Prinzipien und Formen sozialer Sicherung in nicht-industriellen Gesellschaften [1 ed.] 9783428454846, 9783428054848


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German Pages 169 Year 1983

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Prinzipien und Formen sozialer Sicherung in nicht-industriellen Gesellschaften [1 ed.]
 9783428454846, 9783428054848

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S ozialp olitis che S chriften Heft 48

Prinzipien und Formen sozialer Sicherung in nicht-industriellen Gesellschaften

Von

Manfred Partsch

Duncker & Humblot · Berlin

MANFRED PARTSCH

Prinzipien und Formen sozialer Sicherung in nicht-industriellen Gesellschaften

Sozialpolitische Schriften Heft 48

Prinzipien u n d Formen sozialer Sicherung i n nicht-industriellen Gesellschaften

Von

Dr. Manfred Partsch

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Partsch, Manfred: Prinzipien u n d Formen sozialer Sicherung i n nicht-industriellen Gesellschaften / von Manfred Partsch. — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1983. (Sozialpolitische Schriften; H. 48) I S B N 3-428-05484-9 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in GermanyISBN 3 428 05484 9

Vorwort Zur Beschäftigung m i t Fragen der sozialen Sicherung i n nicht-industriellen Gesellschaften wurde ich angeregt durch die als unzureichend empfundene Behandlung dieses Themas i n der einschlägigen Literatur. Allzuoft werden Probleme sozialer Sicherung und ihre spezifische Bewältigung vor der Industrialisierung dadurch von vornherein ausgeblendet, daß als entscheidende Ursache für die Ergreifung von Maßnahmen und für die Schaffung von Einrichtungen sozialer Sicherung der Industrialisierungsprozeß bzw. die von i h m ausgelösten wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche gelten. Soweit auch für historische Gesellschaften die Notwendigkeit eines Schutzes der Menschen vor existentiellen Risiken wie Krankheit und A l t e r zugestanden wird, beschränken sich die entsprechenden Ausführungen regelmäßig auf den Hinweis, daß Großfamilie und Dorfgemeinschaft sowie Zünfte und Gilden für ihre hilfsbedürftigen Mitglieder gesorgt hätten. Ungeklärt bleibt jedoch die meines Erachtens sehr bedeutsame Frage, ob, i n welchem Umfang und aufgrund welcher Voraussetzungen diese traditionalen Gemeinschaften tatsächlich i n der Lage waren, die ihnen zugeschriebenen Schutzfunktionen auszuüben. Der insgesamt unbefriedigende Stand des Wissens über Regelungen und Einrichtungen sozialer Sicherung i n nicht-industriellen Sozialsystemen war also der eigentliche Anlaß für den in dieser Abhandlung unternommenen Versuch, einmal grundsätzlich zu erörtern, welche Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen für Maßnahmen sozialer Sicherung unter nicht-industriellen Bedingungen bestehen. Gestützt auf diese theoretische Grundlage erfolgt eine exemplarische, auf bestimmte Typen nicht-industrieller Gesellschaften beschränkte Ableitung elementarer Strukturprinzipien sozialer Sicherung und die Beschreibung konkreter Gestaltungsformen dieser Sicherung. Dabei kann und w i l l die vorliegende Arbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Sie bedarf der Ergänzung und Konkretisierung durch weitere Studien. Diese als Dissertation vorgelegte Abhandlung wurde von Herrn Professor Dr. Heinz Lampert betreut. Ohne seine Ermutigung, sein Vertrauen und seine Geduld wäre sie vermutlich weder begonnen noch erfolgreich abgeschlossen worden. I h m gilt dafür mein besonderer und herzlicher Dank. Ebenfalls zu großem Dank verpflichtet bin ich schließ-

6

Vorwort

lieh der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg, die durch Gewährung eines Zuschusses die Veröffentlichung dieser Arbeit nachhaltig unterstützt hat. Manfred Partsch

Inhaltsverzeichnis Einführung

9

1. Der Begriff „Soziale Sicherung"

13

1.1. Begriffsgeschichte

13

1.2. Begriffsdeutungen

18

1.2.1. Hans Achinger (1953)

20

1.2.2. Gerhard Weisser (1956)

22

1.2.3. Franz-Xaver Kaufmann (1970)

23

1.2.4. Gaston V. Rimlinger (1968)

26

2. Soziale Risiken und Industrialisierung

30

2.1. Risikoarten

30

2.2. Risikofolgen

35

2.2.1. Arbeitsverfassung u n d soziale Sicherung

36

2.2.2. Erwerbstätigkeit u n d soziale Sicherung

38

3. Elemente einer Theorie sozialer Sicherung

44

3.1. Definitionen

45

3.2. Erkenntnisziele

50

3.3. Hypothesen

52

3.3.1. Z u r Notwendigkeit sozialer Sicherung

53

3.3.1.1. Die universale Gefährdung des Menschen

55

3.3.1.2. Die Unzulänglichkeit individueller Vorsorge

56

3.3.2. Z u r Möglichkeit sozialer Sicherung

58

3.3.2.1. Soziale Sicherung durch intertemporale U m v e r t e i lung

61

3.3.2.2. Soziale Sicherung durch interregionale Umverteilung

62

3.3.2.3. Soziale Sicherung durch interpersonale U m v e r t e i lung

62

4. Soziale Sicherung und sozialer Wandel 4.1. Prinzipien u n d Formen sozialer Sicherung

69 70

8

Inhaltsverzeichnis 4.2. Determinanten sozialer Sicherung

71

4.3. Soziale Differenzierung u n d soziale Sicherung

75

5. Soziale Sicherung in archaischen Gesellschaften 5.1. Archaische Gesellschaften

80 80

5.1.1. Z u m Begriff „archaische Gesellschaften" 5.1.2. Merkmale archaischer Gesellschaften 5.1.2.1. Archaische Ökonomie

80 82 83

5.1.2.2. Archaische Sozialstruktur

87

5.1.2.3. Archaische Werte u n d Normen

92

5.2. Prinzip u n d Formen sozialer Sicherung i n archaischen Gesellschaften

97

5.2.1. „Verwandtschaft" als Prinzip sozialer Sicherung i n archaischen Gesellschaften

97

5.2.2. Formen sozialer Sicherung i n archaischen Gesellschaften

102

6. Soziale Sicherung in feudalen Gesellschaften 6.1. Feudale Gesellschaften

110

6.1.1. Z u m Begriff „feudale Gesellschaft" 6.1.2. Merkmale feudaler 6.1.2.1. Feudale

109

Gesellschaften

Ökonomie

110 112 113

6.1.2.2. Feudale Sozialstruktur

116

6.1.2.3. Feudale Werte u n d Normen

122

6.2. Prinzipien sozialer Sicherung i n feudalen Gesellschaften 6.2.1. Hausgemeinschaft

125 126

6.2.2. Nachbarschaft

132

6.2.3. Genossenschaft

135

6.3. Formen sozialer Sicherung i n feudalen Gesellschaften

140

6.3.1. Altersicherung auf dem Lande

142

6.3.2. Alterssicherung i n der Stadt

146

7. Zusammenfassung

155

Literaturverzeichnis

159

Einführung Die Literatur zu Problemen sozialer Sicherung ist i n den letzten Jahren stürmisch gewachsen und kann nur noch mit Hilfe umfangreicher, laufend zu aktualisierender Bibliographien überblickt werden. 1 Angesichts dieser Flut von einschlägigen Veröffentlichungen stellt sich die Frage, ob nicht bereits alle Aspekte des Themas „Soziale Sicherung" ausgiebig dargestellt und analysiert wurden, und ob i m Hinblick auf den wissenschaftlichen Nutzen weiterer Publikationen zu diesem Thema nicht das Gesetz vom abnehmenden Ertragszuwachs wirksam wird. Abgesehen von dem grundsätzlichen Einwand, daß wissenschaftliche Forschung niemals abgeschlossen ist und dies von ihren Voraussetzungen her auch niemals sein kann und darf, lehrt jedoch die Praxis, daß der Fortschritt der Wissenschaft nicht nur zu weiterer und verbesserter Erkenntnis verhilft, sondern vor allem auch deutlich macht, was noch nicht erkannt ist. Für die hier interessierende Forschung über Fragen der sozialen Sicherung kann diese Erfahrung beispielsweise i n der Feststellung ausgedrückt werden, daß gerade das umfangreiche Material über moderne Systeme sozialer Sicherung i n den Industrieländern zeigt, wie gering gleichzeitig unsere Kenntnis der traditionalen Sicherungsformen i n nicht-industriellen Gesellschaften ist. Während etwa i n letzter Zeit eine Reihe von Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung der modernen Systeme sozialer Sicherung, insbesondere der Sozialversicherung, vorgelegt wurde, 2 lassen sich kaum Arbeiten neueren Datums nennen, die vorrangig der Frage nachgehen, welche Regelungen und Einrichtungen die Menschen unter nicht-industriellen Bedingungen vor existentiellen Risiken schützten bzw. noch immer schützen. Wenn damit zwar ein Forschungsdefizit konstatiert werden kann, so bleibt doch zu begründen, welchen Nutzen die i n dieser Arbeit beabsichtigte Darstellung und Analyse von Prinzipien und Formen sozialer Sicherung haben kann, die entweder längst Geschichte sind oder m i t hoher Wahrscheinlichkeit i n absehbarer Zeit der Vergangenheit ange1 Vgl. vor allem die vierteljährlich erscheinende „Weltbibliographie der Sozialen Sicherheit", die v o n der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit, Genf, herausgegeben w i r d . 2 Vgl. als Überblick: H. F. Zacher (Hg.), Bedingungen für die Entstehung u n d Entwicklung v o n Sozialversicherung, B e r l i n 1979.

10

Einführung

hören werden. M i t dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit ist diese und jede Frage nach einem Nutzen nicht zu beantworten. Aus der Sicht des Verfassers sprechen folgende, hier nicht näher zu begründende Überlegungen für ein Mehr an Wissen über historische oder traditionale Regelungen, Maßnahmen und Einrichtungen sozialer Sicherung: 1. I n den sogenannten Entwicklungsländern hat die Einführung der i n den Industrieländern entstandenen Systeme und Institutionen sozialer Sicherung nicht immer die i n sie gesetzten Erwartungen erfüllt; teilweise wurden bestehende Probleme wie die Landflucht oder eine extrem ungleiche Einkommensverteilung verschärft. Hier könnte eine Besinnung auf die traditionalen Sicherungsformen und deren behutsame Weiterentwicklung zu sozial ausgewogeneren Ergebnissen führen. 2. Auch i n den Industrieländern sind i n den letzten Jahren die Grenzen der modernen Systeme sozialer Sicherung unübersehbar geworden. Über die Bewältigung der aktuellen Finanzierungsprobleme hinaus ist grundsätzlich zu klären, ob der unbestreitbare Anspruch auf soziale Sicherheit nicht mit weniger Bürokratie und m i t geringerem Aufwand an knappen Mitteln befriedigt werden kann. Dies w i r d nicht mit einer Rückkehr zu vorindustriellen Sicherungsformen zu erreichen sein, doch könnte deren Kenntnis zu mehr Phantasie bei der Gestaltung künftiger, dem Menschen und seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten angemessenen Formen sozialer Sicherung verhelfen. Der insgesamt unbefriedigende Stand der Forschung zur sozialen Sicherung unter nicht-industriellen Bedingungen läßt eine allen systematischen und methodischen Ansprüchen genügende Behandlung des gestellten Themas (noch) nicht zu. Auch eine vollständige Darstellung der i n historischen und rezenten nicht-industriellen Sozialsystemen verwirklichten Regelungen, Maßnahmen und Einrichtungen sozialer Sicherung ist angesichts dieses Defizits nicht zu erreichen. Erfolgversprechender erscheint dagegen der i n dieser Arbeit unternommene Versuch, zunächst theoretisch zu erörtern, welche Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen für die Gestaltung der sozialen Sicherung unter nicht-industriellen Bedingungen bestehen. Eine derartige theoretische Grundlegung ist unerläßlich für die Orientierung i m vielfältigen, nicht unter dem Blickwinkel der sozialen Sicherung zusammengestellten Material über nicht-industrielle Gesellschaften. Die auf dieser Basis erfolgende Auswertung ethnographischer sowie w i r t schafts- und sozialhistorischer Darstellungen ermöglicht dann eine exemplarische, auf bestimmte Typen nicht-industrieller Gesellschaften beschränkte Ableitung von Grundstrukturen oder Prinzipien sozialer Sicherung und die Beschreibung konkreter Formen dieser Sicherung.

Einführung

Die eben skizzierte Vorgehensweise legt auch weitgehend den nun zu erläuternden Aufbau der Arbeit fest. I m ersten Kapitel w i r d die Entstehungsgeschichte des für diese Untersuchung zentralen Begriffs „soziale Sicherung" referiert. Hier w i r d auch der wichtigen Frage nachgegangen, ob nicht das verbreitete Verständnis dieses Begriffs seine Übertragung auf nicht-industrielle Verhältnisse unnötig erschwert. Der diesem Verständnis zugrunde liegende Zusammenhang von sozialer Sicherung und Industrialisierung w i r d i m zweiten Kapitel kritisch gewürdigt. Es w i r d gezeigt, daß vom einzelnen nicht zu bewältigende Risiken auch i n nicht-industriellen Gesellschaften auftreten, daß aber die Zusammensetzung und vor allem die Folgen sozialer Risiken sich seit der Industrialisierung entscheidend gewandelt haben. Das dritte Kapitel dient der Schaffung einer theoretischen Grundlage für die Analyse des universellen Problems sozialer Sicherung und seiner Lösungsmöglichkeiten. Zunächst ist eine auch auf nicht-industrielle Sozialsysteme anwendbare Definition des Begriffs „soziale Sicherung" zu entwickeln. Danach werden Fragen formuliert, die eine Erforschung der historischen Anlässe, Gestaltungsformen und Ergebnisse sozialer Sicherung leiten könnten. Schließlich werden einige Hypothesen vorgestellt und diskutiert, die für die weitere Behandlung des Themas maßgebend sind. Sie beziehen sich zum einen auf die Notwendigkeit, zum anderen auf die Möglichkeiten und damit auch auf die Grenzen sozialer Sicherung unter nicht-industriellen Bedingungen. I m vierten Kapitel erfolgt der Versuch, das bisher nur theoretisch erörterte Problem der sozialen Sicherung dahingehend zu konkretisieren, daß reale Strukturprinzipien und Gestaltungsformen sozialer Sicherung und ihr Wandel i m historischen Prozeß dargestellt werden können. Da dieser Wandel ein Ergebnis der allmählichen Zunahme der gesellschaftlichen oder sozialen Differenzierung zu sein scheint, w i r d für die weitere Untersuchung eine Unterscheidung der nicht-industriellen Gesellschaften nach ihrem Differenzierungsgrad vorgeschlagen. Diese Vorgehensweise ermöglicht eine Trennung zwischen gering differenzierten oder „einfachen" und stärker differenzierten oder „komplexen" nicht-industriellen Gesellschaften. Die ausführliche Behandlung von Gesellschaften des ersten Typs ist Gegenstand des fünften Kapitels. Gestützt auf ethnologische Arbeiten werden zunächst die für die Gestaltung der sozialen Sicherung relevanten Merkmale dieser „archaisch" genannten Gesellschaften beschrieben. Anschließend w i r d gezeigt, welches allgemeine Prinzip der sozialen Sicherung i n archaischen Gesellschaften zugrunde liegt und

12

Einführung

(am Beispiel des Risikos „Alter") welche konkreten Formen diese Sicherung aufweisen kann. Nach dem gleichen Schema erfolgt i m sechsten Kapitel die Darstellung der Prinzipien und Formen sozialer Sicherung i n Gesellschaften des zweiten, differenzierteren Typs. Die Ausführungen beschränken sich dabei auf die feudalen Gesellschaften des europäischen Mittelalters, über die sehr informative wirtschafts- und sozialhistorische Studien vorliegen. Auch hier werden nach einer Charakterisierung der für Maßnahmen sozialer Sicherung relevanten Gegebenheiten dieser Gesellschaften zuerst jene Grundstrukturen oder Muster herausgearbeitet, die als Prinzipien sozialer Sicherung angesehen werden können. Die Vielfalt der Sicherungsformen i n feudalen Gesellschaften w i r d danach veranschaulicht am Beispiel der Altenversorgung i m Mittelalter. Dies erlaubt auch einen abschließenden Vergleich der Regelung der Alterssicherung i n archaischen und i n feudalen Gesellschaften.

1. Der Begriff „Soziale Sicherung" 1.1. Begriffsgeschichte Der Begriff „Soziale Sicherung" ist zurückzuführen auf die ältere Wortverbindung „Soziale Sicherheit". Der Unterschied beider Bezeichnungen kann darin gesehen werden, daß „Soziale Sicherheit" ein angestrebtes Ziel benennt, während „Soziale Sicherung" die zur Realisierung dieses Ziels einzusetzenden Instrumente umschreibt. Die Wortverbindung „Soziale Sicherheit" entstammt nicht der deutschen Sprache. Es handelt sich hier vielmehr u m die Übersetzung des i n den 30er Jahren unseres Jahrhunderts i n den Vereinigten Staaten sich durchsetzenden Begriffs „Social Security". I n Deutschland traf die Neuprägung „Soziale Sicherheit" bzw. „Soziale Sicherung" auf den älteren und bis heute sehr verbreiteten Begriff „Sozialpolitik". „Soziale Sicherheit" hat hier nie jene dominierende Stellung einnehmen können, die sie nicht nur i n den Vereinigten Staaten, sondern auch i n Großbritannien und Frankreich auszeichnet.1 Diese Vorzugsstellung dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß diese Staaten den (deutschen) Begriff „Sozialpolitik" nicht übernommen haben, 2 gegen den sich „Soziale Sicherheit" i n Deutschland zu behaupten hatte. Das ist ihr nur teilweise gelungen, denn überwiegend w i r d i n der deutschsprachigen Literatur „Soziale Sicherheit" bzw. „Soziale Sicherung" als untergeordnetes Teilgebiet einer umfassender konzipierten „Sozialpolitik" abgehandelt. 3 Selten w i r d erkannt, daß diese „Einverleibung" nicht ohne Folgen für die inhaltliche Bestimmung von „Sozialer Sicherung" bleiben konnte. Ihre Grenzen werden seither abgesteckt durch die jeweils gewählte, mehr oder weniger weite Definition der Sozialpolitik und durch die Festlegung der Ziele, Instrumente und Träger dieser Sozialpolitik. Durchaus konsequent w i r d „Soziale Sicher1 Vgl. hierzu E. Bums, The American Social Security System, Boston 1949, sowie G. Bremme, Freiheit u n d soziale Sicherheit. Motive u n d Prinzipien sozialer Sicherung dargestellt an England u n d Frankreich, Stuttgart 1961. 2 Vgl. E. Boettcher, Sozialpolitik u n d Sozialreform, in: ders. (Hg.), Sozialp o l i t i k u n d Sozialreform, Tübingen 1957, S. 3. 3 Vgl. u. a. H. Lampert, Sozialpolitik, Berlin—Heidelberg—New Y o r k 1980, S.215 ff.

14

1. Der Begriff „Soziale Sicherung"

heit" inzwischen generell beschränkt auf den vom Staat gewährten oder zumindest organisierten Schutz vor genau festgelegten, primär materiellen Lebensrisiken. Entsprechend w i r d das sogenannte „System der sozialen Sicherung" i n der Regel beschrieben durch die Darstellung der Einrichtungen und Leistungen der Sozialversicherungen, der Versorgung und der Sozialhilfe. 4 Daß es sich hier tatsächlich u m eine Bedeutungsverengung von „Sozialer Sicherheit" handelt, soll anhand einiger Stationen i n der Geschichte dieses Begriffs gezeigt werden. Wie bereits erwähnt, ist der Begriff „Social Security" i n den Vereinigten Staaten entstanden und dort i m Anschluß an die W e l t w i r t schaftskrise zu Bedeutung gelangt. 5 Erstmals dokumentiert ist eine offizielle Verwendung des Begriffs in einer Botschaft des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt vom 8.6.1934 an den Kongreß der Vereinigten Staaten, i n der er ein Programm der „security against the hazards and vicissitudes of life" 6 forderte. Roosevelt legte i n seiner Botschaft insbesondere dar, daß die traditionellen Formen der Sicherung i n Familie und Gemeinde unter den aktuellen Bedingungen ihre Bedeutung eingebüßt hätten, und daß die Regierung daher gezwungen wäre, „das aktive Interesse der ganzen Nation . . . zu vertreten, u m eine größere soziale Sicherheit für den einzelnen zu erreichen. Dieses Suchen nach einem höheren Maß von Wohlfahrt und G l ü c k . . . ist eine Rückkehr zu Werten, welche i m Laufe unserer ökonomischen Entwicklung und Expansion verlorengingen" 7 . Diese programmatische Erklärung erinnert an die bekannte „Kaiserliche Botschaft" vom 17.11.1881 an den deutschen Reichstag.8 Wilhelm I. bekundete darin seinen Wunsch, „den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen". Vergleichbar erscheint auch die W i r k u n g der beiden Absichtserklärungen. Die Botschaft des deutschen Kaisers führte zwei Jahre später zum Auftakt der Sozialversicherungsgesetzgebung mit dem Krankenversicherungsgesetz vom 15.6.1883; der Erklärung des amerikanischen Präsidenten folgte bereits ein Jahr später der „Social Security Act" vom 14.8.1935. 4

Vgl. u. a. ebd. Vgl. hierzu vor allem H. Balling, Soziale Sicherheit. Die Geschichte eines Begriffs, in: Bundesarbeitsblatt 1954, S. 104 ff. 6 Z i t i e r t nach K. Doberschütz, Die soziale Sicherung des amerikanischen Bürgers, B e r l i n 1966, S. 32. 7 Z i t i e r t nach der Ubersetzung v o n G. v. Essen-Braune, Das Wesen sozialer Sicherung, Diss. Nürnberg 1960, S. 34. 8 Abgedruckt bei M . Stolleis, Quellen zur Geschichte des Sozialrechts, Göttingen 1976, S. 105 f. 5

1.1. Begriffsgeschichte

15

Trotz dieser Ähnlichkeiten dürfen wesentliche Unterschiede i n Begründung und Intention der beiden Gesetzgebungswerke nicht übersehen werden. I n Deutschland ging es nicht zuletzt u m die Stabilisierung des wirtschaftlichen und politischen Systems durch Besänftigung der revolutionär gesinnten Arbeiterschaft; 9 entsprechend begünstigte die Sozialversicherung zunächst ausschließlich die Fabrikarbeiter — eine i m Vergleich zu Land- und Heimarbeitern, Tagelöhnern, Arbeitsunfähigen und Arbeitslosen relativ privilegierte Gruppe. I n den Vereinigten Staaten war die allgemeine Not nach der Weltwirtschaftskrise zum Auslöser einer Politik sozialer Sicherung geworden. Diese Politik konnte daher nicht schichten- oder klassenspezifisch orientiert sein (wie über lange Zeit die deutsche Sozialpolitik); statt dessen mußte sie dort ansetzen, wo das Elend am größten war. Der „Social Security Act" bezweckte daher vorrangig, alten Menschen, behinderten und verwaisten Kindern, Blinden und Arbeitslosen sozialen Schutz zu gewähren. 10 Verglichen mit den Leistungen, die etwa die deutsche Sozialversicherung zu jener Zeit bot, blieb dieser Schutz i n den USA allerdings recht bescheiden.11 Dennoch ist der „Social Security Act" von herausragender Bedeutung, weil er m i t dem Begriff „Soziale Sicherheit" eine Idee geboren hat, die eines der zentralen Anliegen des 20. Jahrhunderts geworden ist, 12 und weil sich i n i h m eine Konzeption ankündigte, die die weitere Entwicklung bestimmen sollte. 13 Elemente dieser neuartigen Konzeption sind: 9 Vgl. etwa H. Lampert, 1980, S. 129 f., sowie die K r i t i k E. Boettchers an H. Achinger, der nicht deutlich unterscheide zwischen Sozialpolitik u n d Sozialer Sicherheit: „Auch der Begriff soziale Sicherheit ist . . . ein Ergebnis der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts" (H. Achinger, Soziale Sicherheit. Eine historisch-soziologische Untersuchung neuer Hilfsmethoden, Stuttgart 1953, S. 16). Dagegen E. Boettcher: „Der Schutz gegen soziale Revolutionen ist typisch für die deutsche Sozialpolitik, nicht jedoch für Systeme sozialer Sicherheit . . . die USA u n d alle anderen angelsächsischen Länder schützen sich gegen den Kommunismus nach außen, nicht aber nach innen" (E. Boettcher, 1957, S. 8). 10 Vgl. den ausführlichen T i t e l des „Social Security A c t " , der dessen I n h a l t wiedergibt: „ A n A c t to provide for the general welfare b y establishing a system of federal old age benefits, and by enabling the several states to make more adequate provision for aged persons, b l i n d persons, depended and crippled children, maternal and child welfare, public health, and the administration of their unemployment compensation laws; to establish a Social Security Board; to raise revenue; and for other purposes" (zitiert nach F.-X. Kaufmann , Sicherheit als soziologisches u n d sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 1970, S. 109, Fußnote 9). 11 Vgl. K . Doberschütz, 1966, S. 33. 12 Vgl. hierzu vor allem F.-X. Kaufmann, 1970, passim. 13 Die erste systematische Konzeption der sozialen Sicherung ist i m sogenannten „Beveridgeplan" formuliert, der 1942 i n Großbritannien vorgelegt

16

1. Der Begriff „Soziale Sicherung"

a) Einbeziehung aller gesellschaftlichen Gruppen (statt Orientierung an einer bestimmten sozialen Schicht); b) Aufrechterhaltung der Lebenslage (statt Sicherung des Existenzminimums) i n bestimmten, als Risiken definierten Lebenssituationen; c) Rechtsanspruch auf Sozialleistungen (statt Abhängigkeit von privater und öffentlicher Fürsorge). 14 Begriff und Idee der sozialen Sicherheit haben rasch internationale Verbreitung gefunden. Sie sind eingegangen i n zahllose nationale Gesetze und internationale Vereinbarungen. 15 Wichtig i m Hinblick auf den weitreichenden Bedeutungsgehalt von „Sozialer Sicherheit" ist die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", die am 10.12.1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen wurde. Sie proklamiert i m A r t i k e l 22: „Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft ein Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates i n den Genuß der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen Rechte zu gelangen." W i r d der Nachsatz des A r t i k e l 22 als unverzichtbarer Bestandteil des Rechts auf Soziale Sicherheit interpretiert, dann müssen die nachfolgenden A r t i k e l 23 bis 27 als Konkretisierungen dieses Rechts angesehen werden. 16 Das „Recht auf soziale Sicherheit" w i r d nach dieser Version i n der Menschenrechtserklärung genauer bestimmt, und zwar als Recht auf Arbeit und angemessene Entlohnung (Artikel 23), als Anspruch auf Erholung und Freizeit (Artikel 24), als Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung, auf Sicherheit i m Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder von anderweitigem unverschuldetem wurde. Vgl. W. Beveridge, Der Beveridgeplan, in: B. KülpIW. Schreiber (Hg.), Soziale Sicherheit, K ö l n — B e r l i n 1971, S. 310 - 322. 14 Vgl. H. Braun, Soziale Sicherung, in: Die moderne Gesellschaft, Freiburg i. Br. 1972 a, S. 451 ff. 15 Vgl. hierzu v o r allem H. Balling , 1954, S. 104 ff. 16 Diese Position findet sich z. B. bei W. Auerbach, Zusammenhänge, I l l u sion und W i r k l i c h k e i t der sozialen Sicherheit, F r a n k f u r t / M . 1969; bei F.-X. Kaufmann, 1970, sowie bei Ε. v. Hippel, Grundfragen der Sozialen Sicherheit, Tübingen 1979, S. 12. Eine gegenteilige Auffassung, die das „Recht auf Soziale Sicherheit" allein durch A r t i k e l 25 erläutert sieht, vertreten v o r allem G. Weisser, Soziale Sicherheit, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Stuttgart—Tübingen—Göttingen 1956, S. 397, sowie E. Boettcher, 1957, S. 12.

1.1. Begriffsgeschichte

17

Verlust der Unterhaltsmittel und als Anspruch von Mutter und K i n d auf besondere Hilfe und Unterstützung (Artikel 25), als Recht auf B i l dung (Artikel 26) und als Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben (Artikel 27). Hier zeigt sich nochmals, daß Begriff und Idee der „Sozialen Sicherheit" über den Schutz vor materiellen Lebensrisiken weit hinausgehen und den Rahmen der herkömmlichen Sozialpolitik sprengen. Eine vorschnelle Zuordnung der Sozialen Sicherheit zur Sozialpolitik muß daher die erwähnte Bedeutungsverengung von „Sozialer Sicherheit" nach sich ziehen. 17 Es geht hier jedoch nicht i n erster Linie darum, die Vereinnahmung des Begriffs „Soziale Sicherheit" bzw. „Soziale Sicherung" durch die theoretische und praktische Sozialpolitik anzuprangern. Die Behandlung von Problemen sozialer Sicherung i m Rahmen der Sozialpolitik läßt sich durchaus begründen — d o c h gerade diese Begründung w i r d i n der Regel nicht geliefert. Zu kritisieren ist also der unreflektierte Gebrauch von „Sozialer Sicherheit", der Mangel an begrifflicher Klärung. Während sich i n der deutschsprachigen Fachliteratur zahllose Versuche finden, den Begriff „Sozialpolitik" zu definieren, 18 haben sich der Auseinandersetzung m i t dem Begriff „Soziale Sicherheit" nur wenige Autoren gestellt. 19 Dies überrascht zunächst, wenn man andererseits feststellt, daß alle sozialpolitischen Standardwerke die „Systeme sozialer Sicherung" behandeln und manche sogar „soziale Sicherheit" als Ziel der Sozialpolitik postulieren. 20 Verständlich w i r d dieses Defizit aber angesichts der skizzierten Entwicklung des Begriffs „Soziale Sicherheit". Erwähnt wurde bereits, daß er nicht der deutschen Sprache entstammt. Hinzu kommt, daß er i n einer Zeit gebildet wurde und sich verbreitete, als Deutschland sich zusehends aus der internationalen Diskussion zurückzog. 21 Nach 1945 fehlten die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine 17 Vgl. auch die K r i t i k Kaufmanns an der einschränkenden Interpretation des Rechts auf soziale Sicherheit durch G. Weisser: „Hier w i r d die sozialpolitische Reduktion des Rechtes auf soziale Sicherheit nachträglich i n die E r k l ä r u n g hineingelesen" (F.-X. Kaufmann, 1970, S. 114, Hervorh. v. M . P.). 18 Vgl. als Zusammenfassung G. Kleinhenz, Probleme wissenschaftlicher Beschäftigung m i t der Sozialpolitik, B e r l i n 1970, S. 28 ff. 19 Besonders zu erwähnen sind hier n u r die Arbeiten v o n H. Achinger, 1953; E. Boettcher, 1957; G. v. Essen-Braune, 1960, u n d v o r allem die Studie v o n F . - X . Kaufmann, 1970, insbesondere S. 106 - 150. 20 Vgl. A . Burghardt, Lehrbuch der Allgemeinen Sozialpolitik, B e r l i n 1966, S. 52; vgl. auch die K r i t i k Kaufmanns an derartigen Zielsetzungen in: F.-X. Kaufmann, 1970, S. 137 ff. 21 1935 t r a t das Deutsche Reich aus der Internationalen Arbeitsorganisat i o n (IAO) aus. Z u m Verhältnis Deutschlands zur I A O bis zum Wiedereintritt der Bundesrepublik i m Jahre 1951 vgl. Bundesarbeitsblatt, 1951, S. 403-407.

2 Partsch

18

1. Der Begriff „Soziale Sicherung"

umfassende Politik sozialer Sicherung. Darüber hinaus dominierte die verständliche Furcht vor einem übermächtigen Staat einerseits und das Vertrauen i n die wohlstandssteigernden Kräfte des freien Marktes andererseits; 22 die „Antinomie" von Sicherheit und Freiheit wurde beschworen. Das Scheitern der Sozialreform besiegelte die Restauration der traditionellen Sozialpolitik. Diese wurde auch später nicht auf neue Grundlagen gestellt, sondern lediglich i m Glauben an unbegrenztes wirtschaftliches Wachstum weiter 'ausgebaut und dynamisiert. Die Beibehaltung der Prinzipien der herkömmlichen deutschen Sozialpolitik verhinderte aber nicht nur die überfällige Reform, sondern lange Zeit auch die Verwertung der praktischen Erfahrungen einer Politik sozialer Sicherung i n anderen Staaten. I n Deutschland wurden Begriff und Konzeption der sozialen Sicherheit zunächst ins Korsett der etablierten Sozialpolitik gezwungen; erst i n den letzten Jahrzehnten ist schließlich auch hier eine Politik sozialer Sicherung für alle eingeleitet worden. 1.2. Begriffsdeutungen Eine vorbehaltlose Übertragung des Begriffs „Soziale Sicherung" auf die Gegebenheiten nicht-industrieller Gesellschaften w i r d nicht nur beeinträchtigt durch dessen eben skizzierte „sozialpolitische Reduktion" (F.-X. Kaufmann) und durch dessen Hypostasierung infolge einer Gleichsetzung von „Sozialer Sicherung" m i t dem Leistungsvollzug funktional spezialisierter Organisationen. 23 Erschwert w i r d der Gebrauch dieses Begriffs auch durch eine weit verbreitete Deutung von „Sozialer Sicherung" als einem spezifischen A t t r i b u t moderner Industriegesellschaften. Nach dieser Interpretation stellt „Soziale Sicherung" eine notwendige Reaktion von Gesellschaft und Staat auf die vom Industrialisierungsprozeß hervorgerufene wirtschaftliche und soziale Unsicherheit breiter Schichten des Volkes dar. Ganz analog wurde übrigens auch „Sozialpolitik" von vielen Autoren verstanden und beschrieben als A n t w o r t des Staates auf die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, die (Industrie-)Arbeiterfrage. 24 Für Definitionen des Begriffs „Sozialpolitik", i n die dieses allzu räum- und zeitbezogene und »begrenzte Verständnis eingegangen ist, trifft ebenfalls zu, daß sie eine Analyse sozialpolitischer Maßnahmen i n unterschiedlichen historischen Konstellationen von vornherein ausschließen.25 22 Vgl. z. B. K. F. Maier, Das Verlangen nach sozialer Sicherheit, i n : Ordo, Bd. 3 (1950), S. 19 - 28. 23 Vgl. hierzu Abschnitt 3.1. dieser Arbeit. 24 Vgl. hierzu die zusammenfassenden Uberblicke bei E. Boettcher, 1957, S. 4 ff., u n d G. Kleinhenz, 1970, S. 28 ff., insbesondere S. 29 f. 25 Vgl. hierzu v o r allem H. Lampert (1980, S. 5 f. u n d 25 ff.), der zum einen

1.2. Begriffsdeutungen

19

Nun läßt sich natürlich nicht bestreiten, daß die Industrialisierung nicht nur eine technisch-ökonomische, sondern auch eine sozial-kulturelle Revolution beinhaltete, und daß beides ein unerträgliches Maß an gesellschaftlicher Desorientierung und Desorganisation hervorrief. W i dersprochen werden muß jedoch der daraus entwickelten Auffassung, daß soziale Unsicherheit ein ausschließliches Problem industrialisierter Gesellschaften darstelle. Implizit (und häufig auch explizit) w i r d damit gleichzeitig unterstellt, daß historische und (noch) nicht industrialisierte Gesellschaften dieses Problem nicht kannten. Trotz der offensichtlichen Umwälzungen der Lebensverhältnisse durch die Industrialisierung erscheint es jedoch bereits aus logischen Gründen nicht zulässig, aus der Wahrnehmung einer ungesicherten Gegenwart auf das Vorhandensein einer gesicherten Vergangenheit zu schließen. Genau das geschieht aber bis heute, und es ist zu vermuten, daß ein wichtiger Grund für das Fehlen von Darstellungen der sozialen Sicherung i n vorindustriellen Gesellschaften i n eben dieser u n k r i t i schen und kurzfristig-gegenwartsbezogenen Sichtweise liegt. Bevor i m einzelnen dargelegt wird, daß auch nicht-industrialisierte Gesellschaften einen Bedarf an Maßnahmen sozialer Sicherung haben, soll zunächst die behauptete Begrenzung der sozialen Sicherung auf industrialisierte Gesellschaften anhand einiger repräsentativer Beispiele belegt werden. Ausgewählt wurden zu diesem Zweck zwei vielzitierte Arbeiten von Hans Achinger und Gerhard Weisser, die beide die wissenschaftliche und politische Diskussion i n der Bundesrepublik über Probleme sozialer Sicherung in hohem Maße beeinflußt haben. Ergänzt werden mußte die Analyse durch die Erörterung eines neueren Werkes, i n dem sich Franz-Xaver Kaufmann i n enzyklopädischem Stil mit der Entstehung von Begriff und Idee der Sicherheit (einschließlich des Begriffs der sozialen Sicherheit) auseinandergesetzt hat. Schließlich w i r d noch ein Aufsatz von Gaston V. Rimlinger referiert, u m zu zeigen, daß die ausschließliche Zuordnung der sozialen Sicherung zur Industrialisierung auch außerhalb des deutschen Sprachraums zu finden ist. Es ließen sich unschwer weitere Beiträge nachweisen, die dasselbe Interpretationsmuster der sozialen Sicherung zugrunde legen. Dies würde zwar die W i l l k ü r der hier vorgenommenen Auswahl etwas abmildern, aber andererseits zu unnötigen Wiederholungen zwingen. Da darauf hinweist, daß fast alle auf die industrielle Arbeitswelt des 19. u n d des frühen 20. Jahrhunderts bezogenen Definitionen der Sozialpolitik auf entwickelte Industriegesellschaften nicht mehr anwendbar sind, u n d der zum anderen ausführt, daß bereits lange v o r der Industrialisierung sozialpolitische Maßnahmen zum A b b a u oder zumindest zur M i l d e r u n g gesellschaftlicher Ungleichheiten ergriffen wurden, die als „soziale Fragen" nach einer Lösung verlangten. 2*

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1. Der Begriff „Soziale Sicherung"

ein Anspruch auf Vollständigkeit nicht erhoben werden kann, soll auf diese Erweiterung verzichtet werden. 1.2.1. Hans Achinger (1953)

I n seinem 1953 erschienenen Werk über „Soziale Sicherheit" setzt sich H. Achinger sehr kritisch m i t Idee und Politik der sozialen Sicherung auseinander. Er beschuldigt sie insbesondere, aus einem wirklichkeitsfremden Individualprinzip heraus „ i n einem ständigen Kampf gegen die gewachsenen gesellschaftlichen Gebilde" 2 6 zu stehen: „Das Sicherungssystem, das nur den abstrakten Einzelnen supponiert, versteht nichts von den Kräften, und herzlich wenig von den Bedürfnissen der Familie. Der Haftungsverband der Nachbarschaft und der Gemeinde ist i h m wesensfremd." 27 Nach Achinger w i r d von den Systemen sozialer Sicherung der einzelne nicht nur losgelöst von seinen sozialen Bindungen betrachtet, sie versäumten darüber hinaus, den einzelnen i n seiner Existenz zu stärken, „so daß er seine neuen und alten Risiken selbst tragen kann" 2 8 . Statt dessen bestehe eine „ K l u f t zwischen gesellschaftlichen Anstrengungen aller A r t . . . , die darauf ausgehen, die produktiven Chancen des Ganzen und des Einzelnen zu mehren und die Kräfte der gesellschaftlichen Gruppen zu stärken, und andererseits dem Vollzug von Sicherheitsleistungen, die die Hilflosigkeit geradezu prämieren" 2 9 . Zusammenfassend kommt Achinger zu dem Ergebnis, daß die etablierten Systeme sozialer Sicherung keine angemessene Reaktion auf die sozialen Probleme der Gegenwart darstellten: „Gegenüber der Gesamtbreite der politischen und gesellschaftlichen Revolutionen des Industriezeitalters, . . . erscheint die A n t w o r t der Sicherungssysteme nicht nur als auf Teile der Umwelt begrenzt, sondern auch als oberflächlich, roh und schematisch." 30 Hier geht es nun nicht u m eine Auseinandersetzung m i t Achingers Thesen, die auch nur unvollständig wiedergegeben werden konnten. Z u kritisieren wäre etwa seine überzogene Polemik gegen sozialstaatliche Prinzipien oder sein unbegrenztes Vertrauen i n die Möglichkeiten des einzelnen, sich und seine Familie selbst zu sichern. Achingers Ausführungen sind i n vielem zeitgebunden und müssen insofern als über-

28 H. Achinger, Soziale Sicherheit. Eine historisch-soziologische suchung neuer Hilfsmethoden, Stuttgart 1953, S. 127. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 126. 29 Ebd., S. 130. 30 Ebd., S. 124.

Unter-

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holt angesehen werden. 31 Trotz aller Vorbehalte i m Detail kann Achingers Arbeit insgesamt doch als Bestätigung der i m letzten Abschnitt skizzierten sozialpolitischen Reduktion der sozialen Sicherheit gelten. Entgegen seiner Absicht widerlegt Achinger nicht die Idee der sozialen Sicherheit, sondern eine sozialpolitische Praxis, die diese Idee mittels Zentralisierung und Bürokratisierung verwirklichen w i l l . Wichtiger als die inhaltliche K r i t i k ist für die hier beabsichtigte Untersuchung die Frage nach der Deutung, die Achinger dem Problem der sozialen Sicherung gibt, vor allem die Frage nach ihrer „Verortung" i m historisch-gesellschaftlichen Prozeß. Bereits aus dem Untertitel von Achingers Werk: „Eine historisch-soziologische Untersuchung neuer Hilfsmethoden" 3 2 geht hervor, daß Idee und Politik der sozialen Sicherung für Achinger ein Produkt der jüngeren Geschichte sind. Die Idee der Sicherheit sei „Erbe der Aufklärung", die die Gottgegebenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse bestritt und den Glauben an die Vernunft jeden Menschens und an die Möglichkeit allgemeinen Fortschritts verkündete. 33 Die Politik der sozialen Sicherung entfalte sich i m 19. und 20. Jahrhundert als Antwort auf die Not der Industriearbeiter. Nicht dieser Interpretation w i r d hier widersprochen, sondern der nicht überzeugend begründeten Einschränkung des Problems der sozialen Sicherung auf das Industriezeitalter: „Das Streben nach sozialer Sicherung . . . beruht auf durchgreifenden Veränderungen i n der Lebensform seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die schrittweise Auflösung des gesellschaftlichen Gefüges der vorausgegangenen Zeit . . . bedeutet zunächst einen ebenso fortschreitenden Verlust an psychologischen und materiellen Sicherheiten und eröffnet die Suche nach neuen Mitteln, u m eine neue dauerhafte Lebensform zu gestalten." 34 Der Glaube an die Wohlgeordnetheit geschichtlicher Lebensformen, die soziale Unsicherheit scheinbar nicht kannten, verleitet Achinger schließlich zu der Klage, daß die Hoffnung aufgegeben scheint, „ W i r t schaft und Gesellschaft dem früheren Stadium wieder anzunähern, wo die natürliche Verteilung der Einkommen einem weit größeren Teil der Menschen gestattete, aus eigener Kraft zu existieren und auch für die heute abgespaltenen Risiken allein aufzukommen" 35 . 31 Bereits wenige Jahre später äußerte sich derselbe A u t o r wesentlich differenzierter: H. Achinger, Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, F r a n k f u r t / M . 1971 (erstmals erschienen 1958). 32 Hervorh. v. M. P. 38 Vgl. H. Achinger, 1953, S. 17 ff. 34 Ebd., S. 124. 35 H. Achinger,, 1953, S. 133.

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1. Der Begriff „Soziale Sicherung"

Entgegen Achingers Auffassung w i r d i n dieser Arbeit davon ausgegangen, daß ein Streben nach sozialer Sicherung auch und gerade i n nicht-industrialisierten Gesellschaften festzustellen ist. Der Unterschied zu industrialisierten Gesellschaften besteht nicht i m Fehlen eines Bedürfnisses nach sozialer Sicherheit, sondern i n den grundsätzlich andersgearteten Formen seiner Verwirklichung. 1.2.2. Gerhard Weisser (1956)

I n seinem erstmals 1956 i m Handwörterbuch der Sozialwissenschaften erschienenen und seither vielzitierten A r t i k e l „Soziale Sicherheit" 36 gibt G. Weisser eine Begriffsbestimmung von „Sozialer Sicherheit" bzw. „Sozialer Sicherung", die aus seiner Definition der Sozialpolitik abgeleitet ist. Während „Sozialpolitik" alle Maßnahmen umfasse, die generell die Beeinflussung der Lebenslage sozial schwacher Gesellschaftsgruppen bezwecken, gehe es bei der „Sozialen Sicherung" i n erster Linie u m jene sozialpolitischen Maßnahmen, die „dem Schutz der Lebenslage vor bestimmten Gefahren ihrer Verschlechterung dienen" 37 . Weisser unterscheidet i m folgenden einen engeren und einen weiteren Begriff der sozialen Sicherheit. Der engere beinhalte nur die Sicherung des Einkommens i m Falle von Krankheit, Unfall, dauernder Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und Alter. Der weitere Begriff schließe dagegen auch indirekt wirkende Maßnahmen ein wie Beschäftigungspolitik, kommunale Entwicklungspolitik, Gesundheitspflege usw. 38 Hier interessiert wieder nicht so sehr die inhaltliche Konkretisierung, die Weisser für den Begriff „Soziale Sicherheit" anbietet. Immerhin bestätigt sie die bereits konstatierte Unterordnung der sozialen Sicherung unter die moderne (staatliche) Sozialpolitik. Wichtiger ist jedoch die Frage, ob die Deutung, die Weisser dem Problem der sozialen Sicherung gibt, offen ist für eine Übertragung auf nicht-industrialisierte Gesellschaften. Anhand des hier analysierten Textes läßt sich diese Frage nicht bejahen. I n seinen Ausführungen zur Geschichte der sozialen Sicherung geht nämlich auch Weisser nicht weiter zurück als bis zum Prozeß der Industrialisierung. Er schildert das Elend des Proletariats, die Entstehung der Arbeiterbewegung und das Zusammentreffen von christlichhumanitären und machtpolitischen Motiven als entscheidende Vorbedingungen für Maßnahmen der sozialen Sicherung. 39 Wie sehr Weisser 38 G. Weisser, Soziale Sicherheit, in: Handwörterbuch der Sozial Wissenschaften, Bd. 9, Stuttgart—Tübingen—Göttingen 1956, S. 396 - 412. 37 Ebd., S. 396 (Hervorh. i. Orig.). 38 Vgl. ebd., S. 396. 39 Vgl. ebd., S. 398 f.

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soziale Sicherung mit der Industrialisierung verknüpft sieht, läßt sich schließlich daran erkennen, daß er die Existenz eines „Gesetz(es) der Parallelität zwischen den Prozessen der Industrialisierung und der sozialen Sicherung" 40 behauptet. 1.2.3. Franz-Xaver Kaufmann (1970)

I n seiner 1970 veröffentlichten Habilitationsschrift „Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem" 4 1 analysiert Kaufmann i m Rahmen einer breit angelegten Untersuchung Geschichte und aktuelle Bedeutung des Begriffs „Sicherheit". Da es ihm insbesondere u m eine kritische Klärung dessen geht, was heute unter dem Schlagwort „soziale Sicherheit" verstanden wird, 4 2 kann auf die Darlegung wichtiger Thesen aus Kaufmanns Arbeit für die hier beabsichtigte Auseinandersetzung mit dominierenden Deutungen von „Sozialer Sicherheit" bzw. „Sozialer Sicherung" nicht verzichtet werden. Kaufmann setzt an den Anfang seiner Ausführungen die Feststellung, daß das Streben nach Sicherheit eine „universale menschliche Eigenschaft" sei: „es lassen sich immer und überall menschliche Verhaltensweisen finden, als deren adäquate Interpretation ein ,Streben nach Sicherheit' anzusehen ist" 4 3 . Trotz dieser anthropologisch begründbaren Universalität werde das »Streben nach Sicherheit 4 erst i m 20. Jahrhundert ein Gegenstand von allgemeinem und wissenschaftlichem Interesse. Die „Thematisierung" des Sicherheitsproblems beginne i n den Vereinigten Staaten i n den Jahren der Weltwirtschaftskrise, i n Deutschland sogar erst nach dem totalen Zusammenbruch am Ende des Zweiten Weltkrieges. 44 Für Kaufmann ergibt sich hier ein „Paradox von Universalität und beschränkter Aktualität des Strebens nach Sicherheit" 45 . Entscheidend für die weitere Behandlung des Sicherheitsthemas bei Kaufmann ist nun, daß er i m folgenden seine Aufmerksamkeit vorrangig der Erklärung dieses von i h m beschriebenen Paradoxons widmet. Die Universalität des Strebens nach Sicherheit t r i t t dabei immer mehr i n den Hintergrund, es interessiert nur noch das „Phänomen, daß ein seit Anbeginn i m deutschen Wortschatz zu findendes Wort (sc. „Sicher-

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Ebd. (im Original gesperrt). F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches u n d sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 1970. 42 Vgl. hierzu vor allem ebd., S. 106 - 150. 43 Ebd., S. 10. 44 Vgl. ebd., S. 13 ff. 45 Ebd., S. 10. 41

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heit") . . . plötzlich nicht nur zum politischen, sondern auch zum wissenschaftlichen Modebegriff w i r d " 4 6 . Diese Beobachtung liegt der zentralen These von Kaufmanns Werk zugrunde. Sie besagt, daß „Sicherheit" ein gesellschaftlicher Wert geworden sei, und zwar nicht ein Wert schlechthin, sondern eine „Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften" 47 . Die i m folgenden ausführlich belegte Aufwertung von „Sicherheit" w i r d von Kaufmann zurückgeführt auf eine allgemeine Unsicherheit des Lebens i n hochdifferenzierten Gesellschaften, die sich äußere i n wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit, i n Unsicherheit der Orientierung und schließlich i n Selbstunsicherheit des modernen Menschen. 48 Die wichtigste Ursache dieser allgemeinen Unsicherheit bestehe i m „Verlust vorgegebener Umwelt". Dieser Verlust bewirke primär „eine Unsicherheit der Orientierung, die das Verhältnis zwischen äußeren Sicherheitsvorkehrungen und innerer Beruhigung stört" 4 9 . Die „Unsicherheit des modernen Menschen" sei weder auf seine erhöhte Existenzgefährdung noch auf „Verweichlichung" zurückzuführen, „sondern auf eine sehr tiefgreifende Veränderung der gesellschaftlich vermittelten Existenzbedingungen, die die herkömmliche Form psychischer Stabilisierung an sichtbaren Außengaranten (z. B. einer vertrauten Umwelt, Erg. v. M. P.) i n zunehmendem Maße verunmöglichen" 50 . Kaufmann hält den Prozeß strukturellen Wandels der Gesellschaft, der die beschriebene Unsicherheit erzeugt habe, für irreversibel. Eine Rückkehr zu „vorneuzeitlichen Sorge verbänden" sei weder möglich noch wünschenswert (wegen deren „geistiger und materieller Enge"). 51 „Sicherheit" i n einem umfassenden Sinne könne unter den vorherrschenden Bedingungen auch durch eine ausgebaute Sozialpolitik nicht erreicht werden: „Die Maßnahmen der sozialen Sicherung bilden i m günstigsten Falle ein „sicheres" System, das zuverlässig vor genau definierten Gefahren schützt . . . (sie) vermögen keine totale Daseinsstabilisierung zu vermitteln." 5 2 Da also einerseits das Rad der Geschichte nicht zurückgedreht werden könne, da andererseits auch eine umfassende Politik sozialer Sicherung keine vollkommene Sicherheit gewähre, verbleibt für Kaufmann nur die Möglichkeit, „Sicherheit" als vom einzelnen zu erbringende 46 47 48 49 50 51 52

Ebd., S. 16. Vgl. den U n t e r t i t e l v o n Kaufmanns Werk. Vgl. F . - X . Kaufmann, 1970, S. 16 ff. Ebd., S. 255. Ebd., S. 361. Ebd., S. 359. Ebd., S. 264.

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Leistung, als „Leistung des individuellen Bewußtseins" 53 anzustreben. Der Abbau von Unsicherheit ist nach dieser überraschend unsoziologischen Version nicht mehr durch Reformen i n Politik und Gesellschaft herbeizuführen, die Lösung des Sicherheitsproblems w i r d statt dessen zur Aufgabe jedes einzelnen. 54 I m Rahmen dieser Arbeit ist eine kritische Auseinandersetzung mit Kaufmanns wichtigen Thesen und Schlußfolgerungen in der gebotenen Gründlichkeit und Ausführlichkeit nicht zu leisten. Darüber hinaus konnte seine Argumentation auch nur verkürzt wiedergegeben werden, so daß eine Diskussion auf dieser Basis Kaufmanns differenzierten Darlegungen nicht gerecht würde. Hier soll daher wiederum nur der Frage nachgegangen werden, ob die Deutung, die Kaufmann dem Problem der sozialen Sicherung gibt, Ansatzpunkte liefert für eine Analyse dieses Problems i n nicht-industrialisierten Gesellschaften oder ob sie diese Möglichkeit ausschließt. Zunächst ist zu beachten, daß Kaufmann das Sicherheitsthema nicht (wie sonst üblich) explizit i m Zusammenhang m i t dem Industrialisierungsprozeß erörtert. Kaufmann unterscheidet daher zwar nicht zwischen vor- bzw. nicht-industriellen und industrialisierten Gesellschaften, aber auch bei i h m findet sich eine ähnliche Dichotomie. Statt der Industrialisierung dient Kaufmann jedoch der Grad gesellschaftlicher Differenzierung 55 als K r i t e r i u m der Unterscheidung. Er zieht einen deutlichen Trennungsstrich zwischen ganzheitlichen, traditionalen, wenig differenzierten Gemeinschaften einerseits und neuzeitlichen, hochdifferenzierten Gesellschaften andererseits. 58 „Sicherheit" w i r d zum Problem und dadurch auch zum gesellschaftlichen Wert erst nachdem und weil sich hochdifferenzierte Gesellschaften herausgebildet haben — so läßt sich die zentrale These Kaufmanns zusammenfassen. 57 Primäre Ursache der allgemeinen (und damit auch der sozialen) Unsicher«

Ebd., S. 361 ff. Kaufmann plädiert daher auch durchaus konsequent nicht für ein Mehr an Sozialleistungen, sondern für erhöhte Bildungsinvestitionen, u m so Handlungsfähigkeit u n d Selbstsicherheit des einzelnen zu steigern (vgl. ebd., S. 363). 55 Der etwas abstrakte Begriff der gesellschaftlichen Differenzierung bezeichnet i n der Soziologie einen langfristigen Entwicklungsprozeß, i n dem aus kleinen, homogenen sozialen Gebilden durch zunehmende Arbeitsteilung, soziale Schichtung u n d weitere strukturelle Wandlungen schließlich immer größere, heterogene u n d komplexe Gesellschaften entstehen. Vgl. z. B. W. Bernsdorf (Hg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1969, S. 187 - 189. 56 Vgl. F.-X. Kaufmann, 1970, insbesondere S. 190 - 199. 57 Vgl. ebd., S. 264: „,Soziale Sicherheit' u n d ,Geborgenheit 4 , wie es sie unter gemeinschaftlichen' Lebensverhältnissen, also etwa dem alteuropäischen ,oikos' gegeben hat, d. h. die von einer personell homogenen Gruppe i m Rahmen ihrer Möglichkeiten u n d Grenzen geleistete totale Daseinsstabilisierung ihrer Gruppenangehörigen, ist unter gesellschaftlich differenzierten Verhältnissen nicht mehr möglich" (im Original gesperrt). 64

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1. Der Begriff „Soziale Sicherung"

heit des modernen Menschen ist aus dieser Sicht der fundamentale strukturelle Wandel der Gesellschaft seit Beginn der Neuzeit. Für Kaufmann „ist die gesellschaftliche Differenzierung derjenige Realprozeß, der die »soziale Sicherheit 4 des unter personell homogenen und kleinräumigen Verhältnissen lebenden Menschen zerstört hat" 5 8 . Festzuhalten bleibt hier, daß auch Kaufmann wie selbstverständlich davon ausgeht, daß vorindustrielle Sozialordnungen einen beständigen Zustand „sozialer Sicherheit 44 garantierten. Er glaubt vermutlich, diese Annahme machen zu müssen, u m seine dargelegte These, daß „Sicherheit 44 ein gesellschaftlicher Wert erst seit Beginn der Neuzeit geworden sei, überzeugender begründen zu können. Dabei verzichtet Kaufmann andererseits darauf, die behauptete Stabilität und Sicherheit historischer Gemeinschaften und ihrer M i t glieder i m einzelnen zu belegen. Er weist nur i n einer Fußnote darauf hin, daß es i h m i m Rahmen seiner Studie nicht möglich war, jene sozialen Regelmechanismen darzustellen, die derartigen überschaubaren und weitgehend geschlossenen Gruppen die Aufrechterhaltung ihres eigenen Gleichgewichts wie jenes ihrer Gruppengenossen erlaubten. 59 Dieser Verzicht muß erstaunen, wenn man bedenkt, welche Bedeutung die Annahme eines umfassend gesicherten Daseins i n vorneuzeitlichen Gesellschaften i n Kaufmanns Begründungszusammenhang einnimmt. Für die hier beabsichtigte Untersuchung ergibt sich damit als Ergebnis, daß Kaufmanns Studie keinen Zugang für eine Analyse der sozialen Sicherung i n vorindustriellen Gesellschaften bietet. Wie die bereits referierten Autoren setzt auch Kaufmann voraus, daß i n diesen Gesellschaften soziale Sicherheit von vornherein 'gegeben ist; damit erübrigen sich Fragen nach den Bedingungen, Formen und Grenzen dieser Sicherheit. 1.2.4. Gaston V. Rimlinger (1968)

Die Deutung von „Sozialer Sicherung 44 als notwendiger Antwort des Staates auf mit und durch den Industrialisierungsprozeß entstandene, neuartige Risiken ist nicht auf deutsche Autoren beschränkt. 80 Diese Interpretation hat (begünstigt durch das Wirken der IAO) internationale Zustimmung gefunden, und zwar nicht nur i n den Industrieländern, sondern auch i n der sogenannten Dritten Welt. Der Aufbau von 58

Ebd., S. 240 (im Original gesperrt). Vgl. ebd., S. 359, Fußnote 120. 60 I n Deutschland dürfte jedoch nicht n u r die staatliche Politik, sondern auch die Wissenschaft früher als i n anderen Staaten auf die m i t dem T e r m i nus „Soziale Frage" umschriebenen Probleme aufmerksam geworden sein (vgl. die Bemühungen der sogenannten „Kathedersozialisten", die 1872 den „Verein für Socialpolitik" gründeten). 69

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umfassenden Systemen sozialer Sicherung w i r d inzwischen auch für Entwicklungsländer propagiert, 61 obwohl einerseits oft materielle und administrative Voraussetzungen fehlen und andererseits häufig noch traditionale Formen sozialer Sicherung bestehen, die unter Umständen weiterentwickelt werden könnten. Hier ist nicht der Ort, eine kaum modifizierte Übernahme von i n Industrieländern i n einem langwierigen Prozeß gestalteten Systemen sozialer Sicherung durch Staaten zu kritisieren, die grundverschiedene ökonomische, soziale und kulturelle Verhältnisse aufweisen. Statt dessen soll nur darauf hingewiesen werden, daß die häufig beschriebene Expansion der sozialen Sicherung auch eine transnationale Dimension enthält, nämlich die Ausdehnung von Idee und Konzept der sozialen Sicherung über die klassischen Industrieländer hinaus auf nicht bzw. noch nicht industrialisierte Regionen. Die Frage, ob und wie Entwicklungsländer die Erfahrungen der industrialisierten Gesellschaften beim Aufbau von Systemen sozialer Sicherung verwerten können, ist Gegenstand einer Studie des i n den Vereinigten Staaten lehrenden Ökonomen Gaston V. Rimlinger. 62 Diese Arbeit w i r d hier nicht wegen ihrer Ergebnisse referiert, sondern w e i l sie als gutes Beispiel gelten kann für die oben behauptete Internationalisierung einer bestimmten Deutung von „Sozialer Sicherung". Rimlinger vergleicht die historische Entwicklung der Politik sozialer Sicherung i n Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Er weist auf Gemeinsamkeiten, aber auch auf nationale Besonderheiten dieser Politiken hin. Auslöser von Maßnahmen sozialer Sicherung sei der Industrialisierungsprozeß gewesen: „Social security measures developed originally as response to the problems as well as the opportunities created by industrialization."® 3 Auch für Rimlinger steht danach der Zusammenhang zwischen Industrialisierung und sozialer Sicherung außer Frage. Es handle sich dabei nicht u m eine zufällige, sondern u m eine notwendige Beziehung: Soziale Sicherung sei eine unverzichtbare institutionelle Anpassungsmaßnahme für Länder, die sich von der Agrar- zur Industriegesellschaft entwickeln.®4 61 Vgl. als Überblick die Beiträge i n : E. M . Kassalow (Hg.), The Role of Social Security i n Economic Development. Washington 1968. Eine weltweite Ubersicht über die realisierten Programme sozialer Sicherung findet sich in: US Department of Health, Education and Weif are (Hg.), Social Security Programs Throughout the World, Washington 1981. Diese Übersicht w i r d laufend aktualisiert. 62 G. V. Rimlinger, Social Security and Industrialization: The Western Experience, w i t h Possible Lessons for the Less Developed Nations, in: E. M . Kassalow (Hg.), 1968, S. 129 - 153. 63 Ebd., S. 130.

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Nach Rimlinger w i r d eine Institutionalisierung der sozialen Sicherung erforderlich, weil mit der Industrialisierung die bis dahin garantierte Sicherheit des Familieneinkommens verloren gehe. Unter vorindustriellen, agrarischen Bedingungen bilde die Drei-Generationen-Familie eine Produktionseinheit, die nicht abhängig sei von den Einkünften eines einzigen Hauptverdieners. Gefährdet würde die Sicherheit dieser erweiterten Familie nur durch Krieg, Epidemien und Mißernten. 65 Die i n den Städten i n Mietwohnungen lebenden, auf ihren Kern geschrumpften Familien der Industriearbeiter stellten dagegen keine Produktionseinheiten mehr dar. Trotz verbreiteter Kinderarbeit war nun die Familie primär angewiesen auf das Lohneinkommen nur eines Verdieners. Dieses Lohneinkommen war jedoch i n vielfacher und zum Teil unvorhersehbarer Weise gefährdet: durch Krankheit, Verlust des Arbeitsplatzes, altersbedingte Arbeitsunfähigkeit. Da eine individuelle Vorsorge gegen diese Risiken aufgrund der geringen Einkommen nur begrenzt möglich war, mußte auf höherer, überindividueller Ebene ein M i n i m u m an sozialer Sicherung geschaffen werden. 66 Hier soll wiederum keine kritische Analyse von Rimlingers Thesen erfolgen. Beispielsweise wäre zu fragen, ob soziale Sicherung tatsächlich als notwendige Anpassung beim Übergang von Agrar- zu Industriegesellschaften gedeutet werden kann bzw. ob diese Deutung ausreicht. Zum einen stellt Rimlinger selbst fest, daß Systeme sozialer Sicherung nicht i n der Übergangsphase, sondern erst nach weit fortgeschrittener bzw. abgeschlossener Industrialisierung errichtet werden. 67 Zum anderen vermag eine Interpretation der sozialen Sicherung als Anpassungsmaßnahme nicht zu erklären, warum diese Sicherung i n „ausgereiften" Industriegesellschaften nicht nur beibehalten, sondern ständig erweitert wird. Wichtiger als diese nur angedeutete K r i t i k ist für die hier beabsichtigte Untersuchung die Frage, welche Perspektiven sich aus Rimlingers Studie für eine Analyse des Problems sozialer Sicherung i n vorindustriellen Gesellschaften ergeben. Bereits die erwähnte Charakterisierung der sozialen Sicherung als institutionelle Anpassung an die von der Industrialisierung hervorgerufenen, neuartigen wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten läßt erkennen, daß Rimlingers Verständnis von „Sozialer Sicherung" räumlich und zeitlich begrenzt und damit für eine Übertragung dieses Begriffs auf nicht-industrialisierte Gesell64 Vgl. ebd., S. 150: „Social security is a necessary institutional adjustment i n countries m o v i n g from agrarian to industrial societies." 65 Vgl. ebd., S. 130. ββ Vgl. ebd., S. 130 f. 67 Vgl. ebd., S. 146. Vgl. hierzu auch P. A . Köhler, Entstehung v o n Sozialversicherung. E i n Zwischenbericht, in: H. F. Zacher (Hg.), 1979, S. 36 f.

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Schäften nicht offen ist. Deutlicher zeigte Rimlingers Skizze der sozialökonomischen Verhältnisse vor und nach der Industrialisierung, daß er Probleme sozialer Sicherung beschränkt sieht auf Gesellschaften, die das vorindustrielle Stadium hinter sich gelassen haben. Als Ergebnis bleibt hier festzuhalten, daß auch i m außerdeutschen Sprachraum ein Interpretationsmuster nachgewiesen werden kann, das „Soziale Sicherung" als vom Industrialisierungsprozeß erzeugtes Problem begreift. Da dieser Deutung regelmäßig die Überzeugung zugrunde liegt, daß vorindustrielle Sozialordnungen durch stabile und gesicherte soziale und wirtschaftliche Verhältnisse geprägt seien, w i r d die Chance vergeben, „Soziale Sicherung" als elementares Problem zu verstehen, das sich — i n unterschiedlicher A r t und Dringlichkeit — auf jeder Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung stellt.

2. Soziale Risiken und Industrialisierung Erklärtes Ziel jeglichen Bemühens u m soziale Sicherung war und ist der Schutz des Menschen vor sozialen Risiken. Unter einem „sozialen Risiko" soll jede Gefahr verstanden werden, die der einzelne nicht vermeiden kann und deren Folgen er allein nicht zu tragen vermag. Für diese Arbeit ist nun von entscheidender Bedeutung, ob sich zeigen läßt, daß auch die Angehörigen nicht-industrialisierter Gesellschaften durch Risiken bedroht werden, deren Abwehr die Kräfte des einzelnen übersteigt, und die daher Maßnahmen sozialer Sicherung erfordern. Dieser Nachweis eines Bedarfs an sozialer Sicherung auch i n nicht-industrialisierten Gesellschaften muß geführt werden, weil — wie gezeigt — nicht selten die Auffassung vertreten wird, daß „Soziale Sicherung" entwickelt wurde als notwendige A n t w o r t auf mit und durch die Industrialisierung entstandene, neuartige Risiken, vor denen der einzelne sich und seine Familie nicht (bzw. nicht mehr) ausreichend schützen konnte. Hier soll dem entgegengehalten werden, daß zu allen Zeiten die Menschen unvorhersehbaren und schwerwiegenden Gefahren ausgesetzt waren und daß sie i m Rahmen ihrer Möglichkeiten durch „soziale Sicherung" dagegen vorsorgten. 2.1. Risikoarten Aus der theoretisch kaum zu begrenzenden Vielzahl möglicher Risiken ist i n den Industriegesellschaften nur eine relativ kleine Gruppe zum Gegenstand von Vorsorgemaßnahmen geworden. 1 Wenn sich auch nicht bestreiten läßt, daß es sich dabei überwiegend u m existentielle Risiken handelt, so zeigt die Geschichte der Sozialpolitik doch, daß hier eine Auswahl erfolgte, die nicht nur vom Ausmaß der Gefährdung des einzelnen bestimmt wurde. 2 Die heute als soziale Risiken definierten 1 Die Beschränkung auf einige „Standardrisiken" ist ein weiteres Indiz für die bereits mehrfach angesprochene Bedeutungsverengung v o n „Sozialer Sicherung" bzw. „Sozialer Sicherheit". 2 Nach Bohle!Altmann werden „Gefährdungen individueller Existenz . . . erst dann als »soziales Risiko' thematisiert, w e n n durch diese Gefährdungen die bestehende S t r u k t u r u n d Entwicklung der Gesellschaft selbst berührt werden" (F. Böhle/N. Altmann, Industrielle A r b e i t u n d soziale Sicherheit, F r a n k f u r t / M . 1972, S. 18). Diese Feststellung trifft weitgehend zu für die Entstehungsphase der (deutschen) Sozialpolitik; die seither zu beobachtende Erweiterung der zu deckenden Risiken, der zu schützenden Gruppen u n d des

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und anerkannten Sachverhalte sind nicht einfach objektiv gegeben, sie sind vielmehr das Resultat eines auch von organisierten Interessen beeinflußten, noch keineswegs abgeschlossenen Meinungsbildung- und Entscheidungsprozesses. 3 Dieser Prozeß hat i n den industrialisierten Staaten zu recht unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich des Umfangs und der Leistungsintensität der Systeme sozialer Sicherung geführt. 4 Dabei zeigen sich Differenzen nicht so sehr i m Hinblick auf den Katalog der von Maßnahmen sozialer Sicherung zu deckenden Risiken. Gefördert durch das Wirken internationaler Organisationen (wie z. B. der IAO) 5 w i r d heute i n allen Industriegesellschaften der Schutz vor bestimmten, noch zu behandelnden Standardrisiken als legitime A u f gabe der Systeme sozialer Sicherung anerkannt. Unterschiede ergeben sich jedoch bezüglich der konkreten Bestimmung dieser Risiken und des Umfangs des zu gewährenden Schutzes. So besteht beispielsweise keineswegs Einigkeit darüber, wann das Risiko „ A l t e r " vorliegt, welche Belastung damit gegeben ist bzw. welche Leistungen i n welcher Höhe beansprucht werden können.® Hier kann den vielfältigen Ursachen dieser Differenzierungen nicht nachgegangen werden. Es sollte lediglich gezeigt werden, daß selbst i n industriellen Gesellschaften der Bedarf an sozialer Sicherung keine ein für allemal feststehende, unabhängige Größe darstellt. Statt dessen ist anzunehmen, daß die jeweils gültige Auswahl der von der sozialen Sicherung zu deckenden Risiken und insbesondere ihre Definition das Produkt eines höchst komplexen Entscheidungsprozesses bilden, der Umfangs dieses Schutzes k a n n sie jedoch nicht hinreichend erklären. Dazu müssen weitere ursächliche Faktoren herangezogen werden: neben der aus dem Interesse an der Stabilisierung des wirtschaftlichen u n d gesellschaftlichen Systems folgenden Problemlösungsbereitschaft sind Unterschiede i n der Problemlösungsdringlichkeit u n d v o r allem die gewachsene Problemlösungsfähigkeit zu berücksichtigen (vgl. hierzu H. Lampert, 1980, S. 166 f.). 3 Vgl. zu den Besonderheiten dieses Prozesses H.-P. Widmaier, Sozialp o l i t i k i m Wohlfahrtsstaat, Reinbek bei Hamburg 1976, insbesondere K a p i tel I I I , S. 56 ff. 4 M a n vergleiche n u r das i m wahrsten Sinne des Wortes umfassende System sozialer Sicherung Schwedens m i t den nach w i e v o r rudimentären Ansätzen sozialer Sicherung i n den Vereinigten Staaten. Einen guten Überblick über Unterschiede u n d Gemeinsamkeiten der sozialen Sicherung i n v e r schiedenen Staaten v e r m i t t e l n die periodisch erscheinenden Zusammenstellungen des US Department of Health, Education and Weif are (Hg.): Social Security Programs Throughout the World, Washington 1937 ff. Vgl. auch die Länderberichte der „Internationalen Revue für Soziale Sicherheit"* sowie: Kommission der europäischen Gemeinschaft, Vergleichende Darstellung der Systeme der sozialen Sicherheit i n den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, Luxemburg 1970. 6 Vgl. hierzu Internationales Arbeitsamt, Der Einfluß der Übereinkommen u n d Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation, Genf 1977. 6 Vgl. auch hierzu die i n Fußnote 4 genannten Quellen.

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2. Soziale Risiken u n d Industrialisierung

nicht nur von den objektiven, technisch-ökonomischen Veränderungen durch die Industrialisierung bestimmt wird. Trotz dieser notwendigen Relativierungen läßt sich — wie bereits angedeutet — eine bestimmte Gruppe von sozialen Risiken nennen, die nach internationaler Übereinkunft einen Bedarf an Maßnahmen sozialer Sicherung begründet. Eine derartige Übereinkunft manifestierte sich i m „Übereinkommen (Nr. 102) über die Mindestnormen der Sozialen Sicherheit", das am 28.6.1952 von der Allgemeinen Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation beschlossen wurde. 7 Das Übereinkommen normiert Mindeststandards für Leistungen der sozialen Sicherung i m Falle des Eintritts der folgenden Risiken: — — — — — — — —

Krankheit (Artikel 7 - 18), Arbeitslosigkeit (Artikel 19 - 24), Alter (Artikel 25 - 30), Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (Artikel 31 - 38), Familienlasten (Artikel 39 - 45), Mutterschaft (Artikel 46 - 52), Invalidität (Artikel 53 - 58), Tod des Unterhaltspflichtigen (Artikel 59 - 64).

Ausgehend von dieser Auflistung ist nun die Frage zu beantworten, ob die genannten Risiken als Besonderheiten industrialisierter Staaten anzusehen sind, oder ob es sich u m universale, nicht an Raum und Zeit gebundene Gefährdungen des Menschen handelt, die auch i n nichtindustrialisierten Gesellschaften einen Bedarf an (wie auch immer gearteten) Maßnahmen sozialer Sicherung hervorrufen. Dabei soll an dieser Stelle auf eine ausführlichere Kennzeichnung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen dieser Sozialsysteme verzichtet werden. 8 Es geht zunächst n u r u m einige grundsätzliche, notwendigerweise pauschale Überlegungen, die den differenzierten Verhältnissen nicht immer gerecht werden können. Ein erster Blick auf den angeführten Katalog sozialer Risiken legt die Vermutung nahe, daß es sich hier überwiegend u m Gefährdungen handelt, deren Ursache i n der industriellen und kapitalistischen Produktionsweise zu suchen ist. Das scheint offensichtlich zuzutreffen bei den Risiken Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sowie Invalidität. Der Zusammenhang dieser Risiken m i t den vorherrschenden hochtechnisierten und gewinnorientierten Fertigungsprozessen läßt sich nicht leugnen. Doch auch für die Risiken Krankheit und Mutterschaft kann argumentiert werden, daß sie ihr besonderes Ge7 8

Abgedruckt in: Bundesarbeitsblatt, 1954, S. 94 - 102. Vgl. hierzu die Kapitel 5 u n d 6 dieser Arbeit.

2.. R i s i k o e n

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wicht nicht aufgrund der erforderlichen Mehraufwendungen erhalten. Gravierender ist zunächst die mit dem Eintritt dieser Risiken unter Umständen verbundene zeitweilige Arbeitsunfähigkeit und damit der Verlust von Erwerbseinkommen. Ähnlich w i r d auch „ A l t e r " vor allem dadurch zum Risiko, daß unter industriellen Arbeitsbedingungen die Erwerbschancen alter Menschen immer geringer werden. Trotz dieser nicht zu bestreitenden Beziehungen wäre es jedoch zumindest voreilig, die genannten Risiken ausschließlich den industrialisierten Gesellschaften zuzuordnen. Beeinträchtigungen der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit durch Unfall, Krankheit und A l t e r sind zu allen Zeiten feststellbar. 9 Es handelt sich hier nicht u m spezifische, nur der Industrialisierung zuzuschreibende Risiken, sondern u m universelle Gefährdungen des Menschen. Während also i m Prinzip das Auftreten eines großen Teils der sogenannten Standardrisiken weitgehend unabhängig von gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen zu erwarten ist, kann andererseits natürlich nicht bezweifelt werden, daß die Folgen eines Risikofalles ganz wesentlich von den jeweils herrschenden sozio-ökonomischen Bedingungen determiniert werden. 10 Ebenfalls ist zuzugestehen, daß die Häufigkeit des Eintritts einzelner Risiken keine Konstante darstellt, die unbeeinflußt vom sozialen Wandel bliebe. Beispielsweise dürfte sich das Risiko, Opfer eines Unfalls zu werden, seit der Industrialisierung vervielfacht haben. Unfälle hat es zwar sicher auch i n vorindustriellen Zeiten gegeben, doch durch die mit der stürmischen Entwicklung der Technik möglich gewordene Verfügung über immer größere Mengen an Energie hat dieses Risiko ohne Zweifel eine neue Dimension gewonnen. 11 Nicht zufällig ist die Gefährdung des arbeitenden Menschen durch die moderne Produktionstechnik i n vielen Ländern der erste Anstoß zum Aufbau eines Systems sozialer Sicherung gewesen.12 Die Entfaltung der Technik wäre zu einseitig gesehen, betonte man nur die durch sie geschaffenen Gefahren. Zur Vervollständigung des 9 Vgl. H. Braun, Soziale Sicherung. System u n d Funktion, Stuttgart 1972 b, S. 24. Bei Lütge findet sich der Hinweis, daß selbst das Risiko „Arbeitslosigk e i t " bereits vor der Industrialisierung aufgetreten ist (hauptsächlich verursacht durch ein starkes Bevölkerungswachstum): „ I n den alten Formen, also i n Grund- u n d Gutsherrschaften, Zünften, Dorfgenossenschaften usw., gab es i n großem Ausmaß Arbeitslosigkeit, aber sie wurde verdeckt, j a v e r steckt, sie t r a t nicht nach außen h i n i n Erscheinung" (F. Lütge, Deutsche Sozial- u n d Wirtschaftsgeschichte, 3. Aufl., Berlin—Heidelberg—New Y o r k 1966, S. 452). 10 Vgl. hierzu den nächsten Abschnitt. 11 M a n vergleiche n u r die Zahl der j ä h r l i c h i n industrialisierten Ländern bei Verkehrs- und Arbeitsunfällen Verletzten u n d Getöteten. 12 Vgl. F . - X . Kaufmann, 1970, S. 81. Kaufmann liefert auch eine ausführliche Analyse der Beziehungen v o n Technik u n d Sicherheit.

3 Partsch

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2. Soziale Risiken u n d Industrialisierung

Bildes muß auch erwähnt werden, daß die technische Entwicklung Sicherheit i n einem Maße ermöglicht hat, von dem die Menschen vorindustrieller Zeiten nur träumen konnten. Erst die Technik machte unabhängig von den Wechselfällen der Natur, denen die Menschheit seit ihren Anfängen ausgeliefert war. 1 3 Existenzbedrohende Risiken wie Dürre, Überschwemmungen, Unfruchtbarkeit des Bodens usw. haben ihre Schrecken verloren. Auch die immer drohende Gefahr des Hungers konnte i n den entwickelten Ländern durch den Einsatz der Technik gebannt werden. Der Fortschritt von Wissenschaft und Technik i m allgemeinen und der Medizin i m besonderen hat schließlich auch dazu beigetragen, die Menschen vor dem tödlichen Risiko zu bewahren, Opfer von Epidemien wie Pest und Cholera zu werden. Bekanntlich kosteten der „Schwarze Tod" und andere Seuchen, die heute ebenfalls nahezu ausgerottet sind, i m Mittelalter Millionen von Menschen das Leben. 14 Trotz der Unvollständigkeit der bisherigen Darlegungen soll an dieser Stelle als vorläufiges Ergebnis festgehalten werden: 1. Existentielle Risiken, die einen Bedarf an Maßnahmen sozialer Sicherung begründen, lassen sich auch i n nicht-industrialisierten Gesellschaften nachweisen. 2. Während bis zur Industrialisierung die geringe Kontrolle über die natürliche Umwelt Hauptquelle der sozialen Unsicherheit ist, ergeben sich seither die größten Risiken ans der allgemeinen Abhängigkeit von der technisch-ökonomischen Entwicklung. 1 5

13 Nicht zu erörtern ist hier, ob unser (technisch vermittelter) Umgang m i t der Natur (z. B. der Raubbau an begrenzten Ressourcen, die zunehmende Verschmutzung u n d Zerstörung der Umwelt) nicht i n absehbarer Zeit neue, nicht weniger existenzbedrohende Risiken heraufbeschwören w i r d . 14 Nach Schätzungen haben die Pestepidemien des 14. Jahrhunderts die Bevölkerung i n allen Teilen Europas u m mindestens ein D r i t t e l verringert (vgl. F.-W. Henning, Das vorindustrielle Deutschland 800 bis 1800, Paderborn 1974, S. 125 f.). I n absoluten Zahlen nahm die Bevölkerung Europas zwischen 1350 u n d 1400 von etwa 73 M i l l i o n e n auf 45 M i l l i o n e n ab (vgl. G. Droege, Deutsche Wirtschafts- u n d Sozialgeschichte, 3. Aufl., Frankfurt/M.—Berlin— W i e n 1979, S. 68). 15 Vgl. hierzu G. Hampel, Z u r materiellen u n d immateriellen Bedeutung der Versicherung für den modernen Menschen, in: Zeitschrift für Sozialreform, 1976, S. 458 f. Nach Hampel besteht die „Besonderheit heutiger u n d zukünftiger Risiken" darin, „daß sie nicht mehr aus Bedrohungen durch die Natur, durch Seuchen u n d Hungersnöte entstehen, sondern vorwiegend durch jene ,Organisationsfehler' bedingt sind, die aus den gesellschaftlichen Bedingungen des Lebens entstehen" (ebd., S. 459).

2.2. Risikofolgen

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2.2. Risikofolgen Die Bedrohung des einzelnen durch existentielle Risiken scheint ein nicht aufhebbarer Bestandteil menschlichen Daseins, eine universelle Konstante zu sein. Wie bereits angedeutet, ergeben sich jedoch Differenzierungen hinsichtlich des jeweils gültigen Katalogs an Risiken und vor allem hinsichtlich der Folgen eingetretener Risiken. Eine differenzierende Analyse würde vermutlich bereits i n nicht-industrialisierten Gesellschaften beträchtliche Unterschiede i n der Zusammensetzung der Risiken und bezüglich ihrer Auswirkungen feststellen. Da hier nur der Zusammenhang zwischen sozialen Risiken und der Industrialisierung untersucht wird, genügt ein grober Vergleich der Folgen dieser Risiken i n vorindustriellen und i n industrialisierten Gesellschaften. Der Eintritt von Risiken wie Krankheit und Alter führt seit der Entstehung kapitalistischer Industriegesellschaften zu schwerwiegenden, mitunter existenzbedrohenden Beeinträchtigungen der Lebenslage der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Die Auswirkungen dieser und anderer Risiken unterscheiden sich dabei von den Verhältnissen vorindustrieller Zeiten i n einem Maße, das sich mit dem Verfall traditionaler Sicherungseinrichtungen wie der sogenannten Großfamilie nicht ausreichend erklären läßt. Die Ursachen dieses qualitativen Wandels müssen hinter derartigen Phänomenen gesucht werden, die selbst nur Produkte einer fundamentaleren Umwälzung der sozialen und ökonomischen Strukturen sind. Diese alle Lebensbereiche erfassenden Veränderungen, die heute unter den Oberbegriff „Industrialisierung" subsumiert werden, sind oft und ausführlich dargestellt worden, 1 6 so daß hier eine Beschränkung auf die für das Problem der sozialen Sicherung relevanten Fakten vertretbar erscheint. Eis w i r d also verzichtet auf eine Beschreibung der demographischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklungen, die direkt oder indirekt m i t der Industrialisierung zusammenhängen. Damit soll nicht bestritten werden, daß diese Entwicklungen bedeutsam waren und sind für die spezifische Lösung, die das Problem sozialer Sicherung i n den Industriegesellschaften gefunden hat. Fragt man jedoch vorrangig nach den besonderen Ursachen sozialer Unsicherheit i n diesen Gesellschaften, dann w i r d man an erster Stelle auf den i m wahrsten Sinne des Wortes radikalen Umbruch i n der Arbeitswelt verweisen müssen. 16 Vgl. z.B. K. Borchardt, Die Industrielle Revolution i n Deutschland, München 1972; R. Braun, W. Fischer u. a. (Hg.), Industrielle Revolution, K ö l n 1972; W. Fischer, Wirtschaft u n d Gesellschaft i m Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, insbesondere S. 224 - 257; F.-W. Henning, Die Industrialisierung i n Deutschland 1800 bis 1914, Paderborn 1973.

3*

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2. Soziale Risiken u n d Industrialisierung 2.2.1. Arbeitsverfassung und soziale Sicherung

Für die soziale Sicherung relevant ist i n diesem Zusammenhang vor allem der Wandel der Arbeitsverhältnisse. Nach E. Michel gab es i n der vorkapitalistischen Zeit n u r zwei große Grundformen der Arbeitsverfassung: „1. entweder war der arbeitende Mensch Eigentümer der Produktionsmittel — dann war er frei; 2. oder der arbeitende Mensch war nicht Eigentümer der Produktionsmittel und produzierte für fremden Ertrag — dann war er unfrei. Das kapitalistische System verknüpfte nun a b e r . . . die Freiheit der Person m i t dem Nichteigentum an den Produktionsmitteln und der Nichtbeteiligung am Ertrag der Produktion. Eben dies geschah i m Lohnsystem." 17 Als Eigentümer der Produktionsmittel war der arbeitende Mensch nicht nur frei, sondern auch relativ gut gesichert, weil er die Bedingungen des Erwerbsprozesses autonom bestimmen und seinen Bedürfnissen anpassen konnte. Bis zur Durchsetzung der Gewerbefreiheit mußte er auch keine ernsthafte Konkurrenz fürchten, und das Niveau seiner Lebenshaltung hing i m Prinzip ausschließlich ab von Qualität und Umfang seiner Arbeit. Der Nichteigentümer und damit Unfreie war gleichfalls gesichert — nicht obwohl, sondern gerade weil i h m die Möglichkeit zur Selbstbestimmung fehlte. Er war eingebunden i n ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis, das zumindest ein M i n i m u m an Sicherheit gewährte, weil die Ausübung von Herrschaft traditionell zur Fürsorge für die Untergebenen verpflichtete. Die Ungesichertheit des modernen Industriearbeiters ergibt sich danach zum einen aus dem Fehlen von sicherheitstiftendem Eigentum, insbesondere an Produktionsmitteln, zum anderen aus dem Wegfall herrschaftlicher Fürsorgepflichten. Erschwerend kommt hinzu, daß i m Kapitalismus die Arbeitskraft zur Ware geworden ist. Der Preis dieser Ware, der Lohn, richtete sich auf den freien, nicht organisierten Arbeitsmärkten des Hochkapitalismus nach dem jeweils gegebenen Verhältnis von Angebot und Nachfrage. 18 Damit war das wichtigste Einkommen des eigentumslosen Arbeiters den Schwankungen eines höchst unvollkommenen Marktes unterworfen. 1 9 I m Rahmen dieser Arbeit ist es nicht erforderlich, ausführlich auf jene sozio-ökonomischen Prozesse einzugehen, die den skizzierten Wan17

E. Michel, Sozialgeschichte der industriellen Arbeitswelt, 4. Aufl., F r a n k f u r t / M . 1960, S. 116 (Hervorh. i. Orig.). Vgl. auch L. H. Adolph Geck, Die sozialen Arbeitsverhältnisse i m Wandel der Zeit, Darmstadt 1977 (Neudruck der Ausgabe B e r l i n 1931), S. 61 f. 18 Vgl. auch hierzu E. Michel, 1960, S. 116. 19 Zur Arbeitsmarktverfassung u n d Arbeitsmarktlage i m Deutschland des 19. Jahrhunderts vgl. H. Lampert, 1980, S. 64 ff.

2.2. Risikofolgen

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del der Arbeitsverhältnisse möglich machten. 20 Hier genügt es, die für das Problem der sozialen Sicherung relevanten Ergebnisse dieser Entwicklungen festzuhalten: Die Trennung von Kapital und Arbeit, die Proletarisierung großer Teile der Bevölkerung, die Entstehung einer Klasse von Menschen, die nichts als ihre Arbeitskraft besitzt und diese zu allen Bedingungen anbieten muß, u m überleben zu können. I n industriell-kapitalistischen Gesellschaften beruht damit die Existenz einer Vielzahl von Menschen auf ihrer Fähigkeit, den vom Markt diktierten Arbeitsanforderungen zu genügen. Diese Fähigkeit bestimmt das Einkommen und daher das materielle Wohlergehen des einzelnen und seiner Familie. Jede Beeinträchtigung des Arbeitsvermögens durch Krankheit, Unfall, A l t e r usw. muß dann zu einer gravierenden Gefährdung nicht nur des einzelnen, sondern seiner ganzen Familie führen. Das Risiko, vorübergehend oder dauernd den Leistungsanforderungen nicht gerecht zu werden, besteht dabei nicht nur dann, wenn die individuelle Arbeitsfähigkeit abnimmt oder gar völlig verloren geht; es ist auch da gegeben, wo bei gleichbleibender Leistungsfähigkeit die Anforderungen wachsen. Denn diese Erhöhung des Anspruchsniveaus bewirkt das Ausscheiden der „ Grenz anbieter" von Arbeitskraft aus dem Erwerbsprozeß (bei Überangebot von Arbeit), also jener, die ihre Leistung nicht mehr steigern können (z. B. gesundheitlich beeinträchtigte und/oder ältere Arbeitnehmer). Ähnliche Wirkungen zeitigt der strukturelle Wandel, soweit er bisher gefragte Qualifikationen entwertet. 2 1 Die bisherigen Ausführungen zusammenfassend kann festgestellt werden, daß das auffallendste Ergebnis des Industrialisierungsprozesses i m Hinblick auf die Arbeitswelt der radikale Wandel der Erwerbsbedingungen war, der eine ständig wachsende Klasse unselbständig Erwerbstätiger entstehen ließ. Die physische und soziale Existenz der Angehörigen dieser Klasse hängt unter kapitalistischen Bedingungen ab von ihrer Fähigkeit, ihre Arbeitskraft gegen Lohneinkommen zu veräußern. Maßnahmen sozialer Sicherung müssen daher i n erster Linde darauf abzielen, die Arbeitsfähigkeit zu erhalten sowie den Entgang von Arbeitseinkommen und/oder die Entstehung besonderer 20 Z u nennen w ä r e n der starke Zuwachs der Bevölkerung v o r u n d w ä h rend der industriellen Revolution, die Agrarreform („Bauernbefreiung") sowie die Durchsetzung der Gewerbefreiheit u n d der Freizügigkeit. Vgl. dazu vor allem F. Lütge, 1966, S. 419 ff., S. 431 ff. u n d S. 445 ff. Vgl. auch die statistisch abgesicherte u n d übersichtliche Darstellung v o n F.-W. Henning, 1973, S. 17 ff., S. 37 ff. u n d S. 59 ff. 21 Z u r „Dequalifizierung" als (neues) soziales Risiko vgl. F. BöhlelN. Altmann, 1972, sowie H.-J. Merk, Sozialpolitische Analyse betrieblicher Dequalifikation — E i n Beitrag zur Begründung eines „neuen sozialen Risikos", Diss. Augsburg 1980.

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2. Soziale Risiken u n d Industrialisierung

Ausgaben, insbesondere zur Wiederherstellung des Arbeitsvermögens, auszugleichen. 22 2.2.2. Erwerbstätigkeit und soziale Sicherung

Neben den offensichtlichen Veränderungen der Erwerbsbedingungen i m und durch den Industrialisierungsprozeß vollzogen sich weitere Entwicklungen, die gleichfalls bedeutsam sind für die spezifische Ausprägung des Problems der sozialen Sicherung i n den modernen Gesellschaften. Zu erwähnen ist i n diesem Zusammenhang vor allem das mit seinen vielfältigen Konsequenzen bisher wenig beachtete Phänomen, daß i n fast allen industrialisierten Staaten i m Grunde niur noch eine Minderheit der Bevölkerung am Erwerbsprozeß teilnimmt. 2 3 Dagegen ist unter vorindustriellen Bedingungen — abgesehen von einer zahlenmäßig kleinen Herrschaftselite — i m Prinzip die gesamte Bevölkerung (einschließlich Kinder und Alte) an der materiellen Daseinssicherung beteiligt. Vielleicht ist dieser i n der Geschichte beispiellose Rückgang des A n teils der Erwerbstätigen nicht sofort erkannt worden, weil i n den A n fängen der Industrialisierung die Frauen- und Kinderarbeit nicht ab-, sondern zunächst zugenommen hat. Doch inzwischen kann durchaus als Charakteristikum der kapitalintensiven, industriellen Produktionsweise angesehen werden, daß ein immer kleiner werdender Teil der Bevölkerung den Lebensunterhalt für alle sicherstellen kann, 2 4 und daß ein entsprechend größerer Teil von der täglichen Arbeit befreit ist (bzw. befreit wird, falls er den hohen Anforderungen nicht genügt). Von einer „Befreiung" kann dabei i n einem doppelten Sinne gesprochen werden: Zum einen ist sie ohne Zweifel gleichzusetzen mit einer Entlastung des einzelnen vom Zwang, das ganze Leben für die eigene 22 Vgl. D. Farny, Sozialversicherung, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft (HdWW), Bd. 7, 1977, S. 161. 23 I n den meisten Industriegesellschaften liegt der A n t e i l der Erwerbspersonen an der Gesamtbevölkerung zwischen 40 u n d 50% (vgl. z . B . eine entsprechende Übersicht in: Schweizerische Bankgesellschaft (Hg.), Soziale Sicherung i n 10 Industrieländern, Zürich 1977, S. 3). Beispielsweise betrug die sogenannte Erwerbsquote 1980 i n der Bundesrepublik Deutschland 44,9% (vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1981, Stuttgart u n d Mainz 1981, S. 94). F ü r ältere Zahlen siehe Statistisches Bundesamt, Bevölkerung u n d Wirtschaft 1872 - 1972, Stuttgart u n d Mainz 1972, S. 140. 24 Diese Tatsache w i r d n u r dadurch nicht offensichtlich, daß i n den letzten 100 bis 150 Jahren z. B. i n Deutschland die tägliche, wöchentliche, Jahresu n d Lebensarbeitszeit nahezu halbiert wurde [vgl. R. Meinert, Die Entwickl u n g der Arbeitszeit i n der deutschen Industrie 1820 - 1956, Münster 1958. Nach dieser Untersuchung schwankte z. B. die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit i m Zeitraum v o n 1830 bis 1860 zwischen 14 u n d 16 Stunden; die wöchentliche Arbeitszeit belief sich i m selben Zeitraum auf 80 bis 85 Stunden (vgl. ebd., S. 5)].

2.2. Risikofolgen

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physische Existenz sorgen zu müssen. Zum anderen handelt es sich aber auch u m eine Befreiung der industriellen Unternehmen von der Pflicht, noch nicht, nur eingeschränkt oder nicht mehr v o l l leistungsfähige Personen beschäftigen und entlohnen zu müssen. Da die Leistungsanforderungen laufend zugenommen haben, kommt diesem Freisetzungsgrund wachsendes Gewicht zu. Für den einzelnen ist die Nichtteilnahme am Arbeitsprozeß nicht i n jedem Fall eine erwünschte Entlastung, sie kann auch den Verlust ökonomischer Sicherheit, sozialer Beziehungen und psychischer Stabilität bedeuten. Für die Gesellschaft i m allgemeinen und die soziale Sicherung i m besonderen ergibt sich als wichtige Konsequenz der entwickelten industriell-kapitalistischen Produktionsweise, daß nicht nur der Besitz oder Nicht-Besitz von Produktionsmitteln Schicht- oder klassenbildend w i r k t und besondere Maßnahmen des Schutzes der abhängig Beschäftigten erfordert. Es werden darüber hinaus auch soziale Differenzierungen sichtbar zwischen jenen, die ihren Lebensunterhalt durch eigene, vom Markt vergütete Arbeit sichern können, und jenen, denen diese Möglichkeit vorübergehend oder auf Dauer verwehrt ist: es kommt zu der selten registrierten, i n historischer Betrachtung aber durchaus ungewöhnlichen Aufteilung der Bevölkerung i n die Gruppe der Erwerbstätigen einerseits und i n die inzwischen bereits größere Gruppe der Nicht-Erwerbstätigen andererseits. 25 Daß diese Gruppenbildung nicht übersehen werden darf, daß sie für die Gesamtgesellschaft nicht folgenlos bleibt, das belegen die bisher nicht bewältigten Identitätskrisen und Integrationsschwierigkeiten der Noch-nicht-Erwerbstätigen, insbesondere der Jugend, und der Nichtmehr-Erwerbstätigen, der alten Menschen. Ohne allzusehr zu übertreiben, kann behauptet werden, daß Jugend und Alter m i t ihren spezifischen Problemen soziale Phänomene des Industriezeitalters sind. Zwar gab es natürlich Kindheit und Jugend einerseits sowie Alter andererseits auch i n vorindustriellen Gesellschaften, doch sie bildeten keine eigenständigen Phasen i n der Biographie des einzelnen, keine Lebensabschnitte mit genau markierten Grenzen. 26 25 Diese Differenzierung ist dem einzelnen k a u m bewußt, w e i l er i m Laufe seines Lebens i n der Regel beiden Gruppen (zu unterschiedlichen Zeiten) einm a l angehört. Für i h n w i r d allenfalls der Übergang v o n einer Gruppe i n die andere zum Problem. 28 Abgesehen w i r d hier von den sogenannten „Altersklassen" i n archaischen Gesellschaften, d. h. Zusammenschlüssen v o n Personen gleicher A l t e r s stufe (und gleichen Geschlechts). Diesen Altersklassen sind fast immer bestimmte Aufgaben übertragen (z. B. die Kriegsführung den erwachsenen Männern, die Rechtsprechung den Alten), deren Erfüllung sie i n die j e w e i lige Gesamtgesellschaft integriert (vgl. zu Begriff u n d Formen der A l t e r s klassen: W. E. Mühlmann, Altersklassen, in: W. Bernsdorf (Hg.), 1969, S. 14 f., sowie R. Thurnwald, Werden, Wandel u n d Gestaltung v o n Familie, V e r -

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2. Soziale Risiken u n d Industrialisierung

Während der Eintritt ins Erwerbsleben aufgrund unterschiedlich langer Ausbildungszeiten keine einheitliche Trennlinie zwischen Jugendphase und Erwachsenendasein zieht, 27 ist der Beginn der Altersphase durch das Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß sehr viel eindeutiger bestimmt. 28 Dabei ist zu beachten, daß m i t der (sozial-)politischen Festlegung einer objektiven Altersgrenze A l t e r als „typisierte Invalidität" 2 9 erst geschaffen wird. Unabhängig vom individuellen Gesundheitszustand w i r d der einzelne beim Erreichen der Altersgrenze aus dem Arbeitsprozeß entlassen und der sozialen Schicht der A l t e n zugeteilt. „Altern" ist damit viel mehr als ein rein biologischer Vorgang. Chr. v. Ferber betont, daß es sich hier i m K e r n u m einen soziokulturellen Prozeß handelt, dem eine gesellschaftliche „Definition" des Alters entspricht. 30 Nach ν . Ferber ergeben sich hieraus wichtige Folgen für die soziale Sicherung: „Die gesellschaftliche Produktion des sozio-kulturellen Zustandes, den w i r A l t e m nennen, stellt die Alterssicherung vor die Aufgabe, ein Risiko abzudecken, das aus den gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgeht" 31 Diese Einschätzung wird hier zwar nicht ganz geteilt, w e i l bereits dargelegt wurde, daß „ A l t e r " i m Sinne von altersbedingter Arbeitsunfähigkeit ein Risiko darstellt, das i m Prinzip i n jeder Gesellschaft auftritt. Doch es läßt sich andererseits nicht bestreiten, daß Häufigkeit und Folgen dieses Risikos i n der Gegenwart sich wesentlich unterscheiden von der Situation i n historischen Gesellschaften. Zunächst ist natürlich darauf hinzuweisen, daß der Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung dazu geführt hat, „daß ein immer wandtschaft u n d Bünden i m Lichte der Völkerforschung, Berlin—Leipzig 1932 a, S. 264 ff.). Dadurch unterscheiden sie sich sehr deutlich v o n der Jugend u n d den alten Menschen i n Industriegesellschaften, die gerade durch das Fehlen einer sozial wichtigen u n d i n d i v i d u e l l sinnstiftenden F u n k t i o n gekennzeichnet sind. 27 Hier läßt sich n u r zeigen, daß die Jugendphase immer weiter ausgedehnt wurde, w e i l Schul- u n d Ausbildungszeiten ständig an Dauer zugenommen haben. 28 Seit einiger Zeit mehren sich allerdings die Bestrebungen, den einzelnen über seinen A u s t r i t t aus dem Erwerbsleben bei Vorliegen bestimmter V o r aussetzungen u n d innerhalb gewisser Grenzen frei entscheiden zu lassen (vgl. z. B. die 1972 i n der Bundesrepublik erfolgte Einführung einer „flexiblen Altersgrenze"). 29 P. A . Köhler, Entstehung v o n Sozialversicherung. E i n Zwischenbericht, in: H. F. Zacher (Hg.), 1979, S. 48. 30 Vgl. Chr. v. Ferber, Sozialpolitik i n der Wohlstandsgesellschaft, H a m b u r g 1967, S. 100. Vgl. zum Problem des Alterns i n der Industriegesellschaft z.B.: R. Tartier, Das A l t e r i n der modernen Gesellschaft, Stuttgart 1961; H. P. Tews, Soziologie des Alterns, 3. Aufl., Heidelberg 1979; H. u n d H. Reimann (Hg.), Das A l t e r , München 1974; L. u n d H. Rosenmayr, Der alte Mensch i n der Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1978. 31 Chr. v. Ferber, 1967, S. 102 (Hervorh. i. Orig.).

2.2. Risikofolgen

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größerer Teil der Bevölkerung ein Alter erreicht, in dem der physiologische Vorgang der Seneszenz ihre Leistungsfähigkeit mindert" 3 2 . Diese natürliche Leistungsminderung muß aber nicht das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nach sich ziehen. Unter Hinweis auf die internationale Arbeitsstatistik stellt Mitterauer fest, daß die Erwerbsquote der über 65jährigen i n halbindustrialisierten Staaten mehr als 60°/o, i n dominant agrarischen Staaten etwa 70 °/o betrage. Dagegen liege sie i n der Bundesrepublik Deutschland n u r bei etwa 20 °/o.33 Die Teilnahme auch alter Menschen am Arbeitsprozeß ist unter vorindustriellen Bedingungen eine Selbstverständlichkeit. Jeder ist hier verpflichtet, i m Rahmen seiner Möglchkeiten zur Sicherung des Lebensunterhalts seiner Familie und damit auch zur eigenen Versorgung beizutragen. Arbeitsleistungen von Alten, aber auch von Kindern, sind dabei nicht als Überforderungen aufzufassen, weil sie zum einen i m engeren oder weiteren Bereich der Familie erfolgen (Arbeitsstätte und Wohnraum sind noch nicht getrennt) und weil bzw. soweit zum anderen die Arbeitsanforderungen flexibel genug sind, u m das Arbeitspensum der jeweils gegebenen Leistungsfähigkeit anzupassen.34 Die technisierte Produktion i m Industriebetrieb hat diese Anpassungsfähigkeit weitgehend verloren: „Das Industriezeitalter ist, verglichen mit allen früheren Wirtschaftsformen, sehr ungeschickt i n der Verwertung halber Kräfte. I n der bäuerlichen Arbeitswelt und i n der damaligen weitverbreiteten Heimarbeit konnten jegliche Kinderarbeit, Frauenarbeit oder Teilarbeit nützlich gebraucht werden, während heute die genormte, auf bestimmter Vorbildung basierende Tätigkeit i n gewerblichen Betrieben oder i n den Büros völlig andere Ansprüche an die Arbeitsfähigkeit stellt." 3 5

82 M. Mitter auer, FamilienWirtschaft u n d A l t e n Versorgung, i n : M. Mitterauer/R. Sieder, V o m Patriarchat zur Partnerschaft. Z u m S t r u k t u r w a n d e l der Familie, 2. Aufl., München 1980, S. 180. Nach H. u n d L. Rosenmayr w a r i m vorindustriellen Deutschland v o n 1800 n u r etwa jeder 30. Einwohner älter als 65 Jahre (vgl. H. u n d L. Rosenmayr, A l t e r n u n d A l t e r , i n : Die moderne Gesellschaft, Freiburg i. Br. 1972, S. 367). Gegenwärtig hat dagegen fast jeder sechste Einwohner der Bundesrepublik das 65. Lebensjahr überschritten. Der Bevölkerungsanteil v o n Personen über 65 Jahren hat sich demnach verfünffacht gegenüber der vorindustriellen Zeit (vgl. Statistisches Bundesamt, 1981, S. 60). 88 Vgl. M. Mitterauer, 1980, S. 179 f. Diese Zahlen gelten allerdings n u r für Männer u n d für das Jahr 1962. Daß die Erwerbsbeteiligung i m A l t e r seither weiter abgenommen hat, zeigen die entsprechenden Werte für das Jahr 1980, i n dem der A n t e i l der 65jährigen u n d älteren Erwerbspersonen an ihrer Altersgruppe bei den Männern 7,4 % u n d bei Frauen 3,0 % betrug (vgl. Sfatistisches Bundesamt, 1981, S. 94). 84 Vgl. H. Braun, 1972 b, S. 26. 85 H. Achinger, 1971, S. 128.

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2. Soziale Risiken u n d Industrialisierung

Der Rückgang der Erwerbstätigkeit (insbesondere bei alten Menschen) ist allerdings nur zum Teil auf den Wandel i n der Arbeitswelt zurückzuführen. Beteiligt an dieser Entwicklung war natürlich auch der Auf- und Ausbau eines Systems der sozialen Sicherung, dessen (Lohnersatz-)Leistungen das Ausscheiden ans dem Erwerbsleben für viele erst möglich machten. Da aber ein Anspruch auf diese Leistungen i n den meisten Industrieländern Beitragszahlungen und damit Erwerbstätigkeit voraussetzt, bleibt das Grundproblem bestehen, daß länger anhaltende oder ständige Nichterwerbstätigkeit den Betroffenen (z. B. Behinderte, Hausfrauen und Mütter) die Möglichkeit nimmt, zum einen zu ihrem eigenen Lebensunterhalt zumindest beizutragen und zum anderen ein Recht auf Kompensationsleistungen bei Eintritt sozialer Risiken zu erlangen. Nicht v o l l einsatzfähig und verwertbar zu sein, w i r d daher i n den modernen Leistungs- und Erwerbsgesellschaften nicht nur zu einem Makel, sondern auch zu einem neuartigen sozialen Risiko. Selbst die Zugehörigkeit zu einer Familie vermag vor den Folgen dieses und anderer Risiken nicht i n allen Fällen zu schützen: Das vormalige Haushaltseinkommen ist längst durch ein Individualeinkommen ersetzt worden, das sich nach persönlicher Leistung und nicht nach dem Bedarf der Familie bemißt. 36 Darüber hinaus wurden nach der Errichtung eines Systems sozialer Sicherung beispielsweise i n Deutschland zunächst keine Leistungen an nichterwerbstätige Familienmitglieder gewährt. Sozialleistungen beanspruchen konnte anfangs nur, wer sich ein Anrecht im Arbeitsprozeß erworben hatte und vorübergehend oder dauernd aus dem Arbeitsprozeß herausgefallen war. 3 7 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Industrialisierung zu einer bis dahin unbekannten, strikten Trennung von Phasen der Erwerbstätigkeit und der Nichterwerbstätigkeit führte, die neben vielfältigen gesellschaftlichen Auswirkungen auch besondere Bedingungen für die soziale Sicherung geschaffen hat: „ I n der industriellen Gesellschaft stellt sich erstmalig das Problem der Verteilung des Lebenseinkommens auf die drei Lebensphasen: Kindheit und Jugend, Arbeitsalter und Lebensabend." 38 Wie Mackenroth betont hat, kann dieses Ver86

Vgl. ebd., S. 24 f. Vgl. V. Hentschel, Das System der sozialen Sicherung i n historischer Perspektive 1880 - 1975, in: A r c h i v für Sozialgeschichte, Bd. 18 (1978), S. 331. Vgl. auch H. Achinger, 1971, S. 41. Z u r nach w i e vor feststellbaren Konzent r a t i o n der (deutschen) P o l i t i k sozialer Sicherung auf die Erwerbstätigen vgl. G. Kleinhenz, Die Ausrichtung der Sozialpolitik auf das Arbeits- u n d W i r t schaftsleben als Problem einer Sozialreform, in: Zeitschrift für Sozialreform, 17. Jg. (1971), S. 321 ff. 88 W. Schreiber, Existenzsicherheit i n der industriellen Gesellschaft, in: B. Külp/W. Schreiber (Hg.), 1971, S. 281. 37

2.2. Risikofolgen

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teilungsproblem zwar individuell, nicht aber auf gesamtgesellschaftlicher Ebene durch Reservierung von Teilen des i n der Erwerbsphase erzielten Einkommens für die Zeiten der Nichterwerbstätigkeit gelöst werden. 39 Erforderlich ist statt dessen i n jeder Periode eine Aufteilung der für den Verbrauch verfügbaren Güter auf „aktive" und „inaktive" Bevölkerung. Dies kann geschehen durch eine Umverteilung der Markteinkommen, die ein i m Umlageverfahren finanziertes Alterssicherungssystem und einen Familienlastenausgleich einschließt, der diese Bezeichnung verdient. Während die soziale Sicherung der Erwerbstätigen heute keine unlösbaren Probleme aufwirft, stellt sich die Situation jener sehr viel schwieriger dar, die — ohne eigenes Verschulden — über lange Zeit oder ständig nicht erwerbstätig sind und damit weder einen Anspruch auf ein Einkommen noch auf kompensatorische Leistungen der sozialen Sicherung erwerben. Wo die Schutzfunktion der Familie nicht mehr w i r k t , sind sie auf Fürsorgeleistungen und damit auf eine Lebenshaltung verwiesen, die deutlich unter dem Standard der Erwerbstätigen liegt. Somit ergibt sich das Paradoxon, daß nicht mehr — wie i m 19. Jahrhundert — (abhängige) Erwerbstätigkeit zu materieller Not und Unsicherheit verurteilt, sondern daß i m Gegenteil Nichterwerbstätigkeit zum Kristallisationskern einer „Neuen Sozialen Frage" werden könnte. 40

89 Vgl. G. Mackenroth, Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, in: B. KülpJW. Schreiber (Hg.), 1971, S. 267 f. 40 Vgl. zur Begründung dieses Begriffs H. Geißler, Die Neue Soziale Frage, Freiburg i. Br. 1976; vgl. auch H.-P. Widmaier (Hg.), Z u r Neuen Sozialen Frage, B e r l i n 1978.

3. Elemente einer Theorie sozialer Sicherung Eine Analyse der sozialen Sicherung nicht-industrieller Gesellschaften bedarf einer theoretischen Fundierung, wenn sie die Stufe notwendiger, aber prinzipiell unvollständiger Deskription überschreiten w i l l . Vermutlich setzt jedoch bereits die Darstellung eines komplexen Sachverhalts eine theoretische Grundlage voraus, w e i l auf andere Weise eine Orientierung i m zunächst unübersichtlichen und kaum zu begrenzenden Untersuchungsbereich und eine Ordnung der vielfältigen und unterschiedlichen Beobachtungen nicht möglich erscheint. 1 Unverzichtbar w i r d die Formulierung einer Theorie i n jedem Fall spätestens dann, wenn das Beobachtete und Beschriebene erklärt, d . h . auf bestimmte Ursachen zurückgeführt werden soll. Nach Kenntnis des Verfassers ist eine allgemeine, nicht auf Industriegesellschaften beschränkte Theorie sozialer Sicherung bisher nicht entwickelt worden. 2 Das mag zum einen zusammenhängen mit der beschriebenen Tendenz, Probleme sozialer Sicherung fast ausschließlich i n industrialisierten Gesellschaften zu diagnostizieren. Zum anderen sind aber natürlich auch die Schwierigkeiten der Bildung und Begründung einer von Raum und Zeit abstrahierenden und dennoch gehaltvollen Theorie kaum zu überschätzen. Auch i n dieser Arbeit kann nicht der Anspruch erhoben werden, eine derart umfassende Theorie zu konzipieren. I n diesem Kapitel w i r d lediglich der Versuch unternommen, einige Elemente einer allgemeinen Theorie sozialer Sicherung zu benennen und einige Hypothesen zu formulieren über mögliche und notwendige Beziehungen, die diese Elemente verbinden. 1 Vgl. hierzu z. B. die K r i t i k H. Alberts an der Theoriefeindlichkeit einer dem Historismus verpflichteten Geschichtsschreibung: „Schon wer sich i n der Historiographie m i t der bloßen Rekonstruktion v o n Tatsachen, v o n Handlungen, Ereignissen u n d Entwicklungen, begnügen wollte, wäre allein für die E r f ü l l u n g dieser Aufgabe auf eine Unzahl theoretischer A n n a h m e n hypothetischen Charakters angewiesen" (H. Albert, Theorien i n den Sozialwissenschaften, in: ders. (Hg.), Theorie u n d Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, 2. Aufl., Tübingen 1972, S. 18 f.). Daß bereits unsere Wahrnehmung i n hohem Maße v o n Theorien abhängt, Interpretation i m Lichte v o n Theorien ist, betont besonders: A . Bohnen, Z u r K r i t i k des modernen Empirismus, i n : H. Albert (Hg.), 1972, S. 171 ff. 2 Z u einer die ökonomischen u n d politischen Zusammenhänge herausstellenden Theorie sozialer Sicherung i n einer industrialisierten Gesellschaft vgl. v o r allem E. Lief mann-Keil, ökonomische Theorie der Sozialpolitik, Berlin— Göttingen—Heidelberg 1961.

3.1. Definitionen

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3.1. Definitionen Eine Theorie sozialer Sicherung bedarf zunächst einer möglichst eindeutigen Definition ihres zentralen Begriffs. Diese Definition muß aber andererseits weit genug sein für die hier beabsichtigte Analyse der sozialen Sicherung i n nicht-industrialisierten Gesellschaften. Wie bereits erwähnt, wurde „Soziale Sicherung" abgeleitet aus dem Begriff „Soziale Sicherheit", der vor dem 19. Jahrhundert nicht nachgewiesen werden kann und sich erst i n den letzten 50 Jahren international durchsetzte. 3 Während i n der älteren deutschsprachigen Fachliteratur, dem internationalen Vorbild folgend, überwiegend von „Sozialer Sicherheit" gesprochen wurde, 4 dominiert i n den neueren Veröffentlichungen ganz offensichtlich die Bezeichnung „Soziale Sicherung". 5 Dieser Wandel i m Sprachgebrauch gibt Anlaß zu der Vermutung, daß heute sorgfältiger unterschieden w i r d zwischen einer Zielsetzung („Soziale Sicherheit") und den zu ihrer Verwirklichung eingesetzten Instrumenten (die sogenannten „Systeme sozialer Sicherung"). Darüber hinaus kann aber auch die These aufgestellt und belegt werden, daß gegenwärtig nicht mehr (wie i n der Sozialreformdebatte der 50er Jahre) Grundsatzfragen der sozialen Sicherheit i m Mittelpunkt stehen, sondern vorrangig Funktionsprobleme einzelner Systeme sozialer Sicherung erörtert werden. Die Tatsache, daß der Begriff „Soziale Sicherung" erst i n den letzten Jahrzehnten gebildet wurde, deutet zunächst darauf hin, daß er ein Phänomen bezeichnet, das neueren Datums ist. Tatsächlich läßt sich zeigen, daß „Soziale Sicherung" heute einen Zusammenhang ökonomischen und politischen Handelns beschreibt, der sich erst i n der jüngsten Vergangenheit als relativ autonomer Bereich aus umfassenderen gesellschaftlichen Bezügen herausdifferenziert und schließlich organisatorisch [als „System(e) sozialer Sicherung"] verfestigt hat.® I n den 3

Vgl. Abschnitt 1.1. dieser A r b e i t sowie F.-X. Kaufmann, 1970, S. 106 ff. Vgl. H. Achinger, 1953; G. Weisser, 1956; W. Schreiber, Die Einrichtungen der sozialen Sicherheit u n d ihre gesellschaftliche Funktion, i n : N. Kloten u. a. (Hg.), Systeme u n d Methoden i n den Wirtschafts- u n d Sozialwissenschaf ten, Tübingen 1964, S. 655 ff. 5 Vgl. z . B . J. H. Müller (Hg.), Fortentwicklung der sozialen Sicherung, L i m b u r g 1978; W. Ackermann, Soziale Sicherung i n der Industriegesellschaft, Bern 1980; H. Winterstein, Das System der sozialen Sicherung i n der Bundesrepublik Deutschland, München 1980. Bezeichnenderweise findet sich auch i m neu erschienenen Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft (HdWW) k e i n A r t i k e l „„Soziale Sicherheit" (im Gegensatz zu seinem Vorgänger, dem Handwörterbuch der Sozial wissenschaf ten), sondern eine Reihe v o n Beiträgen zur sozialen Sicherung bei einzelnen Standardrisiken (vgl. H d W W , Bd. 6, 1981). 8 Die Entwicklung zu einer eigenständigen „Sozialen Sicherung" ist aus dieser Perspektive nicht mehr allein als A n t w o r t auf durch die I n d u s t r i a l i sierung hervorgerufene Problemlagen („Soziale Frage") zu verstehen, son4

46

3. Elemente einer Theorie sozialer Sicherung

Industriegesellschaften ist diese Entwicklung inzwischen so weit fortgeschritten, daß „Soziale Sicherung" mit einigem Recht bestimmt werden kann als die zweckorientierte Tätigkeit van Organisationen des öffentlichen Rechts (Sozialleistungsträger), deren Aufgabe es ist, einem gesetzlich festgelegten Kreis von Personen (Anspruchsberechtigte) bestimmte Leistungen (Geld- und Dienstleistungen, aber auch Naturalleistungen wie etwa Arzneimittel) bei Vorliegen bestimmter Anspruchsvoraussetzungen (z.B. E i n t r i t t eines standardisierten Risikofalles) zu gewähren. 7 Ein vollständiges System der sozialen Sicherung umfaßt dabei neben den Zweigen der Sozialversicherung auch den Bereich der Versorgung und die Fürsorge bzw. Sozialhilfe. 8 Charakteristische Merkmale der sozialen Sicherung i n industriellen Gesellschaften sind damit zum einen ihre weit vorangetriebene Normierung oder Verrechtlichung und zum anderen ihre spezifische Institutionalisierung i n Form zweckrationaler, häufig bürokratischer Organisationen. Soziale Sicherung ist — wie H. Braun hervorhebt — i n der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft immer organisierte Sicherung. Dies bedeute, daß für die Daseinssicherung des Menschen die gleichen Strukturprinzipien maßgeblich seien, die auch i n anderen Bereichen zur Steuerung komplexer und für die Existenz der Gesellschaft zentraler Prozesse entwickelt wurden. 9 Wegen dieser Besonderheiten kann sich eine Darstellung der sozialen Sicherung seit der Industrialisierung i m Grunde beschränken auf die Erläuterung der objektiv feststellbaren (da überwiegend gesetzlich verankerten) Leistungsprinzipien und die Beschreibung der ebenfalls eindern auch als T e i l eines für die Entstehung u n d E n t w i c k l u n g moderner Gesellschaften typischen Differenzierungsprozesses, i n dem (analog zur f o r t schreitenden Arbeitsteilung i m ökonomischen Bereich) alle wichtigen sozialen Funktionen spezifischen Organisationen übertragen werden. Der Bezug zur Industrialisierung k a n n allerdings dadurch wiederhergestellt werden, daß die Verselbständigung der F u n k t i o n der Daseins vor sorge u n d ihre W a h r nehmung durch „Systeme sozialer Sicherung" interpretiert werden als n o t wendige Reaktion auf unerwünschte Folgen der vorausgegangenen Abspalt u n g u n d Emanzipation des ökonomischen als autonomes Subsystem der Gesellschaft. Z u den Voraussetzungen, Abläufen u n d W i r k u n g e n des hier n u r angedeuteten Differenzierungsprozesses vgl. v o r allem N. Luhmann, Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Köln—Opladen 1970. 7 I n A n l e h n u n g an F.-X. Kaufmann, 1970, S. 106. 8 Vgl. H. Lampert, 1980, S. 215 ff. Die Zugehörigkeit der Fürsorge zum System der sozialen Sicherung ist weniger m i t den v o n i h r erbrachten Leistungen zu begründen, sondern vielmehr m i t der Tatsache, daß sie (in der Bundesrepublik seit 1958) den Bedürftigen einen Rechtsanspruch auf H i l f e n einräumt, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen sollen. Erst dieser Rechtsanspruch stellt die Fürsorge auf eine Ebene m i t der Sozialversicherung u n d der Versorgung. 9 Vgl. H. Braun, Soziales Handeln u n d soziale Sicherheit. Alltagstechniken u n d gesellschaftliche Strategien, Frankfurt/M.—New Y o r k 1978, S. 94.

3.1. Definitionen

47

deutig bestimmbaren (da i n Organisationen verfestigten) spezifischen Institutionalisierungen der sozialen Sicherung. 10 Das entscheidende Problem einer Analyse der sozialen Sicherung vor der Industrialisierung ist dagegen darin zu sehen, daß unter vorindustriellen Bedingungen „soziale Sicherung" noch nicht als gesellschaftliches Subsystem ausdifferenziert und damit nicht unmittelbar der Erforschung zugänglich ist. Die Untersuchung muß statt dessen davon ausgehen, daß die soziale Sicherung einen nur theoretisch isolierbaren Bestandteil des allgemeinen gesellschaftlichen Prozesses bildet. „Soziale Sicherung" kann daher auch nicht eigenen, (sub-)systemspezifischen Regeln oder Prinzipien folgen, sondern sie unterliegt den für die Gesamtgesellschaft gültigen Normen. Diese Einsicht führt zu der methodisch wichtigen Konsequenz, daß das Studium der sozialen Sicherung nicht-industrieller Gesellschaften zugleich ein Studium der grundlegenden Normen, Ordnungen und Insitutionen dieser Gesellschaften selbst sein muß. Bereits bei der Definition von sozialer Sicherung muß diesen Besonderheiten Rechnung getragen werden. Soziale Sicherung darf nicht identifiziert werden m i t dem Handeln spezifischer und höchst voraussetzungsvoller Organisationen. Auch eine „kausale" Bestimmung der sozialen Sicherung durch Verweis auf einen Katalog von schwerwiegenden Risiken, die Maßnahmen der Vorsorge und des Schutzes auslösten, würde nicht weiterführen, weil A r t , Häufigkeit und Auswirkung sozialer Risiken zu sehr dem historischen Wandel unterliegen. 11 Offen für eine Anwendung auf nichtindustrielle Gesellschaften scheint nur eine Definition zu sein, die von den zeitgebundenen Anlässen und Formen abstrahiert und statt dessen die Funktion der sozialen Sicherung für den einzelnen und die Gesellschaft i n den Mittelpunkt stellt. 1 2 Vorausgesetzt w i r d dann lediglich, daß diese Funktion (im Gegensatz zu Anlässen und Formen) sozialer Sicherung nicht dem historischen Wandel unterworfen ist. Worin besteht nun aber die Funktion der sozialen Sicherung, ihre „Leistung" für den einzelnen und die Gesellschaft? Dem Begriff nach muß es sich u m eine Sicherungsleistung handeln. Zu klären bleibt dann, was das Objekt dieser Sicherung ist. I n Anlehnung an G. Weisser kann als Gegenstand sozialer Sicherung die „Lebenslage" des einzelnen und/ 10

Vgl. f ü r die Bundesrepublik z. B. H. Winterstein f 1980. Vgl. K a p i t e l 2 dieser Arbeit. 12 Vgl. i n diesem Zusammenhang die K r i t i k Lantperts an zeitbezogenen Definitionen der Sozialpolitik u n d seine Überzeugung, „daß eine Definition der Sozialpolitik, die Allgemeingültigkeit beanspruchen . . . w i l l , von k o n kreten Zielen, Grundsätzen, Objekten, M i t t e l n u n d Trägern abstrahieren u n d sich m i t Aussagen über die die praktische Sozialpolitik kennzeichnenden Zielrichtungen begnügen muß" (H. Lampert, 1980, S. 6). 11

48

3. Elemente einer Theorie sozialer Sicherung

oder sozialer Gruppen bestimmt werden. 13 A u f die anspruchsvolle theoretische Ableitung und auf die nicht weniger schwierige praktische Anwendung des von Weisser entwickelten Konzepts der Lebenslage kann hier nicht eingegangen werden. 14 Zur Verdeutlichung mag der Hinweis genügen, daß Weisser .als Lebenslage eines Menschen den „Spielraum" bezeichnet, den i h m die äußeren Umstände für die Erfüllung materieller und immaterieller Grundanliegen bieten. 15 Aufgabe und Funktion sozialer Sicherung ist es somit, den einzelnen vor Einschränkungen dieses Spielraums, d. h. vor Verschlechterungen seiner Lebenslage, zu schützen. Darüber hinaus kann es auch ein Ziel sozialer Sicherung sein, den Spielraum dort zu erweitern, wo die Lebenslage unter ein gesellschaftlich definiertes Niveau (z. B. das sogenannte „sozio-kulturelle Existenzminimum") gesunken ist.1® Der Begriff „Soziale Sicherung" ist als „Schutz vor Verschlechterungen der Lebenslage" noch nicht deutlich genug umschrieben. I n gewissen Grenzen (kann dieser Schutz nämlich durch individuelle Vorsorge erreicht werden, die üblicherweise nicht zur sozialen Sicherung gezählt wird. Außerdem ist es zur Eingrenzung und Präzisierung des Begriffs sinnvoll, „soziale Sicherung" zu beschränken auf den Schutz vor jenen Gefahren, die der einzelne aus objektiven oder subjektiven Gründen nicht vermeiden kann und deren Folgen er allein nicht zu tragen vermag. Durch eine genauere Bestimmung des „Sozialen" an der sozialen Sicherimg soll versucht werden, diesen Problemen zu begegnen. Dabei ergibt sich jedoch die Feststellung: „Das A d j e k t i v »sozial4 ist i m heutigen Sprachgebrauch unscharf und vieldeutig." 1 7 Umgangssprachlich w i r d „sozial" überwiegend als positiv bewerteter Begriff gebraucht zur Bezeichnung einer an den Bedürfnissen des Mitmenschen orientierten, wohltätigen, fürsorglichen Einstellung oder Handlungsweise. Diese Be18 Weisser versteht unter „Sozialer Sicherung" (sozialpolitische) Maßnahmen, die „dem Schutz der Lebenslage v o r bestimmten Gefahren ihrer Verschlechterung dienen" (G. Weisser, 1956, S. 396 — Hervorh. i. Orig.; vgl. auch Abschnitt 1.2.2. dieser Arbeit). 14 Vgl. hierzu G. Weisser, Bemerkungen zur anthropologischen Grundlegung der für die Sozialpolitiklehre erforderlichen Lebenslagen-Analysen, unveröffentlichtes Manuskript, K ö l n 1966; K . B. Hillen, Lebenslage-Forschung i n den Sozialwissenschaften, insbesondere i n der Sozialpolitik. D a r gestellt am Beispiel der Lebenslage v o n Arbeitnehmern nach einem Arbeitsplatzverlust, Diss. Bochum 1975. 15 Vgl. eine etwas ausführlichere Definition in: G. Weisser, Distribution, (II) Politik, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (HdSW), Bd. 2, 1959, S. 635. 1β Vgl. ders. t 1956, S. 396. 17 H. Knospe, A r t i k e l „Sozial, das Soziale", i n : W. Bernsdorf (Hg.), 1969, S. 948. Knospe unterscheidet nicht weniger als v i e r verschiedene Sinngehalte v o n „sozial".

3.1. Definitionen

49

deutung hat „sozial" jedoch erst i m letzten Jahrhundert angenommen, als sich allgemeine K r i t i k am Elend des industriellen Proletariats entzündete und zur Lösung der „Sozialen Frage" eine .„Soziale Politik" gefordert wurde. 1 8 Es ißt zumindest nicht auszuschließen, daß dieser ethische, aber auch pathetische Sinngehalt von „sozial" Pate gestanden hat, als der Begriff „Soziale Sicherheit" erstmals offizielle Verwendung fand. 19 Inzwischen gilt ein derartiges Verständnis der sozialen Sicherung als von der Entwicklung überholt. Nicht nur i n den einschlägigen Wissenschaften hat sich die Überzeugung durchgesetzt, daß „Soziale Sicherung" nicht mehr als großzügige Gabe von Vater Staat an sozial schwache Schichten interpretiert werden kann. Statt dessen besteht allgemeine Übereinstimmung, daß (bei langfristiger Betrachtung) die Empfänger von Leistungen der sozialen Sicherung diese Wohltaten auch weitgehend selbst finanziert haben und finanzieren müssen. 20 Der offensichtliche Wandel des Charakters der sozialen Sicherung legt eine Deutung von „sozial" nahe, die seit langem i n den Wissenschaften üblich ist. „Sozial" w i r d hier ohne .irgendeine Bewertung m i t „gesellschaftlich" übersetzt. Definiert man „Soziale Sicherung" i n diesem Sinne als „gesellschaftliche Sicherung", dann kann damit zum Ausdruck gebracht werden, daß „Soziale Sicherheit" zum einen immer eine (gesamt-)gesellschaftliche Leistung ist, und daß zum anderen Empfänger dieser Leistung (tendenziell) die Gesamtgesellschaft ist (und nicht mehr n u r eine sozial schwache Schicht). Die Bestimmung der sozialen Sicherung als „gesellschaftliche Sicherung" enthält schließlich auch den wichtigen Hinweis, daß neben der primär angestrebten Sicherung individueller Lebenslagen eine bedeutsame Zusatzleistung der sozialen Sicherung i n ihrem Beitrag zur Sicherung der gesellschaftlichen Ordnung besteht. 21 18

Vgl. ebd., S. 949. Es wurde bereits ausgeführt, daß der „Social Security A c t " v o n 1935 i n erster L i n i e ein Hilfsversprechen an ohne eigene Schuld Verarmte u n d V e r elendete beinhaltete (vgl. Abschnitt 1.1. dieser Arbeit). 20 Einer der ersten, der diese Einsicht i n aller Deutlichkeit aussprach, w a r W. Schreiber. Bezeichnenderweise spricht er i n einer Studie, die Konsequenzen des neuen Verständnisses f ü r die Gestaltung der Sozialpolitik aufzeigte, nicht v o n „sozialer Sicherheit", sondern v o n „Existenzsicherheit" (vgl. W. Schreiber, Existenzsicherheit i n der industriellen Gesellschaft, i n : E. Boettcher (Hg.), 1957, S. 75 - 114). 21 Auch w e n n dieser W i r k u n g der sozialen Sicherung nicht mehr so entscheidendes Gewicht zukommt w i e noch zu Bismarcks Zeiten, so ist doch auch heute k a u m zu bestreiten, daß der A u f - u n d Ausbau der sozialen Sicherung maßgeblich beigetragen hat zur Eingliederung der Arbeiterschaft i n die Gesellschaft u n d damit zum sogenannten „Sozialen Frieden" (vgl. hierzu z. B. H. Lampert, 1980, S. 268 u n d 278; vgl. auch W. Ackermann,, 1980, S. 151, der i n seiner Untersuchung zu dem Ergebnis k o m m t , „daß v o n der sozialen Sicherung erhebliche systemstabilisierende W i r k u n g e n ausgehen"). 19

4 Partsch

50

3. Elemente einer Theorie sozialer Sicherung

Für die hier beabsichtigte, nicht zeitgebundene Definition von „sozialer Sicherung" empfiehlt sich die Übernahme der wertneutralen Deutung von „sozial" als „gesellschaftlich". „Gesellschaftliche" Sicherung schließt bereits begrifflich aus, daß Formen individueller Daseinsvorsorge zur sozialen Sicherung gerechnet werden. Die Möglichkeit zur Eigenvorsorge ist jedoch insofern von Bedeutung für die soziale Sicherung, als sie über den (historisch variablen) Bedarf an gesellschaftlicher Absicherung gegen Gefährdungen der individuellen Lebenslagen entscheidet. 22 Eine i n diesem Sinn bedarfsorientierte soziale Sicherung beinhaltet damit auch eine Beschränkung auf den Schutz vor Gefahren, die der einzelne nicht vermeiden kann und deren Folgen er allein nicht zu tragen vermag. Die bisherigen Ausführungen zusammenfassend, kann „soziale Sicherung" definiert werden als: die Summe aller gesellschaftlichen oder gesellschaftlich vermittelten Regelungen, Maßnahmen und Einrichtungen, die dem Ziel dienen, den einzelnen und/oder soziale Gruppen (z. B. Familien) zu schützen vor Verschlechterungen ihrer Lebenslagen durch Gefahren, die sie nicht vermeiden können und deren Folgen sie ohne Hilfe nicht zu tragen vermögen. 3.2. Erkenntnisziele Eine wissenschaftliche Theorie ist nach allgemeinem Verständnis ein System von Aussagen, die bestimmte Sachverhalte erklären. Die zu erklärenden Sachverhalte sind Bestandteile des sogenannten „Erfahrungsobjekts" einer (empirischen) Wissenschaft, d.h. des besonderen Ausschnitts der Realität, der ihren Gegenstandsbereich bildet. Die unumgängliche Auswahl der zu erklärenden Sachverhalte geschieht durch die Festlegung des sogenannten „Erkenntnisobjekts" einer Wissenschaft, d. h. der spezifischen Fragestellung, die sie an das Erfahrungsobjekt richtet und zu beantworten sucht. 23 Die wissenschaftliche Theorie selbst kann dann als Antwort auf die das Erkenntnisobjekt konstituierenden Fragen verstanden werden. Wie jede Theorie w i r d also auch eine Theorie der sozialen Sicherung sowohl durch ihren dem Erfahrungsobjekt entnommenen Gegenstand 22 Der m i t u n t e r geäußerten Auffassung, soziale Sicherung sei erst dadurch erforderlich geworden, daß i m Zuge der Industrialisierung für große Teile der Bevölkerung die Chance zur Eigenvorsorge geschwunden sei, k a n n allerdings nicht zugestimmt werden. Individuelle Daseinsvorsorge w a r auch v o r der Industrialisierung das Privileg einer begüterten Schicht; für die überwältigende Mehrheit der Menschen gab es zu keiner Zeit eine A l t e r n a t i v e zu irgendeiner F o r m gesellschaftlicher Sicherung (vgl. hierzu Abschnitt 3.3.1. dieser Arbeit). 23 Z u der Unterscheidung v o n Erfahrungs- u n d Erkenntnisobjekt (am Beispiel der Wissenschaft v o n der Sozialpolitik) vgl. G. Kleinhenz, 1970, S. 40 f.

3.2. Erkenntnisziele

51

als auch durch ihre aus dem Erkenntnisobjekt abgeleiteten Erkenntnisziele determiniert. Der Gegenstand einer Theorie sozialer Sicherung ist i m letzten Abschnitt dieser Arbeit mittels Definition bestimmt und von anderen möglichen Gegenständen abgegrenzt worden. Zu klären ist noch, welches Erkenntnisobjekt der Theorie zugrunde liegt, m i t anderen Worten welche spezifische Fragestellung i m Rahmen der Theorie beantwortet werden soll. Grundsätzlich ist eine Vielzahl möglicher Fragen i m Hinblick auf einen komplexen Gegenstand denkbar, und damit ergibt sich auch eine Vielzahl unterschiedlicher Erkenntnisobjekte. 24 I n der Praxis des Forschens ist eine Konzentration auf eine oder einige wenige Fragestellungen nicht zu vermeiden. Es stellt sich damit aber die für den Fortschritt der Wissenschaft keineswegs nebensächliche Frage, welche Faktoren über die Auswahl einer bestimmten Fragestellung (und damit über die Nichtberücksichtigung anderer Fragestellungen) entscheiden. I n Anlehnung an Lantpert herausgestellt werden:

können als wahlbestimmende Faktoren

1. der allgemeine gesellschaftliche Auftrag an die Wissenschaft; 2. die mit dem jeweiligen Erfahrungsobjekt verbundenen Probleme und Aufgaben; 3. die Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis. 2 5 Auch bei inhaltlich unbestimmtem gesellschaftlichen Auftrag an die Wissenschaft (Freiheit der Forschung) ist demnach die Entscheidung für ein bestimmtes Erkenntnisobjekt nicht völlig beliebig. Der Freiraum des Forschers ist nicht unbegrenzt, aber immer noch so weit, daß eine subjektive, wertende Festlegung der Erkenntnisziele nicht nur möglich, sondern auch notwendig wird. 2 6 Die nun folgende Auswahl von möglichen Fragestellungen einer Theorie sozialer Sicherung ist letztlich ebenfalls nur mit individuellen Präferenzen begründbar. Ausgehend von dem i m letzten Abschnitt eingegrenzten Gegenstand einer Theorie sozialer Sicherung und von der i n dieser Arbeit beabsichtigten Analyse sozialer Sicherung i n nicht-industriellen Gesellschaften, erscheinen folgende Fragenkomplexe für eine Untersuchung fruchtbar: 24

25 26

Vgl. ebd., S. 91.

Vgl. H. Lantpert, 1980, S. 8.

Die wertende Entscheidung für ein bestimmtes Forschungsobjekt schließt jedoch die Wertfreiheit des eigentlichen Forschungsprozesses keineswegs aus (vgl. hierzu v o r allem H. Albert, W e r t u r t e i l u n d Wertbasis: Das Werturteilsproblem i m Lichte der logischen Analyse, in: ders., Marktsoziologie u n d Entscheidungslogik, Neuwied a. Rh. u n d B e r l i n 1967, S. 92 - 130). 4*

52

3. Elemente einer Theorie sozialer Sicherung

1. Welche Gefahren (Risiken und Sachverhalte) führen zu nachhaltigen Verschlechterungen der Lebenslagen? Wie groß ist jeweils das Ausmaß der Verschlechterung? Wie verändert sich die Zusammensetzung der sozialen Risiken und wie wandeln sich deren Wirkungen i m historischen Prozeß? 2. Welche gesellschaftlichen Regelungen und Einrichtungen sind grundsätzlich geeignet, Schutz vor Lebenslageverschlechterungen zu bieten? Welche Mindestanforderungen müssen erfüllt sein, u m i m Sinne der oben entwickelten Definition von „sozialer Sicherung" sprechen zu können? Wie und aufgrund welcher Determinanten kommt es zum Wandel der Regelungen und Einrichtungen sozialer Sicherung i m historischen Prozeß? 3. Wie wirken die verschiedenen Maßnahmen sozialer Sicherung? Gelingt die Aufrechterhaltung der Lebenslagen oder bleibt der Schutz ungenügend? Führt die Sicherung der Lebenslagen zu Konflikten m i t anderen bedeutsamen gesellschaftlichen Zielsetzungen? 3.3. Hypothesen I n dieser Arbeit ist eine umfassende Beantwortung aller i m letzten Abschnitt aufgeworfenen Fragen nicht zu erreichen. 27 Zwar gibt es für industrialisierte Gesellschaften eine Reihe von Darstellungen über Ursachen und Ausmaß sozialer Risiken sowie über die Maßnahmen der Systeme sozialer Sicherung. Auch die materiellen und immateriellen Wirkungen der sozialen Sicherung auf die Lebenslagen werden zunehmend erforscht. Erst i n den Anfängen befindet sich aber die wissenschaftliche Durchdringung der Anlässe, Formen und Ergebnisse sozialer Sicherung i n nicht-industriellen Gesellschaften. Bisher liegen nur einige detaillierte Monographien vor zu historischen Formen sozialer Sicherung 28 sowie vereinzelte deskriptive Studien über die soziale Sicherung bestimmter K u l t u r e n oder Epochen. 29 27 Z u dem i m ersten Fragenkomplex aufgeworfenen Problem der sozialen Risiken sind allerdings bereits i n K a p i t e l 2 dieser A r b e i t einige Hinweise gegeben worden. 28 Vgl. z. B. S. Fröhlich, Die Soziale Sicherung bei Zünften u n d Gesellenverbänden. Darstellung, Analyse, Vergleich, B e r l i n 1976; J. v. Steynitz, M i t telalterliche Hospitäler der Orden u n d Städte als Einrichtungen der sozialen Sicherung, B e r l i n 1970. 29 Vgl. z.B. M . E. Pfeffer, Einrichtungen der sozialen Sicherheit i n der griechischen u n d römischen A n t i k e unter besonderer Berücksichtigung der

3.3. Hypothesen

53

Problematischer als die lückenhafte empirische Basis erscheint jedoch i m Hinblick auf die weitere Forschung das bereits erwähnte Fehlen einer allgemeinen, nicht räumlich und zeitlich begrenzten Theorie sozialer Sicherung. Dieses Theoriedefizit erschwert nicht nur eine vergleichende Auswertung der bisher vorliegenden Untersuchungen, es beeinträchtigt auch die Chance künftiger systematischer Erkenntnisgewinnung. Vor diesem Hintergrund dürfte es für den wissenschaftlichen Fortschritt zur Zeit ergiebiger sein, einen Beitrag zur „Grundlagenforschung" zu leisten, als weiteres empirisches Material anzuhäufen. 50 I m Zentrum dieses Abschnitts steht daher der Versuch, das Phänomen der sozialen Sicherung i n nicht-industriellen Gesellschaften durch theoretische Überlegungen zu bestimmen und durch Hypothesenbildung einige Determinanten dieses Phänomens -aufzuzeigen. Nachdem i n Abschnitt 3.1. ein Begriff der sozialen Sicherung entwickelt wurde, der nicht von vornherein auf die spezifische Situation industrieller Gesellschaften beschränkt ist, sollen zunächst einige allgemeine Überlegungen angestellt werden, die eine universelle Notwendigkeit sozialer Sicherung begründen und damit eine nachträgliche Rechtfertigung der hier vorgenommenen Ausweitung des Konzepts der sozialen Sicherung liefern (Abschnitt 3.3.1.). Da ein Bedarf an Maßnahmen sozialer Sicherung nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Verwirklichung entsprechender Regelungen und Einrichtungen darstellt, sind i n einem weiteren Schritt Hypothesen zu formulieren über einige elementare Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit soziale Sicherung nicht nur notwendig, sondern auch möglich w i r d (Abschnitt 3.3.2.). 3.3.1. Zur Notwendigkeit sozialer Sicherung

Trotz der bereits mehrfach kritisierten Tendenz i n der einschlägigen Literatur, soziale Sicherung als exklusives Erfordernis und zugleich als spezifisches Produkt industrialisierter Gesellschaften zu interpretieren, finden sich doch auch Hinweise auf das Vorhandensein sozialer Risiken vor der Industrialisierung und auf Maßnahmen zu ihrer A b wehr bzw. zur Vorsorge. 31 Allerdings werden diese Bestrebungen nur Sicherung bei K r a n k h e i t , B e r l i n 1968; G. Schöpfer, Sozialer Schutz i m 16. 18. Jahrhundert. E i n Beitrag zur Geschichte der Personenversicherung u n d der landwirtschaftlichen Versicherung, Graz 1976. 80 D a m i t soll die Bedeutung empirischen Forschens nicht geschmälert w e r den. Hier w i r d lediglich dafür plädiert, zunächst eine theoretische Basis zu schaffen, die zielgerichtetes empirisches A r b e i t e n erst möglich macht. 81 Vgl. die i n den Fußnoten 28 u n d 29 genannten Arbeiten sowie die Feststellung G. Weissers: „ Z u allen Zeiten haben die Menschen danach gestrebt, i n den Grenzen des Möglichen i h r e n k ü n f t i g e n Lebensunterhalt durch ge-

54

3. Elemente einer Theorie sozialer Sicherung

selten mit dem Begriff „Soziale Sicherung" umschrieben 32 — zu sehr w i r d dieser Terminus identifiziert m i t dem staatlich organisierten Schutz vor Standardrisiken der Gegenwart. Die behauptete universelle Notwendigkeit sozialer Sicherung läßt sich nun nicht damit belegen, daß eine Vielzahl von Nachweisen für das Auftreten sozialer Risiken zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten erbracht wird. Abgesehen von der Unmöglichkeit, eine vollständige Übersicht zu erreichen, würde bereits ein einziger abweichender Fall die Ausgangsthese widerlegen und damit den ganzen Aufwand zunichte machen. Sinnvoller (und ökonomischer) erscheint eine eher deduktive Vorgehensweise, die zunächst nach den Bedingungen oder Voraussetzungen fragt, die erfüllt oder gegeben sein müssen, u m das Bestehen irgendeiner Form sozialer Sicherung zu erfordern. Sollte sich zeigen lassen, daß das generelle Vorhandensein dieser Bedingungen durch weitgehend anerkannte Forschungsresultate der Wissenschaften als relativ gesichert angenommen werden kann, dann ließe sich die universelle Notwendigkeit sozialer Sicherung aus der ubiquitären Existenz dieser Bedingungen stringent ableiten. Die Bedingungen, die gemeinsam die Notwendigkeit sozialer Sicherung begründen, werden zunächst als Thesen vorgestellt und anschließend einzeln erläutert: 1. Zu allen Zeiten ist die Lebenslage des Menschen durch schwerwiegende Risiken bedroht. 2. Zu allen Zeiten sind die Möglichkeiten des Menschen, sich allein vor schwerwiegenden Gefahren bzw. ihren Folgen zu schützen, unzureichend. Beide Thesen enthalten Aussagen über den Menschen, und zwar nicht über den Menschen einer bestimmten Epoche, sondern über den Menschen schlechthin. Argumente zur Stützung der Thesen können daher nur begrenzt aus der Geschichtswissenschaft, der Psychologie oder der Soziologie bezogen werden. Aussagen über den Menschen, die unabhängig von Raum und Zeit Gültigkeit beanspruchen, bietet vor eignete Einrichtungen zu sichern" (G. Weisser, Soziale Sicherheit für alle, in: Wo ist Sicherheit?, Stuttgart 1960, S. 54). 32 Eine Ausnahme ist die etwas pauschale Behauptung S. Fröhlichs: „ E n t sprechend dem stets vorhandenen Bedürfnis nach Existenzsicherung . . . w u r den zu jeder Zeit Systeme (sie!) sozialer Sicherung entwickelt, die auf die Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft abgestellt u n d nicht ohne weiteres auf andere Zeiten oder Gesellschaften übertragbar waren" (S. Fröhlich, 1976, S. 13). Fröhlich begründet diese Aussage lediglich m i t Hinweisen auf Sicherungseinrichtungen der griechischen u n d römischen A n t i k e , des frühen Christentums u n d des Mittelalters (vgl. ebd., S. 13 f.).

3.3. Hypothesen

55

allem die Anthropologie. Dabei interessieren hier weniger die Einzelergebnisse der verschiedenen anthropologischen Disziplinen, sondern vielmehr die Zusammenfassung und Interpretation dieser Resultate durch die sogenannte „Philosophische Anthropologie", die i n Deutschland vor allem durch das Werk Arnold Gehlens repräsentiert wird. 3 3 3.3.1.1. Die universale Gefährdung des Menschen Für die erste der beiden Thesen findet sich in Gehlerts Werk 3 4 eine wichtige Stütze i n der Bestimmung des Menschen als das „gefährdete oder »riskierte' Wesen" 35 . Die prinzipielle Gefährdung des Menschen ergibt sich i n Gehlens anthropologischer Sicht zum einen aus generellen Mängeln seiner unspezialisierten Organausstattung, die ihn relativ schütz- und wehrlos machen; zum anderen ist der Mensch gekennzeichnet durch einen „geradezu lebensgefährlichen Mangel >an Instinkten", 3 6 der eine problematische Verhaltensunsicherheit hervorruft. Diese Defizite beinhalten für den Menschen eine existentielle Bedrohung: „Infolge seiner organischen Primitivität und Mittellosigkeit ist der Mensch i n jeder w i r k l i c h natürlichen und urwüchsigen Natursphäre lebensunfähig." 37 Aufschlußreich ist i n diesem Zusammenhang, daß die Forschungen der Ethnologie die von der Anthropologie behauptete Gefährdung des Menschen i n einem Maße bestätigen, daß sich i n diesem Punkt sogar eine Angleichung i n der Begriffsbildung feststellen läßt. So betont z. B. der Ethnologe W.E. Mühlmann, daß für „primitive" Kulturen, aber auch noch für vorindustrielle Gesellschaften, die existentielle Bedrohung des Menschen eine immer gegenwärtige Erfahrung sei. 38 Um diesen Sachverhalt sprachlich adäquat zu erfassen, führt er (unabhängig von Gehlen) den Begriff der „riskierten Existenzen" ein: „der riskierten Existenzen, für die das Wagnis des Lebens zum täglichen Brot gehört" 3 9 . 33 Vgl. zur Programmatik einer „Philosophischen Anthropologie" : A . Gehlen, Anthropologische Forschung. Z u r Selbstbegegnung u n d Selbstentdeckung des Menschen, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 141 ff. Eine kritische Diskussion zentraler Aussagen der Philosophischen Anthropologie bietet: D. Ciaessens, I n s t i n k t , Psyche, Geltung. Bestimmungsfaktoren menschlichen Verhaltens. Eine soziologische Anthropologie, K ö l n u n d Opladen 1968, S. 20 - 45. 34 Relevant ist hier v o r allem: A . Gehlen, Der Mensch. Seine Natur u n d seine Stellung i n der Welt, 8. Aufl., Frankfurt/M.—Bonn 1966. 35 Ebd., S. 32. 36 Ebd., S. 33. 37 Ebd., S. 37. 38 Vgl. W. E. Mühlmann, Der Ernstfall als ständige Erfahrung i n den P r i m i t i v - K u l t u r e n . (Über die Unwahrscheinlichkeit unserer modernen Existenz), in: Der Ernstfall, Bd. 2 der Schriften der Carl Friedrich v o n Siemens Stiftung, Frankfurt/M.—Berlin—Wien 1979, S. 198 - 211. 39 Ebd., S. 201.

3. Elemente einer Theorie sozialer Sicherung

56

Die menschliche Gattung wäre ohne Zweifel längst ausgestorben, wenn sie es nicht erreicht hätte, die von Gehlen beschriebenen Mängel zu kompensieren, z. B. durch Erfindung und Gebrauch von Werkzeugen, die nicht vorhandene oder nicht ausgereifte Organe ersetzen und/oder übertreffen. 40 Neben dem technischen war auch der soziale und organisatorische Fortschritt (z. B. die Schaffung von Institutionen, die anstelle der Instinkte eine unerläßliche Verhaltensregulierung ermöglichen) 41 daran beteiligt, die den Menschen bedrohende natürliche Umwelt zu verändern und eine künstliche Umwelt ( „ K u l t u r " ) zu schaffen, i n der allein er lebensfähig ist. 42 Trotz aller unbestreitbaren Errungenschaften sind auch die Menschen hochindustrieller Gesellschaften von Vollkommenheit noch weit entfernt. Zwar sind sie kaum noch durch Gefahren der Natur bedroht, doch existentielle Risiken wie Krankheit und Tod bestehen weiter und hinzugekommen sind Risiken, die aus Unzulänglichkeiten (in der Gestaltung 'der sozialen und kulturellen Umwelt resultieren. 43 Die Aussage der ersten These, daß die Lebenslage des Menschen zu allen Zeiten durch schwerwiegende Gefahren bedroht ist, kann nach diesen Ausführungen zwar nicht als bewiesen angesehen werden, sie darf aber doch als gut begründet gelten. 3.3.1.2. Die Unzulänglichkeit

individueller

Vorsorge

Die Feststellung einer universalen Gefährdung des Menschen reicht noch nicht aus, u m eine generelle Notwendigkeit sozialer Sicherung zu behaupten. Hinzukommen muß die Aussage der zweiten These, daß zu allen Zeiten die Möglichkeiten des Menschen begrenzt bzw. unzureichend sind, sich allein vor schwerwiegenden Risiken und ihren Folgen zu schützen. Erst die Unzulänglichkeit individueller Vorsorge begründet einen dringenden Bedarf an Regelungen und Einrichtungen überindividueller, sozialer Sicherung. Die engen Grenzen individueller Daseins Vorsorge werden sichtbar, wenn man bedenkt, daß die Chancen des einzelnen, sich ausreichend vor Risiken zu schützen, von bestimmten Voraussetzungen abhängig sind, die für große Teile der Bevölkerung kaum i n den modernen und noch viel weniger i n nicht-industriellen Gesellschaften gegeben sind. Eine dieser Voraussetzungen besteht darin, daß der einzelne über Mittel verfügen kann, die er nicht unmittelbar für seinen Lebensunterhalt benötigt. Er muß also mehr produzieren bzw. ein höheres Ein40 41 42 48

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

A . Gehlen, 1961, S. 93 ff. ebd., S. 69 ff. ebd., S. 21 ff. Abschnitt 2.1. dieser Arbeit.

3.3. Hypothesen

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kommen erzielen als zur Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse erforderlich ist. Eine zweite Voraussetzung besteht darin, daß der einzelne diesen Überschuß nicht nur erwirtschaftet, sondern über ihn auch frei verfügen kann. Das ist beispielsweise dann nicht der Fall, wenn das Mehrprodukt durch Zwangsabgaben abgeschöpft w i r d — e i n e zu allen Zeiten verbreitete Praxis. Darüber hinaus kann die individuelle Verfügungsfreiheit über Güter auch durch die Tradition oder bestimmte Normen eingeschränkt sein, die verschiedene Verwendungsmöglichkeiten von vornherein ausschließen oder von der Zustimmung Dritter abhängig machen. 44 Schließlich setzt individuelle Vorsorge auch voraus, daß die frei verfügbaren Mittel i n einer Weise beschaffen sein müssen oder angelegt werden können, daß sie i m Zeitablauf ihren Wert oder Nutzen nicht einbüßen und daß i m Bedarfsfall ohne Verzögerung auf sie zurückgegriffen werden kann. Diese Bedingungen sind i n ausreichendem Maße offensichtlich erst i n einer entwickelten Wirtschaft mit einer durch ein funktionierendes Geld- und Kreditwesen vermittelten Kapitalbildung gegeben. I n nicht-industriellen Gesellschaften sind dagegen aus den unterschiedlichsten Gründen die Möglichkeiten einer produktiven Anlage von Überschüssen gering. 45 Die Grenzen individueller Risikovorsorge sind letztlich auch dadurch eng gezogen, daß aus der Perspektive des einzelnen nicht vorhersehbar ist, ob ein Schadensfall eintreten w i r d (z. B. Krankheit, Unfall), wann er eintritt (z.B. Tod des Ernährers) und wie lange er anhält (z.B. krankheits- oder altersbedingte Arbeitsunfähigkeit). Eine ausschließlich individuelle Vorsorge wäre nur dann ausreichend, wenn sie nicht 44 I n diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, daß der heute geltende Eigentumsbegriff, der dem Eigentümer hinsichtlich der Verfügung über sein Gut größtmögliche Freiheit einräumt, erst i n neuerer Zeit entwickelt u n d durchgesetzt wurde. Bis zum Absolutismus dominierte beispielsweise i n Deutschland der germanische Rechtsbegriff des „Eigen". Dieses Eigen w a r „nicht p r i v a t uneingeschränkt verfügbar, sondern sippengebunden oder zumindest . . . nicht ohne Zustimmung der näheren Verwandten v e r äußerbar" (G. Droege, 1979, S. 12). Vgl. auch die Feststellung F. Lütges: „Ältere Sozialordnungen kennen k e i n freies Eigen, sondern n u r Eigen unter den verschiedenfachsten Bindungen, u n d diese Bindungen wurzelten i m P r i n zip i n Personalbeziehungen" (F. Lütge, 1966, S. 432). 45 Neben technisch-ökonomischen Restriktionen, die die Fähigkeit zu I n vestitionen beeinträchtigen, sind hier traditionelle u n d k u l t u r e l l e Einflüsse zu beachten, die die Neigung zu Investitionen verringern (vgl. hierzu J. Röpke, P r i m i t i v e Wirtschaft, K u l t u r w a n d e l u n d die Diffusion von Neuerungen, T ü bingen 1970). Vorsorge, insbesondere für das A l t e r , w i r d unter diesen U m ständen nicht durch Sachkapitalbildung, d . h . durch eine Verbesserung u n d Erweiterung der Produktionskapazitäten, angestrebt, sondern v o r allem durch eine Vermehrung der Nachkommenschaft, d . h . durch B i l d u n g v o n „ H u m a n kapital".

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3. Elemente einer Theorie sozialer Sicherung

von der durchschnittlich zu erwartenden, sondern von der maximal möglichen Schädigung ausgehen würde (beispielsweise könnte sich die individuelle Vorsorge für das Alter nicht an der durchschnittlichen Lebenserwiartung orientieren, sondern sie müßte auf den wenig wahrscheinlichen, aber nicht auszuschließenden Fall vorbereitet sein, daß von dem Betreffenden das Höchstalter erreicht wird). Je größer die Ungewißheit hinsichtlich des Eintritts, des Zeitpunkts, der Dauer und des Ausmaßes eines Risikofalles ist, desto ungeeigneter und begrenzter erscheinen Maßnahmen rein individueller Vorsorge: „Würde doch unter diesen Bedingungen eine Mittelrückstellung aus dem Einkommen schon sehr bald nicht mehr genügen, sondern der Bestand eines Vermögens unabdingbare Voraussetzung sein, und zwar eines Vermögens, dessen Verwertbarkeit . . . möglich ist, ohne für den Betroffenen eine erneute Existenzgefährdung zu bedeuten." 46 Die bisherigen Ausführungen zusammenfassend, kann als Ergebnis festgehalten werden, daß eine ausreichende individuelle Risikovorsorge nicht n u r wirtschaftliche und rechtliche Handlungsfreiheit des einzelnen voraussetzt, sondern auch die Fähigkeit, zu jeder Zeit gegebenenfalls umfangreiche Ressourcen mobilisieren zu können. Die bisher vorliegenden Resultate der Wirtschafts- und Sozialgeschichtsforschung lassen den Schluß zu, daß die genannten Bedingungen i n allen historischen Gesellschaften bestenfalls von Angehörigen der Oberschicht erfüllt werden konnten. Für den größten Teil der Bevölkerung dürfte damit zu allen Zeiten die Ergänzung der individuellen Vorsorgebemühungen durch gesellschaftlich vermittelte Schutzmaßnahmen, d. h. durch Maßnahmen sozialer Sicherung, unverzichtbar gewesen sein. 3.3.2. Zur Möglichkeit sozialer Sicherung

Der soeben begründete Bedarf an Maßnahmen gesellschaftlicher Risikovorsorge muß nicht i n jedem Fall zur Entwicklung entsprechender Regelungen und Einrichtungen oder gar zum Aufbau von Organisationen und Systemen sozialer Sicherung führen. Wie die individuelle ist auch die soziale Daseins Vorsorge auf das Vorliegen bestimmter Bedingunigen angewiesen, die allerdings weniger anspruchsvoll erscheinen und daher i n der historischen Realität mit größerer Wahrscheinlichkeit nachweisbar sein dürften. Diese Bedingungen lassen sich bestimmen durch einige Hypothesen über die Möglichkeiten, die grundsätzlich gegeben und geeignet sind, das Ziel sozialer Sicherung, den Schutz vor Lebenslageverschlechterungen, zu erreichen. Dabei ist es allerdings wenig hilfreich, von den seit 46

G. v. Essen-Braune, 1960, S. 174. Vgl. hierzu auch W. Schreiber, Einrichtungen der sozialen Sicherheit u n d ihre gesellschaftliche Funktion, in: B. KülplW. Schreiber (Hg.), 1971, S. 238 f.

3.3. Hypothesen

59

der Industrialisierung dominierenden Gestaltungsprinzipien sozialer Sicherung (Versicherung, Versorgung, Fürsorge) auszugehen.47 Zwar lassen sich z. B. i n der deutschen und europäischen Geschichte durchaus Formen sozialer Sicherung aufzeigen, die als frühe Realisierungen dieser Prinzipien interpretiert werden können, 48 doch darf ihre Bedeutung für die soziale Sicherung nicht überschätzt werden. Der Großteil der Bevölkerung konnte i m Falle der Not nicht von Almosen leben, und Anspruch auf Leistungen des Staates oder auf Zahlungen aus einer durch Beiträge finanzierten Kasse hatten nur die Angehörigen bestimmter Berufe. Der Verweis auf einige konkrete Beispiele der historischen V e r w i r k lichung bestimmter Prinzipien sozialen Schutzes führt nicht zu einer theoretisch befriedigenden Klärung des Problems sozialer Sicherung Die aus der Geschichte bekannten Formen sozialen Schutzes sind immer auch Elemente und Ergebnisse eines kulturspezifischen Entwicklungsprozesses; sie dürfen nicht einfach generalisiert werden. Für ein nicht von vornherein räumlich und/oder zeitlich begrenztes Verständnis sozialer Sicherung bedarf es statt dessen einiger allgemeiner, „sicherungstheoretischer" Vorüberlegungen. Diesen Überlegungen liegt die These zugrunde, daß es prinzipiell nur zwei Möglichkeiten des Schutzes vor Risiken gibt: 1. die vorbeugende Vermeidung des Eintritts eines Risikos; 2. die nachträgliche Beseitigung oder Linderung der Folgen eines eingetretenen Risikos. Geht man davon aus, daß selbst i n hochentwickelten Staaten der völligen Vermeidung eines Risikoeintritts deutliche Grenzen gesetzt sind, 49 dann läßt sich annehmen, daß unter den viel beschränkteren Verhältnissen nicht-industrieller Gesellschaften diese Form des Schut47 Vgl. zu diesen Prinzipien z. B. P. Quante, Grundsätze der Versorgung, Versicherung u n d Fürsorge, in: E. Boettcher (Hg.), 1957, S. 227-244; sowie H. Lantpert, 1980, S. 216 ff. 48 Beispiele sind die bis ins A l t e r t u m zurückreichende Armenpflege der Kirche (Caritas), die bereits i m M i t t e l a l t e r entstandenen Unterstützungsfonds der Bergleute (Knappschaftskassen) sowie die seit dem Absolutismus der Neuzeit geregelte Versorgung v o n ausgedienten Soldaten, Offizieren u n d Kriegsinvaliden (vgl. H. Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 2. Aufl., Bonn-Bad Godesberg 1973, S. 19 ff.; sowie P. Quante, 1957, S. 227 ff.). 49 Die Prävention v o n Risiken ist die naheliegendste, aber keineswegs die erfolgreichste Methode sozialer Sicherung. Z w a r lassen sich durchaus F o r t schritte i n der Risikoprophylaxe nachweisen (Rückgang der Kindersterblichkeit, Ausrottung bestimmter Epidemien usw.), doch existentielle Risiken wie Krankheit, A l t e r u n d Tod sind auch i n den industrialisierten Gesellschaften nicht v ö l l i g aufzuheben. I m übrigen k a n n es bei selten auftretenden Risiken ökonomisch vorteilhafter sein, an Stelle einer aufwendigen Prophylaxe für eine großzügige Entschädigung zu sorgen.

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3. Elemente einer Theorie sozialer Sicherung

zes nur i n Ausnahmefällen erfolgreich sein kann. Die naheliegende, aber offensichtlich nur schwer zu verwirklichende Prävention von Risiken mußte und muß ergänzt werden durch Maßnahmen, die die Folgen nicht zu verhindernder Risikofälle beseitigen oder zumindest auf ein tolerierbares Maß reduzieren. Diese Folgen unterscheiden sich zwar je nach A r t des Risikos, doch i m Ergebnis beinhalten sie immer eine Verschlechterung individueller Lebenslagen, die i n einer Beeinträchtigung der Gesundheit, in einer Verringerung der Arbeitsfähigkeit, i m teilweisen oder völligen Verlust des Lebensunterhalts bestehen kann. Die Verschlechterung der Lebenslage w i r d vom Betroffenen als Zustand des Mangels erfahren, als i m Vergleich zur Ausgangslage verringerte Chance zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Das Streben nach Beseitigung des Mangels, nach Wiederherstellung der ursprünglichen Lebenslage begründet — ökonomisch gesprochen — einen bestimmten Bedarf an (Konsum-)Gütern und (Dienst-)Leistungen, die die Wiederherstellung der Gesundheit und der Arbeitsfähigkeit oder den teilweisen bzw. völligen Ersatz des Lebensunterhalts ermöglichen. Entscheidend ist nun, daß es sich hier u m einen zusätzlichen, vor E i n t r i t t des Risikos nicht vorhandenen Bedarf handelt. Angesichts der universellen Knappheit von Bedarfsdeckungsmitteln bzw. der Unbegrenztheit der Bedürfnisse kann die Befriedigung dieses Bedarfs nur durch Verzicht auf Befriedigung eines anderen Bedarfs erfolgen. Der Verzicht kommt dadurch zustande, daß Bedarfsdeckungsmittel nicht einer ursprünglich geplanten, sondern der durch den Risikoeintritt erzwungenen Verwendung zugeführt werden (Hätten diese M i t tel beispielsweise zunächst eine Verbesserung der Lebenslagen gestattet, so müssen sie nun zur Wiederherstellung der Ausgangslage dienen). I m Grunde geht es also u m eine Veränderung i n der Verteilung der verfügbaren Mittel (Güter und Leistungen) auf Bedarfsarten und Bedarfsträger. Da Verteilungs- u n d Umverteilungsprozesse nicht nur zwischen Personen, sondern auch i n der Zeit und i m Raum stattfinden können, 50 werden als prinzipiell mögliche Methoden sozialer Sicherung die folgenden drei Arten von Umverteilung unterschieden: 1. Rückgriff auf i n der Vergangenheit angesammelte Mittel (Auflösung von Reserven) oder Vorgriff auf i n der Zukunft zu erwartende Mittel (Verschuldung); 2. Unterstützung einer i n Not geratenen Region durch Überschüsse und Hilfsleistungen einer anderen Region; 60

Vgl. zu diesen drei Dimensionen der Verteilung: E. 1961, S. 19 f.

Liefmann-Keil,

61

3.3. Hypothesen

3. Verzicht vom Risikofall verschonter Personen auf ihnen zustehende M i t t e l zugunsten der Risikoopfer. I m ersten Fall kann von „intertemporaler", i m zweiten von „interregionaler" und i m dritten von „interpersonaler" Umverteilung gesprochen werden. 51 Auch die intertemporale Umverteilung stellt einen Verzicht dar: beim Rückgriff auf Reserven ist i n der Vergangenheit auf möglichen Konsum verzichtet worden; bei der Verschuldung w i r d der i n der Zukunft mögliche Konsum eingeschränkt. Die Möglichkeit sozialer Sicherung hängt nun davon ab, unter welchen Bedingungen die Lösung des Problems sozialer Sicherung (Mehrbedarf an knappen Gütern und Leistungen infolge Risikoeintritts) durch die genannten Formen der Umverteilung gelingen kann. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den dynamischen und geldwirtschaftlichen Verhältnissen industrialisierter und den statischen und überwiegend naturalwirtschaftlichen Gegebenheiten nicht-industrieller Gesellschaften. Die folgende Analyse beschränkt sich auf die hier interessierende Situation nicht-industrieller Gesellschaften. 3.3.2.1. Soziale Sicherung durch intertemporale

Umverteilung

Schutz vor sozialen Risiken durch Prozesse intertemporaler Umverteilung ist unter statischen, naturalwirtschaftlichen Bedingungen nur i n der Weise zu erreichen, daß i n Zeiten der Not die i n der Vergangenheit angesammelten Vorräte an lebensnotwendigen Gütern aufgelöst werden. Die Chancen sozialer Sicherung werden dabei von der Möglichkeit bestimmt, Produktion und Konsum dieser Güter nicht i n derselben Periode vornehmen zu müssen. I n sehr einfachen, archaischen Gesellschaften dürfte es schwerfallen, Güter wie z. B. Lebensmittel so zu konservieren, daß sie auch zu einem späteren Zeitpunkt verbraucht werden können. Größer sind die Chancen sozialer Sicherung durch intertemporale Umverteilung i n Agrargesellschaften, weil durch A n lage von Getreidevorräten und insbesondere durch Viehhaltung Güter mit längerer Lebensdauer verfügbar sind (Allerdings handelt es sich bei diesen Gütern nicht nur u m Konsum-, sondern auch u m Produktionsgüter, so daß ihrem Verzehr Grenzen gesetzt sind, wenn die zukünftige Existenz nicht gefährdet werden soll). Generell nicht möglich ist die zeitliche Trennung von Produktion und Konsum und damit eine intertemporale Umverteilung bei (persön51 Die Begriffe „intertemporale Umverteilung" u n d „interpersonale U m verteilung" entstammen der wissenschaftlichen Sozialpolitik, w o sie allerdings weniger alternative Instrumente sozialer Sicherung, sondern i n erster Linie unterschiedliche W i r k u n g e n bestimmter Maßnahmen sozialer Sicher u n g auf die Einkommensverteilung bezeichnen (vgl. z.B. E. Liefmann-Keil, 1961, S. 45 ff. u n d S. 56 ff.; H. Lampert, 1980, S. 275 ff.).

62

3. Elemente einer Theorie sozialer Sicherung

liehen) Dienstleistungen. Die Erbringung einer Dienstleistung und ihre Inanspruchnahme müssen gleichzeitig erfolgen; Dienstleistungen können daher nicht gelagert werden. 52 3.3.2.2. Soziale Sicherung durch interregionale

Umverteilung

Der Schutz vor sozialen Risiken durch Prozesse interregionaler Umverteilung beinhaltet einen räumlichen Ausgleich von Überschuß und Bedarf. Diese A r t sozialer Sicherung ist von der Möglichkeit abhängig, Produktion und Konsum von Gütern nicht an demselben Ort vornehmen zu müssen. Die Überwindung räumlicher Distanzen setzt nicht nur das Vorhandensein von Verkehrsmitteln voraus, sondern auch und zuvor das Bestehen überörtlicher Kommunikation, die schnell genug einen auftretenden Mangel an lebensnotwendigen Gütern übermitteln kann. Diese Anforderungen können von nicht-industriellen Gesellschaften i n der Regel n u r teilweise und damit häufig nur unzureichend erfüllt werden. 53 Nicht möglich ist schließlich die räumliche Trennung von Produktion und Konsum bei Dienstleistungen. Die Erbringung einer (persönlichen) Dienstleistung und ihre Inanspruchnahme müssen nicht nur gleichzeitig, sie müssen auch am selben Ort erfolgen; Dienstleistungen können nicht transportiert werden. 54 3.3.2.3. Soziale Sicherung durch interpersonale

Umverteilung

Der Schutz vor sozialen Risiken durch interpersonale Umverteilung von Gütern und Leistungen w i r d nicht beeinträchtigt durch i n nichtindustriellen Gesellschaften schwer zu lösende Probleme der Uberbrückung von Zeit und Raum. Auch die mit den bisher behandelten A r t e n sozialer Sicherung nicht zu bewältigende Umverteilung von 52 Vgl. zu dieser u n d weiteren Besonderheiten, die Dienstleistungen v o n Sachgütern unterscheiden: J. Eick, Dienstleistungen, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (HdSW), Bd. 12 (Nachtrag), 1965, S. 550 ff., sowie Ph. Herder-DorneichlW. Kötz, Z u r Dienstleistungsökonomik. Systemanalyse u n d Systempolitik der Krankenhauspflegedienste, B e r l i n 1972, S. 11 ff. 53 Beispielsweise führten i m vorindustriellen Deutschland die nicht zu vermeidenden Mißernten auch deshalb zu Hungersnöten, w e i l mangels Straßen u n d geeigneter Fahrzeuge die betroffenen Regionen nicht m i t Überschüssen anderer Gebiete versorgt werden konnten (vgl. F. Lütge, 1966, S. 199 u n d 425). E i n geringer Entwicklungsstand des Verkehrswesens h e m m t demnach nicht n u r — wie häufig festgestellt — das Fortschreiten der Arbeitsteilung u n d damit die wirtschaftliche Entwicklung, er verhindert auch die B i l d u n g größerer, überörtlicher Risikogemeinschaften. 54 Bei räumlicher Trennung des Anbieters u n d des Nachfragers ist die E r bringung einer persönlichen Dienstleistung n u r möglich, w e n n Produzent u n d Konsument an einem Ort zusammenkommen. Voraussetzung hierfür ist wiederum das Vorhandensein überörtlicher K o m m u n i k a t i o n u n d die Möglichkeit des Personentransports.

3.3. Hypothesen

63

Dienstleistungen scheint hier keine besonderen Schwierigkeiten aufzuwerfen. Es kann daher vermutet und als These formuliert werden, daß die interpersonale Umverteilung von Gütern und Leistungen die am wenigsten voraussetzungsvolle und zugleich die vollständigste Methode sozialer Sicherung für nicht-industrielle Gesellschaften darstellt. Darüber hinaus läßt sich annehmen, daß eine soziale Sicherung durch interpersonalen Risiko- und Bedarfsausgleich mindestens i n jenen Fällen erforderlich wird, i n denen die intertemporale und/oder interregionale Umverteilung nicht oder nicht ausreichend gelingt. Die vermutete hohe Bedeutung der interpersonalen Umverteilung als Instrument sozialer Sicherung i n nicht-industriellen Gesellschaften zwingt n u n allerdings dazu, besonders sorgfältig die Voraussetzungen dieser Sicherungsmethode zu analysieren. I n Analogie zur bisherigen Argumentation kann als Grundbedingung interpersonaler Umverteilung die personelle Trennung von Produktion und Konsum bestimmt werden, d. h. es muß möglich sein, daß Erzeuger und Verbraucher von Gütern und Leistungen verschiedene Personen sind. Diese Bedingung dürfte i m allgemeinen erfüllt sein, weil selbst i n archaischen Gesellschaften eine rudimentäre Arbeitsteilung (nach Alter und Geschlecht) festzustellen ist, die immer auch eine personelle Trennung von Produktion und Konsum beinhaltet. Die generelle Möglichkeit des interpersonalen Austausche von Gütern und Leistungen ist aber nur eine notwendige Voraussetzung einer sozialen Sicherung durch interpersonale Umverteilung. U m den hierzu erforderlichen interpersonalen Risiko- und Bedarfsausgleich zu verwirklichen, müssen weitere Bedingungen erfüllt sein. Wie bereits ausgeführt, begründet der E i n t r i t t eines Risikos einen bis dahin nicht vorhandenen, zusätzlichen Bedarf an Gütern und Leistungen zur Beseitigung oder Milderung der Risikofolgen. Dieser Mehrbedarf ist durch interpersonale Umverteilung nur dann zu befriedigen, wenn ein Mehrprodukt erwirtschaftet wird, d. h. wenn mehr Güter und Leistungen erzeugt werden als zur bloßen Lebenserhaltung unverzichtbar sind. Geht man davon aus, daß als Folge eines eingetretenen Risikos ein Teil der Mitglieder einer Gruppe oder Gesellschaft seine Arbeitsfähigkeit vorübergehend oder auf Dauer einbüßt, dann kann das benötigte Mehrprodukt nur von den vom Risiko Verschonten geschaffen werden. Die Möglichkeit sozialer Sicherung durch interpersonale Umverteilung hängt damit ab von der Relation der jeweils Produzierenden zu den Nicht-Produzierenden. Ein Minimum, unter das der Anteil der Produzierenden nicht fallen darf, kann allerdings nur für den konkreten Einzelfall näher bestimmt werden. Allgemein erscheint lediglich die These plausibel zu sein, daß mit zunehmendem Grad der Wirtschaft-

64

3. Elemente einer Theorie sozialer Sicherung

liehen Entwicklung einer Gesellschaft auch der Anteil der Nicht-Produzierenden wachsen kann. Die Bedeutung des Verhältnisses von Produzierenden zu Nicht-Produzierenden für eine soziale Sicherung durch interpersonale Umverteilung w i r d einsichtig, wenn die Folgen einer Erhöhung des Anteils der „Inaktiven" unter sonst gleichen Bedingungen diskutiert werden. Diese Veränderung führt zu einer Verringerung des gesamtgesellschaftlichen Versorgungsniveaus, die sich i m Prinzip i n zwei alternativen Erscheinungsformen äußern kann (von möglichen Zwischenformen w i r d abgesehen): 1. der Versorgungsgrad der Nicht-Produzierenden bleibt gleich — daraus folgt, daß die Belastung der Produzierenden zunimmt, d.h. ihr Versorgungsgrad sinkt; 2. die Belastung der Produzierenden und damit i h r Versorgungsgrad bleibt gleich — daraus folgt, daß der Versorgungsgrad der NichtProduzierenden abnimmt. 5 5 Neben den mehr oder weniger naheliegenden ökonomisch-quantitativen Bedingungen interpersonaler Umverteilung sind auch wichtige „qualitative" Erfordernisse zu beachten, die mit dieser Methode sozialer Sicherung verbunden sind. Wie bereits aus dem Begriff hervorgeht, handelt es sich bei „interpersonaler Umverteilung" u m eine Veränderung i n der Verteilung von Gütern und Leistungen auf verschiedene Personen. Es stellt sich daher die Frage, ob außer den ökonomischen nicht auch bestimmte sozialstrukturelle, institutionelle und normative Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit derartige, gegebenenfalls einseitige Umverteilungsprozesse stattfinden können. 55 Die aufgrund demographischer Entwicklungen voraussehbare Zunahme des Anteils der nicht mehr Erwerbstätigen an der Bevölkerung der Bundesrepublik hat zu einer regen Diskussion geführt über mögliche A u s w i r k u n g e n eines wachsenden „Alterslastquotienten" auf das System der sozialen Sicherung, insbesondere auf die Rentenversicherung (vgl. z . B . H. Besters (Hg.), Bevölkerungsentwicklung u n d Generationenvertrag, Baden-Baden 1980). Da das i n der deutschen Alterssicherung praktizierte Umlageverfahren als eine F o r m der hier analysierten interpersonalen Umverteilung interpretiert w e r den kann, müßten sich auch die beschriebenen Folgen einer Verringerung der Relation Produzierende/Nicht-Produzierende einstellen. I n der Tat gibt es Berechnungen, die bis zum Jahre 2035 entweder eine Verdoppelung des Beitragssatzes der Rentenversicherung oder eine Halbierung des Rentenniveaus prophezeien (vgl. z . B . H. Meinhold, ökonomische Probleme der sozialen Sicherheit, Tübingen 1978, S. 8 u n d 10). Häufig nicht beachtet w i r d aber i n der Diskussion, daß diese Prognosen n u r „unter sonst gleichen Bedingungen" zutreffen, d. h. w e n n alle anderen Einflußfaktoren konstant bleiben. Diese Annahme ist sinnvoll für kurzfristige Analysen, sie darf aber nicht ohne weiteres i n langfristigen Betrachtungen unterstellt werden (vgl. generell zu den vielfältigen methodischen Problemen von Vorausschätzungen der Bevölkerung u n d der Erwerbstätigkeit: H. Grohmann, Rentenversicherung u n d Bevölkerungsprognosen, Frankfurt/M.—New Y o r k 1980).

3.3. Hypothesen

65

Die Ableitung dieser Voraussetzungen erfordert eine inhaltliche Präzisierung der sozialen Sicherung durch interpersonale Umverteilung. Definiert man diese Sicherungsmethode als Instrument zur Herbeiführung eines Risiko- und Bedarfsausgleichs innerhalb menschlicher Gruppen oder Gesellschaften, 56 dann kann konkreter gefragt werden, unter welchen Bedingungen dieser Ausgleich zustande kommt. Da ein Risiko- und Bedarfsausgleich nicht i n jeder beliebigen, zufällig entstandenen menschlichen Gruppe herbeizuführen ist, müssen diese Bedingungen i n bestimmten Merkmalen spezifischer Gruppen verwirklicht sein. Man kann diese besonderen Zusammenschlüsse von Menschen, die sozialen Schutz durch interpersonale Umverteilung realisieren, begrifflich als „Risiko- oder Solidargemeinschaften" fassen. Nach H. F. Zacher w i r d eine „personale Gruppe", die eine Solidargemeinschaft bildet, konstituiert durch a) gemeinsame Bedrohung durch ein oder mehrere Risiken; b) gemeinsame Vorsorge gegen diese Bedrohung. 57 Ob und i n welchem Ausmaß soziale Sicherung durch interpersonalen Risiko- und Bedarfsausgleich i n einer Gefahren- oder Solidargemeinschaft gelingt, dürfte vor allem von den folgenden Faktoren abhängen: 1. Größe der Gruppe; 2. Zusammensetzung der Gruppe; 3. Dauerhaftigkeit der Gruppe; 4. (Um-)Verteilungsprinzip der Gruppe. Die Größe einer als Solidargemeinschaft fungierenden Gruppe ist bedeutsam für die Möglichkeit, durch Verteilung des als Folge eines Risikofalles eingetretenen Schadens auf alle Gruppenmitglieder die Belastung des einzelnen zu minimieren. Je geringer der personelle Umfang einer Solidargemeinschaft ist, desto größer ist i m Risikofall die von einem Gruppenmitglied zu tragende Last. Sehr kleine Gruppen dürften daher kaum i n der Lage sein, ihren Mitgliedern durch interpersonale Umverteilung einen ausreichenden Schutz gegen schwerwiegende Gefahren zu gewähren. Obwohl eine Mindestgruppengröße allgemein nicht festgelegt werden kann, empfiehlt es sich aufgrund dieser Überlegungen doch, den Begriff „soziale Sicherung" nur anzu66 Die Bedeutung menschlicher Gruppenbildung für die soziale Sicherung i n nicht-industriellen Gesellschaften ergibt sich aus der Tatsache, „daß alle menschlichen Gesellschaften für ungezählte Jahrtausende unabhängige kleine Gruppen waren" (G. C. Hornaus, Grundfragen sozialer Theorie. Aufsätze, hrsg. v o n V. Vanberg, Opladen 1972, S. 104). 57 Vgl. H. F. Zacher, Die Rolle des Beitrags i n der sozialen Sicherung — vorbereitende Ausarbeitung, in: ders. (Hg.), Die Rolle des Beitrags i n der sozialen Sicherung, Berlin—München 1981, S. 25.

5 Partsch

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3. Elemente einer Theorie sozialer Sicherung

wenden auf Solidargemeinschaften, die über eine Klein- oder Kernfamilie hinausgehen. 58 Außer vom personellen Umfang hängt die Möglichkeit eines Risikound Bedarfsausgleichs auch ab von der personellen Zusammensetzung oder Struktur einer Gruppe: Eine Gefahrengemeinschaft muß zu jedem Zeitpunkt eine ausreichende Zahl leistungsfähiger Mitglieder aufweisen, die durch Bereitstellung von Sachgütern und Dienstleistungen den Schutz- und Ausgleichsbedarf der vorübergehend oder dauerhaft Leistungsunfähigen befriedigen können. Allgemeiner gesprochen muß die personelle Zusammensetzung der Gruppe gewährleisten, daß es zu einer ungleichen Verteilung der i m Risikofalle auftretenden Schädigungen kommt. Lassen sich nämlich jederzeit von Risiken Betroffene (Geschädigte) von Nichtbetroffenen oder nur gering Geschädigten unterscheiden, dann kann durch Umverteilung von den nicht oder nur gering Geschädigten zu den allein oder beträchtlich Geschädigten ein Risikoausgleich herbeigeführt werden. Besteht dagegen eine Gleichverteilung der Schädigung, d. h. sind alle Gruppenmitglieder zur selben Zeit von demselben Risiko i m gleichen Ausmaß beeinträchtigt (z. B. bei einer Epidemie oder einer allgemeinen Hungersnot), dann ist eine soziale Sicherung durch interpersonale Umverteilung nicht möglich. Eine personale Gruppe, die hinsichtlich ihrer Größe und Zusammensetzung für einen interpersonalen Risiko- und Bedarfsausgleich geeignet erscheint, muß darüber hinaus auch durch Dauerhaftigkeit gekennzeichnet sein, wenn sie einen wirksamen Schutz vor Risiken garantieren soll. Die Konstanz einer Solidargemeinschaft i m Zeitablauf ist erforderlich, weil ein konstitutives Merkmal jedes Risikos i n der Ungewißheit besteht, wann eine Schädigung oder Belastung eintritt und/ oder wie lange sie anhält. Ein Zusammenschluß von Menschen, der von vornherein befristet ist, bietet keine Sicherheit, weil nicht auszuschließen ist, daß er i m Risikofall entweder bereits nicht mehr besteht oder zu bestehen aufhört, bevor die Folgen eines eingetretenen Risikos (z. B. der Verlust der Arbeitsfähigkeit) behoben sind. Soziale Sicherung durch interpersonale Umverteilung ist daher nur i n Gemeinschaften zu verwirklichen, die ihren Umfang und ihre Zusammensetzung i m Zeitablauf beibehalten können. 59 Über diese Fähigkeit verfügen insbe58 Nicht erforderlich für einen ausreichenden Schutz durch interpersonale Umverteilung erscheint dagegen eine Größe des Risikokollektivs, die eine Nutzung der m i t dem bekannten statistischen „Gesetz der großen Zahl" beschriebenen Tatsache erlaubt, daß ein für den einzelnen zufälliges u n d u n vorhersehbares Ereignis durch Zusammenfassung zahlreicher Gefährdeter seine Ungewißheit verliert u n d berechenbar w i r d (vgl. P. Braeß, Versicherungswesen, in: Handwörterbuch der Sozial wissenschaf ten (HdSW), Bd. 11, 1961, S. 240). 69 Eine aktuelle I l l u s t r a t i o n dieser Zusammenhänge bietet die erwähnte

3.3. Hypothesen

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sondere jene personalen Gruppen, die ausscheidende Mitglieder ersetzen können, die sich also selbst reproduzieren. Soziale Sicherung durch interpersonale Umverteilung hängt schließlich und entscheidend auch davon ab, ob i n einer Gruppe ein Verteilungsprinzip wirksam ist, das die von einem eingetretenen Risiko Verschonten veranlaßt, die Risikoopfer zu unterstützen. Eine personale Gruppe, die die genannten Anforderungen an Größe, Zusammensetzung und Dauerhaftigkeit erfüllt, w i r d erst dann zu einer Solidargemeinschaft, wenn sie auch eine Norm oder Regel aufweist und beachtet, die eine Umverteilung von Gütern und Leistungen zugunsten der jeweils Bedürftigen und zu Lasten der jeweils Leistungsfähigen fordert. Eine normative Sicherung der interpersonalen Umverteilung ist notwendig, weil nicht ohne weiteres angenommen werden kann, daß der von einzelnen verlangte Verzicht immer und i n ausreichendem Maße freiwillig geleistet wird. Zwar werden die erforderlichen Umverteilungsprozesse ohne Zweifel durch die Erfahrung erleichtert, daß bei langfristiger Betrachtung ein Ausgleich zwischen vom einzelnen erbrachten und empfangenen Leistungen entstehen kann. 6 0 M i t Gewißheit ist dieser Ausgleich aber nur dann zu erwarten, wenn eine weitgehende Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung sichergestellt werden kann (wie etwa i n der neuzeitlichen Privatversicherung). 61 I n nicht-industriellen Gesellschaften ist die Verwirklichung des Äquivalenzprinzips nur sehr begrenzt möglich, weil wichtige versicherungstechnische Voraussetzungen nicht gegeben sind (z. B. GleichDiskussion über die Z u k u n f t der gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. Fußnote 55). Die Finanzierung der Alterssicherung i m Umlageverfahren setzt zwar keine völlige Konstanz i m Verhältnis v o n Beitragszahlern zu L e i stungsempfängern voraus; sie w i r d aber gefährdet, w e n n sich dieses V e r hältnis deutlich u n d nachhaltig zu Lasten der Beitragszahler verschlechtert. I m Prinzip w i r d die erforderliche Konstanz durch die für alle Arbeitnehmer geltende Versicherungspflicht erreicht, deren Zahl hängt aber unter anderem ab v o n der demographischen Entwicklung. 60 Voraussetzung hierfür ist wiederum die Konstanz der Solidargemeinschaft i m Zeit ablauf ! β1 I n der P r i v a t - oder Individualversicherung entspricht die v o m V e r sicherten zu entrichtende, risikogerechte Prämie dem versicherungsmathematisch berechneten Erwartungswert der Versicherungsleistungen (vgl. W. Karten, Solidaritätsprinzip u n d versicherungstechnischer Risikoausgleich — einige ökonomische Grundtatbestände, in: Zeitschrift für die gesamte V e r sicherungswissenschaft, 66. Bd. [1977], S. 186 f.). Bei korrekter K a l k u l a t i o n der Beiträge u n d genügend großem Versicherungsbestand reichen die v o n allen aufgebrachten Prämien aus, u m die bei einzelnen als Folge eines Risikofalles entstehenden Schäden oder Verluste auszugleichen. Es findet zwar eine interpersonale Umverteilung zwischen den v o m Risikoeintritt V e r schonten u n d den Risikoopfern statt, doch n u r m i t dem Ziel u n d dem Ergebnis, den durch den Risikofall gestörten Status quo ante der Verteilung w i e derherzustellen. 5»

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3. Elemente einer Theorie sozialer Sicherung

artigkeit und Schätzbarkeit der Risiken, Anwendbarkeit des „Gesetzes der großen Zahl"). 6 2 Schließlich w i r d die Nutzung der Äquivalenzprinzips auch dadurch eingeschränkt, daß sie zu Ergebnissen führen kann (z.B. zur Schutzlosigkeit jener, die einen risikoadäquaten Beitrag nicht leisten können), die übergeordneten Werten und Normen einer Gruppe oder Gesellschaft widersprechen. Soll nicht nur ein i m Prinzip verteilungsneutral zu erreichender Risikoausgleich angestrebt werden, sondern auch ein sozialer oder Bedarfsausgleich, so muß das Äquivalenzprinzip durch ein andersgeartetes Verteilungsprinzip (z. B. das Prinzip der Solidarität) ersetzt oder zumindest ergänzt werden. 63

62 Vgl. hierzu K. Hax, Grundlagen des Versicherungswesens, Wiesbaden 1964, S. 12 ff., sowie F. Büchner, Grundriß der Individualversicherung, 6. Aufl., Karlsruhe 1968, S. 9 ff. 63 Vgl. zur Unterscheidung u n d Interpretation der Prinzipien der Ä q u i v a lenz u n d der Solidarität: W. Bogs, Grundfragen des Rechts der sozialen Sicherheit u n d seiner Reform, B e r l i n 1955, S. 15 ff. u n d S. 30 f.

4. Soziale Sicherung und sozialer Wandel I m letzten Kapitel wurde versucht, i m Sinne einer allgemeinen Theorie, d.h. unabhängig von Besonderheiten des Raumes und der Zeit, eine universelle Notwendigkeit sozialer Sicherung nachzuweisen und einige Bedingungen der Möglichkeit sozialer Sicherung aufzuzeigen. Die für diese theoretischen Ausführungen erforderliche Abstraktion von Raum und Zeit soll nun aufgegeben werden zugunsten einer Darstellung und Analyse der realen Gestaltung der sozialen Sicherung i n konkreten nicht-industriellen Gesellschaften. Die Bewältigung dieses Vorhabens w i r d allerdings dadurch erschwert, daß sich diese Gesellschaften je nach Ort und Zeitpunkt i n höherem Maße unterscheiden als etwa industrielle Gesellschaften. Bei letzteren hat die Industrialisierung eine ähnliche technisch-ökonomische Struktur geschaffen, deren Gewicht und Dynamik die zwischen diesen Gesellschaften bestehenden Verschiedenheiten der sozialen und kulturellen Verhältnisse deutlich verringert hat. Als Folge dieser „Konvergenz" haben die industriellen Gesellschaften auch strukturell weitgehend übereinstimmende Lösungen des Problems der sozialen Sicherung verwirklicht. Innerhalb der Gruppe der nicht-industriellen Gesellschaften weichen dagegen die ökonomischen, sozialen und k u l t u rellen Bedingungen so sehr voneinander ab, daß von einer Vielfalt unterschiedlicher Gestaltungsformen der sozialen Sicherung ausgegangen werden muß. Aus diesem Sachverhalt erwächst das Problem, daß eine vollständige Darstellung und Analyse der mannigfaltigen historischen Erscheinungsformen sozialer Sicherung und ihres Wandels i m Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten ist. Realisierbar und dennoch lohnend dürfte dagegen der Versuch sein, das Spektrum der Gestaltungen sozialer Sicherung auf einige Grundtypen zurückzuführen. Die für diese Reduktion erforderliche Beschränkung auf die Beschreibung ausgewählter Aspekte sozialer Sicherung, auf die Erklärung der konkreten Gestaltungsformen sozialer Sicherung durch wenige Determinanten und auf nur zwei Typen nicht-industrieller Gesellschaften beinhaltet jedoch Vorentscheidungen, die die weitere Behandlung des Themas i n hohem Maße festlegen. Diese Entscheidungen zu erläutern und zu begründen, ist Ziel der folgenden Abschnitte.

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4. Soziale Sicherung und sozialer Wandel 4.1. Prinzipien und F o r m e n sozialer Sicherung

Die A r t und Weise, i n der i n einer gegebenen Situation dem Bedürfnis nach sozialer Sicherung entsprochen wird, läßt sich beschreiben, indem die Institutionen und die Prozesse dargestellt werden, die den einzelnen vor sozialen Risiken und ihren Folgen schützen. M i t dieser Beschreibung werden die „Formen sozialer Sicherung" erfaßt. Soweit diese Formen gesellschaftlich geregelt sind, folgen sie oft einer allgemeinen Grund- oder Leitidee, die die spezifischen Maßnahmen sozialer Sicherung festlegt und aufeinander abstimmt. Eine derartige Idee kann diese normative Wirkung entfalten, weil bzw. wenn sie sich auf einen gesellschaftlich anerkannten Wert zurückführen läßt. M i t der Beschreibung einer solchen Grund- oder Leitidee w i r d das „Prinzip sozialer Sicherung" erfaßt. Der Zusammenhang zwischen einem Prinzip und den Formen sozialer Sicherung kann an einem Beispiel aus der Gegenwart veranschaulicht werden: Das dominierende Prinzip sozialer Sicherung i n den Industriegesellschaften ist ohne Zweifel das Versicherungsprinzip. 1 Es besagt i m wesentlichen, daß die von einem Risiko bedrohten Personen Beiträge aufbringen, die bei Eintritt des Risikos den Geschädigten zufließen (Risikoausgleich). Für das Versicherungsprinzip ist entscheidend, daß Leistungen n u r derjenige beziehen kann, der sich an der Aufbringung der Mittel beteiligt hat. Bei unmodifizierter Anwendung dieses Prinzips beschränkt sich der geschützte Personenkreis daher auf jene, die den geforderten Beitrag aufbringen können. Das Versicherungsprinzip entspricht damit weitgehend den Grundsätzen der modernen Leistungsund Marktgesellschaft. 2 M i t der Entscheidung für das Versicherungsprinzip werden auch die Formen sozialer Sicherung i n hohem Maße festgelegt. Erforderlich w i r d die Bildung einer Gefahrengemeinschaft, gegebenenfalls durch Versicherungszwang, die Einziehung von Beiträgen und deren Verteilung an die durch das versicherte Risiko Geschädigten. Die korrekte Bewältigung dieser Aufgaben verlangt nicht nur organisatorische Fähigkeiten, sie setzt auch besondere Fachkenntnisse voraus. 1

Vgl. A . Burghardt, 1966, S. 126. A u f diesen Zusammenhang weist bereits G. Schmoller h i n : I m Gegensatz zur „kommunistischen Gemeinschaft des Armenwesens" handle es sich bei der Versichertengemeinschaft u m „eine rechtlich geordnete, dem modernen Wirtschaftsleben, seinem Erwerbstrieb u n d Privatrecht, der Idee v o n Leistung u n d Gegenleistung angepaßte" (G. Schmoller t Die soziale Frage — Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf, München u n d Leipzig 1918, S. 354). 2

4.2. Determinate!! sozialer Sicherung

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Durch die Wahl eines bestimmten Sicherungsprinzips w i r d also entschieden über die A r t und den Umfang der vorzunehmenden Umverteilungsprozesse, und es w i r d bestimmt, wer Mitglied einer Solidargemeinschaft sein kann. Ein Prinzip sozialer Sicherung determiniert die Formen sozialer Sicherung allerdings nicht vollständig. So ist mit dem Versicherungsprinzip nicht nur die auf der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung beruhende Individualversichernug vereinbar, sondern auch die Sozialversicherung, die den unterschiedlichen Bedarf und/oder die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der einzelnen berücksichtigt. 3 Dieser Arbeit liegt die These zugrunde, daß nicht nur i n industriellen, sondern auch i n nicht-industriellen Gesellschaften bestimmte Prinzipien und ihnen entsprechende Formen sozialer Sicherung festgestellt werden können. 4 Da vor allem i n den nicht-industriellen Gesellschaften deutliche Unterschiede i n der Gestaltung der sozialen Sicherung auftreten, stellt sich die Frage, welche Faktoren in einer konkreten historischen Situation die jeweils gültigen Prinzipien und Formen sozialer Sicherung bestimmen. Obwohl derartige Determinanten sozialer Sicherung bisher nur für Industriegesellschaften beschrieben worden sind, 5 ist es doch möglich, zu diesem Thema einige allgemeinere Überlegungen anzustellen. 4.2. Determinanten sozialer Sicherung

Die Faktoren, die über die A r t und Weise der Gestaltung der sozialen Sicherung an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit entscheiden, lassen sich identifizieren, wenn ausgegangen w i r d von dem in Abschnitt 3.3.2. beschriebenen Problem sozialer Sicherung und den prinzipiellen Möglichkeiten seiner Lösung. Das Problem sozialer Sicherung wurde darin gesehen, daß die als Folge eines Risikofalles auftretende Verschlechterung individueller Lebenslagen einen mehr oder weniger großen Bedarf an Gütern und Leistungen verursacht, die der Wiederherstellung der ursprünglichen Lebenslage dienen. Als Lösung dieses Problems wurden verschiedene Arten der Umverteilung von Gütern und Leistungen dargelegt. Besonders bedeutsam erschienen Prozesse der Umverteilung zwischen Personen (Abschnitt 3.3.2.3.). Vor diesem Hintergrund lassen sich als Determinanten sozialer Sicherung jene Faktoren ausmachen, die zum einen den Umfang und 3

Vgl. W. Bogs, 1955, S. 22 f. Vgl. die K a p i t e l 5 u n d 6 dieser Arbeit. 5 Vgl. z. B. die Zusammenfassung u n d Diskussion der bisher formulierten Hypothesen über die Entstehungsbedingungen der Sozialversicherung bei: P. A . Köhler, Entstehung v o n Sozialversicherung. E i n Zwischenbericht, i n : H. F. Zacher (Hg.), 1979, S. 19 - 88. 4

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4. Soziale Sicherung u n d sozialer Wandel

die Zusammensetzung der jeweils verfügbaren Güter und Leistungen bestimmen und die zum anderen die sozialen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe oder Gesellschaft regeln. Damit ergeben sich folgende Determinanten sozialer Sicherung: 1. das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung, 2. die Sozialstruktur und 3. die Werte und Normen einer Gruppe oder Gesellschaft. Die Bedeutung der wirtschaftlichen Verhältnisse w i r d evident, wenn man beachtet, daß soziale Sicherung neben der sozialen immer auch eine ökonomische Dimension aufweist. Da Lebenslagen nicht zuletzt durch einen bestimmten Grad materieller Versorgung gekennzeichnet sind, erfordert die Beseitigung der Folgen eines eingetretenen Risikos den Einsatz von Gütern und Leistungen. Soweit diese knapp sind (das dürfte i n allen historischen Gesellschaften der Fall sein), handelt es sich u m ökonomische Güter. Vom Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung hängt nicht n u r ab, was an Gütern u n d Leistungen insgesamt verfügbar und damit unter anderem für Maßnahmen sozialer Sicherung nutzbar ist. Der wirtschaftliche Entwicklungsstand spiegelt sich auch i n den Lebenslagen wider, so daß Verschlechterungen von Lebenslagen bei wachsendem Wohlstand auch zu einem expandierenden Bedarf an Restitutionsleistungen führen. Das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung determiniert darüber hinaus auch weitgehend, welche Arten der Umverteilung als Methoden sozialer Sicherung angewendet werden können. Da die ökonomischen Vorbedingungen intertemporaler und interregionaler Umverteilungsprozesse bereits dargelegt wurden,® soll hier n u r noch am Beispiel der Verbreitung geldwirtschaftlicher Verhältnisse gezeigt werden, wie sehr die ökonomischen Verhältnisse die Gestaltungsmöglichkeiten der sozialen Sicherung beeinflussen. Die Durchsetzung der Geldwirtschaft gestattet erstmals Formen sozialer Sicherung, die i m Prinzip unabhängig von personalen Beziehungen sind. Der Anspruch auf Unterstützung muß nicht mehr i n jedem Fall a n Familienmitglieder, Verwandte oder andere Personen gerichtet werden, er kann auch durch (Beitrags-)Zahlungen an eine Hilfskasse oder durch Veräußerung des Besitzes gegen eine Leibrente erworben werden. 7 Die Gestaltungsmöglichkeiten der sozialen Siche6

Vgl. Abschnitt 3.3.2.1. u n d 3.3.2.2. dieser A r b e i t . Nach Luhmann äußert sich die „größere Abstraktheit des Geldkapitals" i n einer „Unabhängigkeit der Sicherheit v o n personalem Bezug u n d v o m Einhalten moralischer Bindungen" (N. Luhmann, Formen des Helfens i m Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, i n : ders., Soziologische A u f k l ä r u n g 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 140). 7

4.2. Determinaten sozialer Sicherung

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rung (und insbesondere die Entscheidungs- und Handlungsspielräume des einzelnen) werden schließlich auch dadurch erweitert, daß nunmehr Sach- und Geldleistungen gewährt werden können. 8 Der Begriff „Sozialstruktur" ist trotz seiner vielfachen Verwendung (oder gerade deswegen) keineswegs eindeutig bestimmt. 9 Überwiegend w i r d „Sozialstruktur" als Oberbegriff benutzt, der eine Vielzahl empirisch erfaßbarer und relativ beständiger Merkmale zusammenfaßt, die eine gegebene Gesellschaft charakterisieren sollen. Die Auswahl der als bedeutsam erachteten Merkmale dürfte dabei von der zugrunde gelegten Theorie und von den spezifischen Erkenntniszielen abhängen. Nach Hartfiel unterscheiden sich konkurrierende Theorien zur Sozialstruktur dadurch, daß sie, je nach Erkenntnisinteresse, zur Kennzeichnung gesellschaftlicher Verhältnisse verschiedene Dimensionen besonders hervorheben, z.B.: „Grade der Arbeitsteilung und Rationalisierung; Institutionenbildung und organisatorische Verbürokratisierung; Soziallagen, Herrschaftsverteilung und Klassenbildung; Bevölkerungsverteilung nach Alters-, Einkommens- oder Bildungsgruppen." 10 Trotz aller Unschärfe des Begriffs muß die Sozialstruktur als wichtige Determinante sozialer Sicherung betrachtet werden. M i t der Beschreibung der Sozialstruktur einer Gesellschaft werden nicht nur die Lebenslagen ihrer Mitglieder erfaßt, deren Schutz das Ziel jeder sozialen Sicherung ist. Die i n der Sozialstruktur zum Ausdruck kommenden gesellschaftlichen Verhältnisse prägen auch weitgehend die Qualität und den Umfang der sozialen Beziehungen, die wiederum für Verteilungs- und Umverteilungsprozesse entscheidend sind. Schließlich sind zahlreiche Elemente einer Sozialstruktur wie etwa der Altersaufbau der Bevölkerung, die Familienstruktur, die Siedlungsstruktur, die Produktions- und Berufsistruktur von unbestrittener, aber noch kaum erforschter Bedeutung für die Gestaltung der sozialen Sicherung. 1 1 8 Vgl. dazu die Feststellung Kaufmanns: „Das unspezifische Medium Geld ermöglicht Handlungsspielräume, die i m Falle v o n Sachleistungen notwendig enger sind. Geld stellt . . . eine A r t disponibler Reserve dar, d. h. ein M i t t e l für vielfältige Zwecke, das die Anpassungsmöglichkeiten des Subjekts erh ö h t " (F.-X. Kaufmann, 1970, S.293, Hervorh. i. Orig.). Diesen G e w i n n an individueller Freiheit übersieht die verbreitete K r i t i k an der „Monetarisierung" der Sozialpolitik. 9 Vgl. die Diskussion gebräuchlicher Interpretationen dieses Begriffs bei: F. Fürstenberg, „Sozialstruktur" als Schlüsselbegriff der Gesellschaftsanalyse, in: K ö l n e r Zeitschrift für Soziologie u n d Sozialpsychologie, 18. Jg. (1966), S.439 - 453. 10 G. Hartfiel, Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl., Stuttgart 1976, S.625 ( A r t i k e l „Sozialstruktur"). 11 Vgl. zur Relevanz einiger der genannten Elemente für die Praxis der sozialen Sicherung: V. Rys, Soziologie der sozialen Sicherheit, i n : B u l l e t i n der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit, 17. Jg. (1964), S. 3 - 37.

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4. Soziale Sicherung u n d sozialer Wandel

Nebein der Sozialstruktur regeln vor allem die Werte und Normen einer Gesellschaft das soziale Handeln ihrer Mitglieder; sie stellen aus diesem und aus noch darzulegenden Gründen eine weitere Determinante sozialer Sicherung dar. Werte symbolisieren „die von einer Gruppe, Schicht oder von allen Mitgliedern der Gesellschaft geteilte Auffassung des Wünschenswerten, die die Auswahl unter möglichen Handlungsweisen, -mittein und -zielen beeinflußt und einschränkt" 12 . Werte determinieren die soziale Sicherung i n dem Maße, wie sie die Selektion des anzuwendenden Sicherungsprinzips zu steuern vermögen. Zwar w i r d diese Entscheidung auch von vielen weiteren Faktoren mitbestimmt, doch ist andererseits nicht anzunehmen, daß die soziale Sicherung einer Gruppe oder einer Gesellschaft einem Prinzip folgt, das i n deutlichem Widerspruch zu allgemein anerkannten Werten steht. 13 Werte sind für die soziale Sicherung schließlich noch deshalb relevant, weil sie eine aus den unterschiedlichsten Gründen erfolgte Wahl eines Sicherungsprinzips nachträglich legitimieren können. So läßt sich etwa die Dominanz des Versicherungsprinzips i n vielen modernen Gesellschaften rechtfertigen m i t dem Hinweis, daß dieses Prinzip anerkannten Wertvorstellungen wie „Selbstverantwortung" und „Leistungsgerechtigkeit" am besten entspreche. Da soziale Werte i m Prinzip unabhängig von sozialen Situationen Geltung beanspruchen, müssen sie jeweils konkretisiert werden, wenn sie das soziale Handeln zuverlässig steuern sollen. Derart „transformierte" Werte werden i n der Soziologie als „soziale Normen" bezeichnet und wie folgt bestimmt: „Normen sind inhaltlich definierte und bestimmten Adressaten gegenüber als obligatorisch erklärte, relativ konstante Verhaltensregeln; sie geben an, was i n einer bestimmten Situation angesichts einer Reihe von Verhaltensmöglichkeiten zur Erreichung eines bestimmten Zieles geboten und was verboten ist." 1 4 Soweit sich Normen i m tatsächlichen Verhalten widerspiegeln, führen sie nicht nur zu einer bestimmten Orientierung des sozialen Handelns, sondern sie bewirken auch „eine gewisse Regelmäßigkeit, Gleichförmigkeit und Wiederholung der sozialen Handlungsabläufe" 15 . Schon aufgrund dieser Leistungen sind Normen generell für die soziale 12

G. Hartfiel, 1976, S. 700 ( A r t i k e l „Wert"). Nicht zu behandeln ist hier der vor allem i n modernen Gesellschaften bestehende Pluralismus v o n m i t u n t e r widersprüchlichen Werten, der eine eindeutige Entscheidung weitgehend ausschließt (vgl. zu den Formen u n d Folgen des Pluralismus der Gegenwart: A . Bellebaum, Soziologie der modernen Gesellschaft, Hamburg 1977, S. 91 - 106). 14 A . Burghardt, Einführung i n die Allgemeine Soziologie, 2. Aufl., M ü n chen 1974, S. 56. 15 G. Hartfiel, 1976, S. 488 ( A r t i k e l „Norm"). 18

4.3. Soziale Differenzierung u n d soziale Sicherung

75

Sicherung von Bedeutung, weil wirksamer sozialer Schutz i n hohem Maße auf Regelung und Regelmäßigkeit angewiesen ist. 16 Zu einer Determinante sozialer Sicherung werden die jeweils gültigen Normen jedoch vor allem deshalb, weil nicht erwartet werden kann, daß die für einen Risiko- und Bedarfsausgleich erforderlichen Umverteilungsprozesse ohne eine verbindliche Regelung immer zuverlässig und i n ausreichendem Maße zustande kommen. 17 Überall lassen sich daher Normen finden, die festlegen, wer i n welchem Umfang zur Unterstützung von Geschädigten und Notleidenden verpflichtet ist. Bei historischer Betrachtung zeigt sich, daß Inhalt und Verbindlichkeit dieser Normen nicht für alle Zeiten feststehen: So wurde etwa die traditionelle Fürsorgepflicht gegenüber Angehörigen, Abhängigen und Untergebenen zusehends eingeschränkt und abgeschwächt und auf umfassende Risikokollektive und letztlich auf den Staat übertragen. 18 Gerade diese Veränderungen machen aber nochmals bewußt, daß die Gestaltung der sozialen Sicherung nicht zuletzt von den jeweils gültigen Normen einer Gesellschaft bestimmt wird. 4.3. Soziale Differenzierung und soziale Sicherung

Unter der Voraussetzung, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse, die Sozialstruktur und die Werte und Normen einer Gesellschaft tatsächlich die entscheidenden Determinanten der Gestaltung der sozialen Sicherung darstellen, kann nun versucht werden, das Problem des Wandels der Prinzipien und Formen sozialer Sicherung zumindest theoretisch zu lösen. Sind nämlich die Determinanten sozialer Sicherung zutreffend und vollständig erfaßt worden, so muß ein festgestellter Wandel der Prinzipien und Formen sozialer Sicherung zurückzuführen sein auf Veränderungen dieser Determinanten. Natürlich schließt sich hier die Frage an, welche Faktoren wiederum den Wandel der Determinanten verursacht haben. Eine befriedigende Antwort kann jedoch erst dann gegeben werden, wenn der Gesamtprozeß des ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandels hinreichend erklärt 16 Aus der auch auf Umfragen gestützten Studie Kaufmanns läßt sich unter anderem der eindeutige Schluß ziehen, daß f ü r das individuelle E m p finden, sozial gesichert zu sein, die Transparenz u n d die Verläßlichkeit der Sozialleistungsgewährung wichtiger sind als die absolute Höhe der Leistungen (vgl. F.-X. Kaufmann, 1970, insbesondere K a p i t e l 5, S. 256 ff.). 17 Vgl. hierzu Abschnitt 3.3.2.3. dieser Arbeit. 18 Dieser Wandel k a n n z. B. an der E n t w i c k l u n g des Unterhaltsrechts aufgezeigt werden (vgl. z.B. F. Ruland [Familiärer Unterhalt u n d Leistungen der sozialen Sicherheit, B e r l i n 1973, S.388f.], der i m Vergleich zu v o r i n d u striellen Zeiten eine Konzentration der Unterhaltspflichten auf die K e r n familie u n d eine „Vergesellschaftung der Altenversorgung" feststellt; vgl. hierzu auch Ε. v. Hippel, 1979, S. 48 ff.).

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4. Soziale Sicherung u n d sozialer Wandel

ist. Trotz zahlreicher und bedeutsamer Versuche i n dieser Hinsicht gilt aber noch immer die Feststellung Dreitzels, daß eine umfassende Theorie des gesellschaftlichen Wandels beim derzeitigen Stand der Forschung noch nicht möglich ist. 19 Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich eine Beschränkung auf die ohnehin schwierige Analyse der möglichen Wirkungen von Veränderungen der Determinanten sozialer Sicherung auf deren Gestaltung. Es ist also zu klären, auf welche Weise und i n welchem Maße Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse, der Sozialstruktur und der Werte und Normen einer Gesellschaft zu einem Wandel der Prinzipien und Formen sozialer Sicherung führen. Dabei ist zu beachten, daß diese Faktoren i n vielfältiger und enger Beziehung zueinander stehen, so daß etwa ein Wandel der ökonomischen Bedingungen (z. B. eine Zunahme der Arbeitsteilung) die Sozialstruktur und die Werte und Normen zu Anpassungsreaktionen zwingt. Gleiches gilt für Wandlungsprozesse, die beispielsweise von Veränderungen i m Bereich der Werte und Normen ausgehen.20 Angesichts dieser ausgeprägten Interdependenzen ist es wenig sinnvoll, die eine oder andere der genannten Determinanten zu isolieren und zu fragen, welche Folgen sich aus Veränderungen dieser Größe für die soziale Sicherung ergeben. Fruchtbarer erscheint dagegen der Versuch, von dieser Interdependenz und damit von einem zusammenhängenden Wandel aller drei Determinanten auszugehen. W i l l man diesen Wandel m i t einem Begriff erfassen und unterstellt man eine bestimmte Wandlungsrichtung, so bietet es sich an, i n diesem Zusammenhang von gesellschaftlicher oder sozialer Differenzierung zu sprechen. Wie bereits ausgeführt wurde, bezeichnet der Begriff der sozialen Differenzierung einen langfristigen Entwicklungsprozeß, i n dessen Verlauf aus kleinen, homogenen sozialen Gebilden durch zunehmende Arbeitsteilung, soziale Schichtung und weitere strukturelle Wandlungen schließlich immer größere, heterogene und komplexe Gesellschaften entstehen. 21 Der Prozeß der sozialen Differenzierung beinhaltet bestimmte Veränderungen aller Determinanten der sozialen Sicherung: die zunehmende Arbeitsteilung bewirkt einen völligen Wandel der wirtschaftlichen Verhältnisse; die Entstehung von Herrschaft und so19 Vgl. H. P. Dreitzel (Hg.), Sozialer Wandel. Zivilisation u n d Fortschritt als Kategorien der soziologischen Theorie, 2. Aufl., Neuwied u n d B e r l i n 1972, S. 17. 20 Vgl. z . B . die klassische Studie Max Webers: Die protestantische E t h i k u n d der „Geist" des Kapitalismus, zuerst i n : A r c h i v für Sozialwissenschaft u n d soziale Praxis, 20. Bd. (1904), S. 1 - 54; 21. Bd. (1905), S. 1 - 110. 21 Vgl. Abschnitt 1.2.3., Fußnote 55 dieser Arbeit.

4.3. Soziale Differenzierung u n d soziale Sicherung

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zialer Schichtung führt zu einer deutlich veränderten Sozialstruktur, und schließlich kann auch die Bildung eines Pluralismus von Werten und Normen als weitere Folge der Differenzierung beschrieben werden. 22 I m Prozeß der sozialen Differenzierung wandeln sich jedoch nicht nur die Determinanten der sozialen Sicherung, es kommt auch zu einer ausgeprägten Differenzierung der individuellen Lebenslagen. Es liegt nahe, daß dieser Differenzierung der Schutzobjekte der sozialen Sicherung auch eine Differenzierung der Schutz- und Sicherungsmaßnahmen folgen muß. Zu beachten ist i n diesem Zusammenhang auch, daß der Differenzierungsprozeß selbst Quelle eines zusätzlichen Bedarfs an Maßnahmen sozialer Sicherung sein kann, wenn sich der strukturelle Wandel ungeplant und i n kurzer Zeit vollzieht (wie etwa i m Falle der Industrialisierung). Aufgrund dieser vielfältigen Beziehungen empfiehlt es sich, die soziale Differenzierung als zentrale Variable für eine Darstellung und Analyse des Wandels der Prinzipien und Formen sozialer Sicherung heranzuziehen. Dafür spricht auch, daß die soziale Differenzierung indirekt Veränderungen von Größen wie Bevölkerung, Gebiet, Technik und Organisation erfaßt, 23 die die Gestaltung der sozialen Sicherung zumindest beeinflussen. Es bietet sich daher an, in Anlehnung an Tenbruck die zu untersuchenden Gesellschaften nach dem Grad ihrer sozialen Differenzierung zu ordnen und dann auf jeder Stufe die dominierenden Prinzipien und Formen sozialer Sicherung darzustellen. Nach Tenbruck k a n n man dabei von einer Gesellschaft mit minimaler Differenzierung ausgehen und dann feststellen, daß bei wachsender Differenzierung grundsätzlich neue gesellschaftliche Tatbestände von herausragender Bedeutung auftreten, die ältere Gegebenheiten überlagern oder verdrängen: „Bei wachsender Differenzierung entstehen also qualitative Brüche, die Gesellschaftstypen gegeneinander abgrenzen. Und zwar ergeben sich dabei drei sinnfällige Typen, für die die B e z e i c h n u n g e n primitive

(einfache) Gesellschaft,

Hochkultur

und

mo-

derne (industrielle) Gesellschaft u m so angebrachter erscheinen, als sie gängige Bezeichnungen darstellen." 24 Diese Typologie, die ähnlich auch bei anderen Autoren zu finden ist, 25 soll als Gliederungsprinzip für die weitere Darstellung übernom22 Vgl. J. Morel, Wandel i m Wertsystem, i n : Th. Hanf u. a. (Hg.), F u n k Kolleg „Sozialer Wandel", Bd. 1, F r a n k f u r t / M . 1975, S. 202 ff. 23 Vgl. hierzu F. Tenbruck, Gesellschaft u n d Gesellschaften: Gesellschaftstypen, in: Die moderne Gesellschaft, Freiburg i. B r . 1972, S. 55. 24 Ebd., S. 55 (Hervorh. i. Orig.). 25 Vgl. z.B. Ν. Luhmann, Formen des Helfens i m Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, i n : ders., 1975, S. 136.

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4. Soziale Sicherung u n d sozialer Wandel

men werden. Nicht akzeptiert werden können allerdings die Bezeichnungen „primitive Gesellschaft" und „Hochkultur", weil sie mehr bewerten als informieren. Abgesehen w i r d auch von der Behandlung moderner Gesellschaften, da hier ausschließlich eine Analyse der sozialen Sicherung unter nicht-industriellen Bedingungen erfolgen soll. Bei einer Unterscheidung nach dem Grad der sozialen Differenzierung verbleiben damit als Typen nicht-industrieller Gesellschaften: a) gering differenzierte oder „einfache" Gesellschaften (sie werden i m folgenden als „archaische Gesellschaften" bezeichnet); b) stärker differenzierte oder komplexe Gesellschaften (sie werden i m folgenden als „feudale Gesellschaften" bezeichnet). Abstrahiert w i r d mit dieser dichotomischen Typologie von allen tatsächlichen oder denkbaren Übergangsformen, die zwischen den Polen geringer und ausgeprägter Differenzierung einzuordnen wären. Nicht berücksichtigt werden auch die sogenannten „Entwicklungsländer", die zwar (noch) nicht zu den industriellen Gesellschaften zu zählen sind, die aber andererseits nicht durch einen Prozeß sozialer Differenzierung, sondern durch den Kontakt mit der modernen Zivilisation entstanden sind. Die Beschränkung auf nur zwei Typen nicht-industrieller Gesellschaften läßt sich rechtfertigen, weil sie gestattet, unterschiedliche Lösungen des gleichen Problems sozialer Sicherung besonders prägnant herauszuarbeiten. Die deutlichen Abweichungen i n der Gestaltung der sozialen Sicherung ergeben sich dann als unmittelbare Folge grundsätzlich verschiedener ökonomischer, sozialer und kultureller Bedingungen. Der Zusammenhang zwischen diesen differenzierten Bedingungen und der Formung der sozialen Sicherung kann wie folgt skizziert werden (für Einzelheiten vergleiche die folgenden Kapitel): Archaische Gesellschaften setzen sich aus einer nur geringen Zahl von Mitgliedern zusammen, die beständige und direkte Beziehungen zueinander unterhalten. Es fehlen die ökonomischen Voraussetzungen für eine Bildung sozialer Schichten und für die Entstehung stabiler Herrschaftsverhältnisse. Die Gesellschaftsmitglieder fühlen sich miteinander eng verbunden (oft über eine postulierte Abstammung von einem gemeinsamen Ahnen) und stellen aus der Perspektive der sozialen Sicherung eine einzige Solidargemeinschaft dar. Diese Gemeinschaft umfaßt alle Gesellschaftsmitglieder und ist daher identisch mit der jeweiligen Gesamtgesellschaft. Eine derartige Regelung ist für isolierte Kleingesellschaften mit geringer innerer Differenzierung und ständiger Bedrohung durch eine feindliche Umwelt notwendig, aber auch ökonomischer als spezialisierte Formen sozialer Sicherung.

4.3. Soziale Differenzierung und soziale Sicherung

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I n feudalen Gesellschaften sind die ökonomischen und sozialen Bedingungen und damit die Lebenslagen nicht mehr für alle gleich, sondern infolge der arbeitsteiligen Produktion i n Landwirtschaft, Gewerbe und Handel und infolge der vertikalen Gliederung der Gesellschaft i n Stände außerordentlich differenziert. Eine alle Gesellschaftsmitglieder umfassende Solidargemeinschaft läßt sich unter diesen Bedingungen nicht mehr herstellen. Zu veschieden sind (aufgrund der ökonomischen Arbeitsteilung) die Risiken der einzelnen, aber auch (aufgrund der sozialen Schichtung) die Verteilungsinteressen. Für eine alle umfassende Solidarität („einer für alle, alle für einen") fehlen i n einer feudalen Gesellschaft elementare Voraussetzungen — es reicht nur noch zum Almosen, das die soziale Ungleichheit stabilisiert. 26 Der Differenzierung der Gesellschaft folgt eine Differenzierung der sozialen Sicherung: Es entsteht eine Vielzahl unterschiedlicher Personenverbände, die neben anderen Zwecken auch dem solidarischen Risiko- und Bedarfsausgleich dienen. Darüber hinaus entwickeln sich Formen herrschaftlicher Fürsorge und Versorgung für Abhängige und Untergebene, die zur Selbsthilfe nicht fähig und zum Zusammenschluß m i t Gleichgestellten nicht berechtigt sind.

26

Vgl. ebd., S. 139.

5. Soziale Sicherung in archaischen Gesellschaften 5.1. Archaische Gesellschaften 5.1.1. Zum Begriff „archaische Gesellschaften"

Die i n diesem Kapitel zu behandelnden Sozialsysteme werden i n der wissenschaftlichen Literatur, insbesondere i n den Arbeiten der Ethnologie, bis heute weitgehend als „primitive Gesellschaften" bezeichnet und damit bereits begrifflich von sogenannten „komplexen" und „entwickelten" Gesellschaften unterschieden. 1 Der Begriff „Primitive" hat die ältere Bezeichnung „Wilde" abgelöst, die ursprünglich jene Völker kennzeichnen sollte, die außerhalb der neuzeitlichen Zivilisation lebten. 2 Die Ethnologen sind sich des diskriminierenden Gehalts der Bezeichnung „ p r i m i t i v " durchaus bewußt. Das zeigen zumindest die i n der einschlägigen Literatur zur Regel gewordenen Hinweise, daß die Verwendung des Begriffs „ p r i m i t i v " bzw. „primitive Gesellschaften" nur klassifikatorischen Zwecken dienen und keine Bewertung ausdrücken solle. A n dieser Benennung müsse jedoch festgehalten werden, weil es bisher nicht gelungen sei, sich auf einen allgemein annehmbaren Ersatzbegriff zu einigen. 3 I m deutschen Sprachraum hat als alternative Bezeichnung der Begriff „Naturvölker" eine gewisse Verbreitung gefunden. Diese Begriff sbildung ist jedoch belastet durch den unter dem Einfluß des Sozialevolutionismus konstruierten Gegensatz „Naturvolk — K u l t u r v o l k " , der ebenfalls nicht frei von Wertungen ist. Darüber hinaus erscheint die Bezeichnung „Naturvolk" insofern problematisch, als sie die Deutung nahelegt, daß ein derartiges Sozialgebilde der Natur besonders nahestünde oder gar ein Teil der Natur sei. Dieser Annahme wider1 Allerdings haben sich auch nach ethnologischem U r t e i l alle Versuche als unzureichend erwiesen, „ ,primitive' Völker u n d K u l t u r e n m i t Hilfe v o n K r i terien aus der Technologie (»geringe Naturbeherrschung'), der A n t h r o p o geographie (,Rückzugsvölker'), der Geschichte (,geschichtslose Völker 4 ) und der Psychologie (»Mentalität der Primitiven') gegen sogenannte ,hochkulturelle' Gesellschaften oder »Zivilisationen' abzugrenzen" (R. Schott, Aufgaben u n d Verfahren der Völkerkunde, in: H. Trimborn (Hg)., Lehrbuch der V ö l k e r kunde, 4. Aufl., Stuttgart 1971, S. 1 - 36, hier: S. 3). 2 Vgl. M. PanofflM. Perrin, Taschenwörterbuch der Ethnologie, München 1975, S. 244 f. 3 Vgl. E. Willems, P r i m i t i v e Gesellschaften, in: R. König (Hg.), Soziologie (Fischer-Lexikon), Neuausgabe F r a n k f u r t / M . 1967, S. 246.

5.1. Archaische Gesellschaften

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spricht jedoch bereits die sehr komplexe und „unnatürliche" Sozialorganisation der sogenannten „Naturvölker". 4 Eine weitere Alternative zu der Benennung „primitive Gesellschaften" stellt die Bezeichnung „schriftlose Völker" (non-literate peoples) dar, die sich gelegentlich in jüngeren ethnologischen Arbeiten findet. Diese Begriffsbildung vermeidet zwar allzu offensichtliche Wertungen und gibt auch keinen Anlaß zu irreführenden Assoziationen; sie bleibt aber unbefriedigend, weil die Betonung nur eines Merkmals (bzw. seines Fehlens) nicht ausreichen dürfte, eine ganze Klasse von recht unterschiedlichen Gesellschaften zu kennzeichnen. I m übrigen w i r d mit dieser Bezeichnung die Bedeutung der Schrift für die gesellschaftliche Praxis vermutlich überschätzt. 5 Um nun i m folgenden nicht ständig von „sogenannten" primitiven Gesellschaften sprechen oder diese Benennung immer i n Anführungszeichen setzen zu müssen, w i r d hiermit vorgeschlagen, diese Sozialsysteme als „archaische Gesellschaften" zu bezeichnen. Der Begriff „archaische Gesellschaften" ist nicht w i l l k ü r l i c h gewählt. Von „archaischen" statt „primitiven" Gesellschaften sprach bereits der bedeutende französische Soziologe u n d Anthropologe Marcel Mauss i n seinem klassi-

schen „Essai sur le don: Forme et raison de l'échange dans les sociétés archaïques", der erstmals i n den Jahren 1923 und 1924 i n der Zeitschrift „L'Année Sociologique" erschienen ist. 8 I m gleichen Sinn w i r d die Bezeichnung „archaische Gesellschaften" aber auch i n jüngeren ethnologischen und soziologischen Arbeiten gebraucht, 7 und sie könnte daher 4

Vgl. ebd., S. 247. Vgl. auch die K r i t i k Gehlens an der Unterscheidung v o n „ K u l t u r - u n d Naturmenschen" u n d seine Gegenposition, die er i n der Formel zusammenfaßt, daß der Mensch v o n Natur ein Kulturwesen sei: „Jedenfalls kennen w i r den Menschen n u r i m Besitz v o n Kulturerrungenschaften, die, so p r i m i t i v man sie finden mag, doch auch so fundamental sind, daß die Existenz des Menschen ohne sie undenkbar wäre. Eine Unterscheidung v o n Naturmenschen u n d Kulturmenschen ist daher unpräzise u n d falsch, w e n n man sie buchstäblich n i m m t — es gibt u n d gab j e n u r eine Kulturmenschheit, allerdings m i t ganz ungemeinen Unterschieden des Inventars" (1961, S. 78). 5 „Das oft zur Abgrenzung »primitiver Gesellschaften' herangezogene K r i t e r i u m des Fehlens einer Schrift ist selbstverständlich lediglich ein Korrelat der vorwiegend auf persönlichen K o n t a k t e n beruhenden sozialen I n t e r aktionen i n diesen Gesellschaften, i n denen meist gar k e i n Bedürfnis nach einer über zeitliche u n d räumliche oder auch soziale Distanz h i n w e g schriftlich fixierten K o m m u n i k a t i o n besteht. Die mündliche T r a d i t i o n funktioniert so befriedigend, daß z. B. rechtliches, religiöses u n d dichterisches Gedankengut auch ohne Aufzeichnung verbreitet u n d weitergegeben werden k a n n " (R. Schott, 1971, S. 3). β Deutsche Ausgabe: Die Gabe. F o r m u n d F u n k t i o n des Austausche i n archaischen Gesellschaften, in: M. Mauss, Soziologie u n d Anthropologie, Bd. 2, München—Wien 1975, S. 9 - 144. 7 Vgl. z. B. G. Maler-Sieber, Völkerkunde, die uns angeht, Gütersloh 1978; Th. Luckmann, Zwänge u n d Freiheiten i m Wandel der Gesellschaftsstruktur, 6 Partsch

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5. Soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften

eines Tages die konventionelle Benennung „primitive Gesellschaften" ersetzen. M i t der Verwendung des Begriffs „archaisch" (vom griechischen archaios: „uranfänglich", „ursprünglich") zur Kennzeichnung bestimmter Gesellschaften soll nicht ausgesagt werden, daß diese Gesellschaften den Anfängen menschlicher Gemeinschaftsbildung i n der Vorzeit gleichzusetzen wären. Die Tatsache, daß schriftlose Gesellschaften ihre Vergangenheit nicht dokumentieren, darf nicht zu dem Schluß verleiten, sie hätten keinen historischen Wandel erfahren, sie seien Gesellschaften ohne Veränderung und Entwicklung, Gesellschaften ohne Geschichte.8 „ A r chaisch" soll hier lediglich andeuten, daß die so bezeichneten Gesellschaften i n höherem Maße entwicklungsgeschichtlich ältere Elemente (bestimmte Verhaltensweisen, Produktionstechniken, Traditionen usw.) aufweisen als etwa industrielle Gesellschaften. 5.1.2. Merkmale archaischer Gesellschaften

Die ethnographisch erfaßten archaischen Gesellschaften weisen auf den ersten Blick mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten auf, so daß es fragwürdig erscheinen könnte, sie als einen bestimmten Typ von Gesellschaften darzustellen. 9 Zu einem großen Teil lassen sich diese Unterschiede jedoch zurückführen auf die extremen Verschiedenheiten der natürlichen Umwelten dieser Gesellschaften (Wüste, Steppe, tropischer Regenwald, Meeresküste, arktische Regionen usw.) und -auf die damit teilweise zusammenhängenden Verschiedenheiten der dominierenden Produktionsweisen (Jagd und Sammeltätigkeit, Fischfang, Viehhaltung, Garten- und Feldbau). 10 Auch die relative Isolation vieler archaischer Gesellschaften und damit das Fehlen von Prozessen des Austauschs, der in: H.-G. GadamerlP. Vogler (Hg.), Neue Anthropologie, Bd. 3 (Sozialanthropologie), Stuttgart 1972, S. 168 - 198; N. Luhmann, Formen des Helfens i m Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, in: ders., 1975, S. 136 ff. Der V o l l ständigkeit halber ist noch darauf hinzuweisen, daß i n Darstellungen u n d Analysen des gesellschaftlichen Evolutionsprozesses gelegentlich unterschieden w i r d zwischen p r i m i t i v e n u n d archaischen Gesellschaften, wobei letztere als entwicklungsgeschichtlich fortgeschrittener gelten (vgl. z . B . T. Parsons , Gesellschaften. Evolutionäre u n d komparative Perspektiven, F r a n k f u r t / M . 1975, S. 54 ff. u n d S. 85 ff.). Eine solche Differenzierung erscheint jedoch für die Zwecke dieser A r b e i t nicht erforderlich. 8 Vgl. hierzu C. Levi-Strauss, Der Begriff des Archaismus i n der Ethnologie, in: ders., Strukturale Anthropologie, Bd. 1, F r a n k f u r t / M . 1976 (erstmals: Paris 1958), S. 115-134. 9 Einen Überblick über die Vielfalt archaischer Gesellschaften v e r m i t t e l t z. B. die lObändige Brockhaus-Völkerkunde „ B i l d der V ö l k e r " , Wiesbaden o. J. 10 Der systematischen Erforschung der komplexen Beziehungen zwischen natürlicher U m w e l t u n d menschlicher K u l t u r w i d m e t sich die sogenannte „ökologische Anthropologie" (vgl. z . B . R. A. Rappaport, Nature, Culture, and Ecological Anthropology, i n : H. L. Shapiro (Hg.), Man, Culture, and Society, 2. Aufl., London—Oxford—New Y o r k 1971, S. 237 - 267).

5.1. Archaische Gesellschaften

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Diffusion und A k k u l t u r a t i o n kann die Entstehung oder zumindest die Beibehaltung mancher Besonderheiten erklären. Trotz der unbestreitbaren Unterschiede zwischen archaischen Gesellschaften stimmen sie andererseits i n einigen wichtigen Merkmalen i n so hohem Maße überein, daß ihre Zusammenfassung i m Rahmen dieser Arbeit gerechtfertigt werden kann. Zu diesen Gemeinsamkeiten zählen vor allem die (im Vergleich zu feudalen und industriellen Gesellschaften) wenig entwickelte Technologie, der geringe personelle Umfang archaischer Gesellschaften und das weitgehende Fehlen einer sozialen und ökonomischen Differenzierung. Diese Merkmale, die sich zum Teil wechselseitig bedingen, bestimmen sehr wesentlich die Organisation des sozialen und wirtschaftlichen Lebens und damit auch die Gestaltung der sozialen Sicherung i n archaischen Gesellschaften. Die folgende Erörterung einiger Kennzeichen dieser Gesellschaften und ihres Einflusses auf die soziale Sicherung kann keine umfassende Beschreibung liefern (das ist und bleibt Aufgabe der Ethnographie). Hier soll lediglich versucht werden, die für archaische Gesellschaften spezifische Ausprägung der i m letzten Kapitel abgeleiteten Determinanten sozialer Sicherung (wirtschaftliche Verhältnisse, Sozialstruktur, Werte und Normen) aufzuzeigen. Dabei ist vorauszuschicken, daß diese Dreiteilung nur für Zwecke der Analyse gerechtfertigt ist; i n der Realität archaischer Gesellschaften stehen der wirtschaftliche, der sozialstrukturelle und der normative Bereich nicht i n relativer Autonomie nebeneinander, sondern sie durchdringen sich sehr weitgehend und bilden einen nahezu unauflöslichen Zusammenhang. 11 5.1.2.1. Archaische

Ökonomie

I n einem allgemeinen, auch archaische Bedingungen berücksichtigenden Sinne bezeichnet „Wirtschaft" jenes menschliches Handeln, das die Produktion, die Verteilung, den Austausch und den Verbrauch knapper Güter und Dienstleistungen umfaßt 1 2 . Überwiegend wirtschaftet der Mensch nicht als isoliertes Einzelwesen, sondern er produziert und konsumiert i n Gemeinschaft m i t anderen; insofern ist Wirtschaften ein sozialer Prozeß, der abhängt von den zwischen den Mitgliedern einer 11 Das Scheitern rein ökonomisch orientierter Entwicklungsstrategien dürfte auch auf das Ignorieren dieser Interdependenzen zurückzuführen sein (vgl. hierzu z. B. G. Zimmermann, Sozialer Wandel u n d ökonomische E n t wicklung, Stuttgart 1969, insbesondere S. 29 ff. u n d S. 48 ff.). 12 Diese umschreibende Begriffsbestimmung erscheint geeigneter für eine Analyse der Ökonomie nicht-industrieller Gesellschaften als die i n der W i r t schaftswissenschaft übliche Kennzeichnung v o n „Wirtschaften" als rationales, auf die M a x i m i e r u n g materiellen Nutzen zielendes Handeln (vgl. zur Begründung: K. Polanyi, Ökonomie u n d Gesellschaft, F r a n k f u r t / M . 1979, insbesondere S. 209 ff.).

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5. Soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften

Gruppe oder Gesellschaft bestehenden Beziehungen. Die Erzeugung der zur Bedürfnisbefriedigung benötigten Güter setzt schließlich i n aller Regel ein gezieltes Einwirken auf die Natur voraus, einen Prozeß, i n dem sich der Mensch Elemente der Natur aneignet, sie gegebenenfalls verändert und sie schließlich wieder an die Natur zurückgibt; insofern ist Wirtschaften ein ökologischer Prozeß, der abhängt von der jeweils verfügbaren Technologie. Die Ökonomie archaischer Gesellschaften 13 w i r d zunächst durch eine vergleichsweise wenig entwickelte Technik geprägt. 14 Diese Feststellung trifft nicht nur zu für Jäger- und Sammlergesellschaften, sie gilt mit geringen Einschränkungen auch für vom Fischfang, der Viehhaltung oder von der Garten- und Feldbebauung lebende archaische Sozialsysteme 15 . Der geringe Grad technischer Entwicklung zwingt zu einer sehr weitgehenden und oft ingeniösen Anpassung an die Bedingungen der natürlichen Umwelt, die aber andererseits auch die hohe Abhängigkeit archaischer Gesellschaften von ökologischen Faktoren ausdrückt. 16 Archaisches Wirtschaften ist weiterhin gekennzeichnet durch den Verzicht auf den Einsatz tierischer und sonstiger Energieträger; lediglich die menschliche Muskelkraft geht i n den Produktionsprozeß ein. 17 Neben der bescheidenen Technologie trägt dieser geringe Input an Energie dazu bei, daß die Pro-Kopf-Produktivität archaischer Gesellschaften sehr niedrig ist. Dies hat zur Folge, daß das Gesamtprodukt nicht ausreicht, einen größeren Teil der Bevölkerung vom täglichen Nahrungserwerb freizustellen und mit anderen Aufgaben (z. B. handwerklicher Produktion) zu betrauen. 18 Damit bleibt nicht nur die A r beitsteilung auf rudimentärem Niveau, auch die Chance zur Entwicklung und Durchsetzung von Innovationen ist unter diesen Bedingungen minimal. Das Ausbleiben technischen Fortschritts erklärt wiederum den stationären Charakter archaischen Wirtschaftens, das Verharren auf dem einmal erreichten Niveau.

13 Die Ausführungen zur ökonomischen Situation archaischer Gesellschaften folgen i m wesentlichen der zusammenfassenden Darstellung von D. Forde: P r i m i t i v e Economics, in: H. L. Shapiro (Hg.), 1971, S. 402 - 416. Berücksichtigt wurde auch die theoretisch interessante Diskussion der Voraussetzungen u n d der Folgen archaischen Wirtschaftens in: J. Röpke, 1970, S. 7 - 45. 14 Vgl. D. Forde, 1971, S. 402 f.; sowie K. Dittmer, Die Wirtschaft der N a t u r völker, in: H. Trimborn (Hg.), 1971, S. 323 - 346, hier: S. 326 f. 15 Beispielsweise kennen Garten- u n d Feldbauern n u r den Grabstock u n d die Hacke, nicht aber (wie Ackerbauern) den Pflug u n d Zugtiere. 18 Vgl. K. Dittmer, 1971, S. 325. 17 Vgl. D. Forde, 1971, S. 403. 18 Vgl. ebd., S. 403.

5.1. Archaische Gesellschaften

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Die unzureichende Beherrschung der natürlichen Umwelt führt zu großer Ungewißheit bezüglich einer dauerhaften Versorgung mit dem Lebensnotwendigen, zu einem hohen „Subsistenzrisiko". 19 Weder läßt sich der Jagderfolg sicherstellen, noch können Trockenheit oder Epidemien vermieden werden, die die Ernte und/oder das Vieh vernichten. Eine intertemporale oder interregionale Verteilung des Subsistenzrisikos w i r d begrenzt durch die sehr beschränkten Möglichkeiten des Lagerns und Speicherns und des Transport von Gütern. 20 Zwar bestehen i n dieser Hinsicht beträchtliche Unterschiede zwischen den verschiedenen archaischen Wirtschaften (z. B. können Jäger- und Sammlergesellschaften sowie Hirtengesellschaften durch Wanderungen unter günstigen Bedingungen einen interregionalen Risikoausgleich herbeiführen), doch ändert dies wenig an der grundsätzlichen Richtigkeit der Feststellung, daß Unsicherheit ein charakteristisches Merkmal der archaischen Ökonomie darstellt. 21 Aus den Restriktionen archaischen Wirtschaftens (geringe Produktivität und Ungewißheit des Produktionsertrages) folgen einige wichtige Konsequenzen für die Organisation des Produktions- und Distributionsprozesses. Das Überleben des einzelnen und der Gruppe ist unter derartigen Einschränkungen nur dadurch zu sichern, daß egozentrisches Handeln weitgehend unterdrückt und kooperatives und solidarisches Verhalten gefordert und gefördert wird. 2 2 Damit ist auch ausgeschlossen, daß die Ökonomie wie i n den Industriegesellschaften als relativ autonomer Bereich konstituiert und i m Hinblick auf eigene Gesetzmäßigkeiten und Zielsetzungen rational gestaltet wird. Archaische Gesellschaften können es nicht riskieren, die Prozesse der Produktion und der Distribution aus der umfassenden sozialen Kontrolle zu entlassen. Die konkrete Gestaltung der Gütererzeugung bietet aufgrund der sehr unterschiedlichen ökologischen und technologischen Voraussetzungen der archaischen Gesellschaften ein recht vielfältiges Bild. 2 3 Trotz 19

Vgl. zu diesem Begriff: J. Röpke, 1970, S. 10. Vgl. ebd., S. 12; sowie D. Forde, 1971, S. 404. 21 „Insecurity . . . is frequently the m a r k of a p r i m i t i v e economy" (D. Forde, 1971, S. 404). 22 „Das Risiko der Subsistenzwirtschaft, das Ausgeliefertsein an eine n u r durch magische P r a k t i k e n kontrollierbare Natur, das Schwanken zwischen Hunger u n d Uberfluß u n d daher das Wissen, daß jeder v o n Zeit zu Zeit i n Schwierigkeiten kommen kann, bedingen die soziale Organisation v o n Prod u k t i o n u n d Verteilung. I n solchen Situationen — u n d sie sind für einen Großteil der p r i m i t i v e n Gemeinschaften eigentümlich — wäre die i n d i v i duelle Aufspeicherung eine unerträgliche u n d dysfunktionale Handlungsweise, die v o n der Gemeinschaft nicht geduldet w i r d " (J. Röpke, 1970, S. 26, Hervorh. v. M. P.). 23 Vgl. hierzu R. Thurnwald, Werden, Wandel u n d Gestaltung der W i r t schaft i m Lichte der Völkerforschung, Berlin—Leipzig 1932 b, S. 52 - 84. Vgl. auch St. H. Udy, Organization of Work. A Comparative Analysis of Production among Nonindustrial Peoples, New Haven 1959. 20

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5. Soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften

aller Verschiedenheiten ergeben sich aus der Notwendigkeit sozialer Organisation und Kontrolle der Produktion jedoch zwei auffallende Gemeinsamkeiten: 1. Es gibt i n archaischen Gesellschaften zwar Privateigentum an selbst hergestellten Gegenständen (z. B. Waffen, Kleidung), aber nicht an den für alle lebenswichtigen Ressourcen (Land, Wald, Wasser usw.). 24 Diese Ressourcen befinden sich i m Besitz eines Familienverbandes oder einer übergeordneten Gemeinschaft, die jedem ihrer Mitglieder ein Nutzungsrecht einräumen. 2. I n archaischen Gesellschaften w i r d ein großer Teil der zu bewältigenden Arbeit i m Kollektiv geleistet. 25 Gemeinschaftsarbeit findet sich nicht nur bei Vorhaben, die i n jedem Fall ein Zusammenwirken mehrerer erfordern (z. B. der Bau eines Hauses), sondern auch bei Tätigkeiten, die i m Prinzip individuell verrichtet werden könnten (z. B. die Feldbestellung). 26 Deutlicher noch als bei der Produktion zeigt sich die soziale Organisation und Kontrolle des Wirtschaftens i n archaischen Gesellschaften i n der Verteilung der erzeugten Güter. Angesichts der generell geringen Produktivität und der ausgeprägten Ungewißheit des Produktionsertrags muß die Distribution i n einer Weise geregelt werden, die allen Gesellschaftsmitgliedern das Überleben sichert. Damit ist eine ausschließliche Verteilung der erwirtschafteten Güter nach der individuellen Leistung von vornherein ausgeschlossen. Dies gilt selbst dort, wo ein begehrtes Gut nicht ohnehin das Ergebnis gemeinschaftlicher A n strengung darstellt, sondern allein der Mühe und dem Geschick eines einzelnen zu verdanken ist. 27 Die an Bedarfs- und vor allem auch an Statuskriterien orientierte Güterverteilung muß dennoch nicht zu einer Beseitigung des Leistungsanreizes führen, weil jeder erfolgreiche individuelle Einsatz durch einen Gewinn an Prestige entlohnt wird, der den sozialen Status des einzelnen erhöht und damit langfristig auch dessen wirtschaftliche Position verbessert. 28 24

Vgl. R. Thurnwald, 1932 b, S. 191 ff. Vgl. J. Röpke, 1970, S. 24. 26 Vgl. R. Thurnwald, 1932 b, S. 166. Vgl. hierzu auch die durch zahlreiche Beispiele illustrierte Untersuchung v o n B. Brinkschulte; Formen u n d F u n k tionen wirtschaftlicher Kooperation i n traditionalen Gesellschaften Westafrikas, Meisenheim am Glan 1976. 27 So zeigt etwa eine ausführliche Analyse der Nahrungsverteilung unter afrikanischen Pygmäen, daß ein v o n einem einzelnen Jäger erlegtes Tier nicht i n seinen Besitz übergeht, sondern nach sehr detaillierten, t r a d i tionellen Regeln an die Gruppenmitglieder verteilt w i r d (vgl. R. Schott, A n fänge der P r i v a t - u n d Planwirtschaft. Wirtschaftsordnung u n d Nahrungsverteilung bei Wildbeutervölkern, Braunschweig 1955, S. 47 ff.). 28 Vgl. D. Forde, 1971, S. 408 ff. 25

5.1. Archaische Gesellschaften

87

Auch die für archaische Gesellschaften charakteristische und oft beschriebene Praxis, sämtliche Überschüsse an Nahrungsmitteln sofort an Nachbarn und Verwandte abzugeben, ist durchaus m i t einem wohlverstandenen Eigeninteresse zu vereinbaren. Zum einen können die meisten Nahrungsmittel nicht oder nur begrenzt konserviert werden. 29 Da sie ohne baldigen Konsum unweigerlich verderben würden, stellt die Abgabe von Überschüssen keinen echten Verlust dar. Zum anderen, und das ist wahrscheinlich der wichtigere Grund, verpflichten die eigenen Leistungen den Empfänger zu einer späteren Gegenleistung. Großzügigkeit i n der Gegenwart begründet somit Sicherheit i n der Zukunft. 8 0 Insgesamt ergibt sich das aus der Perspektive der sozialen Sicherung bedeutsame Resultat, daß die spezifischen Produktions- und Distributionsregeln archaischer Gesellschaften eine interpersonelle Verteilung des Subsistenzrisikos bewirken, d.h. eine Begrenzung des individuellen Risikos durch dessen Übertragung auf die Gesamtgruppe. 5.1.2.2. Archaische

Sozialstruktur

31

Wie bereits dargelegt wurde, hat der Begriff „Sozialstruktur" noch keine allgemein akzeptierte Inhaltsbestimmung gefunden. Eine Durchsicht gebräuchlicher Deutungen von „Sozialstruktur" zeigt, daß dieser Begriff nicht nur die eine Gesellschaft prägenden, dauerhaften sozialen Gebilde (z.B. soziale Gruppen, Institutionen, Organisationen) umfaßt, sondern auch beständige gesellschaftsspezifische Verhaltensweisen und Handlungszusammenhänge (z. B. soziale Rollen, Austauschbeziehungen) einschließen kann. 3 2 Die Beschreibung einer so verstandenen Sozialstruktur stellt i m Falle einer mitgliederstarken und hoch differenzierten Gesellschaft ein schwieriges Unterfangen dar. Etwas erleichtert w i r d dieses Vorhaben bei archaischen Gesellschaften, die nur eine geringe Zahl von unterscheidbaren sozialen Gruppen und Institutionen und faktisch keine Organisationen i m engeren Sinne aufweisen. Diese 29

Vgl. ebd., S. 404. Beispielhaft k o m m t dieser Zusammenhang i n der folgenden Erläuterung der Verteilungsprozesse innerhalb einer archaischen Gemeinschaft v o n nilotischen Hirtennomaden zum Ausdruck: „This habit of share and share alike is easily understandable i n a community where everyone is l i k e l y to find himself i n difficulties from time to time, for i t is scarcity and not sufficiency that makes people generous, since everybody is thereby insured against hunger. He w h o is i n need to-day receives help from h i m who may be i n like need tomorrow" (E. E. Evans-Pritchard f The Nuer, Oxford 1940, S. 85, Hervorh. v. M. P.). 31 Vgl. Abschnitt 4.2. dieser Arbeit. 32 Vgl. z . B . die Diskussion des Strukturbegriffs bei: B. Schäfers, Sozials t r u k t u r u n d Wandel der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Stuttgart 1979, S. 3 ff. 30

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5. Soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften

strukturelle Einfachheit darf jedoch nicht als Zeichen von Unterentwicklung mißverstanden werden; sie ist lediglich Ausdruck der Tatsache, daß i n Gesellschaften mit geringem personellen Umfang die Bildung einer Vielfalt und Vielzahl von Gruppen und Institutionen weder möglich noch notwendig ist. Die aufgrund ihrer geringen Größe und Komplexität gegebene Überschaubarkeit archaischer Gesellschaften und das Überwiegen persönlicher und direkter Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern („face-to-face relations") ermöglichen eine Koordination und Kontrolle der gesellschaftlichen notwendigen Aktivitäten, die keiner spezifischen Institutionen und Organisationen bedarf. Die relative Kleinheit archaischer Gesellschaften hängt zusammen mit den i m letzten Abschnitt beschriebenen Restriktionen ihrer Ökonomie: Die geringe Produktivität und das hohe Subsistenzrisiko begrenzen die Zahl der Menschen, die i n einem bestimmten Gebiet ernährt werden kann. Da auch die Möglichkeiten zur Bildung dauerhafter Überschüsse sehr eingeschränkt sind, ergibt sich als weitere Implikation archaischen Wirtschaftens für die Sozialstruktur, daß eine auf Wohlstandsunterschieden beruhende soziale Schichtung i n archaischen Gesellschaften nur unter besonderen Bedingungen anzutreffen ist. 33 Es kommt hinzu, daß die geringe Arbeitsproduktivität kaum Anreize bietet zu einer Ausbeutung der Arbeitskraft Dritter, z. B. durch Sklavenhaltung oder Formen der Leibeigenschaft. Trotz des weitgehenden Fehlens von ökonomisch begründeter Ungleichheit und Herrschaft stellen archaische Gesellschaften keineswegs völlig egalitäre Gemeinschaften dar. Sie kennen durchaus Rangordnungen, die anknüpfen an die Unterschiede des Geschlechts und des Alters, aber auch an die der individuellen Leistung. Diese Rangordnungen äußern sich allerdings nur i n einer differenzierten Zuteilung von Prestige, die nicht zu einer sozialen Schichtung i m Sinne deutlich verschiedener Lebenslagen führt. Wenn eine Sozialstruktur letztlich all das beinhaltet, „was einer Gesellschaft das Verharren i n der Zeit erlaubt", 3 4 dann stellt sich die Frage, wie Gesellschaften ohne staatliche, wirtschaftliche und andere Institutionen und Organisationen jenes Mindestmaß an sozialer Stabilität und Kontinuität erreichen, das menschliches Zusammenleben und Überleben erst ermöglicht. A. Gehlen, der diese Frage für archaische Gesellschaften aufwirft, kommt zu folgender Antwort: „Die archaischen Sozialstrukturen können als Ausgangsbestand nur die naturalen Daten 33 Vgl. zu den Zusammenhängen von unterschiedlichen Produktionsweisen u n d sozialer Schichtung vor allem: G. Lenski, Macht u n d Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung, F r a n k f u r t / M . 1977. 34 R. König, Struktur, in: ders. (Hg.), 1967, S. 320.

5.1. Archaische Gesellschaften

89

des Geschlechts- und Fortpflanzungsverhältnisses gehabt haben. Es ist nun Tatsache, daß die Institutionalisierung derselben auch beim Fehlen eigentlich politischer Herrschaftsformen und bei höchst prekären und unstabilen wirtschaftlichen Bedingungen die Stabilität und Kontinuität einer Gesellschaft garantiert. Der genannte Ausgangsbestand w i r d dabei nur noch durch die Zulassung fiktiver, i m Einzelfall nicht mehr belegbarer, und artifizieller Verwandtschaftsrelationen erweitert." 3 5 Die herausragende Bedeutung von „Verwandtschaft" als Organisations· und Strukturprinzip archaischer Gesellschaften ist erstmals von dem amerikanischen Ethnologen L. H. Morgan empirisch belegt und theoretisch analysiert worden. 36 Seither sind die oft äußerst komplexen Verwandtschaftssysteme zahlreicher archaischer Gesellschaften erforscht und dokumentiert worden, und es entstand eine „Verwandtschaftsethnologie", die sich einer spezifischen Terminologie und formalisierter Darstellungstechniken bedient. 37 Ein erster weltweiter Überblick über die Familien- und Verwandtschaftssysteme von 250 archaischen Gesellschaften wurde 1949 von G. P. Murdock unter dem bezeichnenden Titel „Social Structure" vorgelegt. 38 Zu erwähnen ist schließlich noch eine i n jüngster Zeit erschienene Interpretation und Analyse des Organisationsprinzips Verwandtschaft, die einen Vergleich mit alternativen Prinzipien einschließt. 39 . Die Institutionalisierung von Verwandtschaft, d.h. die gesellschaftliche Anerkennung von Ehe, Familie und übergeordneten Verwandtschaftsgruppen und -beziehungen, determiniert die archaischen Sozialstrukturen, weil alle anderen Vergesellschaftungs- und Organisationsprinzipien wie etwa Nachbarschaft oder die Assoziierung auf wirtschaftlicher oder politischer Grundlage i n archaischen Gesellschaften eine zu geringe Stabilität und Kontinuität aufweisen 40 .

35

A . Gehlen, Die Sozialstrukturen p r i m i t i v e r Gesellschaften, in: A . GehlenlH. Schelsky (Hg.), Soziologie, 8. Aufl., Düsseldorf—Köln 1955, S. 14 (Hervorh. i. Orig.). 36 Vgl. L. H. Morgan, Systems of Consanguinity and A f f i n i t y of the H u m a n Family, Washington 1871. 37 Vgl. hierzu Ε. W. Müller, Der Begriff „Verwandtschaft" i n der modernen Ethnosoziologie, B e r l i n 1981. 38 Vgl. G. P. Murdock, Social Structure, New Y o r k — L o n d o n 1967 (erstmals 1949). 39 Vgl. H. Apel, Verwandtschaft, Gott und Geld. Z u r Organisation archaischer, ägyptischer u n d antiker Gesellschaft, Frankfurt—New Y o r k 1982, insbesondere S. 25 ff. 40 Vgl. zur abgestuften Bedeutung von Verwandtschaft, Nachbarschaft u n d verschiedenen Assoziationen für archaische Gesellschaften: J. Stagl, Die M o r phologie segmentärer Gesellschaften. Dargestellt am Beispiel des Hochlandes v o n Neuguinea, Meisenheim am Glan 1974.

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5. Soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften

Die Dominanz verwandtschaftlicher Beziehungen resultiert i n archaischen Gesellschaften auch aus dem bereits angesprochenen Fehlen von spezialisierten Institutionen und Organisationen zur Erfüllung von für den einzelnen und die Gesamtgruppe wichtigen Aufgaben. I m Rahmen von verwandtschaftlich begründeten Gruppierungen werden i n archaischen Gesellschaften so unterschiedliche Anforderungen bewältigt wie die Sozialisation der Kinder, die Erzeugung und Verteilung wirtschaftlicher Güter, die soziale Kontrolle des Verhaltens, der Schutz vor äußeren Gefahren und schließlich auch die soziale Sicherung der Gesellschaftsmitglieder durch gegenseitige Unterstützung i n Notfällen. 41 Diese Vielfalt von Funktionen, die mangels geeigneter Alternativen vom Verwandtschaftssystem wahrgenommen werden müssen, dürfte einer der Hauptgründe dafür sein, daß archaische Gesellschaften zwar anknüpfen an biologisch gegebene Verwandtschaftsbeziehungen („Blutsverwandtschaft"), daß sie aber diese Beziehungen einerseits häufig erweitern (durch Einbeziehung Nicht- oder nur entfernt Verwandter, z.B. durch Adoption oder Formen der „Blutsbrüderschaft") 42 und sie andererseits auch deutlich einschränken (durch den noch darzustellenden Ausschluß naher Verwandter). Archaische Verwandtschaftssysteme sind daher keine einfachen Spiegelungen der Natur, sondern (mitunter sehr komplexe) soziale und kulturelle Schöpfungen. 43 Nur dieser letztlich gesellschaftliche Charakter von Verwandtschaft vermag schließlich auch die von Murdock und vielen anderen belegte Mannigfaltigkeit realer Verwandtschaftssysteme zu erklären. Aus der hohen funktionalen Beanspruchung von Verwandtschaft ergibt sich auch, daß die i n den Industriegesellschaften übliche Begrenzung der sozial bedeutsamen Verwandtschaftsbeziehungen auf die aus einem Ehepaar und deren unverheirateten Kindern bestehende Kernfamilie für archaische Gesellschaften wenig geeignet ist. Isolierte Kernfamilien sind zu klein und zu kurzlebig, u m alle genannten Aufgaben bewältigen zu können. I n den von Murdock analysierten 250 archaischen Gesellschaften findet sich daher die dem modernen Familientyp entsprechende, unabhängige und monogame Kernfamilie nur i n 24 Fällen. 44 41 Vgl. z. B. N. Graburn (Hg.), Readings i n Kinship and Social Structure, New Y o r k 1971, S. 3. 42 Vgl. hierzu R. Thurnwald, 1932 a, S. 181 ff. 43 „ K e i n Verwandtschaftssystem w i r d durch biologische Tatbestände determ i n i e r t : I n der Tat trifft jedes Verwandtschaftssystem eine bestimmte Selekt i o n v o n allen möglichen Typen v o n Beziehungen, die auf der Basis biologischer Beziehungen entwickelt werden könnten. Die letzteren sind die gleichen für alle menschlichen Gesellschaften, u n d doch gibt es eine große V i e l falt v o n Verwandtschaftssystemen" (H. M. Johnson, Strukturell-funktionale Theorie der Familien- u n d Verwandtschaftssysteme, i n : G. LüschenlE. Lupri (Hg.), Soziologie der Familie, Opladen 1970, S. 39).

5.1. Archaische Gesellschaften

91

Sehr viel verbreiteter sind dagegen Verbindungen mehrerer Kernfamilien, die i n zwei Grundformen auftreten: (1) Die polygame Familie besteht aus zwei oder mehr Kernfamilien, die durch einen gemeinsamen Ehepartner bzw. ein gemeinsames Elternteil verbunden sind. 45 (2) Die erweiterte Familie (Drei-Generationen-Familie, „Großfamilie") besteht aus zwei oder, mehr Kernfamilien, die durch eine Ausweitung der Eltern-Kind-Beziehung verbunden sind, z. B. durch das Zusammenleben der Kernfamilien verheirateter Söhne m i t der ihres Vaters.4® Polygame oder erweiterte Familien konnte Murdock i n 145 von 192 archaischen Gesellschaften nachweisen, für die ausreichende Daten vorlagen 47 . A m besten überwunden werden die Nachteile von Kernfamilien (zu geringe Größe und zu kurze Lebensdauer) durch die Bildung von A b stammungs- oder Deszendenzgruppen, die alle Personen umfassen, die als Nachkommen (Deszendenten) eines gemeinsamen Ahnen gelten. Überwiegend w i r d bei der Festlegung der Abstammung nur eine Linie, die väterliche (patrilineale Deszendenz) oder die mütterliche (matrilineale Deszendenz) berücksichtigt, da anderenfalls (angesichts der geringen Größe archaischer Gesellschaften) bereits nach wenigen Generationen jeder mit jedem blutsverwandt wäre, „so daß die Rechte und Pflichten gegenüber näheren und ferneren Verwandten ununterscheidbar würden" 4 8 . Diese auf eine Linie beschränkte (unilineale) Abstammungsrechnung konstituiert eine spezifische Verwandtschaftsgruppe, die ein soziales Gebilde darstellt, weil die biologisch gegebenen Verwandtschaftsbeziehungen gesellschaftlich nur zum Teil anerkannt und damit künstlich reduziert werden: „Die unilineale Zurechnung schafft... eine echte, von den Gesichtspunkten der Stabilität, Exogamie und Solidarität aus evidente Institution, indem sie eine definierte Verwandtschaftsgruppe von der halben Größe der biologisch natürlichen durch Ausschluß definierter Mitglieder zustande kommen läßt." 4 9 Die Funktionsstärke von Abstammungsgruppen ist am größten, wenn ihre Mitglieder am selben Ort leben. Diese Gruppen werden i n der Ethnologie „ K l a n " (clan) genannt. 50 Sind die Mitglieder dagegen über ein größeres Gebiet verstreut, so spricht man von einer „Sippe" (sib). Seine 44

Vgl. G. P. Murdock, 1967, S. 32. Vgl. ebd., S. 2. 4 » Vgl. ebd. 47 Vgl. ebd. 48 A . Gehlen, 1955, S. 21. Auch die i n archaischen Gesellschaften sehr v e r breitete Regel der Exogamie, die fordert, daß der Ehepartner nicht aus der eigenen Gruppe gewählt w i r d , ließe sich i n diesem F a l l k a u m noch durchsetzen. 49 Ebd., S. 22. 50 Vgl. G. P. Murdock, 1967, S. 65 ff. 45

5. Soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften

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große Bedeutung erhält der K l a n zum einen aus der Tatsache, daß er eine wichtige lokale Einheit bildet, die den verfügbaren Boden besitzt und damit das wirtschaftliche Geschehen kontrolliert. Außerdem übernimmt der K l a n die sonst der lokalen Gemeinschaft zufallenden politischen und militärischen Aufgaben. 51 Zum anderen w i r d der K l a n als eine Ausweitung bestehender Familiengruppen, als eine einzige große Familie verstanden. Dies äußert sich i n einer besonderen, „klassifikatorischen" Verwandtschaftsterminologie, nach der beispielsweise nicht nur die leiblichen Geschwister als „Bruder" bzw. „Schwester" bezeichnet werden, sondern auch alle weiteren Verwandten derselben Generation (also alle Vettern und Basen). Analog werden nicht nur die eigenen Eltern, sondern alle weiteren Verwandten der Elterngeneration (alle Onkel und Tanten) „Vater" bzw. „Mutter" genannt; ebenso sind nicht nur die eigenen Kinder, sondern auch die der leiblichen und der so bezeichneten Geschwister „Söhne" bzw. „Töchter". 52 Die sprachliche Gleichsetzung von Familienmitgliedern und weiteren Verwandten ist mehr als eine terminologische Konvention; sie ist gesellschaftlich bedeutsam und beinhaltet auch eine einfache, aber w i r kungsvolle Möglichkeit sozialer Sicherung: „The clan relatives who are socially equated w i t h immediate family relatives relieve the latter of a part of their duties and stand ready to take over completely i n case of need. The result is an increase i n the individual's security arising from the certainty of help i n time of need." 53 5.1.2.3. Archaische

Werte

und

Normen

Werte und Normen sind aufschlußreiche Kennzeichen einer Gesellschaft, weil sie zeigen, was i n ihr als ideal und erstrebenswert gilt und welches konkrete Verhalten der Gesellschaftsmitglieder als angemessen und zulässig erachtet wird. 5 4 I m Rahmen dieser Arbeit sind nur jene Werte und Normen von Interesse, die sich auf das Ziel und die konkrete Regelung der sozialen Sicherung erstrecken. A u f ihre Darstellung und Analyse beschränken sich daher die folgenden Ausführungen. Die Identifikation der Werte und Normen archaischer Gesellschaften w i r d durch die Tatsache erschwert, daß sich schriftlich fixierte und zu einem konsistenten System integrierte Maßstäbe und Regeln des Ver51

Vgl. J. Stagl, 1974, S. 176. Vgl. z. B. R. Linton, The Study of Man, New Y o r k 1964 (erstmals 1936), S.198. 53 Ebd., S. 203. Vgl. auch D. G. Mandelbaum (Social Groupings, in: H. L. Shapiro (Hg.), 1971, S. 364), der explizit v o n „Social Insurance" als einer F u n k t i o n des Klans spricht. 54 Vgl. Abschnitt 4.2. dieser Arbeit. 52

5.1. Archaische Gesellschaften

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haltens nicht finden lassen. Dies hängt natürlich damit zusammen, daß kleine, wenig differenzierte und relativ statische Gemeinwesen (noch) keinen Bedarf an einer ausgefeilten Rechtsordnung haben. Ihre Überschaubarkeit und Beständigkeit gestattet eine informelle Regelung und Abstimmung des Handelns, die i m wesentlichen auf Brauch und Tradition beruht. Da archaische Werte und Normen sich nicht i n einem ausdifferenzierten System von universell gültigen Verhaltensregeln niederschlagen, lassen sie sich nur durch Beobachtung und Interpretation des Handelns i n konkreten sozialen Situationen ermitteln. Eine für das Problem der sozialen Sicherung und seine Lösung bedeutsame soziale Situation ist der interpersonale Austausch von Gütern und Leistungen. I n seiner spezifischen Regelung kommen nicht nur charakteristische Normen, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden Werte archaischer Gesellschaften zum Ausdruck. Austauschprozesse lassen sich analysieren, wenn sie i n ihre Elemente zerlegt und die zwischen diesen bestehenden Beziehungen untersucht werden. 55 Elemente eines Tauschs sind zum einen die gegeneinander zu tauschenden Güter (oder Leistungen) und zum anderen die den Tausch ausführenden Personen, die Tauschpartner. Ein Tausch begründet damit nicht nur eine Beziehung zwischen bestimmten Gütern, sondern auch zwischen bestimmten Personen. Ein Vergleich der i n archaischen und in modernen, industriellen Gesellschaften dominierenden Tauschformen zeigt, daß sie sich i m wesentlichen durch die entgegengesetzte Gewichtung der den Tausch kennzeichnenden Beziehungen unterscheiden. Beim für Industriegesellschaften charakteristischen Markttausch stehen Qualität und Quantität der auszutauschenden Güter i m Zentrum des Interesses. Ein Tausch kommt hier i m Prinzip nur dann zustande, wenn jeder der Beteiligten den Nutzen des einzutauschenden Gutes höher einschätzt als den des abzugebenden. Die Person des Tauschpartners ist i n diesem K a l k ü l ohne Bedeutung. Der Tauschakt ist unpersönlich. 56 I n archaischen Gesellschaften w i r d dagegen der Güteraustausch überlagert und oft geradezu beherrscht von der spezifischen Beziehung, die zwischen den Tauschpartnern besteht. Der Tausch folgt hier einem Prin55

Vgl. hierzu u n d zum folgenden J. Röpke, 1970, S. 16 ff. Max Weber beschreibt die Beziehung zwischen den Partnern des M a r k t tausches (die „Marktgemeinschaft") als „die unpersönlichste Lebensbeziehung, i n welche Menschen miteinander treten können . . . Wo der M a r k t seiner Eigengesetzlichkeit überlassen ist, kennt er n u r Ansehen der Sache, k e i n Ansehen der Person, keine Brüderlichkeits- u n d Pietätspflichten, keine der urwüchsigen, von den persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen" (M. Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, 5. Aufl., T ü b i n gen 1972, S. 382 f.). 58

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5. Soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften

zip der Gegenseitigkeit oder Reziprozität, das allgemeiner und umfassender ist als das den Markttausch bestimmende Prinzip der Äquivalenz von Gütern und Leistungen. Zur Verdeutlichung des Prinzips der Reziprozität sollen i n der gebotenen Kürze die Ergebnisse einer von M. Sahlins erstmals 1965 unter dem Titel „On the Sociology of Primitive Exchange" vorgelegten Analyse referiert werden. 57 I n seiner auf zahlreiche ethnographische Belege gestützten Untersuchung unterscheidet Sahlins drei Formen der Reziprozität: 1. Generalisierte Reziprozität 58 Hierunter fallen Transaktionen m i t weitgehend unbestimmter Beziehung zwischen Leistung und Gegenleistung, z. B. Gaben an Verwandte. Der materielle Aspekt t r i t t völlig zurück hinter die zwischen den Beteiligten bestehenden persönlichen oder sozialen Beziehungen. Zwar begründet jede Leistung einen Anspruch auf eine Gegenleistung, doch deren Quantität, Qualität und Frist w i r d nicht i m voraus festgelegt, sondern hängt ab von den Möglichkeiten des Empfängers und dem Bedarf des Gebers. I m Extrem kann dies dazu führen, daß über lange Zeit nur von einer Seite Leistungen erbracht werden, z.B. bei Unterstützung von dauerhaft Hilfsbedürftigen. Trotz des Ausbleibens der Gegenleistung w i r d der einseitige Güterfluß aufrechterhalten: „the goods move one way, i n favor of the have-not, for a very long period" 5 9 . 2. Ausgeglichene Reziprozität 60 Hierunter fallen Transaktionen m i t hoher Übereinstimmung zwischen Leistung und Gegenleistung. I m Extrem führt ausgeglichene Reziprozität zum gleichzeitigen Austausch von Gütern gleicher A r t und Menge, z. B. zur symbolischen Bekräftigung von Friedensverträgen. Die Beziehungen zwischen den auszutauschenden Gütern und die zwischen den Tauschpartnern sind hier gleichrangig. Entsprechend führt das Ausbleiben einer angemessenen Gegenleistung zum Versiegen des Leistungsstromes. 3. Negative Reziprozität 61 Hierunter fallen Transaktionen, die den eigenen Nutzen auf Kosten des anderen maximieren, i m Extrem durch Betrug oder Diebstahl. Wo noch von Austausch gesprochen werden kann, dominiert das 57 Hier zitiert nach dem Abdruck in: M. Sahlins, Chicago 1972, S. 185 - 275. 58 Vgl. ebd., S. 193 f. 59 Ebd., S. 194. 60 Vgl. ebd., S. 194 f. u n d S. 219 ff. 61 Vgl. ebd., S. 195.

Stone Age Economics,

5.1. Archaische Gesellschaften

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materielle Interesse über die persönlichen Beziehungen. Für eine geringe Eigenleistung w i r d eine möglichst hohe Gegenleistung angestrebt. I n seiner Analyse kann Sahlins zeigen, daß neben anderen Faktoren (wie etwa die A r t der zu tauschenden Güter) i n erster Linie das Ausmaß der sozialen Distanz zwischen den Tauschpartnern über die jeweils vorherrschende Reziprozitätsform entscheidet.®2 Generalisierte Reziprozität w i r d insbesondere von nahen Verwandten erwartet, ausgeglichene Reziprozität dominiert die Beziehungen zwischen nicht miteinander verwandten Angehörigen desselben Stammes, negative Reziprozität ist gegenüber allen Fremden nicht nur zulässig, sondern durchaus erwünscht und prestigefördernd® 8. Aus Sahlins 9 Untersuchung lassen sich nunmehr einige Folgerungen über die Eigenart archaischer Werte und Normen ableiten. Zunächst ergibt sich aus der Darstellung der unterschiedlichen Regelungen der Austauschprozesse, daß archaische Werte und insbesondere die Normen nicht absolute und universelle Gültigkeit beanspruchen, sondern relativ und partikularistisch sind, d. h. situations- und/oder personenbezogen.®4 Auf diese Besonderheit archaischer Werte und Normen w i r d i n der ethnologischen Literatur immer wieder hingewiesen.®5 Weiter zeigt die Analyse von Sahlins, daß die i m letzten Abschnitt beschriebene überragende Bedeutung verwandtschaftlicher Beziehungen für die Sozialstruktur archaischer Gesellschaften auch auf den Bereich der Werte und Normen ausstrahlt. Es entsteht eine spezifische Verwandtschaftsmoral oder -ethik, die zu einer Polarisierung der sozialen Welt des einzelnen und seiner Handlungsorientierungen führt: „Auf der einen Seite ist die Sphäre der Verwandtschaft und der familiäre Bereich; auf der anderen die Sphäre der NichtVerwandtschaft. Diese enthält i m extremen Fall das, was fremdartig und seltsam ist und außerhalb des Nexus normaler Sozialbeziehungen steht."®® Die Begrenzung des Geltungs- und Anwendungsbereichs grundlegender Werte und Normen auf den Kreis der Verwandten erschwert Kontakte m i t Fremden, da deren Verhalten nicht vorhersehbar ist. W i r d 62

Vgl. ebd., S. 196 ff. Vgl. ebd., S. 199. 84 Vgl. ebd., S. 199 f. 65 Vgl. z. B. J. Stagl, 1974, S. 396: „ I m allgemeinen ändern sich die Normen u n d Werte m i t der sozialen Distanz. Was zwischen den Mitgliedern der Eigengruppe verboten ist, w i r d gegenüber den Mitgliedern anderer Gruppen erlaubt, u n d umgekehrt." 86 M . Fortes , Verwandtschaft u n d das A x i o m der A m i t y , i n : F. Kramerl Chr. Sigrist (Hg.), Gesellschaften ohne Staat, Bd. 2: Genealogie u n d Solidarität, F r a n k f u r t / M . 1978, S. 135. 63

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5. Soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften

diese Ungewißheit als Bedrohung empfunden, so kann dies verhängnisvolle Konsequenzen haben, wie aus dem folgenden Fall hervorgeht, der ungekürzt wiedergegeben wird, weil er sehr plastisch den Gegensatz von Verwandtschaft und Nicht-Verwandtschaft i n archaischen Gesellschaften verdeutlicht: „ I n Teilen v o n Zentralaustralien w i r d ein Fremder, der sich einer Stammessiedlung nähert, außerhalb angehalten, während ein alter Mann, der i n Verwandtschaftsfragen gut Bescheid weiß, herauskommt, u m i h n auszufragen. Wenn eine Verwandtschaft, wie fern auch immer, festgestellt werden kann, ist alles gut; der Fremde k a n n eingelassen werden. Wenn nicht, muß m a n i h n töten. Er ist nicht »menschlich' i m tribalen Sinne. Er gehört nicht zur Familie der Menschen, w i e sie den Eingeborenen bekannt ist, u n d das ist der Stamm. I h m gegenüber gäbe es keine natürlichen Loyalitäten. Niemand könnte wissen, nach welchen anerkannten u n d konventionalisierten Normen des Verhaltens zu Verwandten er sich bei i h m richten sollte. U n d da es diese Normen sind, die die Menschen von den Tieren unterscheiden, würde dann das Chaos seiner Emotionen nicht mehr gebändigt, u n d das bedeutete M o r d u n d Totschlag" 6 7 ).

Während die Beziehungen zu Nicht-Verwandten und Fremden durch Mißtrauen oder gar Feindschaft geprägt sind, fordern die Werte und Normen innerhalb der eigenen Gruppe oder Gesellschaft das genaue Gegenteil, nämlich Vertrauen, Zuneigung, Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft usw. Gestützt auf zahlreiche Forschungsberichte kommt der Ethnologe M. Fortes zu dem Ergebnis, daß die aus der Verwandtschaftsmoral abgeleiteten Verhaltensregeln auf ein allgemeines, i m familiären Bereich verwurzeltes Prinzip zurückgehen, das überall axiomatisch verbindlich zu sein scheine. Er nennt es das Prinzip der „ A m i t y " zwischen Verwandten und umschreibt es als präskriptiven Altruismus, als Ethik der Großzügigkeit. 68 Das Prinzip der A m i t y beinhalte, daß Verwandte i m Gegensatz zu Nicht-Verwandten unabweisbare Ansprüche auf gegenseitige Unterstützung haben: „Das Ideal verlangt, daß Verwandte teilen — daher der häufige Appell an Brüderlichkeit als Modell verallgemeinerter Verwandtschaft —, und sie müssen das dem Ideal nach tun, ohne den Wert der Gaben zu kalkulieren." 6 9 Letzteres stimmt übrigens völlig überein mit Sahlins' Ausführungen zur „generalisierten Reziprozität". 70 Die aus der Verwandtschaftsethik folgende unbedingte Unterstützungpflicht erklärt, daß i n archaischen Gesellschaften i n erster Linie Verwandte u m Hilfe gebeten werden bei Geburten, Heiraten oder To67 J. Layard, Familie u n d Sippe, in: Institutionen i n p r i m i t i v e n Gesellschaften, 2. Aufl., F r a n k f u r t / M . 1967 (Original: Oxford 1956), S. 64. Denselben F a l l schildert: R. Linton, 1964, S. 124. 68 Vgl. M. Fortes, 1978, S. 135 u n d S. 142 ff. 69 Ebd., S. 143. 70 Vgl. M. Sahlins, 1972, S. 193 f., sowie S. 94 f. dieser Arbeit.

5.2. Prinzip u n d Formen sozialer Sicherung

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desfällen, i n Zeiten von Nahrungsmittelknappheit oder bei anderen Notlagen. 71 Damit ist der Zusammenhang zwischen verwandtschaftlichen Beziehungen und sozialer Sicherung nunmehr offensichtlich: Infolge der auf Gegenseitigkeit beruhenden Hilfeleistungen bildet die Gesamtheit der miteinander verwandten Personen eine umfassende Gefahren- oder Risikogemeinschaft, und für den einzelnen ist die Begründung und Ausweitung verwandtschaftlicher Bindungen (z. B. durch Heirat oder Adoption) eine äußerst wirksame Methode sozialer Sicherung. 5.2. Prinzip u n d F o r m e n sozialer Sicherung i n archaischen Gesellschaften

M i t der i n Abschnitt 5.1. erfolgten Darstellung der für die Gestaltung der sozialen Sicherung relevanten Aspekte archaischer Gesellschaften ist die Grundlage geschaffen worden für eine fundierte Diskussion der Möglichkeiten und der Grenzen sozialer Sicherung unter archaischen Bedingungen. I m folgenden soll zunächst begründet werden, daß Prozesse interpersonaler Umverteilung i n durch Verwandtschaft konstituierten Risikogemeinschaften die wirksamste und daher dominierende Methode sozialer Sicherung i n archaischen Gesellschaften darstellen (Abschnitt 5.2.1.). Anschließend w i r d (insbesondere am Beispiel des Risikos „Alter") gezeigt, welche Vielfalt von Regelungen und Maßnahmen eine Verschlechterung von Lebenslagen verhindern oder zumindest abschwächen. Gleichzeitig werden aber auch die Grenzen sozialer Sicherung verdeutlicht, die sich aus den Restriktionen archaischer Gesellschaften ergeben (Abschnitt 5.2.2.). 5.2.1. „Verwandtschaft" als Prinzip sozialer Sicherung in archaischen Gesellschaften

Wie bereits ausgeführt wurde, 1 kann der als Folge eines Risikoeintritts bei einzelnen auftretende, akute Mehrbedarf an Gütern und Leistungen! unter Bedingungen der Knappheit nur durch Umverteilungsprozesse befriedigt werden. Entsprechend wurden als prinzipiell mögliche Methoden sozialer Sicherung die drei alternativen Arten der Umverteilung beschrieben: die intertemporale, die interregionale und die interpersonale Umverteilung von Gütern und Leistungen. 2 Die i m Zuge der Erörterung der Voraussetzungen der drei Sicherungsmethoden geäußerte Vermutung, daß die mit der intertemporalen und der interregionalen Umverteilung verbundenen Probleme der Überbrückung von Raum und Zeit i n nicht-industriellen Gesellschaften 71 1 2

Vgl. M. Fortes, 1978, S. 151. Vgl. Abschnitt 3.3.2. dieser Arbeit. Vgl. Abschnitt 3.3.2.1., 3.3.2.2. u n d 3.3.2.3. dieser Arbeit.

7 Partsch

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5. Soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften

nur schwer zu lösen sind, w i r d durch die Darstellung und Analyse der wirtschaftlichen Verhältnisse archaischer Gesellschaften weitgehend bestätigt. 3 Soziale Sicherung durch intertemporale Umverteilung ist durch die technisch bedingte Unmöglichkeit begrenzt, lebenswichtige Konsumgüter wie z. B. Nahrungsmittel dauerhaft zu konservieren. 4 Zwar bestehen i n dieser Hinsicht durchaus Unterschiede zwischen den einzelnen Gesellschaften (diese Unterschiede ergeben sich i n erster Linie aus verschiedenen klimatischen Bedingungen und aus verschiedenen Wirtschaftstypen), doch scheint es unter archaischen Gegebenheiten generell ausgeschlossen zu sein, soziale Sicherung allein oder hauptsächlich über Prozesse intertemporaler Umverteilung von Gütern und Leistungen anzustreben. Ebenfalls auf einen Mangel an geeigneter Technologie zurückzuführen sind die engen Grenzen einer sozialen Sicherung durch eine interrégionale Umverteilung von Gütern und Leistungen. Die für einen Gütertransport erforderlichen Fahrzeuge, Zug- oder Lasttiere finden sich nur i n wenigen, technisch fortgeschritteneren Gesellschaften (z. B. bei Eskimos). I n der Mehrzahl der archaischen Gesellschaften ist ein interregionaler Risiko- und Bedarfsausgleich nicht durch den Transport von Bedarfsdeckungsmitteln zu den Bedarfsträgern zu erreichen, sondern umgekehrt nur dadurch, daß die Bedarfsträger sich dorthin begeben, wo Bedarfsdeckungsmittel i n ausreichender Menge vorhanden sind. 5 Dieser Ausweg bleibt jedoch allen seßhaften Gesellschaften praktisch verschlossen. Bei räumlich mobilen Gruppen (z. B. Jäger- und Sammlergesellschaften) gefährdet andererseits gerade der Zwang zum Ortswechsel die Sicherheit jener Kranken und Alten, die sich nicht mehr selbst fortbewegen können.® M i t diesen einschränkenden Bemerkungen soll die Bedeutung intertemporaler und interregionaler Umverteilungsprozesse nicht völlig bestritten werden. I m Rahmen ihrer Möglichkeiten nutzen archaische Gesellschaften die Vorteile eines intertemporalen und/oder inter regionalen Risiko- und Bedarfsausgleichs durchaus und vergrößern damit ihre Überlebenschancen. Doch gerade die begrenzten Möglichkeiten scheinen i n jedem Fall zumindest eine Ergänzung dieser Sicherungsmethoden durch einen Risiko- und Bedarfsausgleich mittels interpersonaler Umverteilung zu erfordern. Bedenkt man zusätzlich, daß Prozesse interpersonaler Umverteilung keine technischen Kenntnisse und Errungenschaften voraussetzen, dann ist sogar wahrscheinlich, daß die interper3

Vgl. Abschnitt 5.1.2.1. dieser Arbeit. Vgl. J. Röpke, 1970, S. 12; sowie D. Forde, 1971, S. 404. 5 Vgl. hierzu u n d generell zu den Folgen eines unzureichenden Transportsystems: J. Stagl, 1974, S. 58 f. 6 Vgl. Abschnitt 5.2.2. dieser Arbeit. 4

5.2. Prinzip u n d Formen sozialer Sicherung

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sonale Umverteilung von Gütern und Leistungen die ursprünglichste Methode sozialer Sicherung darstellt, die erst i n einem späteren Stadium durch Prozesse intertemporaler und/oder interregionaler Umverteilung ergänzt wurde. Soziale Sicherung durch interpersonale Umverteilung hängt wie die beiden anderen Sicherungsmethoden von der Verfügbarkeit eines Überschusses an Gütern und Leistungen ab. 7 Ein Überschuß ist gegeben, wenn die jeweils Arbeitsfähigen mehr Güter erzeugen und mehr Leistungen erbringen können als zur Erhaltung ihrer Arbeitsfähigkeit benötigt wird. Dieses Mehr an Gütern und Leistungen kann dann eingesetzt werden zur Versorgung der jeweils Arbeitsunfähigen. Die durchschnittliche Arbeitsproduktivität der Produzierenden und der A n t e i l der Nichtproduzierenden an der Gesamtbevölkerung entscheiden schließlich, ob der Überschuß groß genug ist, u m alle mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Aus bereits dargelegten Gründen ist die Arbeitsproduktivität i n archaischen Gesellschaften sehr niedrig. 8 Dies hat zur Folge, daß der Anteil der Nichtproduzierenden ebenfalls niedrig sein muß. Tatsächlich ist i n archaischen Gesellschaften i m Prinzip jeder i m Rahmen seiner Möglichkeiten an der Sicherung des Lebensunterhalts beteiligt. Unter dieser Voraussetzung läßt sich i m Normalfall (d. h. abgesehen von Naturkatastrophen, Epidemien usw.) durch Prozesse interpersonaler Umverteilung ein Risiko- und Bedarfsausgleich und damit eine soziale Sicherung aller Gesellschaftsmitglieder: erreichen· Die interpersonale Umverteilung erscheint nicht nur deshalb als hervorragend geeignete Methode sozialer Sicherung i n archaischen Gesellschaften, weil sie nicht an spezielle Vorbedingungen gebunden ist. Ihre besondere Eignung ergibt sich auch aus der für archaische Gesellschaften charakteristischen, verwandtschaftlich begründeten Sozialstruktur und aus den ebenfalls auf das Verwandtschaftsprinzip zurückzuführenden Werten und Normen. 9 Die für einen Risiko- und Bedarfsausgleich erforderliche Veränderung der Verteilung von Gütern und Leistungen auf verschiedene Personen ist unter archaischen Bedingungen am wirkungsvollsten innerhalb von Verwandtschaftsgruppen durchzuführen, da sie i m Vergleich zu anders motivierten Gruppenbildungen den an eine Risiko- und Solidargemeinschaft zu stellenden Anforderungen am besten entsprechen. Ein erstes Erfordernis besteht i n einer nicht zu geringen Zahl von Gruppenmitgliedern, da anderenfalls die i m Risikofall vom einzelnen 7 8 9

7*

Vgl. Abschnitt 3.3.2.3. dieser Arbeit. Vgl. Abschnitt 5.1.2.1. dieser Arbeit. Vgl. Abschnitt 5.1.2.2. u n d 5.1.2.3. dieser A r b e i t .

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5. Soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften

zu tragenden Belastung zu groß werden könnte. 10 Der Umfang der Gefahrengemeinschaft darf aber auch nicht so groß sein, daß der Risikound Bedarfsausgleich von organisatorischen Vorleistungen abhängig wird, die in archaischen Gesellschaften nicht erbracht werden können. Weitgehend gerecht werden diesen beiden Bedingungen die geschilderten Verwandtschaftsgruppen archaischer Gesellschaften, da sie einerseits über die bloße Kernfamilie hinausgehen und andererseits auch als umfassende Abstammungsgruppen übersichtlich und klar begrenzt bleiben. 11 Neben der Größe der Gruppe ist ihre Zusammensetzung bedeutsam für die Möglichkeit eines Risiko- und Bedarfsausgleichs. Dieser Ausgleich setzt voraus, daß jederzeit eine ausreichende Zahl leistungsfähiger Gruppenmitglieder gegeben ist, die die jeweils Leistungsunfähigen versorgen können. 12 Archaische Verwandtschaftsgruppen werden dieser Forderung gerecht, weil sie sich i n der Regel aus Angehörigen beider Geschlechter und aller Altersstufen zusammensetzen. I m Einzelfall bestehende Unausgewogenheiten können mittels einer Ausweitung der bestehenden Verwandtschaftsbeziehungen (z. B. durch Adoption oder Heirat) beseitigt werden. Aus der Ungewißheit über den Zeitpunkt des Eintritts eines Risikos und/oder über die Dauer der damit verbundenen Belastung resultiert ein weiteres Erfordernis einer sozialen Sicherung durch interpersonale Umverteilung: ein Risiko- und Bedarfsausgleich ist nur i n Gruppen zu erreichen, deren Existenz nicht von vornherein befristet ist. 13 A u f Verwandtschaftsbeziehungen gegründete Risikogemeinschaften sind von großer zeitlicher Beständigkeit, weil sie — i m Gegensatz zu auf Vertrag, Freundschaft oder Nachbarschaft beruhende Verbindungen — relativ unabhängig vom Willen ihrer Mitglieder bestehen. Der einzelne w i r d bereits durch seine Geburt Mitglied der Verwandtschaftsgruppe und bleibt dies bis zu seinem Tode. Verwandtschaft ermöglicht damit garantierte und unbefristete interpersonale Beziehungen, die unter den unstabilen Bedingungen archaischer Gesellschaften nicht nur für die soziale Sicherung des einzelnen unverzichtbar sind. 14 Die Bedingung der Dauerhaftigkeit w i r d am besten erfüllt von Verwandtschaftsgruppen, deren Existenz vom Ausscheiden einzelner M i t 10

Vgl. Abschnitt 3.3.2.3. dieser Arbeit. Vgl. Abschnitt 5.1.2.2. dieser Arbeit. 12 Vgl. Abschnitt 3.3.2.3. dieser Arbeit. 13 Vgl. ebd. 14 Z u r Bedeutung v o n Verwandtschaft als langfristiger sozialer Beziehung für archaische Gesellschaften vgl.: M. Bloch, The Long T e r m and the Short Term: the Economic and Political Significance of the M o r a l i t y of Kinship, in: J. Goody (Hg.), The Character of Kinship, Cambridge 1973, S. 75 - 87. 11

5.2. Prinzip u n d Formen sozialer Sicherung

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glieder nicht entscheidend beeinträchtigt wird. Während sich die nur zwei Generationen umfassende Kernfamilie mit der Verheiratung der Kinder und/oder dem Tod der Eltern auflöst, w i r d die Kontinuität der aus drei oder mehr Generationen bestehenden erweiterten Familie und der Abstammungsgruppen durch derartige Verluste nicht unterbrochen, da immer wieder durch Geburt und Einheirat neue Mitglieder nachrücken. Erst die aufgrund dieser i m Prinzip unbefristeten Kontinuität gegebene ständige Präsenz von mindestens drei Generationen erlaubt eine einfache und sichere Versorgung der Kinder und der Alten. Als letztes Erfordernis einer sozialen Sicherung durch interpersonale Umverteilung ist das Bestehen einer Norm oder Regel zu nennen, die die jeweils Leistungsfähigen zur Unterstützung der jeweils Notleidenden veranlaßt und auf diese Weise den Risiko- und Bedarfsausgleich verwirklicht. 1 5 Wie bereits ausführlich dargestellt wurde, 1 6 ist i n archaischen Gesellschaften ein von Sahlins als „generalisierte Reziprozität" bezeichnetes Prinzip wirksam, das unter Verwandten zu Austauschbeziehungen führt, die bei kurzfristiger Betrachtung (aber gelegentlich auch auf Dauer) einseitig und unausgeglichen sind. Dieser Mangel an Äquivalenz ist nicht nur zurückzuführen auf die Tatsache, daß in archaischen Gesellschaften exakte Vereinbarungen über Leistung und Gegenleistung zwischen Verwandten verpönt sind. 17 Entscheidend ist darüber hinaus die von Fortes beschriebene Verwandtschaftsethik, die eine unbedingte Pflicht zur Unterstützung hilfsbedürftiger Verwandter enthält. 1 8 Faßt man das bisher Ausgeführte nunmehr zusammen, so ergibt sich folgendes Resultat: 1. Die soziale Sicherung der Mitglieder archaischer Gesellschaften ist i n hohem Maße angewiesen auf Prozesse interpersoneller Umverteilung, die innerhalb bestimmter Gemeinschaften einen Risiko- und Bedarfsausgleich herbeiführen. 2. I n archaischen Gesellschaften werden Verwandtschaftsgruppen den Funktionsbedingungen derartiger Gefahren- oder Solidargemeinschaften besser als andere Gruppierungen gerecht. Da sie auch i n der sozialen Realität die wesentlichen Träger von Schutz- und Ausgleichsfunktionen sind, kann „Verwandtschaft" als das dominierende 15

Vgl. Abschnitt 3.3.2.3. dieser Arbeit. Vgl. Abschnitt 5.1.2.3. dieser Arbeit. 17 Statt dessen besteht lediglich eine unspezifizierte u n d daher hinsichtlich der wechselnden Bedarfssituationen anpassungsfähige Verpflichtung des Leistungsempfängers, zu gegebener Zeit eine seinen Möglichkeiten u n d den Bedürfnissen des anderen entsprechende Gegenleistung zu erbringen (vgl. M. Sahlins, 1972, S. 194). 18 Vgl. M. Fortes, 1978, S. 143. 16

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5. Soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften

Prinzip sozialer Sicherung i n archaischen Gesellschaften bezeichnet werden. 5.2.2. Formen sozialer Sicherung in archaischen Gesellschaften

Über die vielfältigen sozialen Regelungen, Maßnahmen und Einrichtungen, die die Mitglieder archaischer Gesellschaften vor den Folgen existentieller Risiken wie Krankheit, Alter und Tod schützen oder schützen sollen, liegen nach Kenntnis des Verfassers bisher keine vergleichenden und zusammenfassenden Untersuchungen vor. 1 9 Eine der Ursachen für dieses offensichtliche Forschungsdefizit w i r d i n dem bereits erwähnten Fehlen einer Theorie der sozialen Sicherung i n nicht-industriellen Gesellschaften zu sehen sein. 20 Denn ohne eine theoretische Grundlage ist eine wissenschaftlichen Anforderungen genügende Interpretation und Analyse der i n den zahllosen Monographien über einzelne archaische Gesellschaften enthaltenen Hinweise auf die A r t und Weise der Unterstützung Bedürftiger und Notleidender als Formen sozialer Sicherung nicht zu erreichen. Immerhin konnte die ethnologische Forschung ein verbreitetes Vorurteil widerlegen, das lange Zeit das B i l d archaischer Gesellschaften verzerrte. Unter dem Einfluß evolutionistischer Gedankengänge hatte sich die Überzeugung gebildet, daß die Sorge für die Schwachen und Schutzlosen erst i n den Hochkulturen entstanden sei, daß es eine Entwicklung gebe, die von der Vernachlässigung oder gar Tötung aller Leistungsunfähigen zur Zuwendung und Hilfe für kranke, alte und aus anderen Gründen auf Unterstützung angewiesene Menschen führt. Daß diese Vorstellungen auch i n wissenschaftliche Abhandlungen eingingen, zeigen beispielsweise folgende Ausführungen i n einer bekannten Arbeit G. Schmollers: „Wie man i n alter roher Zeit alle überflüssig erscheinenden Kinder tötete, so hat man die Alten umgebracht, dahinsterbende Kranke auf den Wanderzügen sich selbst überlassen. Die w i r t schaftliche Fürsorge war lange eine überwiegend individuelle. Der rohe Naturmensch ist mitleidslos und unbarmherzig." 2 1 . Diese und ähnliche Aussagen fußten auf Berichten über Fälle von Kinder-, Kranken- und Altentötung i n archaischen Gesellschaften, die den besonderen sozial-ökonomischen und kulturellen Kontext nicht beachteten, innerhalb dessen diese Praktiken möglich und mitunter notwendig waren. Statt dessen wurden diese Vorgänge unzulässiger19 Abgesehen w i r d zunächst v o n zwei älteren, weitgehend deskriptiven Darstellungen der Lebenslage k r a n k e r u n d alter Menschen i n archaischen Gesellschaften (vgl. hierzu die Fußnoten 22 u n d 26). 20 Vgl. K a p i t e l 3 dieser Arbeit. 21 G. Schmoller, Die soziale Frage. Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf, München u n d Leipzig 1918, S. 326.

5.2. Prinzip u n d Formen sozialer Sicherung

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weise verallgemeinert und vor dem Hintergrund der eigenen, europäisch-christlichen Moral bewertet. Eine auf der Auswertung zahlreicher ethnographischer Darstellungen aufbauende Untersuchung der Lebenslage alter und kranker Menschen i n archaischen Gesellschaften konnte bereits 1933 belegen, daß auch und gerade die Mitglieder einfachster Gemeinwesen sich oft aufopferungsvoll u m Hilfsbedürftige und Notleidende bemühen. 22 Ganz i m Gegensatz zu der evolutionistischen Hypothese findet sich auch der Brauch der Altentötung erst i n entwickelteren Sozialgebilden mit komplizierterer sozialer Organisation und besonderem Werte- und Normensystem. 23 Ebenfalls nicht ohne weiteres mit der evolutionistischen Lehre zu vereinbaren dürfte die Beobachtung sein, daß der Kontakt archaischer Gesellschaften mit überlegenen K u l t u r e n nicht zu besserer, sondern i n der Regel zu schlechterer Versorgung der sozial Schwachen führte. Die i m Rahmen der Kolonisierung erfolgte Unterwerfung autochthoner Völker erschütterte deren traditionelle Werte und Normen und schwächte damit auch die Verpflichtungen zur Unterstützung der Hilfesuchenden. 24 . Kotys gründliche Analyse der Ursachen der Vernachlässigung, Ausstoßung oder Tötung kranker und alter Menschen i n archaischen Gesellschaften ergibt, daß hierfür neben bestimmten religiösen und magischen Überzeugungen i n erster Linie extreme Notlagen verantwortlich sind. Zu diesen Notlagen zählen Hungersnöte, der Zwang zum Ortswechsel und der Ausbruch von Epidemien. 25 Offensichtlich entsteht i n solchen Extremsituationen ein unter archaischen Bedingungen unlösbarer Konflikt zwischen der Versorgung der Kranken und Alten einerseits und dem Überleben der Gruppe andererseits. Wo die Lebensumstände günstiger sind, werden kranke und alte Menschen fast immer von ihren Angehörigen und Verwandten versorgt. Darüber hinaus bestehen oft spezifische Regelungen, die auch den nicht mehr voll Leistungsfähigen die Sicherung ihres Lebensunterhalts gestatten. Die damit gegebene Vielfalt der Formen sozialer Sicherung kann hier nicht i m Detail dargelegt werden — nicht allein mangels Raum, sondern auch wegen des erwähnten Fehlens systematischer Darstellungen der sozialen Sicherung i n archaischen Gesellschaften. Immerhin liegt aber außer der genannten Arbeit von Koty noch eine weitere vergleichende Untersuchung vor, die auf der Grundlage von Daten über 22

Vgl. J. Koty, Die Behandlung der A l t e n u n d K r a n k e n bei den N a t u r völkern, Stuttgart 1933. 28 Vgl. ebd., S. 349 f. u n d S. 354. 24 Vgl. ebd., S. 268, S. 292, S. 312 u n d S. 351. 25 Vgl. ebd., S. 264 ff., S. 275 ff. u n d S. 285 ff.

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5. Soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften

71 archaische Gesellschaften zu relativ gesicherten Aussagen über die Situation alter Menschen i n diesen Gesellschaften gelangt. 26 Gestützt auf diese Veröffentlichung, soll i m folgenden versucht werden, am Beispiel des Risikos „Alter" zu zeigen, welche konkreten Maßnahmen und Regelungen i n archaischen Gesellschaften dem Schutz der Lebenslage der nicht mehr oder nur noch begrenzt Leistungsfähigen dienen. Zunächst ist zu beachten, daß die soziale Sicherung der Alten i n archaischen Gesellschaften ohne Zweifel durch die Tatsache erleichtert wird, daß deren Anteil an der Bevölkerung infolge der geringen Lebenserwartung deutlich niedriger ist als i n Industriegesellschaften. Zwar kann für die Bestimmung dieses Anteils nicht von den i n Industriegesellschaften üblichen Altersgrenzen von 60 oder 65 Jahren ausgegangen werden, da i n den meisten archaischen Gesellschaften der Alterungsprozeß sehr viel früher einsetzt. 27 Doch auch der Anteil der mehr als 50 Jahre alten Menschen liegt i n vielen archaischen Gesellschaften nur bei 4 bis 7°/o, während etwa i n der Bundesrepublik i m Jahre 1980 bereits mehr als 15°/o der Bevölkerung über 65 Jahre alt waren. 28 Sicherheit i m A l t e r beinhaltet nicht nur unter archaischen Bedingungen an erster Stelle eine geregelte Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern, insbesondere Nahrungsmitteln. Die Beteiligung der Alten am von der Gesamtgruppe erwirtschafteten Produkt ist i n vielen Fällen bereits gesichert durch die übliche Verteilung aller wichtigen Konsumgüter, die sich nicht an der Leistung, sondern an Bedarfsund/oder Statuskriterien orientiert. 2 9 Die vielleicht einfachste Methode, den erforderlichen Konsumverzicht der Jüngeren zugunsten der Älteren herbeizuführen, stellt die i n archaischen Gesellschaften ebenfalls sehr verbreitete Tabuisierung bestimmter Nahrungsmittel dar. 30 Beispielsweise gilt der Verzehr bestimmter Früchte oder genau bezeichneter Teile des erlegten Wildes als äußerst gefährlich für alle Gruppenmitglieder unterhalb einer gewissen Altersgrenze. 31 Derartige Tabus sichern den Alten einen unbestrittenen Anteil an der insgesamt verfügbaren Menge an Nahrungsmitteln. 26 Vgl. L. W. Simmons , The Role of the Aged i n P r i m i t i v e Society, o. O. 1970 (erstmals New Haven 1945). 27 Vgl. R. Thurnwald , 1932 a, S. 270. 28 Vgl. L. W. Simmons , 1970, S. 16; sowie Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 1982 für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart u n d Mainz 1982, S. 60. 29 Vgl. Abschnitt 5.1.2.1. dieser A r b e i t sowie die zahlreichen Beispiele für „food-sharing customs" bei L. W. Simmons, 1970, S. 20 ff. 30 Vgl. ebd., S. 26. 31 Vgl. ebd., S. 26 ff.

5.2. Prinzip u n d Formen sozialer Sicherung

105

Eine weitere wichtige Form der sozialen Sicherung i m Alter besteht i n der Reservierung bestimmter Tätigkeiten für ältere oder alte Menschen. Diese Möglichkeit der Alterssicherung beruht auf der i n archaischen Gesellschaften dominierenden Arbeitsteilung nach Geschlecht und Alter. Bei den von Alten ausgeübten Tätigkeiten handelt es sich vor allem u m gesellschaftlich bedeutsame und entsprechend honorierte Dienstleistungen, die keinen oder nur geringen körperlichen Einsatz, aber umfangreiches Wissen und langjährige Erfahrung voraussetzen 32 . Diese Arbeitsteilung ist sinnvoll, weil i n Gesellschaften ohne Schriftkunde und ohne raschen Wandel nicht nur die Erfahrung, sondern auch das Wissen über die Erfordernisse des wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Lebens bei den jeweils ältesten Gesellschaftsmitglieder am größten ist. 33 Wie Simmons ausführlich belegt hat, 3 4 sind die von alten Menschen i n archaischen Gesellschaften erbrachten Dienste außerordentlich vielfältig. Sie umfassen Leistungen wie die Betreuung und Unterweisung von Kindern und Jugendlichen, das Überliefern der Geschichte, die Leitung von Zeremonien und Festen; hinzu kommen religiöse Dienstleistungen als Magier, Schamanen oder Priester, medizinische Dienstleistungen als Hebammen und Medizinmänner, politische und andere Dienstleistungen als Führer, Ratgeber, Vermittler, Richter usw. Die Ausübung dieser Funktionen sichert den A l t e n i n archaischen Gesellschaften nicht nur den Lebensunterhalt, sie verschafft ihnen auch großen Einfluß auf wichtige Entscheidungen und erklärt damit das hohe Maß an Respekt und Prestige, das alte Menschen i n diesen Gesellschaften i m allgemeinen genießen. Die Chancen einer Alterssicherung durch Übernahme besonderer Aufgaben werden allerdings begrenzt durch die oft zu geringe Differenzierung archaischer Gesellschaften und durch die nicht immer ausreichende oder schwindende Leistungsfähigkeit der einzelnen. 35 Zumindest i n diesen Fällen bildet die Unterstützung durch Familienangehörige und Verwandte eine weitere, unverzichtbare Form der sozialen Sicherung i m Alter. 3 6 Die besondere Eignung verwandtschaftlich konstituierter Gruppen als Risiko- und Solidargemeinschaften archaischer Gesellschaften ist bereits ausführlich dargelegt worden. 37 Hier soll nur noch gezeigt wer32

Vgl. ebd., S. 82 f. Vgl. ebd., S. 131; sowie E. R. Service, The Hunters, Englewood Cliffs 1966, S. 51. 34 Vgl. L. W. Simmons, 1970, S. 83 ff., S. 105 ff. u n d S. 131 ff. 35 Vgl. ebd., S. 130. 30 Vgl. ebd., S. 177. 37 Vgl. Abschnitt 5.2.1. dieser Arbeit. 33

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5. Soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften

den, daß die Begründung und Aufrechterhaltung familiärer und verwandtschaftlicher Bindungen zum Zwecke der Alterssicherung nicht ausschließlich durch Zeugung und Aufzucht möglichst vieler Kinder erfolgen muß, die später für die hilfsbedürftigen Eltern sorgen. 38 Die Unterstützung i m Alter kann auch durch die eheliche Verbindung mit einem jüngeren, leistungsfähigen Partner angestrebt werden. Diese hauptsächlich von älteren Männern geübte Praxis ist von Simmons i n zahlreichen archaischen Gesellschaften festgestellt worden. 39 Sie setzt i n der Regel die Zulässigkeit der Polygamie voraus und kann (wie bei australischen Stämmen) zur Monopolisierung aller jüngeren, heiratsfähigen Frauen durch ältere und alte Männer führen. 40 Eine Eheschließung und damit die Begründung familiärer Beziehungen liegt auch einer spezifischen Form der sozialen Sicherung von W i t wen und deren Kindern zugrunde, die sich aus dem sogenannten „Levirat" ergibt. Das Levirat ist eine i n archaischen Gesellschaften sehr verbreitete Regel, die den jüngeren Bruder eines Verstorbenen verpflichtet (bzw. berechtigt), dessen Witwe zu heiraten und sie und ihre Kinder zu versorgen. 41 Das Gegenstück zum Levirat bildet das sogenannte „Sororat", eine Regel, die die Heirat eines Witwers mit der j ü n geren Schwester seiner verstorbenen Frau vorsieht. 42 Aus der Perspektive der sozialen Sicherung kann diese Regelung als eine archaische Form der Witwerversorgung interpretiert werden. Die Ausführungen zur sozialen Sicherung i m Alter haben gezeigt, daß die Versorgung der A l t e n i n archaischen Gesellschaften auf einer Reihe gesellschaftlich anerkannter Privilegien beruht, die sich auf besondere Nahrungsmittel, bestimmte Tätigkeiten und mitunter auch auf Bevorzugungen bei der Eheschließung (Recht auf jüngere oder mehrere Partner) erstrecken. Es stellt sich hier die Frage, warum die Jüngeren diese Vorrechte der Älteren und damit ihre eigene Benachteiligung hinnehmen. Ein Hauptgrund für diese Bereitschaft zum Verzicht w i r d i n der Tatsache zu sehen sein, daß die Privilegien der A l t e n nicht aufgrund besonderer Abstammung, Vermögen oder Macht bestehen, sondern ausschließlich infolge fortgeschrittenen Alters. 4 3 Für die Jüngeren 38 Wie Simmons zeigt, w i r d diese Fürsorge i n archaischen Gesellschaften begünstigt durch die ausgeprägte Abhängigkeit auch der erwachsenen K i n der v o n ihren Eltern, die über das Familieneigentum u n d vielfältige V o r rechte verfügen (vgl. L. W. Simmons , 1970, S. 183 ff.). 39 Vgl. ebd., S. 178 ff. 40 Vgl. ebd., S. 181 f.; sowie H. Nachtigall, Völkerkunde. Eine Einführung, F r a n k f u r t / M . 1974, S. 66. 41 Vgl. R. Thurnwald, 1932 a, S. 245 u n d S. 274. 42 Vgl. G. P. Murdock, 1967, S. 29. Nach Murdock findet sich die Leviratsu n d die Sororatsregel i n 127 v o n 185 archaischen Gesellschaften, für die ausreichende Daten vorlagen (vgl. ebd., S. 29). 43 Vgl. H. Nachtigall, 1974, S. 66.

5.2. Prinzip u n d Formen sozialer Sicherung

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ist es somit nur eine Frage der Zeit, bis auch sie diese Vorzüge genießen können. Abschließend ist noch hinzuweisen auf einige Begrenzungen der sozialen Sicherung i n archaischen Gesellschaften, die sich aus den bereits ausführlich beschriebenen sozio-ökonomischen und kulturellen Merkmalen dieser Gesellschaften ergeben. 44 Einschränkend auf die Möglichkeit sozialer Sicherung wirken vor allem: a) zu geringe oder unregelmäßige Überschüsse; b) Zwang zum Ortswechsel; c) Dominanz verwandtschaftlicher Beziehungen. Die Versorgung Hilfsbedürftiger und Leistungsunfähiger setzt einen gewissen Überschuß an Gütern und Leistungen voraus. 45 Die überwiegend wenig produktiven Formen der Unterhaltssicherung begrenzen i n archaischen Gesellschaften das Ausmaß und oft auch die Verläßlichkeit von Überschüssen, die für Zwecke der sozialen Sicherung gebraucht werden. Wo der Verteilungsspielraum sehr eng w i r d oder wo bereits allgemeine Not herrscht, verschlechtert sich die Lebenslage der auf Hilfe und Unterstützung Angewiesenen fast immer deutlich. Wie viele ethnographische Berichte zeigen, führt anhaltende Not zur Vernachlässigung von Kindern, Kranken und Greisen, zu einer Haltung des „Rette sich, wer kann". 4 6 Soweit archaische Gesellschaften noch nicht seßhaft sind, können sie auf eine Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen mit einem Ortswechsel reagieren. I n der Regel zwingt bereits eine überwiegend aneignende (statt produzierende) Wirtschaftsweise früher oder später zum Verlassen erschöpfter und zum Aufsuchen noch ungenutzter Gebiete, wenn ein bestimmtes Versorgungsniveau nicht unterschritten werden soll. Vor der Notwendigkeit solcher Wanderungen stehen Jäger- und Sammlervölker sowie Hirtengesellschaften, i n geringerem Ausmaß auch extensiv wirtschaftende Feldbauern. 47 Angesichts der generell unzureichenden Möglichkeiten eines Personentransports gefährdet der Zwang zu räumlicher Mobilität die Sicherheit und Versorgung jener Gesellschaftsmitglieder, die sich noch nicht oder nicht mehr auf eigenen Füßen fortbewegen können: Säuglinge und Kleinkinder einerseits, 44

Vgl. Abschnitt 5.1.2. dieser A r b e i t . Vgl. Abschnitt 3.3.2.3. dieser Arbeit. 46 Vgl. vor allem J. Koty, 1933, S. 264 ff. Eine besonders eindringliche Schilderung der demoralisierenden Folgen einer schweren Hungersnot bei einem Jäger- u n d Sammlervolk i m Norden Ugandas findet sich bei: C. M . Turnbull, Das V o l k ohne Liebe. Der soziale Untergang der I k , Reinbek 1973 (Original New Y o r k 1972). 47 Vgl. E. R. Service, 1966, S. 7; sowie M. D. Sahlins, Tribesmen, Englewood Cliffs 1968, S. 28 ff. 45

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5. Soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften

Kranke und Alte andererseits. Nicht-Seßhaftigkeit ist somit eine der Hauptursachen für eine ungenügende soziale Sicherung i n archaischen Gesellschaften. 48 Der überragende Einfluß verwandtschaftlicher Beziehungen auf die Struktur archaischer Sozialsysteme i m allgemeinen und auf die Gestaltung der sozialen Sicherung i m besonderen ist schon mehrfach herausgestellt worden. 49 Die i m Grunde sehr wirksame Anknüpfung an familiäre und verwandtschaftliche Bindungen und Verpflichtungen zur Motivierung von Hilfs- und Unterstützungsleistungen begrenzt jedoch zugleich das mögliche Ausmaß sozialer Sicherung i n archaischen Gesellschaften. Denn die Dominanz verwandtschaftlicher Beziehungen führt notwendig zur Schutzlosigkeit jener, die solche Verbindungen nicht nutzen können, weil sie sich beispielsweise i n der Fremde aufhalten, oder die nur wenige oder keine Verwandten haben. 50 Grenzen sozialer Sicherung ergeben sich schließlich auch aus dem beschriebenen, i n archaischen Gesellschaften oft scharf akzentuierten Gegensatz von Verwandtschaft und Nicht-Verwandtschaft, der solidarisches Handeln auf die eigene Primärgruppe begrenzt. 51

48 Vgl. hierzu vor allem J. Koty, 1933, S. 275 ff.; sowie L. W. Simmons, 1970, S. 227 f. 49 Vgl. Abschnitt 5.1.2.2. u n d 5.2.1. dieser Arbeit. 50 Vgl. J. Koty, 1933, S. 298 f. 51 Vgl. Abschnitt 5.1.2.3. dieser A r b e i t sowie J. Koty, 1933, S. 298: „Bei vielen Gruppen erstreckt sich das Solidaritäts- u n d Pflichtgefühl n u r auf die Mitglieder der Familien (auch i m weiteren Sinn) u n d der Sippe; gegenüber den Personen, die außerhalb des Familienkreises u n d der Sippe stehen, erlegt die Sitte keine Pflichten auf."

6. Soziale Sicherung in feudalen Gesellschaften I n diesem Kapitel sind Prinzipien und Formen sozialer Sicherung i n einem zweiten Typ nicht-industrieller Gesellschaften zu beschreiben und zu analysieren. Wie bereits dargelegt wurde, kann nach dem Grad der sozialen Differenzierung unterschieden werden zwischen gering differenzierten oder „einfachen" und stärker differenzierten oder „komplexen" (nicht-industriellen) Gesellschaften. 1 Während das Problem der sozialen Sicherung und seine spezifische Lösung für den ersten Typ i m letzten Kapitel behandelt wurden, ist nun darzustellen, welche Regelungen und Einrichtungen die Mitglieder differenzierterer nicht-industrieller Gesellschaften vor Verschlechterungen ihrer Lebenslagen schützen. Der historische Prozeß der sozialen Differenzierung, der sich primär i n wachsender Arbeitsteilung und sozialer Schichtung äußert, führt infolge unterschiedlicher Ausgangs- und Randbedingungen notwendigerweise zu unterschiedlichen Ergebnissen. Das bereits auf der Stufe geringer Differenzierung festzustellende breite Spektrum verschiedener Gesellschaftsformen w i r d daher noch beträchtlich erweitert. Durchaus problematisch erscheint somit der Versuch, die Vielfalt höher differenzierter Gesellschaften als einen bestimmten Typus zu erfassen. Das wäre nur zulässig auf sehr abstraktem Niveau mit dem wahrscheinlichen Resultat, daß über Prinzipien und vor allem über Formen sozialer Sicherung nichts Konkretes ausgesagt werden könnte. Da aber die Ableitung derartiger Aussagen das zentrale Anliegen dieser Arbeit bildet, w i r d hiermit vorgeschlagen, für die weitere Darstellung eine bestimmte Form stärker differenzierter, nicht-industrieller Gesellschaften auszuwählen, die relativ lange Zeit bestand und relativ weit verbreitet war: die feudale Gesellschaft. Ausschlaggebend für diese Wahl ist auch die Tatsache, daß diese Gesellschaftsform eine wichtige Phase der europäischen und deutschen Geschichte, das sogenannte Mittelalter, prägte und daher weitgehend erforscht und ausreichend dokumentiert ist.

1

Vgl. Abschnitt 4.3. dieser Arbeit.

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. Soziale Sicherung i n

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6.1. Feudale Gesellschaften 6.1.1. Zum Begriff „feudale Gesellschaft"

Die Verwendung des Adjektivs „feudal" zur Kennzeichnung bestimmter Sozialsysteme muß i n einer wissenschaftlichen Abhandlung begründet werden, weil zum einen der zugrunde liegende Begriff des Feudalismus belastet ist durch seinen Gebrauch (bzw. Mißbrauch) als Kampf- und Schlagwort, als „politische Waffe", 2 und weil zum anderen über den Inhalt dieses Begriffs auch i n der wissenschaftlichen Diskussion bisher keine völlige Einigung erzielt wurde. 3 Der Schlagwortcharakter des Begriffs „Feudalismus" ist eine Folge seiner spezifischen Entstehungsgeschichte 4 . Als „féodalité" erscheint der Begriff zuerst i m Frankreich des 17. Jahrhunderts zur Bezeichnung des mittelalterlichen Lehenswesen. 5 I m Laufe des 18. Jahrhunderts und insbesondere während der Französischen Revolution kommt es zu einer entscheidenden Ausweitung der Bedeutung des Begriffs. „Feudalismus" meint nun die von der bürgerlichen Bewegung bekämpfte und schließlich überwundene rechtliche, wirtschaftliche und persönliche Abhängigkeit der Masse des Volkes von einer privilegierten Adelsschicht. 6 Der Feudalismus verkörpert hier die Vor- und Gegenwelt der bürgerlichen Gesellschaft, „feudal" w i r d zum Gegensatz von „bürgerlich", umgangssprachlich zum Synonym für „adlig", „herrschaftlich", „reaktionär". 7 Die allenfalls für seine letzte Phase zutreffende Charakterisierung des Feudalismus als bloßes Gewalt- und Ausbeutungsverhältnis, die insbesondere i n der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung vorherrscht, 8 dürfte eine der Ursachen dafür sein, daß viele Historiker den Begriff „Feudalismus" unbrauchbar finden und ihn daher vermeiden. 9 Wenn sie nicht überhaupt auf die begriffliche Erfassung der von ihnen 2 L. Kuchenbuch (Hg.), Feudalismus — Materialien zur Theorie u n d Geschichte, Frankfurt/M.—Berlin—Wien 1977, S. 15. 3 Vgl. hierzu vor allem H. Wunder, Einleitung: Der Feudalismus-Begriff. Überlegungen zur Möglichkeit der historischen Begriffsbildung, in: dies. (Hg.), Feudalismus, München 1974, S. 10 - 76. 4 Vgl. O. Brunner, „Feudalismus". E i n Beitrag zur Begriffsgeschichte, i n : ders., Neue Wege der Verfassungs- u n d Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1968, S. 128 - 159. 5 Vgl. ebd., S. 134. 6 Vgl. ebd., S. 135 ff., sowie H. Wunder, 1974, S. 11. 7 Vgl. ders., Feudalismus, (II) Soziologische Aspekte, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (HdSW), Bd. 3, 1961, S. 509, sowie H. Wunder, 1974, S. 10 f. 8 Vgl. H. Wunder, 1974, S. 28 ff. 9 Vgl. ebd., S. 13 u n d S. 24: „ F ü r den deutschen Historiker spielt der Begriff „Feudalismus" heute keine Rolle" (gemeint ist der westdeutsche Historiker, Ergänzung v o n M . P.).

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beschriebenen Gesellschaften verzichten, indem sie beispielsweise nur periodische Abgrenzungen wie „Mittelalter" verwenden, benutzen sie noch am ehesten Bezeichnungen wie „Ständegesellschaft". 10 Trotz der geschilderten Vorbehalte gegen den Begriff „Feudalismus" spricht andererseits für seine Beibehaltung bzw. Wiedereinführung i n die wissenschaftliche Diskussion, daß er — bei korrektem Gebrauch — von großem heuristischem Wert sein kann. Er verweist nämlich nicht nur — wie etwa der Begriff „Ständegesellschaft" — auf eine historische Form sozialer Schichtung, sondern deutet auch h i n auf deren politische und ökonomische Voraussetzungen 11 . Der höhere Informationsgehalt ist damit der ausschlaggebende Grund für die Entscheidung, i m Rahmen dieser Arbeit die Bezeichnung „feudale Gesellschaft" den denkbaren Alternativen „Stände-" oder „mittelalterliche Gesellschaft" vorzuziehen. Von „feudaler Gesellschaft" kann sinnvoll allerdings nur dann gesprochen werden, wenn „Feudalismus" nicht auf das Lehenswesen beschränkt wird, dem es seinen Namen verdankt („feudum" = Lehen). 12 Dagegen spricht vor allem, daß das Lehenswesen nur die Beziehungen zwischen den Lehensgebern (König und Adel) und den ihnen zu Treue und (Kriegs-)Dienst verpflichteten, ebenfalls adligen Lehensnehmern (Vasallen) umfaßt, die als Schicht der Feudalherren nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung repräsentierten. 13 Wie vor allem Brunner betont hat, besteht jedoch das charakteristische Merkmal des Feudalismus i n einer „Herrschaft über Land und Leute", 1 4 die auch die A b hängigkeitsverhältnisse der breiten Schichten des Volkes, vor allem der Bauern, einschließt. 15 Auch O. Hintze kommt i n einer noch immer grundlegenden Arbeit zu einem Verständnis des Feudalismus, das über das reine Lehenswesen hinausgeht und sozial-ökonomische Aspekte einbezieht. 16 Seine Charakterisierung des Feudalismus soll abschließend skizziert werden, bevor 10 Vgl. z.B. H. Henning, Sozialgeschichte, in: Handwörterbuch der W i r t schaftswissenschaft (HdWW), Bd. 6, 1981, S. 661 - 689, insbesondere S. 675 ff. 11 Wie F.-W. Henning ausführt, w a r das Feudalwesen zugleich Wirtschaftsordnung, Gesellschaftsordnung u n d Staatsordnung (vgl. F.-W. Henning, 1974, S. 30). 12 Vgl. als ein Beispiel dieser vor allem i n der Verfassungs- u n d Rechtsgeschichte verbreiteten Deutung: H. Thieme, Feudalismus, (I) Rechtshistorische Aspekte, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (HdSW), Bd. 3, 1961, S. 506 - 508. 13 Vgl. hierzu vor allem F.-W. Henning, Landwirtschaft u n d ländliche Gesellschaft i n Deutschland, Bd. 1: 800 bis 1750, Paderborn 1979, S. 39 ff. 14 O. Brunner, 1961, S. 510 (Hervorh. v. M. P.). 15 Vgl. F.-W. Henning, 1979, S. 40. 19 Vgl. O. Hintze, Wesen u n d Verbreitung des Feudalismus, in: ders., Feudalismus — Kapitalismus, hrsg. v o n G. Oestreich, Göttingen 1970, S. 12 - 47 (erstmals 1929).

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i n den nächsten Abschnitten die für die Gestaltung der sozialen Sicherung relevanten Aspekte feudaler Gesellschaften dargelegt werden. Hintze sieht i m Feudalismus ein „System persönlicher Herrschaftsmittel ..., das zur Regierung eines großen Reiches sich darbietet i n einer Zeit vorherrschender Naturalwirtschaft und wenig entwickelten Verkehrs, beim Mangel rationaler anstaltlicher Einrichtungen" 1 7 . Der Dominanz persönlicher (statt bürokratischer) Herrschaft entspricht zum einen der partikularistische Zug des Feudalismus, d. h. die Teilung der Staatsgewalt nicht nach Funktionen (wie i m modernen Staat), sondern „nach ihrem Objekt, nach Land und Leuten", 1 8 und zum anderen sein hierarchischer Zug, d. h. das Überwiegen von Verhältnissen der Über- und Unterordnung. 19 Konkret w i r d der Feudalismus durch drei wesentliche Faktoren geprägt: 1. „Aussonderung eines hochausgebildeten, dem Herrscher i n Treue verbundenen berufsmäßigen Kriegerstandes"; 2. „Ausbildung einer grundherrschaftlich-bäuerlichen W i r t schaftsweise, die diesem privilegierten Kriegerstand ein arbeitsfreies Renteneinkommen gewährt"; 3. „lokale Herrenstellung dieses Kriegsadels" 20 . Ein durch diese drei Elemente bestimmter Feudalismus findet sich nach Hintze nicht nur i m mittelalterlichen Europa, sondern er t r i t t auch auf i n der Geschichte Rußlands, der islamischen Staaten und Japans. 21 Nach diesen Ausführungen läßt sich feststellen, daß der Begriff des Feudalismus kein leeres Schlagwort sein muß, und daß es daher auch gerechtfertigt und sinnvoll ist, von „feudalen Gesellschaften" zu sprechen, nicht zuletzt deswegen, weil derartige Sozialsysteme auch außerhalb der europäischen Entwicklung nachweisbar sind. 22 6.1.2. Merkmale feudaler Gesellschaften

Die soeben i n Anlehnung an Hintze bestimmten feudalen Gesellschaften weisen je nach Raum und Zeit beträchtliche Unterschiede auf. Der Versuch, charakteristische Kennzeichen dieser Gesellschaften zu beschreiben, steht daher selbst dann vor großen Schwierigkeiten, wenn er auf die für Fragen der sozialen Sicherung relevanten Aspekte (Ökonomie, Sozialstruktur, Werte und Normen) begrenzt bleibt. 17

Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. 19 Vgl. ebd., S. 15 f. 20 Ebd., S. 22. 21 Vgl. ebd., S. 27. Zur universalgeschichtlichen Bedeutung des Feudalismus vgl. R. Coulborn (Hg.), Feudalism i n History, Princeton (Ν. J.) 1956. 22 Nicht beweisbar ist allerdings eine entwicklungsgeschichtliche Notwendigkeit des Feudalismus (vgl. F.-W. Henning, 1979, S. 39). 18

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Aus diesem Grunde beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die feudalen Gesellschaften Europas, insbesondere auf Deutschland, und auf die Phase des Mittelalters, i n der der Feudalismus am stärksten ausgeprägt war. Offen bleiben muß dabei, ob bzw. inwieweit die hier vorgenommene Charakterisierung auch auf feudale Gesellschaften zutrifft, die an anderen Orten oder zu anderen Zeiten bestanden. 6.1.2.1. Feudale

Ökonomie

Die wirtschaftliche Basis der durch das Herrschaftssystem „Feudalismus" konstituierten Gesellschaften bildete die Landwirtschaft. Infolge der wenig entwickelten Produktionstechniken und der ebenfalls sehr begrenzten Möglichkeiten des Gütertransports lebte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung auf dem Lande und war i n erster Linie m i t der Erzeugung von Nahrungsmitteln beschäftigt. 23 Unter diesen Bedingungen war landwirtschaftlich nutzbarer Boden der entscheidende Produktionsfaktor und Landbesitz die wichtigste Quelle von Macht und Herrschaft. Die Grundeinheit der ländlichen Produktion stellte die bäuerliche Hauswirtschaft dar. 24 Die den Produktionsprozeß bestimmenden Elemente dieser Hauswirtschaft waren nutzbares Land, Arbeitsmittel (Geräte, Zugtiere usw.), Saatgut und schließlich menschliche Arbeitskraft. 2 5 Neben familienzyklischen Veränderungen entschied der variable Bedarf an Arbeitskräften über Umfang und Zusammensetzung der bäuerlichen Hausgemeinschaft. Diese Gemeinschaft umfaßte daher außer der Kernfamilie des Bauern häufig weitere Verwandte, aber auch eine unterschiedlich große Zahl nicht verwandter Personen (z. B. als Gesinde). 26 Hier nicht näher zu behandelnde Besonderheiten der landwirtschaftlichen Erzeugung (Fruchtwechsel, Nutzung der Allmende usw.) erforderten schließlich auch eine Regelung und Abstimmung der einzelwirtschaftlichen Aktivitäten. 2 7 Außerdem fehlte es nicht an Anlässen zu umfassender Zusammenarbeit, da — ganz abgesehen von Notfällen — bestimmte Vorhaben (z. B. Hausbau, Rodung) nur mit Hilfe anderer zu verwirklichen waren. Aus dieser Koordination und Kooperation ent23 Nach Henning waren i n der Entstehungsphase des Feudalismus, i m frühen Mittelalter, mehr als 90 % aller Beschäftigten i n der Landwirtschaft tätig; noch an der Wende zum 19. Jahrhundert betrug i h r A n t e i l 60 bis 65 % (vgl. ebd., S. 48). 24 Vgl. hierzu vor allem: L. KuchenbuchlB. Michael, Z u r S t r u k t u r u n d D y n a m i k der „feudalen" Produktionsweise i m vorindustriellen Europa, i n : L. Kuchenbuch (Hg.), 1977, S. 694 - 761, hier: S. 703 f. 25 Vgl. ebd., S. 702 f. 28 Vgl. ebd., S. 703 f. 27 Vgl. ebd., S. 705 f. Vgl. auch R. H. Hilton, Die Natur mittelalterlicher Bauernwirtschaft, i n : L. Kuchenbuch (Hg.), 1977, S. 481 - 522, hier: S. 486 f.

8 Partsch

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standen vielfältige Verflechtungen zwischen den einzelnen Bauernwirtschaften, die sich i n der Bildung dörflicher Genossenschaften und Gemeinden niederschlugen. 28 Das vorrangige Ziel der bäuerlichen Produktion war eine ausreichende Versorgung der Mitglieder der Hausgemeinschaft, ein subsistenzsichernder jährlicher Ertrag. 2 9 Die landwirtschaftliche Produktivität ermöglichte jedoch auch die Erzeugung von Überschüssen, die einer allmählich wachsenden Zahl von Menschen eine von bäuerlicher A r beit befreite Existenz gestattete. Dabei handelte es sich zum einen u m Personen, die ein Gewerbe ausübten und für ihre Leistungen oder Erzeugnisse landwirtschaftliche Produkte eintauschten, und zum anderen u m Personen, die aufgrund von Macht, Besitz oder Privilegien einen Anspruch auf Teile des Überschusses erheben und durchsetzen konnten. 30 Die für feudale Gesellschaften bedeutsamste Institutionalisierung derartiger Ansprüche stellt die sogenannte Grundherrschaft dar. Die Grundherrschaft ist eine spezifische Form der Machtausübung (neben anderen Herrschaftsformen wie Hausherrschaft, Leibherrschaft, Gerichtsherrschaft), die auf einem Obereigentum der Grundherrn an Boden beruht, einem „Herreneigentum" an Land (Max Weber), das über den bloßen Grundbesitz hinaus Herrschaft über die darauf lebenden und arbeitenden Menschen bedeutet. 31 Die Grundherrschaft ist daher nicht nur ein rechtlicher und ökonomischer, sondern vor allem auch ein sozialer Tatbestand; sie ist „nur eine spezielle, nämlich am Bodenbesitz anknüpfende Ausgestaltung des i m Prinzip personalen Herrschaftsgedankens" 32 . Der hier interessierende ökonomische Aspekt der Grundherrschaft ist darin zu sehen, daß der Grundherr sein Land nicht selbst bewirtschaftet, sondern Bauern gegen Abgaben und mitunter auch Dienstleistungen zur Verfügung stellt. 33 Dem Obereigentum der Grundherrn an Land, das i m wesentlichen auf Okkupation, Belehnung und Schenkungen (an Kirche und Klöster) zurückging, entsprach damit auf der anderen Seite ein Untereigentum oder auch nur ein bloßes Nutzungsrecht der bäuerlichen Grundholden oder Hintersassen. Diese waren darüber hinaus Eigentümer ihrer Arbeitsmittel und verfügten daher — i m Ge28 Vgl. hierzu vor allem: K. S. Bader, Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes, T e i l 2: Dorfgenossenschaft u n d Dorfgemeinde, 2. Aufl., Graz 1974, S. 54 ff. 29 Vgl. L. Kuchenbuchl Β. Michael, 1977, S. 709. 30 Vgl. ebd., S. 710. 31 Vgl. F. Lütge, 1966, S. 55 ff. 32 Ebd., S. 61. 33 Vgl. ebd., S. 57; vgl. auch K . Bosl, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft i m deutschen Mittelalter, 4. Aufl., München 1978, S. 108.

6.1. Feudale Gesellschaften

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gensatz zum modernen Proletarier — nicht nur über ihre Arbeitskraft. Sie konnten relativ selbständig produzieren, da ihre wirtschaftliche Handlungsfreiheit durch Abgaben und Dienstpflichten zwar eingeschränkt, aber nicht beseitigt war. 3 4 Die Grundherrschaft erwies sich als eine unter naturalwirtschaftlichen Verhältnissen vorteilhafte Produktionsweise, weil sie unter den gegebenen Bedingungen eine hohe Produktion sicherte: Zum einen zwangen die an den Grundherrn zu erbringenden Leistungen zur Erzeugung von Überschüssen, 35 zum anderen konnte der infolge seiner Unfreiheit nicht mehr zum Kriegsdienst verpflichtete, unter dem Schutz des Grundherrn stehende Bauer nunmehr ausschließlich seiner eigentlichen Arbeit nachgehen. Gleichfalls produktiv wirkte die i m Rahmen der Grundherrschaft mögliche Koordination und Kooperation einer größeren Zahl von bäuerlichen Einzelwirtschaften, die nicht zuletzt auch eine breitere Streuung des „natürlichen Existenzrisikos" 3 ® gestattete. M i t dem i n Deutschland seit dem achten Jahrhundert feststellbaren allmählichen Anstieg der Nahrungsmittelerzeugung über den Bedarf der bäuerlichen Familien und der Grundherren hinaus war die entscheidende Voraussetzung für die Versorgung einer wachsenden Zahl nicht mehr oder nur noch marginal landwirtschaftlich tätiger Menschen erfüllt. 3 7 Die damit mögliche Intensivierung der Arbeitsteilung trug ihrerseits wiederum bei zu weiterem Produktivitätswachstum, zur Entfaltung von Handel und Gewerbe, zur Gründung und Expansion vieler Städte seit dem 12. Jahrhundert. 3 8 Die städtische Wirtschaft entwickelte sich nicht neben oder i m Gegensatz zur ländlichen, sondern zunächst i n Abhängigkeit vom Lande und später i n einem Verhältnis wechselseitiger Ergänzung; 39 insofern bildet sie einen originären Bestandteil der Ökonomie feudaler Gesellschaften. Die i m wesentlichen durch Handwerk und Handel geprägte städtische Wirtschaft weist i m Vergleich zur Landwirtschaft neben wichtigen Besonderheiten auch Gemeinsamkeiten auf, die abschließend skizziert werden sollen. Die Unterschiede betreffen vor allem die Zusammensetzung und Gewichtung der für die Leistungserbringung benötigten 34

Vgl. L. KuchenbuchlB. Michael, 1977, S. 710 f. . Vgl. F.-W. Henning, 1979, S. 55. 36 E. Pitz, Wirtchafts- u n d Sozialgeschichte Deutschlands i m Mittelalter, Wiesbaden 1979, S. 17. 37 Vgl. F.-W. Henning, 1979, S. 87. 38 Vgl. ders., 1974, S. 56 ff. u n d S. 74 ff. 39 Vgl. hierzu den Versuch Hennings, die Rolle der städtischen Wirtschaft i m „volkswirtschaftlichen" Kreislauf darzustellen (ebd., S. 83 ff.). Z u Hennings Ausführungen ist zu ergänzen, daß das Land nicht n u r Nahrungsmittel u n d Rohstoffe (z. B. Wolle), sondern auch Arbeitskräfte an die Stadt abgibt. 35



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Produktionsmittel. Während für die landwirtschaftliche Erzeugung der Quantität und Qualität des Bodens eine ausschlaggebende Bedeutung zukommt, spielt der verfügbare Grund i n der Stadt nur eine nachrangige Rolle als „Sitz" von Wohnung und Werkstatt oder Lager. 40 Sehr viel wichtiger ist dagegen für den Handwerker sein i n vielen Jahren erworbenes berufliches Können (Meisterschaft) und die unbehinderte Verfügung über Werkzeuge und Rohstoffe. 41 Der Händler und Kaufmann andererseits war vor allem angewiesen auf seine Kenntnis der verschiedenen Märkte und auf den freien Zugang zu Waren sowie Transport- und Tauschmitteln. 42 Gemeinsamkeiten der ländlichen und der städtischen Wirtschaftsweise bestehen zum einen i n der überwiegend hauswirtschaftlichen Betriebsform. Auch i m Handwerk und i m Handel ist der Haushalt als Produktions- und Konsumgemeinschaft die dominierende Wirtschaftseinheit. 43 Eine weitere Übereinstimmung zeigt sich zum anderen i n den verbreiteten genossenschaftlichen Zusammenschlüssen, die i n den Städten als Zünfte der Handwerker und als Gilden der Kaufleute hervortreten. 4 4 A u f die große Bedeutung sowohl des hauswirtschaftlichen als auch des genossenschaftlichen Elements der feudalen Ökonomie für die soziale Sicherung kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden; sie w i r d i n Abschnitt 6.2 noch ausführlich dargelegt. 6.1.2.2. Feudale

Sozialstruktur

Die i m Vergleich zu archaischen Gemeinschaften deutlich ausgeprägtere Differenzierung feudaler Gesellschaften kommt vor allem i n deren komplexen Sozialstrukturen zum Ausdruck. Sie werden charakterisiert durch eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer Gruppen, Schichten, Lebenslagen, Institutionen und Verhaltensweisen, die i n Abhängigkeit von Raum und Zeit beträchtliche Abweichungen aufweisen können. Ziel der folgenden Ausführungen kann nicht eine jede regionale und zeitbedingte Besonderheit berücksichtigende, vollständige Beschreibung sein, sondern nur die Darlegung der Grundzüge und elementaren Bestandteile der sozialen Struktur feudaler Gesellschaften. Für das Verständnis der Feudalordnungen ist die Einsicht wichtig, daß das archaische Organisations- und Strukturprinzip „Verwandtschaft" infolge verschiedener historischer Prozesse seine gesellschafts40

Vgl. L. KuchenbuchlB. Michael, 1977, S. 729. Vgl. ebd., S. 729. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. E. Pitz, 1979, S. 36 f. u n d S. 114. 44 Vgl. z . B . M . Weber, Wirtschaftsgeschichte. Abriß der universalen Sozial« u n d Wirtschaftsgeschichte, B e r l i n 1958, S. 127 ff. u n d S. 203 ff. 41

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gestaltende und -integrierende Funktion verloren hatte. Zu diesen Prozessen zählt das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen i n der Zeit der Völkerwanderung, die Unterwerfung fremder Stämme und Völker und die Gründung großer Reiche, die eine sehr heterogene Bevölkerung aufwiesen. 45 Der Zusammenhalt derart umfangreicher und aus verschiedenen Ethnien zusammengesetzter Gesellschaften war offensichtlich nicht mehr über die Herstellung verwandtschaftlicher Beziehungen zu erreichen. Es fehlte aber auch die Möglichkeit einer funktionalen Integration über eine hochentwickelte Arbeitsteilung, da die überwiegend naturalwirtschaftlichen Verhältnisse und die unzulänglichen Transportbedingungen dem Austausch von Gütern und Leistungen enge Grenzen setzten. 48 Damit zusammenhängend mangelte es schließlich auch (bis zur Entstehung des Absolutismus) an einer zentralen Autorität, die — gestützt auf ein „Monopol legitimen physischen Zwanges" (.Max Weber) — die Untertanen vor Rechtsverletzungen hätte schützen können. Statt dessen verteilte sich die Macht, gefördert vor allem durch das Lehenswesen, auf eine Gruppe von Territorial- und Lokalherren, die i n ihren begrenzten Gebieten herrschaftliche Funktionen ausübten und ein ausgeprägtes Streben nach Autonomie entwickelten. 47 Die Lage jener, die nicht wie die Herren über Macht und Vermögen verfügen konnten, war als Folge dieser Entwicklung durch ein hohes Maß an Unsicherheit gekennzeichnet. Sie konnten weder Schutz von ihrer Sippe noch vom König erhoffen, der das Reich repräsentierte, aber nicht beherrschte. „Da also ebenso eine starke Staatsmacht fehlte wie ein das ganze Leben bestimmendes Verwandtschaftssystem..., entstanden i n der karolingischen und nachkarolingischen Gesellschaft zwischenmenschliche Beziehungen besonderer A r t . Der Überlegenere gewährte seinen Schutz und verschiedene materielle Vorteile, die die Subsistenz des Abhängigen direkt oder indirekt sicherstellten; der Unterlegene verpflichtete sich zu verschiedenen Abgaben oder Diensten 45

Vgl. hierzu u n d zum folgenden vor allem H. Kammler, Die Feudalmonarchien. Politische u n d wirtschaftlich-soziale Faktoren i h r e r E n t w i c k l u n g u n d Funktionsweise, K ö l n — W i e n 1974, insbesondere K a p i t e l 2, S. 12 ff. 46 Vgl. zu den Folgen dieser Beschränkungen die Ausführungen v o n N. Elias, der unter anderem auf Beispiele aus der Karolingerzeit verweist, die zeigen, „wie der K ö n i g m i t seinem Hof v o n Pfalz zu Pfalz reisen mußte, u m die Produkte seiner Güter gewissermaßen an Ort u n d Stelle aufzuzehren. So k l e i n dieser Hofhalt . . . gewesen sein mag, es w a r so beschwerlich, die Gütermengen, die m a n zu seiner Ernährung brauchte, h i n u n d her zu bewegen, daß sich die Menschen zu den Gütern hinbewegen mußten" (N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. E n t w u r f zu einer Theorie der Zivilisation, 4. Aufl., F r a n k f u r t / M . 1977, S. 64. 47 Vgl. z. B. C. Bauer, Feudaler Staat, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hrsg. v o n der Görres-Gesellschaft, 6. Aufl., Freiburg 1959, Bd. 3, Sp. 245 ff.

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und war generell zur Hilfeleistung angehalten. Diese Beziehungen waren weder immer frei vereinbart, noch implizierten sie ein allgemein zufriedenstellendes Gleichgewicht zwischen den beiden Parteien. A u f Autorität aufgebaut, barg das Feudalregime ständig Zwänge, Gewalthandlungen und Mißbräuche. Dessen ungeachtet beherrschte die Idee der persönlichen Bindungen, deren hierarchischer und synallagmatischer Charakter den europäischen Feudalismus." 48 Der herrschaftliche Aufbau, der in Verhältnissen der Über- und Unterordnung, der Freiheit und der Abhängigkeit, der Macht und der Ohnmacht zum Ausdruck kam, prägte die Struktur der feudalen Gesellschaft allerdings nur i n ihrer Entstehungsphase i m frühen Mittelalter. Er wurde zusehends überlagert und abgeschwächt durch ein zweites Organisationsprinzip, die Genossenschaft, und durch allmähliche Fortschritte i n der Arbeitsteilung, die eine Ordnung der Gesellschaft nicht nach der unterschiedlichen Teilhabe an der Macht, sondern nach den unterschiedlichen Funktionen begünstigte. 49 Das Genossenschaftsprinzip, das bereits i n vorfeudaler Zeit wirksam war, konnte sich behaupten, weil feudale Herrschaft keine totale Herrschaft ist und das infolge der begrenzten Möglichkeiten zur Machtausübung auch nicht sein kann. Diese Herrschaft ist daher nicht unvereinbar mit genossenschaftlichen Zusammenschlüssen Gleichgestellter und auch Abhängiger, die nicht n u r i n den Städten als Gilden, Zünfte und Gesellenverbände entstehen, sondern auch auf dem Lande als Hofund Markgenossenschaften und als dörfliche Gemeinden verbreitet sind. 50 Eine rudimentäre Form der Spezialisierung, die aber i n der archaischen Phase noch fehlt, ist von Anfang an mit dem Feudalismus verbunden: die Trennung von Waffendienst und Bodenbewirtschaftung. „Waren einst i n der Wanderzeit die Männer Landwirte und Krieger zugleich gewesen, so mußten sie i n der fränkischen Zeit entweder Bauern, deren Wehrdienst sich auf die Verteidigung des Hofes und der engeren Gemeinschaft beschränkte, oder von der Landwirtschaft abkömmliche und i m Dienste des Herzogs oder Königs frei bewegliche Krieger werden." 5 1 Diese durch Fortschritte i n der Agrar- und M i l i t ä r 48 M. Bloch, Europäischer Feudalismus, in: L. Kuchenbuch (Hg.), 1977, S. 576-594, hier: S. 579 f. Vgl. hierzu auch Lütge, der m i t Bezug auf die bäuerliche Bevölkerung ebenfalls die Ansicht v e r t r i t t , daß der Verfall der Sippe, des „ursprünglichen Schutzverbandes", dazu führte, daß ein anderes Schutz Verhältnis angestrebt oder akzeptiert wurde: „Es blieb i n der Regel n u r der Schutz i n einem herrschaftlichen Verband" (F. Lütge, 1966, S. 71). 49 Vgl. F. Lütge, 1966, S. 53 f. u n d S. 99 f. 50 Vgl. ebd., S. 77; vgl. auch die Quellen in: D. Starke, Herrschaft u n d Genossenschaft i m Mittelalter, Stuttgart 1971, insbesondere S. 65 f. u n d S. 75 ff. 51 E. Pitz, 1979, S. 39. Vgl. auch H. Kammler, 1974, S. 52 ff.

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technik geförderte Differenzierung äußerte sich i n einer ersten Teilung der Gesellschaft i n eine kleine Gruppe hochgerüsteter, mobiler u n d „hauptberuflicher" Krieger einerseits u n d i n eine weitaus größere Gruppe waffenloser u n d an den Boden (die „Scholle") gebundener Bauern andererseits. 52 Die Verbreitung des Christentums brachte eine wichtige Erweiterung der noch einfachen Gliederung der feudalen Gesellschaft: Neben den „Wehrstand" u n d den „Nährstand" trat der von K l e r i k e r n gebildete „Lehrstand". 5 3 Die notwendige Legitimierung der wachsenden sozialen Ungleichheit leistete die „Dreiständetheorie", 5 4 die die unterschiedlichen Funktionen der Stände, aber auch ihre wechselseitige Ergänzung betonte. Sehr prägnant kommen diese beiden Aspekte i n einem zeitgenössischen Ausspruch zum Ausdruck: „Der Bauer muß den Acker für Pfaffen u n d Ritter pflügen, der Pfaffe Ritter u n d Bauern vor der Hölle schützen, der edle Ritter Pfaffen u n d Bauern beschirmen gegen alles, was ihnen übel w i l l . " 5 5 I h r e n Abschluß findet die funktionale Gliederung der feudalen Gesellschaft, als seit dem 12. Jahrhundert zahlreiche Städte gegründet werden u n d das B ü r g e r t u m entsteht. Trotz ausgeprägter interner Differenzierung bilden auch die Stadtbürger einen Stand, d. h. eine durch „Recht u n d Gesetz" gestützte, m i t spezifischen Pflichten u n d P r i v i legien ausgestattete Gruppe, die sich u m bestimmte gesellschaftliche Funktionen konzentriert. 5 6 Da auch die bereits genannten Stände i n sich abgestuft waren u n d da sie nicht alle Mitglieder der Gesellschaft erfaßten (z. B. die Angehörigen des Hochadels einerseits u n d der unterständischen Gruppen andererseits), weist die Feudalgesellschaft eine außerordentliche Vielfalt unterschiedlicher Lebenslagen auf, die hier i m einzelnen nicht dargestellt werden kann. 5 7 Statt dessen sollen abschließend die „tragenden", strukturbestimmenden Sozialkategorien der feudalen Gesellschaften charakterisiert werden, nämlich Bauern, Adel u n d städtisches Bürgertum. 5 8 52 Vgl. zum Verlauf und zu den sozialstrukturellen Folgen dieses Prozesses vor allem G. Duby, Krieger und Bauern. Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft i m frühen Mittelalter, Frankfurt/M. 1977 (Original: Paris 1973). 53 Vgl. F. van der Ven, Sozialgeschichte der Arbeit, Bd. 1: A n t i k e u n d Frühmittelalter, München 1971, S. 197. 54 Vgl. G. Duby, 1977, S. 168. 55 Zitiert nach: F. van der Ven, Sozialgeschichte der Arbeit, Bd. 2: Hochmittelalter und Neuzeit, München 1972, S. 43. 58 Vgl. zu dieser Definition: K . M. Boite u. a., Soziale Ungleichheit, 3. Aufl., Opladen 1974, S. 27. 57 Vgl. als Überblick: Ebd., S. 26 - 37. 58 Diese Einteilung und die folgenden Ausführungen orientieren sich i m

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1. Die Bauern Die Lebenslage der Bauern, die anfänglich ca. 90°/o und am Ende der feudalen Epoche noch immer ca. 70 °/o der Gesamtbevölkerung ausmachten, 59 w i r d bestimmt durch ein relativ großes Maß w i r t schaftlicher Selbständigkeit einerseits und durch das Fehlen vieler Freiheitsrechte und die damit gegebene Abhängigkeit andererseits. Die Selbständigkeit folgt aus dem faktischen Besitz der Produktionsmittel, die aber keineswegs allen bäuerlichen Haushalten i n gleichem Umfang zur Verfügung stehen und daher innerhalb der Bauernschaft zur Bildung einer an Besitzunterschieden anknüpfenden Schichtung führen. 60 Auch die generell feststellbare Freiheitsbeschränkung bietet kein einheitliches Bild, sondern weist lokale, regionale und zeitliche Variationen auf. Die i m Einzelfall mehr oder weniger ausgeprägte Abhängigkeit der Bauern konnte sich i n vielfältigen Einschränkungen äußern, die durch folgende Grundelemente gekennzeichnet waren: beschränkte Freizügigkeit (Schollenbindung), beschränkte Veräußerungsbefugnis des Bodens (Verkaufsbzw. Vererbungskonsens des Herrn), Beschränkung der Gattenwahl (Heiratskonsens), beschränkte Disposition über das persönliche (oder familiale) Arbeitsvermögen (Frondienste), die Arbeitsgeräte, das Arbeitsergebnis (Abgaben) und über den Güterbestand am Ende des Lebens (Todfall). 61 Trotz deutlich geminderter Freiheit waren die Bauern jedoch keineswegs völlig rechtlos. Vor Verschlechterungen ihrer Lage schützten sie zum einen die auch vom Grundherrn zu respektierende Tradition, das gewohnte Recht, und zum anderen der genossenschaftliche Zusammenschluß auf lokaler Ebene. 62 2. Der Adel M i t — j e nach A b g r e n z u n g — ca. 2 b i s 8 °/o d e r G e s a m t b e v ö l k e r u n g b i l d e t e n die A n g e h ö r i g e n des A d e l s eine i n v i e l f a c h e r H i n s i c h t p r i v i l e g i e r t e M i n d e r h e i t d e r f e u d a l e n Gesellschaft. 6 3 I h r e h e r r s c h a f t liche Stellung k a m z u m Ausdruck i n einer durch den Bezug v o n Renteneinkommen ermöglichten, v o n körperlicher A r b e i t befreiten Existenz, i n einem Monopol zur Waffenführung, i n Befugnissen zur A u s ü b u n g h o h e i t l i c h e r Rechte ( z . B . V e r w a l t u n g , Rechtsprechung) u n d z u r V e r m i t t l u n g r e l i g i ö s e n H e i l s (geistlicher A d e l ) , i n e i n e r a u f wesentlichen an der zusammenfassenden Darstellung bei: L. B. 5Michael, 1977, S. 731 - 742. 9 Vgl. ebd., S. 732. 60 Vgl. ebd., S. 732 f. 61 Vgl. ebd., S. 733 f. 62 Vgl. ebd., S. 734. 63 Vgl. ebd., S. 735.

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wendigen Lebenshaltung und „standesgemäßem" Auftreten. 6 4 Einschränkend muß auch hier angeführt werden, daß die genannten Privilegien nicht allen Adligen i n gleichem Maße, sondern nur i n deutlicher Abstufung zukamen. Diese ungleiche Teilhabe an der Macht und ihren Erträgen bot ständigen Anlaß zu Verteilungskämpfen innerhalb des Adels, die durch verwandtschaftliche und auf dem Lehenssystem beruhende Bindungen lediglich reguliert werden konnten. 65 3. Das städtische Bürgertum Gleichfalls eine Minderheit innerhalb der feudalen Gesellschaft stellt das städtische Bürgertum dar, 66 das aber die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse i m Mittelalter entscheidend mitbestimmt und daher nicht übergangen werden kann. 6 7 Die Bewohner der Städte unterscheiden sich zum einen hinsichtlich ihrer Erwerbsarten ;in Handwerker und Kaufleute aller A r t sowie i n die große Gruppe der unselbständig Beschäftigten und zum anderen — mit der Erwerbsart zusammenhängend — nach ihrem Besitz. 68 Der jeweils ausgeübte Beruf und die Höhe des Vermögens entscheiden über das Ansehen und den Einfluß des einzelnen, und diese Kriterien liegen auch der Sozialschichtung der Stadt zugrunde. 69 A n der Spitze steht das vor allem durch den Femhandel reich gewordene Patriziat, die Mittelschicht stellen i m wesentlichen die Handwerker, und darunter besteht eine sehr heterogen zusammengesetzte, relativ umfangreiche Unterschicht. 70 Diese Differenzierung w i r d jedoch abgeschwächt durch die i n den Städten gegebene soziale Mobilität und überlagert durch verbindende Elemente wie das Bürgerrecht, das Grundlage der i m Vergleich zum Lande größeren ökonomischen und politischen Freiheit ist („Stadtluft macht frei!"), 7 1 und die Zugehörigkeit der einzelnen 64 Vgl. ebd. Vgl. hierzu auch die ausführliche Darstellung bei: M . Bloch, Die Feudalgesellschaft, Frankfurt/M.—Berlin—Wien 1982 (Original: Paris 1939/40), S. 341 ff. 65 Vgl. L. KuchenbuchlB. Michael, 1977, S. 735 f. ββ Nach Henning lebten i n Deutschland u m 1350 ca. 10 % der Bevölkerung i n Städten (F.-W. Henning, 1974, S. 83). 67 Vgl. Abschnitt 6.1.2.1. dieser Arbeit. 68 Vgl. hierzu ζ. B. die auf der Auswertung v o n Steuerverzeichnissen basierende Analyse v o n H. Jecht: Studien zur gesellschaftlichen S t r u k t u r der mittelalterlichen Städte, in: C. Haase (Hg.), Die Stadt des Mittelalters, Bd. 3: Wirtschaft u n d Gesellschaft, Darmstadt 1973, S. 217 - 255. 69 Vgl. hierzu außer der genannten A r b e i t v o n Jecht vor allem: E. Maschke, Die Unterschichten der mittelalterlichen Städte Deutschlands, i n : C. Haase (Hg.), 1973, S. 345 - 454, insbesondere S. 350 ff. 70 Vgl. L. KuchenbuchlB. Michael, 1977, S. 740; sowie zur Unterschicht: E. Maschke, 1973, passim.

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6. Soziale Sicherung i n feudalen Gesellschaften

zu städtischen Teilverbänden und Korporationen (Gilden, Zünfte, Gesellenvereine, Bruderschaften usw.). 6.1.2.3. Feudale

Werte

und

Normen

Das soeben skizzierte hohe Maß interner Differenzierung feudaler Gesellschaften hat nicht zuletzt zur Folge, daß auch hinsichtlich A r t und Zusammensetzung der jeweils gültigen Werte und Normen Unterschiede auftreten zwischen den einzelnen Ständen, aber auch zwischen Stadt und Land. Es kann hier nicht i m einzelnen dargelegt werden, ist aber andererseits offensichtlich, daß beispielsweise die Angehörigen des Adels ihr Handeln weitgehend an anderen Maßstäben orientierten als die Bürger oder die Bauern. 72 I m Rahmen dieser Arbeit kann auch nicht geklärt werden, ob bzw. inwieweit der christliche Glaube i n der mittelalterlichen Feudalgesellschaft ein für alle verbindliches und alle verbindendes Werte- und Normensystem darstellte. 73 Die folgenden Ausführungen müssen sich statt dessen beschränken auf den Versuch, jene Werte und vor allem Normen herauszustellen, die für die soziale Sicherung i n feudalen Gesellschaften bedeutsam erscheinen. Es geht also vor allem u m Regelungen u n d Regeln, die dem Schutz des einzelnen vor existentiellen Gefahren dienen, indem sie beispielsweise festlegen, wer zur Unterstützung von Geschädigten und Notleidenden verpflichtet ist. Infolge der bereits ausführlich begründeten besonderen Rolle interpersonaler Beziehungen für die soziale Sicherung 74 ist zunächst zu fragen, welche Formen dieser Beziehungen für feudale Gesellschaften charakteristisch sind und welche Rechte und Pflichten sich aus ihnen ergeben. I n diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß i n feudalen — i m Gegensatz zu archaischen — Gesellschaften verwandtschaftliche Beziehungen und Bindungen ihre beherrschende Stellung eingebüßt haben. Andererseits fehlt aber noch ein entwickeltes, leistungsfähiges Staatswesen, das die bisher vom Verwandtschaftssystem wahrgenommenen Aufgaben, insbesondere den Schutz vor Gefahren aller A r t , bewältigen könnte. 75 Die Sicherheit des einzelnen ist damit auch i n der feudalen Gesellschaft von der Begründung und Aufrechterhaltung bestimmter interpersonaler Beziehungen abhängig, und zwar 71 Vgl. zu den Freiheitsrechten der Bürger mittelalterlicher Städte: P.-H. Seraphim, Deutsche Wirtschafts- u n d Sozialgeschichte, Wiesbaden 1966, S. 45. 72 Vgl. M. Bloch, 1982, S. 367 ff. u n d S. 425 ff. 73 Häufig w i r d der Einheit des Glaubens u n d der religiösen B i n d u n g der Menschen eine sehr große Bedeutung für das M i t t e l a l t e r zugeschrieben (vgl. z. B. P.-H. Seraphim, 1966, S. 31 ff.). 74 Vgl. Abschnitt 3.3.2.3. dieser Arbeit. 75 Vgl. Abschnitt 6.1.2.2. dieser Arbeit.

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von auf Dauer angelegten personalen Bindungen, die eine Pflicht zur Hilfeleistung beinhalten. Tatsächlich beruht das Feudalsystem von Anfang an auf personalen Beziehungen der wechselseitigen Hilfe und Unterstützung. Dies läßt sich zeigen anhand des spezifischen Verhältnisses zwischen dem Vasallen und seinem Herrn, der sogenannten „Vasallität", die neben dem Lehenswesen i m eigentlichen Sinne das Fundament der Feudalordnung bildet: „Der Mann (vassus) verpflichtete sich, seinem Herrn (dominus, senior) Dienste und Gehorsam zu leisten, wofür der Herr i h m seinerseits Unterhalt und Schutz zu gewähren hatte. Das Verhältnis war ein gegenseitiges; es wurde getragen von dem i m einzelnen normativ nicht erfaßbaren Begriff der Treue" 76 Zu ergänzen ist noch, daß diese personale, durch Huldigung und Treueid bekräftigte Beziehung prinzipiell unbefristet war; sie endete nicht vor dem Tod einer der beiden Parteien. 77 Personale Bindungen dieser A r t stifteten das unerläßliche Maß an Existenzsicherheit, sie setzten aber auch einen teilweisen Verzicht auf persönliche Freiheit voraus, der beim schwächeren, schutzbedürftigeren Partner zur Abhängigkeit führen konnte. 78 Daß oft die nackte Not dazu zwang, sich einem Herrn zu unterwerfen, zeigen Schriftstücke des frühen Mittelalters über die Selbstergebung (commendatio) freier Männer unter eine Schutzherrschaft. Eines dieser Dokumente aus dem achten Jahrhundert soll wiedergegeben werden, da es recht plastisch den Anlaß, die beiderseitigen Pflichten und die unbefristete Dauer der personalen Bindung zum Ausdruck bringt: „Da ich, w i e jedermann bekannt ist, nicht mehr weiß, w o v o n ich mich ernähren u n d kleiden soll, habe ich Euer Mitgefühl angerufen, u n d Euer W i l l e hat m i r gestattet, mich Eurem Schutz auszuliefern oder anzuvertrauen. Dies geschehe unter folgenden Bedingungen: Entsprechend meinen Diensten u n d Verdiensten u m Euch seid I h r verpflichtet, m i r zu helfen u n d mich m i t Nahr u n g u n d Kleidung zu versorgen. Ich schulde Euch bis an m e i n Lebensende Dienstbarkeit u n d Gehorsam, sofern sie m i t der Freiheit vereinbar sind; bis an mein Lebensende werde ich mich Eurer Macht oder Eurem Schutz nicht entziehen können." 7 9

Zu den für die Sicherheit der Abhängigen, insbesondere für die bäuerlichen Hintersassen und Grundholden, bedeutsamen Pflichten des Herrn zählte der militärische Schutz vor feindlicher Gewalt, die Ge76

H. Thieme, 1961, S. 506 (Hervorh. i. Orig.). Vgl. M. Bloch, 1977, S. 581. Die aus dem Vasallitätsverhältnis folgenden Verpflichtungen konnten sogar über den Tod des Vasallen hinaus die Sorge für dessen Waisen bis zu deren V o l l j ä h r i g k e i t umfassen (vgl. ebd., S. 582). 78 Vgl. hierzu z. B. K . Bosl (1978, S. 36), der den Zusammenhang v o n Schutz u n d Herrschaft i m M i t t e l a l t e r besonders hervorhebt: „Wer Schutz gewähren kann, gewinnt immer Herrschaft." 79 Z i t i e r t nach: G. Duby, 1977, S. 49. 77

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Währung von Rechtsschutz und nicht zuletzt die Hilfe i n wirtschaftlichen Notzeiten. 80 Zwar ist es sicherlich geboten, die überlieferten Beispiele von großzügiger Unterstützung notleidender Bauern durch ihre Grundherren kritisch zu prüfen und davor zu warnen, „dies Idealb i l d der Quellen, das uns die sorgende Verantwortung der Herren und die vertrauensvoll dienende Untergebenheit des Volkes zeigt, zu wörtlich zu nehmen" 8 1 . Doch w i r d man andererseits auch beachten müssen, daß derartige Hilfeleistungen durchaus mit dem Eigeninteresse der Herren vereinbar waren, da sie die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft ihrer Bauern sicherten. 82 Trotz ihres primär hierarchischen Aufbaus kennt die feudale Gesellschaft nicht nur Beziehungen der Über- und Unterordnung, z. B. Beziehungen zwischen Personen, die sich i m Hinblick auf ihre Verfügung über die verschiedenen Machtmittel deutlich unterscheiden. Neben den eben geschilderten Verbindungen zwischen gesellschaftlich Ungleichen bestehen auch immer Beziehungen zwischen „Gleichen", d.h. zwischen Personen, die i m Hinblick auf eines oder mehrere sozial relevante Merkmale übereinstimmen. Die Gemeinsamkeiten können sich dabei erstrecken auf den gesellschaftlichen Status, den Beruf, den Glauben, den Wohnort usw. Unter den örtlich und personell begrenzten, überwiegend statischen Verhältnissen der Feudalzeit konnten auf der Grundlage solcher Gemeinsamkeiten außerordentlich beständige und intensive personale Beziehungen entstehen, die sich i n einem System von zwischen den Beteiligten frei vereinbarten Rechten und Pflichten niederschlugen. Aus derartigen Bindungen bildeten sich organisierte Personenverbände, die als ländliche Dorfgemeinschaften, als Gilden und Zünfte der Städte, als religiöse Bruderschaften und Orden überliefert sind. Sie waren in der feudalen Gesellschaft weit verbreitet, so daß Seraphim mit Recht von einem „kooperativen Grundzug des mittelalterlichen Lebens" 83 spricht. Die hohe Kohäsion dieser Vereinigungen, die oft durch Eidesleistung als Schwurverbände (coniuratio) begründet wurden, 8 4 dürfte damit zusammenhängen, daß sie nicht nur — wie moderne Verbände — ein bestimmtes Interesse verfolgten, sondern als multifunktionale Vereini80 Vgl. G. Franz, Geschichte des deutschen Bauernstandes v o m frühen M i t telalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1970, S. 26 f.; vgl. auch F.-W. Henning, 1974, S. 29 f. 81 G. Franz, 1970, S. 27. 82 Vgl. F.-W.Henning, 1974, S. 30. 83 P.-H. Seraphim, 1966, S. 32. 84 Vgl. R. Sprandel, Verfassung u n d Gesellschaft i m Mittelalter, Paderb o r n 1975, S. 70 ff.

6.2. Prinzipien sozialer Sicherung i n feudalen Gesellschaften

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gungen wirksam waren, die politische, wirtschaftliche, soziale, k u l t u relle, religiöse und sonstige Anliegen ihrer Mitglieder wahrnehmen konnten. 85 Zweifellos waren m i t der Mitgliedschaft i n derart umfassenden Personenverbänden mitunter beträchtliche Einschränkungen der persönlichen Handlungsfreiheit verbunden (z.B. der wirtschaftlichen Freiheit bei den Zunftband werkern). Dafür gewährten diese Vereinigungen jedoch jenes Maß an Schutz und Sicherheit, das dem einzelnen eine von herrschaftlicher Abhängigkeit freie Existenz gestattete. I m übrigen ist zu beachten, daß Individualität und unbegrenzte persönliche Freiheit i n der mittelalterlichen Feudalgesellschaft allenfalls für die Oberschicht absolute Werte darstellten; grundsätzlich steht i m Mittelpunkt des Denkens des mittelalterlichen Menschen nicht das Individuum, sondern die Gemeinschaft, der es angehört. 88 6.2. Prinzipien sozialer Sicherung i n feudalen Gesellschaften

I n diesem Abschnitt ist darzulegen, welche Grundstrukturen oder Muster die Gestaltung der sozialen Sicherung i n feudalen Gesellschaften bestimmen. Ein Bedarf an überindividuellen, gemeinschaftlichen Regelungen und Maßnahmen des Schutzes vor sozialen Risiken folgt auch i n feudalen Gesellschaften aus der Tatsache, daß i m allgemeinen die individuelle Risikovorsorge unzureichend bleibt. 1 Aus der zuletzt erfolgten Beschreibung der für die soziale Sicherung relevanten Aspekte feudaler Gesellschaften läßt sich der Schluß ziehen, daß i m Regelfall weder die M i t t e l des einzelnen für eine solche Vorsorge ausreichten, 2 noch die freie Verfügung über diese Mittel gewährleistet war, da die individuelle Handlungsfreiheit durch vielfältige Bindungen, Abhängigkeiten, Abgabepflichten usw. beschränkt wurde. Wo die Vorsorge des einzelnen sich als unzulänglich erweist, kann der als Folge eines Risikoeintritts auftretende, akute Mehrbedarf an knappen Gütern und Leistungen nur durch Prozesse der Umverteilung gedeckt werden. 3 Von den analytisch unterscheidbaren Arten der Umverteilung eignet sich als Methode sozialer Sicherimg auch für feudale Gesellschaften i n erster Linie die interpersonale Umverteilung, d. h. der 85 Vgl. hierzu z . B . die Charakterisierung der Zünfte bei P.-H. Seraphim, 1966, S. 46 ff. Nach G. Eisermann ist die Kohäsion einer Gruppe „ d i r e k t proportional der Anzahl der Gruppenaufgaben" u n d „umgekehrt proportional zur Größe der Gruppe" (G. Eisermann, Allgemeine Soziologie, in: ders. (Hg.), Die Lehre v o n der Gesellschaft, 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 82). 89 Vgl. P.-H. Seraphim, 1966, S. 32. 1 Vgl. zur generellen Begründung dieser Aussage Abschnitt 3.3.1.2. dieser Arbeit. 2 Vgl. hierzu auch F.-W. Henning, 1974, S. 25 ff. Vgl. Abschnitt . . 2 . dieser Arbeit.

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Risiko- und Bedarfsausgleich innerhalb einer Gefahren- und Solidargemeinschaft. Trotz i m Vergleich zu archaischen Gesellschaften fortgeschrittenerer Arbeitsteilung entwickeln und erweitern sich überlokaler Austausch, Geldwirtschaft und Gütererzeugung nur allmählich, 4 so daß die Feudalzeit insgesamt von naturalwirtschaftlichen und statischen Verhältnissen beherrscht wird, die Prozesse interregionaler und intertemporaler Umverteilung nachhaltig begrenzen. Soziale Sicherung durch interpersonalen Risiko- und Bedarfsausgleich ist zwar nicht abhängig von einem bestimmten wirtschaftlichen Entwicklungsstand; sie setzt aber das Bestehen spezifischer Sozialbeziehungen voraus, die i m Risikofall die erforderliche Umverteilung von Gütern und Leistungen garantieren. Wie gezeigt wurde, sind es i n archaischen Gesellschaften verwandtschaftliche Beziehungen und die ihnen zugrunde liegende Moral, die diese Umverteilungsprozesse ermöglichen. 5 Entsprechend wurde „Verwandtschaft" als dominierendes Prinzip sozialer Sicherung i n archaischen Gesellschaften herausgestellt. Verwandtschaftliche Bindungen sind natürlich auch i n feudalen Gesellschaften noch bedeutsam für den Schutz des einzelnen, aber sie beschränken sich (von der Oberschicht abgesehen) zusehends auf nahe und nächste Verwandte. 6 Das hängt damit zusammen, daß — i m Gegensatz zu archaischen Gesellschaften — nicht mehr alle miteinander verwandten Personen eine Wohn- und Lebensgemeinschaft bilden, sondern daß vielmehr das „Haus", die Gemeinde und genossenschaftliche Zusammenschlüsse eine mehr oder weniger große Zahl von Menschen auf mchfverwandtsdiaftlicher Grundlage integrieren. Da diese Gemeinschaften neben anderen Funktionen auch die des Schutzes ihrer Mitglieder vor sozialen Risiken wahrnehmen, 63 lassen sich folgende Struktur- oder Organisationsprinzipien sozialer Sicherung i n feudalen Gesellschaften nennen: „Hausgemeinschaft", „Nachbarschaft" und „Genossenschaft". 6.2.1. Hausgemeinschaft

Die Feststellung, daß i m Mittelalter die Zugehörigkeit zu einer Hausgemeinschaft i n der Regel auch die Versorgung des einzelnen bei Krankheit und i m A l t e r sicherte, stellt keine neue Erkenntnis dar. Es ist i m Gegenteil der Hinweis, daß früher die Familie (die man sich als Großfamilie" vorstellt) für ihre kranken und alten Angehörigen gesorgt habe, zu einem Gemeinplatz geworden, zu einer scheinbar unbestreitbaren Beschreibung einer historischen Tatsache. Selten w i r d 4 5 6 ea

Vgl. M.Bloch, 1982, S. 83 ff. Vgl. Abschnitt 5.2.1. dieser Arbeit. Vgl. hierzu vor allem M. Bloch, 1982, S. 175 ff. Vgl. die nächsten Abschnitte dieser Arbeit.

6.2. Prinzipien sozialer Sicherung i n feudalen Gesellschaften

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jedoch die Frage gestellt, ob der Begriff „Familie" ohne weiteres auf ganz anders geartete Sozialbeziehungen der Vergangenheit angewendet werden kann. 7 Weitgehend unbeachtet blieb bisher auch die Frage, warum bzw. inwieweit die als „Familie" apostrophierten Sozialgebilde einen Schutz vor sozialen Risiken bieten konnten. Die erste dieser Fragen hat O. Brunner i n einer Studie aufgegriffen, i n der er ausführt, daß i m deutschen Sprachraum die Bezeichnung „Familie" lange Zeit nicht gebräuchlich war, und daß statt dessen vom „Haus" gesprochen wurde. 8 „Erst i m 18. Jahrhundert dringt das Wort Familie i n die deutsche Umgangssprache ein (über das französische „famille", das sich vom lateinischen „familia" herleitet, Erg. v. M. P.) und gewinnt jene eigentümliche Gefühlsbetontheit, die w i r mit ihr verbinden. Voraussetzung ist offenbar die Herauslösung der engeren städtischen Kleinfamilie aus der Gesamtheit des Hauses... M i t seiner Aufspaltung i n Betrieb und Haushalt t r i t t der »Rationalität' des Betriebs die »Sentimentalität 4 der Familie gegenüber." 9 I n den letzten Jahren bat vor allem der Sozialhistoriker M. Mitterauer davor gewarnt, die früher „Haus" genannten Sozialgebilde nunmehr als „Familie" zu bezeichnen: „Unser heutiges Wort ,Haus' deckt i m Allgemeinverständnis... nicht mehr jene soziale Einheit der vorindustriellen Zeit, die w i r freilich m i t der heutigen Wortbedeutung von »Familie4 auch nicht entsprechend einfangen können. Knechte, Mägde, Gesellen, Lehrlinge usw. sind eben für uns keine Familienangehörigen mehr." 1 0 Damit ist das eigentliche Problem angesprochen: Die Mitglieder der historischen Hausgemeinschaften sind nicht ausschließlich durch Eheschließung und Blutsverwandtschaft miteinander verbunden (wie i n einer Familie), sondern i n erster Linie durch die spezifischen Rollen, die sie i n den arbeitsteilig organisierten Haushalten bzw. Hauswirtschaften übernehmen. I n einem bäuerlichen Haushalt lebende Brüder und Schwestern des Hausherrn werden daher i n den Quellen nicht entsprechend ihrem Verwandtschaftsgrad benannt, sondern nach ihren 7 Vgl. als Ausnahme F.-X. Kaufmann (1970, S. 247): „ W i r d v o n der Familie als der ursprünglichen Risikogemeinschaft gesprochen, so sollte bedacht w e r den, daß es sich dabei nicht u m die heutige Intimgruppe, sondern u m eine p r i m ä r durch ökonomische Bezüge stabilisierte Gemeinschaft handelte, i n der zwischen der Fürsorgepflicht für Verwandte u n d Gesinde k a u m unterschieden wurde." 8 Vgl. O. Brunner, Das „ganze Haus" u n d die alteuropäische „ Ö k o n o m i k " , in: ders., 1968, S. 103 - 127 (erstmals 1958), hier: S. 110 f. 9 Ebd., S. 111. 10 M. Mitterauer, Die Familie als historische Sozialform, in: M. Mitterauerl R. Sieder, 1980, S. 13 - 37, hier: S. 22. Vgl. auch M. Mitterauer, Vorindustrielle Familienformen, in: ders., Grundtypen alteuropäischer Sozialformen. Haus u n d Gemeinde i n vorindustriellen Gesellschaften, Stuttgart—Bad Cannstatt 1979, S. 35 - 97, insbesondere S. 40 ff.

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Arbeitsrollen als Knechte und Mägde. 11 Die personelle Zusammensetzung und der Umfang dieser Hausgemeinschaften w i r d vor allem von wirtschaftlichen Erfordernissen (vom jeweiligen Bedarf an Arbeitskräften) und von wirtschaftlichen Möglichkeiten zur Versorgung von Haushaltsmitgliedern bestimmt. Entsprechend kann sich die Hausgemeinschaft erweitern durch die Einbeziehung von Hilfskräften („Gesinde"), aber auch verringern, indem etwa Kinder i m Alter von sieben bis zehn Jahren, die als Arbeitskräfte nicht gebraucht werden, i n anderen Hausgemeinschaften ein Dienst- oder Ausbildungsverhältnis aufnehmen. 12 Die damit prinzipiell gegebene Zugehörigkeit nicht-verwandter Personen zur Hausgemeinschaft rechtfertigt zwar die Zweifel an der A n gemessenheit des Begriffs „Familie", sie schließt aber noch nicht die Möglichkeit aus, diese Sozialgebilde m i t der Bezeichnung „Großfamilie" zu belegen. Da die „Großfamilie" immer wieder als die bis zur Industrialisierung maßgebliche Institution sozialer Sicherung herausgestellt wird, 1 3 muß hier i n aller Kürze geklärt werden, ob die mittelalterlichen Hausgemeinschaften der geläufigen Vorstellung von einer Großfamilie entsprechen. Diese Vorstellungen hängen offensichtlich zusammen mit der Erfahrung, daß i n modernen Gesellschaften die auf zwei Generationen und eine geringe Kinderzahl beschränkte Kernfamilie vorherrscht. Dieser sogenannten „Kleinfamilie" w i r d als dominante Familienform der vorindustriellen Zeit eine aus einer größeren Zahl von Mitgliedern und aus drei oder mehr Generationen bestehende „Großfamilie" gegenübergestellt. 14 Wie R. König betont hat, handelt es sich jedoch bei diesem Gegensatz von „groß" und „klein" u m eine typische „Alternativattrappe", vor der man sich hüten müsse.15 Denn selbstverständlich habe es auch früher Kleinfamilien gegeben (in der ländlichen und städtischen Unterschicht) und auch heute bestünden noch Großfamilien (vor allem i n der „Wohlstandsschicht"). 16 Wie Mitterauer zeigen konnte, stellt das i m 19. Jahrhundert entstandene B i l d der vorindustriellen Großfamilie einen Mythos dar, der mit 11

Vgl. M. Mitterauer, Die Familie . . . , 1980, S. 30. Vgl. zu dieser verbreiteten Praxis: R. Sieder, Der Jugendliche i n der Familie, in: M . MitterauerlR. Sieder, 1980, S. 118 - 140, hier: S. 124 u n d S. 129. 13 Vgl. z. B. G. Schöpfer, 1976, S. 52 f., sowie S. Fröhlich, 1976, S. 14. 14 Vgl. z.B. R. Thurnwald (1932 a, S.22), der „Großfamilie" definiert als „Verwandtengruppe . . . die an einem Ort zusammen siedelt u n d v o n einem gemeinschaftlichen Oberhaupt geleitet w i r d . Dadurch, daß sie mehrere Generationsschichten, somit verheiratete K i n d e r m i t ihren K i n d e r n umschließt, unterscheidet sie sich von der Kleinfamilie." 15 Vgl. R. König, Familie, in: Die moderne Gesellschaft, Freiburg i. Br. 1972, S. 117 - 152, hier: S. 121. 16 Vgl. ebd., S. 121. 12

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der historischen Realität wenig gemein hat. 1 7 Gestützt auf eine statistische Analyse von Daten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts weist er nach, daß die durchschnittlichen Haushaltsgrößen vorindustrieller und industrieller Gesellschaften nicht i n einem Maße voneinander abweichen, daß von einer Dominanz von Großfamilien vor der Industrialisierung gesprochen werden könnte. 18 Recht häufig anzutreffen war die Großfamilie i n Ost- und Südosteuropa, während für West- und Mitteleuropa gelte, „daß mehrgenerationale und sonstige u m Verwandte erweiterte Familientypen schon i n vorindustrieller Z e i t . . . relativ selten waren" 1 9 . Der i m Vergleich zur Stadt mitunter deutlich größere Umfang ländlicher Hausgemeinschaften sei i m wesentlichen durch den hohen Gesindeanteil bedingt. 20 Neben ökonomischen waren es vor allem demographische Restriktionen, die einer stärkeren Verbreitung von Großfamilien entgegenstanden. So w i r d etwa die Bildung von drei oder mehr Generationen umfassenden Familien beeinträchtigt durch geringe Lebenserwartung einerseits und durch ein hohes Heiratsalter andererseits, das zu einem größeren Generationenabstand führt. 2 1 Der mögliche Umfang der Familien w i r d schließlich begrenzt durch hohe Kindersterblichkeit und relat i v große Abstände zwischen den einzelnen Geburten von etwa zwei Jahren, die mit längeren Stillzeiten i n Verbindung gebracht werden. 22 Für die mittelalterliche Feudalgesellschaft bleibt festzuhalten, daß ihre soziale und ökonomische Grundeinheit nicht die Familie, sondern (in zeitgenössischer Sprache) das „Haus" bildet, d. h. die Gemeinschaft der zusammen wohnenden, arbeitenden und lebenden Menschen, die am besten als .„Hausgemeinschaft" umschrieben wird. 2 3 Da das „Haus" i n einer Zeit wenig entwickelter Geld- und Marktwirtschaft der eigentliche Träger des Wirtschaftslebens ist, 24 können nach der jeweils dominierenden Erwerbsart verschiedene Haus- bzw. Haushaltsformen unterschieden werden: der bäuerliche Haushalt, der Handwerkerhaushalt 17 Vgl. M. Mitterauer, Der Mythos von der vorindustriellen Großfamilie, in: M. MitterauerlR. Sieder, 1980, S. 38 - 63. 18 Vgl. ebd., S.42. Leider nennt Mitterauer n u r Mittelwerte, die keinen Schluß auf die für eine Beurteilung wichtigere Streuung der Haushaltsgrößen zulassen. 19 Vgl. ebd., S. 47. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. hierzu ebd., S. 50 ff. 22 Vgl. ebd., S. 60 f. Z u r demographischen Situation i m M i t t e l a l t e r vgl. insbesondere J. C. Rüssel, Die Bevölkerung Europas 500 - 1500, in: C. M. Cipollal K. Borchardt (Hg.), Bevölkerungsgeschichte Europas. M i t t e l a l t e r bis Neuzeit, München 1971, S. 9 - 57. 23 Vgl. M. Mitterauer, Die Familie . . . , 1980, S. 23. 2 4

V g l . G . Droege,

9 Partsch

1979, S. 20.

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und das Handelsbaus. 25 Hinzu kommen geistliche Hausgemeinschaften (Pfarrhaus und Kloster) und nicht zuletzt die Häuser und Großhaushalte des Adels. 26 Die Frage, warum bzw. inwieweit m i t der Zugehörigkeit zu einer Hausgemeinschaft Schutz vor sozialen Risiken verbunden war, müßte nun für jeden der genannten Haustypen gestellt werden, da sie charakteristische Unterschiede hinsichtlich Umfang und Zusammensetzung ihrer Hausgemeinschaften aufweisen. 27 U m den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, soll hier auf eine vollständige Darstellung verzichtet werden und lediglich der Typ des bäuerlichen Haushalts diskutiert werden. Für diese Wahl spricht, daß damit der i n der mittelalterlichen Feudalgesellschaft bei weitem häufigste Haushaltstyp behandelt wird. Der hauswirtschaftliche Zug der feudalen Ökonomie ist i m bäuerlichen Betrieb besonders ausgeprägt. Ziel der Produktion ist i n erster Linie die gesicherte Versorgung der Hausgemeinschaft mit überwiegend selbst erzeugten Gütern. 28 Die geringe Verflechtung m i t anderen Wirtschaftsbereichen hat zur Folge, daß vielfältige Leistungen von den Mitgliedern der Hausgemeinschaft erbracht werden müssen. Voraussetzung hierfür ist eine arbeitsteilige Organisation und herrschaftliche Leitung des Wirtschaf tens. Das B i l d der bäuerlichen Hausgemeinschaft w i r d als Folge dieser Zwänge bestimmt von verschiedenen Arbeitsrollen, die ausgefüllt werden müssen, und von einer patriarchalischen Ordnung, die nicht nur Frau und Kinder, sondern auch das Gesinde der Gewalt des Hausvaters unterwirft. 2 9 Zur Hausgemeinschaft zählen auch die als „Gesinde" bezeichneten, meist ledigen land- und hauswirtschaftlichen Hilfs- und Arbeitskräfte. Sie spielen i n Betrieb und Haushalt eine ähnliche Rolle wie die Familienangehörigen ihres Alters und Geschlechts.30 Ihrer unbegrenzten Dienstpflicht i m Rahmen der zugewiesenen Aufgabe entspricht auf der anderen Seite das Recht auf volle Versorgung i m Haushalt, ihrer A b hängigkeit vom Hausherrn der Anspruch auf dessen Schutz und Fürsorge. 31 23

Vgl. hierzu M. Mitterauer, Z u r S t r u k t u r alteuropäischer Gesellschaftssysteme am Beispiel des mittelalterlichen Österreich, in: ders., 1979, S. 13 - 34, hier: S. 27 ff. 26 Vgl. ebd., S. 30 ff. 27 Vgl. ebd., S. 27 - 34. Vgl. auch M. Mitterauer, Vorindustrielle Familienformen, in: ders., 1979, S. 35 ff. 28 Vgl. Abschnitt 6.1.2.1. dieser Arbeit. 29 Vgl. hierzu vor allem 17. Planck, Die Eigenart der Bauernfamilie u n d die bäuerliche Familienverfassung, in: H. Rosenbaum (Hg.), Seminar: Familie u n d Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen, F r a n k f u r t / M . 1978, S. 195 - 214, hier: S. 201 ff. 30 Vgl. U. PlancklJ. Ziehe, Land- u n d Agrarsoziologie, Stuttgart 1979, S. 221. 31 Vgl. M. Mitterauer, 1979, S. 32 f.

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Der Schutz des einzelnen vor sozialen Risiken wie Krankheit und Alter hängt nun davon ab, ob die bäuerliche Hausgemeinschaft die an früherer Stelle abgeleiteten Anforderungen an einen interpersonalen Risiko- und Bedarfsausgleich erfüllt, ob sie also eine Gefahren- und Solidargemeinschaft darstellt. 3 2 Diese Anforderungen betreffen zum einen die Größe, die Zusammensetzung und die Dauerhaftigkeit der Gruppe oder Gemeinschaft und zum anderen das Bestehen einer Verteilungsnorm, die eine ausreichende Versorgung der jeweils Arbeitsunfähigen garantiert. 33 Da die bäuerliche Hausgemeinschaft neben der Familie des Bauern auch verwandte und nicht-verwandte Personen umfaßt, dürfte sie i m allgemeinen jene Mindestgröße erreichen, die i m Risikofalle eine Verteilung der Lasten ermöglicht und damit eine zu hohe Inanspruchnahme des einzelnen vermeidet. Die für die Risikostreuung erforderliche „ausgewogene" Struktur der Gruppe erscheint ebenfalls gewährleistet, da sich die bäuerliche Hausgemeinschaft i n der Regel aus Angehörigen beider Geschlechter und verschiedener Altersstufen zusammensetzt. Die notwendige Dauerhaftigkeit der Gruppe w i r d schließlich sichergestellt zum einen durch den immer ein ganzes Jahr umfassenden landwirtschaftlichen Produktions- und Erntezyklus und zum anderen durch die Bindung an und Verbundenheit mit dem gemeinsam bewirtschafteten Boden, die jede Generation der nachfolgenden vererbt. Von größter Bedeutung für die soziale Sicherung des einzelnen ist neben den genannten Punkten die Tatsache, daß die bäuerliche Hausgemeinschaft nicht nur eine Arbeits- und Produktionsgemeinschaft, sondern auch eine Verbrauchs- und Versorgungsgemeinschaft bildet. 3 4 Dadurch w i r d eine Verteilung der lebensnotwendigen Güter möglich, die auch den Bedarf jener berücksichtigt, die vorübergehend oder auf Dauer nicht oder nur eingeschränkt arbeitsfähig sind. Die Zuständigkeit für eine derartige, allen den Unterhalt sichernde Güterverteilung liegt beim Hausherrn oder -vater, der einerseits über die Macht verfügt, eine nicht nur an den individuellen Leistungen, sondern auch am Bedarf orientierte Verteilung durchzusetzen, und dem andererseits aus seinem Recht zur Ausübung von Herrschaft die unabdingbare Pflicht erwächst, für das Wohl der von i h m Abhängigen zu sorgen. 35 32

Abschnitt 3.3.2.3. dieser Arbeit. Vgl. ebd. 34 Vgl. 17. Planck, 1978, S. 201 u n d S. 207 f. 35 Den traditionellen Zusammenhang v o n Herrschaftsausübung u n d Schutzgewährung betont besonders Lütge. Bereits i n vorfeudaler Zeit beruhe die Ordnung i m „Haus" auf der „väterlichen Herrschaftsgewalt des Haush e r r n (Munt), der alle Hausgenossen v o n der Ehefrau bis zu freien u n d u n freien Knechten unterworfen sind, jedoch m i t der Maßgabe, daß dieser H e r r schaftsgewalt die Schutzverpflichtung gegenübersteht" (F. Lütge, 1966, S. 18). 33

*

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6.2.2. Nachbarschaft

Das primär auf die Selbstversorgung abzielende Wirtschaften der bäuerlichen Hausgemeinschaft steht nicht i m Widerspruch zur Aufnahme und Pflege vielfältiger Austauschbeziehungen mit anderen Hausgemeinschaften, sondern w i r d vielmehr durch das Bestehen solcher Beziehungen erst realisierbar. Denn diese Beziehungen können Hilfe und Unterstützung i n von der einzelnen Hausgemeinschaft nicht zu bewältigenden Krisensituationen garantieren und damit jenes Mindestmaß an Sicherheit stiften, das Voraussetzung jedes planmäßigen, auf die Zukunft gerichteten Handelns ist. Auch der Schutz vor sozialen Risiken, den die Hausgemeinschaft ihren Mitgliedern gewährt, ist letztlich abhängig von der Sicherheit der Leistungsfähigkeit dieser Gemeinschaft selbst. Von der gegenseitigen Aus- und Nothilfe zwischen Hausgemeinschaften geht Max Weber aus bei seiner Bestimmung von „Nachbarschaft" bzw. „N-achbarschaftsgemeinschaft" : „Wichtige Teile des außerordentlichen Bedarfs an Leistungen bei besonderen Gelegenheiten, akuten Notlagen und Gefährdungen, deckt unter den Bedingungen agrarischer Eigenwirtschaft ein Gemeinschaftsbandeln, welches über die einzelne Hausgemeinschaft hinausgreift: die Hilfe der ,Nachbarschaft'." 36 Konstitutive Elemente von „Nachbarschaft" sind zum einen die räumliche Nähe der Akteure und zum anderen eine „chronische oder ephemere Gemeinsamkeit einer Interessenlage" 37 . Bloße Gemeinsamkeit des Wohnorts führt also noch nicht zur „Nachbarschaft" i m soziologischen Sinn, sondern zunächst nur zu wiederholter Begegnung. Nicht i n jedem Fall erwächst aus diesen Kontakten ein „Gemeinschaftshandeln"; sie können auch ein Streben nach Distanz oder Beziehungen der Konkurrenz und des Konflikts zur Folge haben. 38 Offensichtlich sind jedoch i n der mittelalterlichen Feudalgesellschaft die Voraussetzungen für ein nachbarliches Gemeinschaftshandeln i n höherem Maße gegeben als i n modernen, industrialisierten Gesellschaften: Die von der einzelnen Hausgemeinschaft nicht oder nur unzulänglich zu erbringenden Leistungen können hier oft nur durch das Zusammenwirken mit den Nachbarn erstellt werden, da überlokale, spezialisierte Funktionsträger {z. B. Organisationen der Daseins Vorsorge) noch weitgehend fehlen. 39 Unter diesen Bedingungen kann aus der rein 38

M. Weber, 1972, S. 215. Ebd. 38 Vgl. ebd., S. 216; vgl. auch G. Eisermann, 1969, S. 91 f. 39 Vgl. zu diesem Argument u n d seinen I m p l i k a t i o n e n v o r allem: H. A . Schubert, Nachbarschaft, Entfremdung u n d Protest. Welche Chancen haben Gemeinschaftsinitiativen i n modernen Gesellschaften?, Freiburg—München 1977, S. 85 ff. u n d S. 127 f. 37

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räumlichen Nachbarschaft eine soziale Institution entstehen, die viele, zum Teil lebenswichtige Funktionen wahrnimmt: Ordnung des W i r t schaf tens (ζ. Β. Regelung des Anbaus und der Allmendenutzung auf dem Lande), Ausübung legislativer, exekutiver und judikativer Gewalt, Sdcherheitsvorsorge (ζ. B. durch Schaffung von Bürgerwehr gegen feindliche Gewalt, Feuerwehr zur Brandbekämpfung), Gewährleistung religiöser Heilsvermittlung (ζ. B. durch Bau einer Kirche und Unterhalt des Priesters), Gestaltung der arbeitsfreien Zeit (ζ. B. durch Förderung von Geselligkeit und gemeinsamem Feiern). 40 Die Nachbarschaftsgemeinschaft hat nicht überall und nicht zu jeder Zeit eine derart umfassende Kompetenz besessen, sie war jedoch generell (und ist teilweise bis zur Gegenwart) eine auf Gegenseitigkeit beruhende Not- und Hilfsgemeinschaft: „Nachbarschaft bedeutet praktisch, zumal bei unterentwickelter Verkehrstechnik, Aufeinanderangewiesensein i n der Not. Der Nachbar ist der typische Nothelfer." 4 1 Da die traditionelle Nachbarschaf tsgemekischaft deutlich erkennbare Züge einer Gefahren- und Solidargemeinschaft aufweist, spricht vieles dafür, „Nachbarschaft" als ein weiteres Prinzip sozialer Sicherung i n der mittelalterlichen Feudalgesellschaft anzusehen. Warum und inwieweit „Nachbarschaft" Schutz vor sozialen Risiken bieten kann, ist i m folgenden darzulegen. Ein als Folge eines Risikofalles (ζ. B. Erkrankung oder Tod einer Arbeitskraft) oder aus anderen Gründen auftretender Mehrbedarf an Gütern und Leistungen, der innerhalb der Hausgemeinschaft nicht gedeckt werden kann, löst i n einer Nachbarschaftsgemeinschaft Hilfsleistungen aus, die als „Bittleihe" und als „Bittarbeit" bezeichnet werden. 42 „Bittleihe" umfaßt „unentgeltliche Leihe von Gebrauchsgütern (und) zinsloses Darlehen von Verbrauchsgütern"; „Bittarbeit" ist unentgeltliche „ArbeitsausMlfe i m Fall besonders dringlichen Bedarfs" 43 . Die zwischen Nachbarn stattfindenden Austauschprozesse folgen damit nicht einem strengen Äquivalenzprinzip, sondern einem Prinzip der 40 Vgl. ebd., S. 138 ff.; vgl. auch K. S. Bader, Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes, T e i l 2: Dorfgenossenschaft u n d Dorfgemeinde, 2. Aufl., Graz 1974, S. 38 ff. und S. 58 ff. 41 M. Weber, 1972, S. 216. Vgl. auch H. Kötter/M. Emge, A g r a r - u n d Stadtsoziologie, in: G. Eisermann (Hg.), 1969, S.467: „Ohne nachbarliche Hilfe k a n n der vorindustrielle Mensch nicht existieren. Schrumpfte sie bereits m i t der Ausbreitung des Handwerks, dem man ζ. B. den Häuserbau überläßt, so trat doch immer noch bei Geburten, Krankheiten u n d Todesfällen, bei N a t u r katastrophen (Überschwemmungen, Schneeverwehungen) oder bei Bränden die Nachbarschaftshilfe k r ä f t i g i n A k t i o n . " Zur Nachbarschaftshilfe i m M i t telalter vgl. auch E. Pitz, 1979, S. 11. 42 Vgl. M. Weber, 1972, S. 216. 43 Ebd., S. 216 (Hervorh. v. M. P.).

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Gegenseitigkeit oder Reziprozität. 44 Die inhaltlich unbestimmte und daher den wechselnden Bedarfssituationen anzupassende Erwartung einer Gegenleistung bei eigener Not ermöglicht zum einen die i m Risikofalle erforderliche Umverteilung von Gütern und Leistungen zugunsten der Geschädigten und verbindet zum anderen die Nachbarn zu einer Gefahren- und Solidargemeinschaft. Auch für die Nachbarschaftsgemeinschaft ist daher die Frage zu beantworten, ob sie i m Hinblick auf ihren personellen Umfang, ihre Zusammensetzung, ihre Dauerhaftigkeit und ihre Verteilungsnormen die Voraussetzungen für einen internen Risiko- und Bedarfsausgleich erfüllt. 4 5 Als soziale Beziehung muß sich Nachbarschaft nicht beschränken auf die tatsächlichen Wohnnachbarn, sie kann darüber hinaus auch einen größeren Teil oder die Gesamtheit der am selben Ort lebenden Menschen umfassen und fällt dann mit einem Ortsteil oder der Gemeinde selbst zusammen. Wichtiger als die räumliche Nähe ist — wie bereits erwähnt — die Gemeinsamkeit eines oder mehrerer Interessen, die beispielsweise für die Bauern eines mittelalterlichen Dorfes gegeben ist. 48 Die Nachbarschaftsgemeinschaft dürfte damit i n der Regel die für einen Risikoausgleich erforderliche Größe erreichen. Die Nachbarschaftsgemeinschaft setzt sich zusammen aus verschiedenen Hausgemeinschaften, die wiederum von Personen unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlichen Alters gebildet werden. 47 Sie weist damit eine Struktur auf, die eine ausreichende Streuung von Standardrisiken wie Krankheit und A l t e r erwarten läßt. Ein Lastenausgleich durch Umverteilung von Gütern und Leistungen w i r d erst dann gefährdet, wenn als Folge von Epidemien oder allgemeinen Mißernten nicht mehr einzelne, sondern alle Mitglieder einer Nachbarschaftsgemeinschaft notleidend werden. Für die soziale Sicherung sehr bedeutsam ist die Dauerhaftigkeit einer Solidargemeinschaft, 48 die daher auch von der Nachbarschaftsgemeinschaft zu fordern ist. Hinzu kommt, daß das der Nachbarschaftshilfe zugrunde liegende Prinzip der Reziprozität voraussetzt, daß ein Hilfsempfänger sich seinen Pflichten nicht einfach durch willentliches Ausscheiden aus der Gemeinschaft entziehen kann. I m Falle der Nachbarschaft ist freiwilliges Ausscheiden nur dann möglich, wenn örtliche Mobilität und Freizügigkeit gewährleistet sind. I n der Feudalgesell44

Vgl. zu diesen Prinzipien Abschnitt 5.1.2.3. dieser Arbeit. Vgl. zu diesen Anforderungen Abschnitt 3.3.2.3. dieser Arbeit. 46 Vgl. hierzu v o r allem H. Oswald, Die überschätzte Stadt. E i n Beitrag der Gemeindesoziologie zum Städtebau, Ölten 1966, S. 32 ff. 47 Vgl. Abschnitt 6.2.1. dieser Arbeit. 48 Vgl. zur Begründung Abschnitt 3.3.2.3. dieser Arbeit. 45

6.2. Prinzipien sozialer Sicherung i n feudalen Gesellschaften

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schaft des Mittelalters unterliegt jedoch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung auch i n dieser Hinsicht vielfältigen Restriktionen (z. B. Bindung der abhängigen Bauern an die Scholle), so daß mit Recht gesprochen werden kann von der „sozialgeschichtlichen Gegebenheit einer fast vollständig ortsfesten Bevölkerung" 4 9 . Die erforderliche Kontinuität der Nachbarschaftsgemeinschaft w i r d schließlich auch dadurch sichergestellt, daß zur Hilfeleistung nicht bestimmte Einzelpersonen verpflichtet sind, sondern die benachbarten Hausgemeinschaften selbst, deren Existenz i m Prinzip unabhängig ist von der mehr oder weniger langen Lebensspanne ihrer einzelnen Mitglieder. 5 0 Für die Eignung von „Nachbarschaft" als Prinzip sozialer Sicherung ist neben den bisher genannten Punkten entscheidend, ob die nachbarliche Hilfe „sicher" ist, ob also durch eine verbindliche Norm geregelt ist, wer i n welchem Umfang zur Hilfeleistung verpflichtet ist. Derartige Unterstützungspflichten sind als explizite Vorschriften i n großer Zahl überliefert — allerdings erst für die Zeit ab dem 15. Jahrhundert. 51 Zweifellos bestand jedoch auch vorher eine nicht schriftlich dokumentierte, aber gleichwohl durch Tradition und Sitte gefestigte Nachbarschaftsethik, die auf der Grundlage der Gegenseitigkeit Hilfe für jene forderte, die eine kritische Situation nicht aus eigener Kraft bewältigen konnten. 52 Die Beziehungen zwischen Nachbarn waren auch i n der Vergangenheit nie frei von Konflikten; Nachbarschaft war kein Synonym für soziale Harmonie. Die Einsicht, i n der Not aufeinander angewiesen zu sein, war jedoch verbreitet genug, u m i m Bedarfsfall die notwendige Umverteilung von Gütern und Leistungen sicherzustellen. 6.2.3. Genossenschaft

Die Mitgliedschaft i n einer Hausgemeinschaft, die wiederum einer Nachbarschaftsgemeinschaft angehörte, vermittelte der Mehrheit der i m Mittelalter lebenden Menschen einen ausreichenden Schutz vor den üblichen Risiken, wenn nicht außergewöhnliche Umstände (Epidemien, Mißernten usw.) auftraten. Dies war möglich, weil i m Mittelalter die Landwirtschaft den Großteil der Bevölkerung ernährte, 53 und weil der bäuerliche Betrieb und Haushalt sowie das ländliche Dorf den Ideal49

P. A . Köhler, 1979, S. 51. Vgl. R. Heberle, Das normative Element i n der Nachbarschaft, i n : K ö l ner Zeitschrift für Soziologie u n d Sozialpsychologie, 11. Jg. (1959), S. 181 - 197, hier: S. 183 f. 51 Vgl. einige Beispiele bei G. Schöpfer, 1976, S. 54 ff. 52 Vgl. zur Nachbarschaftsethik M. Weber, 1972, S. 216 f. u n d S. 710. 53 Vgl. Abschnitt 6.1.2.1. dieser Arbeit. 50

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typen der Hausgemeinschaft und der N'achbarschaftsgemeinschaft sehr nahe kamen. 54 Wo die besonderen Bedingungen der Landwirtschaft und des ländlichen Lebens nicht gegeben waren, konnte die soziale Sicherung i m Rahmen des Hauses und der Nachbarschaft nicht mehr i n jedem Fall zufriedenstellen. Beispielsweise waren die Hausgemeinschaften i n den Städten i n der Regel kleiner als auf dem Lande, und vor allem konnten sie nur noch einen geringen Teil der lebensnotwendigen Güter selbst herstellen. 55 Verglichen m i t den bäuerlichen Haushalten waren die städtischen i n viel höherem Maße vom Markt abhängig, auf dem sie ihre Arbeitsleistungen oder ihre Erzeugnisse anbieten und ihren Bedarf decken mußten. I m Gegensatz zum Lande waren in der mittelalterlichen Stadt auch die Erwerbsbedingungen der einzelnen Haushalte nicht mehr prinzipiell ähnlich, sondern infolge der ausgeprägten Arbeitsteilung deutlich differenziert. Je nach Tätigkeit unterschieden sich hier die Chancen, aber auch die Risiken des Wirtschaftens. Die fehlende Übereinstimmung der den einzelnen Haushalten drohenden Gefahren erschwert jedoch offensichtlich die Bildung einer auf Gegenseitigkeit beruhenden, alle Einwohner und alle Risiken einschließenden Gefahren- und Solidargemeinschaft. A u f freiwilliger Basis können solche Gemeinschaften nur aus den Trägern ähnlicher Risiken bestehen, z. B. denjenigen, die denselben Beruf ausüben. Tatsächlich lassen sich Zusammenschlüsse der von denselben Gefahren Bedrohten zu spezifischen Risikogemeinschaften bereits i m frühen Mittelalter feststellen, und zwar bei den Fernhändlern, die damals den Transport ihrer Waren noch selbst durchführten: „ U m das Risiko der oft wohl vom Frühjahr bis i n den Herbst dauernden Reisen, die Gefahr von Krankheit, Rechtsstreit, Schiff- und Wagenbruch und Verlust der Waren zu mindern, schlossen sich die Kaufleute zu Karawanen und Reisegruppen (sogenannte Gilden oder Hansen) zusammen: Die Reisegefährten verpflichteten sich unter Eid zu gegenseitiger Hilfe, sie b i l deten für die Dauer der Reise einen Schwur verband, der unterwegs die Funktionen übernahm, die daheim dem Nachbarschaftsverbande oblagen." 56 Den Gilden der Kaufleute vergleichbare Zusammenschlüsse finden sich i m Mittelalter auch i n vielen anderen Bereichen, die durch besondere Risiken und/oder die Notwendigkeit zu kooperativem Handeln gekennzeichnet sind, z. B. i m Bergbau, bei der Seefahrt und der Fiscbe54 55 56

Vgl. Abschnitt 6.2.1. und 6.2.2. dieser Arbeit. Vgl. L. KuchenbuchlB. Michael, 1977, S. 720 f. E. Pitz, 1979, S. 35.

6.2. Prinzipien sozialer Sicherung i n feudalen G e s e l l s c h a f t e n 1 3 7

rei. 57 Diese Zusammenschlüsse waren nicht nur Gefahrengemeinschaften (wie die moderne Versichertengemeinschaft), sie stellten darüber hinaus häufig Arbeits- und Lebensgemeinschaften dar, die wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle bzw. religiöse Anliegen ihrer Mitglieder wahrnahmen. 58 Die Multifunktionalität dieser Gemeinschaften spricht eigentlich dagegen, sie — wie i n der Literatur üblich — als „Genossenschaften" zu bezeichnen, da dieser Begriff gegenwärtig n u r eine besondere Form der Vereinigung zur Verfolgung wirtschaftlicher Interessen bezeichnet. 59 Andererseits bestehen aber strukturelle Übereinstimmungen zwischen den modernen Genossenschaften und den mittelalterlichen Gilden, Knappschaften, Zünften und ähnlichen Sozialgebilden, die eine Benennung m i t demselben Begriff rechtfertigen können: Gleichberechtigung der Mitglieder, gemeinsame Interessen und (aktive Kooperation zu ihrer Förderung. 60 Darstellungen der Genossenschaftsgeschichte beziehen daher i n der Regel das Mittelalter ein, 6 1 sie betonen aber auch die Gegensätze, die die historischen von den modernen, i m 19. Jahrhundert entstandenen Genossenschaften trennen. 62 Die für die mittelalterliche Feudalgesellschaft kennzeichnende „bunte Fülle genossenschaftlicher Bindungen", 6 3 die nicht nur i n den Städten, sondern auch auf dem Lande i n vielfältigen Formen hervortreten, läßt es kaum zu, allgemeingültige Aussagen über deren Struktur, Intensität und Stabilität zu formulieren. Hier soll daher nur an einem Beispiel, der Zunft, dargelegt werden, daß neben der Zugehörigkeit zu einer Hausgemeinschaft und Nachbarschaftsgemeinschaft auch die Mitgliedschaft i n einer Genossenschaft den unerläßlichen Schutz vor existen57

Vgl. F. van der Ven, 1972, S. 82 f. Vgl. z.B. die Schilderung der Aufgaben der Gilden i n den f r ü h m i t t e l alterlichen Städten bei M. Weber, 1972, S. 753. 59 Vgl. als Beispiel die folgende Definition: „Genossenschaften sind Z u sammenschlüsse von Wirtschaftssubjekten, die durch Leistungen einer gemeinsam getragenen Unternehmung die Förderung ihrer eigenen Wirtschaften (Haushaltungen oder Unternehmungen) bezwecken" (E. Boettcher, Genossenschaften, I : Begriff u n d Aufgabe, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft (HdWW), Bd. 3, 1981, S. 540 - 556, hier: S. 540. 60 Vgl. hierzu O. v. Nell-Breuning, der die Genossenschaft charakterisiert sieht durch folgende Merkmale: „personale u n d als solche gleichberechtigte Verbundenheit i n gemeinsamer Sache u n d zu gemeinsamem W i r k e n auf ein allen gemeinsames Ziel h i n i n Selbsthilfe, Selbstverwaltung u n d Selbstverantwortung" (Genossenschaften, in: Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. 3, Freiburg 1959, Sp. 752). 61 Vgl. z.B. H. Faust, Geschichte der Genossenschaftsbewegung, 3.Aufl., F r a n k f u r t / M . 1977, S. 22 ff. 82 Vgl. insbesondere die etwas ideal typische Gegenüberstellung bei: J. M. Back, Genossenschaftsgeschichte, in: Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 3. Aufl., Bd. 2, Stuttgart 1957/58, Sp. 2190 - 2210, hier: Sp. 2193 ff. 83 F. Lütge, 1966, S. 101. 58

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tiellen Risiken vermitteln konnte und daß insofern „Genossenschaft" ein weiteres Prinzip sozialer Sicherung darstellte. Die seit dem 11. Jahrhundert i n den Städten nachweisbaren Zünfte waren organisierte, obrigkeitlich anerkannte Verbände der selbständigen Handwerker, die ihren Mitgliedern das Recht zur Ausübung eines bestimmten Gewerbes sicherten und deren wirtschaftliche und politische Interessen nach außen vertraten. 6 4 Volles Genossenrecht besaßen i n der Zunft nur die Handwerksmeister, doch zählten auch die Gesellen und Lehrlinge sowie die Meistersfrauen und - w i t w e n zum Zunftverband. 6 5 Die Zunft war sowohl eine kartellartige Wirtschaftsvereinigung als auch eine „durch Berufsgleichheit integrierte Kleingesellschaft" 66 . Ihre Entwicklung wurde daher geprägt einerseits von der Auseinandersetzung m i t dem wachsenden Wettbewerb und andererseits von dem „Versuch der Handwerker, sich eine dem Bauerndorf ähnliche lebensgemeinschaftliche Verfassung zu geben" 67 . Das wirtschaftliche Grundanliegen der Zünfte, die Garantie der „Nahrung", d.h. standesgemäßer Einkünfte der Meister, 68 beinhaltet aus heutiger Sicht auch ein sozialpolitisches Ziel, nämlich die Sicherung eines ausreichenden Einkommens für alle. Zur Realisierung dieser Zielsetzung wurde der Wettbewerb durch eine Vielzahl von Maßnahmen und Vorschriften so weit wie möglich beschränkt. 69 Erwähnt seien nur die über den „Zunftzwang" erreichte Begrenzung der Zahl der anbietenden Handwerker und die Ausschaltung der Konkurrenz zwischen den einzelnen Anbietern durch einheitliche Festlegug der Preise, der Löhne, der Zahl der Arbeitskräfte je Betrieb, der Arbeitstechniken und -bedingungen. 70 Die Zunftgenossen erreichten damit eine gewisse Egalisierung ihrer Einkünfte und einen Schutz vor den Risiken des freien Marktes, der aber vom einzelnen auch mit dem Verzicht auf dessen Chancen erkauft werden mußte. Eine ausschließlich ökonomische Analyse erfaßt den eigentümlichen Charakter der Zünfte (und auch anderer mittelalterlicher Genossenschaften) nur unvollkommen. Denn die Zünfte waren „Vereinigungen, die die Zunftgenossen nicht nur zu wirtschaftlichen Zwecken verbanden, sondern sie auch i n fast allen menschlichen Beziehungen, politisch, 64

Vgl. W. Zorn, Zünfte, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (HdSW), Bd. 12, 1965, S. 484 - 489, hier: S. 484. β5 Vgl. ebd., S. 485. ββ Α. Burghardt , 1966, S. 81. 67 Ebd., S. 81. 68 Vgl. W. Zorn, 1965, S. 486. 69 Vgl. hierzu ζ. Β . Μ . Weber, 1958, S. 129 ff. 70 Vgl. ebd., S. 129 ff.

6.2. Prinzipien sozialer Sicherung i n feudalen G e s e l l s c h a f t e n 1 3 9

militärisch, gesellschaftlich, sittlich u n d religiös erfaßten" 7 1 . Damit b i l deten die Zünfte umfassende Lebensgemeinschaften, „künstliche Familien" (L. υ. Ranke), 72 deren Zusammenhalt auch über nachbarschaftliche Beziehungen gefestigt wurde, da i n den mittelalterlichen Städten die Handwerker desselben Gewerbes i n einem Viertel oder an einer Straße konzentriert waren. 7 3 Wie i m Rahmen dieser Gemeinschaften die soziale Sicherung des einzelnen geregelt war, ist i n einer neueren Studie ausführlich dargelegt worden. 7 4 Einige Ergebnisse dieser Arbeit werden an späterer Stelle referiert. 7 5 Zunächst ist wieder der Frage nachzugehen, ob bzw. inwieweit eine mittelalterliche Genossenschaft wie die Zunft geeignet war, einen internen Risiko- und Bedarfsausgleich herbeizuführen. Nach Zorn konnte der personelle Umfang einer Zunft von einem Dutzend bis auf mehrere hundert Mitglieder ansteigen.7® Die meisten Zünfte dürften damit groß genug gewesen sein, u m einen interpersonalen Lastenausgleich durchführen zu können. Die seit dem 14. Jahrhundert feststellbaren Beschränkungen der Mitgliederzahl, 7 7 die „Schließung" der Zünfte, stellten andererseits sicher, daß diese Genossenschaften i h r e n auch für die soziale Sicherung bedeutsamen Charakter einer Primärgruppe nicht verloren. 7 8 Wie erwähnt, zählten außer den Handwerksmeistern auch deren Angehörige sowie die Gesellen u n d Lehrlinge zum Zunftverband. Diese Gemeinschaft setzte sich demnach aus Personen unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlichen Alters zusammen. Sie wies daher eine personelle S t r u k t u r auf, die i m Notfall gewährleistete, daß ältere oder aus anderen Gründen arbeitsunfähige Mitglieder einer Zunft durch jüngere und leistungsfähige versorgt werden konnten. Die für eine verläßliche soziale Sicherung zusätzlich erforderliche Dauerhaftigkeit einer Solddargemeinschaft folgt bei der Zunft aus der Tatsache, daß sie als Genossenschaft auch eine Körperschaft ist. Sie hat damit e i g e n e n Bestand über den Wechsel der eintretenden und austretenden Genossen hinaus" 7 9 . Die Kontinuität der Zunft w i r d dabei vor allem durch den Zunftzwang sichergestellt, d. h. durch den Grund71 72 73 74 75 76 77 78 79

H. Faust, 1977, S. 27. Vgl. auch P.-H. Seraphim, 1966, S. 48. Zitiert nach W. Zorn, 1965, S. 487. Vgl. ebd., S. 488. Vgl. S. Fröhlich, 1976. Vgl. Abschnitt 6.3.2. dieser Arbeit. Vgl. W. Zorn, 1965, S. 485. Vgl. ebd. Vgl. zu diesem Aspekt insbesondere S. Fröhlich, 1976, S. 235 ff. Ο. υ. Nell-Breuning, 1959, Sp. 752.

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satz, daß ein bestimmtes Handwerk nur nach Eintritt i n die entsprechende Zunft ausgeübt werden kann. 80 Soziale Sicherung durch interpersonalen Risiko- und Bedarfsausgleich hängt schließlich davon ab, ob eine verbindliche Norm gegeben ist, die eine Umverteilung von Gütern und Leistungen zur Versorgung der als Folge eines Risikoeintritts Hilfsbedürftigen herbeiführt. 8 1 Für die Zünfte ist eine Vielzahl von Normen überliefert, die oft sehr detailliert festlegen, auf welche Weise und i n welchem Umfang unverschuldet in Not geratene Zunftangehörige zu unterstützen sind. 82 Grundsätzlich gilt auch für die Zünfte, daß die Einsicht, i n Notfällen aufeinander angewiesen zu sein, Solidarität erzeugt und aus diesen mittelalterlichen Genossenschaften Solidargemeinschaften formt, die ihre Mitglieder nach der Maxime „einer für alle, alle für einen" zu gegenseitiger Hilfe verpflichten. 83 6.3. F o r m e n sozialer Sicherung i n feudalen Gesellschaften

Dem Schutz des einzelnen vor existentiellen Risiken dienen i n den Feudalgesellschaften des Mittelalters unterschiedliche, mehr oder weniger wirksame Regelungen, Maßnahmen und Einrichtungen. Die Pluralität der Formen sozialer Sicherung ist eine Folge der fortgeschritteneren Arbeitsteilung und der ausgeprägten Sozialschichtung, die eine Differenzierung der Gefahren, aber auch der Möglichkeiten zur Vorsorge und Abhilfe bewirken. Nach Kenntnis des Verfassers liegt eine zusammenfassende Beschreibung und Analyse der i n den Feudalgesellschaften verwirklichten Formen sozialer Sicherung bisher nicht vor. Die verfügbaren Abhandlungen sind überwiegend deskriptiv und beschränken sich auf die Darstellung einer bestimmten Institution sozialer Sicherung (z. B. das Hospital) 1 oder eines bestimmten Risikos (z. B. Krankheit) und seiner Bekämpfung. 2 80

Vgl. P.-H. Seraphim, 1966, S. 49 f. Vgl. Abschnitt 3.3.2.3. dieser Arbeit. 82 Vgl. z.B. die Belege bei R. Wissell, Des alten Handwerks Recht u n d Gewohnheit, 2. Aufl., Bd. 2, B e r l i n 1974, S. 451 ff. 83 Vgl. hierzu S. Fröhlich (1976, S. 38 f.): „Eines der wesentlichsten M e r k male der zünftigen Organisation — w e n n nicht das wesentlichste überhaupt — w a r die Solidarität. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit w a r die Grundlage der Zunftgründungen, u n d der Gemeinschaftsgedanke bildete die Basis der für die damalige Zeit erstaunlich umfassenden sozialen Sicherung der Zunftgenossen" (Hervorh. i. Orig.). 1 Vgl. z. B. J. v. Steynitz, 1970. 2 Vgl. z. B. A. Fischer, Geschichte des deutschen Gesundheitswesens, Berl i n 1933; sowie E. Schirbel, Geschichte der sozialen Krankenversorgung v o m A l t e r t u m bis zur Gegenwart, Bd. 1, B e r l i n 1929. 81

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Der insgesamt unbefriedigende Stand der Forschung läßt es (noch) nicht zu, einen umfassenden und systematischen Überblick über die Formen sozialer Sicherung i n feudalen Gesellschaften zu geben. I n diesem Abschnitt soll daher nur am Beispiel eines sozialen Risikos gezeigt werden, welche Regelungen und Maßnahmen eine Verschlechterung der Lebenslage verhindern oder zumindest begrenzen. U m einen Vergleich mit der Gestaltung der sozialen Sicherung i n archaischen Gesellschaften zu ermöglichen, w i r d vom Risiko „Alter", d.h. vom aiternsbedingten Rückgang oder Verlust der Arbeitsfähigkeit ausgegangen.3 Für diese Wahl spricht auch, daß dieses Risiko — i m Gegensatz zum Risiko „Krankheit" — i n den vorliegenden Darstellungen zur Geschichte der sozialen Sicherung wenig beachtet und daher noch kaum behandelt wurde. Die relative Vernachlässigung der Alterssicherung i n der einschlägigen Literatur könnte zum einen damit zusammenhängen, daß alte Menschen i n allen nicht-industriellen Gesellschaften nur einen verschwindend kleinen Teil der Bevölkerung stellen. Die für diese Gesellschaften typische hohe Geburten- und Sterberate führt zu einer Alterspyramide, die eine breite Basis von Personen unter 15 und einen sehr schmalen Gipfel von Personen über 65 Jahren aufweist. 4 Der Bevölkerungsanteil alter Menschen wächst erst, als vor und während der Industrialisierung zunächst die Sterberate und schließlich auch die Geburtenrate abnimmt. 5 Es ist also nicht allein der Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung dafür verantwortlich, daß i n den Industriegesellschaften die alten Menschen bereits durch ihr quantitatives Gewicht Aufmerksamkeit beanspruchen. I n der mittelalterlichen Feudalgesellschaft und i n anderen nichtindustriellen Gesellschaften w i r d das Problem der Alterssicherung zum anderen durch die Tatsache relativiert, daß ein Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß bei Erreichen eines bestimmten Lebensjahres nicht üblich war.® Auch alte Menschen nehmen i n diesen Gesellschaften am Arbeitsprozeß teil, solange sie dessen Anforderungen gewachsen sind. 7 I m Prinzip zwingt nur eine deutliche Verringerung oder der völlige 3

Vgl. Abschnitt 5.2.2. dieser Arbeit. Vgl. L. Rosenmayr, Schwerpunkte der Soziologie des Alters (Gerosoziologie), in: R. König (Hg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, 2. Aufl., Bd. 7, Stuttgart 1976, S. 268. 5 Vgl. ebd., S. 268 f. A n dieser Stelle sei der Hinweis gestattet, daß die den Entwicklungsländern so dringend empfohlene Begrenzung der Geburtenzahlen i n absehbarer Zeit zu einem starken Anwachsen des Anteils alter Menschen i n diesen Gesellschaften führen muß. 6 Vgl. M. Mitter auer, Arbeitsorganisation u n d A l tenVersorgung seit dem Mittelalter, in: Der alternde Mensch. A l t e r n u n d A l t e r i m Sozialgefüge, W i e n 1977, S. 91 -117, hier: S. 93. 7 Vgl. L. Rosenmayr, 1976, S. 300. 4

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Verlust der Arbeitsfähigkeit (Invalidität) zur Aufgabe der Tätigkeit und macht eine Regelung der Versorgung erforderlich. Unter nicht-industriellen Bedingungen stellt damit das Ausscheiden aus dem Erwerbsprozeß keinen standardisierten, sondern einen von den Umständen des Einzelfalles abhängigen Vorgang dar. Von Bedeutung sein dürfte vor allem die individuell verschiedene Arbeitsfähigkeit, die wiederum teilweise abhängt von den je nach Tätigkeit unterschiedlichen Arbeitsbedingungen und -anforderungen. Daneben w i r d der Zeitpunkt des Ausscheidens aber auch beeinflußt werden durch die i m Einzelfall verschiedenen Möglichkeiten einer Sicherung des Lebensunterhalts ohne Arbeitsleistung. Eine Darstellung des Problems der sozialen Sicherung i m Alter und seiner Lösung i n der mittelalterlichen Feudalgesellschaft muß demnach berücksichtigen, daß beispielsweise militärische Führung oder Kriegsdienst, landwirtschaftliche Arbeit, Handwerk und Handel recht unterschiedliche Chancen für ein Tätigsein i m Alter bieten. Weiterhin ist zu beachten, daß die Möglichkeiten der Alterssicherung ebenfalls variieren, und zwar i n Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Verhältnissen, dem rechtlichen Status und der Schichtzugehörigkeit des einzelnen (z. B. bestehen typische Unterschiede i n der Altersversorgung des Adels, des städtischen Bürgertums und der ländlichen Bevölkerung). 8 Diese differenzierten Verhältnisse können hier nicht i m Detail dargelegt werden, da die Erforschung der sozialen und wirtschaftlichen Realität i m Mittelalter noch i n den Anfängen steckt. Möglich und sinnv o l l erscheint jedoch der Versuch, zwischen ländlichen und überwiegend naturalwirtschaftldchen Verhältnissen einerseits und städtischen und überwiegend geldwirtschaftlichen Verhältnissen andererseits zu unterscheiden und die diesen Verhältnissen korrespondierenden Formen der Alterssicherung zu beschreiben. Diese etwas idealtypische Gegenüberstellung bietet sich vor allem deshalb an, weil i n der mittelalterlichen Feudalgesellschaft sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die Möglichkeiten sozialer Sicherung auf dem Lande deutlich abweichen von den entsprechenden Gegebenheiten i n der Stadt. 6.3.1. Alterssicherung auf dem Lande

I m Abschnitt über die feudale Ökonomie ist darauf hingewiesen worden, daß die Grundeinheit der ländlichen Produktion die bäuerliche Hauswirtschaft darstellt. Als vorrangiges Produktionsziel wurde die ausreichende und gesicherte Versorgung der Mitglieder der Hausgemeinschaft mit überwiegend selbst erzeugten Gütern genannt. 9 Der 8 9

Vgl. zu diesen Unterschieden insbesondere M. Mitterauer, Vgl. Abschnitt 6.1.2.1. dieser Arbeit.

1977, S. 94 ff.

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aus dieser Zielsetzung ableitbare Bedarf an Arbeitskräften bildet eine wichtige Determinante für den Umfang und die Zusammensetzung der bäuerlichen Hausgemeinschaft. 10 Ihre Mitglieder sind aus der Sicht der arbeitsteilig organisierten Hauswirtschaft vor allem Träger bestimmter Funktionen oder Arbeitsrollen. 1 1 Es ist hier nun die Frage zu erörtern, wie ein aiternsbedingter Rückgang oder Verlust der Fähigkeit, den A n forderungen einer solchen Arbeitsrolle gerecht zu werden, die Lebenslage des oder der Betroffenen beeinflußte. Zunächst ist zu beachten, daß dieses Problem nicht für alle Mitglieder der Hausgemeinschaft von Bedeutung war, da vor allem das Gesinde dieser Gemeinschaft i n der Regel nur befristet angehörte: „Der Gesindestatus stellte eine altersspezifische Durchgangsphase dar." 1 2 Wer nicht eine selbständige Existenz als Bauer oder Bäuerin erlangte, war dennoch nicht gezwungen, das ganze Leben als Knecht oder Magd zu verbringen, sondern konnte auch als Tagelöhner oder durch Ausübung eines kleinen Gewerbes den Lebensunterhalt sichern. 13 Das Risiko des aiternsbedingten Rückgangs oder Verlusts der Arbeitsfähigkeit bedrohte i n erster Linie den Bauern selbst, der zudem als Leiter der bäuerlichen Wirtschaft besonderen Anforderungen genügen mußte. M i t zunehmendem A l t e r war er der schweren körperlichen Arbeit nicht mehr gewachsen, und auch seine Fähigkeit zur Anleitung, Unterweisung und Kontrolle der Mitglieder seiner Hausgemeinschaft konnte Einbußen erleiden. Da die uneingeschränkte Ausübung der Leitungsfunktion von existentieller Bedeutung für die bäuerliche Wirtschaft war, ergab sich früher oder später die Notwendigkeit, die Position des Hausherrn und die m i t ihr verbundenen Rechte und Pflichten an einen Jüngeren (meistens an einen der Söhne) zu übergeben. I n der mittelalterlichen Feudalgesellschaft sorgte schließlich auch der Grundherr dafür, daß diese Übergabe nicht zu spät erfolgte, da er naturgemäß ein starkes Interesse an der zuverlässigen Erfüllung der Abgaben- und Dienstpflichten der von i h m abhängigen Bauern hatte. 14 Für den alten Bauern bedeutete die Hof Übergabe einen merklichen Status- und Machtverlust, den hinzunehmen er nur bereit war, wenn seine Versorgung m i t lebensnotwendigen Gütern, sein Wohnrecht usw. gesichert war. Seit dem frühen Mittelalter sind daher Verträge bekannt, die zwischen dem Hofübergeber und seinem Nachfolger ge10 11 12 13 14

Vgl. Abschnitt 6.2.1. dieser Arbeit. Vgl. hierzu auch U. PlancklJ. Ziehe, 1979, S. 210 ff. M . Mitterauer, 1977, S. 104. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 100 ff.

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schlossen wurden, und die oft sehr detailliert festlegten, welche Leistungen und Rechte dem alten Bauern bis zu seinem Lebensende zustanden. 15 Die Gesamtheit dieser Leistungs- und Rechtsansprüche des Altbauern erscheint unter regional verschiedenen Bezeichnungen wie Altenteil, Ausgedinge, Auszug, Austrag, Leibzucht, Leibgedinge. 16 Wie Mitterauer ausführt, handelt es sich beim Altenteil oder Ausgedinge „um eine rechtlich geregelte Form der Versorgung des alten Bauern bzw. der alten Bäuerin, mitunter auch ihrer noch minderjährigen Kinder, innerhalb des Rahmens der Hausgemeinschaft. Der A l t bauer verbleibt also hier grundsätzlich weiter innerhalb des Familienverbandes" 17 . Diese Form der Alterssicherung i n und durch die Hausgemeinschaft ist eine notwendige Folge der weitgehend naturalwirtschaftlichen Verhältnisse auf dem Lande. 18 Denn erst die Verbreitung der Geldwirtschaft ermöglichte den Bezug einer Geldrente und eine familienunabhängige Befriedigung des Bedarfs an Gütern und Leistungen am Markt. Dagegen können unter naturalwirtschaftlichen Bedingungen nur Sachleistungen gewährt werden, die nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand transportiert werden können, und die daher den Leistungsberechtigten an die Hausgemeinschaft des zur Leistung Verpflichteten binden. Das Verbleiben i n der Hausgemeinschaft bot zweifellos viele Vorteile für den alten Menschen: Er konnte seine vertraute Umgebung beibehalten, seine Sozialbeziehungen rissen nicht plötzlich ab, und vor allem war es i h m möglich, weiterhin sinnvoll tätig zu sein. 19 Andererseits gestaltete sich das Zusammenleben der Generationen i m Bauernhaus keineswegs immer so harmonisch, wie es i m nachhinein oft dargestellt wurde. Die vom Jungbauern eingegangene Pflicht zur Versorgung des alten Bauern und der alten Bäuerin erwies sich häufig als schwere Last, die nur ungern getragen wurde. 2 0 Die Spannungen, die aus diesen und anderen Gründen die Beziehungen zwischen den Generationen beeinträchtigen konnten, führten zu einer häufig negativen Einschätzung des Altenteilsverhältnisses durch die Betroffenen, die zum Ausdruck kommt 15 Vgl. hierzu die detaillierten Ausführungen bei: K . Schmidt, Gutsübergabe u n d Ausgedinge. Eine agrarpolitische Untersuchung m i t besonderer Berücksichtigung der A l p e n - u n d Sudetenländer, Bd. 1, Wien u n d Leipzig 1920, insbesondere S. 212 ff. 16 Vgl. A. v. Miaskowski, Altenteil, Altenteilsverträge, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften (HdStW), 3. Aufl., Bd. 1, Jena 1909, S. 414-422, hier: S. 414. 17 M. Mitterauer, 1977, S. 98. 18 Vgl. ebd., S. 99. 19 Vgl. ebd., S. 104. 20 Vgl. A. v. Miaskowski, 1909, S. 416.

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i n alten Bauernsprichwörtern wie „Übergeben — Kummerleben!" oder „Zieh dich nicht eher aus, als d u schlafen gehst!" 21 Wenn auch die bis ins frühe Mittelalter zurückreichende Geschichte des Altenteils und seine weite Verbreitung den Schluß zulassen, daß es sich u m eine den land- und naturalwirtschaftlichen Verhältnissen gut angepaßte Form der Alterssicherung handelte, so waren damit doch auch gewisse Probleme verbunden, die erst i n neuerer Zeit bewältigt werden konnten. Zum einen erwuchs aus der Möglichkeit, dem Bauern ein Altenteil einzuräumen, ein starker Druck von Seiten des Erben zu einer frühen Hofübergabe, da auf dem Lande kein anderer Weg zu wirtschaftlicher Selbständigkeit führte, die wiederum Voraussetzung für eine Heirat und die Gründung einer eigenen Familie war. 2 2 Zum anderen steckte i n den Altenteilsverträgen ein spekulatives, aleatorisches Element, weil die Dauer der Versorgung des Altbauern und damit der tatsächliche Umfang der vereinbarten Leistungen ungewiß waren. „Da diese Dauer aber von dem früher oder später eintretenden Tod des Altenteilers abhängig ist, so w i r d dadurch eine Kollision zwischen den sittlichen Pflichten des Gutsübernehmers und seinen wirtschaftlichen Interessen hervorgerufen, welche zu schlimmen Folgen führt." 2 3 Endgültig beseitigt werden konnten diese und andere Unzulänglichkeiten des Altenteils erst, als auch die Alterssicherung der Landwirte i m Rahmen einer Versicherung erfolgte, die einen Ausgleich der Risiken ermöglichte. 24 Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß eine Alterssicherung i n der Form des Altenteils oder Ausgedinges natürlich nur jenen zugänglich war, die über einen Hof oder einen anderen, als Ertragsquelle nutzbaren Besitz verfügten, der gegen eine Versorgungsvereinbarung einem Dritten übertragen werden konnte. Wer auf dem Lande auch i m A l t e r noch zu den Besitzlosen zählte, war zur Weiterarbeit gezwungen, solange er dazu fähig war. Wenn die Kräfte nachließen, waren die Armen angewiesen auf die Hilfe ihrer Angehörigen, auf die Großzügigkeit ihrer Herren und Arbeitgeber oder auf die Unterstützung durch die Dorfgemeinde und die Kirche. Ob diese Fürsorge immer ausreichte, um die armen Alten vor dem Hunger zu bewahren, ist nicht bekannt, da hierzu aus dem Mittelalter so gut wie keine verläßlichen Daten vorliegen. 25 Mehr noch als für die Armen i n der Stadt gilt für die 21

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 417. 2S Ebd., S. 420. 24 Vgl. 17. Planck, 1978, S. 208. I n der Bundesrepublik w u r d e n die Landw i r t e 1957 rentenversicherungspflichtig aufgrund des „Gesetz(es) über eine Altershilfe für L a n d w i r t e " (vgl. H. Lampert, 1980, S. 388 f.). 25 Es ist allerdings anzunehmen, daß die Unterstützung armer A l t e r auf dem Lande dadurch erleichtert wurde, daß deren Zahl infolge der Heirats22

10 Partsch

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auf dem Lande eine Feststellung des italienischen Historikers A. Sapori: „Von den Armen geht alles mit ihrem Tode unter: Das Dunkel des Lebens findet seine Entsprechung i m Vergessen."2® 6.3.2. Alterssicherung in der Stadt

I m Vergleich zum Lande bieten die differenzierteren wirtschaftlichen Verhältnisse i n den mittelalterlichen Städten deutlich mehr Chancen, einer drastischen Verschlechterung der Lebenslage i m A l t e r zu begegnen. Zum einen gestattet die fortgeschrittenere Arbeitsteilung i n der Stadt auch alten Menschen, ihren Lebensunterhalt zumindest teilweise durch eine ihren Fähigkeiten angepaßte Erwerbstätigkeit zu bestreiten. Zum anderen erweitert die i n der Stadt dominierende Geldwirtschaft die Möglichkeiten der Altersvorsorge und -Sicherung. 27 Diese Besonderheiten werden i m folgenden zunächst am Beispiel der alten Handwerker veranschaulicht. Danach sollen zwei bedeutsame Formen städtischer Alterssicherung i m Mittelalter behandelt werden: das Hospital und die Leibrente. I m Gegensatz zur bäuerlichen Arbeit ist die physische Belastung i m Handwerk — abgesehen von Zimmerleuten, Maurern und Schmieden — nicht so hoch, daß sie ein Tätigsein i m Alter erschweren oder ausschließen müßte. 28 Wichtiger als der Einsatz körperlicher Kraft ist i n den meisten Handwerkszweigen technisches Können und vor allem Berufserfahrung, die i n vielen Jahren erworben werden muß und daher beim älteren und alten Handwerker besonders ausgeprägt ist. 29 Wo handwerkliches Können zur Meisterschaft führte, berechtigte es zur selbständigen Ausübung eines Gewerbes und zur Beschäftigung von Gesellen und Lehrlingen. 3 0 I n diesem Falle konnte ein alt gewordener Handwerksmeister seine Position auch dann behaupten, wenn er sich i m Sinne einer altersspezifischen Arbeitsteilung beschränkte auf die Anleitung seiner Mitarbeiter und auf die Ausbildung des Nachwuchses. verböte u n d der (vor allem bei Armen) hohen Sterblichkeit nicht allzu groß gewesen sein kann. 26 Zitiert nach: W. Fischer, A r m u t i n der Geschichte. Erscheinungsformen u n d Lösungsversuche der „Sozialen Frage" i n Europa seit dem Mittelalter, Göttingen 1982, S. 7. 27 Vgl. zur Bedeutung der Geldwirtschaft für die Gestaltung der sozialen Sicherung Abschnitt 4.2. dieser Arbeit. 28 Vgl. M. Mitterauer, 1977, S. 107. 29 Der gesellschaftliche W e r t des arbeitenden alten Menschen i n nichtindustriellen Sozialsystemen ergibt sich nicht zuletzt aus dessen F u n k t i o n als „Erfahrungs- u n d Traditionsspeicher der Arbeitswelt" (L. Rosenmayr, 1976, S. 299). 30 Vgl. hierzu insbesondere R. Wissell, Des alten Handwerks Recht u n d Gewohnheit, 2. Aufl., Bd. 1, B e r l i n 1971, S. 125 ff., sowie Bd. 2, B e r l i n 1974, S.lff.

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Die Voraussetzungen für eine Berufstätigkeit bis zum Lebensende waren somit i m Handwerk vergleichsweise günstig. Hier fehlt daher eine dem bäuerlichen Ausgedinge entsprechende Form der Altenversorgung. 31 I m übrigen konnte ein selbständiger Handwerker auch nicht wie ein abhängiger Bauer von einem Grundherrn zur Aufgabe seiner Position als Betriebsleiter und Haushaltsvorstand veranlaßt werden. 32 Daß letztlich erst der völlige Verlust der Arbeitsfähigkeit den Handwerksmeister zum Ausscheiden aus dem Erwerbsprozeß zwang, ist neben den genannten Gründen vor allem auch auf das Wirken der Zünfte zurückzuführen. Wie bereits dargelegt wurde, reglementierten diese Genossenschaften der Handwerker durch vielfältige Maßnahmen und Vorschriften die gewerbliche Produktion m i t dem Ziel, jedem M i t glied ein ausreichendes Einkommen zu sichern. 33 Die Beschränkung der Zahl der Handwerksbetriebe, die Ausschaltung interner Konkurrenz und die weitgehende Verhinderung technischen Fortschritts begünstigten i n erster Linie die leistungsschwächeren Anbieter und erlaubten damit auch jenen Handwerksmeistern wirtschaftlich zu überleben, deren Erwerbsfähigkeit aiternsbedingt eingeschränkt war. Auf die Wirksamkeit dieser Regelungen deutet die Tatsache hin, daß fast alle Zünfte den Meisterwitwen die Weiterführung des Betriebes ihres verstorbenen Mannes gestatteten und auf diese Weise deren Versorgung sichern konnten. 34 I m allgemeinen dürfte es den Zünften gelungen sein, Verschlechterungen der Lebenslagen ihrer alten Mitglieder zu verhindern, da nur wenige Maßnahmen bekannt sind, die primär der Versorgung i m Alter dienten. 35 I n diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß das Risiko „Alter" i m Prinzip nur bei den Handwerksmeistern eintreten konnte, da nicht nur die Lehr-, sondern auch die Gesellenjahre eine befristete, altersspezifische Durchgangsphase darstellten, die schließlich mit der Erlangung der Meisterwürde abgeschlossen wurde. 3 8 Explizite Rege31

Vgl. M. Mitterauer, 1977, S. 105. Vgl. ebd., S. 106. 33 Vgl. Abschnitt 6.2.3. dieser Arbeit. 34 Vgl. S. Fröhlich, 1976, S. 108 ff. Oft wurde die Weiterführung des Betriebs durch die Meisterwitwe allerdings befristet u n d eine Wiederverheiratung m i t einem Gesellen desselben Handwerks gefordert (vgl. jR. Wissell, 1974, S. 435 u n d S. 438). 35 Sehr v i e l umfassender geregelt w a r dagegen die Unterstützung bei K r a n k h e i t u n d U n f a l l (vgl. S. Fröhlich, 1976, S. 81 ff., sowie R. Wissel, 1974, S. 451 ff.). 36 Erst seit der Schließung der Zünfte i m Spätmittelalter, als n u r noch Meistersöhne einen Handwerksbetrieb übernehmen konnten, entstand das Problem alter Gesellen, die bis zum Lebensende zu einer abhängigen u n d materiell recht bescheidenen Existenz verurteilt waren (vgl. M . Mitterauer, 1977, S. 107). 32

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lungen der sozialen Sicherung i m A l t e r sind auch deshalb selten, weil die einschlägigen Vorschriften der Zunftsatzungen die einzelnen Risiken nicht unterschieden, sondern grundsätzlich und generell zu gegenseitiger Unterstützung i n Notlagen verpflichteten. 37 Konkrete Formen der Hilfe i m Alter können jedoch erblickt werden i n dem Recht eines alten, arbeitsunfähigen Meisters, einen zusätzlichen Gesellen einzustellen, i n einmaligen oder dauerhaften Zahlungen aus der Zunftkasse und i n der Unterbringung pflegebedürftiger alter Meister i n einem städtischen oder kirchlichen Hospital auf Kosten der Zunft. 3 8 Die Beschäftigung eines weiteren Gesellen diente dem Ziel, bei stark verminderter Arbeitsfähigkeit des Meisters eine Weiterführung des Handwerksbetriebs zu ermöglichen. Voraussetzung hierfür war allerdings, daß der Ertrag des Betriebes auch zur Entlohnung des zusätzlichen Mitarbeiters ausreichte. 39 Zahlungen aus der „Büchse" oder „Lade" genannten Zunftkasse wurden den Bedürftigen meist nur als Darlehen gewährt, die nach einer Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse zurückzuzahlen waren. 40 Von alten und arbeitsunfähigen Handwerkern war eine Erstattung der erhaltenen Unterstützung nicht zu erwarten, und es ist daher durchaus zweifelhaft, ob die dennoch gewährten Zahlungen eine Aufrechterhaltung der Lebenslage gestatteten. I m übrigen richtete sich die Höhe der finanziellen Unterstützung nicht allein nach dem vorhandenen Bedarf, sondern auch nach den verfügbaren Mitteln. 4 1 Während nur wenige Zünfte Rentenzahlungen an alte und arbeitsunfähige Mitglieder kannten, 4 2 wurden sehr viel häufiger Sachleistungen erbracht — oft von den Zunftgenossen, mitunter aber auch von Zunftfremden, die bezahlt werden mußten. Eine für die Alterssicherung sehr bedeutsame Form der zuletzt genannten Leistungen bestand i n der Unterbringung und Verpflegung von alten (und von kranken) Zunftmitgliedern i n Hospitälern. 43 Zu diesem Zweck schlossen die Zünfte m i t einem städtischen oder kirchlichen Hospital einen Vertrag, der ihnen eine bestimmte Zahl von Pflegeplätzen für ihre erkrankten und alten Mitglieder sicherte. Die Gegenleistung der Zünfte konnte i n Vermögensübertragungen, Spenden oder auch i n regelmäßigen Zahlungen bestehen. 44 Da i n den Hospitälern nicht nur Zunftmitglieder, 37 38 39 40 41 42 43 44

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

S. Fröhlich, 1976, S. 39 u n d S. 77. ebd., S. 77 ff. ebd., S. 78. ebd., S. 61 f. ebd., S. 78. ebd., S. 80. ebd., S. 79. ebd.

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sondern Angehörige aller Schichten Aufnahme fanden, kam diesen Einrichtungen für die soziale Sicherung i n den mittelalterlichen Städten eine grundsätzliche Bedeutung zu, die ihre gesonderte Behandlung i m Rahmen dieses Abschnitts rechtfertigt. Die ursprünglich von Klöstern und später auch von christlichen (Ritterorden) und weltlichen (bürgerlichen) Ordensgemeinschaften gegründeten und unterhaltenen Hospitäler waren noch nicht auf die stationäre Behandlung von Kranken spezialisiert. Außer als Einrichtungen zur Krankenpflege fungierten sie gleichzeitig als Fürsorgeanstalten für Arme und Alte und nicht zuletzt als Herbergen für Reisende und Pilger. 45 Seit dem 11. und 12. Jahrhundert ist eine gewisse funktionale Differenzierung des Spitalwesens festzustellen, die sich mit dem Wachst u m der Städte verstärkte, und schließlich dazu führte, daß viele der von Stadtverwaltungen übernommenen oder von Bürgern gegründeten Hospitäler immer mehr zu Institutionen städtischer Altenversorgung wurden. 4 6 Diese Vorformen der heutigen Altenheime erwiesen sich als erforderlich, weil die auf dem Lande vorherrschende naturalwirtschaftliche Alterssicherung i m Rahmen einer größeren, sich weitgehend selbst versorgenden Hausgemeinschaft i n den Städten wenig praktikabel war. Hier konnten die alten und arbeitsunfähigen Menschen nicht mehr i n jedem Fall von ihren Familien versorgt werden, da weder deren Größe, noch die Wohnverhältnisse oder die Möglichkeiten der Selbstversorgung geeignete Voraussetzungen boten. Die Städte standen daher von Anfang an vor dem Problem, die Unterkunft, Verpflegung und Betreuung alter und hilfsbedürftiger Mitbürger durch den Aufbau oder die Förderung entsprechender Einrichtungen sicherzustellen. 47 Der Versorgungscharakter der seit dem 13. Jahrhundert i n zahlreichen Städten entstehenden Bürgerspitäler kommt deutlich i n der Tatsache zum Ausdruck, daß diese Anstalten neben einer begrenzten Zahl von Ortsarmen i n erster Linie wohlhabende Bürger aufnahmen, die auf diese Weise einen von materiellen Sorgen freien Lebensabend erreichten. 48 Ihre Gegenleistung bestand i n der Übergabe eines mehr oder weniger großen Teils ihres Vermögens an das Spital, die i n einem sogenannten Verpfründungsvertrag geregelt wurde. 4 9 Wer seinen Platz i m Spital aufgrund eines solchen Vertrages erworben hatte, galt als

45 46 47 48 49

Vgl. ebd., S. 196. Vgl. ebd., S. 196 u n d S. 198. Vgl. J. V. Steynitz, 1970, S. 103 f. Vgl. ebd., S. 109 u n d S. 128. Vgl. ebd., S. 151.

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en Gesellschaften

„Herrenpfründer" und hatte Anspruch auf eine bessere Ernährung und Behandlung als die vermögenslosen „Armenpfründer". 5 0 Der Eintritt i n ein Hospital war i n mancher Hinsicht mit der Aufnahme i n ein Kloster zu vergleichen, die ja ebenfalls nicht nur durch geistliche Bedürfnisse motiviert war, sondern oft auch auf den Wunsch nach angemessener und sicherer Versorgung (z.B. von Angehörigen des Adels) zurückging. 51 I n beiden Fällen mußten jene, die der Klosteroder Spitalsgemeinschaft dauerhaft angehören wollten, sich von ihrem Vermögen trennen und ihre bisherige Selbständigkeit aufgeben. 52 Wer etwa nach einjähriger Probezeit i n das (städtische!) Heilig-GeistHospital von Lübeck aufgenommen wurde, hatte das Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams abzulegen und sich fortan den Anordnungen des Spitalvorstehers zu unterwerfen. 5 3 Ein späterer Austritt war nur bei Zurücklassung allen Besitzes gestattet. 54 Es kann zwar nicht belegt werden, daß i n allen Spitälern und während des gesamten Mittelalters ähnlich strenge Regeln herrschten — grundsätzlich war (und ist) jedoch mit dem Leben i n einem Hospital ein mehr oder weniger großer Verlust an persönlicher Freiheit verbunden. Letztlich handelte es sich auch bei der Spitalsverpfründung u m eine naturalwirtschaftliche Form der Alterssicherung, 55 die wie beim bäuerlichen Ausgedinge den zu Versorgenden notwendigerweise an die Hausgemeinschaft des Versorgers band. Da aber i n der mittelalterlichen Stadt die Geldwirtschaft durchaus verbreitet war, viele Güter und Dienstleistungen also käuflich zu erwerben waren, entwickelte sich neben und anstelle der Versorgung i m Hospital eine alternative Möglichkeit der Alterssicherung: die sogenannte Leibrente. Analog zum Ausgedinge und zur Spitalsverpfründung setzte auch der Erwerb einer Leibrente die Übertragung eines wirtschaftlich nutzbaren Gutes an einen Dritten (den Rentengeber) voraus. Während anfänglich die Übergabe von Grundstücken oder grundstücksgleichen Rechten dominierte, wurde seit dem 13. Jahrhundert der Kauf mittels einer bestimmten Geldsumme charakteristisch für den Leibrentenerwerb. 56 Der eigentliche Unterschied zwischen Leibrente einerseits und Ausgedinge bzw. Spitalsverpfründung andererseits ist jedoch 50

Vgl. W. Fischer, 1982, S. 22. Vgl. M. Mitterauer, 1977, S. 96. 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. J. υ. Steynitz, 1970, S. 108 u n d S. 112. 54 Vgl. ebd., S. 108. 55 Die v o m Spital erbrachten Leistungen bestanden vor allem i n der Gew ä h r u n g v o n U n t e r k u n f t , Kost, Bekleidung u n d Pflege (vgl. ebd., S. 113 f.). 58 Vgl. W. Ogris, Der mittelalterliche Leibrentenvertrag. E i n Beitrag zur Geschichte des deutschen Privatrechts, Wien—München 1961, S. 173. 51

6..

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darin zu sehen, daß der Käufer einer Leibrente einen Anspruch auf periodisch wiederkehrende Leistungen i n vertraglich festgelegter Höhe bis zu seinem Lebensende erwarb, wogegen dem Altenteiler oder Pfründner ein i m wesentlichen durch Tradition und individuellen Bedarf bestimmtes, allgemeines Recht auf Gewährung des Unterhalts bis zum Lebensende zustand. 57 Die i m Leibrentenvertrag vereinbarten Leistungen bestanden zunächst aus Naturalien, bis sie seit Mitte des 13. Jahrhunderts vor allem i n den Städten durch Geldzahlungen ersetzt wurden. 5 8 Insofern spricht Mitterauer mit Recht von der Leibrente als einer „dominant städtischen Versorgungsform" 59 . I m Vergleich zu den erwähnten Formen der Alterssicherung bot die Leibrente — wenn sie hoch genug ausfiel — den großen Vorteil, daß sie die Führung einer vom Zwang zur Arbeitsleistung und von materiellen Sorgen befreiten Existenz gestattete und gleichzeitig die Aufrechterhaltung der persönlichen Unabhängigkeit möglich machte. A n die Stelle der zwangsläufig mit Freiheitseinschränkungen verbundenen Versorgung i n einer Hausgemeinschaft trat der Bezug einer Geldrente, die eine individuelle Bedarfsdeckung am Markt erlaubte. 60 Darüber hinaus war eine Leibrente auch nicht an die Person des Erwerbers gebunden, sondern konnte zugunsten Dritter vereinbart werden. 61 A u f diese Weise ließ sich z. B. eine Versorgung der Hinterbliebenen sicherstellen. Offensichtlich wurde diese Möglichkeit auch genutzt, da i n den mittelalterlichen Städten der Anteil der Frauen an den Rentenbeziehern auffallend hoch war. 6 2 Die weite Verbreitung der Leibrentenverträge ist nicht allein auf die geschilderten Vorteile für die Rentenkäufer zurückzuführen. Es kam hinzu, daß die Städte ihren Finanzbedarf nur selten aus den laufenden Einnahmen decken konnten und daher den Verkauf von Leibrenten als M i t t e l zur Geldbeschaffung nutzten. 63 Leibrentenverträge wurden schließlich auch durch die Tatsache begünstigt, daß sie nicht unter das kanonische Zinsverbot fielen, da sie von der Kirche nicht als Darlehens-, sondern als Kaufverträge interpretiert wurden. 6 4 Damit war es neben den Städten auch Klöstern und Bistümern möglich, ihren Geld- und Kapitalbedarf durch den Verkauf von Leibrenten zu befriedigen. 65 I m 57 58 59 eo 61 62 63 64 65

Vgl. ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 175 ff. M . Mitterauer, 1977, S. 97. Vgl. auch W. Ogris, 1961, S. 111. Vgl. M. Mitterauer, 1977, S. 97. Vgl. W. Ogris, 1961, S. 158 f. Vgl. ebd., S. 162 ff. Vgl. ebd., S. 120. Vgl. ebd., S. 104 ff. Vgl. ebd., S. 134 f.

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. Soziale Sicherung i n

en Gesellschaften

Prinzip war jede Einrichtung als Rentengeber geeignet, die eine korrekte und die gesamte Laufzeit eines Vertrages anhaltende Rentenzahlung garantieren konnte. Privatpersonen traten dagegen nur selten als Verkäufer von Leibrenten auf, da unsicher war, ob nach ihrem Tode auch die Erben die gegebenenfalls noch offenen Rentenverbindlichkeiten erfüllen würden. 6 6 Da weder dem Käufer noch dem Verkäufer einer Leibrente deren Laufzeit und damit die Summe der vom Rentengeber zu erbringenden Leistungen bekannt war, beruhten auch diese Verträge zum Teil auf spekulativen Erwägungen. 67 Zwar konnte beispielsweise eine Stadt durch die große Zahl der von i h r verkauften Renten einen Ausgleich zwischen kürzeren und längeren Laufzeiten erreichen, doch ist zweifelhaft, ob diese Möglichkeit eines Risikoausgleichs erkannt und bewußt genutzt wurde. Dagegen spricht die Beobachtung, daß i m Mittelalter beim A b schluß von Leibrentenverträgen dem Lebensalter und dem Gesundheitszustand des Rentenkäufers nur wenig Beachtung geschenkt wurde. 6 8 I m allgemeinen wurde der Erwerb einer Rente zu einheitlichen Bedingungen angeboten. 69 Immerhin kann i n der gelegentlich feststellbaren Beschränkung des Verkaufs von Leibrenten auf Interessenten, die ein bestimmtes Alter überschritten hatten, der Versuch gesehen werden, besonders ungünstige Risiken (jüngere Personen mit hoher Restlebenserwartung) auszuschließen.70 Eine weitergehende Berücksichtigung der individuell verschiedenen Risiken und deren planmäßiger Ausgleich war i m Mittelalter vermutlich nicht zu erreichen, da die hierfür erforderlichen statistischen (Sterbetafeln) und mathematischen (Wahrscheinlichkeitsrechnung) Grundlagen erst i m 17. und 18. Jahrhundert geschaffen wurden. 7 1 Eine Alterssicherung durch Leibrente konnte nur erlangen, wer über ein Vermögen verfügte, das den Erwerb einer ausreichend hohen Rente gestattete. Diese Bedingung war auch dann zu erfüllen, wenn etwa eine finanziell bedrängte Stadtverwaltung ihren Bürgern oder eine 66

Vgl. ebd., S. 133. Nach H. Braun waren die Leibrentenverträge des Mittelalters „das Spekulationsgeschäft schlechthin" (Heinrich Braun, Geschichte der Lebensversicherung u n d der Lebensversicherungstechnik, Nürnberg 1925, S. 26). 68 Vgl. W. Ogris, 1961, S. 187 f. 09 Sehr verbreitet w a r ein Verhältnis von Jahresrente zu K a u f summe v o n 1:10, d . h . für den Erwerb einer jährlichen Rentenleistung i n Höhe v o n 1 Rechnungseinheit waren 10 Rechnungseinheiten aufzuwenden (vgl. ebd., S. 185). 70 Beispielsweise gestattete die Stadt Nürnberg den Verkauf von Leibrenten n u r an Personen, die über 60 Jahre alt waren (vgl. ebd., S. 190). 71 Vgl. F. Büchner, Grundriß der Versicherungsgeschichte, in: W. Grosse u.a. (Hg.), Die Versicherung, Bd. 1: Allgemeine Grundlagen, Wiesbaden 1962 - 1964, S. 2295 - 2312, hier: S. 2306 f. 67

6..

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153

Zunft ihren Mitgliedern den Rentenkauf durch günstige Konditionen erleichterte. Es überrascht daher nicht, daß unter den städtischen Rentnern vor allem Angehörige der Kaufmannschaft und des Patriziats, aber auch viele Handwerker und kleine Gewerbetreibende vertreten waren. 72 Zwar wurden gelegentlich Leibrentenverträge zugunsten von Dienstboten abgeschlossen,73 doch kann daraus natürlich nicht abgeleitet werden, daß die abhängig Beschäftigten i m A l t e r generell ein von A r beit befreites Rentnerdasein führten. Üblicherweise war vielmehr, daß die jeweils ausgeübte Tätigkeit nach Möglichkeit bis zum Lebensende beibehalten wurde. 7 4 Wer i m Falle der Arbeitsunfähigkeit nicht vom Arbeitgeber versorgt wurde, war auf die kirchliche oder städtische Fürsorge angewiesen. 75 Das Fehlen einer Alterssicherung für die nicht mehr der Hausgemeinschaft ihrer Brotherren angehörenden Hilfs- und A r beitskräfte dürfte damit wesentlich dazu beigetragen haben, daß i n den mittelalterlichen Städten nicht Kinderreichtum, sondern A l t e r die wichtigste Ursache von A r m u t war. 7 6

Zu Beginn dieses Abschnitts über Formen sozialer Sicherung i n feudalen Gesellschaften war als ein Grund für die Konzentration auf das Problem der Alterssicherung und seiner Lösung angeführt worden, daß diese Wahl einen Vergleich m i t Formen der Alterssicherung i n archaischen Gesellschaften gestatte. Eine derartige Gegenüberstellung, die abschließend vorgenommen werden soll, kann allerdings über einige allgemeine Aussagen nicht hinausgehen, da die Ausgangsbedingungen dieser beiden Gesellschaften sich so sehr unterscheiden, 77 daß ein Vergleich konkreter Regelungen und Einrichtungen der Alterssicherung wenig sinnvoll erscheint. I n beiden Sozialsystemen spielt die Versorgung alter und arbeitsunfähiger Menschen durch die Lebensgemeinschaften, denen sie angehören, eine herausragende Rolle. Dabei ist nebensächlich, ob es sich u m Verwandtschaftsgruppen, Hausgemeinschaften oder vergleichbare Sozialgebilde handelt. Eine von solchen Gemeinschaften weitgehend unabhängige Altersexistenz, wie sie i n den Industriegesellschaften zur Regel geworden ist, bleibt eine auf die mittelalterlichen Städte be72 73 74 75 76 77

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

W. Ogris, 1961, S. 160. ebd., S. 159. M . Mitterauer, 1977, S. 108. ebd., S. 108. W. Fischer, 1982, S. 25. Abschnitt 5.1.2. sowie Abschnitt 6.1.2. dieser Arbeit.

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6. Soziale Sicherung i n feudalen Gesellschaften

grenzte, erst durch die Verbreitung der Geldwirtschaft ermöglichte Ausnahme. Bemerkenswerte Unterschiede zwischen archaischen und feudalen Gesellschaften können i m Hinblick auf die sozialstrukturellen Voraussetzungen festgestellt werden, die für die Alterssicherung bestimmend sind. I n archaischen Sozialsystemen w i r d die Versorgung i m Alter oft dadurch sichergestellt, daß die Alten bestimmte Privilegien genießen, die ihnen den alleinigen oder bevorzugten Zugang zu wichtigen Ressourcen einräumen 78 . I n feudalen Gesellschaften folgen Privilegien nicht aus dem Erreichen einer bestimmten Altersstufe, sondern i n erster L i nie aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sozialschicht, einem Stand. Für die Alterssicherung bedeutsam erscheint hier vor allem, daß knappe Güter wie Land, Geld, aber auch (berufsbezogenes) Wissen i m Besitz von Alten sind, die sich für die Abgabe dieser Güter Versorgungsleistungen sichern können. Möglich ist dies wiederum, weil i n feudalen Gesellschaften Güter wie Land, Geld und Wissen von größerer Bedeutung sind als i n den weniger entwickelten archaischen Gesellschaften, und weil hier eine Rechtsordnung besteht, die das Eigentum der A l t e n an diesen Gütern wirksam zu schützen vermag.

7

V g l . Abschnitt

.2.2. dieser Arbeit.

7. Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit stand zunächst vor dem Problem, den i n den Industriegesellschaften entstandenen, inzwischen m i t einem spezifischen Inhalt assoziierten Begriff „soziale Sicherung" auf die weitgehend andersgearteten Gegebenheiten nicht-industrieller Sozialsysteme übertragen zu müssen. Während „soziale Sicherung" heute immer mehr den vom Staat oder von i h m beauftragten Organisationen gewährten oder garantierten, i n jedem Fall zentral geregelten Schutz des einzelnen vor genau definierten, primär materiellen Lebensrisiken (bzw. deren Folgen) bezeichnet, ist für „soziale Sicherung" unter nicht-industriellen Bedingungen gerade das Fehlen zentraler und gleichzeitig spezialisierter Träger und Normen charakteristisch. Wie gezeigt werden konnte, schützt hier vor existentiellen Risiken nicht ein ausdifferenziertes System zweckorientierter Maßnahmen und Einrichtungen, sondern dieser Schutz folgt i m wesentlichen aus der Wirksamkeit bestimmter sozialer Beziehungen und Institutionen, die nicht ausschließlich oder auch nur vorrangig dem Ziel der sozialen Sicherung dienen. Ein zweites Problem ergab sich aus der Beobachtung, daß „soziale Sicherung" sehr oft als notwendige Antwort auf die sozialen Folgen des Industrialisierungsprozesses interpretiert w i r d und somit als auf Industriegesellschaften begrenztes Phänomen erscheint. Es erwies sich daher als notwendig, den Zusammenhang zwischen sozialer Sicherung und Industrialisierung näher zu betrachten. Als Ergebnis wurde festgestellt, daß der Industrialisierungsprozeß weniger neuartige soziale Risiken heraufbeschworen hat, sondern daß er vor allem deren Folgen für den einzelnen entscheidend verändert hat. Diese mit dem Wandel der A r beitsverfassung und der Arbeitsbedingungen zusammenhängenden Veränderungen erforderten ohne Zweifel eine Neuregelung der sozialen Sicherung. Sie dürfen jedoch nicht zu dem Schluß verleiten, daß i n nichtindustriellen Gesellschaften kein Bedarf für Maßnahmen sozialer Sicherung bestanden hatte oder bestünde. Nach diesen kritischen Diskussionen der herkömmlichen Interpretationen und Begründungen sozialer Sicherung ergab sich die Notwendigkeit, einen Begriff der sozialen Sicherung zu erarbeiten, der weder an bestimmte, zeit- und raumgebundene Institutionen noch an spezifische soziale Risiken anknüpft. I n Anlehnung an G. Weisser wurde statt dessen eine Definition vorgeschlagen, die von der Funktion sozialer Siehe-

156

7. Zusammenfassung

rung ausgeht: den einzelnen und/oder soziale Gruppen (z. B. Familien) zu schützen vor Verschlechterungen ihrer Lebenslagen durch Gefahren, die sie nicht vermeiden und deren Folgen sie ohne Hilfe nicht tragen können. I m weiteren wurde nachzuweisen versucht, daß die Lebenslage des Menschen zu allen Zeiten durch schwerwiegende Gefahren bedroht ist, und daß die individuelle Vorsorge häufig unzulänglich bleibt oder ungeeignet ist. Damit lag die Schlußfolgerung nahe, daß generell Maßnahmen überindividueller, sozialer Sicherung erforderlich sind. Die sich anschließende Frage nach der Möglichkeit sozialer Sicherung, insbesondere i n nicht-industriellen Gesellschaften, setzte zunächst eine Klärung des Grundproblems sozialer Sicherung voraus, das darin gesehen wurde, daß risikobedingte Verschlechterungen von Lebenslagen einen zusätzlichen Bedarf an Gütern und Leistungen verursachen, der angesichts der universellen Knappheit von Bedarfsdeckungsmitteln unmittelbar nur durch Umverteilung befriedigt werden kann. Die Erörterung der möglichen Arten von Umverteilung führte zu dem Ergebnis, daß der interpersonalen Umverteilung von Gütern und Leistungen unter nicht-industriellen Bedingungen die größte Bedeutung zukommt, da sie nicht — wie die intertemporale und interregionale Umverteilung — an technisch-ökonomische Voraussetzungen gebunden ist. Prozesse interpersonaler Umverteilung sind als Methode sozialer Sicherung anzusehen, soweit sie zu einem Risiko- und Bedarfsausgleich innerhalb menschlicher Gruppen oder Gesellschaften führen. Der Schutz, den auf diese Weise entstandene Gefahren- und Solidargemeinschaften dem einzelnen gewähren können, hängt ab von ihrer Größe, ihrer Zusammensetzung, ihrer Dauerhaftigkeit und von der Wirksamkeit einer Verteilungsnorm, die die jeweils Leistungsfähigen zur Unterstützung der jeweils Hilfsbedürftigen veranlaßt. Diese theoretisch abgeleiteten Zusammenhänge wurden der Darstellung und Interpretation von Prinzipien und Formen sozialer Sicherung i n nicht-industriellen Gesellschaften zugrunde gelegt. Zuvor war allerdings zu klären, welche dieser keineswegs gleichförmigen Gesellschaften untersucht werden sollten. Um ihren Verschiedenheiten möglichst gerecht zu werden, wurden sie nicht als Einheit behandelt, sondern nach dem erreichten Grad sozialer Differenzierung unterschieden. Für diese Einteilung sprach auch, daß für die Gestaltung der sozialen Sicherung wichtige Determinanten (wirtschaftliche Verhältnisse, Sozialstruktur, soziale Werte und Normen) ebenfalls i n Abhängigkeit vom Grad sozialer Differenzierung variieren. Die Skizzierung dieser Determinanten am Beispiel gering differenzierter Gesellschaften brachte das Ergebnis, daß i n diesen „archaisch"

7. Zusammenfassung

genannten Gesellschaften „Verwandtschaft" als dominierendes Prinzip sozialer Sicherung anzusehen ist. Die zu einem Risiko- und Bedarfsausgleich führenden Umverteilungsprozesse sind i n archaischen Gesellschaften am wirkungsvollsten innerhalb der hier besonders bedeutsamen verwandtschaftlichen Zusammenschlüsse zu erreichen. Denn die archaischen Verwandtschaftsgruppen und -verbände werden den an eine Gefahren- und Solidargemeinschaft zu stellenden Anforderungen hinsichtlich Größe, Zusammensetzung, Dauerhaftigkeit und gültigen (Um-)Verteilungsnormen besser gerecht als anders motivierte Gruppenbildungen. Über konkrete Formen sozialer Sicherung i n archaischen Gesellschaften lagen keine zusammenfassenden Untersuchungen vor. Allerdings konnte eine auf der Auswertung von Daten über eine größere Zahl archaischer Sozialsysteme beruhende Studie über die Lebenslage alter Menschen i n diesen Gesellschaften genutzt werden für eine Darstellung der Regelungen und Maßnahmen, die unter archaischen Bedingungen vor dem Risiko „ A l t e r " schützen. Dabei wurde deutlich, daß die Versorgung i m A l t e r nicht allein über die Hilfe von Familienangehörigen und Verwandten erreicht wird, sondern oft auch durch Einräumung bestimmter Privilegien, die den A l t e n den alleinigen oder bevorzugten Zugang zu knappen Gütern wie besonderen Nahrungsmitteln, einträglichen Tätigkeiten und jungen oder mehreren Ehepartnern sichern. Die Behandlung der feudalen Gesellschaften des europäischen M i t telalters gestattete schließlich, Strukturprinzipien und Gestaltungsformen sozialer Sicherung auch am Beispiel stärker differenzierter nichtindustrieller Gesellschaften aufzuzeigen. Feudale Gesellschaften sind nicht nur größer als archaische, sie weisen auch eine fortgeschrittenere Arbeitsteilung und eine ausgeprägte Sozialschichtung auf. Diesen differenzierteren Verhältnissen entspricht auch eine differenziertere Gestaltung der sozialen Sicherung, die nicht mehr auf ein einziges Prinzip zurückgeführt werden kann. Die Charakterisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse, der Sozialstruktur und der Werte und Normen feudaler Gesellschaften ergab i m übrigen, daß verwandtschaftliche Bindungen nur noch von untergeordneter Bedeutung für die Sicherheit des einzelnen sind; Schutz vor sozialen Risiken bieten dagegen i n erster Linie die auch oder sogar vorwiegend nicht miteinander verwandte Personen umfassenden Arbeits- und Lebensgemeinschaften wie das „Haus", die Gemeinde und die vielfältigen genossenschaftlichen Zusammenschlüsse. „Hausgemeinschaft", „Nachbarschaft" und „Genossenschaft" konnten damit als die allgemeinen Prinzipien sozialer Sicherung abgeleitet und i m einzelnen analysiert werden. Es zeigte sich, daß diese Gemeinschaftsformen den an Risiko- und Solidargemeinschaften zu stellenden

158

7. Zusammenfassung

Anforderungen hinsichtlich Größe, Zusammensetzung, Dauerhaftigkeit und (Um-)Verteilungsnorm grundsätzlich genügen. Das höhere Maß an sozialer Differenzierung kommt auch i n der Pluralität der Formen sozialer Sicherung i n feudalen Gesellschaften zum Ausdruck, die ebenfalls am Beispiel des Risikos „Alter" dargelegt wurde. Da zum einen eine aiternsbedingte Verringerung der Arbeitsfähigkeit nicht unabhängig von der jeweils ausgeübten Tätigkeit ist, und da zum anderen auch die Möglichkeiten einer Sicherung des Lebensunterhalts ohne Arbeitsleistung i n den Feudalgesellschaften nicht für alle gleich sind, erwies sich eine differenzierende Darstellung als erforderlich. Die Unterscheidung zwischen ländlichen und überwiegend naturalwirtschaftlichen Verhältnissen einerseits und städtischen und überwiegend geldwirtschaftlichen Verhältnissen andererseits bot sich an, weil sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die Chancen sozialer Sicherung zwischen Stadt und Land deutlich variieren. Die Alterssicherung auf dem Lande wurde veranschaulicht am Beispiel des Altenteils oder Ausgedinge, einer naturalwirtschaftlichen Versorgung des alten Bauern und/oder der alten Bäuerin innerhalb der Hausgemeinschaft. Für die Alterssicherung i n der Stadt wurde die Bedeutung der Zünfte betont und als spezifisch städtische Formen der Altersversorgung zum einen das Hospital und zum anderen die Leibrente ausführlich beschrieben. Ein abschließender Vergleich der Versorgung alter Menschen i n archaischen und i n feudalen Gesellschaften ergab auffallende Unterschiede hinsichtlich der sozialstrukturellen Voraussetzungen, die über Ausmaß und Qualität der Alterssicherung entscheiden. Während i n archaischen Sozialsystemen die Versorgung der Alten oft dadurch sichergestellt wird, daß ihnen wichtige Privilegien eingeräumt werden, ist für die Alterssicherung i n feudalen Gesellschaften charakteristisch, daß die A l t e n i m Besitz knapper Güter sind, die sie gegen Versorgungsleistungen an die nachfolgende Generation abgeben. Archaische und feudale Sozialsysteme stimmen andererseits darin überein, daß hier der Unterstützung der A l t e n i n den und durch die Lebensgemeinschaften, denen sie angehören, eine wesentlich größere Bedeutung zukommt als i n industriellen Gesellschaften, i n denen eine von der Zugehörigkeit zu solchen Gemeinschaften unabhängige Altersexistenz (mit ihren Vorund Nachteilen) möglich und üblich geworden ist.

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