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German Pages 211 Year 1985
ALBRECHT DOSSEHT
Traditionelle und moderne Formen sozialer Sicherung in Tanzania
Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 12
Traditionelle und moderne Formen sozialer Sicherung in Tanzania Eine Untersuchung ihrer Entwicklungsbedingungen
Von
Dr. Albrecht Bossert
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bossert, Albrec:bt: Traditionelle und moderne Formen sozialer Sicherung in Tanzania: e. Unters. ihrer Entwicklungsbedingungen I von Albrecht Bossert. - Berlin: Dunelter und Humblot, 1985. (Sozialwissenschaftliche Schriften; H. 12) ISBN 3-428-05711-2
NE:GT
Alle Rechte vorbehalten Gedruckt 1985 bei Werner Hildebrand, Berlin 65 © 1985 Dunelter & Humblot, Berlln 41 Prlnted in Germany ISBN 3-428-05'711-2
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde durch die Beobachtung angeregt, daß die modernen Systeme sozialer Sicherung, die .in der Gegenwart in zahlreichen Entwicklungsländern in Entstehung begriffen sind, aus organisatorischen und finanziellen Gründen in der Regel nur eine kleine Bevölkerungsminderheit erfassen, nämlich die regulär abhängig Beschäftigten im städtisch-industriellen Bereich, während die große Bevölkerungsmehrheit der im landwirtschaftlichen Sektor Tätigen, der Gelegenheitsarbeitskräfte und der kleinen Selbständigen im nicht-landwirtschaftlichen Bereich aus diesen Systemen weitgehend ausgeschlossen bleibt. Zugleich wird die Frage, inwieweit die Angehörigen dieser Bevölkerungsmehrheit derzeit noch in wirksame traditionelle Formen sozialer Sicherung, etwa auf der Ebene von Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Dorfgemeinschaft, einbezogen sind, in der Literatur äußerst kontrovers beantwortet - kontrovers nicht zuletzt deshalb, weil gründliche empirische Studien in diesem Bereich bislang kaum vorliegen. Ohne solche Studien jedoch lassen sich Schlußfolgerungen bezüglich der Notwendigkeit und der zweckmäßigen Gestaltung sozialer Sicherungsmaßnahmen für die ländliche Bevölkerung und die "own-account-workers" im städtischen Bereich der Entwicklungsländer nicht sinnvoll ableiten. Mit dieser Arbeit soll dazu beigetragen werden, die angesprochene Forschungslücke schließen zu helfen. Die Untersuchung beschränkt sich dabei auf ein einzelnes Land, Tanzania, um die Entwicklung der traditionellen und die Entstehung von modernen Sicherungsformen im Rahmen eines spezifischen historischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontextes analysieren zu können. Tanzania bot sich als Untersuchungsland für den Zweck dieser Studie insbesondere deshalb an, weil es sich im Rahmen seiner "Ujamaa"Politik ausdrücklich darum bemüht, die soziale Sicherung seiner Landbevölkerung durch den Rückgriff auf traditionelle Prinzipien der Solidarität zu organisieren. Bei der Erstellung der vorliegenden Untersuchung, die im Februar 1983 abgeschlossen und als Dissertation angenommen wurde, haben mich zahlreiche Personen und Institutionen durch die Vermittlung wertvoller Hinweise und die Bereitstellung finanzieller Mittel unterstützt. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Heinz Lampert, der durch die Errichtung eines Forschungsschwerpunkts zum Thema "Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen von Systemen sozialer Sicherung" an seinem Lehrstuhl meine Aufmerksamkeit auf die Frage der sozialen Sicherung in Entwick-
6
Vorwort
lungsländern gelenkt und die Arbeit mit der ihm eigenen Gründlichkeit und Übersicht betreut hat. Danken möchte ich weiterhin Herrn Professor Dr. G. Kleinhenz (Universität Passau) und Herrn Professor Dr. HF. Zacher (MaxPlanck-lnstitut für ausländisches und internationales Sozialrecht, München), die mir in der Zeit der Ausarbeitung meiner Studie Gelegenheit zu Vortrag und kritischer Diskussion der Untersuchungsergebnisse gaben. Ebenfalls zu Dank verpflichtet bin ich zahlreichen Mitgliedern des Department of Sociology und der Faculty of Law der Universität Dar es Salaam, insbesondere Mr. S. Mesaki und Dr. J. F. Safari, sowie Mr. A. M Ndaka (Ministry of Labour and Social Welfare) und Mr. J. P. Magangila (National Provident Fund), die mir im Jahr 1981, während eines viermonatigen Forschungsaufenthaltes in Tanzania, zahlreiche wertvolle Informationen vermittelten. Mein Dank gilt weiterhin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die den Forschungsaufenthalt finanzierte, sowie der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg, die die Veröffentlichung dieser Arbeit durch die Gewährung eines Zuschusses unterstützt hat. Herzlich danken möchte ich schließlich nicht zuletzt meinem tanzanischen Dolmetscher, Mr. S. Mchoma, flir die physischen Strapazen, die er bei der Durchführung der Feldforschung auf sich genommen hat. Augsburg, im September 1984
Albrecht Bossert
Inhaltsverzeichnis I. II. III. IV.
Verzeichnis der Tabellen . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Abbildungen. . . . . . . . . . . Verzeichnis der alphabetischen Abkürzungen Verzeichnis der Sonderzeichen . . . . . . . . .
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10 12 12 13
1.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
1.1. 1.2.
Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Grundlagen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 19
1.3.
Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
2.
Traditionelle Formen sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
2.1.
Lebensbedingungen in der Vorkolonialzeit . . ........ .. . . .
2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.2.
Ökologische Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . .... . ..... . . Wirtschaftliche Bedingungen .. ... . . .. . .... .. .... ... . Politische Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.2.4. 2 3. 2.3.1. 2.3.2. 2.3 .3. 2.3.4.
3.
Träger traditioneller sozialer Sicherung in der Vorkolonialzeit . . Die Haushaltsgemeinschaft ......... . . . . . . . . . . . . . .. . Der Familienverband .. . . . . ... .... . .. . .. . . .. . . . . . . Die Nachbarschaftsgemeinschaft . . . ..... .... . . ... . . . . Der Häuptling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktionsweise und Wirksamkeit traditioneller sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . Die Sicherung im Alter und bei Invalidität . . . . . . . . . . . . . . . Die Sicherung Hinterbliebener ... . .. . . . . ........ . .. . . Die Sicherung bei Krankheit und Mutterschaft .. . .. ... . . . . Die Sicherung gegen wirtschaftliche Risiken . . . . . . . . . . . . ..
28 28 28
33
36 36
38 41 44
46
47
50 52 55
Determinanten des Wandels im traditioneBen Sicherungssystem seit Beginn der Kolonialzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
3.1.
Deutsche Kolonialzeit (1885 bis 1918) ... . . . ....... . .. .
59
3.1.1. 3.1.2. 3.2.
Politischer und wirtschaftlicher Wandel . . . . . . .... . .. . .. . Sozialer Wandel . . ....... ... .... . . . .. . .... . . . .. . Britische Kolonialzeit (1918 bis 1961) . . . . . . . . . . . . . . .. .
60 63 68
8
Inhaltsverzeichnis
69 15
3 030
Politischer und wirtschaftlicher Wandel 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 Sozialer Wandel 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 Die ersten zwei Jahrzehnte der Unabhängigkeit ( 1961 bis 1981)
303010 303020
Politischer und wirtschaftlicher Wandel 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 •• 0 • 0 0 Sozialer Wandel . 0 0 0 0 • 0 0 ••• 0 0 • 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 • 0 • 0 0 0 0
83 93
4.
Der Aufbau moderner Eimichtungen sozialer Sicherung in Tanzania 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 • 0 0 0 0 • • 0 0 0 • 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 101
401.
Historische Entwicklung der modernen Formen sozialer Sicherung in Tanzania 0 0 0 0 • • 0 0 0 0 0 0 •• 0 • 0 • 0 • • 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 . 101 Die Gestaltungsprinzipien des modernen Systems sozialer Sicherung in der Gegenwart 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 0 0 • 0 • 0 0 0 0 0 0 0 0 0 106 Das Prinzip des Zwangssparens 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 107 Das Prinzip der Arbeitgeberverpflichtung 0 0 0 • 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 107 Das Versicherungsprinzip 0 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 • 0 0 0 • 0 0 0 0 0 0 0 0 0 108 Das Versorgungsprinzip 0 0 0 •• 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 • 0 0 109 Das Fürsorgeprinzip . 0 0 0 • 0 0 • 0 0 0 0 0 0 • • 0 • 0 0 0 • 0 0 0 0 0 0 0 109 Die Teilbereiche des tanzanischen Systems sozialer Sicherung 110
30201. 30202 0
4020 402010 402020 4 0203 0 4 02.4. 402050 4030
0
83
0
40301. Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenensicherung 0 0 0 0 0 0 0 0 0 4.3 01.1. Die Sicherung im Rahmen des Nationalen Vorsorgefonds (NPF) 403 01.20 Die Sicherung im Rahmen des Pensionsfonds für halbstaatliche Organisationen (PPF) 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 • 0 0 0 • 0 0 0 • 0 0 0 0 0 0 0 0 4.301.30 Die Sicherung im Rahmen des Pensionssystems für den öffentlichen Dienst (PPS) 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 403020 Die Sicherung bei Krankheit und Mutterschaft . 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 4.3 02. 1. Sachleistungen im Rahmen des staatlichen Gesundheitsdienstes 4030202 0 Sachleistungen im Rahmen der Employment Ordinance 0 0 0 0 0 0 403 02030 Einkommenssicherung bei Krankheit und Mutterschaft 0 • 0 0 0 0 4.3 030 Die Sicherung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten . 0 0 0 0 4.30301. Die Sicherung im Rahmen der Workmen's Compensation Ordinance (WCO) . 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 40303020 Die Sicherung im Rahmen des PPS 0 0 •• 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 403.40 Die Sicherung bei Arbeitslosigkeit . 0 0 0 0 0 0 0 0 • • 0 0 0 0 .• 0 0 0 4o3.4ol. Vorbemerkung 0.0 0 0 0 0 0 • 0 0 • 0 • 0 0 • 0 0 0 • 0 0 •• • 0 0 0 • 0 0 • 0 403.4020 Die Sicherung im Rahmen des Severance Allowance Act . 0 0 • 0 403 04030 Die Sicherung im Rahmen des National Provident Fund Act, des Parastatal Pensions Act und der Pensions Ordinance 0 0 0 • 0 0 0 0 4.3050 Die Sicherung kinderreicher Familien 0 0 0 0 0 0 • •• 0 0 0 • 0 0 0 0 0 4.3 060 Die Sicherung im Falllandwirtschaftlicher Risiken . 0 0 • • 0 0 0 0
110 110 112 115 118 118 119 120 121 122 124 125 125 126 127 128 129
4.4.
Hauptprobleme des modernen tanzanischen Systems sozialer Sicherung 0 0 • 0 0 0 . 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 • 0 • 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 131
4.401.
Probleme im Zusammenhang mit der Art der Leistungen 0 0 0 0 0 132
Inhaltsverzeichnis
9
404020 4.403 0
Probleme im Zusammenhang mit der Höhe der Leistungen 134 Organisatorische Probleme 0 0 0 0 0 0 • • • 0 0 0 0 0 0 0 • 0 •• 0 0 • • 0 138
5.
Funktionsweise und Wirksamkeit der traditionellen und modernen Formen sozialer Sicherung in der Gegenwart: empirischer Befund 0 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 •• 0 0 0 0 • 0 0 0 • 0 0. 0 0 0 0 0 0 0 0 0 143
501.
Zur Untersuchungsmethode 0 • 0 0 • 0 • 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 • 0 0 0 144
501.1. 501.20 501.30 501.40 502 01. 502020 50203 0 502.40 502050 502060 502070
Die Konzeption 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Der Aufbau des Fragebogens 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Das Sampie 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Durchführung der Befragung 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Untersuchungsergebnisse 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 • 0 0 0 0 0 Vorbemerkung . 0 0 • 0 0 • 0 0 0 0 0 0 0 0 • 0 0 0 0 0 • • • • 0 • • • • 0 • • Die Sicherung im Alter 0 0 0 0 •• 0 •.• • 0 0 0 0 .. • 0 •• 0 . 0 0 • • Die Sicherung bei Invalidität . 0 0 . 00. • 0 0 0 0 • 0 . •• • 0 0 0 0 0 0 • Die Sicherung bei Krankheit . 0 ••• 0 0 • 0 0 • • 0 0 • 0 0 • 0 • 0 • • . Die Sicherung bei Arbeitslosigkeit 0 • 0 • 0 • 0 0 • 0 . 0 0 0 • 0 0 0 • • Die Sicherung kinderreicher Familien ... . 0 • ••••••• 0 0 • 0 • Die Sicherung im Falllandwirtschaftlicher Risiken ... 0 •• 0 0 0
6.
Zusammenfassung und Schlußfolgerungen 0 0 • 0 0 0 •• 0 • . 0 0 • • 196
601.
Zusammenfassung 0 0 0 ••• • • 0 0 • 0 0 0 0 0 0 0 • 0 •• 0 0 • •• 0 • • • 196
6020
Schlußfolgerungen 0 • • 0 •• 0 0 0 0 ••.• 0 .•• 0 •••. . 0 • • • • • 199
5020
144 145 145 149 151 15 1 151 163 170 17 6 187 191
Literaturverzeichnis . . .. . 0 • ••. 0 • •. .• • • •• •. 0 •• • . •• 0 • 0 0 • . 202
I. Verzeichnis der Tabellen
1:
Qualifikationsstruktur der männlichen afrikanischen abhängig Beschäftigten in Tanganyika in den Jahren 1952, 1957 und 1961 . . .
2:
Finanzielle Entlastungswirkung der Subventionierung von Maismehl für kinderreiche Haushalte in Tanzania im Juni und Juli 1981 . . . . 130
3:
Verwendung von Pauschalleistungen des NPF nach Angaben von 400 Leistungsempfängern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4:
Entwicklung des Realwerts des NPF-Guthabens eines Arbeitnehmers mit durchschnittlichem Einkommen in der Periode 1965/66 bis 1978/79 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
5:
Regionale Verteilung der durchgeführten Einzelbefragungen . . . . . 148
6:
Tatsächliche bzw . erwartete Einkommensquellen im Alter - 132 Landwirte und 159 Nichtlandwirte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7:
Tatsächlic}le bzw. erwartete Einkommensquellen im Alter- 46 Befragte im Alter von mehr als 55 Jahren, 104 Befragte im Alter von mehr als 45 Jahren und 291 Befragte insgesamt . . . . . . . . . . . . . 154
8:
Durchschnittlicher Besitz an Tieren- 132 Landwirte . . . . . . . . . 155
9:
Anteil der Befragten mit Ersparnissen und Schulden- 291 Befragte
82
134
152
155
10:
Absicht der auf dem Land geborenen, nicht mehr am Herkunftsort lebenden Nichtlandwirte, zu einem späteren Zeitpunkt in das Heimatdorf zurückzukehren - 104 Befragte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
11:
Art der Kontakte zwischen Landbewohnern und ihren städtischen Verwandten- 74 Landbewohner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
12:
Kontakte zwischen Migranten und ihren ländlichen Verwandten 104 Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
13:
Monetäre Transfers der befragten Migranten nach Empfängergruppen- 104 Migranten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
14:
Migranten, die Transferzahlungen an ländliche Verwandte leisten, in Abhängigkeit von der Absicht, im Alter ins Dorf zurückzukehren - 104 Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
I. Verzeichnis der Tabellen
II
15:
Migranten, die Transferzahlungen an ländliche Verwandte leisten, in Abhängigkeit vom Bildungsstand - I 04 Befragte . . . . . . . . . . . 161
16:
Durchschnittliche Transferzahlungen der Migranten an ländliche Verwandte in Abhängigkeit von der Absicht, zu einem späteren Zeitpunkt in das Heimatdorf zurückzukehren- 104 Befragte . . . . 162
17:
Durchschnittliche Transferzahlungen der Migranten an ländliche Verwandte in Abhängigkeit vom Bildungsstand- 104 Befragte . . . 162
18:
Zufriedenheit mit dem eigenen Leben in Abhängigkeit vom Alter291 Befragte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19:
Bewohner von Armenlagern und Bettler in Tanzania, Ende 1980 . . 167
20:
Ausgaben und Einkommensausfälle von Städtern und Landbewohnern im Zusammenhang mit ihrer letzten Krankheit- 115 Städter und 122 Landbewohner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
21:
Quellen des Lebensunterhalts bei Arbeitslosigkeit - 28 arbeitslose bzw. ehemals arbeitslose Nichtlandwirte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
22:
Bereitschaft der Städter, in die Stadt kommende ländliche Verwandte oder Bekannte materiell zu unterstützen - 128 erwerbstätige Städter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
23:
Form der Unterstützung, die Städter ländlichen Verwandten bzw. Bekannten gewähren, die in die Stadt kommen - 128 erwerbstätige Städter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
24:
Bereitschaft der erwerbstätigen Städter, in die Stadt kommende ländliche Verwandte materiell zu unterstützen, in Abhängigkeit vom Bildungsstand - 100 erwerbstätige städtischeMigrantenund 128 erwerbstätige Städter insgesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
162
186
25 :
Bereitschaft der erwerbstätigen städtischen Migranten, in die Stadt kommende ländliche Verwandte materiell zu unterstützen, in Abhängigkeit von der Absicht, im Alter ins Heimatdorf zurückzukehren - 100 Befragte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
26:
Bereitschaft der erwerbstätigen Städter, in die Stadt kommende ländliche Verwandte materiell zu unterstützen, in Abhängigkeit vom Geburtsort und der Aufenthaltsdauer in der Stadt - 100 erwerbstätige städtische Migranten und 128 erwerbstätige Städter insgesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
187
27 :
Gewünschte Kinderzahl in Abhängigkeit vom Wohnort (Stadt , Land) und Bildungsstand- 291 Befragte . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
28:
Formen der Existenzsicherung im Fall von Ernteausfällen - 132 Landwirte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
II. Verzeichnis der Abbildungen 1:
Wohngebiete der ethnischen Gruppen Tanzanias . . . . . . . . . . . . .
31
2:
Geographische Lage und Bevölkerungsdichte der in die Befragung einbezogenen Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
3:
Modifiziertes Bamum/Sabot-Modell des tanzanischen Arbeitsmarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
4:
Nichtlandwirte, die nicht mit ihrem Leben zufrieden sind, zu wenig zu essen oder zu wenig Geld für notwendige Anschaffungen haben, in Abhängigkeit von der Zahl ihrer wirtschaftlich abhängigen Kinder- 159 Nichtlandwirte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
5:
Landwirte, die nicht mit ihrem Leben zufrieden sind, nicht oder nicht jedes Jahr in der Lage sind, ihre Familie mit den erzielten Ernteerträgen ausreichend zu ernähren, zu wenig zu essen oder zu wenig Geld für notwendige Anschaffungen haben, in Abhängigkeit von der Zahl ihrer wirtschaftlich abhängigen Kinder - 132 Landwirte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
111. Verzeichnis der alphabetischen Abkürzungen ASP CCM
Afro-Shirazi Party (Staatspartei Zanzibars bis 1977) Chama Cha Mapinduzi ( Staatspartei Tanzanias seit 1977)
cts. FAO ILO Mio
Cents ( 1 Schilling entspricht 100 Cents) Food and Agriculture Organization (Weltemährungsorganisation) International Labour Organization (Internationale Arbeitsorganisation) Million, Millionen
Mt.
Mount (Berg)
NN NPF OECD
Normal Null (Meereshöhe) National Provident Fund (Nationaler Vorsorgefonds) Organization for Economic Cooperation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)
IV. V-erzeichnis der Sonderzeichen
13
p.a.
per annum (pro Jahr)
PPF
Parastatal Pension Fund (Pensionsfonds für halbstaatliche Organisationen) Public Pension Scheme (Pensionssystem für den öffentlichen Dienst) Schilling (vor 1964) Tanganyika African National Union (Staatspartei des Festlandteils von Tanzania bis 1977)
PPS shs TANU to Tsh UN U.S.
wco
Tonnen Tanzaniseher Schilling (ab 1964) United Nations United States (Vereinigte Staaten) Workmen's Compensation Ordinance (Arbeitnehmerentschädigungsverordnung)
IV. Verzeichnis der Sonderzeichen
S !
U.S.-Dollar Pfund Sterling In Tabellen: Angabe nicht verfügbar oder nicht erforderlich
1. Einleitung 1.1. Problemstellung Die Analyse der Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen von Systemen sozialer Sicherung1 in Entwicklungsländern gehört bislang zu den vergleichsweise vernachlässigten Bereichen der Entwicklungsländerforschung. Dieses ForschungsdefiZit spiegelt nicht zuletzt den geringen Stellenwert wieder, der dem Aspekt der sozialen Sicherung in der entwicklungspolitischen Diskussion häufig zugemessen wird: " It is a commonly held view that social security expenditures represent consumption rather than investment, and as such tend to slow down the rate of economic growth. The argument runs that consumption expenditures should be minimized in the early stages of growth, and that even modest social security programs would hinder rather than help the maximization of human welfare." 2
Ungeachtet der Skepsis vieler Entwicklungstheoretiker und Entwicklungsplaner3 hat andererseits während der letzten Jahrzehnte in den Entwicklungsländern der Aufbau moderner Sicherungssysteme auf breiter Basis begonnen.4 Dieser Aufbau moderner Sicherungseinrichtungen in den Entwicklungsländern ist - wenn man ihn mit dem entsprechenden Vorgang in den heutigen Industrieländern ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergleicht- vor allem durch zwei Merkmale gekenf!Zeichnet: 1. In beiden Fällen wurden die modernen Sicherungssysteme zunächst fUr die abhängig Beschäftigten im städtisch-industriellen Bereich geschaffen, also ftir jene Gruppen, die aufgrund ihres regelmäßigen monetären Einkommens und aufgrund des Vorhandenseins eines Arbeitgebers, dem die Pflicht zur Abführung von Beiträgen auferlegt werden konnte, mit vergleichsweise geringem 1 Unter "sozialer Sicherung" wird im Rahmen dieser Arbeit in Anlehnung an Weisser die Gesamtheit aller Maßnahmen verstanden, die dazu dienen, die Lebenslage von Gesellschaftsmitgliedern vor bestimmten Gefahren ihrer Verschlechterung zu schützen, welche abzuwenden dem Einzelnen aus eigener Kraft nicht möglich ist. Vgl. hierzu G. Weisser, Art. "Soziale Sicherheit", in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Stuttgart - Tübingen- Göttingen 1956(a), S. 396-412. 2 W. Galenson, A Quantitative Approach to Social Security and Economic Development, in: E. M. Kassalow (Hg.), The Role of Social Security in Economic Development, Washington D. C. 1968, S. 51. 3 Vgl. E. M. Kassalow (Hg.), 1968, S. 2. 4 Vgl. die Dokumentation dieses Vorgangs in: U.S. Department ofHealth and Human Services, Social Security Programs Throughout The World 1981, Washington D. C. 1982.
16
l. Einleitung
Verwaltungsaufwand in die Sicherungssysteme einbezogen und an deren Finanzierung beteiligt werden konnten. Andere Gruppen, die diese Merkmale nicht besaßen, wie die in der Landwirtschaft Tätigen und die Selbständigen im tertiären Sektor, wurden von den Systemen in beiden Ländergruppen in aller Regel zunächst nicht erfaßt. 5 2. Neben dieser formalen Obereinstimmung läßt sich andererseits feststellen, 6 daß die Entwicklungsländer, die moderne Systeme sozialer Sicherung eingeführt haben, dies in der Regel zu einem - gemessen am wirtschaftlichen Entwicklungsstand - früheren Zeitpunkt getan haben als die Industrieländer, d.h. bei relativ geringerem Stand der Industrialisierung und der Urbanisierung sowie bei relativ größerer Bedeutung der Landwirtschaft. Infolge dieser vergleichsweise frühen Einführung erfassen die modernen Sicherungssysteme heute in vielen Entwicklungsländern nur einen sehr kleinen Teil -oft weniger als 10%- der Erwerbstätigen, die große Mehrheit der Bevölkerung bleibt dagegen von ihnen ausgeschlossen. Zugleich sind die Möglichkeiten vieler Entwicklungsländer, den Anteil der Erwerbstätigen in den modernen, flir staatliche Maßnahmen sozialer Sicherung erschließbaren Wirtschaftssektoren zu erhöhen, aus einer Vielzahl von Gründen äußerst beschränkt: zu nennen sind die rasche Zunahme der Gesamtzahl der Erwerbstätigen aufgrund hohen Bevölkerungswachstums, die Knappheit an Ressourcen zur Schaffung von Arbeitsplätzen in den modernen Sektoren, die Obernahme arbeitssparender Technologien aus den Industrieländern, der Mangel an kaufkräftiger Nachfrage nach verarbeiteten Produkten auf dem Binnenmarkt und mangelnde Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. 7 • Vgl. M. Fuchs, Grundfragen sozialer Sicherheit in Entwicklungsländern- dargestellt an Hand ausgewählter Literatur - in: Vierteljahreszeitschrift für Sozialrecht, H. 1, 1982, s. 274 f . 6 Vgl. S. Cohen, The Relevance and the Validity of Social lnsurance in Developing Economies, in: E. M. Kassalow (Hg.), 1968, S. 212 sowie P. Köhler, Entstehung von Sozialversicherung - Ein Zwischenbericht - in: H. F. Zacher (Hg.), Bedingungen flir die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung, Berlin 1979, Fn. 2, S. 31. 7 Die genannten Gründe lassen zugleich wesentliche Unterschiede zwischen der heutigen Lage dt!r Entwicklungsländer und der Ausgangssituation der Industrieländer vor 100 Jahren erkennen: zum einen hatten die heutigen Industrieländer Spielräume, ihre Absatzmärkte in noch unerschlossene Gebiete auszudehnen, zweitens hatten sie die Möglichkeit, ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen entsprechende neue Technologjen zu entwikkeln (wobei allerdings nicht verkannt werden soll, daß zahlreiche heute vorhandene Technologjen die wirtschaftliche Entwicklung der Länder der Dritten Welt erheblich fördern), zum dritten liegt ein wesentlicher - vielleicht der wichtigste - Unterschied in der Ausgangstage beider Ländergruppen in der abweichenden zeitlichen Abfolge der demographischen im Verhältnis zur wirtschaftlichen Entwicklung: Während in den Industrieländern Fortschritte im Bereich der Medizin schrittweise und parallel zur Industrialisierung erfolgten und die durch den medizinischen Fortschritt ausgelöste Expansion der Bevölkerung mit der wirtschaftlichen Expansion zusammenfiel, gingen in den Entwickli.mgsländem wesentliche Verbesserungen im Gesundheitswesen der industriellen Entwicklung voraus und lösten rasches Bevölkerungswachstum aus, bevor nennenswerte Produktivitätsfortschritte in der Landwirtschaft und im industriellen Sektor stattgefunden hatten (vgl.
1.1. Problemstellung
17
Bei dieser Ausgangslage ist davon auszugehen, daß die Voraussetzungen, die herkömrhlicherweise bei der Einfiihrung moderner Systeme sozialer Sicherung vorliegen müssen - regelmäßiges Geldeinkommen und ein Mindestniveau an Verwaltungsinfrastruktur zur Erhebung von Beiträgen - auch in absehbarer Zukunft flir einen großen Teil der Bevölkerung in vielen Entwicklungsländern nicht erfüllt sind. Die Praxis eines solchen Ausschlusses großer Bevölkerungsgruppen in den Entwicklungsländern aus modernen Maßnahmen sozialer Sicherung wird in neuererZeitaus mehreren Gründen verstärkt problematisiert: - Zum einen wird - etwa unter Bezug auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen8 -auf den Anspruch aller Menschen auf soziale Sicherheit hingewiesen.9 - Zum anderen werden negative Auswirkungen des Fehlens moderner Sicherungsmaßnahmen auf den Entwicklungsprozeß angeftihrt, z.B. im Hinblick auf das regenerative Verhalten 10 und das Migrationsverhalten. 11 In bezug auf das regenerative Verhalten wird die These vertreten, der Wunsch nach Sicherung durch die eigenen Kinder z.B. im Alter fördere das Bestreben nach einer hohen Zahl von Kindern, insbesondere von Söhnen, und stehe einer Politik zur Verminderung des Bevölkerungswachstums entgegen. Auswirkungen auf das Migrationsverhalten werden mit dem Argument behauptet, das Vorhandensein moderner Sicherungseinrichtungen in den Städten und ihr weitgehendes Fehlen in den ländlichen Gebieten trügen zur Land-Stadt-Migration bei - mit der häufigen Folge städtischer Arbeitslosigkeit.
J. A. Hauser, Bevölkerungsprobleme der Dritten Welt, Bern-Stuttgart 1974, S. 51 ff.).
Infolgedessen muß heute in den Entwicklungsländern ein vergleichsweise hoher Anteil der verfügbaren Ressourcen aufgewendet werden, um die rasch wachsende Bevölkerung mit existentiell notwendigen Konsumgütern zu versorgen. 1 Nach Art. 22 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hatjedermann als Mitglied der Gesellschaft ein Recht auf soziale Sicherheit. Dieses Recht wird in Art. 25 wie folgt erläutert: 1. Jedermann hat ein Recht auf eine angemessene Lebenshaltung zur Sicherung der Gesundheit und des Wohlbefindens seiner Person und seiner Familie, insbesondere hinsichtlich der Ernährung, der Kleidung, der Wohnung, der medizinischen Hilfe sowie der erforderlichen sozialen Leistungen; er hat ein Recht auf Sicherheit bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Alter und anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände. 2. Mütter und Kinder haben ein Anrecht auf besondere Hilfe und Fürsorge. Sämtliche Kinder, gleichgültig ob ehelich oder unehelich, genießen den gleichen Schutz. • Vgl. etwa: R. Sovy, Social Security in Agriculture and Rural Areas, International Labour Office, Geneva 1972, S. 3 f. 10 Vgl. zum Für und Wider der Hypothese eines Zusammenhangs zwischen regenerativem Verhalten und sozialer Sicherung: Jnter110tional Lobour Office, Asian Regional Symposium of National Specialists on Population Aspects of Rural Social Security, Kuala Lumpur 17-26 November 1975, Bangkok 1975. 11 Vgl. z.B. S. Cohen, 1968, S. 213 f. 2 Bossert
18
I. Einleitung
Die Relevanz dieser Wirkungszusammenhänge und die Berechtigung der Forderung nach Schaffung moderner Sicherungseinrichtungen hängen allerdings nicht unwesentlich von einem Aspekt ab, der in der bisherigen Diskussion weitgehend unbeachtet blieb: der Frage nämlich, inwieweit die Bevölkerung in den Entwicklungsländern noch wirksam in traditionelle familiäre, nachbarschaftliche, stammesbezogene etc. Sicherungsbeziehungen integriert ist und wie diese Beziehungen beschaffen sind. Beispielsweise ist anzunehmen, daß sich das Fehlen moderner Altersicherungsmaßnahmen auf das regenerative Verhalten stärker auswirkt, wenn die Sicherheit im Alter ausschließlich von den eigenen Kindern bzw. den eigenen Söhnen abhängt, weniger stark dagegen, wenn eine wirksame Sicherung durch einen Großfamilienverband oder eine Dorfgemeinschaft erfolgt. In bezug auf das Migrationsverhalten ist anzunehmen, daß ein von der Herkunftsgruppe gebotener wirksamer sozialer Schutz den von der Existenz moderner Sicherungseinrichtungen in den Städten ausgehenden Anreiz nicht nur kompensieren, sondern sogar überkompensieren kann, weil eine relativ sichere ländliche Existenz möglicherweise einer ungewissen Chance auf einen mit moderner Sicherung verbundenen städtischen Arbeitsplatz vorgezogen wird. Trotz des sich aus diesen überlegungen ergebenden Erfordernisses, Existenz, Funktionsweise und Wirksamkeit der noch bestehenden traditionellen Sicherungsbeziehungen zu überprüfen, bevor Feststellungen in bezug auf die Notwendigkeit moderner Sicherungsmaßnahmen getroffen werden können 12 , wurden entsprechende Untersuchungen bislang kaum durchgeftihrt 13 • Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, diesen insgesamt unbefriedigenden Forschungsstand am Beispiel eines hierftir geeignet erscheinenden Landes - Tanzanias - zu verbessern. Tanzania wurde als Untersuchungsland gewählt, weil es zum einen in bezug auf seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung seit Beginn der Kolonialzeit ein typisches afrikanisches Land ist, sodaß die Untersuchung seines traditionellen Sicherungssystems zugleich Rückschlüsse auf die Verhältnisse in anderen afrikanischen Ländern zuläßt.
12 Das Erfordernis, die traditionellen Sicherungsbeziehungen zu analysieren, besteht ebenso flir den städtischen Bereich, weil auch hier die Notwendigkeit moderner Sicherungsmaßnahmen und ggf. die zweckmäßige Gestaltung dieser Maßnahmen davon bestimmt werden, inwieweit traditionelle Sicherungsbeziehungen fortbestehen. Zu prüfen ist zudem, welche Rückwirkungen die Schaffung moderner Sicherungsmaßnahmen auf bestehende traditionelle Sicherungsbeziehungen hat. 13 Erste, empirisch allerdings zu wenig fundierte Untersuchungen existieren bisher in bezug auf die traditionelle Sicherung von Städtern; vgl. K. Sehrnölder und H . Hielscher, Nigeria - von der traditionellen Gemeinschaft zur angepaßten Sozialpolitik. Eine Enqu!te über Einrichtungen sozialer Sicherung in Nigeria, Stuttgart 1966 sowie K. Bissmann, Soziale Sicherung des ostafrikanischen Industriearbeiters, in: 0 . Neuloh (Hg.), Der ostafrikanische Industriearbeiter zwischen Shamba und Maschine. Untersuchungen über den sozialen und personalen Wandel in Ostafrika, München 1969, S. 226-257.
1.2. Theoretische Grundlagen der Arbeit
19
Zum zweiten weist Tanzania in neuerer Zeit eine im Hinblick auf den Forschungsgegenstand interessante Besonderheit auf, nämlich den Versuch, die Prinzipien der ,)amaa", der traditionellen Großfamilie, unter ausdrücklichem Einschluß der traditionellen Prinzipien sozialer Sicherung, in modernem Kontext auf Dorfebene wiederzubeleben. Mit der Wahl Tanzanias als Untersuchungsland bietet sich damit zugleich die Möglichkeit, zu überprüfen, welche Ergebnisse dieser Versuch bisher erbracht hat und inwieweit es sich dabei um ein möglicherweise auf andere Entwicklungsländer übertragbares - Modell eines an die Verhältnisse in Entwicklungsländern einer bestimmten Entwicklungsstufe angepaßten Systems sozialer Sicherung handelt. Im Hinblick auf die Beurteilung dieses Versuchs ergibt sich die Notwendigkeit, zu bestimmen, was unter "traditionellen" Formen sozialer Sicherung verstanden werden soll. Da die modernen, in den heutigen Industrieländern entwickelten Systeme sozialer Sicherung der Durchführung von Maßnahmen dienen, die erstens die Lebenslage von Gesellschaftsmitgliedern vor Gefahren ihrer Verschlechterung schützen sollen, die abzuwehren diesen aus eigener Kraft nicht möglich ist und die zweitens auf der Grundlage von Gesetzen durchgeführt werden/ 4 erscheint es zweckmäßig, unter traditionellen Formen sozialer Sicherung diejenigen Maßnahmen zu verstehen, die von Individuen oder Personengruppen zum Schutz der Lebenslage bestimmter Personen vor solchen Gefahren aufgrund von Gewohnheitsrecht ergriffen werden. Da sich dieses Gewohnheitsrecht im Zeitablauf verändert und die tanzanisehe Ujamaa-Politik vorsieht, Sicherungsprinzipien der Vorkolonialzeit wiederzubeleben, bildet eine Analyse der Sicherungsformen der vorkolonialen Gesellschaft den Ausgangspunkt dieser Arbeit. Diese Sicherungsformen dienen dann als Vergleichsmaßstab für die Analyse der seither eingetretenen Veränderungen. Ein solcher Versuch einer Rekonstruktion der in der vorkolonialen Gesellschaft bestehenden Sicherungsformen und der Analyse ihres Wandels im Zeitablauf setzt ein theoretisches Konzept voraus, das Aussagen über die zu untersuchenden Elemente und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen sowie über die Veränderungen dieser Beziehungen im Zeitablauf enthält.
1.2. Theoretische Grundlagen der Arbeit Tönnies interpretiert in seinem 1887 erschienenen Werk "Gemeinschaft und Gesellschaft" die kulturelle Entwicklung der Menschheit als den Obergang von einem Zeitalter der "Gemeinschaft" zu einem Zeitalter der "Gesellschaft". 1 14
Vgl. G. Weisser, 1956(a), S. 396.
Vgl. F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 6. und 7. Aufl., Berlin 1926 (1. Aufl. 1887), s. 247. 1
2*
20
1. Einleitung
"Gemeinschaft" besteht nach Tönnies dann, wenn soziale Beziehungen auf emotionaler Zuneigung basieren,2 während sie in der "Gesellschaft" durch das rationale Abwägen von Leistung und Gegenleistung gekennzeichnet sind: "Keiner wird für den anderen etwas tun und leisten, keiner dem anderen etwas gönnen und geben wollen, es sei denn um einer Gegenleistung oder Gegengabe willen, welche er seinem Gegebenen wenigstens gleich achtet. " 3 Dieser Akzentverschiebung von den "gemeinschaftlichen" zu den "gesellschaftlichen'' Beziehungen, die allerdings nicht bedeutet, daß die ersteren im Zeitablauf völlig verschwinden, entspricht nach Tönnies institutionell eine zunehmende Bedeutung der Stadt und des Staates gegenüber Familie und Dorf.4 Unter Verwendung des gleichen Begriffspaares "Gemeinschaft - Gesellschaft" arbeitet Weber in seiner Abhandlung über "Typen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung"5 deutlicher noch als Tönnies die Funktionen heraus, die einzelne Typen menschlicher Gemeinschaften erftillen, und analysiert die Veränderungen dieser Funktionen im Zeitablauf. "Gemeinschaft" umfaßt bei Weber - wie bei Tönnies - die Hausgemeinschaft, die Nachbarschaftsgemeinschaft und die Gemeinde, außerdem die Sippe. In alldiesen Typen von Gemeinschaften bestehen charakteristische Formen der Solidarität zwischen den Mitgliedern: Der Typus der Hausgemeinschaft ist durch "Solidarität nach außen und kommunistische Gebrauchs- und Verbrauchsgemeinschart der Alltagsgüter nach innen" gekennzeichnet.6 Die Nachbarschaftsgemeinschaft, die zugleich die Grundlage der Gemeinde bildet, hat unter den Verhältnissen agrarischer Eigenwirtschaft unter anderem die Funktion, "wichtige Teile des außerordentlichen Bedarfs an Leistungen bei besonderen Gelegenheiten, akuten Notlagen und Gefahrdungen" zu decken. 7 Die Sippe schließlich interpretiert Weber als eine ,,in der Solidarität nach außen mit der Hausgemeinschaft konkurrierende ... Schutzgemeinschaft".8 Ausgehend von der Analyse der in der Agrargesellschaft innerhalb dieser Gemeinschaftstypen bestehenden sozialen Beziehungen beschreibt Weber in der erwähnten Abhandlung - vor allem für den Typus der Hausgemeinschaft - einen im Verlauf der Kulturentwicklung zunehmenden Prozeß der Zersetzung, der insbesondere von der ,,Entfaltung und Differenzierung der Fähigkeiten und Bedürfnisse in Verbindung mit der quantitativen Zunahme der ökonomischen z Vgl. ebenda, S. 8 ff.
Ebenda, S. 39. Vgl. ebenda, S. 241 ff. 5 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 3. Aufl., Tübingen 1947 (1. Aufl. 1921), 194 ff. 6 Ebenda, S. 196. 7 Ebenda, S. 197 und S. 199. 8 Ebenda, S. 201. 3
4
s.
1.2. Theoretische Grundlagen der Arbeit
21
Mittel" ausgeht und schließlich zu zunelunender Individualisierung, "Rechenhaftigkeit" und zur Entstehung der modernen Handelsgesellschaften führt. 9 Die sich aus den Arbeiten von Tönnies und Weber ergebende Hypothese eines Zusammenhangs zwischen dem Grad der Integration des Individuums in soziale Gruppen mit "Gemeinschafts"-Charakter wie Hausgemeinschaft, Familienverband, Dorfgemeinschaft, dem Grad der Einbeziehung des Einzelnen in Interaktionen mit zweckrationalem "Gesellschafts"-Charakter und dem Entwicklungsstand einer Gesellschaft erscheint als theoretische Grundlage dieser Arbeit brauchbar. Dem weitergehenden Versuch Webers, allgemeine Typen menschlicher Gemeinschaften zu identifizieren und Gesetzmäßigkeifen der Entwicklung der sozialen Beziehungen innerhalb dieser Gemeinschaften zu formulieren, wird dagegen nicht gefolgt, weil davon ausgegangen werden muß, daß es eine universelle Entwicklungsgesetzlichkeit in bezug auf solche Strukturformen menschlicher Gemeinschaft nicht gibt: Gesellschaften, die sich später entwikkeln und in Interaktion mit früher entwickelten Gesellschaften stehen, werden von diesen - positiv oder negativ - beeinflußt, unter anderem dadurch, daß Innovationen, die in den fortgeschritteneren Gesellschaften bereits entwickelt wurden, nicht mehr neu erfunden werden müssen, sondern übernommen werden können. Der Typus der Handelsgesellschaft z.B., der in Europa in einem allmählichen Prozeß entstand, in dessen Verlauf die Zersetzung entwicklungsgeschichtlich älterer Strukturformen stattfand, wurde in den meisten Entwicklungsländern von außen in der Regel zu einem Zeitpunkt übernommen, als solche älteren Strukturformen (Haushaltsgemeinschaft, Familienverband) in ihrer ursprünglichen Form - als Produktions- und Konsumeinheiten - noch weitgehend intakt waren. Unter Verzicht auf die Orientierung an solchen Strukturformen wird stattdessen im Folgenden versucht, soziale Beziehungen und ihre Veränderung im Zeitablauf vor dem Hintergrund universeller, d.h. in jeder Gesellschaft feststellbarer Merkmale zu analysieren, die den Wandel von einfachen zu modernen Gesellschaften charakterisieren und als Determinanten der in diesen Gesellschaften bestehenden sozialen Beziehungen angesehen werden können. G. und M Wilson führen in ihrer auf empirische Untersuchungen in Zentralafrika gestützten Arbeit "The Analysis of Social Change" die folgenden sechs Merkmale an, die diese Kriterien erftillen: 10
1. Der Grad der Komplexität der Gesellschaft: Moderne Gesellschaften weisen einen höheren Grad an Spezialisierung der Tätigkeiten der Gesellschaftsmitglieder auf. Diese größere Spezialisierung ist nur dadurch möglich, daß den Individuen ein größerer Spielraum des indivi• Vgl. ebenda, S. 208. 10 Vgl. G. und M. Wilson, The Analysis of Social Change. Basedon Observations in Central Africa, 4. Aufl., Cambridge 1968 (1. Aufl. 1945), S. 83 ff.
22
1. Einleitung
duellen Verhaltens (Autonomie) eingeräumt wird. Durch die größere Vielfalt der gesellschaftlich tolerierten individuellen Verhaltensmöglichkeiten weist die moderne Gesellschaft deshalb eine größere Komplexität als die einfache Gesellschaft auf. 11 2. Das Ausmaß des magischen bzw. rationalen Denkens: Im Obergang von der einfachen zur modernen Gesellschaft geht die Bedeutung traditioneller magischer Religionen und des mit ihnen verbundenen magischen Denkens zurück, während die Bedeutung des rationalen, wissenschaftlichen Denkens zunimmt. 3. Der Grad der Persönlichkeit bzw. Unpersönlichkeif der sozialen Beziehungen: In der einfachen Gesellschaft sind die Beziehungen zwischen den interagierenden Individuen weitgehend persönlich. Die Personen, von deren Entscheidungen ein Mensch abhängt, sind ihm in der Regel persönlich bekannt. Moderne Gesellschaften sind dagegen stärker von unpersönlichen Beziehungen gekennzeichnet. 4. Das Ausmaß geographischer und sozialer Mobilität und 5. die Größe der interagierenden Gruppen: In der einfachen Gesellschaft agieren die meisten Menschen nur innerhalb einer relativ kleinen Personengruppe. Heiraten erfolgen z.B. nach Möglichkeit nur innerhalb des eigenen Dorfes (oder Häuptlingstums) oder zwischen Nachbardörfern (Nachbarhäuptlingstümern). Der Zugang zu bestimmten gesellschaftlichen Positionen - etwa der des Häuptlings - ist Angehörigen bestimmter Familien vorbehalten. In der modernen Gesellschaft ist dagegen die Mobilität - sowohl geographisch als auch sozial (zwischen Berufsgruppen und gesellschaftlichen Schichten) und im Zusammenhang damit die Zahl der in intensiver Interaktion stehenden Personen größerP 6. Der Grad der Behe"schung der natürlichen Umwelt: Die moderne Gesellschaft ist gekennzeichnet durch eine im Vergleich zur einfachen Gesellschaft sehr viel stärker ausgeprägte Fähigkeit zur Beherrschung der natürlichen Umwelt. 13 11 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Spezialisierung und individueller Entscheidungsfreiheit auch E. Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt am Main 1977 (Originalausgabe: De 1a division du travail social, 2. Auf!., Paris 1930). 12 Durkheim spricht in diesem Zusammenhang von der Zunahme von Volumen und Dichte der Gesellschaft: " Die Schotten, die die verschiedenen Teile der Gesellschaft trennen, verschwinden nach und nach gezwungener Maßen . .. die Bevölkerungsbewegungen werden auch zahlreicher und rascher und es entstehen Durchlässe, durch die diese Bewegungen fließen . .. So wächst die soziale Dichte. Ursachen gleicher Art vergrößern auch das Volumen"; vgl. E. Durkheim, 1977, S. 380. 13 Mit der Aufzählung dieser sechs Merkmale soll nicht behauptet werden, daß es nicht noch weitere Merkmale des Übergangs von einfachen zu modernen Gesellschaften gäbe. Für den Zweck der vorliegenden Untersuchung erscheinen jedoch diese Merkmale hinreichend.
1.2. Theoretische Grundlagen der Arbeit
23
Zwischen den Ausprägungen dieser Merkmale innerhalb einer Gesellschaft besteht nach G. und M. Wilson ein Gesamtzusammenhang: 14 - Der in einer Gesellschaft mögliche Grad an Spezialisierung wird wesentlich von der Zahl der in Interaktion stehenden Gesellschaftsmitglieder bestimmt, weil es von der Zahl der potentiellen Nachfrager einer Leistung abhängt, ob eine spezielle Leistung in einem Umfang nachgefragt wird, der ihre Erstellung lohnend macht. - Von dem in einer Gesellschaft erreichten Grad an Spezialisierung seinerseits hängt es ab, in welchem Umfang die Gesellschaft zur Beherrschung ihrer natürlichen Umwelt imstande ist. Das Ausmaß der Beherrschung der natürlichen Umwelt beeinflußt wiederum das Ausmaß der in einer Gesellschaft möglichen geographischen Mobilität und die erreichbare Intensität der Kommunikationsbeziehungen und damit die Größe der in intensiver Interaktion stehenden Personengruppen. - Von der Zahl der in Interaktion stehenden Personen hängt der Grad der Unpersönlichkeit bzw. Persönlichkeit der Beziehungen ab: je mehr Personen miteinander interagieren, desto weniger ist es physisch möglich, daß jeder jeden persönlich kennt. Unpersönliche Beziehungen führen jedoch nur dann zu efftzienten Ergebnissen und stehen einem hohen Grad der Beherrschung der natürlichen Umwelt nicht im Wege, wenn sie auf rationalem, nichtmagischen Denken basieren, weil nur in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit hoch ist, daß die Interaktionspartner gleiche Ursache-Wirkungszusammenhänge unterstellen und die Reaktion des - persönlich unbekannten - Partners kalkulierbar wird. Vom Ausmaß des nichtmagischen, rationalen Denkens wird außerdem das Ausmaß an Einsicht in die gesamtwirtschaftlichen Vorteile eines an den Kriterien persönlicher Fähigkeit und Eignung und nicht der Herkunft oder der Gruppenzugehörigkeit orientierten Zugangs zu wichtigen gesellschaftlichen Positionen, d.h. das Ausmaß sozialer Mobilität bestimmt, von dem wiederum der erreichbare Grad an Beherrschung der natürlichen Umwelt abhängt. Aus den sechs Merkmalen und dem festgestellten Zusammenhang zwischen den Ausprägungen dieser Merkmale lassen sich zwei, flir die Analyse der Sicherungsbeziehungen im Entwicklungsprozeß wichtige Implikationen ableiten: In einfachen Gesellschaften ftihren der geringe Grad an Arbeitsteilung, die beschränkte Möglichkeit zu geographischer und sozialer Mobilität und das vorherrschende magische Denken (z.B. die Vorstellung, von der Gunst der Ahnen abhängig zu sein) zu einer engen Einbindung des Individuums in die gewohnheitsrechtlichen, innerhalb seiner Herkunftsgruppe (Hausgemeinschaft, Sippe, 14
Vgl. dazu G. undM. Wilson, 1968, S. 100 ff.
24
l. Einleitung
Nachbarschaftsgemeinschaft, Dorfgemeinschaft, Stammesgemeinschaft) geltenden, seine materiellen und nichtmateriellen Rechte und Verpflichtungen bestimmenden Regeln. Seine individuellen Entscheidungsspielräume sind eng begrenzt. Demgegenüber ist die Abhängigkeit des Individuums von seiner Herkunftsgruppe in der modernen Gesellschaft geringer, sein Entscheidungsspielraum in bezug auf die Beziehungen zur Herkunftsgruppe größer .15 Eine zweite Implikation ergibt sich aus der These, daß zwischen den Ausprägungen der den Entwicklungsprozeß charakterisierenden Merkmale ein Gesamtzusammenhang besteht. Da nicht a priori davon ausgegangen werden kann, daß sich alle Merkmale immer im Gleichschritt verändern, sondern damit gerechnet werden muß, daß sich einzelne Merkmale schneller oder langsamer als andere verändern, kann es zu Ungleichgewichten (Disharmonien) im Entwicklungsprozeß kommen. Solche Ungleichgewichte können Hindernisse für weitere Entwicklungsfortschritte darstellen. 16 Behrendt hat die These vertreten, daß sich im allgemeinen gesellschaftliche Veränderungen langsamer vollziehen als wirtschaftliche und technische. 17 Falls diese These zutrifft, ist zu erwarten, daß auch Veränderungen im Bereich der traditionellen Sicherungsbeziehungen, als Teil der gesellschaftlichen Veränderungen, relativ langsam ablaufen und zu Hemmnissen des weiteren Entwicklungsprozesses werden können. 18
1.3. Aufbau der Arbeit Vor dem Hintergrund der dargestellten theoretischen Überlegungen hat die vorliegende Arbeit folgenden Aufbau: Den Ausgangspunkt bildet eine Analyse der Formen sozialer Sicherung in der vorkolonialen Gesellschaft, auf die sich die tanzanisehe Führung im Zusammenhang mit ihrer Ujamaa-Politik bezieht (Kapitel 2). 15 Vgl. hierzu G. und M. Wilson, 1968, S. 115. Aus der Hypothese, daß der Entscheidungsspielraum des Individuums größer wird, folgt allerdings nicht zwangsläufig, daß die Sicherungsbeziehungen innerhalb der Herkunftsgruppen an Bedeutung verlieren, weil denk· bar ist, daß die Individuen diese Beziehungen freiwillig aufrechterhalten. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist deshalb zu prüfen, welche Umstände das Verhalten der Individuen bestimmen, wenn ihre Entscheidungsspielräume zunehmen. 16 Behrendt spricht davon, daß durch Disharmonien Energien im Grunde fehlgeleitet werden, und sieht die Aufgabe der Entwicklungspolitik darin, den Entwicklungsprozeß möglichst harmonisch zu gestalten; vgl. R. F. Behrendt, Soziale Strategie für Entwicklungsländer. Entwurf einer Entwicklungssoziologie, Frankfurt am Main 1965, S. 164. 17 Ebenda, S. 90 ff. 18 Umgekehrt ist aber auch denkbar, daß sich das traditionelle Sicherungsverhalten etwa infolge wirtschaftlicher Veränderungen oder der Einführung moderner Sicherungseinrichtungen in bestimmten Wirtschaftssektoren - rascher verändert als andere Merkmale des gesellschaftlichen Wandels und dadurch ebenfalls Disharmonien hervorruft.
1.3. Aufbau der Arbeit
25
Anschließend werden die Faktoren untersucht, die bis zur Gegenwart zu einer Veränderung der in der Vorkolonialzeit bestehenden Sicherungsformen geführt haben. Diese Untersuchung erfolgt in mehreren Schritten: In Kapitel 3 werden die sozioökonornischen Veränderungen analysiert, die nach Beginn der Kolonialzeit stattfanden und Auswirkungen auf die traditionellen Sicherungsbeziehungen hatten. In Kapitel4 wird- als ein weiterer Faktor, der potentiell Auswirkungen auf die traditionellen Sicherungsbeziehungen hatte - der Aufbau moderner Einrichtungen sozialer Sicherung untersucht, der während der Kolonialzeit begann und sich nach der Unabhängigkeit (1961) fortsetzte. Da die über Tanzania bislang vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen nur sehr begrenzte Rückschlüsse hinsichtlich der Auswirkungen des sozioökonomischen Wandels auf die traditionellen Sicherungsbeziehungen zulassen, wird in Kapitel 5 versucht, das Ausmaß der bis zur Gegenwart eingetretenen Veränderungen dieser Beziehungen auf der Grundlage von Daten, die vom Verfasser im Sommer 1981 im Rahmen einer Befragung ländlicher und städtischer Haushaltsvorstände erhoben wurden, empirisch zu bestimmen. Außerdem wird empirisch untersucht, wie wirksam die von den modernen Einrichtungen sozialer Sicherung und die von den Ujamaa-Dörfern und den Nicht-Ujamaa-Dörfern durchgeführten Sicherungsmaßnahmen die davon jeweils erfaßten Personengruppen sozial absichern. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit und eine Ableitung von Schlußfolgerungen im Hinblick auf den tanzanischen Versuch dorforientierter sozialer Sicherung bilden den Abschluß der Arbeit.
2. TraditioneHe Formen sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania1 Traditionelle Formen sozialer Sicherung wurden einleitend2 als die Gesamt· heit der in einer Gesellschaft aufgrund von Gewohnheitsrecht ergriffenen Maßnahmen definiert, die dazu dienen, die Lebenslage von Gesellschaftsmitgliedern vor bestimmten Gefahren ihrer Verschlechterung zu schützen, die abzuwehren diesen aus eigener Kraft nicht möglich ist. Die Verwendung dieser Definition als Grundlage einer Analyse der traditionellen Sicherungsformen im vorkolonialen Tanzania erfordert zunächst eine Operationalisierung ihres zentralen Begriffs, der ,,Lebenslage". Weiterhin ist zu konkretisieren, welche Gefahren der Verschlechterung der Lebenslage in eine solche Analyse einbezogen werden sollten.
Weisser, durch dessen Arbeiten der Begriff der Lebenslage breiten Eingang in die Sozialwissenschaften gefunden hat,3 definierte diesen 1972 im Wörterbuch der Soziologie als den "Spielraum, den die äußeren Umstände dem Menschen für die Erftillung der Grundanliegen bieten, die ihn bei der Gestaltung seines Lebens leiten oder bei möglichst freier und tiefer Selbstbestimmung und zu konsequentem Verhalten hinreichender Willensstärke leiten würden" .4 Diese Definition bringt Weissees an anderer Stelle5 ausführlich dargelegte Auffassung zum Ausdruck, daß eine Analyse der Spielräume zur Erfüllung der von einem Menschen tatsächlich gehegten Grundanliegen zur Beurteilung seiner Lebenslage nicht immer ausreicht, weil die konkreten Lebensumstände das Ent1 Mit "Tanzania" wird im Rahmen dieser Arbeit das Gebiet des Festlandteils der heu· tigen Republik Tanzania bezeichnet. Die Verhältnisse auf Zanzibar, das seit 1964 mit dem ehemaligen Tanganyika vereinigt ist, jedoch bis heute intern weitgehend autonom regiert wird, werden nicht untersucht. 2 Vgl. oben, Abschnitt 1.1. 3 Vgl. zum Begriff der Lebenslage bei Weisser im einzelnen K. B. Billen, Lebenslage· Forschung in den Sozialwissenschaften, insbesondere in der Sozialpolitik: dargestellt am Beispiel der Lebenslage von Arbeitnehmern nach einem Arbeitsplatzverlust, Diss. Bochum 1975. 4 G. Weisser, Art. "Sozialpolitik", in: W. Bernsdorf (Hg.), Wörterbuch der Soziologie, Bd. 3, Frankfurt am Main 1972, S. 770. 5 Vgl. G. Weisser, Einige Grundbegriffe der Sozialpolitiklehre, unveröffentlichtes Ma· nuskript, Köln 1956(b); derselbe, Kurze Orientierung über Grundzüge und Besonderheiten meines in Entstehung begriffenen Systems der Gesellschaftspolitik, unveröffentlichtes Ma· nuskript, Köln 1967 sowie derselbe, Bemerkungen zur anthropologischen Grundlegung der für die Sozialpolitiklehre erforderlichen Lebenslage-Analysen, unveröffentlichtes Manuskript, Köln 1966.
2. Traditionelle Formen sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania
27
stehen bestimmter Grundanliegen verhindern können, die ihn unter anderen Verhältnissen möglicherweise leiten würden. Aus diesem Grund räumt Weisser dem einzelnen Forscher die Freiheit ein, auch solche Grundanliegen in seine Untersuchung einzubeziehen, von denen er annimmt, daß sie von den untersuchten Personen bei hinreichender Selbstbestimmung und Willensstärke gehegt würden. Einziges Kriterium bei der Auswahl solcher Grundanliegen ist dabei für Weisser, daß sich die Auswahl in bezug auf die jeweils gegebene Gesellschaft bzw. das jeweilige Untersuchungsziel als fruchtbar erweist.6 Diese wissenschaftstheoretische Position wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit übernommen. Dabei erscheint es beim gegenwärtigen Stand der Forschung fruchtbar, erstens eine Beschränkung auf eine relativ kleine Zahl von Grundanliegen vorzunehmen und zweitens insbesondere solche Grundanliegen in die Untersuchung einzubeziehen, deren Relevanz in jeder Gesellschaft als unstreitig gelten kann, nämlich diejenigen Anliegen, die sich auf die Erfüllung der existentiellen Grundbedürfnisse - insbesondere Ernährung und Gesundheit - richten. In den folgenden Abschnitten wird zunächst versucht, die Lebensbedingungen - in der Terminologie Weissers die "äußeren Umstände"- zu beschreiben, die die Spielräume der Bewohner des vorkolonialen Tanzania zur Befriedigung ihrer existentiellen Grundbedürfnisse determinierten. Zugleich wird untersucht, inwieweit diese Lebensbedingungen Gefahren (Risiken) beinhalteten, die den Umfang dieser Spielräume bedrohten. Dabei erscheint eine Orientierung an den Katalogen sozialer Risiken zweckmäßig, die in einschlägigen internationalen Vereinbarungen - dem Artikel 22 der UN-Menschenrechtserklärung und der Konvention 102 der Internationalen Arbeitsorganisation- enthalten sind. Von den dort definierten sozialen Risiken sind die Risiken Alter, Invalidität, Tod des Ernährers, Krankheit und Mutterschaft universeller Natur, d.h. ihr Auftreten kann in jeder menschlichen Gesellschaft vorausgesetzt werden und bedarf flir die Vorkolonialzeit keines besonderen Nachweises. Zu klären ist dagegen, inwieweit die Lebenslage der Bewohner des vorkolonialen Tanzania durch "anderweitigen Verlust ihrer Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände", 7 insbesondere durch wirtschaftliche Risiken wie Trockenheit, Oberschwemmungen, Tierkrankheiten usw. bedroht wurde. Ausgehend von einer solchen Analyse der Lebensbedingungen und der Risiken der Lebenslage der Menschen der Vorkolonialzeit (Abschnitt 2.1) wird in Abschnitt 2.2 untersucht, welche gesellschaftlichen Institutionen in der vorkolonialen Gesellschaft Aufgaben als Träger sozialer Sicherungsmaßnahmen wahrnahmen. Anschließend werden in Abschnitt 2.3 Funktionsweise und Wirk6 Vgl. Th. Thiemeyer, Die Oberwindung des wohlfahrtsökonomischen Formalismus bei Gerhard Weisser, in: F. Ka"enberg (Hg.), Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung. Festschrift für Gerhard Weisser, Berlin 1969, S. 136. 7 Vgl. Art. 22 der UN-Menschenrechtserklärung.
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2. Traditionelle Formen sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania
samkeit dieser Sicherungsmaßnahmen in bezug auf einzelne soziale Risiken analysiert.
2.1. Lebensbedingungen in der Vorkolonialzeit 2.1.1. Ökologische Bedingungen Tanzania liegt südlich des Äquators auf der Ostseite des afrikanischen Kontinents, eingegrenzt von den großen zentralafrikanischen Seen (Viktoriasee, Tanganyikasee und Nyassasee) im Westen und dem Indischen Ozean im Osten. Trotz der unmittelbaren Nähe zum Äquator hat nur ein kleiner Teil des Landes, der zwischen 40 und 100 km breite Küstenstreifen, tropisch feuchtheißes Klima. Westlich des Küstenstreifens steigt das Land zu großen hochgelegenen Plateaus mit Höhen von 500 m über NN im Süden bis über 1500 mim Norden an, die ein relativ gemäßigtes Klima aufweisen. Über diese Plateaus erheben sich zudem im Norden und Südosten verschiedene Bergzüge (Kilimanjaro, Mt. Meru, Usambara- und Pareberge, südliches Hochland) mit ausgesprochen mildem, zum Teil sogar kühlem Klima. Mitbedingt durch die Unterschiede in der Höhenlage ist die Verteilung der Niederschläge sehr ungleich. 1 Relativ hohe Niederschlagsmengen (über 1000 mm/Jahr) erhalten der Küstenstreifen und die Bergzüge im Norden und Südosten sowie einige der an die großen Seen angrenzenden Gebiete. Mittlere Niederschlagsmengen (800-1000 mm/Jahr) verzeichnen große Teile West- und Südosttanzanias, während weite Gebiete Zentraltanzanias und die Steppengebiete Nordtanzanias Niederschläge von weniger als 800 mm/Jahr aufweisen. Außer diesen regionalen Unterschieden k~nnzeichnen das Niederschlagsaufkommen starke jährliche Schwankungen der auf die einzelnen Gebiete entfallenden Mengen. Diese Schwankungen haben zur Folge, daß auch Gebiete, die im langjährigen Durchschnitt mittlere und höhere Niederschläge erhalten, Dürreperioden erleben. Nur etwa 20% des Landes verzeichnen aus diesem Grund mit einer Wahrscheinlichkeit von wenigstens 90% Niederschläge, die für den landwirtschaftlichen Anbau als ausreichend angesehen werden können. 2 2.1.2. Wirtschaftliche Bedingungen Bis ins erste Jahrtausend vor Christus war das ursprünglich weitgehend mit Wald bedeckte Gebiet des heutigen Tanzania vor allem von Jäger- und Sarnm1 2
Vgl. L. Berry (Hg.), Tanzania in Maps, London 1971, S. 36 ff. Vgl. ebenda, S. 37 ff.
2.1. Lebensbedingungen in der Vorkolonialzeit
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lervölkern bewohnt.3 Zu diesen Urbewohnern stießen in der Folgezeit Viehhalterstämme aus dem Norden und Landwirtschaft treibende Bantu-Völker aus dem Westen. Diese Einwanderer, insbesondere die im Vergleich zu den Viehhalterstämmen wesentlich zahlreicheren Bantu, absorbierten vermutlich in den darauffolgenden Jahrhunderten den größten Teil der ursprünglichen Bevölkerung.4 Die Besiedlung und die wirtschaftliche Erschließung des Landes durch diese Einwanderervölker stehen in engem Zusammenhang mit den ökologischen Gegebenheiten. Während sich in den niederschlagsreichen und fruchtbaren Gebieten, insbesondere arn Kilirnanjaro, arn Mt. Meru, in den Usarnbara- und Parebergen, westlich des Viktoriasees und arn Nordende des Nyassasees Bevölkerungskonzentrationen entwickelten, blieben die Plateaus Zentral-, West- und Südtanzanias sehr dünn besiedelt. Zur Herausbildung dieses Besiedlungsmusters trug ebenfalls bei, daß die Verbreitung von Malaria und Schlafkrankheit in Teilen West- und Südosttanzanias die Bevölkerungszunahme beeinträchtigte, während die Bergregionen im Nordosten und das südliche Hochland von beiden Krankheiten frei waren. Die vergleichsweise günstigen Lebensbedingungen in den niederschlagsreichen Gebieten schlossen allerdings ein Auftreten ernster naturbedingter Krisen nicht aus. Überlieferte Legenden und Gebetstexte spiegeln die Furcht wieder, die auch bei Stämmen wie den Chagga, Pare, Sarnbaa, Haya und Nyakyusa vor Hungersnöten und Epidemien bestand. Bei den Sarnbaa deuten diese Quellen auf das Auftreten von Hungersnot zumindest einmal innerhalb von 15 Jahren hin. 5 Die Wirtschaftsweise der Stämme des vorkolonialen Tanzania war erkennbar durch den Versuch der Minimierung solcher Gefahren gekennzeichnet. Soweit die natürliche Umwelt Möglichkeiten zur Diversiftzierung der wirtschaftlichen Aktivitäten bot, wurden diese in aller Regel wahrgenommen. Die Waldlandbauern West- und Südosttanzanias ergänzten z.B. den landwirtschaftlichen Anbau durch Jagen, Sammeln und Fischen und verringerten so ihre Abhängigkeit von den Witterungsbedingungen.6 In den von Tsetsefliegen freien Gebieten 3 Vgl. J. D. Kesby, The Cultural Regions of East Africa, London- New York- San Francisco 1972, S. 32. 4 Vgl. J. /lifte, A Modern History of Tanganyika, Cambridge 1979, S. 7. • Vgl. J. Iliffe, 1979, S. 11 ff. In den niederschlagsärmeren Gebieten traten Hungersnöte wesentlich häufiger auf. Für Ugogo, im trockenen Zentrum Tanzanias, sind für den Zeitraum zwischen 1850 und 1890 7 ernsthafte Fälle von Hungersnot überliefert, ebensoviele für den Zeitraum zwischen 1890 und 1930, d.h. es gab durchschnittlich etwa alle 6 Jahre eine Hungersnot; vgl. hierzu C. Brooke, Heritage of Famine in Central Tanzania, in: Tanzania Notes and Records, 67/1967, S. 20 f. 6 Bei den Kimbu von Westtanzania bestand traditionell eine Trennung der wirtschaftlichen Tätigkeitsbereiche nach Geschlechtern: der Wald - insbesondere die Jagd und das Sammeln von Honig -war der Bereich des Mannes, das Feld die Domäne der Frau; vgl. A. Shorter, Chiefship in Western Tanzania. A Political History of the Kimbu, Oxford 1972, s. 59.
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2. Traditionelle Formen sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania
wurden in aller Regel Landwirtschaft und Tierhaltung nebeneinander betrieben, selbst von Tierhaltern, die relativ große Herden besaßen, wie die Sukuma und Gogo. 7 Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts - dem frühesten Zeitpunkt, ftir den hinreichend genaue Informationen über die wichtigsten Stämme vorliegen8 hatten sich im bis dahin weitgehend von der Küste isolierten Inland differenzierte, an die lokalen ökologischen Gegebenheiten angepaßte Wirtschaftsweisen herausgebildet, die sich in drei Hauptformen untergliedern lassen. In den Gebieten mit hohen Niederschlägen wie Uchagga, Usambara, Upare, Buhaya und Unyakyusa waren Bananen primäres Grundnahrungsmittel. Daneben wurde Hirse angebaut und Viehzucht betrieben. Während die Bewohner dieser Gebiete permanente Siedlungen bewohnten, ihre Bananenhaine und Felder von Generation zu Generation vererbten und versuchten, ihre wirtschaftliche Existenz durch Bewässerung und Düngung ihrer Felder zu sichern,9 waren die Bewohner der übrigen, niederschlagsärmeren Gebiete meistens weit weniger ortsfest. Bewohner der Waldgebiete, wie die Kimbu von Westtanzania, wechselten ihren Wohnsitz vor allem aus zwei Gründen: erstens wegen der Suche nach neuen Jagdgebieten, wenn die alten überjagt oder vom Wild verlassen waren 10 , oder zweitens, wenn die Fruchtbarkeit der Böden - bei fehlender Düngung - nach einigen Jahren des Anbaus erschöpft war. In diesen Fällen verließen die Leute ihr Land entweder ganz und siedelten sich an einer anderen, günstiger erscheinenden Stelle neu an 11 oder wanderten - indem sie Jahr ftir Jahr ein neues, an ihre Felder angrenzendes Waldstück rodeten - sehr allmählich in neue Gebiete.l2 Die dritte wesentliche Form wirtschaftlicher Existenz im Inneren Tanzanias zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die in den tsetsefreien Ebenen im Norden, Westen und im Zentrum des Landes betriebene, in der Regel mit Landwirtschaft 7 Die Masai bilden hier - als reine Tierhalter - eine Ausnahme. Ihre alleinige Abhängigkeit von ihren Herden hatte 1890/91, als in ganz Ostafrika die Rinderpest herrschte, die fatale Folge, daß mehr als zwei Drittel der Masaibevölkerung mit ihren Tieren zugrunde gingen; vgl. H. Meyer, Das deutsche Kolonialreich, Bd. 1, Leipzig-Wien 1909, S. 261. 8 Vgl. u.a. / . N . Kimambo undA. J. Temu (Hg.) , A History ofTanzania,Nairobi 1969; A. Roberts (Hg.), Tanzania Before 1900, Nairobi 1968;/. /lifte, 1979, sowie die dort angegebenen Quellen. • Vgl. / . Iliffe, 1979, S. 15 sowie S. F. Moore, The Chagga of Kilirnanjaro, in: S. F. Moore undP. Puritt, The Chagga and Meru ofTanzania, London 1977, S. 21 . 10 Vgl. A . Shorter, 1972, S. 57. 11 Wie Shorter in seiner Ende der 60er Jahre bei den Kimbu durchgeführten Untersuchung feststellte, waren manche Leute im Lauf ihres Lebens 11 oder 12 mal umgezogen und im Durchschnitt nur 6 bis 7 Jahre an einem Ort geblieben; vgl. ebenda, S. 63. 12 Vgl. flir die Ndendeuli von Südtanzania: P. H. Gulliver, Neighbours and Networks: The Idiom of Kinship in Social Action among the Ndendeuli of Tanzania, Berkeley 1971, s. 37 ff.
2.1. Lebensbedingungen in der Vorkolonialzeit ·
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kombinierte Tierhaltung, war ebenfalls nicht selten mit Wohnsitzwechsel verbunden, weil ungenügende Niederschläge und Oberweidung die Tierhalter zwangen, mit ihren Herden auf andere Weideflächen auszuweichen.
Abbildung 1: Wohngebiete der ethnischen Gruppen Tanzanias Quelle: H. Kjekshus, Eco1ogy Contro1 and Economic Deve1opment in East African History. The Case of Tanganyika 1850-1950, Berke1ey - Los Ange1es 1977, S.1l.
Während die Bewohner des Inlands bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts von der Außenwelt weitgehend isoliert waren, der Handel auf den Austausch zwischen Nachbarstämmen begrenzt und die berufliche Spezialisierung gering blieb,13 hatte sich entlang der Küste bereits seit dem 12. Jahrhundert ein reger Handel insbesondere mit Gold (aus dem heutigen Zimbabwe), Elfenbein und Sklaven entwickelt, der vor allem von arabischen, indischen und persischen 13
Vgl.A. Roberts, Preface, in: A. Roberts (Hg.) , 1968, S. XII f.
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2. Traditionelle Formen sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania
Händlern betrieben wurde. 14 Von diesen Handelsaktivitäten an der Küste blieb das Inland zunächst lange Zeit unberührt, weil die an den Küstenstreifen angrenzenden Bereiche des Inlands wenig fruchtbar und dünn besiedelt waren und weiterreichenden Kontakten ins Inland schwierige Verkehrsbedingungen entgegenstanden.15 Diese Situation veränderte sich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Mitbedingt wahrscheinlich durch steigende Elfenbeinpreise und durch den zunehmenden Einfluß Zanzibars als Handelszentrum an der ostafrikanischen Küste entstanden in dieser Zeit neue Fernhandelsrouten durch Zentraltanzania zum Tanganyikasee und im Norden von Tanga zum Kilimanjaro. Eine dritte Route im Süden, von Kilwa zum Nyassasee, die im 16. Jahrhundert bereits für einige Jahrzehnte bestanden hatte, gewann neue Bedeutung.16 Über diese Routen entwickelte sich in der Folgezeit ein rasch zunehmender Handel, der die wirtschaftliche Entwicklung bis zum Beginn der Kolonialzeit entscheidend beeinflußte.17 Die Auswirkungen dieses expandierenden Handels auf die traditionelle Wirtschaft des Inlands waren widersprüchlich: Während einerseits der Verkauf von - in der Regel jungen und arbeitsfähigen - Menschen als Sklaven das Arbeitspotential im Inland schwächte18 und der Import industriell gefertigter Erzeugnisse - insbesondere von Textilien - einheimische, handwerklich gefertigte Produkte verdrängte, hatten andere Faktoren stimulierende Effekte. Erheblich an Bedeutung gewann z.B. die Eisenverarbeitung, deren ursprünglich nur lokal gehandelte Erzeugnisse (vor allem Eisenhacken) über den Fernhandel in neue 14 Vgl. J. D. Kesby, 1972, S. 75. Infolge dieses Handels war die Wirtschaft der Küste zu Beginn des 19. Jahrhunderts wesentlich stärker spezialisiert als die des Inlands: Die Dörfer der Küste produzierten Nahrungsmittel für die Küstenstädte und für den Export im Austausch gegen importierte Güter wie Kleidung, Eisenwaren, Datteln, Salz und Fleisch. Neben Landwirtschaft und Fischerei bestanden zudem Erwerbsmöglichkeiten in Form von Elefantenjagd, dem Sammeln von Naturprodukten wie Schildkrötenschalen, Kaurimuscheln, Bienenwachs, Kautschuk und Indigo sowie abhängiger Arbeit in den Küstenstädten; vgl. hierzu sowie zur Wirtschaftsweise der Küste zu Beginn des 19. Jahrhunderts ~Iliffe, 1979,S.37. 15 Vgl. A. Roberts, 1968, S. XII. 16 Vgl. J. Iliffe, 1979, S. 40 f. 17 Gehandelt wurden vor allem Elfenbein, das - bei allmählich knapper werdenden Elefantenbeständen und steigenden Elfenbeinpreisen - zum Eindringen von Elefantenjägern und Händlern in immer abgelegenere Gebiete beitrug, sowie Sklaven im Austausch gegen Stoffe, Perlen, Salz, Eisenhacken und- etwa ab 1840 -Schußwaffen; vgl. A. Roberts, 1968, S. XV sowie J. Iliffe, 1979, S. 40 ff. 18 Die Zahl der pro Jahr vom Festland exportierten Sklaven belief sich vor 1800 wahrscheinlich auf einige tausend, dürfte bis 1834 auf 6500, in den Jahren nach 1840 auf 13 000 bis 15 000 und bis 1873 auf über 20 000 angestiegen sein. Nach dem Verbotsdekret der Briten von 1873, das den von Zanzibar und seinen Besitzungen betriebenen' Sklavenhandel untersagte, ging die Zahl der vom Festland exportierten Sklaven allmählich zurück, ihre Beschäftigung - unter anderem auf Plantagen arabischer Geschäftsleute an der Küste - gingjedoch noch über Jahrzehnte weiter; vgl. J. Iliffe, 1979, S. 42 ff.
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Absatzgebiete gelangten und dort zu begehrten Handelsartikeln wurden. In den Zentren der Eisenverarbeitung wie Buhaya, Uzinza und Unyamwezi entwickelte sich Eisenverarbeitung zunehmend zu einer Vollzeittätigkeit. 19 Zweitens bot der Fernhandel für eine wachsende Zahl von Personen Gelegenheit, als Träger Geldeinkommen zu erzielen. Vor allem Bewohner der ökologisch ungünstigen Gebiete wie die Nyamwezi zeigten sich an dieser Möglichkeit äußerst interessiert.20 Bei ihrer Rückkehr in die Herkunftsgebiete brachten die Träger zudem nicht nur Geld und Gebrauchsgegenstände, sondern auch neues Wissen und eine größere Bereitschaft zur Übernahme von Neuerungen mit. Neue Pflanzensorten mit - im Vergleich zur traditionell angebauten Hirse - höheren Erträgen wie Mais und Reis sowie die sehr trockenheitsresistente und mehrjährig lagerungsfaltige Cassava kamen auf diese Weise ins Inland,21 ermöglichten eine stärkere Diversiflzierung des landwirtschaftlichen Anbaus und trugen, zusammen ~t der durch den Fernhandel beschleunigten Verbreitung der Eisenhacke, zur Zunahme der Produktivität in der Landwirtschaft bei. 2.1.3. Politische Bedingungen Die politischen Organisationsformen der Gesellschaften des vorkolonialen Tanzania reichten von zentralregierten, unabhängigen Häuptlingstümern über segmentäre, aus einer Vielzahl halbautonomer Häuptlingstümer bestehende politische Systeme22 bis zu ,,herrscherlosen" Systemen,23 in denen politische Entscheidungen allein auf der Ebene unabhängiger Sippen und Clans getroffen wurden. Zwischen diesen politischen Ordnungsformen vollzog sich während der Vorkolonialzeit ein tendenzieller Wandel von den herrscherlosen Systemen hin Vgl. H. Kjekshus, 1977, S. 81 ff. Viele der Träger verbanden Trägertätigkeit und Arbeit in der Landwirtschaft, indem sie in der Regenzeit (zwischen November und Mai) zuhause anbauten und sich während der übrigen Zeit des Jahres bei den Karawanen verdingten. Das Einkommen als Träger war damit weitgehend Zusatzeinkommen. Bei den Nyamwezi war Trägerarbeit so populär, daß nach Schätzungen gegen Ende der Vorkolonialzeit etwa ein Drittel der männlichen Bevölkerung als Träger unterwegs war; vgl. A. Rohem, 1968, S. 128. 21 Vgl. J. Jliffe, 1979, S. 67 f. sowie A. Roberts, 1968, S. XVII. 22 Den Typus des sogenannten segmentären Staates (segmentary state) hat erstmals Southall am Beispiel der Alur von Uganda beschrieben: Innerhalb des segmentären Staates übernehmen die einzelnen Herrscher jeweils spezielle, durch ein bestimmtes Maß an Überoder Unterordnung gekennzeichnete Rollen, die oft darauf zurückgehen, daß bestimmte Vorrechte eines Gründungshäuptlingsturns gegenüber später entstandenen Häuptlingstümern bestehen. Auf diese Weise existiert eine - oft rudimentäre - hierarchische Struktur, jedoch keine zentrale Herrschaftsinstanz mit Weisungsbefugnis gegenüber untergeordneten politischen Einheiten; vgl. dazu A. Southall, Alur Society, Cambridge 1953 sowie A. Shorter, East African Societies, London-Boston 1974, S. 41 ff. 23 Vgl. dazu J. Middleton und D. Tait (Hg.), Tribes Without Rulers, London 1958. 19
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3 Bossert
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2. Traditionelle Formen sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania
zu segmentären Systemen und zum zentralregierten unabhängigen Häuptlingsturn. Zu den Stämmen, die bis zu Beginn der Kolonialzeit herrscherlos blieben, gehören z.B. die nilohamitischen Viehhalterstämme Nordtanzanias (Masai, Barabaig, Iraqw, Burungi und Gorowa). Ihre Clans waren in bezug auf die R~ge lung interner Angelegenheiten völlig autonom; übergeordnete, mehrere Clans betreffende Entscheidungen wurden von den Clanältesten getroffen. Die Position eines Häuptlings oder Vorstehers gab es nicht.24 Herrscherlosigkeit bestand weiterhin in den meisten Gebieten Südosttanzanias. Stämme wie die Makonde, Mwera, Makua und Ngindo besaßen zwei wesentliche Organisationsformen: matrilineare Familienverbände, die sich oft über weite Gebiete erstreckten sowie - in der Regel verwandtschaftlich inhomogen zusammengesetzte - lokale Siedlungen unter der Führung eines Vorstehers, der zu den ersten Siedlern gehörte oder mit einem von diesen nahe verwandt war. Dieser Vorsteher mußte von jedem Neuankömmling, der sich am Ort niederlassen wollte, formell um Erlaubnis gefragt werden.25 Alle sonstigen Angelegenheiten, die die Siedlungsgemeinschaft insgesamt betrafen, wurden von den Ältesten entschieden.26 Ähnliche, auf den Entscheidungen von Ältesten unter dem Vorsitz eines Dorfvorstehers basierende politische Systeme ohne überörtliche Herrschaftsinstanz bestanden auch bei den meisten Stämmen entlang der Küste.Z7 Aus einer Reihe von Gründen28 bildeten sich in Westtanzania und in den Hochlandgebieten-zum Teil bereits vor dem 15. Jahrhundert- Formen von 24 Vgl. G. W. B. Huntingford, The Southern Nilohamites, London 1969, S. 121 f., S. 124 und S. 127 ff. 25 Mit diesem Vorrecht des Vorstehers war allerdings keine wesentliche Entscheidungsbefugnis verbunden, da eine Siedlung normalerweise an personeller Verstärkung interessiert war, um Gemeinschaftsarbeiten wie Roden, landwirtschaftlichen Anbau und die Bewachung der Felder vor wilden Tieren besser durchführen zu können; vgl. G. Liebenow, Colonial Rule and Political Development in Tanzania: The Case of the Makonde, Nairobi 1971, S. 41 ff.;P. H. Gulliver, 1971, S. 63 ff., sowieM. Tew, Peoples of the Lake Nyassa Region, London 1950, passim, insbes. S. 25 ff. 26 Vgl. ebenda. 2 ' Vgl. z.B. T. 0. Beidelman, The Matrilineal Peoples of Eastern Tanzania, London 196 7, passim. 28 Maleolm nennt als Ursache flir die Gründung der Sukumahäuptlingstümer, die er auf die Zeit zwischen 1750 und 1800 datiert, wachsende Bevölkerungsdichte: "In the early days each small group would move within a large area in pursuit of food, but gradually arable agriculture replaced hunting as the primary activity of the people. Law and order would be maintained by the elders .. . This period of gerontocratic rule could only continue as long as the number of families was small and the population scattered. With an increased population there would come a time wpen inter-family or clan disputes, which could only be settled by force, would be more troublesome ... Thus the time would be ripe to place the ultirnate decision in the hands of a fmal authority and the necessity for chieftainship would have arisen." (vgl. B. W. Malcolm, Sukumaland. An African People and TheirCountry. A Study of Land Use in Tanganyika. London-New York-Toronto 1953,
2.1. Lebensbedingungen in der Vorkolonialzeit
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Häuptlingsherrschaft,29 jedoch blieb in allen Gebieten die politische Macht des Häuptlings - kontrolliert durch die Ältesten des Häuptlingsturns - bis ins beginnende 19. Jahrhundert eng begrenzt.30 Die Ausdehnung des Fernhandels veränderte das ursprüngliche Machtverhältnis zwischen den Häuptlingen und den Ältesten in einigen Gebieten allerdings nicht unwesentlich. Während die Häuptlinge zunächst wirtschaftlich weitgehend von den Tributzahlungen und Arbeitsleistungen ihrer Untertanen abhängig gewesen waren, eröffnete ihnen der Fernhandel neue, ergiebige Einnahmequellen z.B. in Form von Durchgangszöllen für passierende Karawanen und Einnahmen aus dem Verkauf von Sklaven und von Elfenbein.31 Oft kontrollierten die Häuptlinge weitgehend den Handel zwischen den Karawanen und den Bewohnern ihrer Gebiete.32 Diese Veränderungen machten - selbst in ursprünglich an ökonomischen Überschüssen armen Gebieten - Eroberungskriege zunehmend lohnend. 33 Folge der S. 21). Neben der aus wachsender Bevölkerungsdichte resultierenden Notwendigkeit, übergeordnete Instanzen zur Regelung interner Auseinandersetzungen zu schaffen, spielte bei der Entstehung von Häuptlingsherrschaft in verschiedenen Stämmen Bedrohung von außen eine wesentliche Rolle. Bei den Shambaa beispielsweise bestanden bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts Dörfer, die jeweils von bestimmten Sippen bewohnt und regiert wurden. Die Bedrohung durch die in dieser Zeit von Norden nach Tanzania eindringenden Masai flihrte dann zur Errichtung zentralisierter Herrschaft durch Mbegha, der die Verteidigung gegen die Masai organisierte (vgl. S. Feierman, The Shambaa, in: A. Roberts (Hg.), 1968, S. 4 ff.). Ein weiterer Faktor, der zur Entstehung politischer Herrschaft beitrug, ist sehr wahrscheinlich die kulturelle Beeinflussung durch Nachbarstämme. Dieser Faktor dürfte dafür verantwortlich sein, daß im dünn besiedelten Westtanzania, das an entwickelte politische Zentren wie das Lupa-Gebiet und die alten Königreiche nördlich und westlich des Viktoriasees angrenzte, Häuptlingstümer entstanden, nicht dagegen im wirtschaftlich und demographisch ähnlich strukturierten Südosttanzania (vgl. J.IIiffe, 1979, S. 24). 29 Während in den Waldlandgebieten Westtanzanias, z.B. in Ukimbu und Unyamwezi, in der Regel Herrschaftssysteme vom Typ des segmentären Staats entstanden, bildeten sich größere, zentralregierte Häuptlingstümer insbesondere in den fruchtbaren und niederschlagsreichen Gebieten mit dauerhafter Siedlungsweise wie in Buhaya, Uzinza, Upare, Uchagga, Usambara und bei den Meru, wo ausreichende ökonomische Überschüsse erwirtschaftet wurden, um einen Hof des Häuptlings mit Beratern und Beauftragten zu unterhalten, der eine wirksame Ausübung politischer Kontrolle ermöglichte. 30 In der Regel waren die Häuptlinge bei wichtigen Entscheidungen von der Zustimmung der Ältesten ihres Häuptlingsturns abhängig und konnten von diesen im Fall von Unfähigkeit oder Machtmißbrauch abgesetzt werden; vgl. A . Shorter, 1972, S. 120 sowie ~Iüffe, 1979, S. 25. 31 Von jedem auf seinem Gebiet getöteten.Elefanten beanspruchte der Häuptling normalerweise einen Stoßzahn; vgl. A . Shorter, 1972, S. 136. 32 Vgl. S. F. Moore, 1977, S. 11 ff. sowie A. Shorter, 1972, S. 135 ff. 33 In Uhehe, das bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein Gebiet mit zahlreichen kleinen Häuptlingstümern war, gelang es z. B. in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts den Häuptlingen Munyigumba und Mkwawa ein zentral regiertes Herrschaftssystem zu errichten, mehrere Nachbarstämme zu unterwerfen und den Handel mit Elfenbein, Vieh, Sklaven, Stoffen und Waffen unter ihre Kontrolle zu bringen. Etwa zur gleichen Zeit eroberte der Nyamwezihäuptling Nyungu-ya-Mawe weite Gebiete Unyamwezis und Ukimbus und errichtete ein System von Beauftragten, die die unterworfenen Häuptlingstümer überwachten, und ihm das gesamte verfügbare Elfenbein beschafften (vgl. A. Shorter, 1974, S. 44 f. sowie I. N. Kimambo/A. J. Temu (Hg.) , 1969, S. 76 und S. 113 f.). In vielen Gebieten Tanzanias häuf3*
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wachsenden äußeren Bedrohung war, daß in zahlreichen Gebieten, wie z.B. in Unyamwezi, Ufipa, Ugafwa, Ungindo und Unyiha, befestigte, von Palisaden, Gräben und Steinmauern umgebene Wehrsiedlungen errichtet wurden, in denen die Bevölkerung konzentriert wohnte. 34 Die Notwendigkeit, die Verteidigung dieser Dörfer zu organisieren, trug ebenfalls zur Stärkung der Macht der Häuptlinge bei. 35
2.2. Träger traditioneller sozialer Sicherung in der Vorkolonialzeit In allen Gebieten des vorkolonialen Tanzania bestanden zumindest zwei gesellschaftliche Institutionen, die wesentliche Sicherungsfunktionen im Fall des Eintretens sozialer Risiken wahrnahmen: Haushaltsgemeinschaften als Gemeinschaften von Personen, die miteinander lebten, produzierten und konsumierten, sowie Familienverbände (Sippen, Clans), die sich aus einer Mehrzahl von Haushaltsgemeinschaften zusammensetzten, die durch verwandtschaftliche Beziehungen verbunden und zu gegenseitiger Hilfe verpflichtet waren. Neben diesen beiden wichtigsten Trägern traditioneller sozialer Sicherung übernahmen - regional und im Zeitablauf unterschiedlich - bis zu zwei weitere gesellschaftliche Institutionen Sicherungsaufgaben: Nachbarschaftsgemeinschaften als Gemeinschaften von Haushalten, die das gleiche Dorf bzw. die gleiche Siedlung bewohnten, wirtschaftlich kooperierten und bestimmte Formen gegenseitiger Hilfe praktizierten, sowie der Häuptling. 2.2.1. Die Haushaltsgemeinschaft Haushaltsgemeinschaften - als Gemeinschaften miteinander lebender, produzierender und konsumierender Personen - existierten im vorkolonialen Tanzania in zwei Grundformen:
1. In den Gebieten, in denen das patrilineare Abstammungsprinzip 1 vorherrschten sich in dieser Zeit Überfälle zwischen einzelnen Stämmen und Stammesgruppen zur Gefangennahme von Sklaven (vgl. J. Jliffe, 1979, S. 50 sowie B. Brock, The Nyiha, in: A. Roberts (Hg.), 1968, S. 68 ff.). 34 Vgl. P. Reichard, Deutsch-Ostafrika: das Land und seine Bewohner, Leipzig 1892, S. 358; J. Iliffe, 1919, S. 75 ; B. Brock, 1968, S. 72 ff.; R . G. Willis, The Fipa, in: A . Ro· berts (Hg.), 1968, S. 84 sowieH. Meyer, 1909, S. 209. 35 Vgl. M.·L. Swantz, Ritual and Symbol in Transitional Zaramo Society with Special Reference to Women, Lund 1970, S. 99 sowie J. Iliffe, 1979, S. 75. 1 Nach dem patrilinearen Abstammungsprinzip, dem die Mehrzahl der Stämme Tanza-
2.2. Träger traditioneller sozialer Sicherung in der Vorkolonialzeit
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te, bestanden Haushaltsgemeinschaften normalerweise aus einem männlichen Haushaltsvorstand, der patrilokal, d.h. am Ort seiner männlichen Vorfahren, lebte, dessen Frau bzw. - bei Polygamie - dessen Frauen und deren Kindern sowie ggf. Schwiegertöchtern, Sklaven und weiteren verwandten oder nichtverwandten Personen. 2. In den Gebieten mit matrilinearem Abstammungsprinzip2 wurden Haushaltsgemeinschaften in der Regel von einer matrilokal, d.h. am Ort ihrer weiblichen Vorfahren, lebenden Frau oder einer Gruppe von Schwestern, deren Ehemann bzw. Ehemännern, Kindern und Schwiegersöhnen sowie ggf. weiteren Personen gebildet.3 Diese Haushalte waren in manchen Gebieten, in denen - bei Patrilokalität die Söhne bzw. - bei Matrilokalität - die Töchter auch nach ihrer Heirat im Haushalt ihrer Eltern blieben, Drei- oder Mehrgenerationenhaushalte.4 In anderen Gebieten war es üblich, daß die verheirateten Kinder eigene Haushalte - oft in räumlicher Nähe des elterlichen Haushalts - gründeten.5 Selbst dann, wenn die verheirateten Kinder das Recht hatten, eigene Haushalte zu Lebzeiten ihrer Eltern zu gründen, erfolgte diese Loslösung der Jüngeren vom elterlichen Haushalt aus mehreren Gründen in der Regel erst im mittleren Lebensalter.6 Zu diesen Gründen gehört zum einen die Verbreitung der Polygamie, die zur Folge nias folgt, gelten Kinder bei bezahlter Brautgabe bzw. nach Ableistung von Brautdienst durch den Mann als mit ihrem Vater und dessen Sippe verwandt. 2 Nach dem matrilinearen Abstammungsprinzip, das in einigen Teilen Südtanzanias (z.B. bei den Makonde, Makua und Yao) sowie Osttanzanias (z.B. bei den Luguru, Zaramo, Kaguru, Ngulu und Kwere) vorherrscht, gelten Kinder als mit ihrer Mutter und der mütterlichen Sippe verwandt; vgl. T. 0. Beidelman, 1967, passim, sowie J. N . Kimambo/ A . J. Temu (Hg.), 1969, S. 32. 3 Beschreibungen patrilinearer bzw. matrilinearer Haushaltsgemeinschaften finden sich in: R. G. Abrahams, The Peoples of Greater Unyamwezi, Tanzania, London 1967(a), S. 50 ff.; P. H. Gulliver, 1971, S. 56; B. W. Malcolm, 1953, S. 40 ff. sowie J. C. Mitchell, The Yao-Village, Manchester 1976, S. 209 ff. Zwischen beiden Typen von Haushaltsgemeinschaften existierten oft fließende Übergänge. Z. B. lebten in matrilinearen Gebieten manche Frauen virilokal - Mitchell stellte z. B. in seiner Untersuchung bei den matrilinearen Yao fest, daß es fast allen Dorfvorstehern gelang, ihre Frauen an den Wohnsitz ihrer eigenen matrilinearen Verwandtschaftsgruppe zu holen (vgl. J. C. Mitchell, 1976, S. 184). Umgekehrt lebten in patrilinearen Gebieten Schwiegersöhne, die keine Brautgabe entrichtet hatten, häufig am Ort ihrer Schwiegereltern und gehörten zusammen mit ihren Kindern zu deren Haushaltsgemeinschaft. Bei den patrilinearen Kimbu z.B. erweiterten auf diese Weise vor allem die Häuptlingsfamilien ihren Einfluß, indem sie die Schwestern des Häuptlings ohne Brautgabe verheirateten; vgl. A. Shorter, 1972, S. 114. 4 Vgl. flir die Gogo: P. Rigby, Cattle and Kinship among the Gogo, Ithaca - London 1969, S. 154 ff., insbes. S. 175; flir die Nyamwezi: W. Blohm, Die Nyamwezi. Gesellschaft und Weltbild, Harnburg 1933, S. 3. 5 Vgl. flir die Chagga: S. F. Moore, 1977, S. 2 und S. 65. 6 Bei den Nyakyusa heirateten und gründeten die Männer ihren Haushalt in der Regel erst mit nahezu 30 Jahren; vgl. M. Wilson, ForMen and Elders. Change in the Relations of Generationsand Men and Women among the Nyakyusa-Ngonde People 1875-1971, London 1977, S. 187.
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hatte, daß junge Männer - aufgrund der Konkurrenz mit den wirtschaftlich in der Regel bessergestellten älteren Männern um Frauen im heiratsfähigen Alter -normalerweise erst relativ spät heiraten konnten. 7 Zweitens war aufgrund der Bedrohung durch Überfälle die Gründung von Haushalten durch wenige Personen mit einem erhöhten Risiko verbunden. Infolgedessen blieben Männer oft zunächst im Haushalt ihres Vaters, bis die Zahl der Frauen, Kinder und sonstigen abhängigen Angehörigen ausreichend groß war. Drittens bestanden religiöse Vorstellungen, an dem Ort, an dem die eigenen Vorfahren begraben worden waren, vor Unglück besser geschützt zu sein.8 Aufgrund dieser Faktoren waren die Haushalte in der Regel relativ groß9 und besaßen - da mit Ausnahme kleiner Kinder, Kranker und sehr alter Menschen normalerweise alle Haushaltsmitglieder an der Produktion beteiligt waren - günstige Voraussetzungen, um den Ausfall der Arbeitskraft einzelner Haushaltsmitglieder, z.B. bei Krankheit, hohem Alter oder bei Niederkunft einer Frau, auszugleichen. War der Haushalt dennoch nicht in der Lage, seine Mitglieder im Fall des Eintretens sozialer Risiken ausreichend zu sichern, hatten diese - auf der zweiten Ebene des traditionellen Sicherungssystems - Anspruch auf Hilfe innerhalb des Familienverbandes. 2.2.2; Der Familienverband Verwandtschaftsbeziehungen wurden im vorkolonialen Afrika in der Regel vom Bestehen einer Abstammungslinie zu einem bestimmten Vorfahren abgeleitet. Mitglieder eines Familienverbandes waren - bei Geltung des patrilinearen bzw. matrilinearen Abstammungsprinzips - jeweils alle Personen, die in aufsteigender männlicher bzw. weiblicher Linie von einem gemeinsamen Vorfahren abstammten. 10 Da dieser Vorfahre weit zurückliegen konnte, bildeten 7 Vgl. M. Wilson, Nyakyusa K.inship, in: A. R. Radcliffe-Brown und D. Forde (Hg.), African Systems of Kinship and Marriage, 10. Aufl., London-New York-Toronto 1970, S.112. 8 Vgl. P. Rigby, 1969, S. 163 und S. 185, Fn. 38. 9 Exakte Zahlenangaben über die Größe der Haushalte der Vorkolonialzeit sind auf der Grundlage der vorliegenden Quellen nicht möglich. Einen Anhaltspunkt liefert jedoch Rigby, der in seiner in den Jahren nach 1960 bei den Gogo durchgeführten Untersuchung eine durchschnittliche Haushaltsgröße von 9,4 Personen ermittelte und davon ausgeht, daß die Haushalte der Vorkolonialzeit größer waren als zum Untersuchungszeitpunkt; vgl. P. Rigby, 1969, S. 184 und S. 185, Fn. 38. 10 Die Regeln patrilinearer bzw. matrilinearer Verwandtschaftsdefinition galten allerdings nicht immer in reiner Form. Die Nyamwezi z.B. folgten teilweise dem patrilinearen Prinzip, da Kinder - sofern die Brautgabe entrichtet war - zur Familie des Vaters gehörten. Andererseits gehörten Kinder erbrechtlich zur Verwandtschaftslinie der Mutter, da Vermögen nicht wie in den rein patrilinearen Gesellschaften von Bruder zu Bruder bzw. vom Vater zum Sohn, sondern vom Bruder der Mutter zum Sohn der Schwester vererbt
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sich nicht selten sehr große Clans, die mehrere tausend Mitglieder umfassen konnten. 11 Größere Clans waren in der Regel in Unterclans bzw. Sippen (Lineages) unterteilt, die sich auf weniger weit zurückliegende Vorfahren bezogen. Clans und Sippen waren in den Gebieten mit ortsfester und verwandtschaftlich relativ homogener Siedlungsweise wie in Uchagga, Buhaya, Upare, Usambara, Unyakyusa und am Mt. Meru sowie bei den nilohamitischen Viehhalterstämmen relativ straff organisierte soziale Einheiten, die unter Führung eines Clan- bzw. Sippenvorstehers gemeinsame Angelegenheiten, wie z.B. Fragen der VerfUgung über Boden- oder Wasserrechte, intern regelten und die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber anderen Clans und Sippen vertratenP In den Gebieten mit Wanderhackbau, in denen die Mitglieder der einzelnen Familienverbände oft über weite Gebiete verstreut lebten, bestand dagegen meistens nur eine lose organisatorische Einheit, die hauptsächlich bei rituellen Anlässen von Bedeutung war. Verwandtschaftliche Beziehungen waren jedoch als Interaktion zwischen den in erreichbarer Nähe wohnenden Mitgliedern eines Familienverbandes auch in diesen Gebieten von erheblicher BedeutungP Wo Mitglieder des gleichen Familienverbandes zusammenlebten, kooperierten sie normalerweise wirtschaftlich sehr eng, in der Landwirtschaft z.B. beim Roden von Land, bei der Bearbeitung des Bodens vor der Aussaat, beim Jäten, bei der Ernte und beim Bewachen der Felder vor wilden Tieren und Vögeln, in der Tierhaltung z .B. beim Hüten der Tiere und durch das Ausleihen von Tieren, das es dem Besitzer von Tieren ermöglichte, das Risiko eines Totalverlustes seiner Herde - etwa im Fall einer Seuche oder bei Trockenheit - zu verringern. 14 Neben ökonomischer Kooperation, die dazu beitrug, die negativen Folgen temporärer Ausfalle von Arbeitskräften innerhalb der Haushaltsgemeinschaften und die Risiken der Tierhaltung zu mildern, bestanden zahlreiche weitere Formen von Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe zwischen den Mitgliedern der Familienverbände. Tributzahlungen an den Häuptling und andere Zahlungen, wie z.B. Blutgeld, 15 wurden bei vielen Stämmen nicht vom einzelnen Haushalt, sondern vom wurde; vgl. R. Rothlach, Der Wandel der Wanjamwesi-Gesellschaft in vorkolonialer Zeit und die Ideen Nyereres über die traditionelle afrikanische Gesellschaft, Diss. München 1975, s. 58 ff. 11 Vgl. für die Meru: P. Puritt, The Meru of Northeastern Tanzania, in: S. F. Moore/ P. Puritt, 1977, S. 110. 12 Vgl. für die Chagga: S. F. Moore, 1977, S. 33;für die Meru: P. Puritt, 1977, S. 112. 13 Vgl. R. G. Abrahams, 1967(a), S. 42 ff. 14 Der Entleiher wurde flir die Haltung des Tieres in der Regel mit dessen Milchertrag, in manchen Fällen auch mit einemjungen Tier entschädigt;vgl. S. F. Moore, 1977, S. 23 f .; B. W. Malcolm, 1953, S. 71; G. W. B. Huntingford, 1969, S. 93 und S. 100. 15 Blutgeld war einem Familienverband als Wiedergutmachung bei einem Mord an einem seiner Mitglieder zu zalllen.
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Familienverband geleistet, der über die interne Aufbringung der Mittel selbst entscheiden konnte. 16 Bei vielen Stämmen kooperierten die Mitglieder der Familienverbände auch beim Schlachten von Tieren. Bei den Chagga z.B. erfolgte das Schlachten von Tieren im Rahmen regelmäßiger Sippenfeste, für die vor allem reichere Sippenmitglieder Tiere zur Verfügung stellten. 17 Über solche speziellen, von Stamm zu Stamm oft unterschiedlichen Regelungen der Kooperation und gegenseitigen Hilfe zwischen Mitgliedern von Familienverbänden hinaus bestand in der Regel eine mehr oder weniger weit gefaßte allgemeine Pflicht, Sippen bzw. Clanmitgliedern im Fall besonderer Notlagen zu helfen. Puritt stellt z.B. für die Meru fest: " ... all Meru are to some extent duty bound to aid a fellow Meru in time of hardship." 18 Über die Barabaig schreibt Huntingford: ,,A man when travelling is always inade welcome by clansmen or clanswomen; he can count on their support in political, domestic or economic crises." 19 Merker konstatierte in seiner Untersuchung über die Masai 1904: "Wirklich arme Leute ... sind Ausnahmen, da sich die Angehörigen in ausgiebiger Weise unterstützen."20 Sippen- bzw. Clanmitglieder, die die Erfüllung solcher Pflichten zur Hilfeleistung ohne triftigen Grund verweigerten, mußten damit rechnen, vom Familienverband zur Entrichtung einer Buße verurteilt, von wirtschaftlicher Kooperation und gegenseitiger Hilfe zeitweilig ausgeschlossen oder - als letztes Mittel völlig aus dem Familienverband ausgestoßen und vom Familienältesten verflucht zu werden.2 1 Diese Sanktionen waren - aufgrund der begrenzten Möglichkeiten des Einzelnen bzw. des einzelnen Haushalts, aus eigener Kraft, ohne die Kooperation auf lokaler Ebene zu existieren,22 und aufgrund des Glaubens, daß die Verfluchung durch den Familienältesten persönliches Unglück zur Folge habe23 - äußerst wirkungsvoll. Vgl. für die Chagga und Meru: S. F. Moore, 1977, S. 31 undP. Puritt, 1977, S. 112. Vgl. S. F. Moore, 1977, S. 21 und S. 23. 18 P. Puritt, 1977, S. 111. Insbesondere hatten die Meru die Pflicht, Verwandte mit Nahrung zu versorgen; vgl. ebenda, S. 108. 19 G. W. B. Huntingford, 1969, S. 100. 20 M. Merker, Die Masai. Ethnographische Monographie eines ostafrikanischen Semitenvolkes, 2. Aufl., Berlin 1910 (1. Aufl. 1904 ), S. 119. 21 Vgl.P. Puritt, 1977, S. 1ll;H. Cory, Sukuma Law and Custom, London-NewYorkToronto 1954, S. 113 sowie J. Maquet, Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen in Afrika, München 1971, S. 53 f. 22 Vgl. P. Rigby, 1969, S. 167 sowie H. Cory, 1954, S. 113. Die Notwendigkeit zur Anpassung an die Normen des Familienverbandes bestand häufig nicht nur aus Gründen wirtschaftlicher Kooperation und der Sicherung in Notlagen, sondern auch z.B. im Hinblick auf die zur eigenen Heirat bzw. zur Verheiratung eigener Söhne notwendige Brautgabe, deren Umfang die Leistungsfähigkeit eines einzelnen Haushalts oft überstieg und die Hilfe anderer Mitglieder des Familienverbandes erforderte (vgl. P. Rigby, 1969, S. 300). Diese - in den meisten Stämmen übliche - Mithilfe der Verwandten bei der Bezahlung der Brautgabe entsprach der Vorstellung, daß die Ehe nicht nur eine Verbindung zwischen zwei Individuen, sondern zwischen zwei Familienverbänden sei; vgl. dazu J. Maquet, 1971, s. 72 ff. 16
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2.2.3. Die Nachbarschaftsgemeinschaft In vielen Gebieten des vorkolonialen Tanzania waren Nachbarn zugleich Verwandte und ihre sozialen Beziehungen waren primär von den zwischen Verwandten geltenden Regeln bestimmt. Eine weitgehende Identität zwischen nachbarschaftliehen und verwandtschaftlichen Beziehungen bestand insbesondere in den Gebieten mit ortsfester Siedlungsweise, in denen bestimmte Dörfer bzw. Siedlungen oft der Besitz bestimmter Familienverbände waren,24 sowie bei den nilohamitischen Stämmen, deren Kraals jeweils von bestimmten Sippen bewohnt wurden. 25 In den Gebieten mit Wanderhackbau waren Siedlungen und Dörfer verwandtschaftlich weniger homogen zusammengesetzt, jedoch sprechen die Untersuchungen z.B. von Gulliver, 26 Rigby 27 und Shorter28 daftir, daß auch in diesen Gebieten die Beziehungen zwischen Verwandten besonders intensiv waren und Haushalte, die in neue Gegenden zogen, dazu tendierten, sich in der Nähe von Verwandten anzusiedeln, weil von diesen Kooperationsbereitschaft und Hilfe mit großer Sicherheit erwartet werden konnten. 29 Neben den solidarischen Beziehungen zwischen Verwandten finden sich jedoch auch zahlreiche Belege für Kooperation und gegenseitige Hilfe zwischen nichtverwandten Nachbarn. Bei den Makonde z.B. hatten Nachbarn ungeachtet ihres verwandtschaftlichen Verhältnisses die gegenseitige Verpflichtung, sich bei der Rodung neuer Felder, dem Bau von Häusern und bei Bedrohung von Leben oder Besitz zu helfen. Die einzige Entschädigung für solche Hilfeleistungen bestand in der Regel in der Bereitstellung von Bier. Von Nachbarn wurde auch erwartet, daß sie neue Siedler während der ersten Anbausaison unterstützten und Nahrung ftir sie und ihre Familie bereitstellten. Wer gegenüber seinen Nachbarn zu wenig großzügig war, mußte damit rechnen, bei rituellen Festen von Maskentänzernlächerlich gemacht zu werden. 30 Vgl. J. Maquet, 1971, S. 53. Vgl. S. Feierman, 1968, S. 2; S. F. Moore, 1977, S. 2 sowieP. Puritt, 1977, S. 91. 25 Vgl. M. Merker, 1910, S. 32. 26 Vgl. P. H. Gulliver, 1971, S. 48 ff. 27 P. Rigby, 1969, S. 147 ff. 28 A. Shorter, 1972, S. 76 ff. 29 Gulliver stellte z.B. bei den Ndendeuli fest, daß Verwandtschaft immer das Recht bedeutete, Hilfe und Unterstützung zu fordern, und die Pflicht, sie zu gewähren. Abrahams fand bei den Nyamwezi. daß ,.Schulden" als ein Merkmal des Verhältnisses zwischen Nichtverwandten angesehen wurden, nicht dagegen zwischen Verwandten. Kooperation zwischen nichtverwandten Nachbarn beruhte nach den Feststellungen Abrahams' auf dem Prinzip gleichwertiger Gegengabe, während Verwandte "help each other where they can"; vgl. P. H. Gulliver, 1971, S. 76 sowie R . G. Abrahams, 1967(a), S. 42. 30 Vgl. G. Liebenow, 1971, S. 59 ff. 23
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Bei den Nyakyusa kooperierten Nachbarn innerhalb der verwandtschaftlich inhomogen zusammengesetzten Dörfer beim Hüten von Tieren, im landwirtschaftlichen Anbau und im Hausbau. Für jede größere Arbeit, wie dem Hacken oder Abernten eines großen Feldes oder dem Bau eines Hauses, wurde eine Arbeitsgruppe zusammengerufen, zu der zu kommen sowohl von verwandten wie nichtverwandten Nachbarn erwartet wurde. 31 Ähnliche Formen wirtschaftlicher Kooperation zwischen nichtverwandten Nachbarn existierten in vielen anderen Gebieten. 32 Solidaritätspflichten zwischen nichtverwandten Nachbarn, die über die wirtschaftliche Kooperation hinausgingen, wurden vor allem durch drei Institutionen geschaffen: Geheimgesellschaften, Blutsfreundschaften und Altersgruppen. Geheimgesellschaften bestanden insbesondere in Westtanzania. Jede Geheimgesellschaft übte bestimmte Rituale aus, die nur ihren Mitgliedern bekannt waren. Viele dieser Gesellschaften waren über weite Gebiete verbreitet; Mitgliedschaft in einer Gesellschaft schloß die in einer anderen Gesellschaft nicht aus. Zwischen den Mitgliedern wurde solidarisches Verhalten und gegenseitige Hilfe in Notfällen erwartet. R. G. Abrahams hat die Geheimgesellschaften aus diesem Grund als Verwandtschaftssurrogat bezeichnet.33
Den Charakter eines Verwandtschaftssurrogats hatten ebenfalls Blutsfreundschaften, die in manchen Gebieten, wie z.B. in Uchagga, sehr häufig waren. Sie schufen Beziehungen, die denen zwischen Brüdern sehr ähnlich waren.34 Altersgruppen bestanden z.B. bei den nilohamitischen Stämmen, bei den Meru, Chagga, Nyamwezi, Sukuma und bei den Nyakyusa. Die Masai hatten im 19. Jahrhundert sechs männliche Altersgruppen: 1. Engera (kleine Jungen), ~- Leiok (Jungen), 3. Elmoran bzw. Elkeiteau (junge Männer im Alter von 17 bis zu 25 Jahren, die noch nicht verheiratet waren und kein eigenes Vieh besaVgl. M. Wilson, 1970, S. 129. Weil sich Nachbarn traditionell gegenseitig beim Errichten ihrer Häuser halfen, bedeutete bei den Gogo und Nyamwezi das Wort für "Nachbarn" (wacizengane bzw. bazenga) ,jene, die zusammen bauen"; vgl. P. Rigby, 1969, S. 152 und R. G. Abrahams, 1967(a), S. 53. Bei den Zaramo und anderen Stämmen an der Küste bestanden zwei Formen der Kooperation zwischen - auch nichtverwandten - Nachbarn: Derfundi ya honde (Meister des Feldes) koordinierte auf Dorfebene die gemeinsame Arbeit, leitete die saisenal notwendigen Arbeiten ein und überwachte die richtige Reihenfolge in der Bearbeitung der Felder. Daneben bestand eine zweite Form der Gemeinschaftsarbeit, kiwili, bei der sich Nachbarn bei schweren Arbeiten sowie dann, wenn jemand krank wurde oder ein Haushalt aus Mangel an Voraussicht in Schwierigkeiten geriet, gegenseitig unterstützten und mit Bier und Hirsebrei (ugali) entschädigt wurden. Vgl. A. H . J. Prins, The Swahili-Speaking Peoples of Zanzibar and the East African Coast (Arabs, Shirazi and Swahili), London 1967, S. 68 f. 33 Vgl. R . G. Abrahams, The Political Organization of Unyamwezi, Cambridge 1967(b), S. 2S;R. G. Abrahams, 1967(a), S. 63 ff. sowieR. Rothlach, 1975, S. 94 ff. 34 Vgl. M. Merker, Rechtsverhältnisse und Sitten der Wadschagga, Gotha 1902, S. 24; R . G. Abrahams, 1967(a), S. 65 f.; R. G. Willis, The Fipa and Related Peoples of SoutbWest Tanzania and North-East Zambia, London 1966, S. 31 sowie T. 0 . Beidelman, 1967, s. 21. 31
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ßen), 4. Ekieko (Männer, die verheiratet waren und eigenes Vieh besaßen), 5. Esabuki (ältere Männer), 6. Elkijaro oder Elkimirisho (alte Männer). 35 Jede dieser Altersgruppen hatte spezifische Aufgaben wie Tiere hüten, Funktionen als Krieger, Funktionen als Tierhalter, Funktionen als Ratgeber und Älteste. Von den Mitgliedern der jüngeren Altersgruppen wurde jeweils Respekt gegenüber den Mitgliedern älterer Altersgruppen erwartet, während innerhalb der Altersgruppen Gleichberechtigung und Solidarität herrschte. 36 Bei den Nyakyusa bestanden vier männliche Altersgruppen: 1. Jungen, die bei ihren Eltern lebten, 2. Junge Männer, die in einem eigenen Dorf lebten, aber bis zu ihrer Heirat im Alter von etwa 25 Jahren für ihre Eltern arbeiteten, 3. Verheiratete Männer, die eigenen Haushaltsgemeinschaften vorstanden, eigene Felder bearbeiteten und im Alter von etwa 33 bis 35 Jahren die politische Entscheidungsgewalt von der vierten Altersgruppe, den alten Männern, übernahmen. Wie bei den Masai galten innerhalb dieser Altersgruppen Kameradschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe und zwischen den Altersgruppen Respekt gegenüber den jeweils älteren Altersgruppen als wichtige Normen.37 Bei Verstößen gegen diese Normen traten rituell verankerte Sanktionen in Kraft: "The ,breath-of-men' as a sanction for wrongdoing, operated in a sequence of events in which men of the village ,murmured' about the violation of an important norm of conduct, thereby invoking supernatural punishment of the wrongdoer, the sinner was punished by experiencing illness or misfortune, leading to his reformation and correct conduct. A commensal feast then took place, where the commission of the sin and the taking of steps to bring the penalty were openly acknowledged by the guilty person and his neighbours, respectively. Finally, a medicine designed to prevent the future occurence of the offence was administered by a medicine man present at the meal." 38 In manchen der Gebiete, in denen Altersgruppen existierten, verrichteten die jungen, unverheirateten Männer auf den Feldern der einzelnen Haushalte und bei der Errichtung von Häusern - in der Regel allein gegen Verköstigung Gemeinschaftsarbeit.39 In anderen Gebieten - auch solchen, in denen keine formellen Altersgruppen bestanden, aber Initiationsriten durchgeführt wurden - bestanden beson35
Vgl. /. L. Krapf, Vocabulary of the Engutuk Eloikob, Tübingen 1854, S. 14 f. sowie
G. W. B. Huntingford, 1969, S. 111 f.
Vgl. G. W. B. Huntingford, 1969, S. 119. Vgl. K. S. Carlston, Social Theory and African Tribai Organization. The Development of Socio-Legal Theory, Urbana-Chicago-London 1968, S. 336 ff., insbes. S. 346 ff. 38 Ebenda, S. 353. 39 Vgl. flir die Nyakyusa: M. Wilson, 1970, S. 112 und S. 116 f.; für die Sukuma: B. W. Malcolm, 1953, S. 33 ff. Maleolm erklärt die Entstehung der institutionalisierten kollektiven Arbeit junger Männer bei den Sukuma damit, daß mit zunehmender Größe der Dörfer gegenseitige Hilfe nicht mehr allein durch persönliche Absprache vereinbart werden konnte, sondern organisierte Hilfe notwendig wurde; vgl. ebenda. 36
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dere, von verwandtschaftlichen Beziehungen unabhängige Pflichten zur Solidarität zwischen denen, die gemeinsam beschnitten worden waren. Die Altersgenossen wurden als Mitglieder einer gemeinsamen Gruppe im Dorf angesehen, die besondere Freundschaftsbeziehungen und -Verpflichtungen untereinander hatten.40 Bei den Meru stand am Ende der sich über mehr~re Monate erstrekkenden Initiation, die für alle Meru-Clans gemeinsam durchgeführt wurde, die Wahl eines Freundes, dem gegenüber die lebenslange Pflicht zur Hilfe in jeder Beziehung bestand und von dem die gleiche Hilfe erwartet werden konnte.41 Die aufgeführten Beispiele zeigen, daß die vorkoloniale tanzanisehe Gesellschaft eine Vielzahl von Regelungen kannte, die einen Risikoausgleich auch zwischen nichtverwandten Nachbarn implizierten. Selbst rein wirtschaftliche, auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhende Kooperation auf nachbarschaftlieber Ebene enthielt ein solches Element des Risikoausgleichs, weil sie ermöglichte, den kurzfristigen Ausfall von Arbeitskräften- z.B. bei Niederkunft von Frauen oder bei Krankheit einzelner Haushaltsmitglieder - gegenseitig zu kompensieren. Darüber hinaus schufen die Institutionen der Blutsfreundschaften, Geheimgesellschaften und Altersgruppen weitergehende, oft verwandtschaftsähnliche Beziehungen auf lokaler Ebene, die Rechte auf gegenseitige Hilfe auch im Fall gravierenderer Notlagen beinhalteten.
2.2.4. Der Häuptling Der Häuptling war im vorkolonialen Tanzania rituelles Oberhaupt, oberster Richter und militärischer Führer seiner Leute. Er kontrollierte im allgemeinen das kommunale Wald-, Gras- und Jagdland und das nicht vergebene bebaubare Land.42 über diese Funktionen hinaus hatte der Häuptling im allgemeinen auch - in engem Zusammenhang mit den rituellen Aspekten der Häuptlingsherrschaft stehende - Verpflichtungen, die Existenz seiner Untertanen in Notfällen zu sichern. Grundlage der rituellen Funktionen des Häuptlings war die Vorstellung, Gesundheit, Fruchtbarkeit und wirtschaftliches Wohlergehen der Bewohner des Häuptlingsturns würden vom Willen der Ahnen des Häuptlings bestimmt.43 Zu den rituellen Aufgaben des Häuptlings gehörte deshalb, seinen Ahnen zu opfern und deren Wohlwollen zu erwirken. Der Häuptling galt als das sichtbare Symbol für seine Fähigkeit, diese Aufgabe zu erflillen. Nahmen seine Kräfte im Alter ab oder wurde er krank, "so wurden das Heer in der Vorstellung des Volkes Vgl. für die Makonde: G.Liebenow,l91l,S. 51;flirdieYao:M. Tew,l9SO,S.l7. Vgl.P.Puritt,1977,S.127. 42 Vgl. S. Feierman, 1968, S. 6;S. F. Moore, 1977, S. 43 ff.;R. Rothlach, 1975, S. 51; P. W. James and G. M. Fimbo, Customary Land Law of Tanzania, Nairobi-Kampala-Dar es Salaam 1973, S. 67 sowie B. W. Malcolm, 1953, S. 22. 43 Vgl. W. Blohm, 1933, S. 65. 40 41
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weniger kampftüchtig, die Frauen weniger fruchtbar, die Männer weniger kräftig, die Viehbestände kleiner, die Ernte weniger ertragreich".44 Umgekehrt wurden Gesundheit und Wohlstand des Häuptlings mit dem Wohlergehen des Landes gleichgesetzt. Von einem erfolgreichen Häuptling wurde erwartet, daß er einen großen Getreidevorrat besaß, großzügig und gastfreundlich zu seinen Untertanen war und ihnen in Notzeiten mit Nahrungsmitteln half.45 Um die Ansammlung entsprechender Vorräte beim Häuptling zu ermöglichen, hatten die Untertanen die Pflicht, eine bestimmte Zeit im Jahr auf dessen Feldern zu arbeiten bzw. Naturalabgaben zu leisten.46 Neben dieser Sicherungsform, bei der der Häuptling die Aufgabe der Vorratshaltung hatte und seine Leute sich einen Anspruch auf Hilfe in Notfällen durch Abgaben und zeitweilige Arbeitsleistungen erwarben, bestand eine zweite Form der Sicherung durch den Häuptling, die im Zusammenhang mit der Ausdehnung des Fernhandels im 19. Jahrhundert wahrscheinlich im Vergleich zur ersten an Bedeutung gewann: die Aufnahme in Not geratener Individuen und Familien durch den Häuptling bzw. der Verkauf von Angehörigen, unter anderem von Kindern, an den Häuptling als dessen Sklaven.47 Verschiedene Quellen deuten darauf hin, daß Sklaverei ursprünglich ein relativ mildes Abhängigkeitsverhältnis war: "The relationship was protective as weil as servile ... Slaves could usually marry, acquire wealth, cultivate their own land, and redeem themselves. There is no evidence, that they were bought or sold." 48 Merker stellte bei den Chagga fest, daß Kinder, die von ihrem Vater noch bis etwa 1850 an den Häuptling verkauft werden konnten, als dessen Familienangehörige angesehen und als solche erzogen wurden.49 44 J. Maquet, 1971, S. 103. Um das Land vor einem solchen Niedergang zu bewahren, wurde in manchen Gesellschaften erwartet, daß sich der alternde oder kranke Häuptling tötete oder töten ließ; vgl. ebenda sowie für die Nyarnwezi: R. Rothlach, 1975, S. 52. 45 Vgl. B. Brock, The Nyiha, in: A. Roberts (Hg.), 1968, S. 76; R. Rothlach, 1975, S. 104 sowie für Afrika allgemein: J. Maquet, 1971, S. 99. Die Nyarnwezi drückten die distributive Rolle des Häuptlings in der Bezeichnung "wa nyama" -Herr des Fleischesaus, d.h. der Häuptling wurde als derjenige angesehen, der Fleisch besaß und es austeilte; vgl. R. Rothlach, 1975, S. 54 sowie R. G. Abrahams, 1967(a), S. 61. 46 Vgl. B. Brock, 1968, S. 76; R . Rothlach, 1975, S. 54 sowie B. W. Malcolm, 1953, s. 27. 47 Vgl. hierzu für die Chagga: M. Merker, 1902, S. 20; für die Yao: M. Tew, 1950, S. 13; für die Nyamwezi: R. Rothlach, 1975, S. 90 und S. 92 sowie für die Hebe: E. Nigmann, Die Wahehe. Ihre Geschichte, Kult-, Rechts-, Kriegs- und Jagdgebräuche, Berlin 1908, s. 65. •• J. Iliffe, 1979, S. 17 f . 49 Vgl. M. Merker, 1902, S. 20. Vgl. zur Aufnahme von Sklaven in die Familie ihres Herrn auch: J. Iliffe, 1979, S. 74.
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2. Traditionelle Formen sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania
Diese ursprüngliche Form der Sklaverei veränderte sich tendenziell im Verlauf des 19. Jahrhunderts in dem Maße, wie der Fernhandel ins Inland vordrang, Sklaven zum Handelsobjekt wurden und in großer Zahl außerhalb ihrer Heimatgebiete als Arbeitskräfte eingesetzt wurden: " ... slaves came to be bought and sold over long distances, so that the typical slave was no Ionger a kinless personal dependent from within the society but a stranger acquired by economic means and utilised for economic purposes ... (As) slaves became more numerous and the nature of their work changed, so their status declined and their assimilation became more difficult. Those who owned many slaves often treated only the most trusted as personal foliowers."50 In manchen Gebieten, wie z.B. in Upare, wurden die Häuptlinge gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu Hauptbeteiligten am Sklavenhandel, vernachlässigten ihre traditionelle Schutzfunktion und mißbrauchten ihre Stellung dazu, sich in den Besitz von Untertanen zu bringen, um sie zu verkaufen. 51 Solche Veränderungen im Charakter der Häuptlingsherrschaft fanden vor allem in Gebieten statt, die stark in den Fernhandel einbezogen waren, während Häuptlinge in abgelegeneren Gebieten, wie z.B. in Unyakyusa, nicht am Verkaufvon Sklaven beteiligt waren.52
2.3. Funktionsweise und Wirksamkeit traditoneller sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania Die Analyse von Haushaltsgemeinschaft, Familienverband, Nachbarschaftsgemeinschaft und Häuptling als den vier Hauptträgern traditioneller sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania hat gezeigt, daß - aus unterschiedlichen Gründen - nicht alle diese Träger in allen Gebieten existierten und daß die Bedeutung der existierenden Träger nicht in allen Gebieten gleich groß war und sich zudem im Zeitablauf veränderte. Aufgrund dieser vielfältigen räumlichen Unterschiede und zeitlichen Veränderungen würde der Versuch, darzustellen, welche sozialen Risiken von welchem Träger zu welchem Zeitpunkt wie wirksam abgesichert wurden - falls auf der Grundlage der vorhandenen Informationen überhaupt durchfuhrbar - den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Im Folgenden wird die Analyse deshalb auf einige zentrale Fragestellungen beschränkt. Erstens wird untersucht, welche sozialen Risiken von welchen Trägern typischerweise 1 abgesichert wurden. Dabei wird von der Hypothese ausgegangen, daß in der vorkolonialen Gesellschaft vorrangig die Hausgemein50 51
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Ebenda, S. 73 f. Vgl. /. N. Kimambo, The Pare, in: A . Roberts (Hg.) , 1968, S. 30. Vgl.M. Wilson, 1977,S.10undS.l81. Regionale Besonderheiten werden dabei in der Regel nicht im einzelnen untersucht.
2.3. Funktionsweise und Wirksamkeit traditioneller sozialer Sicherung
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schaft als kleinste Gemeinschaft flir die Sicherung ihrer Mitglieder verantwortlich war und daß die größeren Gemeinschaften - der Familienverband und die Nachbarschaftsgemeinschaft sowie der Häuptling - nur subsidiär tätig wurden, wenn die kleineren Gemeinschaften zur Sicherung nicht in der Lage waren. 2 Zweitens wird versucht, Informationen über die Wirksamkeit der Sicherung in bezug auf die einzelnen Risiken zu gewinnen. Dabei sind zwei Teilfragen von Bedeutung: erstens, inwieweit die einzelnen Gemeinschaften im Hinblick etwa auf Größe und personelle Zusammensetzung zur Sicherung fähig waren, sowie zweitens, inwieweit die einzelne Gemeinschaft im Hinblick auf die in ihr geltenden Normen zur Sicherung bereit war. 2.3 .1. Die Sicherung im Alter und bei Invalidität Die Risiken Alter und (permanente) Invalidität werden als sog. langfristige Risiken bezeichnet, weil mit ihnen dauerhafte Einschränkungen des physischen und/oder psychischen Leistungsvermögens verbunden sind, die die Fähigkeit des Risikobetroffenen, seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu erwirtschaften, endgültig und damit in der Regel langfristig beeinträchtigen. Beide Risiken machen deshalb in der Regel materielle und/oder medizinische bzw. pflegerische Hilfe über längere Zeiträume erforderlich. Trotz dieser Ähnlichkeiten in der Art und Dauer der erforderlichen Sicherungsmaßnahmen unterschieden sich die Regelungen zur Absicherung beider Risiken deutlich. Alte Menschen, die Nachkommen hatten, genossen in der traditionellen afrikanischen Gesellschaft hohes Ansehen und gehörten normalerweise zu den materiell bestgestellten Gesellschaftsmitgliedern. Diese privilegierte gesellschaftliche Position gründete sich zum einen auf die Vorstellung, das Schicksal des Einzelnen werde durch den guten bzw. bösen Willen seiner Ahnen beeinflußt. Das jeweils älteste lebende Familienmitglied wurde als dasjenige angesehen, das den Ahnen am nächsten stand und die Verbindung zwischen Lebenden und Toten herstellte. Ihm fiel deshalb die Aufgabe zu, die Ahnen durch rituelle Handlungen günstig zu stimmen. Da die Nachkommen dieses ältesten Familienmitgliedes befürchten mußten, bei Verstößen gegen die gewohnheitsrechtliehen Regeln der Solidarität innerhalb der Hausgemeinschaft bzw. des Familienverbandes von diesem verflucht und von den Ahnen mit Krankheit, Mißernte, Unfruchtbarkeit usw. bestraft zu werden, bestand ein wirksamer Sanktionsmecha2 Vgl. als einen Beleg für diese Hypothese die historische Analyse der Sukumagesellschaft in: E. K. Mashalla, Destitution: A Historical Perspective in Mwanza Region, Dissertation Paper, Dar es Salaam 1975, S. 10 ff., insbes. S. 11. Auf der Grundlage dieser Hypothese können aus der Feststellung, welcher Träger die Absieherang eines bestimmten Risikos übernahm, Rückschlüsse in bezug auf die Fähigkeit der einzelnen Träger gezogen werden, bestimmte Risiken abzusichern.
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2. Traditionelle Formen sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania
nismus, der die Einhaltung dieser - nicht zuletzt der Sicherung der älteren Menschen dienenden - Regeln erzwang. 3 Ein zweiter wesentlicher Grund für die herausragende gesellschaftliche Stellung alter Menschen lag darin, daß aufgrund der Schriftlosigkeit der traditionellen afrikanischen Gesellschaft Informationen zwischen den Generationen nur mündlich weitergegeben werden konnten und den Alten aufgrund ihrer größeren Lebenserfahrung die Rolle der Lehrer und Ratgeber ihrer Nachkommen und der Schiedsrichter bei Streitigkeiten zukam. Im Unterschied zum hohen gesellschaftlichen Status alter Menschen mit zahlreichen Nachkommen war die soziale Position kinderloser alter Menschen und Behinderter untergeordnet.4 Kinderlose Alte hatten ebenso wie kinderlose Behinderte keine rituelle Autorität über Nachkommen und damit keine wirksamen Sanktionsmöglichkeiten im Fall ungenügender Fürsorge. Behinderte wurden zudem oft mit Hexerei in Verbindung gebracht. Zum einen bestand die Vorstellung, Personen, die versuchten, Unschuldige zu verhexen, würden selbst mit Behinderungen bestraft. Zweitens wurde unterstellt, wenn jemand fremdes Eigentum gestohlen habe, würden sich seine Gliedmaßen im Lauf der Zeit zersetzen. Aufgrund dieser Vorstellungen bestand Behinderten gegenüber oft ein generelles Mißtrauen. 5 Dem untergeordneten gesellschaftlichen Status kinderloser Alter und Behinderter entsprach ein geringer Grad materieller Sicherung. Kinder, die mit körperlichen Schäden zur Welt kamen, wurden häufig sofort nach der Geburt getö-· tet. 6 Trat die Behinderung erst später ein, wurden die Betreffenden normalerweise geduldet, jedoch im Fall bestimmter Arten der Behinderung, wie Lepra, von der Gesellschaft abgesondert, verachtet und verspottet. 7 Behinderte und kinderlose ältere Menschen, die von ihren Angehörigen nicht ausreichend versorgt wurden, mußten Nachbarn oder den Häuptling um Hilfe bitten.8 Demgegenüber waren fur die materielle Sicherung alter Menschen, die Nachkommen hatten, diese Nachkommen primär verantwortlich. In den Gebieten mit Wanderhackbau wurde traditionell von den Söhnen erwartet, daß sie auch nach ihrer Heirat - bis zum Tod ihres Vaters an dessen Wohnort unter Vgl dazu auch:/. Maquet, 1971, S. 46 ff. sowie W. Blohm, 1933, S. 31 ff. Das niedrige Ansehen beider sozialer Gruppen drückt sich unter anderem auch darin aus, daß Kinderlose und Behinderte in manchen Gebieten nicht beerdigt, sondern in den Busch gelegt und den Tieren überlassen wurden; vgl. R. G. Abrahams, 1967(a), S. 75 sowie S. F. Moore, 1971, S. 47. 5 Vgl. E. K. Mashalla, 1975, S. 13. 6 Vgl; W. Blohm, 1933, S. 20 sowieE. Nigmann, 1908, S. 52. ' Vgl. E. K . Mashalla, 1975, S. 12 f. ' In manchen Gebieten, wie z.B. Usukuma, hatten Behinderte und kinderlose ältere Menschen daneben auch Anspruch auf Unterstützung durch die Vereinigungenjunger Männer, z.B. im landwirtschaftlichen Anbau sowie beim Bau und der Instandhaltung ihres Hauses; vgl. ebenda. 3
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dessen rechtlicher, ökonomischer und ritueller Kontrolle blieben und so dessen Haushaltsgemeinschaft und sein Prestige in der Gesellschaft stärkten.9 Bei den Tierhalterstämmen verteilte ein alter Mann oft seine Tiere an seine Söhne zur Nutzung, behielt aber die Kontrolle über seine Herde und über seine Söhne bis zum Tod. 10 Bei den Chagga blieb traditionell zumindest der jüngste Sohn bis zum Tod der Eltern im Haus und hatte, zusammen mit seiner Frau, ftir diese zu sorgen, wenn sie alt und gebrechlich wurden. 11 Außerdem hatten ältere Menschen oft ein Recht auf die Arbeitskraft ihrer Enkelkinder: "The firstmale and first female child ,belonged' to the patemal grandparents and were named after them. The second male and the second female child ,belonged' to the matemal grandparents, and were named after them, and so on, altemately down the line of children. After weaning, and, depending upon their circumstances and wishes in the matter, the appropriate grandparents could take the child and keep it for as long as they liked." 12 Innerhalb des Familienverbandes hatten alte Leute häufig besondere materielle Privilegien- bei den Meru z.B. ein besonderes Recht auf Honigwein und Bier, 13 bei den Chagga auf spezielle Stücke geschlachteter Tiere bei den regelmäßigen Schlachtfesten: "The most important cut of the animal was considered to be the breast hone and its surrounding meat, the kidari, which stretched from the throat to the navel. The senior elder of the lineage segment received the kidari. lt was a serious, death-bringing sin for another to eat or to keep the senior's portion. The second most important share, the ngari, went to the second senior man. It consisted of the middle ribs and the hump ... The owner (of the beast, Erg. d. Verf.) kept the small intestine. He gave the large intestine to his mother and the rectum to his father. Men of procreative age were forbidden to eat the rectum of animals ..." 14 Weitere Vorrechte der älteren Generation standen im Zusammenhang mit der Institution der Brautgabe: Da Männer aufgrund der durch Polygamie bedingten relativen Verknappung heiratsfa.higer Frauen normalerweise erst relativ spät heirateten, 15 fiel die Zeit, in der sie die Brautgabe flir ihre Töchter entgeVgl. für die Gogo: P. Rigby, 1969, S. 261. Vgl. flir die Barabaig: G. W. B. Huntingford, 1969, S. 93 ff.; flir die Masai: M. Merker, 1910, S. 203. 11 Vgl. S. F. Moore, 1977, S. 68 f. 12 Ebenda, S. 57. 13 Vgl. P. Puritt, 1977,S.105. 14 S. F. Moore, 1977, S. 53 f. Das Zitat belegt, daß magische Sanktionen zum Schutz der Vorrechte der älteren Generation bestanden. 15 M. Wilson nennt flir die Nyakyusa ein Heiratsalter junger Männer von frühestens 25 Jahren, während Mädchen etwa mit 15 Jahren heirateten; vgl. M. Wilson , 1970, S. 112. ~
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gennehmen konnten bzw. in der ihre Schwiegersöhne Brautdienst bei ihnen leisteten, bei der vorherrschenden niedrigen Lebenserwartung bereits in den Beginn der Altersphase. Zwar stand der für die Töchter erhaltenen Brautgabe eine für die Söhne aufzubringende entsprechende Gabe gegenüber, jedoch ermöglichte der große Unterschied zwischen dem Heiratsalter der Töchter und der Söhne normalerweise, daß die Zahl der Tiere zwischen dem Zeitpunkt des Empfangs und der Abgabe vermehrt werden konnte und dem Vater eine Anzahl von Tieren blieb. Außerdem mußte der Sohn bis zum Erhalt der für ihn zu entrichtenden Brautgabe mehrere Jahre für seinen Vater arbeiten. Die Institution der Brautgabe und des Brautdienstes hatte somit insgesamt eine Mobilisierung von Arbeitskraft junger heiratswilliger Männer zugunsten der älteren Generation zur Folge und war in manchen Gesellschaften, wie z.B. bei den Nyakyusa, eine der wichtigsten Quellen zur Schaffung von Vermögen in der Hand der Älteren. 16 Nimmt man die Vielzahl der angeftihrten gewohnheitsrechtliehen Regelungen der vorkolonialen tanzanischen Gesellschaft zugunsten alter Menschen, die Nachkommen hatten, zusammen, erscheint der Schluß gerechtfertigt, daß die Altersphase dieser Menschen normalerweise nicht nur keine Verschlechterung ihrer Lebenslage bedeutete, sondern in vielen Fällen sogar eine Verbesserung. Für kinderlose alte Menschen und Behinderte implizierte Alter bzw. Invalidität dagegen häufig eine wesentliche Verschlechterung ihrer Lebenslage.
2.3.2. Die Sicherung Hinterbliebener Der Tod des Familienvaters oder seiner Frau (bzw. einer seiner Frauen) bedeutete unter den ökonomischen Bedingungen des vorkolonialen Tanzania ftir die überlebenden Haushaltsmitglieder in der Regel nicht unmittelbar den Verlust ihrer materiellen Existeni:grundlage, weil mit Ausnahme von Kleinkindern, Kranken und alten Menschen normalerweise alle Haushaltsmitglieder an der Produktion mitwirkten und Spielräume zum internen Ausgleich entfallener Arbeitsleistungen bestanden. Die Tatsache, daß die vorkoloniale Gesellschaft trotzdem genaue Regelungen für den Fall des Todes des Familienvaters bzw. sein~r Frau besaß, erklärt sich deshalb nicht allein aus der Notwendigkeit der materiellen Sicherung der Hinterbliebenen, sondern auch aus der Bedeutung der durch den Tod eines Ehepartners infrage gestellten Reproduktion innerhalb der Haushaltsgemeinschaft und dem Interesse der Familienverbände an der Vergrößerung der Zahl ihrer Mitglieder. 16
Vgl. ebenda, S. 134.
2.3. Funktionsweise und Wirksamkeit traditioneller sozialer Sicherung
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Abhängig von der Form des zwischen den Ehepartnern geschlossenen Ehevertrags und den durch ihn festgelegten Rechten und Pflichten der väterlichen und mütterlichen Sippe lassen sich folgende Regelungen unterscheiden : Dem Charakter der mit der Aushändigung einer Brautgabe bzw. nach Ableistung von Brautdienst geschlossenen Ehe als einer Verbindung nicht nur zwischen zwei Individuen, sondern zwischen zwei Sippen entsprach der Grundsatz, daß auch nach dem Tod des Mannes die Rechte seiner Sippe auf die Fruchtbarkeit der Frau fortbestanden. Im Rahmen des sog. Levirats übernahm normalerweise einer der Brüder oder der älteste Sohn oder ein anderer naher Verwandter des verstorbenen Mannes dessen eheliche Rechte über dessen Frauen 17 und wurde zugleich der Vormund ihrer Kinder. Er hatte die Pflicht, für die Frauen und flir die Kinder zu sorgen.18 Das Gegenstück zum Levirat bildete im Fall des Todes der Frau das sog. Sororat, bei dem die verstorbene Frau durch eine Schwester oder durch eine Tochter ihres Bruders ersetzt wurde.19 War die Ehe ohne Brautgabe geschlossen worden und hatte der Ehemann keine Rechte auf die Fruchtbarkeit der Frau durch Brautdienst erworben, bestanden nach dem Tod des Ehemanns keine Verpflichtungen der Witwe gegenüber der Familie des Mannes; ihre Kinder gehörten zu ihrem eigenen Familienverband und es stand der virilokal lebenden Witwe frei, mit ihren Kindern zu ihrer Familie zurückzukehren. Der Bruder der Witwe oder ein anderer von ihrem Familienverband bestimmter Verwandter wurde in diesem Fall ihr Betreuer und der Vormund ihrer minderjährigen Kinder. 20 Starb im Fall einer ohne Brautgabe bzw. Brautdienst geschlossenen Ehe zuerst die Frau, so hatte ihre Familie das Recht, die am Ort des Vaters lebenden Kinder zu sich zu holen.21 Sie wurden dann von ihrem Onkel mütter· licherseits oder einem sonstigen Verwandten der mütterlichen Sippe aufgenommen und erzogen?2 17 Der älteste Sohn des Verstorbenen übernahm jeweils nur die ehelichen Rechte über die Nebenfrauen seiner eigenen, leiblichen Mutter; vgl. E. Nigmann, 1908, S. 61 sowie M. Wilson, 1970, S. 119. 18 Vgl. E. Nigmann, 1908, S. 61; S. F. Moore, 1977, S. 68 ;M. Wilson, 1970, S. 119 und S. 137;R. G. Abrahams, 1967(a), S. 46 ff.; T. 0 . Beidelman, 1967, S. 24. 19 Die Regelungen bezüglich des Sororats waren regional sehr unterschiedlich. Bei den Nyakyusa mußte, wenn die Frau kinderlos starb, entweder die Brautgabe zurückerstattet oder ein entsprechender Ersatz geboten werden. Hinterließ die Frau Kinder, war in manchen Gebieten, z. B. bei den Meru und den Nyakyusa, eine reduzierte, in anderen Gebieten, z B. bei den Kwere, keine erneute Brautgabe zu entrichten; vgl. M. Wilson, 1970, S. 123 ; P. Puritt, 1977, S. 134; T. 0. Beidelman, 1967, S. 24. 10 Vgl. M. Wilson, 1970, S. 119 und S. 137 sowie S. F. Moore, 1977, S. 68. 21 Da Kinder für den Vater eine wesentliche Grundlage seines gesellschaftlichen Ansehens und seiner Sicherheit im Alter darstellten, bestand flir ihn ein Motiv, eine Ehe mit Brautgabe bzw. Brautdienst anzustreben. Oft war die Entrichtung einer Brautgabe auch nach der Heirat möglich; vgl. R. G. Abrahams, 1967(a), S. 45 . 22 Vgl. J. C. Mitche/l, 1976, S. 187 f.
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2. Traditionelle Formen sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania
Grundprinzip der sozialen Sicherung von Hinterbliebenen war somit - abhängig von der Art des Ehevertrages- im Fall des Todes des Familienvaters die Integration der Waisen und Witwen in den Haushalt eines Verwandten der väterlichen bzw. mütterlichen Sippe und im Fall des Todes der Frau unter der Voraussetzung mit Brautgabe bzw. Brautdienst erworbener Rechte des Mannes gegenüber der Sippe der Frau der Ersatz der Verstorbenen, der die uneingeschränkte Fortftihrung der Haushaltsgemeinschaft des Familienvaters ermöglichte. Die Wirksamkeit der Sicherung der Hinterbliebenen war durch folgende Mechanismen geschützt: Im Hinblick auf die Sicherung der Witwen und Waisen bestanden erstens religiöse überzeugungen, daß der Erbe bzw. der Vormund von den Ahnen bestraft werde, wenn er die Witwe und ihre Kinder vernachlässigte. 23 Zweitens wurde die Betreuung von Witwen und Waisen nicht nur als Sache des Erben bzw. des Vormunds, sondern auch als Angelegenheit des Familienverbandes angesehen. Vernachlässigte der Erbe bzw. der Vormund seine Pflichten, mußte er damit rechnen, daß die Familienältesten die Sorge für die Hinterbliebenen einem anderen Familienmitglied übertrugen.24 Da normalerweise jeder Haushaltsvorstand ein Interesse an einer möglichst großen Zahl von Frauen und Kindern hatte, weil diese sein Ansehen und seinen Wohlstand vergrößerten,25 kann die Gefahr des Verlustes des Sorgerechts als wirkungsvolle Sanktion angesehen werden.26 In bezug auf die Sicherung der Hinterbliebenen im Fall des Todes der Frau durch die Institution des Sororats bestand als Sanktion das - regional unterschiedlich ausgestaltete - Recht des Witwers, die entrichtete Brautgabe ganz oder teilweise zurückzufordern, wenn kein Ersatz für die verstorbene Frau geboten wurde. Diese Regelung erleichterte es dem Witwer, die verstorbene Frau notfalls durch eine sonstige, nicht mit ihr verwandte Frau zu ersetzen. 2.3.3. Die Sicherung bei Krankheit und Mutterschaft
Die sozialen Risiken Krankheit und Mutterschaft sind im allgemeinen erstens mit zeitweiliger völliger oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit verbunden, Vgl. M. Wilson, 1977, S. 39. Vgl. H . Cory, 1954, S. 100 ff., insbes. S. 102. 25 Vgl. M. Wilson, 1970, S. 119. 26 Cory stellte flir die Sukuma fest, daß Witwen normalerweise gerne in die Leviratsehe übernommen wurden, es jedoch Fälle von älteren Frauen gab, die der Hexerei verdächtigt und deshalb weder von der Sippe des Mannes noch von ihrer eigenen Sippe versorgt Wl.lrden (vgl. H. Cory, 1954, S. 165). Zu vermuten ist, daß in Fällen, in denen alte Frauen ihren Angehörigen zur Last zu fallen drohten, der Vorwurf der Hexerei eine Möglichkeit bot, um die Verweigerung bestehender verwandtschaftlicher Verpflichtungen zu ihrer Versorgung zu rechtfertigen. 23
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2.3. Funktionsweise und Wirksamkeit traditioneller sozialer Sicherung
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bedeuten zweitens eine zeitweilige Beeinträchtigung des physischen bzw. psychischen Wohlbefindens und beinhalten drittens bestimmte Gefahren bleibender körperlicher Schäden (Invalidität) oder des Todes des Betroffenen sowie - im Fall von ansteckenden Krankheiten - die Gefahr der übertragung auf andere Menschen. In bezug auf das Risiko des zeitweiligen Ausfalls von Arbeitskraft besaßen die Haushaltsgemeinschaften der Vorkolonialzeit aufgrund der relativ großen Zahl an der Produktion beteiligter Mitglieder im allgemeinen günstige Voraussetzungen zum internen Risikoausgleich. Dieser interne Ausgleich wurde durch den Anspruch auf Hilfe durch die Mitglieder des Familienverbands und die Kooperation zwischen Nachbarn wirkungsvoll ergänzt.2 7 Die hauptsächliche Gefährdung im Fall von Krankheit und Mutterschaft lag - aufgrund des begrenzten medizinischen Wissens der vorkolonialen Gesellschaft28 - im medizinischen Bereich. Die medizinische und pflegerische Betreuung lag zum einen in der Hand der Frauen, die in der Regel bestimmte allgemeine Kenntnisse zur Behandlung von Kinderkrankheiten und zur Ausübung der Funktion der Hebamme besaßen/9 sowie zweitens in der Hand des Medizinmannes. Dessen Funktion war zum Teil die eines Arztes, zum Teil die eines Magiers. Während er in seiner Eigenschaft als Arzt bei klar ersichtlichen inneren und äußeren Erkrankungen praktisch tätig war, trat er bei ihm nicht geläufigen Erkrankungen als Magier auf.30 Da Krankheiten und Komplikationen bei der Geburt, deren Ursachen nicht erkennbar waren, in der Regel dem Einfluß der Ahnen zugeschrieben wurden, hatte er als Magier insbesondere die Aufgabe, den Ahnen zu benennen, der die Widrigkeiten verursacht hatte. Durch rituelle Handlungen wurde dann versucht, diesen Ahnen günstig zu stimmenY Häufig wurden in die medizinischen bzw. rituellen Maßnahmen die jeweiligen Blutsverwandten der väterlichen bzw. mütterlichen Sippe einbezogen. Bei den Nyakyusa brachte ein Ehemann, der noch keine Brautgabe entrichtet hat27 Vgl. zur Kooperation zwischen Verwandten und zwischen Nachbarn oben, Abschnitte 2.2.2. und 2.2.3. 28 Der Stand des medizinischen Wissens vor Beginn der Kolonialzeit war etwa dem Wissensstand in Europa Anfang des 19. Jahrhunderts vergleichbar. Die meisten Medikamente wurden aus Pflanzen der näheren Umgebung hergestellt, deren Wirksamkeit über lange Zeiträume auf der Grundlage von Versuch und Irrtum ermittelt wurde. Daneben reichten die medizinischen Kenntnisse zur Durchflihrung einfacherer Operationen und bei manchen Stämmen bis zur Kenntnis der Impfung gegen Pocken; vgl. M. Merker, 1910, S. 179 ff.; A . T. und G. M. Cu/wiek, Ubena of the Rivers, London 1935, S. 394 ff. sowie D. E. Ferguson, The Political Economy of Health and Medicine in Colonial Tanganyika, in: M. H. Y. Kaniki (Hg.), Tanzania under Colonial Rule, London 1980, S. 310 ff. 29 Vgl. ebenda, S. 309. In der Regel fungierten Frauen der eigenen Familie als Hebammen. In Notfallen wurden jedoch auch nichtverwandte Frauen herangezogen; vgl. für die Nyamwezi: W. Blohm, 1933, S. 11. 30 Vgl. für die Hebe: E. Nigmann, 1908, S. 25 ff. 31 Vgl. für die Chagga: M. Merker, 1902, S. 19.
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2. Traditionelle Formen sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania
te, seine kranke Frau oder sein krankes Kind zu seinen Schwiegereltern, die die Pflege übernahmen und die Vorfahren um Gesundung der Kranken anriefen. 32 Bei den Lungu war es Pflicht des jeweiligen Ehepartners, die Verwandten des Erkrankten zu informieren. Diese beauftragten, wenn notwendig, den Medizinmann mit der Behandlung. 33 Bei den Fipa wurde bei ernsthaften Erkrankungen die gesamte örtliche Verwandtschaft zusammengerufen, um gemeinsam mit dem Patienten vom Medizinmann behandelt zu werden. 34 Bei den matrilinearen Stämmen war es in der Regel Aufgabe des älteren Bruders bzw. des Onkels mütterlicherseits, bei Erkrankung seiner Schwester bzw. deren Kinder zusammen mit dem Ehemann der Schwester bzw. Vater der Kinder den Medizinmann zu konsultieren. 35 Ebenso existierten im Fall der Niederkunft gewohnheitsrechtliche Regeln, die bestimmte Verwandte verpflichteten, die Gebärende zu versorgen und ihre Arbeit während einer bestimmten Zeit nach der Geburt zu verrichten. Moore schreibt z.B. über die Chagga: "During the delivery, the woman was attended by her husband's mother. Her own mother was also usually present as were many other female relatives ... (After the delivery; Erg. d. Verf.) the mother was confined to the hut and its immediate environs for three months. She was provided with someone (usually a husband's brother's wife) to attend her during that time, who also did all her work ..." 36 Ähnliche Regelungen bestanden in anderen Gebieten.l7 Insgesamt lassen eine Reihe von Faktoren, nämlich die Streuung der Sicherungspflichten bei Krankheit und Mutterschaft auf Haushaltsgemeinschaft und bestimmte Mitglieder der väterlichen bzw. mütterlichen Blutsverwandtschaft, die Tatsache, daß die Familienverbände ein erhebliches Interesse an der Erhaltung bzw. Vermehrung der Zahl ihrer Mitglieder hatten und daß wirksame Sanktionen die Bereitschaft der Verwandten zur Einhaltung ihrer Pflichten sicherstellten38 und Vgl. M. Wilson, 1977, S. 99. Vgl. R. G. Willis, 1966, S. 45 . 34 Vgl. ebenda, S. 29. 35 Vgl. flir die Yao: M. Tew, 1950, S. 12. Pflichten des Bruders der Frau, im Fall ihrer Krankheit oder Niederkunft z. B. durch das Schlachten eines Tieres zu ihrer Genesung beizutragen, bestanden aber auch bei patrilinearen Stämmen, z. B. bei den Gogo; vgl. P. Rigby, 1969, s. 232. 36 S. F. Moore, 1977, S. 55 f .. 3 ' Vgl. ftir die Meru: P. Puritt,1977, S.l24; flir die Nyakyusa:M. Wilson , l977, S.lOO. 38 Zur Aufrechterhaltung der Bereitschaft der Verwandten der Frau, an deren Sicherung bei Krankheit bzw. Mutterschaft mitzuwirken, dürfte beigetragen haben, daß diese im Fall ihres Todes im Rahmen des Sororats eine weitere Frau ohne oder mit reduzierter Brautgabe stellen oder die erhaltene Brautgabe ganz oder teilwt'ise zurückerstatten mußten. 32
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2.3. Funktionsweise und Wirksamkeit traditioneller sozialer Sicherung
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der Umstand, daß der Medizinmann in der Regel keinen Anspruch auf eine besonders hohe Vergütung seiner Leistung hatte,39 die Vermutung begründet erscheinen, daß die Bereitstellung des sachlich möglichen Maßes an medizinischer, pflegerischer und ritueller Betreuung normalerweise sichergestellt war und die Wirksamkeit der Sicherung bei Krankheit und Mutterschaft in erster Linie durch den Stand des medizinischen Wissens begrenzt wurde. 2.3.4. Die Sicherung gegen wirtschaftliche Risiken Die Sicherung gegen wirtschaftliche Risiken wie - durch Trockenheit, Überschwemmungen, Insektenbefall, Vögel und wilde Tiere ausgelöste - Ernteausf3.ll.e und - durch Tierkrankheiten und Trockenheit bedingte - Verluste im Tierbestand erfolgte auf allen vier Ebenen des vorkolonialen Sicherungssystems: Der einzelne Haushalt suchte sich ftir den Fall, daß präventive Maßnahmen wie Bewässerung, der Anbau möglichst vieler verschiedener landwirtschaftlicher Produkte40 und das Verleihen von Tieren41 den Eintritt existenzgefährdender Ernteausfälle bzw. die Vernichtung großer Teile des Tierbestandes nicht verhinderten und ergänzende Erwerbsquellen wie Jagd, Fischfang oder das Sammeln von Produkten des Waldes42 zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht ausreichten, durch das Anlegen von Vorräten zu schützen.43 39 Bei den Masai, die relativ große Viehherden besaßen, bestand die Bezahlung z. B. je nach Schwere des Falles in einem Lamm oder einer jungen Ziege bis hin zu einem Rind, wobei ein Anspruch auf Bezahlung nur bestand, wenn die Behandlung den erwarteten Erfolg hatte. Merker stellte bei den Masai fest, daß der Medizinmann keine besondere soziale Stellung - weder im positiven noch im negativen Sinn - einnahm. Ein Indiz daflir, daß der Medizinmann in der Regel keinen Anspruch auf besonders hohe Bezahlung hatte, ist auch, daß er in der Regel kein Vollzeitspezialist war, d. h. seine Existenz nicht aus seinen Einnahmen als Medizinmann bestreiten konnte; vgl. M. Merker, 1910, S. 187 f. sowie G. undM. Wi/son, 1968, S. 5. 40 Vgl. J. lliffe, 1979, S. 15. 41 Vgl. oben, Abschnitt 2.2.2. 42 Vgl. oben, Abschnitt 2.1.2. 43 Frühe europäische Reisende äußerten oft ihr Erstaunen über den Umfang der Nahrungslager der von ihnen besuchten Stämme. Baumann berichtete z. B. von "meterhohen und ebenso breiten" zylindrischen Vorratskörben bei den Bungwe. Johnston erwähnte wohlgefüllte Vorratslager bei den Mambwe, Cameron sah an der Westküste des Tanganyikasees 20 bis 25 Fuß (ca. 6 bis 8 Meter) hohe Lagerhäuser. In Unyamwezi beobachtete er Getreidebehälter aus Londorinde, die Dutzende von Säcken mit Getreide enthielten; vgl. 0. Baumann, Durch Massailand zur Nilquelle, Berlin 1894, S. 184; H. H. Johnston, Report by Mr. H. H. Johnston on the Nyasa-Tanganyika Expedition of 1889-90, London o. J., S. 27; V. L . Cameron, Across Africa, Vol. I, London 1877, S. 293 sowie H. Kjekshus, 1977, S. 137. In den Gebieten, in denen lJerhaltung betrieben wurde, dienten Ernteüberschüsse dazu, in Nachbargebieten Tiere zu erwerben, die im Falle von Mißernten wieder gegen Getreide eingetauscht wurden; vgl. B. W. Ma/co/m, 1953, S. 71 undP. Rigby, 1969, s. 52.
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2. Traditionelle Formen sozialer Sicherung im vorkolonialen Tanzania
Falls diese eigenen Sicherungsanstrengungen des Haushalts versagten, hatte er Anspruch auf Unterstützung in erster Linie innerhalb seines Familienverbands sowie subsidiär durch Nachbarn und ggf. durch den Häuptling.44 Über die Wirksamkeit der Sicherung auf den einzelnen Ebenen vermitteln die vorliegenden Quellen keine ausreichenden Informationen; insbesondere ist es nicht möglich, Aussagen darüber zu machen, in welchem Umfang die einzelnen Haushalte bzw. der Häuptling Vorratshaltung betrieben. Die vorliegenden Informationen lassen lediglich den Schluß zu, daß die Wirksamkeit der Sicherung gegen wirtschaftliche Risiken - gemessen an dem Kriterium, das Verhungern von Menschen zu verhindern - insgesamt gering war,45 bedingt insbesondere durch folgende Faktoren: erstens war das Volumen der den Subsistenzbedarf übersteigenden Produktionsüberschüsse in vielen Gebieten bis ins 19. Jahrhundert außerordentlich niedrig. 46 Erhebliche Teile der im Lauf des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Verbreitung der Eisenhacke und der Einflihrung neuer, ertragreicherer Pflanzensorten zunehmenden Produktionsüberschüsse und der Gewinne des Fernhandels wurden zudem von den Häuptlingen abgeschöpft und von diesen zur Erweiterung ihrer Hofhaltung und zum Unterhalt von Kriegern verwendet;47 zweitens waren aufgrund der klimatischen Bedingungen die Verluste bei der Lagerhaltung hoch48 und drittens waren die Möglichkeiten, Nahrungsmittel aus Überschußgebieten in Mangelgebiete zu transportieren, aufgrundder ausschließlichen Verwendung von Menschen als Trägern sehr begrenzt.49 Die angeflihrten drei Faktoren weisen darauf hin, daß zumindest bis ins 19. Jahrhundert die durch den niedrigen Stand des technischen und organisatorischen Wissens bedingte mangelnde Sicherungsfähigkeit der vorkolonialen tanzanischen Gesellschaft als eine wesentliche Ursache der geringen Wirksamkeit der Sicherung gegen die wirtschaftlichen Risiken angesehen werden muß. Als sich dann im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Produktionsbedingungen undin begrenztem Umfang - die Möglichkeiten des regionalen Austausches allmäh44 Vgl. zu den Sicherungsansprüchen gegenüber Nachbarn und dem Häuptling oben, Abschnitte 2.2.3. und 2.2.4. 4 ' Vgl. z.B. die Chronologie der Hungersnöte mit häufigen tödlichen Folgen bei den Gogo in: C. Brooke, 1967, S. 20. Das häufige Auftreten von Hungersnöten kommt auch darin zum Ausdruck, daß sie in vielen Gebieten als Maß der Zeitrechnung verwendet wurden; vgl. J. Iliffe, 1979, S. 13. 46 Vgl. A . Redmayne, The Hebe, in: A . Roberts (Hg.) , 1968, S. 39 sowieA . Roberts, The Nyamwezi, in: A . Roberts (Hg.), 1968, S. 118 f. . 47 Vgl. A. Roberts, 1968, S. XVI. 48 Vgl. B. W. Malcolm, 1953, S . 71 . 49 Vgl. H. Kjekshus, 1977, S. 141.
2.3. Funktionsweise und Wirksamkeit traditioneller sozialer Sicherung
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lieh verbesserten, standen oft die politischen Bedingungen einer wirksameren Organisation der Sicherung im Wege. Zahlreiche Fragen, insbesondere, in welchem Umfang die einzelnen Träger des Sicherungssystems bereit waren, Produktionsüberschüsse als Vorräte anzulegen 50 und in Notzeiten davon abzugeben, entziehen sich allerdings - aus Mangel an entsprechenden Informationen- einer weitergehenden Analyse.
50 Bezüglich der Bereitschaft der Bewohner Tanganyikas, Vorratshaltung zu betreiben, äußerte z.B. Fülleborn, der das Land zwischen 1897 und 1900 kennengelernt hatte, die Auffassung: " ... die Neger leben in den Tag hinein und denken nicht daran, in guten Zeiten für die schlechten vorzusorgen, und so ... (wird; Erg. d. Verf.) der Überfluss nach alter Gewohnheit in Pombe (Bier; Erg. d. Verf.) verwandelt" (vgl. F. Fülleborn, Das deutsche Njassa- und Ruwuma-Gebiet, Berlin 1906, S. 43). Ähnlich schreibt H. Meyer, der Tanganyika 1888 erstmals bereiste: "Nur in ganz seltenen Fällen legt der ostafrikanische Farbige nach guten Jahren Vorräte flir das nächste Jahr an, um so den häufigen Hungersnöten vorzubeugen. Er verwandelt vielmehr den größten Teil des Ertrages in Pombe und vertrinkt ihn, unbekümmert um die Zukunft" (vgl. H. Meyer, 1909, S. 397). Diesen Feststellungen stehen die oben angeftihrten Berichte früherer Reisender über reiche Vorratslager gegenüber. Möglicherweise erklärt sich dieser Widerspruch damit, daß die Zunahme der Überfälle zwischen Stämmen und Stammesgruppen gegen Ende der Vorkolonialzeit in manchen Gebieten die Vorratshaltung sinnlos werden ließ und daß unmittelbar nach dem Beginn der Kolonialzeit Epidemien, Arbeitskräfterekrutierung und andere Faktoren die Produktion von Nahrungsmitteln negativ beeinflußten (vgl. hierzu H. Kjekshus, 1977, S. 137). Die Frage nach dem Ausmaß der Bereitschaft zur Vorratshaltung in der Vorkolonialzeit bleibt damit allerdings weiterhin offen.
3. Determinanten des Wandels im traditionellen Sicherungssystem seit Beginn der Kolonialzeit Die vorangegangene Analyse der traditionellen Fonneo sozialer Sicherung in der Vorkolonialzeit hat gezeigt, daß die vorkoloniale tanzanisehe Gesellschaft keine statische, von politischem, wirtschaftlichem und sozialem Wandel unberührte Gesellschaft war und daß der sich vollziehende Wandel Auswirkungen auf der Ebene der Träger traditioneller sozialer Sicherung und Konsequenzen flir die Wirksamkeit der traditionellen Sicherung hatte. Vier wesentliche Merkmale dieses Wandels waren im 19. Jahrhundert 1. eine Tendenz zur Entstehung zentraler Häuptlingsherrschaft und damit verbunden eine Tendenz zur Schaffung größerer politischer Einheiten, innerhalb derer der Häuptling Funktionen in der Lagerhaltung für Notzeiten übernahm; 2. im Zusammenhang mit der Verbreitung der Eisenhacke und der Einführung neuer, ertragreicherer Pflanzensorten durch den Fernhandel eine wachsende Fähigkeit, Oberschüsse in der Landwirtschaft zu erzielen; 3. ebenfalls aufgrunddes Fernhandels eine zunehmende Fähigkeit, Oberschüsse über größere Entfernungen hinweg auszutauschen, sowie 4. die Entstehung neuer Formen des Einkommenserwerbs und der beruflichen Spezialisierung außerhalb des Subsistenzsektors - z.B. als Träger, als Hersteller von Hacken oder als Produzent von landwirtschaftlichen Marktprodukten für die Karawanen und die Küstenstädte. Diese Veränderungen hatten bis zum Beginn der Kolonialzeit jedoch überwiegend nur marginale Veränderungen im traditionellen Sicherungssystem zur Folge, 1. weil der Grad der beruflichen Spezialisierung der Gesellschaftsmitglieder insgesamt gering blieb und selbst Häuptlinge und Medizinmänner ebenso wie die Träger, die während der Regenzeit in der Regel in ihre Heimatgebiete zurückkehrten, keine Vollzeitspezialisten wurden, sondern in der Landwirtschaft tätig blieben und normalerweise nur wenig Spielraum hatten, sich von den traditionellen Normen zu lösen/ 2. weil das magische Denken, insbesondere der Glaube an die Macht der Ahnen und die Wirksamkeit der von den Alten und vom Häuptling durchgeführten 1
Vgl. G. undM. Wilson , 1968, S. 59 und S. 108 f .
3.1. Deutsche Kolonialzeit (1885-1918)
59
Rituale verbreitet blieb und zur Einhaltung der traditionellen Normen beitrug; 3. weil die sozialen Einheiten der vorkolonialen Gesellschaft, nämlich Familienverbände, Dorf- bzw. Siedlungsgemeinschaften und - mit wenigen Ausnahmen - die Häuptlingstümer, relativ klein und überschaubar blieben und die Träger der Macht innerhalb dieser Einheiten aus Mangel an knappen, in ihrer Hand konzentrierten Ressourcen wenig Spielräume hatten, ihre Macht abweichend von den überkommenen Regeln auszuüben und sie bei Verstößen gegen diese Regeln abgesetzt werden konnten. Aufgrund dieser Faktoren blieben die Mitglieder der vorkolonialen Gesellschaft eng in die gewohnheitsrechtliehen Normen eingebunden: Zugleich blieb auch die Fähigkeit der vorkolonialen Gesellschaft, den Einzelnen im Fall des Eintretens sozialer Risiken zu schützen, trotz der Fortschritte in Produktion und Transportwesen relativ begrenzt, 1. weil Transportmittel wie Wagen und Lasttiere fehlten und die Träger relativ viel Nahrung zur eigenen Versorgung benötigten, sowie 2. weil die Fähigkeit der Beherrschung der natürlichen Umwelt - die Fähigkeit, Produktionsüberschüsse zu erzielen und zu lagern, und die Fähigkeit, Krankheiten zu heilen - insgesamt gering blieb. In den folgenden Abschnitten wird untersucht, inwieweit der im Vergleich zur Vorkolonialzeit wesentlich raschere und tiefgreifendere politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel, der während der deutschen und britischen Kolonialzeit sowie seit Beginn der Unabhängigkeit erfolgte, die Grundlagen des traditionellen Sicherungssystems verändert hat.
3.1. Deutsche Kolonialzeit (1885-1918) Die deutsche Kolonialzeit kann - in bezug auf die Art des von den deutschen Kolonisatoren auf die einheimische Bevölkerung ausgeübten Einflusses in drei sich wesentlich unterscheidende Zeitabschnitte gegliedert werden:
1. in die Zeit zwischen 1885 und 1898, die durch die gewaltsame Ausdehnung der militärischen Kontrolle über das Kolonialgebiet geprägt war. In dieser Periode reagierten die Gesellschaften des Inlands auf die europäischen Kolonisatoren ähnlich wie auf frühere Invasionen anderer afrikanischer Völker: während vor allem die militärisch am besten organisierten Stämme erbitterten Widerstand leisteten, waren manche schwächeren Stämme zur Bildung von Allianzen bereit;1 der Einfluß auf die innere Struktur der einheimischen Gesellschaften blieb zunächst gering; 1 Vgl. A. J. Temu, Tanzanian Societies and Colonial Invasion 1875-1907, in:M. H. Y. Kaniki (Hg.), Tanzania under Co1onial Rule, London 1980, S. 93.
60
3. Determinanten des Wandels im traditionellen Sicherungssystem
2. in die Zeit zwischen 1898 und 1906, in der die deutsche Kolonialverwaltung die afrikanische Bevölkerung mit ökonomischen Anreizen, teilweise aber auch mit Zwang zur Beteiligung am Aufbau einer exportorientierten Kolonialwirtschaft zu bewegen suchte. Diese Phase setzte erste wirtschaftliche und soziale Veränderungen in Gang, die jedoch durch den gegen die Verwendung von Zwangsarbeit gerichteten Maji-Maji-Aufstand von 1905-1907, der weite Teile Südtanzanias verwüstete, einen schweren Rückschlag erlitten; 3. in die Zeit nach 1906, in der die Kolonialverwaltung unter dem Eindruck des Maji-Maji-Aufstands die Anwendung von Zwang reduzierte und systematisch begann, eine moderne Infrastruktur aufzubauen und die Wirtschaft des Territoriums - unter weitgehend freiwilliger Beteiligung der afrikanischen Bevölkerung - zu entwickeln. In diese Phase fallen die entscheidenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen der deutschen Kolonialzeit.
3 .1.1. Politischer und wirtschaftlicher Wandel Die deutsche Reichsregierung unter Reichskanzler v. Bismarck war zunächst Bestrebungen zur Gründung deutscher Kolonien in Übersee reserviert gegenübergestanden, weil sie eine Konzentration ihrer Politik auf Europa ftir vorrangig hielt. Befürchtungen, deutsche Kaufleute könnten von Großbritannien und anderen Kolonialmächten aus dem Handel mit Afrika ausgeschlossen werden, hatten jedoch 1884 zur Errichtung deutscher Protektorate in Togo und Karnerun geftihrt. Diesem Schritt folgte 1885 die Proklamation Deutsch-Ostafrikas als drittem deutschen Protektorat in Afrika? Nach der militärischen Unterwerfung aller größeren Stämme des Inlandes durch die deutschen Kolonialtruppen 3 leitete im Jahr 1898 die Einftihrung einer Hüttensteuer eine erste Phase der wirtschaftlichen Erschließung des Territoriums ein. Durch die in Geldform erhobene Steuer sollte die afrikanische Bevölkerung veranlaßt werden, Geldeinkommen entweder durch abhängige Beschäftigung - insbesondere auf Plantagen und Feldern europäischer Siedler - oder durch den Anbau von Marktprodukten wie Baumwolle, Erdnüssen oder Kaffee zu verdienen und damit zum Aufbau einer exportorientierten Kolonialwirtschaft beizutragen.4 2 Vgl. zu den Motiven der deutschen Kolonialpolitik unter Bismarck: H.·U. Weh/er, Bismarck und der Imperialismus, 3. Auf!., Köln 1972, S. 412 ff. , Vgl. zum Verlauf der militärischen Eroberung: J.lliffe, 1979, S. 88 ff. sowie A. J. Te· mu, 1980, S. 93 ff. 4 Vgl. W. Rodney, The Political Economy of Colonial Tanganyika 1890- 1930, in: M. H. Y. Kaniki (Hg.) , 1980, S. 130 f. sowie J. lliffe, Tanganyika under German Rule, London 1969, S. 44.
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Obwohl die - häufig mit rigorosen Methoden5 eingetriebene - Steuer ihren Zweck insoweit erftillte, daß nach der Jahrhundertwende die Beteiligung der Bevölkerung an der Geldwirtschaft zunahm, klagten andererseits die Siedler und Plantagenbesitzer über eine ihrer Ansicht nach unzureichende Bereitschaft der Afrikaner, Lohnarbeit zu verrichten6 und veranlaßten die Kolonialverwaltung, Maßnahmen zu ergreifen, um die Bevölkerung zur Arbeit für die Europäer zu zwingen. 7 Der verbreitete Gebrauch von Zwangsarbeit, der oft die Vernachlässigung der eigenen Felder der Afrikaner zur Folge hatte, führte schließlich 1905 zur bewaffneten Rebellion weiter Teile Südtanzanias und des südlichen Hochlands im Maji-Maji-Aufstand.8 5 Iliffe stellt zur Praxis der Steuereintreibung in den Jahren nach 1898 fest: "The askari (Soldaten, Erg. d. Verf.) who often collected tax in rernote areas frequently confiscated the local cattle and ate them until the tax was brought forward. In southern Ubena the procedure was to hold the chief hostage until his people paid. As late as 1906 the station cornrnander in Mwanza needed half a cornpany of troops and a rnachine-gun to collect the public revenue" (J. Iliffe, 1979, S. 134). 6 Vorherrschende Auffassung der europäischen Unternehmer war, den Afrikanern fehle die Fähigkeit, Chancen zur Verbesserung ihrer Lebenslage wahrzunehmen: Höhere Löhne führten zu keiner Erhöhung, sondern zur Verringerung des Arbeitsangebots der Afrikaner, weil diese nur das Ziel hätten, eine bestimmte Geldsumme, z.B. zur Steuerzahlung oder für sonstige Zwecke, durch Lohnarbeit zu verdienen und die Plantagen im Fall höherer Lohnsätze entsprechend früher wieder verließen. Gegen diese Annahme, die als Rechtfertigung diente, die Löhne niedrig zu halten, spricht allerdings, daß sich die afrikanische Bevölkerung an der Möglichkeit, Geldeinkommen durch den Anbau von Marktprodukten zu erzielen, durchaus interessiert zeigte und positiv auf Verbesserungen der Vermarktungsbedingungen und der. erzielten Preise reagierte. Lohnarbeit wurde in der Regel nur dann akzeptiert, wenn keine adäquaten Möglichkeiten bestanden, benötigtes Geld durch den Anbau von Marktprodukten zu verdienen (vgl. W. Rodney, 1980, S. 135). Der Grund für die Präferenz für Marktproduktion gegenüber Lohnarbeit dürfte erstens in den schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen auf den Plantagen zu suchen sein, über die 1924 ein Beamter des Gesundheitsdienstes schrieb: "The diet issued was deficient in quality and variety, and there was no adequate arrangement for hospital accornodation, medical attention, water supplies, kitchens, latrines, etc. As a consequence, dysentery, bowel troubles and deaths ensued, and the proportion rendered unfit was large" (vgl. Tanganyika Te"itory, Annual Medical Report, Dar es Salaam 1924, zitiert nach: J. Rweyemamu, Underdeveloprnent and Industrialization in Tanzania, Nairobi-London-New York 1973, S. 19). Ein zweiter Grund liegt in dem hohen Maß an Geborgenheit des Einzelnen an seinem Heimatort, den er im Fall der Produktion von Marktprodukten nicht verlassen mußte. Diese Faktoren machten eine Präferenz für Marktproduktion gegenüber Lohnarbeit selbst bei etwas besseren Verdienstmöglichkeiten in der Lohnarbeit rational. Nichts spricht jedoch dagegen, daß höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen Lohnarbeit relativ attraktiver gernacht und das Arbeitsangebot erhöht hätten; vgl. zur Zurückweisung der Annahme eines negativen Zusammenhangs zwischen Lohnhöhe und Arbeitsangebot auch: R . H. Sabot, Econornic Developrnent and Urban Migration. Tanzania 1900-1971, Oxford 1979, s. 32 ff. 7 In den Usarnbarabergen wurden z.B. bis zum Jahr 1904 jedem Siedler mehrere Dörfer zugeteilt, die verpflichtet waren, ihm täglich eine bestimmte Anzahl von Arbeitskräften zu stellen. Ein anderes System von Zwangsarbeit sah die Ausgabe von Karten an die lokale Bevölkerung vor, die den Inhaber verpflichteten, innerhalb eines festgelegten Zeitraums eine bestimmte Anzahl von Tagen zu einem festgesetzten - in der Regel sehr niedrigen Lohn für einen Europäer zu arbeiten; vgl. J. Iliffe, 1979, S. 152 f. 8 Der Begriff "Maji-Maji"-Aufstand geht darauf zurück, daß die Initiatoren des Auf-
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Dieser vor allem flir die afrikanische Bevölkerung äußerst verlustreiche Aufstand,9 der dem Herero-Aufstand in Deutsch-Südwestafrikaunmittelbar folgte, machte die Kolonialfrage zu einem wesentlichen Gegenstand der politischen Diskussion im Deutschen Reich und flihrte nach den Reichstagswahlen von 1906 zu einer drastischen Reform der Kolonialpolitik - dem Beginn einer auf langfristige wirtschaftliche Entwicklung abzielenden Politik und einer wesentlichen Reduzierung der Verwendung von Zwangsarbeit. 10 Bestandteil der neuen Politik war ein rascher Ausbau der Verkehrsinfrastruktur - insbesondere des Eisenbahnnetzes 11 - , der den Transport von Gütern und Menschen erheblich verbilligte und beschleunigte 12 und neue Gebiete flir den Anbau von Marktprodukten und die Rekrutierung von Arbeitskräften erschloß. Ein weiterer Bestandteil der neuen Politik waren verstärkte Bemühungen, die einheimische Bevölkerung zur Produktion von Marktprodukten anzuregen. Trotz des Protestes weißer Siedler und Plantagenbesitzer förderte die Kolonialregierung z.B. den Anbau von Baumwolle durch die Verteilung von Saatgut, fachliche Beratung, den Bau von Spinnereien und die Vergabe von Kleinkrediten.U Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, der die wirtschaftliche Expansion zunächst flir mehrere Jahre unterbrach, entwickelte sich Marktproduktion der einheimischen Bevölkerung vor allem in den Gebieten des Nordens und Nordstandes - religiöse Führer der Matumbi, Ngoni und anderer Stämme des Südens- die Be· reitschaft zum Widerstand gegen die mit überlegenen Waffen ausgerüsteten Europäer stärkten, indem sie .,Kriegsmedizin" verteilten, von der sie behaupteten, sie verwandle die Kugeln der Europäer in Wasser (in Swahili: maji). 9 Die Verluste an Menschenleben betrugen auf der Seite der afrikanischen Bevölkerung nach Schätzungen von Gwassa 250 000 bis 300 000 Personen - etwa ein Drittel der Ge· Samtbevölkerung des vom Aufstand betroffenen Gebietes. Von den Aufständischen wurden 15 Europäer, 73 Söldner und 316 Angehörige der afrikanischen Hilfstluppe getötet; vgl. G. C. K. Gwassa, The Outbreak and Development of the Maji Maji War 1905- 7, Diss. Dar es Salaam 1973, S. 389 sowie J. Iliffe, 1979, S. 200. 10 Vgl. H. W. Stephens, The Political Transformation of Tanganyika: 1920-67, New York-Washington-London 1968, S. 19 f.; J. Jliffe, 1969, S. 23 sowie W. Rodney, 1980, s. 134 ff. 11 Zu der zwischen 1902 und 190Sgebauten, 129 km langen Eisenbahnstrecke von Tanga nach Mombo, am Fuß der Usambaraberge, kamen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs weitere rd. 1400 km hinzu: bis 1912 die Strecke von Mombo bis Moshi am Kilimanjaro sowie bis 1914 die Bahnlinie von Dar es Salaam durch das Zentrum des Landes bis nach Kigoma am Tanganyikasee; vgl. J. Iliffe, 1979, S. 135 f. 12 Z. B. verkürzte sich die Reisezeit von Tabora nach Dar es Salaam von zwei Monaten auf 33 Stunden; vgl. H. W. Stephens, 1968, S. 20. 13 Nicht zuletzt aufgrund dieser Maßnahmen betrug der Anteil der afrikanischen Baumwollproduzenten bereits 1908 zwei Drittel der Baumwollexporte des Territoriums, 1912 flinf Siebentel. Ähnlich stieg die afrikanische Produktion anderer Marktprodukte wie Kaffee, Mais, Reis, Bohnen, Hirse, Sesam und Erdnüsse; vgl. D. Bald, Deutsch-Ostafrika 1900- 1914. Eine Studie über Verwaltung, Interessengruppen und wirtschaftliche Erschließung, München 1970, S. 212 sowie W. Rodney, 1980, S. 136.
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ostens, in denen die Plantagen Absatzmöglichkeiten für Nahrungsprodukte boten und die Verkehrsinfrastruktur den Transport von Exporterzeugnissen zu den Hafenstädten rentabel machte, während weite Teile West- und Südtanzanias, in denen die Bedingungen für Marktproduktion ungünstiger waren, zu typischen Arbeitskräftereservoirs für die Plantagen und für den Eisenbahnbau wurden. 14 Weitgehend unberührt von Marktproduktion und Wanderarbeit blieben bis zum Ende der deutschen Kolonialzeit noch einige Gebiete mit intensiver Viehzucht wie die Masaisteppe, Uhehe und Ugogo sowie sehr abgelegene Gebiete wie Unyakyusa, Buha und das Gebiet östlich des Viktoriasees, 15 in denen hierdurch mitbedingt auch die sozialen Veränderungen schwächer als in den wirtschaftlich stärker erschlossenen Gebieten blieben.
3.1.2. Sozialer Wandel Die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen der deutschen Kolonialzeit modifizierten wesentliche konstituierende Elemente der vorkolonialen Gesellschaftsordnung. Die militärische Eroberung und Befriedung des Landes und die Einführung einer landesweit einheitlichen Verwaltung und Gesetzgebung beendeten die Bedrohung durch Stammeskriege und Überfälle, führten zur Auflösung der Wehrdörfer 16 und lockerten damit die Abhängigkeit des Einzelnen von Häuptling, Familienverband und Nachbarschaftsgemeinschaft als den traditionellen Garanten seiner äußeren Sicherheit. Die zunehmende Sicherheit des Reisens 17 und die verkehrsmäßige Erschließung des Landes ermöglichten einer wachsenden Zahl von Personen durch den Anbau von Marktprodukten oder durch Wanderarbeit individuell verwendbares Geldeinkommen unabhängig von Familienverband, Nachbarschaftsgemeinschaft und Häuptling zu verdienen. Die verkehrsmäßige Erschließung erleichterte zudem den Transport von Nahrungsmitteln und machte denjenigen, der finanzielle Mittel hatte, im 14 Die Zahl der abhängig Beschäftigten im Eisenbahnbau, auf Plantagen und in sonstigen Tätigkeiten betrug 1913 rund 172 000. Dies entsprach etwa 14% aller Männer im arbeitsfähigen Alter; vgl. H. W. Stephens, 1968, S. 21 und S. 194, Fn. 7 sowieR. Tetzlaff, Koloniale Entwicklung und Ausbeutung: Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutsch-Ostafrikas 1885-1914, Berlin 1970, S. 194. 15 Vgl. J. Iliffe, 1979, S. 161 f. 16 Vgl. T. 0. Beidelman, 1967, S. VIII. 17 Martin Ganisya, ein afrikanischer Lehrer und Prediger in Uzaramo, schrieb über diese Veränderung im Jahr 1910: " Die Zustände ... waren früher Zustände der Ungerechtigkeit ... In jener Zeit konntest du nicht einen Gang von vier oder fünf Tagen allein machen, da wurdest du ergriffen, weit weg verkauft ... oder du trafst zusammen mit Räubern, und sie töteten dich ohne Grund . .. Aber jetzt, wie ist der Zustand des Landes heute? Jetzt kannst du eine Reise von drei oder vier Monaten machen ohne Waffe . .. Deine Waffe ist die Regierung ... " (Jf. Ganisya, Artikel in: Pwani na Bara, Januar 1910; zitiert nach K. Axenfeld, Geistige Kämpfe in der Eingeborenenbevölkerung an der Küste Ostafrikas, in: Koloniale Rundschau, Heft 11, 1913, S. 671).
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Fall von Mißernten von der gegenseitigen Hilfe innerhalb der lokalen Gemeinschaften unabhängiger. Die gleiche Wirkung hatte der Umstand, daß die Kolonialverwaltung zunehmend für die Bereitstellung von Nahrungsmittelhilfen im Fall von Hungersnöten sorgte. 18 Während diese Veränderungen tendenziell mehr materielle Unabhängigkeit des Einzelnen von Familienverband, Nachbarschaftsgemeinschaft und Häuptling bedeuteten, bewirkten gleichzeitig Veränderungen im religiösen Bereich ein beginnender Bedeutungsverlust der traditionellen Religionen, das Vordringen des Christentums und des Islam sowie das Aufkommen schulischer Erziehung - wachsende intellektuelle Unabhängigkeit der Individuen gegenüber den lokalen Gemeinschaften. Christliche Missionare hatten bereits etwa zwei Jahrzehnte vor Beginn der Kolonialzeit - zuerst an der Küste, später im Inland - eine Reihe von Missionsstationen errichtet, waren jedoch mit ihrer Lehre bei den meisten Stämmen zunächst weitgehend auf Indifferenz oder Ablehnung gestoßen. Häufig beschränkte·sich der Kreis der Konvertiten auf befreite ehemalige Sklaven und auf Personen, die z.B. wegen einer bestimmten Krankheit oder Behinderung den Rückhalt in der Stammesgesellschaft verloren hatten, auf dem von den Missionen erworbenen Land lebten und gegen Bezahlung auf den Feldern der Missionare arbeiteten. 19 Der Einfluß auf die lokale Bevölkerung blieb in dieser ersten Phase der Missionierung gering: "The missions remained a thing apart from the local populations: the few natives who came to profess their doctrines were adopted, body as weil as soul, into a new way of life and were regarded by their kinsmen as outcasts." 20 Im Verlauf der kolonialen Eroberung veränderte sich die Situation grundlegend.21 In Uzigua und Bonde im Nordosten, die zu den ersten Gebieten gehörten, die unter die Kontrolle der deutschen Kolonialverwaltung kamen, stellten die Missionare bereits 1891 ein wachsendes Interesse an Missionsschulen und die Bereitschaft der Bevölkerung fest, die entsprechenden Schulgebäude zu errichten. Bei den Chagga, die ebenfalls früh unter koloniale Kontrolle kamen, erzielten die Missionare während der ersten 10 Jahre der Kolonialzeit erste entscheidende Erfolge. Einzelne Gebiete am Kilimanjaro wurden in dieser Zeit weitgehend christlich. Im abgelegeneren Ugogo und Usagarastießen die Missionare noch 1902 auf Indifferenz, während sie 1908 - bei Annäherung der im Bau befindlichen Eisenbahnlinie - eine große Welle des Interesses feststellten. In Südtanzania erVgl. hierzu unten, Abschnitt 4.1. Vgl. K. F. Hirji, Colonial ldeological Apparatus in Tanganyika under the Germans, in: M. H. Y. Kaniki (Hg.}, 1980, S. 192 ff. sowie J. Iliffe, 1979, S. 222. 20 R. Oliver, The Missionary Factor in East Africa, London-New York-Toronto 1952, s. 176. 21 Vgl. zum Folgenden ebenda, S. 195 ff. 11
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öffnete die Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstandes im Jahr 1907 den Weg zu größeren Erfolgen der Missionare. Vor allem vier Faktoren erklären das zeitliche Zusammenfallen von kolonialer Eroberung und dem Durchbruch in der Missionsarbeit: Erstens erzeugte die Errichtung der Kolonialherrschaft mit allen ihren Begleiterscheinungen bei der afrikanischen Bevölkerung ein Geflihl der Überlegenheit der Europäer und ihrer Religion, das es ratsam erscheinen ließ, über die Missionen die Ideen der Europäer kennenzulernen: "Now ... when the sands were shifting under . . . (the African's) feet, when perhaps bis chiefbad been imprisoned by the Europeans, when their soldiery patrolled the land, collecting taxes and conscribing him to work on the roads, he (agreed) in consultation with the headman or the village elders ... that it would be wise to send a deputation to the mission to ask for a teacher of the new ways." 22 Zweitens machten während der Zeit des Aufbaus der Kolonialverwaltung und der Errichtung der ersten europäischen Plantagen viele Afrikaner erstmals die Erfahrung, daß sich das Absolvieren einer Ausbildung bei den Missionen -- die in den meisten Gebieten des Inlands die einzigen Schulen anboten - materiell lohnte. Die Missionen ihrerseits waren bereit, ihre Ausbildungskapazitäten im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten zu erweitern, weil sie dadurch die Chance einer Realisierung auch ihres primären Anliegens, der Bekehrung zum Christentum, erhofften. 23 Drittens war die Kolonialperiode die Zeit, in der die Missionen verstärkt begannen, Krankenstationen zu errichten, die ihren Einfluß auch dort vergrößerten, "where the Gospel could not easily be preached by ordinary evangelists, or among aboriginal and uncivilised people likely to be impressed by the kindly influence of medical work". 24 R. Oliver, 1952, S. 200; Ergänzungen in Klammern von A. B. Vgl. J. Eggert, Missionsschule und sozialer Wandel mOstafrika, Bielefeld 1970, passim, insbes. S. 275 ff. Während in der Anfangsphase der Missionsarbeit die Bereitschaft zur Teilnahme am Schulunterricht so gering gewesen war, daß die Missionare ihre Schüler für 22
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die Teilnahme am Unterricht hatten bezahlen müssen, stieg während der Kolonialzeit, vor allem nach 1910, die Nachfrage nach Schulen so sehr, daß die Missionare kaum mehr in der Lage waren, sie zu befriedigen (vgl. J. Eggert, 1970, S. 266 ff.). Die Wirkung des Interesses an der Erlangung gutbezahlter beruflicher Stellungen auf die Beteiligung am Schulbesuch ist für die Regierungsschule in Tanga besonders gut dokumentiert worden. Der dort ermittelte Zusammenhang galt jedoch in gleicher Weise für die Missionsschulen: In dieser Schule wurden ab 1896 gleichzeitig aus dem Hinterland stammende Internatsschüler und Tagesschüler aus Tanga unterrichtet. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß die Internatsschüler wegen regelmäßigerem Schulbesuch bessere Lernerfolge als die Tagesschüler aufwiesen und sie deshalb die gut bezahlten Regierungsposten bekamen, besserte sich der Schulbesuch der Stadtkinder wesentlich, weil sie bei der Stellenverteilung nicht nachstehen wollten; vgl. J. Eggert, 1970, S. 80 und S. 268. 24 E. M. Anderson, Healing Hands, 1950, S. 18; zitiert nach R. Oliver, 1952, S. 211 . 5 Bossert
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Ein vierter Faktor, der auch die Verbreitung des Islam förderte, war, daß die mit Beginn der Kolonialzeit rasch zunehmende überregionale Mobilität und Kommunikation mit den universellen Normen des Christentums und des Islam besser vereinbar waren als mit denen der traditionellen Religionen, da diese Loyalität nur zwischen den Nachkommen eines bestimmten Ahnen bzw. zwischen den im Einflußbereich der Ahnen eines bestimmten Häuptlings oder Vorstehers Lebenden forderten, während die auf alle Menschen bzw. auf alle Menschen gleichen Glaubens bezogenen Loyalitätspflichten im Rahmen des Christentums und des Islam überregionale Kontakte erheblich erleichterten.25 Der letztgenannte Grund erklärt die während der deutschen Kolonialzeit parallel zur Verbreitung des Christentums stattfindende Ausdehnung des Islam nur teilweise. Der Islam war durch arabische und persische Händler etwa ab dem 10. Jahrhundert zunächst an der Küste verbreitet worden und von dortwahrscheinlich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts - entlang der Fernhandelsrouten allmählich in Teile des Inlands vorgedrungen. 26 Nach Beginn der Kolonialzeit wurde seine weitere Verbreitung vor allem dadurch begünstigt, daß Moslems von der Küste, als Angehörige der einzigen Bevölkerungsgruppe, die - aufgrund des Besuchs von Koranschulen - ein gewisses Maß an schulischer Bildung besaß27 und wegen ihrer Handelstradition als relativ weltoffen galt, zu wichtigen Kontaktpersonen zwischen der europäischen Verwaltung und den Bewohnern des Inlands wurden. Die meisten unteren und mittleren Positionen der Distriktverwaltungen und die meisten Stellen für Einheimische im staatlichen Schuldienst wurden zumindest in der ersten Hälfte der deutschen Kolonialzeit mit Moslems von der Küste besetzt. Daneben stellten Moslems einen hohen Anteil der Vorarbeiter auf den Plantagen. Für viele Bewohner des Inlands, die Moslems als die unmittelbaren Repräsentanten von Kolonialverwaltung und Kolonialwirtschaft erlebten, lag damit, wie Swantz für die Zaramo feststellte, die Schlußfolgerung nahe, daß "the will of the Government to be that they become Muslims." 28 Ein weiterer Faktor, der die Verbreitung des Islam begünstigte, war, daß er im Hinblick auf Polygamie kaum Verhaltensänderungen verlangte und in bezug auf Gläubigkeit und Alkoholgenuß in der Praxis liberal war, während andererseits die christlichen Konvertiten eine strenge katechetische Ausbildung absolvieren mußten und unter Androhung und Anwendung der Exkommunikation 25 Händler im Inland machten z. 8. die Erfahrung, daß ihnen moslemische Händler von der Küste nur dann vertrauten und Geld liehen, wenn sie zum Islam übertraten; vgl. G. R. Mutahaba, Portrait of a Nationalist: The Life of Ali Migeyo, Nairobi 1969, S. 13. 26 Vgl. R . Oliver, 1952, S. 202. 27 Die islamischen Koranschulen, die vor allem an der Küste bestanden, vermittelten primär Kenntnisse im Lesen des Koran, darüber hinaus jedoch auch allgemeine Fähigkeiten im Schreiben und Rechnen; vgl. K. F. Hirji, 1980, S. 201 f. 28 M. L. Swantz, 1970, S. 103.
3.1. Deutsche Kolonialzeit (1885-1918)
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zur strikten Einhaltung der kirchlichen Normen angehalten wurden. 29 Dieser Umstand dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, daß sich der Islam ohne organisierte Missionierung mindestens im gleichen Umfang verbreitete wie das Christenturn.30 Die gesellschaftlichen Wirkungen dieses Wandels im religiösen Bereich ergänzten und verstärkten die oben bereits untersuchten Wirkungen des politischen und wirtschaftlichen Wandels. Der Umstand, daß eine wachsende Zahl Jugendlicher schulische Erziehung erhiele 1 und der Bildungsstand dieser Jugendlichen den der älteren Generation zu übertreffen begann, schwächte tendenziell das gesellschaftliche Ansehen und den Einfluß der älteren Generation, die traditionell das Erziehungsmonopol innegehabt hatte.32 Diese Tendenz der Schwächung der gesellschaftlichen Stellung der Älteren wurde zudem dadurch verstärkt, daß unter dem Einfluß von Christentum und Islam der traditionelle Ahnenkult an Bedeutung verlor und mit ihm die meisten der rituellen Sanktionsmöglichkeiten der Alten an Wirksamkeit einbüßten. Auf der Ebene der Nachbarschaftsgemeinschaften hatte vor allem der Einfluß des Christentums zur Folge, daß in einzelnen Gebieten die traditionellen Initiationsriten verschwanden oder modifiziert wurden. Im Zuge dieser Entwicklung begannen die Altersgruppen an Bedeutung zu verlieren oder wurden - wie bei den Chagga - ganz abgesch