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German Pages 255 [260] Year 1997
SUCHIER /FRANZÖSISCHE
VERSLEHRE
SAMMLUNG KURZER LEHRBÜCHER DER ROMANISCHEN SPRACHEN UND LITERATUREN BEGRÜNDET VON KARL VORETZSCH
HERAUSGEGEBEN VON GERHARD ROHLFS
14 WALTHER SUCHIER FRANZÖSISCHE VERSLEHRE
MAX N I E M E Y E R V E R L A G T Ü B I N G E N 1963
FRANZÖSISCHE VERSLEHRE AUF HISTORISCHER GRUNDLAGE
VON
WALTHER SUCHIER
ZWEITE AUFLAGE BEARBEITET VON RUDOLF BAEHR
MAX N I E M E Y E R VERLAG T Ü B I N G E N 1963
Alle Rechte vorbehalten Copyright by Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1963 Printed in Germany Druck: Fotokop GmbH, Darmstadt
VORWORT Der Titel vorliegenden Buches war mir seiner Zeit noch vom Begründer dieser „Sammlung" selbst vorgeschlagen worden; ich habe mich bemüht, den ihm entsprechenden Inhalt nach dem gegenwärtigen Stande der Forschung zu liefern, war mir dabei aber von vornherein bewußt, daß eine eigentliche Versgeschichte z. Zt. noch nicht gegeben werden kann, da über so grundlegende Punkte wie etwa das Wesen des französischen Verses oder die Zusammenhänge zwischen antikem, mittellateinischem und altfranzösischem Versbau noch keine volle Klarheit besteht. Auch so waren noch mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden. Einmal war unbedingt nötig, den Umfang des Buches aufs äußerste einzuschränken, womit sich jedes Streben nach Vollständigkeit im Stofflichen und die Anführung aller nur irgendwie entbehrlichen Beispiele verbot. Darum mußte auch die oft naheliegende Bezugnahme auf andere romanische Literaturen unterbleiben, es mußte weiter auf die bei Behandlung der mittelalterlichen Zustände sich häufig aufdrängende eingehende Berücksichtigung der musikalischen Verhältnisse (für die ich mich überdies nicht zuständig fühle) verzichtet werden und ebenso war eine Diskussion von offenen Streitfragen und ungelösten Problemen nicht zu rechtfertigen. Ferner machte sich immer wieder störend bemerkbar, daß die vorhandene Literatur über den Stoff keineswegs lückenlos zur Verfügung stand; manches, wie ich annehme, wichtige Werk mußte unbenutzt bleiben, weil es in keiner öffentlichen Bibliothek Deutschlands vorhanden ist. Was die Literaturnachweise betrifft, so hoffe ich, daß mir (trotz der in Nachwirkung des Krieges erschwerten Einsicht in die ausländischen Zeitschriften der letzten zwölf Jahre) nicht allzuviel Wichtiges entgangen ist. Göttingen, im Oktober 1951
W. S.
VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE
In ihrer ersten Auflage (1952) fand W. Suchiers Französische Verslehre in zahlreichen Besprechungen hohes Lob, wobei im besonderen ihre Zuverlässigkeit und Brauchbarkeit als Lehrbuch hervorgehoben wurde. Ihre theoretische Grundlage, die Alternationstheorie, war damals ebenso wie heute umstritten, was auf einem so weitgehend hypothetischen Gebiet nur natürlich ist. Man ist jedoch die Feststellung schuldig, daß auch die Forschungsergebnisse der letzten zehn Jahre nicht zur Aufgabe dieser Theorie zu zwingen vermögen, so daß sie nach wie vor ihren Platz neben anderen Erklärungsversuchen und Systemen behaupten kann. Es schien daher gerechtfertigt, sich bei der Zweitauflage auf sachliche Einzelberichtigungen sowie auf Ergänzung und Weiterführung der wertvollen Bibliographie (die nun durch Querverweise praktikabler gemacht wurde) zu beschränken. Bei der Durchsicht wurden selbstverständlich auch die in den Besprechungen dankenswerterweise niedergelegten Besserungsvorschläge geprüft und - soweit nötig und möglich - berücksichtigt. München, im Oktober 1962
Rudolf Baehr
INHALT Abgekürzt zitierte Titel Einleitung Literatur Erster Teil. Das Wesen des französischen Verses A. Vorbemerkungen Literatur B. Hauptarten des Versvortrags im Französischen I. Streng alternierender Vortrag, S. 15. - II. Ausgleichender Vortrag, S. 18. - I I I . Frei-rhythmischer Vortrag, S. 21. - IV. Vortrag wie Prosa, S. 24. - Literatur, S. 26 C. Metrische Folgerungen I. Das französische Verssystem, S. 27. - II. Zur Geschichte der Verstheorie, S. 32. - Literatur, S. 36 D. Versbau auf anderer Grundlage I. Quantitierender Versbau, S. 37. - II. Streng-akzentuierender Versbau, S. 41. - I I I . „Freie Verse" (Vers libres), 8. 45. - IV. Freirhythmischer Versbau, S. 48. - Literatur, S. 50 Zweiter Teil. Die Versarten A. Vorbemerkungen Literatur B. Die bevorzugten Versarten I. Der Achtsilber, S. 55. - II. Der Zehnsilber, S. 58. - I I I . Der Zwölfsilber (Alexandriner), S. 63. - Literatur, S. 69 C. Die kürzeren Versarten Literatur D. Die längeren Versarten Literatur E. Zusammenfassung Literatur Dritter Teil. Sonderregeln für den Bau der Verse Literatur A. Silbenzählung I. Zwei benachbarte Vokale, S. 92. - II. Silben mit 9, S. 95. -
IX 1-H 4 7-51 7—14 14 14-27
27-37
37-51
53-90 53-55 55 55—70
70-76 76 77-83 83 83—90 90 91-168 91 91-104
VIII III. Besondere Freiheiten, S. 99. - IV. Die Silbenzählung im Anglonormannischen, S. 102. - Literatur, S. 103 B. Hiatus und Enjambement 105-115 I. Hiatus, S. 105. - II. Enjambement, S. 109. - Literatur, S. 115 C. Zäsur 116-127 I. Allgemeines, S. 11β. - II. Besondere Arten der Zäsur: 1. Weibliche (oder epische) Zäsur, S. 121; 2. Lyrische Zäsur, S. 123; 3. Übergreifende Zäsur, S. 125. - Literatur, S. 127 D. Reim 127-168 I.Vorbemerkungen, S. 127. — II. Form: 1. Reimgeschlechter, S. 129; 2. Besondere Arten, S. 133. - III. Klang (Reinheit), S. 148. - IV. Anordnung: 1. Reimstellungen am Versende, S. 155; 2. im Versinnern (Binnenreim), S. 157. - V. Inhalt, S. 160. — VI. Sonstige Klangwirkungen, S. 163. - Literatur, S. 167 Vierter Teil. Die Strophe A. Allgemeines Literatur B. Strophenarten I. Strophen ohne festgelegte Verszahl, S. 178. - II. Strophen mit bestimmter Verszahl, S. 184. - III. Strophenähnliche Gliederungen, S. 193. - Literatur, S. 198 C. Zusammenfassung Literatur
169-201 169-178 177 178-198
Fünfter Teil. Gedichte fester Form A. Allgemeines Literatur B. Strophische Gedichte besonderer Form I. Kanzone, S. 202. - II. Chant royal, S. 204. - III. Ballade, S. 205. - IV. Virelai, S. 209. - V. Lai und Descort, S. 212. VI. Estampie und Note, S. 215. - VII. Villanelle, S. 216. VIII. Sestine, S. 217. - IX. Pindarische Ode, S. 219. - X. Pantoun, S. 221. - Literatur, S. 222 C. Nichtstrophische Gedichte fester Form I. Rondel (Rondeau), Triolet, S. 223. - II. Motett, S. 229. III. Sonett, S. 230. - Literatur, S. 234 D. Zusammenfassung
202-236 202 202 202-223
199-201 201
223-234
235-236
Sachregister
237-241
Namenregister
242-247
ABGEKÜRZT ZITIERTE TITEL a) T e x t e Bartsch = Altfranzösische Romanzen u. Paatourellen, hrsg. v. Karl Bartsch. Leipzig 1870. Β erteil — Ββηέ Berteli, Panorama de la jeune ροέβϊβ frangaise. 8 β έά. Marseille 1942. v. Bever = Ad. van Bever et Paul L^autaud, Pontes d'aujourd'hui. 2 Bde, Paris o. J . (Bd. III 1947). Dumas = Andr^ Dumas, Pontes nouveaux. Paris 1037 (Coli. Pallas). Langlois = Becueil d'Arts de seconde rhötorique, p. p. Ernest Langlois. Paris 1902. La Vaisstere = Robert de la Vaisstere, Anthologie po^tique du XX® si£cle. 2 Bde., Paris 1923. Rat = Maurice Rat, Floritege de po&ie contemporaine. Paris 1943. Spanke = Eine altfranzösische Liedersammlung, hrsg. v. Hans Spanke. Halle 1925 (Romanische Bibliothek, XXII). Walch I, II, III = O.Walch, Anthologie des pontes fran^ais contemporains. Τ. I, II, III, Paris [1905 ff.] (Coli. Pallas). Walch IV = G.Walch, Pontes d'hier et d'aujourd'hui. Paris [1916] (Coli. Pallas). Walch V = G. Walch, Pontes nouveaux. Paris [1923] (Coli. Pallas). b) A b h a n d l u n g e n Aubertin, Chatelain, Elwert, Gladow, Jeanroy, Kastner, Lote, W. Meyer, Stengel, Tobler, Verrier s. die Titel auf S. 4-5; Burger s. S. 90; Saran s. S. 36. c) Z e i t s c h r i f t e n Archiv = Archiv für das Studium der neueren Sprachen u. Literaturen. Vjahrsschr. — Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft u. Geistesgeschichte. ZfSL = Zeitschrift für französische Sprache u. Literatur. ZrP — Zeitschrift für romanische Philologie. d) S o n s t i g e A b k ü r z u n g e n (bei Vereausgang bzw. Zäsur). Jh. = Jahrhundert. P. = Paris (bei Buchtiteln).
EINLEITUNG Die französische Verslehre oder Metrik hat als Gegenstand die rhythmischen Formen der französischen Dichtung, von denen der Vers nur die wichtigste ist. Diesen ihren Stoff kann sie von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten: entweder sie verfährt rein beschreibend, indem sie festzustellen sucht, welche besonderen Arten bei den verschiedenen Formgebilden (Versen, Strophen usw.) tatsächlich vorhanden sind bzw. ehemals existierten; oder systematisierend, indem sie aus den empirisch festgestellten Arten allgemeine Prinzipien abzuleiten sucht, die den mannigfachen Bau im einzelnen bestimmen; oder ästhetisch, indem sie die gefühlsmäßigen Wirkungen der verschiedenen Rhythmen, Reimarten, lautlichen Klänge usw., also die „Harmonie" der Verse zu fassen sucht; oder schließlich historisch, in dem sie nach Herkunft, Verwendung und Entwicklung der rhythmischen Formen fragt. Die vorliegende Darstellung möchte sich auf keine bestimmte dieser Betrachtungsweisen von vornherein festlegen, stellt aber die beschreibende und die historische bewußt in den Vordergrund, da sowohl die ästhetische als auch die systematisierende Einstellung einen mehr oder weniger subjektiven Einschlag mit sich bringen, der für ein Lehrbuch, das vor allem sicheres Tatsachenmaterial bringen will, nicht immer am Platze sein würde. Unser Stoffgebiet ist demnach die in gebundener Rede überlieferte französische Poesie alter und neuer Zeit; jedoch soll das Schwergewicht aus praktischen Gründen auf die moderne Zeit gelegt werden, ohne daß darum die mittelalterlichen Verhältnisse ganz beiseite gelassen werden dürfen, die als Ausgangspunkt der späteren Entwicklung doch häufig genug zum Verständnis des modernen Zustande beitragen können. Da die Behandlung der Einzelpunkte zweckmäßigerweise im Rahmen der besondern sachlich gegebenen Unterabschnitte erfolgt, wobei der historische Gesichtspunkt an zweite Stelle rückt, sei hier zur Ergänzung eine kurze Übersicht über den allgemeinen
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Einleitung
Entwicklungsgang angeschlossen, den die französische Dichtung, von ihrer formalen Seite her angesehen, genommen hat. Bereits in frühromanischer Zeit ist für Frankreich mit einer nur mündlich verbreiteten volkstümlichen Poesie (besondere Tanz-, Reigen- und Liebeslieder) zu rechnen, von der uns außer mehr oder weniger deutlichen Spuren nichts erhalten ist; sie dürfte nur ziemlich wenige Vers- und einfache Strophenformen aufgewiesen haben, deren wichtigste wir in den auf uns gekommenen alten epischen und lyrischen Gattungen (Heldenepos oder Chanson de geste und Romanze) vor uns sehen. Daneben entfaltete sich (nach vereinzelten älteren Versuchen) etwa im 11. Jh. langsam eine volkssprachliche geistlich-gelehrte Dichtung, die ihre Formelemente z.T. derVolkspoesie entlehnte, sich aber bald unter Einwirkung der mittellateinischen Praxis eine eigene Tradition schuf. Nachdem bereits um 1100 in Südfrankreich, nicht ohne formale Abhängigkeit von der mittellateinischen Lyrik, im sog. Minnesang eine volkssprachliche (provenzalische) Kunstpoesie erwachsen war, brachte deren Verpflanzung nach Nordfrankreich dort in der zweiten Hälfte des 12. Jhs. eine starke Erweiterung des Formenbestandes (Verse, Strophen) mit sich, wobei unter gelegentlicher Einwirkung des Volkslieds und der gleichzeitigen lateinischen Lyrik die enge Verbindung mit der Musik von Bedeutung war. Sind auf diesem Wege, besonders bei den Gattungen der Kanzone und der Pastourelle, erstmalig kunstvolle Strophengebilde in französischer Sprache entstanden, so läßt das 13. Jh. nicht nur im Anschluß an Vorbilder aus der Kirchenmusik (Sequenz) neue lyrische Formen (Lai und Descort, Estampie, Motett) erwachsen, sondern es kommen beim Übergang der Lyrik aus den höfischen in die bürgerlichen Kreise weitere, fest geregelte Dichtarten, und zwar volkstümlichen Ursprungs (Rondel, Ballade, Virelai) hinzu, die sich vom 14. bis ins 16. Jh. hinein anhaltender Pflege erfreuen. In der gesprochenen Poesie tritt seit dem Ende des 12. Jhs. eine langsam zunehmende Neigung hervor, durch Komplizierung der Reimtechnik die dichterische Leistung ebenfalls auf die formale Seite zu verlagern; in derselben Richtung liegt das im 15. Jh. hervortretende Bestreben, strophische oder strophenähnliche Gliederungen auch in die moralisierende und dramatische Literatur einzuführen, bis am Auegang des Mittelalters die poetische Produktion der sog. burgundischen Schule sich fast ganz in leeren Reimspielereien verliert, so daß hier die Form völlig über den Gehalt triumphiert. Unter dem Einfluß des aufkommenden Humanismus bereitete sich
Einleitung
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aber Anfang des 16. Jhs. ein grundlegender Umschwung vor: aus Italien wurden neue Formen (Sonett, Terzine, reimlose Verse) übernommen und gleichzeitig bewirkte Cl. Marot auf dem Gebiet des Strophenbaus den Bruch mit dem Mittelalter. Um die Mitte des Jhs. brachte dann das Auftreten der sog. Plejade, die sich eng an die antike Literatur anlehnte, neben einer völligen Erneuerung des dichterischen Gehalts auch neue poetische Gattungen (Ode, Epigramm, Elegie u. dgl., oft ohne genau festgelegte Form), man strebte, den strengen Bau der Verse zu lockern, und versuchte sogar, die antiken quantitierenden Metren in französischen Versen nachzubilden. Der Führer dieser Dichterschule, Ronsard, hat im besonderen auch der neu erblühenden strophischen Lyrik glückliche Anregungen gegeben und dem Alexandriner (Zwölfsilber) zu seiner herrschenden Stellung in der modernen Verspraxis verholfen. Aber schon zu Anfang des 17. Jhs. lösten die freiheitlichen Bestrebungen der Plejade und ihrer Nachfolger eine Reaktion aus, indem Malherbe mit seiner Reform der Poesie sich für eine strengere Regelhaftigkeit auch auf metrischem Gebiet einsetzte. Wenn er damit auch nicht sogleich durchdrang, indem die großen Klassiker ihre Selbständigkeit teils in größerem (La Fontaine, Moliere), teils in geringerem Maße (Corneille, Racine) wahrten, so bewirkte bald Boileau, der die Forderungen Malherbes in seinem Art poetique von 1674 wieder aufnahm, daß im ganzen 18. Jh. keine wesentlichen Änderungen der poetischen Praxis hervortraten, erst gegen Ende des Jhs. wagte A. Ch6nier einige vorsichtige Lockerungen des Versbaus. Stärkere Umgestaltungen auf metrischem Gebiet brachte erst das Aufkommen der romantischen Schule, wo zwar Lamartine und Vigny den klassizistischen Standpunkt im ganzen noch festhielten, aber V. Hugo nicht nur für den Vers, vor allem den Alexandriner, bisher unerhörte Freiheiten erkämpfte, sondern auch den im 18. Jh. verarmten Strophenbestand erfolgreich erweiterte (bei vielfacher Verwendung kürzerer Versarten). Hugos Neuerungen wurden von seinem Schüler Banville weiterentwickelt, während Baudelaire und Leconte de Lisle unter dem Einfluß des von Th. Gautier proklamierten Grundsatzes L'art pour Vart wieder formstrenger verfuhren und dieser Einstellung in der sog. 15cole parnassienne zur Anerkennung verhalfen; u. a. fand das Sonett jetzt weitgehende Pflege. Die in dieser Schule erstrebte unpersönliche Kunstübung veranlaßte Verlaine und Richepin an Banvilles freiere Praxis anzuknüpfen; vor allem Verlaine hat in seinem Bemühen, die gefühlsmäßigen Wirkungen seiner Verse zu er-
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Einleitung
höhen, deren rhythmische Bindungen bedenklich gelockert (vera liberea) und sich in mancherlei kühnen Neuerungen versucht. Über seine Freiheiten ging die symbolistische Schule noch hinaus, indem G. Kahn und J. Laforgue mit ihrer Erfindung der sog. vera librea eine für Frankreich völlig neue metrische Technik begründeten, die bewußt auf alle bisher geltenden Vorschriften für den Versbau verzichtete und auch im 20. Jh. dauernd in Übung blieb, während konservativ eingestellte Dichter die altüberlieferte Praxis in ziemlicher Strenge weiterführen. Trotz aller im Laufe der Zeiten hervorgetretenen Verschiebungen in den poetischen Theorien und Grundanschauungen sowie der daraus entsprungenen Änderungen in Einzelpunkten der praktischen Versgestaltung ist also ein auf fester Grundlage ruhendes, konventionell geregeltes Verssystem seit den Anfängen der Literatur, insbesondere aber von der Mitte des 16. JThs. an bis rund zum Jahre 1885 streng einheitlich festgehalten worden und hat (abgesehen von dem Nebenzweig des Verslibrismus) bis zur unmittelbaren Gegenwart seine Geltung behauptet. Welche tieferen Gründe kunstanschaulicher oder geschmacklicher Art die Entwicklung der metrischen Besonderheiten im einzelnen bestimmt haben, ist zwar häufig, aber keineswegs überall deutlich erkennbar; man wird damit rechnen dürfen, daß bisweilen nur der Usus oder die Mode die längere Beibehaltung einzelner Praktiken veranlaßt haben. Daher ist auch das Volkslied von allen derartigen Schwankungen unberührt geblieben. L i t e r a t u r . Die bislang einzige eingehendere Gesamtdarstellung, die aber wichtige Punkte unberücksichtigt l&ßfc, ist L. E. K a s t n e r , A history of French versification. Oxford 1903. Dagegen behandelt E . S t e n g e l , Romanische Verslehre (in Gröbers Grundriß der roman. Philologie, B d II, Abt. 1 [1902], S. 1-96) nur das Mittelalter. A. T o b l e r , Vom franz. Versbau alter ti. neuer Zeit. Leipzig 1880, Ί 9 1 0 (· 1921) beschränkt sich auf den Vers im eigentlichen Sinn. Von G. L o t e s geplanter Histoire du vers franijais ist bisher nur der 1. Teil Le moyen Age (P. 3 Bde. 1949-55; mit reicher Bibliogr.) erschienen. K. Voßler, Die Dichtungsformen der Romanen. Stuttgart 1951, behandelt neben den Formen in Versen auch solche in Prosa, und mehr im Sinne der Poetik und Literaturgeschichte. Eine neue, in der Art von Kr. Nyrops Fransk verslaere i omrida (3. rev. Aufl. von H. Serensen, Kopenhagen 1956) kurzgefaßte Gesamtdarstellung des Stoffes bietet unter besonderer Betonung von Prosodie und Beim W. Th. E l w e r t , Französische Metrik, München 1961. - S. auch unten S. 27, III. Wichtigere Darstellungen der modernen Metrik: L. Quicherat, Traite de versif. fr. · Ρ . 1850; F. de Gramont, Les vers fr. et leur prosodie. P. [1876]; E . O. Lubarsch, Franz. Verslehre. Berlin 1879; G. Pellissier, Traits thöorique et hietor. de versif. fr. P. 1886; Clair Tiseeur, Modestes observations sur 1'art
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de versifier. Lyon 1893; Gh. A u b e r t i n , La versif. fr. et see nouveaux thöoriciens. P. 1898; A. Dorchain, L'art des vera. P. (1905, >1920). Zur Ergänzung w&ren noch zu nennen: Hugo P. Thieme, Essai d'une histoire du vers fr. P. 1916, mit wichtiger Bibliographie; Ders., Bibliographie de la l i t e r a t u r e fr. de 1800 λ 1930. Τ. III, P. 1933, S. 51-71; Bibliographic zur ZrP; O. Klapp, Bibliogr. der franz. Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main I960 ff; Y. Le Hir, Ού en sont les «Stüdes de versification? I n : LY'ducation nationale v. 2. 2. 1956, S. 21. - PaulVerrier, Le vers fr. 3 Bde, P. 1931-32. - Von dem lebhaften Interesse, das namhafte Dichter und Schriftsteller auch unseres Jhs. metrischen Fragen entgegenbringen, können die folgenden Abhandlungen ein Bild vermitteln: J . Romains et G. Chenneviere, Petit traits de versif., P. 1924; G. Duhamel et Ch. Vildrac, Notes sur la technique poötique, P. 2 1925; P. Claudel, Reflexions et propositions sur le vers fr. I n : Positions et propositions, I'. (1925); P . Vatery, Questions de ροέβΐβ. I n : Variöti I I I (P. 1930); A. Maurois, Sur les vers reguliere. I n : Dialogues des vivants, P. 1959.-W. M e y e r , Gesammelte Abhandlungen zur mittellat. Rhythmik. Bd I u. I I Berlin 1905, I I I 1936; D. Norberg, La po^sie rythmique latine du h a u t moyen-äge. Stockholm 1954 (Studia latina Holmiensia II); Ders., Introduction k l'itude de la versif. lat. m^dWvale, Stockholm 1958. - L. E. Kastner, Histoire des termes techniques de la versif. fr. I n : Revue des langues rom. X L V I I (1904) 1-28; H. Morier, Dictionnaire de poötique et de rhötorique, P . 1961. Zur Metrik einzelner Zeiten und Autoren, in chronolog. Folge der Dichter: Mittelalter: A. J e a n r o y , Les origines de la po6sie lyrique en France. P. 1889, »1925. S. 339-438. - A. Schossig, Der Ursprung der altfranz. Lyrik, Halle 1957. - Ch. Aubertin, Origines et formation de la langue et de la m6trique fr., P . 1882. - P . Meyer, Des rapports de la poisie des trouvdres avec celle des troubadours. I n : Romania X I X (1890) 1-42. - L. Cl^dat, La versif. fr. et particul. la versif. lyrique au moyen äge. I n : Revue de philol. fr. et prov. VI (1892) 161-182. - H . Lausberg, Zur altfranz. Metrik. I n : Archiv 191 (1954/55) 183-217; ibid. 193 (1956/57) 151-154 u. 291-294; Ders., Zur Metrik des altfranz. Rolandsliedes. I n : Roman. Forschungen 67 (1955) 293-319. - W. Suchier, Zur Versgeschichte der 'ältesten Literaturdenkmäler' des Französ. I n : ZfSL 66 (1956) 53-67. - Fr. Davids, Strophen- u. Versbau der Lieder des Castellans von Coucy. Progr. Höh. Bürgersch. Hamburg 1887. - Fr. Davids, Über Form und Sprache der Gedichte Thibauts von Champagne. Diss. Leipzig 1885. - L. Jordan, Metrik u. Sprache Rutebeufs. Diss. Göttingen 1888; E. v. Mojsisovics, Metrik u. Sprache Rustebuefs. Heidelberg 1905. - C. Iburg, Über Metrum u. Sprache der Dichtgn. Nicole de Margivals. Dies. Rostock 1911 (auch in: Roman. Forschgn. X X X I [1912] 395-485). - F r . Blume, Metrik Froissarts. Diss. Greifswald 1889. - H . C h a t e l a i n , Recherches sur le vers fr. au XV® siecle. P . 1908. 16. J h . : P h . Martinon, S t ü d e s sur le vers f r . L a genäse des regies de J . Lemaire k Malherbe. I n : Rev. d'hist. litt. XVI (1909) 62-87. - J . Keuter, Cl.Marots Metrik. Diss. Tübingen 1883 (auch in: Archiv L X V I I I [1882] 331-360); J . Firmery, La versif. de Marot. I n : Rev. de philol. fr. et prov. V I I (1893) 1-18. G. Ziemann, Vers- u. Strophenbau bei J . du Beilay. Diss. Königsberg 1913. Büscher, La versif. de Ronsard. Progr. Gymn. Weimar 1867; P . Laumonier, Ronsard poete lyrique. P . 8 1923; C. C. Humiston, A comparative study of the metrical technique of Ronsard and Malherbe. Univ. of California Publ. in Mod.
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Einleitung
Philol. Berkeley 1941. - L. E. Harvey, The aesthetics of the Renaissance love sonnet. An essay on the art of the sonnet in the poetry of Louise Labi. Geneve 1Ö62. - A. Herting, Der Versbau Jodelles. Diss. Kiel 1884. - Β. Magsaam, Der Versbau des L. des Masures. Diss. Gießen 1914. - P. Körner, Der Versbau R. Garniere. Berlin 1894 (Diss. Leipzig 1893). 17. J h . : M. Souriau, L'ivol. du vers f r . au XVII e stecle. P . 1893 (betr. Malherbe, Corneille, La Fontaine, Moliäre, Racine). - P. Gröbedinkel, Der Versbau bei Phil. Desportes u. F r . de Malherbe. Leipzig 1881 ( = Franz. Studien I 41-126); Ε. A. Beckmann, tätude sur la langue et la versif. de Malherbe. Diss. Bonn 1872; F r . Johanneseon, Die Bestrebgn. Malherbes auf d. Gebiete d. poet. Technik. Diss. Halle 1881; F . Kalepky, In welchem Umfange wollte Malherbe . . . Ändergn. herbeiführen Ρ Dies. Berlin 1882. - H . Lötz, Der Versbau A. de Montchrestiens, Diss. Gießen 1905. - M. Lierau, Die metr. Technik der Sonettiaten Maynard, Gombauld u. Malleville. Diss. Greifswald 1882. - P h . Martinen, Les innovations prosodiques chez Corneille. I n : Rev. d'hist. litt. X X (1913) 65-100. — L. Clement, La versif. de La Fontaine. I n : Revue universitäre I I (1892) 282-302. - H. Gebler, Von Regnard u. seiner Behandlung des Verses. Magdeburg 1894, Progr. Kön. Wilh.-Gymn. 19. J h . : H . Körding, Chateaubriand als Versdichter. Berlin 1913 ( = Roman. Studien, 14). - M. Souriau, La versif, de Lamartine. I n : Revue des cours et conf. VII (1899) 35 ff.; H . Gerhard, Der Versbau A. de Lamartines. Diss. Leipzig 1902; G.Fr.Fooken, Die Metrik Lamartines. Diss. Leipzig 1920. - J.Matzke, Α study of the versif. and rimes in Hugo's 'Hernani'. I n : Mod. Lang. Notes VI (1891) 336-341; A. Theys, La mitrique de V. Hugo. Liöge 1896; P h . A. Becker, Streifzüge durch V. Hugos Lyrik. I n : Archiv CXVII (1906) 86-113; Η . P . Thieme, Notes on V. Hugo's versif. I n : Studies in honour of Α. Μ. Elliott. Baltimore 1911, I 209-224. - Ε. Wehrmann, Beiträge zur Metrik u. Poetik der Dichtung Mussets. Diss. Münster 1893. - A. Cassagne, Versif. et mötrique de Ch. Baudelaire. Thäse, P. 1906; C. Freund, Der Vers Baudelaires. Diss. München 1927. - J . G l a d o w , Vom franz. Versbau neuerer Zeit. Dies. Berlin 1906 (auch in: Roman. Forschgn. X X I I 239-310). - P . Mathieu, Essai sur la mötrique de Verlaine. I n : Rev- d'hist. litt. X X X V I I I (1931) 561-592, X X X I X (1932) 537-559; Cl. Cuönot, Technique et valeur expressive, chez P. Verlaine, des vers autres que l'alexandrin. I n : Le F r a n c i s moderne 29 (1961) 183 ff. u. 288 ff. - M. Ribi, Essai d'une rythmique des Illuminations d'A. Rimbaud. Thöse, Zürich 1948. - A. Ehrentreich, Formprobleme bei E. Verhaeren. I n : Germ.-rom. Mschr. X I (1923) 110-117. - H. Kroll, Studien über den Versaufbau in 'Les Stances' von J . Morias. Diss. Königsberg 1928. 20. J h . : J . Hytier, Les techniques modernes du vers fr. Thise, P. 1924. - Vgl. auch unten S. 51. - M. Parent, Rythme et versif. dans la poisie de Francis Jammes. P. 1957.
ERSTEH TEIL
DAS WESEN DES FRANZÖSISCHEN VERSES A. V o r b e m e r k u n g e n Wir verstehen unter Rhythmus eine planmäßig geordnete, wohlgefällige Gliederung von Sinnes- (in erster Linie Gehörs-)eindrücken. Auf dem Gebiete der Musik wie der Sprache kommt diese Gliederung zustande durch eine geregelte Abstufung ihrer Bestandteile (Töne bzw. Silben) nach ihrem Gewicht, so daß schwere und leichte Teile in bestimmtem Wechsel aufeinander folgen. Eine durch besondere Mittel zu einer relativen Einheit zusammengefaßte Reihe von Wörtern, deren Silben in ihrer Schwere planmäßig abgestuft sind, nennen wir Vers. Die Silben, die ein stärkeres Gewicht haben, heißen Hebungen, die schwächeren Silben sind Senkungen. Ein Vers wie dieser: I I I Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd
zeigt demnach folgende rhythmische Abstufung: SH 1 8SH l SSH 1 SH.
Jede Hebung wird mit den dazugehörigen Senkungen zu einem Versfuß zusammengefaßt und die aus Zahl und Form solcher zu einem Vers vereinigter Füße sich ergebenden Merkmale nennt man das Metrum dieses Verses. Der wesentlichste Punkt bei einer jeden Versart ist die Zahl der Hebungen, danach spricht man von Zwei-, Drei-, VierHebern usw. oder kurz von Zweiern, Dreiern, Vierern. Obiger Vers wäre also ein Vier(heb)er. Daneben ist von Bedeutung, ob innerhalb des Versfußes die Senkungen vor oder hinter der Hebung stehen; im ersteren Falle heißt der Rhythmus „steigend", im letzteren „fallend". Obiger Vierer zeigt also steigende Bewegung. Die Versfüße weisen in der Regel annähernd gleiche Zeitdauer auf, und im Hinblick darauf spricht man nach der Parallele der Musik,
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Dae Wesen des französischen Verses
deren Tonmaterial ebenfalle rhythmisch gegliedert ist und in seinen Takten schwere und leichte Zeiten irgendwie wechseln läßt, von „taktmäßiger" Gliederung des Verses, eine nicht ganz korrekte Ausdrucksweise, die aber schwer durch eine andere Bezeichnung zu ersetzen ist. Jedenfalls pflegen die Hebungen auch im Verse in annähernd gleichen Abständen aufzutreten. Entstanden ist der Vers nicht, wie man vielfach angenommen hat, durch „taktmäßige" Umgestaltung der Prosarede; auf diesem Wege käme man höchstens zu rhythmischer Prosa oder zu sog. freien Rhythmen (wie ζ. B. Goethes Prometheus). Vielmehr wird auszugehen sein von einer Verbindung von gesungenem Wort und Körperbewegung, wie sie etwa im gesangbegleiteten Tanz oder Marsch sowie im Arbeitslied gegeben ist, also im Chorlied, das Körperbewegungen begleitet. Hier herrscht ein in strengem „Takt" gebundener, sog. orchestischer Rhythmus, wie ζ. B. in dem bei entsprechender Gelegenheit gesungenen Liede: Ich hatt' einen Kamera-den . . .
Wie sehr hierbei ein außersprachlicher Faktor den Rhythmus regelt, wird besonders deutlich in Fällen, wo zwar die Melodie aufgegeben ist, aber die Körperbewegungen geblieben sind; es handelt sich da etwa um Abzählreime und ähnliche Kinderverse, deren Rezitation sich den Bewegungen anpassen muß und darum ebenfalls im strengsten Takt verläuft: I I I I Backe, backe Ku-chen,
I
I I I
Der Bäcker hat geru-fen . . .
Nun kann aber auch statt der Melodie die Körperbewegung in Wegfall kommen, dann bleibt das gesungene Lied; dessen Rhythmus wird lediglich durch die Musik bestimmt, die sich mit ihren Dauer- und Schwereabstufungen den Text völlig unterwirft; so ζ. B. bei dem bekannten Volksliede: Ade zur guten Nacht 1
^|
^
| Jj
Jetzt wird der Schluß gemacht,
·| |
I " I" I Sont revenues beugler par les fentes de ma porte: V » soli! ι ι Mais, ahl qu'importe ? ι ι ι II fallait m'en ötourdir avantl ι < ι ι Trop tardl ma petite folie» est morfce. Qu'importe V® solil ι ι ι Je ne retrouverai plus ma petite folie. (Derniers vers, I I I )
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Das Wesen des französischen Verses
Was hier zunächst auffällt, sind die großen Unterschiede in der Länge der Zeilen: die des angeführten Stückes bestehen nach der traditionellen Zählweise aus 17, 13, 3, 4, 9, 10, 6, 13 Silben, aber die Silbenzahl ist dabei nicht wesentlich. Beim Sprechen solcher Verse pflegt man ein der Prosarezitation sehr nahekommendes Verfahren anzuwenden: es wird ein ziemlich schnelles Tempo eingehalten und die in der Prosarede nicht zu Gehör kommenden a-Silben kommen gewöhnlich in Wegfall (oben durch untergesetzten Punkt bezeichnet). Die rhythmische Gliederung wird durch die stark betonten Silben bestimmt, die sich mit den ihnen vorangehenden unbetonten Silben zu Sprechtakten zusammenschließen, ähnlich wie wir es bei dem oben S. 24 f. besprochenen Vortrag wie Prosa festzustellen hatten. Die Zahl dieser Takte kann nicht unerheblich wechseln (in obigen Zeilen zwischen 2 und 4), ja bei einem und demselben Vers je nach der Sprechweise verschieden sein, z. B. eventuell Sont revenues beugler . . . oder I
I
I
Mais, ah\ qu? Importe? Ebenso schwankt die Zahl der unbetonten Silben, in obigen Takten etwa zwischen 1 und 5; bisweilen ist auch ι keine unbetonte Silbe vorhanden, z. U.V. 1: Or, . . . Da die ungleich langen Takte nicht etwa isochron zu sprechen sind, haben diese prosamäßig gegliederten Zeilen keinen festen Rhythmus, der in der Form eines Metrums darstellbar wäre; darum hat auch die Beachtung der für die traditionsmäßig gebauten Verse geltenden Sonderregeln (s. unten im III. Teil) keinen Sinn mehr: die herkömmlichen Vorschriften betr. Silbenzählung, Zäsur usw. gelten nicht, auch auf den Reim wird gewöhnlich verzichtet, obwohl gerade Laforgue ihn noch oft (s. unser Beispiel) verwendet hat, und damit wird zugleich die Zusammenfassung der Zeilen zu strophischen Formen hinfällig. Dieses prinzipiellen Unterschieds gegenüber den Versen normalen Baus ist man sich auch in Frankreich (trotz der für die letzteren bestehenden verschiedenen Möglichkeiten des Vortrage) bewußt und so lassen die Theoretiker derartige freie Rhythmen gewöhnlich nicht als „Verse" gelten. Jedoch scheinen die Dichter selbst diese Scheidung oft weniger stark zu empfinden, denn nicht nur werden die einzelnen Reihen stets wie Verse abgesetzt, sondern man schaltet sehr häufig auch mehr oder weniger korrekt gebaute Verse, besonders Alexandriner (aus 6 + 6 oder ^ + 4 + 4 Silben) dazwischen. Der für diese Form der Poesie in Frankreich allgemein angenommene Ausdruck vers libres ist leider mehrdeutig, denn diese Bezeichnung gilt auch für Verse des alten strengen Baus, nur mit wechseln-
D. Versbau auf anderer Grundlage
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der Silbenzahl und freier Reimstellung, wie sie ζ. B. im 17. Jh. La Fontaine und Moliere verwendet haben. Der Begründer der modernen Technik ist Gustave Kahn, der sich zunächst 1888 in der Revue independante und dann in dem einer neuen Ausgabe seiner Premiere po&ntes v. J . 1897 beigegebenen Essai sur le vers libre auch theoretisch über die mit seiner Neuerung von ihm verfolgten Absichten ausgesprochen hat. Als Vorläufer hat er A. Rimbaud gehabt, von dem zwei Gedichte (Marine und Mouvement, entst. um 1873) in reimlosen Versen von 3 bis 21 Silben 1886 gedruckt worden waren. Kahn hat auch die ersten Beispiele planmäßiger Verwendung gegeben in seiner ersten lyrischen Sammlung Lea palais nomades von 1887, aus der bereits 1886 Teile in der Zeitschrift La vogue erschienen waren. Das Ziel, das er erreichen wollte, war, den einzelnen Vers aus der Bindung an das Reimpaar zu lösen und zugleich seine Ausdruckefähigkeit durch „Assonanz" (vokalische Anklänge) und Alliteration zu steigern. Die darin liegende Tendenz, die strengen Fesseln, die die Schule des Parnaß der französischen Verskunst auferlegt hatte, zu lockern, ließ die Neuerung bei den Anhängern der symbolistischen Schule schnell Anerkennung finden. So folgten dem von Kahn gegebenen Beispiel Jules Laforgue (ebenfalls noch 1886 in La vogue), dann J . Morias, A. Mockel, Fr. Viel6-Griffin, H. de R6gnier u. a. Auf diese Weise erwuchs seit 1887 neben der altüberlieferten Verspraxis ein neuer metrischer Gebrauch, der sich in der französischen Dichtung bis in die unmittelbare Gegenwart behauptet hat, ohne jedoch die ältere Technik verdrängen zu können. Manche Dichter, wie Maeterlinck, Jammes, G. Apollinaire, J. Romains haben sich bei ihrer lyrischen Produktion beider Wege bedient, andere, so J . Mor£as, Regnier, Ch. Guörin, sind von der freien Form ganz wieder abgekommen. Dagegen hat Verhaeren seine Zeilen, auch wenn er sie akzentuierend empfunden hat (s. o. S. 30), meist nach den Regeln eines strengen Versbaus geschaffen; umgekehrt hat Paul Fort in seinen wie Prosa gedruckten Versen, trotz aller Freiheiten in Silbenzählung und Reimgebrauch sowie Zulassung von Hiatus, den alternierenden Rhythmus stets fühlbar festgehalten. Im 20. Jh. hat sich dann die Weiterentwicklung in zwei entgegengesetzten Richtungen vollzogen. Auf der einen Seite haben manche Dichter, teilweise durch die freien Rhythmen des Amerikaners Walt Whitman beeinflußt, alle etwa noch verbliebenen versmäßigen Qualitäten (Reim, Alliteration usw.) aufgegeben, die Silbenzahl der Sprechtakte gesteigert und die Länge der Zeilen bis auf 20 und noch mehr
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Das Wesen des französischen Verses
Silben ausgedehnt, womit die rhythmische Geschlossenheit dieser Wortfolgen ganz verloren ging; als einziger Unterschied gegenüber reiner Prosa bleibt nur noch das Streben, jeder Zeile möglichste syntaktische Selbständigkeit zu geben, also auf Perioden zu verzichten. Eine solche sehr weitgehende Auflösung der poetischen Form findet man ζ. B. bei Val. Larbaud, noch mehr bei J. Supervielle, Bl. Cendrars oder Drieu la Rochelle; ähnlich auch bei Paul Claudel, der in den Versen (versete) der biblischen Psalmen ein ihm eigentümliches Vorbild gefunden hat. Anderseits ist es aber auch zu einer Wiederannäherung an den regelstrengen Versbau gekommen, der ja stets weitergepflegt worden ist und in Paul Val6ry seinen bedeutendsten modernen Vertreter hat. So hat sich zunächst eine ziemlich große Zahl von Dichtern der bereits erwähnten klassischen (silbenzählenden) Art der vers libres bedient, um näher beim Hergebrachten zu bleiben; zu diesen gehört ζ. Β. H. de R£gnier, der seine freien Verse, wenigstens die der späteren Zeit, deutlich auf silbenzählender Grundlage gebaut hat, wie etwa folgende Gegenüberstellung der Silbenzahlen der ersten 30 Verse seines Gedichts V accue.il (aus La Sandale ailee) mit den 30 Versen des Kahnschen Gedichts La Provence (aus Le livre damages) zeigen mag: R. 11, 4, 10, 4, 10, 12, 4, 2, 8, 3, 8, 2, 4, 10, 10, 4, 11,10, 8, 8, 8, 8, 12, 4, 4, 10,7,
6,2, 12. K. 9, 13, 5, 10, 7, 7, 4, 8, 9, 7, 9, 9, 7, 8, 8, 9, 9, 14, 8, 9, 11, 12, 8, 9, 6 , 7 , 8 , 9 , 9 , 9 .
Wie man sieht, bilden bei Regnier (wie von jeher bei den Dichtern klassischer Vers libres) die Verse von gerader Silbenzahl (4-12 Silben) den Hauptbestandteil, zwischen die nur mehr gelegentlich Verse von ungerader Silbenzahl geschaltet sind. Diese strengere Art der freien Verse lebt auch noch im 20. Jh. neben der gelockerten modernen Art fort; daneben aber erscheint eine weitere Technik eigener Art, die ihre Verse im Sinne der beim frei-rhythmischen Vortrag sich ergebenden Formen schafft. IV. Frei-rhythmischer Versbau Da der akzentuierende Vortrag der Verse, auf der Bühne wie auch sonst, im 19. Jh. um sich gegriffen und in der metrischen Technik ζ. B. die unsymmetrisch dreigeteilten Gliederungen des Alexandriners (s. o. S. 23) hervorgerufen hatte, ist verständlich, daß manche moderne Dichter ihre Verse nicht mehr auf der Grundlage der Alternation,
D. Versbau auf anderer Grundlage
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sondern der Akzente konzipieren. Dabei behalten zwar die einen die strenge Silbenzählung und meist auch die sonstigen Vorschriften bei (ζ. B. Verhaeren, R. de Souza, L.-P. Fargue), andere aber (so Fr. Jammes, P.-J. Jouve, Giraudoux, Duhamel u. a.) lassen, wohl unter Einwirkung der modernen vera libree, diese Beschränkungen fallen und begnügen sich damit, den Versen annähernd gleiche Länge zu geben und der modernen Aussprache (ζ. B. auch hinsichtlich der zu sprechenden »-Silben) Rechnung zu tragen; auch vom Reim wird oft abgesehen, trotzdem führt man vielfach strophische Gliederung (in Satzkonstruktion und typographischer Wiedergabe) durch. Für alle poetischen Erzeugnisse dieser Art ist, trotz etwaigen verschiedenen Verhaltens in Einzelpunkten, von Bedeutung, daß nur die starkenWortakzente für die Ausprägung des Rhythmus maßgebend sind; eine ausgleichende Vortragsweise ist unmöglich. Als Beispiel mag folgende Strophe eines Gedichts von Max-Pol Fouchet (geb. 1913), La mer interieure (Bertel6 S. 256), dienen, dessen Verse meist zehn Silben enthalten, aber diese Zahl oft über-, oft unterschreiten : J e sens qu'il est u n mot que t u me redis I I I I Un m o t qui me cerne au fond de moi-möme I I I I Un pampre vert d'oü le raiein coule I I I I E t cette careese enfln maröe souveraine I i j ι Que rien ne lasse et ne salt interrompre
11 10 θ 12 10
Wie vielfach bei den ganz Modernen wird (nach Mallarm6s Vorgang) auch hier jede Interpunktion unterdrückt. Deutlich tritt das Streben hervor, den Versen eine ziemlich feststehende Zahl von Hebungen (hier 3—4) zu geben und dabei die Silbenzahl der sich ergebenden, stets steigenden Takte zu beschränken, so daß sich beim Vortrag häufig (so wie hier) ein Isochronismus ohne Schwierigkeit durchführen ließe. Man wird diese neue Art des Versbaus als „frei-rhythmisch" bezeichnen dürfen und hätte sie von den vers libree Kahns und seiner Nachfolger prinzipiell zu scheiden; etwas näher stehen sie den oben S. 44 behandelten streng-akzentuierenden Versen Rilkes, von denen sie aber doch richtiger getrennt werden. Mit derselben Technik wie Fouchet haben von den Jüngeren u. a. Lucien Becker (geb. 1911) und Ren6 Lacöte (1913) ihre Verse gebaut (Bertel6 S. 177 und 148).
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B a s Wesen dee französischen Verses
Von den vorstehend besprochenen Wegen, französische Verse auf anderer Grundlage als der traditionellen alternierenden zu bauen, hat weder das quantitierende noch das streng-akzentuierende Verfahren ein Heimatrecht in der Dichtung erringen können, da beide der Struktur des französischen Sprachmaterials bzw. Wortgruppenakzents nicht entsprechen; die modernen vers libres sind überhaupt nicht als Verse im strengen Sinne anzuerkennen, und so würde eine Erneuerung des französischen Versbaus nur im Sinne der frei-rhythmischen Praxis aussichtsvoll erscheinen. Die alte traditionelle Verstechnik ruht nicht nur auf der jetzt mehr und mehr als unnatürlich empfundenen Grundlage der Alternation, sondern hat auch (wie unten im III. Teil zu zeigen) eine archaisierende Behandlung der Sprache zur Voraussetzung; diese konventionelle Einstellung rückt aber die Poesie in einen so bedeutenden Abstand gegenüber der lebenden Sprache, daß mancher Dichter, der diese trennende Absonderung zu vermeiden wünscht, lieber auf die besonderen Gefühlswerte verzichtet, die von einem nach strengem Rhythmus gebauten und entsprechend vorgetragenen Verse ausgehen, die aber von andern, konservativer eingestellten immer noch gesucht werden. Übrigens kommt im gegenwärtigen Frankreich fast nur noch die Lyrik als Verwendungsgebiet gebundener Bede in Betracht, da sowohl Drama als auch Epik nur noch wenig Gebrauch von Versen machen. Bemerkenswert ist noch, daß neben diesen Bemühungen um „Befreiung" des Verses im 19. Jh. auch die volle, reine Prosa als Form der Lyrik erscheint; bereits in Chateaubriands Atala für einzelne lyrische Stellen verwendet, wird sie zuerst von Al. Bertrand, dann vor allem von Baudelaire, Rimbaud und Mallarm6 in selbständigen, kleineren Stücken durchgeführt und so auch noch von Späteren bis ins 20. Jh. hinein weitergebraucht. L i t e r a t u r . Zu I. Saran, Rhythmus, 8. 12 ff. - A. Thomas, Michel de Boteauville et les premiers vers fr. mesuris. I n : Annales de la Fac. des Lettres de Bordeaux, V (1883) 325-353. - Baüfs hierher gehörige Werke nur teilweise gedruckt: tätr^nes de ροέζίβ franso^ze an v^rs mezurös, 1574; Ξ . Nagel, Die metr. Verse J. A. de Bait's. Diss. Leipzig 1878. - D. Durand, Dissertation sur la prosodie fr., zuerst als Beigabe zu: A. Boyer, Dictionnaire royal fr.anglais et angl.-fr. Nouv. 6d. London 1748, 1752 wesentlich umgearbeitet. - de Thomasson, La po^aie m6trique fr. aux XVI® -XVIII® siöcles. In: Le frangais m o d . V (1937) 41-54. Zu II. K. Ed. Müller, Über akzentuierend-metr. Verse in d. franz. Sprache d. X V I - X I X . Jhs. Diss. Rostock 1882. - Saran, Rhythmus, S. 20-35. - Zur Eulalia: M. Enneccerus, Versbau u. gesangl. Vortrag des ältesten fr. Liedes.
D. Versbau auf anderer Grundlage
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Frankf. a.M. 1901; Έ. Sievers, Elnoneneia. I n : Berliner Beiträge zur roman. Philologie. I (Festschr. f. Ed. Wechßler), Jena u. Leipzig 1Θ2Θ, S. 268 f.; 8. Eringa, La versification de la Sainte Eulalie. I n : Neophilologus X I (1926) 1-8. Über einen halb lat., halb afr. Hexameter des 12. Jhs. s. ZrP X X I I I (1909) 77 u. 347. - Für e. mod. Versbau auf streng-akzentuier. Grundlage treten ein: J . A. Ducondut, Essai de rythmique fr. P. 1856; J . Guilliaume, Le vers fr. et les proc^dös mod. Bruxelles 1898; S. Coculescu, Essai sur les rythmes toniques du fr. P. 1925; de Thomasson, La po&ie rythmique fr. est-elle possible aujourd'hui. In: Le frangais mod.V (1937) 146-157. Zu I I I . A. Beaunier, La po&ie nouvelle. P . 1902, S. 24-44, 86-88, 106 bis 108. - R. de Gourmont, Esth&ique de la langue fr. P. 1905, S. 215-253. - P . M. Jones, Influence of Walt Whitman on the origin of the 'vers libre'. I n : Mod. Lang. Review X I (1916) 186-194. - ΪΜ. Dujardin, Les premiers pontes du vers libre. P . 1922. - M. Dondo. Vers libre. P. 1922. - H. Morier, Le rythme du vers libre symboliste. 3 Bde. Genf 1943/44 (I: Verhaeren [Thdse de Geneve], I I : H. de B£gnier, I I I :Viel6-Griffin - L.-P. Thomas, Le vers moderne, see moyens d'expression, son esth^tique. Bruxelles (Ac. R. de lang, et litt. fr. de Belgique, tome XVI) 1943. - P. Μ. Jones, The first theory of the 'vers libre'. In: Mod. Lang. Review X L I I I (1947) 207-214. Zu IV. R. de Souza, Questions de m^trique: Le rythme po^tique. P . 1892, 8. 231ff. Über die neuesten theoret. Schriften zur Weiterbildung des franz. Versbaus vgl. Chr. Sänöchal, Les grands courants de la litt. fr. contemp. Marburg 1934 S. 161-167, 363-367; V. Klemperer, Die mod. frz. Lyrik. Leipzig 1929, S. 18 bis 30. Neudruck Berlin 1957. Über Gedichte in Prosa s. Klemperer, Mod. frz. Lyrik, S. 31-38; Fr. Rauhut, Das frz. Prosagedicht. Hamburg 1929 (= Hamburger Studien usw. Bd. 2).. Suzanne Bernard, Le po&ne en prose de Baudelaire k nos jours. P. 1959. J. Simon, The prose poem. Havard Univ. Diss. 1959. - Μ. Parent, Saint-John Perse et quelques devanciers. Etudes sur le po&ne en prose. Frankfurt-Paris I960.
ZWEITER T E I L
DIE VERSARTEN A.Vorbemerkungen Bei der hier zu gebenden Übersicht über die in der französischen Dichtung auftretenden Versarten sollen nur die auf Grundlage der traditionellen,frei-akzentuierendenTechnik geschaffenen besprochen werden; sie wären nach Bau, Ursprung und Verwendung zu betrachten. Die Einteilung pflegt man von jeher nach der Zahl der Silben, aus denen jeder Vers besteht (und wobei eine am Versende oder in der Zäeur stehende unbetonte a-Silbe nicht mitgerechnet wird), vorzunehmen und erhält danach Verse, die mindestens eine, höchstens sechzehn Silben enthalten. An sich wäre richtiger, statt dieser ziemlich äußerlichen Gruppierung vom Versrhythmus auszugehen, das ist aber wegen der mit der gewählten Vortragsart wechselnden rhythmischen Gestaltung kaum bis ins Einzelne möglich. Im Sinne des ursprünglichen alternierenden Rhythmus wären diefranzösischenVersezunächst in jambische und trochäische zu scheiden, indem zu den ersteren fast alle Verse mit gerader Silbenzahl, zu den letzteren die meisten mit ungerader Silbenzahl gehören; diese beiden Gruppen wären dann weiter nach der Zahl der Versfüße zu gliedern, wonach sich hier wie dort Verse von einem bis zu acht Füßen ergeben. Doch ist eine solche Einteilung nicht glatt durchführbar, indem ζ. B. der Zehnsilber mit Zäsur nach der vierten oder sechsten Silbe allerdings jambischen, dagegen der mit Zäsur nach der fünften Silbe trochäischen Gang hat, oder etwa der Neunsilber aus 4 + 5 Silben in seiner ersten Hälfte jambisch, in der zweiten trochäisch zu rhythmisieren wäre. Bei Zugrundelegung eines akzentuierenden Vortrage hingegen ergeben sich dadurch Schwierigkeiten, daß die einzelnen Verse gleicher Silbenzahl sich je nach der Zahl der gliedernden Wortakzente in eine wechselnde Zahl von Takten verschiedener Silbenzahl zerlegen. Unter diesen Umständen muß es
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Die Verearten
notgedrungen bei der üblichen Einteilung der Verse nach der Zahl ihrer Silben sein Bewenden haben, darüber hinaus käme nur die Stellung einer etwaigen Zäsur für die Festlegung des „Baus" in Betracht. Aus praktischen Gründen empfiehlt es sich nun aber, doch noch eine Unterteilung der Versarten vorzunehmen, und zwar nach ihrer Verwendung: auf der einen Seite stehen solche französische Verse, die traditionsmäßig in weitestem Umfang gebraucht wurden oder noch werden, auf der anderen Seite solche, die zwar auch zu verschiedenen Zeiten auftreten, aber doch nur mit Einschränkungen verwendet worden sind. Zu der ersten Gruppe gehören der Acht-, der Zehn- und der Zwölfsilber, zur zweiten alle übrigen. Bei einer Betrachtung der einzelnen Versarten ist, wie vorher gesagt, auch die Frage ihrer Herkunft zu prüfen, die leider noch nicht endgültig geklärt ist. Wenn man sich vor den mancherlei Zeugnissen, die für die Existenz einer im Volksmunde lebenden vofliterarischen Poesie sprechen, nicht von vornherein verschließt, muß man zwei Wege, auf denen altfranzösische Verse entstanden sein können, unterscheiden: 1. Entweder sie sind von jeher, d. h. von spätrömischer Zeit her, vorhanden gewesen und wären dann durch eine anzunehmende frühromanische Volksdichtung getragen ins Mittelalter gelangt. Bei einer derartigen, jahrhundertelangen mündlichen, besonders gesungenen Fortpflanzung (zur Begleitung von Beigentänzen usw.) wird man bei diesen „Erb"-versen mit stärkeren Umgestaltungen rechnen dürfen. 2. Oder sie sind erst in späterer Zeit aus andern Literaturen herübergenommen worden. Als Quelle für solche „Lehn"-verse kommen, da an keltische oder deutsche Versmaße kaum gedacht werden darf, wohl nur die mittellateinische und die provenzalische Dichtung in Frage; bei einer solchen immittelbaren (literarischen) Nachahmung wird der Lehnvers im allgemeinen alle wesentlichen Züge seines Vorbilds aufweisen, eine Ähnlichkeit, die allerdings unter Umständen auch zulassen würde, die Abhängigkeit umgekehrt zu beurteilen und das Altfranzösische als den gebenden Teil anzusehen, so daß nicht überall mit einer eindeutigen Antwort zu rechnen ist. Denkbar wäre auch, daß ein Vers, der aus dem späten Altertum „ererbt" worden ist, im Mittelalter nochmals aus dem späteren Lateinischen „entlehnt" worden wäre, möglicherweise mit verschiedenem Endergebnis. 3. Ergänzend sei auch noch auf die weitere Möglichkeit hingewiesen, daß eine bestimmte Versart, ζ. B. aus praktischen Bedürfnissen der Musik heraus, frei geschaffen wurde.
Β. Die bevorzugten Versarten
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Zur Vermeidung von Mißverständnissen ist zu bemerken, daß im Gegensatz zum französischen und provenzalischen Vers, wo unbetonte Silben in der Zäsur und am Versende nicht bei der Zählung berücksichtigt werden, man im Mittellateinischen die unbetonten Silben dieser Art mitzuzählen pflegt, also ζ. B. Anno revirente nicht als „weiblicher1 Fünfsilber", sondern als ,,trochäischer Sechssilber" gilt. L i t e r a t u r . Kästner, S. 91-106, 140-158; Tobler, 8 . 9 3 - 1 2 4 ; Stengel, S. 14-38; Chatelain, S. 234-241; F. de Gramont, S. 72-166; Aubertin, S. 179 bis 213; Gladow, 8. 36-48; Lote, II 63-66.
B. D i e b e v o r z u g t e n V e r s a r t e n I. Der Achtsilber
Als Beispiel dieser Versart diene der Anfang von V. Hugos Gedicht Lee Μ ages: Pourquoi done faites-vous des prgtres Quand vous en avez parmi vous? Lee esprits conducteurs des etres Portent un eigne sombre et doux. (Lea contemplations,
VI 23)
Sie ist im Mittelalter die meist gebrauchte aller französischen Versarten und dient in erster Linie für die gesprochenen (nicht gesungenen) poetischen Gattungen. Dahin gehört die geistliche Dichtung (Legenden, erbauliche Erzählungen, LehrSchriften), dazu die aus geistlichen Anfängen erwachsene dramatische Literatur (Mysterien, Mirakelspiele, Moralitäten), ebenso auch die komischen Gattungen (Farcen und Sotien, d. h. Narrenspiele); ferner die weltliche lehrhafte Dichtung, vor allem Reimchroniken, und moralisierende Schriften, ζ. B. Fabeln. Hinzu kommt der sog. höfische Roman, so etwa die Werke Crestiens von Troyes oder der allegorische Roman de la rose von Guillaume de Lorris, nur die Romane über Alexander den Großen sind auezunehmen. Auch kleinere Novellen (ζ. B. die Lais der Marie de France), das Tierepos (Roman de Renart nebst Nachahmungen) und die Schwänke (sog. Fablels) gehören hierher. In allen genannten Literaturgattungen erscheint der Achtsilber paarweise gereimt. In der Lyrik, die strophische Formen hat und lange Zeit gesungen wurde, ist er bei den volkstümlichen Gattungen ebenfalls von Anfang an vorhanden, im höfischen Liede sind aber andere Versarten beliebter, erst im 14. und 15. Jh. 1 Weiblich heißt ein Versschluß bzw. Beim, wenn auf die betonte Silbe noch eine unbetonte folgt; schließt der Vers mit einer betonten Silbe, so heißt er männlich. Die Bezeichnung ist von den Motionsformen der Adjektive (bon bonne, fort-forte) hergenommen und gilt entsprechend auch für die Zäsuren.
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Die Versarten
wird er auch da häufiger (ζ. B. bei Guillaume de Machaut, Euetache Deschamps, Frangois Villon). Alles zusammengenommen liegt eine ungeheuer umfangreiche Literatur in der Form des gepaarten Achtsilbers vor. Von wichtigeren Gattungen schließt sich allein das Heldenepos aus, nur Gormund und Isembart ist in Achtsilbern abgefaßt. Mit dem Beginn der neueren Zeit geht der Achtsilber in seiner Verwendung stark zurück, zum großen Teil dadurch, daß die mittelalterlichen Gattungen, die sich seiner bedienten, selbst abkommen: so wird der Versroman durch Prosa ersetzt, das geistliche Drama durch die Renaissance-Tragödie abgelöst; Legendendichtung und Reimchroniken hören schon im Mittelalter selbst auf. Nur auf wenigen Gebieten bleibt er weiter im Gebrauch: so in der Farce des 16. Jhs., von der das um 1550 entstehende Renaissance-Lustspiel diese Form übernimmt (Jodelle, Eugene, 1552; J . Grevin, R. Belleau, Fr. Perrin) und erst Anfang des 17. Jhs. mit dem Alexandriner vertauscht. Auch die leichte Verserzählung (im 17. Jh. La Fontaines Cordes, daneben die burleske Modeepik, wie Scarrons Virgile travesty, und im 18. J h . ζ. B. La Chartreuse von Gresset, im 19. u. a. Mussets Simone) bleibt bei dieser Versart. Der eigentliche Verwendungsbereich des Achtsilbers ist aber nun die Lyrik, wo er teils rein, teils mit andern jambischen Versarten (Zwölf-, Zehn-, Sechs-, Vier-Silbern) gemischt ζ. B. in Ode und Epigramm begegnet und im Lied (chanson) bis zur Gegenwart die üblichste Form geblieben ist. Nach dem der Vers bereits bei den Romantikern (Lamartine, Hugo, Musset) wieder häufiger geworden war, gewinnt er besondere Beliebtheit bei Th. Gautier und Banville, die in einigen ihrer lyrischen Bände (ζ. B. Gautiers Εmau χ et camees, Banvilles Odes funambulesques) sich fast ausschließlich dieser Versart bedienen. Auch später greifen Lyriker immer wieder einmal auf ihn zurück und im 20. Jh. scheint er sogar wieder beliebter zu werden, indem etwa J.-M. Bernard, Ch. Vildrac, Vallery-Radot, J . Romains, Fr. Carco u. a. ihn (wie schon Gautier) gern in der vierzeiligen Strophe gebrauchen, während P.Val£ry sein Gedicht La Pythie in Zehnzeilern verfaßt hat. Was die Herkunft dieser Versart betrifft, so ist die gegenwärtig herrechende Ansicht die, daß sie dem mittellateinischen Achtsilber, der ja im Mittelalter als Hymnenvers besonders beliebt war, nachgebildet ist; dieser liegt ζ. B. in folgender Strophe vor: Nostros pios cum canticis Fletus benignus suscipe, Quo corde puro sordibus Te perfruamur largius.
(Hymnar. Moiesiac. Nr. 16)
Β. Die bevorzugten Versarien
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Gegen diese Herleitung ist aber einzuwenden, daß der Vers in einigen besonders alten oder altertümlichen altfranzösischen Texten sehr häufig (bei rund 75 Prozent aller Verse) mit einem leichten Einschnitt hinter betonter vierter Silbe erscheint; so halten es die Passion Christi vom Ende des 10. Jhs., in der der Achtsilber zum erstenmal auftritt ζ. Β. V. 201-202: Cum le matins ' fud esclairez, davant Pilat ' l'en ant menet;
ferner das Leodegarleben, das Epos Gormund und Isembart, die Seereise Brendans, das Adamsspiel und der Roman du Mont-Saint-Michel, und nur allmählich nimmt im Lauf der Zeit die Häufigkeit dieser „Zäsur" ab. (Nur im Anglonormannischen bleibt sie beliebt.) Im Gegensatz dazu kennt der mittellateinische Vers diesen Einschnitt als feste Einrichtung überhaupt nicht, und wenn ein solcher auftritt, so fast nur nach unbetonter vierter Silbe, während bei betonter vierter das Wort erst mit der fünften Silbe schließt. Unter diesen Umständen wird man doch (mit Verrier) an die Möglichkeit denken dürfen, daß, wenn (wie man annimmt) der klassisch-lateinische jambische Dimeter (Zweitakter) der Ausgangspunkt des mittellateinischen rhythmischen Achtsilbers ist, der entsprechende altfranzösische Vers auf den volkstümlichen antiken jambischen Oktonar (Achtheber) zurückgeht, der als Sechzehnsilber im Mittelalter weiterlebt und dessen beide Glieder (8 + 8) durch Einführung von Binnenreim verselbständigt werden konnten. Für diesen Ursprung spricht auch die bis über die Mitte des 12. Jhs. zu verfolgende altertümliche Praxis, je zwei miteinander reimende Achtsilber zu einer engen syntaktischen Einheit zusammenzufassen; auf volkstümliche Tradition weist überdies die Tatsache hin, daß die beiden genannten ältesten Achtsilber-Texte des Französischen nicht den vollen Reim, sondern nur die sog. Assonanz verwenden. Natürlich kann der altfranzösische Achtsilber, auch wenn er sich selbständig herausgebildet haben sollte, nachträglich durch den mittellateinischen Vers beeinflußt worden sein; so ist möglicherweise der in der ersten Hälfte des 12. Jhs. einsetzende langsame Abbau der Mittelkerbe als eine Anpassung an die gleichzeitige lateinische Praxis zu verstehen, und eine andere Einwirkung ebendaher verraten die weiblichen Verse des Brendan, die einschließlich der unbetonten Endsilbe nur acht (statt der sonst üblichen neun) Silben zählen, ebenso wie die männlichen. Vgl. etwa Seereise Br. 387-390:
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Die Verearfcen Veient berbiz a grant fuisun, A chescune blanche tuisun; Tutes erent itant grandes Cum sunt li cerf par ces landes.
Diese Besonderheit findet sich (abgesehen von lateinischen Gedichten, wo sie häufig ist) nur noch in vereinzelten anglonormannischen Texten. II. Der
Zehnsilber
Dieser Vers ist so gut wie stets durch eine Zäsur gegliedert, die aber an verschiedenen Stellen auftreten kann und dadurch verschiedene Unterarten ergibt. 1. Zu allen Zeiten ist die Form mit Zäsur nach der vierten Silbe (4 -f- 6) die gebräuchlichste gewesen; sie liegt etwa in folgender Probe aus A. deVignys Gedicht Madame de Soubiae vor (Anfang von Str. VII): Le vieux Baron, en signant sa poitrine, Va visiter la reine Catherine; Sa Alle reate et dans la cour s'aseied; Mais Sur un corps eile heurte son pied . . .
Der Rhythmus ergibt alternierend 2 + 3 Jamben, akzentuierend 1 oder 2 + meist 2 Takte. Über den Ursprung dieser Versart besteht keine volle Klarheit. Der moderne Vers scheint aus der Vermischung zweier verschiedener altfranzösischer Formen hervorgegangen zu sein: a) die eine mit stark ausgeprägter Zäsur, die gegebenenfalls auch eine überzählige unbetonte a-Silbe aufweisen darf, wie ζ. B. Bons fut li secies | al tens ancienur {Alexius, V. 1).
Dies ist die übliche Versform des altfranzösischen Heldenepos, das sie seit den Anfängen (Wilhelmslied vom Ende des 11. Jhs., Rolandslied vom Anfang des 12. Jhs.) fast ausschließlich verwendet und erst seit Ende des 12. Jhs. allmählich durch den Alexandriner ersetzt. Das um 1050 verfaßte Alexiusleben, das das älteste Beispiel einer Verwendimg dieses Zehnsilbers bietet, dürfte ihn älteren, verlorenen Vertretern jener epischen Gattung entlehnt haben. Auch in der volkstümlichen Lyrik (Romanzendichtung) ist der Vers oft zu belegen. Um die Entstehung dieses „epischen" Verses zu erklären, hat man auf einen mittellateinischen Elfsilber (5 + 6) hingewiesen, ζ. B. Temporum metas ' rota torquet anni (Hymn. Moies. Nr. 102),
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Β . Die bevorzugten Versarten
der als eine alternierende Nachbildung eines quantitierenden Verses anzusehen wäre, aber kaum des im Mittelalter seltenen sog. alkäischen Verses: Vides u t a l t a ' s t e t nive candidum (Horaz, Carm.
19),
sondern eher des sapphischen Verses: Integer v i t a e ' scelerisque purus (Horaz, Carm. 1 2 2 ) ;
aber angesichts des scharfen Gegensatzes in der Bewegung des zweiten Versglieds (mittellateinisch fallend, altfranzösisch steigend) verdient m. E. eine andere Herleitung den Vorzug: Saran deutet den Vers als eine beim gesungenen Vortrag eingetretene Verkürzung eines steigenden Doppelvierers (des jambischen Oktonars?), dessen erste Hälfte, ursprünglich x x x x x x ' x x , zunächst zu einem Preßrhythmus χ χ χ χ χ und weiter zu einem jambischen Zweiheber χ χ' χ χ χ verkürzt worden wäre, während die zweite Hälfte den letzten Fuß durch eine Pause ersetzt und damit die Reihe χ χ χ χ' χ χ Λ ergeben hätte. Diese Erklärung (die unten im III. Teil, unter C II 1, genauer dargelegt wird) befriedigt metrisch durchaus, indem sie vor allem auch die auffällige Häufigkeit der weiblichen Zäsuren verständlich macht, und hat nur das Bedenken gegen sich, daß diese Entwicklung in der vorliterarischen Periode der französischen Dichtung vor sich gegangen sein müßte und bei dem Fehlen von Texten nicht nachzuweisen ist. b) Die andere Form hat nach der vierten Silbe zwar gewöhnlich auch eine Wortgrenze, aber oft keinen deutlichen syntaktischen Einschnitt und wirkt daher im Gegensatz zu der Zweigliedrigkeit der unter a) behandelten „epischen" Form als einheitliche Reihe. Diese Versart ist der altfranzösischen Kunstlyrik eigentümlich und erscheint erstmalig in der sog. „Paraphrase des Hohen Liedes" vom Ende des 11. Jhs. Dort finden sich Verse wie oder:
Quant Ii solleiz converset en Leon . . . Vers lui ne pued tenir nulle clartez.
Verse solchen Baus werden dann einerseits im mittelalterlichen Drama für einzelne Stellen (zwischen den vorherrschenden Achtsilbern) verwendet, wofür der sog. Sponsus und das Adamsspiel (erste Hälfte bis Mitte des 12. Jhs.) die ältesten Belege bieten; anderseits und vor allem im höfischen Minnesang, wo diese Versart, wohl unter Einfluß des altprovenzalischen Zehnsilbers, eine große Rolle spielt. Da die genannte Paraphrase des H.Liedes eine im 11. Jh. bezeugte lateinische strophische Form nachbildet, liegt die Annahme nahe, daß auch die be-
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Die Verearten
sondere Versform aus dem Lateinischen herübergenommen ist, wo ein zehnsilbiger Vers aus 4 + 6 Silben mit sehr schwachem syntaktischem Einschnitt, aber stets mit Wortgrenze nach der vierten Silbe, seit dem 11. J h . vorkommt; ζ. B. oder:
Congaudeat turba fidelium Laudem coeli nuntiat angelus.
In diesem lateinischen Zehnsilber sieht man gewöhnlich die Nachahmung eines daktylischen Tetrameters (Viertakters, des sog. alkmanischen Verses), wie er quantitierend in dem Horazverse: Ibimus, ο socii comitesque! (Carm. I 7, V. 26)
und rhythmisch in einem Sequenzenverse wie I I I I Dominus caeli rex et conditor (9. Jh.)
vorliegt, woraus weiter beim Übergang zu einem alternierenden Rhythmus sich Verse wie die oben zitierten ergeben hätten; von diesen müßten auch die provenzalischen Zehnsilber der Troubadours herstammen, wogegen der Vers des epischen Boeci seinem Bau nach mit dem altfranzösischen epischen Vers zusammengehört. Unklar bleibt bei dieser Auffassung, woher obiger mittellateinischer Zehnsilber den Einschnitt ninter der vierten Silbe hat; sollte er vom altfranzösischen epischen Vers übernommen sein ? Oder sollte, wie Gröber und Verrier glauben, der lateinische Zehnsilber überhaupt erst nach dem Muster dieses französischen Verses geschaffen sein ? Auch die Strophenform jener altfranzösischen Paraphrase des H. Liedes und ihres lateinischen Musters wird von manchen als Nachahmung einer volkstümlichen Form beurteilt. Die beiden nach Bau und Herkunft verschiedenen Arten des altfranzösischen Zehnsilbers, der epische und der lyrische, haben schon früh angefangen sich zu beeinflussen, so daß ζ. B. die oben erwähnte, dem epischen Vers eigentümliche sog. weibliche Zäsur gelegentlich auf die lyrische Form übertragen worden ist, die jederzeit auch stärkere Einschnitte nach der vierten Silbe eintreten lassen kann. Nachdem das Heldenepos den epischen Zehnsilber im Laufe des 13. Jhs. so gut wie ganz zugunsten des Alexandriners aufgegeben hatte - häufig wurden alte Zehnsilberepen in Zwölfsilber umgeschrieben lebte nur noch die spätere Form des lyrischen Verses weiter, die im 14. und 15. Jh. neben dem Achtsilber eine große Rolle spielt. Im 16. J h . nimmt seine Beliebtheit zunächst noch weiter zu, so daß Ronsard ihn
Β. Die bevorzugten Versarten
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vers commun nennen konnte, doch wird er in der Lyrik seit der Jahrhundertmitte durch den Alexandriner schnell zurückgedrängt und findet auch im 17. und 18. Jh. nur noch beschränkte Verwendung. In den erzählenden Gattungen, wo ebenfalls der Alexandriner seit der 2. Hälfte des 16. Jhs. herrschend wird, erscheint der Zehnsilber nur gelegentlich, so in Ronsards Epos La Franciade, in La Fontaines Gimtes und in Voltaires satirischer Pucelle. Die Renaissance-Tragödie geht, nachdem Jodelle den 2., 3. und 5. Akt seiner Cleopatre captive in Zehnsilbern geschrieben und noch J . de la Taille sich dieser Versart bedient hatte, bald endgültig zum Alexandriner über, der Zehnsilber hält sich nur in der Pastorale und kehrt im 18. Jh. in einigen Lustspielen Voltaires wieder. Im 19. Jh. finden wir ihn bisweilen noch in der Lyrik, ζ. B. bei Chateaubriand, Sainte-Beuve und Banville, auch in einigen Liedern Berangers, ebenso verwendet man ihn im 20. Jh. nur selten, so etwa P. Valery in seinem Cimetiere marin. 2. Eine andere Form des Zehnsilbers, die die Zäsur nach der sechsten Silbe hat (also 6 . + 4 gegliedert), ist altfranzösisch nur in ganz wenigen Texten belegt, so vor allem den Heldenepen Oirart de Rossillon und Aiol et Mirabel, dem die Ependichtung parodierenden Audigier, einem Stück von Jean Bodels Nikolausspiel und zwei Romanzen. In einer dieser beiden steht etwa der Vers: Reva toi an arriere, | bien seis la vile (Bartech 1 5 ) .
Diese Versart stellt offenbar eine Altertümlichkeit dar, die schon früh außer Gebrauch gekommen ist und daher jetzt „archaischer" Zehnsilber genannt wird. Ihre Entstehung ist ebenfalls nicht klar; vermutlich geht sie mit der epischen Form auf dieselbe lateinische Grundlage, den jambischen Oktonar, zurück, nur daß hier das z w e i t e Versglied den oben erwähnten Preßrhythmus χ χ χ χ χ und weiter durch Verkürzung am Versende die Form χ χ χ χ Λ ergeben hat, während das erste die Reduzierung z u x x x x x x x erlebt, wie die Häufigkeit der weiblichen Zäsuren vermuten läßt. Daß der Vers schon im 9. J h . vorhanden war, schließt man aus der lateinischen Wiedergabe einiger Zeilen des sog. .Faroliedes, die in ein Leben dieses Heiligen eingeschaltet sind. Im weiteren Verlauf der französischen Literatur tritt der Zehnsilber 6 + 4 nur noch gelegentlich, und zwar einzeln zwischen die übliche Form 4 + 6 gemischt auf, so ζ. B. im 14. Jh. bei Eustache Deschamps und JeanFroissart, im 15. Jh. bei F r a n c i s Villon und Charles d'Orlöans, später in La Fontaines Contes, in Voltaires Lustspielen, im 19. J h . bei Verlaine, Richepin (der ihn in zwei Gedichten
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D i e Versarten
sogar durchführt), Verhaeren; letzterer bietet (in La revolte) etwa den Vers: C'est la fete du sang | qui se d^ploie.
3. Eine weitere Art des Zehnsilbers hat die Zäsur in der Mitte (also 5 + 5 Silben) und dementsprechend ursprünglich trochäischen Rhythmus, der im allgemeinen auch in den modernen Versen noch zu fühlen ist; man vergleiche etwa: D u sentier des bois | a u x daims fanliliers, Sur un noir cheval, | sort un chevalier. (Leconte de Lisle, Les Elf es)
Die Herkunft auch dieses Verses ist zweifelhaft, im besonderen ist fraglich, ob und wieweit ein Zusammenhang mit einem mittellateinischen Vers aus 5 + 5 Silben besteht, der zuerst um 1130 erscheint, aber stets männliche Zäsur hat, während der altfranzösische Vers auch weibliche Zäsuren kennt. Als ältester Beleg ist der provenzalische Refrain eines lateinischen geistlichen Tagelieds aus dem 10. Jh. zu nennen (mit weiblicher Zäsur): 1 '.. 1 I I I P o y pas' a bigil, | mira clar tenebras,
wonach man volkstümlichen Ursprung der Versart annehmen möchte. Möglicherweise geht sie auf den lateinischen trochäischen Septenar (einen Achtheber) zurück, indem, in mancher Hinsicht ähnlich der Entstehung des Zehnsilbers 6 + 4, das erste Versglied seine letzten beiden Senkungen einbüßte und im Zusammenhang damit die letzte Hebung abgeschwächt wurde, während im zweiten Glied auch diese fortfiel: x x x x x x x x | x x x x x x x wurde zu χ χ χ χ χ χ | χ χ χ χ χ (χ). Der französische Vers war stets auf die Lyrik beschränkt und begegnet im Mittelalter in einigen Romanzen und Minnegedichten, ist auch vom 14.-18. Jh. nur vereinzelt gebraucht worden; so ζ. B. von Bonaventure Desperiers in seinem Gedicht Le caresme prenant (welchem Titel er, um den Rhythmus einer Vershälfte anzudeuten, den Zusatz en taratantara beigegeben hat), oder im 17. Jh. von dem Abbe Desmarets, der, als er seine Lettre ä Timandre in derselben Versform schrieb, sich für deren Erfinder hielt. Häufig wird der trochäische Zehnsilber erst im 19. Jh., wo er von fast allen Lyrikern gelegentlich verwendet worden ist, und zwar in dem Gedicht entweder konsequent durchgeführt (so von Beranger, Hugo, Musset, Gautier) oder mit andern Versen (besonders Fünfsilbern) gemischt. Wir finden ihn so auch
Β. Die bevorzugten Versarten
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noch vielfach im 20. Jh. Verlaine läßt in dem Gedicht Les marts que . . . (aus Parallelement) sogar die Formen 5 + 5, 4 + 6, 6 + 4 wechseln. 4. Erst in neuester Zeit, seit dem Symbolismus, treten Zehnsilber auch ohne jede Zäsur auf, die aber meist nur einzeln unter anders gegliederte Formen gemischt sind. Ein Beispiel wäre: Sans subir les admiratifs blasphemes. (F. Gregh, bei Gladow S. 44).
I I I . Der Zivölfsilber (Alexandriner) Ähnlich wie der Zehnsilber kommt auch der Zwölfsilber in mehreren Gliederungen vor. 1. Die gebräuchlichste Form war zu allen Zeiten die mit der Zäsur in der Mitte, also aus 6 + 6 Silben. Ein modernes Beispiel, der Anfang des Gedichtes Le Cor von A. de Vigny, ist oben S. 13 mitgeteilt. Als Rhythmus dieser Verse erhalten wir bei alternierendem Vortrag zweimal drei Jamben, bei frei-rhythmischem Vortrag je zwei oder drei steigende Takte wechselnder Silbenzahl (vgl. oben S. 20 und 22). Finden Halbvers ist im Französischen der Ausdruck hemistiche üblich. Der Ursprung dieser Versart ist strittig. Man hat sie von einem mittellateinischen Zwölfsilber aus 6 + 6 Silben herleiten wollen: Ο Roma nobilis, orbis et domina,
den man seinerseits (wohl mit Recht) als eine rhythmische Umgestaltung des quantitierenden lateinischen asclepiadeischen Verses : Maecenas atavis
1
edite regibus (Horaz, Carm. I I )
ansieht; doch spricht gegen jenen Zusammenhang die Tatsache, daß der französische Zwölfsilber gerade in alten Texten einen hohen Prozentsatz weiblicher Zäsuren aufweist; ζ. B. Un jorn i u t Ii reis Charles | al saint Denis mostier (Karlsreise, V. 1),
während der mittellateinische Vers nur männliche Zäsuren kennt. Demgegenüber leuchtet die von Diez, Gröber u. a. vertretene Ansicht, daß der archaische Zehnsilber mit weiblicher Zäsur (aus 6W + 4 Silben) zu 6W + 6 Silben erweitert worden wäre (möglicherweise in Angleichung an den zweiten Halbvers des epischen Zehnsilbers 4 + 6), um ein Gleichgewicht zwischen beiden Gliedern herzustellen, mehr ein, auch darum, weil sie das frühe Abkommen des archaischen Zehnsilbers verständlich machen würde. Wenn Saran seinerseits annimmt, daß
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Die Versarten
der Alexandriner von einem jambischen Doppelvierer herkäme, dessen erste Hälfte also dasselbe Schicksal wie beim archaischen Zehnsilber erlitten hätte, dessen zweite Hälfte aber wie die des epischen Zehnsilbers behandelt worden wäre, so ist das im Grunde nichts anderes, nur daß die Entwicklung in eine frühere Zeitstufe verlegt würde; hiergegen spricht aber das Fehlen einer festen Tradition für den Zwölfsilber gerade in der ältesten Zeit des Altfranzösischen. Hinsichtlich der Verwendung des Alexandriners besteht ein großer Unterschied zwischen alter und neuer Zeit. Im Mittelalter ist der Vers verhältnismäßig wenig gebraucht worden, da die hauptsächlichen Literaturgattungen sich vor allem des Achtsilbers, einige auch des Zehnailbers bedienen. Zunächst tritt der Alexandriner mehr vereinzelt auf: in der ersten Hälfte des 12. Jhs. finden wir ihn in dem kleinen Heldenepos der sog. Karlsreise und dem kaum viel jüngeren geistlichen Gedicht Li ver del juise; in der zweiten Hälfte des Jhs. beginnt der Dichter Wace seine Geschichte der Normannen (Roman de Rou) in derselben Versart, geht aber nach etwa 4000 Versen für die weiteren zwei Drittel seines Werkes zum Achtsilber über, ziemlich gleichzeitig erscheint jener Vers auch in der Vie de saint Thomas von Guernes de Pont-Sainte-Maxence (um 1174) und in dem Alexanderroman von Lambert le Tort, dessen verschiedene Fortsetzer diese Form beibehielten und ihr damit die Bezeichnung vers alexandrin verschafften, die zuerst (als rime alexandrine) in einer um 1380/90 entstandenen Verslehre begegnet. Während also das Kunstepos den Zwölfsilber nur ausnahmsweise verwendet, wird er für das Heldenepos seit der zweiten Hälfte des 12. Jhs. langsam beliebt und verdrängt dort im Laufe des 13. Jhs. den Zehnsilber fast ganz. In der Lyrik spielt er dagegen nur eine bescheidene Rolle und ebenso erscheint er auch im Drama nur vereinzelt und für kleinere Stellen; den ersten Beleg dafür bietet Jean Bodels Nikolausspiel, um 1200. Eine Art traditioneller Verwendung bildet sich noch in der lehrhaft-moralisierenden Poesie des 13. und 14. Jhs., wo der Alexandriner vor allem in der Gattung des sog. Dit die übliche Versform darstellt. Mit dem Abkommen von Heldenepos und Dit verschwindet auch der Alexandriner fast ganz aus der Literatur, wo nun der Zehnsilber bis zur Mitte des 16. Jhs. den bevorzugten Platz erhält. Nur ganz gelegentlich bedienen sich seiner etwa der Dramatiker Jacques Milet für verschiedene Stellen seiner Destruction de Troye (1452) oder Lyriker wie Jean Lemaire und C16ment Marot. Ein plötzlicher Umschwung wird durch das Auftreten der Plejade bewirkt, die den Zehnsilber als etwas kurzatmig empfand und darum
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zum Alexandriner überging; die treibende Kraft scheint ihr Führer Bonsard gewesen zu sein. Ziemlich gleichzeitig erscheint der Vers in drei lyrischen Zyklen: Les hymnes von Bonsard, Les amours de Francine. von Baif (beide Werke v. J . 1555), dazu von Du Beilay Les antiquitez de Borne und Les regrets, die beide zwar erst 1558 gedruckt, aber wesentlich früher verfaßt worden sind. Seitdem wird er in der Lyrik, ζ. B. im Sonett, viel gebraucht, obwohl der Zehnsilber sich noch längere Zeit daneben behauptet. Dagegen setzt sich der Zwölfsilber in der Tragödie und im Epos ziemlich schnell durch. Zwar hat, wie schon erwähnt, Jodelle nur zwei Akte (I und IV) seiner Cleopätre captive (1552) in dem neuen Versmaß geschrieben, aber seine Didon von 1558 führt dieses erstmalig durch, und nur wenige Tragiker gebrauchen in der 2. Hälfte des Jhs. noch den Zehnsilber. Was das Epos betrifft, so hat, wie oben gesagt, Bonsard seine Franciade (1572) in Zehnsilbern verfaßt, aber bereits Du Bartas hat für seine beiden Epen, Judith (1573) und La sepmaine (1578), zum Alexandriner gegriffen, der seitdem der einzig übliche Vers für diese Gattung geblieben ist. Ins Lustspiel ist er erst mit Corneilles Μ elite (1629) eingedrungen, herrscht aber dort bis zur Gegenwart, soweit eine Versform in Frage kommt. Nur in der Lyrik ist der Alexandriner nie zur unbeschränkten Herrschaft gelangt. Zwar nimmt er auch auf diesem Gebiet eine bevorzugte Stellung ein, neben ihm sind aber zu allen Zeiten auch kürzere Versarten gepflegt worden. Immerhin behauptet der Zwölfsilber bei den bedeutenderen Lyrikern des 19. Jhs. den Vorrang; bei A. Chenier und Leconte de Lisle umfaßt er über 90% aller Verse und geht bei Th. Gautier bis auf 60% herunter. So ist der Alexandriner mit der Gliederung 6 + 6, seiner „klassischen" Form, im 17./19. Jh. der weitaus beliebteste Vers in der französischen Literatur; sein Anteil an den poetischen Erzeugnissen dieser drei Jahrhunderte wird auf etwa drei Viertel aller Verse überhaupt geschätzt, und im 20. Jh. dürfte sich an diesem Verhältnis kaum viel geändert haben. Allerdings werden seit der romantischen Periode und noch mehr seit dem Ende des 19. Jhs. auch Zwölfsilber anderer Bauart zwischen die klassische Form gemischt; darüber s. im folgenden. 2. Eine zweite Form des Alexandriners ist erst in neuerer und neuester Zeit zu finden, nämlich eine Dreiteilung mittels zweier Zäsuren, also eine Gliederung in 4 + 4 + 4 Silben. Im Mittelalter ist sie kaum zu belegen und wo sie etwa auftritt, möglicherweise nicht so beabsichtigt, ζ. B. Et ei en sui, | si m'aüt dex, | en grant torment (Spanke Nr. LXXIII).
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Die Versarten
Auch seit der Neubelebung des Alexandriners durch Ronsard und die Plejade treten zwischen Versen der zweiteiligen Form gelegentlich solche auf, bei denen die Einschnitte nach der vierten und achten Silbe etwas stärker sind als der in der Mitte; so etwa im 16. Jh.: Au condamn^
1
qui doit | languir
1
sur une roue (d'Aubignö,
Hecatombe)
oder im 17. Jh. bei Racine: Toujours punir,
1
toujours | trembler
1
dans vos projets (Brit. 1353).
Aber derartige Fälle begegnen doch so vereinzelt, daß man dabei nicht an eine bewußte Neuerung denken darf; auch wäre für die damalige Zeit ein entsprechender dreigliedriger Vortrag kaum möglich gewesen. Erst seit dem Aufkommen der Romantik sind wir berechtigt, von einem planmäßigen Gebrauch eines solchen Verses zu sprechen, indem V. Hugo diese Form neu geschaffen hat. Dabei scheint neben dem rhythmischen auch ein stilistischer Gesichtspunkt mitgespielt zu haben. Hugo gibt seinen Sätzen gern einen dreigliedrigen Bau mit parallelen Stücken, so bereits in Prosa: contractant ses levres, montrant ses dents et clignant son ceil (Han
d'Islande),
und verfährt nun auch bei Versen in entsprechender Weise: Malheur k vous! Malheur
1
k moi! Malheur k tousl
(Cromwell),
aber bringt weiter mit Verzicht auf diesen Parallelismus auch Verse mit anderer syntaktischer Dreiteilung: II s'embusqua, | brigand ' des bois, | dans les öpines (Chätimenls
III 3).
Daß es sich hier um eine Umgestaltung des klassischen Verses handelt, ist daran zu erkennen, daß auch bei diesen „romantischen Trimetern" (vers ternaires) die sechste Silbe stets einen Akzent trägt, wenn auch der Einschnitt dahinter nicht so stark ist wie der hinter der vierten und achten Silbe. Der künstlerische Grund, der Hugo bei dieser Neuerung geleitet hat, war offenbar das Bestreben, in den leicht etwas eintönig wirkenden Gang des klassischen Verses Abwechslung zu bringen und dazu an der betr. Stelle mit dem Wechsel des Rhythmus noch eine besondere Wirkung zu erzielen. Darum hat er auch von Anfang an stets nur einzelne dieser Trimeter zwischen seine zweiteiligen Alexandriner gemischt. Mit dieser Beschränkung sind viele andere Dichter Hugos Beispiel gefolgt, so zum Beispiel Sainte-Beuve und Th. Gautier, dann Banville
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und Leconte de Lisle, ferne* die Parnassiens und die Symbolisten, sowie die meisten Dichter des 20. Jhs., soweit sie in strengen Versen schreiben. Ziemlich zurückhaltend verhielten sich u. a. Musset und Baudelaire. Nur selten ist der Trimeter einmal in einem Gedicht ganz durchgeführt worden; einige Dichter haben es bei Sonetten versucht, so etwa Ende des 19. Jhs. Jammes und Samain, im 20. Jh. Henry Galoy (Dumas S. 160). Bei der Weiterverwendung des Verses in nachromantischer Zeit hat sich insofern noch eine Änderung vollzogen, als der mittlere Einschnitt, der im Grunde ja überflüssig geworden war, allmählich ganz aufgegeben wurde. So erscheint bisweilen als sechste Silbe ein ganz tonloses Wort: Le blond torrent | de mes ' cheveux | i mm acutes (ΜβΙΙ&πηέ, Iiirod. 4)
oder man läßt sogar ein Wort von der ersten auf die zweite Verahälfte übergreifen: A me peigner | noncha-
1
lamment | dans un miroir (ebda., V. 28).
Über andere Besonderheiten der Zäsur, die die Gestalt des romantischen Alexandriners wandeln können, soll unten im I i i . Teil unter C I I gehandelt werden. 3. Sonstige Gliederungen des Zwölfsilbers sind seltener. So gibt es bereite altfiranzösisch eine Form aus 8 + 4 Silben, die gelegentlich in der Lyrik auftritt: Mea otroiez moi vostre amour, | simples cuers douz (Spanke Nr. L X X I I I ) ,
woneben auch die Gruppierung 4 + 8, ebenfalls nur in der Lyrik, vorkommt : Mes je pri dieu | que il a touz jorz voua consaut (Spanke, a. a. O.).
Im 19. Jh. erscheinen beide Bauarten aufs neue, wohl aus der dreiteiligen Form 4 + 4 + 4 entwickelt und nur zwischen andere Alexandriner gemischt; so etwa 8 + 4: E n des lieux de magnificence | et de folie (Vallery-Badot, bei Walch V, 249)
oder 4 + 8: Lumtäre d'or | dont on n'aper^oit le flambeau (Verhaeren, bei Gladow S. 40).
Ferner sei die (trochäische) Form aus 7 + 5 Silben genannt, die nur altfiranzösisch in der Lyrik bezeugt ist, wie in folgendem Beispiel: Gar il n'est ne roie ne cuens | qu'ele ne mestroie (Spanke Nr. L X X X I I I ) ;
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Die Versarten
bei weiblichem Versausgang (wie hier) entspricht sie in jeder Hinsicht der mittellateinischen sög. Vagantenzeile (s. oben S. 10), kommt aber auch mit männlichem Schluß vor. Und schließlich, als eine Errungenschaft des 19. Jhs., haben wir Verse ohne jede Zäsur. Zwar finden sich bereits im 17. Jh., besonders bei Moliere und Racine, gelegentlich Alexandriner, die ein so schwach betontes Wort als sechste Silbe haben, daß keinerlei Hervorhebung des Halbversendes möglich ist (Beispiele waren S. 31 gegeben), aber dabei handelt es sich mehr um Nachlässigkeiten, die mit der Einführung einer fallenden Versmelodie zusammenhängen dürften. Als bewußte Neuerung muß eine derartige Abschwächung der Zäsur erst bei den Romantikern angesehen werden, und deren Nachfolger, zuerst Banville und Leconte de Lisle, gehen noch weiter und bringen bisweilen ein völlig tonloses Wort in der sechsten Silbe, ζ. B.: Paroles, et pour me
1
cöl^brer, des louanges. (Stalact., bei Gladow S. 27)
Während die Parnassiens im allgemeinen die Zäsur wieder deutlicher hervortreten lassen, lassen die Symbolisten schließlich sogar ein und dasselbe Wort von der ersten auf die zweite Vershälfte übergreifen, wie etwa Verlaine: D u bout fln de la que-
1
notte de ton souris.
(Jad. et nag., A la man. de plus., IX). Auch derartige Verse treten aber immer nur einzeln zwischen strenger gebauten auf. Diese Abschwächung bzw. Aufgabe der Zäsur steht im engen Zusammenhang mit der schon oben S. 23 erwähnten neueren Praxis, ins Innere der beiden Halbverse, und zwar an beliebige Stellen, Einschnitte zu legen, die stärker sind als die Mittelzäsur, so wie dies etwa bei dem vorher unter b) besprochenen Trimeter der Fall ist. Während aber die bei diesem nach der vierten und achten Silbe regelmäßig auftretenden beiden Einschnitte mit Recht als Zäsuren bezeichnet werden, haben neuere französische Theoretiker diese Bezeichnung bedenklicherweise auch auf die wechselnden Einschnitte der sonstigen dreigliedrigen Alexandriner übertragen, für die oben S. 23 einige Beispiele gegeben sind; dementsprechend sind zahlreiche neue Bauformen des Alexandriners aufgestellt worden (3 + 5 + 4, 3 + 6 + 3, 2 + 6 + 4, 4 + 6 + 2 usw.), für die man gegebenenfalls den Ausdruck „romantischer Trimeter" (vers ternaire) in erweitertem Sinne gebraucht. Bei dieser, das Wesen der Zäsur verkennenden, Auffassung ist verständlich, daß spätere Dichter, vor allem Verlaine und viele Symbolisten,
Β. Die bevorzugten Versarten
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die Mittelzäeur des Zwölfsilbers auch außerhalb der fest gegliederten Form 4 + 4 + 4 als überflüssig angesehen und ganz aufgegeben haben. Im 20. Jh. dagegen treten die zäsurlosen dreiteiligen Verse (immer mit Ausnahme der Gliederung 4 + 4 + 4) wieder mehr zurück und, wenn man auf die Mittelzäsur verzichtet, bringt man meist wenigstens hinter der vierten oder der achten Silbe (bzw. an beiden Stellen) eine Zäsur an. Das Volkslied hat beim Zwölfsilber stets nur die Mittelzäsur gekannt, die überwiegend weiblich ist. Die im Vorstehenden behandelten drei Versarten, Acht-, Zehn- und Zwölfsilber, bilden die tragende Grundlage der französischen Dichtung durch die Jahrhunderte hindurch; doch schwankt ihre Verwendung je nach den Zeiten: im früheren Mittelalter ist der Achtsilber der häufigste Vers, demgegenüber der Zehnsilber etwas zurücktritt, während der Alexandriner nur vorübergehend in bestimmten Gattungen erscheint; im 14./15. und der 1. Hälfte des 16. Jhs. herrscht der Zehnsilber, während der Achtsilber nur in einigen Gattungen, der Zwölfsilber fast gar nicht gebraucht wird; seit der Mitte des 16. Jhs. kommt der Alexandriner in Mode und bleibt bis heute der weitaus häufigste Vers, woneben 10- und 8-Silber nur noch eine bescheidene Rolle spielen. Alle übrigen Versarten sind demgegenüber in ihrer Verwendimg stark beschränkt. L i t e r a t u r . Zu I. Fr. Spenz, Die eyntakt. Behandig. des achtsilb. Verses in d. Passion Chr. u. im Leodegar-Liede. Dies. Marburg 1886 (auch: Ausgaben u. Abhandlgn. LXVII, 1887). - G. Melchior, Der Achtsilbler in d. afrz. Dichtung... Diss. Leipzig 1909. - Ph. A. Becker, Der gepaarte Achtsilber in d. franz. Dichtung. Leipzig 1934 (— Abhandlgn. d. philol.-histor. Kl. der Sachs. Akad. d. Wiss. Bd XLIII, Nr. I). W. Suchier, Die Anfange des franz. achtsilbigen Verses. I n : Roman. Forsch. 65 (1953/54) 345-359. - S. auch o. S. 5 (Mittelalter). Zu II. Fr. Diez, Altroman. Sprachdenkmale. Bonn 1846, S. 75-132: Über den epischen Vers. - B. ten Brink, Coniectanea in historiam rei metricae francogallicae. Diss. Bonn 1865. - A. Bochat, fitude sur le vers döcaeyllabe dans la po^sie fr. au moyen äge. I n : Jahrb. f. rom. u. engl. Lit. X I (1870) 65-93. - Ο. Reissert, Die eyntakt. Behandig. des zehnsilb. Verses im Alexiusu. Rolandsliede. Diss. Marburg 1883 (auch: Ausgaben u. Abhandlgn. X I I I , 1884). - V. Henry, Contribution 4 l'^tude des origines du döcasyllabe roman. P . 1886. - E. Stengel, Verwendung, Bau u. Ursprung des roman. Zehnsilblers. I n : Berichte des Freien Deutschen Hochstifts (Frankfurt a. M.), Jg. 1886/87, S. 224-231. - R . Thurneysen, Der Weg vom dactyl. Hexameter zum ep. Zehnsilber der Franzosen. I n : ZrP X I (1887) 305-326. - W . Thomas, Le d6caeyllabe roman. P . 1904 ( = Travaux et m£moires de l'Univ. de Lille. Nouv. slrie. I, faec. 4). - P h . A. Becker, Der gleichteilige Zehnsilber. I n : Archiv CXII (1904) 122-129. - G. Holborn, Wortakzent u. Rhythmus im provenzal.-franz. Zehnsübler. Diss. Greifswald 1905. - G. Schläger, Zur Rhythmik des afrz. ep.
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Die Versarten
Verses. I n : ZrP X X X V (1911) 364-375. - Über den Ursprung vgl. noch Sarau, Rhythmus, S. 8 0 - 8 7 ; Ders., Zur Metrik des ep. Verses der Serben (s. o. S. 36), S. 60-64; Burger, S. 20-29 u. 107-121. Zu I I I . E . TrÄger, Geschichte des Alexandriners. Diss. Leipzig 1889. G. Pelissier, Essais de literature contemp. P . 1893, S. 111-167: Le vers alexandrin et son Evolution rythmique. - H. P . Thieme, The technique of the French alexandrine. Diss. Baltimore, Johns Hopkins Univ. 1897. - O. Müller, Die Technik dee romant. Verses. Diss. Leipzig 1901. - M. Grammont, „Ragot i n " et le vers romantique. I n : Rev. des langues rom. X L I V (1903) 1-29. D. Mornet, L'alexandrin fr. dans la deuxiöme moitte du X V I I I e siöcle. Thdse, P . 1907. - G. Aae, Le trimötre de V. Hugo. Lund 1909. - Ph. Martinon, L e trimdtre, ses limites, son histoire, see lois. I n : Mercure de France 1909, 16 f£vr. 620-640, 1 mars 40-68. - A. Rochette, L'alexandrin chez V. Hugo. Thdse, P . 1911. - H. Heise, Die Entstehung des romant. Trimeters. I n : Archiv O X X X (1913) 366-377 u. C X X X I 125-143, 384-411. Lote (s. o. S. 27, IV). - A. Le Du, Lee rythmes dans l'alexandrin de V. Hugo. Th&se compl&n. P. 1930. - J . Schmidt, Die rhythm. Gestalt des Alexandriners bei Corneille u. bei Racine. I n : ZfSL. L I I I (1930) 39-76. - Μ. E. Porter. The genesis of alexandrin as a metrical term. I n : Mod. Lang. Notes L I (1936) 628- 536. - L.-P. Thomas, La structure musicale de l'alexandrin. I n : Bulletin [de 1'] Acad&nie Royale de langue et litt. fr. (Brüssel), X X I (1942) 41-73. - P. Gardette, L'alex. rythmd 3 + 3 + 3 + 3. I n : Μέΐ. A. Dauzat, P. (1951) 99-108. - J . Β . Ratermanis, L'inversion et la structure de l'alex. I n : French Studies V I (1962) 58-66. - Über den Ursprung vgl. noch Diez, Altrom. Sprachdenkm., S. 129f.; Gröber, Grundriß d. rom. Phil. I I 1, S. 454; Saran, Rhythmus, S. 429-446; F . Davidson, The origin of French alexandrine. I n : Mod. Lang. Notes X V I (1901) 77-84; Burger, S. 47-53 u. 131-137. - Über das älteste Vorkommen der Bezeichnung rime alexandrine s. J . Mettlich, Die Abhandlg. über Rymes et mettres in der Prosabearbeitung der „Echecs amoureux". Münster i. W. 1911, S. 16 (Progr. d. Paulin. Gymn.).
C. Die k ü r z e r e n V e r s a r t e n Dazu gehören die Versmaße von sieben bis herab zu einer Silbe; sie werden alle für umfangreichere Gedichte kaum verwendet, und die etwas längeren (Sieben-, Sechs-, Fünfsilber) sind immer noch häufiger als die ganz kurzen (von vier bis zu einer Silbe). Der Siebensilber besteht, alternierend aufgefaßt, aus vier Trochäen, deren letztem die Senkung fehlt; akzentuierend gesprochen zerlegt er sich in teils zwei, teils drei Takte. Ein modernes Beispiel wäre folgende Strophe aus H. de R^gniers Gedicht Fin de journee: Le silence semble mort Oü j'entendais jadis rire Au fond du bois d'ombre et d'or L a Faunesse et le Satyre.
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0. Die kürzeren Versarten
Was den Ursprung dieser Versart betrifft, so ist man wohl einhellig der Überzeugung, daß der lateinische trochäische sog. Septenar (in Wahrheit ein Achtheber) den Ausgangspunkt bildet, der als Ganzes in dem altfranzösischen Vierzehnsilber mit gewöhnlich weiblicher Zäsur (7W + 7) fortlebt, daneben aber im Falle der Zerlegung den Siebensilber mit beiderlei Ausgang (die erste Hälfte weiblich, die zweite männlich schließend) ergeben konnte; ζ. B. I
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I
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I
Gallias Caesar subegit, | Nicomedes Caeearem.
Nicht deutlich erkennbar ist nur der Weg, auf dem der Übergang ins Altfranzösische erfolgt ist. Während Verrier in dem altfranzösischen Vierzehnsilber die ununterbrochene Fortsetzung jenes volkstümlichsten römischen Verses sieht, neigt man neuerdings, da die sog. rhythmische lateinische Dichtung den Vers schon seit dem Ende des 6. Jhs. kennt und seitdem dauernd verwendet hat, zu der Annahme, daß der nicht gerade häufige altfranzösische Langvers aus der mittellateinischen Poesie herübergenommen wurde und so auch durch Teilung den Siebensilber ergeben hat, der nicht vor dem 12. Jh. zu belegen ist, dann aber schnell beliebt wird. Das Hauptverwendungsgebiet des französischen Siebensilbers ist die Lyrik, wo er vom Mittelalter bis zur Gegenwart in kurzen strophischen Gedichten gern gebraucht worden ist. So begegnet er schon häufig bei den altfranzösischen Minnesängern, ζ. B. in der Gattung der Fastourelle, dann wird er im 16. Jh. als Odenvers beliebt, wo er von Ronsard Phirecratien genannt wird, weil er in ihm eine Nachbildung des lateinischen versus pherecrateus ( - — -) sieht. Im 17. Jh. begegnet der Vers u. a. in einigen Fabeln La Fontaines, im 19. Jh. bringt V. Hugo verschiedene bemerkenswerte Beispiele, ζ. B. den Bomancfro du Cid in der Ligende des eiiclee, wobei der Dichter den sieben- bzw. achtsilbigen Romanzenvers (octoeüabo) der Spanier nachahmt. Andere Romantiker, wieVigny, Sainte-Beuve, Musset, Gautier, Brizeux haben den Vers ganz oder fast ganz gemieden. Später haben Banville und Richepin häufiger von ihm Gebrauch gemacht und auch im 20. Jh. wird er nicht selten verwendet. Im Mittelalter begegnet der Siebensilber vereinzelt auch in der erzählenden Poesie; so vor allem in den Versabschnitten der „cantefable" Aucas&in und Nicolette, wo die sehr auffällige Wahl des Versmaßes sich durch ein arabisches Vorbild erklären könnte, und im Dit de la pastoure von Christine de Pisan.
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Die Versarten
Häufig hat man den Vers auch mit kürzeren Vefsarten untermischt, ζ. B. mit Fünfsilbern, wie in dem altfranzösischen anonymen Lai dou chievrefueil. Der Sechssilber zeigt dieselben rhythmischen Formen wie der Halbvers des Alexandriners, also im Falle der Alternation drei Jamben, bei frei-rhythmischer Sprechweise gewöhnlich zwei steigende Takte, nicht selten mit anapästischem Gang. Als Beispiel diene eine Strophe ausVerlaines Romances sans paroles: II pleure sans raison Dans ce CCBUT qui s'^coeure. Quoil Nulle trahison? Ce deuil est sans raison.
(Ariettes oubliies, III)
Dieser Vers ist schon wegen seiner Kürze in seiner Verwendung ziemlich beschränkt. Doch hat man ihn eigenartiger Weise im Gebiet des anglonormannischen Königreichs für eine Reihe von Gedichten lehrhafter Art gebraucht, die überwiegend noch der ersten Hälfte des 12. Jhs. angehören; so finden wir ihn in Philipps von Thaon Cumpoz und dem Anfang seines Bestiaire, ferner in der anonymen Disputison du cars et de Varme, in der Estoire Joseph, sowie in Robert Bikets Lai du cor. Im Bereich dieser literarischen Gattungen ist der Sechssilber aber bald durch den Achtsilber verdrängt worden (s. oben S. 55); bereits Philipp ist mitten in seinem Tierbuch (mit V. 2889) zu der längeren Versart übergegangen. Geblieben ist der Vers in der Lyrik, wo er in Liedern sowohl volkstümlicher als auch höfischer Richtung bis ins 15. Jh. zu finden ist. Im 16. Jh. wird er von der Plejade neu belebt und gern für die Ode gebraucht, während das 17. und 18. Jh. ihn eher meiden. Erst seit der Romantik findet er wieder etwas Pflege und wird so z.B. von Hugo (Navarin), Musset (Ballade a la lune), Banville (Odelette), Gautier (L'art) und auch weiterhin bis ins 20. Jh. mitunter für kürzere Gedichte verwendet. Zu allen Zeiten erscheint er nicht selten mit längeren Versen, besonders Acht- oder Zwölfsilbern, vermischt. Aus dem Mittelalter ist noch eine eigenartige Funktion dieses Verses zu erwähnen: in verschiedenen Heldenepen, vor allem solchen aus dem Wilhelmszyklus, dient ein einzelner Sechssilber (und zwar stets mit weiblichem Ausgang) als Abschluß der Zehn- (bzw. seltener Zwölf-) silberstrophen.
C. Die kürzeren Versarten
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Der Ursprung des Sechssilbers ist vermutlich nicht einheitlich. Wo er als Abschluß der epischen Strophen auftritt, hat man in ihm das erste Glied des archaischen Zehnsilbers (6W + 4) sehen wollen, woran aber wohl nur soviel richtig ist, daß in beiden Fällen die Verkürzung eines alten jambischen Vierhebers vorliegt. Als „didaktischen" Vers (in jenen alten Texten des 12. Jhs.) könnte man ihn für eine Entlehnung aus der lateinischen Dichtung halten, die sich zu jener Zeit gerade auch für derartige geistlich-lehrhafte Themata des Sechssilbers (der seinerseits eine Halbierung des lateinischen Zwölfsilbers [s. o. S. 63] sein wird) bedient, wie ζ. B. Petrus Cluniacensis in seinem Rhythmus in laude Salvatoris: A Patre mittitur, In terris nascitur Dens de Virgine . . .
Doch spricht dagegen, daß in jenen altfranzösischen Texten fast regelmäßig je zwei ein Reimpaar bildende Verse zu einer engen syntaktischen Einheit verbunden sind, was die unmittelbare Entstehung aus einem zerlegten Langverse (wohl dem eben genannten Zwölfsilber) wahrscheinlich macht. Für den Sechssilber der Lyrik, der aus musikalischen Gründen besonders gern weiblich gebraucht wird, scheint man eine andere lateinische Quelle anzunehmen, einen Siebensilber mit fallendem Schluß. - In jedem Falle aber ist nicht zu bezweifeln, daß der Sechssilber in der altfranzösischen Literatur v o r dem Alexandriner belegt ist. Der Fünfsilber setzt sich, alternierend gelesen, aus drei trochäischen Füßen zusammen, deren letzter senkungslos ist; bei akzentuierendem Vortrag ergeben sich meist zwei, selten drei oder ein steigender Takt. Eine Probe ist oben S. 30 mitgeteilt. Für längere Gedichte ist dieser recht kurze Vers kaum gebraucht worden; immerhin ist eine altfranzösische Reimpredigt (beginnend Grant mal fist Adam) in diesem Versmaß verfaßt worden, deren Form (sog. Schweifreimstrophen) von ihrem Verfasser um den Anfang des 12. Jhs. nach lateinischem Vorbild selbst geschaffen sein wird. Später haben im 15. Jh. Alain Chartier, Martial de Paris, Jean Marot sich des Fünfsilbers für leichtere, beschreibende Gedichte bedient, ähnlich wie im 18. Jh. Bernis, Gentil-Bernard u. a. mit ähnlichem Zweck dieselbe Versart gewählt haben. Auch in der Lyrik tritt er bisweilen auf, so etwa in der altfranzösischen Pastourelle und dann
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Die Versarten
auch im Volkslied (ζ. B. Au clair de la lune). Seit der Romantik spielt er auch in der höheren Lyrik eine Rolle; Hugo verwendet ihn ζ. B. in einem Teil des Gedichts Feu du ciel der Orientale« oder in seinen Coupe de clairon (aus Les annies funestes), ferner begegnet er bei Banville, Richepin, Verlaine, Fr. Carco, L6o Larguier, L6on V6rane u. a., also auch im 20. Jh. - Wie der Sechssilber erscheint auch der Fünfsilber häufiger mit längeren Versen gemischt, wobei er sich besonders gern mit dem Siebensilber oder mit dem trochäischen Zehnsilber (5 + 5) verbindet. Auch beim Fünfsilber führt die Prüfung seiner Herkunft zu keinem einheitlichen Ergebnis. Im lyrischen Vers wird man die Hälfte des trochäischen Zehnsilbers sehen dürfen, dagegen die eigenartige Form der oben genannten Reimpredigt lieber von dem lateinischen dreiteiligen Hexameter mit zwei Binnenreimen herleiten, womit sowohl die Vers- als auch die Strophenform ihre Erklärung finden würde;
ζ. B. Haec iniuria | dat periuria | lite minaci; Haec in vitia | sunt convicia | dissona paci.
Der Viersilber besteht aus zwei jambischen Versfüßen, während er akzentuierend mit einem oder zwei Takten zu Gehör gebracht wird. Vgl. als Beispiel folgende Strophe von Verlaines Gedicht Walcourt der Romances sans paroles: Briques et tuiles, Ο les charmante Petits asiles Pour lee amantsl
Diese Versart ist selten in einem Gedicht durchgeführt worden; wir finden sie ζ. B. altfranzösisch in einem Gedicht von Nicole Bozon auf die Verkündigung Maria, sodann - wie es scheint - erst wieder im 18. Jh. in dem beschreibenden Gedicht Le hameau von Gentil Bernard, im 19. Jh. gelegentlich bei Banville, Richepin, Verlaine. Weitaus häufiger ist der Vers anzutreffen mit längeren Versen gemischt, wobei der Achtsilber bevorzugt wird, und zwar in der Lyrik alter und neuer Zeit (s. o. S. 30). Als ältester Beleg für das Vorkommen dieser Versart im Französischen ist die sog. Paraphrase des Hohen Liedes vom Ende des 11. Jhs. zu nennen, wo nach je zwei Zehnsilbern ein Viersilber erscheint. In der Cantefable Aucassin und Nicolette werden die Siebensilberlaissen mit
C. Die kürzeren Versarten
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je einem weiblichen Viersilber abgeschlossen, wozu die ähnliche Praxis des Heldenepos (s. o. S. 72) den Anstoß gegeben haben wird. Eine sehr beliebte Verwendung bildete im Mittelalter die (nichtstrophische) Verbindung zweier oder dreier Achtsilber mit einem Viersilber, die zuerst in dem altfranzösischen Fablei (Schwank) Richeut v. J. 1159 erscheint. Die Entstehung des Viersilbers könnte in verschiedenen Bichtungen gesucht werden. Da in der Strophenform der genannten Paraphrase des Hohen Liedes eine mittellateinische Strophe genau nachgebildet ist, läge es nahe, diesen (fast stets männlichen) Viersilber auf den entsprechenden lateinischen Vers zurückzuführen. Unabhängig davon mögen aber sehr wohl viersilbige Verse auch durch Zerlegung altfranzösischer Achtsilber entstanden sein, etwa aus dem praktischen Bedürfnis nach einer Unterlage für die beim Beigentanz sich ergebenden Schritte, wie etwa in dem bekannten Befrain: Mignotement la voi venir Gele que j'aim.
Der Dreisilber wird durch zwei trochäische Füße gebildet, deren zweitem die Senkung fehlt (χ χ ' croitre), teils zu [g] wurde und dann ai geschrieben wird (ζ. B. donoit > donnait, conoistre > connaitre). Im 17. J h . war die Aussprache [og] für beide Gruppen noch das gewöhnliche, woneben bei einzelnen Wörtern auch schon das vulgärpariserische [§] die Aussprache der Gebildeten beeinflußt haben mag. So erklären sich Reime wie fenetre : connoitre bei Corneille (Menteur 389/90), joie : monnoie (jetzt monnaie) bei Moliere (Mis. 37/8), exploit
: lisoit ( j e t z t lisait)
bei R a c i n e (Plaideura
365/6), die n u r a u f
149
D. Beim
Grund jener jetzt veralteten Aussprache korrekt sind und den modernen Schauspieler vor eine unlösbare Schwierigkeit stellen. Ähnliches gilt für Bindungen des Infinitivs croitre mit Wörtern wie etre oder naitre, die ζ. B. bei Corneille begegnen (Theodore 11/2, Sertorius
1157/8), oder mit maitre bei Racine (Anirom. 1069/70). Ein beliebiges anderes Beispiel für einen jetzt unkorrekt gewordenen Reim ist die B i n d u n g compaigne
: didaigne
bei Malherbe (Lärmes
de et.
Pierre,
Str. 22). Von den Reimen der zweiten Gruppe, die also auf dialektischer Grundlage beruhen, ist die sog. rime de Chartres hervorzuheben, weil sie auch in der Literatursprache Verwendung gefunden hat und häufig in Dichtungen des 15./16. Jhs., vereinzelt auch noch im 17. Jh. begegnet. Hierbei handelt es sich um die Bindung zweier Wörter, für deren Tonvokal, geschrieben e«, die gemeinsame Aussprache [0] oder [