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German Pages 154 [155] Year 2003
FRANK SCHULZ-NIESWANDT
Herrschaft und Genossenschaft
Schriften zum Genossenschaftswesen und zur Öffentlichen Wirtschaft Herausgegeben von Prof. Dr. D. Budäus, Hamburg, Prof. Dr. W. W. Engelhardt, Köln, Prof. Dr. Dr. h. c. Fürstenberg, Bonn, Prof. Dr. Dr. R. Hettlage, Regensburg, Prof. Dr. F. Schulz-Nieswandt, Köln, Prof. Dr. Th. Thiemeyer (t)
Band 37
Herrschaft und Genossenschaft Zur Anthropologie elementarer Formen sozialer Politik und der Gesellung auf historischer Grundlage
Von
Frank Schulz-Nieswandt
Duncker & Humblot . Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrutbar.
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© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6925 ISBN 3-428-10094-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §
Vorwort Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Dieser Fragenkomplex lässt sich auch auf die modeme Sozialpolitik und auf die Sozialstaatlichkeit, die heute zu einem großen Teil staatlich reguliertes, öffentlich-rechtliches Wirtschaften im Sinne einer Ressourcensteuerung ist, übertragen. Insbesondere die dritte Frage ist Gegenstand einer umfassend angestiegenen, international vergleichenden empirischen Sozialstaatsforschung geworden. Die erste Frage, die die Bestimmung des kollektiven Selbstverständnisses sozialstaatlich überformter Marktwirtschaften betrifft, lässt sich kaum von der zentralen zweiten Frage trennen: Woher kommen wir? Es geht um die Soziogenese des modemen sozialen Systems, das Gesellschaft genannt wird. Nun liegt auch eine umfangreiche historische Forschung zum Sozialstaat vor. Sie teilt aber - noch - nicht jenes Schicksal, das die Erforschung der historischen Soziogenese der Modeme generell erfahrt: nämlich die immer weiter nach hinten zurückdatierte Ursprungszeit sowohl institutionen- wie auch mentalitätsgeschichtlich. Genau das wird aber in der vorliegenden Arbeit versucht. Zumindest werden die Archetypen sozialer Politik und die korrespondierenden Organisationskorrelate sowie kognitiven Orientierungssysteme aufgedeckt, zumindest angesprochen. Herrschaft und Genossenschaft stellen dabei die beiden Pole des binären Codes eines Möglichkeitsraumes dar. Wo immer möglich, öffnet sich die Rekonstruktion dieser binären Formenlehre aber auch komparativ dem kulturanthropologischen bzw. ethnologischen Material; und auch bei den Skizzen zum orientalisch-mediterranen Altertum und zum europäischen Mittelalter bemüht sich der Verfasser um eine ethnologische Blickweise. 1 Eine solche Forschungsorientierung ist aktuell wissenschafts- und hochschulpolitisch nicht leicht zu entfalten. Im System der Fakultäten und im Lichte der disziplinären Entwicklungen ist es heute nicht mehr leicht, ja schon verdächtig, Sozialpolitik als Querschnittswissenschaft unter Einbezug der Befunde und Fragestellungen verschiedener Human- und Verhaltens- sowie Sozialwissenschaften zu betreiben? Der Sozialpolitik als Wissenschaft ist ihr möglicher Charakter eines eigenständigen Faches weitgehend geraubt I Zur Anwendbarkeit der Ethnologie auf (zeitlich wie räumlich) beliebige kulturelle Gebilde vgl. etwa auch Goldinger, H.: Rituale und Symbole der Börse. Eine Ethnographie. Münster 2002. 2 Vgl. zuletzt vom Verfasser: Strukturelemente einer Ethnologie der medizinischpflegerischen Behandlungs- und Versorgungspraxis. Weiden/Regensburg 2003.
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Vorwort
worden3 ; die Spezialdisziplinen - Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft und Wirtschaftspolitik, Personal wirtschaftslehre (mit Bezug auf die betriebliche Sozialpolitik), aber auch die Soziologie, die Politikwissenschaft etc. - bearbeiten das Politikfeld selbst, allerdings dann immer auch perspektivisch relativ weit eingeschränkt. Doch was dem psychischen Sicherheitsbedürfnis der Wissenschaftsakteure zweckdienlich erscheint, kann dem Fach selbst Schaden beifügen, wenn die selbstreferentielle Spezialisierung zu weit getrieben wird. Nur die Rechtswissenschaft (Arbeitsund Sozialrecht, neuerdings auch Europarecht) scheint ungebrochen an einer interdisziplinären Sozialpolitikforschung interessiert zu sein. Allerdings ist auch die Wirtschafts- und Sozialgeographie inter-disziplinär und in einigen Teilbereichen explizit sozial- und gesellschaftspolitisch orientiert, etwa als "geography of well-being"; im britischen Diskursraum ist z. B. eine "geography of disability" etwa nichts Ungewöhnliches. Doch ansonsten ist der wissenschaftliche Entwicklungskontext einer Sozialpolitik als Querschnittswissenschaft4 schwierig geworden. Hinzu kommt noch eine neue Phase des (allerdings nicht mehr kritisch hinterfragten) Positivismus der empirischen Sozialforschung, auch ökonometrischer Art. Große, quantitative Datensätze dominieren die Fachentwicklung in der Forschung. Der Datenreichtum wächst, die große Theorie wird nicht mehr gewagt; die Kenntnis der weltweiten Literatur, vor allem in multi-disziplinärer Breite, leistet sich kaum noch jemand in den Zeiten des universitären Drittmittelwettbewerbs. Lehrbücher zu verfassen erscheint zunehmend als eine überholte Eigenart der älteren Kohorten des Wissenschaftsbetriebes oder wird als psychologisches Problem der Emeritierungsphase abgetan. Die Liste der A- und B-Journals allein ist wichtig geworden als Strategieinstrument der wissenschaftlichen Karriere. Diese wissenschafts- und hochschul politische Zeitdiagnostik könnte noch raumgreifend fortgeführt werden. Das eigenständige Fach der wissenschaftlichen Sozialpolitik hat es natürlich auch ideologisch schwer. Und abhängig von der politischen Ausrichtung wird ferner von der universitären Sozialpolitikforschung zunehmend die Beteiligung an der wir3 Vgl. dazu auch Schulz-Nieswandt, F.: Sozialpolitik als Bildung von Regeln Gesellschaft als Spiel der Kooperationsgewinne. Wertfreie Ökonomie als Ende wertorientierter politischer Auseinandersetzungen? Literaturabhandlung zu Pies, I.: Ordnungspolitik in der Demokratie (2000). Erscheint demnächst in Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik; vgl. auch ders.: Jenseits der "reinen Lehre": Die Sozialpolitiklehre und die Morphologie gesellschaftspolitisch relevanter Einzelwirtschaften - Prof. Dr. Wemer Wilhe1m Engelhardt zum 77. Geburtstag. Sozialer Fortschritt 52 (2) 2003, 52-53. 4 Von der W. Schönig (Rationale Sozialpolitik. Berlin 2001) völlig unbegründet behauptet, sie sei nicht erfolgreich gewesen, bietet selbst aber ein inkonsistentes Literaturgebäude an.
Vorwort
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kungsanalytisch orientierten Beratung der permanenten Sozialreform gefordert. Das fördert wiederum den oben genannten Trend zum Neo-Positivismus. Denn im Zeitalter der Regierungskommissionen und Beiräte sind Berechnungen über Effekte gefragt. All das ist an sich auch in Ordnung. Nur bleibt die grundlagenwissenschaftliche Fundierung des Faches dabei auf der Strecke. Und von den Fachhochschulen kann angesichts des spezifischen Ausbildungszieles dieser im Ausbau befindlichen Institution und der diesem Ziel korrelierten Rekrutierungskriterien des Lehrkörpers Derartiges nicht erwartet werden. Historische Fragestellungen verlagern sich in Spezialforschungsbereiche der Geschichtswissenschaft, und eine Einordnung des Faches in die anthropologische Orientierung erscheint exotisch und am hochschul-politischen Bedarf vorbei investiert und daher kaum zu verantworten und nicht mehr gefragt. Dabei geht gerade den Akteuren des augenblicklichen sozialen Wandels eine grundlegende Perspektive auf die Sozialpolitik und auf den Sozialstaat verloren: der Charakter als conditio humana. Risikolagen und vulnerable Gruppen gab es zu allen Zeiten und Orten. 5 Soziale Fragen, die gestaltend bewältigt werden wollen, gab es - diachronisch wie synchronisch betrachtet - in allen kulturellen Räumen. Die elementaren Formen, in denen auf diese Herausforderungen in den Kulturen reagiert worden ist, sind morphologisch erstaunlich ähnlich und lassen sich daher von den Kategorien einer strukturalen Anthropologie erfassen; die Vielfalt schließt sich, da eine Anthropologie um Reduktionen bemüht ist, phänomenologisch erst im Rahmender kontext- und ressourcenabhängigen historischen Konkretisierungen, die dann auch psychohistorische Analysen auf personaler Ebene zulassen, an. Die Sozialpolitik entstand nicht erst mit der Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts, und sie ist nicht mit Verweis auf Pseudo-Indikatoren wie das 5 E. v. Weiher (Das Alter in Mesopotamien. In Karenberg, A./Leitz, Chr. (Hrsg.): Heilkunde und Hochkultur 11. "Magie und Medizin" und "Der alte Mensch" in den antiken Zivilisationen des Mittelmeerraumes. Münster 2002, 211-220, hier 219) kann schreiben: "Die vielfaltigen Urkunden aus dem alten Orient zu dem Thema ,Alter' machen deutlich, daß die Regelung der Altersversorgung keineswegs ein modernes Problem ist, sondern wahrscheinlich zu allen Zeiten relevant gewesen ist. Allerdings wird man aber zu keiner Zeit ein lückenloses Versorgungssystem voraussetzen dürfen." H.-W. Fischer-Eifert (Aus alt mach jung: Medizinisches und Mentalitätsgeschichtliches zum Alter im Pharaonischen Ägypten. In Karenberg, A./Leitz, Chr. (Hrsg.): Heilkunde und Hochkultur 11. "Magie und Medizin" und "Der alte Mensch" in den antiken Zivilisationen des Mittelmeerraumes. Münster 2002, 221244, hier 241) kann festhalten: "Despektierliches Verhalten scheint aber nicht gerade selten gewesen zu sein." Grundlegend auch Stol, M./Vleeming, S. P. (Hrsg.): The Care of the Elderly in the Ancient Near East. Leiden 1998. Die Arbeit kommt auf den sozialen Status des Alters noch zurück.
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Vorwort
Durchschnittseinkommen (und mit Bezug auf ähnliche Argumentationsfiguren in der Verfassungsrechtsprechung zum Sozialversicherungswesen6 ) heute als weitgehend überholt einzuschätzen. Sozialpolitik (vgl. die Ausführungen zu Beginn der Einleitung) hat Ressourcen bereitzustellen und Kompetenzen zu fördern, damit Menschen im Lebenszyklus die Entwicklungsaufgaben, die an die Persönlichkeit gestellt werden, also die An- und Herausforderungen im Lebenslauf passungsfähiger zu bewältigen vermögen. 7 In diesem Sinne ist soziale Politik eine Voraussetzung der freien Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit. Im Lichte dieser Zugangsweise versucht die vorliegende Abhandlung einen Beitrag zur anthropologischen Relevanz des Faches zu leisten. Und diese Art von grundlegender Fundierung des Faches muss auch in die universitäre Lehre einfließen, um den gesellschaftspädagogischen Aufgaben dieser Institution gerecht zu werden. Die historischen Bezüge entrücken die Analyse nur auf den ersten Blick und scheinbar der Aktualität; denn die Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft, die kategorial im Vordergrund der Betrachtungen steht, bezeichnet elementare Formen der Organisation der Menschen und zugleich Archetypen der Institutionalisierung sozialer Politik. Und diese Dialektik wirkt auch heute noch - weltweit. Im Spektrum der Wahmehmung öffentlicher Aufgaben zwischen den Formen der öffentlicher Wirtschaft und der Genossenschaft fügt sich das Thema daher durchaus gut in die Schriftenreihe "GÖW" ein. Die Arbeit hat eine lange Vorlaufzeit (Kapitel A.lV. wird über die Vorstudien des Verfassers ausführlich berichten) und fand ihre intensivste Bearbeitungszeit seit der Berufung nach Köln in den Jahren 1998 bis 2002. Die wichtigste Schlussbearbeitung fand zu Weihnachten 2002 und im Januar 2003 statt. Das Thema ist für den Verfasser aber nicht abgeschlossen. Neben seinen Beiträgen zur praxisorientierten Gesundheits- und AIter(n)sforschung wird er weiterhin an der Archäologie der Sozialpolitik und ihren Institutionen und Mentalitäten arbeiten. Die vorliegende Arbeit ist nicht mehr als eine Grundlegung der Problemstellung. Schließlich dankt der Verfasser dem Verlag sehr für die großzügige Art der Aufnahme in das Verlagsprogramm. 6 Literatur in Schulz-Nieswandt, F.: Medizinischer Fortschritt und die Versicherungsfähigkeit. Ein multi-disziplinärer Zugang zu einer unvermeidbaren gesellschaftlichen Definitionsleistung. In Möller, P.-A. (Hrsg.): Heilkunst, Ethos und die Evidenz der Basis. Medizinethische Diskurse über werdendes menschliches Leben in exogener Einflussnahme. Frankfurt am Main 2002, 165-185. 7 Vgl. Schulz-Nieswandt, F.: Zur Theorie der Lebenslagen - sozial- und verhaltenswissenschaftlich reformuliert. In Karl, F. (Hrsg.): Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie. Weinheim/München 2003, 129-139.
Vorwort
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Im Gefüge multipler Rollenübernahmen zwischen Familie, Beruf und Ehrenämtern waren mit meinen Liebsten - Petra und Alessa - viele Kompromisse im Rahmen meines F-Freisemesters 2002/2003 (das F stand dabei kontrovers entweder für Forschung oder für Familie) zu erarbeiten, damit das Buch zum Abschluss kommen konnte. Köln, im Juni 2003
Frank Schulz-Nieswandt
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung: Elementare Formen sozialer Politik und ihre institutionellen und kognitiven Vektoren ........................................ I. Anthropologischer Prolog ........................................ 11. Leiden und Gerechtigkeit: Zum "Sitz im Leben" ................... III. Zwischen Bolkestein und Gierke: Orientalisch-griechischer Dualismus und der binäre Code "Herrschaft versus Genossenschaft" ............ IV. Vorstudien zum Themenkomplex und erste Befunde ................ 1. Archetypik und Sozialpolitik: Sakrales Königtum und Genossenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Gilden im Mittelalter und kulturelle Analogien .................. 3. Strukturale Anthropologie: Helfen und Vergemeinschaftung von Risiken ....................................................... 4. Ethnologie der Medizin und Pflege: Kulturelle Codes und aktuelle Praxis ...................................................... 5. Soziale Krankenversicherung und Sozialhilfe: ekklesiatische Risikogemeinschaft versus proskynetische Wohltätigkeit. . . . . . . . . . . . . . .. 6. Die Gabe ................................................... B. Die vorchristlichen Wurzeln: die Archetypen der "alttestamentlichen" und "homerischen" Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. I. Die Verwurzelungen im "Dark Age" (1200-800 v. Chr.) im gesamten Mittelmeerraum ................................................ 11. Schuldknechtschaft, sakrales Königtum und "primitive Demokratie" im kanaanitisch-israelitischen Altertum ............................... 1. Schuldknechtschaft und vulnerable Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Die Königszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. "Primitive Demokratie" in der vor-staatlichen Zeit? (I) ........... 4. Das Deuteronomium und die nach-exilische Gemeinde ........... 5. "Primitive Demokratie" (11): die Ältesten und das Rechtswesen . . .. III. Das homerische Protoplasma der Polis-Bildung in geometrischer Zeit.. 1. Die homerische Gesellschaft als Protoplasma ........ . . . . . . . . . . .. 2. Reziprozität in der homerischen Gesellschaft .................... 3. Die griechische Polis als weltgeschichtliches "Wunder" und die orientalische "primitive Demokratie" ........................... 4. Der Weg zum Euergetismus und zur monarchischen Herrschaftsideologie ................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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C. Die nach-christliche Entwicklung: die synkretistischen Formen ...... .. 98 I. Die Grundlegung des europäischen Pfades ......................... 98
Inhaltsverzeichnis
12 11.
Die frühchristliche Gemeinde: Ein synthetischer Archetypus mit endogener Neigung zur Transformation ................................ III. Gastfreundschaft und Xenodochium: Eine gestaltgebende Entwicklungsachse im orientalisch-europäischen Synkretismus .............. IV. Ausblick auf die Geschichte der europäischen Sozialpolitik im Lichte der Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft .................. . 1. Sakralkönigtum .............................................. 2. Armenhilfe .................................................. 3. Machtausübung und Herrschaftsmandat ........................ . 4. Die Praxis des Schenkens ..................................... V. Weltweite Analogien zur Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft in diachroner wie synchroner Perspektive .......................... 1. Soziale Fürsorge in der chinesischen Song-Zeit .................. 2. Der Ailla-Verband der alten Inkas .............. . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Zur Ethnologie transverwandtschaftlicher "cultures of relatedness" .
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D. Destillate und offene Fragen einer Theorie des Ursprungs von Herrschaft ............................................................. 131 Literaturverzeichnis .................. . ................................ 143 Stichwortverzeichnis ................................................. .. 149
A. Einleitung: Elementare Formen sozialer Politik und ihre institutionellen und kognitiven Vektoren I. Anthropologischer Prolog Soziale Politik erzeugt einen Raum der Ressourcen, in dem sich die Menschen bewegen können. Diese Erzeugung eines sozialen Raumes ist sowohl institutionell zu verstehen als auch ein kognitiver Prozess, somit ein Prozess personaler Haltung, orientierender Einstellung und kommunikativer Bewegung. Dieser Prozess drückt sich auch (nicht nur) architektonisch aus - wie sich am Beispiel der Basilika zeigen lässt. 1 Die Gesellungsformen des Menschen können herrschaftlich oder auch genossenschaftlich sein; auch Mischformen sind möglich. So konstituiert sich der Raum über Vektoren. Deren elementarste Formen sind Vertikalität und Horizontalität, Sehen und Hören, Geben und Nehmen. An der Gabe 2 knüpft sich sodann der zentrale Mechanismus, durch den Gesellung überhaupt erst möglich wird: das Wissen von Sterben und Tod, Kulte der Erinnerung und Rituale der Wiederholung, mithin kollektives Gedächtnis und das Leben des Menschen in der Struktur der Zeit. Kulturell sind die Menschen demnach auf Mnemosyne angewiesen, also auf die Ausbildung eines sozialen Systems, das als kommunikative Praxis kulturellen Gedächtnisses funktioniert. Eine Soziologie der Gesellung zu betreiben und eine darin eingebettete Wissenschaft von der Sozialpolitik voranzutreiben, findet ihren sinnhaften Dreh- und Angelpunkt allein in der personologisch orientierten anthropologischen Beschäftigung mit dem Menschen angesichts seiner lebenszyklischen An- und Herausforderungen sowie den daraus erwachsenden Daseins1 Vgl. Verstegen, U.: Gemeinschaftserlebnis in Ritual und Raum: Zur Raumdisposition in frühchristlichen Basiliken des vierten und fünften Jahrhunderts. In Egelhaaf-Gaiser, U./Schäfer, A. (Hrsg.): Religiöse Vereine in der römischen Antike. Tübingen 2002, 261-297. 2 Der Verfasser geht auf den Gabemechanismus noch ein. Es sei hier aber bereits vermerkt, wie brisant die Literatur zu diesem in verschiedenen Wissenschaften (wieder) neu entdeckten Baustein einer jeden Gesellschaft weiterhin anwächst. Vgl. etwa Osteen, M. (Hrsg.): The Questions of the Gift. Essays across disciplines. London/New York 2002 oder auch Deterts, D.: Die Gabe im Netz sozialer Beziehungen. Hamburg 2002. Jetzt auch die begrifflichen Klärungen bei Stegbauer, ehr.: Reziprozität. Einführung in die sozialen Formen der Gegenseitigkeit. Opladen 2002.
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A. Einleitung
aufgaben. 3 Entscheidend bleibt, wie der Mensch dieses Leben zu bewältigen vermag unter dem Gesichtspunkt seiner Individuation als Person. Daran kann er scheitern, und die Sozialpolitik hat die Aufgabe und das Vermächtnis, angesichts dieser conditio humana zu allen Zeiten zeitgemäße Hilfestellungen zu geben, modem gesprochen: Ressourcen bereitzustellen und Kompetenzen zu fördern. 4 In diesem Lichte ist die vorliegende Abhandlung zu lesen. 5 Die Analyse basiert auf einer Struktur überlappender Zeitmodalitäten, wobei es überraschend ist, wie spät und langsam die französische Strukturgeschichtsschreibung Eingang findet etwa in die alttestamentliche Exegese. 6
11. Leiden und Gerechtigkeit: Zum "Sitz im Leben,,7 Zur Wissenschaft von der Sozialpolitik gehört es auch für dieses komplexe Politikfeld, das vielerlei Interdependenzen mit anderen Feldern in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aufweist und daher grundsätzlich als 3 Vgl. Schulz-Nieswandt. F.: Elias Maya. Zwischenwelten. Archetypische Bilder und Grundthemen menschlicher Existenz in der Malerei von Elias Maya. Koblenz 2002. 4 Vgl. etwa in der Alternsforschung Schulz-Nieswandt. F.: Einführung in die anthropologisch fundierte Sozialpolitik der Altemsformen und der Altersgestalten. Weiden/Regensburg 1999. 5 Die Studie umfasst ein breites Spektrum von Epochen und Kulturen; eine solche Abhandlung kann unmöglich (derartige Mängel teilt der Verfasser mit vielen anderen Arbeiten - vgl. etwa Demandt. A.: Antike Staatsformen. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte der Alten Welt. Berlin 1995, 7 f.) das gesamte verfügbare relevante Material an Literatur und Quellen anführen, auch schon nicht mehr jene Menge, die vom Verfasser gesichtet und bearbeitet worden ist. In die Fußnoten finden demnach nur ausgewählte Publikationen Eingang. Für die Selektivität muss der Verfasser die Verantwortung tragen im Bewusstsein, dass er sich diesbezüglich viel - berechtigte - Kritik einholen wird. Manches, was hier nicht zitiert wird, findet sich eventuell in den angeführten Vorstudien des Verfassers, wird aber hier nicht nochmals vollständig aufgegriffen und angeführt. Vieles wird dem Verfasser auch entgangen sein. Der Verfasser hofft allerdings, mit einem halbwegs glücklichen Händchen immer hinreichend viel und Relevantes berücksichtigt zu haben, um seine Argumentation zu stützen und plausibel erscheinen zulassen. Die Zitierweise erschien dem Verfasser leserfreundlich; auch darüber wird man streiten können. Jedenfalls wird, durchaus generös in der Raumnutzung, in den Fußnoten die Quellen jeweils vollständig zitiert, damit der interessierte Leser nicht immer blättern und im alphabetischen Verzeichnis die Quelle suchen muss. Das Literaturverzeichnis umfasst wiederum nur ausgewählte Literatur, wobei der Verfasser versucht hat, die radikale Mengenbeschränkung zu verknüpfen mit einem Auswahlkriterium, dass es ermöglicht, in der zusammengestellten (zum Teil kurz kommentierten) Literatur selbst wiederum möglicht das breite Spektrum genutzter und/oder weiterführender Literatur angeführt zu finden. 6 Veijola, T.: Moses Erben. Studien zum Dekalog, zum Deuteronomismus und zum Schriftgelehrtenturn. Stuttgart u. a. 2000, 233 f.
11. Leiden und Gerechtigkeit: Zum "Sitz im Leben"
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Querschnittswissenschaft interdisziplinär zu handhaben ist, die kulturgeschichtlichen Wurzeln und die kulturgeschichtlichen Entwicklungslinien bis hinein in die zeitgeschichtliche Aktualität zu rekonstruieren, um so einen Beitrag zum tieferen Sinnverständnis gegenwärtiger und zukunftsbezogener Probleme der menschlichen Existenz - des Menschen als homo socialis oder homo culturalis - zu leisten. Wo es sich zeigt, dass es fast unmöglich ist, Wurzeln im strengeren Sinne einer Soziogenese oder gar einer sozialen Evolution8 der strukturalen Formen und der kognitiv-mentalen Haltungen sowie der semantischen Komplexbildungen, vor allem über einen längeren historischen Zeitraum der "langen Dauer" dingfest und begreifbar zu machen, da muss es bereits als relevanter Erkenntnisfortschritt gelten, in kulturübergreifend-vergleichender Manier, also im Sinne einer Kulturanthropologie bzw. Ethnologie einige strukturale Analogien und funktionale Äquivalente aufzudecken. Dann wird es durchaus einen bemerkenswerten Befund darstellen, dass die Menschen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Räumen immer wieder auf eine begrenzte Zahl elementarer institutioneller Problemlösungsformen und kognitiver Orientierungen zurückgreifen. Mit dieser Einsicht - wobei die vorliegende Arbeit gewiss die saubere Trennung zwischen strukturaler Analogik und historisch orientierter Sozio7 Angespielt wird damit auf die formgeschichtliche Methode in der alttestamentlichen Forschung von H. Gunkel. Dazu vgl. Engelken, K.: Frauen im Alten Testament. Stuttgart u. a. 1990, 172 ff. (mit Literatur). Die forschungs strategische Frage nach dem "Sitz im Leben" findet sich auch in der neueren Mediävistik, so bei Epp, V.: Amicitia. Zur Geschichte personaler, sozialer, politischer und geistlicher Beziehungen im frühen Mittelalter. Stuttgart 1999, 3: Sie spricht von der "Aufhebung der Existenzangst: Amicitia war der freiwillige Zusarnmenschluß von Menschen zu Gruppen, die sich Frieden und Selbstbestätigung nach innen und Schutz nach außen gegen mögliche Feinde und gegen die Bedrohung ihrer Stellung in der Gesellschaft gewährten. In diesem Zusarnmenschluß suchten sie Gott als Partner und Garanten einzubeziehen, um sich seiner Gnade und Hilfe zu versichern." 8 Vgl. dazu auch vom Verfasser: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000, 5 FN 4, wo er sich mit den Studien von Lenski auseinandersetzt. Zur modernen Theorie der Evolution sozialer Systeme vgl. Bogucki, P.: The Origins of Human Society. Oxford 1999 sowie lohnsin, A. W.lEarle, T.: The Evolution of Human Society. From Foraging Group to Agrarian State. Stanford 2000. Einen Überblick über die Staatsformen auf der Grundlage historisch-vergleichender und politisch-ethnologischer Perspektiven bietet Breuer, St.: Der Staat. Reinbek bei Hamburg 1998. Vor allem die Theorie des Proto-Staates und der einfachen bzw. komplexen Formen des Chiefdoms, wie sie in der neo-evolutionistischen (politischen) Ethnologie seit den 1960er Jahren entwickelt worden ist, wird weite Passagen der vorliegenden Arbeit prägen. Dazu vor allem Earle, T. K.: Chiefdoms in Anthropological and Ethnological Perspective. Annual Review of Anthropology (16) 1987, 279-308 sowie Sahlins, M. D.: Poor Man, Rich Man, Big-Man, Chief: Political Types in Melanesia and Polynesia. Comparative Studies in Society and History (5) 1963, 285-303. Vgl. ferner Service, E. R.: Ursprünge des Staates und der Zivilisation. Frankfurt am Main 1977 sowie Fried, M. H.: The Evolution of Political Society. New York 1967.
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A. Einleitung
genetik doch nicht immer durchhält - wird zugleich deutlich, wie sehr die vorliegende Abhandlung sich den Fragestellungen einer strukturalen Anthropologie verpflichtet fühlt 9 . Es wird noch anzusprechen sein, dass sie sich hierbei aber zugleich tiefen psychologisch fundiert und somit neben institutionellen Mechanismen auch die personologische Dimension angemessen zu berücksichtigen versucht (vgl. auch Teil D.). Dies mag als wissenschaftslogischer Widerspruch empfunden werden; aber es ist (nach Ansicht des Verfassers) produktiv. Die elementaren Formen 10 menschlicher Gesellung und sozialer Politik sind das Thema dieser Abhandlung. Kann man mit dem Begriff der Gesellung an eindeutige Traditionslinien der Soziologie (insbesondere an die von G. Simmel ll ) anknüpfen, so ist der Begriff der sozialen Politik eine letztlich unbefriedigend bleibende Notlösung. Es kann nicht angemessen sein, den modemen Begriff der Sozialpolitik auf unterschiedlichste Epochen und unterschiedliche kulturelle Räume zu übertragen; gleiches gilt für Begriffe wie Wohltätigkeit, Armutspolitik oder Armenpflege. Zwar bleibt auch die Übertragung des Begriffs der Politik problematisch, da die Ausdifferenzierung von Politik selbst Teil des komplexen kulturgeschichtlichen Geschehens ist, das hier zum Gegenstand kulturanthropologisch interessierter historischer Betrachtung wird. Ob diese kulturanthropologisch interessierte historische Betrachtung wiederum durch den Begriff der historischen Anthropologie (die sich im neueren Schrifttum mehrerer deutschsprachiger monographischer Einführungen erfreut) adäquat gedeckt ist, darf ebenso dahin gestellt bleiben. Es geht ja schließlich nicht um terminologische Anschlussfähigkeiten, um eventuell eilige und klassifikatorisch eindeutige Zuordnungen zu aktuellen wissenschaftlichen Disziplinenentwicklungen zu erheischen. Mit sozialer Politik wird (im Lichte einer personalen Daseinsanthropologie ) eine sich in Gesellungsformen ausdrückende institutionelle Art und Weise - eine Modalität - der Hinwendung zum sozial gestaltbaren Leiden des Menschen, also zu den kreatürlichen Leiderfahrungen der menschlichen Existenz überhaupt l2 gemeint l3 : Armut, Krankheit, Alter und Tod, 9 Vgl. auch Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 21-23. 10 Ganz bewusst liegt hier eine sprachliche Nähe vor zu Durkheim, E.: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1998. II Simmel, G.: Soziologie. Frankfurt am Main 1992. Analysen von Simmel haben u. a. Eingang gefunden bei der Auseinandersetzung mit der indo-europäischen Forschung bei Schulz-Nieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000, 117 ff. 12 Diese Existenzfragen sind immer wieder vorwiegend religiös verarbeitet worden. Religion war und ist die reflexive Reaktion auf die menschlichen Nöte. Theophanien (vgl. auch Scriba, A.: Die Geschichte des Motivkomplexes Theophanie. Seine Elemente, Einbindung in Geschehensabläufe und Verwendungsweisen in alt-
11. Leiden und Gerechtigkeit: Zum "Sitz im Leben"
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ökonomische Abhängigkeiten (wie zum Beispiel die Schuldknechtschaft im Altertum oder die Kinderarbeit in den heutigen Weltarmutsregionen) usw. Es handelt sich um Risikolagen und Vulnerabilitätsprofile, die sich heute hinsichtlich des grundsätzlichen Gestaltcharakters - nicht viel anders stellen als früher und in der modemen wissenschaftlichen Sozialpolitik im Rahmen der Lebenslagenforschung zum intensiv behandelten Gegenstand geworden sind. Die modeme Sozialpolitik hat es mit uralten Themen zu tun, die der Modeme noch mythologiegeschichtlich überliefert sind. 14 Viele Mythen vom Ursprung der Welt und des Menschen, eingebettet in der Thematisierung der Scheidung der Götter und der Menschen im dualen Raum des Heiligen und des Profanen, erzählen zugleich vom Ursprung des menschlichen Leidens, von Arbeit und Alter, von Krankheit und Tod (vgl. dazu die Darlegungen vom Verfasser in "Strukturelemente einer Ethnologie der medizinisch-pflegerischen Behandlungs- und Versorgungspraxis" (2003), auf die israelitischer, frühjüdischer und frühchristlicher Literatur. Göttingen 1995) bzw. Epiphanien des Heils (vgl. grundlegend Janowski, B.: Rettungsgewißheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes "am Morgen" im Alten Orient und im Alten Testament. Bd. I: Alter Orient. Neukirchen/Vluyn 1989; vgl. auch Gerstenberger, E.: Der bittende Mensch. Bittritual und Klagelied des Einzelnen im Alten Testament. Neukirchen/Vluyn 1980) sind Ausdrucksformen der Bewältigung dieser Daseinsaufgaben. 13 Vgl. auch Nitschke, A./Schmoock, P. (Hrsg.): Grundkurs Geschichte. Der Mensch in elementaren Situationen. Weinheim/Basel 1993. 14 Die alt-orientalische Religion reagiert mit einem binären Code von "Licht" und Finsternis" (vgl. religionsgeschichtlieh Aalen, S.: Die Begriffe "Licht" und "Finsternis" im AT, im Spätjudentum und im Rabbinismus. Oslo 1951; vgl. ferner Fumagalli, V.: Wenn der Himmel sich verdunkelt. Lebensgefühl im Mittelalter. Berlin 1988) auf diese Erfahrung menschlicher Not und Bedrängnis. Der Code (SchulzNieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000: Kapitel 3 am Beispiel der Alter(n)sbilder) definiert soziale Ordnungsformen, die den Aufbau der sozialen Wirklichkeit (eingebettet in eine allgemeine Anthropologie polar angeordneter An- und Herausforderungen der Person im Lebenszyklus: Schulz-Nieswandt, F.: Elias Maya. Zwischenwelten. Archetypische Bilder und Grundthemen menschlicher Existenz in der Malerei von Elias Maya. Koblenz 2002) bestimmen (Janowski, B.: Rettungsgewißheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes "am Morgen" im Alten Orient und im Alten Testament. Bd. I: Alter Orient. Neukirchen/Vluyn 1989, VIII). Über diesen Code ist die Religion der sozialen Politik sehr nahe, denn soziale Politik bemüht sich, bedrängte Bevölkerungskreise auf die "Sonnenseite des Lebens" zu bringen. Barmherzigkeit wird hier wirksam. Der Tag ermöglicht die Arbeit (in Agrargesellschaften: die Feldarbeit) und verleiht dergestalt der zur Finsternis polaren Kategorie des Lichts einen sozial-rechtlichen Aspekt (Janowski, B.: Rettungsgewißheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes "am Morgen" im Alten Orient und im Alten Testament. Bd. I: Alter Orient. Neukirchen/Vluyn 1989, 183 f.). Vgl. etwa auch Brunner, H.: Die religiöse Wertung der Armut im Alten Ägypten. Saeculum (12) 1961, 319-344. Schließlich Kehrer, O. (Hrsg.): "Vor Gott sind alle gleich". Soziale Gleichheit, soziale Ungleichheit und die Religionen. Düsseldorf 1983. 2 Schulz-Nieswandt
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A. Einleitung
weiter unten nochmals zurückzukommen sein wird I5 ). Die vergleichende Religionsgeschichte blättert eine reichhaltige Befundelandschaft auf, die darlegt, wie mit dem Leiden nicht nur die gleichursprüngliche Frage ihrer Rechtfertigung gestellt wurde und das menschliche Denken und Empfinden anregte, sondern auch die Frage nach den Freiheiten des Menschen, seinen Möglichkeiten, auf diese Leidensprozesse gestalterisch einzuwirken. 16 Die Frage der menschlichen Gesellung und der Haltungen der Menschen in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die sie figurativ bilden, kristallisiert sich, oftmals in komplizierter Einbettung in die Religionsgeschichte der Völker, immer auch im thematischen Kontext dieser Theodizeeproblematik sozialer Politik. Gerechtigkeit!7 ist die Kernthematik einer jeder menschlichen Gesellung, die gesellschaftliches Dasein des Menschen, soziale Daseinsmodalität der menschlichen Existenz im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur genannt wird. Es wird Aufgabe der vorliegenden Abhandlung sein, die mentalen Urformen der Gerechtigkeitsdiskurse und - als Korrelate, als Korrespondenzformen - die elementaren Strukturtypen sozialer Politik als Gesellungsformen (zumindest ansatzweise) aufzuzeigen.
15 Vgl. auch knapp Schu/z-Nieswandt, F.: Arbeit und Freizeit. Erwartungen und Enttäuschungen. In Bellebaum, A. (Hrsg.): Glücksforschung. Eine Bestandsaufnahme. Konstanz 2002, 193-212, insb. 196 f. Abweichende Einschätzungen zur Theologie der Arbeit im Alten Testament finden sich bei Otto, E.: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002, 184. 16 So fand eine sozialpolitische Aufladung des Sabbats erst relativ spät statt. Der Sabbat musste sich ohnehin erst langsam als eine ent-tabuierte Zone etablieren. Im alttestamentlichen Kontext war der Sabbat ein heiliger Tag, der durch Arbeit geschändet werden würde; die Wendung zu einem positiven Ruhetag war nicht primär mitgedacht (vgl. Hehn, J.: Siebenzahl und Sabbat bei den Babyioniern und im Alten Testament. Leipzig 1907, 121 ff. zur Entstehung des Sabbats, u. a. in kritischer Auseinandersetzung mit Meinhold, J.: Sabbat und Woche im Alten Testament. Göttingen 1905. Weitere - neuere - Literatur findet sich auch bei Nuß, B. S.: Der Streit um den Sonntag. Idstein 1996, 145 ff.), wenngleich die anthropologisch-religionsgeschichtlichen Klärungen dort nichts überaus tief ausfallen. Auch in der Geschichte des Christentums (Koch, H.: Woche ohne Sonntag? Die Wirtschaft, die Kirchen und das Sabbatgebot. Hannover 1989, 43 ff.) ist der Sonntag anfänglich nicht arbeitsbezogen ein Ruhetag, sondern immer eher ein Tag religiöser Verwendungszusarnmenhänge (v gl. auch Nuß, B. S.: Der Streit um den Sonntag. Idstein 1996, 183 f. mit Literatur). Die neuere sozialpolitische Debatte zum Sonntag ist also eine Sekundärbildung. 17 Vgl. die Beiträge in Assmann, J. u.a. (Hrsg.): Gerechtigkeit. München 1998. Zur Position von Assmann vgl. ders.: Herrschaft und Heil. München/Wien 2000. Vgl. auch Blenkinsopp, J.: Geschichte der Prophetie in Israel. Stuttgart u.a. 1998, 87 mit Bezug auf die Sozialkritik von Amos.
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III. Zwischen Bolkestein und Gierke: Orientalisch-griechischer Dualismus und der binäre Code "Herrschaft versus Genossenschaft" Ausgangspunkt der Abhandlung ist die klassische, wenngleich (nach Auffassung des Verfassers) nicht angemessen rezipierte 18 Studie von Hendrik Bolkestein "Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum" (1939)19. Nach Auffassung des Verfassers werden hier die gemeinorientalischen Urformen sozialer Politik rekonstruiert, wie sie - im dualen Kontrast zum griechischen Denken und zur griechischen Sozialwelt stehend - gerade in Verbindung mit dem griechischen Sozialerbe einen kulturellen Synkretismus 20 in Europa begründeten, der für die weitere europäische Geschichte institutionengeschichtlich, aber auch mentalitätsbezogen, von fundierender Bedeutung sind (v gl. auch C.I. sowie die Kapitel C.III. und C.lV.). Eine Scharnierfunktion erhält dabei (vgl. Kapitel C.I1.) das frühe Christentum, das mit seinen jüdisch-orientalischen Wurzeln im Kontext seiner hellenistischen und römischen Umwelt formbildend zu verstehen sein wird21 • Hier 18 Vgl. Schäfer, G. K./Strohm, Th. (Hrsg.): Diakonie - biblische Grundlagen und Orientierungen. 3. Aufl. Heidelberg 1998 oder auch Weinfeld, M.: Social lustice in Ancient Israel and in the Ancient Near East. 2. Aufl. Minneapolis 2000, der deutschsprachige Literatur zitiert, aber nicht die Studie von Bolkestein. Auf die breite deutschsprachige Literatur zur Sozialkritik im Alten Testament (bei Lohfink, Schwantes, Koch, Fendler, Crüsemann, Donner, Schottroff, Loretz u. v.a.) soll hier nicht eingegangen werden. Vgl. aber treffend KloJt, H.: Städtische Sozialpolitik in der Antike. Die alte Stadt (22) 1995, 82-98, hier 95: "Wohltätigkeit beschreibt eine im griechischen und römischen Kulturbereich soziale Mentalität gegenüber Mitbürgern, Annenpflege entwickelt sich im alten Ägypten und in Israel als praktische Hilfstätigkeit gegenüber sozial deklassierten Mitmenschen, besonders gegenüber Armen als solche, die eines besonderen Schutzes bedürfen." 19 Mit dem Untertitel: Ein Beitrag zum Problem "Moral und Gesellschaft". Utrecht. 20 Zum Begriff im religionswissenschaftlichen Kontext vgl. auch Feldkeller, A.: Der Synkretismus - Begriff im Rahmen einer Theorie von Verhältnisbestimmungen zwischen Religionen. Evangelische Theologie (52) 1992, 224-245. Der Verfasser weiß um die (wissenschaftstheoretische) Problematik dieser Kategorie. Er wagt dennoch eine - neu akzentuierte - Wiederauflage dieser Kategorie, die im Fall der europäischen Geschichte dualistisch und zum Teil polarisierend verfährt, also struktural binären Codierungen verhaftet ist. Andere Begriffe wie Integration, Synthese, Konvergenz, die zum Teil auch genutzt werden, sind nicht besser geeignet. 21 Auf die germanischen Elemente dieses Kultursynkretismus geht die Arbeit nur sehr wenig ein. Dazu scheinen die historisch eingebrachten Strukturelemente zu kontrovers zu sein, sofern sie ohnehin nicht mittels indo-europäischen Erbes (kritisch dazu Maier, B.: Die Religionen der Germanen. München 2003, 128 ff.) in den Analysen eine Rolle spielen. Zu den sozialstrukturell-institutionellen Eigenheiten des Germanischen vgl. etwa Pohl, W.: Die Germanen. München 2000, 65 ff. Vgl. ferner Wenskus, R.: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frührnittelalterlichen gentes. Köln/Graz 1961.
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in den Metamorphosen des christlich22 werdenden23 Europas - sind die institutionellen wie kognitiv-mentalen24 Grundlegungen der Sozialpolitikgeschichte anzusiedeln. Denn hier - mit letzten Wurzeln im "Dark Age" im gesamten Raum des Mittelmeeres in der Zeit zwischen 1200 und 800 v. Chr. - beginnt für Europa jene Dialektik des Gegen-, Mit- und Nebeneinanders von Herrschaft und Genossenschaft als die zwei Archetypen der menschlichen Gesellung und der elementaren institutionellen Strukturtypen der sozialen Politik, die über die Spätantike hinaus das Mittelalter und die Neuzeit bis hinein in die aktuellen postmodernen Diskurse prägend wirksam waren und die Geschichte gestaltgebend vorantreiben werden,zs Damit wirft der Verfasser einen Blick auf die europäische Universalgeschichte, der im Lichte der genossenschaftsrechtsgeschichtlichen Studien von Otto von Gierke gewonnen wurde, vor allem im Rückgriff auf dessen vier Bände über "Das deutsche Genossenschaftsrecht" (Nachdruck von 1954)26, das im ausgehenden 19. Jahrhundert abgefasst worden ist. 27 Die Kategorien der elementaren Formenlehre der Gesellung und der sozialen Politik erweisen sich somit als Kategorien einer dualen Begriffsordnung und somit einer binär codierten Klassifikation sozialer Wirklichkeiten. Wenngleich Gierke die Mischformen erkannte und behandelte, etwa als genossenschaftliche Herrschaft, wie sie Europa aus der Universitätsgeschichte stiftungswirtschaftlich (noch aktuell) bekannt sind. Auch im modernen deutschen Sozialrecht (vgl. auch in Kapitel C.lV.) sind derartige Formen genossenschaftlicher Herrschaft nicht unbekannt, denkt man etwa an den Status der staatsmittelbaren Selbstverwaltung. Insbesondere wird das Thema der Hierarchisierung und der Asymmetriebildung in horizontalen Formen der 22 Vgl. u.a. auch Bredero, A. H.: Christenheit und Christentum im Mittelalter. Über das Verhältnis von Religion, Kirche und Gesellschaft. Stuttgart 1998. 23 Vgl. auch Brown, P.: Die Entstehung des christlichen Europas. München 1996. 24 Dazu vgl. Schulz-Nieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000, 20 ff. 25 Zu den altorientalischen, mithin auch jüdischen Wurzeln der Moderne vgl. Dtto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 213 FN 157 sowie 313, dort: "Daß der rechtshistorische Universalisierungsprozess in der Hebräischen Bibel von dem der Sublimierung zu einer ethischen Gesinnung begleitet ist, läßt sich schon am Buch Deuteronomium ablesen, das neben der alttestamentlichen Prophetie als Wiege der Moderne bezeichnet werden muß." Dazu auch Hallo, W. H.: Origins. The Ancient Near Eastern Background of Some Modern Western Institutions. Leiden/New York 1996 sowie wiederum dazu Dtto, E.: Rezension von W. W. Hallo. Origins. The Ancient Near Eastern Background of Some Modern Western Institutions. Leiden/New York 1996. Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte (3) 1997, 250-258. 26 Vier Bände. Darmstadt. 27 Zu Gierke jetzt auch Peters, M.: Die Genossenschaftstheorie Otto v. Gierkes (1841-1921). Göttingen 2001.
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genossenschaftsartigen Gesellung, also das Thema der Instabilität horizontal-symmetrischer Reziprozitätsformen und deren Vertikaltransformation noch ein durchgängig wichtiges Problem darstellen. Darauf wird auch abschließend in Teil D. abzustellen sein. Das wird ganz unterschiedliche Quellen betreffen (und - hinsichtlich ihren letzten Wurzeln - in Termen der (neo-evolutionistischen) Theorie des Proto-Staates prä- bzw. protourbaner Sozialraumsysteme rezipiert): Die königskritischen Dimensionen im Alten Testament28 (sofern sie sich vorexilisch datieren lassen und nicht aus der nach-exilischen Königprädikation JHWHs resultieren) ebenso wie Spannungen infolge von sozialen Stratifikationen im homerischen Protoplasma der griechischen Polisbildung oder auch die Transformationen der paulinischen Gemeindestrukturen im Zusammenhang mit hellenistischem Euergetismus und römischen Patronage29-Klientilismus-Systemen. Auch der fragliche Freiheitsraum der europäischen Gilden im Rahmen der merowingischfränkischen Königsherrschaft ist davon betroffen, vorher schon der der römischen Berufscollegia im Kaisertum. 3o In der aktuellen Sozialpolitikwissenschaft erinnert man sich - vor allem W. W. Engelharde 1 - durchaus an diese Elementarformen, wenn unterschieden wird zwischen einer "Sozialpolitik ,von oben'" und einer "Sozialpolitik ,von unten'" und folglich und in der Regel staatliche versus genossenschaftsartige Sozialpolitik vom Typus der sozialen Selbsthilfe gegenübergestellt werden. Wobei auch hier die historischen Dialektiken bekannt sind, etwa die "Verstaatlichung" der Kassen als Selbsthilfegebilde. Aber auch außer-europäische Beispiele lassen sich anführen, um Analogien aufzudecken: so die genossenschaftliche Dorfverfassung im Rahmen des tributär-zentralen alten Inkaregimes32 oder auch die Trägerfrage sozialer Fürsorge in der Song-Dynastie des chinesischen Mittelalters 33 (v gl. auch Kapitel C.V.). Und im Diskurs über die funktionellen Verhältnisformen von 28 Zur Staatsbildung im alten Israel vgl. auch Master, D. M.: State Fonnation Theory and the Kingdom of Ancient Israel. Journal of Near Eastern Studies (60) 2001, 117-131. 29 Das Patronagephänomen definiert sich über eine Verknüpfung von Reziprozität, Asymmetrie und Personalität der Beziehungen. Vgl. mit Bezug auf den hier relevanten Gegenstand: Krause, J.-U.: Spätantike Patronagefonnen im Westen des Römischen Reiches. München 1987. 30 Vgl. auch schon im alten Ägypten: Drenkhahn, R.: Die Handwerker und ihre Tätigkeiten im alten Ägypten. Wiesbaden 1976. 31 Zum Werk von Engelhardt vgl. Schulz-Nieswandt, F.: Einleitung, in ders. (unter Mitwirkung von Reich, K.-H. und Romahn, H.) (Hrsg.): Einzelwirtschaften und Sozialpolitik zwischen Markt und Staat in Industrie- und Entwicklungsländern. Festschrift für Werner Wilhelm Engelhardt zum 75. Geburtstag. Marburg 2001, 9-19. 32 Dazu vgl. Schulz-Nieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfefonnen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000, Anhang III: Fallstudie I: Sozialverfassung und soziale Politik im Inka-Reich, 125-128.
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A Einleitung
Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsgesellschaft im Lichte der Rezeption kommunitaristischen Denkens hat sich längst eine intensive Forschung sozialer Netzwerke entfaltet, die ihre Bedeutung in der lebenslauforientierten Lebenslagenforschung auch kulturübergreifend und kulturvergleichend gewonnen hae 4 , etwa als Erforschung der inter-generationellen Verwandtschaftsbeziehungen oder aber auch der transverwandtschaftlichen Hilfeformen genos sen schafts artiger Form. Spielen solche Gebilde in ökonomisch weniger entwickelten Gesellschaften eine geradezu existentielle Rolle, so haben sie auch Konjunktur in den demographisch alternden OECD-Ländern. Die Theorien der wohlfahrtsstaatlich überformten Marktgesellschaften entdecken wieder die Anthropologie der Gabe, die Moralökonomie des Gebens und Nehmens, wie sie früher schon die Sozialgeschichte der europäischen Industrialisierung im großstädtischen Arbeitermilieu oder die Soziologie bäuerlicher Siedlungsformen im ländlichen Raum im Kulturvergleich bearbeitet haben bzw. von diesen bearbeitet worden sind. Ewig und ubiquitär erscheint diese elementare Dialektik des Gegen-, Mit- oder Nebeneinanders von Herrschaft und Genossenschaft. Näher zu klären sind aber die konkreten Konstellationen, die diese Dialektik in einzelnen Epochen und kulturellen Räumen einging. Um bei den schon genannten Beispielen zu bleiben: Wie verhalten sich Herrschaft und Genossenschaft im gemeinorientalischen Kontext? Gab es eine "primitive Demokratie"? Gab es sie nur in der vor-staatlichen Zeit? Oder spielte sie im Sinne eines topographischen wie föderalen 35 Zentrum-Peripherie-Musters (also im Zuge der Herausbildung komplexer Chiefdoms und im Übergang zur politischen Herrschaftsordnung) auch in zentral-sakralköniglicher Zeit eine gewisse (etwa rechts geschichtliche) Rolle? Welche Rolle - anthropologisch an der Opferpraxis von Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft (dazu später in diesem Kapitel mehr) anknüpfend - spielten Kultgenossenschaften und das Vereinswesen nicht nur in der etablierten Polis, sondern welche Rolle spielten genossenschaftsartige Reziprozitätsgebilde gerade auch in der homerischen Entstehungszeit der Polis, also in der (heute, forschungsstandbezogen, gar nicht mehr so) "dunklen" und dann archaischen Zeit nach dem Untergang der mykenischen Burg- und Palastkultur im Wirkhorizont der großräumigen Umbrüche im spätbronzezeitlichen und früh33 Dazu vgl. Schulz-Nieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000, Anhang IV: Fallstudie 11: Sozialverfassung und soziale Politik in der Song-Dynastie des chinesischen Mittelalters, 129-132. 34 In die Alternsforschung hineinreichend vgl. Schulz-Nieswandt, F.: Die Heterogenität des Alter(n)s. In Möller, P.-A (Hrsg.): Die Kunst des Altems. Frankfurt am Main 2001, 109-122. 35 Um den Föderalismus (im Sinne einer sozialräumlichen Vemetzung) zentriert sich die Analyse von Carandini, A: Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 2002.
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eisenzeitlichen Kontext, die eine Devolution der Sozialstrukturen ausgelöst hatten? Wie genossenschaftsartig war die frühchristliche ("paulinische") Gemeinde? In welchem Spannungsverhältnis stand sie (von Anbeginn an) angesichts der christologischen Theologie, die kulturgeschichtliche Anleihen in der altägyptischen pharaonischen Königsideologie 36 nahm, umgeben war von einer verwandten orientalisierten Kaiserkultpraxis, geprägt war vom hellenistischen Euergetismus 37 in Verbindung mit klientilistisch interessierten Patronagebildungen (die sich auswirkten auf die christliche Feudalisierung des frühen europäischen Mittelalters bzw. hier Analogien fanden, nachdem verwandtschaftliche, vor allem aber wohl verwandtschaftsfiktive Bindungen im "barbarischen,,38 Kulturraum zerfielen39)? Die Ausführungen deuten bereits an, dass die Analyse einen prägenden Einfluss des orientalischen kulturellen Raumes annimmt, wobei sich hierbei wirkmächtig die jüdischen Wurzeln organisch einfügen. Das Judentum und damit auch das von diesem soziogenetisch gar nicht abtrennbare frühe Christentum werden im römischen Machtraum zwar stark hellenistisch geprägt, wie umgekehrt die spätantiken Metamorphosen kaum ohne prägende Aufnahme orientalischen Kulturgutes zu verstehen sind. Für das Thema der elementaren Formen der Gesellung und der sozialen Politik konzentiert sich der Blick auf diesen komplexen kulturellen Synkretismus, der nicht nur religionsgeschichtlicher Art ist, konzentiert dergestalt, dass er sich auf die Analyse der Kristallisation von zwei Institutionen beschränkt: Sakralkönigtum40 und Gemeinde (in ihrer Genossenschaftsartigkeit). Die Betrachtung kommt somit zurück auf die Studie von Bolkestein. Nach dessen Auffassung war der Orient geprägt von der Leiturgiestaatlichkeit, wobei der vordere Orient eine vertikale - in ihrer alttestamentlich-exegetisch klärbaren Semantik durchaus kontroversen - Barmherzigkeit ermöglichte bzw. praktizierte. Die griechische Polis stellt dagegen eine (wenn auch labile und keineswegs universalistische ) Demokratie der Kleingrund36 V gl. aus der Fülle des Schrifttums u. a. Kügler, J.: Pharao oder Christus? Religionsgeschichtliche Untersuchungen zur Frage einer Verbindung zwischen altägyptischer Königstheologie und neutestamentlicher Christologie im Lukasevangelium. Bodenheim 1997 sowie ders.: Der andere König. Religionsgeschichtliche Perspektiven auf die Christologie des Johannesevangeliums. Stuttgart 1999. 37 V gl. dazu insbesondere die Literatur am Ende von Kapitel B .III.l. 38 Vgl. dazu Scheibelreiter, G.: Die barbarische Gesellschaft. Mentalitätsgeschichte der europäischen Achsenzeit 5.-8. Jahrhundert. Darmstadt 1999. 39 Vgl. dazu Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 16. 40 Als Urform politischer Herrschaft wird somit das Sakralkönigtum angenommen. Vgl. auch Pongratz-Leisten, B.: Herrschaftswissen in Mesopotarnien. Formen der Kommunikation zwischen Gott und König im 2. und 1. Jahrtausend v. Chr. Helsinki 1999.
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besitzer dar und formte sich als System gegenseitiger Dienstbereitschaft aus. Dazwischen - aggregiert man die längsschnittlichen Metamorphosen zu einem querschnittlichen Systemtypus - läge der römische41 Gesellschafts-Typus. 42 Gegenüber der bekannten These von Uhlhom 43 , die christliche Wohltätigkeit sei historisch einmalig und auch in dieser Art erstmalig, weil sie auf der universalistischen Ethik der Nächstenliebe basiere, hat Bolkestein, wenn der Verfasser diesbezüglich die Zusammenhänge richtig versteht, den Einwand vorgetragen, dass diese vertikale Barmherzigkeit zwar theologische Besonderheiten aufweise, ihrer Form nach aber altorientalisch sei und ihre gemeindebezogene Form dem horizontal orientierten Gegenseitigkeitsprinzip der Griechen verdanke. Die Liebe, die Diakonie bzw. die Caritas wurzeln demnach als Komplexbildungen in einem kulturellen Synkretismus, wie er bereits angedeutet worden ist.
41 Zur Entwicklung der römischen Gesellschaft zwischen fiktiver Verwandtschaft und Staat vgl. auch die Studie von Linke, B.: Von der Verwandtschaft zum Staat. Stuttgart 1995. Dazu ausführlich Schulz-Nieswandt, F.: Gilden "als totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000, 20-22. Zu Linke vgl. auch Walter, U.: Der Aufstieg Roms. In Erdmann, E.lUffelmann, U. (Hrsg.): Das Altertum. Vom Alten Orient zur Spätantike. Idstein 2001, 129-163, hier 140 sowie die FN 23 auf 162 (mit Verweis auf die Besprechungen von Linke bei Bringmann, K.: Das Historisch-Politische Buch (44) 1996, 14-15 sowie bei Hantos, Tb.: Klio (80) 1998, 529-530). Vgl. ferner Comell, T. J.: The Beginnings of Rome. Italy and Rome from the Bronze Age to the Punic Wars (c. 1000-264 BC). London/New York 1995. Vgl. generell und zu Cornell auch Carandini, A: Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 2002, 718 ff. Zu Cornell vgl. ferner Wiseman, T. P.: What Do We Know About Early Rome. Journal of Roman Archaeology (9) 1996, 310-315. 42 Einen kurzen Abriss der römischen Geschichte, aus dem die Epochengliederung deutlich hervortritt, bietet Bringmann, K.: Römische Geschichte. Von den Anfangen bis zur Spätantike. München 1995. Eine Differenz der römischen zur griechischen Gesellschaftstypik liegt auch in der epistemologischen Anthropologie begründet. Wird die These der Dominanz des Sehens in der griechischen Polis konstatiert, so drückt sich die römische Anthropologie der Erkenntnis in einer stärkeren Verknüpfung von Sehen und Hören aus, wobei vor allem auch das Hören eine größere epistemologische Bedeutung erhält. Vgl. dazu Vogt-Spira, G.: Der Blick und die Stimme: Ovids Narziß- und Echomythos im Kontext römischer Anthropologie. In Renger, A-B. (Hrsg.): Narcissmus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace. Stuttgart/Weimar 2002, 27-40 (mit Literatur). Zur Bilder-Macht im alten Orient vgl. auch Heinz, M.lBonatz, D. (Hrsg.): Bild-Macht-Geschichte. Visuelle Kommunikation im Alten Orient. Berlin 2002. 43 Uhlhom, G.: Die christliche Liebestätigkeit. Stuttgart 1895, 7 ff. Zu Uhlhorn vgl. auch Makowski, A: Diakonie als im Reich Gottes begründete Praxis unbedingter Liebe. Studien zum Diakonieverständnis bei Gerhard Uhlhorn. Münster 2001. Zur Liebes-Agape außerhalb des Christentums in der Antike vgl. auch Wischmeyer, 0.: Vorkommen und Bedeutung von Agape in der außerchristlichen Antike. Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 69 (1/2) 1978, 212-238.
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Sofern nun nicht nur elementare Strukturtypen der Gesellung angesprochen sind, sondern - mentalitätsgeschichtlich44 - auch Metamorphosen der Personalität, der Individualität als haltungs- und wahmehmungs- sowie erlebnisrelevante Gestaltform der menschlichen Persönlichkeit, entpuppt sich die Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft auch als kulturelle Anthropologie der Sozialisationsprozesse. Dann interessiert die subjektive Seite45 , die personale Rrlebensordnung der institutionellen Wandlungen, die Veränderungen in den Modalitäten der In- und Entkorporierung der menschlichen Persönlichkeit, der sinnhaften Einordnung des Menschen in den Kosmos symbolischer Ordnungen. 46 Es muss schon erstaunlich wirken, dass (was hier nicht zu rekonstruieren oder zu dokumentieren ist) auch ein groBer Teil der Soziologie der letzten 50 Jahre derartige Themen als zeitgeschichtlich-aktuelle Probleme in durchaus modischer Manier bearbeitet: z.B. als Themen wie: der "auBen- und innengelenkte" Mensch, die intrinsische und extrinsische Motivation, traditionale Sozialisationsmilieus versus Individualisierung und lebenslange Biographiearbeit etc. etc. Offensichtlich handelt es sich - vielmehr - um die zentralen Vorfragen einer jeden Soziologie, die sich eher der Sozialontologie zuordnen lassen47 oder als zentrale Kernthemen einer jeden Soziologie, die sich dann selbst aber als Teildisziplin der anthropologischen Wissenschaft einordnen müsste, verstehen lassen. So sind die Wurzeln des modem diskutierten Themas der Individualität Vgl. z.B. Meskell. L.: Private Life in New Kingdom Egypt. Princeton 2002. Wobei hier schon u. a. (neben den nach-exilischen Entwicklungsschüben im alten Israel) anzunehmen ist, dass die Individualisierungsschübe bereits im spätvorexilischen sozialen Wandel verwurzelt waren: vgl. aber auch Halpem. B.: Jerusalem and the Lineages in the Seventh Century B.C.E.: Kinship and the Rise of Individual Moral Liability. In Halpern, B.lHobson, D. W. (Hrsg.). Law and Ideology in Monarchic Israel. Sheffield 1991, 11-107). Auch sind schon die homerischen Wurzeln zu betonen. Kemper: "Die Analyse (... ) hat erwiesen, daß es bereits in der frühen Archaik ,Sittlichkeit aus eigener innerer Überzeugung' gegeben hat. Über die Menschen der Archaik darf also nicht pauschal geurteilt werden. Außerdem: Es ist zu ungenau, wenn bestimmte Zeitabschnitte in dem groben Raster ,Scharnkultur' und ,Schuldkultur' gedrängt werden. (... ) Weil die Wurzeln der griechischen Klassik in die griechische Archaik zurückreichen, kann von der , Entdeckung des Geistes' erst nach Homer nicht mehr die Rede sein." Vgl. Kemper, C.: Göttliche Allmacht und menschliche Verantwortung. Sittlicher Wert bei archaischen Dichtem der Griechen. Trier 1993, 139. Dagegen E. Rohde in seiner berühmten großen Studie über die "Psyche. Seelencult und Unsterblichkeit der Griechen" (hier: Erster und zweiter Band. Fünfte und sechste Aufl. Tübingen 1910, hier erster Band, 43): "Der Grieche Homers fühlt sich im tiefsten Herzen seine Bedingtheit, seine Abhängigkeit von Mächten, die ausser ihm walten; sich dessen zu erinnern, sich zu bescheiden in seinem Loos, das ist seine Frömmigkeit. Ueber ihm walten die Götter, mit Zaubers Kraft". 46 Vgl. Dux, G.: Historisch-genetische Theorie der Kultur. Weilerswist 2000. 47 Dazu die Überlegungen von Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 75-86. 44 45
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kulturgeschichtlich tief verankert. Mit besonderem Blick auf die personalen Korrelate des jüdisch-hellenistischen Synkretismus der christlichen Spätantike48 sei nur - die jüdischen Wurzeln seien hier noch nicht angesprochen49 - auf den "homerischen Menschen" verwiesen: Und die Literatur zur Psychologie des homerischen Menschen (des homerischen männlichen Helden) und der darauf aufbauenden griechischen Kultur ist umfassend; zu verweisen sei hier nur auf ältere wie neuere Studien wie etwa die von Böhme über "Die Seele und das Ich bei Homer,,5o oder auf wie die von Lehmann über "Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie,,51 und wie die von Oehler über "Subjektivität und Selbstbewusstsein in der Antike".52 Zum "Erwachen der Persönlichkeit in der ffÜhgriechischen Lyrik" wird man Snell heranziehen müssen 53 oder Dihle über "Die Vorstellung vom Willen in der Antike".54 Doch genug an dieser Stelle. Die orientalisch-jüdischen Wurzeln werden, wie gesagt, später nochmals aufzugreifen sein. 55 Die Frage einer mentalitätsgeschichtlichen Parallelentwicklung von Personalität und Innerlichkeit bei Homer ist aber von grundlegender Bedeutung: Denn angesprochen ist damit das "Mitleid,,56 als Grundlage sozialen HandeIns - hier dann in einer nicht-christlichen Wurzel.
48 Dazu in Anlehnung an die Kontroversen um Dodds, Peter Brown u. a.: SchulzNieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000: Kapitel 1.3: 20 ff. 49 Vgl. insbesondere Otto, E.: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002. 50 Vgl. Böhme, J.: Die Seele und das Ich im Homerischen Epos. Göttinger Diss. Berlin 1929. Vgl. ferner Snell, B.: Der Weg zum Denken und zur Wahrheit. Göttingen 1978 sowie Fränkel, H.: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. München 1962. 51 Lehmann, H.-T.: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart 1991. 52 Oehler, K.: Subjektivität und Selbstbewußtsein in der Antike. Würzburg 1997. 53 Snell, B.: Die Entdeckung des Geistes. 4., neubearb. Aufl. Göttingen 1975, hier 75 ff. 54 Dihle, A.: Die Vorstellung vom Willen in der Antike. Göttingen 1985. 55 Zur Kristallisation einer modernen Ethik aus den Rechtsquellen der Religion mit Blick auf die Vision eines Tun-Ergehens-Zusammenhangs im altorientalischen Kulturraum vgl. auch Otto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 194 FN 296. Vgl. auch Kaminsky, J. S.: Corporate Responsibility in the Hebrew Bible. Sheffield 1995. 56 Burkert, W.: Zum altgriechischen Mitleidsbegriff. Diss. Erlangen 1955. Die These wäre: Hier bereits - bei Homer - steht der Mensch anthropologisch in einer personalen Geschehensordnung von Bitte, Erbarmen und Klage, Schmerz und Trauer, Schuld und Unschuld. Burkert (147): "Alles dies deutet gemeinsam auf einen Fortschritt der Besinnung, der Reflexion." Vgl. ferner Konstan, D.: Pity transformed. London 2001.
IV. Vorstudien zum Themenkomplex und erste Befunde
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IV. Vorstudien zum Themenkomplex und erste Befunde Diesen Themenkomplexen ist der Verfasser bereits in einigen Vorstudien nachgegangen. Die vorliegende Abhandlung baut darauf auf und versucht einerseits einige Synthesen, andererseits einige neue Akzentsetzungen sowie umfassende Ergänzungen, insbesondere die "homerischen" und die "alttestamentlichen" Quellen betreffend. 57 In seiner Studie "Strukturelemente einer Ethnologie der medizinisch-pflegerischen Behandlungs- und Versorgungspraxis" (2003)58 hat der Verfasser in Kapitel 7 bereits eine Paraphrasierung der Fragestellungen und Analyseperspektiven versucht, die hier nochmals aufzugreifen und zu vertiefen ist. Der Verfasser hat diese Forschungsabsichten dargelegt und erste Ergebnisse vorgelegt u. a. 59 in den monographischen Abhandlungen "Zu einer archetypischen Morphologie der Sozialpolitik" (2000)60, "Gilden als ,totales soziales Phänomen' im Mittelalter" (2000)61, "Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften" (2000)62 sowie "Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung" (2002)63.
1. Archetypik der Sozialpolitik: Sakrales Königtum und Genossenschaft In seiner Abhandlung "Zu einer archetypischen Morphologie der Sozialpolitik" (2000) - erwachsend aus zwei Festschriftbeiträgen (in Festschrift für Lothar F. Neumann (2000)64 sowie in Festschrift für Max Wingen zum 57 Der Verfasser wird dabei stark auf die neo-evolutionistische Theorie des ProtoStaates zurückgreifen. Auch an der Analyse der (paulinischen) Gemeindebildung wird der Verfasser noch demonstrieren, wie fragil egalitäre Gesellschaften horizontalen Typs sind. Vgl. auch Kapitel C.l1. 58 Mit dem Untertitel: Eine Literaturanalyse, insbesondere zum Akutkrankenhaus als symbolisch geordneter Mikrokosmos. Weiden/Regensburg. 59 Vgl. etwa auch Schulz-Nieswandt, F.: Personale Lebenslagen in der Statuspassage. In Zeman, P. (Hrsg.): Selbsthilfe und Engagement im nachberuflichen Leben. Regensburg 2000, 15-28. 60 Mit dem Untertitel: Genossenschaft und sakrales Königtum. Weiden/Regensburg. 61 Mit dem Untertitel: Rechts- und religionsgeschichtliche Wurzeln der Genossenschaftlichkeit als Archetypus menschlicher Gesellung im Lichte ethnologischen Vergleichsmaterials. Weiden/Regensburg. 62 Ohne Untertitel, erschienen in Weiden/Regensburg. 63 Mit dem Untertitel: Moralökonomische, kulturanthropologische und tiefenpsychologische Aspekte einer Analyse des Gabemechanismus der Sozialversicherung im morphologischen Vergleich zur Sozialhilfe. Weiden/Regensburg. 64 Schulz-Nieswandt, F.: Kulturanthropologische, ethnologische und kulturgeschichtliche Aspekte einer Universalität von Sozialpolitik. Zwischen Anthropologie
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70. Geburtstag (2000)65) - versteht der Verfasser Genossenschaft und Sa-
kralkönigtum als die strukturalen Urformen sozialer Politik - und der Gesellung überhaupt. Die Abhandlung destilliert aus (nur z. T. dort dokumentierten) anthropologischem, ethnologischem und kulturgeschichtlichem Material diachronisch wie synchronisch in skizzenhafter und hypothesenorientierter Weise sozialpolitische Gebilde in Kovarianz zu zwei Archetypen 66 der sozialen Organisation: Genossenschaft und sakrales Königtum. Eine sozialarchitektonische Vektorenlehre - Horizontalität, Vertikalität und Temporalität - fungiert hierbei generativ als Tiefengrammatik einer historisch-empirischen Phänomenologie der Gesellungsformen und der sozialpolitischen Gebilde. Sie figuriert zugleich als strukturale Vektorik einer historischen Anthropologie/Ethnologie des Politischen. Die Arbeit stellt - darüber hinaus - damit einen morphologischen Beitrag zum Verständnis der Sozialpolitik als conditio humana, also als ubiquitäre und konstitutive Praxis der menschlichen Existenz und Daseinsbewältigung dar. Die Suche nach den (archetypischen) Urformen der Gesellung und der sozialen Hilfe bzw. der sozialen Risikogemeinschaften entdeckt den Menschen als homo reciprocus, der, religionsgeschichtlich erwachsend aus dem homo necans und gekoppelt an den homo festicus, zur Erkenntnis der allgemeinsten Funktionsvoraussetzung auch moderner und komplexer sozialer Risikogemeinschaften und Umverteilungsmechanismen führt. Der Ursprung des Teilens im Opferkult und in der Mahlgemeinschaft: Das ist die religionswissenschaftliche Hauptthese der Studie, auf die allerdings in der vorliegenden Arbeit nicht nochmals intensiv, sondern nur in Randbemerkungen (etwa zur frühgriechischen Kultgenossenschaft oder zur alttestamentlichen Festopferpraxis) zurück zu kommen sein wird. Ohne ein eigenes Kapitel zur Anthropologie und zur Kulturgeschichte der Opferpraxis vorzulegen, darf der Verfasser betonen, dass dieser Hinweis keinesfalls als von marginaler Bedeutung missverstanden werden darf: Der Verfasser begreift die Sozialpolitik - zugespitzt formuliert - in der Mahlgemeinschaft fundiert, die in der opfer-vermittelten Kommunikation zwischen Mensch und Gott verwurzelt ist. Denn in dieser Kommunikation thematisiert der Mensch eine "neue" Welt, rituell - kultförmig - praktiziert als Gemeinschaftsmahl, aus dem sich Mahlgemeinschaften kulturbildend als Gesellungsformen generieren. und Phänomenologie der Formen. In Jens, U./Romahn, H. (Hrsg.): Sozialpolitik und Sozialökonomik. Festschrift für Lothar F. Neumann. Marburg 2002, 115-130. 65 Schulz-Nieswandt, F.: Von der Familie zur Gemeinde. Eine historisch-anthropologische Perspektive und einige Befunde aus der Ethnologie und Kulturgeschichte zur Archetypik der Genossenschaftlichkeit menschlicher Gesellung. In Jens, B. u. a. (Hrsg.): Farnilienwissenschaftliche und farnilienpolitische Signale. Max Wingen zum 70. Geburtstag. Grafschaft 2000, 111-118. 66 Dazu vgl. u. a. Schulz-Nieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000, 26-29.
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2. Gilden im Mittelalter und kulturelle Analogien Die Monographie "Gilden als , totales soziales Phänomen' im Mittelalter" gibt einen verdichteten Überblick über den Stand der Hypothesen der deutschen mediävistischen Gildenforschung67 , vertieft aber den dort implizit vorhandenen anthropologischen Zugriff auf die Gilden als aus sakral-kultischen Tischgenossenschaften und Mahlgemeinschaften sich kristallisierende Organisationsgebilde mit Aspekten gegenseitiger sozialer Hilfe. Die Analyse knüpft an die neuere Renaissance der Genossenschaftsrechtsgeschichte von Otto von Gierke an und blickt so auf die in der Gildengeschichte zum Ausdruck kommende Dialektik von Genossenschaft und Herrschaft. Die Arbeit stellt somit einerseits einen Beitrag zur Anthropologie der Sozialpolitik dar, andererseits eine Studie zur Frühgeschichte des Genossenschaftlichen. Ethnologisches und historisches Vergleichsmaterial, das herangezogen wird, verstärkt die Möglichkeit, Gilden transverwandtschaftlich - wenngleich oftmals in der Terminologie fiktiver Familialität der Bruderschaftlichkeit fundiert68 - im morphologischen Übergang zur Gemeindebildung, definiert über die Nähe des Wohnens und die Dichte der sozialen Interaktionen, zu thematisieren. 69 (Hier ist die thematische Nähe zur ländlichen Dorfsoziologie der Theorie der Proto-Staatlichkeit signifikant.) Die zentrale religions-, aber auch rechts geschichtliche Hypothese der Arbeit lautet: Die versicherungsgeschichtlichen Elemente der Gildengeschichte (sozialpolitischer Aspekt der Untersuchung) haben ihren Ursprung in kultgenossenschaftlichen Kontexten: Der Mensch ist als homo reciprocus zunächst immer auch ein homo festicus. Im Vordergrund stehen weniger Bemühungen um die Nachzeichnung einer historisch-evolutorischen Genese, sondern vielmehr - als Suche nach Analogien - die Destillierung des struktural-anthropologischen Kerns: archetypische Formen der - uno actu zu begreifenden - genossenschaftsartigen Gesellung und der reziprozitätsorientierten sozialen Hilfe. Insofern ordnet sich die Analyse in die neuere Renaissance der Genossenschafts- und Körperschaftslehre von Otto von Gierke ein, von der bereits die Sprache war und wonach die Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft konstitutiv (nicht nur: vgl. Kapitel C.V.) für die europäische Geschichte war - und ist. Und auch die Mythologie ist aktuell nicht irrele67 Wobei die Literatur weiterhin anwächst. Vgl. etwa Haupt, H.-G. (Hrsg.): Das Ende der Zünfte. Ein europäischer Vergleich. Göttingen 2002. 68 Das wird eine der Parallelthesen zur "homerischen" und zur "alttestamentlichen" Gesellschaft der Zeit vor der Polis bzw. der Zeit vor der Monarchie sein. Der strukturgeschichtliche Kontext ist großräumiger Art und kennzeichnet das 12. Jahrhundert: Vgl. Musti, D. u.a. (Hrsg.): La transizione dal Miceneo all'alto Arcaismo. Dal palazzo alla citta. Rom 1991. 69 Vgl. dazu auch Beiträge in Egelhaaf-Gaiser, U./Schäfer, A. (Hrsg.): Religiöse Vereine in der römischen Antike. Tübingen 2002.
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vant; viele Mythen - psychomythologisch wirksam - werden aktuell real in den typischen Lagen der menschlichen Individualpsyche, wenn es darum geht, den lebenszyklischen Entwicklungsaufgaben passungsfähig gerecht zu werden?O 3. Strukturale Anthropologie: Helfen und Vergemeinschaftung von Risiken In den "Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften" wird - der Gilden-Studie parallelisiert - die Grammatik der sozialen Evolution wiederum als Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft als Gegen-, Mit- oder Nebeneinander analysiert. Dieser Morphologie korrespondiert eine Geschichte der Personalitätsformen des Menschen, eine Dialektik unterschiedlicher Mentalitäten, die auf zwei Grundformen reduzierbar ist: der sich horizontal und der sich vertikal orientierende Mensch. 7l Die Theorie der inkorporierten Persönlichkeit des Menschen (etwa im Alten 72 und Neuen Testament73 ) kann auch aufdecken, wie sehr soziale Fragen immer auch Mentalitätsfragen sind. Die Studien analysieren - die Wirksamkeit binärer Codes betreffend - Aspekte dieser Dialektik der institutionellen Formen und der Mentalitäten im Rahmen einer struktural und zugleich personologisch fundierten Historischen Anthropologie (anknüpfend an die Debatte um eine zivilisatorische "Achsenzeit" im weltweiten - hochkulturellen Altertum). 70 Vgl. in Schulz-Nieswandt, F.: Strukturelemente einer Ethnologie der medizinisch-pflegerischen Behandlungs- und Versorgungspraxis. Weiden/Regensburg 2003. 71 Dazu vgl. Schulz-Nieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000, nämlich Kapitel 2: "Raumbildungskorrelate der sozialpolitischen Archetypen", 35-52, fortgeführt in Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 21-23 sowie in Schulz-Nieswandt, F.: Strukturelemente einer Ethnologie der medizinisch-pflegerischen Behandlungs- und Versorgungspraxis. Weiden/Regensburg 2003, dort: "Exkurs: Vertikale Sinnesorientierung und Dominanz des Hörens als Äquivokationen der Hierarchie. Historischanthropologische Anmerkungen". Mit Blick auf das dortige Kapitel 3 vgl. insbesondere die raum- und wahrnehmungstheoretisch orientierten Beiträge in Egelhaaj-Gaiser, U./Schäjer, A. (Hrsg.): Religiöse Vereine in der römischen Antike. Tübingen 2002. 72 Jedoch bleibt das Theorem der vergesellschafteten bzw. inkorporierten Persönlichkeit ("corporate personality") in der alt-israelitischen Geschichte von H. W. Robinson (Corporate Personality in Ancient Israel. Revised Edition. Philadelphia 1980) kontrovers hinsichtlich der Individuation (vgl. auch J. W. Rogerson: The Hebrew Conception of Corporate Personality. In Journal of Theological Studies (21) 1970, 1-16; J. W. Rogerson: Anthropology and Old Testament. Oxford/Atlanta 1979, 55 ff.). 73 Vgl. u.a. Malina, B. J.: Die Welt des Neuen Testaments. Kulturanthropologische Einsichten. Stuttgart u. a. 1993.
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4. Ethnologe der Medizin und Pflege: Kulturelle Codes und aktuelle Praxis An diesen personologisch orientierten Fragestellungen knüpft auch die bereits angeführte Monographie ,,strukturelemente einer Ethnologie der medizinisch-pflegerischen Behandlungs- und Versorgungspraxis" (2003) an. Der Zusammenhang ist evident: Die elementaren Kategorien dieser Urformenlehre sozialer Politik und Gesellung sind nämlich sowohl institutionenals auch mentalitätsbezogener Art. Ubiquitäre Vektoren bzw. Bausteine auf dieser historisch-anthropologischen Ebene sind: Hierarchie versus horizontale Egalität (Herrschaft versus Genossenschaft), Symmetrie versus Asymmetrie in den Reziprozitätsbeziehungen, Zentralität versus Dezentralität, Zentrum und Peripherie, Föderalität und Subsidiarität, Personalität und Korporativität des Menschen, Strukturtypen der Zeit (Linearität, Zirkularität) u.a.m. Die Studie trägt Forschungsliteratur zusammen, um die verschiedenen Institutionen des medizinisch-pflegerischen Versorgungssystems ethnologisch zu verstehen, also als eigene Kultursysteme, als symbolisch geordnete Mikrokosmen, die - akteurs getragen, aber in der (monadologisch-cartesianisehen, auch nicht spieltheoretisch überwindbaren) Akteursbezogenheie4 nicht vollends aufgehend - zu erklären sind. Die Handlungen der Akteure in diesen Ordnungen sind kulturell codiert und sozial strukturiert. Es interessieren die kulturell codierten und sozial strukturierten Kommunikationsund Kooperationsprozesse der beteiligten Professionen bzw. Akteure (Patienten, Angehörige), die ja die Mechanismen darstellen, über die vermittelt das medizinische und pflegerische Leistungsgeschehen im eigentlichen Sinne realisiert werden. Daher schließt der strukturale Blick, der den ethnologischen Betrachtungen zugrunde liegt, eine Analyse der Haltungen und Einstellungen nicht aus. Das begründet sich in der Auffassung des Verfassers, dass eine strukturale Anthropologie einer tiefenpsychologisch fundierten personologischen Analysedimension nicht widerspricht - im Gegenteil. Eine strukturale De-Zentrierung des Subjekts erfordert vielmehr eine ernstzunehmende theoretische Rolle der personalen Dimension des Geschehens: Die systemischen Ablaufprozesse implizieren immer auch eine personale Geschehensordnung. Insofern realisieren sich die Strukturen als generative Tiefengrammatik prozessualen Geschehens über die Haltungen und Einstellungen der Personen. Eine Grammatik des Sozialen und eine strukturbildungsrelevante und lebenszyklisch orientierte Individuationsproblematik der menschlichen Person schließen sich demnach keineswegs aus. Anknüpfend an den eingangs formulierten anthropologischen Prolog gilt vielmehr: Sie 74 Vgl. Reckling, F.: Interpretative Handlungsrationalität. Intersubjektivität als ökonomisches Problem und die Ressourcen der Hermeneutik. Marburg 2002.
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gehören zusammen, was aber wohl im Lichte des lingual-kognitiven Dispositivs des Cartesianismus nicht fassbar wird. Der hier dargelegte ethnologische Blick auf das Medizin- und Pflegegeschehen erweist sich somit als Versuch der Integration strukturaler Kulturanthropologie und psychoanalytisch-tiefenpsychologischer Personologie daseinsphilosophischer Art. So bedeutet dieser theoretische Blick auch, dass die orientalischen Wurzeln der europäischen Kultur in den Blick geraten. Die Abhandlung zur Ethnologie der Medizin und Pflege unternimmt diese kultursynkretistische Sichtweise in verschiedenen Kapiteln in unterschiedlich langen und sicherlich insgesamt nur ansatzweise gelingenden Passagen. Die dortige Sichtweise drückt sich darin aus, dass die Ethnologie des Medizin- und Pflegegeschehens in Termen der proskynetischen Wohltätigkeit und der asymmetrischen Hilfeform betrieben wird. Der Begriff der Proskynese, der kniefälligen Huldigung des Herrschers, verweist auf die politisch-staatliche Herrschaftsdimension früher Hochkulturen, die soziale Ordnungen und soziale Interaktionssysteme sakral fundiert haben. Noch mit Blick auf aktuelle Asymmetrien in Medizin und Pflege sind die kulturellen Tiefenstrukturen sakralisierter Formen des Heilens und Helfens zu entdecken. Mit dem Term der asymmetrischen Hilfeform werden derartige Metamorphosen der impliziten Gabebeziehung aufgedeckt. Die moderne Medizin und Pflege erweisen sich als Gestaltformen archaischer Sozialtypik, mithin als moderne Formen einer ritualisierten Praxis liturgischer Produktion. Der Urcode von Medizin und Pflege ist demnach die elementare zwischenmenschliche Dyade, wie sie aus der Brutpflege und der Mutter-KindBeziehung evolutionär gegeben ist. Das soll an dieser Stelle entwicklungspsychologisch wie evolutionsbezogen nicht näher dargelegt und entfaltet werden. Allein es gilt: Paternalistische Medizin und Pflege verkörpern diese Asymmetrie, nicht nur verborgen, sondern explizit und in symbolischer Praxis. Heilen und Helfen - "von oben" herab, auf den Patienten kommend, eine Epiphanie des Göttlichen oder des göttlichen Prinzips: der Liebe. Und hier kann dann auch die mentalitätsgeschichtliche Perspektive an die institutionengeschichtlichen Betrachtungen der sozialen Politik wieder anschließen. Denn der diakonische Gedanke des Frühchristenturns durchlief ja bereits jene Formtransformation (vgl. Kapitel C.U.). Ursprünglich genossenschaftsartig orientiert, indem Anlehnungen an den hellenistischen Kontext des (kultgenossenschaftlichen) Vereinswesens (aber auch an die jüdische Synagoge) sowie an häusliche Gastfreundschaft nahelagen, wirken andere kontextuelle Diskurse und Praktiken synkretistisch auf das frühe Christentum ebenfalls ein: Kaiserkult, Euergetismus und Patronage-KlientilismusSysteme, christologische Hoheitstitel, mitunter pharaonischen Ursprungs u. a. m. Das Christentum patriarchalisierte sich stärker, vor allem hierarchisierte es sich, es nahm jene Züge der vertikalen Barmherzigkeit an, die
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Bolkestein in seiner klassischen Studie "Wohltätigkeit und Annenpflege im vorchristlichen Altertum" (1939) als typenbildend für die soziale Politik im gemeinorientalischen Sakralkönigtum annahm. Daran leidet die Welt heute noch. 5. Soziale Krankenversicherung und Sozialhilfe: ekklesiatische Risikogemeinschaft versus proskynetische Wohltätigkeit Die monographische Arbeit "Zur Genossenschaftsartigkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung" demonstriert die bereits dargelegten Perspektiven im morphologischen Vergleich von gesetzlicher Krankenversicherung und Sozialhilfe. Die hinter dem Leistungs- oder Versorgungsgeschehen stehenden Hilfe- und Sicherungssysteme des Sozialstaates sind einerseits sehr verschieden, andererseits beruhen sie alle hinsichtlich ihrer Funktionsfahigkeit sowie hinsichtlich ihrer henneneutikfahigen Logik auf einem zentralen Kern: der Gabe - oder: auf einer Ökonomik des Gebens und Nehmens, auf einer Moralökonomie. Diese Gabe differenziert sich in verschiedene Varianten. Ihre differentielle Grammatik zu beschreiben ist der Gegenstand dieser Abhandlung zur gesetzlichen Krankenversicherung und - vergleichend - zur Sozialhilfe. Erst durch die kulturanthropologischen und tiefenpsychologischen Studien konnten zwei geradezu archetypische Fonnen der Sozialpolitik evident werden: die vertikal-herrschaftliche und die horizontal-genossenschaftsartige Urfonn. Diese beiden Urfonnen, die sich also heute noch spannungs voll aufeinander beziehen lassen im Streit um die Sozialversicherungslösung versus der Sozialhilfestrategie, lassen sich auf den Punkt bringen, indem - einigen religionswissenschaftlichen Charaktennerkmalen der Studie folgend - zwischen dem ekklesiatischen und dem proskynetischen Grundcharakter beider Fonnen der Sozialpolitik unterschieden werden kann. Der proskynetische Typ ist als implizite Ikonographie der Sozialhilfe herausgearbeitet worden. In der Sozialhilfe vertikalisiert sich der Gabemechanismus, wird asymmetrisch und folgt dem vassalistischen Typus der vorstaatlichen Herrschaft von (monetärem) Schutz und (arbeitsangebotsorientiertem und qualifizierungsbereitem) Folgegehorsam, wie er seine historischen Wurzeln in der orientalischen Reichsidee und im vor-staatlichen europäischen feudalen Lehnssystem (als Patronagesystem, dessen morphologische Vielfalt - zu denken ist an den römischen Klientilismus oder an das anti-staatliche Mafiasystem - bekannt ise s) hat. Die Gabe wird bedingt. Sie 75 Vgl. dazu Wal/ace Hadrill, A. (Hrsg.): Patronage in Ancient Society. London 1989. Mit Blick auf bestehende Forschungsdesiderate kommt der Verfasser abschließend (vgl. Teil D.) nochmals auf die Bedeutung von Patronage zurück.
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verliert ihren generalisierten Universalismus, wird post-paulinisch76, was gesellungs-anthropologisch, nicht theologisch gemeint ist. Die horizontale, generalisiert-reziprozitätsökonomische Risikogemeinschaft des gildenförmigen Sozialversicherungstyps hat dagegen seine Wurzeln vielmehr im Typus der paulinischen Christengemeinde, vielfältigen Formen der Gilden, der Kultgenossenschaften, der bündischen Vereine etc. struktural-analytisch verwandt. Daher wird hier vom ekklesiatischen Charakter gesprochen, liturgiemorphologische Themen aber ausklammernd und terminologische Details (etwa das Verhältnis zur Koinonia77) vermeidend. Ekklesiatisch ist diese Gemeindebildung, da es sich gildenförmig um eine Gesellungsform handelt, die sich über die Nähe des Wohnens und der Dichte der sozialen Interaktion definiert, deren innere Kohäsion im Alltag vom Diakoniegedanken getragen ist, mithin dergestalt in spezifischen Werthaltungen und Einstellungen wurzelt. Kulturgeschichtlich mag kontrovers bleiben, ob in dieser universalistischen Ethik eine wurzellose Neuheit des Ur- und Frühchristenturns begründet liegt, oder ob nicht vielmehr vieles auch gemeinorientalisch-jüdische78 , somit alttestamentliche sowie kultursynthetisch-hellenistische Wurzeln hat, zumindest auch komparatives Material im Kulturvergleich findet. Wie auch immer. Die reziprozitätsökonomische Moral in ihrer generalisierten Form begründet hier die gemeindliche Gesellung und ist insofern dem horizontalen Typus der Risikogemeinschaft zuzuordnen. Diese europäische Ausgangsform kannte aber sowohl das kollektivguttheoretische "moral hazard"-Problem in praxi als auch die euergetistische Verursachung der Hierarchisierung und der Elitenabkoppelung. Die spätere Hierarchisierung der Gemeinde zur anstaltsförmigen (um in der terminologischen Tradition von Max Weber und Troeltsch zu bleiben) Kirche - auch als eine mentale (basilikale, später kathedralische) Transformation - widerspricht daher dieser Einschätzung nicht, sondern resultiert u. a. aus der Kohäsionsproblematik wachsender Komplexität großer Gruppen, ein Inklusions-Problem, das sich ja bereits gemeindeübergreifend am Thema der Kollekte79 im Frühchristenturn abzeichnete. Diese Anmerkung ist ernüchternd. Eine total genossenschaftliche Organisation von Gesellschaft und der 76 Wenngleich bereits bei Paulus die Hierarchiebildung des Katholischen angelegt ist (von der Max Weber später als Anstaltskirche sprach), ein Zusammenhang, der in Abschnitt C.II. aufgegriffen wird. 77 Vgl. etwa in Merklein, H.: Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 1-4. Gütersloh/WÜfzburg 1992. Vgl. auch die Literatur in Schulz-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000, dort: "Exkurs: Ekklesia und Koinonia, Eucharistie und Agape", 30-32. Dazu mehr in Kapitel 3. 78 Vgl. Agus, A. R. E.: Das Judentum in seiner Entstehung - Grundzüge Rabbinisch-Biblischer Religiosität. Stuttgart u. a. 200 1, 56 ff. (zur Person als Ich).
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sozialen Sicherung wird (in einem nicht-hoffnungsvollen Sinne) utopisch bleiben. Schon Gierke hatte konstatiert, dass man morphologisch eine ewige Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft wird annehmen müssen. Die Geschichte der Menschen und der menschlichen Gesellungen bleibt unter körperschaftsrechtsgeschichtlichen Erwägungen ein ewiges Ringen um die Formen des Mit-, Neben- und Gegeneinanders von Herrschaft und Genossenschaft80 - auch in der Sozialpolitik. Der aktuelle Streit um die Selbstverwaltung des staatsmittelbaren Sektors ist mit seinem widerspruchsvollen Weg in die genossenschaftliche Herrschaft nur eine Episode.
6. Die Gabe Der elementarste Ursprung der Gesellung und der sozialen Politik glaubt der Verfasser im Opferkult als Wurzel des Teilens und der Gesellung zu finden (vgl. vom Verfasser: "Die Gabe - Der gemeinsame Ursprung der Gesellung und des Teilens im religiösen Opferkult und in der Mahlgemeinschaft", in: Zeitschrift für Sozialreform 47 (1) 2001, 75-92). Der Verfasser hat im Potlatsch-Phänomen auch der Hypothese nachgespürt, ob in solchen Ritualen nicht auch soziogenetische Ursprünge umverteilender Risikogemeinschaften begründet sein können ("Der Potlatsch: Sozialpathologie des Agonalen oder Übergangsphänomen der Gabe zum vertikalen Ressourcenpooling?", in: ders. (Hrsg.) Festschrift für W. W. Engelhardt zum 75. Geburtstag. 2001, 99_108 81 ). Das wird nochmals mit Blick auf das Deuteronomium (in Kapitel B.II.4.) aufzugreifen sein82 • Derartige Fragen nach gaberituellen Ursprüngen sozialer Sicherungssysteme sind grundsätzlich nicht von der Hand zuweisen, wie eine Reihe neuerer ethnologischer Studien zeigen konnten. 83 Diese neuere ethnologische Feldforschung hat aber auch aufdecken können 84, wie duale Ordnungen und ihre binär codierten Korre79 Dazu mehr in Kapitel C.U. Vgl. aber bereits jetzt u.a. Georgi, D.: Der Armen zu Gedenken. Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem. 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Neukirchen/Vluyn 1994. 80 In der neueren Globalisierungsdebane bleibt es theoretisch durchaus offen, ob es zu einer neuen Auf- oder einer erneuten Abwertung der Dörfer (der Lokalität und Regionalität) kommt. 81 Zur Bildung vertikaler Re-Distributions systeme vgl. auch Schu/z-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 44-48. 82 Vgl. auch Dtto, E.: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002, 19: "Die kultische Integration ,Israels' als festliche Mahlgemeinschaft unter Einschluß der Landlosen, Armen und Schutzbedürftigen begründet das Ethos geschwisterlicher Solidarität". Und so setzt das dtn Reformprogramm der realen Gesellschaft "ein Solidarethos entgegen" (Dtto, E.: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002, 19).
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late asymmetrische Fonnen aufweisen können, so dass es zur Ausbildung hierarchischer Systeme oder von Dominanzordnungen kommen kann. 85 Der homo hierarchicus ist demnach gleich ursprünglich wie der homo reciprocus. Damit ist wiederum das Thema der Transfonnation horizontal-reziproker Beziehungen zu Patronage-Systemen klientilistischer Art angesprochen, grundsätzlich (vgl. auch D.) das Problem des Ursprungs von Herrschaft. Die nachfolgenden Studien86 satteln (vgl. dazu auch die Struktur der Teile A. und B.) vor allem in der Analyse der großen Transfonnationen, die geradezu achsenförrnig im Zeitraum der "Dark Ages" (1200 bis 800 v. Chr.) im gesamten Mittelmeerraum stattfanden. Das frühe Christentum, das zum Ausgangspunkt der weiteren synkretistischen Entwicklung Europas 87 wird, wurzelt in diesen Kulturbildungen, die sich nach 800 v. Chr. etablierten. Dem Deuteronomium und seiner Sozialgesetzgebung und damit dem altorientalischen Raum insgesamt kommen dabei die Funktion zu, eine ursprüngliche Mitte der gesamten weiteren Entwicklung darzustellen. Nicht nur ist das Deuteronomium selbst die "Mitte" der Tora88 ; und obwohl sie 83 Vgl. etwa Klocke-Daffa, S.: "Wenn du hast, musst du geben". Soziale Sicherung im Ritus und im Alltag bei den Nama von Berseba/Namibia. Münster u. a. 200l. 84 Vgl. Forth, G.: Dualism and Hierarchy. Processes of binary combination in Keo Society. Oxford/New York 200l. 85 Vgl. auch (mit ethnologischem Material) Carandini, A: Die Geburt Roms. (Düsseldorf/Zürich 2002, 748), zu Eturien ab der frühen Eisenzeit, u. a. in Auseinandersetzung mit Bieui Sestieri, AM.: Italy in Europe in the Early Iron Age. Proceedings of the Prehistoric Society (63) 1997, 371 ff. 86 Vgl. auch die umfangreichen älteren Gliederungsentwürfe in Schulz-Nieswandt, F.: Kulturanthropologische, ethnologische und kulturgeschichtliche Aspekte einer Universalität von Sozialpolitik. Zwischen Anthropologie und Phänomenologie der Formen. In Jens, U./Romahn, H. (Hrsg.): Sozialpolitik und Sozialökonomik. Festschrift für Lothar F. Neumann. Marburg 2002, 115-130 sowie in Schu/z-Nieswandt, F.: Von der Familie zur Gemeinde. Eine historisch-anthropologische Perspektive und einige Befunde aus der Ethnologie und Kulturgeschichte zur Archetypik der Genossenschaftlichkeit menschlicher Gesellung. In Jens, B. u. a. (Hrsg.): Familienwissenschaftliche und familienpolitische Signale. Max Wingen zum 70. Geburtstag. Grafschaft 2000, 111-118. 8? Vgl. auch Crone, P.: Die vorindustrielle Gesellschaft. Eine Strukturanalyse. München 1992; 180; ferner BartleU, R.: Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. München 1996, 1l. 88 OUo, E.: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002, 1 ("Dem Deuteronomium kommt die Rolle eines Schlüssels für die Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel und damit für die Rekonstruktion der Religionsgeschichte Israels und Judas zu.") und 4: "So zeigt sich, daß es (das Deuteronomium - F.S.-N.) der Schlüssel für die Literaturgeschichte des Pentateuch ist, da es zusammen mit der Priesterschrift Wiege von Hexateuch und Pentateuch ist." Auf die Deuteronomiumsforschung insgesamt ist in
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weltgeschichtlich zwar nicht die einzige bewundernswerte Quelle der frühen menschlichen Modernität einer Gesellschaft universalistischer Ethik ist (zumal sie nicht ganz widerspruchsfrei konzipiert ist - ein dialektisches Problem einer jeden monotheistischen Religion 89), muss sie aber als eine gestaltkräftige Erscheinung, die für die europäische Sozial- und Mentalitätsgeschichte sehr wichtig werden sollte, eingeschätzt werden. 9o Das Deuteronomium setzt etablierte soziale Klassenverhältnisse voraus, aus denen heraus typische Sozialkonflikte und soziale Problemlagen entstehen. Insofern ist die universalistische Ethik der Versuch einer verhaltensorientierten normativen Gegensteuerung in einer Welt etablierter Herrschaft. Das Zeitalter - vielleicht auch nur als mythisches Zeitalter - einer naturwüchsigen Bruderschaftsethik ist vorbei; sie war - wenn überhaupt, dann nur kurzweilig gebunden an genossenschaftliche Formen der Siedlungsweise, die ja schließlich auch nicht frei von zwischenmenschlichen Konflikten waren. Und sie ging schnell im Kontext steigender sozialer Komplexität unter. In interessanter Weise liegt mit der deuteronomischen Sichtweise eine Parallele zur frühgriechischen Polis-Bildung vor. Denn in geometrischer Zeit, dort, wo die klassische Polis archaisch wurzelt, kristallisierte sich infolge der Devolution der Sozialstruktur der post-mykenischen Zeit das homerische Protoplasma, aus dem der griechische Weg geboren wurde. 91 Auch hier gingen genossenschaftliche Formen voraus und begleiteten die Entstehung der Polis; und die Selbstverwaltung der städtischen, aber letztden vorliegenden Arbeiten kompetent nicht einzugehen; E. Otto (Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002, 7) bescheinigt ihr einen desolaten Zustand. Für die Verfasser erscheint diese Forschung zunächst einmal schlicht fast undurchdringbar. 89 Vgl. etwa aus feministischer Kritikperspektive Wacker, M.-Th.: Feministischtheologische Blicke auf die neuere Monotheismus-Diskussion. In Wacker, M.-Th.! Zenger, E. (Hrsg.): Der eine Gott und die Göttin. Gottesvorstellungen des biblischen Israel im Horizont feministischer Theologie. Freiburg i. Br. u. a. 1991. 90 Otto, E.: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002, 93 ("Entwickelte das Deuteronomium ein Gegenmodell Politischer Theologie zur neuassyrischen Königsideologie, so mußte es entsprechend auch Auskunft über die sozialen Konsequenzen dieses Gegenmodells geben, und das geschah mit der Entwicklung einer Geschwisterethik sozialer Verantwortung des ganzen Volkes für die Schwächeren unter Einschluß der Fremden, wobei sich auch der Gedanke der Gleichheit der Geschlechter Bahn brach. So war in der neuassyrischen Krise der spätvorexilischen Zeit ein auch literarisch festes Fundament im Deuteronomium gelegt, um die spätbabylonische Krise des Exils und die Zeit der Restauration unter achämenidischer Herrschaft zu bestehen.") sowie 166 mit Bezug zur Bundestheologie (dazu auch 129, 268 f. sowie 273, dort wiederum mit Bezügen zum Dekalog). 91 Vgl. auch Hölkeskamp, K.-H.!Stein-Hölkeskamp, E.: Die Dark Ages und das archaische Griechenland. In Gehrke, H.-J.!Schneider, H. (Hrsg.): Geschichte der Antike. Stuttgart/Weimar 2000, 17-96.
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endlich ländlich-agrarisch verwurzelten Bürger basierten auf einer segmentierten Oikos-Wirtschaft, die sich aber regional bündelte durch Reziprozitäten, die eine horizontale Verflechtung der Gegenseitigkeit ermöglichten, gleichwohl angesichts der immer mitzudenkenden aristokratischen Wesenszüge dieser maskulinen und agonalen Gesellschaft (hier in akzentuierter Differenz zunächst zur römischen Elite) zur Ausbildung von Herrschaft neigte. Immer wieder setzte sich das monarchische Prinzip als der Archetypus der Herrschaft durch, mit seinen sakralen, aber auch patriarchalischen Elementen. So sehr sowohl das deuteronomische Weltbild der alten hebräischen Gesellschaft als auch die griechische Polis Ausdrucksformen intellektueller, mentaler, vor allem auch moralischer Modernisierung waren und insofern kognitive Revolutionen - dort die theologische Ethik und hier die politische Theorie - einleiteten, in institutioneller Hinsicht stellen beide kulturelle Entwicklungen einen jeweils konkreten Fall der Dialektik des Gegen-, Mit- und Nebeneinanders von Herrschaft und Genossenschaft dar und zwar in beiden Fällen von weltgeschichtlicher Bedeutung. Es gibt viele andere Beispiele dieser Dialektik in der Menscheitsgeschichte - einige werden auch aufgegriffen, andere gestreift. Doch die kulturellen Systeme, die sich in der Ägäis und in Palästina - jeweils in Interaktion mit ihren Umwelten und auch in Interaktion zu einander - entwickelten, sind von weltgeschichtlich herausragender Bedeutung. Insofern - und darauf kam es dem Verfasser mit diesen kurzen Bemerkungen an - werden beide Fälle in Kapitel B.U. und B.III. die Hauptkapitel der vorliegenden Abhandlung darstellen. Dies gilt hinsichtlich der quantitativen Proportionen; dies gilt aber auch hinsichtlich einer im Lauf der Lektüre immer deutlicher werdenden kapitelübergreifenden Achse. Das Ringen einer Uridee der genossenschaftlichen Seinsweise des Menschen angesichts eines sozialen Komplexitätswachstums, die zur Herrschaft führte, ist die "Mitte", um die sich die ganze Abhandlung dreht. Die Kapitel c.1. bis C.V. skizzieren "nur" noch - und zwar knapper (und noch dichter) - den europäischen Pfad, der in die Neuzeit führt, aber ihre ursprünglichste Grammatik im altorientalischen Raum hat. Teil D. wird dann als Schlusskapitel - das meint die entlehnte Begrifflichkeit der Destillate - ein Fazit ziehen, aber auch offene Fragen ansprechen, die sich um die notwendige Theorie des Ursprungs von Herrschaft zentrieren.
B. Die vorchristlichen Wurzeln: die Archetypen der "alttestamentlichen" und "homerischen" Gesellschaft Dieser Teil B. handelt von Archetypen \ also von Urformen, die sich historisch immer wieder - phänomenologisch differenziert - aktualisieren. Wenngleich von Wurzeln die Rede ist, so ist kein soziogenetischer Kontinuitätsprozess impliziert. Vielmehr kreieren die Menschen in den verschiedenen historischen und kulturellen Räumen immer wieder neu Institutionen, die einen struktural verwandten Kern aufweisen. Gleichwohl ist eine kulturelle Erbschaft als Wirkung eines kollektiven Gedächtnisses nicht ausgeschlossen, wird aber in der vorliegenden Studie nicht zwingend vorausgesetzt.
I. Die Verwurzelungen im "Dark Age" (1200-800 v. ehr.) im gesamten Mittelmeerraum Die Transformation spät-bronzezeitlicher in fruh-eisenzeitliche Zeit im gesamten Mittelmeerraum2 ist eine Schlüsselepoche für das Verständnis der Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft - bis hinein in die Kristallisation eines europäischen Entwicklungspfades komplexer Gesellschaften, die ihre eigene Achsenzeit im 5. bis 8. Jahrhundert n. Chr. haben wird und nochmals einen wendeförmigen Entwicklungsschub (oder auch eine "Revolution") nach neuerer historischer Theorie im 10. bis 13. Jahrhundert aufweisen wird (vgl. auch C.L). Als "Seevölker"-Sturm wird dieser Prozess in Kapitel B.II.3. und B.II.5. im Zusammenhang mit der Entstehung der vorstaatlichen kanaanitisch-proto-israelitischen Sozialformen ebenso eine zentrale Rolle spielen wie in Kapitel B.IIL, wenn es um die Kristallisation der "homerischen Gesellschaft" in geometrischer Zeit gehen wird, um so - in der post-mykenischen Epoche des "Dark Age" - die Wurzeln der archaischen Übergangszeit zur klassischen Polis im Lichte des homerischen Protoplasma infolge der sozialstrukturellen Devolution nach 1200 v. Chr. zu 1 Vgl. ganz im Sinne von Eliade: Allen, D.: Myth and Religion in Mircea Eliade. New YorklLondon 2002. 2 Vgl. dazu auch die Ausstellungskataloge "Troia. Traum und Wirklichkeit". Stuttgart 2001 sowie "Die Hethiter und ihr Reich. Das Volk der 1000 Götter". Stuttgart 2002.
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B. Die vorchristlichen Wurzeln
begreifen. Und: Es lassen sich strukturelle Parallelitäten zu einem anderen Fall rekonstruieren, denn derartige Zusammenhänge gelten offensichtlich auch für die früh-latinische Geschichte? Nach 1200 v. Chr. beginnen die beiden Geschichten, die in der vorliegenden Arbeit mit Blick auf den europäischen Synkretismus und somit mit Blick auf den spezifischen Pfad, den Europa zivilisationsgeschichtlich beschreiten wird, schwerpunktmäßig behandelt werden: die Bildung einer Gesellschaft der Proto-Staatlichkeit des alten Israels und die Bildung des homerischen Protoplasma der griechischen Polis. Zugleich stellen beide Kulturbildungen Formen der Soziogenese eines stärker individualisierten Modus menschlicher Personalität dar, wenngleich später Europa immer wieder neue Schubphasen erleben wird: im Frühmittelalter, im Übergang zum Hochmittelalter, in der Renaissance, in der Reformation usw. 4 Israel entwickelte sich im kanaanitischen Kontext5 voller politischer, sozialer und kultureller (religiöser) Widersprüche und Konflikte aus genossenschaftsartig geprägten dörflichen Siedlungsmustern im Kontrast mit der antiken Herrschaft städtischen Adels zur Monarchie, bis in die späte Vorexilszeit aber begleitet von königskritischen Tönen, die im Lichte der nach-exilischen Staatslosigkeit zur Königsprädikation JHWHs in anti-assyrischer Tradition deuteronomisch zugespitzt und deuteronomistisch umgewandelt worden sind. Die nach-exilische theologische Bearbeitung der Geschichte führte zu einer Ethisierung der Religion neben dem Recht und damit in latenter Konfrontation mit der (fremden) Staatlichkeit. In der devolutiven Phase nach dem Untergang der mykenischen Burg- und Palastkultur entwickelte sich eine vereinfachte Sozialstruktur auch in Griechenland nach 1200 v. Chr. Oikoszentriert, proto-adelig, aber - wenn auch agonal anmutend - auf regionale Nachbarschaftsethik basierend, wirkte sie kommunalitätsbildend; und so entwickelte sich eine adelsdemokratische Idee und Praxis reziproker Netzwerke, zur Hierarchiebildung neigend, aber dennoch bürgerorientiert-inklusiv angelegt6 , und schlussendlich entwickelte sich eine Klassik der politiDazu grundlegend Carandini, A.: Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 2002. Zu allen diesen Schubphasen gibt es morphologische Studien in einer umfassenden Literatur. 5 In der Literatur ist von einer "kanaanäischen Matrix" die Rede: vgl. etwa Beck, M.: Elia und die Monolatrie. Berlin/New York 1999, 28 mit Literatur, u.a. Cryer, F. H.: Divination in Ancient Israel and its Near Eastern Environment. A SocioHistorical Investigation. Sheffield 1994. 6 Vgl. auch die Darlegung der "Grundelemente des sozialen Lebens" in der Antike in der Einleitung zu Gehrke, H.-J./Schneider, H. (Hrsg.). Geschichte der Antike. Stuttgart/Weimar 2000, 1-16, hier 8-12. Im Zentrum standen bäuerliche Grundstruktur, Haus/Hof und Familie, Totenkult (zur Funktion der Memoria im europäischen Mittelalter vgl. auch Goetz, H. W.: Modeme Mediävistik. Darmstadt 1999, 158 ff. sowie 365 ff.; ferner Körntgen, L.: Königsherrschaft und Gottes Gnade. Berlin 2001, 16 sowie 28; grundlegend als Überblick sind Borgolte, M.: 3
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schen städtischen Selbstverwaltung. Sie war nicht so ethisiert wie die altisraelitische, später jüdische Gemeinde, die religionszentriert war; die Polis kannte keinen Monotheismus, der zur Staatsreligion werden konnte (wie später das Christentum im kaiserzeitlichen Rom der Spätantike); polytheistisch über Kultgenossenschaften und Heroenkulte organisiert, einigte man sich zur städtischen Identität, ohne jene priesterliche (allerdings gruppal differenzierte, innerlich konkurrenzierende) Ideenherrschaft auszubilden, die typisch für die nach-exilische Gemeinde in Palästina war. Nicht auf religiöser Ethik, sondern auf politischen Tugenden, die wiederum in dramatisch inszenierter Pädagogik und sakralen Kultveranstaltungen gründeten, basierte die Polis - das hat u. a. eine umfassende, wenngleich nicht einheitliche Forschung zur Funktion der griechischen Tragödie aufgedeckt. Das hebräische Volk des spätvorexilisch-exilisch-nachexilischen Israel entwickelte eine individualisierte Religion universeller (aber nicht aporien-freier) Ethik; Griechenland kannte keine rationalisierte Religion der ethischen Lebensführung. Griechenland praktizierte Religion als politische Vergesellschaftung durch Kult und Opferpraxis, fundierte aber so - dem alten Israel zwar nicht fremd (vgl. auch in Kapitel C.UI.) - jene genossenschaftsartige Mahlgemeinschaft, die für die Gesellungsform der Polis konstitutiv wurde. Doch die alt-israelitische Opferpraxis war (u. a.) - vorexilisch wie deuteronomisch - auf barmherzige Armenfürsorge orientiert, während die Griechen die Gabe auf die bürgerliche Stadtgemeinschaft bezogen haben und im Hellenismus diesen Gabemechanismus transformierten zum hierarchiegenerierenden Euergetismus 7 , der sich im römischen Kontext zum patronagezentrierten Klientilismus entwickelte. Europa erbte viel von diesen Prozessen. Orientalischen Ursprungs (nicht indo-europäisch8 ) - vermittelt über den Hellenismus und über die römische Memoria. Zwischenbilanz eines Mittelalterprojekts. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (46) 1998, 197-210 sowie Oexle, o. (Hrsg.): Memoria als Kultur. Göttingen 1995), Freundschaftsverbindungen und Dorfgemeinschaften. Wie bereits deutlich geworden ist, wird die vorliegende Studie auch für den gemeinorientalischen Raum, insbesondere für die Soziogenese des alten Israels, die Nachbarschaftsethik und die genossenschaftlich geprägte Dorfverfassung betonen, um ein nicht biologisch verengtes Konzept des Gegenübers zur staatlichen Herrschaft zu erwirken. Diese dörflich-nachbarschaftliche Welt mit ihren häuslich-familialen Kernen des bäuerlichen Oikos schloss von Anbeginn die innere, endogene Spannung der Elitenbildung nicht aus. Der Typus der Eliten unterscheidet sich aber deutlich. 7 Gauthier, Ph.: Les cites grecques et leurs bienfaituers (IVe-Ier siede avant J. C.). Contribution a l'histoire des institutions. Athen/Paris 1985; Shard, E.: Zwei religiös-politische Begriffe. Euergetes - Concordia. Oslo 1932. Weitere Literatur in Gehrke, H.-J.: Geschichte des Hellenismus. München 1995, 167. Dazu auch weiter unten mehr am Ende von Kapitel B.III. 8 Anders die Literatur zur These eines archaischen Sakralkönigtums als allgemein-europäisches Phänomen: vgl. Kömtgen, L.: Königsherrschaft und Gottes
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B. Die vorchristlichen Wurzeln
Kaiserherrschaftsideologie - war die Idee des sakralisierten königlichen Herrscherturns, alttestamentlich aber auch die - religionsbezogene - Legitimationsproblematik königlicher Herrschaft. Sozialpolitik(ideen)geschichtlich erbte Europa somit die Barmherzigkeit in ihrer Doppeigesichtigkeit als Integrationsinstrument der Herrschaft und als gesellschaftsbezogenes ethisches Gestaltungsmotiv. Europa übernahm dergestalt ein Mentalitätsproblem (vgl. auch Kapitel C.lV.): Huldigung (allerdings auch nicht ur-germanisch) und Gehorsam einerseits, eine soziale Theodizee und eine ergebnisorientierte rationale Herrschaftskritik andererseits 9 . Europa erbte aber kontrastreich - noch mehr. Europa erbte neben der politischen Zentralisierung auch die Kommunalität in ihrem genossenschaftsartigen Kern (wohl nicht ur-germanisch). Diese Kommunalität war typisch griechisch. Die klassischen Demokratien der Polis - ähnlich wie die römische Republik - waren adelsdemokratisch orientiert, öffneten sich zwar für untere Schichten des Bürgertums, da dies militärisch notwendig und angesichts der Agrarkrise der Kleinbauern dringlich war. Aber genossenschaftsartig waren eher die einzelnen Bausteine der griechischen Polis geprägt: Kultgenossenschaften, Heroenkulte, Tischgemeinschaften, quasi- bzw. fiktiv-verwandtschaftliche Bundbildungen lO usw. In dörflichen Siedlungsformen nachbarschaftsethisch begründet, mag diese Genossenschaftsartigkeit auch in königskritischer Tradition proto-staatliche Elemente in der alt-israelitischen Geschichte spiegeln und im Rahmen der alt-orientalischen Zentrum-Peripherie-Muster diesem Raum generell nicht wesensfremd gewesen sein. Das heute gesicherte Wissen um diese primitiv-demokratischen Strukturen ist aber sehr begrenzt; die vermutbaren Sozialstrukturen sind mit den Vorstellungen zur Sozial verfassung der nach-exilischen Redaktionsergebnissen des Deuteronomiums im Rahmen von Pentateuch und Hexateuch nicht zu verwechseln. Mag auch sein, dass durch die patriarchalische Oikos-Zentrierung in der kanaanitisch kontextualisierten proto-israelitischen Soziogenese dieser relativ egalitären, segmentierten Gesellschaft, die sich eher als horizontale Netzwerkgesellschaft beschreiben ließe, Momente der Hierarchisierung und der Klassenbildung endogen von Anbeginn wirksam waren - ähnlich dem Oikos-Basileus der homerischen Gesellschaft. Patriarchalisch geprägte Geschlechterverhältnisse im Funktionszusammenhang mit ErbschaftsregelunGnade. Berlin 2001, 19 (mit Literatur). Vgl. u.a. Anton, H. H.: Art. Sakralität. In Lexikon des Mittelalters (7). München 1997, Sp. 1263-1266, hier Sp. 1264. 9 Vgl. übergreifend auch Gundlach, R.lWeber, H. (Hrsg.): Legitimation und Funktion des Herrschers. Vom ägyptischen Pharao bis zum neuzeitlichen Diktator. Stuttgart 1992. 10 Wenngleich neuere ethnologische Beiträge offen die Frage stellen, ob die frühen Germanen nicht auch Männerbünde kannten. Vgl. etwa Meier, M.: Zum Problem der Existenz kultischer Geheimbünde bei den frühen Germanen. Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 51 (4) 1999, 322-341.
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gen von Kleinbauern mögen hierbei eine Rolle gespielt haben - ein Befund, der heute noch kulturell in vielen Regionen der Dritten und Vierten Welt nicht nur Frauen benachteiligt, sondern auch Mädchen im Vergleich zu Jungen, in der Forschung zu familial-häuslichen Budgetverwendungsweisen als "intra-houshold-trickle-down-Effekt"ll bezeichnet. Allerdings wird man evolutionär den häuslich-familialen Patriarchaiismus nicht ohne weiteres und vereinfachend als Keimzelle der staatlichen Herrschaft auslegen können, wenngleich vor allem das dynastische Prinzip natürlich soziobiologische Anleihen vornimmt und die altorientalische Hirtenmetapher (dazu mehr in Kapitel B.I1.) derlei Perspektiven nicht unplausibel erscheinen lässt. Auch die griechische Polis wurzelt frühgriechisch letztendlich in der Kultgemeinschaft, die sich um den häuslichen Herd zentrierte und dergestalt die politische Ordnung uno actu mit der dualen Geschlechterordnung konstituierte. Psychomythologisch ist diese Wahlverwandtschaft von binären Codes (Hirt und Herde, oben-unten, Innen- und Außenraum, Mann und Frau) belegt. 12 Kapitel B.l1. und B.III. werden diese beiden Geschichten skizzenhaft zu rekonstruieren versuchen. In Teil C.l1. wird die paulinische Gemeinde - mithin also das frühe Christentum im hellenistischen und römischen Kontext zum morphologischen Scharnier für die Spätantike als Sattelzeit des frühen mittelalterlichen Europa. Teilt sich hier das westliche Kerneuropa vom byzantinischen Raum, so zeigen sich in Kapitel C.I11. durchaus die orientalisch-byzantinischen Wurzeln einer europäischen sozialen Politik, die sowohl institutionengeschichtlich als auch kognitiv-mentalitätsgeschichtlich zu begreifen ist. Bei aller Wertschätzung der byzantinischen Kultur (und des Islams als Kulturgeber Europas 13) - die Dynamik der europäischen Entwicklung verlagert sich immer mehr nach Nord-Westen des europäischen Kontinents. Und die moderne Gesellschaft als Nationalstaat marktwirtschaftlicher Ordnung, später modern durchtränkt vom Gedanken sozialer Gerechtigkeit und sozialen Ausgleichs, entwickelt sich über das ganze Mittelalter als Formierungsphase schlussendlich signifikant erst mit den Reformationskriegen. Diese moderne Staatsbildung wurzelt somit in der Trennung von West-Rom und Konstantinopel; sie wurzelt in einem westeuropäischen Sonderweg, der möglich wird durch einen einzigartigen Synkretismus aus (hier eher vernachlässigten) germanischen Elementen und alt-orientali11 Schulz-Nieswandt, F.: Transformation, Modemisierung und Unterentwicklung. Weiden/Regensburg 1994,25. 12 Vgl. auch Ausführungen in Schulz-Nieswandt, F.: Strukturelemente einer Ethnologie des medizinisch-pflegerischen Behandlungs- und Versorgungsgeschehens. Weiden/Regensburg 2003. 13 Vgl. dazu etwa Watt, W. M.: Der Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter. Berlin 1992.
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schen Erbschaften, die wiederum hellenistisch und römisch vermittelt sind, wobei das Christentum im Zentrum steht, selbst aber - aufbauend auf JeSUS 14 als Charismatiker einer inner-jüdischen Religionsdifferenzierung über lange Zeit hinweg ein Gebilde des graeco-romanischen Kulturraumes wurde. 15 Alles nahm also nach 1200 v. Chr. seinen Lauf - in Kanaan wie im mykenischen Griechenland. Beide kulturellen Teilräume waren aber durch die Zeit vor 1200 v. Chr. nicht kultur(kontakt)los. So weiß man um die orientalischen Einflüsse auf die mykenische Kultur; und die minoische Kultur, die erst später mykenisch erobert wurde, ist ohnehin nicht europäisch, somit wohl vor-indoeuropäisch. Und der kanaanitische Kulturraum, sieht man vom ägyptischen Einfluss einmal ab l6 , wurde durch die Ansiedlung der Philister mit dem Erbe des ägäischen Kulturgutes konfrontiert. 17 So hat alles zeitlich nach hinten projektiert eine unendliche Vorgeschichte. Und Adam und Eva stammten bekanntlich aufgrund der paläoanthropologischen Ausgrabungsergebnisse der letzten Jahrzehnte aus Afrika. Aber die Transitionen am Ende der Bronzezeit (im Übergang zur frühen Eisenzeit) brachten für Griechenland wie für das Land Kanaan die großen relevanten Umbrüche. Langsam entwickelte sich zwischen 1200 und 800 v. Chr. aus dem homerischen Protoplasma über das archaische Griechenland die klassische Polis. Und in der Zeit nach 1200 v. Chr. bis zur spätvorexilischen Phase reifte auch im alten Israel die Dialektik des Gegen-, Mit- und Nebeneinanders von Herrschaft und Genossenschaft heran. Brachte Griechenland die Idee der stadtbürgerlichen Selbstverwaltung hervor, so ging Israel schwanger mit der Idee der Ethik aus dem Geiste der Theologie. Griechenland politisierte den Menschen direkt über eine Institutionenlehre, die sich aber auch pädagogisch fundieren musste; Israel entstaatlichte (zwangsweise als Opfer der großräumigen Hegemonialsituation) das Gemeinschaftsleben, indem es theologisch fundiert - ethisiert wurde. Beide Strömungen konvertierten in der spätantiken Sattelzeit der Christianisierung. Voller Spannung, Konflikte und Widersprüche entwickelte sich das christliche Europa zwischen universalistischer Moral, staatlicher Herrschaftsordnung und multiplen Netzwerken reziproker Verpflichtungszusammenhängen 18 vertikaler und horizontaler 14 Theißen, G./Merz, A: Der historische Jesus. Göttingen 1996 Getzt auch als 3. Aufl. verfügbar). 15 Vgl. differenziert und abwägend Gehrke, H.-J.: Geschichte des Hellenismus. München 1995, 185 ff. Klassisch: Reitzenstein, R.: Die hellenistischen Mysterienreligionen nach ihren Grundgedanken und Wirkungen. Nachdruck. Darmstadt 1966. 16 Giveon, R.: Impact of Egypt on Canaan. Iconographical and Related Studies. Freiburg/Schweiz/Göttingen 1978. 17 Vgl. u.a. Noort, E.: Die Seevölker in Palästina. Kampen 1994. 18 Wobei das Lehnswesen, ein klassisches Thema der Mediävistik, nach wie vor kontrovers ist. Vgl. etwa Reynolds, S.: Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence
11. Schuldknechtschaft, sakrales Königtum und "primitive Demokratie"
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Art. Es wurde (als Resultat der strukturbildenden kollektiven Beiträge der Menschen der verschiedenen Jahrhunderte) ein langer Weg zu den verschiedenen europäischen Varianten moderner Gesellschaft, die von Marktwirtschaft, Rechtsstaat, Sozialstaatlichkeit, ziviler Konfliktaustragung und komplizierten psychischen Apparaturen der Affekt- und Triebkontrolle getragen sind\9?O Darauf ist nochmals abschließend in Kapitel C.V. zurückzukommen.
11. Schuldknechtschaft, sakrales Königtum und "primitive Demokratie" im kanaanitisch-israelitischen Altertum Die Anthropologie der Gabe hat gezeigt, dass Formen der sozialen Gesellung, das Teilen und das System des Gebens und Nehmens oder auch die Vorsorge religionsgeschichtlichen Ursprungs sind, d. h. von Anbeginn an ritualisiert und kultischen Ursprungs sind, wenngleich ihre innere Logik auf die Urformen sozialer Reproduktion und Evolution verweist. Mehr noch: Soziale Fragen ordnen sich einer uralten Phänomenologie des - individuellen wie kollektiven - Klagens 2 \ und Bittens oder auch Betens ein22 , die sich am kreatürlich erfahrbaren Leiden existentiell festmachen. Sozialpolitische Antworten auf soziale Problemlagen erweisen sich deshalb zwar nicht als Ersatz-Religion, die ein aufgeklärter säkularisierter Blick entdecken mag; aber die anthropologische Tiefenproblematik sozialer Politik wird in dieser Weise evident. Gerechtigkeitsfragen und somit religiöse oder sonstige funktional äquivalente - Rechtfertigungsfragen des sozialen Soseins stehen
Reinterpreted. Oxford 1995; dazu auch Magnou-Nortur, E.: La feodalite en crise. Propos sur "Fiefs and Vasalls" de Susan Reynolds. Revue Historique (296) 1996, 253-348. 19 Vgl. dazu auch Schulz-Nieswandt, F.: Ökonomik der Transformation als gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Problem. Frankfurt am Main 1996. Auch ders.: Ökonomische Transformation und politische Institutionenbildung. In Cassel, D. (Hrsg.): Institutionelle Probleme der Systemtransformation. Berlin 1997,69-94. 20 Dieser Prozess der Herausbildung eines "europäischen Sozialmodells" ist längst noch nicht zu Ende. Vgl. Schulz-Nieswandt, F.: Eine Charta der sozialen Grundrechte im Rahmen einer EU-Verfassung. Ein Beitrag zur Diskussion im "PostNizza-Prozess". Sozialer Fortschritt 52 (1) 2003, 23-29. 21 Ehlers, K.: Wege aus der Vergangenheit. Zu einem neuen Sammelband zum Thema "Klage". In Jahrbuch für Biblische Theologie. Bd. 16.: Klage. Neukirchenl Vluyn 2001, 383-396. 22 Vgl. die aufgeführte gebärdenanthropologische Literatur bei Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 71. Zur Gebärdensprache altorientalischer und römischer Herrschaft vgl. auch in Kolb, F.: Herrschaftsideologie in der Spätantike. Berlin 2001.
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B. Die vorchristlichen Wurzeln
folglich am Ursprung der sozialen Politik. Soweit eine kontextuelle Vorbemerkung zum Thema dieses Kapitels. 1. Schuldknechtschaft und vulnerable Gruppen
Am Ursprung sozialer Politik im Altertum stand nicht nur, aber zentral die Schuldknechtschaft. 23 In vorindustriellen Epochen musste - quasi ex definitione - der vorherrschende soziale Konflikt aus der Lebenslagenverteilung der Agrarwirtschaftsweise resultieren 24 . Das Thema der Landaufteilung scheint ein Grundproblem jeder Sozialordnung dieser Entwicklungsstufe zu sein, wie sich auch an der latinischen Frühgeschichte bei Carandini abzeichnet25 und die Zwölf-Tafel-Gesetze prägte. Die Schuldknechtschaft ist im gemeinorientalischen und im griechisch-römischen Kontext ubiquit~6. Im Deuteronomium bzw. im Pentateuch wird Landlosigkeit zur normativen Grundlage des Empfangerstatus von Unterstützungen im Rahmen von Gemeinschaftsmahlfeiem. Darauf wird nochmals zurückzukommen sein. 27
23 Vgl. auch schon Schulz-Nieswandt, F.: Zu einer archetypischen Morphologie der Sozialpolitik. Genossenschaft und sakrales Königtum. Weiden/Regensburg 2000. 45-47. 24 Die Agrarisierung wird also als etabliert vorausgesetzt. Vgl. Smith, B. D.: The Emergence of Agriculture. New York 1998. Vgl. ferner Spier, F.: Big History. Darmstadt 1998, 80 ff. Als Thema des mehrfachen Wechsels zwischen Hirtennomadentum und sesshafter Bäuerlichkeit wird das Thema nochmals im Rahmen der Erörterung der Entstehung des vor-staatlichen Israels eine Rolle spielen, und zwar mit Bezug auf die neuen archäologischen Befunde. die bei Finkelstein und Silberman dargelegt werden. Die zentrale These des Wechsels zwischen Hirtennomadentum und sesshafter Bäuerlichkeit findet sich schon bei I. Finkelstein (The Archaeology of the Israelite Settlement. Jerusalem 1988, 353): "at the end of the Middle Bronze period (... ) people dropped out of ( ... ) sedentary rural country work. These groups then underwent a lengthy pastoralist stage. ( ... ) A change in political and economic circumstances led to their resedentarization starting at the end of the 13 th century BCE and continuing throughout the lron I period." Vgl. auch Weippert, M. u. H.: Die Vorgeschichte Israels in neuem Licht. Theologische Rundschau (56) 1991, 341390. 25 Vgl. Carandini, A.: Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 2002. 502 ff. sowie 534 ff. und 546 ff. 26 Vgl. auch Chirichigno, G. C.: Debt-Slavery in Israel and the Ancient Near East. Sheffield 1993. Vgl. ferner Schumacher, L.: Sklaverei in der Antike. Alltag und Schicksal der Unfreien. München 2001. Vgl. ferner Cardellini, I.: Die biblischen "Sklaven"-Gesetze im Lichte des keilschriftlichen Sklavenrechts. Bonn 1981. 27 Vgl. dazu auch Lohfink, N.: Das deuteronomische Gesetz in der Endgestalt Entwurf einer Gesellschaft ohne marginale Gruppen. Biblische Notizen (51) 1990, 25-40.
11. Schuldknechtschaft, sakrales Königtum und "primitive Demokratie"
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Die Polis war eine institutionelle Innovation von weltgeschichtlicher Bedeutung28 , die konkreter auch als Antwort auf die kardinalen agrarsozialpolitischen Fragen in der Folgezeit der demographischen Prosperität des 8. Jahrhunderts v. ehr. im frühen Griechenland einzuschätzen ist. Diese Agrarsozialpolitikproblematik betraf seit dem 7. Jahrhundert v. ehr. die Neuverteilung des Landes. Thema der Reformpolitik war - als "bäuerliche Krise" definierbar - die Minderung der Belastungen: seisachtheia. Im Zentrum der damaligen sozialen Frage stand die Schuldknechtschaft (griechisch: hektemoroi, lateinisch: nexum) ehemals freier Kleinbauern29 und die Abgabenbelastung. Die lateinische Variante 30 ist eindeutig mit dem Sinn von schuldknechtschaftlicher Abhängigkeit bzw. Schuldsklaverei verknüpft, von den Zwölftafelgesetzen (ohne hier auf das umfassende Schrifttum eingehen zu können) ablaufrechtlich nur verändert, und sie ist erst 326 v. ehr. durch die Lex Poetelia verboten worden. Die Landaufteilung und die Schuldentilgung sind die elementaren Forderungen in nahezu allen sozialen Unruhen des griechisch-römischen Kulturkreises, denn auf der Grundlage des frührömischen Kreditrechts in der Form des nexum hatte der Kreditgeber faktisch ein Zugriffsrecht auf die Person des Schuldners. Die Literatur bleibt hier für das griechische Phänomen durchaus kontrovers: Meint hektemoroi nur abgabenpflichtige Bauern (abzugeben war ein Sechstel der Ernte) oder verarmte, vor allem insolvente abgabenpflichtige Bauern, die in Verschuldung geraten sind etc., woraus dann auch erst Schuldknechtschaft oder gar Schuldsklaverei erwächst? Sozialpolitiktheoretisch wird man gerade hier konstatieren müssen: Es geht - bei aller (abgestufter) Formenvielfalt um ein Grundphänomen: Vulnerabilität schlägt in Abhängigkeit um, so dass der Schuldner, der zugleich hektemoros war, zwar während der ganzen Zeit theoretisch freier Eigentümer war, aber durch seine untilgbaren Schulden, die fortwährend infolge der Akkumulation der Rückstände noch weiter anwuchsen, und durch die Gefahr der Versklavung ganz und gar als unfrei zu gelten hat. Die in diesem Sinne agrarsozialpolitischen Grundlagen der Reformen von Solon, den Bringmann den Entdecker der sozialen Dimension des Rechts genannt hae 1, sind bekannt. Die durch die Erbteilung unter den Söhnen noch verschärfte Abhängigkeit kleiner Bauern infolge der Wechselfalle des Lebens unter der Bedingung der agrarischen Produktion stellte eine permanente existentielle Lebenskrise dar. Die Bereinigung der sozialen Frage gehört damit in Griechenland zum Konzept der Polis. Im Kontext des 28 Zum Nachfolgenden vgl. auch Kippenberg, H. G. (Hrsg.). Seminar: Die Entstehung der antiken Klassengesellschaft. Frankfurt am Main 1977. 29 Hier schließt nochmals das Kapitel B.III. an. 30 Vgl. auch zum folgenden Bringmann, K.: Geschichte der römischen Republik. München 2002, 9 ff. 31 Vgl. Bringmann, K.: Geschichte der römischen Republik. München 2002, 28 f.
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Politischen wird man das Problem der Agrarfragen und der Schuldenfrage im Zusammenhang auch mit der Politik der Gracchen32 sehen müssen. Damit befindet sich die Betrachtung wechselnd in der römischen und griechischen Kontextualität. Und es verdichten sich die Befunde, die den Verfasser veranlassen, von einer Agrarsozialpolitik im Rahmen einer Sozialordnungspolitik zu sprechen. Für die älteren Agrargesellschaften sind Schuldknechtschaft und Landmangel eben die zentralen sozialpolitischen Fragestellungen. Das Thema - neben dem Phänomen der sozial schwachen Schichten, einschließlich der Witwen 33 und Waisen 34 , als den personae miserae par excellence, so Schottroft3 s - war auch schon im gemeinorientalischen Kon32 Literatur bei Bringmann, K.: Geschichte der römischen Republik. München 2002,444. 33 Witwenschaft war im Altertum in der Regel mit Armut verbunden, zumindest eine Risikolage. Vgl. dazu Harris, R.: Independent Women in Ancient Mesopotamia. In Lesko, B. S. (Hrsg.): Women's Earliest Reports. Atlanta 1989, 145-156; zur sozialen Not der Witwen im Alten Testament vgl. auch Jost, R.: Frauen, Männer und die Himmelsgöttin. Exegetische Studien. Gütersloh 1995, 110 ff. mit weiterer Literatur, u.a. Hiebert, P. S. The Biblical Widow. In Day, P. L. (Hrsg.): Gender and Difference in Ancient Israel. Minneapolis 1989, 125-141, auch Engelken, K.: Frauen im Alten Testament. Eine begriffsgeschichtliche und sozialrechtliche Studie zur Stellung der Frau im Alten Testament. Stuttgart u. a. 1990, schließlich Eißfeld, 0.: Die Armut der Witwen. In Crüsemann, M.lSchottroff, W. (Hrsg.): Schuld und Schulden. Biblische Traditionen in gegenwärtigen Konflikten. München 1992, 5487. Zu den Witwen im Römischen Reich hat J.-U. Krause (Die gesellschaftliche Stellung von Witwen im Römischen Reich. Saeculum (45) 1994, 71-104) umfangreiches Material (einschließlich zur Lage der Waisen) vorgelegt: Krause, J. U.: Witwen und Waisen im römischen Reich. 4 Bde. Stuttgart 1994-1995. Zu den Behinderten in der Antike vgl. Grassi, H.: Behinderte in der Antike. Tyche (1) 1986, 118-126. Vgl. ferner insgesamt auch Haas, V. (Hrsg.): Außenseiter und Randgruppen. Beiträge zu einer Sozialgeschichte des Alten Orients. Konstanz 1992. 34 Vgl. auch Meyer, J.-W.: Kind und Kindheit im Alten Orient. In Scholz, G.I Ruhl, A. (Hrsg.): Perspektiven auf Kindheit und Kind. Opladen 2001, 215-233. Zur Situation der Kindheit heute weltweit vgl. auch: Holm, K.lSchulz, U. (Hrsg.): Kindheit in Armut weltweit. Opladen 2002. Zu Ps 68, 6a und insbesondere dort zum Waisenproblem vgl. auch Böckler, A.: Gott als Vater im Alten Testament. Gütersloh 2000, 363 ff. Altägyptische Wurzeln des Bildes Gottes als "Vater der Waisen" und als "Richter der Witwen" (Position von Gunkel) mögen gegeben sein (vgl. Böckler: 366). Vgl. insbesondere auch Feucht, E.: Das Kind im Alten Ägypten. Die Stellung des Kindes in Familie und Gesellschaft nach altägyptischen Texten und Darstellungen. Frankfurt am Main/New York 1995. 35 Schottroff, W.: Gerechtigkeit lernen. Beiträge zur biblischen Sozialgeschichte. Gütersloh 2001, 8. Vgl. auch schon Schulz-Nieswandt, F.: Zu einer archetypischen Morphologie der Sozialpolitik. Genossenschaft und sakrales Königtum. Weiden/Regensburg 2000, 48-49. Der klassische Aufsatz zu diesem Thema ist der von Weiler, I.: Zum Schicksal von Witwen und Waisen bei den Völkern der Alten Welt. Saeculum (31) 1980, 157-193. Vgl. aber auch Weiler, I.IGraßI, H. (Hrsg.): Soziale Randgruppen und Außenseiter im Altertum. Graz 1988. Ebenso klassisch ist Fensham, F.
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text36 ubiquitär: Die Sozialkritik der durch Abgabenlast und Schuldknechtschaft bedrängten Kleinbauern in der (davidisch-salomonischen? - zum Fragezeichnen gleich mehr) Staatstradition (prophetisch37 verdichtet in der (spät)vorexilischen Zeit38 des 8. und 7. Jahrhunderts) ist als eine vertikale und asymmetrische Sozialreformpolitik in dem spezifischen Kontext der gemeinorientalischen Königsideologien anzusehen. 39 Ob diese Staatstradition C.: Widow, Orphan and the Poor in Ancient Near Eastern Legal and Wisdom Lite-
rature. Journal of Near Eastern Studies (21) 1962, 129-139. Zur Ethnologie des AIter(n)s vgl. Schulz-Nieswandt, F.: Die Heterogenität des Alter(n)s. In Möller, P.-A (Hrsg.): Die Kunst des Alterns. Frankfurt am Main 2001, 109-122 mit Surveyliteratur. Neuere Studien wie die von M. Harlow und R. Laurence (Growing up and growing old in ancient romeo London/New York 2002) oder auch H. Brandt (Wird auch silbern mein Haar. Eine Geschichte des Alters in der Antike. München 2002) schließen sich mit Bezug auf die Antike an. 36 Zur Orientierung hinsichtlich der unübersehbaren Literatur des alttestamentlichen Kontextes ist die "Biblische Enzyklopädie" (Stuttgart u. a.: Kohlhammer) geeignet. Bisher erschienen sind: Bd. 1: Lemche, N. P.: Die Vorgeschichte Israels. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts. 1996; Bd. 2: Fritz, V.: Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr., 1996; Bd. 3: Dietrich, W.: Die frühe Königszeit. 10. Jahrhundert v. Chr., 1997; Bd. 5: Schoors, A: Die Königreiche Israel und Juda im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. Die assyrische Krise, 1998; Bd. 7: Albertz, R.: Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v. Chr., 2001. Einen allgemeinen historischen Überblick bietet Veenhof, K. R.: Geschichte des Alten Orients bis zur Zeit Alexanders des Großen. Göttingen 2001 sowie Kuhrt, A: The Ancient Near East c. 3000-330 BC. Vol. I u. 11. London/New York 1998. In Bezug auf das Alte Testament wird natürlich nach wie vor vielfach auf die alltagsbezogenen Kulturgeschichten von Dalmann und de Vaux zurückgegriffen. Die beste Quelle für die Behandlung vieler Aspekte ist aber das RGG (vgl. auch in der kommentierten Bibliographie) in der vierten Auflage. Bisher sind die ersten vier Bände erschienen. 37 Zur Geschichte der alttestamentlichen Prophetie vgl. auch Blenkinsopp, J.: Geschichte der Prophetie in Israel. Stuttgart u. a. 1998. Vgl. ferner Brauer, B.: Das Bild der Unheilsprophetie Israels in der frühen soziologisch orientierten Forschung. Münster 1999 sowie Dietrich, W.: David, Saul und die Propheten. Das Verhältnis von Religion und Politik nach den prophetischen Überlieferungen vom frühesten Königtum in Israel. Stuttgart u.a. 1987 (2., verb. u. erw. Aufl. 1992). 38 Vgl. auch Jeremias, J.: Kultprophetie und Gerichtsankündigung in der späten Königszeit Israels. Neukirchen/Vluyn 1970, 110 ff. 39 Das Verschuldungsproblem in der keilschriftlichen Rechtstradition behandelt ausführlich auch OUo, E.: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002, 196 ff. Dabei (zusammenfassend auf 213) destilliert Otto deutlich die inneren Widersprüche zwischen den Funktionsimperativen der Wirtschaftsordnung einerseits und den legitimationsorientiert motivierten Gerechtigkeitszielen der königlichen Interventionen. Das Deuteronomium (219 ff.) sei hier ein Fortschritt, da klar zwischen Recht und Ethik getrennt worden sei (234; 223 zur Bruderethik, auch 225). Diese ethische Ausrichtung, die klar eine Personalisierung des menschlichen Subjekts konzeptionell voraussetzt, muss wohl wiederum im Kontext des Übergangs des irdischen Sakralkönigtums zur Königsprädikation JHWHs (176) gesehen werden. Dabei ist die nach-exilische Gemeindebildung ohne Staat (179 f. mit Bezug auf Ps 8, 3; vgl. aber 4 Schulz-Nieswandt
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davidisch-salomonisch war, wird gleich noch im Lichte der neuesten archäologischen Befunde kritisch zu diskutieren sein. In der nachexilischen Zeit des 5. Jahrhunderts unter persischem tributärem Patrimonialismus hat sich dann (die Besitzkonzentration des 9. Jahrhunderts40 fortführend) - vergleichbar der Zeit der Vorgeschichte der griechischen Polis-Bildung - am Problem der Not der Kleinbauern in diesem Kontext von Bodeneigentumskonzentration und rentenkapitalistischer Stadtentwicklung nichts geändert. Speziell zum alten Israel - aber nicht unkontrovers41 - gilt: Die damalige Monarchie war orientalischen Typs mit eiauch 185 sowie 195) zu bedenken. Dieser Fortschritt gegenüber der altbabylonischen keilschriftlichen Rechtstradition war wiederum begrenzt. Universalhistorisch konstatiert Otto (239): "Der Alte Orient Mesopotamiens konnte die soziale Gerechtigkeit nur gegen das Recht, die Hebräische Bibel nur neben dem Recht zur Geltung bringen. Die Moderne hebt an, es im Recht zu tun, aus ,imperfekten Normen' ohne Gesetzeskraft solche des Rechts im vollgültigen Sinne des Wortes zu machen." 40 Niemann, H. M.: Herrschaft, Königtum und Staat. Skizzen zur soziokulturellen Entwicklung im monarchischen Israel. Tübingen 1993,52 f. 41 Vgl. etwa Kessler, R.: Staat und Gesellschaft im vorexilischen Juda. Vom 8. Jahrhundert bis zum Exil. Leiden u.a. 1992 sowie Niemann, H.M.: Herrschaft, Königtum und Staat. Skizzen zur soziokulturellen Entwicklung im monarchischen Israel. Tübingen 1993. Dabei spielt vor allem das Gebilde der antiken Stadtherrschaft (reformuliert in der Theorietradition von Max Weber) eine zentrale Rolle. Denn diese spielt auf die Gruppe des großgrundbesitzenden Stadtadels an, der die Sozialstruktur der Königszeit - im binären Spektrum zwischen behaupteten tribaien oder nomadischen Urelementen einerseits und dem konstatierten zentralen Patrimonialismus der Reichsherrschaft andererseits - differenzierter erscheinen lässt. Auf die webersche Herrschaftssoziologie ist der Verfasser bereits an anderer Stelle eingegangen: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000: 5. Dort (FN 5) wird dargelegt: Weber behandelt die patrimoniale Herrschaft neben dem primären Patriarchalismus und der Gerontokratie als Untertypus der traditionalen Herrschaft. Gerontokratie und primärer Patriarchalismus sind dadurch verwandt, dass in ihnen das Genossenschaftsprinzip stärker zum Zuge kommt. Der Patrimonialismus dagegen definiert sich über die Existenz eines rein privaten Militär- und Beamtenstabes. Herrschaft funktioniert hier kraft Eigenrechts. Die Menschen dieser Herrschaftsordnung sind nicht Genossen, sondern Untertanen. Ein Extremtypus des Patrimonialismus ist der Sultanismus. Ob der Patrimonialismus aus dem primären Patriarchalismus evolutiv hervorgeht, darf hier unbeantwortet bleiben. Patrimonial-staatliche Gebilde definieren sich sowohl über eine (in der Regel grundherrschaftlich fundierte) Hausherrschaft wie über die Existenz extrapatrimonialer Untertanen. In diesem Sinne waren die Karolinger ein politischer Verband. Im Schnittbereich zum Feudalismus sind die patrimonialständischen Gebilde zu sehen: Hier liegt eine relative Verselbständigung untergeordneter Herrschaftssegmente vor. Diese unteren Ebenen verfügen über Verwaltungsressourcen und Militärkraft. Der Feudalismus ist zu unterscheiden hinsichtlich der Variante des Lehensfeudalismus, der im Okzident gekoppelt ist an Treuebeziehungen und an einen ritterlichen Ethos, und ist zu unterscheiden hinsichtlich der Variante des Pfründenfeudalismus, dessen Abgabenordnungen auf eine phänomenologische Nähe wiederum zum Patrimonialismus hinweisen, während im Lehensfeudalis-
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nem nationalen Tempelkult, einer städtischen Patrizierschicht, einer patrimonialen Zentralbürokratie, einem - wenn auch rudimentären - Rechtssystem, einer Schicht halbfreier Bauern und Handwerker, einer beträchtlichen (natürlich: nicht modernen) Marktwirtschaft, mit fronwirtschaftlichen Institutionen und mit nomadischen Randgruppen. 42 Und hinsichtlich der Klassenverhältnisse des 5. Jahrhunderts in Israel bleibt die Kontinuität zu betonen, wonach es die gleichen ökonomischen Mechanismen sind, die schon in der späten Königszeit zu einer Verelendung der traditionellen Kleinbauernschicht geführt hatten. 2. Die Königszeit Die sich an dieser Stelle allerdings im Lichte der neuesten archäologischen Befunde zu diskutierende Frage ist die, ob dieser Typus königlicher Herrschaft speziell auch der Wirktätigkeit von David und Salomon zuzurechnen ist. 43 Wenn nicht, wem (und wann) dann? An wessen Herrschaftspraxis orientiert sich vorexilisch die Königskritik? Wann und unter welchen mus die ständischen Elemente der Herrschaftsordnung betont werden. Zur Rolle der Stadt bereits in der Sozialstrukturanalyse des vor-staatlichen Israels vgl. auch Dtto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 280. 42 Diese Position orientiert sich an W. F. Albright (Von der Steinzeit zum Christentum. Monotheismus und geschichtliches Werden. München 1996; Archäologie in Palästina. Nach der 4. AufI. Zürich/Köln 1962; vgl. auch Thompson, T.: A NeoAlbrightean School in History and Biblical Scholarship? Journal of Biblical Literature 114 (1995), 683-698) und findet sich so zusammengefasst bei Parsons, T.: Gesellschaften. Frankfurt am Main 1975, 152. Kontrovers bleibt das Krongut. Zum Krongut, das vom König an Beamte und Berufssoldaten vergeben wurde, und zur allgemeinen Problematik der Beamten in der Königszeit hat Rüterswörden eine Studie vorgelegt. Er gibt dort auch einen Überblick über die Forschungstradition. Er relativiert allerdings stark den Beitrag der Königsherrschaft und des Beamtenwesens zur sozialen Krise der vorexilischen Zeit. Vgl. Rüterswörden, U.: Die Beamten der israelitischen Königszeit. Diss. Bochum 1981: 196 ff. Vgl. auch Fleischer, G.: Von Menschenverkäufern, Baschankühen und Rechtsverkehrern. Die Sozialkritik des Arnosbuches in historisch-kritischer, sozialgeschichtlicher und archäologischer Perspektive. Frankfurt am Main 1989. Anders klassisch Alt, A.: Der Anteil des Königtums an der sozialen Entwicklung in den Reichen Israel und Juda. In ders. Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel. Bd. III. München 1959, 348-372. Alt analysiert die Bodenrechtsentwicklungen, insbesondere die Probleme der Konzentration bis hin zur Entstehung der Schuldknechtschaft ebenso wie die Herausbildung einer Oberschicht, die ihren exponierten Sozialstatus der besonderen Verbindung zum Königtum verdankt. Alt behandelt ebenso die Herausbildung der höheren Beamtenschicht im Zusarnrnenhang mit der Verleihung des Krongutes. Alt spricht von einer "Kette von Beleihungen" (358). 43 Kritische Anmerkungen zum historischen Gehalt auch in Schäfer-Lichtenberger, Chr.: Josua und Salomo. Eine Studie zu Autorität und Legitimation des Nachfolgers im Alten Testament. Leiden u.a. 1995. 4·
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Umständen ist dieser kritische Zusammenhang auch für das südliche Juda zu konstatieren? Somit stellt sich an dieser Stelle erstmals auch explizit die Frage nach der Einheit des Gegenstandes "Israel", zeitlich wie räumlich. Hierbei wird man an die neue Veröffentlichung von Finkelstein und Silbermann (dort mit weiterer Literatur) nicht vorbeigehen können. 44 Archäologisch nehmen Finkelstein und Silbermann von Anbeginn einen regionalen Dualismus zwischen dem Norden und dem Süden Israels an (177 f., 214, 229, 264). Das lässt sich als Asymmetrie zuungunsten des Südens auch demographisch aufzeigen. Es ist interessant, wie zeitlich parallelisiert zum Aufstieg der griechischen Polis die Region Juda im ausgehenden 8. und zu Beginn des 7. Jahrhunderts v. ehr. eine große Bevölkerungszunahme45 aufwies. Im Verlauf des 7. Jahrhunderts konnten sich so die judäischen Ortschaften bis in die Trockengebiete im Osten und Süden ausbreiten (287). Im Grunde war zunächst der Norden die Verkörperung dessen, was die alttestamentliche Darstellung von Salomons Reich behauptet (207). Das bedeutet dann auch, dass David und Salomon eher die Saul-Tradition46 fortführten: Mehr als regionale Führer waren sie nicht: "Angesichts dieser Befunde dürfte mittlerweile klar sein, daß sich Juda in der Eisenzeit keines frühzeitigen Goldenen Zeitalters erfreute. David und sein Sohn Salomon sowie die späteren Mitglieder der davidischen Dynastie herrschten über eine isolierte, ländliche Region am Rand, in der es weder großen Reichtum noch eine zentralisierte Verwaltung gab." (258). Die ganze Entwicklung des vor-staatlichen "Israels" und der monarchischen Staatsbildung muss anders modelliert werden. 47 Die Belege entneh44 Finkelstein, I./Silberman, N. A: Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel. München 2002. Vgl. immer noch als der beste Gesamtüberblick: Weippert, H.: Palästina in vorhellenistischer Zeit. München 1988. 45 Vgl. auch Dito, E.: Gibt es Zusammenhänge zwischen Bevölkerungswachstum, Staatsbildung und Kulturentwicklung im eisenzeitlichen Israel? In Kraus, O. (Hrsg.): Regulation, Manipulation und Explosion der Bevölkerungsdichte. Göttingen 1986, 173-187. 46 Greift man nochmals auf die topographisch orientierte Studie zur latinischen Frühgeschichte im Rahmen der Theorie des Proto-Staates von A. Carandini (Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 2002, 406, 420-432) zurück, so wird man nun vergleichend fragen dürfen, ob auch Romulus als Mythos entschlüsselt werden kann im Lichte der ethnologisch gesicherten Figur des Chiefs - und insofern der konkreten Figur Sauls analog ist. Vgl. auch Carandini, A 511. 47 Das bestätigt die Frage nach dem angemessenen wissenschaftlichen Zugang. Eine gewisse Konjunktur haben anthropologische und soziologische Wege der Forschung erfahren. Vgl. aus der Fülle des Schrifttums Lang, B.: Anthropological Approaches to the Old Testament. London 1984 sowie Mayes, A D. M.: The Old Testament in Sociological Perspektives. London 1989. Neuere Einführungen in das Studium des Alten Testaments versuchen, diese Perspektiven als sozialgeschichtliche Analyse zu berücksichtigen, entsprechen aber nicht unbedingt dem Stand der
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men Finkelstein und Silbennann aus dem Tell el-Annarna-Archiv des bronzezeitlichen Ägyptens. Die Texte gehören als Briefe zur diplomatischen und militärischen Korrespondenz des Pharaos Amenophis III. und seines Sohnes Echnaton, die im 14. Jh. v. ehr. herrschten. Diese Texte schildern die kanaanitische Situation rund 100 Jahre vor der angeblichen Landnahme durch Israel. Das tributär eingegliederte Stadtstaatensystem Kanaans im 13. Jahrhundert lässt eine solche Eroberung kaum plausibel erscheinen. Der große Umbruch kam im 12. Jahrhundert großräumig in der gesamten mediterranen Welt als Zusammenbruch vieler großer Reiche (dazu 97 ff.). Aus der Merenptah-Stele48 ist zu entnehmen, dass es gegen 1207 v. ehr. ein Volk namens Israel in Kanaan gab. Aber die nähere Entschlüsselung des Namens ist und bleibt fraglich, ja rätselhaft. Wahrscheinlich gab es eine gewisse regional ansässige soziale Gruppe, die sich kulturell (mehr oder weniger) abhob vom Umfeld. Mehr aber wohl nicht. Von einer quasi-vormonotheistischen JHWH-Väter-Religion wird man nicht sprechen können. Frühisraelitisches Kulturgut entwickelte sich eben endogen aus der kanaanitischen Kultur49 und regionalisierte sich endogen50 in Kanaan aus. Mit Blick auf die neuesten archäologischen Befunde argumentieren Finkelstein und Silbennan (123): "Daß die Überreste eines dichten Netzes von Dörfern im Bergland - alle anscheinend innerhalb weniger Generationen gegründet - entdeckt wurden, ließ darauf schließen, daß um 1200 v. ehr. im westjordanischen Bergland ein dramatischer sozialer Wandel stattgefunden hatte. Es gab keine Anzeichen für eine gewalttätige Invasion, genauso wenig wie für die Infiltration einer klar definierten ethnischen Gruppe. Stattdessen schien eine Revolution der Lebensweise stattgefunden zu haben. In den zuvor dünn besiedelten Gebieten des Judäischen Berglands im Süden bis zum Bergland von Samaria im Norden, weitab von den kanaanäischen Städten, die kurz vor ihrem Zusammenbruch und ihrer Auflösung standen, entstanden unvennittelt zweihundertfünfzig Gemeinden auf Bergspitzen. Hier lebten die ersten Israeliten." Diese waren noch nicht von exklusiver ethnischer Künste. Vgl. z.B. Kreuzer, S. u.a.: Proseminar I. Altes Testament. Ein Arbeitsbuch. Stuttgart u. a. 1999. 48 Vgl. dazu Zwickel, W.: Einführung in die biblische Landes- und Altertumskunde. Darmstadt 2002, 18 (mit Literatur). Vgl. auch Malamat, A.: History of Biblical Israel. Leiden u. a. 2001: 7 mit Bezug auf Engel, H.: Die Siegesstele des Merenptah. Biblica (60) 1979, 373-399, kurz auch Engel, H.: Die Siegesstele des Merenptah. In Bibel und Kirche 38 (2) 1983, 54. 49 Vgl. religionsgeschichtlich Loretz, 0.: "Kanaanäer" und "Israeliten". UgaritForschungen (24) 1992, 249-258 sowie prägnant Niehr, H.: Religionen in Israels Umwelt. Würzburg 1998, 238. 50 Vgl. dazu Zwickel, W.: Einführung in die biblische Landes- und Altertumskunde. Darmstadt 2002, 48 f., u. a. mit Bezug auf Jericke, D.: Die Landnahme im Negev. Protoisraelitische Gruppen im Süden Palästinas. Eine archäologische und exegetische Studie. Wiesbaden 1997.
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Identität geprägt; aber retrospektiv war dies der kulturgenerierende regionale Kontext, denn die Dörfer blieben bis in die Königszeit hinein weitgehend bewohnt, also in einer Zeit lebendig, von der nachweislich bekannt ist, dass sich die dortigen Bewohner als Israeliten verstanden haben. 51 Finke1stein und Silbennan können nun darlegen, dass dieser Raum schon mehrfach besiedelt und entsiedelt worden ist (vgl. die Tabelle auf 130). In der Eisenzeit I (1150-900 v. Chr.) kam es zur dritten Besiedlungswelle; ca. 250 Dörfer entstanden. In der Eisenzeit 11 (900-586 v. Chr.) wächst die Besiedlung auf mehr als 500 Orte (8. Jahrhundert) an. Dies ist der siedlungsstrukturelle Hintergrund der langen Entwicklungsgeschichte Israels. Der "nomadensoziologische" Hintergrund ist evident: Hirtennomadenturn und sesshafte Bauernwirtschaft können sich - je nach situativer Erfordernis - abwechseln und als ökonomische Fonnen ineinander übergehen. Diese Theorie ist wesentlich komplexer als die älteren - naiven - Vorstellungen von der nomadischen Landnahme, die - mit Bezug auf eine Exodus-Gruppe - von binär codierten Lebensfonnen ausgingen. 52 Der Süden war also (bis zum Fall des Nordreiches durch die assyrische Invasion53 ) deutlich unterentwickelt und dörflich strukturiert; Jerusalem urbanisierte sich erst im späten 8. Jahrhundert (249, 266-267). Der Verfasser zieht daraus den Schluss, dass sich gerade im Süden - in Juda - die königskritische Tradition einer relativ egalitären, aber patriarchalischen Gesellschaftsidee halten konnte, die aus prä- bzw. protourbanen Sozialsystemen stammen. Das alles bedeutet nun nicht, dass es das Haus David nicht gab. 54 Die Haus-David-Inschrift, ein Bruchstück einer Stele aus schwarzem Basalt, fand man 1993 in der biblischen Stätte Tell Dan in Nordisrael. Für den 51 Dieser Befund liest sich recht gut in Parallelität zu A. Carandini (Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 2(02), die die frühe Geschichte der Latiner mit Rückgriff auf die Theorie der Proto-Staatlichkeit einfacher bzw. komplexer Chiefdoms darlegt. 52 An dieser Stelle sind einige Bemerkungen zu den Mari-Texten zu machen. Ohne die Diachronie der biblischen Historiographie zu bemühen, könnten die MariFunde als synchrone Komparatistik die protoisraeltische Sozialstruktur (nicht einer Patriarchen-Epoche) transparenter machen. Vgl. Malmnat, A.: History of Biblical Israel. Leiden u.a. 2001 sowie ders.: Mari and the Bible. Leiden u.a. 1998. Nach Malamat würden sich dergestalt tribal-nomadische Sozialstrukturen patrilinearer Clane mit extended-farnily-Kernen auftun. Diese normadische Urschicht der israelitischen Gruppe könnte als amoritische Westsemiten einzuschätzen sein. Vgl. auch Anhar, M.: Les tribus amurrites de Mari. Freiburg/Göttingen 1991. 53 Vgl. dazu auch grundlegender Röllig, W.: Assur - Geißel der Völker. Zur Typologie aggressiver Gesellschaften. Saeculum (37) 1986, 116-127. Zur expansiven Außenpolitik Assyriens vgl. auch Otto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 299 FN 113 (mit weiterer Literatur). 54 Malamat, A.: History of Biblical Israel. Leiden u. a. 2001, 414.
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Zeitpunkt knapp 100 Jahre nach der Herrschaft von Davids Sohn Salomon liegt also ein Beleg für die davidische Dynastie vor (146). Eventuell belegt auch eine Inschrift von Mescha, dem König von Moab im 9. Jahrhundert v. Chr., diese David-Tradition (146). Aber all das sagt noch nichts aus über die reale politische und wirtschaftliche Größe und Verfasstheit der davidisch-salomonischen Monarchie (159, 167 f.). Und das ist - aber - der springende Punkt. Im Lichte des bereits angesprochenen regionalisierten Dualismus des Nordens und des Südens (56 f., 168, 304) schreiben Finkelstein und Silberman: "Gute Gründe lassen darauf schließen, daß es immer zwei verschiedene Gemeinwesen im Bergland gegeben hat, von denen das südliche stets ärmer, schwächer, ländlicher und auch weniger einflußreich war - bis es nach dem Niedergang des Nordreichs Israels plötzlich zu sensationeller Bekanntheit aufsteigt." (168; kursiv auch im Original; vgl. auch 171) Finkelstein und Silberman heben mit Blick auf die oben aufgeworfene Frage nach dem Realbezug der davidisch-salomonischen Monarchie die Herrschaftsbildung unter dem Haus Omri (884-842 v. Chr.)55 heraus, um den Übergang zu einer typischen orientalischen Monarchie darzulegen (188 ff.). Die Hypothese lautet also, dass die Omriden, und nicht Salomon die erste vollendete Monarchie in Israel gründeten (207). Die große Sozialkritik56 - die von Amos 57 - richtete sich ja auch an das Nordreich, an Jerobeam 11. (233), ist aber durchaus im dtn Lichte58 gefasst. 59 Auch mit Blick auf die Entwicklungsgeschichte des JHWH-Monotheismus (254) war die gesamte Ideologie der Großreiche unter David und Salomon eine Rückprojektion (268 f.): "Kurz: Die Saga von Israel, wie sie sich zur Zeit Josias zum ersten Mal herausbildete, wurde der erste, vollständig 55 Vgl. auch Timm, S.: Die Dynastie Omri. Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Israels im 9. Jahrhundert vor Christus. Göttingen 1982. 56 Blenkinsopp, J.: Geschichte der Prophetie in Israel. Stuttgart u. a. 1998, 86 sowie 96. 57 Dazu insbesondere Fleischer, G.: Von Menschenverkäufern, Baschankühen und Rechtsverkehrern. Die Sozialkritik des Amosbuches in historisch-kritischer, sozialgeschichtlicher und archäologischer Perspektive. Frankfurt am Main 1989. 58 Dazu auch Schmidt, W. H.: Die deuteronomistische Redaktion des Amosbuches. Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft (77) 1965, 168-193. Vgl. zur deuteronomischen Interpretation von Jeremias: Maier, Chr.: Jeremia als Lehrer der Tora. Soziale Gebote des Deuteronomiums in Fortschreibungen des Jeremiabuches. Göttingen 2002. Zur weiterführenden patrizischen (schafanidischen) Redaktion des Jeremiabuches vgl. Stipp, H.-J.: Jeremia, der Tempel und die Aristokratie. Waltrop 2000. 59 Blenkinsopp, J.: Geschichte der Prophetie in Israel. Stuttgart u.a. 1998, 81. Blenkinsopp (88) sieht auch Hosea in der Tradition der Königskritik im Nordreich. Will man diese Prophetie als amphiktyonistisch bezeichnen, so ist allerdings auch der dtn Ursprung zu beachten (94).
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ausfonnulierte Nations- und Gesellschaftsvertrag der Welt, der die Männer, Frauen und Kinder, die Reichen und Armen einer ganzen Gemeinschaft einbezieht." (337) Erst im Lichte dieser kollektiven Identitätsfindung monopolisierte der Süden die reine Kultpraxis; er war zugleich die Kritik an einer pluralen Kultpraxis in einer multi-ethnischen Nation (211), und bleibt somit - im aktuellen Lichte - problematisch. Josias große Refonn (295) bastelte sich somit eine eigene ideelle Vorgeschichte. Das Deuteronomium (297, 301-302) innerhalb des Pentateuchs (bzw. der Thora) hat seine Kemwurzeln entsprechend im 7. Jahrhundert, wenngleich es sich weiterentwickelte, fortgeführt und ergänzt sowie überarbeitet wurde in exilischer und nachexilischer Zeit (317, 324, 332). Infolge der historischen Wechsellagen wurde das Deuteronomistische Geschichtswerk60 immer wieder auf den neuesten Stand gebracht (324).61 3. "Primitive Demokratie" in der vor-staatlichen Zeit? (I) Zunächst zurück zum Thema der Schuldknechtschaft. Die Analyse erhebt hier nicht den Anspruch, das Altertum mittels analytischer Kategorien kapitalistischer Klassenverhältnisse zu analysieren, aber gewisse Elemente finden sich durchaus in allen historischen Kontexten. 62 Das Phänomen der bedrückenden Schuldknechtschaft ist in dem eben hier nun abgehandelten gemeinorientalischen Kontext der Imperien der sakralen Königsherrschaft ubiquitär. Und es bezeichnet eine Inhumanität ersten Ranges, denn der personale Status der Autonomie wird bedrängt oder geht gar verloren. Die Schuldknechtschaftsproblematik im orientalischen Altertum wie in der griechisch-römischen Antike verweist offensichtlich auf eine gemeinsame soziale Krise: die Erosion des freien Kleinbauems. Wird der selbstständige Oikos noch die gesellschaftliche Grundlage der Polis-Bildung im Kontext des homerischen und des archaischen Protoplasmas nach der Devolution der mykenischen Sozialstruktur darstellen (dazu Kapitel B.IIL 63 ), so gehört das Thema des sozialen Schicksals des freien Kleinbauems offen60 Vgl. auch Hoffmann, H.-D.: Reform und Reformen. Untersuchungen zu einem Grundthema der deuteronomistischen Geschichtsschreibung. Zürich 1980. Vgl. ferner Veijola, T.: Das Königtum in der Beurteilung der deuteronomistischen Historiographie. Helsinki 1977. Schließlich Blenkinsopp, J.: Geschichte der Prophetie in Israel. Stuttgart u. a. 1998, 55. 61 Zur Kritik am Konzept eines deuteronomistischen Geschichtswerks vgl. Otto, E.: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002, 8. 62 Vgl. auch Silver, M.: Prophets and Markets. The political economy of Ancient Israel. Boston u. a. 1983. 63 Dazu aber auch Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 45 f.
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sichtlich auch zum Themenspektrum der königskritischen Tradition im alten Testament. Gab es in der vor-staatlichen Zeit eine Vorherrschaft des freien Grundbesitzers, die durch die Transformation zum gemeinorientalischen Königtum gebrochen wurde? War diese Ideologie des freien Bauers die Grundlage für die königskritische Tradition? Und korrelierte dieser königskritischen Ideologie eine dörfliche Siedlungsstruktur im ländlichen Raum, die genossenschaftsartig zu verstehen ist? Und ebenfalls den Problemstellungen der "homerischen Frage" verwandt (vgl. auch Kapitel B.III.), bleibt in der alttestamentlichen Forschung die grundsätzliche und äußerst bedeutungsvolle Frage kontrovers, ja (zumindest im vielfachen Detail) ungeklärt, wie der historische Aussagegehalt des alten Testaments einzuschätzen ist. Das ist auch eine Frage des Zusammenspiels von Schrift, Schriftlichkeit und mündlicher Überlieferungsgeschichte. 64 Die "Stockholmer Schule", insbesondere Lemche65 , argumentiert diesbezüglich radikal ablehnend. Das ist aber zunächst dramatisch, stellt doch die königskritische Tradition des Alten Testaments eine besondere Quelle dar, da dort das Spannungspotential von Herrschaft und Genossenschaft (ethnosoziologisch ausgedrückt: primitive Demokratie) im gemeinorientalischen Rahmen vergleichend evident ist66 . Kontrovers ist folglich - datierungsabhängig (vorstaatlich, sieht man von oralen Gedächtnissystemen67 einmal ab, wohl kaum, aber spät-vorexilisch, exilisch, nach-exilisch, also persischer oder gar 64 Zur Entstehung, Entwicklung und Überlieferung vgl. zur Einführung: Levin, Chr.: Das Alte Testament. München 2001. Vgl. ferner Dtto, E.: Das Deuteronomium im Pentateuch und Hexateuch. Studien zur Literaturgeschichte von Pentateuch und Hexateuch im Lichte des Deuteronomiumrahmens. Tübingen 2000. Ferner vgl. Levin, Chr.: Der Jahwist. Gießen 1993 sowie Blum, E.: Studien zur Komposition des Pentateuch. Berlin 1990. Vgl. aber auch Veijola, T.: Moses Erben. Studien zum Dekalog, zum Deuteronomismus und zum Schriftgelehrtenturn. Stuttgart u. a. 2000, 23, zum Dtn 235. Gegen Veijola Theorie eines DtrN-Lehrhauses Dtto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 294 FN 95. Vgl. auch Dtto, E.: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002, 59 FN 228 (mit Bezug auf die Kritik von Koch). 65 Vgl. u. a. Lemche, N. P.: The Israelites in History and Tradition. London 1998. Dazu auch Malamat, A.: History of Biblical Israel. Leiden u. a. 2001, 411. 66 Neu, R.: Von der Anarchie zum Staat. Entwicklungsgeschichte Israels vom Nomadenturn zur Monarchie im Spiegel der Ethnosoziologie. Neukirchen/Vluyn 1992; sehr systematische, sozialgeschichtlich-ethnologische Kontextanalyse bietend, aber primär religionsgeschichtlich orientiert: Gerstenberger, E. S.: Theologien im Alten Testament. Stuttgart u. a. 2001. 67 Aus der Fülle des Schrifttums vgl. nur Schott, B. R.: Das Geschichtsbewußtsein schriftloser Völker. Archiv für Begriffsgeschichte (12) 1966, 166-205, zum kollektiven Gedächtnis vgl. dort 184 ff. Das Thema des kollektiven Gedächtnisses erfreut sich einer zunehmenden Aufmerksamkeit. Vgl. auch Echterhoff, G./Saar, M. (Hrsg.): Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Konstanz 2002.
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B. Die vorchristlichen Wurzeln
hellenistischer Entstehungskontext) - die Frage der diachronischen Lesbarkeit des AT mit Blick auf die sozialgeschichtlichen Inhalte, die im AT als Text enthalten sind. 68 Dieser radikal-kritische Vorbehalt gegenüber der diachronischen Authentizität des AT betrifft auch die Thematik der (Organisation) des Rechtswesens, das genossenschaftswissenschaftlich von Interesse ist. Daher ist die Fachliteratur höchst kontrovers. Dieser institutionengeschichtliche Fragenkomplex ist nicht unbedeutend, betrifft er doch die Suche nach der Existenz und Längsschnittentwicklung von Formen "primitiver Demokratie", also von Selbstverwaltungskörperschaften, mithin von Gebilden wie das der Richter, der Ältesten(räte), der Volks- oder Vollversammlung, der Versammlung der (freien, waffentragenden) Männer u. a. m. (vgl. auch weiter unten den Abschnitt B.II.5.). Die religionsgeschichtliche wie auch exegetische Forschung69 hat die Geschichte Israels in der Regel unterteilt in drei Phasen7o : die Phase der vor-staatlichen Zeit, die Phase des sakralen Königtums und die Phase der Staatslosigkeit der nach-exilischen Zeit. Nun ist, wie schon vermerkt, die historische Relevanz der alttestamentlichen Texte recht kontrovers. Die Verwertbarkeit der diachronischen Aussagen hängt natürlich sehr von der Datierung der Textentstehungen und redaktionellen Entwicklungen ab. Und gerade im Lichte der zunehmenden Spätdatierungen in der neueren historisch kontextualisierten exegetischen Forschung wird dieses Problem der historischen Aussagekraft der Texte immer problematischer. Aber auch unabhängig von der validitätsbezogenen Gütequalität der alttestamentlichen Textquelle wird man (quasi-minimalistisch71 ) für den Lebensraum, auf den sich das Alte Testament bezieht, einige institutionenge68 In diesem Lichte ist der Anspruch von W. H. Schmidt (Einführung in das Alte Testament. 5., erw. Aufl. Berlin/New York 1995, VI) nicht unproblematisch, "in einer nicht leicht durchsichtigen Forschungssituation den oft unausgesprochenen bleibenden Konsens eines Grundwissens" zu definieren. Vgl. auch am Beispiel des Deuteronomiums Albertz, R.: Wer waren die Deuteronomisten? Das historische Rätsel einer literarischen Hypothese. In Evangelische Theologie 57 (4) 1997, 319-338, hier 320, wo Albertz von einem "fröhlichen Wildwuchs dtr. Hypothesenbildung" und von der Produktion "merkwürdig diffuse(r) und widersprüchliche(r) Antworten" spricht. 69 Vgl. zur Orientierung Janowski, B./Köckert, M. (Hrsg.): Religionsgeschichte Israels. Formale und materiale Aspekte. Gütersloh 1999. Vgl. auch Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 10: Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments? Neukirchen/Vluyn 1995. 70 Schmidt, W. H.: Einführung in das Alte Testament. 5., erw. Aufl. Berlin/New York 1995,7. 71 Neben Lernehe vgl. auch Thompson, Th.L.: The Bible in History. How Writers Create a Past. London 1999. Siehe auch Linville, 1. R.: Israel in the Book of the Kings. The Past as a Project of Social Identity. Sheffield 1998. Vgl. ferner Malamat, A.: History of Biblical Israel. Leiden u. a. 2001, 411.
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schichtliche Aussagen treffen können, die vor allem auch aus historischem und ethnologischem Vergleichsmaterial resultieren. Ohne hier das (unübersehbare) Literaturmaterial diskutieren zu können72, bietet es sich an, für die vor-staatliche Zeit komplizierte genossenschaftsartige Siedlungsformen anzunehmen, die familiale bzw. verwandtschaftliche Kerne aufweisen, aber als Verörtlichung im Sinne von Lokalität nicht rein verwandtschaftlich zu verstehen sind - eine Perspektive, die auch kompatibel ist mit den neueren, äußerst komplex gedachten, endogenen Formierungsprozessen israelischer Gruppen in der späten Bronzezeit, also in jener Zeit, in der es die großräumigen Umbrüche im gesamten Mittelmeerraum gab. 73 Hierbei ist im Lichte der neuesten Forschung von einer Überwindung des ideologischen Dualismus von Kanaan und Israel auszugehen. Sowohl religionsgeschichtlich74 als auch hinsichtlich der Soziogenese muss vielmehr75 von einem stärker endo72 Das gilt auch für die Studien von De Geus, Gottwald, Mendenhall u. a., die hier - da sie in der Sekundärliteratur ausgiebig diskutiert worden sind - nicht weiter referiert werden müssen. 73 Relevant ist die Spätbronzeitzeit IIB: 1300 v. Chr. - 1200 n. Chr. sowie die Eisenzeit I: 1250 v. Chr.-l000 n. Chr. (frühe Eisenzeit). Wurden im 13. Jh. v. Chr. Israels Stämme bereits in Kanaan ansässig? Gab es Streusiedlung unter anderen Völkern als sog. "Richter"-Zeit? Die neuere archäologische Forschung (V gl. u. a. Coote, R. B./Whitelam, K. W.: The Emergence of Early Israel in Historical Perspective. Sheffield 1987; vgl. ferner Hopkins, D. C.: The Highlands of Canaan. Agricultural Life in the Early Iron Age. Sheffield 1985; vgl. dazu die Besprechung von Weippert, H./Weippert, M.: Besprechung von O. Borowski: Agriculture in Iron Age Israel (1987) und D. C. Hopkins: The Higlands of Canaan. Agricultural Life in the Early Iron Age (1985). Zeitschrift des deutschen Palästina-Vereins (104) 1988, 163167) hat mit vielen Mythen aufgeräumt. Soziologisch und ethnosoziologisch gehaltvolle Siedlungsarchäologien haben kompliziertere Rekonstruktionen endogener Sozialstruktur- und Staatsbildungsprozesse entwerfen können. Eine komplexe sozialstrukturelle Theorie endogener Gruppenbildung präsentieren Coote und Whitelam, die aber kritisch einzuordnen sind in die obigen Ausführungen zu Finkelstein und Silberman. Exogener Anstoß war der Zusammenbruch internationaler Handelsnetze in dem großräumigen Erosionsprozess am Ende der späten Bronzezeit. Es handelte sich dann in der Besiedlung der hügeligen Hinterlandregionen um eine Gemengelage von Kanaanem aus urbanen Räumen, Nomaden und Banditengruppen. Sozialstrukturtheoretisch wird angenommen, dass Nomaden und Bauern keineswegs binär getrennt sind, funktionale und personale Vermischungen sind verbreitet. Der Handel hat auch Nomaden und Städter oftmals verbunden. Israel ging aus Kanaan hervor. Das alles bedeutet auch mehr und anderes als Malamats Theorem der "dimorphic society" (Malamat, A.: History of Biblical Israel. Leiden u. a. 2001, 24). Dann die Eisenzeit 11 und IIA sowie IIBtC: 1000-900 und 900-586: 1025-586 v. Chr. war sodann die Zeit der "Könige" (1010-955 v. Chr. : Saul, David, Salomo). Coote und Whitelam sehen neben exogenen Faktoren hier weitgehend einen endogen zu verstehenden Prozess vorliegen. Israel durchlief den Weg von einer segmentierten Gesellschaft über die Phase des Chiefdom zum frühen Staat. Hintergrund waren endogene Prozesse der Reichtumsakkumulation einiger Familien (vgl. S. 149, 153-155). Letzter Aspekt ist nicht unwichtig für die königskritische Tradition aus der Sicht des freien Kleinbauerns der vorstaatlichen Zeit.
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B. Die vorchristlichen Wurzeln
genen Fonnationsprozess auszugehen sein (verwandt den ethnogenetischen Fonnationsanalysen in der Etruskologie - darauf ist in Kapitel B.III. nochmals zurückzukommen76). Die sich abzeichnenden Deurbanisierungsprozesse und Neubesiedlungsprozesse des Berglandes hängen dann wohl auch in exogener Hinsicht mit dem Zusammenbruch des überregionalen Handels (im Kontext der sogenannten "Seevölker"-Invasion77 ) zusammen78 . Diese genossenschaftlichen Siedlungsverbände mögen - darauf wird unten nochmals zu sprechen kommen sein - in wahrscheinlich nicht spannungsloser Weise auch während der Königszeit fortbestanden und zum Teil Vorbilder abgegeben haben für die Rekonstitution von Selbstverwaltungskörperschaften in der nach-exilischen Perserzeit. Aus diesen Erfahrungstraditionen mag sich auch die königskritische Ideologie getränkt haben. Diese - wie auch immer genau zu bestimmenden - Institutionenzusammenhänge (vgl. auch Abschnitt B.III.3.) deuten an, dass die nach-exilische Zeit auf Bilder von genossenschaftsartigen Siedlungskörperschaften zurückgreifen konnten: auf Ideen der Volksversammlung und der Ältestenräte. Selbst dann, wenn die ebenfalls in der Literatur vertretende Meinung zutreffen sollte, dass lokale Selbstverwaltung (von Regionen im Vasallenstatus79) eher ein effizientes (und somit spätes, nicht mythisches 8o) Herrschaftsinstrument tributär orientierter imperialer Großreiche (wie das der Perser) war8 1, so bleibt doch der plausible Rückgriff gerade dieser Herrschaftstechnik auf 74 Wichtige Befunde finden sich in Keel, O./Uehlinger, Chr.: Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen. Freiburg u. a. 5. Aufl. 2001. Vgl. auch Niehr, H.: Religionen in Israels Umwelt. Würzburg 1999. 75 Dabei müssen binäre Codes des kulturellen Dualismus in der Kanaan-Palästina-Forschung überwunden werden. Vgl. etwa bei Dietrich, W.: Israel und Kanaan. Vom Ringen zweier Gesellschaftssysteme. Stuttgart 1979. Vgl. auch die Vielschichtigkeit der Königskritik bei Veijola, T.: Moses Erben. Studien zum Dekalog, zum Deuteronomismus und zum Schriftgelehrtenturn. Stuttgart 2000, 202. 76 V gl. nochmals - auf die latinische Frühgeschichte bezogen - A. Carandini: Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 2002. 77 Vgl. Deger-Jalkotzky, S.: Griechenland, die Ägäis und die Levante während der "Dark Ages" vom 12. bis zum 9. Jahrhundert v. Chr. Wien 1983 sowie Lehmann, G. A.: Die mykenisch-frühgriechische Welt und der östliche Mittelmeerraum in der Zeit der "Seevölker"-Invasion um 1200 v. Chr. Opladen 1985. Vgl. ferner u. a. Oren, E. D. (Hrsg.): The Sea Peoples and their Material Culture. A Reassessment. Philadelphia 2000. Speziell zu den Philistern vgl. Dothan, T./Dothan, M.: Die Philister. Zivilisation und Kultur eines Seevolkes. München 1995. 78 Dazu auch Strange, J.: The Transition from the Bronze Age to the Iron Age in the Eastern Mediterranean and the Emergence of the Israelite State. Scandinavian Journal of the Old Testament (1) 1987, 1-19. 79 Das wird bei der Frage der Entstehung der nach-exilischen Gemeinde eine Rolle spielen. Vgl. Schaper, J.: Priester und Leviten im achämenidischen Juda. Tübingen 2000, 138 ff.
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die Tradition "primitiver Demokratie", die es vielleicht (eventuell im Entwicklungsumfeld der Obed-Zeit82) auch im vor-staatlichen Zeitraum im mesopotamischen Kontext gab (wenn man in der Tradition der diesbezüglichen Thesen von Th. Jacobsen 83 denkt84), bestehen. 85 Insofern stellt nach 80 Dies ist ethnologisch allerdings nicht plausibel. Vor dem Staat gab es prä- und proto-staatliche Sozialformen. Muss es gegeben haben. Das Problem ist, diese gestaltbezogen näher charakterisieren zu können. 81 Vgl. etwa Van de Mieroop, M.: The Ancient Mesopotamian City. Oxford 1997, 133-35. Van de Mieroop über Jacobsen (133 f.): "Based primarilyon literary material of the second millennium, Jacobsen painted an almost Biblical picture of the rise of kingship in the third millennium. After aperiod when the assembly elected a military leader in times of crisis, aperiod of ,primitive democracy', this power was usurped by the elected leader who forced the citizen to appoint hirn king for life. This evolution perfectly parallels the depiction of the rise of kingship in the book of Samuel in the Bible." Und dagegen setzt Mieroop (135): "Can we discem an evolution from ,primitive democracy' to an absolute monarchy in the Mesopotamian record? I beliewe not, and wish to postulate instead the reserve: as the territory ruled by Mesopotamian kings became larger and the population more diverse, the urban citizenry gained importance in its relationship to the king." 82 Vgl. auch Bernbeck, R.: Die Auflösung der Häuslichen Produktionsweise. Das Beispiel Mesopotamiens. Berlin 1994. D. C. Snell hält in seiner Monographie "Life in the Ancient Near East" (New Haven/London 1997: 13) fest: "Socalled ranked societies tend to have recognized leaders but not permanent institutions to support them, and their settlements are likely to be in areas where might strive to be selfsufficient instead of relying on exchange with other settlements. This appears to be the case in Mesopotamia at least until the Ubaid period (5000 to 3500 B.C.E.)." Vgl. auch Bernbeck, R.: Die "Obed"-Zeit: religiöse Gerontokratien oder Häuptlingstümer? In Bartl, K. u. a. (Hrsg.): Zwischen Euphrat und Indus. Aktuelle Forschungsprobleme in der vorderasiatischen Archäologie. Hildesheim u.a. 1995,44-56. 83 Jacobsen, Th.: Primitive Democray in Ancient Mesopotamia. Journal of Near Eastern Studies 2 (3) 1943, 159-172 sowie ders.: Early political development in Mesopotamia. Zeitschrift für Assyriologie. NP 18, 1957,91-140. 84 D. C. Snell argumentiert zur These von Jabobsen in seiner Monographie "Life in the Ancient Near East" (New Haven/London 1997: 17): "The problem with the Early Dynastie period, though, is that little material comes directly from the earlier parts of it, and a lot more comes from the end. (... ) Early Dynastie I lastes from about 3000 to 2800 B.C.E., and our guesses about it, based entirely on later texts, include that it may have seen a kind of primitive democracy in which notables made decisions by consensus, perhaps including even people from serveral different cities meeting in a central place like Nippur, which eventually became the religious capital of the plain." Vgl. auch Pollock, S.: Ancient Mesopotamia. Cambridge u.a: 1999, 5. Mehr in MaiseIs, Ch. K.: The Near East. Archaeology in the "Cradle of Civilization". London/New York 1993, 142 ff. 85 Die hier nicht dokumentierbare Literatur von G. Evans, J. B. Jusifov, H. Klengel, C. U. Wolf, H. Tadmor u. v. a. ist aber oftmals von der Quellenlage her gesehen problematisch einzuschätzen und im Gesamtgefüge der Befunde schwierig zu vergleichen. Man denke nur an die Vergleiche zu den Beduinennomaden (Donner, H.: Geschichte des Volks Israels und seiner Nachbarn in Grundzügen. I. 2., durchgesehene und ergänzte Aufl. Göttingen 1995, 56 ff.; vgl. auch Dostal, W.: Egalität
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B. Die vorchristlichen Wurzeln
Auffassung des Verfassers die Gemeindebildung der nach-exilischen Zeit eher nur eine, wenn auch besondere Variante der von Gierke so beschriebenen ewigen Dialektik des Mit-, Gegen- und Nebeneinanders von Herrschaft und Genossenschaft dar. Gemeinde ist im Grunde dem Gildenprinzip86 nachgebildet: als System des verörtlichen Gebens und Nehmens in der Dichte des Wohnens. 87 D.h., es handelt sich um Formen der räumlichen Sozialverdichtung, die sich zwischen Familialität und Verwandtschaftlichkeit (in der Fiktivität der Bruderschaftlichkeit88) einerseits und der Staatlichkeit andererseits ansiedeln. Es kann von Kommunalität gesprochen werden. Die neuesten Forschungen und Forschungsberichte zu den Familienstrukturen des alten Israels (etwa der Eisenzeit I: 1200 bis 1000 v. ehr.) lassen demnach den Schluss zu, dass hier weitgehend artifizielle Strukturen vorliegen. Diese mögen die Kleinfamilie zum Kern haben89 , verdichten sich als "extended families,,9o im Sinne eines Systems konzentrischer Kreise aber zu Residenznetzwerken, die man als Klans (im Rahmen von "konischen" Ordnungen?) bezeichnen kann, aber nicht in einem durchweg biologischen Sinne. 91 Neu zeigt im Lichte seiner ethnosoziologischen Materialaufbereitung, dass und wie sich die fiktive Verwandtschaftlichkeit der altund Klassengesellschaft in Südarabien. Horn/Wien 1985). Neuere Studien zur "primitiven Demokratie" der "Richterzeit" siedeln sich - nach Ansicht des Verfassers nicht unproblematisch - im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit der These vom "Wunder" der griechischen Polis an. Die ethnosoziologische Einschätzung der vor-staatlichen Epoche mit Textbefunden des AT ist natürlich nicht unproblematisch. Auf diese Themenkreise und die dazugehörige Literatur wird in Kapitel B.III.3. einzugehen sein. 86 Ähnlich Scharbert, J.: Solidarität und Fluch im Alten Testament und in seiner Umwelt. Bd.l: Väterfluch und Vätersegen. Bonn 1958, 16. 87 Damit knüpft die Analyse an die These des kommunitären Prinzips im Alten Testaments an: Vgl. dazu Von Soosten, J.: Die "Erfindung" der Sünde. Soziologische und semantische Aspekte zu der Rede von der Sünde im alttestamentlichen Sprachgebrauch. In Jahrbuch für Biblische Theologie. Bd. 9: Sünde und Gericht. Neukirchen/Vluyn 1994, 87-110, hier 90. 88 Diesbezüglich ist die Studie von Jusifov nicht uninteressant, der für Elam im 2. Jahrtausend v. ehr. eine Dorfgemeindewirtschaft und Bruderschaftsverträge annimmt. Vgl. lusifov, J. B.: Zu den sozialökonomischen Verhältnissen in Elam. In Klengei, H. (Hrsg.): Beiträge zur sozialen Struktur des alten Vorderasien. Berlin 1971,61--68, hier 61 f. 89 Was ohnehin ubiquitär ist: Goody, J.: Geschichte der Familie. München 2002. 90 In der einschlägigen Debatte spielen vor allem die Studien von L. E. Stager (The Archaeology of the Family in Ancient Israel. Bulletin of the American Schools of Oriental Research (260) 1985, 1-35) und von Halpern zu den Familienverhältnissen im sozialen Wandel eine maßgebliche und nachhaltige Rolle. Vgl. auch Perdue, L. G. u. a.: Families in Ancient Israel. Louisville, Kentucky 1997. Griechisches Vergleichsmaterial (Gallant, Th.: Risk and Survival in Ancient Greece. Stanford 1991, 23) legt die These nahe, eher von "joint" als von "extended families" zu sprechen.
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israelitischen "Stämme" erst nach der "Sesshaftwerdung" (über die, wie schon angeführt, heute siedlungsarchäologisch fundierte komplizierte Modelle mit endogenen und exogenen Variablen vorliegen) vermittels der Territorialität als verörtlichte Nachbarschaftlichkeit herausbildet. 92 Neu spricht vom Prinzip der Lokalität93 . Die Ausführungen sollen andeuten, dass die älteren ethnologischen Kategorien94 der Klans und Stämme nicht nur unscharf sind95 , sondern wegen ihren überzogenen bio-verwandtschaftssoziologischen Prämissen zugunsten einer Soziologie der genossenschaftsartig-nachbarschaftlichen Siedlungsformen 96 aufgegeben werden sollten. 97 Kernstrukturen dieser Lokalitäten wer91 Vgl. Literatur in Schulz-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000, 23 FN 10. 92 Neu, R.: Von der Anarchie zum Staat. Entwicklungsgeschichte Israels vom Nomadenturn zur Monarchie im Spiegel der Ethnosoziologie. Neukirchen/Vluyn 1992, 215,223. 93 Neu, R.: Von der Anarchie zum Staat. Entwicklungsgeschichte Israels vom Nomadenturn zur Monarchie im Spiegel der Ethnosoziologie. Neukirchen/Vluyn 1992, 216. Es findet sich derartigen Vorstellungen zur Örtlichkeit der Gemeinde als fiktive Verwandtschaft auch in der Soziologie von Georg Simmel. 94 V gl. zum Beispiel mit rechtsgeschichtlichem Bezug, der später noch behandelt werden muss: Richter, W.: Zu den "Richtern Israels". Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 77, 1965, 40-72. Auch viele Studien von H. Klengel (mit Bezug auf die Mari-Texte oder auf sumerische und altakkadische Quellen basierend) haben die Frage nach primitiv-demokratischen Sozialgebilden, insbesondere die der Ältesten gentilizisch an tribalen Strukturen festgemacht. Allerdings hatte Klengel ein Auge dafür, dass sich tribale Muster bald ersetzen durch verörtlichte soziale Bindungen. Vgl. Klengei, H.: Seßhafte und Nomaden in der alten Geschichte Mesopotamien. Saeculum 17, 1966, 205-222. Entsprechend hat Thiel, der an älteren starnmessoziologischen Thesen hängt (Thiel, W.: Gelebte Geschichte. Studien zur Sozialgeschichte und zur frühen prohetischen Geschichtsdeutung Israels. NeukirchenlVluyn 2000) auch Probleme mit den Spätdatierungen, die die neuere Forschung vorwiegend einnimmt (vgl. Thiel, W.: Besprechung zu: Fechter, F.: Die Familie in der Nachexilszeit. Theologische Literaturzeitung 124 1999, 1214-1217), weil damit die Tribalitätsvorstellung der vor-staatlichen Zeit Israels als historischer Aussagegehalt der Bibel fragwürdig wird. Die Harmonisierungsbedürfnisse sind eben stark ausgeprägt, und die "biblische Archäologie" neigt nach wie vor zur textkompatiblen Deutung des archäologischen Materials: vgl. etwa Mazar, A.: The Iron Age I. In Ben-Tor, A. (Hrsg.): The Archaeology of Ancient Israel. New Haven/London 1992, 258-301. Ähnlich Hacket!, J. A.: "There was no King in Israel". The Era of the Judges. In Coogan, M. D. (Hrsg.): The Oxford History of the Biblical World. Oxford 1998, 177-218 sowie Stager, L. W.: Forging an Identity. The Emergence of Ancient Israel. In Coogan, M. D. (Hrsg.): The Oxford History of the Biblical World. Oxford 1998, 123-175. 95 Vgl. auch Uif, Chr.: Die homerische Gesellschaft. München 1990,217 ff. 96 V gl. als anschauliches Vergleichsbeispiel die Analyse der Moralökonomie bäuerlicher Dorfgemeinschaften bei Scatt, J. c.: The Moral Economy of the Peasant. New Haven/London 1976.
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den sicherlich Kleinfamilien und "extended families" sein; aber die Stammesterminologie - in Kapitel B.III. werden morphologische Parallelen zu ziehen sein - knüpft viel zu sehr an die älteren und überholten Lehrgebäude der Einwanderung JHWE-zentrierter israelitischer Stammesgruppen an. Die Sichtweise98 wäre demnach immer noch zu "Alt"- und "Noth"-lastig 99 • IOO Aus ethnosoziologischer Sicht erübrigt sich auch jede weitere Diskussion der Amphiktyonie-Hypothese. Das wäre, bei allem Respekt, reine Theoriegeschichte lOl • Es fehlen die religionsgeschichtlichen Voraussetzungen, vor allem die Kultzentralisation lO2 , die erst viel später (im Kontext der deuteronomischen Kulttheologie lO3 ) anzusetzen sein wird. 104 Die sich abzeichnenden endogen-kanaanitischen Szenarien der israelitischen Soziogenese weisen eher - somit wagt der Verfasser vergleichend auszuholen Verwandtschaften zum ländlichen Gemeindewesen in der europäisch-mittelalterlichen Gildenforschung auf. lOS Die Studie von W. Schmitz über "Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland,,106 stellt eine forschungsanaloge Brücke zum Fall der griechischen Polis-Bildung (unter soziogenetischem Einbezug des homerischen Protoplasmas) dar, die in Kapitel B.lIl. entsprechend aufzugreifen bzw. an97 Vgl. auch Carandini, A.: Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 2002, 176 ff. sowie 690 ff. zur früh-latinischen Geschichte. 98 Vgl. zum Grundlagenstreit u.a. auch Weippert, M.: Geschichte Israels am Scheideweg. Theologische Rundschau (58) 1993, 71-103. 99 Zentral ist Noth, M.: Das System der zwölf Stämme. Stuttgart 1930. 100 Äußerst instruktiv ist die Studie von Zwingenberger, U.: Dorfkultur der frühen Eisenzeit in Mittelpalästina. Göttingen 2001, mit dem überzeugenden Fazit auf S. 548-551. In vielerlei Hinsicht eine eher vermittelnde Position nimmt G. A. Ahlström ein: The History of Ancient Palestine. Sheffield 1994. 101 Vgl. dazu Bächli, 0.: Amphiktyonie im Alten Testament. Forschungsgeschichtliche Studie zur Hypothese von Martin Noth. Basel 1977. Die ältere Amphiktyonietheorie suchte kulturelle Parallelen u. a. bei den Etruskern. Im Lichte der Ausführungen von A. Carandini (Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 2002) ist eine förderale Ordnung im sozialen wie topographischen Sinne auch nicht unmöglich. So wird man situative siedlungsübergreifende dörfliche Kooperationen auch nicht ausschließen können; nur scheint die These einer JHWE-bezogenen frühen Kultzentralisation ausgeschlossen zu sein. Für weitere Beispiele amphiktyonistischer Organisationsformen vgl. auch Mühlmann, W. E.: Staatsbildung und Amphiktyonien in Polynesien. Stuttgart 1938. 102 Reuter, E.: Kultzentralisation. Entstehung und Theologie von Dtn 12. Frankfurt am Main 1993. 103 Vgl. Zwickel, W.: Der Tempelkult in Kanaan und Israel. Tübingen 1994, 318 ff. 104 Zum Tempel und zum Tempelkult im Wandel der Zeit vgl. auch Ego, B. u. a. (Hrsg.): Gemeinde ohne Tempel. Tübingen 1999. 105 Vgl. Schulz-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000, 42 f. 106 Historische Zeitschrift (268) 1999, 561-597.
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zusprechen sein wird. Die ethnosoziologisch orientierte Sozialgeschichte der alttestamentlichen Forschung orientiert sich daher eher an Konzepten der "segmentierten Gesellschaft" oder auch der "regulierten Anarchie,,107. Nicht uninteressant erscheint auch Max Webers Kategorie der "Eidgenossensehaft", da in dieser Figur der "religiösen Schwurverbrüderung" Analogien zur Gildenforschung im europäischen Mittelalter bestehen und damit ebenfalls Anschlüsse an einer genossenschaftsartigen Theorie dörflich-ländlicher Siedlungsgemeinschaften im Sinne der Örtlichkeit und Nachbarschaft gegeben sind 108 , wobei auch in Anlehnung an Otto 109 - von einer Praxis der natürwüchsigen Nachbarschaftsethik gesprochen werden kann. 107 Sigrist, Chr.: Regulierte Anarchie. Frankfurt am Main 1979. Vgl. auch Sigrist, Chr./Neu, R. (Hrsg.). Ethnologische Texte zum Alten Testament. Bd. 1: Vor- und Frühgeschichte Israels. NeukirchenlVluyn 1989; Bd. 2: Die Entstehung des Königtums. Neukirchen/Vluyn 1997. Vgl. ferner Clastres, P.: Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie. Frankfurt am Main 1976. 108 Vgl. zu Webers Beitrag zur Erforschung des antiken Judentums auch umfassend Dtto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002. Diese Studie macht die von B. Giesing (Religion und Gemeinschaftsbildung. Max Webers kulturvergleichende Theorie. Opladen 2002) - zumindest dort das Kapitel 6 - überflüssig. Die Abhandlung des Verfassers "Gilden als ,totales sozialen Phänomen' im europäischen Mittelalter" (Weiden/Regensburg 2000) rekurriert nicht nur auf Gierke, sondern ausführlich auch auf Max Weber. C. Schäfer-Lichtenberger rekonstruiert in ihrer Monographie "Stadt und Eidgenossenschaft im Alten Testament. Eine Auseinandersetzung mit Max Webers Studie ,Das antike Judentum"'. (Berlinl New York 1983) zunächst Webers Studie. Die Zeitachse umfasst die vor- wie die nach-exilische Zeit Israels auf dem Weg zum Pariavolk. Diesen Wandel behandelt Weber aus der Sicht eines Stadt-Land-Konfliktes, wobei Schäfer-Lichtenberg Vollstadt, Landstädte und Dörfer in einem Zentrum-Peripherie-Achsenmodell unterscheidet. Der Wandel wird bei Weber aus einer sozialstrukturellen Konstellation heraus analysiert. Die Sippenverfassung und die Rolle der Ältesten für die Stadt wie für das Land werden herausgestellt, aber auch die Unterschiede zwischen der Polis und der Eidgenossenschaft. Der Stadt-Land-Konflikt wird somit sozial strukturell als Konflikt zwischen Patrizier und Landbevölkerung ausgedrückt, wobei Schnittbereiche der Landbevölkerung zu den Kleinviehzüchtern und Polaritäten insgesamt zu den Nomaden berücksichtigt werden. Die Monarchie des davidisch-salomonischen Patrimonial staats wird bei Weber als Vermittlung dieser Konflikte betrachtet, wobei den Patriziern die militärische Dominanz gegenüber der Landbevölkerung zukommt. Den Aufstieg der Bundestheologie sieht Weber wiederum als Reaktion auf das Ende des Staates an. Das Patriziat verkörpert die antike erbcharismatische Geschlechterherrschaft; die Ältesten einen primären Patriarchaiismus. Die Stadtherrschaft beruht auf Ständen, die ländliche Eidgenossenschaft auf Bauern, die frei und unfrei (z. B. Schuldbauern) sind. Die Eidgenossenschaft sieht Weber als religiöse Schwurverbrüderung an. Sie ist im häuslichen Bereich patriarchalisch und gerontokratisch und wird von Schäfer-Lichtenberger in Bezug gesetzt zum Konzept der "regulierten Anarchie"; im außerhäuslichen Bereich ist die Eidgenossenschaft nachbarschaftlichgenossenschaftlich zu verstehen. Weber scheint hier von Wellhausen beeinflusst zu sein. Der Norden wie der Süden Israels ist als Stammeswesen organisiert, scheint im Süden aber stärker an Verwandtschaft orientiert zu sein als im Norden, wo das Prinzip der Örtlichkeit stärkeres Gewicht erhält. Zentral sind insgesamt die Ältesten.
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B. Die vorchristlichen Wurzeln
4. Das Deuteronomium und die nach-exilische Gemeinde Das wirft nun ein spezifisches Licht auf die nach-exilische Gemeinde 11O , aber auch auf das sozialpolitische ProgrammllI, das in der (entstehungsgeschichtlich wie hinsichtlich der Realitätsbezogenheit 1l2 (der SozialpoliSchäfer-Lichtenberger nimmt eine "primitive Demokratie" für die Richterzeit für gegeben an. Die Amphiktyonie-These wird allerdings kritisiert. Als Fortentwicklung des Konzepts der Eidgenossenschaft thematisiert Schäfer-Lichtenberger (in Anlehnung an Crüsemann) das Konzept der "segmentären Gesellschaft". Parallelen zu afrikanischen Lineage-Phänomenen werden konstatiert. In Bezug auf die ethnologischen Arbeiten von Sigrist werden als Beispiele die Amba, die Tiv und die Tallensis angeführt und die Leopardenfellpriester der Nuer, die nur primus inter pares sind. 109 Dtto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 284, FN 44 (dort mit weiterer Literatur). 110 Deren Organisationsform (wie noch aufzugreifen sein wird) ist allerdings umstritten. Vgl. hier bereits Rüterswörden, U.: Von der politischen Gemeinschaft zur Gemeinde. Studien zu Dt 16, 18-18, 22. Frankfurt am Main 1987; Crüsemann, F.: Israel in der Perserzeit. Eine Skizze in Auseinandersetzung mit Max Weber. In Schluchter, W. (Hrsg.): Max Webers Sicht des antiken Christentums. Frankfurt am Main 1985, 205-232. 111 Besonderer Schutz galt den Alten, traditionell ebenfalls den Witwen und Waisen (Ex 20, 12; 21, 15-17, Dtn 27, 16; Lev 19, 3; 20, 9; lKön 17, 10 ff.; 2Kön 4, 1 ff.; Ex 22, 21 ff.; Dtn 23, 17). Unterdrückung und Ausnutzung ist auch Fremden gegenüber untersagt (Ex 22, 20; 23, 9, Lev 24, 22 f.; Num 15, 15 f.). Gegenüber den Armen als verarmte Kleinbauern ist das Verbot der Verpfändung des Lebensnotwendigen (Ex 22, 27 f., Dtn 24, 6.12.17) hervorzuheben; die Begrenzung der Schuldsklaverei auf 7 Jahre ist zu betonen (Ex 21, 2 ff.; Dtn 15, 12 ff.). Zu finden ist auch eine Asylregelung für entlaufene Sklaven (Dtn 23, 16 f.). Dtn 24, 14 f. behandelt das Existenzproblem der Tagelöhner. In Lev 19, 18 findet sich das Nächstenliebesgebot. Eine Sozialsteuer ist in Dtn 14, 28 f. formuliert. Es geht hier um das deuteronomische Zehntengebot nach Dtn 14, 22-29. Nur noch jedes dritte Jahr ist ein echtes Zehntjahr. Der Zehnt von zwei aus drei Jahren dient der Finanzierung der Wallfahrten und der Unterstützung der Leviten, der Fremden, Armen, Waisen und Witwen. Hinzu kommen noch Wirtschaftsgesetze, die das Zinsverbot (Ex 22, 26; Dtn 23, 20 f. sowie Lev 25, 38 f.) und die Einrichtung eines regelmäßigen Schuldenerlasses (gemäß Dtn 15, 1 ff.) einschließen. 112 Dtto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 293: "Die Sozialgesetzgebung von Bundesbuch und Deuteronomium wurden in vorexilischer Zeit nur in kleinen Zirkeln priesterlicher Intellektueller ohne Chance auf allgemeine Realisierung tradiert." In nachexilischer Zeit erreichte die Tora breite Bevölkerungskreise (Otto: 294), doch sagt das wiederum nichts aus über die Wirkungsrealität der sozialen Gebote. Vgl. ferner Dtto, E.: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002, 8 und 15. Motiviert war die Reformgesetzgebung aber aus dem Leidensdruck der Klassenverhältnisse, wie sie schon vorexilisch aufkamen und sich verbreiteten; die Reformgesetzgebung war daher nicht ein reines Produkt der nachexilischen Identitätsfindung: "Das dtn-vordtr Reformgesetz ist also zwischen 622 v. Chr. und 587 v. Chr. zu datieren. Die spätvorexilische Redaktion bedient sich dabei zahlreicher Mo-
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tik 1l3 ) gleichfalls kontroversen 114) Deuteronomium-Forschung elaboriert 1l5 worden ist. 116 Gott "schafft Recht den Waisen und Witwen und hat die tive und Redaktionstechniken, die ihre nächste Parallele in den Mittelassyrischen Gesetzen haben, die in zeitgenössisch-neuassyrischem Kontext aufgefunden wurden und Programm einer Rechtsreform waren." OUo, E.: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002, 15 f. 113 Denn der Gesellschaftsentwurf brach sich an den nicht-revidierten Klassenverhältnissen des 5. Jahrhunderts. Dazu R. Albertz in seiner "Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit" (Teil 2, 2. durchgesehene Aufl., Göttingen 1997, 538): "Es sind die gleichen ökonomischen Mechanismen, die schon in der späten Königszeit zu einer Verelendung der traditionellen Kleinbauernschicht geführt hatten." Vgl. hierzu dann auch Kippenberg, H. G.: Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen. Frankfurt am Main 1991. Vgl. ferner Schaper, J.: Priester und Leviten im achärnenidischen Juda. Tübingen 2000, 232 f. 114 Otto, E.: Das Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsreform in Juda und Assyrien. Tübingen 1999; Crüsemann, F.: Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes. 2., durchgesehene und korrigierte Aufl. Gütersloh 1997. 115 Zu den sozialen Trägern des Deuteronomiums vgl. Schaper, J.: Priester und Leviten im achärnenidischen Juda. Tübingen 2000, 13 mit Literatur. Ausführlich und differenziert vgl. auch Otto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 285 ff. sowie 291, dort mit Blick auf die These von der persischen Reichsreligionspolitik: "der nachpriesterliche Pentateuch ist nicht das Ergebnis eines von der persischen Reichsregierung inaugurierten oder erzwungenen Kompromisses, sondern des schriftgelehrten Ausgleichs zwischen Deuteronomium und Pristerschrift im Zuge der Interpretation der Aaroniden in die zadokidische Pristerschaft, der von der Einheit des Gotteswillens als hermeneutischem Schlüssel geleitet ist." (Literatur zur These der persischen Reichsautorisation der Tora dort: 290 f.). Vgl. ferner Otto, E.: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002, 3 sowie 57: "Einer ,persischen Reichsautorisation' widerspricht vor allem die Literaturgeschichte des Pentateuch selbst." Die Hypothese stünde ferner auf iranologisch schwachen Füßen. Vgl. auch Finkelstein, 1./ Silberman, N. A.: Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel. München 2002, 297 sowie 301-302. Der Kern des Deuteronomiums mag - so Finkelstein und Silberman - im 7. Jahrhundert entstanden sein, Fortführungen unterlag der Text dann in exilischer und auch nach-exilischer Zeit (317, 324, 332). Was es real mit der Buchfindung im Rahmen der Renovierung des Jerusalerner Tempels unter Josia im Jahre 622 v. ehr. auf sich hat, spielt dabei keine Rolle. Vgl. auch Gieselmann, B.: Die sogenannte josianische Reform in der gegenwärtigen Forschung. Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 106 (1994), 223-242. 116 So lokalisieren sich die Ursprünge des Deuteronomiums im Kontext neuassyrischen Vertragsrechts. Dahinter steht die JHWE-Idee als antiassyrisch-herrschaftskritische Rückbesinnung auf staatslose Solidarität des israelitischen Volkes. Otto, E.: Das Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsreform in Juda und Assyrien. Tübingen 1999,375: "Einem zerbrechenden gentilen Ethos setzt das dtn Reformprogramm ein geschwisterliches Solidarethos entgegen, für das jeder Judäer und jede Judäerin Bruder und Schwester sind. (... ) So wie gemeinsam am Zentralheiligtum ohne soziale Unterschiede in Angesicht Gottes die Mahlgemeinschaft gefeiert und ein geschwisterliches Israel kultisch konstituiert wird, so soll es sich auch draußen 5*
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Fremdlinge lieb, daß er Ihnen Speise und Kleider gibt." (Otn 10, 18) Vgl. aber auch Ex 20, 21; Otn 24,17; Jer 7,6; Spr 23,10. Otn 10, 18 - auch im Kontext der Genese eines Fremdensozialrechts 117 zu lesen - ist weitgehend grundsätzlich nur nach-exilisch zu verstehen 118 • So schreibt auch Krapf: "Wurden Witwe und Waise bereits in ältester Zeit im Alten Orient geschützt, so ist der Schutz des Fremdlings ein spezifisch israelitisches Anliegen.'dl9 Und Krapf weist eine zeitliche Genese dieses Sozialrechts in der älteren sozialen Botschaft der klassischen Prophetie zurück. Eine realgeschichtliche Königszeit ist endgültig vorbei. Insofern kommt der Exilerfahrung zentrale - sinntransformative - Bedeutung ZU. 120 in den Wohnorten im Alltag als Gemeinschaft geschwisterlich gewähren (... )." Und "Das dtn Reformprogramm begegnet der neuassyrischen Krise Judas, die die Grundlage des bis dahin tragenden gentilen Ethos zerrüttet hat, durch den Rückgriff auf die Tradition, die im Bundesbuch verkörpert ist." Mit Bezug auf die Habilitationsschrift von L. Perlitt (Bundestheologie im Alten Testament. Neukirchen/Vluyn 1969) hält E. Otto an anderer Stelle (Otto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 278) fest, dass der heutige Forschungsstand hinsichtlich der Bundestheologie (vgl. auch theologisch-exegetisch: Groß, W.: Zukunft für Israel. Alttestamentliche Bundeskonzepte und die aktuelle Debatte um den Neuen Bund. Stuttgart 1998.) nur noch fragen lässt, "ob der Bundesgedanke spätvorexilisch oder exilisch wirksam wurde und welcher Einfluß der Prophetie auf seine Durchsetzung zukam.". 117 Vgl. auch Bultmann, ehr.: Der Fremde im antiken Juda. Göttingen 1992. 118 Die nach-exilische Königsprädikation von JHWE ist bereits dargelegt in Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regenburg 2002, Kapitel 7. Vgl. auch Veijola, T.: Verheissung in der Krise. Studien zur Literatur und Theologie der Exilszeit anhand des 89. Psalms. Helsinki 1982, 173 f.: "Es war eine der genialsten theologischen Leistungen dieser Generation, dass man aus dem theokratischen Grundsatz die radikale Schlussfolgerung zu ziehen wagte, dass die Zeit des irdischen Königtums endgültig abgelaufen sei und das Volk Israel als ganzes das Erbe des davidischen Königtums angetreten habe." Zu Ps 89 vgl. aber auch Böckler, A.: Gott als Vater im Alten Testament. Gütersloh 2000, 220 ff. (kontextuell, exegetisch, datierungsbezogen). 119 Krapf, Th.: Traditionsgeschichtliches zum deuteronomischen FremdlingWaise-Witwe-Gebot. Vetus Testamentum 34 (1) 1984, 87-91, hier 88. 120 Das gilt dann insbesondere auch für die identitätsstiftende rekonstruktive Logik des Alten Testaments hinsichtlich der Exodus-Geschichte. R. Albertz schreibt in seiner "Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit" (Teil I, 2. durchgesehene Aufl. Göttingen 1996, 45 f.): "Die im Pentateuch propagierte Konzeption der Frühzeit Israels stammt in der vorliegenden Form erst aus der frühen nachexilischen Zeit, d.h. zwischen ihr und den realen religionsgeschichtlichen Abläufen liegt ein Zeitraum von gut 800 Jahren. Sie beruht auf der theologischen Konzeption, daß die Heilszeit Israels die Wüstenzeit gewesen sei, während mit der Seßhaftigkeit in Kanaan der Abfall von Jahwe begonnen habe, der schließlich zum Exil führte. Diese Konzeption ist aber einigermaßen sicher überhaupt erst seit dem Propheten Hosea, d.h. dem ausgehenden 8. Jh. belegt und wird dann von den deuteronomischen Reformtheologen des 7. Jhds. breit ausgearbeitet. Ihr Interesse ist eindeutig: Sie wollten mit der Konstruktion einer idealen Frühzeit vor Seßhaftigkeit und Staatenbil-
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Dies prägt auch Israels Selbstverständnis als "Rest".121 Im Kontext persischer Herrschaft endet die sakralkönigliche Tradition des alten Israels 122, wie immer sie auch konkret ausgesehen haben mag 123. In Dtn 10, 18 dung den gegenwärtigen kultischen, kulturellen und politischen Zuständen ihre religiöse Legitimation entziehen, sie als Fehlentwicklung aufdecken und die Basis für eine neue religiöse Identität in Abgrenzung von der kulturellen und politischen Umwelt Israels schaffen." 121 Vgl. auch Hausmann, J.: Israels Rest. Studien zum Selbstverständnis der nachexilischen Gemeinde. Stuttgart u.a. 1987. Vgl. auch Blenkinsopp, J.: Geschichte der Prophetie in Israel. Stuttgart 1998, 11. 122 Es begann die staatslose Zeit Judäas als persische Provinz, dann im Hellenismus die lange Geschichte der jüdischen Diaspora-Existenz (Stambaugh, J. E./Balch, D. L.: Das soziale Umfeld des Neuen Testaments. Göttingen 1992, 42 ff.; vgl. ferner Stenger, W.: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. .. !" Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zur Besteuerung Palästinas in neutestamentlicher Zeit. Frankfurt am Main 1988), und es kam religionsgeschichtlich (im Rahmen sehr differenzierter pluraler religiöser Strömungen: Deines, R.: Die Pharisäer. Tübingen 1993 sowie Deines, R.: Jüdische Steingefaße und pharisäische Frömmigkeit. Ein archäologischhistorischer Beitrag zum Verständnis von Joh 2, 6 und der jüdischen Reinheitshalacha zur Zeit Jesu. Tübingen 1997) zur Ausbildung der eschatologischen Religion (Albertz, R.: Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. 2. Aufl. Bd. 2. Göttingen 1997, 483 ff.). 123 Das AT ist, das darf nochmals betont werden, deshalb eine problematische Quelle, da der Text weitgehend im Lichte der Exilerfahrung nach-exilisch verfasst worden ist und daher die neueren Datierungsversuche in der alttestamentlichen Forschung immer mehr zu Spätdatierungen neigen. Insofern ist die Kritik an den ansonsten faszinierenden (Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 17 f.: FN 3) - kultdramatischen und ritualgeschichtlichen Studien der Uppsala-Schule (bzw. der britischen Ritual-Schule: vgl. - neben Mohwinckel und Widengren (vgl. u. a. Widengren, G.: The King and the Tree of Life in Ancient Near Eastern Religion. Uppsala u.a. 1951) - auch Engnell, 1.: Studies in Divine Kingship in the Ancient Near East. Uppsala 1943; vgl. auch Hooke, S. H.: Myth, Ritual and Kingship. Oxford 1958) berechtigt; das AT ist keine zuverlässige Quelle, um historische Prozesse zu rekonstruieren. Das zeigte sich im Feld der alttestamentlichen Forschung etwa bei den für die Theorie des Sakralkönigtums so wichtigen Fragen des Thronbesteigungsfestes (dazu nun Lang, B.: Jahwe der biblische Gott. München 2002, 30 ff.; anschaulich dargelegt bei Schmidt, H.: Die Thronfahrt Jahves. Tübingen 1927; ablehnend dagegen: Gunkel, H.: Einleitung in die Psalmen. Göttingen 1928, 94 ff. sowie 140 ff.). Die Diskussionslage zur Inthronisation des Königs im Alten Testament ist völlig kontrovers, aber nicht zu Ende. Vgl. etwa Dumortier, J.-B.: Un Rituel d'Inthronisation le Ps. LXXXIX 2-38. Vetus Testamenturn (22) 1971, 176-196. Vgl. auch Kutsch, E.: Salbung als Rechtsakt im Alten Testament und im Alten Orient. Berlin 1963, 55 ff. Wichtige Befunde finden sich in Keel, 0.: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen. 5. Aufl. Göttingen 1996. Literatur zum Sakralkönigtum im Alten Testament auch in Janowski, B.: Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff. Stuttgart 1997. Auf der anderen Seite weiß man heute um die tiefen Prägungen der Geschichte Alt-Israels durch den gemeinorientalischen Kontext. Dies dürfte nicht nur religions-
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kommt die Königsprädikation Gottes zum Ausdruck, auch die Vater-Prädikation 124. Und für diese Königsprädikation Gottes spielt auch ein Anknüpfen an die alte königskritische Tradition im AT 125 keine Rolle, denn auch
dies ist Vergangenheit - so der Text des (daran sei erinnert: insgesamt grundsätzlich spät zu datierenden) Alten Testaments. Das nach-exilische Israel wird in der Literatur mitunter - was kontrovers ist - als Gemeinde verstanden: und zwar als (Bürger-Tempel 126)-Gemeinde mit Ähnlichkeiten, aber auch Unterschieden zur griechischen Polis-Bildung. Aber hinsichtlich der Theorie von der Bürger-Tempel-Gemeinde, die (u.a.) auf Weinberg 127 zurückgeht, sind nicht nur organisationsinstitutionelle Details, sondern die weitreichenden Grundannahmen selbst heftig umstritten. Von einer Theokratie kann jedenfalls wohl nicht die Rede sein, zumal Einfügungen in die persische Oberhoheit 128 tributär bestehen blieben. 129
geschichtlich gelten. Insofern sind Strukturvergleiche zu Institutionen, Mentalitäten, Kulte und Ritualien berechtigt. Und das gilt sicherlich ebenfalls für das Phänomen des Sakralkönigtums. Die äußerst kontroverse Diskussionslage zur Inthronisation des Königs im alten Israel lässt keine exemplarische Analyse der politischen Hierarchiebildung in Verbindung mit Ressourcenpooling und Redistributionsmechanismen zu. Auch die quantitative und qualitative Einschätzung der Davidisch-Salomonischen Reichsbildung, das wurde bereits betont, ist kontrovers. Allerdings wird in der einschlägigen Literatur die Herrschaft von Saul eher als Häuptlingsturn (auch eine Parallele zur Homer-Forschung: vgl. Kapitel 2) eingeschätzt. Aber sicherlich ist zeitlich nach David und Salomon mit einem typisch staatlichen Abgabensystem zu rechnen. Über (soziale) Redistributionen "von oben nach unten" weiß die Forschung aber nur wenig zu berichten. Öffentliche Armenspeisungen waren im gemeinorientalischen Kontext nicht unbekannt. Vgl. etwa Wiesehofer, 1.: Das frühe Persien. München 1999, 57 f., der dies unter der Kategorie der Polydoria (Freigiebigkeit) des Großkönigs gerade im Kontrast zur egalitär-homerischen Gabeökonomik der horizontal ausgerichteten Netzwerke darlegt. Die dtn Reformgesetzgebung im AT ist allerdings, wie schon gesagt, eine schwierige Quelle, da sie einerseits datierungsabhängig eher als rückblickend einzuschätzen ist, und da sie andererseits normativen Charakter hat, also nicht unbedingt etwas über die reale soziale Praxis aussagt. 124 Vgl. Böckler, A.: Gott als Vater im Alten Testament. Gütersloh 2000. 125 Vgl. Moenikes, A.: Die grundsätzliche Ablehnung des Königtums in der Hebräischen Bibel. Weinheim 1995 mit Literatur. Klassisch natürlich: Crüsemann, F.: Der Widerstand gegen das Königtum. Neukirchen/Vluyn 1978. 126 Dazu besonders kritisch Schaper, J.: Priester und Leviten im achämenidischen Juda. Tübingen 2000, 194 ff. sowie 201 ff. 127 Weinberg, l-P.: The Citizen-Temple Community. Sheffield 1992. Vgl. äußerst kritisch Schaper, J.: Priester und Leviten im achämenidischen Juda. Tübingen 2000, 194 ff. 128 Dazu insgesamt auch: Frei, P.lKoch, K.: Reichsidee und Reichsorganisation im Perserreich. 2., bearb. u. stark erw. Auf!. Fribourg/Göttingen 1996. 129 Vgl. Malamat, A.: Mari and the Bible. Leiden u.a. 1998,45 FN 4. Rowlands, M. u.a. (Hrsg.): Centre and Periphery in the Ancient World. Cambridge 1987.
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Erst hier jedenfalls entsteht das Judentum, also als Jehud 130 unter persischer Provinzialverwaltung. Es bedeutet das Ende der irdischen Königszeit, soziologisch bedeutet es zugleich und entscheidend einen Aufstieg der Priester (wobei die Details der sozialen Konfigurationen, etwa zu den ehemals ländlichen Leviten, umstritten bleiben). Ein Annähern an vor-staatliche (prä-monarchische) Sozialmodelle im Text des Alten Testaments ist allerdings, wie gesagt, als späte, rückblickende Konstruktion der nach-exilischen Zeit zu verstehen und besagt nichts (der Verfasser möchte sagen: nicht unbedingt gar nichts, doch genau da liegt das Problem) über die realen Sozialmodelle in der Realgeschichte des Lebensraums des biblischen Israels. Das gilt auch für die Einführung des Monotheismus 131. Dies ist der radikale Einwand der bereits (mit Bezug auf Lemche und Thompson) angeführten Stockholmer Schule: Die Bibel ist keine diachronisch lesbare historische Quelle; sie ist allein eine synchrone Quelle für das Verständnis der persischen und hellenistischen Zeit ihrer redaktionellen Entstehung. Insofern gilt nun, dass das früher als Gottessohnschaft verstandene Königtum in nachexilischer Zeit entweder auf das Volk übertragen oder in die Erwartung auf den Messias umgedeutet wurde, ohne hiermit das Thema des inneren Zusammenhanges zwischen dem Alten und den Neuen Testament aufgreifen zu wollen. Ehemalige Aufgaben des Königs wie Schutz von Witwen und Waisen in der Tradition des Sakralkönigtums wurden nunmehr direkt auf JHWE übertragen. 132 Sozio-genetisch steht diese Figur in der Tradition des - irdischen - Sakralkönigtums; theologisch ist sie deren Überwindung durch die Inthronisation des überirdischen Gottkönigtums: eine ent-politisierte Mensch-Volk-Gott-Beziehung, aber nicht ohne politische, ja weltgeschichtliche Folgen.
Vgl. u.a. WilU, T.: Juda-Jehud-Israel. Tübingen 1995. Vgl. u. a. Stolz, F.: Einführung in den biblischen Monotheismus. Darmstadt 1996. Vgl. auch Niehr, H.: Der höchste Gott. Berlin/New York 1990; Weippert, M.: Synkretismus und Monotheismus. Religionsinterne Konfliktbewältigung im alten Israel. In Assmann, J./Harth, D. (Hrsg.): Kultur und Konflikt. Frankfurt am Main 1990, 143-179 sowie ders.: Jahwe und die anderen Götter. Tübingen 1997. Ferner Gnuse, R. K.: No Other Gods. Emergent Monotheism in Israel. Sheffie1d 1997. Vgl. auch zur Monolatrie und zur Entwicklung des Monotheismus die Studie von Beek, M.: Elia und die Monolatrie. Berlin/New York 1999 (mit weiterführender Literatur (vgl. etwa Lewis, T. J.: Cults of the Dead in Ancient Near East and Ugarit. Atlantal Georgia 1989 oder Sehmidt, B. B.: Israel's Beneficient Dead. Ancestor Cult and Necromancy in Ancient Israe1ite Religion and Tradition. Tübingen 1994; schließlich Toom, K. van der: Ein verborgenes Erbe: Totenkult im frühen Israel. Theologische Quartalschrift (177) 1997, 105-120) und einem eigenständigen Versuch einer differenzierten Blickrichtung.). 132 Vgl. auch Böekler, A.: Gott als Vater im Alten Testament. Gütersloh 2000. 130 131
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In diesem Sinne wären auch Ps 146,7-9 anzuführen. Zu verweisen ist ferner auf die Transformation der motivgeschichtlich komplexen Metapher von Hirt und Herde 133 . Das Israel der nach-exilischen Zeit definiert sich - erstmals monotheistisch - in zentraler (identitätsstiftender 134) Orientierung auf den einen Gott als Gemeinde, definiert sich demnach nicht mehr über ein Königtum, auch nicht mehr über die (komplexe) Verwandtschaft, sondern über die (wenn auch ehe-, familien- und haushalts zentrierte) lokale Gemeinde. Bausteine des Gemeindelebens sind nicht die Großfamilie oder ähnliche (fiktive) Verwandtschaftssysteme I35 , sondern die - (römisch-rechtlich anmutenden) ehezentrierten - Kleinfamilien 136 • Damit erhält die jüdische Gesellschaft einen erheblichen - weiteren 137 - sozialstrukturellen Individualisierungsschub. Mit den sozialen Erosionen in spätvorexilischer Zeit ging auch der Ahnen133 Hunziker-Rodewald, R.: Hirt und Herde. Ein Beitrag zum alttestamentlichen Gottesverständnis. Stuttgart u.a. 2001. Vgl. ferner Stenger, H.M.: Im Zeichen des Hirten und des Lammes. Mitgift und Gift biblischer Bilder. Innsbruck/Wien 2000. Vgl. auch Böckler, A.: Gott als Vater im Alten Testament. Gütersloh 2000. 134 Vgl. dazu auch mit Bezug auf die Bundeskategorie Christiansen, E. J.: The convenant in Judaism and Paul: a study of ritual boundaries as identity markers. Leiden 1995. 135 Dazu auch Schulz-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000, 17. 136 Fechter, F.: Die Familie in der Nachexilszeit. Berlin/New York 1998. Zu Fechter ausführlich Schulz-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000, 23-25. Vgl. auch Schaper, J.: Priester und Leviten im achämenidischen Juda. Tübingen 2000, 109 f. 137 Soziale Zerfallsprozesse infolge von Urbanisierung, Mobilität (Umsiedlung), Arbeitsteilung und Spezialisierung führten bereits in der judäischen Geschichte des 8. und 7. Jahrhunderts als spätvorexilische Krise zu Auflösungen verwandtschaftlicher Zusammenhänge. Archäologische Befunde zur Gräberarchitektur (Übergang von Mehrkammer- zu Einzelkammergräbern) bestätigen Zerfallsprozesse von Großzu Kleinfamilien. Der Verfasser darf hier auf E. OUo [Das Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsreform in Juda und Assyrien. Tübingen (1999)] verweisen. Otto schreibt (336): "Die Konsequenz der Umsiedlungs-, Deportations- und Neubesiedlungsaktionen war eine Auflösung der Bindung der bäuerlichen Familien an ihren Grund und Boden. Mit dem Boden verloren sie aber auch ihre Gräber und mit ihnen den Ahnenkult." In einer dazugehörigen Fußnote (mit Literatur) schreibt Otto (336): "Der Zerfall der Großfamilien zugunsten der Kleinfamilien im 7. Jh. v. Chr. konnte sich in einem Wechsel der Grabarchitektur vom Mehrkammer- zum Einkammergrab niederschlagen." Auch Ahnenkulte gingen im Verlauf der Geschichte verloren (dazu Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 16). Archäologische Belege bei Wenning, R.: Rezension zu E. Bloch-Smith. Judahite Burial Practices and Belief about the Dead. 1992. Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins (109) 1993, 177-181 sowie bei Wenning, R.: Bestattung 11.1. Bronzezeit bis Eisenzeit sowie III. Altes Testament. In Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 4. Aufl. I. Tübingen 1998, 1363-1364, 1365.
II. Schuldknechtschaft, sakrales Königtum und "primitive Demokratie"
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kult unter 138 , der - ein Grund für die Kultzentralisation (im Rahmen der Sozialreform unter Josia) - in Juda offenbar noch im 7. Jh. praktiziert wurde im Kontext der Familienreligiosität. 139 Der Monotheismus wurde eventuell durchaus als Regime empfunden. !40 Die Solidargemeinschaft ist nun das Volk als Großgruppe von Personen, die sich lokal organisieren, als Gemeinde um den Tempel herum. Es handelt sich um eine horizontal orientierte Gesellschaft. Allerdings kommt der Priesterschaft natürlich eine herausragende Stellung zu - in der Vermittlung zu dem einen Gott. Von einer Theokratie, das wurde bereits angesprochen, könne aber - so Schaper!4! keine Rede sein. Einen entscheidenden Wandel durchläuft auch die Konzeption von Gerechtigkeit. War sie vorher im Kontext der verschiedenen Varianten!42 sakralen Königtums!43 eine Funktion des politischen Herrschers!44, so wurde sie nun mehr - als Schwinden der altägyptischen Quellen des sakralen Königtums!45 - in nach-exilischer Zeit eine Pflicht des einzelnen Bürgers in kommunikativer Korrespondenz mit der Königsprädikation Gottes - eine zivilisationsgeschichtlich äußerst bedeutsame Wandlung. 138 Vgl. Gerstenberger, E. S.: Theologien im Alten Testament. Stuttgart 2001: 36, FN 67 sowie 160, FN 400 mit Literatur, vor allem Loretz, 0.: Ugarit und die Bibel. Darmstadt 1990: 125 ff. Literatur auch in Stolz, F.: Einführung in den Monotheismus. Darmstadt 1996: 67, 72, 128. 139 Schaper, J.: Priester und Leviten im achämenidischen Juda. Tübingen 2000, 108 mit Literatur. Vgl. ferner Rose, M.: Der Ausschließlichkeitsanspruch Jahwes. Deuteronomische Schultheologie und die Volksfrömrnigkeit in der späten Königszeit. Stuttgart u.a. 1975. Dazu ausführlich auch Niemann, H.M.: Herrschaft, Königtum und Staat. Tübingen 1993. 236 ff. Dazu auch Ackerman, S.: Under Every Green Tree. Popular Religion in Sixth-Century Judah. Atlanta/Georgia 1992. 140 Zur lange anhaltenden Relevanz magischer Praxis vgl. auch Otto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 281 sowie 294 FN 94 (mit Literatur). Vgl. in der Studie von Beck, M.: Elia und die Monolatrie. Berlin/New York 1999. 141 Schaper, J.: Priester und Leviten im achämenidischen Juda. Tübingen 2000, 209 f. 142 Typologisch: Ahn, G.: Religiöse Herrscherlegitimation im achämenidischen Iran. Leiden 1992. Vgl. auch Mettinger, T. N. D.: King and Messiah. The Civil and Sacral Legitimation of the Israelite Kings. Lund 1976. Klassisch natürlich: Frankfort, H.: Kingship and the Gods. Chicago/London 1978. Vgl. schließlich Fauth, W.: Diener der Götter - Liebling der Götter. Der altorientalische Herrscher als Schützling höherer Mächte. Saeculum (39) 1988, 217-246. 143 Widengren, G.: Sakrales Königtum im Alten Testament und im Judentum. Stuttgart 1955; Bemhardt, K.-H.: Das Problem der altorientalischen Königsideologie im Alten Testament. Leiden 1961. 144 Otto, E.: Theologische Ethik des Alten Testaments. Stuttgart u. a. 1984; Schmid, H. H.: Gerechtigkeit als Weltordnung. Hintergrund und Geschichte des alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriffs. Tübingen 1968. Vgl. auch Böckler, A.: Gott als Vater im Alten Testament. Gütersloh 2000, 204 f. 145 Otto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 300 FN 117 (mit weiterer Literatur).
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B. Die vorchristlichen Wurzeln
S. "Primitive Demokratie" (11): die Ältesten und das Rechtswesen
Die Betrachtung wendet sich nun einer zentralen Dimension innerhalb dieser Problematik "primitiver Demokratie", gerade auch mit Blick auf königskritische Traditionszusammenhänge, zu: der Rolle der "Ältesten". Auch hier handelt es sich um eine komplizierte Quellenlage, resultierend wiederum einerseits aus der Ungeklärtheit datierungsabhängiger diachronischer Lesbarkeit in sozialgeschichtlicher Absicht, andererseits aus der Vergleichbarkeit verschiedener, aber (funktional) ähnlicher Sozialgebilde im Sinne komparativer politischer Ethnologie. Das Problem erwächst allein schon aus der Frage, was unter "primitiver Demokratie" zu verstehen ist. Verschiedene elementare institutionelle Strukturgebilde werden (in der einschlägigen, allerdings schwer vergleichbaren, insgesamt fachlich schwer einschätzbaren Literatur) gehandelt: Älteste/ Ältestenräte, Voll- bzw. Volksversammlungen, Versammlungen der freien (waffentragenden) Männer. Die Operationalisierungen in den klassischen Arbeiten bei Th. Jacobsen, G. Evans, J. B. Jusifov, H. KlengeI, C. U. Wolf, H. Tadmor, N. Bailkey, I. M. Diakonoff, G. Beckmann, H. Reviv, E. A. Speiser u. a. (die Quellen hier nicht ausbreitend) sind weder einheitlich noch oftmals hinreichend exakt oder anschaulich/nachvollziehbar. Thiel 146 z. B. lehnt die primitiv-demokratische (männliche) Volksversammlung der Freien für die vor-staatliche Zeit Israels ab und stellt die Macht der Ältesten heraus, während Neu 147 die Ältesten für ein - beratungsorientiertes Strukturelement einer schon stärker stratifizierten Ranggesellschaft einstuft und folglich besser in die Figuration zentralitätsgesteuerter politischer Gemeinwesen passen würde. Die Befundediskussion ist recht unverständlich und unübersichtlich. Sie bleibt es auch für den Verfasser - unabhängig von der Häufigkeit der wiederholenden Lektüre. Im Kontext der soeben herausgestellten nach-exilischen Perspektive kollektiver Identitätssuche 148 und der entsprechenden Datierungskorrelate wird in der Literatur auch die Idee der nicht-staatlichen Ältestengerichtsbarkeit als ideologische Konstruktion spätvorexilischer bis nachexilischer sozialer Situation verstanden. Die komplexe Literaturlage 149 ist nicht gerade leicht 146 Thiel, W.: Die soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit. 2., durchgesehene und ergänzte Aufl. Neukirchen/Vluyn 1985, 140. 147 Neu, R.: Von der Anarchie zum Staat. Entwicklungsgeschichte Israels vom Nomadenturn zur Monarchie im Spiegel der Ethnosoziologie. Neukirchen/Vluyn 1992, 150 ff. 148 Vgl. auch Seebass, H.: Israels Identität als Volk des einen Gottes. In Gephardt, W./Waldenfels, H. (Hrsg.): Religion und Identität. Frankfurt am Main 1999, 87-104.
11. Schuldknechtschaft, sakrales Königtum und "primitive Demokratie"
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zu überschauen. Die retrospektive Hochschätzung derartiger Sozialgebilde im nach-exilischen Kontext sich neu definierender kollektiver Identität im ideologischen und geopolitisch-topographischen Wirkkontext hellenistischer Polis-Erfahrungen und patrimonialen und tributär-imperialistischen Reichsordnungen (der Verfasser reduziert und vereinfacht, verdichtet hier stark) schließt aber logisch zwingend nicht aus, dass es primitiv-demokratische Strukturen in der vor-staatlichen Zeit gab. Irgendeine Sozialstruktur und institutionelle Ordnung muss ja die vor-staatliche Zeit gehabt haben, wenn sie als vor-staatlich definiert gelten darf. 150 Die These allerdings, die nach-exilische Kult- und Rechtsgemeinde war der vor-staatlichen Zeit nachgebildet, setzt bereits eine gültige Antwort nach den Institutionen der vor-staatlichen Zeit voraus. Stattdessen wird man nur mit Stiegler festhalten können 151 : "Damit hatte die nachexilische IHWH-Gemeinde in lerusalem eine Organisationsform gefunden, die für eine Religionsgemeinschaft typisch bleibt, die unter einer fremden Staatsmacht lebt und nicht mit der Staatsreligion identisch ist. Aus ihr erwächst das, was später Synagoge genannt wird." Brückenschläge zu Kapitel C.U. sind an dieser Stelle möglich. Niemann 152 folgt nicht unwesentlich den Arbeiten von Niehr und thematisiert (im zeitlichen Kontext des Übergangs von der Eisenzeit I zur Eisenzeit II) der relative Niedergang der auf verwandtschaftlichen Bindungen und familialen Haushalten beruhenden pater Jamilias-Figur zugunsten der Ältestengerichtsbarkeit als Transformation zu territorialen Ortsgemeinschaften. Hinsichtlich dieser örtlichen Gerichtsbarkeit der Ältesten sieht Niemann Strukturen der Kooperation mit der Monarchie vorliegen sowie bereichsspezifische Komplementärkompetenzen. Insgesamt sieht Niemann die Monarchie lange Zeit als gar nicht so durchstrukturiert an. Niemann nutzt lieber Begriffe wie "stratified society" und "chiefdom,,153. Im Lichte der 149 Vgl. die Beiträge von Buchholz, J.: Die Ältesten Israels. Göttingen 1988, Gertz, J. Chr.: Die Gerichtsorganisation Israels im deuteronomischen Gesetz. Göttingen 1994, Niehr, H.: Grundzüge der Forschung zur Gerichtsorganisation Israels. Biblische Zeitschrift 31, 1987, 206-227 und Reviv, H.: The Elders in Ancient Israel. Jerusalem 1989. Dabei ist auch offensichtlich, dass vieles heftig umstritten ist: Ouo, E.: Die Tora in Israels Rechtsgeschichte. Theologische Literaturzeitung 118 (11) 1993, 904-910; ders.: Biblische Rechtsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung. Theologische Revue 91 (4) 1995, 283-292; ders.: Besprechung zu: Gertz (1994). Die Gerichtsordnung Israels im deuteronomischen Gesetz. Theologische Literaturzeitung 121 (12) 1996, 1130-1133. 150 Hier hilft nur der Rückgriff auf "external evidence", wie sie Otto für die assyrische Zeit genutzt hat: Otto, E.: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002, 12. 151 Stiegler, St.: Die nachexilische JHWH-Gemeinde in Jerusalem. Frankfurt am Main 1994, 164. 152 Niemann, H. M.: Herrschaft, Königtum und Staat. Skizzen zur soziokulturellen Entwicklung im monarchischen Israel. Tübingen 1993, 174-184.
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B. Die vorchristlichen Wurzeln
dargelegten Theorien von Finkelstein und Silberman entspricht dies der Relativierung der Reichsbildung unter David und Salomon 154 und der archäologischen Befundelage des Entwicklungsstandes des südlichen Judas bis zum Fall des Nordreiches. Somit wird bei Niemann die Rolle der örtlichen Gerichtsbarkeit als Element einer gemeindlichen Selbstverwaltung auch in monarchischer Zeit fortgeführt, wie umgekehrt die monarchische Zeit nicht vollauf als strukturiert im Sinne einer gemeinorientalischen Despotie begriffen wird. Und auch Scharbert hält fest: "die Ältesten sind somit ein demokratisches Element in der altorientalischen und israelitischen Gesellschaft (... ). Noch in der Königszeit stellen die Ältesten einen Rest von Demokratie dar".155 Das Problem wird also klar: Der alttestamentliche Text reicht - vorne wie hinten - nicht hin als historische Grundlage zur Rekonstruktion der institutionellen Ordnung der vor-staatlichen Zeit. Die vielen ethnologischen Vergleichsmaterialien können durch Analogien helfen, Visionen darüber zu entwickeln, wie es denn gewesen sein könnte. Damit weiß man aber immer noch nicht, wie es im Fall der vor-staatlichen Zeit Israels nun tatsächlich war. Die örtliche Selbstverwaltung, wenn es sie in einem genossenschaftsartigen Sinne gegeben hat, wird dann wohl auch eine örtliche Gerichtsbarkeit eingeschlossen haben. Aus dem europäischen Gilden- und Kommunalwesen ist dies analog zu entnehmen. Und die ältere Literatur, schon auf die klassische Arbeit von L. Köhler 156 zurückgehend, hat diese Funktion siedlungsarchitektonisch am Tor - als Torgerichtsbarkeit - festgemacht. Nun ist das Stadttor ein bekanntes Artefakt. 157 Aber auch hier liegt das Problem in der quellenlageabhängigen zeitlichen Rückproduktion mit (z. T. meta-wissenschaftlichen, vor allem geschichtspolitischen) funktionalistischen Absichten. Die Idee von der Torgerichtsbarkeit ist aber bleibend faszinierend; ermöglicht sie es doch, die einzelnen Ortschaften als selbstständig zu definieren, da sie eigene Rechtsgemeinden darstellen (auch hier sind Parallelen zur Gil153 Zum "chiefdom" vgl. auch insgesamt Earle, T. K. (Hrsg.): Chiefdoms: Power, economy, and ideology. Cambridge 1991. Vgl. auch speziell Flanagan, J. W.: Chiefdoms in Israel. Journal of the Study of the Old Testament (20) 1981,47-73. 154 Vgl. auch Dreher, C. A.: Das tributäre Königtum unter Salomo. Evangelische Theologie (51) 1991, 49-60. 155 Scharbert, J.: Das Alter und die Alten in der Bibel. Saeculum 30, 1979, 338354, hier 345. 156 Köhler, L.: Der hebräische Mensch. Tübingen 1953. 157 Vgl. auch Herzog, Z.: Das Stadttor in Israel und in den Nachbarländern. Mainz am Rhein 1996. Vgl. aber auch Rost, L.: Die Stadt im Alten Testament. Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 97(2) 1996, 129-138. Vgl. ferner Otto, E.: Zivile Funktionen des Stadttores in Palästina und Mesopotamien. In Timm, S. u. a. (Hrsg.): Meilenstein. FS H. Donner. Wiesbaden 1995, 188-197.
III. Das homerische Protoplasma in geometrischer Zeit
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den- und Kommunalitätsforschung gegeben). Diese Debatte durchzieht dann die ältere Fachliteratur. Von F. Horst zu G. ehr. Machholz, dann zu H. Niehr 158 und H. J. Boecker l59 . Es kristallisierte sich im Streit zwischen den Amphiktyonikem und den Sakralkönigtumsanhängern eine dual-komplementäre These heraus, wie sie oben bereits in Anlehnung an Niemann angesprochen worden ist. Kompetenzen in Abhängigkeit von der unterschiedlichen Reichweite der Rechtsmaterien werden zwischen Ortsgerichtsbarkeit und königlicher Hofgerichtsbarkeit aufgeteilt (Dualismus) und wirken komplementär, so dass sich eine gewisse Nähe zum subsidiären oder föderalen Gedanke ausbildet l60, unabhängig davon, wie diese (modemen) Kategorien in ihren zeitversetzten Verwendungsweise kritisch zu rezipieren sind. 161
IH. Das homerische Protoplasma der Polis-Bildung in geometrischer Zeit Nun sind die im Kapitel B.II. bereits angesprochenen Parallelen zwischen der Entwicklung primitiv-demokratischer dörflicher Siedlungsformen genossenschaftsartiger Gestalt im Kontext der Forschung zur Entstehung der israelitischen Gesellschaft einerseits und der Gemeindebildung im homerischen 162 und archaischen Griechenland auf der Grundlage des homerischen Protoplasmas - also auf der Grundlage dessen, was seit Finley 163 die "homerische Gesellschaft" genannt wird - andererseits, ausführlicher zu be158 Vgl. Niehr, H.: Rechtsprechung in Israel. Stuttgart 1987 sowie ders.: Herrschen und Richten. Würzburg 1986. 159 Vgl. Boecker, H. J.: Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient. NeukirchenlVluyn 1976. 160 Auf dieses Zusammenspiel von örtlicher Zuständigkeit der Ältestenkollegien und königlicher Gerichtsbarkeit geht die monographische Studie "Gott als Richter in Mesopotamien und im Alten Testament" von A. Gamper (1966: 43 f., 59, 141, 171 f., 177 ff., 182, 184, 202 f.) ein. Betont werden einerseits die Parallelen zum gemeinorientalischen Kontext, auch die kommunale Rolle der Ältestenkollegien sei alt-babylonisch und mittel-assyrisch; andererseits wird angesichts der Exilerfahrung und der Exilfolgen die Distanz zwischen sakraler Königsherrschaft und der Königsherrschaft des Gottes der Juden herausgestellt. 161 Das Thema eines Föderalismus wurde weiter oben bereits im thematischen Zusammenhang mit der These einer persischen Reichsautorisation der Tora tangiert: vgl. Dtto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 290 f. 162 Vgl. Weiler, G.: Domos Theiou Basileos. Herrschaftsformen und Herrschaftsarchitektur in den Siedlungen der Dark Ages. München/Leipzig 2001, 5. 163 Finley, M. 1.: Die Welt des Odysseus. Frankfurt am Main/New York 1992 sowie Uif, Chr.: Die homerische Gesellschaft. München 1990. Vgl. ferner Thalmann, W. G.: The Swineherd and the Bow. Representations of Class in the Odyssey. Ithaca and London 1998. Vgl. ferner Weiler, G.: Domos Theiou Basileos. Herrschaftsformen und Herrschaftsarchitektur in den Siedlungen der Dark Ages. München/Leipzig 2001, 40.
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B. Die vorchristlichen Wurzeln
handeln. l64 Das Problem innerhalb der alttestamentlichen Forschung bestand allerdings darin, dass das Alte Testament datierungsbedingt heute vorwiegend als historisch-rückblickende, und dabei aus historisch-gesellschaftspolitischen Gründen als konstruktive Geschichtsschreibung mehr über die Zeit ihrer Entstehung als über die reale Vorgeschichte aussagen mag. So mag die nach-exilische Gemeinde viel expliziter mit Polis-Erfahrungen konfrontiert worden sein l65 , zumal das alttestamentliche Recht in ihrer JHWHbezogenen Fundierung in der Königsprädikation eine Ähnlichkeit zum griechischen Demos als Rechtsquelle hat. 166 Methodisch besteht daher zwischen der Homer-Forschung und der alttestamentlichen Forschung eine erstaunliche Parallelität, was die Thematisierung textwachstums-, und redaktionsgeschichtlicher Aspekte sowie formgeschichtlicher Fragestellungen und Kontroversen angeht. Die Analyse wendet sich aber der anderen Parallele zu, die zwischen der vor-staatlichen Zeit Israels und die der Polis-Bildung im Auslaufen der "dunklen Jahrhunderte" im archaischen Griechenland besteht, nimmt also Bezug zur Gesellschaftsbildung der geometrischen Zeit. 167 Diese wird mit ca. 900 v. Chr. anzusetzen sein, nachdem eine Phase vorausging, die als protogeometrische Keramik (1050--900) bezeichnet wird. Die archaische Zeit 168 kann mit ca. 630 bis 550 v. Chr. fixiert werden. 169 Die hier interessierende Phase ist aber nicht nur eine Zwischenphase; zunehmend erkannt wird ihr eigenständiger Charakter, wie Weiler betont. 170 Der Verfasser hat die entscheidenden Thesen dieses Kapitel, die aber noch verfeinert werden müssen, bereits in den Ergebnissen seiner Abhandlung 164 Homerphilologisch setzt das eine Abgrenzung zur unitarischen Theorie voraus, wonach nur die schlussredaktionelle Phase der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts als homerische Zeit gilt. 165 Vgl. Crüsemann, F.: Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes. 2., durchgesehene und korrigierte Aufl. Gütersloh 1997, 289 ff. mit Bezug auf die einschlägige Fachdebatte u. a. von Rüterswörden und F. U. Raaflaub. 166 Otto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 130 FN 303. 167 Zum Problem der stilchronologischen Bezeichnung vgl. auch Weiler, G.: Domos Theiou Basileos. Herrschaftsformen und Herrschaftsarchitektur in den Siedlungen der Dark Ages. München/Leipzig 200 1, 1 f. 168 Vgl. auch Fisher, N.lVan Wees, H. (Hrsg.): Archaie Greece: New Approaches and New Evidence. London 1998. Vgl. ferner Walter, U.: Das Wesen im Anfang suchen: Die archaische Zeit Griechenlands in neuer Perspektive. Gymnasium (lOS) 1988, 537-552. 169 Literatur zur geometrischen Keramik vgl. in Scheibier, 1.: Griechische Töpferkunst. 2., neubearb. u. erw. Aufl. München 1995, 212 FN 61. 170 Weiler, G.: Domos Theiou Basileos. Herrschaftsformen und Herrschaftsarchitektur in den Siedlungen der Dark Ages. München/Leipzig 2001, 5.
III. Das homerische Protoplasma in geometrischer Zeit
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"Zu einer archetypischen Morphologie der Sozialpolitik" festgehalten: Folgt man Fustel de Coulanges 171, so entwickelte sich der griechisch-römische Staat aus Kult und Religion, fand seinen Ursprung am häuslichen Opferaltar, bevor sich diese privat-häuslichen Kulte zu den gesellungsstiftenden öffentlichen Mahlzeiten der bürgerlichen Stadtgemeinde erweiterten. Aber auch im Orient sind die ursprünglichsten Formen der Gesellung nicht die der sakralköniglich geprägten Herrschaft. Aber die hochkulturellen Phasen des gemeinorientalischen Raumes waren herrschaftlich strukturiert. Hinsichtlich der Besonderung der griechischen Entwicklung ist jedoch auch zu bedenken, dass der Kristallisation des homerischen Protoplasmas der archaischen und klassischen Phase die Devolution der Sozialstruktur in der postmykenischen Palast- und Burgherrschaft vorausging. Der orientalische Einfluss auf die griechische, hier vor- wie nach-mykenische Entwicklung ist belegt. l72 Anthropologisch gesehen: Am Anfang stand die gemeinsame Feuerstelle. Sie wurde zum Mittelpunkt der Hütte. Und auf dieser Hausgemeinschaft gründet sich das Dorf als ortsgebundene Kooperation. Familie und Verwandtschaft waren immer Bausteine dieser Verörtlichung und Vergemeindung. Aber Gemeinde war zugleich immer mehr als Verwandtschaft. Nie ganz herrschaftsfrei, war die örtliche Vergemeindung eine demokratische Urform. Breit machte sich jedoch bald das sakrale Königtum bis hin zur Reichsbildung. Zentrum-Peripherie-Muster sind aber beiden Archetypen der Gesellung nicht fremd. Die Oikos-zentrierte Gesellung bildete Gesellschaftlichkeit über das Modul der Gastfreundschaft aus. Das patrimoniale Reich kannte im Rahmen tributär abhängiger De-Zentralisierungen und abgestufter Formen räumlich-föderaler Selbstverwaltung ebenso eine relative Autonomie lokaler Körperschaften. Beide Archetypen der Gesellung bildeten zwei Korrelate sozialer Politik aus: Reziproke Gabesysteme bis hin zu sozialen Risikogemeinschaften genossenschaftlicher Art einerseits und vertikal-patemalistische, bürokratisch-kapitulariengestütze oder sonstwie im Recht kodifizierte Armenfürsorge andererseits. 173 Damit 171 Coulanges. F. de: Der Antike Staat. Essen 1996. Die Ansatz wird fortgeführt bei Polignac. F. de: Cults, Territory, and the Origins of the Greek City-State. London 1995 sowie klassisch schon bei Gemet. L.: The Anthropology of Ancient Greece. Baltimore/London 1981. Die implizite (duale) raumwirksame Geschlechterordnung ist mythologisch codiert und dargelegt bei Schulz-Nieswandt. F.: Strukturelemente einer Ethnologie der medizinisch-pflegerischen Behandlungs- und Versorgungspraxis. Weiden/Regensburg 2003. dort in Kapitel 2.3 sowie bereits angeführt in ders.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 23. 172 Vgl. auch die Beiträge in Uif, Chr. (Hrsg.): Wege zur Genese griechischer Identität. Die Bedeutung der früharchaischen Zeit. Berlin 1996. 173 Für die letzt genannte Urform der Sozialpolitik ist der Kodex von Hammurapi (1728-1686) wohl das bekannteste Beispiel. In der einschlägigen Fachliteratur werden viele andere Beispiele angeführt: König Ammisaduqas Edikt aus dem Jahre
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B. Die vorchristlichen Wurzeln
knüpft die Betrachtung an den binären Code der Bolkestein-Theorie (vgl. oben in B.I.) ebenso an wie an die "Kleinbauemthese" der vor-staatlichen Zeit Israels in Kapitel B.II. 1. Die homerische Gesellschaft als Protoplasma
Mit zwei eher ethnologisch angereicherten 174 Positionen 175 soll die Analyse der Polis-Bildung im Protoplasma 176 der homerischen Gesellschaft eingeleitet werden: mit Rückgriff auf eine Analyse (einer der vielen Parallelen l77 ) von Donlan 178 und auf eine von Andreev l79 . Es kann dadurch he1646/45 v. Chr. (vierter Nachfolger von Hammurapi), der Kodex Urnammu, ein Gesetz des sumerischen Königs Urnammu aus der 3. Dynastie von Ur (ca. 2100 v. Chr.), schließlich das Motiv des barmherzigen Sonnengottes (vgl. auch Caake, G.: The Israelite King as Son of God. Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft (73) 1961, 202-225; Otta, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 296 FN 103 sowie auf 307 f. mit Literatur; ferner Staehli, H. P.: Solare Elemente im Jahweglauben des Alten Testaments. Freiburg/Schweiz/Göttingen 1985 sowie Niehr, H.: Der höchste Gott. Berlin/New York 1990, 162 f.) mit entsprechenden forensischen Funktionen, eine Parallele findend in einem hethitischen Hymnus des Königs Mursulis 11. Der Adressat sozialer Hilfegesuche war auch der seleukidische Antiochos III. Einige Belege finden sich bei Wesei, U.: Geschichte des Rechts. München 1997, andere bei Otta, E.: Theologische Ethik des Alten Testaments. Stuttgart u. a. 1994. Ausgewählt zitiert werden dürfen Finkelstein, J. J.: Amisaduqa's Edict and the Babylonian Law Codes. Journal of Cuneiform Studies (51) 1961, 91-104 sowie Fischer, Tb.: Zur Seleukideninschrift von Hefzibah. Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik (33) 1979, 131-138, schließlich Kraus, F. R.: Ein Edikt des Königs Ammi-Saduga von Babyion. Leiden 1958. Auf die Besonderheiten der königskritischen Tradition im Alten Testament ist die vorliegende Arbeit im Kapitel B.II. eingegangen; die besondere JHWH-Königsideologie der spätvorexilischen, exilischen und nachexilischen Phase der Geschichte Israels wurde dort herausgestellt. 174 Die so gewonnenen Konstruktionen lassen sich aber auch in ein flüssigeres historisches Bild gießen: vgl. etwa Gehrke, H.-J.: Das Entstehen der griechischen Welt. In Erdmann, E./Uffelmann, U. (Hrsg.): Das Altertum. Vom Alten Orient zur Spätantike. Idstein 2001, 45-73. Ähnlich kompakt: Welwei, K.-H.: Die griechische Frühzeit. 2000 bis 500 v. Chr. München 2002. Mit Blick auf die relevanten ethnologischen Vergleiche und die kulturanthropologischen Befunde scheint O. Murray (Das frühe Griechenland. 4. Aufl. Frankfurt am Main 1991) in mancher Hinsicht überholt und A. Snodgrass (Archaic Greece. The Age of Experiment. London u. a. 1980: 25 f.) als zu konservativ. Dazu auch Weiler, G.: Domos Theiou Basileos. Herrschaftsformen und Herrschaftsarchitektur in den Siedlungen der Dark Ages. München/Leipzig 2001, 23 f., insb. FN 42 und 40 FN 85. 175 In Kapitel B.II. wurde als eine grundlegende Studie bereits die von W. Schmitz (Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland. Historische Zeitschrift (268) 1999,561-597) zitiert. 176 Zur Kategorie des Protoplasma vgl. auch - auf die frühlatinische Geschichte bezogen - Carandini, A.: Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 2002.
III. Das homerische Protoplasma in geometrischer Zeit
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raus gearbeitet werden, was unter dem Protoplasma-Charakter der homerischen Gesellschaft anschaulicher verstanden werden muss. 180 Zunächst zu Donlan, an Ausführungen des Verfassers in "Gilden als ,totales soziales Phänomen' im europäischen Mittelalter,,181 anknüpfend. Die Analysen von Donlan verweisen über Familie und Verwandtschaft hinaus. Er legt (wie einige französische l82 Facharbeiten auch) die Phylen und Phratrien nicht verwandtschaftlich aus, sondern eher als künstliche Gebilde, als Assoziation. 183 Der Oikos ist zwar um eine Familie gruppiert, ist aber mehr - eine Siedlungseinheit und eine ökonomische Einheit. Im Kern mag hier die indo-europäische Institution der erweiterten Familie vorliegen, die sich zum "clan-village" räumlich ausgedehnt hat, wenngleich die Terminologie verkürzt wirkt. Der Oikos wird damit zu einer Institution "both (as) a kinship and an alliance group". Man spürt den Spreizeffekt, aus dem Problem folgend, für nicht hinreichend begriffene (oder - materialabhängig begreifbare) Sozialphänomene eine angemessene Terminologie zu entwickeln. Donlan spricht klar von dem Phänomen, wonach "non-kin amity loves to masquerade as kinship". Entscheidend sei die soziale Produktion von reziproken Obligationen. Donlan thematisiert also den sozialen Raum als System konzentrischer Kreise von Oikos, Nachbarschaft und Gemeinde. Und er verallgemeinert anthropologisch: "The cognitive and symbolic expression of this homology reflects the universal human instinct to interpret all friendly association as a form of kinship". Und so wendet sich Donlan von der Familie fort zur "axis of neighborhood", deren Bindungen und Obligationen sich u. a. über lokale Kulte und Feste konstituieren. Dort, wo es zur Führerschaft (ebenfalls im indo-europäischen Sinne der Gefolgschaft) kommt, versteht Donlan unter dem Basileus den Big Man der Ethnologie. Der Big Man ist kein Monarch, eher ein primus inter pares. Phratrien sind Institutionen generalisierter Solidarität der verörtlichten Systeme der Ver-
177 Vgl. u.a. Donlan, W.: The Pre-State Community in Greece. Symboliae Osloenses, auspiciis Societatis Graeco-Latinae 0 (64) 1989, 5-29 sowie Donlan, W./ Thomas, C. P.: The Village Community of Ancient Greece. Studi Micenei ed Egeoanatolici (31) 1993,61-71. 178 Donlan, W.: The Social Groups of Dark Age Greece. Classical Philology (80) 1985,293-308. 179 Andreev, J. V.: Die homerische Gesellschaft. Klio 70 (1) 1988, 5-85. 180 Wichtige Aspekte der Mechanismen der Polis-Bildung finden sich auch bei Tandy, D. W.: Warriors and Traders. The Power of the Market in Early Greece. Berkely u. a. 2000. 181 Weiden/Regensburg 2000, 19 f. FN 7. 182 Bourriot, F.: Recherches sur la nature de genos. Lille 1976 sowie Roussel, D.: Tribu et cite. Paris 1976. 183 Vgl. ferner Lambert, S. D.: The Phratries of Attica. Ann Arbor 1993. 6 Schulz-Nieswandt
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wandtschaft und der Nachbarschaften, "a locus of social integration", "which cut across family and local ties." Die Dichtungen Homers sind - einige Aspekte der "homerischen Frage,,184 zunächst aufgreifend - nach Auffassung von Andreev I85 kulturelle wie linguistische Amalgame. So zeigt (wenn auch transformiert) sich der mykenische König kollektiv im Gedächtnis weitergegeben in Basileus. Daneben hat Homer (bzw. das redaktionelle Gebilde, das sich dahinter verbirgt) die Anfangsphasen der archaischen Entwicklung Griechenlands erlebt. Die Zeit zwischen der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts und der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts wird reflektiert. Ein mykenisches Erbe scheint auch die Existenz von Personen zu sein, die Nachbargemeinden oder ländlichen Gemeinden vorgestanden haben. In dem mehrstufigen Herrschaftssystem der mykenischen Zeit - wenn es denn so war - gab es wohl Spielraum für "Älteste des Volkes", die in einem fiskalischen System der mykenischen Herrschaft funktional eingebunden waren. (Ähnliche Strukturen sieht Breuer in der mykenischen Welt vorliegen, wenn er den Wanax als Gemeindebeauftragten I86 ansieht l87 , der Amtsgüter zu verwalten und der leiturgischen Bedarfsdeckung des Palastes zu dienen hatte: "Wie in den mesopotarnischen und syrischen Städten finden wir kommunale, von öffentlichen Notablen geleitete Körperschaften, die einerseits für die Repartierung der öffentlichen Lasten verantwortlich sind, andererseits aber auch über erhebliche Autonomien im lokalen Bereich verfügten."188) Nach dem Zerfall 184 Dazu vgl. u. a. Latacz, J. (Hrsg.). Zwei Hundert Jahre Horner-Forschung. Rückblick und Ausblick. Stuttgart/Leipzig 1991 sowie ders.: Homer. 3. Aufl. Düsseldorf/Zürich 1997. Vgl. ferner Crielaard, J.-P. (Hrsg.): Horneric Questions. Arnsterdarn 1995 sowie Powell, B./Morris, I. (Hrsg.): A New Cornpanion to Horner. Leiden 1997 und ferner Andersen, O./McDickie, M. (Hrsg.): Horner's World. Fiction, Tradition, Reality. Bergen 1995. Vgl. schließlich Weiler, G.: Dornos Theiou Basileos. Herrschaftsformen und Herrschaftsarchitektur in den Siedlungen der Dark Ages. München/Leipzig 2001, 14 ff. 185 Zu den angesprochenen indoeuropäischen Basisinstitutionen vgl. auch Schu/zNieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000: Anhang 11: Indoeuropäische Urinstitutionen?, 117-124. 186 Weiler, G.: Dornos Theiou Basileos. Herrschaftsformen und Herrschaftsarchitektur in den Siedlungen der Dark Ages. München/Leipzig 2001, 56. 187 Auch bei K. Eder (Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften. Frankfurt am Main 1980, 108-109) heißt es: "Der König der rnykenischen Palastwirtschaft, der ,anax', ist Organisator des militärischen Apparates und zugleich verantwortlich für das religiöse Leben. Diesem anax scheint eine mächtige Priesterklasse zugeordnet gewesen zu sein (... ). Die Dorfgemeinschaft konnte sich gegenüber diesen zentralen Institutionen halten: der ,basileus' ist Oberhaupt eines Dorfes, ihm zur Seite steht der Rat der Alten, die ,gerusa': sie organisieren das dörfliche Leben und zugleich die Außenbeziehungen der Dörfer zum Palast." V gl. aber auch Hooker, J. T.: The wanax in Linear B texts. Kadrnos (18) 1979, 100-111.
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der Machtzentralen mögen hier Keimzellen der Selbstverwaltung der späteren Polis liegen, wobei die Träger der "Kleinkönigtümer"189 als lokaler Proto-Adel zu verstehen sind. Es war eine charismatische face-to-face-Gesellschaft; Wohlstand und personales Ansehen koppelten sich aneinander. Dieser Befund wird im Verlauf der weiteren hellenistisch fundierten europäischen Geschichte in Form des Euergetismus noch eine maßgebliche und nachhaltige Rolle spielen. Der Adel der ländlich eingebundenen OikosWirtschaften wird von Andreev als bereits sehr stadtbezogen aufgefasst. Als für die Polis-Bildung hoch relevant beachtet Andreev auch die Wandlungen der Bodenbesitzverhältnisse. Die dabei zu beobachtenden sozialen Spannungen der Konzentrationsprozesse setzen aber bereits voraus, dass privates Eigentum vorherrschte. In dieser Institution des freien Bauern liegt die Stütze der späteren Polis. In der indoeuropäisch alten Institution der Phratrie diskutiert Andreev dann notwendige Transformationsprozesse von Verwandtschaftsverhältnissen, Transformationen, die also notwendig sind, wenn die Entstehung eines politischen Gemeinwesens begriffen werden soll. Freundschaft, Gefolgschaft und Männerbünde erlangen konstitutive Bedeutung. Schließlich spricht Andreev die Genossenschaften der gemeinsam Tafelnden an. Treueschwur und Bund sind zentrale Kategorien. An dieser Stelle kann man erneut auf indoeuropäische Kerninstitutionen hinweisen, die an dieser Stelle wiederkehren und sich somit als hoch relevant anbieten. Einflüsse einer mykenischen Gefolgsschaftsethik 190 spielen eine Rolle. Die relative Horizontalität in den Sozialbeziehungen nimmt in der post-mykenischen und prä-archaischen Zeit zu, da die materielle Basis des Basileus 191 188 Breuer, St.: Der archaische Staat. Berlin 1990, 217. Vgl. ferner Thomas, C. G.: From wanax to basileus: Kingship in the Greek Dark Age. Hispania Antiqua. Revista de historia antiqua (6) 1976, 187-206. 189 Weiler, G.: Domos Theiou Basileos. Herrschaftsformen und Herrschaftsarchitektur in den Siedlungen der Dark Ages. München/Leipzig 2001, 63). 190 Auch das Wissen über die Sozialstruktur und Sozialordnung der mykenischen Gesellschaft ist begrenzt. Klassisch: Chadwick, J.: Die mykenische Welt. Stuttgart 1979. Archäologisch fundiert vgl. Dickinson, 0.: The Agean Bronze Age. Cambridge 1994, insbesondere 85 ff. 191 Vgl. dazu Drews, R.: Basileus. The Evidence for Kingship in Geometrie Greece. New Haven/London 1983. Der Basileus ist kein König. Kommt man auf die Hypothese einer homerischen Protoplasmas für die spätere Polis zurück (130 f.), so wird man die angemessenere Analyse (FN 31 auf 110) in der Kategorie eines Big Man begründet sehen können, wobei sich aus der Figur der Ältesten die spätere Adelsdemokratie ergeben konnte. Wurzeln des Basileus in mykenischen Organisationsstrukturen könnten insofern vorliegen, da sich in der mykenischen Gesellschaft "distriet chiefs" oder "village mayors" finden lassen. Zur Klärung dieser Fragen wird man unbedingt auf die Studie von J. Whitley (Style und society in Dark Age Greece. The changing face of a pre-literate society 1100-700 Be. Cambridge 1991) zurückgreifen müssen. Whitley sieht im frühen Dark Age (11.110. Jahrhundert) die Sozialstruktur eines Big Man vorliegen (186). Whitley analysiert auf diesem Funda6*
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sehr limitiert ist. Verwandte, Freunde und Klienten treten in den Vordergrund; gebildet werden Netzwerke, die sich nicht eindeutig nur hierarchisch als Herrschaft codieren lassen. Das Fazit von Andreev lautet, dass nach dem Zusammenbruch der mykenischen Herrschaft ein System von Nachbargemeinden auf der Basis von patriarchalisch organisierten Oikos-Einheiten mit einem labilen Gleichgewicht von Volk (Volksversammlung) und Adel als Protoplasma für die spätere Polis-Bildung zur Kristallisation gebracht worden ist. Schon im Rahmen dieser beiden - ausgewählten - Analysen werden einige allgemeine Aspekte und Befunde der Protoplasma-Hypothese verständlich. (Selektivität schließt in diesem Fall Repräsentativität nicht aus.) Zunächst ist festzuhalten, dass sich die relative Egalität der homerischen Gesellschaft erst vor dem Hintergrund der Devolution der mykenischen Burgund Palastwirtschaft und -kultur verstehen lässt. Zeitlich und in großräumiger Perspektive betrachtet, fallen diese Devolution und die spätbronzezeitlich-flÜheisenzeitliche Soziogenese des vor-staatlichen Israels im kulturellen Kontext Kanaans zusammen. Die konkreten Kontextbedingungen für beide Sozialverhältnisse - für die homerische und für die vorstaatlich-kanaanitisch-israelitische - sind unterschiedliche (einmal die mykenische Herrschaftsform, auf der anderen Seite die Herrschaft der kanaanitischen Städte, wobei die Oberherrschaft Ägyptens im Großraum zu bedenken ist); aber das Resultat ist ähnlich: zweierlei segmentierte Gesellschaften ländlichbäuerlichen 192 Siedlungstyps, die zur langsamen Hierarchisierung neigen 193 ment die transformativen Übergänge zum archaischen Griechenland. Dies entspricht der Frage nach dem Protoplasma der Polis-Bildung im 8. Jahrhundert (9 f., 11, 192). Kulturvergleiche (198, 192) zu Melanesien und zu Nuristan (dazu vgl. Jones, S.: Men of Influence in Nuristan. London/New York 1974) werden gezogen. Jedenfalls wird die Kingship-These ebenso wie die Genos-These für die geometrische Periode kritisiert. Zum "chiefdom" vgl. auch insgesamt Earle, T. K. (Hrsg.): Chiefdoms: Power, economy, and ideology. Cambridge 1991. Vgl. aus der Fülle des Schrifttums Kireh, P.: The Evolution of Polynesian Chiefdom. Cambridge 1984. Vgl. auch Upleger, H.: Der sakrale Fürst auf Tahiti, Hawai und Tonga. Eine Untersuchung zum sakralen Herrscherturn in Polynesien. Diss. Mainz 1962. 192 Vgl. Uif, Chr.: Die homerische Gesellschaft. München 1990, 232. Hier schließen sich relevante Studien zu den "peasant societies" an. Vgl. klassisch Redfield, R.: Peasant Society and Culture. Chicago 1956. Vgl. auch Evans-Pritchard, E. E.: The Nuer. Oxford 1940. 193 Dies mag im Fall von Griechenland mittels einer Zwei-Ebenen-Gabenökonomik. geschehen, die auf der oberen Adelsebene eine Prestige-Güter-Wirtschaft induzierte. Darauf hat der Verfasser bereits in "Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung" (Weiden/Regensburg 2002: 45) verwiesen, und zwar mit Bezug auf W Donlan (Scale, Value, and Function in the Homeric Economy. American Journal of Ancient History (6 )1981, 101-117), der bei Homer eine Differenzierung zweier Ebenen zirkulärer Güter annimmt, wobei eine davon eine solche der status- und prestigeorientierten Güterzirkulation war, die folglich mit bereits ein-
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und Probleme der Bodenbesitzkonzentration aufweisen (werden), Oikoszentriert 194 sind, aber mit diesen Kemstrukturen zur Gemeindebildung neigen. 195 Die homerische Gesellschaft wird nach Auseinandersetzungen mit tyrannischen Entwicklungen 196 zur klassischen Polis tendieren, um erst über deren Blütezeit als "griechisches Wunder" (darüber wird nochmals zu handeln sein) letztlich doch zur imperialen hellenistischen Monarchie zu gelangen. Die bäuerlich-dörfliche Gesellschaft der "Israeliten" im kanaanitischen Kulturraum, auf die sich die Geschichte Israels (später) monotheistisch beziehen wird, geht direkt in die Herrschaftsform des sakralen Königtums über, wobei aber - das hatten die Ausführungen in Kapitel B.I1. zu zeigen versucht - eine gewisse, aber begrenzte Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft zum Ausdruck kam, die jedoch quellenbezogen leider nur durch den retrospektiven Filter der alttestamentlichen Theologie der nachexilischen Gemeinde kommuniziert ist.
2. Reziprozität in der homerischen Gesellschaft Stärker noch als in der ethnosoziologischen Literatur zum sozialgeschichtlichen Gehalt des Alten Testaments, die sich auf Konzepte der segmentären Gesellschaft und der regulierten Anarchie bezieht bzw. stärker auch als in der Literatur, die sich weberianisch auf die Kategorie der Eidgenossenschaft zurückbesinnt, spielt nun in der Analyse der homerischen Gesellschaft - initialisiert durch die Betonung der Gabemechanismen in der homerischen Gesellschaft bei Finley - die Anthropologie der Reziprozitätsökonomie eine große Rolle. 197 Die umfangreiche Literatur ist bei Wagnersetzender hierarchisierender Stratifikation verbunden war. Neigungen zur Hierarchisierung und zur vertikalen Redistribution analysiert auch Uif, Chr.: Die homerische Gesellschaft. München 1990 an vielen Stellen heraus. 194 Das archäologische Material für die Oikos- und Sozialstrukturanalyse im Rahmen von Siedlungsformenanalysen sind im Vergleich zur klassischen Zeit (Nevett, L. C.: House and Society in the Ancient Greek World. Cambridge 1999) eher schlecht. Vgl. jedoch Weiler, G.: Domos Theiou Basileos. Herrschaftsformen und Herrschaftsarchitektur in den Siedlungen der Dark Ages. München/Leipzig 2001. Das "dunkle Zeitalter" wird daher zunehmend aufgehellt, mit dem Ergebnis einer gewissen Kontinuität der Siedlungsstrukturen (vgl. Whitley, J.: The Archaeology of Ancient Greece. Cambridge 2001, 78 ff.) nach dem Untergang der mykenischen Welt. 195 Die ländlich-agrarischen Wurzeln betont die Studie von Hanson, V. D.: The Other Greeks. The Family Farm and the Agrarian Roots of Western Civilization. 2. Auf!. Berkeley 1999, mit einem bibliographischen Essay. Vgl. ferner Burford, A.: Land and Labor in the Greek World. Baltimore/London 1993. 196 Vgl. auch De Libero, L.: Die archaische Tyrannis. Stuttgart 1996. Vgl. auch Uif, Chr.: Die homerische Gesellschaft. München 1990,267 f. 197 Eine weitere, für uns bedeutsame neuere Studie stellt die Arbeit von R. Seaford über "Reciprocity and Ritual" dar, die, so der Untertitel, über "Homer and Tra-
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Hasel mit Blick auf die althistorische Debatte um die Entstehung von Staat und Polis aufgearbeitet worden 198. Ob sich dabei Missverständnisse eingeschlichen haben und/oder die Mechanismen hinreichend diskutiert werden, mag durchaus dahin gestellt bleiben. Die Literaturrezeption ist jedenfalls umfassend. Alle hier als relevant eingestuften Studien 199 - von ehr. GiB, gedy in the Developing City-State" (Oxford 1994) handelt. Seaford geht es in seiner Studie um die Analyse der politischen Gemeinwesen im Wandel der in Homers Werk ausgedrückten Sozialstruktur zur Polis, deren politische Integrationsprobleme in der Funktionalität der griechischen Tragödie einer pädagogischen Lösung zugeführt werden (vergleichbar argumentierend: Meier, Chr.: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988; unbedingt anzuführen ist aber auch Flaig, E.: Ödipus. Tragischer Vatermord im klassischen Athen. München 1988. Einen Forschungsüberblick gibt aber auch Zimmermann, B.: Europa und die griechische Tragödie. Frankfurt am Main 2000, 24 ff.). In diesem Sinne schreibt Seaford: "The novolty of my overall argument is in is concern with the relationship between the development of the polis, literature, and the social practices of reciprocity and ritual." (xvii) Die Tragödie thematisiert soziale Konflikte, die die Gemeinschaft zu sprengen drohen, die früher - bei Homer - noch im Netzwerk der Verwandtschaft gelöst worden sind, weil sie dort angesiedelt waren (368). In Homers Epen kontrolliert ritualisierte Reziprozität die Gewalt und die Selbsthilfe als Gegengewalt (xvii). Der Übergang zur Polis ist daher ein Prozess der Staatsbildung (xvi), innerhalb dessen sich auch die Formen der sozialen Kontrolle und der Kohäsionsstiftung verändern: "into a community of citizens, with the single standard of money as a medium of exchange, united by cult, by the need of defend a territory, and by the institutions of polis." (xviii; vgl. auch 368) Damit ist Seafords Studie zunächst einmal eine Zusammenfassung der Diskussion zur Sozialstruktur der homerischen Gesellschaft (Kurzcharakterisierung auf xvii), die einschlägige Forschungsliteratur nochmals aufgreifend. Als Kriterien der homerischen Sozialstruktur sind zu nennen: "a weak state, a relatively autonomous family, the importance of honour (... ), and a more central role for reciprocity and ritual in the creation und maintenance of social relations" (6). Dabei verweist Seaford auf die Synthesemöglichkeit hinsichtlich der dualen Hypothesensätze über "competetive virtues" versus "co-operate virtues" (4). Die Geschenke bei Homer stiften soziale Abhängigkeiten, allerdings - so Seaford "not in the extreme form sometimes found in societies that are entirely clan-based and non-hierarchical." (14) Seaford nimmt also gewisse Hierarchien in Homerischer Zeit an. Wo allerdings von König gesprochen wird, ist wohl mehr ein "Big Man" gemeint (194). Die Redistribution im Big Man-System ist abzugrenzen von der späteren Reziprozität in der politischen Kommune (194). Der strukturelle Wandel, der seinen Wendepunkt im 8. Jahrhundert hatte, war verknüpft mit der Schwäche des Big Man, soziale Integration noch zu erzielen. Denn "the monarch (basileus) of the geometrie age had in fact only a local and unstable authority." (110 f.) Die Transformation zur Polis bedeutete psychohistorisch, die "heroic virtues" der Homerischen Zeit in "communal interest as an new standard of individual morality" (194) zu verändern. Die neue "generosity" drückte ihre kommunalen Werte aus. Daher war die Polis nie ohne Kult denkbar (233 sowie 236), und die Tragödie hatte dort ihren moralischen Sinn. Seaford wird an anderer Stelle, wenn es um den Heroenkult geht, nochmals aufzugreifen sein. 198 Wagner-Hasel, B.: Der Stoff der Gaben. Kultur und Politik des Schenkens und Tausehens im archaischen Griechenland. Frankfurt am Main/New York 2000.
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Tb. Fatheuer, G. Herman, P. Karavites, D. Konstan, L. G. Mitchell, F. de Polignac, R. Seaford, J. Whitley, L. Gernet, S. v. Reden sowie M. Godelier und somit auch die bei ihm zitierte neuere Literatur200 zur Gabenökonomik201 - sind angeführt und verarbeitet. Die Annahme ist hier nun die, dass sich in diesem "dunklen Zeitalter" allererste Voraussetzungen der Bildung einer verbürgerlichten städtischen Adelsdemokratie202 mit ländlichem Grundbesitz herausgebildet hat, die sich erstmals als umfassende politische Demokratie verstehen wird, d. h., sich selbst verwaltet. Einige Wurzeln mögen in den Reziprozitätsmustern liegen, die sich auf der Grundlage der sozialstrukturellen Devolution der post-mykenischen Zeit herausbildeten. Dazu gehört auch der Oikos-übergreifende Mechanismus der Gastfreundschaft (vgl. auch Kapitel C.III.)?03 Hier müs199 Einige dürfen ergänzend angeführt werden, etwa Osbome, R.: Greece in the Making 1200-479 Be. London/New York 1996; Burkert, W.: Kulte des Altertums. München 1998; Zaidman, L. B./Schmitt Pantel, P.: Die Religion der Griechen. München 1994 u.a.m.; altrömische Analogien bei Rüpke, J.: Kommensalität und Gesellschaftsstruktur: Tafelfreu(n)de im alten Rom. Saeculum 491II, 1998, 193-215; übergreifend vgl. auch Nielsen, I./Nielsen, H. S. (Hrsg.): Meals in a Social Context. Aspects of the Communal Meal in the Hellenistic and Roman World. Oxford 1998. 200 Zu denken ist an Strathem, M.: The Gender of the Gift. Berke1ey 1988 sowie an Weiner, A.: Inalienable Possessions: The Paradox of Keeping-while-Giving. Berke1ey 1992. 201 Hier knüpft das Kapitel an die entsprechenden Vorarbeiten des Verfassers zur Anthropologie der Gabe an: Die Gabe - Der gemeinsame Ursprung der Gesellung des Tei1ens im religiösen Opferkult und in der Mahlgemeinschaft. Zeitschrift für Sozialreform 47 (1) 2001, 75-92. 202 Zur Parallele der Bildung einer Proto-Aristokratie in der latinischen Frühgeschichte vgl. Carandini, A.: Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 2002, 538 f.: Demnach hängt der Status des "Mitbürgers" vom Landbesitz ab; damit ist auch die Gefahr der Schuldknechtschaft gegeben. 203 So liegt von D. Konstan (Friendship in the classical world. Cambridge 1997) eine Studie über Freundschaft in der Antike vor. Konstan rekonstruiert die Freundschaft im Kontext anderer Sozialgebilde und Gesellungsformen von der Homerischen Zeit, über die griechische und römische Antike bis zum Christentum. Konstan kann herausarbeiten, wie sich der Stellenwert der Freundschaft wandelt, bis er im frühen Christentum eine eigenwillige Transformation erfährt im Rahmen der gemeindeorientierten Verbrüderschaftlichung, die ihre Fundierung im verwandtschaftsorientierten Verständnis von universaler Nächstenliebe findet, nachdem die sozialen Figurationen in der griechischen und dann in der römischen Epoche mehr von egalitärer Aristokratie und status-orientierten Patriziertum geprägt waren. Dies verweist bereits auf Fragen in Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit. Sodann ist auf die Studie von L. G. Mitchell (Greeks bearing gifts. The public use of private relationship in the Greek world, 435-323 BC. Cambridge u.a. 1997) zu verweisen. Unter Philia (Freundschaft) haben die Griechen sehr unterschiedliches verstanden: Verwandtschaft ebenso wie Einungen und Gastfreundschaft. Und die Polis basierte auf der Inkorporierung der Bürger, indem gerade verschiedene formen derartiger Relationen imitiert und genutzt wurden. Und insofern gründete die Polis
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sen wohl genossenschaftsartige, bruderschaftliche, dann auch heroenkultzentrierte 204 Gemeindebildungen begründet sein. Jedenfalls gehören - hier liegt eine erstaunliche ethnosoziologische Parallele zur Überwindung der Tribalitätpräferenz in der alttestamentlichen Forschung vor - die gentilizischen Theorien über die Entstehung der griechischen Stadtstaaten und die damit verknüpften Wanderungstheorien wohl weitgehend der Vergangenheit an. 205 Insbesondere französische Studien haben dazu beigetragen. 206 Auf die Arbeiten etwa von F. de Polignac ist nochmals hinzuweisen. 207 In der deutschsprachigen (Lehrbuch-)Literatur haben sich diese Perspektiven bereits weitgehend durchgesetzt. Zu verweisen ist etwa auf die Darstellung von K.-J. Hölkeskamp und E. Stein-Hölkeskamp "Die Dark Ages und das in der vor-klassischen, nicht nur archaischen, sondern auch homerischen Welt des Dark Ages. Die öffentliche Nutzung sozialer Gesellungsformen kommt später in den stärker vertikal gedachten Liturgien zum Wirken, wobei eine Patronagemotivik konstitutiv wird. Man kann auch von einer hierarchiekonstituierenden Nutzung von Netzwerken, die horizontaler Art sind, sprechen. Hier ist an Altersgruppen oder Tischgemeinschaften, vor allem Trinkgemeinschaften der freien Männer zu denken. 204 Whitley, J.: The Archaeology of Ancient Greece. Cambridge 2001, 134 ff.; R. Seaford (Reciprocity and Ritial. Homer and Tragedy in the Developing City-State. Oxford 1994) analysiert den Heroenkult (vgl. auch Boehringer, D.: Heroenkulte in Griechenland von der geometrischen bis zur klassischen Zeit. Berlin 2001) seit dem 8. Jahrhundert gerade als Mechanismus zu Konstitution von Gemeinwesen politischer Art dort, wo Verwandtschaft an Bindekraft verliert, sieht also "the power of the hero-cult (... ) to unite a group not united by kinship." (1994: 111). Die Evidenz ist gegeben, denn spätestens seit dem siebenten Jahrhundert v. Chr. ist für Griechenland die Vorstellung literarisch belegt, dass männliche wie weibliche Vorfahren mit außergewöhnlichen Fähigkeiten am Anfang wichtiger sozialer Gruppen und Institutionen stünden und kultische Verehrung in den Formen des Totenrituals erhalten sollen. Und Seaford: "In this way the institution of the cult of the tribai hero would promote social cohesion among citizens united neither by kinship nor even (... ) by locality." (113; vgl. auch 120) Vor diesem Hintergrund analysiert Seaford die Ritualisierung von Statuspassagen in der Polis (326 f.). Mimesis ermöglicht die Transformation von Verwandtschaft in artifizielle Gesellungsformen. Und ethnologische Vergleiche sind zu ziehen zur Kohäsionsstiftung durch Beerdigungsriten (87). 205 Wie in Kapitel 1 kann auch hier eine forschungsstrategische Parallele zur Ablehnung exogener Eroberungs- oder Einwanderungstheorien in der neueren Etruskologie gesehen werden. Vgl. auch Pallottino, M.: Etruskologie. Geschichte und Kultur der Etrusker, Basel u. a. 1988. 206 Vgl. Patterson, C. B.: The Family in Greek History. Cambridge (USA)/London (GB) 1998, insbesondere 49 und 242 f. Im Rahmen der fragmentierten Textur der homerischen Gesellschaft (als fragile Form der Vergesellschaftung mit einer polyzentrischen Struktur) zeichnen sich somit bereits assoziativ-korporative Gebilde wie später die Phratrien und Phylen - ab. Diese sind jedoch nicht als segmentärgentilgesellschaftliche Gebilde (also unilineare, agnatische Lineage-Systeme) darzustellen. Vgl. auch Pomeroy, S. B.: Families in Classical and Hellenistic Greece. Oxford 1997, 77 f. 207 Polignac, F. de: Cults, Territory, and the Origins of the Greek City-State. London 1995.
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archaische Griechenland,,208 sowie auf das Werk von Welwei?09 Insbesondere die für die klassische Polis so wichtigen Phratrien und Phylen werden heute als genossenschafts artige Gebilde und nicht als gentilen Ursprungs verstanden. 210 3. Die griechische Polis als weltgeschichtliches "Wunder" und die orientalische "primitive Demokratie" Eine - komparativ zur Problematik der vor-staatlichen Zeit Israels sich stellende - Frage ist nun die nach dem Verhältnis der griechischen Demokratie (als weltgeschichtliches "Wunder") zur primitiven Demokratie im orientalischen Altertum. Die These, nur bei den Griechen und nur hier, und zwar in weltgeschichtlich bedeutungsvoller, weil entsprechend fortwirkender Weise, entstand die Demokratie, geht auf ehr. Meier211 zurück. Griechenland war - Meier paraphrasierend - das Nadelöhr, durch das demnach die Weltgeschichte musste, um zu dem zu kommen, was Europa heute darstellt. Genau diese These ist in der neueren Literatur mit Blick auf die Sozialgebilde primitiver Demokratien im orientalischen Altertum nicht unwidersprochen geblieben. Nur eine Linie dieser Kritik soll hier näher aufgegriffen werden. Diese These des griechischen Ursprungs der Demokratie ist gerade mit Bezug auf die Geschichte Israels von Haude 212 kritisiert worden. Demokratische Strukturen hätten sich auch in nicht-schriftlichen2 13 , außereuropäischen, hier orientalischen Hochkulturen entwickelt. Dazu greift Haude auf 208 In Gehrke, H.-J./Schneider, H. (Hrsg.): Geschichte der Antike. Stuttgart/Weimar 2000, 17-97. 209 Vgl. u.a. und insbesondere Welwei, K.-W.: Die griechische Polis. 2. Aufl. Stuttgart 1998. 210 Vgl. auch Welwei, K.-W.: Ursprünge genossenschaftlicher Organisationsformen in der archaischen Polis. Saeculum (39) 1988, 12-23. Vgl. ferner Lambert, S. D.: The Phratries of Attica. Ann Arbor 1993. 211 Meier, Chr.: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1995. Vgl. auch Vernant, J.-P.: Die Entstehung des griechischen Denkens. Frankfurt am Main 1982. Vgl. ferner Raaflaub, K. u.a. (Hrsg.): Anfange politischen Denkens in der Antike. München 1993. 212 Haude, R.: Alphabet und Demokratie. Saeculum (59/1) 1999, 1-28. Dazu auch in Schulz-Nieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000, 40-41. 213 Zur Frage der Gesellschaftssystementwicklung in Korrelation zur Entwicklung der medialen Kommunikationssysteme vgl. (rückgreifend vor allem auf N. Luhmann) Esposito, E.: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt am Main 2002. Dabei greift Esposito immer wieder zurück auf Jonker, G.: The Topography of Remembrance. The Dead, Tradition and Collective Memory in Mesopotamia. Brill u.a. 1995.
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das in Kapitel B.II. diskutierte Theorem der "primitiven Demokratie" zurück und universalisiert es - vorn Industal über die Hurriter und Hethiter bis zu Ugarit, Nubien und dem alten China. Haude verweist zur Untermauerung seiner Ausführungen auf Tadmor214 (dort mit weiteren Verweisen). Auch Mann wird herangezogen. Was schreibt denn aber Mann über die Zivilisation des Industals an der angegebenen Stelle?215 Mann schreibt: "Der Staat könnte eine ,Primitivdemokratie' gewesen sein, etwa von der Art, wie Jacobsen sie im frühen Mesopotamien registriert hat. Man ist versucht, diese Zivilisation als ein Mittelding zwischen der Frühdynastisch-IZeit in Mesopotamien und einer avancierten Version der von den Grabstättenerbauem der Frühgeschichte praktizierten Lebensweise zu begreifen ein alluviales, schriftkundiges Stonehenge vielleicht." Ist dies ein Befund? Man wird davon ausgehen müssen, dass die Schwachstellen dieser so stark vorgetragenen These von Haude im Lichte der bisherigen Forschungen offensichtlich sind. Weitere ethnologische Befunde führt Haude daher auch kompensatorisch mit Blick auf diese Lücke an. Er verweist etwa auf die Irokesenliga216 . Das Material, das Haude zur "Möglichkeit vor-griechischer Demokratie" darlegt, ist demnach eher sehr begrenzt. Speziell die Interpretation der biblischen Geschichte fällt - im Lichte der Kapitel B.II.3. und B.II.5. der vorliegenden Arbeit gesehen - nicht unproblematisch aus, da völlig von Datierungsfragen, also von redaktions- und textwachstumsgeschichtlichen Problemen abstrahiert wird. Auch die ethnosoziologischen Befunde werden nicht hinreichend rezipiert. Nun breitet Haude an anderer Stelle zum "richterzeitlichen Israel,,217 als "anarchistischer Hochkultur,,218 mehr Forschungsliteratur aus, die allerdings über die Ausführungen in Kapitel B.l1. der vorliegenden Arbeit nicht hinausgehen. Folglich bleiben die angeführten Probleme bestehen. Mit dieser Problematik der vor-griechischen Tradition einfacher demokratischer Gesellschaften setzt sich nun ausführlicher Robinson219 auseinander. Natürlich verweist auch Robinson auf das spärliche und methodisch schwer 214 Tadmor, H.: "The People" and the Kingship in Ancient Israel: The Role of Political Institutions in the Biblical Period. Journal of World History (11) 1968,4668. 215 Mann, M.: Geschichte der Macht. Bd. l. Frankfurt am Main/New York 1994, 179. 216 Ein Thema mit wiederum reichlicher Literaturlandschaft. Vgl. etwa auch Gearing, F.: Priests and warriors. Social Structures for Cherokee Politics in the 18th Century. Arnerican Anthropologist. Memour 93. 64 (5) 2 1962. 217 Vgl. dazu auch einige Ausführungen in Becker, U.: Richterzeit und Königtum. Redaktionsgeschichtliche Studien zum Richterbuch. Berlin/New York 1990. 218 Haude, Chr.: Das richterzeitliche Israel: eine anarchistische Hochkultur. In Haude, R.lWagner, Th. (Hrsg.). Herrschaftsfreie Institutionen. Baden-Baden 1999, 143-166.
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interpretierbare Quellenmaterial, bezweifelt aber vor allem die zur griechischen Polis eben nicht vergleichbare Bedeutung dieser demokratischen Gebilde für die Weltgeschichte: Nicht altorientalische demokratische Lokalinstitutionen hätten kulturgeschichtliche Wirkungen gehabt, sondern nur die griechische Polis. Und: Die demokratischen Lokalinstitutionen im orientalischen Altertum seien nicht dominant gewesen, nie der Inbegriff der politischen Ordnung, sondern immer nur Teile einer Funktionslogik großräumiger monarchischer Reiche, also eher ein Baustein in einem imperialen Zentrum-Peripherie-Muster. Diese Formulierung müsste mehrfach herausgestellt werden, damit ihre Ausdrücklichkeit evident wird. Im Lichte der Ausführungen in Kapitel B.l1. zur Rolle primitiver Demokratien in der Geschichte Israels wird man diesem Urteil wohl weitgehend zustimmen müssen 220 , wenngleich für die nach-exilisch beginnende Diaspora-Existenz des jüdischen Volkes die synagogische Gemeindeidee identitätsstiftend wurde - und zwar von langer historischer Dauer. 221 Hinsichtlich einiger personaler Korrelate dieses institutionengeschichtlichen Geschehens ist auf die geistige Lagesituation des Urchristentums zu verweisen. Das Problem der Demokratie - so Bultmann in seiner Abhandlung "Das Urchristentum" - "entsteht in Israel nicht, weil hier das Volk nicht als eine sich unter der Idee der Polis gestaltende Gemeinschaft verstanden ist, die jeder Einzelne mitkonstituiert, sondern als Schöpfung der Geschichte, von der jeder Einzelne getragen wird. ,,222 Das mag eine christlich strukturierte Wahrnehmung sein. Aber Bultmanns Position mag dennoch herausgestellt werden. In Griechenland setzt sich die menschliche Geschichte von der Naturgeschichte ab. In dem Nomos konstituiert sich die 219 Robinson, E. W.: The First Democracies. Early Popular Government Outside Athens. Stuttgart 1997, 16-25. Vgl. ferner Brock, R.lHodkinson, St. (Hrsg.): Alternatives to Athens. Varieties of Political Organization and Community in Ancient Greece. Oxford/New York 2002. 220 Zumal es vorherrschende Meinung ist, den Gesellschaften des Altertums das Phänomen selbständiger Gilden abzusprechen. Vgl. dazu Schulz-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000: Exkurs: Gilden im mesopotamischen Altertum?, 55 ff. 221 Generell ist hier anzumerken, ob nicht eine Ebenen-Verschiebung vorliegt: Geschichtsmythen können realitätswirksam werden, ohne selbst real zu sein. In diesem Sinne war Griechenland und die Polis "geschichtsträchtig". Andere - analoge Gebilde mögen vergessen worden sein, da sie nicht geschichtsträchtig waren. Ihre Realität war jedoch existent, ihre Bildung also auf einer anderen Ebene bedeutsam. 222 Bultmann, R.: Das Urchristentum. 5. Aufl. München 1992, 39 (Kursives im Orginal kursiv gedruckt). Diese Interpretation hängt natürlich davon ab, inwieweit das nach-exilische Judentum Gemeindecharakter hatte (Schaper, J.: Priester und Leviten im achämenidischen Juda. Tübingen 2000, 202), und inwieweit ein Individualisierungsschub mentalitätsgeschichtlich wahrnehmbar ist. Darauf wurde bereits in A. und in Kapitel B.II. verwiesen.
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B. Die vorchristlichen Wurzeln
Polis und damit zugleich das spezifisch menschliche Dasein. Dennoch (was sozialontologisch eigentlich näher geklärt werden müsste) ist auch hier die Individuation (noch) begrenzt223 ; die Polis ist vor dem Einzelnen da. Für Bultmann ist daher der menschliche Wille - somit auch die Offenheit der Zukunft - erst freigesetzt worden mit dem Urchristentum. 224 Die Bedeutung dieser mentalen Entwicklungen ist besser zu verstehen, wenn man sie einordnet im (gar nicht so differenten?) Spektrum zwischen mittelalterlichen Vorstellungen von den Funktionsmechanismen sozialer Wirklichkeit225 und den alttestamentlich überlieferten Wirklichkeitslogiken226 .
4. Der Weg zum Euergetismus und zur monarchischen Herrschaftsideologie Die Diskussion wendet sich daher wieder der Besonderheit der griechischen Polis zu. Im vorliegenden Kapitel wurden einige Aspekte einer Entwicklungslinie der archaisch-frühgriechischen Wurzeln der Polis-Bildung in der homerischen Gesellschaft gestreift. Die Hauptthese war: Gerade infolge der sozialstrukturellen Devolution in der post-mykenischen Zeit - die als Vereinfachung der Sozialstruktur zu verstehen ist227 - konnten sich gewisse Egalitätsmuster eines Oikos-besitzenden städtischen Protoadels stadtbürgerlicher Art228 aus der allgemeinen Ökonomie der Reziprozität segmentär strukturierter Siedlungsweise entwickeln. Von Anbeginn an halfen dabei die Kristallisation von genossenschaftsartigen, männerbündisch anmutenden Gesellungsformen, die sakral-religiösen Kulturursprungs sind. Aus dem Opferkult und aus den damit verbundenen Mahlgemeinschaften229 heraus wird 223 Vgl. auch Heitsch, E.: Wollen und Verwirklichen. Vom Homer zu Paulus. Mainz/Stuttgart 1989. 224 Bultmann, R.: Das Urchristentum. 5. Aufl. München 1992. 225, 229 f., 235, 241. 225 Sanders, W.: Glück. Zur Herkunft und Bedeutungsentwicklung eines mittelalterlichen Schicksalsbegriffs. Köln/Graz 1965 sowie ferner Gründel, J.: Die Lehre von den Umständen der menschlichen Handlung im Mittelalter. Münster 1963. 226 Vgl. u. a. Schmidt, L.: Menschlicher Erfolg und Jahwes Initiative. Neukirchen/ Vluyn 1970. 227 Vgl. auch Weiler, G.: Domus Theiou Basileos. Herrschaftsformen und Herrschaftsarchitektur in den Siedlungen der Dark Ages. München/Leipzig 2001. 228 Diese Formulierung ist bewusst widerspruchs- und spannungsvoll gewählt, weil diese Inklusions-Exklusions-Problematik der griechischen Demokratie von Anbeginn anhaftete. Die einschlägige Literatur spiegelt diese Problemgeladenheit: vgl. u.a. Gawantka, W.: Die sogenannte Polis. Stuttgart 1985; Spahn, P.: Mittelschicht und Polisbildung. Frankfurt am Main 1977; Walter, U.: An der Polis teilhaben. Bürgerstaat und Zugehörigkeit im archaischen Griechenland. Stuttgart 1993; Link, St.: Landverteilung und sozialer Frieden im archaischen Griechenland. Stuttgart 1991; Stein-Höldeskamp, F.: Adelskultur und Polisgesellschaft. Stuttgart 1989.
III. Das homerische Protoplasma in geometrischer Zeit
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eine korporative Identität gestiftet. So baut sich eine eher horizontale Gesellschaft auf, die sich intern aber auch hierarchisiert230 (vor allem über Bodenbesitzkonzentration) und eine städtische Elite entwickeln hilft, die sich als Bürgergemeinde politisch verstehen wird. Dabei spielen sicherlich viele andere Faktoren eine Rolle, etwa die Kolonisationserfahrungen infolge des demographischen Anstiegs seit dem 8. Jahrhundert, auch die Integration der einfachen Bürger in tragende militärische Gemeinschaftsrollen infolge der Hoplitentaktik231 (ein Befund, der auch in der römischen Geschichte eine beachtliche Rolle spielte232 ) u. a. m. Hier nun sollen jedoch die religionsgeschichtlichen Bahnungen233 betont werden. Aus Mythos 234 , Kult und Ritual folgt Gesellung und aus ihr politische Identität. Hierbei ist insbesondere auf die Heroenkulte zu verweisen. 235
229 Nielsen, I./Nielsen, H. S. (Hrsg.): Meals in a Social Context. Aspects of the Communal Meal in the Hellenistic and Roman World. Oxford 1998. Vgl. auch Lavrenic, M.: Spartanische Küche. Das Gemeinschaftsmahl der Männer in Sparta. Wien u.a. 1993. 230 Zur Ausbildung von "vertikalen Rollen" vgl. auch Bietti Sestieri, AM.: The Iron Age Community of Osteria delI' Osa: a Study of Socio-Political Development in Central Thyrrenian Italy. Cambridge 1992. Vgl. auch Carandini, A: Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 1992, 545. 231 Vgl. dazu Literatur in Hanson, V. D.: The Other Greeks. The Family Farm and the Agrarian Roots of Western Civilization. 2. Aufl. Berkeley u.a. 1999,522 f. Zur Rolle proto-hoplitischer Fußtruppen in der früh-latinischen Geschichte vgl. Carandini, A: Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 2002, 547. Die Fußtruppen-Effizienz begründet somit eine Demokratisierung der Mitbürgerschaft im Proto-Staat (für Griechenland vgl. Drews, R.: The Coming of the Greeks. Indo-European Conquests in the Agean and the Near East. Princeton 1988 und ders.: The End of the Bronze Age. Changes in Warfare and the Catastrophe ca. 1200 B.C. Princeton 1993). Gilt das auch für die "Welt des Heeres Davids" (Carandini, A: Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 2002, 547)? Erklärt sich so die "Solidarität der Gemeinschaften der frühen Eisenzeit" (ebenda)? Wobei diese demokratischen Massen begleitet werden "von einem begrenzten Korps von Reitern, das an der Seite höchst bescheidener aber gerüsteter bewaffneter Banden von Gruppen von Proto-Aristokraten tritt" (ebenda)? Dann wären Kampf-Gemeinschaft und aristokratische Herkunfts-Elite auch hier von Anbeginn an gleichzeitig wirksam. 232 Vgl. Bringmann, K.: Geschichte der römischen Republik. München 2002, 24 ff. 233 Schulz-Nieswandt, F.: Die Gabe - Der gemeinsame Ursprung der Gesellung des Teilens im religiösen Opferkult und in der Mahlgemeinschaft. Zeitschrift für Sozialreform 47 (1) 2001, 75-92. 234 Vgl. auch Vemant, J.-P.: Mythos und Religion im Alten Griechenland. Frankfurt am Main/New York 1995; ders.: Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland. Frankfurt am Main 1987. 235 Whitley, J.: The Archaeology of Ancient Greece. Cambridge 2001, 134 ff.; R. Seaford (Reciprocity and Ritual. Homer and Tragedy in the Developing City-State. Oxford 1994) analysiert den Heroenkult (vgl. auch Boehringer, D.: Heroenkulte in
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B. Die vorchristlichen Wurzeln
Kultgenossenschaften 236 spielten sodann auch in der etablierten klassischen Polis immer eine Rolle. Sie waren oftmals sogar von sozialpolitischer Bedeutung237 und finden heute noch in der ganzen Welt verwandte Beispiele. 238 Nicht unbedeutend für die weitere Entwicklung und für die Themen, die in späteren Kapiteln noch abzuhandeln sein werden, ist natürlich der hellenistische 239 Euergetismus24o , der sich im Laufe der Geschichte der Griechenland von der geometrischen bis zur klassischen Zeit. Berlin 2(01) gerade als Mechanismus zu Konstitution von Gemeinwesen politischer Art. 236 Hier darf Gernet, L.: The Anthropology of Ancient Greece (Maryland/London 1981) angeführt werden. Zentral bei Gernet ist die These der Konstitution von Gesellung im Mahl (14 sowie FNen auf 35 f.). Gernet betont die sozialen Dimensionen der Feste (16). Hier begründet sich auch das politische Gemeinwesen (17). In der Gastfreundschaft (18) wurzelt die Generösität der späteren Polis (auch 151). In Ethik und Religion gründet sich somit Gesellschaft (26). Gernet behandelt nun ausgiebig die Eranos-Gesellschaften (27; 156), die sowohl genossenschaftswissenschaftlich als auch in sozialpolitischer Hinsicht begriffen werden können. Für Gernet konstituieren sich hier jene "mutual obligation" (156). Gernet betrachtet die Speisegesellschaft bei Homer (157) im Lichte ländlicher Agapen (27). Gernet spannt nun den Bogen zu anderen hier nun sehr wichtigen Kategorien: zu quasi-familialen Vereinen (27) und zu den Phratrien (154). Gernet sieht in all diesen Strukturen die Anthropologie der Gabe im Sinne des "do ut des" (32, 34). Und in Bezug auf die Eranos-Gesellschaften betont er, dass hier "a sort of mutuum" (158 f.) vorliegt. 237 Darauf hat der Verfasser vergleichend und nur begrenzt in soziogenetischer Absicht in seinen Studien zur Geschichte der europäischen Gilden (Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2(00) hingewiesen. Dort ist auch die klassische Literatur zum griechischen Vereinswesen angeführt. Sozialpolitisch orientiert: Pfeffer, M. E.: Einrichtungen der sozialen Sicherung in der griechischen und römischen Antike. Berlin 1969. 238 Ethnologische Forschungsbefunde finden sich - selektiv - bei Schulz-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000, 17, insbesondere FN 5 und 6. 239 "Schenkungen sind Ausdruck der großen Gesinnung der Reichen und Mächtigen, Ausdruck der Uneigennützigkeit sind sie nicht. Sie knüpfen ein moralisches Band zwischen dem Schenkenden und dem Beschenkten, das jenen zum überlegenen, diesen zum unterlegenden Partner macht.", schreibt Bringmann, K.: Geben und Nehmen. Monarchische Wohltätigkeit und Selbstdarstellung im Zeitalter des Hellenismus. Berlin 2000. Und weiter (7): "Schenkungen und Weihungen liegt ein ganzes Bündel von Motiven zugrunde: Frömmigkeit und Selbstdarstellungsbedürfnis, machiavellistisches Machtkalkül und wohlverstandenes Herrschaftsinteresse, aber auch Freundschaft und Solidarität mit der Welt der griechischen Stadt." Vg1. auch Schmidt-Donaus, B.: Geschenke erhalten die Freundschaft. Politik und Selbstdarstellung im Spiegel der Monumente. Berlin 2000. 240 In politischen Gemeinwesen der Polis wird der Gabentausch transformiert: Spenden und Wohltätigkeit machen sich breit. Diese haben in ihrem innersten Wesenskern noch die Gabe inkorporiert. Die spendende Großzügigkeit wird bei S. von Reden (Ecchange in Ancient Greece. London 1995) behandelt, es gilt: "spending was a political virtue. It created reciprocal ties of obligation between unequals from which the wealthier party derived political power and status." (85) Die Adelsbürger konkurrieren im Spenden um Statuspositionen. In Bezug auf die Empfanger wird
III. Das homerische Protoplasma in geometrischer Zeit
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Polis und dann in der römischen Geschichte bis in die Kaiserzeit (weit über die Politik der Bilderwelt bei Augustus 241 hinaus) hinein entwickelte242.243 Die Kohäsion und soziale Integration, die in Griechenland die archaischen Speisegemeinschaften stifteten, werden später zum aristokratischen Symposion244 (obwohl das zur Hierarchie neigende agonale Element gerade schon der homerischen Gesellschaft nicht fremd war) und werden in Leiturgie und Euergetismus (Euergesia) oder im griechischen Kreta als Andreia245 gebrochen und verwandelt fortgeführt. Und noch im fortgeschrittenen Mittelalter Europas lassen sich Formen öffentlich bedeutsamen Konsums beobachten. 246 Entscheidend für die weitere europäische Geschichte ist sicherlich auch die römische247 Spätantike. 248 Hier wurde das christianisierte SakralkönigMutualität kreiert, aber "friendship between ,agathoi'." (85; vgl. auch 220) Hier zeichnet sich die Adelsdemokratie ab. Die Wurzeln liegen im 8. Jahrhundert im Oikos-Basileus, der nicht mit einem monarchischen König zu verwechseln ist (16). In der homerischen Dichtung taucht in diesem Sinne schon die Polis auf, sofern Elemente des 8. Jahrhunderts Eingang finden. Die Homerischen Dichtungen dürften im 8. Jahrhundert ja auch ihre Entstehungszeit haben. Zugleich wirken auch Elemente des älteren Dark Age ein. Schon dort galt: Geschenke stiften Obligationen (19); und es entstehen so "mutual obligation" (80) sowie "ties" (85) - Strukturelemente auch in der späteren Polis, wenn auch in gewandelter Gestalt. 241 Vgl. auch Bringmann, K./Schäjer, Th.: Augustus und die Begründung des römischen Kaisertums. Berlin 2002. 242 Vgl. zur Ausbreitung des städtisch-dörfliches Festes und zum Euergetismus auch die spezielleren Studien von Wörrle, M.: Stadt und Fest im kaiserzeitlichen Kleinasien. München 1988 sowie von Schuler, Chr.: Ländliche Siedlungen und Gemeinden im hellenistischen und römischen Kleinasien. München 1998. Ferner: Köhler, J.: Pompai. Untersuchungen zur hellenistischen Festkultur. Frankfurt am Main 1996. 243 Klassisch ist Veyne, P.: Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike. Frankfurt am Main 1988. Vgl. ferner Fellmeth, U.: Brot und Politik. Ernährung, Tafelluxus und Hunger im antiken Rom. Stuttgart/Weimar 2001 sowie Wiedemann, Th.: Kaiser und Gladiatoren. Die Macht der Spiele im antiken Rom. Darmstadt 2001. Vgl. aber auch Weeber, K.-H.: Panem et Circenses. Massenunterhaltung als Politik im Antiken Rom. Mainz 1988. 244 Vgl. auch Rüpke, J.: Die Religion der Römer. München 2001, 137 ff. 245 Vergleichende Aspekte zu Curia, Phratria und Andreia (als Zusammenkunft der Mitglieder, die an Gemeinschaftsmählern teilnehmen) sowie Vereias (der Oskern) bei Carandini, A.: Die Geburt Roms. Düsseldorf/Zürich 2002, 353 f. Zum Vergleich von "Phylai" und "tribus" vgl. ebenda, 500. 246 Fouquet, G.: Das Festmahl in den oberdeutschen Städten des Spätmittelalters. Zu Form, Funktion und Bedeutung öffentlichen Konsums. Archiv für Kulturgeschichte (74) 1992, 83-123. 247 Kurz Bringmann, K.: Römische Geschichte. München 1995. Immerhin ein Abriss über 1200 Jahre hinweg. 248 Diese Epoche ist keinesfalls auf die Vorstellung einer Verfallsepoche zu reduzieren. Sie ist eher eine Sattelzeit. Vgl. auch Uffelmann, U.: Zwischen Antike und
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B. Die vorchristlichen Wurzeln
turn des Mittelalters249, aber auch die Kontinuität reziprozitätsökonomischer Elemente (als ars donandi, aber auch als Treue- und Eid-fundierte Verpflichtungszusammenhänge250 ) sowie in Form verörtlichter Sozialbeziehungen, die später zu Kernen kommunalistischer Gebilde wurden, fundamentiert. Das Scharnier zwischen Spätantike und Mittelalter stellen die Franken dar?51 Es trennten sich über einen längeren Zeitraum das Abendland, Byzanz und der Islam als Kulturräume. In seiner Studie zur "Herrscherideologie in der Spätantike" konnte Kolb 252 zeigen, wie sich die Sakralisierung253 aus orientalischen und254 hellenistischen (ca. 336 bis 30 v. Chr.) Wurzeln 255 speiste256 , und sich sodann257 in enger Wechselwirkung zum (wiederum weitgehend hellenistisch mitgeprägten 258 ) Christentum259 fortentwickelte und wandelte 26o , denn u. a. Mittelalter: Die Spätantike. In Erdmann, E./Uffelmann, U. (Hrsg.): Das Altertum. Vom Alten Orient zur Spätantike. Idstein 2001, 309-343, hier 309. 249 Kolb, F.: Herrscherideologie in der Spätantike. Berlin 2001, 68 FN 158 (dort auch Literatur) mit Blick auf Parallelen spätantiker Herrscherideologie zu den Karolingern (vgl. auch 110), ferner 84. 250 Vgl. Fichtenau, H.: Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. 2. Aufl. München 1994, 60 ff. 251 Uffelmann, U.: Zwischen Antike und Mittelalter: Die Spätantike. In Erdmann, E./Uffelmann, U. (Hrsg.): Das Altertum. Vom Alten Orient zur Spätantike. Idstein 2001, 309-343, hier 336 ff. 252 Kolb, F.: Herrscherideologie in der Spätantike. Berlin 2001. 253 Kolb spricht sogar von einer kosmischen Ordnung, die permanent quasi-dramatisch inszeniert worden ist: Kolb, P.: Herrscherideologie in der Spätantike, Berlin 2001, 140. 254 Der Hellenismus knüpfte dabei an altorientalisch-altägyptische Traditionen an. Daher hatte der hellenistische Euergetismus eine gewisse Nähe zur gemeinorientalischen Form der "vertikalen Solidarität", wie sie bereits oben in der Einleitung in Anlehnung an Assmann im Rahmen der Bolkestein-Rezeption aufgegriffen worden ist, aufzuweisen. 255 Mehl, A.: Der Hellenismus - Synthese zwischen Orient und Okzident? In Erdmann, E./Uffelmann, U. (Hrsg.): Das Altertum. Vom Alten Orient zur Spätantike. Idstein 2001, 103-127, hier 107. 256 Kolb, F.: Herrscherideologie in der Spätantike. Berlin 2001, 87 f. 257 Unter Constantin wurden Kirchen gebaut, "deren Innenraum durch seine hierarchische Gliederung die Übertragung kaiserlicher Herrscherpräsentation auf christliche Liturgie und Bildprogramme ermöglichte.", so Kolb, F.: Herrscherideologie in der Spätantike. Berlin 2001, 82. Aber erst in Konstantinopel konnte sich das Kaisertum von stadtrömisch-republikanischen Traditionen befreien: Kolb, F.: Herrscherideologie in der Spätantike. Berlin 2001, 83. 258 Mehl, A.: Der Hellenismus - Synthese zwischen Orient und Okzident? In Erdmann, E./Uffelmann, U. (Hrsg.): Das Altertum. Vom Alten Orient zur Spätantike. Idstein 2001, 103-127, 198; kritisch Brennecke, H. Chr.: Entstehung und Formierung des Christentums unter den Bedingungen der römischen Kaiserzeit. In Erdmann, E./Uffelmann, U. (Hrsg.): Das Altertum. Vom Alten Orient zur Spätantike. Idstein 2001, 279-307, hier 292.
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die kirchliche Kaiserkrönung war ein byzantinisches Kaisererhebungszeremoniell?61 Der orientalische Einfluss war ein doppelter, ein direkter durch die Kontakte zum persischen Reich (etwa262 über die Einführung der Proskynese263 ), und ein indirekter über die hellenistischen, d. h. monarchischen264 Herrschaftsformen, die aber wiederum aus dem Kontakt zum Orient265 mit zu verstehen sind266 : "Das spätantike Kaisertum" war "die gesteigerte Sakralisierung der herrscherlichen Stellung, die Umwandlung des Herrscherbildes in eine unantastbare, heilige Ikone, welche prägend geworden ist für die Repräsentation des Kaisers im byzantinischen Reich, aber auch im mittelalterlichen Europa. ,,267
Kalb, F.: Herrscherideologie in der Spätantike. Berlin 2001, 67 f. Wobei Rückgriffe auf die Figur des Sonnengottes (Kalb, F.: Herrscherideologie in der Spätantike. Berlin 2001, u. a. 69) auch erstaunliche Parallelen, nicht genetische Bezüge zur alttestamentliche JHWH-Entwicklung aufscheinen lassen. Vgl. ferner Bergmann, M.: Die Strahlen der Herrscher. Theomorphes Herrscherbild und politische Symbolik im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit. Mainz 1998. 261 Kalb, F.: Herrscherideologie in der Spätantike. Beflin 2001, 1Ol. 262 Auch das Diadem ist persisch-hellenistischen Ursprungs: Kalb, F.: Herrscherideologie in der Spätantike. Berlin 2001, 77. Vgl. Literatur auch in Schu/z-Nieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000, Kapitel 2. Schließlich Ritter, H.-W.: Diadem und Königsherrschaft. München/Berlin 1965. 263 Kalb, F.: Herrscherideologie in der Spätantike. Berlin 2001, 21: In der Form der Proskynese vollzieht sich die adaratia. Zur Proskynese und zum Adorationszeremoniell vgl. auch 38 sowie 83. 264 Vgl. Gehrke, H.-J.: Geschichte des Hellenismus. München 1995. 265 Doch waren die diversen ideologischen Legitimationsversuche des hellenistischen Herrscherkultes im Orient nicht immer erfolgreich. Vgl. etwa Eddy, S. K.: The King is Dead. Studies in the Near Eastern Resistance to Hellenism 334-36 B.e. Lincoln/Nebraska 1961. 266 Mehl, A.: Der Hellenismus - Synthese zwischen Orient und Okzident? In Erdmann, E.lUffelmann, U. (Hrsg.): Das Altertum. Vom Alten Orient zur Spätantike. Idstein 2001, 103-127, dort 119 f. sowie 125. 267 Kalb, F.: Herrscherideologie in der Spätantike. Berlin 2001, 21. Der Kaiser wurde als Epiphanie göttlicher Kräfte verstanden; der Kaiser verkörperte damit das Numinöse. Dazu 36 sowie 66. Zu den Wurzeln vgl. auch 36, 38 f. sowie 76. 259
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7 Schulz-Nieswandt
c. Die nach-christliche Entwicklung: die synkretistischen Formen
Europa ging einen Sonderweg, da es einzigartig aus verschiedensten kulturellen Töpfen synthetisch schöpfen konnte. Dieser Synkretismus war ausgesprochen produktiv. Der Weg war aber nicht linear und schon gar nicht von Anbeginn klar und vorbestimmt. Aber dieser Weg war möglich, da die Voraussetzungen bestanden. Die einzelnen Jahrhunderte - also die Menschen in ihrer Daseinsauseinandersetzung - bahnten den Weg.
I. Die Grundlegung des europäischen Pfades Am Ende von Kapitel B.III. wurde die Spätantike - synkretistisch - als Sattelzeit des europäischen Pfades definiert. Das 5. bis 8. Jh. n. ehr. ist für Europa eine Achsenzeit. 1 Das Europa2 als Abendland - zunächst fränkisch zu bestimmen - kristallisierte sich in Abgrenzung zu den beiden anderen Kulturräumen (Byzanz3 und Islam) heraus. Die Kemstruktur des frühmittelalterlichen Formensynthetizismus als Formierungsphase der europäischen Dynamik ist von Mann4 treffend als Befund "multiple(r) Sozialgeflechte" formuliert worden. 5 Hierarchische und horizontale6 Strukturen griffen kom1 Scheiben reiter, G.: Die barbarische Gesellschaft. Mentalitätsgeschichte der europäischen Achsenzeit 5.-8. Jahrhundert. Dannstadt 1999. 2 Vgl. auch Banniard, M.: Europa: Von der Spätantike bis zum frühen Mittelalter. München 1993. 3 Dazu als Einführung Haldon, J.: Das Byzantinische Reich. Geschichte und Kultur eines Jahrtausends. Düsseldorf/Zürich 2002. 4 Mann, M.: Geschichte der Macht. Zweiter Band: Vom Römischen Reich bis zum Vorabend der Industrialisierung. Frankfurt am Main/New York 1994, 239. 5 Dabei spielte die orale Kommunikation eine große Rolle. Vgl. Vollrath, H.: Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften. Historische Zeitschrift (233) 1981, 571-594, wie überhaupt Gestik, Symbolik und Ritualistik eine konstitutive Bedeutung hatten (dazu auch Goetz, H.-W.: Modeme Mediävistik. Dannstadt 1999, 363). Vgl. auch Richter, M.: The Formation of the Medieval West. Studies in the Oral Culture of the Barbarians. Dublin 1994. 6 Hier hat die neuere Mediävistik das Amicitia-Phänomen herausgearbeitet. Vgl. Epp, V.: Amicitia. Zur Geschichte personaler, sozialer, politischer und geistlicher Beziehungen im frühen Mittelalter. Stuttgart 1999. Im Kontext der Einschätzung des Sakralkönigtums in ottonisch-frühsalischer Zeit vgl. Kömtgen, L.: Königsherrschaft und Gottes Gnade. Berlin 2001, 15. Epp (307): "Frühmittelalterliche ,Herrschaft' war, weil sie im wesentlichen als Fortsetzung der unter dem Terminus ami-
I. Die Grundlegung des europäischen Pfades
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plex ineinander7 ; Königtum und Kirche stellten ein zwei-poliges Spannungsverhältnis dar; der Drang zur Zentralherrschaft und die Dezentralisierung (Drang zum Polyzentrismus), die eine von genossenschaftsartigen Elementen mitgeprägte8 Siedlungsweise gemeindlicher Art9 begünstigte, wirkten zugleich. 10 Die Spätantike als eine Sattelzeit findet zunächst einen außerordentlich nachhaltigen Impuls durch das Christentum, das wiederum sich aus dem (innerlich sehr differenzierten) Judentum im Kontext einer langen graecoromanischen Kontextualität heraus kristallisierte. Teil B. der vorliegenden Abhandlung hat archetypisch die vorchristlichen Wurzeln dieser Syntheseleistung ausgewiesen, so auch Parsons: "Aus ,klassischen' hebräischen und griechischen Quellen stammende Elemente stellten, nachdem sie weitere grundlegende Entwicklungen und Kombinationen durchgemacht hatten, einige Hauptkomponenten der modemen Gesellschaften dar. Ihr Kern war das Christentum."ll Die Formulierung: "nachdem sie weitere grundlegende Entwicklungen und Kombinationen durchgemacht hatten", verweist auf eine wichtige Erkenntnis. Die spätere europäische Entwicklung erklärt sich nämlich nicht allein aus diesen kollektiv geerbten Voraussetzungen, sondern erst - als Resultat der strukturbildenden Beiträge der Menschen der jeweiligen späteren Jahrhunderte - durch die spezifischen institutionellen Aktivitätsformen, die sich im christlichen Europa entfalteten. Dazu gehören z. B. Handelswege, Rodungen, Raumerweiterungen und Dorfbildungen ebenso wie Kloster- und Pfarreibildungen 12, Bildungen weltlicher und kirchlicher citia figurierenden, von profanantiken und christlichen Vorstellungen geprägten Sozialbeziehungen anzusehen ist, ein wechselseitiger, dialogischer, auf Konsens ausgerichteter Prozeß und keine Einbahnstraße von Befehl und Gehorsam". 7 Fichtenau, H.: Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. 2. Auf!. München 1994. 8 Zu den genossenschaftlichen Wurzeln der Gemeindebildung vgl. die Literatur zur kontinentaleuropäischen Entwicklung bei Gerhold, W.: Armut und Armenfürsorge im mittelalterlichen Island. Heidelberg 2002, 161 ff. Zur Dorfentwicklung erst in der konstitutiven Zeit zwischen den späten 10. und dem beginnenden 13. Jahrhundert im Kontext einer neuen Agrarökonomik vgl. auch Moore, R. I.: Die erste europäische Revolution. Gesellschaft und Kultur im Hochmittelalter. München 2002, 74, 78, 107 sowie 294. 9 Aus der Fülle der Dorfforschung vgl. Davies, W.: Small Worlds. The Village Community in Early Medieval Britanny. London 1988. 10 Vgl. auch die Kontroverse zwischen Vollrath, H.: Herrschaft und Genossenschaft im Kontext frühmittelalterlicher Rechtsbeziehungen. Historisches Journal (102) 1982, 33-71 sowie Goetz, H.-W.: Herrschaft und Recht in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft. Historisches Journal (104) 1984, 392-410. Dazu auch Morimoto, Y.: Etat et perspectives des reserches sur les polyptyques carolingiens. Annales de l'Est (40) 1988,99-150, hier 104 und 136. 11 Parsons, T.: Das System moderner Gesellschaften. München 1972,43. 12 Vgl. dazu auch Schmidt, H.-J.: Kirche, Staat, Nation. Raumgliederung der Kirche im mittelalterlichen Europa. Weimar 1999. 7*
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C. Die nach-christliche Entwicklung
Besitzverhältnisse, Elitenbildung, Verhältnisfonnen von Hof und Adel usw. Kapitel C.I1., das sich mit der paulinischen Gemeinde beschäftigen wird, wird herausarbeiten, wie sich hierarchische 13 (herrschaftliche) und genossenschaftsartige (gemeindeförrnige) Organisationsfonnen der Gesellung, aber auch Fonnen sozialer Politik (vertikale und horizontale Solidarität) herausbilden und zum Ausgangspunkt der weiteren europäischen Geschichte werden. Kapitel C.I11. skizziert diesen komplizierten Synkretismus mit Blick auf die Gastfreundschaft, die als Archetypus einer europäischen Institutionengeschichte erkannt wird. Es fundiert sich somit eine Strukturgeschichte der europäischen Annenpolitik, die letztendlich über ihren Gestaltwandel hinweg zur Fonnierung der frühneuzeitlichen Staatlichkeit führt. Bei allen Fonnwandlungen der Annenpolitik wird doch die Abgrenzung zur klassisch-griechischen Politik der Wohltätigkeit deutlich: Hatte sich diese horizontal (oder hierarchisiert im Entwicklungsrahmen des Euergetismus) auf den Mitbürger bezogen, so verweist die christianisierte Annenhilfe des europäischen Mittelalters stärker auf die alt-orientalischen, vor allem auch alt-hebräischen Wurzeln der Barmherzigkeit als Orientierung auf die hilfebedürftige Kreatur. Genossenschaftliche Elemente der Gilden und der Kommune orientierten sich allerdings weiterhin an dem Archetypus horizontaler Hilfe als Prinzip der Gegenseitigkeit und wiesen so einen insider-orientierten Clubcharakter auf. Dieser Clubcharakter war der paulinischen Gemeinde ganz und gar nicht wesensfremd. Die christliche Barmherzigkeit universalisierte sich jedoch, auch dies eine Figur, die sich im Rahmen des Deuteronomiums lesen lässt. Sieht man von mancher klösterlicher Weise der sozialen Hilfe des Mönchtums - ein eigenes Thema - ab, so neigte die kirchliche Annenhilfe zur Herrschaftlichkeit ihres Diskurses und ihrer institutionellen Praxis. 14 Dies entsprach auch der M~chttechnik des Königtums, das sich diesbezüglich strukturell parallelisieren lässt. Insofern - damit auch eine alte mediävistische Debatte beendend - war das Mittelalter immer personal und institutionell zugleich. Es kannte Regeln und Regulierungen, war aber auch als symbolische Praxis eingebettet in personale Interaktionen. 15
13 Auf die Hierarchiebildung durch das Christentum hatte bereits klassisch F. Kern (Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter. 2. Aufl. Darmstadt 1954) in seiner Theorie des Gottesgnadentum hingewiesen. Damit ist aber die Spätantike wieder als Prägungshorizont angesprochen. Denn gemeint ist in diesem Kontext der frühmittelalterlichen Rezeption des Paulus der Römerbrief. Auf Röm. 13, 1-7 ist auch Affeldt, W.: Die weltliche Gewalt in der Paulus-Exegese. Göttingen 1969,64-106, eingegangen. 14 Zu diesem Themenkreis gehören auch die Fragen nach den Modalitäten der Glaubensaufnahme als Korrelate der Herrschaftspraxis und der Machtgefüge: Oralität versus Visualität, Oralität und Akustik, Sehen und Hören. Vgl. Goetz, H.-W.: Modeme Mediävistik. Darmstadt 1999, 297. Vgl. dazu auch schon die Hinweise im Abschnitt A. IV. 3. der obigen Einleitung.
I. Die Grundlegung des europäischen Pfades
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In diesem modemen soziologisch durchleuchteten Sinne ist die ältere Fachkontroverse in sozialkategorialer Hinsicht kaum noch zu verstehen. Am geschichtlich vorläufigen Ende der europäischen Dynamik 16 steht der Territorialstaat 17 , der ein Mischungsverhältnis von Marktwirtschaft, Zivilgesellschaft und sozialem Rechtsstaat eingehen mag. Seine körperschaftlichen Elemente reichen dabei weit in die europäische Institutionengeschichte zurück 18 . Und gebärdenanthropologisch ist das heutige Europa nicht nur in mancher Hinsicht erstaunlich mittelalterlich; die symbolische Praxis und die mentalen Orientierungen 19 verweisen den modemen Europäer auf eine Kultur, die als synkretistische Entwicklungsvariante mit altorientalischen Wurzeln verstanden werden kann. Das gilt auch für die Typik sozialpolitischer Institutionen (wie Versicherung und Fürsorge 20 ) oder sozia15 Vgl. Althoff, G.: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1977. Vgl. ferner Leyser, K.: Communikation and Power in Medieval Europe. Bd. 1: The Carolingian and Ottonian centuries Bd. 2: The Gregorian Revolution and beyond. London u. a. 1994. 16 Als konstruktives Konzept "pour un long moyen age" vgl. Le Goff, J.: Pour un long Moyen A.ge. Europe (61) 1983, 19-23; dazu auch Oexle, 0.: Das Andere, die Unterschiede, das Ganze. Jacques Le Goffs Bild des europäischen Mittelalters. Francia 17 (1) 1990, 141-158. 17 Rechtsgeschichtlich interessiert hier der Übergang von einer christologischzentrierten zu einer um das Recht zentrierten Auffassung zum Königtum (vgl. Kömtgen, L.: Königsherrschaft und Gottes Gnade. Berlin 2001, 20, auch FN 50 mit Literatur). Vgl. auch die Ausführungen des Verfassers zu Lehre des sozialen Königtums bei Lorenz von Stein im 19. Jahrhundert: Schulz-Nieswandt, F.: Lorenz von Steins Bedeutung für Gegenwart und Zukunft - Sozial- und gesundheitspolitische Ansätze. In Mutius, A. v. (Hrsg.): Lorenz von Stein 1890-1990. Akademischer Festakt zum 100. Todestag. Heidelberg 1992, 49-58. Noch der frühneuzeitliche Staat, der sich als Absolutismus modernisierte, also rationalisierte und trans personalisierte und den Machtapparat bürokratisierte und institutionalisierte, bediente sich einer langen Tradition der Herrschaftssymbolik. Vgl. etwa lorzick, R.: Herrschaftssymbolik und Staat. Die Vermittlung königlicher Herrschaft in Spanien der frühen Neuzeit (1556-1598). München/Wien 1998. Man denke etwa an das Symbol des Platzes zur Rechten des Königs. Dazu auch Lirker, M.: Die Symbolbedeutung von Rechts und Links und ihr Niederschlag in der abendländisch-christlichen Kunst. Symbolon 1980,95-127. 18 Zu diesem thematischen Perspektivenkreis insgesamt vgl. auch Struve, T.: Die mittelalterlichen Grundlagen des modemen Europa. Saeculum (41) 1990, 100-114. 19 Ohne hier auch die ganze Zahl neuerer monographischer Einführungen in das Gebiet der historischen Anthropologie aufzugreifen, sei mit Blick auf die auch mediävistische Kontroverse um die epochalen Ursprünge des modemen Individuums verwiesen auf Goetz, H.-W.: Modeme Mediävistik. Darmstadt 1999, 238 sowie der Abschnitt zur Psychohistorie (von H. Röckelein): 288 ff., dort insb. 291 f. Vgl. ferner Konüm, H.-H.: Menschen und Mentalitäten. Einführung in Vorstellungswelten des Mittelalters. Berlin 1996. 20 Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002.
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ler Diskurse und Praktiken (etwa in Medizin und Pflege21 ). Diese moderne Gesellschaft zu charakterisieren, wird noch kurz die Aufgabe einer knappen Skizzierung in Kapitel C.IV. sein.
11. Die frühchristliche Gemeinde: ein synthetischer Archetypus mit endogener Neigung zur Transformation Das Thema der soziologischen Einschätzung der frühchristlichen - paulinischen22 - Gemeinde erfreut sich seit einigen Jahren einer neuen Konjunktur?3 Von besonderem Interesse ist dabei die Tatsache, dass die genossenschaftsorientierte Interpretation grundlegender Organisationseigenschaften einen gewissen Stellenwert erhält24 , nachdem schon früher 5 - vor allem bei Heinrici 26 - dieser Aspekt hervorgehoben worden ist, aber kaum Interesse 21 Schulz-Nieswandt, F.: Strukturelemente einer Ethnologie der medizinisch-pflegerischen Behandlungs- und Versorgungspraxis. Weiden/Regensburg 2003. 22 Zu Paulus vgl. Berger, K.: Paulus. München 2002. 23 Vgl. die Darlegungen zum Thema bei Verstegen, U.: Gemeinschaftserlebnis in Ritual und Raum: Zum Raumdisposition in frühchristlichen Basiliken des vierten und fünften Jahrhunderts. In Egelhaaf-Gaiser, U./Schäfer, A. (Hrsg.): Religiöse Vereine in der römischen Antike. Tübingen 2002, 261-297, hier 261. Gemessen an dieser Literatur ist das Kapitel 7 von B. Giesing (Religion und Gemeinschaftsbildung. Max Webers kulturvergleichende Theorie. Opladen 2002) nicht gut fundiert. vgl. auch etwa die Perspektiven bei Stegemann, W./Malina, B. J./Theißen, G. (Hrsg.): Jesus in neuen Kontexten. Stuttgart 2002. 24 Grundlegend und Bezugspunkt späterer Studien ist u. a. Schmeller, Th.: Hierarchie und Egalität. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung paulinischer Gemeinden und griechisch-römischer Vereine. Stuttgart 1995. Aspektenreich und derartige Fragestellungen fortführend vgl. Egelhaaf-Gaiser, U./Schäfer, A. (Hrsg.): Religiöse Vereine in der römischen Antike. Tübingen 2002. Dort wird in den Beiträgen immer auch die Hierarchisierung in interner Perspektive und durch Einbeziehung in den gesamtgesellschaftlichen aristokratischen Euergetismus herausgearbeitet. 25 Einen forschungsgeschichtlichen Überblick bieten Claußen, c.: Versammlung, Gemeinde, Synagoge. Das hellenistisch-jüdische Umfeld der frühchristlichen Gemeinden. Göttingen 2002 sowie Gehring, R. W.: Hausgemeinde und Mission. Die Bedeutung antiker Häuser und Hausgemeinschaften - von Jesus bis Paulus. Gießen 2000. Moderne, aber grundlegend einzuschätzende - soziologisch wie psychologisch orientierte oder inspirierte - Beiträge von Berger, Theißen, Meeks, Gager u. v. a. werden nicht ausführlich angeführt; sie sind im Schrifttum ausführlich einbezogen. Mehr theologisch orientierte Beiträge sind ebenfalls nicht heranzuziehen. Zu denken ist an Conzelmann, Hainz, Schweizer, Roloff, Merklein u. a. Auch Max Webers Beitrag ist ausführlich rezipiert worden. Ebenso nicht angeführt werden ältere, klassische Beiträge wie von Dobschütz, Lietzmann, EIert, Käsemann u. a. Quellen zum Teil bei Schulz-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000, 29 f. FN 7. Von Theißen sei aber angeführt: Theißen, G.: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums. Gütersloh 2000; von Berger vgl. Berger, K.: Historische Psychologie des Neuen Testaments. 5. Aufl. Stuttgart 1994.
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oder gar Zustimmung fand, da die vorwiegend theologische Rezeption darin - also in der impliziten Hellenisierung der Gemeindeordnungen als aus dem Griechischen entlehnte kultgenossenschaftliche Vereinsformen - einen Verlust der historischen Einmaligkeit der theologischen Eigenheiten der paulinisehen und damit der christlichen Gemeindeordnung überhaupt sah. Diese Fehlrezeption ist nunmehr zu korrigieren, wobei der Verfasser in diesem Kapitel endlich dazu kommt, einige verstreute Vorbemerkungen nunmehr systematischer und ausführlicher zu behandeln?7 Differentielle Sinnwelten in dem eben aus theologischer Perspektive angeführten Sinne sind ja durchaus zu konstatieren28 ; es geht ja nicht um Reduktionismus. Aber es interessieren hier allein die strukturalen Form- und Gestaltaspekte. Die (paulinische) Gemeinde mag einerseits eine Institution sui generis sein, so beruht sie andererseits doch und dennoch auf Elementen lebens weltlich-historisch vorgängiger Erfahrung. Börschel basiert ihre Analyse nun auf der paulinisch konstituierten und auf der früh-nachpaulinischen Gemeinde von Thessalonich, vor allem mit (epigraphischen wie pseudoepigraphischen, also deuteropaulinischen) Materialbezug auf den 1. und 2. Thessalonicherbrief und behandelt dabei sozial-konstruktivistisch und 26 Vgl. u. a. Heinrici, G.: Zum genossenschaftlichen Charakter der paulinischen Christengemeinden. Theologische Studien und Kritiken (3) 1881, 505-524. Weitere Studien von Heinrici zitiert bei Schmeller, Tb.: Hierarchie und Egalität. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung paulinischer Gemeinden und griechisch-römischer Vereine. Stuttgart 1995. 27 Vor allem anknüpfend an seine opferanthropologischen Erörterungen (SchulzNieswandt, F.: Die Gabe - der gemeinsame Ursprung der Gesellung und des Teilens im religiösen Opferkult und in der Mahlgemeinschaft. Zeitschrift für Sozialrefonn 47 (1) 2001, 75-92) hat der Verfasser die Themen Ekklesia und Koinonia in Zusammenhang mit Eucharistie und Agape gebracht: Schulz-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000, 30-33 sowie in Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 92 f. Der Verfasser streifte auch implizite farniliensoziologische Aspekte (Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 15 FN 9), indem darauf hingewiesen wird, dass das frühe Christentum die Farnilienmetaphorik dazu nutzte, die theologische Gemeindefonn an die Gesellungsfonnen griechischer und römischer Tradition genossenschaftlicher Art anzudocken. Dies wird bestätigt bei Börsehel, R.: Die Konstruktion einer christlichen Identität. Paulus und die Gemeinde von Thessalonich in ihrer hellenistisch-römischen Umwelt. Berlin/Wien 2001, 241 ff. mit Literatur und besonderer Berücksichtigung der alttestamentlich-jüdischen Wurzeln. Eine solche Verwandtschaftsrhetorik bzw. Farnilienmetaphorik ist weltweit durch ethnologisches Material vergleichend belegt. Auch in der Mediävistik gibt es zahlreiche Befunde zu ähnlichen Selbstverständnissen sozialer Gruppengebilde. 28 Vgl. Börsehel, R.: Die Konstruktion einer christlichen Identität. Paulus und die Gemeinde von Thessalonich in ihrer hellenistisch-römischen Umwelt. Berlin/Wien 2001, 162 ff.
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systemtheoretisch die Gemeindebildung als christliche Identitätsbildung in sinnhafter Abgrenzung zur kulturellen Umwelt. 29 Für das formal-strukturale Verständnis der frühchristlichen Gemeinden wird in Auseinandersetzung mit Schmeller30 angefragt, auf welche Phasen die Theoreme des "Ethos des Liebespatriarchalismus" (eine Figur bei Troeltsch3I ) und des "Ethos der ,solidarischen Gruppenidentität' " zutreffen könnten. Sind sie jeweils nachpaulinisch und paulinisch?32 Dabei ist zu beachten, dass die korinthischen Quellen begrenzt vergleichbar seien mit den thessalonischen Quellen, da mit dem Wachstum einer Gemeinde die strukturelle Differenzierung zunimmt und ebenso mit der Dauer ihres Bestehens der Veralltäglichungsdruck. Das scheint ein allgemeiner Prozess des Übergangs von früher Strukturarmut zu späterer Strukturkomplexität und -differenzierung zu sein. 33 Für die paulinische Gemeinde nimmt Börsehel nur eine überschaubare Jaceto-Jace-Gruppe an und: "Diese Gemeinde können wir insofern mit keiner der anderen Gemeinden, an welche uns das NT Briefe überliefert, vergleichen, weil 1. Pauli (Gründungs-)Aufenthalt in Thessalonich von erheblich kürzerer Dauer war als beispielsweise in Ephesus oder Korinth und 2. nur wenige Monate zwischen Gründungsaufenthalt und 1 Thess liegen im Unterschied zu mehreren Jahren im Falle der Korintherbriefe, des Galateroder des Philisterbriefes. ,,34 Die frühe - eigentlich paulinische - Gemeinde war also unterkomplex und nicht differenziert, wies demnach noch keine Funktionsträger auf, die Korrelat einer beginnenden Hierarchisierung der Gemeinde sein mögen. Paulinische Anlagen zur Differenzierung sind vielmehr in 1 Kor 14 zu beobachten. In der späteren frühmittelalterlichen Paulus-Rezeption wird vor allem auch Röm 13, 1-7 eine Rolle spielen. Die paulinische Gemeinde von Thessalonich war dagegen zunächst eine charismatische Gemeinde mit einer betonten Gleichheit der Mitglieder. In Rekurs auf die ethnologische Statuspassagentheorie von V. Turner35 wird argumen29 Christiansen, E. J.: The convenant in Judaism and Paul: a study of ritual boundarles as identity markers. Leiden 1995. 30 Schmeller, Th.: Hierarchie und Egalität. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung paulinischer Gemeinden und griechisch-römischer Vereine. Stuttgart 1995. 31 Troeltsch, E.: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen 1. Tübingen 1994, u.a. 9 i. V.m. 93. 32 Dazu Börsehel, R.: Die Konstruktion einer christlichen Identität. Paulus und die Gemeinde von Thessalonich in ihrer hellenistisch-römischen Umwelt. Berlinl Wien 2001, 171. 33 Vgl. dazu auch in Hammann, G.: Die Geschichte der christlichen Diakonie. Göttingen 2003, Erster Teil. 34 Börsehel, R.: Die Konstruktion einer christlichen Identität. Paulus und die Gemeinde von Thessalonich in ihrer hellenistisch-römischen Umwelt. Berlin/Wien 2001, 182. 35 Diese ethnologische Forschungsrichtung soll hier nicht näher skizziert werden. Der Verfasser hat an anderer Stelle ausgiebig auf sie zurückgegriffen. Vgl. Schu/z-
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tiert, diese Phase der paulinischen Gemeinde sei eine Übergangs-Erfahrungswelt gewesen, eine liminale Situation?6 Nach dem Fortgang von Paulus war diese erst sehr junge, instabile Gemeinschaft auf die Mnemosyne angewiesen, also auf die Ausbildung eines sozialen Systems, das als kommunikative Praxis kulturellen Gedächtnisses funktioniert. Eine weitere Ebene der Identitätsbildung war die überregionale Gemeinde-Vemetzung. Das Problem ist aus der Kollekte-Kontroverse 37 hinreichend bekannt. Hier interessiert die normative Konstruktbasis dieses räumlichen Kommunikationszusammenhangs: die Bruderliebe. Diese reicht räumlich weit über den Oikos und über den Nachbarschaftsverband hinaus. Natürlich kristallisiert sich hiermit zugleich die Frage nach dem Ursprung einer universalistischen Liebesethik heraus. Gleichwohl sind die Kohäsionsprobleme profan. Die Arbeitsgebotsproblematik bei Paulus erinnert an die Tatsache, dass das System des Gebens seine Grenzen findet an den Akteuren rein negativer Reziprozität. Unklar ist aber auch, inwieweit in diesem sozialen System die Caritas-Dimension untergeordnet bleibt. 38 Der Begriff der Armut, wie er, an der Landbesitzlosigkeit festgemacht, deuteronomischen Ursprungs ist (vgl. oben in Kapitel B.lI.), ist zwar eine semantische Dimension des ganzen Ordnungsgeschehens, aber neben anderen religiösen Ordnungsfragen eben nur eine unter mehreren Bedeutungsdimensionen. Schließlich bleibt im Zusammenhang mit der Kollektenproblematik auch die Frage nach der religiös-ideologischen Suprematie der Jerusalemer Urgemeinde in der Fachdiskussion kontrovers. Die Betrachtung der Studie von Börschel abschließend, soll noch eine erstaunliche Parallele erwähnt werden, die bei Börschel mit Blick auf den längerfristig gewachsenen Nährboden des Christentums kurz erwähnt wird?9 Im 7. bzw. 6. Jahrhundert v. Chr. kristallisiert sich eine gewisse Nieswandt, F.: Strukturelemente einer Ethnologie der medizinisch-pflegerischen Behandlungs- und Versorgungspraxis. Weiden/Regensburg 2003. Siehe auch Grimes, R. L.: Deeply into the bone. Re-inventing rites of passage. Berkeley u. a. 2000. Vgl. aber auch Strecker, ehr.: Die lirninale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinisehen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive. Göttingen 1999. 36 Bärschel, R.: Die Konstruktion einer christlichen Identität. Paulus und die Gemeinde von Thessalonich in ihrer hellenistisch-römischen Umwelt. BerlinIWien 2001, 188 ff., 327 f. 37 Vgl. auch Georgi, D.: Der Armen zu gedenken. Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem. 2., durchgesehene u. erw. Aufl. Neukirchen/Vluyn 1994. 38 Vgl. dazu auch Reck, R.: Kommunikation und Gemeindeaufbau. Eine Studie zu Entstehung, Leben und Wachstum paulinischer Gemeinden in den Kommunikationsstrukturen der Antike. Stuttgart 1991, 257 ff. 39 Bärschel, R.: Die Konstruktion einer christlichen Identität. Paulus und die Gemeinde von Thessalonich in ihrer hellenistisch-römischen Umwelt. Berlin/Wien 2001, 230-231. Dazu auch Gladigow, B.: Naturae deus humanae mortalis. Zur so-
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Individualisierung heraus, die auch eine Analogie in individueller Frömmigkeit findet. Die Parallele liegt natürlich (vgl. Kapitel B.U.) im Staate Juda nach dem assyrisch bedingten Niedergang des Nordreichs und in den dadurch ausgelösten sozialen Mobilitätsprozessen, die sich als Individualisierung unter Komplexitätsreduzierung der Verwandtschaftssysteme spiegelte und einen archäologischen Niederschlag im Wandel der Begräbnispraxis fand. In griechisch-römischer Zeit des hier nun räumlich zu behandelnden 7. und 6. Jahrhunderts fand ebenso ein sozialer Umbruch statt: Zusammenbruch intakter Landwirtschaft, Zunahme mobilen Handels und des Handwerks, Söldnertum und Wanderungs bewegungen der sozial entwurzelten Landbewohner, Landarbeiter und der Handwerkern in den Städten. Die Folge war ein Zusammenbruch des Ahnenkultes als Idee des Weiterlebens der Toten im Familienverband. Die Individualisierung wurde von den Mysterienkulten40 aufgefangen. Auch die Entwicklung der collegia funeraticia, zunächst Sterbekassen, entwickelten sich immer mehr zu multi-funktionellen Institutionen, die Aufgaben sakraler Art, aber auch sozial unterstützender und geselliger Art übernahmen. 41 Wie im judäischen Fall war auch hier die Genossenschaftsbildung - oder: Gemeindebildung - eine institutionelle (werden die religiös-ideologischen Dimensionen einmal ausgeklammert) Kehrseite der Individualitätsentdeckung im kognitiven Bereich der menschlichen Existenz. 42 Der Anknüpfungspunkt zur opferanthropologischen Thematik, also die Idee, die genossenschaftliche Gemeindeform zentral an die Agape zu binden (wobei das Thema der Analogie zu den Mysterienkulten hier nicht behandelt werden soll), bevor sie sich anstaltskirchlich in strikter Arbeitsteilung zwischen Publikum und Priesterstand zur Eucharistiefeier im heiligen Raum der Kirche (im Gottesdienst) einerseits43 und zur externen Caritas bzw. Diakonie im profanen Alltagsleben andererseits verflüchtete, bietet zialen Konstruktion des Todes in römischer Zeit. In Stephenson, G. (Hrsg.): Leben und Tod in den Religionen. Symbol und Wirklichkeit. Darmstadt 1997, 1I9-133. 40 Vgl. Zeller, D.: Die Mysterienkulte und die paulinische Soteriologie (Röm 6, I-lI). Eine Fallstudie zum Synkretismus im Neuen Testament. In Siller, H. P. (Hrsg.): Suchbewegungen. Synkretismus - kulturelle Identität und kirchliches Bekenntnis. Darmstadt 1991, 42-61. 41 Dazu auch in Schulz-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000, 51. 42 Vgl. auch Theißen, G.: Die urchristliche Taufe und die soziale Konstruktion des neuen Menschen. In Assmann, J./Stroumsa, G. (Hrsg.): Transformations of the Inner Self in Ancient Religion. Leiden 1999, 87-1I4. 43 Zur Korrespondenz der Basilika und des sozialen Gemeinschaftserlebnisses vgl. auch Verstegen, U.: Gemeinschaftserlebnis in Ritual und Raum: Zum Raumdisposition in frühchristlichen Basiliken des vierten und fünften Jahrhunderts. In Egelhaaf-Gaiser, U./Schäfer, A. (Hrsg.): Religiöse Vereine in der römischen Antike. Tübingen 2002, 261-297, hier 286; zum Argument der Hierarchisierung dort 280 f.
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vor allem die Studie von Klinghardt44 , aber auch die von Bolyki45 , während Joubert46 die Kollekte im soziologischen Kontext antiker Reziprozitätsökonomik und vor allem römischer Patronage-Klientilismus-Logik entfaltet. Eine besondere Bedeutung kommen auch der Hausfrömmigkeit - als Keimzelle der gemeindeförmigen Austauschrelationen - ZU47 , womit der Streit um das Nebeneinander von Haus- und Ortsgemeinde umschifft ist. Allerdings darf angemerkt werden, das ein für das gestellte Thema relevanter Aspekt der Hausgemeinde soziologisch darin besteht, dass über die Eigentumsunterschiede soziale Statusdifferenzierungen merklich werden, die einer euergetistischen Hierarchiebildung sicherlich förderlich gewesen sein mögen. Vielleicht spielte auch dies eine Rolle bei der Ämterherausbildung im Christentum. Wenn somit kultgenossenschaftliche Wurzeln der Organisationseigentümlichkeiten frühchristlicher Gemeinden48 im hellenistischen Kontext - für die Geschichte des Christentums (und somit Europas) spielen ebenso (vgl. insbesondere Kapitel C.lV.) sakralkönigliche Traditionen eine konstitutive Rolle49 - betont werden, so dürfen aber auch jüdische Verwurzelungen im Synagogenwesen nicht vernachlässigt werden (dazu gleich noch in Kapitel C.U!.). Dazu liegt die Studie von Claußen50 vor. Etabliert hat sich das Chris44 Klinghardt, M.: Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern. Tübingen/Basel 1996. Vgl. auch Klauek, H.-J.: Herrenmahl und hellenistischer Kult. Münster 1982. Vgl. ferner ders.: Die religiöse Umwelt des Urchristentums. Bd.l. Stuttgart u. a. 1995. 45 Bolyki, J.: Jesu Tischgemeinschaften. Tübingen 1998. 46 loubert, St.: Paul as Benefactor. Reciprocity, Strategy and Theological Reflection in Paul's Collection. Tübingen 2000. 47 Vgl. auch Wiek, P.: Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwicklung im Rahmen der frühjüdischen Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit. Stuttgart u. a. 2002 sowie Gehring, R. W.: Hausgemeinde und Mission. Die Bedeutung antiker Häuser und Hausgemeinschaften - von Jesus bis Paulus. Gießen 2000. Im deutschsprachigen Raum kommen dabei vor allem die klassisch gewordenen Studien von Klauck eine zentrale Rolle zu: vgl. Klauek, H.-J.: Hausgemeinde und Hauskirehe im frühen Christentum. Stuttgart 1981. 48 Analoges gilt auch für die Qumram-Gemeinde(ordnung). Vgl. dazu SehulzNieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeforrnen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000, dort Anhang I: Die Qumram-Gemeinde der Essener als genossenschaftsartige Einung?, 113-115. 49 Kügler, J.: Pharao und Christus? Religionsgeschichtliche Untersuchung zur Frage einer Verbindung zwischen altägyptischer Königstheologie und neutestamentlicher Christologie im Lukasevangelium. Bodenheim 1997 sowie ders.: Der andere König. Religionsgeschichtliche Perspektiven auf die Christologie des Johannesevangelium. Stuttgart 1999. Vgl. auch Klauek, H.-J.: Die religiöse Umwelt des Urchristentums. Bd. 2. Stuttgart u. a. 1996. 50 Claußen, C.: Versammlung, Gemeinde, Synagoge. Das hellenistisch-jüdische Umfeld der frühchristlichen Gemeinden. Göttingen 2002.
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tentum - dann als Staatsreligion - aber erst mit der kaiserlichen Orientierung der römischen Antike. Damit wurde Europa christlich und zugleich hierarchisch. Aber eben nicht nur hierarchisch. Andere kulturelle Erbschaften - genossenschaftsartiger Tradition - wirkten fort.
III. Gastfreundschaft und Xenodochium: Eine gestaltgebende Entwicklungsachse im orientalisch-europäischen Synkretismus In Kapitel B.II!., aber auch schon mit Blick auf die Programmatik eines Fremdensozialrechts im Deuteronomium in Kapitel B.II. ist das Phänomen der Gastfreundschaft bereits als eine sozialpolitische Urkategorie angesprochen worden. Sie ist geradezu von archetypischer Natur. Sie spielt hospitalgeschichtlich51 für die Entwicklung der sozialpolitischen Institutionen in Europa52 eine maßgebliche Rolle, weil aus der Gastfreundschaft das Xenodochium als frühe Vorform des Hospitals resultierte 53 . Und das Xenodochium gehört nun wiederum zu den Grundgestalten spätantik-frühmittelalterlicher Armenhilfe54 . Das Xenodochium kam in 51 Vgl. aus der Fülle der Literatur nur Windemuth, M.-L.: Das Hospital als Träger der AmIenfürsorge im Mittelalter. Stuttgart 1995. 52 Grundlegend ist hier Boshof, E.: AmIenfürsorge im Frühmittelalter: Xenodochium, matricula, hospitale pauperum. In Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (71) 1984, 153-174. 53 Vgl. auch schon in Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 29 f. FN 16. 54 Mit Bezug auf die Entwicklung der AmIenfürsorge in Gallien des 5. bis 8. Jahrhunderts arbeitet Sternberg drei Gebilde heraus: "Bei der AmIenfürsorge in Domus, Matrikel und Xenodochium handelt es sich um Einrichtungen der Spätantike, die erst im 8. Jahrhundert durch Hospize unter Führung iro-schottischer Mönche und im 9. Jahrhundert durch Übernahme italienischer Vorbilder abgelöst wurden. Am Beginn steht die AmIenversorgung durch den Bischof und seine Beauftragten, vor allem den Archidiakon. In ihm werden Mittel zur AmIenfürsorge zur Verfügung gestellt, und er verwendet kirchliche Einkünfte und Ressourcen zu diesem Zweck. Ort der Caritas ist das Haus des Bischofs bzw. die Domus Ecclesiae, die zu den Bauten des Bischofskomplexes gehört. Die Kirche mit ihren Annexen diente keineswegs allein liturgischen Aufgaben, sondern bildete auch ein soziales Zentrum der Stadt. (... ) Eine gallische Sonderform der Fürsorge lernen wir in der Institution der Matrikel kennen. Sie ist als Kommunität kirchlich gestützter AmIen bis in das 7. Jahrhundert hinein feststellbar (... ). Zur bischöflichen Diakonie gehören zunehmend auch selbständige Einrichtungen, die als Stiftungen - ,piae causae' - unter eigenen Bedingungen stehen, insofern sie die alleinige ,potestas' des Bischofs über das Kirchengut einschränken. (... ) Neben diesen finden sich die klösterlichen Hospitäler und Hilfseinrichtungen. Nach 816 tritt das stiftische Hospital hinzu. Einen gewissen Kontinuitätsbruch beobachten wir im 8. Jahrhundert, so daß eine Betrachtung der AmIenfürsorgeeinrichtungen Galliens des 5. bis 7. Jahrhunderts aus spätantiker Per-
III. Gastfreundschaft und Xenodochium
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das westliche - christliche - Europa letztendlich aus dem orientalischen Altertum, byzantinisch55 vermittelt. 56 Und so wurde Gastfreundschaft - eine spektive nicht abwegig ist." (Stemberg, Tb.: Orientalium More Secutum. Räume und Institutionen der Caritas des 5. und 7. Jahrhunderts in Gallien. Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsband 16. Münster 1991, 18-19). 55 Für die byzantinische Gesellschaft (vgl. auch einführend Haldon, J.: Das Byzantinische Reich. Düsseldorf/Zürich 2002), einschließlich der Entwicklung der Kirche, der Mönche und Klöster hat eine Studie von D. J. Constantelos über "Byzantine Philanthropy and Social Welfare" (2. Aufl. New Rochelle/New York 1991) die philanthropischen Bemühungen und Praxisformen (u. a. die Hospitäler) nachgezeichnet (203): "Tbe Byzantine Church was conscious of her social responsibilities toward the community as weIl as toward the individual in want. The social consciousness of the Church pursued a policy for both aspiritual and an earthly transformation of man." Vgl. auch Patlagean, E.: Tbe Poor. In Cavallo, G. (Hrsg.): The Byzantines. Chicago/London 1997, 15-42. In diesem Sinne hat Th. Stemberg (Orientalium More Secutum. Räume und Institutionen der Caritas des 5. und 7. Jahrhunderts in Gallien. Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsband 16. Münster 1991) die Entwicklung der Armenfürsorge in Gallien des 6. und 7. Jahrhunderts aus dem Kontext der altchristlich-spätantiken Situation heraus gerade vor dem Hintergrund der Blüte des byzantinischen Armen- und (stationären) Krankenversorgungswesens rekonstruiert. Dabei hebt er das merowingische Frühmittelalter durchaus als eigenständige Phase (und nicht nur als Präludium für das Karolingerreich) hervor. Das Material, das Sternberg in dieser indirekten Bezüglichkeit heranzieht, veranschaulicht erneut die hohe Entwicklung byzantinischer Armenpflege und sozialer Fürsorge. Nicht eingegangen werden soll auf ältere Untersuchungen (etwa wie die von Philipsborn, der sich wiederum u. a. an Schreiber zum Hospitalwesen orientiert). 56 Die Wurzeln sind orientalischer und byzantinischer Art. In das Abendland kam das Xenodochium gegen Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. aus dem orientalischen Raum. Zurückgreifen kann man auf die Studien von Hiltbrunner, 0.: Gastfreundschaft und Gasthaus in der Antike. In Peyer, H. C. (Hrsg.): Gastfreundschaft, Taverne und Gasthaus im Mittelalter. München/Wien 1983, 1-20 und von Szab6, Th.: Xenodochia, Hospitäler und Herbergen - kirchliche und kommerzielle Gastung im mittelalterlichen Italien (7. bis 14. Jahrhundert). In Peyer, H. C. (Hrsg.): Gastfreundschaft, Taverne und Gasthaus im Mittelalter. München/Wien 1983, 61-92. Eine Fundgrube ist auch die veröffentlichte Magisterarbeit von R. Volk (Gesundheitswesen und Wohltätigkeit im Spiegel der Byzantinischen Klostertypika. München 1983). Nach Hiltbrunner hat das Xenodochium in der spätantiken Welt seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. deshalb so großen Erfolg gehabt, weil die antike Welt vorher kein Krankenhaus gekannt hatte. Die Multifunktionalität der Hilfe für Armen, Kranke, Alte, Waisen, Kinder und Pilger war neu und füllte eine Lücke. An der baulichen Struktur erkennt man aber die Ursprünge in der Pilgerherberge. Auch Szab6 hebt die alten Wurzeln kirchlicher Gastung hervor. Auf die Vorgängigkeit der jüdischen Synagogenherberge wird verwiesen (dazu vgl. auch Wiek, P.: Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwicklung im Rahmen der frühjüdischen Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit. Stuttgart u. a. 2002, 90 f. sowie Hinweise in Gehring, R. W.: Hausgemeinde und Mission. Die Bedeutung antiker Häuser und Hausgemeinschaften - von Jesus bis Paulus. Gießen 2000; insbesondere vgl. in Claußen, C.: Versammlung, Gemeinde, Synagoge. Göttingen 2002). Die weitere Entwicklungsdynarnik ist neutestamentlich inspiriert. Die Erweiterung der Pil-
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C. Die nach-christliche Entwicklung
anthropologische Kategorie, die aber xenologisch nicht weiter dargelegt werden soll - in spezieller Fonn auch im europäischen Mittelalter zu einer wichtigen Wirkgröße. Das Thema der sozialpolitischen Institutionen im europäischen Mittelalter insgesamt ist nun nicht das Thema dieses kleinen Kapitels. Einige Ausführungen zur Annenpolitik im Mittelalter erfolgen in Kapitel C.lV.2. Hier nun interessiert allein das Xenodochium. Der Grund ist evident. Vennittelt über die Fonnwandlungen verweisen die orientalischen Wurzeln auf eine gewisse Ubiquität. Und in der Tat: Der Gastfreundschaft haften anthropologische Merkmale an. In diesem Sinne fundiert, wird die Gastfreundschaft als eine Entwicklungsachse in der Geschichte des europäisch-orientalischen Kultursynkretismus verstanden. Und die Gastfreundschaft wirkte so in mittelalterlichen sozialen Institutionen fort, etwa im hochmittelalterlichen Mönchstum. 57 Zu den frühen Wurzeln solcher armenfürsorgerischer Institutionen gehört wohl auch die Synagoge (vgl. auch soeben in Kapitel C.U.). So sehr der Verfasser hier auf die Epoche des Frühchristentums insistiert; die Wurzeln liegen wiederum im alttestamentlichen und somit hebräischen bzw. jüdischen Kontext. Im jüdischen Altertum kommt der Synagoge für soziale Aufgaben eine grundlegende Rolle zu. Das ist soeben bereits betont worden. Alttestamentlich gibt es einige, aber nicht breit elaborierte Hinweise auf die Praxis des Opferkultes, die als rituelle Ursprünge sozialer Maßnahmen zu gelten haben. In der Literatur finden sich einige Hinweise dazu. 58 gerherberge zum Xenodochium zeigte sich auch später im 8. und 9. Jahrhundert. Der Übergang vom Xenodochium zum Hospitale ist mehr ein terminologischer als ein sachlicher: Die Hospitalia bleiben mehrfunktionale Einrichtungen; das Pilgerwesen tritt aber seit dem 12. Jahrhundert in der Aufgabenstellung der Einrichtungen zurück. Die Zusammenhänge mit dem Pilgerwesen ist bereits in der älteren Literatur herausgestellt worden. Vgl. etwa nur Kötting, B.: Peregrinato Religiosa. Wallfahrten in der Antike und das Pilgerwesen in der Alten Kirche (Münster 1950) sowie Puzicha, M. G.: Christus Peregrinus. Die paränetische Erörterung und die Motive der privaten Wohltätigkeit in der Alten Kirche am Beispiel der Fremdenaufnahme. (Diss. Münster 1976). Zuletzt: Dhler, N.: Pilgerstab und Jakobsmuschel. Wallfahrten in Mittelalter und Neuzeit. Düsseldorf/Zürich 2000. 57 Vgl. Berger, J. M.: Die Geschichte der Gastfreundschaft im hochmittelalterlichen Mönchtum. Die Cistercienser. Berlin 1999. 58 Vgl. Willi-Plein, I.: Opfer und Kult im alttestamentlichen Israel. Stuttgart 1993, 130; Wilms, F.-E.: Freude vor Gott. Kult und Fest in Israel. Regensburg 1981, 358; Zwickel, W.: Der Tempelkult in Kanaan und Israel. Tübingen 1994, 325 ff.; Safrai, S.: Die Wallfahrt im Zeitalter des Zweiten Tempels. Neukirchen/Vluyn 1981, 155 und 214. Vgl. ferner grundlegend Dtto, E.lSchramm, T.: Fest und Freude. Stuttgart u. a. 1977 sowie Rendtorff, R.: Studien zur Geschichte des Opfers im Alten Israel. Tübingen 1967, ferner Schenker, A. (Hrsg.): Studien zu Opfer und Kult im Alten Testament. Tübingen 1992. Zum Thema auch Janowski, B.lWelker, M. (Hrsg.): Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte. Frankfurt am Main 2000.
IV. Ausblick auf die Geschichte der europäischen Sozialpolitik
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Jedenfalls warben die Deuteronomiker59 für die Öffnung gottesdienstähnlicher Feste der Familien für die arme Bevölkerung; bei den großen Mahlopferfeiern wie dem Herbstfest waren Fremdlinge, Witwen und Waisen mit zu versorgen. 60 Transverwandtschaftliche Solidarität sollte so eingeübt werden. 61 Ohne nun doch wieder - entsprechend der (aber erheblich kontroversen) Theorie der Tempel-Bürger-Gemeinde in morphologischer Verwandtschaft zur griechischen Polis - hier eine gemeindebezogene Fonn der homerischen Reziprozitätsökonomik (in Abgrenzung zur monarchischen Polydoria bzw. zur (maat62 -fönnigen) Barmherzigkeit "von oben") zu konstatieren, bleibt doch eine gewisse Analogie halb offensichtlich und halb verborgen.
IV. Ausblick auf die Geschichte der europäischen Sozialpolitik im Lichte der Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft Der Verfasser hat die europäische Kulturgeschichte im Lichte der hier interessierenden Fragestellung genossenschaftswissenschaftlich bereits abgehandelt. 63 Einige Ausführungen zur europäischen Geschichte, allerdings sehr vorläufiger Art, finden sich auch in den monographischen Abhandlun59 Vgl. hierzu Zwickel, W.: Der Tempelkult in Kanaan und Israel. Tübingen 1994, 318 ff. Zwickel spricht sogar von einer kultisch vennittelten Sozialversicherung für Arme (332, auch FN 210 sowie 333). Er sieht in der Landlosigkeit (329, auch FN 197) einen "kultischen Kommunismus" der dtn Kulttheologie (329) fundiert. Vgl. insgesamt Ex 23, 10 f. sowie Dtn 14, 28-29. Zum Laubhütten- bzw. Herbstfest vgl. auch Dtn 16, 13-15. Allerdings ist nach dem faktischen Realitätsgehalt in der Praxis zu fragen, muss das Dtn doch als programmatisch eingeschätzt werden (Zwickel selbst auf 4). Insgesamt ist bei der Textanalyse des AT bei Zwickel kritisch anzumerken, dass er von einer grundsätzlichen diachronischen Lesbarkeit durch literaturhistorische Einordnungen ausgeht (285, FN 1, auch auf 7). 60 Vgl. auch Otto, E.: Max Webers Studien des Antiken Judentums. Tübingen 2002, 302, auch FN 125 sowie FN 129 und 130 auf 303. Demnach entwickelte das Deuteronomium "bereits in spätvorexilischer Zeit die Idee einer durch die kultischen Versammlungen an den Wallfahrtsfesten und die daraus abgeleiteten sozialen Pflichten" (302) die Idee einer integrierten Volksgemeinschaft. 61 Albertz, R.: Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit 1. 2., durchgesehene Aufl. Göttingen 1996, 347 sowie Schaper, J.: Priester und Leviten im achämenidischen Juda. Tübingen 2000, 97 ff. 62 Dazu grundlegend Assmann, J.: Ma'at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten. 2. Aufl. München 1995. Zu Ägypten vgl. bereits die ältere Studie von Driesch, J.v.d.: Geschichte der Wohltätigkeit, Bd. 1. Die Wohltätigkeit im alten Ägypten. Paderborn 1959. Modern institutionenökonomisch Theurl, E.: Staat und Gesundheitswesen. Wien u.a. 1996, der auf das alte Ägypten und auf die griechische Antike eingeht. 63 Schulz-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000.
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C. Die nach-christliche Entwicklung
gen des Verfassers "Prolegomena zu einer (personal anthropologisch fundierten) Wissenschaft von der Sozialpolitik,,64 sowie in "Lebenslagen und Persönlichkeit,,65. Es dürfen nunmehr - neben der symbolischen Ökonomik der Gabe (als ars donandi 66 )67 - die sakralköniglichen Dimensionen der europäischen Entwicklung als Kultursynkretismus angesprochen werden. Dabei wird es insbesondere um die Korrelation von barmherziger Armenfürsorge und sakralem Königtum gehen, wenngleich im Rahmen der Gebildevielfalt der mittelalterlichen Sozialordnung68 die genossenschaftlichen Formen ebenfalls betont werden dürfen - in Island sogar als die dominante Form der Armenfürsorge, wie die Studie von Gerhold69 darlegen konnte?O 64 Mit dem Untertitel: Kulturgeschichtliche und aktuelle Studien. Weiden/Regensburg 1998. 65 Mit dem Untertitel: Zur Phänotypik der Haltungen in einem Prägehorizont von Raum und Zeit. Weiden/Regensburg 1998. 66 Hennig, J.: Ars donandi. Zur Ökonomie des Schenkens im frühen Mittelalter. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (37) 1986, 149-161; Zum Forschungstand (Mitte bis Ende der 1990er Jahre) vgl. Goetz, H.-W.: Modeme Mediävistik. Darmstadt 1999,206 ff. (bearbeitet von S. Benkmann). 67 Vgl. (mit Literatur) in Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 30: FN 17. 68 Althoff, G.: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im frühen Mittelalter. Darmstadt 1990. Vgl. ferner Schubert, E.: Alltag im Mittelalter. Darmstadt 2002, insbesondere 212 ff.: "Freundschaft, Gesellschaft, Nachbarschaft" . Vgl. auch - konzeptionell etwas anders gelagert - Goetz, H.-W.: Leben im Mittelalter vom 7. bis zum 13. Jahrhundert. 5. Aufl. München 1994. 69 Gerhold, W.: Armut und Armenfürsorge im mittelalterlichen Island. Heidelberg 2002. 70 Gerhold bezieht seine Studie auf die Freistaatszeit (930 bis 1264) und nutzt Rechtstexte (die Gragas) mit zwei jeweils vollständig überlieferten Codices. Der Hauptbefund ist überraschend: In Island bestanden zwar auch christlich motivierte Fürsorgeeinrichtungen. So ist auf den Armenzehnt und auf Speiseabgaben zu verweisen (115; 203 0. Die Übernahme fürsorglicher Aufgaben durch Klöster ist aber erst für die Zeit nach der Freistaatszeit gesichert (131). Der größte - komplexe und integrierte (134 0 - Teil der Armenfürsorge fand außerhalb christlicher bzw. christlich motivierter Institutionen statt. Zentrale Institution war der hreppr, ein landschaftlich begrenzter Verband von Einzelhöfen und Personen mit genossenschaftlicher Struktur (136; auch 166 0. Diese Institution (153 ff.) war sehr alt, wahrscheinlich vor-christlich, so dass eine Beeinflussung durch das Christentum (172 f.; 216 f). - etwa über das Gildenwesen - nicht wahrscheinlich ist. Die Verwaltung des Armenzehnten wurde so dem hreppr übertragen, nicht der Kirche, so dass hier bereits eine flächendeckende Entwicklung dieser Gemeindestrukturen vorausgesetzt werden muss (155; 172; 206 0. Eher (168) ist von einer Analogie zwischen hreppr und Gilden anzunehmen: nämlich insbesondere das Implikat eines Versicherungswesens (168 f.). Zum gesamten Zusammenhang ist nochmals auf die Gilden-Studie des Verfassers hingewiesen: Schu/z-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000, damit auch auf die - auch von Gerhold zitierte - Studie von Anz, Chr.: Gilden im mittelalterlichen Skandinavien. Göt-
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1. Sakralkönigtum
Epochenbezogen und angesichts der bisher dargelegten kultursynkretistischen und achsenzeitlicher Schaltstelle spätantiker Entwicklung liegt es nahe, sich mit der frühmittelalterlichen Phase als Ausgangspunkt der europäischen Entwicklung zu beschäftigen. Die Wurzeln des sakralen Königtums im frühen Europa sind tief verankert: Der Traditionsanspruch der karolingischen Renaissance 7l reicht bis auf davidische Wurzeln zurück. 72 Die auf Bestimmungen des Alten Testaments zurückgreifende Gesetzgebung Karls des Großen betont Kottje in seiner Dissertation über den Einfluss des Alten Testaments auf das frühe Mittelalter des 6. bis 8. Jahrhunderts. 73 Instingen 1998, der die Christanisierung voraussetzt, um die Ausbreitung der Gilden in Skandinavien zu erklären. Das weltliche System der Armenfürsorge war ein komplexes und integriertes System. Er basierte zunächst auf die Hilfe durch Verwandtschaft, bettete diese aber in einen Armenpflegschaftsverband ein. Dabei ging man mit nicht Sesshaften und Bettlern (Kastration) rabiat um. Überhaupt scheint also die Armenfürsorge der isländischen Freistaatszeit weniger christlich-barmherzig motiviert, sondern aus sozial- und systemintegrativer Funktionalität heraus (225; 227). 71 In fränkischer Zeit sind gerade in sozialpolitischer Hinsicht die Kapitularien wichtig, da in diesen auch Bezugnahmen zum Schutz von Witwen, Waisen und Armen gegeben sind. Vgl. dazu insb. CleJt, Chr.: Der Schutz der wirtschaftlich und sozial Schwachen in den Kapitularien Karls des Großen und der nachfolgenden Karolingern. Diss. Köln 1954; vgl. auch Boshof, E.: Untersuchungen zur Armenfürsorge im fränkischen Reich des 9. Jahrhunderts. Archiv für Kulturgeschichte 58 (2) 1976, 265-339, hier speziell zu "Karl der Kahle": 317, 332, 339. Die Kapitularien sind auch allgemein herrschaftstechnisch von Interesse: Mit ihnen versuchten die Frankenkönige, die justizielle Selbsthilfe zu überwinden. Hier dürfte eine strukturelle Parallele zur altisraelischen Königszeit vorliegen. Vgl. zu den karolingischen Kapitularien als Teil der europäischen Geschichte der Sozialpolitik: Kröll, K.: Das Phänomen Armut. Wandlungen des Begriffs im Zeitablauf unter besonderer Berücksichtigung mittelalterlicher Arrnenpflegemaßnahmen im Vergleich zu heute. Diss. Köln 1973: insb. 99 ff. Zu den Kapitularien mit besonderem Bezug zur Gruppe der vulnerablen Witwen vgl. auch Gerhards, G.: Das Bild der Witwe in der deutschen Literatur des Mittelalters. Diss, Bonn 1962: 141 ff. 72 Literatur zum Sakralkönigtum im orientalischen Altertum findet sich auch in Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftlichkeit der gesetzlichen Krankenversie cherung. Weiden/Regensburg 2002, 17 f: FN 3 sowie 69 FN 4. 73 Kottje, R: Studien zum Einfluß des Alten Testaments auf Recht und Liturgie des frühen Mittelalters (6.-8. Jahrhundert). Bonn 1964, 10. Literatur zur den altjüdischen Wurzeln des Zehnten im gemeinorientalischen Kulturkontext finden sich in Schaper, J.: Priester und Leviten im achämenidischen Juda. Tübingen 2000, 96 f. Der Zehnt spielt für die frühmittelalterliche Armenfürsorge eine gewisse Rolle (vgl. auch Puza, R: Art. Zehnt. Lexikon des Mittelalters. (9). München 1998, Sp. 499501). Zur Armenfürsorge innerhalb der Zehntregelung im Kontext der dtn Kulttheologie vgl. auch Zwickel, W.: Der Tempelkult in Kanaan und Israel. Tübingen 1994, 332 f. Zum frühen Mittelalter vgl. Boshof, E.: Untersuchungen zur Armenfürsorge im fränkischen Reich des 9. Jahrhunderts. Archiv für Kulturgeschichte 58 (2), 1976, 265-339, hier 290, 296 ff. Mögliche historische Transportationswege sind kirchen8 Schulz-Nieswandt
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C. Die nach-christliche Entwicklung
gesamt wird man hier (weniger angesichts der bereits bekannten schwierigen Quellenlage des Alten Testaments74 , sondern angesichts der frühmittelalterlichen Befundelage) vorsichtig abwägen müssen. 75 Dabei spielt auch das Phänomen der Königssalbung 76 eine zentrale Rolle. Und damit befindet geschichtlicher Art. Zur Vorgeschichte des Zehnten seit dem Alten Testaments vgl. auch Vischer, L.: Die Zehntforderung in der Alten Kirche. Zeitschrift für Kirchengeschichte. 4. Folge. VIII. 70, 1959,201-217. Eine Aufarbeitung der Frage der Entstehung des Zehnten im Mittelalter als Rückgriff auf alttestamentliche Traditionen nimmt Kottje vor (Kottje, R: Studien zum Einfluß des Alten Testaments auf Recht und Liturgie des frühen Mittelalters (6.-8. Jahrhundert). Bonn 1964: 57 ff.). Bedingt durch den Zeitpunkt der Anfertigung der Dissertation greift Kottje vor allem zurück auf E. Pereis (Pereis, E.: Die Ursprünge des karolingischen Zehntrechts. Archiv für Urkundenforschung 3, 1911, 233-250) sowie auf U. Stutz (Stutz, U.: Das karolingische Zehntgebot. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. 29. Bd., 42. Bd. der Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung. 1908, 180-244), die er beide aufgearbeitet sieht bei M. Weikmann (Der Kirchenzehnt. Ursprünge und Ursachen seiner rechtsgeschichtlichen Einführung im karolingischen Reich. Deutsche Gaue 43, 1951, 33-47). 74 Das zeigte sich, wie schon angesprochen, im Feld der alttestamentlichen Forschung etwa bei den für die Forschung des Sakralkönigtums so wichtigen Fragen des Thronbesteigungsfestes (dazu nun Lang, B.: Jahwe der biblische Gott. München 2002, 30 ff.; anschaulich dargelegt bei Schmidt, H.: Die Thronfahrt Jahves. Tübingen 1927). Die Diskussionslage zur Inthronisation des Königs im Alten Testament ist völlig kontrovers. Vgl. auch Kutsch, E.: Salbung als Rechtsakt im Alten Testament und im Alten Orient. Berlin 1963, 55 ff. Die als Quellen dienenden Psalmen sind allerdings hinsichtlich ihrer vor-exilischen Datierung und somit hinsichtlich eines realen kultischen Kontextes der Thronbesteigungsproblematik in königsherrschaftlicher Zeit umstritten (Zirker, H.: Die kultische Vergegenwärtigung der Vergangenheit in den Psalmen. Bonn 1964: 139 ff.): "Bei den sogenannten Königspsalmen ist vielfach zweifelhaft, ob ein gegenwärtiger oder der messianische König der Zukunft gemeint ist, oder ob überhaupt nur das theokratische Königtum in sonst königsloser Zeit verherrlicht wird." (Achelis, J.: Der religionsgeschichtliche Gehalt der Psalmen mit Bezug auf das sittlich-religiöse Leben der nachexilischen Gemeinde. Berlin 1904: 3 f.) Auch neutestamentliche Bezüge zur Figur der Himme1sfahrt ließen sich anführen. Dazu auch Berger, K.: Historische Psychologie des Neuen Testaments. 3. Aufl. Stuttgart 1995, 136. Vgl. auch Bousset, W.: Die Himmelsreise der Seele. Darmstadt 1961. 75 Vgl. auch die Literatur bei Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftlichkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 68 f. 76 Müller, E.: Die AnHinge der Königssalbung im Mittelalter und ihre historischpolitischen Auswirkungen. In Historisches Jahrbuch (58) 1938, 317-361. Vgl. auch Boshof, E.: Königtum und Königsherrschaft im lO. und 11. Jahrhundert. 2. Aufl. München 1997, 73 ff. Vgl. ferner die Beiträge von Angenendt, A: Rex et Sacerdos. Zur Genese der Königssalbung. In Kamp, N./Wollasch, K. (Hrsg.): Tradition als historische Kraft. FS Karl Hauck. Berlin u. a. 1982, lOO-118 sowie Fichtenau, H.: "Die gratia" und Königssalbung. In Härtei, H. u.a. (Hrsg.): Geschichte und ihre Quellen. FS Friedrich Hausmann. Graz 1987, 25-35. Vgl. aber auch den neueren Beitrag von Hack, A Th.: Zur Herkunft der karolingischen Königssalbung. Zeitschrift für Kirchengeschichte 110 (2) 1999, 170-190.
IV. Ausblick auf die Geschichte der europäischen Sozialpolitik
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sich die Analyse in einem ebenso kontroversen wie zentralen Fragenkomplex. Denn in diesem symbolisch-rituellen Ausdruckskreis sakraler Königsherrschaft muss sich die Evidenz realisieren. Duby77 schrieb ja: "Der dauerhafte Bestand des Königsmythos ist als einer der markantesten Charakterzüge der mittelalterlichen Zivilisation anzusehen.,,78 Und Schild79 hat dies in rechtsgeschichtlicher Hinsicht ikonographiegeschichtlich80 darzulegen versucht. Denn das Sakralkönigtum ist nicht nur eine institutionelle Problematik, sondern - korrelativ dazu - eine mentalitätsgeschichtIiche Problemstellung. Dem Sakralkönigtuin korrespondiert die Huldigung8l als Haltung und verweist somit auf die proskynetische Ritualistik, aus der heraus sich der Typus der proskynetischen Wohltätigkeit entwickelt. 82 Das Sakralkönigtum ist demnach eine tief verwurzelte StrukturgestaIt des Mittelalters. 83 Der Verfasser teilt die Auffassung von Angenendt84, wonach die symbolische Praxis (Rituale, Zeremonien und Gestik)85 Duby, G.: Die Zeit der Kathedralen. Frankfurt am Main 1980,24. Klassisch natürlich: Kantorowicz, E. H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990. Als geradezu herausragende Studie zum sakralen Königtum, hier in Verbindung mit der Erklärung der Heilungskräfte der Könige, muss die Arbeit von M. Bloch (Die wundertätigen Könige. München 1998) gelten. Bloch analysiert diese Besonderheit vor allem der englischen und französischen Könige seit dem 13. Jahrhundert als Beispiel für eine wissenschaftliche Analyse eines "totalen sozialen Phänomens" im Rahmen einer sich entwickelnden historischen Anthropologie, die auch (nicht zu allgemein) komparativ verfährt, bei Bloch u. a. in Rekurs auf Frazer und Uvy-Bruhl, allerdings nicht mit Verweis auf Mauss, Van Gennep u.a. Die Zusammenhänge sind im Vorwort von Le Goff, die speziellen Zusammenhänge mit der deutschen Geschichtswissenschaft im Nachwort von Märtl in der deutschen Ausgabe von 1998 dargelegt. 79 Schild, W.: Bilder von Recht und Gerechtigkeit, Köln 1995. 80 Die Analyse knüpft hiermit an die Ausführungen in Schulz-Nieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften (Regensburg 2000, Kapitel 2: "Raumbildungskorrelate der sozialpolitischen Archetypen") an. Die dort angeführte und verarbeitete Literatur soll hier nicht nochmals entfaltet werden. Vgl. aber ergänzend: Grabar, A.: Rezension zu Schramm: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Journal des Savants 1956, 5-20, 77-92; 1957, 25-31 sowie Gussone, N.: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Zum 100. Geburtstag von Percy Ernst Schramm. Maiestas (2) 1994,93-99. 81 Vgl. auch Holenstein, A.: Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800--1800). Stuttgart/New York 1991. Vgl. auch Althoff, G.: Huld. Überlegungen zu einem Zentralbegriff der mittelalterlichen Herrschaftsordnung. Frühmittelalterliche Studien (25) 1991,259-282. 82 Dazu auch in gebärdenanthropologischer Perspektive und mit Verweis auf religionsgeschichtlich-vergleichendes Material in Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftlichkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002, 71. 83 Vgl. auch zum Überblick: Anton, H. H.: Art. Sakralität. In Lexikon des Mittelalters. (7). München 1995, Sp. 1263-1266; Staubach, N.: Art. Königtum III. Mittelalter und Neuzeit. Theologische Realenzyklopädie (19) 1990, 333-345. 77
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C. Die nach-christliche Entwicklung
des mittelalterlichen Sakralkönigtums 86 geradezu archetypisch wirkt, wie die ottonisch-frühsalische87 Symbolwelt zeigt. Die Formwandlungen des Sakralkönigtums sind aber in der neueren Mediävistik umstritten, insbesondere auch die alte These vom Investiturstreit als Wendezeit. Denn das 12. Jahrhundert in Europa muss auch in anderen europäischen Staaten als Intensivierung, zum Teil sogar erst als Beginn des sakralen Königtums gelten. 88 Allerdings hängen derlei quantitative und qualitative Trendhypothesen natürlich vorgängig vom Definitionsspektrum des Sakralkönigtums ab. Kömtgen 89 hat sich aber überzeugend von engen und sehr spezifischen Definitionen, wie sie von Janet Nelson9o vorgeschlagen worden sind, abgesetzt und schlägt phänomenologisch ein breites und für vielerlei Fragestellungen flexibles Vorverständnis vor. Allerdings darf das Konzept des sakralen Königtums explikativ auch nicht überschätzt werden. 91 2. Armenhilfe Soziale Politik im Mittelalter zentrierte sich um die Armenhilfe. 92 Die Themen - als Probleme - werden noch nicht als Risiken begriffen. Dabei ist einerseits die Trägervielfalt sozialer Politik (neben den Gilden und der Kommunalität natürlich auch die Kirche93 und die Klöster94 , alle im Span84 Angenendt, A.: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, 312 (mit Literatur). 85 Leyser, K.: Ritual, Zeremonie und Gestik: das ottonische Reich. Friihmittelalterliche Studien (27) 1993, 1-26. 86 Vgl. auch Boshof, E.: Königtum und Königsherrschaft im 10. und 11. Jahrhundert. 2. Aufl. München 1997. 87 Dazu insbesondere Körntgen, L.: Königsherrschaft und Gottes Gnade. Zu Kontext und Funktion sakraler Vorstellungen in Historiographie und Bildzeugnissen der ottonisch-frühsalischen Zeit. Berlin 2001. 88 Körntgen, L.: Königsherrschaft und Gottes Gnade. Berlin 2001, 12. 89 Körntgen, L.: Königsherrschaft und Gottes Gnade. Berlin 2001, 17 f. Dazu auch Leyser, K.: Herrschaft und Konflikt. König und Adel im ottonischen Sachsen. Göttingen 1984: 124. 90 Nelson, J. L.: Politics and Ritual in Early Medieval Europe. London 1986. 91 Engels, J. I.: Das "Wesen" der Monarchie? Kritische Anmerkungen zum "Sakralkönigtum" in der Geschichtswissenschaft. Maiestas (7) 1999, 3-39. 92 Eine große Konjunktur hat(te) die Kindheitsforschung in der Mediävistik erfahren. Literatur in Goetz, H.-W.: Modeme Mediävistik. Darmstadt 1999: 289, 317 sowie im Abschnitt zur Psychohistorie (bearbeitet von H. Röckelein): insb. 294 f. zum Alter vgl. u.a. Shahar, S.: Growing Old in the Middle Ages. London 1997. 93 Borgolte, M.: Die mittelalterliche Kirche. München 1992, 119-122. Dazu nun auch Hammann, G.: Die Geschichte der christlichen Diakonie. Göttingen 2003. 94 Vgl. aus der Fülle der Literatur nur Nümberg, R.: Askese als sozialer Impuls. Monastisch-asketische Spiritualität als Wurzel und Triebfeder sozialer Ideen und Aktivitäten der Kirche in Südgallien im 5. Jahrhundert. Bonn 1988. Vgl. auch
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nungsverhältnis zur Staatlichkeit95 ), andererseits phänomenologisch auch die außerordentliche Vielfältigkeit der Problemgruppen96 , der sozialen Risikolagen und Vulnerabilitätsprofilen zu beachten. 97 Trotz der bereits als klassisch geltenden Studien von Mollat, Geremek u. a. 98 fehlt eine übergreifende Darstellung zur Armutspolitik im Mittelalter zwischen Spätantike und früher Neuzeit. Eine entsprechend angekündigte Monographie von Oexle steht nach wie vor aus; ein Aufsatz von Oexle bietet aber immer noch den besten Überblick99, auch im Hinblick auf die Entstehung der sozialdisziplinierenden territorialen Staatlichkeit der frühen Neuzeit lOO , die erst zum Ende dieses Kapitels aufzugreifen ist. Wollasch, J.: Gemeinschaftsbewußtsein und soziale Leistung im Mittelalter. Frühmittelalterliche Studien (9) 1975, 268-286. 95 Dies gilt insbesondere infolge des bipolar-interaktiven Dualismus von Staat und Kirche seit der "päpstlichen Revolution". Vgl. dazu auch Berman, H. J.: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition. Frankfurt am Main 1995, 144 ff. sowie Schluchter, W.: Religion und Lebensführung. Bd. 2. Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie. Frankfurt am Main 1991,437 ff. 96 Vgl. frühneuzeitlich: Hippel, W. v.: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit. München 1995 sowie Küther, C.: Menschen auf der Straße, Göttingen 1983 und Roeck, R.: Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten. Göttingen 1993; Rheinheimer, M.: Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450-1850. Frankfurt am Main 2000. 97 Hinter dieser Entwicklung steht die anthropologisch orientierte soziologische Hinwendung zur Analyse sozialer Gruppen in der Mediävistik: vgl. Jussen, B.: Erforschung des Mittelalters als Erforschung von Gruppen. Über einen Perspektivenwechsel in der deutschen Mediävistik. Sozialwissenschaftliche Informationen (21) 1992,202-209. 98 Mollat, M.: Die Armen im Mittelalter. 2. Aufl. München 1987; Geremek, B.: Geschichte der Armut. München 1991; Fischer, W.: Armut in der Geschichte. Stuttgart 1980; Bosl, K.: Das Problem der Armut in der hochmittelalterlichen Gesellschaft. Wien 1974. Weitere Hinweise in Goetz, H.-W.: Moderne Mediävistik. Darmstadt 1999: 234 ff. 99 Oexle, O. G.: Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter. In Sachße, Chr.lTennstedt, F. (Hrsg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Frankfurt am Main 1986, 73-100. Wichtige Dimensionen der mittelalterlichen Caritas und Armenhilfe werden (mit Literatur) dargelegt bei Angenendt, A.: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, 585 ff. Vgl. auch Angenendt, A.: Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900. 2. Aufl. Stuttgart u. a. 1995, insbesondere zur Sozialfürsorge als zentrales Element des Mittelalters (46, 59, Caritas: 59, Gemeindebezug: 81, Armenfürsorge: 96, vor allem 196 ff., 240, Armenzehnten: 325); Sozialpflichten und KönigsetlIik (166, Karls Herrschaftsidee: 304, Karls Theokratie: 352, Kapitularien: 355); Herrschaft "von oben" und Sozialformationen "von unten" (258) sowie Gilden (259); Armenfürsorge der Klöster (414). !OO Deren Dogmengeschichte früher vom Verfasser behandelt worden ist, hier aber nicht wieder aufzugreifen ist. Vgl. Schulz-Nieswandt, F.: Die Konzeption der "medizinischen Polizey" bei Johann Peter Frank (1745-1821) im Kontext seiner
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Die nach-christliche Entwicklung
Armutsverständnis und Armenfürsorge haben im Verlauf des Mittelalters durchaus bedeutsame Veränderungen erfahren. Gerhold hat im Rahmen seiner Darstellung der Besonderheit Islands der Freistaatszeit nochmals die Hauptbefunde der Forschung zum christlichen Kontinentaleuropa zusammengefasst. 101 Dabei verweist er auf eine Differenzierung des Armutsklientels und auf eine damit verbundene Differenzierung der frühmittelalterlichen 102 dualen Unterscheidung von pauper und potens. Drückt sich hier noch Machtlosigkeit als Mangelerscheinung aus, so mag nach Ansicht des Verfassers dabei eine graeco-romanische Auffassung weiterleben, die sich weniger an der alttestamentlichen Besitzlosigkeit als Armutsproblem barmherzig festmacht, sondern am sozialen Status des Bürgers in der politischen Gemeinde. Wie auch immer. Die weitere Entwicklung zum Hochmittelalter differenzierte das Phänomen. Zunehmend wurden binäre Unterscheidungen getroffen: ehrbar - nicht ehrbar; bekannt - unbekannt; arbeitsfähig - arbeitsunfähig. Eine sozialpolitiktheoretische Einschätzung dieser binären Klassifikationen im Lichte des kulturgeschichtlichen Materials hat der Verfasser an anderer Stelle vorgelegt und braucht hier daher nicht wiederholt werden. 103 Die Differenzierungen spiegeln wohl nicht nur ressourcen(mangel)abhängig eine Reaktion auf die steigende Armutsproblematik, sondern auch eine neue Auffassung von Arbeit und Arbeitsbereitschaft als erwartbare Voraussetzung personaler Daseinsbewältigung. Der große Durchbruch - auch relevant für die sozialdisziplinierende Orientierung der obrigkeitlichen sozialen Politik seit der frühen Neuzeit - kam aber erst infolge der Reformationszeit, die eine neue (calvinistische) Arbeitsethik induzierte, die bis heute als Korrelat neo-liberaler Gesellschaftsreform repressive Elemente (z. T. auch unter dem Schleier eines integrativen "employability"-Ansatzes) in der arbeitsmarktzentrierten sozialen Politik einführte, da Arbeit nun als gesellschaftlich hochwertig eingeschätzt wurde - ein großer zivilisationsgeschichtlicher Bruch mit der bisherigen Mythologiegeschichte des menschlichen Elends, zu dem Arbeit gezählt wurde, im altorientalischen Mythos (altes BabyIon: akkadisch und sumerisch; dann alttestamentlich), im griechischen Mythos (Prometheus und die Büchse der Pandora), schließlich neutestamentlich. 104 Das auf die Welt kommende Elend der Menschen Zeit. In Müller, H.-P. (Hrsg.): Sozialpolitik der Aufklärung. Münster 1999, 89-99 sowie die dort zitierten Publikationen des Verfassers. 101 Gerhold, W.: Annut und Annenfürsorge im mittelalterlichen Island. Heidelberg 2002. 102 Bosl, K.: Gesellschaft im Aufbruch. Die Welt des Mittelalters und der Mensch. Regensburg 1991. 103 Schulz-Nieswandt, F.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Moralökonomische, kulturanthropologische und tiefenpsychologische Aspekte einer Analyse des Gabemechanismus der Sozialversicherung im morphologischen Vergleich zur Sozialhilfe. Weiden/Regensburg 2002.
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grenzte in der Regel zugleich die Sphären der Götter und der Menschen ab. Der Verfasser hat diese Problematik einer sozialen Theodizee psychomythologisch-tiefenpsychologisch an anderer Stelle (mit Literatur) ausführlicher dargelegt 105 , so dass er es hier mit diesen Hinweisen belassen kann. Europageschichtlich scheint diese calvinistische Revolution der Arbeitsauffassung eine gewisse Vorläuferrevolution in der großen Wende der Zeit zwischen dem späten 10. und dem beginnenden 13. Jahrhundert aufzuweisen. Denn hier differenziert sich - folgt man Moore - die ältere duale Klassifikation von pauperes und potentes zu einer neuartigen hierarchischen Ordnung, die zwischen oratores, bellatores und laboratores unterscheidet, und unterhalb dieser vertikalen Dreiteilung die rustici, illitterati, pagani und heretici etc. ansiedelte. 106 3. Machtausübung und Herrschaftsmandat Eine institutionen- wie mentalitätsgeschichtliche Morphologie des gesamten Mittelalters mit Blick auf die Soziogenese moderner Sozialpolitik zu skizzieren, verbietet sich hier angesichts der unüberschaubaren Literaturlage. I07 Für die Ausbildung des modernen Sozialstaates war insbesondere die "päpstliche Revolution", also die Bildung zweier getrennter Sphären von Staat und Kirche, von konstitutiver Bedeutung, jedenfalls im Sinne einer langen historischen Strukturbahnung. Damit wurzelt die modeme Staatsbildung in jener kulturräumlichen Trennung von Westrom und Byzanz, die auch nicht unwichtig ist für die Explikation des strukturellen Gefälles Westeuropas zu Mittel-, Ost- und Südosteuropa.108 Aber all das kann Vgl. bereits oben in A.II. ("Leiden und Gerechtigkeit. Zum ,Sitz im Leben"'). Vgl. in Schulz-Nieswandt, F.: Strukturelemente einer Ethnologie der medizinisch-pflegerischen Behandlungs- und Versorgungspraxis. Weiden/Regensburg 2003. Vgl. auch knapp Schulz-Nieswandt, F.: Arbeit und Freizeit. Erwartungen und Enttäuschungen. In Bellebaum, A. (Hrsg.): Glücksforschung. Eine Bestandsaufnahme. Konstanz 2002, 193-212, insb. 196 f. Abweichende Einschätzungen zur Theologie der Arbeit im Alten Test~ent finden sich bei Otto, E.: Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002, 184. 106 Moore, R. I.: Die erste europäische Revolution. Gesellschaft und Kultur im Hochrnittelalter. München 2002, 284 ff. 107 Vgl. zum Überblick auch Goetz, H.-W.: Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung. Darmstadt 1999. Einige Ausführungen zur europäischen Geschichte, allerdings sehr vorläufiger Art, finden sich auch in den monographischen Abhandlungen des Verfassers "Prolegomena zu einer (personalanthropologisch fundierten) Wissenschaft von der Sozialpolitik" (Weiden/Regensburg 1998) sowie in "Lebenslagen und Persönlichkeit" (Weiden/Regensburg 1998). Vgl. ferner Borgolte, M.: Sozialgeschichte des Mittelalters. Eine Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit. München 1996 sowie Oexle, O. (Hrsg.): Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung am Ende des 20. Jahrhunderts. Göttingen 1986. 104 105
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hier nicht das Thema sein. Die heutige Nationalstaatsbildung geht entscheidend auf die Wirkungen der Reformationskriege zurück. Insbesondere im nördlichen Europa übernahm im kulturellen Kontext des protestantischen Staatskirchenturns der Staat die Aufgabe sozialer Dienste; im gemischt-konfessionellen Deutschland hingegen konkurrierten die beiden großen Kirchen auch in Form von sozialen Diensten um die Seelen und führten dergestalt zum "dritten Sektor" der freien Wohlfahrtspflege als grundlegender Träger sozialer Dienste im Sozialstaat bzw. - zunehmend heute, vor allem auch europarechtlich katalysiert - zwischen internationalisiertem Markt und nationalem Sozialstaat. Damit differenzierte sich auch im Gebiet der eigentlichen Sozialpolitik die Institutionengeschichte; nicht nur kam es zur Bildung der staatlichen (herrschaftlichen) Sozialpolitik; auch der 1000 Jahre alte polare Dualismus von Staat und Kirche führte zur Ausdifferenzierung. Mittelalterliche Körperschaftsgedanken und gildenförmige Strukturen wirkten sich in der Bildung eines staatsmittelbaren Sektors der Selbstverwaltung aus und fanden ihre verfestigte Form in der genossenschaftlichen Herrschaft (in der Sozialversicherung ebenso wie im Universitätswesen der Bundesländer); und Genossenschaften im rechtlichen Sinne bildeten sich als industriezeitliche Phänomene als einzelwirtschaftliche Gebilde aus. Stiftungen, Widmungswirtschaften und Ehrenamtlichkeit stellen weitere Erscheinungsformen im multiplen Institutionengefüge moderner sozialer Politik dar. Neuerdings reaktualisieren 109 sich viele dieser morphologischen Bausteine unter dem Titel des "new welfare mix" und des Kommunitarismus wieder. 110 108 V gl. auch Schulz-Nieswandt, F.: Ökonomik der Transformation als gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Problem. Frankfurt am Main 1996. Der Verfasser folgt hierbei der großen historischen Darlegungsweise von Geiss, I.: Europa - Vielfalt und Entwurf. Eine historische Erklärung. Mannheim u.a. 1993. Dieser Analyse muss man zur Seite stellen die Abhandlung von Le Gaff, J.: Das alte Europa und die Welt der Moderne. München 1994. 109 Vor allem der Community-Gedanke erlebt eine Renaissance: vgl. Amit, V. (Hrsg.): Realizing Cornmunity. Concepts, social relationship and sentiments. London/New York 2002. 110 Diese Morphologie der modernen Gesellschaft im Sinne eines Mehr-SektorenModells kann hier nicht ausgeführt werden. Der Verfasser hat sie immer mitbehandelt im Rahmen seiner Studien zur konkreten Sozialpolitik, insbesondere zum Gesundheitswesen und zur Alter(n)sforschung. Vgl. Schulz-Nieswandt, F.: Textkommentar zur Schaubildsarnmlung "Grundzüge der Alterssozialpolitik und der integrierten Versorgung". Zu finden unter www.uni-koeln.de/wiso-fak/soposem/ schulz.htm. Kurze Ausführungen zum "new welfare mix" finden sich auch (mit Literatur) in Schulz-Nieswandt, F.: Eine Charta der sozialen Grundrechte im Rahmen einer EU-Verfassung. Ein Beitrag zur Diskussion im "Post-Nizza-Prozess". Sozialer Fortschritt 52 (1) 2003, 23-29, hier 25. Vgl. aber auch Zimmer, A.lPriller, E.: Gemeinnützige Organisationen im gesellschaftlichen Wandel. Ergebnisse der DritteSektor-Forschung. Bd. 7 der Reihe "Bürgerschaftliches Engagement und NonprofitSektor". Opladen 2003 sowie Enquete-Kommission "Zukunft des Bürgerschaftlichen
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So ist der Konflikt zwischen Herrschaft und Genossenschaft heute noch aktuell in der Entwicklung von Staat und Sozialpolitik. Es wurde zu skizzieren versucht, wie sich dieser Konflikt europageschichtlich relevant entfaltet hat. Seine letzten Wurzeln wurden in vorausgegangenen Kapiteln im Altertum aufgewiesen. Das nächste Kapitel C.V wird einige kurze Streifzüge durch die Welt, diachronisch wie synchronisch, vornehmen, um anzudeuten, wie ubiquitär, und nicht nur· europaspezifisch dieser Grundkonflikt in der Organisationsgeschichte der Menschheit, gerade auch mit Blick auf die Konzeptualisierung sozialer Politik, war - und eben ist. Die Prägung der mittelalterlichen Geschichte Europas durch diesen Grundkonflikt hat insbesondere Bendix 111 in kulturvergleichender Perspektive umfassend herausgearbeitet. Für die vorliegende Arbeit kaum passungsfahiger, beginnt Bendix seine Abhandlung mit dem Satz: "Die Welt, in der wir leben, hat ihre Wurzeln tief in der Vergangenheit." (11) Und: "Seit dem Beginn einer überlieferten Geschichte haben Könige über menschliche Gemeinschaften geherrscht." (14) Bendix berücksichtigt bei dieser Herrschaftsweise nicht nur die Rolle des Adels, sondern fasst das Bild noch weiter: Die "Spannung zwischen zentraler Herrschaft und lokaler Selbstverwaltung muß ständig neu bewältigt werden, wird aber niemals gelöst." (16) Als Wurzeln einer Idee der legitimen Herrschaft sieht Bendix (22) die griechische und römische Idealvorstellung der Bürgergemeinde, aber auch das germanische Konsensprinzip an ["Die Idee des Vertrages zwischen Herrschern und Beherrschten hat also schon sehr frühe Vorstufen." (22)]; schließlich verdankt die Idee des Volksmandates auch manches der christlichen Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott (zu den Wurzeln insgesamt auch 43 f.; zu Akklamation und Wahl: 48). Zusammenfassend: "Das westeuropäische Königtum verdankte also seine Gestalt dem Zusammentreffen heidnischer Gebräuche germanischen Ursprungs mit dem Rechtserbe Roms und den Interpretationen und institutionellen Interessen der katholischen Kirche." (60) Das byzantinische Kaisertum, beeinflusst von Hellenismus und orientalischer Ideologie, grenzt Bendix vom westeuropäischen Pfad ab (43 f.) und sieht hier einen Einfluss auf die spätere russische Entwicklung I 12 für wirksam an. Das hierarchische Denken, das Bendix als Beitrag der katholischen Kirche zum westlichen Pfad herausstellt (44), ist aber - wie die vorausgegangen Kapitel gezeigt haben - ebenso von Hellenismus und orientaliEngagements" des Deutschen Bundestages (Hrsg.): Schlussbericht: Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft. Opladen 2002. 111 Bendix, R.: Könige oder Volk. Machtausübung und Herrschaftsmandat. 2 Bde., hier Erster Teil. Frankfurt am Main 1980. 112 Vgl. auch Schulz-Nieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000: Kapitel 4.
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sehern Denken beeinflusst gewesen, kontextualisiert in der Sattelzeit der Spätantike. Vor diesem Hintergrund kristallisiert sich eine Erbschaft Europas, wie weiter oben (vgl. B.I.) bereits herausgestellt worden war: "In dieser vergleichenden Untersuchung über das Königtum", schreibt Bendix (97), "ging es um einen weltweiten Aspekt der conditio humana. Legitimation erfordert Gründe. Selbst in einem Zeitalter des Glaubens lösen Begründungen Diskussionen aus, und Berufungen auf eine höhere Macht können von den Schwachen wie von den Starken vorgebracht werden. Daher sind Autoritätsbeziehungen zweiseitig und beinhalten einen ,Austausch' zwischen Herrscher und Beherrschten, der für die Herrscher unbequeme Situationen und Widersprüche schafft." (kursiv auch im Original) Ein solches System basiert auf einer Tiefenstruktur, die sich als System des Gebens und Nehmens bezeichnen lässt und letztendlich auch zu politischen Institutionen der Repräsentation der Untertanen führen muss (344). Und so mündet die Analyse von Bendix auch in den Gesamtbefund 113 ein, dass Herrschaft in der historisch-sozialen Wirklichkeit immer wieder darauf angewiesen war, Formen der Dezentralisierung und des Mitregierens zuzulassen und Institutionen zu entwickeln, durch die sich Herrschaft delegieren lässt. Immer gab es auch Modalitäten eines anderen Prinzips als das der Herrschaft, so dass es - in der bislang genutzten Terminologie formuliert - Formen des Mit-, Gegen- und Nebeneinanders von Herrschaft und Genossenschaft gab.
4. Die Praxis des Schenkens Dass es also neben der Herrschaft die (keinesfalls macht-freie) Ökonomik der Gabe gab, wie sie in der modernen Mediävistik als ars donandi beschrieben wird, und wie sie als eine symbolische Praxis materieller Güterverteilung zu verstehen ist, die Rangplätze reproduzieren, Asymmetrien konstituieren vermag, aber auch soziale Akzeptanz, das ist Ausdruck jener multiplen Verpflichtungszusammenhänge und sozialer Vernetzungen, von denen bereits die Rede war. Neben der traditionellen Auffassung von der Königsherrschaft als Hierarchie (und der obrigkeitlichen sozialen Politik "von oben") wirkte also immer auch die Reziprozitätsökonomik. Davis hat eine solche "schenkende Gesellschaft" für die französische Renaissance eindrucksvoll und überzeugend beschrieben. 114 Davis hält für das Europa vor der Renaissance allgemein fest: So "gab es vier mächtige überkommene 113 Vgl. auch Schulz-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000, 38. 114 Davis, N. Z.: Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance. München 2002.
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Gebote für den Austausch zwischen den Menschen (... ): christliche Nächstenliebe, adlige Freigiebigkeit, die Wohltaten der Freundschaft und nachbarliche Großzügigkeit. Jedes Gebot stellte ein Ideal bereit für das Geben und Empfangen in verschiedenen sozialen Milieus." (26) Die Caritas hat der Verfasser bereits in Kapitel C.l1. mit Blick auf die Gemeindebildung des frühen Christentums erörtert und in Kapitel C.III. institutionengeschichtlich mit Interesse für byzantinisch-orientalische Wurzeln näher behandelt; hinsichtlich der adligen Freigiebigkeit sieht auch Davis eine kulturelle Synthese zwischen mittelalterlichen Idealen feudaler Gastfreundschaft und antiken Vorstellungen der Wohltätigkeit (vgl. oben Kapitel B.III.) vorliegen; sie spricht von einem Amalgam (29). Auch alttestamentliche Verweise - mit Blick auf Freundschaft und Nachbarschaft - fehlen bei Davis nicht. Die sozialpolitische Funktionalität des Schenkens wird dabei erneut evident, nicht nur als Mildtätigkeit und als Barmherzigkeit: Geschenke "milderten Zwänge in Beziehungen über Klassen- und Standesgrenzen hinweg." (181) "Die Wege des Schenkens konnten (aber auch - F.S.-N.) schmal, die Kreisläufe kurzgeschlossen und ausschließend sein." (181) Und damit führt die Rezeption von Davis wieder zu den Darlegungen der Analyse von Bendix (s.o.) zurück, denn Davis argumentiert: "Manche Menschen und Gruppen profitierten vom Wechselspiel der Reziprozität, andere nicht. Aber die damit aufgeworfenen Fragen nährten eine lange politische Reflexion über die Verpflichtungen von Königen und die Ansprüchen von Untertanen" (182). Somit ist das gestellte Problem der Legitimation von Herrschaft erneut aufgeworfen. Und es erweist sich, dass soziale Exklusion - oder andere Formen sozialer Probleme - zum Anlass derartiger Legitimationskrisen werden können. Der Verfasser sprach in diesem Sinne von der sozialen Theodizee. Die Verknüpfung der Perspektiven von Bendix und Davis führen den Verfasser dazu, eine speziellere Hypothese aufzustellen im Kontext der allgemeinen geschichtlichen Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft. Sie lautet: Auch dort, wo sich das Genossenschaftsprinzip nicht unmittelbar als institutionelles Einzelgebilde artikuliert (etwa als Gilde, als Kultgenossenschaft, als Geheimgesellschaft etc.), muss sich das königliche Herrschaftsprinzip zwingend mit reziprozitätsökonomischen Erwartungen auseinandersetzen. 115 Die moralische Ökonomie des Gebens und Nehmens 115 Kritik am sakralen Charakter des Königtums hat Blattmann infolge eines Zusammenhangs zwischen königlichem Fehlverhalten und Volkswohl festgemacht. Vgl. Blattmann, M.: "Ein Unglück für das Volk". Der Zusammenhang zwischen Fehlverhalten des Königs und Volkswohl in Quellen des 7.-11. Jahrhunderts. Frühmittelalterliche Studien (30) 1996, 80-102. Vgl. ferner Keller, H.: Die Idee der Gerechtigkeit und die Praxis königlicher Rechtswahrung im Reich der Ottonen. La giustizia nell'alto medioevo (secoli IX-XI) (Settimane 44) Spoleto 1997, 91-128. Weitere Literatur in Kömtgen, L.: Königsherrschaft und Gottes Gnade. Berlin 2001, 236 f. So etwa Weinfurter, St.: Sakralkönigtum und Herrschaftsbegründung um die
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C. Die nach-christliche Entwicklung
setzt somit der Herrschaft (nicht nur funktional, also - modern gesprochen - outcomes-orientiert, sondern auch prozedural) Grenzen. Dieser begrenzende Effekt der Reziprozitätsökonomik resultiert aus dem konstituierten Verpflichtungszusammenhang; dieser selbst stellt hier das Genossenschaftliche dar.
V. Weltweite Analogien zur Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft in diachroner wie synchroner Perspektive Die diachronischen Wurzeln der europäischen Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft, soweit sie nicht griechisch-römisch eingeschätzt worden sind, wurden in den vorausgegangen Kapitel vorwiegend als altorientalisch eingestuft. Das gilt auch für genossenschaftsartig-bruderschaftliche Figuren. 116 Es sollen nun in diachroner wie synchroner Sicht einige ausgewählte Beispiele angeführt werden, die die Universalität des gestellten Themas demonstrieren können. 1. Soziale Fürsorge in der chinesischen Song-Zeit
Die soziale Fürsorge der Song-Zeit (960--1279 n. Chr.)ll7 in der mittleren Kaiserzeit des alten Chinas ist ein interessantes Vergleichsbeispiel für das Zusammenspiel von Staat, Kommunen und Kirche: Institutionalisierte Armenhilfe hatte vor der Song-Zeit ihren Ursprung im Klosterwesen. Im 8. Jahrhundert waren die Klöster sogar staatlich zur Armenfürsorge verpflichtet worden und erhielten dazu auch staatliche Mittel. In der Song-Zeit war die Staatlichkeit allgemein akzeptiert; erst im 12. und 13. Jahrhundert kam es wieder zur Dezentralisierung der Fürsorgernaßnahmen. Untere Verwaltungsebenen, Familien und Klanverbände waren dann die Träger der Fürsorge. Jahrtausendwende. Die Kaiser Otto III. und Heinrich 11. in ihrem Bild. In Altrichter, H. (Hrsg.): Bilder erzählen Geschichte. Freiburg 1995,47-103. 116 So wurde im Deuteronomium die relevanten alttestamentlichen Wurzeln der Bruder(schaftlichkeit) aufgedeckt, also frühere Wurzeln, als sie bislang neutestamentlich im Kontext der hellenistischen Kultgenossenschaften und des Vereinswesens ausgemacht worden sind. Diese Wurzeln sind wohl - zumindest andeutungsweise - gemeinorientalisch noch tiefer zu veranschlagen: Keilschriftrechtlich sind im Akkadischen, im Alt- und Neubabylonischen Formen kollegialer und gruppenmäßiger Verbundenheit nachzuweisen (vgl. die Quellen bei Schulz-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000, 17). 117 Literatur in Schulz-Nieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000, 129 ff.
V. Weltweite Analogien zur Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft 125
Es liegt mit der Abhandlung von Linck 118 eine spezielle Analyse vor. Linck beschreibt nicht nur die Maßnahmen und Institutionen der sozialen Fürsorgepolitik hinsichtlich Kindern (Waisen), Witwen und alten Menschen, sondern auch in Hinsicht auf Krankheit und Naturkatastrophen. Sie stellt den Kontext der rapiden Urbanisierung ebenso heraus wie die Agrarkonflikte (zwischen Großgrundbesitz und schuldenabhängigen Kleinbauern). Der Ausbau der Bürokratie kann so als eine Voraussetzung der Effektivität der zentralstaatlichen Maßnahmen verstanden werden, ebenso die Bildungsmaßnahmen für das Beamtentum. Linck stellt auch heraus, dass sich der Staat aus den direkten Politikmaßnahmen in der späteren Kaiserzeit (der Ming- und frühen Qing-Zeit) zurückzieht, die Verantwortlichkeiten privatisiert und die privaten Kräfte nur indirekt fördert (komparativ zur Indienstnahme der Kirche für den Staat im Bereich der Arrnenpflege in Europa zur fränkischen Zeit). Interessant ist sowohl die Rolle der Staatstätigkeit - die offensichtlich (ähnlich wie im Karolingischen Reich unter Karl dem Großen?) mit Erlassen gewirkt hat - als auch der soziale Wandel (in der Landwirtschaft und den dortigen Besitzverhältnissen, dem Urbanisierungsprozess etc.). Schließlich kann hervorgehoben werden, dass zum damaligen Reforrnprozess zweifelsohne auch die Einrichtung von Wohlfahrtsinstitutionen gehörte: Waisenhäuser, Armenhäuser, Spitäler, ärztliche FürsorgesteIlen für Unbemittelte, öffentliche Friedhöfe, Getreidespeicher zur Vorsorge u. a. m. Die Vorbilder dazu gehen auf buddhistische Klöster zurück. Auch die private Fürsorge innerhalb von Klans nahm zu. Es liegen somit Befunde vor zur privaten Philanthropie, aber auch zum komplizierten Zusammenspiel von Klöstern, Privatphilanthropie und Staat, mit Auswirkungen auf die Institutionen des Armenhauses, der Wohltätigkeitskliniken und der Armenfriedhöfe. Nun gehört die Song-Dynastie in der (älteren) Sinologie zu den Beispielen staatssozialistischer Entwicklungen, wie man in Anlehnung an Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus in Erinnerung bringen kann. Aber gerade die Beiträge zu Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus behandeln intensiv die wechselvolle Geschichte von Zentrum und Peripherie, von kaiserlicher Verwaltung und regionaler Selbständigkeit. Hier sind neben der besonderen Bedeutung der Familie in der chinesischen Geschichte auch eine Reihe von regionalen Organisationen zu bedenken, u. a. auch Zünfte und Gilden. Neben der Monarchie und der Bürokratie kam dem Dorf eine zentrale Rolle zu. Wenngleich sich die zentrale Herrschaft sehr früh in der chinesischen Geschichte herausgebildet hat und an der Bedeutung dieser Zentralherrschaft als Kontinuitätsphänomen für eben diese 118 Linck, G.: Bürokratisierung und soziale Fürsorge im späteren chinesischen Mittelalter. Saeculum (36) 1985, 334-350.
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Geschichte Chinas nicht zu zweifeln ist, so ist doch der Blick für die Dialektik von Zentralherrschaft und Regionalität zu schärfen. Hier darf daher festgehalten werden, dass trotz dieser umfassenden Zentralgewalt das Leben des Volks weithin einer genossenschaftlichen Selbstregulierung überlassen war, und dass die Chinesen informelle Organisationen entwickelten, durch die sie ihre Angelegenheiten regelten. Hierbei sind Abstammungsgesellschaften ebenso aufzuzählen wie Zünfte. Es mag innerhalb dieser polaren Dialektik eine Asymmetrie zugunsten von Herrschaft vorgelegen haben: Abstammungsgemeinschaften bilden eine interne Hierarchie aus; und die Städte haben nie einen zu Europa vergleichbaren Grad an autokephaler Autonomie erlangt. Es mag eine Parallele zur Phase der Proto-Staatlichkeit des alten Israels vorliegen oder auch zur Rechtsorganisation noch während der Monarchie (vgl. oben in Kapitel B.U.). Dennoch blieben viele Angelegenheiten der Konsensfindung lokalen Einrichtungen vorbehalten. Innerhalb des bürokratischen Rahmens konnten quasi-private Korporationen ihre Ziele verfolgen; das Gleichgewicht zur Zentralherrschaft blieb jedoch immer sensibel. Man müsste diese Problematik bis zum aktuellen China der Volksrepublik fortschreiben. 2. Der AilIa-Verband der alten Inkas
Ein anderes Beispiel, zeitlich wie örtlich. Für die Inka-Kultur gehört die Sozialismus-These zum Themenspektrum der klassischen Diskussion. Dies ist jedoch in vielerlei Hinsicht problematisch. Während die Maya-Kultur als Priester- und Kriegerstaat definiert wird, wird das Inka-Reich in der Literatur oftmals als durchorganisierter Flächenstaat mit Straßennetz und Polizeitruppen bezeichnet. 1l9 Den ansonsten postulierten, angeblichen Inka-Sozialismus mit dem modemen Wohlfahrtsstaat zu vergleichen 120, ist ein bekannter, noch heute aktueller Kunstgriff liberal-konservativer Polemik. Die Literatur braucht hier nicht dokumentiert zu werden. Es mag ein Beispiel unzureichender Institutionenkenntnis vorliegen. Stattdessen soll nun die Hypothese einer Dialektik von vertikaler und horizontaler sozialer Politik am Beispiel der Inka-Kultur verifiziert werden. Diese Absicht könnte auch reformuliert werden als Bemühen um die Verifizierung der anthropologischen 119 Im Sampie fehlt dann nur noch das Aztekenreich. Wird man diesen Fall als tributären und Handels-Imperialismus mit fragilen, locker organisierten Zentrum-Peripherie-Mustern, der militärisch-hegemonial räumlich abgestufte Abhängigkeiten schuf, bezeichnen können? Offensichtlich stützte sich das System auch aristokratisch ab und mittels körperschaftlicher Strukturierung unterer Bevölkerungsgruppen. 120 Vgl. allerdings die Literatur zur sozialen Absicherung von Witwen und Waisen, aber auch die Annen und Alten insgesamt in vor-kolumbianischen Kulturen bei Weiler, I.: Zum Schicksal der Witwen und Waisen bei den Völkern der Alten Welt. Saeculum (31) 1980, 157-193, hier 164.
V. Weltweite Analogien zur Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft 127
Ubiquität föderaler Strukturen im Aufbau von Gesellschaften, wenngleich man sich hierbei über die Unbestimmtheit des Begriffs des Föderalismus in der fachspezifischen Debatte klar sein muss. Zu diesem Zwecke wird man maßgeblich auf die Studie von Müller-Dango 121 zur Sozialpolitik im InkaReich zurückgreifen. Müller-Dango analysiert das Inkareich als vorspanisches Peru, angereichert durch Bezüge zu historisch vorgängigen Strukturtraditionen. Der Heuristik der Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft kommt Müller-Dango doch sehr nahe, analysiert sie in ihrer Arbeit sowohl Strukturen absolutistischer Vertikalität als auch dezentral-örtlicher bzw. dörflicher Markgenossenschaften und Phratrien. In diesen verörtlichten Strukturen findet auch soziale Fürsorge statt. Die sozialpolitische Komponente im Rahmen der Vertikalität hält Müller-Dango für nur bescheiden ausgebildet. Hervorzuheben wäre allerdings eine Nahrungsmittelversorgung in Krisenzeiten. Ansonsten zeichnet sich der vertikale Herrschaftsmechanismus eher durch den internen Tributismus aus: erhoben und abgeschöpft werden Naturalien und Arbeitsdienste. Um die Befunde der Analyse von Müller-Dango systematisch zu verstehen, ist es angebracht, die von ihr vorgenommene Unterscheidung von Sozialpolitik und Fürsorge zu beachten. Sozialpolitik soll sein: staatliche oder öffentlich-körperschaftliche Veranstaltung mit Blick auf die Gesamtheit. Sie ist vertikal. Sozialpolitik wäre dann eine von drei Formen sozialer Hilfe. Sozialpolitik ist zu unterscheiden von der Fürsorge und der privaten Wohltätigkeit. Fürsorge ist die zweite Form sozialer Hilfe. Sie nimmt Bezug auf das Individuum, ist aber durchaus planmäßig und im Dienste der Gemeinschaft. Sie kann eine staatliche Veranstaltung sein, wird aber vor allem durch (z. B. religiöse) Gemeinschaften getragen. Als dritte Form der sozialen Hilfe ist die genossenschaftliche Selbsthilfe zu unterscheiden. Mit dieser Differenzierung versucht MüllerDango nun, die Eigenheiten sozialer Hilfe im Inkareich zu analysieren. Grundlegende Sozialeinheit der altperuanischen Gesellschaftsstruktur ist der Aillu-Verband (zu sehen auch im Zusammenhang mit dem Ahnenkult). Unsicher bleibt, ob es sich um eine Blutsverwandtschaft handelt. Jedenfalls liegen Eigenschaften einer dorfgenossenschaftlichen Ordnung vor, die in zwei exogene Stammeshälften (mit je einzelnen Lokalgruppen) differenziert wird. Gegenüber der Masse der gemeinfreien bäuerlichen Indianerbevölkerung nehmen die Häuptlinge eine gewisse Vorrangfunktion ein. Über diesem System war der Inkaherrscher plaziert. Die Inka waren wahrscheinlich ein adliger Eroberer- und Überlagerungsstamm. Aber die unteren Grundlagen dieses absolutistischen Regimes waren die Haufendörfer. Diese Dörfer waren gegenüber der Zentralregierung in Cuzco wirtschaftlich weitgehend selbstständig. Allerdings bewirkte das Tributsystem der Inka einen erheblichen Eingriff in die markgenossenschaftlichen Ordnungen. Diese Eingriffe \2\
Müller-Dango, A.: Sozialpolitik im Inka-Staat. Diss. Bonn. Münster 1967.
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C. Die nach-christliche Entwicklung
erfolgten über einen Beamtenapparat, der zum Inkaführer wohl auch in lehnsrechtlichen Beziehungen stand. Vor diesem strukturellen Hintergrund ist der zentrale Befund bei Müller-Dango darin zu sehen, dass, dem Subsidiaritätsprinzip verwandt, die materielle Sicherung der vom Dorfe abwesenden Arbeits- und Wehrdienstpflichtigen und ihrer Familien und die Versorgung der Alten und Kranken, Witwen und Waisen wohl dem Bereich der sozialen Hilfeleistungen seitens der Lokalgruppen zugerechnet waren. Ob die im Tributsystem enthaltenen Maßnahmen sozialpolitische Aspekte aufweisen, hält Müller-Dango dagegen für fraglich. Allenfalls handelt es sich um Maßnahmen, die im Rahmen staatlicher Vorratswirtschaft getroffen worden sind. Insofern könnten Elemente herrschaftlicher Wohltätigkeit vorliegen, wobei Müller-Dango unsicher bleibt, ob sich all dies mit sakralköniglichen Elementen mischt. 3. Zur Ethnologie transverwandtschaftlicher "eultures of relatedness" Das Material lässt sich unbegrenzt ausweiten. In der Ethnologie l22 bestehen grundlegende Kontroversen über die These der prinzipiell verwandtschaftlichen Basis der chronologisch ersten moralischen Solidarität. 123 Das Grundproblem der soziobiologischen Altruismus-Forschung ist daher die Erklärung der Erweiterung altruistischen Verhaltens auf genetisch nicht verwandte Mitmenschen. Die religionsgeschichtlichen Bezüge - etwa zum Alten und Neuen Testament - sind gegeben. 124 In der neueren ethnologischen Literatur wird zunehmend die Kategorie der "cultures of relatedness" genutzt, um die Grenzen einer verwandtschaftsethnologischen Engführung kulturanthropologisch zu überwinden. Feste und jahreszeitliche Rhythmen waren auch für die Entstehung mittelalterlicher Nachbarschaften in Europa bestimmend. Den mittelalterlichen Nachbarschaften Europas ähnlich, erwachsen in den Kulturbeispielen des ethnologischen Vergleichsmaterials die Quasi-Verwandtschaften l25 aus gemeinsamer Treuepflicht. Es kommt zu 122 Literatur zu den nachfolgenden Ausführungen finden sich in Schulz-Nieswandt, F.: Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Weiden/Regensburg 2000, 15 ff. 123 Das Problem wurde weiter oben in Abschnitten zum europäischen Mittelalter bereits als Amicitia-Phänomen behandelt. 124 Vgl. auch Mathys, H. P.: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Untersuchungen zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe (Lev 19, 18). Freiburg, Schweiz/Göttingen 1986 sowie Meisinger, H.: Liebesgebot und Altruismusforschung. Ein exegetischer Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft. Freiburg, Schweiz/Göttingen 1996. Vgl. ferner Söding, Th.: Das Liebesgebot bei Paulus. Die Mahnung zur Agabe im Rahmen der paulinischen Ethik. Münster 1991.
V. Weltweite Analogien zur Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft 129
Imitationen von leiblicher Brüderschaft durch Blutsbrüderschaft. Ein solches Übergreifen kann nun vor allem dort entstehen, wo und wenn in Nachbarschaftsbeziehungen die Verwandtschaft und die Lokalität eine Überlagerungssituation eingehen. Die ethnologische Forschung betont die Bande ritueller Zusammenarbeit infolge langer Verbindungen durch Zusammenwohnen an einem Ort. Soziale und politische Verbündung kristallisiert sich demnach aus der Residenz heraus. Die Beobachtungen richten sich daher auf die freiwilligen Assoziationen. Das Thema der Selbstorganisation auf der Grundlage nicht-verwandtschaftlicher Beziehungen spielt auch heute noch in der Entwicklungsproblematik126 eine große Rolle. 127 Als Beispiel dienen z. B. Netzwerkbildungen von Binnenmigranten in den Zielstädten. Überzeugend sind ferner die Befunde einer Studie von Schäfer128 zu den Familienformen der Mende im Südosten von Sierra Leone in Westafrika und zu den Familienformen der Kikuyu im kenianischen Hochland. Schäfer fasst zusammen: "Insbesondere die Frauen bauen Kooperationsformen auf, die weit über verwandtschaftliche Bindungen hinausreichen, jedoch in vielen Fällen an traditionelle Muster der Zusammenarbeit und Unterstützung anknüpfen. So bildet bei den Mende in Sierra Leone das verwandtschaftsübergreifende Bundwesen mittlerweile auch eine organisatorische Basis für die wirtschaftliche Kooperation und den sozialen Austausch. Ähnlich haben bei den Kikuyu in Kenia Altersgruppen, die Frauen unterschiedlicher Familien einen, Aufgaben der sozio-ökonomischen Sicherung übernommen.,,129 Weiteres ethnologisches Vergleichsmaterial kann herangezogen werden. l3O Auf "burial societies" verweist Schäfer l31 in ihrer Abhandlung zu 125 Thematisch ergänzend sei verwiesen auf Jussen, B.: Patenschaft und Adoption im frühen Mittelalter. Künstliche Verwandtschaft als soziale Praxis. Göttingen 1991. 126 Vgl. auch Ausführungen in Schulz-Nieswandt, F.: Zu einer archetypischen Morphologie der Sozialpolitik. Genossenschaft und sakrales Königtum. Weiden/Regensburg 2000, 35 f. Einige Befunde auch in Schulz-Nieswandt, F.: Zur Theorie der personalen Existenz des alten Menschen. Berlin 1996. Vgl. etwa auch Van der Geest, S.: Respect and reciprocity: Care of elderly people in rural Ghana. Journal of Cross-Cultural Gerontology (17) 2002, 3-31. 127 Vgl. auch den Beitrag von Roggenthin, H.: Informelle Sparvereinigungen von Frauen in Damaskus. Geographische Rundschau 51 (12) 1999,712-715. 128 Schäfer, R.: Die Variationsbreite traditioneller Ehe- und Familienformen. In Potthast-Jutkeit, B. (Hrsg.): Familienstrukturen in kolonialen und postkolonialen Gesellschaften. Münster 1997, 71-85. 129 Schäfer, R.: Die Variationsbreite traditioneller Ehe- und Familienformen. In Potthast-Jutkeit, B. (Hrsg.): Familienstrukturen in kolonialen und postkolonialen Gesellschaften. Münster 1997, 71-85, hier 85. 130 Morphologisch zwischen Verwandtschaftsethnologie und politischer Ethnologie der Staatsbildung angesiedelt, werden in einschlägigen Lehrbüchern der Kulturanthropologie die Phänomene der Selbstorganisation und der Selbsthilfegruppen angesprochen oder diskutiert: Haviland, W. A.: Anthropology. 8. Aufl. Fort Worth, Phil. u.a. 1997: 583 ff.; Peoples, J.lBailey, G.: Humanity. Minneapolis, St. Paul
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Schulz~Nieswandt
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C. Die nach-christliche Entwicklung
aktuellen Sicherungsgemeinschaften in Afrika. Schäfer betont eine erstaunliche morphologische Parallele solcher Risikogemeinschaften zu den Beerdigungsgenossenschaften der griechischen Antike, denn es handelt sich in beiden Fällen nicht allein um Sparvereine, sondern um die Praxis eines geselligen Lebens. Das ist auch aus der Forschung zu den mittelalterlichen Gilden als Sozialtypus ein bekannter Befund. Entscheidend bleibt die Metamorphose zu transverwandtschaftlichen Gesellungsformen. So berichtet ferner die historisch orientierte ethnologische Forschung z.B. auch über "stille Gemeinschaften", die sich zwischen dem 13. und dem 18. Jahrhundert in Mittelfrankreich fanden, und die aus verwandten und nichtverwandten konjugalen Einheiten bestanden und sich per Vertrag oder auch vertragslos (daher kommt der Name stille oder stumme Gemeinschaften) zur gemeinsamen Bodenbewirtschaftung zusammenfanden. Die Ehepartner lebten aber durchaus in eigenen Zimmern. Es wurde auch ein "Schulze" gewählt. Tisch- und Herdgemeinschaft waren konstitutiv. Campbell 132 hat in seiner klassischen Studie über menschliche Gemeinschaften in den griechischen Bergen ebenfalls beschreiben können, wie sich die Familie (als Archetypus der sozialen Gruppierung) transformiert zur politischen Artifizialität eines Patronagesystems. Politisch ist dieses Phänomen insofern, als dadurch die Verknüpfung lokaler Gemeinschaft mit der Ebene der nationalen Gesellschaft geleistet wird. In dieser Studie zeigt sich, wie stark das antike Kulturerbe in diesem Raum noch neuere Sozialstrukturen geprägt haben. Ohne hier das Schrifttum weiter auszubreiten, darf auch auf Studien verwiesen werden, die für asiatische Regionen ähnliche Analysen des Verhältnisses von städtischen Zentren und ländlichen Regionen vorgelegt haben, wobei die Spannung zwischen politischer Zentralhegemonie und dezentraler Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Ein Thema, das vergleichend einerseits an den europäischen Feudalismus erinnert, andererseits auch an das heutige China.
u.a. 1954, 289, 231 f.; Harris, M.: Kulturanthropologie. Frankfurt am Main/New York 1989, 212 f. ("Assoziation auf nichtverwandtschaftlicher Grundlage: Solidargemeinschaften (Bünde)"). 131 Schäfer, R.: Ansätze und Grenzen der sozialen Sicherung in Zimbabwe. NordSüd-Aktuell (1) 1998, 136-143, hier 142. 132 Campbell, J. K.: Honour, Family and Patronage. A Study of Institutions and Moral Values in a Greek Mountain Community. Oxford 1964,259.
D. Destillate und offene Fragen einer Theorie des Ursprungs von Herrschaft Was sind die abstrakten Erträge der vorliegenden Studie, ohne eine detaillierte Zusammenfassung vorzulegen? Die vorausgegangenen Kapitel haben institutionen-, verhaltens- wie psychoarchäologisch versucht, die Urformen (im Sinne von Archetypen) sozialer Politik - Sakralkönigtum und Genossenschaft - und deren Wandlungen in der Geschichte zu rekonstruieren. Damit stellt diese sozialpolitikwissenschaftlich motivierte Abhandlung einen Beitrag zur kulturellen und sozialen Anthropologie dar, umgekehrt auch einen Beitrag einer strukturalen Anthropologie, die die grundlegenden Vektoren der sozialen Klassifikationssysteme und der sozialen Gesellung herausarbeitet, zur Geschichte der sozialpolitischen Formen. Herrschaft und Genossenschaft - das ist das binär codierte Spektrum der institutionellen Formen, in denen soziale Politik betrieben werden kann. Diesem Formenspektrum korreliert - hier knüpft der Verfasser an die (auf Multi-Disziplinarität als Bezugssystem des Faches der Sozialpolitik als Wissenschaft abstellenden) Ausführungen im Vorwort an - mentalitäts geschichtlich der homo hierarchicus und der homo cooperationis; dieses Formspektrum hat seine sozialräumlichen, architektonischen und symbolischen sowie kognitiven Korrelate. Vertikalität und Horizontalität, Innen und Außen (Inklusion und Exklusion) determinieren diese beiden Praxisformen und Orientierungssysteme. In der Fürsorge und im sozialen Versicherungswesen wirken heute noch der proskynetische und der ekklesiatische Archetypus der Hilfe und der Risikobewältigung als Formen sozialer Figuration von Menschen fort. Die sakralkönigliche Barmherzigkeit, die sozialpolitikgeschichtlich das Christentum als Kind des vorderen Orients ausweist, bezeichnet die Urform vertikaler Sozialpolitik, die sich an der staatlichen Herrschaft knüpft; das Gemeinschaftsmahl dagegen bezeichnet die Urform der horizontalen Sozialpolitik, die sich am Genossenschaftsprinzip der Hilfe auf Gegenseitigkeit knüpft. Asymmetrie und Symmetrie sind die geometrischen Korrelate dieser beiden Archetypen der Hilfe und der Vergemeinschaftung. Öffentliche Speisungen als Inszenierungen "von oben" verkörpern den Gabemechanismus, wie er im morphologischen Rahmen der Herrschaft vorkommt; die Mahlgemeinschaft, die zur Tischgenossenschaft wird und ihren evolutionären Ursprung im häuslichen Feuerherd findet, stellt die authentische Form der reziprozitätsorientierten Moralökonomik dar. Hirt und Herde - das ist die Urmetapher der orientalischen Herrschaftsweise, die sich interpersonal an 9*
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D. Destillate und offene Fragen
einer asymmetrischen sozialen Dyade festmacht; Bruderschaft oder Freundschaft, das sind die eher natürlichen oder künstlichen Urmetaphern einer Tischgemeinschaft. 1 Die Etablierung einer alttestamentlichen Ideologie der barmherzigen Armenfürsorge realisierte sich in Europa, als im Frühchristenturn sich liturgiegeschichtlich die Eucharistiefeier von der Mahlgemeinschaft trennte, sich die Armen- oder Witwenagape verselbständigte und eine Form des Gottesdienstes isolierte, der wiederum von der strikten Trennung von Amt und Publikum lebte. Die komplexer werdende Gesellschaft konnte nicht mehr genossenschaftlich aufgebaut sein. Die christliche Gemeinde wurde der staatlichen Herrschaft eingegliedert. Dann konnte aber auch ihr Herzstück, der Gottesdienst, nicht mehr als tatsächliche Mahlgemeinschaft zelebriert werden. Die Arbeitsteilung und die liturgische Reinigung vom Profangehalt einer auch sozialpolitisch relevanten Mahlgemeinschaft reproduzierten die neue Ordnung der politischen Herrschaft liturgisch und dann auch architektonisch. Die mahlgemeinschaftliche Eucharistiefeier ähnelte stattdessen frühgriechischer Tischgenossenschaft und kannte nur Freie und Gleiche als Mitglieder einer Koinonia. Die nach-exilische Gemeinde Israels stand in ihrer deuteronomisch-deuteronomistischen Sozialverfassung der Mahlgemeinschaft ideologisch näher als die spät-vorexilische Monarchie mit ihren zugespitzten Sozialproblernen, während sich die Umrisse einer primitiv-demokratischen Phase einer vor- und protostaatlichen Gesellschaft nur schwer rekonstruieren lassen. Vielleicht mag diese vor-staatliche Zeit dem isländischen hreppr der Freistaatszeit ähneln. Oder sie mag an die Siedlung in Osteria dell'Osa in der frühlatinischen Phase der frühen Eisenzeit (900-830 c. ehr.) erinnern, die in der vorliegenden Abhandlung mit Bezug auf die Ausgrabungsbefunde von Bietti Sestieri angesprochen worden sind. Hier findet sich eine zentrale Familiensolidarität, eingebettet in das ganze Dorf. Die soziale Differenzierung war nur gering ausgebildet; Alter und Geschlecht waren wohl entscheidend. 2 Religiöse Spezialisten mag es gegeben haben. Die soziale Differenzierung wuchs auch allmählich an. Dabei mag der Außenhandel mit Luxusgütern eine grundlegende Rolle gespielt haben. Dies könnte auf eine Prestigegüter-Öko1 Im Kontext dieser frühen (vor-staatlichen) "alttestamentlichen" Gesellschaft kristallisierte sich in der vorliegenden Studie die These von der morphologisch-terminologischen Substitution von Verwandtschaft durch Lokalität, von Klan und Stamm durch die Moralökonomie bäuerlicher Siedlungsformen. Ansatzweise finden sich derlei Überlegungen schon bei Munch, P. A.: Verwandtschaft und Lokalität in der Gruppenbildung der altisraelitischen Hebräer. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (12) 1960, 438-458. Vgl. auch Scott, J. C.: The Moral Economy of the Peasant. New Haven/London 1976. Zu einer skeptischen Umgangsweise mit Klan- und Stamm-Kategorien sprechen auch die siedlungsarchäologischen Funde: Kellenberger, E.: Die Besiedlung des zentralpalästinischen Berglands zur Eisen-I-Zeit. Theologische Zeitschrift 53 (3) 1997, 177-194, hier 188. 2 Vgl. auch Rüpke, J.: Die Religion der Römer. München 2001, 54.
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nomik verweisen, die eine soziale Stratifikation eingeleitet hat, wobei eine Parallele auch zur Dorfkultur der Obed-Zeit (spätes 6. bis beginnendes 4. Jahrtausend v. Chr. in Süd- und Nordmesopotamien sowie an der Südküste des Persischen Golfes) bestehen mag? In diesem Lichte wird die antike Dynamik des Euergetismus sozio-genetisch nicht unplausibe1. 4 Jedenfalls war die genossenschaftsartige Phase des frühen Christentum kollektivpsychisch eine liminale Situation, die angesichts der Komplexitätszunahme - alles andere wäre reiner Romantizismus - kaum dauerhafter Natur sein konnte und am Charisma der Gründerzeit gebunden bliebt. Dieser statuspassagenethnologische soziale Tatbestand bestätigt mit Blick auf die politische Organisationsgeschichte allerdings auch den in vielen Kapiteln auftauchenden Befund des Phänomens funktional verwandter Formen auch der Euergetismus im Übergang zur Herrschaft ist hier zu nennen5 eines Big Man oder des Chief im Übergang zur Staatlichkeit und der staatlichen Herrschaftsordnung. Ob deshalb das politische Chiefdom ein evolutiv zwingendes Bindeglied zwischen relativ egalitären horizontal strukturierten Netzwerkgesellschaften einerseits und der zentralisierten staatlichen Herrschaftsform andererseits gelten muss, darf angesichts der ethnologisch nachgewiesenen Vielfalt der Entwicklungspfade weiterhin offen bleiben. 6 Wenn im Euergetismus eine Übergangsform zwischen der gemeindlichen Selbstverwaltung und der Herrschaftsideologie gesehen wird, dann liegt es nahe, im klientilistischen Patronage-Phänomen (nicht aus dem Potlatsch hervorgehend, aber in den Wurzeln diesem Phänomen wiederum verwandt) ein evolutorisches Bindeglied zwischen einer stärker egalitäreren Reziprozitätsökonomik horizontaler Verflechtungszusammenhänge einerseits und einer zur sozialen Stratifikation neigenden herrschaftlichen Organisation von Gesellschaft andererseits zusehen. Verknüpft werden könnte diese Perspektive, die gleich nochmals aufzugreifen ist, mit einer Theorie der charismatischen Herrschaft, die wohl für die Analyse archaischer Gesellschaften wichtig ist. 7 3 Vgl. Bembeck, R.: Die "Obed-Zeit": Religiöse Gerontokratien oder Häutlingstümer. In Bartl, K. u. a. (Hrsg.): Zwischen Euphrat und Indus. Aktuelle Forschungsprobleme in der Vorderasiatischen Archäologie. Hildesheim u. a. 1995, 44-56, hier 49. 4 Vgl. auch Rüpke, J.: Die Religion der Römer. München 2001, 77. 5 Eine gewisse Nähe zur sakralen Weihe ist noch zu spüren, ohne gleich zur Apotheose zu werden. Motivational - mit Blick auf ein Sozialpolitisierungspotential des Mitleides - liegen hierbei ldiopathie und Sympathie (als ichbezogener Schmerz und als Offenheit für die andere Person) eng zusammen; Eigennutz und Gemeinwohlorientiertheit (Aufwendungen für die res publica) schließen sich nicht aus. Ruhm hatte in der Antike diesen Gemeinschaftseffekt. 6 Breuer, St. Der Staat. Reinbek bei Hamburg 1998. 7 Vgl. auch Breuer, St.: Der archaische Staat. Zur Soziologie charismatischer Herrschaft. Berlin 1990.
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In einem vergleichbaren Sinne hat schon Morenz das alte Ägypten aus einer Prestigegüterökonomik heraus entwickelt verstanden. 8 Bündische Assoziationen9 können, so Hess lO , nicht die Grundlage der herrschaftlichen Staatsbildung sein, denn diese Assoziationen sind tendenziell egalitärer Natur; auch nicht das sakrale Häuptlingsturn 11, denn der Häuptling ist nur primus inter paresY Im Lichte der Darstellungen der vorliegenden Arbeit wird man wohl dazu sagen können: Die politische Herrschaft eines (sakralen) Zentralstaates kann eine bündische Assoziation ablösen; und sie kann vermittelt sein über die Bildung eines proto-staatlichen Häuptlingsturns die Entwicklung muss aber so nicht ablaufen. Ein Baustein einer evolutorischen Übergangslogik könnte dagegen das Patronage-Phänomen sein. Dies hat Burkolter-Trachsel darlegen können. 13 Patronage-Systeme dienen der Generierung von sozialer Sicherheit; die konkrete Form ist aber von weiteren Variablen abhängig. Dabei spielt - und das bestätigt die Sichtweise der strukturalen Anthropologie binärer sozialer Klassifikationen und der Korrelate einer entsprechenden epistemologischen Anthropologie des jeweils historisch vergesellschafteten Menschen - der Code von Horizontalität oder Vertikalität eine konstitutive Rolle. 14 Auch die in der Theorie des homerischen Gesellschaftstyps - aber auch in der alttestamentlichen Debatte - so wichtigen mental-habituellen Kategorien des Schams und der Ehre sind wohl mit-konstitutiv für Patronagesysteme. Ausschlaggebend für die Durchsetzung von Patronage ist die "Schwäche" einer Gesellschaft. Zu dieser Schwäche zählt - allerdings nahe an einer Tautologie - das Fehlen eines zentralen institutionellen Zusammenhalts. 15 Für den vorliegenden ForMorenz, S.: Prestige-Wirtschaft im alten Ägypten. München 1969. Vgl. Mac/ver, R. M.: The Modem State. London 1926 sowie Lowie, R. H.: The Origin of the State. New York 1961. 10 Hess, H.: Die Entstehung zentraler Herrschaftsinstanzen durch die Bildung klientelärer Gefolgschaft. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (29) 1977, 762-778, hier 765. 11 Vgl. Nachtigall, H.: Das sakrale Königtum bei Naturvölkern und die Entstehung früher Hochkulturen. Zeitschrift für Ethnologie (83) 1958, 34-44. 12 Hess, H.: Die Entstehung zentraler Herrschaftsinstanzen durch die Bildung klientelärer Gefolgschaft. Kö1ner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (29) 1977, 762-778, hier 765. 13 Burkolter-Trachsel, V.: Strukturelle Bedingungen für das Entstehen und die Transformation von Patronage. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 3 (1) 1977,3-30. 14 Vgl. auch Fikentscher, W.: Modes of Thought. A Study in the Anthropology of Law and Religion. Tübingen 1995, insb. die graphischen Patterns auf 187 ff. 15 Hier liegt eine Parallele zur Feudalismus-Erklärung von M. Bloch (Die Feudalgesellschaft. Frankfurt am Main 1982, 178 f.) vor. Bloch sah die Feudalgesellschaft in Korrelation zu der Erosion und der beschränkten Wirksamkeit der Schutzbeziehungen auf der Grundlage der Blutsbande und der verwandtschaftlich definierten Sippschaften. Eine Korrektur - parallel zur alttestamentlichen Sozialgeschichte und 8
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schungsgegenstand bedeutet das: Wenn vor-staatliche (und in diesem Sinne "schwache") Systeme tendenziell egalitär und reziprozitätsorientiert sind, agonal-maskuline Verhaltensmuster aufweisen, mithin in patriarchalische Sozialstrukturen eingebunden sind, dann kann die kollektive Suche nach sozialer Sicherheit in einen Patronage-Klientelismus-Komplex münden, der dann in der weiteren Entwicklung im Neben-, Mit- oder auch Gegeneinander zur Staatlichkeit, die dennoch aus weiterem Modernisierungsdruck entstehen mag, stehen wird. Eine zweite Linie einer evolutorischen Übergangslogik mag in der Kette Opferpraxis - Abgaben - Steuerwesen begründet liegen. Sie konnte nicht näher verfolgt werden 16, wenngleich mit Bezug auf das alttestamentliche Material einige Andeutungen möglich wurden (insbesondere mit Blick auf den Armenzehnten und die Unterstützung der Leviten). Angesichts des Sicherheitsbedürfnisses des Menschen ist es aber nicht erstaunlich, wie sich kulturell allmählich passende Ressourcendistributionsströme entwickeln, sowohl in der Beziehung zwischen Mensch und Gott wie in der zwischenmenschlichen Beziehung. Die Schließung eines Bundes des Nehmens und Gebens stellt eine frühe, archetypische Kulturerrungenschaft dar, aus der sich dann ein erstes Versicherungswesen und verfeinerte Vertragsideen entwickeln konnten. Auch die inter-temporale Perspektivität des Menschen entfaltete sich wohl in dieser Bahn: Es wurde eine Vorratswirtschaft entwickelt. Zum Fortschritt in der Produktion gesellte sich die Entwicklung eines Distributionssystems. Teilen, Geben und Nehmen stehen am Anfang der Kulturgeschichte des Menschen. Der Beginn des Menschen als homo socialis oder homo culturalis zentrierte sich um die gemeinsame häusliche Herdfeuerstelle: Zur Gemeinschaft gehörte, wer am Herdfeuer saß. Aus dem religiösen Opfer erwuchs die soziale Gemeinschaft des Menschen. Evolutionär war somit Genossenschaft vor der Herrschaft. Aber Genossenschaftlichkeit war nicht romantisch. Die Möglichkeit der Überschusserwirtschaftung entfesselte nicht nur die Differenzierung der Geschlechtsrollen, sondern wiederum in Parallelität zur Polis-Entstehung (dazu nochmals Schmitt-Pantel, P.: Collective Activities and the Political in the Greek City. In Murray, O./Price, S. (Hrsg.): The Greek City. Oxford 1990, 199-213) - wäre hier nur anzubringen gegenüber der überzogenen Auffassung der biologischen Verwandtschaft, so wie es im Kontext der modernen Afrikanistik auch heißt: "it is important to realize that kinship is an idiom which people use to refer to their social ties. It does not always refer to biological descent in the strict sense." (McCall, J. C.: Social Organization in Africa. In Martin, Ph.M./O'Meara, P. (Hrsg.): Africa. 3. Aufl. Bloomington/London 1995, 175-189, hier 181), eine Kontroverse, die die Frage der Politikforschung in der Afrikanistik immer schon beschäftigt hat (vgl. auch Mair, L.: Primitive Government. A study of traditional politicial systems in Eastern Africa. Bloomington/London 1977, 13 ff.). 16 Vgl. auch Schultz, U. (Hrsg.): Mit dem Zehnten fing es an. Eine Kulturgeschichte der Steuer. 3. Aufl. München 1992.
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auch die Produktion des sozialen Status und somit die symbolische Relevanz der Prestigegüter-Ökonomik. Aus ihr mag politische Herrschaft erwachsen sein. Wie dem auch gewesen sein mag. Im frühen Christentum konnte anfangs noch ein Haus den räumlichen Rahmen der Mahlgemeinschaft abgeben; als die herrschaftliche Hierarchie in die soziale Figuration der Christen Eingang fand, wurden erst basikale, später dann kathedrale Korrespondenzformen der liturgischen Herrschaft in der Architektur gefunden. Der horizontale Blick in der face-to-face-Figuration wandelte sich zum vertikalen Blick "von unten nach oben". Dies folgte aus der Machttechnikmodemisierung der römischen Kaiserherrschaft, folgte aber auch aus dem endogenen Drang des Christentums zur kirchlichen Dogmatik. Der Vertikalisierung der Visualität korrespondierte als kommunikationsmediale Veränderung die Dominanz des Hörens gegenüber dem Sehen im Vergleich zur Konstitutivität des Sehens in der Polis 17, der sich das Hören des Chores dramaturgisch integrierte. So passten diese kognitiven Umorientierungen durchaus zum mittelalterlichen Entwicklungspfad, der bei aller Polyzentrik und trotz der dezentralen Örtlichkeit die Vision einer großräumigen Reichsorganisation zu realisieren versuchte. Das frühe Christentum war hybrider Grenzgänger des orientalischen und des griechischen Prinzips der Gesellung und der sozialen Politik, ein Mischgebilde, das durch die Kulturvielfalt des langen graecoromanischen bzw. hellenistischen Kontextes möglich wurde, bevor sich das christliche Europa im kaiserherrschaftlichen Milieu der Spätantike eher zum hierarchischen Typus sozialer Ordnung entschied, wenngleich die Formen horizontaler Vemetzung nie gänzlich verloren gingen, ja diese Formen die Herrschaft oftmals genossenschaftlich einbinden oder begrenzen konnten. Auf Einzelgebildeebene (der Sozialtypus der Gilden) oder in Form der Kommunalität gehörte das Genossenschaftsprinzip immer mit zur strukturalen Identität Europas. Formen der europäischen Grundherrschaft, am meisten bekannt in der Form des Lehnsfeudalismus, das römische PatronageKlientel-System, der hellenistische Euergetismus, das altassyrische staatspolitische Vertragswesen, an dem sich der deuteronomische Bundescharakter orientierte, all das sind Formen vertikal-asymmetrischer Herrschaft, die durch das Implikat eines Vertragswesens und der Verpflichtung auf Gegenseitigkeit ein genossenschaftliches Element noch inkorporierten und somit einem demokratischen Legitimationsgedanken den Weg bahnten, wenn auch verschlungen und keineswegs zwingend. Das Gegenseitigkeitsprinzip setzt aber die Personalisierung der beiden dyadischen Interaktionselemente voraus - dies scheint eine Variante der Herr-Knecht-Dialektik bei Hegel zu sein. Löste somit - dargelegt in der neo-evolutionären Politiktheorie, die in 17 Wobei aber bereits die Wahrnehmungsepistemologie der römischen Anthropologie Sehen und Hören differenzierter vermittelte.
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den Befunden der politischen Ethnologie und Anthropologie gründet - das Herrschaftsprinzip im Zuge der wachsenden sozialen Komplexität das Genossenschaftsprinzip überall ab, so bleibt das Genossenschaftsprinzip immer verborgen vorhanden und kristallisierte sich im weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte immer mehr zu einem strukturalen Gegenüber zur Herrschaft. Beide Formen der Gesellung wie der sozialen Politik stehen seitdem im immer wieder geschichtlich wechselnden Mit-, Neben- und Gegeneinander. Ein großer Teil der heutigen, weltweiten Entwicklung moderner Gesellschaften als variantenreiche Verknüpfungen von Rechtsstaatlichkeit, formaler Demokratie, Kapitalismus, Zivilgesellschaft und Sozialstaatlichkeit mit entsprechenden personalen Standards an Einstellungen, Wertorientierungen und Verhaltensmustern, wie sie von der empirischen Demokratieforschung bzw. von der Entwicklungs-, Transitions- und Transformationsforschung thematisiert werden, leben letztendlich von dieser Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft und verifizieren eigentlich nur die generative Tiefengrammatik der strukturalen Vektoren, die die vorliegende Arbeit destillieren half. Es handelt sich um das Alphabet der politischen Geschichte; wie sich allerdings die Buchstaben (zu Wörtern, zu Sätzen und schließlich zu den Geschichten) jeweils zusammenfügen, ist indes im Rahmen einer strukturalen Anthropologie nicht erklärbar. Aus dem narrativen Material dessen, was man enzyklopädisch den Geschichtsprozess nennt, müssen weiterhin erst die zentralen relevanten von den marginalen oder gar irrelevanten Faktoren getrennt gewonnen werden, um zu erklären, wie es so kam, wie es gekommen ist. Die strukturale Anthropologie der elementaren Vektoren der Gesellung und der sozialen Politik erklärt nicht die konkrete Geschichte einzelner Jahrhunderte; aber in den einzelnen Jahrhunderten ringen immer Herrschaft und Genossenschaft miteinander bzw. sind eine vorübergehende Lösung eingegangen. Der binäre Code von Herrschaft und Genossenschaft stellt somit eine Schlüsselperspektive zur Rekonstruktion menschlicher Organisationsgeschichte und der darin eingebetteten Formen der sozialen Daseinsbewältigung angesichts von Risikolagen, Vulnerabilitätsprofilen und letzten Wertfragen der menschlichen Existenz dar. Soziale Politik erscheint somit gesellungssoziologisch jeweils eingebettet und erweist sich als conditio humana. Ihre konkreten Ausgestaltungsformen allerdings stellen keine Fragestellung der strukturalen Analyseebene dar, sondern eine solche der historischen Zeit und des konkreten sozialen Raumes. Allerdings ist immer wieder zu vergegenwärtigen, dass sich die verschiedenen Modalitäten der Zeit verschachteln: Die individuelle Lebenszeit, die Zeitgeschichte und die lange Dauer gehen vor der strukturalen Hintergrundsfolie der allgemeinen Vektoren menschlicher Existenz eine komplexe Interaktion ein, die man als Verschachtelung mehrerer Zeitebenen verstehen kann. Interaktion schließt ein Einbahnstraßensystem der Wirkungsweise zwischen den Zeitebenen aus; nur so ist eben auch sozialer Wandel mög-
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lieh. Das Individuelle ist eine Ausprägung der kollektiven und kollektiv vererbten Emergenz des Sozialen; aber das Soziale emergiert aus dem System des figurativ vernetzten Individuellen. Vererbung und Mutation, Tradition und Wandel schließen sich so nicht aus, sondern stellen nur abstrakt trennbare Dimensionen eines ganzheitlichen Prozesses in der Zeit dar, dessen Komplexität aber derart hoch ist, dass die geschichtswissenschaftlichen Versuche, diese Abläufe rekonstruktiv sinnhaft zu verstehen und dadurch ursächlich zu erklären, immer Raum lassen werden für Kontroversen. Der Blick auf die kollektivmenschliche Geschichte muss daher immer der distanzierte, aber um Involvierung bemühte Blick des Ethnologen sein. Dieser ethnologische Blick auf die kollektivmenschliche Geschichte Phylogenese wäre zu viel behauptet - hat aber offensichtlich einen Zentralmechanismus des Prozessantriebes kristallisieren helfen. Die Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft ist eine Erscheinungsform eines allgemeiner formulierbaren Kommunikationsprozesses, der pathologische Typen hervorbringen kann. Das Gegen-, Mit- und Nebeneinander von Herrschaft und Genossenschaft ist erst vor dem Hintergrund der allgemeinen Matrix zu verstehen, die in Anlehnung an die Schismogenese-Theorie von Gregory Bateson l8 als eine von Bipolaritäten geprägte Typologie der Verhältnisformen der Konkurrenz/Rivalität, Kooperativität und Komplementarität darlegbar ist. 19 Das war der Anspruch einer strukturalen Anthropologie: durch die Aufdeckung einfachster, aber elementarer Systeme der Wirklichkeitskonstruktion des menschlichen Geistes, der kollektiv dem Menschen eigen ist, den Übergang zu den kulturellen Institutionalisierungen zu finden: zu den Formen der menschlichen Figuration. Deshalb sind Herrschaft und Genossenschaften zugleich Gesellungsformen (in denen Modalitäten der sozialen Hilfe und des sozialen Risikomanagements eingebettet, ja codiert sind) und elementare Formen sozialer Klassifikation des menschlichen Geistes und replizieren sich verhaltensrelevant auf der Ebene der symbolischen Praxis, der Mentalität: der Haltung, der Gestik, der Rituale, der Zeremonien und Kulte, der Sprache, der Architektur usw. Explizit muss aber herausgestellt werden, dass auf dieser Ebene die vorliegende Arbeit keine Erklärung für viele Prozesse gibt, sondern nur eine begriffliche Fassung auf einer allerdings explikativ relevanten Ebene der Rekonstruktion. Die Arbeit konnte nicht klären, wie im Kontext einer Proto-Staatlichkeit staatliche Herrschaft 18 Bateson ist vom Verfasser bereits rezipiert worden in Schulz-Nieswandt, F.: Studien zur strukturalen Anthropologie sozialer Hilfeformen und sozialer Risikogemeinschaften. Regensburg 2000 (vgl. dort Kapitel 2 und 3). Über die Theorie binärer Codes hat diese Rezeption auch eine Reihe von Studien des Verfassers zur Gerontologie beeinflusst. Zu Bateson jetzt auch Lutterer, W.: Gregory Bateson. Eine Einführung in sein Denken. Heidelberg 2002. 19 Vgl. in Bateson, G.: Ökologie des Geistes: Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt am Main 1985.
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tatsächlich entsteht bzw. entstanden ist. Die Arbeit hat aber die Genossenschaftlichkeit als nicht-verwandtschaftlichen Sozialtypus der Hilfe auf Gegenseitigkeit als Konzeptbegriff zur Klärung der Sozialstruktur der ProtoStaatlichkeit anbieten können. Die Analyse vennutet, in der Entstehung von Vertikalisierungen derartiger Horizontalgebilde der Gegenseitigkeit - also in der Entstehung von Re-Distributionsphänomenen - die Übergangslogik zur politischen Herrschaft20 verorten zu können. Die empirische Belegstruktur kann aber nur aus Fallstudien stammen. Sommer hat in seiner Studie zur Korruptionspraxis im ländlichen Benin21 allerdings schlussfolgern können, dass die Forschung noch weit von einer allgemeinen Theorie der Entstehung re-distributiver Prozesse und Strukturen entfernt ist. Die zunächst plausible Theorie, wonach sich auf Meso- und Makroebenen solche Modelle der Macht reproduzieren, die Menschen auf der Mikroebene im Kontext ihrer Sozialisationsprozesse erlernen, lag im Fall der grundlegenden Gegenstandsachse, die die vorliegende Arbeit voraussetzte, nahe: denn sowohl die "alttestamentliche" wie die ,,homerische" Gesellschaft (im Sinne von Teil B.) wiesen in ihrer Oikos-Zentriertheit der bäuerlich-nachbarschaftlichen Reziprozitäts- bzw. Moralökonomik im Kern patriarchalische Strukturen auf. Aber eine Kultur der maskulinen Dominanz im figurativen Kontext eines strengen Rollendualismus, wie er in Griechenland durch den Dualismus 22 von Hestia und Hennes mythologisch nochmals bipolar codiert worden ist, und der - trotz der widergelagerten Befunde einer feministischen Bibelexegese und ikonographischen Archäologie - auch alttestamentlich gegeben ist, ist nicht allein typisch für frühe Agrargesellschaften. Sicherlich: Das griechische Prometheus-Mythologem zählte die Kultur des Getreideanbaus zu den Existentialnöten, die aus der Büchse der Pandora auf die Menschen übergekommen sind und auch alt- wie neutestamentlich ist harte Arbeit die (deutlich ambivalent erfahrbare) Daseinsart des Menschen; und (soweit der Verfasser 3 hier das ethnologische Material überhaupt überblickt) indianische Jägergesellschaften kennen solche psycho- und verhaltenshistorisch relevanten Mythologeme der Arbeit wohl 20 Vgl. etwa auch Von Trotha, T.: "Streng aber gerecht" - "hart aber tüchtig". Über Formen von Basislegitimität und ihre Ausprägungen am Beginn staatlicher Herrschaft. In Möhlig, J. G./Von Trotha, T. (Hrsg.): Legitimation von Herrschaft und Recht. Köln 1994,69-90. 21 Sommer, J.: Unterschlagen und Verteilen. Zur Beziehung von Korruption und sozialer Kontrolle im ländlichen Benin. Frankfurt am Main/New York 2001. 22 Vgl. als Versuch einer diesbezüglich allgemeinen Theorie Meillassoux, c.: "Die wilden Früchte der Frau". Über häusliche Produktion und kapitalistische Wirtschaft. Frankfurt am Main 1983. 23 Aufbauend auf einigen (noch nicht zur Veröffentlichung gereiften) Studien des Verfassers zur kollektiven Psychomythologie der modernen Arbeits- und Konsumgesellschaft.
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nicht. Aber: Maskuline Dominanz knüpft sich nicht nur an solchen Agrargesellschaften im Übergang zur Hochkultur. Der angeführte Bateson hat in seiner bekannten ethnologischen Feldstudie bei den Iatmul, einem Kopfjägerstamm auf Neuguinea, die er in den Jahren 1929 bis 1934 in zwei Episoden durchführte 24 , zeigen können, wie "klassisch-modem" die beiden Geschlechter rollenmäßig (Jagen und geheime Zeremonien als Domäne der Männer, Haushalt, Kindererziehung und Nahrungsversorgung als Domäne der Frauen) und sozialräumlich (Aufteilung der Dörfer in eine patrilineare und matrilineare Hälfte - ein Befund der siedlungsstrukturellen Doppelung bzw. Teilung, der etwa auch aus der genossenschaftsorientierten Forschung von Phratrien bei den Pueblo-Indianern bekannt ist) organisiert und definiert sind. Eine Interpretation bietet sich hier allerdings an. Wenn Männer zunächst dominant die soziale Außenwelt besetzen, agieren sie - im Gegensatz zur Oikos-zentrierten Innenwelt der Frauen - überwiegend nicht im Terrain der Kooperativität, sondern der Konkurrenz und der Rivalität, und diese präjudiziert die Neigung zum Dominanzverhalten, denn in diesem Terrain gibt es ex definitione Sieger und Verlierer und dort, wo die Ebene des Marktes zugunsten der Ebene der Politik verlassen wird, gibt es ex definitione Herrscher und Beherrschte. Die Möglichkeit einer "Mikropolitik" auch in der Familie widerspricht dieser Interpretation nicht, denn die Familie ist nicht eine völlig abtrennbare Gegenwelt zum Außenterrain der Männer. Die Theorie von der emotionalen Gegenweltfunktion der Familie verweist vielmehr auf das verborgene Anima-Bedürfnis des Mannes und verweist damit zugleich auf die Pathogenität einer allein und dominant außenorientierten Lebensführung, modem: auf die Pathogenität der Erwerbsarbeit als "Arbeitssucht" und auf die psychosomatische Pathogenität spezifischer (heute offensichtlich durchaus verbreiteter) Organisations- und Führungsmilieus. Durch spezifische gesellschaftliche Wertbesetzungen der Arbeitswelt und im Zusammenhang mit der Privatisierung der weiblichen Rolle, wie sie sozialdisziplinarisch im viktorianischen Kontext "von oben" durchsickernd für alle soziale Schichten normiert worden ist (wie die historische Familienforschung für Europa zeigen konnte), wird die - ökonomische und politische - Außenwelt als maskuline Domäne etabliert, und deshalb ist heute maskuline Dominanz eine allgemeine Erscheinung. Der Mann ist immer noch Jäger, Krieger und der von ihm ausgeübten Markthandel ein zivilisierter Kampf. Kinder- und jugendsoziologische Forschungen25 belegen nach wie vor, dass die Sozialisationserfahrungen von Mädchen in der Freizeit 24 Vgl. Bateson, G.: Naven. A Survey of the Problems suggested by a Composite Picture of a New Guinea tribe drawn from Three Points of View. 2. Aufl. Stanford 1958. 25 Vgl. Comeließen, W. u. a.: Junge Frauen - junge Männer. Daten zu Lebensführung und Chancengleichheit. Eine sekundäranalytische Auswertung. Opladen 2002, 135 ff.
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mehr haushaltsbezogen und auf frauenspezifische Konsumtionsmuster (Einkaufen mit einer Freundin) bezogen sind; Jungen verbringen die Freizeit in stärker multifunktionellen Erfahrungsfeldern ihrer Altersgruppen, wodurch sie früher, leichter und zielgerichteter auf die Außenrollen der späteren ökonomischen und politischen Sphären orientiert werden. Die modeme (angeblich universalistische, auf Bildungserwerb beruhende) Leistungs- und Statusaneignungsgesellschaft erzieht ihre Kinder offensichtlich immer noch als Hermes und Hestia. Natürlich - die Frauen erodieren den Rollen- und Sphärendualismus. Aber die Konflikte, die sich hieran knüpfen, beweisen nur den Domänencharakter der maskulinen Räume. Und die These von der Vermännlichung weiblicher Manager und Politiker repliziert diesen Befund in erstaunlicher Mehrdeutigkeit und ideologisch in pragmatischer Polyvalenz. Diese Ausführungen, beginnend mit der These über den Oikos-Patriarchalismus als Ursprung staatlicher Herrschaft in (ursprünglich agrarischen) Possessivgesellschaften, findet also keine Antwort auf die gestellte Frage, demonstrierte aber, wie sich Kategorien einer strukturalen Anthropologie (hier: binäre Klassifikationen) mit tiefenpsychologischen Analyseinstrumenten (hier: Anima-Bedürfnis) und soziologischen Forschungsbefunden (hier: Freizeitsozialisation von Mädchen) verbinden können, um soziale Phänomene einer Klärung näher zu bringen. Die Ausführungen des Verfassers sind nur scheinbar abgeschweift. Die Beobachtung, um ein weiteres Beispiel heranzuziehen 26, dass sich nämlich noch heute der "männliche Habitus" schwer tut mit der (keineswegs machtfreien) als "mütterlich" codierten (privat-häuslichen wie professionellen) Pflegerolle27 , aber nicht mit der Rolle des homo faber in der Welt der Technik (als Herrschaftsmodus über die Natur, auch in der Medizin), zeigt nur, wie weit die Wissenschaft noch von der Erklärung des Ursprungs von Herrschaft und Macht ist. Die vorliegende Arbeit versuchte einen Beitrag zur historischen Phänomenologie von Gesellungsformen und von elementaren Modalitäten sozialer Politik zu leisten und erwies sich zugleich als ein Stück Psychohistorie und als Geschichte habitueller Grundformen. In den phänomenologisch vielfaltigen Formen der Zivilgesellschaft kehrt heute thematisch das Kontrastprogramm zu einer rein um die Herrschaft zentrierten Geschichtswissenschaft und politischen Theorie wieder. Machtfrei sind die Phänotypen dieser Gegen-, Neben- und Mitwelt der Herrschaft jedenfalls nicht. Herrschaft erweist sich so als nur eine, allerdings prominente Form 26 Vgl. dazu auch in Schulz-Nieswandt, F.: Strukturelemente einer Ethnologie der medizinisch-pflegerischen Behandlungs- und Versorgungspraxis. Weiden/Regensburg 2003. 2? Vgl. dazu auch Brandes, H.: Der männliche Habitus. Bd. 2: Männerforschung und Männerpolitik. Opladen 2002, 233 ff.
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menschlicher Figuration. Es wird einer der interessantesten, aber auch wichtigsten Aufgaben der angebrochenen Zukunft sein zu erforschen, wie sich Herrschaft in einer globalisierten Welt (sofern es sich nicht nur um eine Chimäre handelt) ausbildet, welche Formen der Macht sich entfalten und welche Rolle das genossenschaftliche Prinzip auf verschiedenen Ebenen spielen wird.
Literaturverzeichnis Wie in der Einleitung vermerkt, werden hier nur ausgewählte Literaturverweise aufgenommen. Sie sind aber so ausgewählt, dass dort ein großer Teil der angeführten Literatur verarbeitet worden ist. Weitere Literatur findet sich in den nachfolgenden aufgenommenen Publikationen des Verfassers. Wichtige Nachschlagewerke sind "Religion in Geschichte und Gegenwart" (RGG), hier in der 4. Aufl. (vier Bände bereits erschienen), Tübingen: Mohr Siebeck, sowie das "Lexikon des Mittelalters", München: Lex MA Verlag. Das nachfolgende Literaturverzeichnis enthält zum Teil knappe Kommentare.
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Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium. Wiesbaden 2002 (auch wichtig für die These des alttestamentlichen Ursprungs der Moderne sowie mit relevanten aktuellen sozialpolitischen Bezügen).
10 Schulz-Nieswandt
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Gilden als "totales soziales Phänomen" im europäischen Mittelalter. Rechts- und religionsgeschichtliche Wurzeln der Genossenschaftlichkeit als Archetypus menschlicher Gesellung im Lichte ethnologischen Vergleichsmaterials. Weiden/ Regensburg 2000 (hier ist die Literatur zur Gildenforschung enthalten, die daher nicht weiter angeführt wird).
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Elias Maya. Zwischenwelten. Archetypische Bilder und Grundthemen menschlicher Existenz in der Malerei von Elias Maya. Koblenz 2002 (baut auf einer personalen Anthropologie dualer Existenzsituationen auf, ist tiefenpsychologisch ausgerichtet und relevant für die Entwicklung einer entwicklungspsychologisch fundierten, lebenszyklisch orientierten Interventionslehre der Sozialpolitik).
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Stichwortverzeichnis Zentrale und daher außerordentlich häufig genutzte Begriffe (etwa Herrschaft, Genossenschaft etc.) werden nicht angeführt. Die ausgewählten Stichwörter, im Text wie in den Fußnoten, beziehen sich entweder objekttheoretisch auf grundlegende institutionelle und habituell-mentale Phänomene oder methodologisch auf die anthropologische Perspektive der vorliegenden Arbeit. Achsenzeit 30, 39, 98 achsenzeitlich 113 Adel 40,83 f., 100, 121 Adelsdemokratie 83, 87, 95 adelsdemokratisch 40, 42 Adoratio 97 Älteste 58, 63, 65, 74 ff., 82 f. Ältestengerichtsbarkeit 74 f. Ältestenräte 58, 60, 74 Agape 24, 94, 103, 106 - Armen- 132 agonal 38,40,95,135 Ahnenkult 72, 106, 127 Ailla 126 Alte 66, 82, 109, 126, 128 Alter 7,17,116,132 Arnicitia 15, 98, 128 Amphiktyonie 64 f. Anarchie, regulierte 65, 85 Anima-Bedürfnis 140 f. Arbeit 7, 17 ff., 28 f., 118, 139 Archetyp 5, 8, 20, 28, 39, 79, 131 Archetypik 27 17, 27 ff., 33, 99, 108, archetypisch 116, 135 Archetypus 38, 100, 102, 130 f. Arme 19, 35, 56, 66, 108 f., 111, 113, 126 Armenfürsorge 41,79,108 f., 112 f., 117f., 124, 132 armenfürsorgerisch 110
Armenhilfe 100, 108, 116 f., 124 Armenpolitik 100, 110 Armenspeisungen, öffentliche 70 Armenzehnt 112, 117, 135 Armut 16, 48, 105 Armutspolitik 16, 117 ars donandi 96, 112, 122 Assoziation 81, 129, 130, 134 Asymmetrie 21, 31 f., 52, 122, 126, 131 Asymmetriebildung 20 asymmetrisch 32 f., 36, 49, 132, 136 Barmherzigkeit 17, 23 f., 32, 42, 100 f., 123, 131 Basileus 81 ff., 86 Basilika 13, 106 basilikal 34 Behinderte 48 beten 45 Big Man 81, 83, 86, 133 Bitte 26,45 Blutsverwandtschaft 127 Bruderliebe 105 Bruderschaft 132 bruderschaftlich 88, 124 Bruderschaftlichkeit 29, 62 Bruderschaftsethik 37 Bürger-Tempel-Gemeinde 70, 111 Bürgergemeinde 93, 121 Bürokratie 125
150 Bund 130, 135 Bundestheologie
Stichwortverzeichnis
37,65,68
Caritas 24,105 f., 108, 117, 123 Charisma 133 Charismatiker 44 charismatisch 83, 104, 133 Chief 52, 83, 133 Chiefdom 15, 22, 54, 59, 75 f., 84, 133 christologisch 23, 32, 101 Clan-village 81 Code 17,134 - binärer 5, 17, 19, 30, 43, 60, 80, 137 f. - kultureller 31 Collegia 106 Conditio humana 7, 14,28, 122, 137 Corporate personality 30 Dark Age 20, 36, 39, 83, 85, 88, 95 Dasein 18, 92 Daseinsbewältigung 28, 118, 137 Dauer, lange 15, 137 Demokratie 23, 42, 76, 87, 89, 91 f., 137 - primitive 22, 45, 56 ff., 61 f., 65, 74, 89 ff. Demos 78 Deuteronomiker 111 deuteronomisch 37 f., 40 f., 55, 64, 66, 68, 105, 132, 136 deuteronomistisch 40, 56, 132 Deuteronomium 20, 35 ff., 42, 46, 49, 56, 66 f., 100, 108, 124 Devolution 23, 37, 39, 56, 79, 84, 87, 92 devolutiv 40 Dezentralisierung 99, 122, 124 Diakonie 24, 106, 108 Dorfgemeinschaft 63 f., 82 Dorfverfassung, genossenschaftliche 21,41
Egalität 31, 84 Eid 96 Eidgenossenschaft 65 f., 85 Ekklesia 103 ekklesiatisch 33 f., 131 Elite 38, 41, 93 Ethik, universalistische 24, 34, 37 Eucharistie 103 Eucharistiefeier 106, 132 Euergetismus 21, 23, 32, 41, 83, 92, 94 ff., 100, 102, 133, 136 euergetistisch 34, 107 Exklusion 92, 123, 131 Extended farnilies 54, 62, 64 Familie 40, 59, 72, 79, 81, 111, 124 f., 128 ff., 140 Farnilienmetaphorik 103 Feste 81, 94 f., 111, 128 feudal 33, 123 Feudalisierung 23 Feudalismus 50, 130, 134 föderal 22, 77, 79, 127 Föderalismus 22, 77, 127 Frage, homerische 57, 82 Freigiebigkeit 70, 123 Fremdensozialrecht 68, 108 Fremdling 68, 111 Fürsorge 21, 101, 108 f., 124 f., 127, 131 Gabe 13, 22, 33, 35, 41, 45, 87, 94, 112, 122 Gastfreundschaft 32, 79, 87, 94, 100, 108 ff., 123 Gebärdenanthropologisch 45, 101, 115 Gebärdensprache 45 Geben 13, 22, 33, 45, 62, 105, 122 ff., 135 Gedächtnis, kollektives 13, 39, 57 Gefolgschaft 81, 83 Gefolgsschaftsethik 83
Stichwortverzeichnis Gegenseitigkeit 38, 100, 131, 136, 139 Geheimgesellschaft 123 Gemeinde 23, 34, 41, 53, 61 ff., 66, 70, 72 f., 75, 78 f., 81 f., 85, 100, 102 ff., 118, 132 - paulinische 23, 43, 102 ff. Gemeinschaftsmahl 22, 29,46, 131 gentil 67 f., 89 gentilizisch 63, 88 Gerechtigkeit 14, 18, 43, 50, 73 Gerichtsbarkeit, örtliche 75 f. Geschlechter 37, 140 Geschwisterethik 37 Gesellschaft - alttestamentliche 29, 39, 132, 139 - homerische 29, 39, 42, 77, 80 f., 84 ff., 88, 92, 95, 139 - maskuline und agonale 38 - segmentäre 85 - segmentierte 42, 59, 65 f., 84 Gilde 21, 29 f., 34, 76, 91, 94, 100, 112 f., 116 f., 123, 125, 130, 136 Grammatik 30 f., 33, 38 Häuptlingstum 70, 134 Hausgemeinde 107 heilig 18,97, 106 Hellenismus 41,69, 96, 121 hellenistisch 19, 21, 23, 26, 32, 34, 43 f., 58, 71, 75, 83, 85, 94, 96 f., 102, 107, 124, 136 Herde 43, 72, 131 Heroenkult 41 f., 87 f., 93 Hierarchie 31, 86, 95, 122, 126, 136 hierarchisch 36, 84, 96, 100, 108, 119, 121, 136 Hierarchisierung 20, 34, 42, 84 f., 102, 104, 106 Hirt 43, 72, 131 Hören 13, 24, 100, 136 Hofgerichtsbarkeit 77
151
Homo - cooperationis 131 - culturalis 15, 135 - faber 141 - festicus 28 f. - hierarchicus 36, 131 - necans 28 - reciprocus 28 f., 36 - socialis 15, 135 horizontal 20 f., 24, 27, 30 f., 33 f., 36, 38, 42, 44, 70, 73, 88, 93, 98, 100, 126, 131, 133, 136 Horizontalität 13,28, 83, 131, 134 hreppr 112, 132 Huldigung 32, 42, 115 Ikone 97 Ikonographie 33 ikonographisch 139 indoeuropäisch/indo-europäisch 19,41,44, 81 ff. Inka 126 ff. Inklusion 34, 92, 131 Inthronisation 69 ff., 114
16,
Kaiserkult 32 Kaiserkultpraxis 23 Kapitularien 113, 117 kathedral 34, 136 Kinder 56, 109, 125, 140 f. Kindheit 48 Kirche 34, 96, 99, 106, 108 ff., 112, 116 f., 119 ff., 124 f. Klage 26,45 Klan 62 f., 124, 132 Klassifikation, binäre 20, 118, 134, 141 Kleinbauer 42 f., 47, 49 ff., 56, 59, 66 f., 125 Klientilismus 21,32 f., 41, 107 klientilistisch 23, 36, 133 Klöster 109, 112, 116 f., 124 f. Königsherrschaft 21, 51, 56, 77, 115, 122
152
Stichwortverzeichnis
Königsideologie 23, 37, 49, 80 Königskritik 51, 55, 60 königskritisch 21, 40, 42, 54, 57, 59 f., 70, 80 Königsprädikation 40, 49, 68, 70, 73, 78 Königssalbung 114 Königtum, sakrales 23, 27 f., 33, 41, 45, 51, 58, 69 ff., 77, 79, 85, 98, 112 ff., 131 Koinonia 34, 103, 132 Kollekte 34, 105, 107 Kommunalität 42, 62, 116, 136 Kommune 86, 100, 124 Kommunitarismus 120 Kranke 109, 128 Krankheit 16 f., 125 Kult 13, 41, 70, 75, 79, 81, 86, 93, 138 Kultgenossenschaft 22, 28, 34, 41 f., 94, 123 f. Kulttheologie 64, 111, 113 Kultzentralisation 64, 73 Lebensführung, ethische 41 Lehensfeudalismus 50 lehnsrechtlich 128 Lehnssystem 33 Lehnswesen 44 Leiden 14, 16 ff., 45 Leiturgiestaatlichkeit 23 Liebespatriarchalismus 104 Liturgie 88, 96, 114 liturgisch 32, 108, 132, 136 Lokalität 35, 59, 63, 129, 132 Maat 111 Männerbünde 42, 83 männerbündisch 92 Mahlgemeinschaft 22, 28 f., 35, 41, 68, 87, 92, 131 f., 136 Markgenossenschaft 127 Memoria 40 Mensch - alttestamentlicher 30
- homerischer 26 - neutestamentlicher 30 Mentalität 8, 19, 30, 70, 138 Metamorphose 20,23 ff., 32, 130 Mildtätigkeit 123 Mitleid 26, 133 Mitte 36,38 Mnemosyne 13, 105 Monarchie 29, 40, 50, 55, 65, 75, 85, 125 f., 132 Monotheismus 37,41,55,71,73 Moral hazard 34 Moralökonomie 22, 33, 63, 132 Morphologie 30, 119 f. morphologisch 7, 28 f., 33 ff., 40, 43, 64, 111, 120, 129 ff. Mythos 52, 93, 118 Nachbarschaft 64 f., 81 f., 123, 128 Nachbarschaftsethik 40 f., 66 Nächstenliebe 24, 66, 87, 123 neo-evolutionär 136 neo-evolutionistisch 15,21,27 Netzwerk 22, 40, 44, 70, 84, 86, 88 Nomaden 59, 65 Nomos 91 Obed 61, 133 Obligation 81, 94 f. Oikos-Basileus 42, 95 Opfer 44, 135 Opferkult 28, 35, 87, 92, 110 Opferpraxis 22,28,41, 135 patriarchalisch 38, 42, 54, 65, 84, 135, 139 Patriarchalismus 43, 50, 65, 141 patrimonial 50 f., 75, 79 Patrimonialismus 50 Patronage 33, 134 Patronagebildung 23 Patronage-Klientel(ismus )-System 21,32
Stichwortverzeichnis Patronagemotivik 88 Patronagephänomen 21, 133 f. Patronagesystem (Patronage-System) 33, 36, 130, 134, 136 Peasant societies 84 Peripherie 31, 125 14, 17, 31, 47, 73, 82, 112, Person 133 Personalität 21, 25 f., 31, 40 personologisch 13, 16, 30 f. Phratrien 81, 88 f., 94, 127, 140 Phylen 81, 88 f. Polis 22 f., 25, 29, 37 ff., 47, 52, 62, 65, 83, 85 ff., 91 f., 94 f., 111, 136 Polisbildung (Polis-Bildung) 21, 37, 50, 56, 64, 70, 77 f., 80 f., 83 f., 92 Polydoria 70, 111 Potlatsch 35, 133 Prestigegüter-Ökonomik 133 f., 136 primitiv-demokratisch 42, 63, 74 f., 77,132 profan 17, 105 f. Proskynese 32, 97 proskynetisch 32 f., 115, 131 Proto-Adel 83, 92 proto-adelig 40 Protoplasma, homerisches 21, 37, 39 f., 44, 64, 77, 79, 83 Proto-Staat 15,21, 27, 52, 93 proto-staatlich 42, 61, 132, 134 Proto-Staatlichkeit 29, 40, 54, 126, 138 f. psychomythologisch 30, 43, 119 Quasi-Verwandtschaft
42, 128
Randgruppen 51 Raum, dualer 17 Recht 40,47,49,50,67,78,80,101 Rechtswesen 58, 74 Redistribution 70, 85 f. Re-Distributionsphänomen 139 Re-Distributionssysteme 35 Reich 48, 52 f., 79, 91, 97, 125 ff.
153
Reichsidee 33 Reichsorganisation 136 rentenkapitalistisch 50 reziprok 36,40,45, 79, 81 Reziprozität 85 f., 92, 105, 123 Reziprozitätsbeziehungen 31 Reziprozitätsformen 21 Reziprozitätsgebilde 22 Reziprozitätsmuster 87 Reziprozitätsökonomie 85, 133 Reziprozitätsökonomik 111, 122, 124, 139 Richter 48, 58 Richterzeit 59, 62, 65 Risikolage 7, 17,48, 117, 137 Ritual 13, 35, 69 f., 93, 115, 138 Ritualistik 98, 115 rituell 28, 110, 115, 129 Sakralkönigtum 23, 33, 41, 69 ff., 77, 98, 113 ff., 131 Sattelzeit 43 f., 95, 98 f., 122 Scham 134 Schamkultur 25 Schuldknechtschaft 17, 45 ff., 51, 56, 87 Schuldkultur 25 Schwurverbrüderung 65 Seevölker 39, 60 Sehen 13, 24, 100, 136 Selbsthilfe 21, 86, 113, 127 Selbstverwaltung 20, 35, 37, 41, 44, 58, 60, 76, 79, 83, 120 f., 130, 133 Sitz im Leben 14 f. Solidarität 35, 67, 81, 93 f., 96, 100, 111,128 Song 21, 124 f. Sozialkritik 18 f., 49, 55 Sozialreform 7, 73 Sozialverfassung 42, 132 Speisegemeinschaften 95 Speisungen, öffentliche 132 Stadtherrschaft, antike 50
154
Stichwortverzeichnis
Stämme 59,63 Status 7,20,56, 87, 118, 136 Statuspassage 88 Statuspassagentheorie 104 Stratified society 75 Stratifikation 21, 85, 133 Strukturtyp 18, 20, 25, 31 Symposion 95 Synagoge 32, 75, 110 19, 23 f., 26, 40, 43, Synkretismus 98,100,108 synkretistisch 32, 36, 98, 101 System konzentrischer Kreise 62, 81 Teilen 28, 35, 45, 135 Theodizee 42, 119, 123 Theodizeeproblematik 18 Theokratie 70, 73, 117 Tiefengrammatik 28, 31, 137 Tischgenossenschaft 29, 131 f. Tod 13, 16 f., 106 Torgerichtsbarkeit 76 Tragödie, griechische 41, 86 Treue 96 Treuebeziehungen 50 Treuepflicht 128 Treueschwur 83 Tribalität - Präferenzen 88 - Vorstellung 63 tributär 21, 53, 60, 70, 75, 79, 126 Tributismus 127 Tributsystem 127 f. Urcode 32 Urform 18 f., 23, 28, 31, 33, 39, 45, 79, 131 Uridee 38 Vasallenstatus 60 vassalistisch 33 Vektor 13,31, 131, 137
Vektorenlehre 28 Vektorik 28 Verein 34, 94 Vereinsformen 103 Vereinswesen 22, 32, 94, 124 Versicherung 101 Versicherungswesen 112, 131, 135 vertikal 23 f., 30, 32 ff., 44, 49, 79, 85, 88, 93, 96, 100, 119, 126 f., 31, 136 Vertikalität 13,28, 127, 131, 134 Vertrag 121, 130 Vertrags wesen 136 Verwandtschaft 64, f., 72, 79, 81, 86 ff., 111, 113, 128 f., 132, 135 - fiktive 24, 62 f. Verwandtschaftsbeziehung 22 Verwandtschaftsrhetorik 103 Volksversammlung 58, 60, 74, 84 Vollversammlung 58, 74 Vulnerabilität 47 Vulnerabilitätsprofil 17, 117 Waisen 48, 66 f., 71, 109, 111, 113, 125 f., 128 Wanax 82 Witwen 48, 66 f., 71, 111, 113, 125 f., 128 16, 19, 24, 32 f., 94, Wohltätigkeit 100, 115, 123, 127 f. Xenodochium
108 ff.
Zehnt 66, 113 f. Zeitebene 137 Zeitmodalität 14 Zentrum 31, 40, 44, 47, 65, 108, 125 f. Zentrum-Peripherie-Muster 22, 42, 79,91 Zünfte 125 f.