese in ihre Grenzen. So etwa in einem Aufsatz aus dem Jahr 1924, in dem es heißt, dass die Wissenschaft „aufhört, wo die Fatalität endet und die Freiheit beginnt“ (Malatesta 1998, S. 109). Die Wissenschaft kann immer nur sagen was ist, nicht was sein soll. Als solche ist sie durchaus in der Lage die Anarchisten darüber aufzuklären, welche Mittel geeignet sind, um sich ihrem Ziel zu nähern, aber sie kann dieses Ziel nicht als ein sein sollendes begründen, und zwar schon gar nicht, indem sie diese Begründung in einem dem menschlichen Wollen übergeordneten unaufhaltsamen Gang der Geschichte sucht.74 Die Anarchie wird nur dann kommen, wenn die Menschen sie wollen. Und dass sie sie wollen ist keine Naturnotwendigkeit, sondern dieses Wollen der Anarchie muss in den Menschen gefördert werden. Und da dieses Wollen sowohl vom Glauben an die Wünschbarkeit als auch vom Glauben an die Möglichkeit der Anarchie abhängt, muss Malatesta zeigen, dass ein Leben ohne Zwangsgewalt nicht unbedingt die Form des Hobbesschen Naturzustandes annehmen muss. Diesen Naturzustand findet Malatesta übrigens nicht in einem hypothetischen vorstaatlichen Zustand der Menschheit, sondern in der durch den Staat geprägten Geschichte und Gegenwart. So schreibt er in einem Artikel aus dem Jahr 1920, dass man alles daran setzen muss, damit die Menschen sich nicht weiter wie Wölfe zerfleischen (Malatesta 1979, S. 284). Der Staat hat insofern seine Aufgabe – die Aufgabe, die ihm Hobbes, aber auch Locke und viele anderen politischen Denker zuschrieben – nicht erfüllt. Er ist vielmehr zu einem weiteren, aber viel mächtigeren

74 In einem Aufsatz aus dem Jahr 1887 hatte Kropotkin auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Entwicklung der Gesellschaft zu studieren, um aus ihr eine Entwicklungstendenz abzuleiten (Kropotkin 2002, S. 47).

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Wolf geworden bzw. zu einem Wolf, der sich in den Dienst bestimmter Wölfe gestellt hat. Wie kriegt man aber diese Wölfe dazu, ohne Staat in Frieden zu leben? Und noch allgemeiner: wie lässt sich ein geordnetes soziales Leben ohne Staat organisieren? Kleine Gruppen von Menschen können vielleicht ohne Autorität funktionieren75, nicht aber ganze Gesellschaften. Was soll demnach unmittelbar nach dem Verschwinden des Staates geschehen? Wer wird dafür sorgen, dass die Züge weiter fahren, dass die Grundnahrungsmittel weiter produziert und verkauft werden, dass alle anderen öffentlichen Dienste, wie etwa die Post, funktionieren? Der Staat ist zwar ein Unterdrückungsinstrument, aber er stellt auch Dienstleistungen zu verfügen. Besteht hier nicht das Risiko, dass man das Kind mit dem Badewasser ausschüttet? In einem Artikel aus dem Jahr 1922 wirft Malatesta das Problem auf und schließt jeden Zwang als Lösung aus bzw. schließt er jede Lösung aus, die sich durch Zwang durchsetzen könnte. Allerdings hat er, wie er in diesem Artikel selbst zugestehen muss, keine konkrete Lösung vorzuschlagen (Malatesta 1998, S. 67). Zum Glück hat er aber an anderen Stellen zumindest versucht anzudeuten, dass es sich nicht um ein unüberwindliches Problem handelt bzw. dass das Problem vielleicht nicht auftauchen wird. Den Rückgriff auf ein natürliches Harmonieprinzip, also auf eine Kraft, die unabhängig vom Willen und sogar vom Wissen der Menschen agiert und dafür sorgt, dass die Gesellschaft auch ohne Staat bzw. mit einem Minimalstaat funktioniert, schließt Malatesta als mögliche Lösung aus. Wenn überhaupt, dann muss es der bewusste Wille der Menschen sein, der die gesellschaftliche Ordnung ohne Staat ermöglicht. Wo ein solcher Wille fehlt, wo also die Menschen nicht bereit sind, ihr Leben selbst zu organisieren, kann es keine Anarchie geben. Malatesta sagt den Menschen nicht, dass die Anarchie und damit die ideale Gemeinschaft kommen wird, sondern er stellt sie vor die Tatsache, dass es von ihrem ureigenen Wollen abhängen wird, ob es jemals eine anarchistische Gemeinschaft geben wird. Insofern entzieht sich Malatesta zum Teil dem Vorwurf des naiven Utopismus. In seiner Kontroverse mit Merlino schreibt Malatesta, der Anarchist müsse „den Respekt der Freiheit und des Wohlergehens ganz stark spüren“ (Malatesta/Merlino, S. 51). Auch wenn Malatesta nicht, wie andere, den Menschen als ein fundamental gutes Wesen betrachtet, erkennt seine Anthropologie doch eine Dimension der Güte im Menschen an. Der Mensch trägt sowohl böse als auch gute Tendenzen in sich. Solange die bösen Tendenzen die Überhand behalten werden, kann die Anarchie sich nicht durchsetzen und sie kann auch nicht mittels des Zwangs durchgesetzt wer75 Während libertäre Denker der 60er und 70er Jahre auch die Familie als an sich autoritäre Institution abschaffen wollen, weist Malatesta auf die Wichtigkeit der Familie hin (Malatesta 1979, S. 53). Sie ist für ihn der Ort, an dem der Mensch sich uninteressiert dem anderen Menschen hingibt, also der Ort, an dem man Solidarität erlernen kann. Malatesta geht allerdings nicht weiter auf die Frage ein, wie sich die Autorität der Eltern gegenüber den Kindern auszudrücken hat.

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den, denn der Rückgriff auf Zwang ist eine Manifestation der bösen Tendenzen im Menschen und kann diese Tendenzen sogar noch verstärken. Malatesta kann nur, wie er es selbst sagt, hoffen, dass sich mit den gesamtgesellschaftlichen Veränderungen die guten Tendenzen im Menschen gegenüber den bösen durchsetzen werden (Malatesta/Merlino, S. 51). Die anthropologischen oder internen Bedingungen für die Anarchie „sind schon in den sozialen Instinkten der modernen Menschen“ angelegt (Malatesta/Merlino, S. 61). Man braucht demnach keinen neuen Menschen zu schaffen, um die Anarchie herzustellen, sondern man kann bei den real existierenden Menschen ansetzen. Indem man die Verhältnisse zwischen diesen Menschen ändert, schafft man die externen Bedingungen für die Möglichkeit der Anarchie. Dem Durchschnittsmenschen, der unter den gegebenen Bedingungen egoistisch handelt oder sein Schicksal anderen anvertraut, spricht Malatesta durchaus die Fähigkeit zu, zum idealen Menschen zu werden, also zum Menschen wie er sein muss, damit eine anarchistische Gemeinschaft funktioniert (Malatesta 1979, S. 403). In einem frühen Artikel aus dem Jahr 1894 führt Malatesta zwei mögliche Handlungsmotive an: die Pflicht und die Lust (Malatesta 1979, S. 27). Dabei behauptet er, dass die Menschen in einer anarchistischen Gemeinschaft sich nicht dazu verpflichtet fühlen werden, im Sinne des Wohlergehens anderer zu handeln, sondern dass ein solches altruistisches Handeln ihnen Lust bereiten wird, so dass sie ganz von sich aus altruistisch handeln werden. Im Gegensatz zu Kant, der das Motiv der Pflicht über alle bloß empirischen Motive stellt, legt Malatesta einen großen Wert auf eben solche empirischen Motive. So heißt es etwa in einem Programm, das Malatesta 1903 für amerikanische Anarchisten verfasst hat, dass man in den Menschen die Sympathie für Ihresgleichen hervorrufen muss, sowie die Begierde, zu deren Gunsten zu handeln (Malatesta 1979, S. 69). Malatesta erwähnt allerdings auch noch ein drittes Handlungsmotiv, und zwar das wohlverstandene Eigeninteresse. In einem Artikel aus dem Jahr 1920 schreibt er: „Der Wille eines jeden soll nicht durch die Macht eines anderen gezwungen werden, sondern er soll gemäßigt werden durch das Interesse, das alle haben, sich miteinander zu verständigen, sowie durch die natürlichen Gegebenheiten, die unabhängig vom menschlichen Willen sind“ (Malatesta 1979, S. 289). Malatesta geht hier davon aus, dass die Menschen einsehen werden, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, wenn sie ihre Probleme und Konflikte im Konsens lösen, anstatt auf Zwang zurückzugreifen. In einem Artikel aus dem Jahr 1920 lesen wir: „Wenn die Übereinstimmung nützlich und notwendig ist, wenn ohne eine Übereinstimmung das soziale, und damit auch das individuelle Leben unmöglich oder mühsam wird, dann wird der gesunde Menschenverstand, das Interesse, wenn nicht schon höhere Gründe, die Leute dazu bringen, sich miteinander zu verständigen“ (Malatesta 1979, S. 221). Was Kant von den Teufeln und dem Staat gesagt hatte, könnte Malatesta von denselben Teufeln und der Anarchie sagen, nämlich dass selbst eine Gruppe von Teufeln,

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vorausgesetzt sie erkennen ihr wohlverstandenes Eigeninteresse und handeln ihm gemäß, die Aufgabe lösen kann, eine anarchistische Gemeinschaft zu etablieren. Die schon einmal erwähnte Stelle, an der Malatesta behauptet, dass selbst die Reichen in einer anarchistischen Gemeinschaft glücklicher sein werden, spricht unmittelbar das Interesse der Reichen an – ob auf eine überzeugende Art und Weise, ist eine ganz andere Frage. Das wohlverstandene Eigeninteresse ist zwar kein hohes oder edles Handlungsmotiv, aber wenn man auf kein anderes zurückgreifen kann, dann ist es immer noch besser als nichts – eine mit Resignation verbundene Einsicht, die man auch bei Tocqueville wiederfindet. In einer der letzten Stellungnahmen in seiner Kontroverse mit Merlino, gibt Malatesta zu, dass die Anarchie in ihrer Anfangsphase alles andere als ein Eldorado sein wird (Malatesta/Merlino, S. 118).76 Die Menschen werden sich vor eine Situation gestellt sehen, die sie bislang noch nicht kannten. Malatesta kann ihnen nicht im Detail sagen, wie sie diese neue Situation meistern sollen. Er kann höchstens auf Probleme hinweisen und sagen, wie sie diese Probleme nicht lösen sollen, wenn sie weiterhin dem Prinzip der Anarchie treu bleiben wollen. Und das absolute Verbot gilt dem Zwang: alles ist erlaubt, nur nicht der Zwang. Aber was vom Erlaubten auch funktioniert bzw. was am Besten funktioniert, müssen die Menschen selbst erkunden. Insofern heißt es: „In einem gewissen Sinn ist die Anarchie das auf die Kunst des gesellschaftlichen Zusammenlebens angewandte experimentelle System“ (Malatesta/Merlino, S. 120). Und an einer anderen Stelle fordert er „für jeden die absolute Freiheit, denjenigen Modus des sozialen Lebens zu experimentieren, zu praktizieren und allmählich zu verändern, den er für den besten hält“ (Malatesta 1979, S. 40). Die Praxis, so heißt es in einem Artikel aus dem Jahr 1929, wird den Menschen beibringen, wie sie am besten mit dem bestehenden Reichtum umgehen sollen, wobei es kein überzeitliches Rezept gibt, sondern immer nur Lösungen, die für einen bestimmten Entwicklungsgrad und unter bestimmten Bedingungen optimal oder doch zumindest gut sind (Malatesta 1979, S. 381). Die genauen Spielregeln der Anarchie müssen die Betroffenen also selbst aufstellen, wobei sie sich der Methode des trial and error bedienen werden. Als Ausgangsbedingung gilt, dass es keine Regierung und kein Privateigentum an Produktionsmitteln mehr gibt. Jeder wird somit frei von jedem politischen und ökonomischen Druck sein. Allerdings werden alle einsehen, dass sie die bestehenden Produktionsmittel nur dann optimal ausnutzen können, wenn sie zusammenarbeiten. Diese Einsicht wird sie dazu führen, Vereinigungen zu gründen. Dies geschieht durch frei ein76 In einem Artikel aus dem Jahr 1900 weist Malatesta darauf hin, dass es auch einer anarchistischen Gemeinschaft nicht gelingen wird, das mit der Liebe verbundene Leiden aus der Welt zu schaffen (Malatesta 1979, S. 51). Auch in einer anarchistischen Gemeinschaft wird es vorkommen, dass sich eine Person in eine andere verliebt, ohne dass letztere diese Liebe teilt. Aber in einer anarchistischen Gemeinschaft wird es nicht mehr vorkommen, dass eine Person dazu gezwungen wird, sich mit einer Person zu verehelichen, die sie nicht liebt.

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gegangene Verträge, die aber nicht durch Zwang aufrecht erhalten werden. Wer sich nicht an den Vertrag hält, hört auf, Mitglied der Vereinigung zu sein. Der Ausschluss ersetzt also den Zwang. In vielen Fällen wird der Ausgeschlossene einsehen, dass es für ihn besser ist, mit den anderen zu kooperieren und sich an die Kooperationsregeln zu halten, und er wird dementsprechend versuchen, wieder integriert zu werden. Wer aber meint, dass es ihm besser geht, wenn er allein lebt, soll dies tun dürfen.77 Die Vereinigungen können sich unter sich verbünden und eine föderalistische Struktur bilden, eine Vereinigung von Vereinigungen. Jedes Mitglied einer solchen Föderation kann die Föderation zu jedem Zeitpunkt wieder verlassen. Die Kooperation soll nicht durch den Zwang einer zentralen Gewalt zustande gebracht werden, sondern sie soll sich aus dem reinen Sachzwang bzw. aus der Einsicht in diesen Sachzwang ergeben.78 In unmittelbarer Zukunft wird sich die Anarchie nicht weltweit durchsetzen und die anarchistischen Gemeinschaften werden sich, wo sie entstehen, Gegnern und Feinden ausgesetzt sehen.79 Die Anarchisten werden sich also verteidigen müssen. Hierzu schreibt Malatesta, dass man jedes Mitglied einer anarchistischen Gemeinschaft bewaffnen sollte, dass man aber niemanden dazu zwingen sollte, zu kämpfen (Malatesta/Merlino, S. 117). Und in derselben Polemik mit Merlino hatte er gemeint, es sei durchaus besser, alle zu bewaffnen, als nur eine Gruppe von Polizisten (Malatesta/Merlino, S. 61). Aus der Tatsache, dass es in einer anarchistischen Gemeinschaft kein staatliches Gewaltmonopol mehr geben kann, da es keinen Staat mehr gibt, und aus der Tatsache, dass die Mitglieder einer anarchistischen Gemeinschaft, zumindest noch in der absehbaren Zukunft, sich verteidigen werden müssen, schließt Malatesta, dass jeder Anarchist eine Waffe besitzen sollte, so dass jeder sich verteidigen kann, wenn versucht wird, ihm eine Entscheidung aufzuzwingen, die er nicht teilt. Wenn der Staat nicht mehr da ist, um den Einzelnen zu schützen, muss der Einzelne diesen Schutz selbst in die Hand nehmen bzw. sich mit anderen vereinigen, um einen freiwilligen Schutzbund zu gründen.

77 Hier bleiben aber viele Fragen offen. Bei bestimmten Gütern ist es schwer, den Einzelnen von ihrem Genuss auszuschließen. 78 Ein Sachzwang, der hier kurz angesprochen werden soll, betrifft die Delegation. Wenn man eine Föderation miteinander kooperierender Föderationen ins Auge fasst, lässt sich diese nicht ohne ein irgendwie geartetes Koordinationssystem denken. Und dass nicht jeder an den Koordinationsdiskussionen teilnehmen kann, leuchtet ein. Malatesta muss also zugeben, dass eine Vereinigung manchmal auf Repräsentanten zurückgreifen muss. Es ist dies schlicht ein Sachzwang, sobald man es mit größeren sozialen Entitäten zu tun hat. Um aber zu verhindern, dass sich hier eine neue Kaste herausbildet, fordert Malatesta, dass jeder Delegierte einem imperativen Mandat unterliegt, so dass er jederzeit von denjenigen abgesetzt werden kann, die ihn delegiert haben (Malatesta/Merlino, S. 110). 79 Der Weg zur Anarchie ist lang, heißt es in einem Artikel aus dem Jahr 1910 (Malatesta 1979, S. 58).

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Diese allgemeine Bewaffnung darf aber nicht als optimaler Zustand betrachtet werden80, sondern als provisorisches Übel. Das langfristige Ziel sollte eine Gemeinschaft aller Menschen sein, in welcher keine Waffen mehr nötig sind, da niemand mehr dazu neigen wird, Zwang über seinesgleichen auszuüben. Und hier drückt Malatesta nicht nur eine Hoffnung aus, sondern einen Glauben, und zwar den Glauben, dass die Menschen, wenn die Regierung und das Eigentum abgeschafft worden sind, nur noch friedliche Mittel zur Konfliktlösung gebrauchen werden. Bevor wir diesen vierten Teil unseres Beitrags abschließen und zur Schlussfolgerung übergehen, muss noch ein Wort über die anarchistische Parteiorganisation gesagt werden. An und für sich müsste die anarchistische Partei die zukünftige anarchistische Gemeinschaft vorwegnehmen. Es wäre nämlich schwer nachvollziehbar, wenn die Anarchisten ihr Zusammenleben in der Partei nach radikal anderen Prinzipien organisieren würden als das Zusammenleben der Menschen in der anarchistischen Gemeinschaft. In diesem Sinne scheint es uns gerechtfertigt, die Darstellung von Malatestas Gedanken zur Parteiorganisation in diesen vierten Teil zu integrieren. In der Frage nach der angemessenen Parteiorganisation muss Malatesta auf zwei Fronten kämpfen. Auf der einen Seite findet man diejenigen, die sich einer jeden Organisation versperren, da für sie Organisation und Autorität unzertrennlich sind. Ihnen gegenüber stehen diejenigen, denen die politische Wirksamkeit wichtiger ist als die Prinzipien, und die, weil sie politische Wirksamkeit und straffe Organisation miteinander verbinden, für eine autoritäre Parteiorganisation plädieren. Ich werde mich im Folgenden auf Malatestas Kampf gegen den radikal antiorganisatorischen Flügel der Anarchisten konzentrieren. Dass der Kampf gegen diesen Flügel sozusagen ein Dauerthema im Denken Malatestas ist, zeigt die Tatsache, dass Malatesta sowohl in einem Artikel aus dem Jahr 1897 (Malatesta 1979, S. 95) als auch in einem Artikel aus dem Jahr 1927 (ebd., S. 105) auf die Notwendigkeit einer Organisation hinweist. Der Mensch ist ein soziales Wesen und kann seine Ziele nicht in der Einsamkeit erreichen. Er muss sich also mit anderen zusammentun, um mit ihnen gemeinsam nach dem Ziel zu streben. Das Ziel können die Menschen nur erreichen, wenn sie ihre Kräfte organisieren. Insofern ist die Frage nicht, ob der Mensch eine Organisation braucht, sondern wie diese Organisation zustande kommen soll bzw. wie sie aussehen soll. Für Malatesta gibt es nur drei Möglichkeiten: die Versklavung, der Autoritarismus, die freie Vereinigung (ebd., S. 93). Für einen Anarchisten kommt nur die dritte Möglichkeit in Frage, und zwar sowohl was die zukünftige Gemeinschaft betrifft, als auch was die Par80 In einer anarchistischen Gemeinschaft wird es weder ein verfassungsmäßig begründetes Recht geben, Waffen zu tragen, noch ein verfassungsmäßig begründetes Verbot, Waffen zu tragen. Man solle alle Menschen bewaffnen, bis man sich aller Waffen entledigen kann, schreibt Malatesta in einem Artikel aus dem Jahr 1924 (Malatesta 1979, S. 376).

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tei angeht. Die anarchistische Partei bedarf einer Organisation, aber diese darf keine autoritären Züge haben – als abschreckendes Beispiel dient hier die bolschewistische Partei (ebd., S. 121). Malatesta gibt sogar zu verstehen, dass es nicht wünschenswert wäre, wenn alle Anarchisten nur eine einzige Bewegung bilden würden (ebd., S. 110). Wichtig ist für ihn, dass die Mitglieder einer anarchistischen Partei sich dieser Partei und den durch diese Partei getragenen Ideen frei anschließen können, und dass es innerhalb der Partei auch eine freie Diskussion dieser Ideen gibt. Wenn eine solche Partei ein Programm hat – und Malatesta hat ein Parteiprogramm für die amerikanischen Anarchisten verfasst –, dann sollte dieses Programm nicht als das letzte oder als das heilige Wort betrachtet werden. Wenn also die Anarchisten ihre Gedanken unter den Arbeitern verbreiten wollen, müssen sie ihre Handlungen koordinieren. Diese Koordination sollte aber nicht einem unantastbaren Zentralkomitee überlassen werden, sondern sie sollte das Werk der einzelnen Parteimitglieder sein. Genauso wie die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann, kann die Koordination der Parteiaktivitäten nur das Werk der Parteimitglieder selbst sein. Letzten Endes hängt also alles von der Einsicht und vom Willen der Menschen ab. Eine anarchistische Partei wird nur solange ihrem Ideal gerecht werden, wie ihre Mitglieder sich nicht vor der Mühe scheuen, die jede Koordination mit sich bringt, und solange diese Mitglieder einsehen werden, dass es manchmal vernünftig sein kann, sich dem Willen einer Mehrzahl zu unterwerfen, nicht, weil sie die Mehrzahl ist oder weil sie unbedingt immer recht hat, sondern weil es notwendig ist, um handlungsfähig zu bleiben.

Schlussfolgerung Auch wenn man die radikale Freiheitsauffassung des Anarchismus als utopisch verwirft, sollte man sich doch fragen, ob man sie als solche verwerfen sollte, oder lediglich in der spezifischen Modalität, die man ihr in den meisten anarchistischen Theorien gibt. Die Anarchisten haben nämlich ein konstitutives Verständnis ihres radikalen Freiheitsbegriffs, d.h. sie glauben, dass sich eine Gemeinschaft gemäß diesem Prinzip organisieren lässt. Die Frage ist lediglich, wann der Zeitpunkt kommen wird, in dem sich eine menschliche Gemeinschaft tatsächlich, also in der Geschichte, ohne Staat und ohne Autorität konstituieren lässt. In diesem Punkt stimmen die Anarchisten mit den Marxisten überein, die auch davon ausgehen, dass die kommunistische Gesellschaft sich eines Tages in der Geschichte realisieren lässt. Der Unterschied ist allerdings, dass die Marxisten den Rückgriff auf Zwang zur Verwirklichung ihres Ideals nicht nur nicht ausschließen, sondern als notwendiges Moment ansehen. Die Anarchisten ihrerseits schließen den Rückgriff auf Zwang nicht nur als

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notwendiges Moment aus, sondern lehnen den Zwang auch als solchen ab. Wenn überhaupt, ist Gewalt für sie immer nur als Gegengewalt legitimierbar. Anstatt das anarchistische Freiheitsideal als konstitutives Ideal zu betrachten, sollte man, so mein Vorschlag, es vielmehr im regulativen Modus verstehen, als ein Ziel, dem man sich zwar ständig annähern kann, das man aber niemals ganz erreichen wird. Das anarchistische Freiheitsideal kann somit als geschichtsübergreifendes kritisches Instrument erhalten bleiben, und zwar als ein Instrument, mittels dessen man seine eigene Instrumentalisierung und auch Implementierung kritisieren kann. In einem Artikel aus dem Jahr 1925 beschreibt Malatesta die Anarchie als die absolute Vollkommenheit und sagt, dass man sich ihr graduell annähern soll (Malatesta 1998, S. 26). Hätte er hinzugefügt, dass diese graduelle Annäherung niemals ihr Ziel erreichen wird und somit stets Platz lassen wird für eine Kritik der bestehenden Verhältnisse im Namen der Freiheit, dann hätte er die hier vertretene regulative Auffassung des radikalen Freiheitsbegriffs exemplifiziert.

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Martin Beckstein Giovanni Gentiles nichtidealtheoretischer Rechtfertigungsversuch des Faschismus

In der Geschichte des italienischen Staatsdenkens nimmt Giovanni Gentile eine unrühmliche Stellung ein. Der sizilianische Philosoph stellte seine intellektuelle Schaffenskraft in den Dienst Mussolinis. Mit seinen Schriften zum Faschismus stattete er dessen Regime mit einer offiziellen Selbstbeschreibung aus und erwarb sich in der Folge den Ruf, der Philosoph des Faschismus zu sein. Allerdings kann Gentiles Philosophie nicht auf eine Apologie des Faschismus reduziert werden. Tatsächlich lag Gentiles Hauptaugenmerk, ehe er sich Anfang der 1920er Jahre Mussolinis Regime anschloss, auf der Ausprägung einer radikalkonstruktivistischen Subjektphilosophie – dem sogenannten (idealistischen) Aktualismus – deren politiktheoretische Implikationen keineswegs offensichtlich sind. Eine differenzierte Darstellung von Gentiles Staatsdenken muss diese politiktheoretischen Implikationen identifizieren und eruieren, inwiefern sie Gentile zur späteren Legitimation des Faschismus verhalfen oder zumindest motiviert haben mochten. Indem der vorliegende Beitrag inhaltlichen Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Gentiles Staatsdenken nachspürt, versucht er eine Antwort auf die Frage zu finden, ob Gentiles Parteinahme für den Faschismus aus theoretischer Hinsicht konsequent war. Psychologische Einsichten sollen dagegen nicht gewonnen werden. Der Beitrag bleibt deshalb agnostisch im Hinblick auf die biographisch relevante Frage, ob Gentile, der philosophische Aktualist, aus Überzeugung, Opportunismus oder Verwirrung zum politischen Faschisten wurde und es bis zu seiner Ermordung im April 1944 blieb.1

1 Die vorliegende Untersuchung baut auf meinem Aufsatz ‚Giovanni Gentile und die „Faschistisierung“ des Aktualismus. Zur Deformation einer idealistischen Philosophie’ (Beckstein 2008) auf und bekräftigt im Wesentlichen die dort begründete These. Vermittelt über Amatos (2011) und Wakefields (2015a, 2015b) zwischenzeitlich erschienene Studien, wird allerdings größeres Gewicht auf Gentiles Moralphilosophie gelegt. Darüber hinaus konstruiert der fünfte Abschnitt ein nichtidealtheoretisches Argument, mit dem Gentile seine Parteinahme für den Faschismus auf der Grundlage des Aktualismus möglicherweise zu rechtfertigen hoffte. Von der Untersuchung ausgeklammert werden Gentiles pädagogische Schriften, inklusive jener, die er im Zuge seiner großangelegten Erziehungsreform als Minister in Mussolinis Kabinett anfertigte. In ihnen spiegeln sich im Wesentlichen die Spannungen wider, die auch für das Verhältnis seiner Aktualismus- und Faschismuskonzeption charakteristisch sind. Für einen Überblick siehe Charnitzky (1996, Kap. 2).

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Zu diesem Zweck werden in einem ersten Schritt grundlegende Charakteristika von Gentiles Faschismusverständnis skizziert, die aus kontextueller Hinsicht am spezifischsten sind. Im zweiten Schritt wendet sich die Untersuchung insbesondere der moralphilosophischen Dimension des aktualistischen Frühwerks zu. Im Anschluss werden die politiktheoretischen Schlussfolgerungen analysiert, die Gentile aus den aktualistischen Grundlagen ab dem Ersten Weltkrieg zieht und auf den Begriff des totalen ethischen Staats bringt. Der vierte Abschnitt zeigt, dass das aktualistische Konzept des totalen ethischen Staats in Gentiles Schriften sukzessive zu einem faschistischen Konzept des totalen Staats deformiert wird. Es erweist sich also, dass der Aktualismus das faschistische Politikverständnis trotz terminologischer Überschneidungen und theoretischer Strukturähnlichkeiten nicht fundiert. Allerdings verweisen die politiktheoretischen Implikationen des Aktualismus auf ein dezidiert utopisches Staatsmodell. Womöglich meinte Gentile, diesem unerreichbaren Ideal komme in der Realität ein auf systematischer Indoktrination basierendes, autokratisches Regime mit einem charismatischen Führer näher als alle anderen politischen Ordnungsformen. Im letzten Schritt wird deshalb die Frage aufgeworfen, ob ein staatlich organisierter Faschismus aus aktualistischer Sicht als das kleinstmögliche Übel begriffen werden muss.

1. Gentiles faschistisches Staatsverständnis 1922 wurde Gentile Erziehungsminister in Mussolinis Kabinett. Am Marsch auf Rom hatte er nicht teilgenommen. In den Partito Nazionale Fascista (PNF) trat er ein Jahr nach Amtsantritt ein. 1925 verfasste er das Manifesto degli intellettuali fascisti (‚Manifest der faschistischen Intellektuellen’). Anfang der 1930er Jahre wurde er von Mussolini beauftragt, den theoretischen Teil der offiziellen Selbstbeschreibung des Regimes, die Dottrina del fascismo (‚Die Lehre des Faschismus’), zu verfassen. Gentile tat dies auch, indem er im Grunde seine Schrift Origini e dottrina del fascismo (‚Grundlagen des Faschismus’) zusammenfasste. Daneben gibt es weitere kleinere Schriften, die in der Aufsatzsammlung Che cos’è il fascismo? (‚Was ist der Faschismus?’) enthalten sind. Bei der Auswertung dieser Texte muss stets beachtet werden, dass sie ebenso propagandistischen Zwecken wie der innerparteilichen Positionierung dienten. Von Beginn an rang Gentile um Deutungshoheit mit anderen Ideologen wie Giuseppe Attilio Fanelli, Sergio Panunzio oder Alfredo Rocco, die ihm so unterschiedliche Vorwürfe machten, wie dass er einen praxisfernen Intellektualismus, einen reaktionären Neoliberalismus oder aber eine Spielart des Bolschewismus vertrete (vgl. De Felice 1965, S. XXII; Gregor 2001, S. 48; Romano 2004, S. 356).

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Wohl auch an innerparteiliche Kritiker adressiert, hebt Gentile als erstes Charakteristikum des Faschismus hervor, dass er kein vergeistigtes Projekt sei. Der Faschismus sei seinem Wesen nach eine ‚Philosophie der Praxis’ (Gentile 1936 [1929], S. 59). Statt eine ‚ausgebaute und definitive politische Doktrin, die in einer Serie von Formeln niedergelegt ist’, bereitzustellen, artikuliere er eine ‚politische Methode’, die Thesen ‚Mal für Mal’ annehme (ebenda, S. 33, 38). Indem der Faschismus das politische Handeln auf das Prinzip der ‚praktischen Opportunität’ verpflichte, verhelfe er dem Staat zu einem ‚offenen, dynamischer Entwicklung fähigen System’ (ebenda, S. 36, 38). Diesen, von Hermann Heller (Heller 1931, S. 42) treffend auf den Begriff der ‚programmatische[n] Programmlosigkeit’ gebrachten Ansatz, stattet Gentile mit einem totalitären Anspruch auf Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens aus. Einerseits könne der Staat keine politischen, moralischen oder religiösen Autoritäten neben sich dulden (wie etwa die katholische Kirche).2 Andererseits gehe es in der Politik nicht nur um die Umgestaltung der institutionellen Ordnung. Vielmehr müsse Politik die ‚Nation [...], ihren ganzen Willen, ihr Denken, ihr Fühlen’ (Gentile 1936 [1929], S. 32) durchdringen. ‚Politik’, schreibt Gentile, ‚macht man nicht nur, indem man Gesetze erlässt, neue Einrichtungen schafft und Schlachten gewinnt, sondern auch (und gerade dadurch) indem man neue Geisteszustände, neue Ideen entwickelt, kurz, indem man neue Menschen formt’ (ebenda, S. 67). Zur Erreichung dieses ambitionierten Ziels kommt der Erziehung selbstredend eine zentrale Rolle zu. Sie müsse ab der ‚zartesten Kindheit [...] vom Faschismus inspiriert und geleitet’ (ebenda, S. 55) sein. Erster Lerninhalt bestehe darin, ‚den Befehlen des Duce militärisch Folge zu leisten’ (ebenda). Der Duce habe sich schließlich schon vor der Machtübernahme dadurch ausgezeichnet, dass er ‚gleichsam von Gott gezeichnet, unermüdlich und unfehlbar [...] für alle sprach’ (ebenda, S. 50, 24). Mittelbar müssten die Individuen dazu gebracht werden, aus innerer Überzeugung zu folgen; zu erkennen, dass der Staat ‚die einzig wahre Realität des Individuums’ (Gentile 1984 [1932], S. 207) darstelle und die Partei ‚keine Faktion’, sondern ‚der potentielle Staat selbst: Programm von universellem Interesse’ sei (Gentile 1936 [1929], S. 74–5). Aus heutiger Sicht überrascht es auf dieser Grundlage nicht wenig, dass Gentile einen derart gestalteten Staat als ‚ausgesprochen demokratisch’ (ebenda, S. 43) beschreibt, der eine ‚deutliche Vervollkommnung des Repräsentativsystems’ (ebenda, S. 61) mit sich bringe und die liberale Idee in ihrer reifsten und kohärentesten Form realisiere (Gentile 1925, S. xxi). Gerade Gentiles Behauptung, der faschistische 2 Gentile 1936 [1929], S. 48. Gentile spielt u.a. auf den Vatikan an, mit dem die faschistische Staatsautorität, nach Gentiles Vorstellung, keine Verträge zu schließen oder Kompromisse einzugehen bereit sein darf. Mussolinis Lateranverträge von 1929 stellten für Gentile eine herbe Enttäuschung – und politische Niederlage im parteiinternen Machtkampf – dar. Vgl. Betti/Rovigatti (1977, S. 908).

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Staat breche nicht mit dem Liberalismus, ist bemerkenswert. Von marxistischer Seite mochte im politischen Diskurs der 1920er und 1930er Jahre, in vereinfachender und mitunter polemischer Absicht, eine (inhaltliche wie kausale) Kontinuität zwischen Liberalismus und Faschismus behauptet werden (Breschi 2012). Parteiinterne Rivalen Gentiles konnten dieser These aber für gewöhnlich ebenso wenig abgewinnen wie liberale Kritiker. Zwar wurde das Projekt der nationalen Einigung, das liberale Kräfte im 19. Jahrhundert nicht unwesentlich verfolgten, von faschistischer Seite vereinnahmt, gleiches galt jedoch sicher nicht für liberale Werte wie individuelle Autonomie. Für Mussolinis Justizminister etwa, den bereits erwähnten Alfredo Rocco, lebten diese im faschistischen Staat nur noch insofern weiter, als dass er Freiheiten gewähre, wenn es für ihn nützlich ist (Rocco 1927, S. 16). Gentile dagegen betonte gar gegenüber Mussolini, eine liberale Gesinnung sei der Beweggrund zu seinem Parteibeitritt gewesen: „Liberal aus tiefer und fester Überzeugung […], musste ich mir eingestehen, dass der Liberalismus der Freiheit im Gesetz, und damit im starken Staat, und dem Staat, verstanden als ethische Realität, heute nicht mehr von den Liberalen in Italien vertreten wird [...] sondern eben von Ihnen. Und deshalb bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass sich ein echter Liberaler […] auf Ihre Seite schlagen muss.“ (Gentile 1989a [1923], S. 94–5)

Die Eigentümlichkeit von Gentiles Faschismusverständnis motiviert eine detaillierte Betrachtung seines präfaschistischen intellektuellen Schaffens. Durch die Rekonstruktion der moralphilosophischen Dimension seines hauptsächlich in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelten philosophischen Systems kann eruiert werden, inwiefern Gentiles faschistisches Staatsdenken in einer tieferen Logik gründet. Konkret muss untersucht werden, ob die drei Charakteristika von Gentiles faschistischem Staatsverständnis – die Programmlosigkeit, der totalitäre Gestaltungsanspruch des Staates sowie die systematische Unterordnung des Einzelnen – im Aktualismus als angelegt gelten müssen, und in welchem Sinne der Einzelne dennoch als frei und selbstbestimmt gelten soll.

2. Die aktualistische ‚Ethik des Wissens’ Ab der Jahrhundertwende arbeitete Gentile intensiv an der Entwicklung einer maximal voraussetzungsarmen Metaphysik. Ob die Existenz einer göttlichen Instanz, einer platonischen Ideenwelt oder einer materialistischen Natur – stets hätte man in der Geschichte der Philosophie Instanzen angenommen, die dem menschlichen Denken vorausgehen und damit postuliert werden müssen. Wenn man dagegen den Akt des Denkens selbst als Ausgangspunkt wählt, argumentiert Gentile, lasse sich eine rein immanente Philosophie ausprägen (Gentile 2003b [1916], S. 216). Genauer gesagt, solle ein rein immanentes Philosophieren möglich werden. Denn vorausset-

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zungslos sei nur die je gegenwärtig vonstattengehende Reflexion, das denkende Denken (pensiero pensante), nicht etwa das einmal gedachte Denken (pensiero pensato). Nur das konkrete Denken als die permanente Tätigkeit des Bewusstseins kann vom denkenden Subjekt nicht bezweifelt werden. Im Denkakt – deshalb die Bezeichnung ‚Aktualismus’ – würden dementsprechend Subjekt und Objekt gleichzeitig gesetzt, das ‚Ich’ und die Gegenstände der Reflexion also nicht eigentlich erkannt, sondern als Abstraktionen konstruiert. Der Aktualismus beansprucht das menschliche Denken aus transzendenten Zusammenhängen zu befreien und den Menschen als aktive schöpferische Persönlichkeit ernst zu nehmen (ebenda, S. 188). Doch zunächst droht der Aktualismus in einem relativistischen Solipsismus zu münden. Der Ansatz scheint nahe zu legen, dass das, was das Individuum gerade für wahr hält, auch wahr sein muss. Zudem mutet der Aktualismus relativistisch an. Nicht nur scheinen traditionelle Werte diesem Ansatz zufolge kaum verbindlich zu sein, da ihnen als gedachtem Denken kein normatives Gewicht zufällt; jeglicher Form von gemeinschaftlichen Normen scheint die Grundlage entzogen, weil jedem Einzelnen sein eigenes aktuales Denken als Maßstab für Gut und Böse dienen muss. Durch die Spezifikation des Aktualismus mittels einer ‚Ethik des Wissens’ (etica del sapere) beansprucht Gentile beiden Aporien zu entgehen (siehe hierzu insb. Wakefield 2015a und Wakefield 2015b, Kap. 3). Einerseits gibt Gentile zu bedenken, dass das denkende Subjekt davon ausgehen müsse, nicht alles zu wissen und manche gerade geglaubten Ansichten zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr für richtig zu halten (ebenso wie es sich erinnern mag, früher andere Sichtweisen vertreten zu haben). Außerdem müsse es annehmen, dass es nicht alleine ist und die Ansichten und Interessen anderer nicht zwangsläufig mit den eigenen übereinstimmen. Andererseits betont Gentile, dass der Mensch eigentlich ein gesellschaftliches Wesen ist. Zwar habe jede und jeder seine eigenen Gedanken, ein eigenes Leben und eine eigene Identität, doch finde man sich schon immer in gesellschaftliche Kontexte eingebettet und begegne dort den Gedanken anderer. Diese Gedanken seien zwar nicht Bestandteil des eigenen Denkens, doch könne man sie rekonstruieren und dies sei auch nötig, um die eigenen Ansichten und das eigene Handeln vor sich selbst zu rechtfertigen. Das Subjekt muss also die eigenen Ansichten evaluieren, indem es die eigenen Gedanken abstrakt betrachtet, gleich so, als wären sie die Gedanken anderer und mit jenen vergleichen, die ihm tatsächlich von anderen (oder aus Büchern) herangetragen wurden. Das ständige Bemühen um Selbstkorrektur und darum, ‚so gut wie möglich zu denken’ (Gentile 1975 [1946], S. 44), stellt eine zentrale moralische Pflicht des Menschen gemäß Gentile dar. Das aktualistische Streben nach Selbstkorrektur wird vervollständigt durch einen ‚internen Dialog’ (Gentile 1922 [1917], S. 97; siehe auch Gentile 1975 [1946], S. 33–43; vgl. Amato 2011, S. 95–98; Wakefield 2015b, S. 78–79), in dem das Subjekt sein auf Eigeninteressen zentriertes Ich mit dem ‚Socius’ – einem idealisierten

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Alter Ego – konfrontiert. Der Socius mag die Gesellschaft als Ganzes repräsentieren, jene, mit denen sich das Subjekt emotional verbunden fühlt, Gott oder den Staat. Entscheidend ist, dass das Subjekt durch diesen Dialog danach strebt, die eigene Partikularität zu überwinden, um die bestmögliche Antwort auf die Frage ‚Was soll ich tun?’ zu erlangen. Schritt für Schritt soll sich der oder die Einzelne dementsprechend vom partikulären Wollen (volere particolare) zu einem Handeln entsprechend der Vorgaben des (niemals völlig erkennbaren) allgemeinen Wollens (volere universale) emporarbeiten: „Wir universalisieren uns, doch im Kern der Universalisierung, die schließlich Negierung unserer Individualität bedeutet, müssen wir unsere Individualität wiederentdecken. [...] Im Charakter meiner Familie, des Staates, dem ich angehöre, der Menschheit, des Geistes, dessen immanente Realität ich in meinem Willen erfasse, in meinem Streben nach besserem Verständnis, wird meine Personalität nicht unterdrückt, sondern erhöht, erweitert und bestärkt.“ (Gentile 1957 [1920], S. 81)

Der Aktualismus erweist sich als radikaler Konstruktivismus, der auch heute noch durchaus beachtenswert ist (siehe hierzu Wakefield 2015b, Kap. 5–7). Er basiert auf minimalen Voraussetzungen (neben dem Denkakt selbst geht Gentile davon aus, dass das denkende Subjekt kein Soziopath ist) und kollabiert nicht in einem relativistischen Solipsismus. Ohne externen Moralvorstellungen a priori autoritatives Gewicht zusprechen zu müssen zeigt er, wie wir moralisch autonom sein und uns dennoch selbst disziplinieren können, wie Einzelne also die Partikularität ihres subjektivistischen Standpunkts überwinden und Gemeinsinn entwickeln können. Und während traditionelle Werte also in der Tat nicht als per se verbindlich erachtet werden können, mag der oder die Einzelne mithilfe kritischer Selbstreflexion durchaus zu deren Bejahung gelangen. Unmoralisch (und unfrei) sind in erster Linie jene, die nicht in den internen Dialog eintreten und sich so intensiv wie möglich mit anderen Standpunkten als dem eigenen auseinandersetzen. Ob Gentiles faschistisches Staatsverständnis im Aktualismus angelegt ist, erweist sich bis hierhin noch nicht eindeutig. Einige strukturelle Ähnlichkeiten sind sicherlich auffällig, etwa, dass Gentile den Aktualismus ebenso als rein formalistische (philosophische) Methode beschreibt (Gentile 1991 [1912], S. 350), wie er den Faschismus als (politische) Methode ausgibt. Auch lässt die Bestimmung des Menschen als gesellschaftlichem Lebewesen aufhorchen, zumal sie mit der Forderung nach Universalisierung und einem Handeln entsprechend des allgemeinen Wollens einhergeht. Andererseits scheint der aktualistische Pfad der Überwindung des partikulären Standpunktes nur einen ‚bottom-up’ Ansatz der Selbstkultivierung zuzulassen, der den liberalen Wert der individuellen Autonomie durchaus einzulösen verspricht. Der faschistische Staat will hingegen in ‚top-down’ Manier gleichschalten. Die folgenden beiden Abschnitte zeigen, wie Gentile diese Spannungen unter dem

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Begriff des ‚totalen (ethischen) Staats’ zu versöhnen hofft – und weshalb er damit scheitert.

3. Vom ethischen Staat zum totalen ethischen Staat In den 1916 erschienenen Fondamenti della filosofia del diritto (‚Grundlegung der Rechtsphilosophie’) befasste Gentile sich erstmals mit der politiktheoretischen Relevanz des Aktualismus, wobei erst der dritten, erweiterten Ausgabe von 1937 Kapitel über Staat und Politik eingefügt sind. Kurz vor seiner Ermordung stellte Gentile schließlich innerhalb weniger Wochen sein politiktheoretisches Hauptwerk, Genesi e struttura della società (‚Genese und Struktur der Gesellschaft’) zusammen. Als Referenzpunkt dient Gentile stets Hegel, dessen einziger Fehler aus Gentiles Sicht darin bestand, die Theorie des Staats als Verkörperung der Sittlichkeit nicht konsequent zu Ende gedacht zu haben: Hegels Konzept des ethischen Staats müsse zu einem Konzept des totalen ethischen Staats erweitert werden. Zunächst folgt Gentile Hegel in der Zurückweisung von Naturrechts- und Vertragstheorien. Erstere würden normative Grundlagen voraussetzen, die unabhängig vom aktualen Denkakt gelten und das denkende Subjekt somit durch eine transzendente Realität limitieren. Letztere würden entweder in ähnlicher Weise Rechte und Gesetze bestimmen, auf die sich die Individuen zum Zweck einer stabilen Gesellschaftsordnung einigen müssen oder sie nähmen das partikuläre Wollen (in Form von rationalen Eigeninteressen) als legitimen Maßstab der vertraglichen Übereinkunft. Der vertragstheoretische Staat sei ein seelenloses Aggregat von atomistisch verstandenen Individuen, die in keiner notwendigen Verbindung zueinander stünden. Die Autonomie des denkenden Subjekts würde nicht zuletzt dadurch verletzt, dass der konstruktive Prozess der Normengenerierung im Wesentlichen auf den Moment der Staatsgründung reduziert sei (Gentile 2003a [1916], S. 103–106). Hegels Errungenschaft ist es, aus Gentiles Sicht, das Individuum mit dem Staat in Einklang gebracht zu haben, indem er einerseits das Individuum als gesellschaftliches Wesen erkannt und den Staat als Manifestation des ethischen Lebens konzipiert habe. Hegel folgend lasse sich der Staat als Inkarnation des allgemeinen Wollens denken. Die Rolle des Staates sei es dementsprechend, den Einzelnen in seiner Universalität zu repräsentieren (Gentile 1975 [1946], S. 67). Allerdings habe Hegel den Staat in mehrerlei Hinsicht beschränkt und wenn der Staat das allgemeine Wollen (bzw. die Sittlichkeit) verkörpern solle, dann dürfe er nicht beschränkt werden. Eine erste illegitime Restriktion des ethischen Staats sei, dass Hegel den Staat mit dem objektiven Geist identifiziert, und damit auf einer Stufe zwischen subjektivem und absolutem Geist lokalisiert (Gentile 2003a [1916], S. 118f.). Aus aktualistischer Sicht ist die Dreiteilung des Geistes in einen subjektiven, objektiven und absoluten

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in der Tat nicht angezeigt. Im Denkakt konstruiert das denkende Subjekt schließlich sich und die Objekte der Betrachtung gleichzeitig. Ein absoluter Geist, der den konkreten Denkakt des Individuums transzendiert, logisch also unabhängig davon ist, entspricht einer jener unbegründeten Voraussetzungen, ohne die der Aktualismus als einer rein immanenten Erkenntnistheorie auszukommen hofft (vgl. Rinaldi 1994, S. 357). Als eine weitere illegitime Restriktion des ethischen Staates erachtet Gentile die Rolle, die Hegel der Familie und der Zivilgesellschaft zuerkennt (vgl. Wakefield 2015b, S. 102f.). Sowohl Familie als auch Zivilgesellschaft betrachte Hegel als vom Staat unterschieden und in einer gewissen Opposition zu diesem stehend. Familie und Zivilgesellschaft könnten im ethischen Leben aber keine vom Staat unterschiedliche Rolle spielen, da dies bedeuten würde, dass der Einzelne eine dreifache Identität und einen dreifachen (nichtpartikulären) Willen haben müsste. Das allgemeine Wollen, zu dem sich das denkende Subjekt im internen Dialog empor zu hangeln bemühen soll, muss aber eins und ungeteilt sein. Familie, Zivilgesellschaft und Staat ließen sich deshalb nur empirisch unterscheiden und könnten keine unterschiedlichen ethischen Ansprüche generieren: „In der spirituellen Aktualität ist die Familie der Staat und der Staat ist die Familie. [...] Und in der effektiven menschlichen Wirklichkeit gibt es kein ökonomisches Handeln, das nicht ethisch und also politisch ist; es gibt keine Zivilgesellschaft, die nicht auch Staat ist.“ (Gentile 2003a [1916], S. 120)

4. Vom totalen ethischen Staat zum totalen Staat Angesichts der Identifikation des allgemeinen Wollens als moralischem Maßstab mit dem Staat scheint der Aktualismus nur noch einen kleinen Schritt von Gentiles Faschismusverständnis entfernt zu sein. In Genesi e struttura della società wird dieser letzte Schritt vollzogen: Gentile verortet das allgemeine Wollen in der Gesetzgebung eines Staats (Gentile 1975 [1946], S. 59). Wenn das Telos individueller moralischer Reflexion im allgemeinen Wollen besteht, selbiges aber in der empirischen Rechtsetzung artikuliert ist, dann lädt man nicht erst durch den Verstoß gegen geltende Gesetze Schuld auf sich; es reicht, wenn man anderer Meinung ist. Im Hinblick auf die außenpolitische Relevanz seines philosophischen Systems schließt Gentile, dass andere Staaten notwendigerweise als dem eigenen antagonistisch gegenübergestellt zu betrachten sind, und dass die Staaten untereinander diesen Antagonismus gegebenenfalls auch mit kriegerischen Mitteln zu überkommen suchen müssten (ebenda, S. 103–105). In seinem Spätwerk vollzieht also Gentile den letzten Schritt hin zur theoretischen Begründung des Faschismus. Besser gesagt, Gentile erzwingt ihn, denn im

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Aktualismus vorgezeichnet ist er mitnichten. Abgesehen davon, dass unersichtlich ist, weshalb internationale Beziehungen überhaupt relevant für das ethische Innenleben eines Staates sein sollten (vgl. Wakefield 2015b, S. 108), gelangt Gentile nur zur Unterordnung des Individuums unter die staatliche Gesetzgebung, indem er das Konzept des totalen ethischen Staats in tatsächlich existierenden Staaten als realisiert postuliert. Dieser definitorische Willkürakt muss in aller Klarheit hervorgehoben werden: Es spricht nichts Grundsätzliches dagegen, das allgemeine Wollen, dem das denkende Subjekt im internen Dialog entgegenzustreben hat, um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, was getan werden soll, ‚Staat’ zu nennen. Und insofern der interne Dialog eine Methode ist, um von rationalen Eigeninteressen sowie subjektiven Ansichten durch die Miteinbeziehung alternativer Standpunkte zu einem gemeinsinnigen Urteil hin zu gelangen, fällt der Zugehörigkeit zu partikulären Gemeinschaftsformen, wie etwa der eigenen Familie, tatsächlich kein normatives Gewicht zu. Die Verbindung des Aktualismus mit einer politischen Theorie des totalen ethischen Staates mutet also nicht inkonsistent an. Doch es gibt keinen Grund, diesen totalen ethischen Staat in dem gegenwärtig Etablierten, d.h. der faktisch vorhandenen politischen Ordnung, manifestiert zu sehen. Vielmehr müsste aus aktualistischer Sicht der totale ethische Staat als konzeptuelles Korrektiv für die empirische Gesetzgebung fungieren. Wie Solari (vgl. Scarpelli 1954) richtig feststellt, wäre die Schlussfolgerung konsequent, dass das wohlbegründete Urteil eines einzelnen Menschen ausreicht, um vorhandenen Gesetzen die moralische Gültigkeit abzusprechen. Bezeichnenderweise hatte Gentile noch in den Fondamenti della filosofia del diritto betont, dass der wahre Souverän eines jeden Staates das allgemeine Wollen und nicht etwa die machthabende Regierung sei (Gentile 2003a [1916], S. 79). Das allgemeine Wollen, sitze dem positiven Gesetz vor; es habe die Aufgabe, die empirische Gesetzgebung ‚moralisch [zu] beurteilen [… zu] temperieren oder modifizieren und reformieren’ (ebenda, S. 101). Gen Ende des Ersten Weltkriegs wird die existierende politische Ordnung zum ‚ersten Staat’ erklärt, während das allgemeine Wollen auf die Rolle eines ‚zweiten Staats’ zurückfällt (Gentile 1919 [1918], S. 214). Einst Maßstab und Korrektiv für die empirische Gesetzgebung, mutiert das allgemeine Wollen zu einer Metapher der Gehorsamspflicht, die das Individuum daran erinnert, dass das, was die Regierung bestimmt, auch das ist, was es eigentlich will. In Gentiles Schriften zum Faschismus fällt die Unterscheidung zwischen einem idealen Staatskonzept und der faktischen Wirklichkeit dann systematisch unter den Tisch. Das Sein wird zum Sollen erklärt, so dass die faktische Herrschaft eines Regimes als Beweis für das Zusammenfallen von Individual- und Regierungswille herhält: ‚Solange die Regierenden regieren, wird es immer einen Konsens geben’ (Gentile 1925, S. 34). Dem Duce kommt dabei recht buchstäblich die Rolle eines Deus ex machina zu. Mussolini, so erläutert Gentile nun, verfüge nicht nur über privilegierte Einblicke in das allgemeine Wollen, vielmehr sei er dessen ‚Personifikation’ (Genti-

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le 1936 [1929], S. 20). Als personifiziertes allgemeines Wollen konnte der Duce natürlich gar nicht anders als (wie im ersten Abschnitt bereits zitiert) für alle zu sprechen und unfehlbar zu sein.

5. Totalitarismus: Die schlechteste Regierungsform, abgesehen von allen anderen? Gentiles Werk beinhaltet also zwei Staatsverständnisse. Das faschistische Staatsverständnis des totalen Staats fordert die bedingungslose Unterordnung des Individuums unter den real existierenden Staat, die Einheitspartei und den Duce. Der Staat ist total in dreierlei Hinsicht: Erstens im Hinblick auf den Anspruch, den alleinigen normativen Maßstab für das menschliche Zusammenleben bereitzustellen; zweitens bezüglich der Mittel, mit denen der Bevölkerung der Regierungswillen aufgezwungen werden darf; und drittens hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltungsfreiheit des Regierungsprogramms. Welchem Zweck die Gleichschaltung dient, wird einseitig und ad hoc vom Duce qua definitorischer Verkörperung des Gemeinwohls bestimmt. Gentiles zweites Staatsverständnis besteht im aktualistischen Konzept des totalen ethischen Staats. Dieses erweist sich ebenfalls als total im Hinblick auf den moralischen Geltungsanspruch. Zudem ist es inhaltlich unbestimmt. Was getan werden soll, hängt vom aktualen, und damit wandlungsfähigen, allgemeinen Wollen ab. Die inhaltliche Identifikation desselben kann jedoch niemandem abgenommen werden. Jeder und jede Einzelne muss selbst herausfinden, was gemeinsinnigerweise getan werden solle, indem man so gut wie möglich von seinen partikulären Eigeninteressen abstrahiert, das Faktum der Pluralität miteinbezieht und alternative Ansichten miteinander vergleicht. Als Utopie des Gemeinsinns steht der totale ethische Staat in einer permanenten Opposition zur faktischen Gesetzgebung real existierender Staaten, und jeder Einzelne hat das Recht – genauer genommen: die moralische Pflicht – eine Verringerung der Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit, so wie sie sich dem Einzelnen im internen Dialog jeweils eben darstellt, einzufordern. Deformierte Gentile bewusst das Konzept des totalen ethischen Staats zum totalen Staat, um zu einer einflussreichen Figur in Mussolinis Regime zu werden? Wurde er selbst Opfer des Führerkults und verwarf deshalb das aktualistische Staatskonzept zugunsten des faschistischen? Oder sollte er schlichtweg über seine abstrakte Philosophie sosehr in Verwirrung geraten sein, dass er Sein und Sollen nicht mehr auseinanderzuhalten vermochte? Keine dieser denkbaren Antworten soll im Rahmen der vorliegenden Untersuchung von Gentiles Staatsdenken bestätigt oder verworfen werden, da deren Zweck schließlich in der Gewinnung ideengeschichtlicher und nicht psychologischer Einsichten besteht. Doch eine weitere denkbare Antwort auf die Frage, weshalb Gentile vom aktualistischen zum faschistischen Staatkonzept überging, motiviert eine aus ideengeschichtlicher Warte durchaus relevante Ab-

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schlussüberlegung. Sollte es möglich sein, dass sich Gentile des Auseinanderklaffens seiner beiden Staatskonzepte vollkommen bewusst war, das faschistische aber als nichtidealtheoretische Entsprechung des aktualistischen gerechtfertigt sah? Gentile hätte dementsprechend drei realistischen empirischen Annahmen Rechnung getragen. Erstens können einzelne Bürgerinnen und Bürger im internen Dialog nicht von sämtlichen Eigeninteressen abstrahieren sowie alle Standpunkte und Ansichten in gleicher Weise berücksichtigen und miteinander abwägen. Zweitens wird es keinem staatlichen Erziehungs- und Propagandasystem gelingen, die Bürgerinnen und Bürger dazu zu bringen, dass sie aus eigener Überzeugung und vollumfänglich wollen, was die Regierung will. Drittens wird auch eine Regierung niemals alle Interessen, Standpunkte und Ansichten berücksichtigen können, selbst wenn sie über einen gewaltigen Verwaltungsapparat verfügt. Aus diesen drei Annahmen hätte Gentile geschlossen, dass das allgemeine Wollen unter empirischen Bedingungen nicht institutionalisiert werden kann. Weiter hätte sich Gentile eingestanden, dass Bürger und Regierung nicht einmal in gleicher Weise an der Identifikation des allgemeinen Wollens scheitern können, weil sie hierfür über dasselbe unvollständige Informationsmaterial verfügen müssten. Dementsprechend wäre er von einer unüberwindbaren Nichtübereinstimmung von Regierungs- und Einzelwillen ausgegangen, ebenso wie er erwartet hätte, dass die Bürgerinnen und Bürger untereinander im internen Dialog zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen.3 Kurzum, Gentile hätte erkannt, dass der totale ethische Staat eine Utopie ist und jeder empirische Staat unweigerlich unter einem Legitimitätsdefizit leidet. Als entscheidende Frage im Hinblick auf die politische Praxis hätte Gentile dementsprechend nicht erachtet, wie der totale ethische Staat implementiert werden kann, sondern wie ein empirischer Staat ausgestaltet werden muss, um dem unerreichbaren Ideal immerhin nahe zu kommen. Den Sozialismus, dies steht außer Frage, konnte Gentile nicht als eine attraktive Option erachten. Hier wird die gesellschaftliche Ordnung auf einen spezifischen substanziellen moralischen Wert verpflichtet, wohingegen sich der Inhalt des allgemeinen Wollens permanent aktualisiert. Allgemeiner betrachtet stehen statische Verfassungsordnungen dem aktualistischen Desideratum entgegen, dass Gesetze an das sich ständig aktualisierende Denken angepasst werden sollen. Auch das parteienbasierte Repräsentationsmodell der modernen Demokratie bleibt dem Ideal denkbar fern. Anstatt den internen Dialog zu institutionalisieren und die vordergründigen Gegensätze zwischen Bürgern zu versöhnen, legitimiert das politische System die Vertretung von partikulären Interessen, motiviert zum politischen Widerstreit und verfestigt den Pluralismus. In einer plato3 In diese Interpretation passt eine ansonsten sowohl zu aktualistischem wie faschistischem Staatskonzept querstehende Äußerung Gentiles: ‚am Fundament des Staates besteht eine unverringerbare Dualität: Regierung und Regierte; oder besser: Souveränität und Volk’ (Gentile 1989b [1919], S. 114f.).

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nischen Philosophenherrschaft könnte die Gesetzgebung vielleicht dem allgemeinen Wollen so nah wie möglich kommen, aber es fehlt an Instrumenten zur Harmonisierung von Einzel- und Regierungswillen. Ein faschistischer Staat, so mochte Gentile geschlussfolgert haben, kommt deshalb dem aktualistischen Ideal vielleicht am Nächsten. Unter den gegebenen Umständen könnte er ihn für den bestmöglichen Staat gehalten haben. Aufgrund seiner programmatischen Programmlosigkeit ist der faschistische Staat entwicklungsfähig. Mittels Erziehungs- und Propagandasystem wird immerhin ein ernsthafter Versuch unternommen, die (aus aktualistischer Sicht) erwünschte Harmonisierung von Regierungs- und Einzelwillen zu erreichen. Darüber hinaus beansprucht die faschistische Führungselite, das allgemeine Wollen so gut wie möglich zu erkennen. Ob sie es tatsächlich tut, ist natürlich eine empirische Frage. Aber wie ein faschistischer Staat nicht unmaßgeblich davon abhängt, dass der Duce ein wahrer Duce und die Mitglieder des Partito Nazionale Fascista wahre Faschisten sind, so braucht der Sozialismus echte Sozialisten und eine funktionierende Demokratie gute Demokraten. Dieser Logik folgend mochte Gentile das aus idealtheoretischer Sicht mangelhafte Konzept des totalen Staats als gerechtfertigt erachten. Analog zu Churchills späterem (und vor dem Hintergrund der Erfahrung des Totalitarismus geäußerten) Diktum über die Demokratie, mochte es sich Gentile so dargestellt haben, dass der totale Staat der Faschisten die schlechteste Regierungsform sei, mit Ausnahme aller anderen. Gleichwohl ist selbst das nichtidealtheoretische Argument zur Legitimation des Faschismus im Rahmen des aktualistischen Denksystems an zahlreichen Stellen defizitär. Abgesehen davon, ob man aufgrund der Unerreichbarkeit des aktualistischen Ideals vielleicht für gar keine staatliche Ordnung, also Anarchie, eintreten müsste, offenbart gerade der Punkt, dass die Führungselite danach streben muss, das allgemeine Wollen so gut wie möglich zu erkennen, politiktheoretische Naivität in gehörigem Maße. Während es für das Gelingen jeglicher politischer Ordnungsform sicherlich auch auf ihre Mitglieder ankommt, verfügen Regierungsformen wie die moderne repräsentative Demokratie über diverse Checks and Balances, um Amtsmissbrauch zu verhindern und das System weniger personenabhängig zu gestalten. Der totale Staat enthält hingegen keinerlei Schutzmechanismen. Aufgrund des systematischen Verhinderungsanspruchs von institutionalisierten wie nichtinstitutionalisierten Widerständen hängt seine Erträglichkeit selbst aus nichtidealtheoretisch-aktualistischer Sicht vollständig vom Wohlwollen und der Kompetenz der Regierungsinhabenden ab. Gentiles faschistisches Staatskonzept mag also zwar teilweise über eine nichtidealtheoretische Applikation des Aktualismus begründet sein, aber es überzeugt nicht. Und es überzeugt gerade deshalb nicht, weil es unter nichtidealen Bedingungen in einem tyrannischen Willkürstaat münden muss.

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Pierpaolo Portinaro Die Erbschaft des politischen Realismus. Elitentheorie und Demokratieskepsis als Schlüssel der politischen Kultur

1. In diesem Beitrag wollen wir die Aufmerksamkeit auf ein spezifisches Merkmal der italienischen Tradition des politischen Denkens in der Zeit nach der nationalen Vereinigung (und „verspäteten Staatsbildung“) lenken – also lange nach der Epoche der höchsten politischen Kreativität jener Tradition (die in der Geschichte der „Kulturnation“ zwischen Dante/Marsilio da Padova und Machiavelli/Guicciardini liegt). Neulich haben einige Autoren versucht, ein italian style im historisch-politischen Denken herauszuarbeiten. So wurden der Hang zur unreinen Vernunft oder eine Denkart gepriesen, die die „Immanentisierung des Antagonismus“ hervorhebt und beharrlich Widerstand gegen die Neutralisierungen des Konfliktes leistet, die für die moderne Staatsphilosophie konstitutiv sind.1 Die Verklärung der nationalen Tradition scheint bei solchen Deutungen eine konstante Gefahr – eine Frage dennoch, die wir hier dahingestellt lassen werden. Die vorliegende Studie verfolgt kein so hochgesetztes Ziel. Sie wird einfach von der Idee geleitet, dass es zur Einführung nützlich sein könnte, eine Kontinuität zu unterstreichen, die die Klassiker der oben genannten Blütezeit mit der politischen Kultur des nationalen und dann demokratischen Staates verbindet (auch die Zwischenzeit des Faschismus wird hier ausgeklammert, grundsätzlich weil ihm markante politische Denker fehlten2). Diese Kontinuität lässt sich in der Chiffre des politischen Realismus ausmachen. Wie wirkt aber diese Denkrichtung im Kontext der Veränderungen, die den italienischen Staat nach der Vereinigung (1870) geprägt haben? Dieser Frage wollen wir hier nachgehen, indem wir das Prinzip Wirklichkeit innerhalb dieser Denktradition, die der Determinierung normativer Paradigmen 1 Zur Spezifizität der italienischen politisch-philosophischen Tradition (die Linie, die von Dante über Machiavelli, Guicciardini, Bruno, Campanella, Vico, Cuoco, Mazzini, Gioberti bis zu Giovanni Gentile reicht) und zum Versuch, eine italienische Geophilosophie zu konturieren, s. Esposito 2010, ferner Bodei 1998. Gegen die Diskontinuität der Moderne, Merkmal der italienischen Tradition, stünde – laut dieser Lektüre – „il pensiero dell’attualità dell’originario“. Über den „iperpoliticismo italiano del Novecento“ als Reaktion auf die misslungene Nation- und Staatsbildung s. Galli della Loggia 2015, S. 11-33. 2 Selbst bei Giovanni Gentile handelt sich um eine ideologische Radikalisierung eines Gedankengutes, das in der Zeit des Risorgimento und des postrisorgimentalen Nationalismus zur Entfaltung gekommen war; Sartori 1997. Siehe insbesondere den dritten Teil („Realismo politico e tradizione italiana“) eines großangelegten Forschungsprojekts: Campi/De Luca 2014, S. 405-649.

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einen phänomenologischen Tatsachenblick auf die Realität der Politik voranstellt, ins Zentrum unserer Betrachtungen stellen. Politischer Realismus ist, wie andere politische Begriffe und „Ismen“, ein polemischer Begriff. Sein Blick ist auf die Tatsächlichkeit der Verhältnisse gegen jede Art von Wunschdenken und den Verlust an Urteilskraft gerichtet. Sein theoretischer Kern lässt sich auf die folgenden Grundannahmen zurückführen: 1. Die politische Realität resultiere aus primären Konflikten, die aus Zuständen der Unterdrückung und Ungleichheit in einem Kontext entstehen, der durch Knappheit (von Gütern und Anerkennung) charakterisiert wird. 2. Konflikte seien durch die Anwendung von (direkter und indirekter) Gewalt zu bewältigen, die, dank Organisation stabilisiert, in (autoritative) Macht umgewandelt wird. 3. Die Macht selbst werde demgemäß generiert in einem Feld von gegenseitig feindseligen Kräften. 4. Macht entstehe dabei aufgrund der Errichtung von Hierarchien und distributiven Ungleichheiten – welche wiederum im Inneren dieses Kräftefeldes weitere (sekundäre) Konflikte erzeugen. Gemeinsamer Nenner der Positionen, die unter dieser Bezeichnung gesammelt werden können, ist die Ablehnung der Utopie der konfliktlosen Gesellschaft. Nicht die Intention aufs Gute und Allgemeine, sondern der Konflikt entscheidet ordopoietisch über Entstehung und Entwicklung der politischen Gemeinschaften. Die Anerkennung des konflikthaften Wesens der Politik war unter den politischen Schriftstellern der Halbinsel – von der Zeit der Gegenreformation und des Barocks bis zum Risorgimento – immer stark hervorgehoben worden. Aber eine Neubelebung dieses realistischen Ansatzes erfolgte um die Jahrhundertwende 1900 mit den sogenannten Elitisten, die nicht zufällig von James Burnham Neomachiavellians genannt worden sind. Die Elitisten behaupteten die für jede Gesellschaft bestehende harte Notwendigkeit einer politisch herrschenden Klasse als organisierter Minderheit, und damit meinten sie keine normativ definierte Substanzelite, sondern eher deskriptiv eine Auswahl der für ihre Aufgabe besonders Geeigneten, also eine Funktionselite. Bei Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto nahm diese These bekanntlich die „Züge einer konservativen Abwehrideologie gegen den sich demokratisierenden Parlamentarismus an“3. In der Tat, diese Autoren entwickeln ihre Lehren in der Zeit, in der in Europa die ersten Massenparteien entstehen – in einem nationalen Kontext dennoch, in dem dieser Trend deutlich verspätet erscheint. Aber viele Gedanken, die aus den Debatten jener Jahre hervorgegangen sind, können noch Einiges über die

3 Beyme 1993, S. 15. Dazu aber auch Farneti 1989.

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plebiszitäre Involution der italienischen Demokratie in der Zeit der zweiten Republik lehren.4 Selbst Benedetto Croce, der Fürst des italienischen Neoidealismus und der „papa laico“ (der Papst für die Aufgeklärten) der italienischen Kultur des 20. Jahrhunderts, der bekanntlich die positivistische Erkenntnistheorie von Mosca und Pareto nicht teilte, stimmte nicht nur aus konservativer Überzeugung der Grundthese der Elitisten zu.5 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts orientierte sich dann die politische Intelligentsia des Landes, deren Hauptvertreter Erben des linksliberalen Partito d’azione waren (La rivoluzione liberale von Piero Gobetti kann als sein Gründungsdokument gelten), nach links, auf den Spuren von Gaetano Salvemini. Aber die wichtigsten Repräsentanten dieser neuen Intellektualität (Norberto Bobbio und Giovanni Sartori) blieben dennoch der Lehre der Elitisten verbunden. Selbst die aus dem Marxismus kommenden radikalsten Systemkritiker der „bürgerlichen Demokratie“ haben in Italien gerne in Machiavelli eine Verstärkung des materialistischen sozialrevolutionären Realismus gesucht und gefunden. Hier liegt auch ein Grund der in der politischen Kultur des Landes verbreiteten Skepsis vor „normativistischen“ Hegungen der Machtpolitik. 2. Gaetano Mosca (1858-1941) hat den Begriff der politischen Klasse, der im Italienischen schon länger gebräuchlich war (noch davor war er es in der amerikanischen politischen Literatur der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts)6, in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt. Mit seinem Werk Elementi di scienza politica (1896; ein zweiter Band kam 1923 dazu) wurde er zum Begründer des Elitenansatzes in der Politikwissenschaft (selbst wenn er den Begriff Elite, den Pareto ein paar Jahre später international bekannt machen sollte, immer vermied). Der Grundriss dieser Theorie war bereits in seinem ersten Buch angelegt, Teorica dei governi e governo parlamentare (1884), in der er die Praxis des Transformismus – die Zusammenhaltung unhandlicher Regierungsmehrheiten durch Korruption und Klientelismus – scharf kritisiert hatte. Diese antiparlamentarische Orientierung, die als Klage über die Entartung des Repräsentativsystems aus einer klassischen liberalen Auffassung resultierte, hat vier Jahrzehnte später Mosca nicht davon abgehalten, das gewählte Parlament gegen den Staatsstreich Mussolinis in einer mutigen Rede vor dem Senat zu verteidigen.7

4 Für klärende Einsichten zu dieser Krisenzeit s. den Aufsatz Le difficoltà del consociativismo in Pizzorno 1993, S. 285-313 und Della Porta 1992. 5 Siehe sein Geleitwort in Mosca 1950, S. 6. 6 Vgl. Amato 2008; zum amerikanischen Kontext der Entstehung des elitistischen Ansatzes Salvadori 1996, Portinaro 2001; zu der Affinität zu den historischen Schriften von Marx und Engels Eisermann 1987, S. 242. 7 Zu seinen politischen Stellungnahmen s. die kritischen Beiträge von Angelo Panebianco in Mosca 2003 und von Giorgio Sola in Mosca 1982, aber auch Bobbio 1977, S. 177-198.

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„Unter den beständigen Tatsachen und Tendenzen des Staatslebens liegt eine auf der Hand: In allen Gesellschaften, von den primitivsten im Aufgang der Zivilisation bis zu den fortschrittlichsten und mächtigsten, gibt es zwei Klassen, eine, die herrscht, und eine, die beherrscht wird“: so setzt das zweite Kapitel seiner Elementi di scienza politica ein.8 Diese Teilung der Gesellschaft hat für Mosca eine politische wie eine ökonomische Bedeutung. Die Monopolisierung der Macht setzt voraus, dass die Minderheit über die Ressource verfügt, die es ihr ermöglicht, die Mehrheit zu beherrschen: Die Fähigkeit zur Selbstorganisation. Die herrschende Klasse wird von Mosca als „organisierte Minderheit“ definiert – was in dem Verständnis der elitistischen Schule auf eine Tautologie hinausläuft: „Wer Organisation sagt, sagt ohnehin Tendenz zur Oligarchie“9. Aber entscheidend ist die Tatsache, dass diese organisierte Minderheit von der Mehrheit anerkannt wird – als Gruppe von Individuen, die bestimmte „wirkliche oder scheinbare Eigenschaften“ besitzen, „die hochgeschätzt sind und in ihrer Gesellschaft großen Einfluss verleihen“ (Mosca 1950, S. 55). Im ganzen Werk Moscas sind verstreut Überlegungen anzutreffen, die gegen die Volkssouveränität als utopisches Projekt, als ideologisches Vorurteil oder als Dogma einer neuen Religion gerichtet sind. Dabei kommt seine konservative Einstellung zum Ausdruck. Gleichzeitig skizziert er mit seiner These, dass jede politische Klasse ihre eigene Kohäsion und die Anerkennung der Mehrheit durch eine „formula politica“ erzielt, eine funktionalistische Theorie der Ideologie. Wie die Ideologien in der Tradition des Marxismus sind deshalb auch die formule politiche von Mosca keine bloßen Irrtümer, Fehlannahmen oder Vorurteile, sondern Legitimitäts- und Integrationsprinzipien. Mosca erkennt auch mit Tocqueville eine Tendenz zur sozialen Nivellierung in der modernen Gesellschaft; vor allem im zweiten Band der Elementi, um eine Lücke seiner Theorie zu schließen, die Paretos These der Zirkulation der Eliten entlarvt hatte, führt er den Begriff „demokratische Tendenz“ ein.10 Aber selbst diese Revisi8

Mosca 1950, S. 53. Und weiter (S. 55): „Die Macht einer Minderheit ist für jedes Individuum der Mehrheit unwiderstehlich, da es sich isoliert der Gesamtheit der organisierten Minderheit gegenübersieht. Anderseits ist die Minderheit einfach darum organisiert, weil sie die Minderheit ist“. Diese These findet ihre erste Formulierung in Teorica dei governi e governo parlamentare: s. Mosca 1982, Bd. 1, S. 206. Hier auch das Grundaxiom seiner Kritik der Wahldemokratie: „Chiunque abbia assistito ad una elezione sa benissimo che non sono gli elettori che eleggono il deputato, ma ordinariamente è il deputato che si fa eleggere dagli elettori: se questa dizione non piacesse, potremmo surrogarla con l’altra che sono i suoi amici che lo fanno eleggere“ (S. 476). 9 Michels 1911, S. 32. Darüber hinaus ist der Elitenbegriff, wie zu Recht hervorgehoben wurde, nicht nur „tautologisch definiert“, sondern auch „autopoietisch konstituiert: Zur Machtelite gehört man, weil man als ihr Mitglied angenommen wurde“ (Reinhard 1999, S. 17). Wegen dieser logischen Konstruktion, aber auch inhaltlich wegen ihrer „Vernachlässigung der Parteien und der Bürokratie“ ist die elitistische Lehre oft kritisiert worden (s. z. B. Beyme 1993, S. 17). 10 Als „demokratisch“ zu nennen wäre nach Mosca 1950, S. 322: „Die Tendenz zur Erneuerung der herrschenden Klasse durch den Aufstieg von Personen aus der beherrschten Klasse in die herrschende, um die alte herrschende Klasse zu stürzen oder mit ihr zu verschmelzen“.

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on des ursprünglichen Torsos seiner Lehre ändert nichts an den Grundlagen des elitistischen Axioms. Unter den drei proklamierten Grundwerten der Französischen Revolution sieht Mosca (und nach ihm alle Anhänger der elitistischen Lehre) nur die Freiheit realisiert – dank dem Repräsentativsystem und einer Reihe von Einrichtungen zum Schutz der Individuen und der von ihnen gebildeten Verbände vor der Staatsmacht. Anders sieht es aber mit den anderen Grundwerten aus. „Viel schwieriger und daher viel weniger real und konkret blieb die Verwirklichung der Idee der Gleichheit, weil diese der Natur der Dinge widerspricht […]. Noch leerer und inhaltsloser als die Versuche zur Einführung der Gleichheit waren die der Durchführung der Brüderlichkeit“11. Auch in diesem Fall ist es die menschliche Natur, die nach Mosca eher dagegen spricht: Die pessimistische Anthropologie, die eine Voraussetzung des politischen Realismus darstellt, findet hier seine schlichte, anspruchslose Formulierung.12 3. Der Nationalökonom Vilfredo Pareto (1848-1923) gilt mit seinem Trattato di sociologia generale (1916) als der Begründer der wissenschaftlichen Soziologie in Italien (er pflegte ihre Methode „logico-sperimentale“, logisch-erfahrungsgemäße, zu nennen). Sein Wissenschaftsbild ist dem Positivismus geschuldet, was schon per sé die Hinwendung zur empirischen Realität beinhaltet. Aber das Modell seiner politischen Analysen bleibt Machiavelli. Die beiden Menschentypen, die er nach der Dominanz der jeweiligen Gefühlstrukturen (residui) der Klassen I („Instinkt der Kombinationen“) und II („Persistenz der Aggregate“) unterscheidet, sind sozialpsychologische Umformulierungen der machiavellischen Dichotomie von „Füchsen“ und „Löwen“.13 Auch Paretos Klassentheorie, die eine stärkere Abhängigkeit von Marx verrät (Beyme 1993, S. 12), weist Anklänge an Machiavelli auf und reduziert sich auf zwei wesentliche Unterscheidungen: „1. Die Unterschicht, die „nicht ausgewählte“ Klasse (…); 2. Die Oberschicht, die „ausgewählte Klasse“ oder Elite, die in zwei Teile zerfällt, nämlich a) die herrschende Elite; b) die nicht herrschende Elite“ (Trattato § 2034). Die normativen Grundlagen des Elitismus treten bei Pareto weniger aufdringlich zutage als bei Mosca. Aber in der Entschleierungsprogrammatik stimmen sie über11 Mosca 1959, S. 377-79. 12 Mit den anthropologischen Annahmen Machiavellis stimmt Mosca grundsätzlich überein, selbst wenn er – ein Positivist des 19. Jahrhunderts – sich kritisch über Machiavellis Methode und seinen Traktat Il Principe ausspricht: „ebensowenig gehört die Kunst, unter bestimmten Bedingungen die Macht zu erobern und zu behaupten, zur Wissenschaft der Politik“ (Mosca 1959, S. 171). 13 Vgl. Pareto 1964, § 1975 und § 2532-37. Erwähnungswert ist auch, dass der letzte Aufsatz von Pareto, welcher als sein intellektuelles Testament verstanden wird, Pochi punti di un futuro ordinamento costituzionale (1923), mit dem folgenden Satz beginnt: „Quanto segue è come un indice di proposizioni dedotte dall’esperienza storica, e delle possibili applicazioni ai casi presenti. Modello è il Principe di Machiavelli“ (Pareto 1974, Band 2, S. 795).

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ein. „Man darf nicht den Juristischen Zustand mit dem tatsächlichen verwechseln. Nur der letztere besitzt nahezu ausschließlich Bedeutung für das gesellschaftliche Gleichgewicht“ (Trattato § 2046). Die Sozialwissenschaften haben die Aufgabe, die dauerhaften Elemente der sozialen Phänomene, also die Kräfte, die das soziale Gleichgewicht bestimmen – grundsätzlich die Interessen und was er eben „residui“ nennt – in ihren Wechselwirkungen mit den Derivationen und mit der sozialen Heterogenität zu untersuchen. Sie beschäftigen sich mit dem Sein (die Dynamik des sozialen Systems), nicht mit dem Sollen.14 Aus dieser Orientierung ergibt sich eine ideologiekritische Haltung. In seinem Trattato di sociologia entwickelt Pareto eine Theorie des homo ideologicus, die sich freilich von jener, die wir Marx verdanken, unterscheidet, und dennoch in dieselbe Richtung hinweist: die Menschen bedienen sich oft der Vernunft, nicht um die Wahrheit zu entdek-ken oder mitzuteilen, sondern um sie zu verfälschen und zu verschleiern. „Sehr verallgemeinert lässt sich sagen, dass die herrschende Klasse ihre eigenen Interessen erkennt, weil sie über weniger dichte Gefühlsschleier verfügt, dass die beherrschte Klasse hingegen sie weniger gut erkennt, weil für sie die Gefühlsverhüllungen viel dichter sind“ (Trattato § 2250).15 Pareto untersucht die Ideologien unter drei Aspekten: objektiv (in ihrem Unterschied zu den „teorie logico-sperimentali“), subjektiv (in bezug auf die Gründe ihrer Entstehung und Akzeptanz), und in Betracht auf ihre soziale Nützlichkeit.16 Trotz des wiederholten Bekenntnisses zur Wertfreiheit führt er durch diese Analysen eine unermüdliche Polemik gegen den demokratischen Mythos, der die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit der Beherrschten verschleiere. Die Ideologiekritik dient in Paretos soziologischen Schriften prinzipiell der Gegenwartsdiagnose – aber auch der Konstruktion einer allgemeinen Theorie des sozialen Wandels. Die Verstellung der Wirklichkeit ist oft ein Zeichen dafür, dass eine lang an der Macht gebliebene Aristokratie in eine Phase des Niedergangs eingetreten ist.17 Pareto ist (diesbezüglich Max Weber und Joseph Alois Schumpeter vergleichbar) ein scharfer Kritiker der Schwächen der Bourgeoisie als herrschende Klasse. Es 14 Siehe zum Beispiel Pareto 1966, S. 943: „Conoscere ciò che deve pagare la vinta Germania, può essere un bell’esercizio di dispute giuridiche – meglio: pseudo-giuridiche – di morale internazionale, di equità, e di tante belle cose […]. Ma tutto questo non può, per gli effetti pratici, sostituire la ricerca di ciò che può pagare la Germania, di ciò che giova ai vincitori farsi pagare“. 15 „In der Politik haben alle herrschenden Klassen immer ihr eigenes Interesse mit dem des ganzen Landes verwechselt“ (Trattato, § 1499). Vgl. Hübner 1967. 16 Zu Paretos Ideologietheorie vgl. Bobbio 1977, S. 79-122, der die Unterschiede zu Marx’ Theorie betont und den Beitrag Paretos zur Genese, Struktur und Funktion der Ideologien ausarbeitet. 17 Pareto 2007, S. 122: „Der Niedergang der gegenwärtigen Aristokratie und das Aufkommen der neuen erscheint dem Bewusstsein und dem Verstand der Menschen in einer Weise, die sich sehr von der Realität unterscheidet; in diesem Fall weicht das subjektive Phänomen stark vom objektiven Phänomen ab“.

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besteht für ihn kein Zweifel über den Ausgang des Kampfes zwischen der neuen und der alten Aristokratie, „denn die neue ist voll Kraft und Stärke, während die Alte geschwächt ist, die neue proklamiert kühn und mutig den „Klassenkampf“, die alte lobt kindisch die „Solidarität“, neigt dankend das Haupt unter den erhaltenen Schlägen, anstatt sie zu erwidern“18. Jedenfalls: „Illusion heißt zu glauben, dass der herrschenden Klasse gegenwärtig das Volk gegenüberstehe; vielmehr steht ihr, und das ist etwas anderes, eine neue zukünftige Aristokratie gegenüber, die sich auf das Volk stützt“19. Von dieser Krisendiagnose ausgehend formuliert Pareto erstmals in Les systèmes socialistes (1902-1903) seine Theorie der Zirkulation der Eliten. Zur Zwangsläufigkeit der historischen Prozesse gehört auch der Lebenszyklus der Verfassungen, der durch vier Stufen bestimmt ist – Gründung, Wachstum, Stabilisierung, Niedergang. Es ist eine den Politikrealisten gemeinsame Annahme, dass die politische Geschichte einen Kreis durchläuft, in dem Phasen des Aufschwungs in Phasen des Niedergangs übergehen. Es ist Thukydides, der zwei fundamentale Errungenschaften an die Nachwelt vermittelt hat: Einerseits die Entdeckung der imperialen Dynamik der Macht, mit ihrer Neigung zur Selbsterhaltung und Selbstbehauptung, andererseits die Herausstellung der Anfälligkeit politischer Institutionen, die zur Disziplinierung der innenpolitischen Konflikte vorgesehen sind, sich jedoch als unfähig herausstellen, den Umwälzungen durch äußere Konflikte standzuhalten. Von der Lehre der anakyklosis politeion des Polybios bis zur Theorie des sozio-politischen Zyklus bei Vilfredo Pareto, der die Geschichte als „Friedhof der Aristokratien“ (§ 2053) definiert hat, artikuliert der politische Realismus immer wieder die These der immanenten Kreisläufigkeit des Staatenlebens. Durch die Zirkulation der Eliten – hatte Pareto im Trattato di sociologia generale festgestellt – befindet sich die herrschende Klasse in einem „Zustand fortwährender und langsamer Transformation“ (§ 2056). In seinem letzten politikwissenschaftlichen Aufsatz, Trasformazione della democrazia (1921), und in anderen politischen Gelegenheitsschriften seiner letzten Jahre untersuchte er im Sinne einer Erfahrungswissenschaft die Modi dieser Transformation, die seit geraumer Zeit in Europa von der Verstärkung der zentrifugalen Kräfte in der Gesellschaft und vom Abbröckeln der zentralen, staatlichen Souveränität gekennzeichnet war.20 In diesen Schriften geißelte er unermüdlich den „plutokratischen Zyklus“ und die „demagogische Plutokra18 Pareto 2007, S. 114 (it. ders. 1966, S. 280-81). „Non è solo pel numero che certe aristocrazie decadono ma anche per la qualità, nel senso che in esse scema l’energia e si modificano le proporzioni dei residui che loro giovarono per impadronirsi del potere e per conservarlo“ (Pareto 1964, § 2054). 19 Pareto 1966, S. 274. 20 Pareto 1966, S. 933 ff. Genauer: „A chi attentamente osserva i fatti che giornalmente si svolgono, appaiono spiccatissimi almeno tre caratteri principali, cioè: 1) L’affievolirsi della sovranità centrale e l’invigorirsi di fattori anarchici; 2) Il veloce progredire nel ciclo della plutocrazia demagogica; 3) La trasformazione dei sentimenti della borghesia e della classe che ancora governa“ (S. 945).

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tie“, die auf einer unsauberen und nicht tragfähigen Allianz der sich demokratisch und kosmopolitisch gebärdenden, de facto aber finanzkapitalistisch eingestellten Eliten und der sozialistischen Gegenelite basierte.21 4. Im zweiten Band seiner Elementi di scienza politica (1923) hatte Mosca erkennen müssen, dass die inzwischen neuerfundenen Heilmittel gegen die Krise des Parlamentarismus (bolschewistische Diktatur, revolutionärer Syndikalismus, Korporatismus) schlimmer waren als die Übel selbst: Infolgedessen fand in seinem Spätwerk eine Rehabilitierung des Parlamentarismus statt, die wahrlich nicht so weit ging, die Demokratie selbst neu zu bewerten.22 Diese Rehabilitierung der Demokratie war grundsätzlich der folgenden Generation (aber auch dem nur fünfzehn Jahre jüngeren Salvemini) vorbehalten, die den Faschismus in seiner ganzen Entwicklungskurve erfahren musste. Als erster Repräsentant des demokratischen Elitismus in Italien gilt übrigens eines der frühen Opfer der faschistischen Unterdrückung, der junge Turiner oppositionelle Publizist Piero Gobetti (1901-1926), Autor eines Buches, La rivoluzione liberale (1924), das zu den wenigen Gründungstexten des movimento azionista zählt, d.h. der links-liberalen und demokratischen Opposition gegen das Regime.23 Im Kontext der klassischen Parlamentarisierung und beginnenden Demokratisierung war die dichotomische Sichtweise von organisierter Minderheit/unorganisierter Masse, die die Elitisten prägte, das Symptom einer Situation, in der rational organisierte Parteien fehlten. Die Lage veränderte sich aber nach dem Ersten Weltkrieg, als auch in Italien eine pluralistische Massenparteienstruktur entstand – freilich bald von dem totalitären „partito unico nazional-fascista“ unterdrückt wurde. Doch ausgerechnet die tragische Erfahrung der Diktatur ließ das Bewusstsein wachsen, dass nicht die plebiszitäre Identifikation von Masse und Führer, sondern nur der Wettbewerb von organisierten Parteien der Demokratie Wirklichkeit und Funktionsfähigkeit verleihen konnte. Unter den ersten Dokumenten dieser neuen Anwendung der Elitentheorie verdienen eine Erwähnung das Buch Essenza e attualità del liberalismo (1945) von Filippo Burzio (1891-1948) und der posthume Aufsatz Dittatura, classe politica e classe dirigente (1949) von Guido Dorso (1892-1947). Allen diesen

21 Vgl. Trattato di sociologia § 2257: „Unsere Demokratien in Frankreich, Italien, England und den Vereinigten Staaten neigen immer mehr dazu, demagogische Plutokratien zu werden, und werden sich auf dieser Weise vielleicht radikalen Transformationen nähern, ähnlich solchen, die man schon in der Vergangenheit beobachten konnte“ (Pareto 2007, S. 299). Dazu Beyme 2002, S. 530: „Pareto stand in einer italienischen Tradition der Elitentheorie, die von den Rechtsextremisten beschworen aber wissenschaftlich nicht verstanden wurde“. 22 Mosca 1950, S. 387 ff. 23 Siehe Gobetti 1960. Die politischen Schriften Gobettis sind von der Idee geleitet, dass die elitistische Lehre eine Erklärung für die Dekadenz der „classe dirigente“ biete und für die Krise des Liberalismus in Italien nach der Vereinigung. „La teoria di Mosca della classe dirigente è veramente una di quelle che aprono distese infinite di terre alla ricerca degli uomini“ (ebenda, S. 656). Vgl. Gervasoni 2000.

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Autoren ist das Programm einer realistischen Neufundierung des Liberalismus und der Demokratie gemeinsam. Die bedeutendste Rolle in der Entwicklung des demokratischen Elitismus in Italien gebührt allerdings dem Historiker und antifaschistischen Exulanten Gaetano Salvemini (1873-1957). Salvemini war bereits Anfang des Jahrhunderts mit der Lehre Moscas vertraut geworden. Die Ausarbeitung seiner eigenen Formulierung des demokratischen Elitismus datiert aber aus den zwanziger Jahren und dann – in polemischer Auseinandersetzung mit dem faschistischen Regime – aus der Zeit seines amerikanischen Exils. 1934 erscheint in „The Harvard Graduates’ Magazine“ seine erste politikwissenschaftliche Behandlung des Themas: Democracy and Dictatorship. Die Hauptthese lautet: Nicht weniger als die Diktatur ist die Demokratie „die Regierung einer Minderheit“. Der Unterschied besteht erstens in der Proportion zwischen Freiheit und Zwang und zweitens im pluralistischen Entscheidungsverfahren: Nicht die Abwesenheit politischer Eliten, sondern das Vorhandensein mehrerer konkurrierender politischer Eliten ist das Merkmal eines demokratischen Systems.24 Für Salvemini gibt es keine Demokratie außerhalb der Tradition des Rechtsstaates. In seinem 1940 erschienenen Aufsatz Democracy Reconsidered resümiert Salvemini nochmals das Problem mit explizitem Verweis auf Gaetano Mosca.25 In diesen Schriften nimmt also eine Theorie der Konkurrenzdemokratie der Parteien als organisierten Minderheiten Gestalt an. Dabei sollte bemerkt werden – eine Fußnote im Kapitel der europäischen intellektuellen Emigration nach Amerika in der Zwischenkriegszeit –, dass Salvemini und Schumpeter in Harvard für einige Jahre Kollegen waren. Und es ist frappierend, wie diese Thesen mit der Auffassung Schumpeters übereinstimmen, der die Demokratie als Nebenprodukt des Wahlwettbewerbs zwischen Minderheiten definiert (der Einfluss Paretos auf die politische Theorie Schumpeters ist andererseits schwer zu leugnen). Tatsache ist für alle diese

24 Salvemini 2007, S. 27 ff.: „La democrazia comincia quando per l’opposizione c’è più libertà che costrizione. La dittatura comincia quando per l’opposizione c’è più costrizione che libertà“. Im Sinne des politischen Realismus auch das scharfe Urteil über die Presse in einer demokratischen Gesellschaft: „La stampa è un’istituzione dittatoriale piantata nel mezzo di altre istituzioni democratiche, che turba e corrompe il funzionamento della democrazia“. 25 Salvemini 2007, S. 122f.: „In tutte le società il controllo politico – cioè la direzione amministrativa, militare, legislativa, economica, religiosa, morale e intellettuale – è nelle mani di una „minoranza organizzata“, mentre la maggioranza disorganizzata si adegua con più o meno buona volontà agli ordini della minoranza […]. Neppure nei regimi più radicalmente democratici il governo è guidato dalla maggioranza dei cittadini. È guidato dal partito che in quel momento è sostenuto dai voti della maggioranza […]. Tutti i partiti politici sono minoranze organizzate che cercano di guadagnare il sostegno della maggioranza degli elettori, e questa maggioranza degli elettori, a sua volta, è di norma solo una minoranza dell’intera popolazione“. Siehe auch die Formulierung in Democracy and Dictatorship (ebenda, S. 27).

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Autoren, dass „eine von der Regierung kontrollierte Wirtschaft“ auch den institutionellen Rahmen der Demokratie neudefiniert.26 5. Auch der Turiner Rechtsphilosoph Norberto Bobbio (1909-2004), der in Italien einflussreichste Diagnostiker und Deuter des short century, verbindet einen linken moralischen Universalismus mit einem realistischen und pessimistischen Bild des Politischen, welches bei klassischen Analytikern der Macht (Machiavelli, Hobbes, Pareto, Weber) anzutreffen ist. Auf dem Feld der Rechtstheorie gilt er als der bedeutendste Kelsenianer Italiens, selbst wenn seine Position eher jener Gustav Radbruchs vergleichbar ist. Noch mehr: Die Spannung zwischen politischem Realismus und Normativismus, die wir bei jedem Klassiker des politischen Denkens feststellen können, ist im Falle Bobbios, einem Bewunderer von Thomas Hobbes, extrem ausgeprägt.27 In der Familie der demokratischen Elitisten gehört er übrigens zu den Autoren, die sich am gründlichsten mit den Klassikern des Elitismus auseinandergesetzt haben.28 Aufgrund seines realistischen Ansatzes reduziert Bobbio die Demokratie auf ein „realistisches Minimum an Verfahrensregeln für kollektiv verbindliche Entscheidungen“ (er spricht hier oft von „regole del gioco“, präziser von „universali procedurali“): periodische allgemeine Wahlen, ein freier politischer Wettbewerb, das Vorhandensein echter Alternativen, die Mehrheitsregel und die Garantie der politischen Grundrechte.29 Diese Theorie trägt unverkennbar die Züge einer rechtspositivistischen Auffassung, die sich ideologiekritisch positioniert. Damit unterscheiden sich Bobbios Thesen grundsätzlich nicht von der Auffassung Salveminis und Schumpeters. Gleichzeitig wird er dennoch nie müde, es zu wiederholen, dass es nicht ausreiche, „dass ein System die demokratischen Spielregeln beachte, um eine gute Regierung (buon governo) zu sein“30. Sein realistischer Ansatz ist schon darin erkennbar, dass seine Fragestellung nicht so sehr um die evolutiven Chancen, sondern um die „Paradoxien“ oder die „Misserfolge“ oder die „Hindernisse“ oder die noch „nicht gehaltenen Versprechen“ der Demokratie kreist. Unter den Hindernissen werden die Selbstermächtigung der Techno26 Salvemini 2007, S. 32: „E’ probabile che un’economia controllata dal governo sia diventata una necessità nella società moderna più di quanto non lo fosse in periodi precedenti della storia“. 27 Zur Grundlage seiner politischen Philosophie s. den Artikel Politik in dem von ihm und Nicola Matteucci herausgegebenen Dizionario di politica (1976), jetzt in Bobbio 1999, S. 101-120. Zur Auseinandersetzung Bobbios mit Benedetto Croce – einem zentralen Kapitel der italienischen Geistesgeschichte im 20. Jahrhundert – s. Bobbio 1955, S. 211 ff. und der Aufsatz Etica e politica (1998), in deutscher Übersetzung in Bobbio 2007. Über Bobbio als „realista insoddisfatto“ Michelangelo Bovero in Ocone 2003, S. 149-166. 28 Dazu Bobbio 1977. 29 Bobbio 1998, S. 8 ff. (it. Bobbio 1984, S. 4 ff.). Vgl. auch Bobbio 1999, S. 381. 30 Bobbio 1988, S. 64. Die demokratische Methode wird nach Bobbio nicht überleben „ohne zur sittlichen Gewohnheit zu werden“ (ebenda, S. 34).

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kratie, das Wachstum der bürokratischen Apparate und die geringe Leistungsfähigkeit der demokratischen Institutionen aufgezählt. Unter den „nicht gehaltenen Versprechen“ listet Bobbio die unvollendete Individualisierung und die Unübersichtlichkeit der pluralistisch-korporativen Gesellschaft, den Fortbestand der Oligarchien und die Begrenzung des demokratischen Raumes, die Unterminierung der Öffentlichkeit und die misslungene oder ungenügende Erziehung der Bürger auf. Da die Beseitigung der unsichtbaren Macht nicht stattgefunden hat, widmet er einen einleuchtenden Aufsatz, La democrazia e il potere invisibile, den Phänomenen der „Subregierung“ und der „Kryptoregierung“.31 Bobbio war kein Theoretiker der Diskursethik, er hat sie aber ständig und unermüdlich (nicht nur in akademischen Räumen) praktiziert. Seine Beteiligung an öffentlichen Debatten – insbesondere im Band Quale socialismo? (1976) – kreiste (im Geiste Salveminis) um das zentrale Dilemma des sozialdemokratischen Jahrhunderts: ein undemokratisch etablierter Sozialismus war unfähig, eine liberale und pluralistische Demokratie zu gewährleisten, doch mit Hilfe der demokratischen Methode war der Sozialismus unerreichbar. Unerschüttert blieb bei ihm immer die Überzeugung, dass „der liberale Rechtsstaat nicht nur die historische, sondern auch die juristische Voraussetzung des demokratischen Staats darstellt“32. Im Laufe der Jahre, vor allem nach dem Zusammenbruch der realexistierenden sozialistischen Gesellschaften, der sich verschärfenden Krise der europäischen Demokratie und dem Sieg des globalen Neoliberalismus akzentuierte sich auch seine pessimistische Zeitdiagnose: einziges signum prognosticum einer besseren Zukunft blieb für ihn – wie der Band L’età dei diritti (1990) zeigte – die weltweite Verbreitung einer Kultur der Menschenrechte. 6. Es wird oft gegen Mosca und Pareto eingewendet, dass ihre Begriffe classe politica und élite zu undifferenziert seien, weil in ihrer Elementarität von einer dichotomischen Sichtweise geprägt: es gäbe nur élite als organisierte Minderheit und unorganisierte, also politisch handlungsunfähige Masse. Die Stärke der Herrschaftssoziologie Max Webers bestünde dagegen in dem schärferen Blick für die Ausdifferenzierung der Sphären der Gesellschaft und der „Lebensordnungen“, also – noch etwas vereinfachend – in der Dreiteilung: Herrscher, Verwaltungsstab, Beherrschte. Der Autor, der in Italien versucht hat, die Grundlagen der politischen Wissenschaft aus der Verbindung der Elitentheorie und der Herrschaftssoziologie weberscher Prägung heraus neu zu definieren, war Gianfranco Miglio (1919-2011), jahrzehntelang Pro31 Ebenda, S. 86-112 (it. Bobbio 1984, S. 85-113). 32 Bobbio 1998, S. 11. „Es ist wenig wahrscheinlich, dass ein nicht liberaler Staat ein korrektes Funktionieren der Demokratie gewährleisten kann, und es ist andererseits genausowenig wahrscheinlich, dass ein nicht demokratischer Staat in der Lage ist, die Grundfreiheiten zu garantieren. Der historische beweis für diese Wechselbeziehung liegt in der Tatsache, dass demokratischer Staat und liberaler Staat, wenn sie fallen, miteinander fallen“.

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fessor der politischen Wissenschaften an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand und Vertreter einer radikalen Richtung des föderalistischen Denkens – bis hin zum Sezessionsgedanken.33 In seinen Lezioni di politica (posthum erschienen) und in anderen Beiträgen aus der Sammlung Le regolarità della politica ergänzt Miglio die bereits bei allen anderen Elitisten vorhandene Unterscheidung von „classe politica“ und „classe dirigente“ mit der Kategorie „équipe di potere“ (unter der auch die weberschen „Berufspolitiker“ subsumiert werden) und skizziert ein Forschungsprogramm über die Modalitäten der „Abstufungen der Befehlsgewalt/graduazione del comando“ und die Formen des „politischen Adjutantentums/aiutantato politico“.34 In Anlehnung an die Klassiker des Elitismus betont Miglio weiterhin die Universalität des Phänomens, von dem Mosca in seiner Analyse der Pathologie des italienischen Parlamentarismus ausgegangen war: Dem „trasformismo“.35 In Anlehnung an Mosca steht auch die These der engen Verknüpfung des Problems der politischen Klasse mit der Frage der Ideologie (was Mosca, wie gesagt, „formula politica“ nannte).36 Gegen die Klassentheorie des Marxismus hatte Pareto seine politische Soziologie auf die strategische Unterscheidung von Rentiers und Spekulanten gegründet (eine Variante, basierend auf der hauptsächlichen Einnahmequelle, der klassischen Unterscheidung zwischen Konservativen und Erneuerern37). Dieser soziologische Torso wird von Miglio zu einer Theorie der politischen Rendite (und des spoils system) 33 Zur Einführung in sein Werk Ornaghi/Vitale 1992 und der Beitrag von Davide G. Bianchi in Campi/De Luca 2014, S. 617-32. 34 Miglio 2011, S. 290 ff. Vgl. aber Pareto, Trattato di sociologia generale § 2254: „Die herrschende Klasse ist nicht homogen. Sie besitzt selbst eine Regierung, d. h. eine engere Gruppe, einen Führer oder einen Ausschuss, die effektiv und praktisch herrschen“ (Pareto 2007, S. 296). 35 Miglio 2011, Bd. 2, S. 297: „Tutte le classi politiche sono soggette a fenomeni di ‘trasformismo’. In altri termini: è del tutto normale che i componenti di un’équipe di governo e ancor più a livello di classe politica, si sforzino di salvarsi e di ricomparire nelle nuove classi politiche che guadagnano il potere. Potremmo definirlo un fenomeno di ‘viscosità’ delle classi politiche. Lo si è sempre avuto“. Man sollte hier auch unterstreichen, dass Miglio genau ein Jahrhundert nach der Abrechnung Moscas mit der Krise des Parlamentarismus (in Teorica dei governi e governo parlamentare) dessen Diagnose in bezug auf die italienische Republik der Nachkriegszeit aktualisiert – in seinem Aufsatz Le contraddizioni interne del sistema parlamentare-integrale (s. Miglio 1988, S. 951-970). 36 Miglio 2011, Bd. 2, S. 300: „Cosa identifica una classe politica? L’analisi storica ci dà una risposta: le classi politiche si autoidentificano attraverso l’ideologia politica“. Man s. auch – S. 419 ff. – die Ausführungen über Fiktionen und „politische Masken“. Zur Ausarbeitung der Theorie der politischen Klasse s. dann seinen Beitrag ‚Classe politica’ e ‚ideologia’. Due superabili frontiere nella teoria moschiana del rapporto governanti-governati (1981) in ders., 1988, S. 833-843. 37 Pareto 1966, S. 472-73 (deutsch Pareto 2007, S. 239): „Die erste Kategorie ist großteils konservativ, steht Neuem, das sie stets ein wenig fürchtet, feindlich gegenüber, ist patriotisch und nationalistisch. Die zweite Kategorie hingegen ist Neuerungen gegenüber aufgeschlossen, entfaltet überall rege Betriebsamkeit, um gute Geschäfte zu machen, ist internationalistisch, weil sie überall Gelegenheit findet, ihre Industrie zu betreiben, und weil das Geld im Grunde genommen kein Vaterland hat. In der ersten Kategorie befinden sich die „Verwurzelten“, in der

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weiterentwickelt, die sich gleichzeitig als Fortsetzung der elitistischen Kritik an der parlamentarischen Korruption und an der Maschinerie der Parteienherrschaft („partitocrazia“) versteht.38 Ganz im Sinne Paretos stigmatisiert er die konservative Wendung einer verstaatlichen und kryptokorporativen Wirtschaft (er schreibt in den Jahren der konsensfähigen Etablierung neokorporatistischer Arrangements), die zur Lähmung der Innovationsfähigkeit des Systems führen könnte (Miglio 1988, S. 629 ff.). Bereits in seinem Aufsatz Un’applicazione di teorie sociologiche (1900) hatte Pareto außerdem die These vertreten, dass die Wirtschaftskrisen „nichts anderes sind als eine der zahlreichen Manifestationen des psychologischen Rhythmus“, der sich auch in anderen Fällen beobachten lässt, z. B. in der Moral, in der Religion und in der Politik.39 Wiederum geht Miglio von dieser Annahme (verortet auf der Linie Polybios-Machiavelli-Vico) aus, um eine Theorie des politischen Zyklus zu entwerfen – so z. B. in seinen Aufsätzen Le trasformazioni dell’attuale regime politico (1964) und Le trasformazioni dell’attuale sistema economico (1976).40 Wie Pareto war Miglio kein Verteidiger des status quo. Er verstand sich als der Analyst einer Epoche, in der die zentrifugalen Kräfte die Oberhand gewonnen hatten. Konstant ist in Miglios wissenschaftlichem Werdegang das Eintreten für den politischen Realismus in seiner stärksten Ausprägungen geblieben.41 Anders als Bobbio, der bis zuletzt nicht verstehen konnte, wie linke Politiktheoretiker das von ihm festgestellte Loch einer fehlenden marxistischen Demokratietheorie mit der schmittschen Liberalismus- und Rechtsstaatskritik zu stopfen gedachten, hat Miglio offen Partei für die Theorie des Politischen ergriffen und selbst seine Sympathie für jene neue Linke (s. unten § 8) nicht verheimlicht. Nicht bereit, von der These des Primats der Politik Abschied zu nehmen, und überzeugt von der wissenschaftlichen Gültigkeit des schmittschen Kriteriums des Politischen, hat Miglio gerne die grauen Zonen

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zweiten die „Entwurzelten““. Vgl. präzisierend Pareto 1964, § 2235 und § 2565: „il punto debole del governo degli “speculatori” sta nel difetto loro di coraggio e nella scarsa attitudine che hanno a sapere usare la forza“. Im Trattato di sociologia (§ 2232 ff.) wird die unterschiedliche Orientierung dieser sozialen Gruppierungen auf die unterschiedliche Verteilung der Residuen der Klasse I („istinto delle combinazioni“) und der Klasse II („persistenza degli aggregati“) zurückgeführt. Miglio 2011, Bd. 2, S. 320 ff. Hier auch (S. 343) seine Definition der Parteien als „macchine per la produzione di rendite politiche“. Auf der Grundlage dieser Kritik koordinierte Miglio ein anspruchsvolles, auf ein „governo di legislatura“ gerichtetes, doch praktisch unbeachtet gebliebenes Projekt der Verfassungsreform für die italienische Republik: s. Gruppo di Milano 1983. Pareto 1966, S. 236 (dt.: Pareto 2007, S 76). Siehe auch Trasformazione della democrazia in ebenda, S. 981. Miglio 1988, S. 447-474 und 609-641. So z. B. in dem Aufsatz aus dem Jahr 1964, in Miglio 1988, S. 469: „dai tempi di Machiavelli – anzi: da quelli di Tucidide – è sempre toccato a coloro che scrutano per mestiere la natura della politica – anche ai più umili e modesti artigiani di questa professione – il duro privilegio di chiamare le cose con il loro nome e di aiutare gli uomini a non confondere la realtà effettuale con i propri sogni“.

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an den Grenzen der Fächer untersucht. Doch gegen das Modell des generalisierten politischen Tausches hat er ständig den prinzipiellen Unterschied zwischen der Sphäre des „contratto-scambio“ und der Sphäre der „decisione politica“ betont.42 7. Seit Karl Mannheim, Joseph Alois Schumpeter und Carl-Joachim Friedrich ist der demokratische Elitismus Voraussetzung und fester Bestandteil der empirischen Politikwissenschaft. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich dieses Paradigma gegen die klassische Demokratietheorie durch. Das gilt natürlich auch für die italienische Politikwissenschaft der Nachkriegszeit (political science im engeren Sinne), die ihren Initiator und Hauptvertreter in Giovanni Sartori (1924-2017) hat. Es gilt aber anzumerken, dass der Florentiner Sartori seine ersten Schritte als Kritiker der politischen Philosophie Benedetto Croces getan hatte und sich im Geiste Bobbios und im Kontext der Auseinandersetzungen um das Buch Politica e cultura Mitte der fünfziger Jahre der Politikwissenschaft gewidmet hatte. Einen seiner Leitgedanken hat Sartori aus Italien in die Vereinigten Staaten mitgebracht, nämlich die These, dass nicht der Vorrat an Ideologien, sondern eher der Vorrat an Idealen in der Überflussgesellschaft erschöpft sei.43 „Was eine Demokratie sein sollte ist viel leichter zu verstehen, als was sie sein kann. Der „politische Realismus“ soll es herausfinden – wenn man ihn so versteht, dass er bezüglich der praktisch wirksamen Wahrheit, Machiavellis „verità effettuale“, Bilanz zieht“: so der lange in New York (Columbia) lehrende Politikwissenschaftler in seinem Hauptwerk über die Demokratietheorie (Sartori 1992, S. 46). In seinem ganzen Oeuvre engagiert er sich für ein Plädoyer für einen „kognitiven Realismus“, in der Annahme, dass es „keine notwendige Verknüpfung zwischen realistischer und undemokratischer Haltung“ gäbe; ein Plädoyer, das dennoch zu dem folgenden Ergebnis führt: „Empirische Demokratien sind natürlicherweise realistisch, rationalistische dagegen tendieren zum Antirealismus“.44 42 Miglio 2011, Bd. 2, S. 241 ff. In dem für ihn typischen Formulierungsmodus: „ogni sintesi politica (è) per sua natura esclusiva e conflittuale. Di conseguenza non si può immaginare nessuna aggregazione politica che non sia legata a una polarizzazione esterna, cioè alla creazione, se non al riconoscimento, dei nemici“ (S. 255). Gianfranco Miglios Edition einer Sammlung von Texten Carl Schmitts ist in Italien eine Schmitt-Renaissance in den 1970er Jahren geschuldet. Siehe seine Einleitung (1971) zur italienischen Ausgabe von Der Begriff des Politischen, in: Schmitt 1972, S. 7-14 (dt.: Miglio 1988b). 43 Sartori 1992, S. 471 ff. Hier auch die These, dass „der Marxismus keineswegs notwendig die letzte der Ideologien ist und man den Niedergang einer bestimmten Ideologie nicht mit dem der Ideologie überhaupt verwechseln darf“. 44 Sartori 1992, S. 60. „Jede richtige beschreibende Aussage, jede empirisch verifizierte Behauptung ist eine „realistische“ Aussage. Der politische Realismus ist also nicht mehr und nicht weniger als die Tatsachenkomponente aller und jeder Politik […]. Denn die grossen Ismen der Politik – Rassismus, Nationalismus, Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus, Populismus usw. – beruhen auf Wertentscheidungen, die nicht aus den Tatsachen abgeleitet, sondern ihnen aufgepflanzt werden“ (ebenda, S. 51). Vgl. das Lemma Ideologie in Sartori 1987, S. 108, wo er die Entgegenstellung von „Rationalismus“/„Ideologie“ einerseits und „Empirismus“/„Prag-

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Das Hauptmerkmal der rationalistischen Demokratie ist für Sartori der Perfektionismus, der vom Anspruch geleitet wird, das politische Dasein nach den Maßstäben des Sollens umzugestalten. Das Sollen ist dennoch nicht Ersatz für das Sein oder eine Alternative dazu, es ist bloß Korrektiv, aktivierte Energie gegen den Widerstand der Wirklichkeit. Stattdessen starrt der Perfektionist „auf die Maximierung der Ideale“, weil er „wenig auf den notwendigen Abstand zwischen Idealen und Praxis achtet und daher auch nicht weiß, wie er Vorschriften umsetzen, auf die Wirklichkeit anwenden kann“ (Sartori 1992, S. 67). Der Perfektionismus ist damit zum Scheitern verurteilt, auch weil er unvermeidlich mythische oder utopische Züge trägt. In seiner Kritik dieses fehlgeleiteten Perfektionismus wendet sich Sartori gegen jegliche ideologische Instrumentalisierung der Werte, auf denen eine Demokratie gegründet ist, und gegen den „Ideologismus“, der Eines erzeugt: „l’aggressione di minoranze „veggenti“ attese a imporre a tutti il loro retto-pensiero“45. Auffallend ist auch seine Anknüpfung an die elitistische Tradition. In seinem ersten Buch zum Thema, Democrazia e definizioni (1957), schlägt er vor, ganz im Sinne der klassischen Elitisten, die Demokratie zu definieren als „ein System, das auf einem fiktiven Mehrheitswillen beruht, gleichwohl aber von einer Minderheitenregierung hervorgebracht und bewahrt wird“.46 Gemäß der kompetitiven Auffassung der Demokratie hat der Wettbewerb den Gewinn des Volksvotums zum Ziel und wird durch das Volksvotum entschieden. „Demokratie ist das Nebenprodukt einer konkurrenzbestimmten Methode der Auswahl von Führern.“47 Aber Sartori entschärft das gegenseitige Ausspielen von klassischer und neuer Demokratietheorie, wie es von Schumpeter konstruiert wurde, und stellt eher die These auf, dass die Demokratie ein Verfahren ist, das „a) eine offene Polyarchie erzeugt, deren Konkurrenz auf dem Wahl-Markt b) dem Volk Macht verleiht und c) insbesondere erzwingt, dass sich die Führer gegenüber den Geführten aufgeschlossen zeigen“ (Sartori 1992, S. 165). Dies darf jedenfalls nicht darüber hinwegtäuschen, dass die oligarchischen

matismus“ andererseits ganz im Sinne der Unterscheidung von Pareto weiterdekliniert. „Quando ideologia e pragmatismo sono contrapposti dualisticamente […], ideologia è un sistema di credenze imperniato su i) elementi fissi caratterizzati da ii) alta intensità emotiva e da iii) struttura cognitiva chiusa. Per contro, pragmatismo è un sistema di credenze fondato su i) elementi flessibili caratterizzati da ii) bassa intensità emotiva e iii) struttura cognitiva aperta“ (S. 113f.). 45 Sartori 1993, S. 288-89: „L’ideologismo abitua a non pensare, è l’oppio della mente; ma è anche una macchina di guerra attesa ad aggredire e silenziare il pensiero altrui“. 46 Sartori 1957, S. 98. Als Nachweis für den Elitismus Sartoris kann seine empirisch gestützte These zitiert werden, nach der nicht nur die Politik in jedem Regime das Werk von wenigen ist, sondern auch die Bürger „politicamente informati-interessati si aggirano, nell’Occidente, tra il 10-25 per cento dell’universo, mentre i competenti precipitano a livelli del 2-3 per cento“ (Sartori 1997, S. 92). 47 Sartori 1992, S. 161: „Und das nennen wir – in Rahmen der Konkurrenztheorie – die Rückkopplungstheorie der Demokratie“. Die Konkurrenztheorie ist „sicher nicht die ganze Demokratietheorie. Doch sie liefert der beschreibenden Theorie eine Gruppe notwendiger und hinreichender Bedingungen für das Bestehen einer politischen Demokratie“.

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Tendenzen bei den demokratischen Entscheidungsprozessen eindeutig im Vordergrund stehen. Wie Bobbio, der in seinen im Grunde skeptischen Überlegungen zuletzt der Diagnose der Unregierbarkeit der Trilateralen Kommission prinzipiell zugestimmt hatte, so neigte auch Sartori immer mehr zu einem pessimistischen Bild über die Zukunft der Demokratie. Eine Demokratie ohne äußere Feinde – so argumentierte er nach dem Mauerfall – hat immer größere Schwierigkeiten, ihre internen Probleme, darunter das stetige Anwachsen neuer Nachfragen („i diritti-pretese“), zu bewältigen.48 In diesem Kontext findet auch seine scharfe Polemik gegen den Multikulturalismus (als perfektionistische Umdeutung des Pluralismus) ihren Platz. Lange vor der Zuspitzung der Migrationskrise der letzten Jahren hatte Sartori nachdrücklich auf die tickende Gefahr des Bevölkerungswachstums bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Rückständigkeit und steigenden Erwartungen hingewiesen: „Perfektionismus und Desillusionierung folgen der wirtschaftlichen Entwicklung (sie treten nicht auf, solange der Mangel noch groß ist), und die „große Leere“ eines Zeitalters der Freizeit schafft neue Rebellen, neue Protesthaltungen und noch andere unvorhergesehene Schwierigkeiten“49. 8. In Abgrenzung zur ethischen Idealisierung der Machtverhältnisse manches konservativen Milieus galt der Realismus schon immer auch als Kennzeichen der linken politischen Theorie – eine Linie, die in Italien von Antonio Labriola und Antonio Gramsci zu Antonio Negri, Mario Tronti und Massimo Cacciari reicht. Bereits zur Zeit der faschistischen Diktatur war bekanntlich Gramscis Theorie der kulturellen Hegemonie der Arbeiterpartei von dem Einfluss des elitistischen Ansatzes auch auf das Denken der italienischen Linken geprägt (die Quaderni del carcere sind von kritischen, aber einleuchtenden Verweisen auf Mosca, Pareto und Michels durchsät).50 Bezeichnender noch war seine Anwendung der machiavellischen Theorie auf die Organisationsform der Arbeiterklasse: Der neue Fürst ist die Partei, „die den Staat gründen will“ und dazu strategisch Gewalt und Konsens als Mittel zum Zweck einsetzt.51

48 Vgl. Sartori 1993, S. 321-324. „La società delle spettanze – che sono anche crescenti – non è solo “tutta diritti”; è anche una società caratterizzata dalla rivendicazione di diritti materiali“ (S. 322), also Rechte, die viel Geld kosten. 49 Sartori 1992, S. 474: „die einzigen befriedeten Gesellschaften diejenigen sind oder sein werden, deren Wirtschaftsleistung deutlich rascher als ihre Bevölkerung wächst“. Zur Kritik des Multikulturalismus Sartori 2000. 50 So auch Beyme 2002, S. 262 und 821. 51 Siehe z. B. Gramsci 1991-1993, Bd. 3, S. 470-71: Die „politischen Maximen“ dieses neuen Fürsten wären „als individualisierte Notwendigkeit und nicht als Prinzipien von Wissenschaft“ zu verstehen. Ganz im Sinne Moscas konstituiert sich eine politische Klasse nach Gramsci dank ihrer Fähigkeit zur Selbstorganisation und dank ihrer höheren Kompetenz und moralischen Energie. In bezug auf die Arbeiterpartei als „novello principe“ spricht er von einer Grup-

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Der Tradition des politischen Realismus zugehörig sind alle die genannten Autoren insoweit, weil sie sich im Wesentlichen die Geschichtsauffassung und die Gesellschaftskritik des Marxismus zu eigen machen. Es handelt sich aber dabei um einen halbierten politischen Realismus, da diese Geschichtsauffassung postuliert, dass nach der (wie immer auch definierten) Revolution das „Reich der Freiheit“, also das Zeitalter der Solidarität, des Common-Wealth und der „absoluten Demokratie“ entstehen wird.52 Viele der Positionen der neuen Linken grenzen sich voneinander ab, stehen in Konkurrenz zu einander und basieren auf ganz unterschiedlichen Annahmen. Einige der oben genannten Autoren haben dennoch Eines gemeinsam: Sie haben sich ab den siebziger Jahren intensiv mit Carl Schmitt auseinandergesetzt, um Defizite der marxistischen Theorie zu beseitigen und eine Theorie der Autonomie des Politischen zu entwickeln.53 Es geht bei solchen theoretischen Erarbeitungen um die Erfahrung einer Generation, die wahrnehmen musste, dass die Machtbeziehungen, auf deren Grundlage der Staat noch immer existiert, von zentralistisch geleiteten Revolutionen nicht erschüttert wurden. Daher stammen auch inhaltlich übereinstimmende Fragestellungen, Befunde und Schlussfolgerungen. Eine besondere Stelle unter diesen Autoren nimmt der wissenschaftliche Werdegang von Danilo Zolo ein, in vielen Schriften Vertreter einer dezidierten antiimperialistischen Ausrichtung. Programmatisch versucht er in seinem Buch Il principato democratico (1992), die Instanzen der demokratischen Tradition in realistischen Begriffen neu zu formulieren und diese Tradition den Komplexitäts- und Differenzierungsebenen der modernen Gesellschaften anzugleichen.54 Besonders markant ist bei ihm – in einer Zeit, in der das neoliberale Projekt an Einfluss gewonnen hat – die Polemik gegen „das neoklassische Paradigma der pluralistischen Demokratie“, paradigmatisch bei Sartori vertreten und von dem sich selbst Bobbio nicht befreit habe.55 Die Verfahrensmechanismen der pluralistischen Demokratie verstärken nach Zolo

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pe von Menschen, „che a loro volta si organizzano intorno a uno dotato di maggiore capacità e di maggiore competenza“ (zit. aus einem Aufsatz des Jahres 1924 nach Canfora 2009, S. 84). Die ontologische Umkehrung ins Reich der Freiheit wird in der neuesten politischen Literatur exemplarisch in den Werken von Toni Negri und Michael Hardt dargestellt, die aus dem Zusammenbruch und aus den Aschen des „empire“ die Entstehung einer gemeinschaftlichen Ordnung, der Demokratie als „Regierungsform der Multitude“ erwarten. Sie erheben somit den Anspruch, den grundlegenden Widerspruch der republikanischen Regierungsform der Neuzeit zu entlarven, die wesentlich eine „respublica des Privateigentums“ ist (Hardt/Negri 2002 und 2004). Vgl. Birkner 2016, der eine Gesamtwürdigung des Denkweges Negris vorlegt, die unterstreicht, wie ihm die Perspektive der „Autonomie des Politischen ebenso fremd wie eine ideologietheoretische Fokussierung“ war (s. S. 90). Vgl. Duso 1981, Staff 1991, Maschke 1987 und den Beitrag von Mario Tronti in Ornaghi/Vitale 1992, S. 97-102. Interessant wäre hier der Vergleich mit parallel laufenden Debatten in der französischen kritischen Demokratietheorie, s. Flügel-Martinsen/Martinsen 2015. Zolo 1997. Mit diesem Werk will Zolo einen Beitrag zur Selbstbescheidung der politischen Philosophie und der politischen Wissenschaft leisten. Zu seiner Einschätzung von Bobbios Theorie, ebenda, S. 125 ff., aber auch Zolo 2008. Zolo 1997, S. 117: „Das Charakteristische der neoklassischen Schule, was ihr bekanntermaßen auch die polemische Bezeichnung demokratischer Elitismus eingetragen hat, ist der Versuch,

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die Tendenz zur Oligarchisierung der Gruppen und erzeugen den Effekt, die sozialen Ungleichheiten zu stabilisieren; darüber hinaus laufen sie in der Epoche des Neoliberalismus Gefahr „immer mehr durch Formen effizienter Machtausübung ersetzt zu werden, weil diese in der Lage sind, die Komplexität mit einem besseren Einsatz von Geld, Zeit und Aufmerksamkeit zu regieren“ (Zolo 1997, S. 136). Zolos Kritik an den Parteien nimmt Akzente an, die in ihrer Schärfe denen der Klassiker des Antiparlamentarismus in nichts nachstehen.56 Somit bestreitet er letztendlich, dass es einen Unterschied zwischen demokratischem Elitismus und Elitismus schlechthin gäbe. Gegen den „falschen Realismus der ökonomischen oder empirischen Politiktheorien“ und gegen die „moralistischen Entwürfe“ der normativen Philosophien, denen er eine „redundante Apologie der existierenden Machtordnungen“ vorwirft, hat also Zolo eine an der Systemtheorie orientierte Neuauflage des politischen Realismus (mit ihrer Diagnose der komplexitätsimmanenten Inflation der Macht) vorgelegt.57 Er folgt der Diagnose, derzufolge die „Entlastung des politischen Systems von einem Übermaß an Demokratie“ als „strukturelle Bedingung für das Überleben der Demokratie selbst“ dargestellt werden kann. Hatte sich Bobbio noch Gedanken über die Zukunft der Demokratie gemacht, so scheint nun Zolo zu postulieren, dass die Demokratie ohne Zukunft sei. „Das Vakuum der Macht mit positiven Vorzeichen kann sich als nicht weniger gefährlich für die Freiheitsrechte auswirken als ein Machtmissbrauch“ (Zolo 1997, S. 165). Zusammen mit dem verfassungsdemokratischen Normativismus werden dann für ihn auch Internationalisierung und Kosmopolitismus der klassischen Moderne zu ideologischen Versprechungen. Anders als bei den anderen hier behandelten Autoren, ist seine Option für eine realistische Machttheorie dennoch mit einem emphatischen Nein zum anthropologischen Pessimismus gekoppelt. Zolo ist infolge seiner weltanschaulichen Orientierung ein scharfer Kritiker Giovanni Sartoris und seiner liberal-demokratischen Politiktheorie. Und dennoch – abermals im Namen des politischen Realismus – lässt sich eine frappierende Konvergenz zwischen beiden in der Kritik der mediengesteuerten Gesellschaft mit ihrem

jede Gegenüberstellung von elitistischen Thesen und klassischer Demokratietradition zu vermeiden“. Es ist für ihn klar, dass „die Theoretiker des Pluralismus, wenngleich auch zutiefst skeptisch gegenüber der klassischen Annahme der Autonomie, Rationalität und sittlichen Verantwortung des Bürgers, sich dessen nicht völlig entledigen können“ (S. 183). 56 Zolo 1997, S. 149: „Die Parteien sind ununterbrochen damit beschäftigt, ihre Macht zu reinvestieren, um die Grundlage ihrer Macht in einem kurzgeschlossenen Kreislauf zu stärken, in welchem sie, meistens außerhalb der legitimierten Verfahrensweisen, Ressourcen, Vorteile und Privilegien verteilen, um rekursiv den Fluss an Solidarität, an Teilhaberschaft und am Gesetz des Schweigens zu fördern, der die Essenz ihrer Macht darstellt“. 57 Für eine ähnliche Ausrichtung in der neuesten Literatur Geuss 2011.

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populistischen Politikangebot feststellen.58 Zolo scheint sich keine Illusionen über die Möglichkeit der postdemokratischen Regime zu machen, „sich der Belagerung des Informations-Panopticons zu entziehen“ (ebenda, S. 137). Als wirkungsvolle „Modulatoren der öffentlichen Aufmerksamkeit“ haben die Medien durch die stillschweigende Reduktion der Komplexität der politischen Kommunikationsthemen und die „Begünstigung des Drangs zum Konformismus, zur Apathie und zum politischen Schweigen“ eine Veränderung der demokratischen Regierungsform hervorgebracht: mit der Folge, dass „das Wesen des demokratischen Systems in den Informationsgesellschaften problematisch und sein Schicksal völlig ungewiss ist“ (ebenda, S. 203 ff.). Aber auch Sartori hat in seinem Aufsatz Homo videns (1997) – ein Text, den ein Pareto redivivus hätte schreiben können – gegen die Videopolitik argumentiert und die These vertreten, dass „die Mediendemokratie“ sich zum Nachteil einer vernünftigen Diskussion über die Themen auf der politischen Agenda entwickelt. 9. Diese realistische Färbung ließe sich auch in anderen Bereichen der Sozialwissenschaften dokumentieren, wo nicht selten drei Stränge der klassischen Theorie – die marxsche Klassenökonomik, die webersche Herrschaftssoziologie und die Elitenlehre – zusammengeführt worden sind: ein eminentes Beispiel bei Alessandro Pizzorno.59 Auch auf dem Feld der italienischen Historiographie des 20. Jahrhunderts – von Croce über Salvemini, Federico Chabod, Delio Cantimori bis Renzo De Felice – lässt sich der Einfluss der realistischen Tradition zum Vorschein bringen. Ich beschränke mich in diesen Schlussbemerkungen darauf, auf das Werk zweier noch lebender Historiker zu verweisen: Luciano Canfora und Massimo L. Salvadori. An Thukydides geschult, betont der Althistoriker Luciano Canfora in allen seinen Schriften (von denen einige auch der historischen Figur Caesars und dem Idealtyp des Caesarismus gewidmet sind) die ernüchternde Produktivität des realistischen Ansatzes.60 Sein Buch, La democrazia. Storia di un’ideologia, ist eigentlich eher eine Geschichte der Oligarchien und der Cäsarismen, eine Meditation über den Zusammenhang zwischen „Zugehörigkeit“ zum Volk und Rolle des „Führers““ und über den fehlenden Zusammenhang zwischen dem Mehrheitsprinzip und der Demo58 Vgl. Zolo 1997, S. 201, und Sartori 1997b, S. 35 ff. Auch in Hinblick auf die pessimistische Darstellung eines beängstigenden Szenarios von Unordnung, Überbevölkerung und weltweiter Umweltzerstörung lassen sich Affinitäten zwischen beiden bemerken. 59 Siehe insbesondere den Aufsatz Come pensare il conflitto in: Pizzorno 1993, S. 187-203. Es ist kein Zufall, dass Pizzorno das Kapitel „Sistema sociale e classe politica“ in der maßstabsetzenden, von Luigi Firpo konzipierten und geleiteten Storia delle idee politiche, economiche e sociali schrieb. Noch bezeichnender ist, dass Pizzorno 1952 seine soziologische Laufbahn mit einem Aufsatz über La maschera begann, in der die Maske nicht nur als Instrument der Verkleidung, sondern auch als identitätsstiftende Kraft gedacht wird (Pizzorno 2007, S. 343-387). Unter vielen neueren Untersuchungen zum Elitenkomplex Casiccia 2004. 60 Siehe z. B. Canfora 2002, S. 109, wo er wie folgt die Erbschaft des 20. Jahrhunderts zusammenfasst: „le oligarchie legate alla ricchezza vincono, quelle ideologiche perdono“. Siehe auch Canfora 2009 und 2013.

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kratie.61 Leitmotiv seiner Geschichtsdeutung ist die Allgegenwärtigkeit der Oligarchien. Gaetano Mosca, dessen „maßvoller und scharfsinniger Pessimismus“ von Canfora geteilt wird, fungiert als Stütze für die These der faktischen „Inexistenz“ und gleichzeitig der „Unentbehrlichkeit“ der Demokratie.62 Insbesondere der Zusammenbruch des realsozialistischen Experiments motiviert ihn zu einer eher pessimistischen Diagnose. „Die Demokratie ist auf andere Epochen verschoben und wird von anderen Menschen neu konzipiert werden. Vielleicht nicht mehr von Europäern“ (Canfora 2007, S. 357). In mehreren Büchern hat sich Massimo Salvadori der Genealogie des Elitismus sowie seinem Fortbestehen in der demokratischen und sozialistischen Tradition gewidmet – neulich noch in seiner umfassenden Democrazia. Storia di un’idea fra mito e realtà (2015) – ein teilweise kritisches Pendant zu Canforas Ausführungen. Am Ende eines langen Weges durch die Gelände der politischen Lehren kommt Salvadori, ein Gelehrter, der sich dem demokratischen Sozialismus, der inzwischen unterlegenen Ideologie des sozialdemokratischen Jahrhunderts, immer noch verpflichtet fühlt, zu dem selben nüchternen Ergebnis der Klassiker des Elitismus.63 Das Schlusswort in diesem Werk lautet: Die Geschichte scheint den regressiven Kurs zu postdemokratischen „liberalen Oligarchien“ gewählt zu haben; das demos wurde am Ende des 20. Jahrhunderts von den Oligarchien besiegt („il demos ha perso la partita nei confronti delle oligarchie“)64. Was hier auffällt, ist die überraschende Übereinstimmung mit Canfora. Die Demokratie, reduziert auf eine Wahldemokratie, nur fähig „governi a legittimazione popolare passiva“ zu bilden, erfährt einen Niedergang in der öffentlichen Meinung und die zunehmende Abkoppelung der Organisation des politischen Konsensus von den realen Entscheidungen. Kontrastiv zu diesem realistischen Kontinuum – das darf am Schluss dieser Rekonstruktion nicht verschwiegen werden – ist der öffentliche Diskurs der letzten Jahrzehnte in Italien natürlich auch durch eine intensive Beschäftigung mit anderen Richtungen der politischen Theorie charakterisiert, die sich auf Autoren wie Hannah Arendt, John Rawls und Jürgen Habermas stützen. Aber ausgerechnet die widerstrebende Koexistenz dieser normativ anspruchsvollen Positionen mit der Demokratieskepsis der realistischen Einstellungen hat zur Bestätigung traditioneller Merkma61 Canfora 2007, S. 13 und 47. 62 Ebenda, S. 325. „Weil die „Demokratie“ keine Regierungsform, kein Verfassungstyp ist, kann sie in den unterschiedlichsten politisch-konstitutionellen Formen herrschen, teilweise herrschen, gar nicht herrschen oder sich wieder zur Geltung bringen“ (ebenda, S. 356). 63 Salvadori 2015, S. XV: „Il principio della sovranità popolare – che ha avuto una forza tanto irresistibile da diventare un dogma politico – non ha mai avuto riscontro nell’esercizio concreto del potere. Dove e quando astrattamente affermato con la maggiore forza, è stato in pratica vanificato; nei regimi liberaldemocratici esso è stato celebrato come ideologia legittimante, ma in concreto soggetto ai limiti impliciti nel trasferimento della sovranità effettiva ai parlamenti e ai governi, lasciando al popolo l’illusione di essere pur sempre sovrano grazie al voto nelle competizioni elettorali“. 64 Ebenda, S. 491.

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le der politischen Kultur des Landes – Maximalismus und Transformismus vor allem – geführt. Immer wieder werden damit Wünschbarkeiten, die man im Hinblick auf eine rechtmäßige politische Ordnung postulieren soll, durch hartnäckig widerstrebende Tatsachen konterkariert: fruchtbarer Nährboden für jedwede Ausbrütung von Populismus.

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Autoren

Martin Beckstein, Jg. 1980, Dr. rer. pol., Postdoktorand für Politische Philosophie an der Universität Zürich. Zuvor u.a. Gastprofessor für Politische Theorie an der Universität Wien sowie Gastwissenschaftler an der Columbia University, New York University, Princeton University und der University of Oxford. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorien und Ideologien, insbesondere Konservatismus, Methoden der Politischen Ideengeschichte, Politische Ökonomie. Ausgewählte Veröffentlichungen: The Politics of Economic Life, New York 2015; Politische Ideengeschichte: Interpretationsansätze in der Praxis (mit Ralph Weber), Göttingen 2014; The Monist: Conservatism, 99/4 (herausgegeben mit Francis Cheneval und Barry Smith) 2015. Email: [email protected] Stefano Biancu, Jg. 1978, Dr. Phil., Dr. Theol., assoziierter Professor für Moralphilosophie an der Universität Roma-LUMSA; leitender Herausgeber der Zeitschrift Munera. Rivista europea di cultura (www.muneraonline.eu). Forschungsschwerpunkte: Italienische Philosophie (Vico, Leopardi, Capograssi), Philosophie und Ethik der Autorität, Ethik des Vergebens, philosophische Anthropologie (der homo symbolicus), Philosophie und Ethik der Zeit. Ausgewählte Veröffentlichungen: La poesia e le cose. Su Leopardi, Milano 2006; Saggio sull’autorità, Milano 2012; Il simbolo. Una sfida per la filosofia e per la teologia (mit Andrea Grillo), Cinisello B. 2013; Presente. Una piccola etica del tempo, Cinisello B. 2014, französische Übersetzung Paris 2015, Perdono: negoziazione o compimento della giustizia? (Hg. mit A. Bondolfi), Trento 2015. Email: [email protected] Alberto Bondolfi, Jg. 1946, Studium der Philosophie und Theologie an der Universität Freiburg in Üechtl. Nach einer Periode als Assistent am Institut für Moraltheologie der gleichen Universität wurde er als ständiger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialethik der Universität Zürich tätig. Habilitation an der Universität Luzern; im Jahre 2001 zum Professor für Ethik an der Universität Lausanne berufen. Er hat die Schweizerische Gesellschaft für biomedizinische Ethik (SGBE) mitbegründet und geleitet (2000-2006) sowie die Societas ethica präsidiert. Er war Mitglied der schweizerischen Nationalethikkommission für die Probleme der Humanmedizin. Ausgewählte Veröffentlichungen: Primum non nocere. Saggi di etica medica, Comano 1992; Ethisch Denken und moralisch Handeln in der Medizin, Zürich 2000; Au-

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tour de la peine de mort: quel héritage chrétien?, in: Revue d’éthique et de théologie morale, 245 (2007), S. 9-31. Email: [email protected] Norbert Campagna, Jg. 1963, Promotion in Trier, Habilitation im Fach Philosophie an der Université Paris XII, professeur-associé für Philosophie an der Université du Luxembourg und Studienrat für Philosophie am Lycée de Garçons Esch. Forschungsschwerpunkte: Staatsphilosophie und angewandte Ethik, dort besonders Sexualethik. 26 Buchveröffentlichungen und zahlreiche Fachaufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften und in Sammelbänden. Letzte Veröffentlichungen: La sexualité des handicapés. Faut-il seulement la tolérer ou aussi l’encourager?, Genève 2012; Staatsverständnisse im spanischen siglo de oro, Baden-Baden 2013. Email: [email protected] Manuel Knoll, Jg. 1964, Dr. phil. habil., Professor für Philosophie an der Istanbul Şehir University, Mitglied von Instituto „Lucio Anneo Séneca“ (Universidad Carlos III de Madrid), Lehrbeauftragter für Theorie der Politik an der Hochschule für Politik München, Privatdozent für Politische Theorie und Philosophie an der Universität München (LMU), Mitherausgeber von Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie. Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie und Ethik, insbesondere antike und zeitgenössische Gerechtigkeitstheorien, Sozialphilosophie und Kritische Theorie, klassische griechische Philosophie. Publikationen u.a.: Studienbuch Antike griechische Philosophie, Berlin/Boston 2017; Michael Walzer. Sphären der Gerechtigkeit. Ein kooperativer Kommentar (Vorwort von Walzer), hrsg. mit Michael Spieker, Stuttgart 2014; Nietzsche as Political Philosopher, hrsg. mit Barry Stocker, Berlin/Boston 2014; Das Staatsdenken der Renaissance – Vom gedachten zum erlebten Staat, hrsg. mit Stefano Saracino, Baden-Baden 2013; Aristokratische oder demokratische Gerechtigkeit? Die politische Philosophie des Aristoteles und Martha Nussbaums egalitaristische Rezeption, München 2009; Theodor W. Adorno. Ethik als erste Philosophie, München 2002. Email: [email protected]; Homepage: www.manuelknoll.edu Markus Krienke, Jg. 1978, Dr. theol. habil., Promotion 2003 und Habilitation 2009/ 2011 an der LMU München, 2011 Master in Philosophie an der Universität Trient, 2014 italienische Habilitation in theoretischer Philosophie und philosophischer Ethik. Ordinarius für Moderne Philosophie und Sozialethik an der Facoltà di Teologia di Lugano, Professor für philosophische Anthropologie an der Pontificia Università Lateranense in Rom, Professor für Sozialethik an der Theologischen Fakultät Mailand und für Philosophie der Neuzeit und Gegenwart am Studio Teologico San Francesco in Mailand, Direktor der Cattedra Antonio Rosmini in Lugano. Veröffent-

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lichungen: (zusammen mit Franco Buzzi) Toleranz und Religionsfreiheit in der Moderne, Stuttgart: Kohlhammer 2017; (Hg.) Comprendere la vita. Pensare morte e immortalità oggi, Pisa: ETS 2016; (Hg.) Oltre il corpo. Metafisica e biopolitica, Milano-Udine: Mimesis 2016; (Hg.) Il libero arbitrio in una prospettiva interdisciplinare, in: Rivista teologica di Lugano 20, 2015; (Hg. zusammen mit Wilhelm Staudacher) Zukunftsfragen – I quesiti del futuro, 3 Bde., Soveria Mannelli: Rubbettino 2009; Antonio Rosmini. Ein Philosoph zwischen Tradition und Moderne, Freiburg-München: Karl Alber 2008; (Hg.) Rosmini und die deutsche Philosophie – Rosmini e la filosofia tedesca, Berlin: Duncker & Humblot 2007. EMail: [email protected] Pier Paolo Portinaro, Jg. 1953, Dr. phil, seit 1992 Prof. für Politische Philosophie an der Universität Turin (Italien). Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie, Ideengeschichte. Publikationen u.a.: Il realismo politico, Laterza, Roma-Bari 1999, Il labirinto delle istituzioni nella storia europea, il Mulino, Bologna 2007, Introduzione a Bobbio, Laterza, Roma-Bari 2008, Breviario di politica, Morcelliana, Brescia 2009, I conti con il passato. Vendetta, amnistia, giustizia, Feltrinelli, Milano 2011, L’imperativo di uccidere. Genocidio e democidio nella storia, Laterza, Roma-Bari 2017. E-mail: [email protected] Volker Reinhardt, Jg. 1954, Dr. phil, seit 1992 o. Prof. für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit in Fribourg (CH). Forschungsschwerpunkte: Geschichte Italiens und der Schweiz. Publikationen u.a.: Pontifex. Die Geschichte der Päpste. Von Petrus bis Franziskus, München 2017; Luther, der Ketzer. Rom und die Reformation, München, 3. Aufl. 2016; De Sade oder Die Vermessung des Bösen. Eine Biographie, München 2014; Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Biographie, München 2012; Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf, München 2009; Francesco Vettori (1474–1539): Das Spiel der Macht, Göttingen 2007. E-mail: [email protected] Francesca Russo, Jg. 1972, ist Professorin für Geschichte des politischen Denkens am Department für Pädagogik der Universität Suor Orsola Benincasa Neapel. Sie war vom Mai bis Juli 2011 Scholar am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte und dort ebenfalls 2014 und 2017 Gastwissenschaftlerin. Ebenso führten sie Gastaufent-halte an die Universitäten von Edinburgh (2014), Paris (2015, 2016), Ottawa (2016) und Kent (2016). Zu ihren Publikationen zählen u.a.: Bruto a Firenze: Mito, imagine e personaggio tra Umanesimo e Rinascimento, Neapel 2008; L’utopia

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della Res publica nei ‘Dialoghi’ di Antonio Brucioli, in: Morus 10 (2015); Donato Giannotti. Pensatore politico europeo, Napoli 2016. Email: [email protected] Stefano Saracino, Jg. 1980, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Wien im Forschungsprojekt „Soziales Engagement in den Wiener griechischen Gemeinden, 1780-1918“ (FWF). Forschungsschwerpunkte: Ideengeschichte, Konfessionsgeschichte, Migrationsgeschichte, Machiavelli, politische Utopien. Publikationen u.a.: Symbolische Kommunikation über Festungen. Machiavelli und der Fortifikationsdiskurs im 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 42/1 (2015), S. 1-36; Republikanische Träume von der Macht. Die Utopie als politische Sprache im England des 17. Jahrhunderts, Göttingen 2014; Tyrannis und Tyrannenmord bei Machiavelli. Eine antitraditionelle Auffassung politischer Gewalt, politischer Ordnung und Herrschaftsmoral, München 2012. Email: [email protected] Benjamin Schmid, Jg. 1981, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr München. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des politischen Denkens und politische Ikonologie. Publikationen u.a.: Kunst im Sinne Machiavellis. Leonardo, Michelangelo und die Fresken im Ratssaal von Florenz, in: Saracino, Stefano / Knoll, Manuel (Hrsg.): Das Staatsdenken der Renaissance – Vom gedachten zum erlebten Staat. Baden-Baden 2013, S. 259-277; Kommentare: Bürgererfahrung und das politische Denken in der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption, in: Lüddecke, Dirk / Englmann, Felicia (Hrsg.): Zur Geschichte des politischen Denkens. Denkweisen von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar 2014, S. 51-71; Die Berichte über unseren Tod sind stark übertrieben. Vom Fortleben der zwei Körper des Königs im Begnadigungsrecht, in: Schotte, Dietrich (Hrsg.): Die Macht der Bilder der Macht. Zum Vermächtnis von Ernst H. Kantorowicz, Berlin 2015, S. 117-134. Email: [email protected]

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