Theoriebeladenheit und Objektivität: Zur Rolle der Beobachtung in den Naturwissenschaften 9783110322743, 9783110322316

Naturwissenschaftliche Beobachtungen hängen auf vielfältige Weise von wissenschaftlichen Theorien ab. Diese These der Th

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German Pages 274 [285] Year 2002

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Table of contents :
Titel
Vorwort
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Teil I: Die Begründung des Optimismus
Kapitel 1: Einleitung
Kapitel 2: Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen
Teil II: Die Theoriebeladenheit von Beobachtungen
Kapitel 3: Theoriebeladene Wahrnehmungen
Kapitel 4: Die syntaktische Theorie der Beobachtungen
Kapitel 5: Die Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen
III. Die Objektivität von Beobachtungen
Kapitel 6: Wissenschaft ohne Erfahrung?
Kapitel 7: Theorieunabhängige perzeptuelle Beobachtungen
Kapitel 8: Die Objektivität von Beobachtungen
Literaturangaben
Index
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Theoriebeladenheit und Objektivität: Zur Rolle der Beobachtung in den Naturwissenschaften
 9783110322743, 9783110322316

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Epistemische Studien Schriften zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Herausgegeben von Michael Esfeld • Stephan Hartmann • Mike Sandbothe Band 2 / Volume 2

Matthias Adam

Theoriebeladenheit und Objektivität

Zur Rolle von Beobachtungen in den Naturwissenschaften

ontos verlag Frankfurt  London

Bibliographic information published by Die Deutsche Bibliothek Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliographie; detailed bibliographic data is available in the Internet at http://dnb.ddb.de

 2003 ontos verlag Postfach 61 05 16, D-60347 Frankfurt a.M. Tel. ++(49) 69 40 894 151 Fax ++(49) 69 40 894 169

ISBN 3-937202-11-0 ISBN 1-904632-04-1 (U.K.; USA)

2002

Alle Texte, etwaige Grafiken, Layouts und alle sonstigen schöpferischen Teile dieses Buches sind u.a. urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Speicherung, Sendung und Vervielfältigung in jeder Form, insbesondere Kopieren, Digitalisieren, Smoothing, Komprimierung, Konvertierung in andere Formate, Farbverfremdung sowie Bearbeitung und Übertragung des Werkes oder von Teilen desselben in andere Medien und Speicher sind ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig und werden verfolgt. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff (TcF-Norm). Printed in Germany.

Vorwort „Man sieht nur, was man kennt“ lautet ein Sprichwort, als dessen wissenschaftstheoretische Ausarbeitung man die These von der Theoriebeladenheit der Beobachtung auffassen kann. Wie unschwer zu erkennen ist, hat die Alltagsweisheit hier der theoretischen Formulierung einiges an Kürze und auch Sprachrhythmus voraus. Denn die Theoriebeladenheit der Beobachtung entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein vielschichtiges Bündel von Phänomenen, die auseinander zu halten, zu bestimmen und einzuschätzen einigen begrifflichen Aufwand erfordert. Dennoch sollen die folgenden Seiten insgesamt einer Sorge Rechnung tragen, die schon im Alltag besteht. Wenn wir nur sehen, was wir bereits kennen oder erwarten, wie können wir dann etwas Neues lernen und falsche Vormeinungen korrigieren? Im Zentrum der Studie steht daher die Frage, ob die Theoriebeladenheit die Objektivität wissenschaftlicher Beobachtungen in Zweifel zieht. Die Begründung der verneinenden Antwort hierauf soll dann etwas liefern, was nur durch Theorie geleistet werden kann: ein verbessertes Verständnis der Rolle von Beobachtungen in den Naturwissenschaften und damit insgesamt der Rolle von Erfahrung für unser Wissen. Diese Studie entstand aus einer Arbeit, die von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen wurde. Die günstigen Arbeitsbedingungen und der rege Austausch, die sich mir an der Abteilung Philosophie boten, habe ich dabei als für die Entstehung der Arbeit besonders förderlich empfunden. Ich danke Alexander Mäder, Michael Schütte, Torsten Wilholt sowie allen Teilnehmern der Kolloquien von Martin Carrier, Ansgar Beckermann und Eike von Savigny für wiederholte Diskussionen von Teilen der Arbeit. Ein großer Dank geht an Christian Nimtz, der als Ratgeber in philosophischen Fragen, als Kritiker von Ideen und Entwürfen und als ständiger ‚Motivationstrainer‘ die Entstehung der Dissertation durchweg begleitet hat. Ansgar Beckermann, Zweitgutachter der Dissertation, danke ich für das, was ich in vielen Semestern über Wahrnehmung, Begriffe, Erkenntnistheorie und überhaupt die Art, Philosophie zu betreiben, von ihm gelernt habe. Ein besonderer Dank gilt Martin Carrier, dem ‚Doktorvater‘, der viel mehr, als die gelegentlichen Verweise im Text deutlich machen können, meine Überlegungen zur Theoriebeladenheit von Anfang an mitbestimmt und den Fortgang der Arbeit sowohl inhaltlich wie organisatorisch stetig gefördert hat. Der Studienstiftung des deutschen Volkes danke ich für ein Promotionsstipendium, das ein von anderen Aufgaben unbehindertes Arbeiten ermöglichte. Regina Krekeler jedoch für ihre Unterstützung bei der Durchsicht und Korrektur zu danken,

hieße eine relative Kleinigkeit zu erwähnen im Vergleich zu dem vielen ungenannt Bleibenden, wofür ich ihr dankbar bin. Bielefeld, Juli 2002

Inhalt Teil I: Die Begründung des Optimismus ................................................7 Kapitel 1: Einleitung .................................................................................7 1. Das Ziel dieser Studie........................................................................................................... 7 2. Beobachtungen und ihre Theoriebeladenheit .................................................................11 3. Die Begründung des Optimismus ....................................................................................16 a) Widerlegung des Skeptikers und Begründung des Optimismus..............................16 b) Eine partielle Begründung ............................................................................................17 c) Pessimismus und Optimismus .....................................................................................19 4. Der Aufbau des Buches .....................................................................................................23

Kapitel 2: Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen. 25 1. Zirkularität durch Theoriebeladenheit .............................................................................25 2. Fehlschlagsrisiko und die Effektivität von Beobachtungen ..........................................26 a) Effektive und ineffektive Beobachtungen ..................................................................26 b) Wovon hängt die Effektivität von Beobachtungen ab? ...........................................29 c) Effektivität und Objektivität.........................................................................................36 3. Sind unabhängig theoriebeladene Beobachtungen objektiv? ........................................38 a) Unabhängig theoriebeladene Beobachtungen ............................................................38 b) Sind Beobachtungen typischerweise unabhängig theoriebeladen? .........................40 c) Unabhängigkeit und Objektivität I: Einzelne Theorien............................................41 d) Unabhängigkeit und Objektivität II: Theoriennetze.................................................45 Zusammenfassung...................................................................................................................49 Anhang zu Abschnitt 2b ........................................................................................................49

Teil II: Die Theoriebeladenheit von Beobachtungen ........................... 51 Kapitel 3: Theoriebeladene Wahrnehmungen ....................................... 51 1. Einleitung .............................................................................................................................51 2. Die begriffliche Prägung von Wahrnehmungen .............................................................53 a) Sehen, Sehen-als, Sehen-dass........................................................................................53 b) Perzeptuelles Klassifizieren ..........................................................................................54 c) Wahrnehmungsurteile....................................................................................................60 3. Welche Begriffe prägen die Wahrnehmung?...................................................................65 4. Die Theorieabhängigkeit der begrifflichen Prägung von Wahrnehmungen ...............70 a) Zwei Formen der Theorieabhängigkeit.......................................................................70 b) Gründe für die Theorieabhängigkeit...........................................................................72 (i) Theoretisches Wissen ist notwendig für Begriffsbesitz.......................................72 (ii) Gestaltwechsel und Gestaltpsychologie................................................................74 (iii) Helmholtz’sche Wahrnehmungstheorien............................................................80

(iv) Belege aus der Wissenschaftsgeschichte..............................................................86 5. Sind Wahrnehmungen trotz der Theorieabhängigkeit der begrifflichen Prägung objektiv?...............................................................................................................................89 a) Schwache Theorieabhängigkeit und Objektivität ......................................................89 b) Starke Theorieabhängigkeit und Pessimismus...........................................................92 Zusammenfassung...................................................................................................................97

Kapitel 4: Die syntaktische Theorie der Beobachtungen...................... 99 1. Einleitung .............................................................................................................................99 2. Ein allgemeines Modell für Beobachtungen..................................................................101 3. Eine Semantik für Beobachtungsterme..........................................................................110 a) Die Netzwerk-Semantik ..............................................................................................110 b) Das Argument von der Semantik theoretischer Ausdrücke ..................................114 (i) Die Theorie-Beobachtung-Unterscheidung........................................................115 (ii) Theoretische Ausdrücke .......................................................................................117 (iii) Beobachtungsausdrücke ......................................................................................121 c) Das Ausschluss-Argument..........................................................................................125 4. Die syntaktische Theorie der Beobachtung und der Pessimismus.............................135 a) Zusammenfassung der Position.................................................................................135 b) Das Heuhaufen-Argument.........................................................................................137 c) Empirische Prüfung durch die Syntax von Beobachtungssätzen..........................139 Zusammenfassung.................................................................................................................141

Kapitel 5: Die Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen 143 1. Einleitung ...........................................................................................................................143 2. Formen der Verlässlichkeitseinschätzung......................................................................144 a) Einige mögliche Varianten..........................................................................................144 b) Lange und kurze Beobachtungsprozesse .................................................................147 3. Die Theorieabhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung.........................................151 a) Direkte Wahrnehmungen............................................................................................151 b) Wahrnehmungen mit Instrumenten..........................................................................154 c) Messgeräte-Daten.........................................................................................................156 d) Lange Beobachtungsprozesse und der Neue Experimentalismus ........................158 (i) Datenauswahl und Datenanalyse..........................................................................159 Fallbeispiel: Jupitermond S/1999 J 1........................................................................160 (ii) Die Kontrolle von Störfaktoren ..........................................................................164 (iii) Erwartete Daten und gezielte Eingriffe.............................................................166 (iv) Koinzidenz unabhängiger Beobachtungen .......................................................168 (v) Empirische und theoretische Gründe in der Verlässlichkeitseinschätzung...169 4. Die Verlässlichkeitseinschätzung und die Objektivität von Beobachtungen............171 a) Starke Theorieabhängigkeit durch die Verlässlichkeitseinschätzung ....................171

b) Optimismus oder Pessimismus?................................................................................173 Zusammenfassung.................................................................................................................177

III. Die Objektivität von Beobachtungen............................................ 179 Kapitel 6: Wissenschaft ohne Erfahrung? ............................................ 179 1. Einleitung ...........................................................................................................................179 2. Die These ‚Wissenschaft ohne Erfahrung’....................................................................181 a) Perzeptuelles Beobachten und die Kenntnisnahme von satzartigen Daten ........181 b) Teilthesen......................................................................................................................186 3. Beurteilung der These.......................................................................................................187 Zusammenfassung.................................................................................................................198

Kapitel 7: Theorieunabhängige perzeptuelle Beobachtungen............ 199 1. Einleitung ...........................................................................................................................199 2. Perzeptuelle Reizverarbeitung .........................................................................................199 a) Helmholtz’sche Theorien versus modulare Theorien der Wahrnehmung...........200 b) Die kognitive Abgeschlossenheit des visuellen Systems ........................................202 c) Empirische Belege für die kognitive Abgeschlossenheit ........................................204 3. Fähigkeiten perzeptueller Klassifikation ........................................................................210 a) Theorieunabhängigkeit und Zuverlässigkeit von Klassifikationsfähigkeiten .......210 b) Die beobachterfreundliche Welt................................................................................213 c) Der theorieunabhängige Erwerb klassifikatorischer Fähigkeiten ..........................216 d) Weitere Belege für die Theorieunabhängigkeit........................................................217 4. Zur Semantik von Beobachtungsausdrücken................................................................220 5. Wahrnehmungen mit Hilfe von Instrumenten .............................................................226 6. Beobachtungen mit bildgebenden Verfahren................................................................230 a) Inhalte............................................................................................................................231 b) Die Einschätzung der Verlässlichkeit .......................................................................238 c) Theoretische Annahmen in der Bildbearbeitung.....................................................240 Zusammenfassung.................................................................................................................244

Kapitel 8: Die Objektivität von Beobachtungen.................................. 247 1. Einleitung ...........................................................................................................................247 2. Die semantische Rolle von Beobachtungen ..................................................................248 3. Die Bestimmtheit der empirischen Basis.......................................................................250 4. Eine neue Begründung des Optimismus .......................................................................256 Schlussbetrachtung: Theoriebeladenheit und Objektivität ..............................................260

Literaturangaben................................................................................... 263 Index...................................................................................................... 273

Abbildungsverzeichnis Abb. 3.1: Hasen-Enten-Kopf ...............................................................................55 Abb. 3.2: Alte/junge Frau.....................................................................................68 Abb. 3.3: Neckerwürfel .........................................................................................68 Abb. 3.4: Suchbild..................................................................................................74 Abb. 3.5: Kanisza-Dreieck ....................................................................................75 Abb. 5.1: Jupitermond S/1999 J 1 .....................................................................161 Abb. 6.1: Positron................................................................................................195 Abb. 7.1: Amodale Vervollständigung ..............................................................206 Abb. 7.2: Theorieunabhängige perzeptuelle Klassifikation.............................215 Abb. 7.3: Computertomogramm Abdomen .....................................................232 Abb. 7.4: Mesosom..............................................................................................236 Abb. 7.5: Entwicklungsschema Mesosome.......................................................236

Am Ende hängen wir doch ab Von Kreaturen, die wir machten. Goethe, Faust

„Gewiss,“ sagte ich, „erscheint der Mephistopheles hier in einer untergeordneten Stellung; allein ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass er zur Entstehung des Homunkulus heimlich gewirkt hat.“ Eckermann, Gespräche mit Goethe

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Teil I: Die Begründung des Optimismus Kapitel 1: Einleitung 1. Das Ziel dieser Studie Der besondere Status naturwissenschaftlicher Erkenntnisse wird häufig dadurch begründet, dass wissenschaftliche Hypothesen und Theorien sich auf systematische Beobachtungen und experimentelle Ergebnisse stützen. Typische Formulierungen solcher Begründungen geben etwa Carl Gustav Hempel und Ernest Nagel: [Die] wissenschaftliche Objektivität [wird] durch das Prinzip gesichert, dass Hypothesen und Theorien – auch wenn sie in der Wissenschaft frei erfunden und vorgeschlagen werden – als wissenschaftliche Erkenntnis nur dann akzeptiert werden können, wenn sie kritischer Prüfung unterzogen werden; dies schließt insbesondere ein, dass geeignete Test-Implikationen durch sorgfältige Beobachtungen und Experimente überprüft werden. (Hempel 1974, 28; Hervorhebungen im Original.) Implicit in the contrasts between modern science and common sense ... is the important difference that derives from the deliberate policy of science to expose its cognitive claims to the repeated challenge of critically probative observational data, procured under carefully controlled conditions. (Nagel 1961, 12)

Diesen Äußerungen zufolge kommt Beobachtungen und experimentellen Daten die Rolle zu, wissenschaftliche Hypothesen und Theorien kritisch zu überprüfen. (Im Folgenden werde ich der Einfachheit halber immer nur von Beobachtungen sprechen, wenn ich wissenschaftlich relevante Wahrnehmungen oder experimentelle Daten meine. Mehr zum Beobachtungsbegriff im nächsten Abschnitt.) Beobachtungen sollen so die Akzeptanz oder die Zurückweisung von Hypothesen fundieren. Die Objektivität der Wissenschaft und der besondere Wert ihrer Erkenntnisse wird gerade dadurch begründet, dass wissenschaftliche Hypothesen der Kritik durch Beobachtungen ausgesetzt werden. Diese Begründung der wissenschaftlichen Objektivität ist fragwürdig geworden, seit die These der Theoriebeladenheit der Beobachtung weite Anerkennung in der Wissenschaftstheorie gefunden hat. Diese These wird in vielen Varianten vertreten, und im Gegensatz zum Phänomen der Theorieabhängigkeit als solcher sind viele dieser Varianten umstritten.1 Unter anderem 1

Ich werde die Ausdrücke „Theoriebeladenheit“ und „Theorieabhängigkeit“ austauschbar verwenden.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

wird behauptet, dass Sinneserfahrungen von Erwartungen und Wissen beeinflusst werden, dass die Interpretation von Beobachtungssätzen von wissenschaftlichen Theorien geleistet wird, dass Geltung und Deutung experimenteller Resultate von Theorien über die Funktion der verwendeten Geräte und über den experimentellen Aufbau abhängen, und dass die Frage, ob für Beobachtungen günstige Umstände vorliegen, oft unter Rückgriff auf Theorien beantwortet wird.2 Allen Versionen gemeinsam ist die Annahme, dass der Inhalt oder die Geltung wissenschaftlich relevanter Beobachtungen von schon bestehenden Überzeugungen, insbesondere von schon vertretenen wissenschaftlichen Theorien abhängt oder davon beeinflusst wird. Wenn diese These zutrifft, wird aber fragwürdig, ob die Prüfung durch Beobachtungen die Objektivität der Wissenschaften begründen kann. Denn die Vorstellung war, dass Beobachtungen gegenüber wissenschaftlichen Hypothesen eine kritische Rolle spielen. Dies scheint nur möglich, wenn Beobachtungen eine neutrale, vorurteilsfreie Grundlage der Beurteilung von Hypothesen bilden. Wenn Beobachtungen aber theoriebeladen sind, also in Inhalt und Geltung von schon vertretenen Theorien abhängen, sind sie gegenüber den zu beurteilenden Theorien gerade nicht mehr im Allgemeinen neutral, sondern für oder gegen sie voreingenommen. Mit der Hinfälligkeit einer zuvor akzeptierten Begründung für den besonderen epistemischen Status wissenschaftlicher Erkenntnisse wird zunächst unklar, wie die Objektivität der Wissenschaften begründet werden kann. Es gibt unter den Autoren, die die Objektivität der Wissenschaft selbst nicht in Frage stellen, ein großes Maß an Uneinigkeit darüber, wie man diese Objektivität angesichts der Theoriebeladenheit der Beobachtung rechtfertigen soll. Zum einen ist umstritten, in welchem Ausmaß Beobachtungen theoriebeladen sind. Einige Autoren halten Beobachtungen für in vielen Hinsichten theorieunabhängig und begründen damit ihre Objektivität.3 Andere argumentieren dafür, dass die Theoriebeladenheit von Beobachtungen der wissenschaftlichen Objektivität überhaupt nicht im Wege steht.4 Weitere Autoren plädieren dafür, dass theoriebeladene Beobachtungen unter besonderen Voraussetzungen kein Hindernis für wissenschaftliche Erkenntnis darstellen. Dabei gibt es wiederum verschiedene Vorschläge dazu, welche Voraussetzungen das sind.5 2 3 4 5

Für Versuche, die verschiedenen Varianten der These zusammenzustellen und zu klassifizieren, siehe Carrier (1994), 5ff. und Brown (1995). Etwa Hacking (1983), Kap. 10 und 11; Fodor (1984) und (1988). Siehe Churchland (1979) und (1988). Siehe Shapere (1982), Franklin (1989), Kosso (1989), Brown (1993), Culp (1995), Carrier (2000), Shogenji (2000).

1. Einleitung

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Andere Autoren sehen durch die Theoriebeladenheit der Beobachtung dagegen die Objektivität der Wissenschaften überhaupt in Zweifel gezogen. So schreibt Ernest Nagel: [S]uppose that some theory is being tested by obtaining certain experimental data. It would be clearly circular to interpret those data in such a way that they are described with the help of terms whose definitions presuppose the truth of the theory. Accordingly, observation statements containing such terms can be used in this case, only on pains of making the theory irrefutable, and thereby depriving it of empirical content. (Nagel 1979, 79)

Einige Philosophen haben sich die Zweifel zu eigen gemacht und die Annahme optimistischer Erkenntnisaussichten für die Wissenschaften aufgegeben. So stützen sich sowohl Thomas Kuhn als auch Paul Feyerabend in ihren skeptischen Einschätzungen wissenschaftlicher Erkenntnisse wesentlich auf die Theoriebeladenheit der Beobachtung.6 Solche skeptischen oder relativistischen Einschätzungen finden in weiten Bereichen der Wissenschaftsforschung, insbesondere in der Wissenschaftssoziologie, großen Anklang. Innerhalb des wissenschaftssoziologischen Konstruktivismus, der Hauptströmung der gegenwärtigen soziologischen Wissenschaftsforschung,7 wird die Theoriebeladenheit der Beobachtung in der Regel als einer der zentralen Gründe für eine relativistische Einschätzung wissenschaftlicher Erkenntnisse angeführt. Die generelle Auffassung des Konstruktivismus ist, dass die Wahl und die Geltung wissenschaftlicher Hypothesen durch universelle, kontext- oder kulturunabhängige Kriterien unterbestimmt ist. Wissenschaftliche Entscheidungen über die Geltung von Hypothesen seien ‚kontingent‘. Dies soll begründen, warum sie soziologisch erklärt werden müssen. Diese generelle relativistische Position formulieren etwa Barry Barnes und David Bloor: For the relativist there is no sense attached to the idea that some standards or beliefs are really rational as distinct from merely locally accepted as such. Because he thinks that there are no context-free or super-cultural norms of rationality he does not see rationally and irrationally held beliefs as making up two distinct and qualitatively different classes of thing. They do not fall into two different natural kinds which make different sorts of appeal to the human mind, or stand in a different relationship to reality, or depend for their credibility on different patterns of social organization. Hence the relativist conclusion that they are to be explained in the same way. (Barnes/ Bloor 1982, 27/28)

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Siehe hierzu Kapitel 3 und 4. Siehe den Bericht zum Kongress der Society for the Social Studies of Science und der European Association for the Study of Science and Technology von Wagner (2000).

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Die Theoriebeladenheit der Beobachtung wird dabei als Beleg dafür angeführt, dass auch die empirische Prüfung wissenschaftlicher Überzeugungen die Geltung wissenschaftlicher Hypothesen unterbestimmt. So schreibt Steven Shapin: The underdetermination of scientific accounts by reality and the ‚theory-laden‘ nature of fact-statements are both quite widely accepted. Nevertheless, the way forward from these basic sensibilities towards a full-blown sociology of scientific knowledge is by no means generally recognized. Even so, this is the best way to proceed: the sociology of knowledge is built upon an appreciation of the contingent circumstances affecting the production and evaluation of scientific accounts. (Shapin 1982, 159)8

Die herrschende Auffassung innerhalb der Wissenschaftssoziologie ist also, dass – wesentlich auch wegen der Theoriebeladenheit der Beobachtung – die naturwissenschaftlichen Methoden nicht zu objektiven Erkenntnissen führen, die kontextunabhängig Geltung haben und (zumindest teilweise) von einer unabhängigen Welt wahr sind.9 Die skizzierte Problemlage ist daher die folgende: Die traditionelle Begründung des besonderen epistemischen Status wissenschaftlicher Erkenntnisse, nämlich durch Beobachtung und Experiment geprüft und bestätigt zu sein, ist durch die These der Theoriebeladenheit der Beobachtung fragwürdig geworden. Die Autoren, die gegenüber den Erkenntnisaussichten optimistisch bleiben, sind sich uneinig darüber, wie dieser Optimismus angesichts der Theoriebeladenheit genau zu begründen ist. Es ist daher angesichts der Theoriebeladenheit unklar, wie sich wissenschaftliche Erkenntnisse auf Beobachtungen stützen können. Andere Autoren finden mit dem Wegfall der Begründung den besonderen epistemischen Anspruch der Wissenschaften insgesamt zweifelhaft, oder stützen eine pessimistische Einschätzung gerade auf die Theorieabhängigkeit von Beobachtungen. In dieser Studie möchte ich daher der Frage nachgehen, wie sich ein epistemologischer Optimismus bezüglich wissenschaftlichen Erkenntnissen trotz der bestehenden Theoriebeladenheit von Beobachtungen rechtfertigen lässt. Die gestellte Aufgabe lässt sich genauer fassen, wenn man die zur Diskussion stehenden philosophischen Thesen deutlicher macht. Zu den Autoren, die eine in meinem Sinne optimistische epistemologische Einschätzung vertreten, gehören Wissenschaftliche Realisten (wie etwa Fodor, Churchland 1979), 8

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Für ähnliche Begründungen relativistischer Positionen durch Formen der Theoriebeladenheit der Beobachtung siehe auch Collins (1985), z.B. 16 u. 84; Knorr-Cetina (1984), 17ff. Für philosophische Auseinandersetzungen mit dem wissenschaftssoziologischen Konstruktivismus insgesamt siehe Friedman (1998), Hacking (1999).

1. Einleitung

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Empiristen (van Fraassen) und Vertreter von Mittelpositionen mit eingeschränkten realistischen Thesen (Hacking, H. I. Brown).10 Zum Optimismus gehört also mindestens die Einschätzung, dass reife Wissenschaft weitgehend empirisch adäquat ist oder sein kann, also den beobachtbaren Bereich ihres Gegenstandsgebiets zutreffend (objektiv wahr) beschreibt. Die weiter gehenden Behauptungen, dass die theoretischen Terme referieren und theoretische Postulate weitgehend (näherungsweise) wahr sind oder sein können, gehören demgegenüber nur zu einigen, nicht aber zu allen optimistischen Einschätzungen. Um die Formulierungen einfach zu halten, werde ich aber im Folgenden in der Regel nur die realistische Einschätzung anführen, auch wenn die anderen optimistischen Positionen mit gemeint sind. Die pessimistische Einschätzung umfasst demgegenüber Positionen, die die Aussichten der Wissenschaften, im Bereich beobachtbarer oder unbeobachtbarer Phänomene wahre Beschreibungen auszuzeichnen, skeptisch einschätzen (wie Kuhn), oder aber von vornherein nur relativierte Begriffe von Wahrheit, Objektivität oder Wissen für sinnvoll erachten (Feyerabend, Barnes/ Bloor, Knorr-Cetina, Collins). Beobachtungen fasse ich genau dann als objektiv auf, wenn sich durch ihre Beschaffenheit ein Optimismus begründen lässt. Es ist somit nicht ausgeschlossen, dass Beobachtungen im Allgemeinen sowohl objektiv als auch in gewissem Maß theorieabhängig sind. Für das verfolgte Projekt wird es vielmehr zentral sein, zum einen zu prüfen, auf welche Weisen Beobachtungen tatsächlich von Theorien abhängen, und zum anderen festzustellen, wie sich eine solche Theorieabhängigkeit mit den Erkenntniszielen der Wissenschaften verträgt. Auf solche Weise soll sowohl zur Klärung der Frage beigetragen werden, wie sich wissenschaftliches Wissen auf Beobachtungen stützt, als auch der Optimismus gegenüber pessimistischen Positionen verteidigt werden. Das Ziel der Studie besteht damit in der Beantwortung der Frage: Warum sind Beobachtungen trotz ihrer Theoriebeladenheit objektiv? 2. Beobachtungen und ihre Theoriebeladenheit Beobachtungen kommen in den Wissenschaften in vielfältigen Formen vor und spielen eine Anzahl unterschiedlicher epistemisch relevanter Rollen. Zudem gibt es viele Varianten der These, dass Beobachtungen theoriebeladen sind. Es ist eine zentrale Aufgabe der ganzen Studie, die verschiedenen Formen der Beobachtung zu bestimmen und ihre mögliche Theoriebeladenheit zu diskutieren. Daher kann nicht schon zu Beginn eine genaue Charakterisierung der Beobachtungsarten und der Formen ihrer Theoriebeladenheit 10

Die Bezeichnung „Optimismus“ entnehme ich Wright (1993), Kap. 9.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

gegeben werden. Stattdessen möchte ich hier umreißen, welche Auffassungen von Beobachtungen und ihrer Theoriebeladenheit für das zu bearbeitende Projekt am fruchtbarsten sind. In der Wissenschaftstheorie werden sehr unterschiedliche Begriffe von Beobachtung vertreten. Viele Autoren haben einen recht engen Beobachtungsbegriff und betrachten Beobachtungen als Spezialfälle von Wahrnehmungen. Peter Frenchs Analyse zufolge impliziert zu beobachten, dass man wahrnimmt, dass sich etwas in gewisser Weise verhält. Dabei sollen sich Beobachtungen vor anderen Wahrnehmungen dadurch auszeichnen, dass man den Objekten besondere Beachtung schenkt und mit besonderer Sorgfalt vorgeht.11 Dem steht entgegen, dass in den Naturwissenschaften selbst der Begriff der Beobachtung viel weiter gebraucht wird. So werden hier nicht nur einfache Messungen von Größen mit Hilfe von Messgeräten oft als Beobachtungen bezeichnet. Auch ausgedehnte empirische Prozesse der Datengewinnung werden häufig als Beobachtungen aufgefasst, etwa Prozesse, die eine aufwändige Vorbereitung und den Einsatz komplexer Geräte erfordern, bei denen Daten über längere Zeiten oder mehrere Testreihen gewonnen werden und die eine Auswahl und Analyse der Daten einschließen. Beispielsweise untersucht man mit der Femtosekunden-Spektroskopie den Verlauf chemischer Reaktionen, indem man reagierende Substanzen mit ultrakurzen Laserblitzen bestrahlt. Das Absorptionsspektrum ändert sich dabei in Abhängigkeit vom Stadium der Reaktion und ihrer Zwischenprodukte. Aus einem gemessenen Absorptionsspektrum lässt sich so ein momentaner Zustand der Reaktion ermitteln und aus vielen solcher Messungen der Reaktionsverlauf rekonstruieren. Typische Reaktionszeiten liegen dabei im Bereich von 10 bis 100 Femtosekunden (1 Femtosekunde = 10-15s). Der Reaktionsverlauf ist daher schon seiner Geschwindigkeit wegen nicht wahrnehmbar. Dennoch halten Chemiker die Femtosekunden-Spektroskopie für eine „Möglichkeit, die Reaktionsdynamik auf molekularer Ebene zu beobachten“12. Dudley Shapere versucht, einem solchen weiten wissenschaftlichen Beobachtungsbegriff gerecht zu werden. Ihm zufolge können alle direkten Informationsübertragungen von Objekten wissenschaftlichen Interesses auf Rezeptoren – seien es Sinnesorgane oder Instrumente – als direkte Beobachtungen aufgefasst werden.13 11

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Siehe French (1975), 96. Vgl. auch Fodor (1991) und Brown (1995) für Beobachtungen als Sonderfälle von Wahrnehmungen. French analysiert aber den gewöhnlichen Begriff von Beobachtung, wohingegen Fodor und Brown den Begriff nach epistemologischen, insbesondere empiristischen Vorgaben fassen. Zewail (1991), 111; vgl. Zewail (1988). Siehe Shapere (1982), 492.

1. Einleitung

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Mir ist vor allem an einem Begriff von Beobachtungen gelegen, der erkenntnistheoretisch interessant ist. Er sollte alles umfassen, was von einer Theoriebeladenheit so befallen werden kann, dass dadurch der Optimismus in Frage gestellt wird oder einer neuen Begründung bedarf. Da das Problem der Theorieabhängigkeit aber nicht auf Wahrnehmungen beschränkt ist, werde ich einem weiten Begriff von Beobachtungen folgen, der die gesamte empirische Basis des wissenschaftlichen Erkenntniserwerbs umfassen soll. Drei zentrale Merkmale zeichnen Beobachtungen in diesem Sinn aus. Erstens sind Beobachtungen dasjenige, was die Wissenschaften empirisch macht. Beobachtungen müssen demnach einen (kausalen) Kontakt bzw. einen vermeintlichen oder versuchten Kontakt mit dem Gegenstandsbereich einer wissenschaftlichen Disziplin einschließen.14 Demgegenüber ist der Erkenntniserwerb durch bloße Weitergabe von Wissen, durch Ableitung aus anderem Wissen, durch a priori Methoden, durch Intuition oder glückliches Raten kein Beobachten. Zweitens sollen Beobachtungen ihrer Art nach einen Beitrag zum Erkenntniserwerb der Wissenschaften (oder zu einem vermeintlichen Erkenntniserwerb) leisten können. Eine zentrale Aufgabe von Beobachtungen ist es, wissenschaftliche Hypothesen und Theorien empirisch zu prüfen und die Theorien gegebenenfalls zu bestätigen oder ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben. Viele Diskussionen der Theoriebeladenheit konzentrieren sich ganz auf diese Rolle von Beobachtungen. Daneben sind aber weitere epistemische Beiträge von Beobachtungen denkbar. So könnten Beobachtungen semantisch relevant sein, indem sie die Interpretation von wissenschaftlichen Ausdrücken mitbestimmen bzw. den Erwerb wissenschaftlich relevanter Begriffe ermöglichen. Zudem könnten Beobachtungen auch zur Entdeckung neuer Phänomene führen oder wissenschaftliche Hypothesen zuallererst nahe legen und so eine heuristische Rolle spielen. Es wird im Folgenden wiederholt um die Fragen gehen, ob solche semantischen und heuristischen Beiträge von Beobachtungen für den wissenschaftlichen Erfolg unerlässlich sind und ob

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Für Beobachtungen soll ein versuchter oder vermeintlicher Kontakt reichen, um zwei Klassen von Prozessen nicht von vornherein als Beobachtungen auszuschließen. Erstens sind dies Beobachtungen, die ein Nullergebnis haben. Man kann also beobachten, dass es auf dem Mars keine Außeriridischen gibt, indem man versucht, welche zu finden, und dabei keine findet. (Vgl. Brown 1995.) Zweitens soll auch der Bericht, dass Phlogiston entweicht, als Beobachtungsbericht gelten können, obwohl es kein Phlogiston gibt. Es ist daher keine begriffliche Voraussetzung, dass Beobachtungen immer wahr oder erfolgreich sind. Damit kann ihre Verlässlichkeit als substanzielle Frage behandelt werden.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

das Leisten solcher Beiträge durch einige Formen der Theoriebeladenheit unmöglich gemacht wird. (Siehe Kap. 4, Abschn. 4b und Kap. 8, Abschn. 2.) Drittens soll in der Regel nur das grundlegende Ergebnis, das einen empirischen Beitrag leisten kann, als Beobachtungsergebnis gelten. Die Prüfung von Hypothesen ist oft nur möglich, indem aus ersten empirischen Ergebnissen Schlüsse gezogen werden. So ist die Prüfung evolutionstheoretischer Annahmen durch Funde von Fossilien oft nur über eine Bestimmung des Alters der Fossilien möglich, etwa auf der Grundlage des umgebenden Gesteinsmaterials. Man schließt damit – in einem einfachen Fall – aus den Wahrnehmungen des Fossils und des Gesteins auf ein Ergebnis, das eine biologische Hypothese prüfen kann. Hier ist fraglich, auf welcher Stufe des Prozesses die Beobachtungsergebnisse anzusiedeln sind. Zählen die Wahrnehmungen von Fossil und Gestein, oder erst das daraus erschlossene datierte Fossil als Beobachtungsergebnis? Je nach Antwort können sich verschiedene Grade der Theorieabhängigkeit ergeben. Denn aus der Identifikation des Gesteins kann nur mit weiteren geologischen Annahmen auf das Alter geschlossen werden. Im Folgenden wird es deshalb notwendig sein, die Frage der Abgrenzung von Beobachtungsprozess und anschließender wissenschaftlicher Verwendung für die einzelnen Arten von Beobachtungen zu diskutieren. (Siehe insbes. Kap. 3, Abschn. 2b&c und Kap. 5, Abschn. 2b.) Als Leitfaden soll dabei aber gelten, dass der Beobachtungsprozess nur soweit reicht, bis ein Ergebnis zustande kommt, das den epistemischen Beitrag, soweit er empirisch ist, zu leisten fähig ist. Für das diskutierte Beispiel bedeutet das, dass nur die Wahrnehmungen von Gestein und Fossil, nicht aber der Schluss auf die Datierung des Fossils als Beobachtungen gelten. Denn der Schluss beruht neben den Wahrnehmungsurteilen auf geologischen Annahmen. Diese Annahmen sind zwar ihrerseits empirisch gestützt. Soweit aber innerhalb der gegebenen empirischen Prüfung ein empirischer Beitrag geleistet wird, ist er schon vollständig in den Wahrnehmungen enthalten.15 Wie sich in diesen Ausführungen zeigt, ist der Begriff der Beobachtung dahingehend zweideutig, ob damit ein Prozess oder das Ergebnis eines 15

Zu dem Beobachtungsbegriff, der durch die besprochenen drei Merkmale charakterisiert wird, vgl. auch Kosso (1989), der Beobachtungen im Allgemeinen als Kausalprozesse mit Informationsübertragung auf ein Subjekt bestimmt. Mein Begriff von Beobachtungen stellt damit im Wesentlichen als Verallgemeinerung des Kosso’schen dar, da ich weitere relevante Funktionen von Beobachtungen zulasse, wie etwa den Erwerb von Begriffen. Zugleich sind die drei Merkmale nicht als strikt hinreichend zu betrachten. Vielmehr sollen sie nur hinreichen, um aus der Menge der tatsächlichen wissenschaftlichen Prozesse diejenigen herauszugreifen, die als Beobachtungen gelten sollen.

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Prozesses bezeichnet wird. Wenn mit Beobachtungen die Ergebnisse, also die Beobachtungsbefunde, angesprochen sind, ist zu beachten, dass meiner Verwendung zufolge solche Beobachtungsbefunde nicht wahr zu sein brauchen und ihre Gegenstände nicht existieren müssen. Wenn man einer Person eine Beobachtung im Sinne des Ergebnisses eines Prozesses zuschreibt, muss daher nicht mehr gemeint sein, als dass die Person bestimmte empirische Befunde besitzt, die wissenschaftlich relevant sein können, insbesondere indem sie einen entsprechenden intentionalen Gehalt haben. Beobachtungsbefunden können recht ausgedehnte Beobachtungsprozesse zugrunde liegen. So kann ein Beobachtungsprozess viele Schritte einschließen, die zu solchen Beobachtungsbefunden führen, insbesondere kausale, kalkulatorische, interpretatorische, inferenzielle oder sonstige kognitive Schritte. Solche ausgedehnten Beobachtungsprozesse führen oft vom experimentellen Aufbau und Eingriffen des Experimentators über Objekte im Gegenstandsbereich zu Übertragungen via ein Medium auf Instrumente oder Sinnesorgane, im Weiteren durch kognitive Verarbeitung in den Sinnesorganen, Inferenzen, Berechnungen oder semantische Interpretation schließlich zu den Beobachtungsbefunden. Ich werde im Folgenden nur in solchen Fällen, in denen die Zweideutigkeit des Beobachtungsbegriffs zu Verwirrungen führen kann, genauer sagen, ob Beobachtungsprozesse oder Beobachtungsbefunde gemeint sind. Beobachtungen in dem so umrissenen weiten Sinn können auf vielfältige Weisen theorieabhängig sein. Allgemein gesagt ist eine Beobachtung theoriebeladen, wenn es von wissenschaftlichen Theorien abhängt, ob eine Beobachtung auf bestimmte Weise oder mit bestimmtem Ergebnis gemacht wird oder ob die Beobachtung die Fähigkeit besitzt, einen bestimmten epistemischen Beitrag zu leisten. Ist eine Beobachtung von einer Theorie abhängig, dann hätte man ohne die Theorie oder mit einer anderen Theorie keine oder eine andere Beobachtung gemacht. In den Kapiteln 3 bis 5 werde ich unterschiedliche Formen der Theorieabhängigkeit von Beobachtungen untersuchen, die in der Diskussion vertreten werden oder denkbar sind. In Kapitel 3 wird es vor allem darum gehen, ob Sinneserfahrungen und Wahrnehmungsurteile theoriebeladen sind, weil Theorien die perzeptuelle Verarbeitung von Sinnesreizen beeinflussen. In Kapitel 4 wird die Frage behandelt, ob die Bedeutung von Beobachtungssätzen durch Theorien festgelegt wird. In Kapitel 5 geht es darum, dass die Verlässlichkeit von Beobachtungsergebnissen in der Regel wissenschaftlich

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Theoriebeladenheit und Objektivität

beurteilt wird. Diese Einschätzung kann auch von theoretischen Annahmen – etwa über den Beobachtungsprozess – beeinflusst werden.16 3. Die Begründung des Optimismus a) Widerlegung des Skeptikers und Begründung des Optimismus Gegenstand dieser Studie ist ein erkenntnistheoretisches Projekt. Gesucht wird eine Begründung für die optimistische Einschätzung der Erkenntnisaussichten der Wissenschaften angesichts der Theoriebeladenheit wissenschaftlicher Beobachtungen. In diesem Zusammenhang könnte man auch ein anderes erkenntnistheoretisches Projekt verfolgen, das man als ‚Widerlegung des Skeptikers‘ bezeichnen kann. Dieses Projekt muss von dem Vorhaben einer Begründung des Optimismus unterschieden werden. Ein Skeptiker bezweifelt bezüglich eines bestimmten Bereichs (etwa alltägliche Gegenstände der „Außenwelt“, psychische Zustände anderer Menschen oder theoretisch postulierte Entitäten), dass wir über diesen Bereich etwas wissen. Um ihn zu widerlegen, muss man ihn durch Gründe und Argumente rational dazu zwingen anzuerkennen, dass man darüber einiges weiß. (Dies scheinen zumindest die seit Descartes geltenden Regeln des Projekts zu sein.) Für eine Widerlegung des Skeptikers darf man demnach nur Prämissen voraussetzen, die der Skeptiker selbst akzeptieren würde oder die zu akzeptieren man ihn rational zwingen kann. Wenn es darum geht, jemanden zu widerlegen, der aufgrund der Theoriebeladenheit der Beobachtung skeptisch bezüglich wissenschaftlichem Wissen ist, darf man demnach keine Gründe angeben, die selbst auf möglicherweise theoriebeladener Beobachtung beruhen. Diese Forderung an eine erkenntnistheoretische Diskussion der Theoriebeladenheit erhebt auch Geert-Lueke Lueken: [E]xperimentelle Befunde ... können wir ... dahingestellt sein lassen. Die Theorieabhängigkeitsthese der Wahrnehmung kann durch Berufung auf experimentelle Befunde, also letztlich Beobachtung, nicht widerlegt werden. Soll die Wahrnehmung als ein sicheres und neutrales Fundament der Erkenntnis begründet werden, so kann es nicht hinreichen, sich auf Beobachtungsresultate zu stützen, denn diese müssten dabei ja bereits als sicher und eindeutig in Anspruch genommen werden können. Dass eine solche Sicherheit und Eindeutigkeit der Wahrnehmung zumindest in einigen Bereichen gewährleistet ist, soll aber erst gezeigt werden. Experimentelle Befunde ... können ... keine Widerlegungsinstanzen für die Theorieabhängigkeitsthese [sein]. (Lueken 1992, 59) 16

Die Frage ist, ob die innerwissenschaftliche Einschätzung der Verlässlichkeit, die im Verlauf der Forschung für bestimmte Beobachtungsbefunde vorgenommen wird, theorieabhängig ist. Diese Einschätzung muss unterschieden werden von einer erkenntnistheoretischen Einschätzung von Beobachtungen etwa als objektiv oder nicht objektiv.

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Im Gegensatz hierzu kann für eine Begründung des Optimismus angesichts der Theoriebeladenheit sehr wohl empirisches Wissen angeführt werden, das selbst auf Beobachtungen zurückgeht. So kann man beispielsweise Annahmen zur Theoriebeladenheit von Wahrnehmungen an Ergebnissen der Wahrnehmungspsychologie überprüfen. Wenn sich hieraus empirische Belege für eine gewisse Theorieunabhängigkeit von Wahrnehmungen ergeben, können diese in die Begründung des Optimismus einfließen. Eine solche Begründung wäre keineswegs zirkulär. Denn begründet werden soll eine erkenntnistheoretische Position. Hierfür werden aber keine erkenntnistheoretischen, sondern wahrnehmungspsychologische Gründe angeführt. In der Begründung setzt man dann aber nicht voraus, was man zu zeigen beabsichtigt. Vielmehr kann man auf solche Weise konkrete, unabhängige Gründe angeben, die selbst ihrem Inhalt und ihrer Geltung nach detailliert überprüfbar sind. Zudem argumentieren gerade in der Debatte um die Theoriebeladenheit auch Autoren, die für pessimistische Positionen plädieren, häufig mit empirischem Wissen, insbesondere mit psychologischen, historischen oder soziologischen Befunden (so etwa Kuhn, Feyerabend oder Collins). Einer Begründung des Optimismus darf dann aber der Zugang zu den selben Ressourcen nicht verwehrt werden. Sie braucht daher nicht von der schmalen Basis dessen auszugehen, was ein Skeptiker selbst akzeptieren muss. Eine erfolgreiche Begründung wird dann zwar einen hartnäckigen Skeptiker nicht zur Einsicht zwingen, dass seine Position falsch ist. Ihm bleibt immer der Rückzug auf allgemeine Zweifel an der Gewissheit von Beobachtungen und der Gültigkeit empirischer Erkenntnisse. Solche allgemeinen Zweifel wirken aber gerade gegenüber einer detaillierten Begründung des Optimismus, die auf vielfältigen, konkret stützbaren Gründen beruht, besonders schwach und unmotiviert. Daher kann eine solche Begründung des Optimismus, auch wenn sie nicht einer Widerlegung des Skeptikers gleich kommt, dennoch starke antiskeptische Wirkung entfalten. b) Eine partielle Begründung Ziel dieser Studie ist eine Begründung des Optimismus angesichts der Theoriebeladenheit von Beobachtungen. Das heißt, dass der Optimismus nicht vollständig, sondern nur partiell begründet werden soll. In einer vollständigen Begründung müsste man auf alle relevanten Faktoren, die den wissenschaftlichen Erfolg bestimmen, eingehen. Man müsste darlegen, warum sie insgesamt so beschaffen sind, dass sie es wahrscheinlich machen, dass die Wissenschaften zu einer überwiegend wahren Beschreibung ihrer Gegenstandsbereiche kommen können. In der partiellen Begründung, die hier angestrebt wird, soll

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Theoriebeladenheit und Objektivität

dagegen nur plausibel gemacht werden, dass die Wissenschaften angesichts der bestehenden Theoriebeladenheit wissenschaftlicher Beobachtungen erfolgreich sein können. Dies bedeutet, dass Zweifel am wissenschaftlichen Erfolg, die sich aus anderen, den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess bestimmenden Faktoren ergeben können, nicht Gegenstand dieser Studie sind. Vielmehr wird eine Begründung gesucht, die sich vor dem Hintergrund der Annahme geben lässt, dass die anderen Faktoren für den epistemischen Erfolg günstig sind. So gehe ich davon aus, dass der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung keine massive Unterbestimmtheit von möglichen alternativen Theorien durch eine gemeinsame Erfahrungsgrundlage im Weg steht. (Vgl. hierzu den nächsten Abschnitt.) Auch Probleme aufgrund einer möglichen Inkommensurabilität konkurrierender Theorien werde ich größtenteils ausklammern. So gehe ich davon aus, dass es möglich ist, den Inhalt alternativer Theorien zu einem Gegenstandsbereich zu vergleichen. Zwar könnte die Theoriebeladenheit von Beobachtungen dazu führen, dass man mit solchen alternativen Theorien in denselben Situationen unterschiedliche Beobachtungssätze aufstellt. Daraus könnte sich eine Form der empirischen Inkommensurabilität ergeben, als einer Unvergleichbarkeit der empirischen Ansprüche alternativer Theorien durch eine gemeinsame Beobachtungsbasis. Auf eine solche Form der Inkommensurabilität muss in dieser Studie eingegangen werden. Aber im Übrigen gehe ich davon aus, dass die Bedeutung und insbesondere die Referenz von Ausdrücken alternativer Theorien objektiv feststehen kann und dass es daher objektive Vereinbarkeit und Unvereinbarkeit zwischen den Annahmen der verschiedenen Theorien gibt. Mögliche Schwierigkeiten damit, diese Verhältnisse festzustellen, sollen für die Zwecke dieser Untersuchung ausgeblendet werden. Es ist klar, dass eine optimistische Einschätzung wissenschaftlicher Theorien nur unter besonderen Bedingungen gerechtfertigt sein kann. Erstens müssen die Theorien gut empirisch gestützt sein. In der Regel wird man verlangen, dass vielfältige empirische Befunde die Theorie bestätigen und dass sich keine hartnäckige empirische Evidenz gegen die Theorie auffinden lässt. Zweitens muss die Theorie weitere, systematische Tugenden besitzen. So sollte sie konsistent, möglichst einfach, mit hoher Erklärungskraft und großer Reichweite ausgestattet sein sowie sich kohärent in das Netz anderer empirisch und systematisch tugendhafter Theorien einfügen. Insgesamt ist daher zu zeigen, dass die bestehende Theoriebeladenheit der Beobachtung vor dem Hintergrund günstiger weiterer Faktoren den epistemischen Erfolg systematisch und empirisch bestätigter Theorien wahrscheinlich werden lässt. Dann ist gezeigt, dass man trotz der bestehenden Theoriebela-

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denheit aus der empirischen Bestätigung systematisch tugendhafter Theorien auf deren überwiegende Wahrheit schließen darf. Man darf solche Theorien optimistisch einschätzen. c) Pessimismus und Optimismus Für eine solche partielle Begründung des Optimismus sollen zwei sich ergänzende Argumentationsstrategien verfolgt werden. Erstens soll indirekt für den Optimismus argumentiert werden. Wie sich zeigen wird, lässt sich durch bestimmte Varianten der Theoriebeladenheitsthese ein Pessimismus stützen. Der Optimismus soll dann begründet werden, indem gezeigt wird, dass solche, den Pessimismus stützende Thesen der Theoriebeladenheit unhaltbar sind. Ich werde dafür argumentieren, dass viele Beobachtungen nicht in solcher Weise theorieabhängig sind, wie es eine Stützung des Pessimismus erfordert. Zweitens werde ich argumentieren, dass die verbleibende Theorieabhängigkeit von Beobachtungen dem epistemischen Erfolg der Wissenschaften nicht nur nicht hinderlich ist, sondern diesem sogar förderlich sein kann. Es soll gezeigt werden, wie Beobachtungen gerade durch ihre Theorieabhängigkeit eine solche konstruktive Rolle zu spielen fähig sind. Die erste Argumentationsstrategie erfordert es zu prüfen, welche Theoriebeladenheitsthesen einen Pessimismus stützen. Hierfür ist herauszuarbeiten, unter welchen Voraussetzungen verschiedene Thesen zur Theoriebeladenheit zu einem Pessimismus Anlass geben. An dieser Stelle soll aber zunächst nur allgemein deutlich gemacht werden, auf welche Weisen argumentiert werden kann. Ein Pessimismus gegenüber den wissenschaftlichen Erkenntnisaussichten in einem bestimmten Gegenstandsbereich ist wegen der Theoriebeladenheit der Beobachtung gut gestützt, wenn diese Theoriebeladenheit mindestens eine der beiden folgenden Annahmen begründet: 1. Es ist extrem unwahrscheinlich, jemals eine überwiegend wahre Theorie für den Bereich zu formulieren. 2. Falls es eine empirisch gut gestützte und systematisch tugendhafte Theorie für den Bereich gibt, ist dazu wahrscheinlich eine weitgehend unvereinbare Alternative möglich, die empirisch und systematisch ebenso gut abschneiden würde.

Der ersten Annahme zufolge kommen wir wahrscheinlich nie dazu, eine weitgehend wahre Theorie für den Bereich auch nur zu formulieren und zu testen. Es ist klar, dass wir dann die Erkenntnisaussichten in diesem Bereich pessimistisch einschätzen müssen. Die zweite Annahme hat die Form einer Unterbestimmtheitsthese. Der These zufolge ist es meist möglich, mehrere, weitgehend unvereinbare und

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systematisch tugendhafte Theorien zum selben Gegenstandsbereich empirisch zu bestätigen. Doch dann darf man aus der empirischen Bestätigung einer systematisch tugendhaften Theorien nicht mehr auf ihre überwiegende Wahrheit schließen. Denn in gleichem Maße ließe sich auch eine weitgehend unvereinbare Theorie empirisch und systematisch stützen. Es können nicht beide Alternativen überwiegend wahr sein. Wenn wir aber nur aufgrund von Zufall oder Willkür gerade eine der alternativen Theorien formuliert haben, ist es von ihr trotz der empirischen Bestätigung nicht wahrscheinlich, dass sie überwiegend wahr ist. Wir müssen sie pessimistisch einschätzen. Die Möglichkeit eines solchen pessimistischen Unterbestimmtheits-Szenarios wird im Folgenden besonders wichtig sein. So wird sich zeigen, dass die Möglichkeit weitgehend unvereinbarer Alternativen durch einige Varianten der Theoriebeladenheit wahrscheinlich gemacht wird. Die genaue Form der hier relevanten Unterbestimmtheit lässt sich am besten durch eine Abgrenzung von der bekannten Quine’schen Unterbestimmtheitsthese verdeutlichen. Quine arbeitet in seinem Aufsatz „On Empirically Equivalent Systems of the World“ die These aus, dass wissenschaftliche Theorien durch die Menge aller möglichen Beobachtungen unterbestimmt sind.17 Die Unterbestimmtheitsthese ist von der Behauptung zu unterscheiden, dass empirische Prüfung und Bestätigung holistisch sind (Duhem-Quine-These). Der Prüfungsholismus sieht vor, dass im Fall einer empirischen Anomalie immer verschiedene theoretische Modifikationen die empirische Adäquatheit wiederherstellen können. Die Unterbestimmtheitsthese handelt dagegen von Theorien, die schon in maximaler Weise empirisch adäquat sind: Sie erklären jeweils alles überhaupt Beobachtbare, sie sind (in empirischer Hinsicht) „Systeme der Welt“. Die Behauptung ist, dass es mindestens zwei solcher empirisch adäquater Theorien gibt, die aber miteinander inkompatibel sind. Quine präzisiert die Formulierung der These in vielen Details, akzeptiert die These selbst aber nur in eingeschränkter Form. Eine zentrale Präzisierung betrifft hierbei die Individuierung der fraglichen alternativen Theorien. Es ist allzu einfach, inkompatible und dennoch gleichermaßen empirisch adäquate (bzw. empirisch äquivalente) Theorien zu erhalten, solange man an einem einfachen syntaktischen Begriff der Inkompatibilität festhält. Indem man in einer Theorie zwei vorkommende theoretische Terme vertauscht – etwa statt von Molekül immer von Elektron spricht, und umgekehrt – erhält man eine formal inkompatible Variante der Theorie, die jedoch empirisch äquivalent ist. Doch solche alternativen Theorien sind uninteressant, und der Grund dafür ist offensichtlich: „The unsatisfying example of ‚molecule‘ and ‚electron‘ 17

Siehe Quine (1975).

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consisted, intuitively speaking, in switching the meanings of the two words.“ (Quine 1975, 319) Während Quine versucht, den Unterschied zwischen zwei genuin verschiedenen Theorien und zwei bloß notationalen Varianten derselben Theorie präziser einzufangen,18 möchte ich bei der ‚intuitiven‘ inhaltlichen Bedingung für interessante Fälle von Unterbestimmtheit bleiben: Zwei Theorieformulierungen sind nur dann theoretische Alternativen, wenn sie über dasselbe Verschiedenes, in der Regel Unvereinbares behaupten. Die klassische Quine’sche Unterbestimmtheitsthese ist innerhalb der Wissenschaftstheorie umstritten.19 Ich werde sie im Folgenden aber nicht voraussetzen. Vielmehr geht es darum, im Vergleich mit der These zu klären, welche Form der Unterbestimmtheit aufgrund von Theoriebeladenheit den Pessimismus stützt und so der Begründung des Optimismus im Wege steht. Im Vergleich zur klassischen Unterbestimmtheitsthese ergeben sich drei wichtige Abweichungen. Erstens setzt Quines These die empirische Basis als unproblematisch gegeben und für beide konkurrierenden Theorien gemeinsam voraus. Die alternativen Theorien sind der klassischen These zufolge empirisch adäquat: Sie erklären beide dieselben Beobachtungen, deren Geltung zudem nicht in Frage gestellt wird. Insofern beleuchtet diese These ein mögliches Problem im Verhältnis zwischen Beobachtungen und Theorien. Durch die Theoriebeladenheit geraten aber gerade die Neutralität und die Verlässlichkeit der Beobachtungen in Zweifel. Man muss bei Theoriebeladenheit davon ausgehen, dass verschiedene Theorien in denselben beobachtbaren Situationen zu verschiedenen Beobachtungen führen. Im Kern geht es hier daher um eine Unterbestimmtheit von Theorien durch gemeinsame Prüf- oder Beobachtungssituationen. Für die Zwecke dieser Untersuchung ist es interessant, ob alternative Theorien in gleichen Situationen durch Mengen von Beobachtungen bestätigt werden können, die aufgrund von Theoriebeladenheit weit divergieren. Die zusätzlichen epistemischen Schwierigkeiten, die sich möglicherweise daraus ergeben, dass Theorien auch durch eine als gemeinsam vorausgesetzte Beobachtungsbasis unterbestimmt sind – die Schwierigkeiten, die im Zentrum der Quine’schen Überlegungen stehen, – sollen dagegen gerade ausgeblendet werden. Zweitens formuliert Quine die Unterbestimmtheitsthese für Systeme der Welt, also Theorien oder Theorienverbände, die alles überhaupt Beobachtbare erklären. Unsere wissenschaftlichen Theorien sind aber weit davon entfernt, in solcher Weise umfassend zu sein. Es ist zudem fraglich, ob solche 18 19

Siehe die Ausführungen zum „reconstrual of predicates“, Quine (1975), 320/321. Vgl. etwa Laudan/Leplin (1991), Hoefer/Rosenberg (1994).

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Theorien überhaupt erreichbar sind.20 Hinzu kommt, dass man nie alles Beobachtbare, das eine Theorie impliziert, auch tatsächlich beobachtet. Ein Pessimismus ist schon gestützt, wenn Theorien mit einem empirischen Gehalt, wie er gegenwärtig oder zukünftig erreichbar ist, durch tatsächlich realisierbare empirische Stützung unterbestimmt sind.21 Drittens ist der Quine’schen These zufolge die Wahrheit der Theorien unter Umständen nur recht schwach durch ihre empirische Adäquatheit unterbestimmt. Wenn die These zutrifft, sind die beiden alternativen Theorien inkompatibel insofern, als eine Theorie wesentlich mindestens eine Annahme enthält, die mit einer Annahme der anderen Theorie unvereinbar ist. Die analoge These für die Unterbestimmtheit durch theoriebeladene Beobachtungen würde damit behaupten, dass wegen Theoriebeladenheit zwei Theorien empirisch gestützt sein können, die in mindestens einem wesentlichen Punkt unvereinbar sind. Hieraus würde zwar folgen, dass nicht beide Theorien vollständig wahr sein können und dass insofern die empirische Stützung die vollständige Wahrheit von Theorien unterbestimmt. Für den Optimismus ist aber nur erforderlich, dass die empirische Stützung die überwiegende, nicht die vollständige Wahrheit wahrscheinlich macht. Um einen Pessimismus zu stützen, muss daher eine stärkere Unterbestimmtheitsthese vertreten werden. Der stärkeren These zufolge können alternative Theorien empirisch gestützt werden, die in weiten Teilen (empirisch und theoretisch) unvereinbar sind. Dann ist es von einer der Alternativen als solcher nicht wahrscheinlich, dass sie überwiegend wahr ist.22

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22

Vgl. etwa Rescher (1984) und Breuer (1997). Man kann hier weitere relevante Unterscheidungen treffen. So unterscheiden Hoefer und Rosenberg zwischen starker und schwacher empirischer Äquivalenz der alternativen Theorien. Zwei empirisch adäquate Theorien sind stark empirisch äquivalent, wenn sie in allem Beobachtbaren übereinstimmen, das nomologisch möglich ist; sie sind schwach empirisch äquivalent, wenn sie in dem Beobachtbaren übereinstimmen, das tatsächlich besteht. Siehe Hoefer/ Rosenberg (1994), 601/602. In einem ähnlichen Diskussionszusammenhang formuliert Crispin Wright eine andere Verstärkung der Unterbestimmtheitsthese, die eine weitere Möglichkeit eines pessimistischen Szenarios aufzeigt. Dieser maximalen Unterbestimmtheit zufolge ist man nicht darauf festgelegt, dass es gerade zwei weitgehend unvereinbare Alternativen gibt. Die Unterbestimmtheit besteht auch dann, wenn es zu einer großen Zahl der wesentlichen Annahmen S einer Theorie T, die empirisch bestätigt und systematisch tugendhaft ist, alternative Theorien T’ gibt, die ebenso gut empirisch und systematisch begründet sind, und die jeweils wesentlich eine mit S unvereinbare Annahme enthalten. (Vgl. Wright 1993, 287.) Dann hat man auch keine guten Gründe, T insgesamt für überwiegend wahr zu halten, da die unvereinbaren Annahmen der alternativen Theorien in gleichem Maße begründet sind.

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Kern dieser indirekten Argumentationsstrategie für den Optimismus ist es also zu zeigen, dass die Theoriebeladenheit keine Grundlage für ein pessimistisches Unterbestimmtheits-Szenario bietet. Damit greife ich ein Argumentationsmuster auf, das in der Diskussion der epistemischen Konsequenzen der Theoriebeladenheit schon immer eine zentrale Rolle spielt. So ist die Befürchtung häufig zu finden, dass die Theoriebeladenheit dazu führt, dass zwischen zwei konkurrierenden, in weiten Teilen unvereinbaren Theorien nicht mehr aufgrund von Beobachtungen entschieden werden kann. Dies diskutieren schon Feyerabend und Kuhn, während Wright ein solches pessimistisches Szenario schematisch ausführt.23 Und wie das obige Zitat aus Shapin (1982) zeigt, nimmt auch die relativistische Wissenschaftssoziologie die Unterbestimmtheit der Theoriewahl durch rationale Mittel in Anspruch. Wichtig ist hierbei allerdings, Umfang und Modalität des Szenarios im Auge zu behalten. Der Pessimismus wird nur gestützt, wenn weitgehend unvereinbare Alternativen empirisch gestützt sein können. Gleichzeitig brauchen die Alternativen nicht tatsächlich formuliert zu sein. Allein die Möglichkeit einer solchen Alternative zu einer von uns formulierten Theorie zeigt, dass wir keine ausreichenden Gründe dafür haben, unsere Theorie für überwiegend wahr zu halten. 4. Der Aufbau des Buches Der Aufbau des Buches wird diesen Möglichkeiten folgen, einen Optimismus zu begründen. Gleichzeitig soll entwickelt werden, welche Formen wissenschaftlicher Beobachtung aus der Sicht des Projekts unterschieden werden müssen. In Kapitel 2 sollen zunächst zwei sehr allgemeine mögliche Merkmale theoriebeladener Beobachtungen diskutiert werden, die oft für die Objektivität von Beobachtungen angeführt werden. Es wird sich hierbei herausstellen, dass sie allein und abstrakt den Optimismus nicht begründen können. Daher wende ich mich in Teil II (Kapitel 3 bis 5) besonderen Formen der Beobachtung und ihrer möglichen Theoriebeladenheit zu. Es werden hierbei jeweils Theoriebeladenheitsthesen, die insbesondere in der Diskussion vertreten werden, rekonstruiert und einer ersten kritischen Bewertung unterzogen. Dann wird geprüft, ob die Thesen einen Pessimismus stützen. So sollen die Voraussetzungen herausgearbeitet werden, die man machen muss, um einen Pessimusmus zu rechtfertigen. Damit sind die Grundlagen geschaffen, um in Teil III (Kapitel 6 bis 8) den Optimismus zu begründen. In Kapitel 6 argumentiere ich dafür, dass per23

Siehe Feyerabend (1958); Kuhn (1962), Kap. 12; Wright (1992), Kap. 4.

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zeptuelle Beobachtungen in den Wissenschaften insgesamt unverzichtbar sind. Unter perzeptuellen Beobachtungen fasse ich Beobachtungen, bei denen Wahrnehmungen eine zentrale Rolle spielen. Hierzu gehören sowohl direkte Wahrnehmungen als auch Wahrnehmungen mit Hilfe von Instrumenten und bildgebenden Verfahren. In Kapitel 7 wird gezeigt, dass viele perzeptuelle Beobachtungen in vielen Hinsichten weitgehend theorieunabhängig sind. In Kapitel 8 weise ich dann nach, dass zum einen die verbleibende Theoriebeladenheit nicht mehr ausreicht, um auf eine der diskutierten Weisen einen Pessimismus zu rechtfertigen. Zum anderen argumentiere ich dafür, dass eine solche eingeschränkte Theoriebeladenheit gerade epistemisch wertvoll ist und so einen konstruktiven Beitrag zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn leisten kann.

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Kapitel 2: Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen 1. Zirkularität durch Theoriebeladenheit Oft wird davon ausgegangen, dass die Theoriebeladenheit von Beobachtungen deshalb einen Pessimismus stützt, weil dadurch die empirische Prüfung wissenschaftlicher Theorien und Hypothesen zirkulär wird. Eine solche Zirkularität ist möglich, weil bei einer empirischen Prüfung durch theoriebeladene Beobachtung Theorien mindestens an zwei Stellen eine Rolle spielen. Zum einen gibt es mindestens eine Theorie, die durch die Beobachtung empirisch getestet werden soll, die zu prüfende Theorie. Zum anderen gibt es mindestens eine Theorie, von der die Beobachtung abhängt, die beladende Theorie. Es ist möglich, dass die zu prüfende Theorie mit der beladenden Theorie identisch ist oder zu den beladenden Theorien gehört. In diesen Fällen möchte ich von einer selbstabhängigen Prüfung sprechen. Dann übt die Theorie, die empirisch geprüft werden soll, einen Einfluss auf diejenige Instanz aus, mit der die Prüfung vorgenommen werden soll. Die Prüfung ist (partiell) zirkulär, und dies kann zweifelhaft machen, dass die Prüfung objektiv ist.1 Es gibt zwei vorherrschende Weisen, auf die solchermaßen genährten Bedenken aufgrund von Theoriebeladenheit zu reagieren. Zum einen wird darauf verwiesen, dass theoriebeladene Prüfungen nicht notwendig zirkulär sind. Oft wird eine Beobachtung nur durch Theorien beladen, die unabhängig von der zu prüfenden Theorie sind. Dann besteht keine Zirkularität. Viele Autoren schließen daraus, dass unter diesen Umständen trotz der Theoriebeladenheit von der Objektivität der Prüfung ausgegangen werden kann.2 Zum anderen wird darauf hingewiesen, dass auch die Beladung einer Beobachtung durch die zu prüfende Theorie oft nicht garantiert, dass das Beobachtungsergebnis die Theorie bestätigt. Vielmehr ist auch bei solcher Selbstabhängigkeit häufig ein Ergebnis möglich, das der Theorie widerspricht und sie daher empirisch untergräbt. Eine Reihe von Autoren hält theoriebela-

1

2

Vgl. Brown (1994), 406; Culp (1995), 439; Franklin et al. (1989); Kosso (1992), 154; Kosso/Kosso (1995), 583. Alle diese Autoren äußern zwar die Bedenken, sind aber der Ansicht, dass die Zweifel aus einem der Gründe, die im Folgenden diskutiert werden, letztlich unberechtigt sind. Siehe Brown (1993), Carrier (2000), Franklin et al. (1989), Hacking (1983), 183-185, Kosso (1989) und (1992), Kosso/Kosso (1995).

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dene Beobachtungen, bei denen trotz der enthaltenen Zirkularität ein solches Fehlschlagsrisiko besteht, für objektiv.3 Die beiden Merkmale Unabhängigkeit und Fehlschlagsrisiko sind recht abstrakt, so dass sie auf Beobachtungen zutreffen können weitgehend unabhängig von den speziellen Arten der Beobachtungen und den besonderen Weisen ihrer Theoriebeladenheit. Man kann daher auf diese Merkmale in einer versuchten Begründung des Optimismus Bezug nehmen, die allgemein ist und nicht auf verschiedene Arten von Beobachtungen und Theoriebeladenheit eingeht. In dieser allgemeinen Weise werden sie auch häufig gegen einen Pessimismus aufgrund von Theoriebeladenheit angeführt, und diese Begründungen will ich an dieser Stelle – bevor Beobachtungsarten unterschieden und verschiedene Formen der Theoriebeladenheit genauer vorgestellt wurden, – untersuchen. Das Fehlschlagsrisiko durch theoriebeladene Beobachtungen werde ich in Abschnitt 2 diskutieren, die Unabhängigkeit von zu prüfender und beladender Theorie in Abschnitt 3. Dabei wird sich zeigen, dass keines der beiden Merkmale in dieser abstrakten Form dazu hinreicht, um die Objektivität theoriebeladener Beobachtungen nachzuweisen. Zum einen wird sich ergeben, dass eine mögliche Zirkularität in der Prüfung gar nicht das zentrale epistemische Problem ist, das durch die Theoriebeladenheit von Beobachtungen entsteht. Zum anderen erweisen sich die Merkmale als solche als zu schwach, um die Probleme zu beheben. Die im Folgenden zu besprechenden Autoren konzentrieren sich weitgehend auf die Rolle von Beobachtungen in der Prüfung (Bestätigung bzw. Widerlegung) von Theorien und Hypothesen und lassen andere mögliche epistemisch wichtige Rollen von Beobachtungen – etwa heuristische oder semantische – unberücksichtigt. Ich werde dieser Beschränkung folgen. Daher werde ich austauschbar von Beobachtung, Prüfung oder Test sprechen. Hierbei entscheidet sich die Objektivität von Beobachtungen daran, ob die empirische Bestätigung systematisch tugendhafter Theorien trotz der Theoriebeladenheit deren überwiegende Wahrheit wahrscheinlich macht. Nur dann darf man von der Bestätigung der Theorien auf deren Wahrheit schließen und damit gegenüber solchen Theorien optimistisch sein. 2. Fehlschlagsrisiko und die Effektivität von Beobachtungen a) Effektive und ineffektive Beobachtungen Die Merkmale Fehlschlagsrisiko und Unabhängigkeit schließen sich nicht aus. Eine empirische Prüfung kann sowohl nur von anderen Theorien als der zu 3

Diese Ansicht findet sich bei Brown (1993) und (1994), Carrier (1989) und (2000), Papineau (1979), 25, Shapere (1982), 516 (Fn. 17), Shogenji (2000).

2. Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen

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prüfenden Theorie beladen sein als auch für diese Theorie ein Fehlschlagsrisiko bergen. Allerdings wird das Merkmal Fehlschlagsrisiko in der Regel angeführt um zu zeigen, dass auch selbstabhängige Prüfungen objektiv sein können. So geht Harold Brown zunächst davon aus, dass unabhängig theoriebeladene Beobachtungen generell epistemisch nicht problematisch sind. Selbstabhängige Prüfungen sollen zudem ebenfalls objektiv sein, wenn die zu prüfende Theorie durch sie einem Fehlschlagsrisiko ausgesetzt wird.4 Das Verhältnis von Fehlschlagsrisiko und Objektivität lässt sich besonders gut an einem Beispiel untersuchen, das Brown präsentiert hat.5 Es geht um die Bestimmung der Geschwindigkeit, mit der zwei Quasare erstens sich von der Erde weg bewegen (Rezessionsgeschwindigkeit) und zweitens sich quer zur Sichtachse voneinander entfernen (Transversalgeschwindigkeit). Zur Bestimmung der Rezessionsgeschwindigkeit muss man zunächst die Rotverschiebung des Spektrums messen. Die Geschwindigkeit lässt sich dann berechnen, wenn man davon ausgeht, dass die Verschiebung des Spektrums auf dem Dopplereffekt beruht. Hierzu verwendet man die Formel für den Dopplereffekt, die sich aus der Speziellen Relativitätstheorie ergibt: (SRT-Doppler)

β=

S2 − 1 . S2 +1

Hierbei steht S für das Verhältnis von verschobener zu unverschobener Wellenlänge, β bezeichnet das Verhältnis von Rezessionsgeschwindigkeit zu Lichtgeschwindigkeit. Man sieht, dass keine Werte für die Rezessionsgeschwindigkeit möglich sind, die größer oder gleich der Lichtgeschwindigkeit sind, da β nicht größer oder gleich 1 sein kann. Es ist somit kein Ergebnis möglich, dass der Konsequenz der Speziellen Relativitätstheorie widersprechen würde, dass Quasare sich langsamer als mit Lichtgeschwindigkeit von der Erde entfernen. Um die Transversalgeschwindigkeit zu bestimmen, misst man zunächst, wie schnell sich der Abstand zwischen den beiden Quasaren, von der Erde aus gesehen, vergrößert (Winkelgeschwindigkeit). Aus der Rezessionsgeschwindigkeit und der Hubble-Konstante lässt sich zudem der Abstand der Quasare zur Erde berechnen. Aus Abstand und Winkelgeschwindigkeit ergibt sich dann die Transversalgeschwindigkeit. Von besonderem Interesse ist, dass die Werte für die Transversalgeschwindigkeit sehr wohl größer als Lichtgeschwindigkeit ausfallen können, obwohl man auch hier (durch die Verwendung der berechneten Rezessionsgeschwindigkeiten) die Spezielle Relativi4 5

Siehe Brown (1993). Für das Folgende und weitere Details siehe Brown (1993), 555-557.

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tätstheorie voraussetzt. Solche Ergebnisse, die der Relativitätstheorie prima facie widersprechen, hat man im Laufe der Forschungen tatsächlich erhalten. In diesem Fallbeispiel kommen damit zwei Beobachtungen vor, die plausiblerweise von sehr verschiedenem epistemischen Wert sind. Die Beobachtung der Rezessionsgeschwindigkeit ist für die Spezielle Relativitätstheorie evidenziell irrelevant. Die Werte, die man für die Rezessionsgeschwindigkeit erhält, sollten keinen Einfluss auf den Umstand haben, ob man die Relativitätstheorie für wahr hält. Die Beobachtung kann also die Theorie nicht bestätigen oder untergraben. Das Ergebnis für die Transversalgeschwindigkeiten kann dagegen sehr wohl einen Einfluss auf die Einschätzung der Relativitätstheorie haben. Ich will zur Benennung dieses Unterschieds zunächst einen neuen Ausdruck einführen, um der Diskussion nicht vorzugreifen, wie der Unterschied genau zu analysieren ist. Daher nenne ich ein empirisches Ergebnis wie das erste, das keine mögliche Bestätigungsrelevanz für die fragliche Theorie hat, ineffektiv. Ein Beobachtungsbefund wie das zweite Ergebnis, das sehr wohl eine solche Relevanz für eine Theorie haben kann, ist dagegen für diese Theorie effektiv.6 Brown behauptet, dass der epistemisch zentrale Unterschied zwischen den beiden Fällen darin besteht, ob die zu prüfende Theorie durch das Beobachtungsergebnis einem Fehlschlagsrisiko ausgesetzt ist. In der eben eingeführten Terminologie ausgedrückt hängt Brown zufolge die Effektivität selbstabhängig theoriebeladener Beobachtungen daran, dass für die zu prüfende Theorie ein Fehlschlagsrisiko besteht. Nun gibt es zwischen den Fällen zwar einen Unterschied hinsichtlich des Fehlschlagsrisikos. Man kann aber überlegen, ob es wirklich dieser Unterschied ist, der für die – unstrittige – Differenz im epistemischen Wert der Fälle verantwortlich ist. Brown behauptet zudem, dass das Bestehen eines Fehlschlagsriskos ausreicht, um erkenntnistheoretische Bedenken aufgrund der Theoriebeladenheit auch bei zirkulären Prüfungen zu zersteuen. Er schreibt: We have seen that the theory-dependence of observation can block a particular observational test. ... We have also seen that an observation that cannot itself test a specific claim of a theory can still play a role in a more complex procedure that can test that very claim. ... [The] familiar claim that an observation that depends in an essential way on a theory cannot provide an objective test of that very theory is false. (Brown 1993, 558/559; Browns Hervorhebungen.)

6

Brown (1994) selbst spricht nicht von Effektivität, sondern davon, ob eine Prüfung einen echten Test („fair empirical test“) darstellt. Carrier (2000) spricht von „aussagekräftigen“ Prüfungen. Den Ausdruck ‚Effektivität‘ habe ich von Shogenji (2000), 297 übernommen.

2. Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen

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[T]heory-dependence does not undermine the objectivity of the evidence derived from an empirical procedure because even the most heavily theory-dependent procedures can yield unexpected and unwanted empirical outcomes. (Brown 1995, 394)

Wie Brown selbst schreibt, sind beide Behauptungen Ausdruck einer „quasiPopper’schen“ Auffassung der Bestätigungsrelevanz empirischer Prüfungen. Zum einen wird gefordert, dass empirische Prüfungen zu einem Resultat führen können, das die Theorie empirisch untergräbt. Zum anderen wird aber zugestanden, dass mit solchen Tests die Theorie objektiv bestätigt werden kann.7 Hier stellen sich zwei Fragen. Erstens ist zu untersuchen, ob Brown den zentralen Unterschied zwischen den beiden Beobachtungsergebnissen korrekt analysiert und die Effektivität selbstabhängiger Prüfungen tatsächlich vom Fehlschlagsrisiko abhängt. Zweitens muss man fragen, ob die Effektivität von Beobachtungen wirklich ausreicht, um ihre Objektivität angesichts von Theoriebeladenheit zu begründen. Den beiden Fragen werde ich in den folgenden beiden Unterabschnitten nachgehen. b) Wovon hängt die Effektivität von Beobachtungen ab? Tomoji Shogenji hat sich gegen Browns Analyse der Effektivität in den Beispielen gewandt. Er hat behauptet, dass die Effektivität von Beobachtungen nicht vom Fehlschlagsrisiko abhängt, sondern davon, ob die Prüfhypothese für die Vorhersage bzw. Ableitung des Beobachtungsresultats relevant ist. Shogenji formuliert diese Behauptungen in Begriffen der Bayesianischen Bestätigungstheorie. Um die Thesen und ihre Begründung präzise rekonstruieren zu können, ist es nützlich, sich hierin zunächst Shogenji anzuschließen. Ein Beobachtungsergebnis O ist – bayesianisch ausgedrückt – für eine Prüfhypothese H gerade dann ineffektiv, wenn das Erhalten des Beobachtungsergebnisses die (subjektive) Wahrscheinlichkeit der Hypothese unverändert lässt. Umgekehrt ist eine Beobachtung genau dann effektiv, wenn sie die Wahrscheinlichkeit der Hypothese erhöht oder verringert. Es gilt: (Eff) O ist effektiv genau dann, wenn O dazu führt, dass P’(H) ≠ P(H).

(P’(H) bezeichnet hierbei die Hypothesenwahrscheinlichkeit nach der Beobachtung, P(H) die Wahrscheinlichkeit vor der Beobachtung.) Die Prüfung und Bestätigung von Hypothesen spielt sich in der Regel vor dem Hintergrund weiterer Annahmen ab, die auch für die Bayesianische 7

Siehe Brown (1994), 409. Vgl. auch Shogenji (2000), 292, der eine Bayesianische Begründung dieser Auffassung gibt.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Beschreibung wichtig sind. Shogenji bezeichnet mit B* die relevanten Hintergrundannahmen, wobei der Stern andeuten soll, dass hierin die Prüfhypothese H nicht enthalten ist. Im obigen Satz (Eff) sind dann eigentlich bedingte Wahrscheinlichkeiten P(H/B*) und P’(H/B*) zu lesen. Shogenji zufolge soll die Ineffektivität theorieabhängiger Prüfungen darauf beruhen, dass der reduzierte Hintergrund B* allein die Beobachtung O in gleichem Maß erwarten lässt wie B* und H zusammen. Seine Analyse sieht also vor, dass eine theoriebeladene Prüfung ineffektiv ist, weil die Prüfhypothese H, gegeben den Hintergrund B*, prädiktiv irrelevant ist: (Präd-Irrel)

P(O / B*) = P(O / B*&H).

Auch die Ineffektivität der Rezessionsgeschwindigkeiten für die Spezielle Relativitätstheorie soll sich Shogenji zufolge so erklären lassen.8 Was ist von diesem Vorschlag zu halten? Zunächst muss man festhalten, dass die prädiktive Irrelevanz einer Hypothese tatsächlich dazu führt, dass eine Prüfung die Hypothesenwahrscheinlichkeit unverändert lässt. Denn wenn die Hypothese prädiktiv irrelevant ist, ergibt sich mit Bayes’ Theorem (Bayes)

P ( H / B * &O ) = P ( H / B *) ⋅

P (O / B * & H ) , P ( O / B *)

dass gilt: P(H / B*&O) = P(H / B*).

Wenn man nun die Standardregel für Konditionalisierung voraussetzt, wie Shogenji es tut, dass nämlich die Hypothesenwahrscheinlichkeit nach der Beobachtung gleich der bedingten Wahrscheinlichkeit vor der Beobachtung ist, also (Stand-Kond)

P’(H / B*) = P(H / B*&O),

dann folgt, dass die Beobachtung für die Hypothese ineffektiv ist: (Ineff)

P’(H / B*) = P(H / B*).9

Allerdings ergibt sich bei genauerem Hinsehen, dass diese Analyse nicht ohne Weiteres die Ineffektivität der Beobachtung der Rezessionsgeschwindigkeiten in Browns Beispiel erklären kann. Shogenjis Analyse setzt mit (PrädIrrel) voraus, dass das beobachtete Resultat allein vor dem Hintergrund B* genauso erwartbar war wie unter der zusätzlichen Voraussetzung der Prüfhypothese H. In Browns Beispiel wäre H als Spezielle Relativitätstheorie 8 9

Siehe Shogenji (2000), 296/297. Vgl. Shogenji (2000), 288/289.

2. Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen

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aufzufassen und B* als das um diese Theorie reduzierte Hintergrundwissen. Die Beobachtung O, dass alle Quasare sich unter Lichtgeschwindigkeit entfernen, erscheint aber allein vor diesem reduzierten Hintergrund, der die Spezielle Relativitätstheorie nicht enthält, viel weniger wahrscheinlich, als bei zusätzlicher Annahme der Relativitätstheorie. Denn die Relativitätstheorie impliziert das Beobachtungsergebnis, es ist P(O/B*&H) = 1, der reduzierte Hintergrund impliziert dies nicht, es ist P(O/B*) < 1. Daher ist in diesem Fall gerade die Relativitätstheorie für die Vorhersage des Ergebnisses relevant, (Präd-Irrel) ist nicht erfüllt. Der Defekt in Shogenjis Rekonstruktion lässt sich genauer lokalisieren und damit eine möglicherweise rettende Revision vorschlagen, wenn man die dahinter stehende Idee expliziert.10 Bisher haben wir der zu prüfenden Hypothese H zwei verschiedene Rollen in der Prüfung zugeschrieben. Erstens wird H herangezogen, um zusammen mit dem reduzierten Hintergrund B* die Beobachtung O vorherzusagen: 1. H in der Vorhersage:

H&B* → O.

Zweitens trägt H dazu bei, das Beobachtungsergebnis empirisch zu gewinnen. Der Beobachtungsprozess führt demnach mit Hilfe von H über verschiedene Stadien, eventuell über ein Zwischenergebnis O* und unter Inanspruchnahme von Bestandteilen des Hintergrundwissens B*, zu O: 2. H im Beobachtungsprozess:

O*&H&B*

O.

Shogenjis Idee ist nun, dass man dieselbe Prüfung auch so beschreiben kann, dass H nur in einer einzigen Rolle auftritt, nämlich in der Vorhersage eines Beobachtungsergebnisses. Dies ist aber offenkundig nur möglich, wenn nicht O vorhergesagt wird. Denn es wird gerade angenommen, dass H für das Zustandkommen von O notwendig ist. In Browns Beispiel kann man die Rezessionsgeschwindigkeiten nur empirisch bestimmen, wenn man eine Hypothese über den Dopplereffekt bei Licht verwendet. Ohne die Annahme des relativistischen Dopplereffekts oder einer Ersatzhypothese ist O also gar nicht zu bekommen. Es ist jedoch denkbar, dass Shogenjis Vorschlag in modifizierter Weise erfolgreich ist. Die Rolle von H in der Gewinnung des Beobachtungsergebnisses ist eliminierbar, wenn statt des Ergebnisses O ein Zwischenergebnis O* vorhergesagt werden kann, für dessen empirische Gewinnung H nicht benötigt wird. Dann würde die modifizierte Vorhersage wie folgt aussehen: 1’. 10

H&B* → O*.

Für das Folgende vgl. Shogenji (2000), 292/293.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Die Gewinnung des vorhergesagten Ergebnisses würde die Hypothese nicht mehr verwenden müssen: 2’.

...

O*.

In Browns Beispiel scheint es möglich, eine solche Zwischenstufe anzugeben, nämlich die festgestellten Verhältnisse von verschobener zu unverschobener Wellenlänge S. Man kann dieses Verhältnis wohl empirisch bestimmen, ohne die Spezielle Relativitätstheorie zu verwenden. Gleichzeitig lässt es sich aus der Speziellen Relativitätstheorie ableiten. Das Verhältnis der Wellenlängen stellt dann ein Zwischenergebnis der gesuchten Art O* dar. Bei dieser Rekonstruktion ist zudem Shogenjis Erklärung der Ineffektivität plausibel. Denn die Spezielle Relativitätstheorie wird zwar zweimal verwendet, um die möglichen Werte für S zu berechnen. Erstens folgt aus ihr, dass das Verhältnis β von Rezessionsgeschwindigkeit zu Lichtgeschwindigkeit kleiner als eins ist. Daraus erhält man eine Vorhersage für S, indem man zweitens den relativistischen Dopplereffekt (SRT-Doppler) annimmt. Aber diese Vorhersage ist vollkommen leer: Wenn β kleiner als eins ist, kann der obigen Gleichung (SRT-Doppler) zufolge S jeden beliebigen Wert annehmen. Die Voraussetzung der Speziellen Relativitätstheorie erlegt den erwarteten Werten für S gar keine über den Hintergrund B* hinausgehenden Einschränkungen auf. Die Annahme der Speziellen Relativitätstheorie ist in diesem Fall irrelevant dafür, welche Beobachtungen man erwartet. Die revidierte Analyse von Shogenji erweist sich damit als durchaus fähig, den epistemischen Unterschied zwischen den beiden Fällen zu erklären.11 Bei den Transversalgeschwindigkeiten können sich aus der Speziellen Relativitätstheorie Beschränkungen für die gemessenen Winkelgeschwindigkeiten ergeben. Im Fall der Rezessionsgeschwindigkeiten führt die zusätzliche Annahme der Speziellen Relativitätstheorie dagegen zu keiner Einschränkung der erwartbaren Rotverschiebungen, die über den weiteren Hintergrund hinausgehen. Die skizzierte einfache bayesianische Argumentation zeigt dann, warum die Beobachtungen nur im einen Fall, nicht aber im anderen die Hypothesenwahrscheinlichkeit beeinflussen können. Allerdings hat die Analyse einen entscheidenden Nachteil. Sie erklärt primär nicht die Ineffektivität von O, sondern die der Vorstufe O*. Daher ist sie darauf angewiesen, dass es eine geeignete Vorstufe O* auch gibt. Diese 11

Die Analyse ist gegenüber Shogenjis eigenem Vorschlag insofern revidiert, als es nicht darum geht, das ursprüngliche Ergebnis O, sondern ein zugrunde liegendes Zwischenergebnis O* vorherzusagen. Wie gezeigt, führt nur der revidierte Vorschlag dazu, die Rolle von H auf die Vorhersage zu beschränken, wenn die Gewinnung von O auf H angewiesen ist.

2. Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen

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Vorstufe muss zum einen durch H und den Hintergrund B* vorhersagbar sein. Zum anderen darf sie selbst nicht von H abhängen. Damit ist Shogenji aber darauf angewiesen, dass die Beladung eines empirischen Ergebnisses O durch eine zu prüfende Theorie sich immer eliminieren lässt, indem man auf ein zugrunde liegendes, insoweit theorieunabhängiges Ergebnis O* zurückgeht. Nur dann lässt sich das Problem, das zunächst an der Theorieabhängigkeit der empirischen Basis O zu hängen scheint, als ein Problem rekonstruieren, das am Verhältnis zwischen neutraler Basis O* und Hypothese H hängt. In den folgenden Kapiteln werden aber überwiegend Formen der Theoriebeladenheit zu besprechen sein, bei denen ein solcher Rückgriff auf ein zugrunde liegendes, nicht theoriebeladenes Beobachtungsergebnis nicht sinnvoll möglich ist. Diesen Formen zufolge braucht man Theorien, um überhaupt erst ein sinn- bzw. gehaltvolles empirisches Ergebnis zu erhalten, oder um ein solches Ergebnis zuerst als verlässlich einschätzen zu können. Es macht daher Sinn, an dieser Stelle nach einer Analyse von effektiver und ineffektiver Beobachtung zu suchen, die nicht auf zugrunde liegende theorieunabhängige Beobachtungen angewiesen ist. Für eine solche Analyse hat die Diskussion von Shogenji allerdings schon ein gutes Stück weit den Weg gewiesen. Denn wenn man diese Analyse abstrakter betrachtet, hat sie gezeigt, dass sich die Beobachtungen in Browns Beispiel darin unterscheiden, ob in ihnen überhaupt empirische Beiträge vorkommen, die für die Spezielle Relativitätstheorie relevant sind. Dies kann anhand der eingeführten Vorstufe O* deutlich gemacht werden. Diese Vorstufe ist von der Relativitätstheorie unabhängig. Wir können für die jetztigen Zwecke davon ausgehen, dass das Ergebnis völlig theorieunabhängig ist und daher vollständig empirisch bestimmt wird. Das Ergebnis O erhält man dann durch einen Rechenschritt, in den neben O* allein theoretische Annahmen einfließen. In diesem Schritt kommen daher keine empirischen Beiträge hinzu; soweit O empirisch bestimmt ist, wird dies vollständig durch O* vermittelt. O* enthält daher alle empirischen Beiträge, die O enthalten kann. Die prädiktive Irrelevanz von H für O* zeigt zunächst, dass O* gar keine Gründe für oder gegen H liefert. O enthält aber nichts Empirisches, das nicht in O* enthalten ist. Daher zeigt die prädiktive Irrelevanz von H für O* auch, dass O, soweit es empirisch bestimmt ist, gar keine Gründe für oder gegen H liefern kann. O ist zwar seinem Inhalt nach mit H vereinbar und scheint dieses daher zunächst zu stützen. Diese Stützung beruht aber nicht auf empirischen Gründen, die O für H liefern würde. O fällt unabhängig davon, wie die Welt tatsächlich beschaffen ist und allein wegen der theoretischen Bestimmung im Schritt von O* zu O für H günstig aus. Dieser Analyse zufolge ist O also für

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Theoriebeladenheit und Objektivität

H ineffektiv, weil das Ergebnis, soweit es empirisch bestimmt ist, gar nichts für oder gegen H besagen kann. In dem Umfang, in dem O theoretisch und nicht empirisch bestimmt ist, kann es für keine damit geprüfte Theorie effektiv sein. Im Fall der Speziellen Relativitätstheorie führt der nicht-empirische Charakter von O dazu, dass O für die Relativitätstheorie kein Fehlschlagsrisiko birgt. Bei anderen Theorien kann die Ineffektivität sich aber auch darin zeigen, dass es mit den Theorien unvereinbar ist unabhängig davon, wie die Welt beschaffen ist. Solche Theorien haben gar keine Chance, durch ein Ergebnis bestätigt zu werden, das man auf die gleiche Weise wie O erhält. Dies lässt sich an einem konstruierten Beispiel zeigen. Nehmen wir an, wir wollen mit dem Beobachtungsergebnis eine „Turboquasar-Theorie“ testen, derzufolge Quasare sich sehr wohl schneller als Licht entfernen können. Die berechneten Ergebnisse scheinen diese Theorie zunächst zu untergraben. Wenn es tatsächlich solche Turboquasare gibt, sollten wir sie doch finden können? Ein genauerer Blick auf die Genese der Beobachtungsergebnisse zeigt aber, dass es gar nicht möglich ist, durch das gegebene Vorgehen solche Geschwindigkeiten zu erhalten. Egal wie schnell sich Quasare bewegen und wie sehr ihre Spektren daher verschoben sind: Unsere Weise der Berechnung ihrer Geschwindigkeit allein bestimmt, dass die Ergebnisse kleiner als Lichtgeschwindigkeit ausfallen. Da das Beobachtungsergebnis hinsichtlich der Frage, ob es Quasare gibt, die schneller als Licht sind, gar nicht empirisch ist, zeigt der Widerspruch mit der Turboquasar-Theorie lediglich, dass diese Theorie mit der Speziellen Relativitätstheorie unvereinbar ist. Das mag zwar ein starker Grund sein, die Turboquasar-Theorie aufzugeben. Es ist aber kein empirischer Grund, der sich aus der gegebenen Beobachtung ergibt. Daher liefert die Beobachtung auch keine empirischen Gründe für oder gegen die Turboquasar-Theorie, und sie ist auch für diese Theorie ineffektiv.12 Die berechneten Quasar-Geschwindigkeiten sind natürlich hierbei nur in bestimmter Hinsicht theoretisch vollständig festgelegt, nämlich dahingehend, dass die Geschwindigkeiten kleiner als die Lichtgeschwindigkeit sind. Der genaue Wert der Rezessionsgeschwindigkeit hängt dagegen wiederum von der gemessenen Rotverschiebung ab und ist damit auch empirisch mitbestimmt. Allerdings ist das Ergebnis nur in der Hinsicht, in der es vollständig theoretisch determiniert ist, direkt für die Spezielle Relativitätstheorie und die 12

Vgl. auch Brown (1995), 368, wo er die epistemologische Unbedenklichkeit einer Form der Theoriebeladenheit ebenfalls damit begründet, dass die Theorie das Beobachtungsergebnis nicht vollständig festlege. Allerdings findet sich bei Brown keine systematische Ausarbeitung dieses Kriteriums oder ein Vergleich mit dem sonst immer angeführten Merkmal „Fehlschlagsrisiko“.

2. Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen

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Turboquasar-Theorie relevant. Dieses Teilergebnis wird gerade durch die Beobachtungsproposition O erfasst, die daher ineffektiv ist. Das Ergebnis für die Transversalgeschwindigkeiten ist demgegenüber für beide Theorien effektiv. Dies liegt zum einen daran, dass hier nicht nur O einfließt, sondern die genauen Werte für die Rezessionsgeschwindigkeiten. Daraus berechnet sich der Abstand der Quasare von der Erde. Zum anderen fließen zusätzliche empirische Informationen in Form der gemessenen Winkelgeschwindigkeiten ein. Daher ist der Ausgang der Beobachtung der Transversalgeschwindigkeiten für beide Theorien davon abhängig, wie die Welt tatsächlich beschaffen ist. Beide Theorien haben eine Chance, empirisch bestätigt zu werden, und beide setzen sich der Gefahr eines empirischen Fehlschlags aus. Diese Analyse der Effektivität und Ineffektivität lässt sich ebenfalls in bayesianischen Begriffen ausdrücken. Demnach kann es wegen Theoriebeladenheit vorkommen, dass man ein Beobachtungsergebnis O erhält, ohne damit einen empirischen Grund dafür zu haben, den Überzeugungsgrad von O zu verändern. In einem solchen Fall wäre, obwohl man O ‚beobachtet‘ hat, (Nicht-Emp)

P’(O) = P(O).13

(Der Einfachheit halber verzichte ich hier und im Folgenden auf die Bedingtheit durch den Hintergrund B*, die bei allen Wahrscheinlichkeiten eigentlich mitzuschreiben wäre.) Die Ineffektivität nicht-empirischer Beobachtungen lässt sich nun bayesianisch nicht allgemein beschreiben, solange man nur von der Standardregel für Konditionalisierung (Stand-Kond) ausgeht. Denn diese Regel ist nur anwendbar, wenn die Beobachtungsproposition nach der Beobachtung die Wahrscheinlichkeit eins hat, und dies ist bei nicht-empirischen Beobachtungen in der Regel nicht gegeben. Richard Jeffrey hat aber die folgende Verallgemeinerung von (Stand-Kond) vorgeschlagen, die auch für Fälle gilt, in denen die

13

Die Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit von O unverändert bleibt, wenn das Zustandekommen dieses Ergebnisses nicht von empirischen Umständen abhängt, muss man hinzunehmen, um eine bayesianische Beschreibung der Ineffektivität aufgrund von Theoriebeladenheit zu ermöglichen. Diese Annahme folgt aber nicht aus den sonstigen Annahmen des Bayesianismus oder der Wahrscheinlichkeitstheorie. Der Bayesianismus kann insofern die Ineffektivität von O nicht wirklich erklären, sondern nur beschreiben. Dies liegt daran, dass wahrscheinlichkeitstheoretisch nur Beziehungen zwischen Propositionen betrachtet werden. Demgegenüber liegt der Grund der Ineffektivität von O gerade in der Weise, in der das Ergebnis zustande kommt. Wenn diese Genese keine geeignete Vorstufe O* einschließt, kann sie rein bayesianisch nicht in den Blick genommen werden.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Beobachtungsproposition nach der Beobachtung nicht die Wahrscheinlichkeit eins hat: (Jeffrey-Kond) P’(H) = P(H / O) ⋅ P’(O) + P(H / ~O) ⋅ P’(~O).14

Wenn man diese Regel voraussetzt, ergibt sich, dass eine Prüfung ineffektiv ist genau dann, wenn die Prüfung nicht-empirisch oder die Prüfhypothese prädiktiv irrelevant ist, d.h. (Ineff)

P’(H) = P(H) g.w.d. P’(O) = P(O) oder P(O / H) = P(O).

(Das „oder“ ist inklusiv. Für die Ableitung von Ineff siehe den Anhang zu diesem Kapitel). Die Bayesianische Rekonstruktion ergibt also, dass die Ineffektivität einer empirischen Prüfung auf zwei Umständen beruhen kann. Zum einen kann die Testhypothese prädiktiv irrelevant sein. Auf diese Möglichkeit hat Shogenji hingewiesen. Eine Beobachtung ist dann aber nicht wegen ihrer Theorieabhängigkeit ineffektiv. Wie gesehen, bietet sich diese Erklärung der Ineffektivität bei Theoriebeladenheit nur an, wenn es eine theorieunabhängige Vorstufe gibt. Erklärt wird zudem dann die Ineffektivität der Vorstufe und nicht die des theoriebeladenen empirischen Ergebnisses. Zum anderen kann eine Beobachtung nicht-empirisch sein, d.h. gar keine empirischen Gründe für oder gegen die Beobachtungsproposition geben. Dies kommt dann vor, wenn das Beobachtungsergebnis in der Hinsicht, die durch die Beobachtungsproposition beschrieben wird, durch die Theoriebeladung vollständig festgelegt ist. c) Effektivität und Objektivität Sind effektive Beobachtungen trotz ihrer Theoriebeladenheit objektiv? Aus dem Zitat in Abschnitt 2a geht hervor, dass Brown dieser Ansicht zu sein scheint, und auch andere Autoren haben ähnliche Ansichten geäußert.15 Man darf hierbei natürlich nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass sie die Objektivität von Beobachtungen im Sinn meiner Zielvorgabe verstehen, derzufolge die Beschaffenheit von Beobachtungen eine partielle Begründung des Optimismus ermöglichen soll. Daher ist nicht vollkommen klar, dass sie behaupten, effektive Beobachtungen seien im Sinn der Zielvorgabe objektiv. Allerdings ist die Unterstellung einer solchen Behauptung auch nicht völlig unberechtigt. Denn die genannten Autoren diskutieren die Effektivität von Beobachtungen im Zusammenhang mit der Frage, ob der besondere epis14 15

Jeffrey (1967), 209. Vgl. hierzu auch Howson/ Urbach (1989), 284ff. Vgl. etwa Shapere (1982), 516 (Fn. 17).

2. Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen

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temische Status wissenschaftlicher Erkenntnisse durch die Theoriebeladenheit in Frage gestellt werde. Die Zurückweisung des Pessimismus wird dann damit begründet, dass die Theoriebeladenheit auch bei selbstabhängigen Beobachtungen nicht immer zu Ineffektivität führt. Wenn effektive Beobachtungen objektiv sind, müssen sich hierdurch trotz der Theoriebeladenheit die guten Erkenntnisaussichten der Wissenschaften begründen lassen. Die Gefahr für den epistemischen Erfolg besteht hier darin, dass überwiegend falsche Theorien empirisch bestätigt werden können, weil die Beobachtungen theoretisch beeinflusst werden. Wenn Beobachtungen ineffektiv sind, ist diese Gefahr besonders groß. Denn dann werden die Beobachtungsergebnisse, zumindest soweit sie für die Hypothesenprüfung relevant sind, vollständig von Theorien festgelegt. Es hängt gar nicht von der Beschaffenheit der Welt ab, welche Beobachtungsergebnisse man erhält. Wenn Theoriebeladenheit zu weitreichender Ineffektivität der Beobachtungen führen würden, wäre in der Tat der epistemische Erfolg der Wissenschaften höchst zweifelhaft. Diese Zweifel bestünden weitgehend unabhängig davon, ob es jeweils dieselben oder verschiedene Theorien wären, die die Beobachtungsergebnisse festlegen. Zwar könnte man argumentieren, dass falsche Theorien durch selbstabhängige Prüfungen noch eher bestätigt würden. (Hierzu gleich mehr im nächsten Abschnitt.) Aber ebenso gut könnten weitgehend falsche Theorien durch Beobachtungen, die von unabhängigen falschen Theorien festgelegt werden, bestätigt werden. Das Problem ineffektiver Beobachtungen ist daher keine Folge nur einer möglichen Zirkularität. Gegenüber dieser pessimistischen Argumentation ist es wichtig, dass Beobachtungen in der Regel trotz ihrer Theoriebeladenheit effektiv sind. Daher ist die Effektivität ein wichtiges Merkmal objektiver Beobachtungen. Allerdings ist es bestenfalls eine minimale Bedingung für objektive Beobachtungen. Es ist damit nur gesagt, dass es auch von der Welt abhängt, welches empirische Ergebnis man erhält. Es ist erstens nicht gesagt, wie stark der Einfluss der Welt ist. Beobachtungen sind schon effektiv, wenn ein Ergebnis unter allen denkbaren Beschaffenheiten des Objekts außer unter sehr ungewöhnlichen immer so ausfällt, wie von der beladenden Theorie bestimmt. Dagegen müssten Beobachtungsergebnisse, die epistemisch wirklich wertvoll sind, sehr präzise mit verschiedenen Objektzuständen variieren. Zweitens ist durch die Effektivität von Beobachtungen gar nichts über ihre Wahrheit oder Falschheit gesagt. Beobachtungen können sowohl effektiv als auch immer irreführend sein, etwa weil falsche Theorien sie beladen. Dann kann aber allein unter Bezugnahme auf die Effektivität von Beobachtungen keine Annahme über die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit von damit bestätigten

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Theorien begründet werden. Die Objektivität von Beobachtungen ist allein durch ihre Effektivität nicht zu begründen. 3. Sind unabhängig theoriebeladene Beobachtungen objektiv? a) Unabhängig theoriebeladene Beobachtungen Viele Autoren sind der Ansicht, dass die Objektivität theoriebeladener Beobachtungen bzw. einer mit ihnen vorgenommenen empirischen Prüfung jedenfalls dann gewährleistet ist, wenn geprüfte Theorie und beladende Theorie voneinander unabhängig sind. So schreibt etwa Peter Kosso: With the requirement of independence we can ease what may have appeared to be a tension between two key components in the description of science, the facts that observations are influenced by theory and that these observations are the evidence used to test theories. This relationship need not be circular as the theory that does the influencing need not be the same as the one that takes the test. This circleblocking independence is a measure of objectivity of the evidence and of the process of justification. (Kosso 1992, 157/158) All evidence in science bears the mark of theory, but it does not have to be the mark of the particular theory being tested. Insuring that it is not is the accomplishment of objectivity in justification. (Kosso 1992, 161)

Hier wird behauptet, dass die Unabhängigkeit von beladender und geprüfter Theorie zur Objektivität der Beobachtungen beiträgt. Dabei steht im ersten Zitat der Vergleich zu zirkulären, d.h. selbstabhängigen Beobachtungen im Vordergrund. Kossos These ist hierbei komparativ: Beobachtungen sind objektiver, wenn beladende und geprüfte Theorie voneinander unabhängig sind.16 Im zweiten Zitat scheint Kosso dagegen zu behaupten, dass Unabhängigkeit angesichts der Theoriebeladenheit die Objektivität sicherstellt. Beide Thesen sind im Folgenden von Interesse. Wenn man davon ausgeht, dass bei Selbstabhängigkeit nicht generell gesichert ist, dass Beobachtungen objektiv sind, sieht die erste, komparative These zumindest eine Verbesserung der epistemischen Qualität bei unabhängiger Beladung vor. Damit ist aber noch 16

Kosso hat diese Position ausgearbeitet, indem er verschiedene Stufen der Unabhängigkeit von Theorien (bzw. Theorieteilen) unterscheidet, und zwar in Abhängigkeit davon, in welchem Ausmaß die Theorien überlappen oder die Wahrheit der einen Theorie für oder gegen die Wahrheit von Propositionen der anderen Theorie spricht. Zudem behauptet er, dass theoriebeladene Beobachtungen umso objektiver sind, je unabhängiger zu prüfende Theorie und beladende Theorie sind. Siehe hierzu Kosso (1989). Da meine Kritik am Kriterium „Unabhängigkeit“ sehr grundsätzlich ausfallen wird, werde ich diese Ausarbeitung vernachlässigen und nur die vereinfachte These behandeln, dass Tests, die zu welchem Grad auch immer unabhängig sind, objektiver sind als entsprechende selbstabhängige Prüfungen.

2. Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen

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nicht klar, ob die Verbesserung soweit geht, dass Unabhängigkeit für Optimismus ausreicht. Dies behauptet erst die zweite These. Die obige Diskussion der Effektivität von Beobachtungen hat allerdings gezeigt, dass auch unabhängig theoriebeladene Beobachtungen ineffektiv sein können. Effektivität ist aber eine minimale Bedingung für objektive Beobachtungen. Es scheint daher am sinnvollsten, Kosso so zu verstehen, dass er behauptet, unabhängige und effektive Beobachtungen seien objektiv. Die zweite, in diesem Abschnitt zur Diskussion stehende These soll daher sein, dass Unabhängigkeit zusammen mit Effektivität hinreichend für Objektivität ist. Das folgende Zitat deutet die Überlegungen an, auf die sich Kosso in der Begründung dieser These stützt: [Why is the] feature of independence between accounting theories and the theory being tested a truth-conducive feature? The goal of validation of scientific knowledge is the elimination of theoretical artifacts. We want the entities and events described by a natural science to be features of nature and not simply creations of theory without correlates in the world. The chances that several unaffiliated theories will cooperate to manufacture artifactual evidence are less than that a single theory will do just that. (Kosso 1992, 155/156)

Kosso vertritt die Ansicht, dass die Unabhängigkeit der Theorien einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit hat, mit der Beobachtungen falsche Annahmen in Theorien widerlegen. Eine Theorie, die nicht wirklich existierende Gegenstände und Ereignisse postuliert, soll mit größerer Wahrscheinlichkeit empirisch widerlegt werden, wenn die Beobachtung unabhängig theoriebeladen ist, als wenn sie selbstabhängig beladen ist. Um eine Bewertung dieser Annahme zu ermöglichen, möchte ich eine formale Schreibweise für die Wahrscheinlichkeiten der Widerlegung und Bestätigung von Theorien einführen, von denen auch in Kossos Zitat die Rede ist. Hierbei sind allerdings keine subjektiven Wahrscheinlichkeiten etwa im Sinne des Bayesianismus gemeint. Vielmehr scheint es am plausibelsten, die Wahrscheinlichkeiten als objektive Wahrscheinlichkeiten der wissenschaftlichen Verfahren der empirischen Prüfung von Theorien aufzufassen. Demnach meint man mit „Wahrscheinlichkeit der Widerlegung einer weitgehend falschen Theorie durch unabhängige Beobachtungen“ die objektive Wahrscheinlichkeit (Häufigkeit oder Neigung) des Prozesses der empirischen Prüfung von Theorien, für überwiegend falsche und unabhängig geprüfte Theorien ein insgesamt widerlegendes Ergebnis zu erbringen.17 17

Vgl. Mayo (1996) für eine Ausarbeitung der Idee, dass es objektive Wahrscheinlichkeiten der Widerlegung und Bestätigung von Hypothesen durch eine Prüfung gibt.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Hier und im Folgenden sollen W für „die geprüfte Theorie ist überwiegend wahr“, Wid für „Beobachtungen widerlegen die geprüfte Theorie“, Best für „Beobachtungen bestätigen die geprüfte Theorie“ und U für „die Beobachtungen sind überwiegend unabhängig theoriebeladen“ stehen. ~W steht dementsprechend für „die geprüfte Theorie ist nicht überwiegend wahr, d.h. sie ist in weiten Teilen falsch“, S steht für „die Beobachtungen sind überwiegend selbstabhängig theoriebeladen“. Es soll zudem angenommen werden, dass die Prüfung durch eine große Anzahl von Beobachtungen immer zu einem zumindest vorläufigen Ergebnis, d.h. zu einer Widerlegung oder einer Bestätigung führt. Kossos Behauptung lässt sich dann als die Annahme fassen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Widerlegung durch Beobachtungen, gegeben die geprüfte Theorie ist in weiten Teilen falsch und die Beobachtungen sind überwiegend unabhängig theoriebeladen, im Allgemeinen höher ist als die Wahrscheinlichkeit einer Widerlegung, gegeben eine falsche geprüfte Theorie und selbstabhängig theoriebeladene Beobachtungen: (Wid-falsch)

P(Wid / ~W&U) > P(Wid / ~W&S)

Wie sich gleich zeigen wird, lassen sich für diese Annahme gute Gründe angeben. Doch dann sind mindestens zwei weitere Punkte zu untersuchen: (1) Sind in den Wissenschaften typischerweise die beladenden Theorien von den zu prüfenden Theorien unabhängig, oder könnten dies sein? (2) Lässt sich durch (Wid-falsch) begründen, dass unabhängig theoriebeladene Beobachtungen eine objektive Prüfung von Theorien bzw. eine objektivere Prüfung als selbstabhängig theoriebeladene Beobachtungen erlauben? b) Sind Beobachtungen typischerweise unabhängig theoriebeladen? Eine Behandlung des ersten Punkts setzt Klarheit darüber voraus, welche Formen der Theoriebeladenheit genau bestehen.18 Bei einigen Versionen der Theoriebeladenheit ist eine Unabhängigkeit plausiblerweise möglich. So können astronomische Beobachtungen von optischen Theorien abhängen, etwa indem sie die Funktion der verwendeten Instrumente oder die optischen Störungen durch die Erdatmosphäre erklären. Doch mit Hilfe solcher Beobachtungen werden keine optischen, sondern astrophysikalische Theorien überprüft. Wenn jedoch die Funktion oder Störungsanfälligkeit eines Strommessgeräts erklärt werden muss, werden ziemlich genau jene elektromagneti18

Vgl. Kosso (1989), Kap. 3, für Fallstudien zur Theorieabhängigkeit von Beobachtungen und Kosso (1992), 114-119, für Überlegungen zu verschiedenen Formen der Theoriebeladenheit.

2. Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen

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schen Theorien herangezogen werden müssen, die zu prüfen eine zentrale Funktion des Geräts ist. Es wäre nicht erstaunlich, wenn sich herausstellen sollte, dass häufig zumindest ein Teil der Erklärung der Gerätefunktion auf die Theorie angewiesen ist, die das untersuchte Phänomen beschreibt. Denn schließlich müssen Geräte, um überhaupt in einer Untersuchung dienen zu können, kausalen Kontakt zum Phänomen haben, die Theorie des Instruments muss daher typischerweise auch auf kausale Eigenschaften des Phänomens rekurrieren. Die geprüfte Theorie ist aber gerade für solche Eigenschaften zuständig. Auch andere Varianten der Theoriebeladenheit führen zu Selbstabhängigkeit. So wurde von Feyerabend behauptet, dass eine empirisch geprüfte Theorie notwendigerweise die für sie relevanten Beobachtungssätze belade, da einerseits die Beobachtungssätze nur für die Theorie relevant sein könnten, wenn es evidenzielle bzw. inferenzielle Relationen zwischen den Beobachtungssätzen und der Theorie gebe, andererseits diese inferenziellen Relationen aber für die Bedeutung der Beobachtungssätze konstitutiv seien.19 Es bestehen dann aber zumindest vorläufige Zweifel daran, dass Beobachtungen typischerweise von anderen Theorien beladen werden als denen, die sie prüfen. Genauere Auskunft bekommt man nur, indem man die Varianten von Theoriebeladenheit untersucht. c) Unabhängigkeit und Objektivität I: Einzelne Theorien Aber selbst wenn unabhängig theoriebeladene Beobachtungen typischerweise möglich wären, stellt sich die zweite oben angegebene Frage: Stärkt im Allgemeinen die Unabhängigkeit der beladenden Theorie die Objektivität der Prüfung? Hierbei muss man zwei Fälle unterscheiden. Im einen Fall, der in diesem Unterabschnitt besprochen werden soll, wird eine einzelne Theorie durch unabhängig theoriebeladene Beobachtungen geprüft.20 Im zweiten Fall wird eine ganze Reihe bzw. ein Netz von Theorien durch Beobachtungen geprüft, wobei typischerweise die Beobachtungen, die jeweils eine Theorie

19 20

Siehe Feyerabend (1958). Mit der Annahme dieses Falls soll nicht bestritten werden, dass für die Ableitung von Beobachtungsresultaten aus einer Theorie typischerweise andere Theorien als Hilfsannahmen hinzugezogen werden müssen. Häufig schließt man zwar aus diesem Umstand, dass im strikten Sinn nur eine Menge von Theorien, nicht aber einzelne Theorien empirisch geprüft werden können. Für diesen Fall soll aber davon ausgegangen werden, dass die Hilfsannahmen, die für die Ableitung bzw. Vorhersage benötigt werden, als unproblematisch gelten können und daher das Beobachtungsresultat einer einzelnen Theorie zurechenbar ist.

42

Theoriebeladenheit und Objektivität

prüfen, von anderen Theorien desselben Netzes beladen sind. Diesen Fall untersuche ich im nächsten Unterabschnitt. Kossos obige Behauptung (Wid-falsch) kann man für die beiden Fälle jeweils unterschiedlich verstehen. Im Fall der Prüfung einer einzelnen Theorie wird behauptet, dass unabhängig theoriebeladene Beobachtungen die Falschheit einer Theorie mit größerer Wahrscheinlichkeit empirisch aufdecken als selbstabhängig beladene Beobachtungen. Diese Behauptung ist für sich genommen recht plausibel. Denn man kann zunächst davon ausgehen, dass völlig unabhängig von der Wahrheit oder Falschheit einer zu prüfenden Theorie die Wahrscheinlichkeit, dass Beobachtungen einer Theorie widersprechen, bei unabhängig theoriebeladenen Beobachtungen größer ist als bei selbstabhängig beladenen Beobachtungen. Daher ist für eine Theorie die Wahrscheinlichkeit einer Widerlegung durch unabhängige Beobachtungen höher als durch selbstabhängige Beobachtungen: (Wid)

P(Wid / U) > P(Wid / S).

Denn wenn eine Theorie eine Beobachtung beeinflusst, macht dies wahrscheinlicher, dass die Beobachtung mit dieser Theorie vereinbar ist, also sie bestätigt bzw. nicht widerlegt. Eine Beeinflussung durch eine unabhängige Theorie macht dagegen eine Verträglichkeit weniger wahrscheinlich und lässt daher ein widerlegendes Ergebnis erwarten. Aber (Wid-falsch) ist dann auch plausibel. Denn es ist auch von einer falschen Theorie wahrscheinlicher, dass sie ihre eigene Basis auf eine für sie günstige Weise beeinflusst und so eine empirische Widerlegung verhindert, als dass eine unabhängige Theorie die Beobachtung so beeinflusst. Allerdings folgt hieraus nicht schon, dass unabhängige Beobachtungen objektiver als selbstabhängige sind. Denn empirische Prüfungen haben nicht nur eine kritische Rolle, indem sie Theorien, die in weiten Teilen falsch sind, empirisch zurückweisen müssen. Sie haben auch eine konstruktive Aufgabe: Sie sollten weitgehend wahre Theorien bestätigen. Hierbei scheinen aber selbstabhängige Beobachtungen besser abzuschneiden als unabhängige. Denn unabhängige Beobachtungen widerlegen nicht nur falsche Theorien mit höherer Wahrscheinlichkeit als selbstabhängige Beobachtungen. Es scheint auch wahrscheinlicher, dass eine wahre Theorie durch unabhängige Beobachtungen eher widerlegt wird als durch selbstabhängige. Denn zum einen beeinflusst bei einer selbstabhängigen Prüfung eine Theorie ihre eigene Basis, und dies macht eine Widerlegung unwahrscheinlicher. Zum anderen ist die geprüfte Theorie ja der Annahme nach wahr, wohingegen über die Wahrheit oder Falschheit der unabhängigen Theorien bisher nichts gesagt ist. Beobachtungen, die von wahren Theorien beeinflusst werden, sind aber im Allgemeinen

2. Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen

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zuverlässiger als Beobachtungen, die von irgendwelchen – zum Teil wahren, zum Teil falschen Theorien – beeinflusst sind. Selbstabhängige Beobachtungen werden daher im Allgemeinen eine wahre Theorie eher bestätigen als unabhängige Beobachtungen: (Best-wahr)

P(Best / W&U) < P(Best / W&S).

Damit ist aber unklar, was sich aus der Unabhängigkeit für die Objektivität von Beobachtungen ergibt. Schon die erste Behauptung Kossos, dass unabhängige Beobachtungen objektiver als selbstabhängige sind, wird fragwürdig. Die Zielvorgabe für Objektivität sieht vor, dass die Bestätigung einer systematisch tugendhaften Theorie durch objektive Beobachtungen die überwiegende Wahrheit der Theorie wahrscheinlich macht. Unabhängigkeit würde nur dann im Vergleich zu Selbstabhängigkeit zu größerer Objektivität führen, wenn bei Unabhängigkeit die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit einer bestätigten Theorie höher wäre, also wenn (Unab-objektiver) P(W / Best&U) > P(W / Best&S).

Für die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit einer Theorie gegeben ihre Bestätigung gilt nun: (W/Best)

P (W / Best ) =

1 .21 P ( Best / ~ W ) ⋅ P (~ W ) +1 P ( Best /W ) ⋅ P (W )

Unabhängigkeit führt daher zu größerer Objektivität als Selbstabhängigkeit, d.h. (Unab-objektiver) gilt genau dann, wenn P ( Best / ~ W & U ) ⋅ P (~ W /U ) P ( Best / ~ W & S ) ⋅ P (~ W / S ) . < P ( Best /W & U ) ⋅ P (W /U ) P ( Best /W & S ) ⋅ P (W / S )

Diese Bedingung lässt sich noch vereinfachen. Denn da die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit einer zur Prüfung kommenden Theorie klarerweise unabhängig davon ist, ob diese Prüfung mit selbstabhängig oder unabhängig theoriebeladenen Beobachtungen durchgeführt wird, ist P(~W/U)/P(W/U) = P(~W/S)/P(W/S).

21

P (W & Best ) P ( Best / W ) ⋅ P (W ) = P ( Best ) P ( Best /W ) ⋅ P (W ) + P ( Best / ~ W ) ⋅ P (~ W ) 1 = . P ( Best / ~ W ) ⋅ P (~ W ) +1 P ( Best / W ) ⋅ P (W )

Es ist: P (W / Best ) =

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Theoriebeladenheit und Objektivität

(Unab-objektiver) gilt daher genau dann, wenn P ( Best / ~ W & U ) P ( Best / ~ W & S ) < . P ( Best /W & U ) P ( Best /W & S )

Hieran lässt sich nun zeigen, welchen Einfluss die Unabhängigkeit der beladenden Theorie bei der Prüfung einzelner Theorien auf die Objektivität der Prüfung hat. Es gilt zwar einerseits (Wid-falsch)

P(Wid / ~W&U) > P(Wid / ~W&S), d.h. P(Best / ~W&U) < P(Best / ~W&S).

Damit ist der linke Zähler kleiner als der rechte, was die Objektivität unabhängiger Beobachtungen fördert. Aber (Best-wahr) beinhaltet, dass (Best-wahr)

P(Best / W&U) < P(Best / W&S),

d.h. der rechte Nenner ist größer als der linke, was der größeren Objektivität unabhängiger Beobachtungen entgegensteht. Das bedeutet, dass man keinen Grund für die Annahme hat, dass die Unabhängigkeit der beladenden Theorie im Allgemeinen die Objektivität von Prüfungen einzelner Theorien erhöht, auch wenn man wie Kosso von (Wid-falsch) ausgeht. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass unabhängige Beobachtungen unter keinen Umständen objektiver als selbstabhängige sind. Denn die Wahrscheinlichkeit, mit der unabhängige Beobachtungen überwiegend wahre geprüfte Theorien bestätigen, hängt plausiblerweise auch davon ab, ob die unabhängig beladenden Theorien überwiegend wahr oder in weiten Teilen falsch sind. Wenn unabhängige, aber wahre Theorien den Beobachtungsprozess beeinflussen, wird das Ergebnis für eine überwiegend wahre geprüfte Theorie mit geringerer Wahrscheinlichkeit widerlegend sein, als wenn falsche unabhängige Theorien den Prozess beeinflussen. Denn man kann erwarten, dass die Verlässlichkeit des Beobachtungsprozesses bei Beeinflussung durch wahre Theorien höher ist als bei Beeinflussung durch falsche Theorien. Dies bedeutet aber, dass der Unterschied, den Selbstabhängigkeit oder Unabhängigkeit für die Wahrscheinlichkeit der Bestätigung einer wahren zu prüfenden Theorie machen, möglicherweise dann nur minimal ist, falls die unabhängigen Theorien überwiegend wahr sind. In einem solchen Fall würde also die Ungleichung (Best-wahr) kaum ins Gewicht fallen, wohingegen die Ungleichung (Wid-falsch) mindestens unverändert bestehen bleibt. Dies lässt erwarten, dass unabhängige Beobachtungen jedenfalls dann objektiver sind, wenn die unabhängig beladenden Theorien überwiegend wahr sind. Allerdings gilt für den Fall, dass die unabhängigen Theorien weitgehend falsch sind, gerade das Gegenteil. Denn hier verstärkt sich noch die Ungleichheit in

2. Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen

45

(Best-wahr), und in diesem Fall sind selbstabhängige Beobachtungen objektiver. Damit zeigt sich, dass Unabhängigkeit nur dann dabei hilft, die erhöhte Objektivität von Prüfungen einzelner Theorien zu begründen, wenn man bereits auf andere Theorien zurückgreifen kann, die wahrscheinlich überwiegend wahr sind. Ein Optimismus lässt sich dann möglicherweise gegenüber unabhängig geprüften und bestätigten Theorien begründen, sofern man ihn schon für die unabhängigen, beladenden Theorien begründet hat. Aber eine Möglichkeit, den Optimismus gegenüber einzelnen, geprüften Theorien ohne anderweitige optimistische Voraussetzungen zu begründen, bietet sich durch das Merkmal Unabhängigkeit nicht. d) Unabhängigkeit und Objektivität II: Theoriennetze Das eben festgestellte Problem für die Begründung des Optimismus durch die unabhängig theoriebeladene Prüfung einzelner Theorien ergab sich dann, wenn man nichts über den Status der unabhängigen Theorien voraussetzen kann. Die Annahme, dass die unabhängigen, beladenden Theorien selbst überwiegend wahr sind, setzt aber gegenüber diesen Theorien schon voraus, was man für die einzelnen, geprüften Theorien erst zeigen möchte. Stattdessen könnte man aber auch annehmen, dass die unabhängigen Theorien selbst empirisch bestätigt sind – bestätigt in derselben Weise, in der die einzelne, einzuschätzende Theorie es ist. Dies führt zur Idee, dass die Einheit, der gegenüber ein Optimismus zu begründen ist, letztlich nicht eine einzelne Theorie, sondern ein ganzes Netz von Theorien ist. Ein Optimismus würde dann beinhalten, dass die meisten Theorien dieses Netzes überwiegend wahr sind, gegeben sie sind empirisch bestätigt. Theorien dieses Netzes werden dann unabhängig geprüft, wenn jeweils andere Theorien desselben Netzes die Prüfung beladen. Kann diese Form der empirischen Prüfung den Optimismus begründen? Die erste Kosso’sche Behauptung, dass Unabhängigkeit die Objektivität erhöht, könnte sich im Fall der unabhängigen Prüfung eines Theoriennetzes auf die folgenden, plausiblen Annahmen zu Widerlegungs- und Bestätigungswahrscheinlichkeiten stützen: Erstens ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein Netz solcher Theorien insgesamt durch unabhängig beladene Beobachtungen bestätigt wird, obwohl die meisten dieser Theorien überwiegend falsch sind. Denn um eine solche irreführende Bestätigung zustande zu bringen, müssten falsche Theorien häufig die Beobachtungen in solcher Weise beeinflussen, dass sie für andere falsche Theorien günstig ausfallen. Dies ist aber bei Unabhängigkeit der Theorien unwahrscheinlich, und unwahrscheinlicher als bei selbstabhängiger Beladung. Es wäre also:

46

Theoriebeladenheit und Objektivität

(Wid-falsch-Netz) P(Wid / ~W&U) = groß, und P(Wid / ~W&U) > P(Wid / ~W&S), d.h. P(Best / ~W&U) = klein, und P(Best / ~W&U) < P(Best / ~W&S).

(W steht hier für „die meisten Theorien des Netzes sind überwiegend wahr“, ~W heißt dementsprechend „viele Theorien des Netzes sind in weiten Teilen falsch“.) Zweitens wäre von einem Theoriennetz, das zumeist aus überwiegend wahren Theorien besteht, bei Unabhängigkeit aber wahrscheinlich, dass es empirisch bestätigt wird. Schließlich würden überwiegend wahre, wenn auch unabhängige Theorien die Beobachtungen beladen. Dies erhöht deren Verlässlichkeit und macht die Bestätigung wahrer Theorien wahrscheinlich. Anders als bei der Prüfung einzelner Theorien ist bei der Prüfung eines Netzes von Theorien also die Wahrscheinlichkeit der Bestätigung einer wahren Theorie bei Unabhängigkeit nicht klein, sondern eher groß, und der Unterschied zu selbstabhängigen Prüfungen fällt somit gering aus: (Best-wahr-Netz) P(Best / W&U) = groß, und P(Best / W&U) ≈ P(Best / W&S).

Dann sind aber unabhängige Prüfungen von Theoriennetzen objektiver als selbstabhängige. Denn für die Prüfung von Theoriennetzen gilt: P ( Best / ~ W & U ) P ( Best / ~ W & S ) < , d.h. P ( Best /W & U ) P ( Best /W & S ) (Unab-objektiver) P(W / Best&U) > P(W / Best&S).

Bedeutet dies auch, dass Beobachtungen, die insgesamt die empirische Basis für ein ganzes Netz von Theorien darstellen und durch Theorien aus diesem Netz unabhängig beladen sind, nicht nur im Vergleich zu selbstabhängigen Beobachtungen objektiver, sondern auch absolut objektiv sind? Hierzu müsste es von einem solchen Netz von Theorien, das solcherart empirisch geprüft und hierbei betätigt wurde, wahrscheinlich sein, dass es überwiegend wahr ist. Es müsste also gelten: (Unab-objektiv)

P(W / Best&U) = groß.

Allerdings folgt dies nicht aus (Wid-falsch-Netz) und (Best-wahr-Netz). Dies kann man sehen, wenn man nochmals die obige Gleichung (W/Best) heranzieht und für diesen Fall auf U bedingt: (W/Best&U)

P (W / Best & U ) =

1 . P ( Best / ~ W & U ) ⋅ P (~ W /U ) +1 P ( Best /W & U ) ⋅ P (W /U )

2. Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen

47

Nun besagen (Wid-falsch-Netz) und (Best-wahr-Netz) zwar, dass P(Best/~W&U) klein und P(Best/W&U) groß sind. Damit aber der Nenner auch insgesamt klein und damit die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit eines unabhängig bestätigten Theoriennetzes groß ist, dürfen nicht P(~W/U) groß und P(W/U) klein sein. P(~W/U) und P(W/U) stehen für die Wahrscheinlichkeit von zur Prüfung kommenden Theoriennetzen, in weiten Teilen falsch bzw. überwiegend wahr zu sein. Angenommen, bei Unabhängigkeit ist die Bestätigungswahrscheinlichkeit für in weiten Teilen falsche Theoriennetze mit P(Best/~W&U) = 0,2 niedrig; die Bestätigungswahrscheinlichkeit für wahre Theoriennetze P(Best/W&U) ist dagegen 0,8. Wenn aber die Wahrscheinlichkeit, dass die zur Prüfung gestellten Theoriennetze überwiegend falsch sind, mit P(~W/U) = 0,9 recht hoch ist, während die Wahrscheinlichkeit, dass ein weitgehend wahres Theoriennetz zur Prüfung gestellt wird, mit P(W/U) = 0,1 niedrig ist, ergibt sich dennoch für P(W/Best&U) nur ungefähr 0,3. In einem solchen Fall wäre es trotz der Geltung von (Wid-falsch-Netz) und (Best-wahr-Netz) von einem Netz bestätigter Theorien unwahrscheinlich, dass die meisten Theorien des Netzes überwiegend wahr sind. Der Schluss von der Bestätigung der Theorien auf ihre überwiegende Wahrheit wäre nicht gültig. Dieses Zahlenbeispiel zeigt ein Hindernis für den Nachweis der Objektivität von Beobachtungen bei unabhängiger Theoriebeladung auf. Auch wenn wahre Theoriennetze wahrscheinlich bestätigt und falsche wahrscheinlich widerlegt werden, hieße es die ‚base rate fallacy‘ zu begehen, daraus auf die wahrscheinliche Wahrheit bestätigter Theorien zu schließen. Vielleicht sind falsche Theoriennetze als solche sehr viel wahrscheinlicher als wahre. Dann sind bestätigte Theorien nicht wahrscheinlich wahr. Zu beachten ist hierbei erstens, dass P(~W/U) und P(W/U) die Wahrscheinlichkeit der Falschheit bzw. Wahrheit von Theoriennetzen vor aller empirischen Prüfung bezeichnen. Man muss in der Auswahl dieser Menge von Vorschlägen auch solche Netze bzw. Theorien in den Netzen einschließen, die wegen offensichtlicher empirischer Inadäquatheit gar nicht erst einer tatsächlichen ausführlichen Prüfung unterzogen werden. Denn der Ausschluss solcher Theorien geschieht bereits auf der Grundlage von Beobachtungen. Der gegenwärtig diskutierte Vorschlag basiert die Objektivität von Beobachtungen aber allein darauf, dass sie als unabhängig beladen in der Prüfung von Theoriennetzen eingesetzt werden. Auch der Gebrauch von Beobachtungswissen in einer Vorauswahl der Theorien und Netze, die überhaupt zu einer tatsächlichen Prüfung gelangen, muss man in diesem Zusammenhang daher als eigentlich schon empirische Prüfung rekonstruieren. Doch dies legt nahe, dass die Wahrscheinlichkeit recht hoch ist, dass

48

Theoriebeladenheit und Objektivität

solchermaßen vorgeschlagene und zur Prüfung gestellte Theoriennetze in weiten Teilen falsch sind. Zweitens ist dem Vorschlag zufolge ein ganzes Theoriennetz die Einheit der empirischen Prüfung. Der Unterschied zum vorigen Unterabschnitt besteht gerade darin, dass nicht einzelne Theorien empirisch bestätigt werden, um erst darauf aufbauend andere Theorien zu prüfen. Der Vorteil unabhängiger Beobachtungen gegenüber selbstabhängigen Beobachtungen ergibt sich erst, indem man ein holistisches Vorgehen gegenüber einem schrittweisen bevorzugt. Doch auch dadurch wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass in weiten Teilen falsche Theorien zur Prüfung gestellt werden. Denn je inhaltsreicher eine Theorie bzw. ein Netz unabhängiger Theorien ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass man – vor aller Berücksichtigung empirischer Befunde – gerade überwiegend die Wahrheit trifft. Ein Theoriennetz kann also durch Beobachtungen, die durch unabhängige Theorien dieses Netzes beladen sind, zwar besser empirisch geprüft werden als durch selbstabhängige Beobachtungen. Die erste, komparative These Kossos konnte daher für diesen Fall begründet werden. Aber allein die Unabhängigkeit der beladenden von den jeweils geprüften Theorien reicht nicht aus, um die Objektivität der Beobachtungen als solche zu sichern. Die zweite These Kossos, dass unabhängige Beobachtungen absolut gesehen objektiv sind, konnte daher für den Fall der Prüfung von Theoriennetzen nicht begründet werden. Noch dürftiger fällt das Ergebnis für den Fall der Prüfung einzelner Theorien aus. Hier hat die Untersuchung gar keine Gründe dafür ergeben, dass Unabhängigkeit im Allgemeinen epistemische Vorteile mit sich bringt. Solche Vorteile bestehen vielmehr nur unter der Voraussetzung, dass man schon über unabhängige Theorien verfügt, die selbst optimistisch einzuschätzen sind. Die unabhängige Beladung von Beobachtungen hat sich damit in diesen Fall lediglich als ein Vehikel erwiesen, um Optimismus von einer Theorie auf eine andere zu transferieren.22 Die Frage, warum Beobachtungen trotz ihrer Theoriebeladenheit objektiv sind, bleibt offen. Die Hinweise auf die Effektivität und die unabhängige Beladung der Beobachtungen können bestenfalls einen Teil einer detaillierten Antwort ausmachen. Für diese detaillierte Antwort sind verschiedene Arten von Beobachtungen zu unterscheiden und deren mögliche Theoriebeladenheit im Einzelnen zu diskutieren. 22

Dies bedeutet nicht, dass der neue Optimismus in eine Theorie dann nur in der Kohärenz oder in anderen, rein systematischen Beziehungen zur anderen, schon optimistisch einzuschätzenden Theorien begründet liegt. Der neue Optimismus wird vielmehr dadurch gefördert, dass die unabhängige, optimistisch einzuschätzende Theorie es erlaubt, die neue Theorie objektiv (bzw. objektiver) empirisch zu prüfen.

2. Die Zirkularität theorieabhängiger empirischer Prüfungen

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Zusammenfassung In diesem Kapitel habe ich zwei mögliche Merkmale theoriebeladener Beobachtungen diskutiert, Effektivität und Unabhängigkeit. Beide Merkmale werden in der Regel gegen das Bedenken angeführt, dass Theoriebeladenheit zu einer viziösen Zirkularität in der empirischen Prüfung von Theorien führt. Zunächst habe ich das Merkmal der Effektivität analysiert (Abschn. 2). Die verbreitete Ansicht, dass die Effektivität von Beobachtungen daran hängt, ob die geprüften Theorien einem Fehlschlagsrisiko ausgesetzt werden, erwies sich als zu eng. Auch die Annahme, dass sich die Ineffektivität einer theoriebeladenen Beobachtung letztlich immer als prädiktive Irrelevanz der Hypothese für ein zugrunde liegendes, theorieunabhängiges Beobachtungsergebnis rekonstruieren lässt, habe ich zurückgewiesen. Stattdessen hat sich gezeigt, dass eine Beobachtung trotz ihrer Theoriebeladenheit für eine Theorie effektiv ist, wenn die Beobachtung, soweit sie mit der Theorie übereinstimmt oder ihr widerspricht, auch empirisch bestimmt ist (Abschn. 2b). Die Effektivität von Beobachtungen ist daher eine minimale, aber bei weitem nicht hinreichende Bedingung für die Objektivität theoriebeladener Beobachtungen (Abschn. 2c). Wenn bei Beobachtungen die beladenden Theorien unabhängig von den geprüften Theorien sind, muss man zwei Fälle unterscheiden. Wenn man die Prüfung einer einzelnen Theorie betrachtet, ergeben sich aus der unabhängigen Beladung keine generellen epistemischen Vorteile. Diese hängen vielmehr daran, wie wahrscheinlich es von der unabhängigen Theorie ist, dass sie selbst wahr ist (Abschn. 3c). Wenn man dagegen die Prüfung eines ganzen Netzes unabhängiger Theorien betrachtet, erweisen sich unabhängig geprüfte und bestätigte Theorien als mit höherer Wahrscheinlichkeit wahr als selbstabhängig geprüfte und bestätigte Theorien. Über diese komparative These hinaus lässt sich aber die Objektivität theoriebeladener Beobachtungen als solcher auch in diesem Fall nicht begründen (Abschn. 3d). Es zeigt sich, dass der Hinweis auf die abstrakten Merkmale Effektivität und Unabhängigkeit nur einen Teil einer detaillierten Begründung der Objektivität theoriebeladener Beobachtungen ausmachen kann. Anhang zu Abschnitt 2b Wenn man die Jeffrey-Regel für Konditionalisierung P’(H) = P(H / O) ⋅ P’(O) + P(H / ~O) ⋅ P’(~O)

voraussetzt, gilt:

50

Theoriebeladenheit und Objektivität

Ein empirischer Test ist ineffektiv, d.h. P’(H) = P(H), g.d.w. er nicht-empirisch ist, d.h. P’(O) = P(O), oder H prädiktiv irrelevant ist, d.h. P(O / H) = P(H). Beweis: (Jeffrey-Kond) P’(H) = P(H / O) ⋅ P’(O) + P(H / ~O) ⋅ P’(~O) ⇔ P’(H) = P(H / O) ⋅ P’(O) + P(H / ~O) ⋅ [1 – P’(O)] (i) ⇔ P’(H) = P’(O) ⋅ [P(H / O) – P(H / ~O)] + P(H / ~O); zudem ist ein Theorem des Wahrscheinlichkeitskalküls: P(H) = P(H / O) ⋅ P(O) + P(H / ~O) ⋅ P(~O) (ii) ⇔ P(H) = P(O) ⋅ [P(H / O) – P(H / ~O)] + P(H / ~O) aus (i) und (ii) folgt: (Ineff.) P’(H) = P(H) ⇔ P’(O) ⋅ [P(H / O) – P(H / ~O)] + P(H / ~O) = P(O) ⋅ [P(H / O) – P(H / ~O)] + P(H / ~O) ⇔ P’(O) = P(O) oder P(H / O) = P(H / ~O) ⇔ P’(O) = P(O) oder P(O / H) = P(O) (mit Bayes’ Theorem).

51

Teil II: Die Theoriebeladenheit von Beobachtungen Kapitel 3: Theoriebeladene Wahrnehmungen 1. Einleitung In diesem zweiten Teil, der aus den Kapiteln 3 bis 5 besteht, geht es um Positionen zur Theoriebeladenheit der Beobachtung, die jeweils aus zwei Annahmen zusammengesetzt sind. Zum einen ist dies eine Annahme darüber, Beobachtungen welcher Art in den Wissenschaften eine epistemische Rolle spielen. Zum anderen ist es eine These dazu, wie solche Beobachtungen theoriebeladen sind. Diese Positionen sollen systematisch rekonstruiert werden. Einerseits stütze ich mich auf Autoren, die solche Positionen vertreten, und orientiere mich an ihren Beiträgen. Andererseits sollen diese Positionen systematisiert werden. Zunächst will ich die Gründe, die sich für die Positionen anführen lassen, kritisch diskutieren. Dann soll untersucht werden, ob die Positionen einen Pessimismus stützen. Insgesamt will ich so in diesem Teil die Voraussetzungen offen legen, die man zu Beobachtungen und ihrer Theoriebeladenheit machen muss, um die Objektivität von Beobachtungen und der Naturwissenschaften insgesamt in Frage zu stellen. Dies schafft die Grundlage dafür, um in Teil III die Voraussetzungen des Pessimismus zurückzuweisen und so den Optimismus zu begründen. In diesem Kapitel geht es um eine Position zur Theoriebeladenheit von Beobachtungen, die im Wesentlichen auf den Arbeiten von Russell Norwood Hanson und Thomas S. Kuhn beruht. Dabei bin ich aber in erster Linie an einer systematischen Position interessiert und weniger an einer Darstellung, die in allen Details den originalen Arbeiten der genannten Autoren entspricht. Ich werde daher die Position der Autoren und deren Begründung systematisieren. Insbesondere werde ich nicht alle der vielfältigen Überlegungen, die Kuhn zur Frage der Theorieabhängigkeit von Beobachtungen angestellt hat, in diesem Kapitel berücksichtigen können. Einige wichtige Überlegungen Kuhns werden aber in den folgenden Kapiteln Berücksichtigung finden. Hanson führt in seinem Buch „Patterns of Discovery“ den Ausdruck „theoriebeladen“ in die philosophische Sprache ein.1 Er schreibt:

1

Gilbert Ryle verwendet an einer früheren Stelle den Ausdruck „theory-laden“. Allerdings geht es dort nicht um Beobachtungen. Vielmehr soll eine Abhängigkeit der Bedeutung theoretischer Ausdrücke von den Theorien gekennzeichnet werden. Siehe Ryle (1954), 90.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

There is a sense ... in which seeing is a ‚theory-laden‘ undertaking. Observation of x is shaped by prior knowledge of x. (Hanson 1958, 19)

Dieses Zitat zeigt, wie fließend Hanson zwischen ‚sehen‘ und ‚beobachten‘ wechselt. Hanson behandelt wissenschaftliches Beobachten als bloßen Sonderfall von Wahrnehmen. Beobachtungen, bei denen Wahrnehmungen keine zentrale epistemische Rolle spielen oder die nicht schon durch enthaltene Wahrnehmungen im Wesentlichen charakterisiert sind, werden von Hanson nicht genauer untersucht.2 Innerhalb der Wahrnehmungen konzentriert er sich insbesondere auf Fälle visueller Wahrnehmung. Hanson formuliert und begründet daher die These der Theoriebeladenheit der Beobachtung, indem er die Theorieabhängigkeit von Wahrnehmungen (insbesondere visueller Wahrnehmungen) betrachtet. Auch Kuhn beschäftigt sich ausführlich, wenn auch nicht ausschließlich mit Wahrnehmungen als empirischer Grundlage der Wissenschaften. In diesem Kapitel soll es daher um eine Position zur Theoriebeladenheit von Wahrnehmungen gehen. Außer Betracht bleiben Beobachtungen, in denen Wahrnehmungen keine zentrale Rolle spielen, weil sie etwa weitgehend mit Hilfe von Instrumenten durchgeführt werden. Zudem werde ich wie Hanson nur Wahrnehmungen in den Blick nehmen, die Evidenz für oder gegen wissenschaftliche Hypothesen sein können. Eine mögliche Rolle von Wahrnehmungen etwa im Erwerb wichtiger Begriffe bleibt unberücksichtigt. Diese Einschränkungen sind zwar in der Sache problematisch. (Für eine Diskussion hiervon siehe insbesondere Kap. 6.) In den folgenden Kapiteln 4 und 5 werde ich daher Argumentationen für die Theoriebeladenheit diskutieren, die nicht auf diese besondere Form von Beobachtungen beschränkt sind. Allerdings bringt die Einschränkung Vorteile für die Darstellung mit sich. In diesem Kapitel brauche ich mich nicht mit der ganzen Vielzahl der relevanten Überlegungen für die Theoriebeladenheit zu beschäftigen, sondern kann mich auf jene Gründe konzentrieren, die für die Theorieabhängigkeit evidenziell relevanter Wahrnehmungen sprechen. Im Folgenden geht es daher vor allem um den Charakter typischer, als wissenschaftliche Evidenz verwendbarer Wahrnehmungen. Ich will dementsprechend für dieses Kapitel so tun, als ob die Hanson’sche Beschränkung auch in der Sache gerechtfertigt ist und werde hier davon ausgehen, dass alle wissenschaftlichen Beobachtungen Wahrnehmungen sind. Die Position zur Theoriebeladenheit, die sich dabei herausbilden wird, ist durch die folgenden beiden Thesen charakterisierbar:

2

Vgl. hierzu French (1975), 95.

3. Theoriebeladene Wahrnehmungen

53

1. Die unmittelbaren perzeptuellen Erfahrungen sind durch Begriffe geprägt, insbesondere auch durch reichhaltige Begriffe, die nicht bloß rein sinnliche Eigenschaften bezeichnen. (Begriffsthese) 2. Die begriffliche Prägung wissenschaftlich relevanter Wahrnehmungen hängt in der Regel vom wissenschaftlich-theoretischen Hintergrund des Beobachters ab. (Abhängigkeitsthese)

Diese Position möchte ich im Folgenden sowohl präzisieren, als auch die Gründe diskutieren, die sich in den Arbeiten u. a. von Hanson und Kuhn dafür finden. In den nächsten beiden Abschnitten wird es um die Gründe für die Begriffsthese gehen. Zunächst werde ich in Abschnitt 2 untersuchen, ob und auf welche Weise Wahrnehmungen oder perzeptuelle Erfahrungen von Begriffen geprägt sind. In Abschnitt 3 geht es um die Frage, durch Begriffe welcher Art die Erfahrungen unmittelbar begrifflich geprägt sind. Im Abschnitt 4 werde ich die Gründe für die Abhängigkeitsthese präsentieren und einer ersten kritischen Prüfung unterziehen. Nur einige der vorgebrachten Gründe erweisen sich dabei als so stichhaltig und relevant, dass sie eine weitere Diskussion erfordern. Diese Diskussion werde ich aber bis auf Teil III der Studie verschieben. Denn hier in diesem Kapitel soll abschließend geprüft werden, ob die vorläufig akzeptierten Gründe eine Form der Theoriebeladenheit plausibel machen, die einen Pessimismus stützt. 2. Die begriffliche Prägung von Wahrnehmungen a) Sehen, Sehen-als, Sehen-dass Hanson vertritt die These, dass die meisten Wahrnehmungen begrifflich geprägt sind. Diese Behauptung versucht er durch eine rudimentäre Analyse von Zuschreibungen von Wahrnehmungen zu stützen. Er betrachtet hierbei insbesondere drei Formen solcher Zuschreibungen: (a)

P sieht x.

(b)

P sieht x als F.

(c)

P sieht, dass p.

Mit (a) schreibt man eine einfache Wahrnehmung eines Objekts x zu, mit (b) ein Sehen-als und mit (c) schließlich ein Sehen-dass. Hanson geht erstens davon aus, dass Fälle von Sehen-als und von Sehen-dass begrifflich geprägt sind. Demnach halten wir solche Zuschreibungen nur dann für wahr, wenn wir dem Subjekt der Wahrnehmung geeignete begriffliche Fähigkeiten zugestehen.

54

Theoriebeladenheit und Objektivität

Hanson ist zweitens der Ansicht, dass eine Analyse der drei Zuschreibungen zeigen kann, dass Fälle von Objekt-Sehen meist auch Fälle von Sehen-als und Sehen-dass sind. So schreibt er etwa: ‚Seeing as’ and ‚seeing that’ ... are logically distinguishable elements in seeing-talk, in our concept of seeing. (Hanson 1958, 21) [A]lmost everything we usually call seeing involves as fundamental to it what I, following Wittgenstein, have called ‚seeing as‘. (Hanson 1969, 105) [W]hat I have referred to as seeing as and seeing that are clearly involved in our ordinary seeing. (Hanson 1969, 114)

Zusammen ergibt sich so ein Argument für die begriffliche Prägung der meisten Wahrnehmungen. Der Analyse zufolge sind Sehen-als und Sehendass erstens von begrifflichen Fähigkeiten abhängig, und zweitens immer in Objekt-Wahrnehmungen enthalten. Die meisten Wahrnehmungen lassen sich aber korrekt als Wahrnehmung von etwas und damit als Objekt-Wahrnehmung beschreiben. Also sind Wahrnehmungen meist begrifflich geprägt. Ich werde diese Behauptungen zunächst auf Sehen-als bezogen untersuchen. Im dann folgenden Unterabschnitt werde ich die Behauptungen im Hinblick auf Sehen-dass betrachten. b) Perzeptuelles Klassifizieren Ich beginne mit einer rudimentären Analyse einiger Zuschreibungen von Objekt-Sehen und Sehen-als. In allen Situationen, in denen eine Person P überhaupt etwas sieht, d.h. es etwas gibt, das Objekt ihrer visuellen Wahrnehmung ist, ist eine Zuschreibung der Art ‚P sieht x‘ von ihr wahr. Wenn Paula den Nachthimmel betrachtet, und im Zentrum ihres Blickfeldes leuchtet der Jupiter, so dass der Jupiter ein Objekt ihrer visuellen Wahrnehmung ist, dann ist es wahr, zu sagen, sie sehe den Jupiter. Bemerkenswert ist hierbei, dass es für die Wahrheit der Zuschreibung nur darauf ankommt, dass der Ausdruck, der an der x-Stelle in der Zuschreibung steht, sich auf das Objekt der Wahrnehmung bezieht. Insbesondere ist es für die Wahrheit der Zuschreibung gleichgültig, ob der Bezug mittels Begriffen zustande kommt, die das Wahrnehmungssubjekt selbst besitzt und mit denen es unter Umständen das Objekt selbst identifiziert, oder ob es Begriffe sind, die das Subjekt nicht kennt. Wenn Paula tatsächlich den Jupiter sieht, ist es auch wahr, dass sie den größten Planeten des Sonnensystems sieht, auch wenn sie gar nicht über den Begriff eines Planeten verfügt oder das Objekt ihrer Wahrnehmung nicht als einen Planeten oder als den größten Planeten identifiziert. Bei Objektwahrnehmungen sind daher alle jene Zuschreibungen der Art ‚P sieht x‘ wahr, in

3. Theoriebeladene Wahrnehmungen

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denen sich der Ausdruck an der x-Stelle auf das Objekt der Wahrnehmung bezieht. Demgegenüber scheinen Zuschreibungen der Art ‚P sieht x als F‘ nur sehr viel seltener angebracht. Paradigmatisch für die Zuschreibung von Sehen-als sind Fälle, in denen eine mehrdeutige Figur betrachtet wird, wie etwa die bekannte, von Wittgenstein in die philosophische Diskussion einbrachte Zeichnung eines Hasen-Enten-Kopfes. (Siehe Abb. 3.1.) Eine solche Figur kann man auf verschiedene Weisen sehen. Es kann einem so vorkommen, als sei es eine Hasenfigur oder aber eine Entenfigur. Wenn es Paula nun visuell so erscheint, als sei ein Hase dargestellt, ist es angemessen zu sagen, sie sehe den Kopf als Hasenfigur. Auch wenn eine Wahrnehmung täuscht oder eine Täuschung möglich erscheint, ist es oft angebracht, von Sehen-als zu sprechen. Wenn Paula nachts auf dem Feld von weitem ein Pferd sieht, das für sie wie eine Kuh aussieht, ist es angebracht zu sagen, sie sehe das Pferd als Kuh.

Abb. 3.13

Zuschreibungen eines Sehen-als von der Form ‚P sieht x als F‘ haben zwei Stellen für Ausdrücke, die (im weitesten Sinn) den Inhalt der Wahrnehmung spezifizieren. Für die x-Stelle im Sehen-als gilt dabei dasselbe, was auch für die x-Stelle im einfachen Objekt-Sehen gilt. Wichtig ist hier nur, dass der Ausdruck an der x-Stelle sich auf das Objekt der Wahrnehmung bezieht. Es ist für die Wahrheit der Zuschreibung gleichgültig, ob das Subjekt P das Wahrnehmungsobjekt auch unter der Beschreibung identifiziert, unter der sich der x-Ausdruck auf das Objekt bezieht, oder ob P überhaupt über die Begriffe verfügt, die in der Beschreibung verwendet werden. Wenn Paula den Hasen-Enten-Kopf als Hase sieht, dann sieht sie auch die bekannteste Jastrow’sche Figur als Hasen, unabhängig davon, ob sie jemals von Jastrow gehört hat. Es reicht, dass der Hasen-Enten-Kopf die bekannteste Jastrow’sche Figur ist.

3

Nach Jastrow (1900).

56

Theoriebeladenheit und Objektivität

Für die F-Stelle gelten dagegen andere Bedingungen. Damit die Zuschreibung wahr ist, muss das Wahrnehmungsobjekt in der Wahrnehmung als ein F repräsentiert sein. Dass x von P als F gesehen wird, heißt, dass x in Ps visueller Wahrnehmung als zu den Fs gehörend, als von der Art der Fs seiend, als die Eigenschaft F habend klassifiziert wird. Dies scheint nur möglich, wenn P über den Begriff F verfügt. Denn damit etwas in Ps Wahrnehmung als F repräsentiert ist, muss es in Ps Wahrnehmung als F klassifiziert sein. Es ist anzunehmen, dass es in Ps Wahrnehmung nur so klassifiziert sein kann, wenn P es so klassifiziert hat. P muss also die Fähigkeit zur perzeptuellen Klassifikation von Dingen als F besitzen. Die Fähigkeit der Klassifikation von etwas als F gehört aber ganz zentral zu den Fähigkeiten, die den Besitz des Begriffs F anzeigen. Paula könnte den Hasen-Enten-Kopf nicht als Hase sehen, wenn sie noch nie Hasen (oder Hasenzeichnungen) begegnet wäre und die Fähigkeit erworben hätte, Dinge als Hasen zu klassifizieren. Sie muss in diesem Sinn eine begriffliche Fähigkeit bezüglich Hasen besitzen.4 Es ist aber für die Wahrheit einer Sehen-als-Zuschreibung nicht erforderlich, dass das Wahrnehmungsobjekt tatsächlich F ist. Paula kann in der Dunkelheit ein Pferd als Kuh sehen, obwohl das Pferd keine Kuh ist. Die Zuschreibung des Sehen-als gibt daher nur an, als von welcher Art F das Objekt in der Wahrnehmung repräsentiert ist. Dies ist damit vereinbar, dass das Objekt nicht wirklich F ist.5 Diese Analyse stützt insgesamt Hansons erste Behauptung über Sehen-als: Solche Zuschreibungen implizieren, dass das Wahrnehmungsobjekt in der Wahrnehmung begrifflich repräsentiert ist.

4

5

Vgl. Hanson (1958), 13. Hanson diskutiert eine Zeichnung, die sowohl als Vogel als auch als Antilope gesehen werden kann. Er fragt dann rhetorisch: „Could people who had never seen an antelope, but only birds, see an antelope in [that figure]?“ Die F-Stelle ist, im Gegensatz zur x-Stelle, intensional: Die Wahrheit der Zuschreibung ist davon abhängig, dass sich der F-Ausdruck auf eine bestimmte Eigenschaft bezieht. Auch wenn de facto alle Schönwetterwolken schäfchenförmig wären, könnte es einen Unterschied machen, ob man eine Wolke als Schönwetterwolke oder als Schäfchenwolke sieht. Die Stelle scheint sogar hyperintensional zu sein: Schiefwinklige, gleichseitige Vierecke können als Diamant oder als Raute gesehen werden (je nachdem, ob man mehr auf die Symmetrieachsen durch die Ecken der Figur oder auf die Seitenhalbierenden achtet); dasselbe Dreieck kann mit verschiedenen Ecken als Spitze gesehen werden. Vgl. hierzu auch Searle (1983), 56. Ich betrachte hier nur Zuschreibungen von Sehen-als in der dritten Person. Für Zuschreibungen der Art ‚Ich sehe x als F’ ergeben sich zusätzliche Komplikationen aus der Tatsache, dass das Subjekt epistemisch in der Lage sein muss, sich die Wahrnehmung selbst zuzuschreiben. Hanson unterscheidet nicht in der Behandlung von Zuschreibungen in erster und dritter Person, was seine Diskussion verunklart. Siehe hierzu auch Wittgenstein (1956), 520/521.

3. Theoriebeladene Wahrnehmungen

57

Ist auch Hansons zweite Behauptung wahr, dass alle Fälle oder die weitaus meisten Fälle des Sehens von etwas auch Fälle des Sehens von etwas als F (für irgendein F) sind?6 Wenn man diese Behauptung begründen will, indem man auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch verweist, stößt man auf eine offensichtliche Schwierigkeit. Es gibt eine große Anzahl von Fällen, in denen wir zwar die Zuschreibung eines Objekt-Sehens angemessen finden, die Zuschreibung eines Sehen-als aber für unangebracht oder zumindest seltsam halten. Angenommen, Paula begegnet einem Pferd bei hellem Tageslicht. Das Pferd heißt Hendrik. Sie sieht Hendrik. Es wäre unangebracht hinzuzufügen, dass sie Hendrik als Pferd sieht. Doch dies stellt eine Schwierigkeit dar, wenn man durch Verweis auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch begründen möchte, dass die meisten Fälle des Sehens von Objekten begrifflich geprägt sind, da sie auch Fälle von Sehen-als sind. Man könnte versuchen, die Schwierigkeit zu überwinden, indem man plausibel macht, dass Sehen-als-Zuschreibungen nicht deshalb gewöhnlich unangebracht sind, weil sie wörtlich falsch sind. Die Unangemessenheit der Zuschreibungen könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass sie in vielen Fällen von Objekt-Sehen als umständlich erscheinen, indem sie mehr angeben, als eigentlich aus pragmatischer Sicht relevant oder interessant ist. Der Fall von Paulas Begegnung mit dem Pferd Hendrik könnte hier instruktiv sein. Eine Zuschreibung eines Sehen-als scheint dann als unangebracht, wenn es gar nicht fraglich ist, dass Paula perzeptuell erkennt, dass Hendrik ein Pferd ist. Eine Zuschreibung von Sehen-als ist dagegen angebracht, wenn Paula Hendrik beispielsweise im Dämmerlicht und aus großer Entfernung fälschlicherweise für eine Kuh hält. Aber auch wenn eine solche Verwechslung nicht tatsächlich besteht, sondern aufgrund der bekannten Umstände der Wahrnehmung bloß für eine relevante oder gar wahrscheinliche Möglichkeit gehalten wird, macht eine Sehen-als-Zuschreibung Sinn. In einem solchen Fall kann man klarstellen, dass Paula trotz der Dunkelheit Hendrik als Pferd sah. Auch nicht täuschende Wahrnehmungen können daher in solchen Fällen mit Sehen-als zugeschrieben werden. Die Angemessenheit einer solchen veridischen Zuschreibung scheint aber letztlich nicht daran zu hängen, dass es wirklich dämmerig war. Man kann schon mit gutem Sinn klarstellen, dass Paula Hendrik als Pferd sah, wenn derjenige, an den ich mich damit richte, glaubt, dass die Umstände für ein solches perzeptuelles Erkennen ungünstig waren oder dass Paula Hendrik vermutlich als Kuh sah. Tatsächlich können die Umstände der so berichteten Wahrnehmung so günstig sein wie im ersten Fall, in dem die Sehen-als-Zuschreibung als unan6

Für eine Verteidigung dieser These siehe auch Vesey (1956).

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Theoriebeladenheit und Objektivität

gebracht erscheint. Dies deutet darauf hin, dass die erste Sehen-als-Zuschreibung nicht wörtlich falsch war. Schließlich ist in einer gleichen Wahrnehmungssituation eine wahre Sehen-als-Zuschreibung möglich. Die Unangemessenheit scheint auf der Offensichtlichkeit und daher Irrelevanz der Information für den Rezipienten zu beruhen, dass Paula Hendrik tatsächlich als Pferd erkannte. Wenn es solcherart gelingt, plausibel zu machen, dass für die meisten Fälle von Objekt-Sehen eine Äußerungssituation denkbar ist, in der eine Sehen-alsZuschreibung angemessen erscheint, ist die Schwierigkeit für Hanson behoben. Mir scheint, dass die Aussichten hierfür nicht schlecht stehen. Aber man kann Hanson auch noch auf andere Weise zur Seite springen. Denn es gibt einige alternative Zuschreibungen, die wir viel häufiger für angemessen halten, die aber ganz ähnlich wie die Zuschreibung des Sehen-als eine perzeptuelle Klassifikation implizieren. Gemeint sind hier die Formulierungen (d)

x erscheint P visuell so, als sei es F.

(e)

x sieht für P F aus.

Obwohl zwischen diesen Zuschreibungen und einer Sehen-als-Zuschreibung einige Unterschiede bestehen mögen, haben sie doch die hier zentralen Eigenschaften gemeinsam. Für die Wahrheit aller drei Zuschreibungen gilt, dass der Ausdruck an der x-Stelle sich lediglich auf das Objekt der Wahrnehmung zu beziehen braucht, wohingegen die F-Stelle auch wiedergeben muss, wie das Objekt in der Wahrnehmung repräsentiert ist. Die Wahrnehmungen, die mit (d) und (e) zugeschrieben werden, schließen daher ebenfalls perzeptuelle Klassifikationen ein. Die Wahrheit der Zuschreibungen verlangt es aber nicht, dass die Klassifikationen auch veridisch sind. Es gilt aber plausiblerweise, dass man ein Objekt nicht wahrnehmen kann, ohne dass zumindest eine Zuschreibung der Formen (d) oder (e) zutrifft. Angenommen, Paula sieht den Jupiter am Nachthimmel. Dies setzt voraus, dass der Jupiter für sie irgendwie aussieht. Die Weise, wie er für sie aussieht, braucht hierbei nicht veridisch zu sein. Es reicht, wenn der Jupiter für sie wie ein schwaches entferntes Licht oder wie ein Loch im Himmelszelt aussieht. Wenn es aber gar keine Weise gibt, in der ihr der Planet erscheint, dann würden wir nicht sagen, dass sie ihn überhaupt sieht.7 Damit ist eine Argumentation dafür vorgetragen, dass Wahrnehmungen von etwas meistens oder immer eine Repräsentation des Objekts als F (als zu den Fs gehörend, als von der Art F seiend, als die Eigenschaft F habend) 7

Vgl. Künne (1995), 118/119.

3. Theoriebeladene Wahrnehmungen

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enthalten. Daraus kann man schließen, dass Wahrnehmungen in der Regel begrifflich sind, indem man davon ausgeht, dass die sinnliche Repräsentation eines Objekts als F in der Regel eine Fähigkeit auf der Seite des Subjekts voraussetzt, Dinge als F zu klassifizieren. Und die Fähigkeit zur Klassifikation ist zumindest eine der zentralen Fähigkeiten, die mit dem Besitz von Begriffen verbunden sind oder diesen voraussetzen.8 Allerdings gibt es eine recht breite Diskussion der Frage, ob nichtbegriffliche sinnliche Repräsentationen möglich sind.9 Die Idee ist hierbei, dass man sinnliche Zustände hat, die zwar einen Inhalt haben und mit denen daher Bedingungen der Richtigkeit und Falschheit verbunden sind. Diese Zustände setzen aber keine begrifflichen Fähigkeiten voraus und sind daher nicht begrifflich geprägt. Es scheint, grob gesprochen, zwei Wege zu geben, um die Vorstellung nichtbegrifflicher sinnlicher Inhalte kohärent zu machen. Der eine Weg besteht darin, an den Besitz von Begriffen hohe Anforderungen zu stellen, wie etwa die Fähigkeiten, Gedanken zu haben und Urteile zu fällen oder theoretischer Rationalität zugänglich zu sein und die Gültigkeit von Argumenten einsehen zu können.10 Dann scheint es plausibel, dass es nichtbegriffliche sinnliche Inhalte gibt, weil man davon ausgehen kann, dass viele Wesen wie höhere Tiere oder kleine Kinder zwar Wahrnehmungen mit Inhalten haben, dafür aber nicht über diese weiteren Fähigkeiten zu verfügen brauchen. Ich finde es einleuchtend, solche anspruchsvolleren Fähigkeiten tatsächlich mit Begriffsbesitz zu verknüpfen. Gleichzeitig sehe ich aber nicht, wie schon die Fähigkeit zu perzeptueller Klassifikation völlig ohne das Verfügen über Begriffe denkbar ist. Denn wenn es eine zentrale Eigenschaft von Begriffen gibt, dann ist es die, viele Einzeldinge unter sich zu fassen und so eine Art oder Eigenschaft von Dingen zu repräsentieren. Wenn man Dinge als zu einer Art gehörend klassifizieren kann, verfügt man daher meiner Ansicht nach in bestimmter Weise schon über einen Begriff. Um diese widerstreitenden Intuitionen zu vereinbaren, werde ich daher davon ausgehen, dass man in verschiedenem Umfang oder auf verschiedene Weisen über einen Begriff verfügen kann, was mit jeweils verschiedenen Fähigkeiten – 8

9 10

Mit der Rede von Klassifikation möchte ich mich dabei an dasjenige anschließen, was in der Wahrnehmungspsychologie als „perzeptuelles Erkennen“ („perceptual recognition“, etwa „object recognition“) bezeichnet wird. Allerdings ziehe ich den Terminus „Klassifikation“ gegenüber „Erkennen“ vor, da mit Erkennen impliziert wird, dass die Klassifikation auch zutrifft. Diese Implikation kann jedoch zumindest für meine Zwecke irreführend sein. Siehe Dretske (1969), Kap. 2; Evans (1982), Kap. 5.2, 6.3 u. 7.4; Peacocke (1992), Kap. 3; Crane (1992); McDowell (1994), Kap 3. Siehe hierfür auch Künne (1995), 117/118.

60

Theoriebeladenheit und Objektivität

etwa zur Klassifikation, zu Gedanken bzw. Urteilen, zu Argumenten – verknüpft sein kann. Es scheint noch einen zweiten Weg zu geben, um die Vorstellung nichtbegrifflicher Inhalte kohärent zu machen. Man könnte bestreiten, dass man über eine Fähigkeit der Klassifikation von Dingen als F verfügen muss, um sinnliche Repräsentationen der Dinge als F besitzen zu können. Ich habe oben auf die folgende Weise auf Fähigkeiten zur perzeptuellen Klassifikation geschlossen: (1)

x ist in Ps Wahrnehmung als F repräsentiert.

(2)

Also: x ist in Ps Wahrnehmung als F klassifiziert.

(3)

Also: P hat x als F perzeptuell klassifiziert.

(4)

Also: P besitzt die Fähigkeit zur perzeptuellen Klassifikation von Dingen als F.

Man könnte nun einwenden, dass der Schritt von (2) auf (3) nicht zwingend ist. Demnach würde es keine besondere Tätigkeit auf der Seite des Subjekts erfordern, damit ihm sinnlich etwas als F vorkommen kann. Für viele Kategorien ist dies jedoch unplausibel. Denn für diese Kategorien gilt, dass wir etwas nur als zu ihnen gehörend wahrnehmen können, wenn wir Dingen dieser Art vorher schon begegnet sind und dabei etwas über sie gelernt haben. Für Paula kann es nur so aussehen, als ob vor ihr ein Pferd steht, wenn sie Pferden schon einmal begegnet ist und dabei wohl eine perzeptuelle Fähigkeit bezüglich Pferden erworben hat. Dann ist die perzeptuelle Klassifikation aber Ergebnis des Einsatzes dieser Fähigkeit des Subjekts, die somit eine Fähigkeit zu solcher Klassifikation ist. Insgesamt folge ich daher Hanson und gehe davon aus, dass sinnliche Repräsentationen von etwas als F begrifflich geprägt sind. Dieser Schritt stellt vielleicht ein gewisses Zugeständnis an die Vertreter der Theorieabhängigkeitsthese dar, denn die Möglichkeit begriffsunabhängiger Wahrnehmungsinhalte wurde durch die vorstehende kurze Diskussion sicherlich nicht erschöpfend ausgelotet. Eine Argumentation für die Begriffsunabhängigkeit sinnlicher Repräsentationen könnte daher einen weiteren Weg zur Verteidigung der Objektivität von Beobachtungen darstellen, den ich aber im Weiteren nicht verfolgen werde. c) Wahrnehmungsurteile Damit komme ich zur Frage, ob der gewöhnliche Sprachgebrauch auch für die Annahme spricht, dass alles oder das meiste Sehen von Gegenständen

3. Theoriebeladene Wahrnehmungen

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auch ein Sehen-dass ist.11 Zunächst ist dabei zumindest in Grundzügen zu ermitteln, was mit der Zuschreibung der Form ‚P sieht, dass x F ist‘ eigentlich behauptet wird. Hierbei interessiert mich natürlich nur die Verwendung in Fällen sinnlicher Wahrnehmung. Solche Fälle wie ‚Paula sieht jetzt, dass M die beste Option darstellt‘, in denen wir die Zuschreibung etwa verwenden, um unabhängig von Wahrnehmung das Gewinnen einer Einsicht zu beschreiben, sollen außer Betracht bleiben. Zudem werde ich Zuschreibungen von Sehendass im Folgenden stets de dicto verstehen. Angenommen, Paula betrachtet den Nachthimmel und sieht einen hellen Himmelskörper. Was ist behauptet, wenn wir sagen, Paula sehe, dass der Jupiter am Nachthimmel steht? Ich möchte hier nur auf zwei Implikationen hinweisen.12 Erstens ist klar, dass diese Zuschreibung nur wahr sein kann, wenn der Jupiter tatsächlich am Nachthimmel steht. Zuschreibungen von Sehen-dass sind faktiv: Sie sind nur wahr, wenn der Sachverhalt, der im dassSatz beschrieben wird, tatsächlich besteht. Zweitens muss aber Paula durch die zugeschriebene visuelle Wahrnehmung auch zur Überzeugung gelangen (oder die Überzeugung bekräftigen), dass der Jupiter am Himmel steht. Man kann nicht im eigentlichen Sinn behaupten, sie sehe, dass der Jupiter am Himmel steht, glaube es aber nicht. Mit einem Sehen-dass schreiben wir dem Wahrnehmenden also ein Wahrnehmungsurteil zu. Im wissenschaftstheoretischen Kontext spricht man in solchen Fällen statt von Wahrnehmungs- bzw. Beobachtungsurteilen auch oft von Beobachtungssätzen. In der Regel sind diese beiden Sprechweisen aber weitgehend gleichwertig zu verstehen.13 Zu beachten ist jedoch, dass ein Urteil bzw. eine Überzeugung eine doxastische Verpflichtung des Subjekts mit sich bringt: Das Subjekt hält einen propositionalen Inhalt für wahr, und denkt ihn nicht etwa nur. Eine solche Verpflichtung ist durch die Rede von Beobachtungssätzen allein noch nicht klar ausgedrückt. Es ist daher besser, wenn man vom Behaupten solcher Sätze spricht (bzw. von einer Bereitschaft hierzu). Aber unabhängig davon, ob man vom Fällen eines Wahrnehmungsurteil oder der Bereitschaft zum Behaupten eines Beobachtungssatzes spricht, zeigt die rudimentäre Analyse von Sehen-dass, dass die damit zugeschriebenen Wahrnehmungen vom Besitz von Begriffen abhängig sind. Damit man ein Urteil fällen kann, muss man Überzeugungen der gebildeten Art haben 11 12 13

Siehe Searle (1983), Kap. 2 für eine Verteidigung dieser These. Für Analysen von Sehen-dass, die über das Folgende hinausgehen, siehe Dretske (1969) und Künne (1995), 110-112. Die Redeweise von Urteilen (und Begriffen als deren Bestandteilen) und von Sätzen (und Ausdrücken) sind wohl im Kern als inhaltliche bzw. formale Varianten im Sinne Carnaps aufzufassen. Siehe Carnap (1932).

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Theoriebeladenheit und Objektivität

können; damit man einen Satz sinnvoll behaupten kann, muss man die ausgedrückte Proposition verstehen. Sehen-dass setzt in diesem Sinn semantische Kompetenz bezüglich Begriffen voraus. Allerdings macht die gegebene Analyse auch klar, dass Objekt-Sehen nicht im Allgemeinen Sehen-dass einschließt. Schon die erste Bedingung der Faktizität spricht dagegen. Man kann plausiblerweise etwas sehen, etwa den Jupiter am Nachthimmel, und hierbei nur falsche Wahrnehmungsurteile fällen. Man kann etwa durch die Wahrnehmung zur Überzeugung gelangen, dass da, wo der Himmelskörper erscheint, sich ein Loch im Himmelszelt befindet. In der vermuteten Richtung muss sich überhaupt nichts befinden, auch nicht der Jupiter selbst, denn die Atmosphäre kann das Licht des Jupiters so ablenken, dass er an einer anderen Stelle des Nachthimmels erscheint, als er tatsächlich steht. Doch wenn jemand beim Sehen des Jupiters nur falsche Überzeugungen bildet, kann man ihm nicht mit Wahrheit irgendein Sehen-dass zuschreiben, da die somit zugeschriebenen Urteile wahr sein müssen. Auch die zweite Bedingung für Sehen-dass, der zufolge das Subjekt in der Wahrnehmung überhaupt ein Urteil fällen muss, braucht nicht in allen Fällen von Objekt-Sehen erfüllt zu sein. Sehr häufig enthalten wir uns eines Urteils, wenn wir unsicher sind, ob die Wahrnehmungsumstände günstig oder irreführend sind. Wenn jemand etwa beim Sehen des Jupiters extrem verunsichert ist, indem ihm unklar ist, ob er einen Planeten oder ein Loch im Himmelszelt sieht oder nicht vielmehr einer Halluzination erliegt, kann es vorkommen, dass er überhaupt kein Urteil fällt. Dennoch scheint es möglich, dass er den Jupiter eigentlich sieht. Auch in diesem Fall sieht er ein Objekt, ohne ein Sehen-dass zu haben. Dies zeigt, dass Objekt-Sehen nicht immer auch Sehen-dass einschließen muss. Insofern kann auf diese Weise nicht gezeigt werden, dass Sehen im Allgemeinen in gleicher Weise begrifflich geprägt ist. Allerdings findet sich bei Hanson und einer ganzen Reihe weiterer Autoren eine Überlegung, die hier einspringen kann. Die Idee ist, dass Wahrnehmungen jedenfalls dann, wenn sie als Evidenz für oder gegen Theorien dienen sollen, Überzeugungen oder Urteile einschließen muss. Diese Idee ist in den folgenden Zitaten ausgedrückt: Simple observations such as the ones used to check answers to the questions about books in the room must be rendered in a conceptual description if they are to be compared to the concepts of the question they are checking. A useful observation must be reported in an informational form, observing, for example, that the book is on the floor. Undescribed sensations are useless as evidence. (Kosso 1992, 111; Hervorhebungen im Original.)

3. Theoriebeladene Wahrnehmungen

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[S]ensations themselves neither confirm nor refute any theory. Sensations belong to the wrong logical space: it is only observation judgment or belief or report that can be logically consistent or inconsistent with any theory. (Churchland 1988, 184/185; Hervorhebungen im Original.) [Es ist] sicher richtig, dass der Beschluss, einen Basissatz anzuerkennen, ... mit Erlebnissen zusammenhängt – etwa mit Wahrnehmungserlebnissen; aber der Basissatz wird durch diese Erlebnisse nicht begründet; Erlebnisse können Entschlüsse, also auch Festsetzungen motivieren ...; aber sie können einen Basissatz ebensowenig begründen wie ein Faustschlag auf den Tisch. (Popper 1935, 71; Hervorhebungen in Original.)

In diesen und ähnlichen Stellungnahmen14 lassen sich im Kern drei Gründe dafür ausmachen, dass Wahrnehmungen, insoweit sie als Evidenz dienen sollen, Urteile einschließen müssen. Zunächst gehen viele Autoren hinsichtlich der in Frage kommenden mentalen Zustände von einer Dichotomie von Empfindungen (‚sensations‘ bzw. Wahrnehmungserlebnissen) auf der einen Seite und Urteilen, Sätzen oder Überzeugungen auf der anderen Seite aus. Empfindungen werden hierbei als bloß qualitative sinnliche Zustände ohne Inhalt aufgefasst.15 Da Wahrnehmungen, wenn sie als Evidenz dienen sollen, aber plausiblerweise einen Inhalt haben müssen, folgt, dass sie insofern Überzeugungen einschließen müssen. Zudem wird angenommen, dass die Evidenzrelation eine (im weiten Sinne) logische Relation ist. Demnach können nur Sätze, Urteile oder dergleichen als Evidenz dienen. Und schließlich geht man davon aus, dass die Evidenzrelation einen normativen Charakter hat, indem sie einen Grund dafür gibt, eine Hypothese in bestimmter Weise einzuschätzen. Und man nimmt an, dass nur Zustände, die in der Art von Urteilen begrifflich sind, solche Gründe sein können. Wenn so der Idee Plausibilität verliehen werden kann, dass Wahrnehmungen als Evidenz Urteile enthalten, ist damit zwar nicht gezeigt, dass alles evidenziell relevante Sehen ein Sehen-dass einschließt. Denn die Überlegung zeigt nur, dass Wahrnehmungen zu Urteilen führen müssen, nicht aber, dass die Urteile auch wahr sein müssen. Die erste Bedingung für Sehen-dass, die Bedingung der Faktizität, braucht daher von evidenziell relevanter Wahrnehmung nicht erfüllt zu werden. Aber die begriffliche Prägung von Sehen-dass ergibt sich schon daraus, dass ein Urteil eingeschlossen wird, und diesen Urteilscharakter von evidenziell relevanter Wahrnehmung soll die Überlegung gerade nachweisen.

14 15

Siehe Hanson (1958), 25 und (1969), 125-128; Lakatos (1970), 97. Für diese Annahme und eine ausführliche Diskussion davon siehe das nächste Kapitel.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Allerdings lässt sich den angegebenen Begründungen entgegenhalten, dass die zugrunde liegende Dichotomie von Empfindungen und Urteilen keineswegs zwingend ist. Dies hat die Diskussion von perzeptueller Klassifikation und nichtbegrifflichen Inhalten im vorigen Unterabschnitt deutlich gemacht. Es ist demnach plausibel anzunehmen, dass es Wahrnehmungsinhalte gibt, die nicht in dem starken Sinne begrifflich geprägt sind, dass sie die Fähigkeit, zu urteilen und die Gültigkeit von Argumenten einzusehen, voraussetzen. Vielmehr kann man von perzeptuellen Repräsentationen von etwas als F ausgehen, die bloß auf einer Klassifkationsfähigkeit beruhen. Es ist denkbar, dass hiermit nicht mehr vorausgesetzt wird als die Fähigkeit, Dinge der gewöhnlichen Umgebung, die F sind, als gleich und als verschieden von Nicht-Fs zu repräsentieren.16 Doch dann scheint es epistemologisch geboten, solche Wahrnehmungsinhalte auch ernst zu nehmen. Wenn es einem sinnlich so vorkommt, als sei da ein F, und das Vorkommen des F ist wissenschaftlich von Bedeutung, dann wäre es nachlässig, dem Sinneseindruck nicht zu folgen und nicht tentativ davon auszugehen oder zumindest in Betracht zu ziehen, dass da ein F ist. Zwar wird man, indem man den Sinneseindruck ernst nimmt, in der Regel ein zumindest vorläufiges Urteil fällen. Allerdings wäre es voreilig, dieses Urteil damit schon als ein Wahrnehmungsurteil zu bezeichnen, das notwendigerweise in evidenziell relevanter Wahrnehmung eingeschlossen ist. Denn es ist klar genug, dass etwas nur evidenziell relevant sein kann, wenn es zur Bildung, Bekräftigung oder Änderung von Überzeugungen führen kann. Für evidenziell relevante Wahrnehmungen muss es daher Überzeugungen geben, die sie fähig sind hervorzubringen, zu bekräftigen oder zu ändern. Es wäre aber eine Trivialisierung der Überlegung, dass evidenziell relevante Wahrnehmungen Urteile einschließen, eben diese Überzeugungen als Ergebnis des Wahrnehmungsurteils aufzufassen. Denn demnach wären evidenziell relevante Wahrnehmungen allein schon deshalb begrifflich geprägt, weil sie zu Veränderungen in begrifflichen Zuständen – nämlich Überzeugungen – führen. Eigentlich möchte man aber zeigen, dass die Grundlage für die Änderung wissenschaftlicher Überzeugungen begrifflich geprägt sein muss. Eine substanziellere Fassung der Überlegung lässt sich formulieren, wenn man zwischen Wahrnehmungsurteilen und anderen Überzeugungen unterscheiden kann, um dann zu zeigen, dass immer auch ein Wahrnehmungsurteil eingeschlossen ist, wenn es aufgrund von Wahrnehmungsevidenz zu Änderungen in anderen Überzeugungen kommt. Man könnte versuchen, eine solche Unterscheidung mit Hilfe einer Unterscheidung von Beobachtungs16

Mehr zu solchen Klassifikationsfähigkeiten siehe in Kap. 7, Abschn. 3.

3. Theoriebeladene Wahrnehmungen

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vokabular und anderem Vokabular vorzunehmen. Hanson und Kuhn sind aber skeptisch, ob es ein ausgezeichnetes Beobachtungsvokabular gibt. So sind sie recht großzügig (wenn auch nicht vollkommen permissiv) hinsichtlich der möglichen Inhalte von Beobachtungsurteilen. (Siehe hierzu den nächsten Abschnitt.) Dennoch scheint die Überlegung einen wahren Kern zu haben, der mit den Inhalten perzeptueller Klassifikation zusammenhängt. Es ist plausibel davon auszugehen, dass in der Regel bei wissenschaftlich relevanten Wahrnehmungen ein Urteil produziert wird, in dem diejenigen Begriffe vorkommen, mit denen auch die perzeptuelle Klassifikation operiert. Denn wenn man etwas als F wahrnimmt und diesem Umstand genügend Aufmerksamkeit schenkt, wird man auch urteilen, dass es F ist, es sei denn man hat Gründe, der Wahrnehmung zu misstrauen. Man kann dann zwar nicht behaupten, dass wissenschaftlich relevante Wahrnehmungen notwendig Urteile dieser Art einschließen, wie dies die diskutierte Überlegungen nachzuweisen sucht. Denn es ist möglich, dass man anders urteilt als perzeptuell klassifiziert. Aber plausiblerweise werden Urteil und perzeptuelle Klassifikation in den meisten Fällen übereinstimmen.17 Damit wurden für die These, dass Wahrnehmungen immer oder meist begrifflich geprägt sind, folgende Gründe gefunden. Erstens schließen Objekt-Wahrnehmungen immer eine perzeptuelle Klassifikation ein. ObjektWahrnehmungen sind daher von klassifikatorischen Fähigkeiten abhängig und insofern begrifflich geprägt. Zweitens gehen solche Wahrnehmungen meistens mit entsprechenden Wahrnehmungsurteilen einher. Um solche Urteile fällen zu können, muss das Subjekt bezüglich der Begriffe, die in der gebildeten Überzeugung vorkommen, semantisch kompetent sein: Es muss Überzeugungen solchen Inhalts haben können. Wahrnehmungen sind üblicherweise von diesen begrifflichen Fähigkeiten geprägt. 3. Welche Begriffe prägen die Wahrnehmung? Auch wenn man zugesteht, dass Wahrnehmungen üblicherweise begrifflich geprägt sind, ist damit die Begriffsthese, wie sie oben formuliert wurde, noch 17

Siehe Künne (1995), 112 für den Punkt, dass das perzeptuelle Urteil (dass x G ist) eine andere Eigenschaft zuschreiben kann als die perzeptuelle Klassifikation von x als F. Es wäre interessant zu überlegen, in welchen weiteren Verhältnissen die Klassifikation eines Sehen-als und das unmittelbare Wahrnehmungsurteil stehen können. Dretske vertritt die Ansicht, dass zumindest für das grundlegende (in seiner Terminologie „primäre“) Sehen davon, dass x F ist, x auch Objekt der Wahrnehmung sein muss. Damit hätten Sehen-als und primäres Sehen-dass dasselbe Objekt. Siehe Dretske (1969), 79.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

nicht vollständig akzeptiert. Denn zwei Punkte sind noch offen. Erstens ist unklar, ob die begrifflichen Inhalte von Wahrnehmungen beschränkt oder aber reichhaltig sind. Zweitens könnte es auch bei reichhaltigen Inhalten so sein, dass es innerhalb der Wahrnehmungen eine grundlegende Erfahrung gibt, die nur beschränkte Inhalte haben kann. Die These der begrifflichen Prägung sieht hingegen vor, dass die unmittelbaren perzeptuellen Erfahrungen reichhaltige begriffliche Inhalte haben. Hanson und Kuhn wenden sich ausdrücklich gegen eine Position, die eben eine solche Beschränkung der unmittelbaren Inhalte perzeptueller Erfahrungen behauptet. Der kritisierten Position zufolge gibt es bei Wahrnehmungen grundlegende Erfahrungen, die nur sehr beschränkte Inhalte haben. Diese Inhalte sollen im visuellen Fall etwa in einer Sprache von Linien, Farbflecken und Schattierungen18 vollständig beschreibbar sein. Gemeint ist also offensichtlich die traditionelle Sprache über sinnliche Eigenschaften, die Hanson auch „Sinnesdatensprache“ nennt.19 Was man an reichhaltigeren Inhalten wahrzunehmen glaubt, etwa die Zugehörigkeit von Objekten zu vielen alltäglichen oder wissenschaftlichen Arten oder Klassen, beruht der angegriffenen Position zufolge auf einer Interpretation der zugrunde liegenden beschränkten Inhalte oder auf einem Schluss aus diesen. Diese Position ist üblicherweise mit der Auffassung verbunden, dass es für alle Beobachter eine gemeinsame Wahrnehmungsbasis oder eine entsprechende Beobachtungssprache gibt, die theorieunabhängig sind. Kuhn und Hanson greifen an der Position aber zunächst die Vorstellungen an, dass die unmittelbaren Erfahrungsinhalte in der vorgestellten Weise beschränkt sind und dass die reichhaltigen Inhalte aus einem Interpretationsschritt resultieren. Hanson führt an, dass man sich beim Sehen etwa eines Fahrrads oder eines Würfels keiner Interpretation einer zugrunde liegenden Erfahrung bewusst werde: „I am aware of no such thing.“ (Hanson 1958, 9) Hierbei stützt sich Hanson offenbar auf Introspektion. Introspektiv wird man gewöhnlich weder 18 19

Hanson (1958), 8: „the language of lines, colour patches, appearances, shadows“. Vgl. Kuhn (1962), 137ff. Dabei scheint an der angegriffenen Position aber weniger die Ontologie der Sinnesdatentheorie relevant. Auch andere Thesen zur Natur perzeptueller Erfahrungen, ob adverbial, direkt realistisch oder intentional, sind im Prinzip mit einer Beschränkung der Inhalte unmittelbarer Erfahrungen auf sinnliche Eigenschaften vereinbar. Allerdings ergibt sich eine solche Beschränkung aus der Sinnesdatentheorie auf besonders natürliche Weise. Denn dieser Theorie zufolge haben Sinnesdaten selbst die Eigenschaften, deren Instanzen man wahrzunehmen scheint, und Sinnesdaten als mentale Entitäten können vielleicht noch mit einiger Plausibilität rot oder gebogen sein, kaum aber wohl reichere Eigenschaften instanziieren, wie etwa ein Fahrrad oder ein Hund zu sein.

3. Theoriebeladene Wahrnehmungen

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einer Interpretation oder eines Schlusses noch einer inhaltlich beschränkten Erfahrung bewusst. Gegenstände wie ein Fahrrad oder einen Würfel sieht man üblicherweise sofort, ohne weiteren expliziten kognitiven Schritt, als Fahrrad bzw. als in bestimmter Weise im Raum ausgerichtet. Kuhn führt gegen die Position zudem an, dass wissenschaftliche Beobachtungsberichte oft nicht beschränkten Inhalts sind. Er schreibt: Unter diesen Umständen können wir zumindest vermuten, dass die Wissenschaftler im Prinzip wie in der Praxis Recht haben, wenn sie Sauerstoff und Pendel (und vielleicht auch Atome und Elektronen) als grundlegende Bestandteile ihrer unmittelbaren Erfahrung behandeln. ... Das soll ... bedeuten, dass der Wissenschaftler beim Anblick eines schwingenden Steins keine Erfahrung hat, die im Prinzip elementarer ist als das Sehen eines Pendels. (Kuhn 1962, 139/140)

Beide Einwände setzen voraus, dass man sich der angegriffenen Position zufolge der beschränkten Wahrnehmungsinhalte und ihrer Interpretation explizit bewusst werden kann und man daher durch Beobachtungsberichte oder introspektiv auf diese Inhalte Zugriff bekommt. Diese Voraussetzung scheint aber notwendig, wenn die neutrale Beobachtungsbasis tatsächlich Erfahrung sein soll. Es macht wohl nur Sinn, von einer unmittelbaren Erfahrung zu sprechen, wenn diese als solche auch bewusst oder introspektiv zugänglich ist. Insofern müsste man der angegriffenen Position zufolge introspektiv auch zwei Ebenen unterscheiden können, und die Differenz zwischen unmittelbarer Erfahrung und Interpretation müsste deutlich werden können und sprachlich ausdrückbar sein. Wir können aber eine Ebene rein sinnlicher Inhalte introspektiv in der Regel nicht auffinden. In der Sprache bloßer sinnlicher Eigenschaften lässt sich die unmittelbare Erfahrung bestenfalls partiell, nicht aber vollständig charakterisieren. Die unmittelbaren Erfahrungsinhalte sind daher nicht beschränkt, sondern reichhaltig. Die Unmittelbarkeit der reichhaltigen Erfahrungsinhalte wird in solchen Fällen besonders augenfällig, in denen diese Inhalte sich ändern können. Hanson und auch Kuhn führen hier zunächst einige sehr bekannte Beispiele aus der Gestaltpsychologie an, etwa den Neckerwürfel und auch die bekannte Zeichnung einer alten bzw. jungen Frau. Diese Figuren bzw. Zeichnungen sind auf mehrere Weisen wahrnehmbar. Das Bild kann man einmal als Zeichnung einer alten Frau, das andere Mal als das einer jungen Frau sehen. (Siehe Abb. 3.2; siehe auch den Hasen-Enten-Kopf, obige Abb. 3.1.) Den Neckerwürfel kann man als einen Würfel sehen, den man von rechts oben betrachtet. In diesem Fall bildet das untere der beiden gezeichneten Quadrate die Vorderseite. Oder man sieht den Würfel von unten rechts, wenn das obere Quadrat vorne ist. (Siehe Abb. 3.3.)

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Abb.3.220

Abb. 3.3

Wenn diese Bilder umklappen, wird deutlich, dass wir nicht jeweils eine zugrunde liegende unmittelbare Erfahrung haben, die konstant bleibt und die wir nur jeweils verschieden explizit deuten. Wir sehen den Würfel jeweils unmittelbar als von oben bzw. von unten, wie wir auch unmittelbar eine alte bzw. junge Frau erkennen. Welche unmittelbaren Inhalte von Erfahrungen sind dann aber möglich, d.h. Begriffe welcher Art können Erfahrungen so prägen, dass wir in der Wahrnehmung unmittelbar die Dinge als unter diesen Begriff fallend klassifizieren bzw. beurteilen? Hanson hat den Bereich durch einige Beispiele angedeutet. Ihm zufolge kann man Fahrräder, die Sonne, Antilopen oder 20

Adaptiert nach Boring (1930).

3. Theoriebeladene Wahrnehmungen

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Röntgenröhren unmittelbar in visueller Wahrnehmung als solche erkennen.21 Kuhn erwähnt im obigen Zitat Sauerstoff und Pendel. Er fügt an derselben Stelle zwar hinzu, dass vielleicht selbst Atome und Elektronen den unmittelbaren Wahrnehmungsinhalt ausmachen könnten. In einer späteren Stellungnahme hat er dies aber zum Teil zurückgenommen. Er schreibt: Tatsächlich sehen wir nicht Elektronen, sondern ihre Bahnen oder Dampfblasen in einer Blasenkammer. Wie sehen nicht elektrische Ströme, sondern die Nadeln von Amperemeter und Galvanometer. ... Wenn [jemand den Umgang mit Blasenkammern gelernt hat], sieht er (hier buchstäblich) nicht Tropfen, sondern die Spuren von Elektronen, Alphateilchen usw. (Kuhn 1962, 208/209; Kuhns Hervorhebungen.)

Diese Beispiele machen deutlich, dass Hanson und Kuhn zufolge der Bereich möglicher unmittelbarer Wahrnehmungsinhalte sehr viel mehr umfasst als nur sinnliche Eigenschaften wie Farbe oder Form. Insbesondere schließen sie Eigenschaften und Arten des Alltags und der Wissenschaft ein. Auch einzelne Gegenstände (wie die Sonne) können dazugehören. Andererseits zeigt Kuhns Rücknahme der unmittelbaren Wahrnehmbarkeit von Elektronen und Strömen, dass es eine Grenze geben soll. Allerdings werden die Prinzipien der Grenzziehung hierbei nicht klar. Möglicherweise wird die Grenze dort gezogen, wo man nicht mehr davon sprechen kann, dass die unter den Begriff fallenden Gegenstände auch die Objekte der Wahrnehmung sein können. Man kann in diesem Sinn den Strom nicht sehen, indem man auf ein Amperemeter sieht. Man sieht nur das Gerät, den Zeiger, etc. Genauso sieht man in der Blasenkammer nicht die Elektronen, sondern nur ihre Spur. Trotz dieser Einschränkung wird damit von vielen wissenschaftlichen und alltäglichen Kategorien behauptet, dass man Dinge unmittelbar als zu diesen Kategorien gehörend wahrnehmen oder perzeptuell beurteilen kann. Diese Kategorien spielen oft in wissenschaftlichen und auch alltäglichen Theorien eine Rolle. Es scheint daher möglich, dass die unmittelbaren Wahrnehmungsinhalte von theoretischem Wissen abhängen. Ich komme nun zu den Fragen, welche Formen der Theorieabhängigkeit hier denkbar sind und warum man annehmen sollte, dass diese Formen bestehen.

21

Siehe Hanson (1958), Kap. 1, Abschn. B.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

4. Die Theorieabhängigkeit der begrifflichen Prägung von Wahrnehmungen a) Zwei Formen der Theorieabhängigkeit Damit sind wir bei der zweiten der zu Beginn des Kapitels vorgestellten Thesen, der Abhängigkeitsthese. Sie besagt, dass die reichhaltige begriffliche Prägung von Wahrnehmungen vom wissenschaftlich-theoretischen Hintergrund der Beobachter abhängt. Man kann zwei Varianten dieser These unterscheiden, die aber von Hanson und Kuhn nicht klar auseinander gehalten werden. Der ersten Version nach geht es um die Behauptung, dass es von wissenschaftlichen Theorien abhängt, ob man in bestimmten Situationen überhaupt reichhaltige Wahrnehmungen macht. Die Behauptung hier ist, dass man ohne einen geeigneten theoretischen Hintergrund gar keine Wahrnehmungen oder bloß Wahrnehmungen extrem beschränkten Inhalts haben würde. Es wird hier noch nicht behauptet, dass die reichhaltigen Wahrnehmungen mit den Theorien variieren. Ich werde diese Variante als schwache Theorieabhängigkeit bezeichnen. Die zweite, starke Version sieht vor, dass es von Theorien abhängt, welche reichhaltigen Wahrnehmungen man genau macht. Hier wird im Kern behauptet, dass Beobachter in denselben Situationen verschiedene, untereinander oft unvereinbare reichhaltige Wahrnehmungen machen, sofern sie verschiedene theoretische Hintergründe haben: Schwache Theoriebeladenheit: Dass man in Situationen S1 bis Sn die reichhaltigen Wahrnehmungen W1 bis Wn überhaupt macht, hängt von einem geeigneten theoretischen Hintergrund ab. Starke Theorieabhängigkeit: Welche alternativen reichhaltigen Wahrnehmungen W1 bis Wn oder W’1 bis W’n (oder W”1 ...) man in den Situationen S1 bis Sn macht, hängt davon ab, welche der alternativen Theorien T oder T’ (oder T”...) den Hintergrund der Wahrnehmungen bildet.

Eine schwache Theorieabhängigkeit schließt zwar eine starke nicht aus, impliziert diese aber auch nicht. In der folgenden Passage scheint Kuhn vor allem die schwache Variante im Blick zu haben: Bei der Überprüfung der reichen Experimentalliteratur ... kommt der Verdacht auf, dass für die Wahrnehmung selbst etwas wie ein Paradigma vorausgesetzt werden muss. Was ein Mensch sieht, hängt sowohl davon ab, worauf er blickt, wie davon, worauf zu sehen ihn seine visuell-begriffliche Erfahrung gelehrt hat. Bei mangelnder Übung darin kann es nur, wie William James es ausdrückt, ‚eine verteufelt wilde Verwirrung‘ geben. (Kuhn 1962, 125)22 22

Vgl. auch Kuhn (1962), 208.

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Kuhn vertritt hier die Annahme, dass man ohne ein Paradigma überhaupt keine sinnvollen Wahrnehmungen macht. Da ihm zufolge Paradigmen zentral auch durch theoretische Annahmen charakterisiert werden, schließt die Paradigmenabhängigkeit eine Theorieabhängigkeit ein. Demnach behauptet Kuhn, dass man ohne einen theoretischen Hintergrund keine sinnvollen (reichhaltigen) Wahrnehmungen machen kann. Man wird wohl annehmen müssen, dass der erforderliche theoretische Hintergrund dabei wissenschaftlicher oder auch alltäglicher Art sein kann. Denn man kann nicht sinnvoller Weise davon ausgehen, dass alle Beobachter, die überhaupt sinnvolle Wahrnehmungen machen können, immer auch einen wissenschaftlichen Hintergrund besitzen. Auch bei Hanson findet sich die Auffassung, dass sinnvolle Wahrnehmungen, zumindest sofern sie über sehr beschränkte Inhalte hinausgehen sollen, häufig wissenschaftliches oder analoges alltägliches Wissen voraussetzen.23 Bisher ist aber damit nur behauptet, dass überhaupt die Möglichkeit reichhaltiger Wahrnehmungen in vielen Situationen davon abhängt, dass Beobachter wissenschaftlich-theoretisches Wissen oder entsprechendes Alltagswissen besitzen. Dies ist aber noch damit vereinbar, dass verschiedene Beobachter in denselben Situationen stets nur gleiche reichhaltige Wahrnehmungen machen können. Insbesondere sind zwei generelle Umstände denkbar, unter denen trotz einer solchen Theorieabhängigkeit in einer Situation stets nur eine Menge reichhaltiger Wahrnehmungen möglich wäre. Erstens könnte es sein, dass alle normalen Beobachter den theoretischen Hintergrund, soweit er für die Wahrnehmungen relevant ist, teilen. Dies könnte man darauf zurückführen, dass dieser Hintergrund entweder angeboren ist oder aber von allen Menschen, die in unserer Welt aufwachsen, im Rahmen ihrer normalen Entwicklung erworben wird. Der relevante theoretische Hintergrund wäre demnach gewissermaßen Bestandteil des Common Sense. Zweitens ist aber auch denkbar, dass für bestimmte Situationen nur spezifische Theorien überhaupt sinnvolle reichhaltige Wahrnehmungen ermöglichen. Nur wer über eine bestimmte Theorie verfügt, könnte demnach in einer bestimmten Situation überhaupt sinnvolle reichhaltige Wahrnehmungen 23

Siehe etwa Hanson (1958), 13. Hanson führt auch dieselbe Formulierung an, mit der Kuhn oben William James zitiert („What a blooming, buzzing, undifferentiated confusion visual life would be...“ Hanson 1958, 17). Im Folgenden spreche ich oft von ‚Wissen‘ im psychologischen Sinn als demjenigen, was Subjekte glauben oder was sie in anderer Form an (vermeintlicher) Information oder früherer Erfahrung besitzen. Es ist nicht unterstellt, dass die Überzeugungen auch wahr sind.

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machen. In einer anderen Situation könnte hierfür aber eine andere Theorie erforderlich sein. Je nach ihrem theoretischen Hintergrund könnten dann verschiedene Beobachter zwar in unterschiedlichem Umfang reichhaltig wahrnehmen. In jeder Situation wäre aber nur eine Art reichhaltiger Wahrnehmungen möglich. Beide zusätzlichen Umstände würden dazu führen, dass in einer Situation stets nur eine Art reichhaltiger Wahrnehmungen, nicht aber alternative Wahrnehmungen gemacht werden könnten. Bei Hanson und Kuhn finden sich aber auch Belege für die starke Variante der Theorieabhängigkeit. Eine ganze Reihe der Gründe, die sie vorbringen, sprechen für beide Varianten der Theorieabhängigkeit. Insbesondere wird (i) angeführt, dass theoretisches Wissen notwendig ist für den Besitz der begrifflichen Fähigkeiten, die für reichhaltige Wahrnehmungen erforderlich sind. Es wird (ii) behauptet, dass Befunde der Gestaltpsychologie für die Theorieabhängigkeit sprechen. (iii) werden auch andere wahrnehmungspsychologische Positionen und Befunde, die man als Helmholtz’sche Positionen bezeichnen kann, zur Begründung vorgebracht. Kuhn hat selbst eine Theorie dieser Art darüber vorgeschlagen, wie im Laufe des Studiums einer Wissenschaft theoretisches Wissen auf den Erwerb reichhaltiger Wahrnehmungsfähigkeiten Einfluss nimmt. Und (iv) werden von Kuhn wissenschaftshistorische Beispiele für die Theorieabhängigkeit angegeben. Ich werde diese Gründe nun im Einzelnen durchgehen und jeweils ihre Relevanz für die beiden Versionen der Behauptung der Theorieabhängigkeit abschätzen. b) Gründe für die Theorieabhängigkeit (i) Theoretisches Wissen ist notwendig für Begriffsbesitz Reichhaltige Wahrnehmungen sind von reichhaltigen Begriffen bestimmt. Damit jemand etwas als F wahrnehmen kann oder er sehen kann, dass etwas F ist, muss er daher in bestimmtem Umfang über den Begriff des F verfügen. Er muss perzeptuelle klassifikatorische bzw. semantische Fähigkeiten bezüglich Fs besitzen. Hanson argumentiert nun dafür, dass man solche begrifflichen Fähigkeiten nur haben kann, wenn man über einen geeigneten theoretischen Hintergrund verfügt. Hanson schreibt zum hypothetischen Fall der beiden Astronomen Tycho Brahe und Johannes Kepler, die beide im Morgengrauen die Sonne betrachten: [S]eeing a thing as this or that sort of thing presupposes a knowledge of this or that sort of thing. Our two astronomers would not say merely that they saw a brilliant yellow-white disc and leave it at that. What they see they see as the sun. And this presupposes a knowledge of what sort of thing the sun is. (Hanson 1969, 107; Hansons Hervorhebungen.)

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Hanson argumentiert, dass man von einem Begriff F geprägte Wahrnehmungen nur haben kann, wenn man einiges über Fs weiß.24 Hanson zufolge muss man wissen, von welcher ungefähren Art die Fs sind. Man muss beispielsweise wissen, woraus sie beschaffen sein können oder welche grundlegenden kausalen Eigenschaften die Dinge haben wie sie sich daher in nächster Zukunft oder unter bestimmten Umständen verhalten werden. Hanson zufolge muss man hierüber explizites Wissen haben, das man auf Nachfrage angeben kann.25 Es ist nicht abwegig, für viele Arten solches Wissen in einem zumindest schwachen Sinn als ‚theoretisch‘ zu bezeichnen: Das Wissen ist Teil einer Menge expliziter Überzeugungen, die die grundlegende Beschaffenheit und die kausalen Eigenschaften von Dingen betreffen. Je nach Gegenstand wäre das Wissen eher alltäglichen oder wissenschaftlichen Theorien zuzurechnen. Hansons Position besitzt sicherlich einige Anfangsplausibilität, insbesondere in Bezug auf Wahrnehmungsüberzeugungen bzw. semantische begriffliche Kompetenz. Dem Vorschlag zufolge hängt der Inhalt meiner Überzeugung, dass etwas F ist, auch davon ab, für welche grobe Art von Dingen ich Fs halte. Wer beispielsweise Sterne für Löcher im Himmelszelt hält, glaubt demnach etwas Falsches, wenn er mit Blick auf Alpha Centauri perzeptuell urteilt, dass da ein Stern steht. Diese Position kann aber von zwei Seiten her bedrängt werden. Erstens könnte man versuchen, noch über Hanson hinaus zu gehen und zu behaupten, dass Überzeugungen die Identität der Begriffe vollständig oder in ihren wesentlichen Merkmalen festlegen. Eine solche semantische Position wird von Feyerabend und Churchland vertreten. Bei Hanson geht es demgegenüber nur darum, dass die ungefähre Natur der bezeichneten Art durch Überzeugungen spezifiziert wird. Zweitens könnte man aber auch diese eingeschränkte semantische Relevanz von Überzeugungen in Zweifel ziehen und behaupten, dass solches Wissen keinen Einfluss ausübt oder zumindest nicht notwendig ist. Einschlägig wären hierzu externalistische semantische Theorien. Da ich sowohl die Position von Feyerabend und Churchland als auch Einwände gegen eine Bedeutungsfestlegung durch Überzeugungen im nächsten Kapitel ausführlich diskutiere, will ich Hansons Vorschlag hier nicht weiter untersuchen. Bisher ist daher nur festzuhalten, dass Hansons Vorschlag nicht unplausibel erscheint. Damit wird zum einen die schwache Variante der Theorieabhängigkeit gut gestützt. Denn um bestimmte Wahrnehmungsurteile mit 24 25

Siehe Hanson (1958), 20-23. Siehe Hanson (1958), 21.

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reichhaltigen Inhalten haben zu können, muss man einige theoretische Überzeugungen haben. Zum anderen spricht die Überlegung aber auch für die starke Form der Theorieabhängigkeit. Im Fall von Kepler und Brahe führen verschiedene theoretische Auffassungen darüber, welcher Art die Sonne ist, zu verschiedenen Wahrnehmungsüberzeugungen, die zudem unvereinbar sind. (ii) Gestaltwechsel und Gestaltpsychologie Hanson und Kuhn, aber auch andere Vertreter der Theorieabhängigkeit der Beobachtung wie Paul Churchland haben wiederholt auf Befunde aus der Wahrnehmungspsychologie, insbesondere der Gestaltpsychologie, hingewiesen, um ihre Thesen zu stützen.26 Hierbei sind vor allem zwei Gruppen von Beispielen auf philosophisches Interesse gestoßen. Zum einen geht es um die Wahrnehmung von Suchbildern wie Abb. 3.4. Wer das Bild noch nie gesehen hat, dem erscheint es zunächst als eine Ansammlung weißer und schwarzer Flächen, die insgesamt wenig Sinn macht. Erst allmählich organisiert sich das Ganze zu einem Pferdekopf, wobei der Eindruck räumlicher Tiefe entsteht. Wer einmal den Pferdekopf gesehen hat, wird ihn bei folgenden Versuchen leichter wiedererkennen.27

Abb. 3.428

26 27 28

Hanson (1958), Kap. 1; Kuhn (1962), 123; Churchland (1988). Siehe hierzu etwa Rock (1984), 128ff. Aus Rock (1984), 131; nach C. M. Mooney, Closure Test (McGill University: Department of Psychology).

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Zum anderen gibt es eine Reihe von Bildern, die auf verschiedene Weisen gesehen werden können. Hierzu gehören Kippfiguren wie der Neckerwürfel und der Hasen-Enten-Kopf, die schon oben abgebildet sind. Aber auch das Kanisza-Dreieck gehört dazu. (Abb. 3.5) Hier hat man in der Regel den Eindruck, dass sich im Zentrum ein weißes Dreieck befindet. Obwohl nur die Ecken und der Verlauf der Seiten des Dreiecks angedeutet sind, ist dieser Eindruck so stark, dass der Untergrund außen entlang der angenommenen Seiten des Dreiecks etwas dunkler erscheint als innen im Dreieck, obwohl das Papier natürlich dort nicht dunkler ist. Die Täuschung kann allerdings zu Verschwinden gebracht werden. So gibt Churchland die Anweisung: Tell yourself that the circles have wedges cut out of them; see the elements of the diagram as six independent objects artfully arranged against a uniform background; center your attention on the two prongs of any V; and the illusion disappears. (Churchland 1988, 173)

Abb. 3.529

Was zeigen diese Belege bezüglich der Theorieabhängigkeit von Wahrnehmungen? Beide Gruppen von Fällen zeigen, dass Wahrnehmungen veränderlich sind. Bei den Suchbildern erlebt man eine Veränderung von einer Wahrnehmung, die keinen sinnvollen oder nur einen beschränkten Inhalt hat, zu einer reichhaltigen Wahrnehmung. Dieser Übergang kann dadurch erleichtert werden, dass man mitgeteilt bekommt, wonach man suchen kann und wie die 29

Adaptiert nach Kanisza (1955).

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einzelnen Teile des Bildes sich hierzu verhalten. Zudem ist der reichhaltige Inhalt viel leichter zugänglich, wenn man ihn schon einmal gesehen hat. Beides spricht dafür, dass die Wahrnehmungen mit reichhaltigen Inhalten durch Wissen über das Bild und darüber, was es genau darstellt, erleichtert werden. Hierbei können explizite sprachliche Hinweise auf den Inhalt hilfreich sein. Beim wiederholten Sehen sind solche Hinweise jedoch nicht erforderlich. Offenbar hat man sich gemerkt, was in dem Bild zu sehen ist oder wie das Bild reichhaltig sinnvoll gedeutet werden kann. Diese Erinnerung reicht auch aus. Allerdings ist es möglich, auch ohne explizite Anleitung oder frühere Erfahrung die Auflösung des Suchbildes zu erleben, wenn dies auch länger dauert und dies nicht allen gelingt.30 Dennoch spricht diese Gruppe von Beispielen dafür, dass Wissen – in Form von Hinweisen oder als frühere Erfahrung – einen Einfluss darauf ausüben kann, wie leicht oder schwer es fällt, eine reichhaltige Wahrnehmung überhaupt zu machen. Die Beispiele sprechen daher prima facie und zumindest ihrer Art nach für die schwache Form der Theorieabhängigkeit. Allerdings geben sie keine Hinweise auf variable reichhaltige Inhalte in Abhängigkeit von theoretischem Wissen. Die starke Form der Theorieabhängigkeit muss auf die zweite Gruppe von Fällen bauen. In diesen Fällen findet jeweils ein ‚Gestaltwechsel‘ statt. Wie das Beispiel des Hasen-Enten-Kopfes zeigt, kann sich hierbei auch ein reichhaltiger Begriff ändern, unter den die wahrgenommene Abbildung (bzw. das im Bild Abgebildete) zu fallen scheint. Hanson weist hierbei zu Recht darauf hin, dass sich die Wahrnehmung nicht vollständig ändert. Die beiden Weisen, die Bilder zu sehen, haben viel gemein. Hanson fasst dies in den Begriffen der Gestaltpsychologie so auf, dass die ‚Elemente‘ des visuellen Felds jeweils konstant blieben und nur deren ‚Organisation‘ sich ändern würde. Hanson scheint den Unterschied zwischen konstanten und variablen Aspekten zudem mit dem Unterschied zwischen sinnlichen und reichhaltigen Inhalten gleichzusetzen.31 Aber unabhängig davon, ob diese Unterscheidungen zusammenfallen, scheint keine der beiden wirklich geeignet, um konstante und variable Aspekte der Wahrnehmungsinhalte zu trennen. Das Kanisza-Dreieck zeigt beispielsweise, dass sich in einem Gestaltwechsel der Grauton, in dem ein Stück des Hintergrunds erscheint, ändern kann. Dies ist aber sicherlich eine Änderung sowohl eines Elements des visuellen Felds im Sinne der Gestaltpsychologie als auch eine Änderung erscheinender sinnlicher Eigenschaften. 30 31

Siehe hierzu Rock (1984), 128 ff. u. 228 ff. Auch Kuhn scheint nicht von vollständiger Umbildung auszugehen. Siehe Kuhn (1962), 134.

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Dennoch hat Hanson Recht mit der Beobachtung, dass in jedem der Fälle variabler Wahrnehmungen einige Inhalte konstant bleiben. Der NeckerWürfel wird immer als Würfel gesehen, der Hasen-Enten-Kopf immer als geschlossene Figur, ja als Kopf; beim Kanisza-Dreieck nimmt man immer die Packman-artigen Formen und die Winkel wahr. Dennoch ändert sich auch immer ein (möglicherweise) reichhaltiger Begriff, unter den das gesamte Bild fällt. Insofern sprechen die Beispiele für die Möglichkeit einer Variabilität reichhaltiger Inhalte, auch wenn die Varianz durch die konstanten Inhalte eingeschränkt ist. Was aber spricht dafür, dass es theoretisches Wissen ist, das jeweils darüber bestimmt, welche der möglichen Wahrnehmungen realisiert wird? Churchland gibt die oben zitierten Anweisungen, wie man das Gesehene auffassen muss, damit die Kanisza-Illusion zum Verschwinden gebracht werden kann: Man solle sich klarmachen, dass bei den Kreisen Keile ausgeschnitten sind; man müsse sich die sechs Teile als vor einem einförmigen Hintergrund geschickt arrangiert vorstellen. Diese Anweisungen legen nahe, dass tatsächlich explizites Wissen über die Beschaffenheit der Gegenstände dazu fähig ist, die Wahrnehmung zu beeinflussen.32 Demgegenüber kann man aber einwenden, dass es tatsächlich nur auf den letzten Hinweis ankommt, den Churchland gibt: Man muss den Fokus auf eine Spitze einer der V-förmigen Figuren lenken, und schon dann verschwindet die Illusion.33 Es steht hier also auch eine alternative Erklärung für die Varianz der Wahrnehmung zur Verfügung, dass diese nämlich nicht von Wissen, sondern von anderen Umständen der Wahrnehmung, etwa dem Fokuspunkt, abhängt. Ähnliches gilt für andere Fälle.34 Wissen spielt dann bestenfalls insofern eine Rolle, als es uns dazu bringt, den Fokus entsprechend auszurichten. Da das Wissen für die Ausrichtung als solche nicht notwendig ist, hängt die Varianz der Wahrnehmung dann nicht wirklich davon ab. Es ist also zweifelhaft, dass es von Wissen abhängt, welche der möglichen Varianten der Wahrnehmung sich realisiert. Zudem ist fraglich, ob die Möglichkeit variabler Wahrnehmungen in den angeführten Fällen für eine Varianzmöglichkeit auch in wissenschaftlich relevanten Fällen von Wahrnehmung spricht. Zwar ist unbestritten, dass die Fälle zumindest die abstrakte Möglichkeit variabler Wahrnehmungen aufgezeigt haben. Aber ist diese Möglichkeit für wissenschaftliche Fälle auch akut? Hanson und Kuhn gehen zwar weitgehend davon aus, dass wissenschaftliche 32 33 34

Siehe auch Hanson (1958), 13-15, wo dieser auch explizite Annahmen für die Varianz verantwortlich macht. Siehe Gilman (1992), 304. Zu Necker-Würfel und Hasen-Enten-Kopf siehe Fodor (1988), 190. Vgl. auch Pylyshyn (1999), 357/358 und Rock (1984), 228.

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Fälle zu den gestaltpsychologischen analog sind.35 Dies ist aber aus mehreren Gründen wenig überzeugend. Erstens bleibt ja auch in Fällen reversibler Wahrnehmung einiges konstant. Es wäre zunächst zu zeigen, dass die mögliche Varianz in wissenschaftlichen Fällen überhaupt bedeutsam ist. Zweitens ist es unwahrscheinlich, dass wissenschaftliche Situationen häufig in einer Weise wahrnehmbar sind, die zu den gestaltpsychologischen Fällen analog ist. Denn die gestaltpsychologischen Beispiele selbst sind schon stark ausgewählt. Aus der Vielzahl möglicher gewöhnlicher Situationen, die als psychologische Beispiele in Frage kommen könnten, eignen sich nur wenige. Es bedarf offenbar ganz besonderer Konstellationen, damit die Situation variabel wahrnehmbar ist. Es ist aber nicht einsichtig, warum solche Konstellationen in den Wissenschaften häufiger sein sollen als im Alltag bzw. als in Bereichen, denen die psychologischen Beispiele entnommen sind. Und drittens ist zu vermuten, dass die reversiblen Figuren und Situationen häufig nur bei besonders armen Reizen zustande kommen, etwa indem ein dreidimensionaler Würfel in zwei Dimensionen abgebildet oder ein Hase in einer minimalen Strichzeichnung dargestellt wird. Der Stimulus braucht in wissenschaftlich relevanten Fällen von Wahrnehmung aber keineswegs so arm zu sein. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit mehrfacher Wahrnehmbarkeit weiter. Es ist also unwahrscheinlich, dass die Möglichkeit reversibler Wahrnehmung für wissenschaftliche Fälle überhaupt in nennenswertem Umfang gegeben ist. Die Möglichkeit solcher Varianz in den psychologischen Beispielen gibt für eine solche Annahme jedenfalls nur geringen Anlass.36 35

36

Hanson und Kuhn sind sich zunächst durchaus der Probleme bewusst, die mit einer Übertragung von gestaltpsychologischen Beispielen auf wissenschaftliche Fälle verbunden sind. So schreibt Hanson unter Bezug auf seine Behauptung, dass Brahes und Keplers Wahrnehmung der Sonne wegen ihrer unterschiedlichen astronomischen Auffassungen variieren: „The sun, however, is not an entity with such variable perspective. What has all this to do with suggesting that Tycho and Kepler may see different things in the east at dawn? Certainly the cases are different. But the reversible perpective figures are examples of different things being seen in the same configuration...“ (Hanson 1958, 11) Und auch Kuhn fasst die gestaltpsychologischen Beispiele zunächst nur als einfache Modelle auf, die nur die Möglichkeit von Wahrnehmungsveränderungen zeigen (Kuhn 1962, 123ff.). Allerdings gehen beide Autoren im Folgenden sorgloser mit der Übertragung um und fassen doch angenommene wissenschaftliche Fälle variabler Wahrnehmungen als Gestaltwechsel auf: „The shift from sunrise to horizon-turn is analogous to the shift-of-aspect phenomena already considered; it is occasioned by the differences between what Tycho and Kepler think they know“ (Hanson 1958, 23/24). Siehe Kuhn (1962), 134. Hansons Beispiel des Sehens des Sonnenaufgangs einmal als Bewegung der Erde, das andere Mal als Bewegung der Sonne ist allerdings ein Fall, in dem ein Gestaltwechsel

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Hanson hat über die konkreten gestaltpsychologischen Beispiele hinaus auch die wahrnehmungstheoretische Position der Gestaltpsychologie für seine These der theoretischen Varianz der Wahrnehmung in Anspruch genommen.37 Allerdings erscheint dies aus der Sicht der Gestaltpsychologie als eine ungerechtfertigte Vereinnahmung. Denn die Grundposition der Gestaltpsychologen in der Wahrnehmungstheorie bietet keine Grundlage für die Hanson’schen Schlüsse.38 Zwar wenden sich die Gestaltpsychologen gegen eine Position, derzufolge eine Wahrnehmung letztlich vollständig in einzelne Elemente analysierbar ist, die einzelnen Stimuli zuzuordnen sind. So weisen sie die Auffassung zurück, die visuelle Erfahrung eines Quadrats oder die auditive Wahrnehmung einer Melodie seien nichts weiter als eine Menge von Empfindungen von Quadratpunkten oder Tönen. Den Gestaltpsychologen zufolge macht man hier immer auch die Erfahrung eines Ganzen – einer Gestalt –, etwa einer ganzen Figur oder einer Melodie. Die Erfahrung besteht demnach nicht nur aus Empfindungen als Elementen, sondern auch daraus, wie diese Empfindungen organisiert sind. Allerdings führen die Gestaltpsychologen die Organisation der Empfindungen nicht auf den Einfluss von Theorien zurück. Vielmehr wurden hier zwei Ansätze verfolgt. Zum einen formulierte man Gesetze der Organisation, welche die Regularitäten erfassen sollten, nach denen Elemente eines perzeptuellen Feldes als Teile derselben Gestalt wahrgenommen werden. Hier wurden etwa die Gesetze der Nähe, der Ähnlichkeit, der guten Fortführung oder der Abgeschlossenheit vorgeschlagen. Demnach werden Elemente, die sich näher, ähnlicher etc. sind, eher als Teile desselben Ganzen wahrgenommen als entfernte oder unähnliche Elemente. Wie aus diesen Beispielen aber schon klar wird, nehmen diese Organisationsgesetze auf einfache geometrische Merkmale Bezug, die nicht theorieabhängig sind. Zum anderen gibt es einen physiologischen Ansatz, der das Zustandekommen der Gestaltwahrnehmung durch die Annahme zu erklären sucht, dass die perzeptuellen Stimuli im Gehirn zu komplexen elektrischen Feldern führen. Charakteristisch ist hierbei, dass die spontane Interaktion der Stimuli im Gehirn zur

37 38

möglich ist. Solche Gestaltwechsel, bei denen Bewegung und Ruhe von Objekten in einer Situation umklappen, kommen beispielsweise bei anfahrenden Zügen im Bahnhof häufig vor. Siehe E. Wright (1992). Von gleicher Art ist auch Churchlands Beispiel des Sehens der Ekliptik in Churchland 1979, 30ff. Allerdings bleibt in diesen Fällen sehr zweifelhaft, dass der Gestaltwechsel von theoretischen Annahmen abhängt. Siehe Hanson (1958), 180/181 und (1969), Kap. 9. Siehe hierzu Wertheimer (1921), Koffka (1935), Köhler (1947). Die folgende Darstellung orientiert sich insbesondere an Rock/ Palmer (1990).

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Gestaltwahrnehmung führen sollen, nicht aber dass theoretische Überzeugungen Einfluss nehmen würden.39 (iii) Helmholtz’sche Wahrnehmungstheorien Neben der Gestaltpsychologie werden auch andere wahrnehmungspsychologische Positionen zugunsten der Theorieabhängigkeit der Wahrnehmung angeführt. Kuhn etwa zitiert Arbeiten und Ansichten des sog. ‚New Look‘ und insbesondere Jerome Bruners, Churchland führt daneben auch Richard Gregory und Irvin Rock an.40 Die Positionen dieser Wahrnehmungspsychologen unterscheiden sich zwar in mancherlei Hinsichten, haben aber dennoch gemeinsam, dass sie sich einige zentrale Annahmen von Helmholtz zu eigen machen. Aufgrund dieser Annahmen sind sie zunächst viel besser für die Theorieabhängigkeit der Wahrnehmung in Anspruch zu nehmen als etwa die Gestaltpsychologie. Die Wahrnehmungstheorien aller genannten Autoren werden grundlegend durch die Überzeugung geprägt, dass die Sinneserfahrung (bzw. das ‚Perzept‘) durch den proximalen Reiz unterbestimmt ist. So sollen visuelle Erfahrungen durch die zugrunde liegenden Reize insbesondere der Netzhaut nicht vollständig festgelegt sein. Derselbe Reiz könnte von sehr verschiedenen wahrgenommenen Situationen herrühren. Veridische Wahrnehmungen dieser Situationen müssten dabei wieder verschieden sein, etwa indem die räumliche Anordnung oder die Einteilung des Gesichtsfelds in Objekte sowie in Vorder- und Hintergrund variiert, ohne dass der Reiz selbst anders sein wäre. Zudem ist der Reiz häufig viel schwankender und auch lückenhafter als die Sinneserfahrung. Beispielsweise wird die Netzhaut am blinden Fleck, an dem der Sehnerv zum Gehirn führt, nicht stimuliert, ohne dass im Sinneseindruck eine Lücke erscheint. Und schließlich präsentiert der Sinneseindruck Objekte und Eigenschaften, deren tatsächliche Gegenwart vom Reiz selbst her eigentlich gar nicht sicher ist. So sieht man, dass etwas eine Kiwi ist oder etwas aus Holz besteht, obwohl derselbe Reiz auch von einer Plastikkiwi oder einer Holzimitation herrühren könnte.41 Wie schafft es das visuelle System aber dann, ausgehend von einem Reiz, der oft mehrdeutig, schwankend, lückenhaft und nur beschränkt informationshaltig ist, zu einer Sinneserfahrung zu gelangen, die eine eindeutige, stabile und vollständige sowie reichhaltig informative Situation präsentiert? 39 40 41

Siehe Rock (1983), 32ff. Siehe Kuhn (1962), 232, Fn. 2.; Churchland (1988). Zu den Positionen siehe Bruner (1957); Gregory (1970) u. (1997); Rock (1983) u. (1984). Vgl. Gregory (1997), 1122.

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Die genannten Autoren schließen sich hier Helmholtz an und nehmen an, dass im Laufe des Wahrnehmungsprozesses unbewusste Schlüsse stattfinden. Die visuelle Erfahrung ist dieser Auffassung nach keine direkte, durch den Reiz bestimmte Folge. Vielmehr ist sie das Resultat einer inferenziellen Verarbeitung der Reize. In diese Schlüsse sollen neben den Reizen vielfältige weitere Annahmen etwa über die Situation und die Gegenstände einfließen können. Oft wird davon ausgegangen, dass das einfließende Wissen keiner natürlichen Beschränkung unterliegt, so dass im Prinzip sehr viel von dem, was das Subjekt glaubt, in die Reizverarbeitung eingehen kann. Zudem soll die Verarbeitung der Reize intelligent erfolgen. Wie beim Problemlösen sollen die möglichen Verarbeitungsschritte nicht starr festgelegt sein, sondern verschiedenen Strategien folgen können. Die Aufgabe besteht hierbei darin, angesichts des gegebenen Reizes und aufgrund des vorhandenen Wissens die wahrscheinlichste Beschaffenheit der wahrgenommenen Situation zu ermitteln. Die Sinneserfahrung stellt insofern eine ‚Hypothese‘ über die Situation dar: Sie ist nicht vollständig sicher, indem sie über den Reiz hinausgeht, und impliziert etwa Prognosen über weitere Reize, die man unter bestimmten Umständen erhalten würde. Insgesamt wird der Wahrnehmungsprozess so als sehr ähnlich zu zentralen kognitiven Prozessen aufgefasst. Die Annahme ist dabei natürlich, dass das Problemlösen bzw. Hypothesenbilden im Fall der Wahrnehmung weitgehend unbewusst abläuft. Nur in Ausnahmefällen wie den Kippfiguren erfährt man direkter etwas über die in Erwägung gezogenen Alternativen. Besonders informativ können hier täuschende Erfahrungen sein. Die Bedingungen, unter denen eine Täuschung zustande kommt, könnten Aufschluss darüber geben, unter welchen Bedingungen und in welchem Umfang der Sinneseindruck von Wissen beeinflusst wird. Hierbei kann man Einsichten gewinnen, die Schlüsse darauf erlauben, wie die kognitive Reizverarbeitung im Allgemeinen funktioniert. Gregory bespricht beispielsweise die Täuschung, der man unterliegt, wenn man eine Maske eines menschlichen Gesichts von verschiedenen Seiten betrachtet.42 Wenn man die Maske von vorne bzw. außen anschaut, erscheint sie wie gewöhnlich als konvex, d.h. nach außen gebogen. Aber auch, wenn man in die hohle Innenseite der Maske schaut, sieht sie unter vielen Umständen konvex aus. Diese Täuschung tritt selbst dann auf, wenn der Reiz einige Hinweise (‚cues‘) dafür enthält, dass die Oberfläche tatsächlich konkav ist, etwa indem man (aus einiger Entfernung) mit beiden Augen schaut oder Schatten auf die tatsächliche Form hinweisen. Gregory schließt, dass die 42

Siehe Gregory (1997), 1122/1123.

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frühere Erfahrung mit Gesichtern, die immer konvex waren, zu einer so starken Voreingenommenheit des visuellen Systems zugunsten der konvexen Oberfläche führen, dass sich dieser Eindruck trotz entgegenstehender Reize durchsetzen kann. In dieser Erklärung des Sinneseindrucks wird also Wissen über ähnliche Gegenstände, das aus früheren Erfahrungen stammt, in Anspruch genommen. An Positionen dieser Art sind für die Theorieabhängigkeit der reichhaltigen Wahrnehmungsinhalte vor allem zwei genauere Aspekte interessant: (1) Wie groß sind die relativen Beiträge, die Reiz und Wissen zur Bestimmung des perzeptuellen/ visuellen Eindrucks machen? (2) Ist das einfließende Wissen implizit oder explizit?

Zu diesen Fragen sind zunächst mehrere Positionen denkbar. Zur ersten Frage könnte man Positionen formulieren, die von einem fast dominierenden Einfluss des Reizes bis zu einem dominanten Einfluss von bestehenden Annahmen reichen. Zudem könnte man bezüglich verschiedener Inhalte eine unterschiedliche Relevanz von Reiz und Wissen behaupten. Es liegt nahe, für eher sinnliche Inhalte, die den grundlegenden Aufbau des visuellen Felds ausmachen, eine größere Rolle für den Reiz vorzusehen. Für die perzeptuelle Klassifikation von Objekten gemäß reichhaltigen Kategorien würde dann Wissen eine verstärkte Rolle spielen. In Bezug auf die zweite Frage könnte man einerseits behaupten, dass explizit ausdrückbare Überzeugungen oder bewusste Erwartungen, die beispielsweise durch sprachliche Mitteilungen kurzfristig etabliert werden könnten, einen Einfluss auf die visuelle Verarbeitung ausüben. Andererseits könnte man das relevante Wissen für weitgehend stillschweigend (‚tacit‘) oder dem Bewusstsein oder bewussten Entscheidungen oder Mitteilungen nicht direkt zugänglich auffassen. Für diesen Fall werden häufig mindestens zwei Möglichkeiten genannt. Das Wissen bzw. die Annahmen könnten in Form allgemeiner Regeln zur Verarbeitung von Stimuli implizit sein.43 Oder es könnte sehr spezifisch nur bestimmte Arten von Gegenständen oder sogar einzelne Gegenstände betreffen. Solches Wissen könnte in die perzeptuelle Klassifikation von Eigenschaften, Arten oder Individuen einfließen. Damit eine Helmholtz’sche Wahrnehmungstheorie für die Theoriebeladenheit in Anschlag gebracht werden kann, müssen beide Fragen beantwortet 43

Als ein Beispiel für Wissen in der Stimulus-Verarbeitung kommt etwa die Berücksichtigung des einfachen geometrischen Gesetzes in Frage, dass für einen gegebenen Sehwinkel die tatsächlich Größe eines Gegenstands proportional zum Abstand ist. Siehe etwa Rock (1984), 16ff. u. 229.

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und die Position somit präzisiert werden. Dies ist aber nicht einfach. Es müssen jeweils einzelne Phänomene wie etwa Täuschungen untersucht und hierfür die möglichen alternativen Erklärungen erprobt werden. Wie Gregory (1997) aber bemerkt, gibt es für viele Täuschungen keine innerhalb der Wahrnehmungspsychologie allgemein akzeptierten Erklärungen.44 Bei der ersten Frage ist klar, dass die Theorieabhängigkeit der Wahrnehmungen umso stärker ausfallen kann, je größer der Einfluss bestehenden Wissens ist. Philosophen wie Paul Churchland, die für die Theorieabhängigkeit der Wahrnehmung argumentieren, gehen daher oft von einer eher geringen Rolle des Reizes aus. Allerdings ist diese Einschätzung auch unter Wahrnehmungspsychologen, die insgesamt eine Helmholtz’sche Position vertreten, keineswegs bestehender Konsens. Während Gregory und Bruner eher eine dominierende Rolle der einfließenden Annahmen gegenüber dem Reiz annehmen,45 betont Rock die Rolle des Reizes in der Beschränkung möglicher Alternativen.46 Hinsichtlich der zweiten Frage gibt es starke Hinweise dafür, dass bewusste Annahmen oder explizite Mitteilungen über die Beschaffenheit der Wahrnehmungsobjekte in der Regel nicht dafür ausreichen, um die Wahrnehmung zu beeinflussen.47 So gilt für fast alle Täuschungen, dass sie stabil sind gegenüber dem expliziten Wissen darum, dass es sich um Täuschungen handelt. Der Eindruck unterschiedlich langer Striche in der Müller-Lyer-Täuschung oder auch der Eindruck, dass ein ins Wasser gehaltener Stab geknickt ist, werden durch das Wissen um ihren täuschenden Charakter nicht beeinflusst.48 44

45 46

47

48

Für die Müller-Lyer-Täuschung gibt es beispielsweise Ansätze, die die Täuschung durch erworbenes Wissen über häufig vorkommende räumliche Strukturen erklären (Gregory 1970), aber auch Vorschläge, die Illusion auf die Struktur der rezeptiven Felder und eine folgende, modular festgelegte kognitive Verarbeitung zurückzuführen (Bermond/ van Heerden 1996). Siehe Gregory (1997), 1127; Bruner (1957). Siehe Rock (1983), Kap. 11 u. (1984), 230/231. Rock hält Wahrnehmung zwar für intelligentes Schlussfolgern, geht aber in vielen Fällen von einer engen Beschränkung der zur Verfügung stehenden Wissensbasis aus. Hierbei bleibt die Möglichkeit außer Betracht, dass das Verständnis dessen, was man eigentlich sieht, von explizitem Wissen und entsprechenden Mitteilungen abhängen kann, wie dies in Punkt (i) erwogen wird. Mehr hierzu siehe auch im nächsten Kapitel. Siehe Rock (1984), 228 u. (1985). Siehe hier auch eine Diskussion einzelner Fälle, in denen ein Einfluss expliziten Wissens möglich erscheint. Vgl. auch Fodor (1984) für diesen Punkt bzgl. der Müller-Lyer-Täuschung. Zwar geht Bruner in einer Studie über Farbwahrnehmungen von einem Einfluss expliziter Annahmen aus. Siehe Bruner/ Postman/ Rodrigues (1951). Kuhn hat diese Studie als einer der Belege dafür angeführt, dass die Wahrnehmung mit theoretischen Annahmen variiert. Siehe Kuhn (1962), 233. Die genauen Ergebnisse dieser Studie sind

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Auch für den Erwerb der Fähigkeit, Dinge einer Art in der Wahrnehmung als solche zu erkennen, reichen explizite Mitteilungen in der Regel nicht aus, wenn sie hierbei natürlich auch eine wichtige Rolle spielen können. Vielmehr muss man die Fähigkeit in der Regel dadurch erwerben, dass man die Dinge wahrnimmt und man mit ihnen umgeht. (Vgl. Kap. 7, Abschn. 3.) Es ergeben sich daher auch auf der Grundlage einer Helmholtz’schen Auffassung von Wahrnehmungen keine überzeugenden Belege dafür, dass explizite Hinweise und bewusste Annahmen einen starken Einfluss auf die kognitive Genese reichhaltiger visueller Erfahrungen ausüben. Eine Begründung der Theorieabhängigkeitsthese ist vor dem Hintergrund einer Helmholtz’schen Wahrnehmungstheorie aber nicht darauf festgelegt, dass bewusste Annahmen unmittelbar die kognitive Verarbeitung beeinflussen. Eine Theorieabhängigkeit könnte auch dadurch zustande kommen, dass unbewusste, etwa stillschweigende theoretische Voraussetzungen die Wahrnehmung beeinflussen oder bestimmte Weisen der kognitiven Verarbeitung sich in Abhängigkeit von einem theoretischen Hintergrund ausbilden. Demnach hängt es vom theoretischen Hintergrund ab, wie man wahrzunehmen lernt. Damit sich so eine Theorieabhängigkeit ergibt, die die Objektivität von Beobachtungen in Frage stellen könnte, dürfen das Wissen oder die relevanten Lernprozesse aber nicht allen normalen Beobachter gemeinsam sein. Daher würde der Einfluss von Wissen, das angeboren ist oder von allen im Laufe der normalen Entwicklung erworben wird, nicht für eine Theorieabhängigkeit sprechen. Damit sich aus der skizzierten Position der Wahrnehmungstheorie eine Abhängigkeit der Wahrnehmung von theoretischem Wissen ergibt, muss man davon ausgehen, dass die perzeptuelle Verarbeitung von Reizen erstens auf Annahmen zurückgreift, in denen sich verschiedene Beobachter unterscheiden. Zweitens müssen diese Unterschiede auf den theoretischen Hintergrund dieser Beobachter zurückzuführen sein. Churchland und Kuhn sind aber gerade der Ansicht, dass beide Punkte zutreffen.49 Beide vertreten die Idee, dass die Wahrnehmung von längerfristigen Lernprozessen tiefgreifend geprägt wird. Diese Lernprozesse sollen durch theoretische Hintergründe überhaupt erst ermöglicht werden und vor verschiedenen Hintergründen so unterschiedlich ablaufen, dass dies in gleichen Situationen häufig zu unvereinbaren reichhaltigen Wahrnehmungen führt.50

49 50

aber unklar, und die Experimente wurden auch methodisch kritisiert. Siehe hierfür Gilman (1992). Siehe Churchland (1979), § 4, und (1988), 179. Als Beleg werden u. a. die Versuche mit invertierenden Linsen angeführt, in denen Versuchspersonen gelernt haben, sich mit einer Brille, die das Bild auf den Kopf stellt,

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Kuhn hat eine Wahrnehmungstheorie vorgeschlagen, die im Kern helmholtzianisch ist, und die verständlich machen soll, wie Novizen einer Wissenschaft im Laufe ihres Studiums lernen, unmittelbar gemäß den theoretischen Kategorien ihrer Disziplin wahrzunehmen.51 Wichtig sind für diese Theorie zunächst die Auffassungen Kuhns darüber, wie typische wissenschaftliche Kategorien beschaffen sind. Kuhn vertritt hier eine Form der PrototypenSemantik. Seiner Auffassung nach werden viele wissenschaftliche Kategorien durch Musterbeispiele sowie ein Bündel von Ähnlichkeitsrelationen gebildet. Ein Gegenstand gehört demnach einer Kategorie an, wenn er den Musterbeispielen in einer ausreichenden Anzahl von Hinsichten ähnlich ist. Wissenschaftler verfügen über diese Kategorien, indem sie die Musterbeispiele kennen und die Ähnlichkeit von Gegenständen hierzu einschätzen können. Allerdings sieht Kuhns Theorie vor, dass den Wissenschaftlern für die Einschätzung, ob etwas hinreichend ähnlich ist, die genauen Hinsichten, in denen die Ähnlichkeit bestehen muss, nicht explizit klar zu sein brauchen. Für die Fähigkeit dieser Einschätzung reicht es, wenn sie stillschweigendes Wissen über die erforderlichen Hinsichten der Ähnlichkeit besitzen. Kuhns Wahrnehmungstheorie verknüpft den Helmholtz’schen Ansatz mit dieser Auffassung wissenschaftlicher Kategorien. Perzeptuelle Erfahrungen werden als Ergebnis unbewusster Schlüsse aus Reizen und stillschweigendem Wissen (insbesondere über Kategorien) aufgefasst. Wissenschaftler sehen Kuhn zufolge üblicherweise etwas als einer bestimmten wissenschaftlichen Kategorie angehörend, weil in ihre perzeptuelle Verarbeitung stillschweigendes Wissen um die Musterbeispiele und Ähnlichkeitsbeziehungen für diese Kategorie einfließen. Zentral für unser Thema ist hierbei Kuhns Vorstellung dazu, wie dieses Wissen üblicherweise im Laufe der wissenschaftlichen Ausbildung erworben wird. Der Novize wird hierfür mit Musterbeispielen und mit Aufgaben zur Klassifikation weiterer Fälle konfrontiert. Indem man seine Vorschläge zur Klassifikation gutheißt oder korrigiert, erwirbt er das notwendige stillschweigende Wissen um die Kategorien seiner Disziplin. Seine Wahrnehmung wird so, in Kuhns Worten, „programmiert“.

51

zurechtzufinden. (Siehe Churchland 1988, 176; Kuhn 1962, 124.) Allerdings ist hierbei problematisch, dass dem Versuchsaufbau zufolge die Versuchspersonen gerade nicht unterschiedliche, sondern (trotz verschiedener Reize) gleichartige Wahrnehmungen haben. A forteriori kommen in diesem Experiment keine unterschiedlichen reichhaltigen Wahrnehmungen vor. Für die folgenden Annahmen zu Ähnlichkeitsklassen und dem Erwerb der entsprechenden Fähigkeiten zur perzeptuellen Klassifikation siehe Kuhn (1962), 199-209 sowie Kuhn (1974). Für eine detailliertere Rekonstruktion dieser Ansichten Kuhns einschließlich ihrer historischen Entwicklung siehe Hoyningen-Huene (1989), Kap. 3.

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Aus diesen Annahmen ergeben sich recht unmittelbar sowohl die schwache als auch die starke Variante der Theorieabhängigkeit der Wahrnehmung von theoretischen Kategorien. Denn die Kategorien, in denen der wissenschaftliche Novize wahrzunehmen lernt, werden durch die wissenschaftliche Gemeinschaft vorgegeben, der er beitritt. Im Erwerb der Fähigkeit zur Klassifikation wird man durch Musterbeispiele und Klassifikationen geleitet und korrigiert, die schon in der wissenschaftlichen Gemeinschaft etabliert sind und einen Teil des leitenden Paradigmas ausmachen. Man erwirbt die Fähigkeit gerade so und deshalb, weil die Ähnlichkeitsklasse schon zum wissenschaftlichen Erkenntnisstand gehört. Da man diesen Lernprozess ohne eine anleitende wissenschaftliche Gemeinschaft nicht durchläuft, hängt es von schon bestehenden Paradigmen ab, dass man die Fähigkeiten der perzeptuellen Klassifikation überhaupt erwirbt. Wahrnehmen in wissenschaftlichen Kategorien ist daher schwach theorie- bzw. paradigmenabhängig. Kuhn vertritt auch die Auffassung, dass alternative Paradigmen abweichende Ähnlichkeitsklassen einschließen und so Vertreter verschiedener Paradigmen gleiche Situationen unterschiedlich wahrzunehmen lernen.52 Eine solche starke Form der Theorieabhängigkeit wird durch die Kuhn’sche Theorie des wissenschaftlichen Wahrnehmens und des Lernens gestützt. Denn im gleichen Umfang, in dem sinnliche Erfahrungen nicht durch Reiz und universelle Annahmen bestimmt sind, sondern durch spezifisch erlerntes Wissen beeinflusst werden, können verschiedene Theorien in gleichen Situationen zu verschiedenen reichhaltigen Wahrnehmungen führen. Wie Kuhn zugesteht, sind diese Annahmen zur Struktur wissenschaftlicher Kategorien und zum Erwerb und der Weitergabe entsprechender Fähigkeiten der perzeptuellen Klassifikation substanziell und bedürfen vielfältiger, auch empirischer Begründung. Ich werde aber erst an späterer Stelle (Kap 7, Abschn. 2) auf die Fragen zurückkommen, was gegen diese Theorie spricht und welche theoretischen Alternativen es gibt. (iv) Belege aus der Wissenschaftsgeschichte Kuhn führt eine ganze Reihe von Fällen aus der Wissenschaftsgeschichte an, in denen er aufgrund von Veränderungen im theoretischen Hintergrund eine Veränderung oder Erweiterung der unmittelbaren Wahrnehmungen der Wissenschaftler auszumachen glaubt.53 Einige der Beispiele sprechen in der Weise, wie sie von Kuhn dargestellt werden, für die schwache Form der Theorieabhängigkeit. In diesen Fällen scheint es, dass bestimmte Phänomene 52 53

Siehe Kuhn (1962), 212. Für die folgenden Fälle siehe Kuhn (1962), 127-132. Siehe auch ebenda S. 212.

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in einer reichhaltigen oder genauen Weise erst aufgrund einer Änderung der Hintergrundtheorien wahrgenommen wurden, sei es, indem diese Hintergrundtheorien solche Wahrnehmungen eher erwarten ließen, sei es, dass damit Beschränkungen der Erwartungen, die frühere Theorien auferlegt hatten, wegfielen. So sollen den europäischen Astronomen lange Zeit viele Veränderungen am Himmel – wie die Entstehung neuer Sterne oder die Sonnenflecken – entgangen sein, weil Himmelskörper gemäß der vorherrschenden astronomischen Theorie als unveränderlich galten. Diese Phänomene wurden dagegen in China, wo es keinen derartigen theoretischen Hintergrund gab, registriert. Erst nachdem in der Folge von Kopernikus Veränderungen am Himmel möglich erschienen, wurden sie entdeckt.54 Kuhn führt aber auch Fälle für starke Theorieabhängigkeit an. Im Zuge der kopernikanischen Wende wurden auch schon bekannte Himmelskörper neu klassifiziert. Dies schlägt sich Kuhn zufolge auch in den unmittelbaren Wahrnehmungsinhalten nieder. Zum einen gibt es Fälle, in denen Himmelskörper nach der kopernikanischen Wende als zu einer anderen Kategorie gehörend gesehen wurden, etwa Mond und Sonne nicht mehr als Planeten, sondern als Satellit bzw. Zentralgestirn. Zum anderen veränderte sich das Verständnis von Kategorien, etwa das Verständnis der Kategorie ‚Planet‘, als zu der gehörend etwa der Jupiter gesehen wurde. Kuhn gibt weitere Beispiele solcher Varianz der Wahrnehmung. So führt er die Beobachtung elektrostatischer Anziehung und Abstoßung an. Kleine Spreu-Partikel bewegen sich erst auf elektrostatisch aufgeladene Körper zu und dann nach einem Kontakt von ihnen weg. Im frühen 17. Jahrhundert wurde vor dem Hintergrund der Ausdünstungstheorie, die die elektrische Anziehung zu erklären suchte, vor allem die Bewegung hin zum aufgeladenen Körper als elektrisches Phänomen betrachtet, wohingegen die Abstoßung meist als Abprallen oder Herunterfallen der Partikel vom aufgeladenen Körper gesehen wurde.55 Kuhn zufolge führte auch die chemische Revolution zu Wahrnehmungsänderungen, indem etwa Stoffe wie mercurius calcinatus (Quecksilberoxid), die bislang als elementare Erde galten und so gesehen wurden, von da an als zusammengesetztes Erz wahrgenommen wurden. Schließlich sieht Kuhn zufolge ein aristotelischer Physiker bei einem Stein, der an einem Faden aufgehängt schwingt, wie ein fallender Körper – durch 54

55

In ähnlicher Weise beschreibt Kuhn Veränderungen im Bereich der elektrischen Phänomene: „Die im frühen achtzehnten Jahrhundert sichtbaren elektrischen Phänomene waren sowohl feiner wie auch mannigfaltiger als die von Beobachtern im siebzehnten Jahrhundert gesehenen“ (Kuhn 1962, 130). Ebenso soll Galilei am Pendel neue Eigenschaften zuerst gesehen haben (Kuhn 1962, 131). Vgl. Roller/ Roller (1957), 553.

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einen Faden gehindert, – bloß allmählich zur Ruhe kommen kann. Galilei habe dagegen einen Körper gesehen, der die gleiche Bewegung beinahe ad infinitum wieder und wieder ausführt. Kuhn gibt damit sicherlich Fälle an, in denen sich die wissenschaftlichen Auffassungen von einzelnen Phänomenen, die als solche wahrnehmbar sind, im Zuge eines theoretischen Wandels veränderten. Die Fälle lassen sich in die schon angedeuteten Gruppen einteilen. Zum einen werden neue, verfeinerte oder erweiterte Annahmen über die Phänomene akzeptiert. Zum anderen wird die Klassifikation verändert. Hierbei gibt es wiederum zwei Gruppen. Erstens werden Dinge aufgrund des theoretischen Wandels in anderen Kategorien klassifiziert (Abprallen oder Abstoßen von Spreuteilchen, gehemmter Fall oder Pendelbewegung). Zweitens verändert sich in einigen Fällen theoretisch bedingt das Verständnis der Kategorie. Es ist aber zu fragen, ob und in welcher Form diese veränderte Auffassung der wahrnehmbaren Phänomene sich auch in einer Veränderung der Wahrnehmung niederschlägt. Im Falle etwa der Beobachtungen von Veränderungen am Himmel könnte man versuchen, die Akzeptanz der neuen empirischen Befunde auf andere Faktoren als eine veränderte sinnliche Wahrnehmung zurückzuführen. Vielleicht waren die Veränderungen schon vorher wahrnehmbar, wurden aber ignoriert, weil die Wahrnehmungen nicht für verlässlich gehalten wurden oder die Annahme solcher Veränderungen gefährlich war. Man müsste hier also genauer nachweisen, dass die Annahme, tatsächlich hätten sich die Wahrnehmungen verändert, die historischen Befunde am besten erklärt.56 Aber auch wenn man die Kuhn’sche Erklärung akzeptiert, der zufolge die veränderten Auffassungen über die Phänomene auf theoretisch veränderte Wahrnehmungen zurückführbar sind, zeigt sich in den Beispielen doch einiges, das in der Auffassung (und der Wahrnehmung) konstant bleibt. Hierzu ist die Unterscheidung zwischen einem Wechsel zwischen Kategorien und einem verändertem Verständnis einer Kategorie in perzeptueller Klassifikation zu beachten. Zwar führen beide Prozesse in gewisser Weise zu einer Veränderung der Kategorie, als zu der gehörend etwas klassifiziert wird. In denjenigen Fällen aber, in denen sich lediglich das Verständnis der Kategorie ändert, kann es eine wichtige Kontinuität in den Fähigkeiten geben, die in der perzeptuellen Klassifikation zum Einsatz kommen. So ist es im Fall des mercurius calcinatus plausibel anzunehmen, dass die Fähigkeit, Proben des roten, grobkörnigen Stoffs perzeptuell als zu dieser Kategorie gehörig zu erkennen, 56

Vgl. Kuhn (1962), 126/127 zu den Schwierigkeiten, historische Belege für solche Wahrnehmungsänderungen zu finden.

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unabhängig davon ist, ob man den Stoff als elementare Erde oder als zusammengesetztes Oxid auffasst. In diesem Sinne ist die Fähigkeit perzeptueller Klassifikation theorieunabhängig, auch wenn sich das Verständnis der Kategorie verändert. In den Fällen, in denen ein Ding theoretisch bedingt in einer anderen Kategorie klassifiziert wurde – Himmelskörper, elektrostatische Abstoßung, Pendel – scheint es dagegen plausibel anzunehmen, dass eine andere perzeptuelle Klassifikation konstant geblieben ist. Man sieht den Mond jetzt zwar als Satellit, aber man sieht ihn natürlich weiterhin als Mond. Dies legt nahe, dass nach der kopernikanischen Wende dieselbe perzeptuelle Fähigkeit zum Einsatz kommen konnte wie vorher, wenn es darum ging, den Mond zu identifizieren, d.h. ihn aus der Menge der sichtbaren Himmelskörper herauszugreifen. Auch hier bleibt eine zentrale begriffliche Fähigkeit, die den Inhalt der Wahrnehmung zum Teil bestimmt, vom theoretischen Wandel unberührt. Die anderen Fälle scheinen ähnlich gelagert zu sein. Diese Überlegungen zum Ausmaß theoretisch induzierter Änderungen perzeptueller Klassifikationen und zur möglichen Theorieunabhängigkeit von Fähigkeiten perzeptueller Klassifikation möchte ich aber erst in Kapitel 7 wieder aufnehmen. Jetzt werde ich zunächst untersuchen, ob die bisher vorgetragenen Gründe für die Theorieabhängigkeit, wenn man sie soweit als stichhaltig akzeptiert, die Objektivität von Beobachtungen in Frage stellen. 5. Sind Wahrnehmungen trotz der Theorieabhängigkeit der begrifflichen Prägung objektiv? a) Schwache Theorieabhängigkeit und Objektivität Es wurde eine Reihe von Gründen für die Begriffsthese und die Abhängigkeitsthese formuliert. Die Thesen waren: 1. Die unmittelbaren perzeptuellen Erfahrungen sind durch Begriffe geprägt, insbesondere auch durch reichhaltige Begriffe, die nicht bloß rein sinnliche Eigenschaften bezeichnen. (Begriffsthese) 2. Die begriffliche Prägung wissenschaftlich relevanter Wahrnehmungen hängt in der Regel vom wissenschaftlich-theoretischen Hintergrund des Beobachters ab. (Abhängigkeitsthese)

Für die erste These sprechen vor allem unsere Praxis der Zuschreibung von Sehen-als und Sehen-dass sowie der introspektiv zugängliche Charakter sinnlicher Erfahrungen (Abschn. 2 u. 3). Für die zweite These wurden sprachphilosophische, wahrnehmungstheoretische und wissenschaftshistorische Gründe diskutiert (Abschn. 4). Damit sind jetzt die Formen der Theoriebeladenheit genauer formulierbar, die dadurch gestützt werden.

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Zudem kann geprüft werden, ob diese Formen einen Pessimismus stützen. Machen diese Formen der Theoriebeladenheit es wahrscheinlich, dass ein pessimistisches Unterbestimmtheits-Szenario möglich wird, dass also mindestens zwei alternative, weitgehend unvereinbare und systematisch tugendhafte Theorien so ihre empirische Basis beeinflussen können, dass sie in gleichen Situationen gleich gut empirisch gestützt werden?57 Zuerst komme ich zur schwachen Variante der Theorieabhängigkeit. Wenn man die Punkte (i) bis (iv) (entsprechend den obigen Unterabschnitten) so akzeptiert, wie sie sich nach der bisherigen Diskussion darstellen, ergibt sich eine plausible Begründung dafür, dass es oft von theoretischem oder wissenschaftlichem Wissen abhängt, ob man reichhaltige Wahrnehmungen überhaupt machen kann. So legt Punkt (i) dar, dass man zumindest grundlegendes explizites Wissen über die Arten besitzen muss, für die man über perzeptuelle begriffliche Fähigkeiten verfügt. Dieses Wissen kann alltäglich oder wissenschaftlich sein, ist aber theoretisch in dem minimalen Sinn, dass grundlegende Eigenschaften und kausale Dispositionen der Objekte spezifiziert werden. Die gestaltpsychologischen Befunde aus Punkt (ii) zeigen zwar, dass es Fälle wie die Suchbilder gibt, in denen reichhaltige Wahrnehmungen durch ausdrückliche Hinweise zumindest erleichtert werden können. Allerdings sind die Wahrnehmungen häufig auch ohne die Hinweise möglich. Zudem ist die Analogie der Beispiele zu wissenschaftlich relevanten Fällen zweifelhaft. Und die wahrnehmungstheoretische Position der Gestaltpsychologie stützt nicht die Annahme der Theorieabhängigkeit. Helmholtz’sche Wahrnehmungstheorien (Punkt iii) sind dagegen mit der Theorieabhängigkeit gut vereinbar. Die grundlegende Auffassung hier ist, dass der Reiz den Inhalt der Sinneserfahrung nur partiell festlegt und dass Wissen in die kognitive Reizverarbeitung einfließt. Wenn man diese Grundidee in der Weise ausarbeitet, wie dies Kuhn getan hat, ergibt sich eine Position, derzufolge man viele reichhaltige Wahrnehmungen nur dann machen kann, wenn man einer Gemeinschaft angehört, die über klassifikatorisches Wissen bezüglich der Arten und Gegenstände verfügt und so die entsprechenden perzeptuellen Klassifikationen lehren kann. So wird verständlich, wie stillschweigende theoretische Annahmen in Wahrnehmungen eingehen können, die ohne einen solchen Hintergrund nicht möglich wären. Die einfließenden Annahmen sind theoretisch in dem Sinn, dass sie eine Klassifikation von Dingen in Arten einschließen. In der Wissen57

Die andere Möglichkeit, den Pessimismus durch Theorienbeladenheit zu stützen – indem diese unwahrscheinlich macht, überhaupt eine überwiegend wahre Theorie zu formulieren (siehe Kap. 1, Abschn. 3c) – scheidet hier aus. Denn eine mögliche heuristische oder semantische Rolle von Beobachtungen, die für diese Stützung der Theoriebeladenheit diskutiert werden muss, wurde in diesem Kapitel gar nicht angesprochen.

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schaftsgeschichte (Punkt iv) finden sich schließlich Fälle und Episoden, die sich unter der Annahme verstehen lassen, dass reichhaltige Wahrnehmungen durch bestimmte theoretische Hintergründe zumindest erleichtert werden, die andernfalls nicht oder nur schwer möglich sind. Insgesamt ergibt sich aus den dargestellten Gründen so die folgende Position zur schwachen Variante der Theorieabhängigkeit reichhaltiger Wahrnehmungsinhalte: Dass man in den Situationen S1 bis Sn die reichhaltigen Wahrnehmungen W1 bis Wn überhaupt macht, hängt in der Regel davon ab, a) dass man einiges explizites theoretisches Wissen aus einer Theorie T bezüglich der reichhaltigen begrifflichen Inhalte von W1 bis Wn besitzt (Punkte i und iv), und b) dass man stillschweigende theoretische Annahmen aus T erworben hat (Punkt iii).

Um einschätzen zu können, ob aus dieser Position die wahrscheinliche Möglichkeit pessimistischer Unterbestimmtheits-Szenarien folgt, muss man der Voraussetzung Hansons folgen, dass alle Beobachtungen als evidenziell relevante Wahrnehmungen beschreibbar sind. Dann ist vor dem Hintergrund dieser Annahme die Frage zu stellen: Folgt aus der schwachen Theorieabhängigkeit solcher Beobachtungen die wahrscheinliche Möglichkeit pessimistischer Szenarien, oder wird die Objektivität der Beobachtungen hierdurch nicht in Zweifel gezogen? Einem pessimistischen Unterbestimmtheits-Szenario zufolge können mehrere, weitgehend unvereinbare, systematisch tugendhafte Theorien zu einem Gegenstandsgebiet durch Beobachtungen gut empirisch gestützt werden.58 Nur aus der schwachen Variante der Theorieabhängigkeit erhält man aber keine guten Gründe für die wahrscheinliche Möglichkeit pessimistischer Szenarien. Denn die schwache Variante besagt nur, dass ohne einen bestimmten theoretischen Hintergrund T in einer Menge von Situationen S1 bis Sn die reichhaltigen Wahrnehmungen W1 bis Wn gar nicht möglich wären. Angenommen, diese Hintergrundtheorie T (oder eine damit vereinbare Variante) ist sowohl systematisch tugendhaft als auch durch die schwach theorieabhängigen Wahrnehmungen W1 bis Wn sowie eventuell durch weitere Wahrnehmungen W1* bis Wn*, die keinen theoretischen Hintergrund erfordern, gut empirisch gestützt. Dann ist es aber unmöglich, dass eine weitgehend unvereinbare, systematisch tugendhafte Alternative T’ wegen der schwachen Theoriebeladenheit durch Wahrnehmungen in den Situationen S1 bis Sn ebensogut empirisch gestützt ist. Denn entweder stehen dieser Alterna58

Vgl. Kap. 1, Abschn. 3c.

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tive nur die Wahrnehmungen W1* bis Wn* zur Verfügung, nicht aber die Wahrnehmungen W1 bis Wn, wenn nämlich diese vor dem Hintergrund von T’ nicht möglich sind. Dann ist die empirische Basis von T’ ärmer als die von T, und T’ kann dann nicht ebenso gut empirisch gestützt sein wie T. Oder T’ stehen dieselben reichhaltigen Wahrnehmungen W1 bis Wn zur Verfügung. Wenn diese Wahrnehmungen aber zwei alternative, unvereinbare und systematisch tugendhafte Theorien stützen, kann dies nicht an ihrer Theoriebeladenheit liegen. Die Theoriebeladenheit ermöglicht gerade eine inhaltlich reichere empirische Basis, sie macht daher die Stützung unvereinbarer Theorien gerade unwahrscheinlicher. Dieses Ergebnis hängt nicht davon ab, auf welche Weise eine schwache Theoriebeladenheit zustande kommt, sondern gilt allgemein. Wenn Theoriebeladenheit nur darin besteht, dass bestimmte Theorien in bestimmten Situationen eine Menge reichhaltiger Wahrnehmungen W1 bis Wn ermöglichen, die andernfalls nicht zu Verfügung stehen würden, zieht dies die Objektivität von Beobachtungen nicht in Zweifel. Denn im Kern wird dadurch die empirische Basis der Wissenschaften gerade erweitert. Dies führt dazu, dass alternative Theorien entweder eine unterschiedlich umfangreiche empirische Basis haben (wenn einer, aber nicht beiden Theorien die Erweiterung zu Verfügung steht), oder aber die Möglichkeit theoretischer Varianz bei empirischer Adäquatheit durch die Theoriebeladenheit gerade eingeschränkt wird (indem beide Theorien mit einer größeren Menge empirischer Daten vereinbar sein müssen). Damit alternative Theorien wegen der Theoriebeladenheit gleich gut empirisch gestützt sein können, muss die Theorieabhängigkeit daher offensichtlich zu alternativen Mengen reichhaltiger Wahrnehmungen führen. Solche alternativen Mengen von Wahrnehmungen gibt es aber gemäß der starken Variante der Theorieabhängigkeit. b) Starke Theorieabhängigkeit und Pessimismus Wenn man die oben dargestellten Gründe so akzeptiert, wie sie aus der Diskussion hervorgingen, stützen sie auch die starke Variante der Theorieabhängigkeit. Sie lassen es erwarten, dass alternative theoretische Hintergründe in denselben Situationen oft zu unterschiedlichen, unvereinbaren reichhaltigen Wahrnehmungen führen. Hansons Punkt (i) zufolge führen unterschiedliche explizite Annahmen darüber, von welcher Sorte ein wahrgenommenes Ding wie die Sonne oder eine wahrgenommene Art ist, zu unterschiedlichen Wahrnehmungsüberzeugungen. Die relevanten Annahmen können hierbei wissenschaftlicher oder alltäglicher Art sein. Die Beispiele für Gestaltwandel in Punkt (ii) zeigen zwar, dass Wahrnehmung im Prinzip variabel ist. Man

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kann von denselben Dingen verschiedene Wahrnehmungen machen, die in einigen ihrer Inhalte unvereinbar sind, in anderen aber dennoch übereinstimmen können. Aber die Übertragung der Befunde auf gewöhnliche wissenschaftliche wie alltägliche Fälle erscheint problematisch, und auch die allgemeine wahrnehmungstheoretische Position der Gestaltpsychologie stützt die Theorieabhängigkeit nicht. Dagegen bietet eine Helmholtz’sche Wahrnehmungstheorie (Punkt iii) auch für die starke Variante der Theoriebeladenheit eine plausible Grundlage. Der Position zufolge wird der Inhalt der Sinneserfahrung nur partiell durch den Reiz selbst festgelegt. Für viele, insbesondere reichhaltige Inhalte wie der Klassifikation der Wahrnehmungsobjekte nach alltäglichen oder wissenschaftlichen Arten muss zusätzliches Wissen hinzukommen. Kuhns Vorschlag macht deutlich, wie es denkbar wird, dass alternative Klassifikationen eines Gegenstandsgebiets durch verschiedene wissenschaftliche Gemeinschaften zum Erlernen unvereinbarer perzeptueller Klassifikationen bei neuen Mitgliedern dieser Gemeinschaften führt. Auch die historischen Beispielfälle Kuhns (Punkt iv) sollen veränderte reichhaltige Wahrnehmungsinhalte aufgrund theoretischen Wandels darstellen, indem entweder Objekte anders klassifiziert werden oder sich das Verständnis der Kategorien ändert. Insgesamt ergibt sich daraus die folgende starke Variante der Abhängigkeitsthese: Welche alternativen reichhaltigen Wahrnehmungen W1 bis Wn oder W’1 bis W’n (oder W”1...) man in den Situationen S1 bis Sn macht, hängt zumeist davon ab, a) ob man explizite theoretische Überzeugungen gemäß der Theorie T oder T’ (oder T”...) hat (Punkte i und iv), und b) ob man stillschweigende theoretische Annahmen gemäß T oder T’ erworben hat (Punkt iii).

Demnach können die Mengen von Wahrnehmungen, die man vor dem Hintergrund alternativer Theorien macht, aufgrund von Theoriebeladenheit weit divergieren. Obwohl sowohl Hanson als auch Kuhn im Kern eine Position wie diese vertreten, ist nur Kuhn ausdrücklich pessimistisch bezüglich der wissenschaftlichen Erkenntnisaussichten.59 Ihm zufolge führt der wissenschaftliche Fortschritt zwar in der Regel zu einer erhöhten Fähigkeit, wissenschaftliche Probleme zu lösen. Aber die Wissenschaft nähert sich seiner Ansicht nach weder im Bereich der beobachtbaren noch dem der unbeobachtbaren Gegenstände und Arten einer objektiv wahren Beschreibung an. Vielmehr werden nachfolgende Stadien einer Disziplin das Gegenstandsgebiet oft als von ganz

59

Siehe Kuhn (1962), Kap. 12, 182 u. 216-218.

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anderen Arten, Eigenschaften und Objekten bevölkert auffassen, als dies vorhergehende getan haben. Kuhn bleibt zudem nicht bei alternativen Beschreibungen stehen. Er reifiziert diese Beschreibungen aufeinander folgender wissenschaftlicher Gemeinschaften, indem er behauptet, dass sich in der Entwicklung einer Disziplin nicht nur die als bestehend betrachteten Arten und Eigenschaften, sondern auch diese Arten und Eigenschaften selbst ändern. Wie das Gegenstandsgebiet einer Disziplin tatsächlich beschaffen ist, soll demnach vom gerade herrschenden Paradigma und damit auch von theoretischen Grundüberzeugungen abhängen. Kuhn vertritt daher im Kern auch eine ontologische Version der Theorieabhängigkeit: Die Untersuchungsobjekte einer Disziplin werden demnach durch den theoretischen Hintergrund mit konstituiert, der bei denjenigen vorherrscht, die gerade diese Disziplin betreiben. Zwar kann man einen Pessimismus auch direkt durch eine solche Annahme der Theorieabhängigkeit der Welt stützen. Wenn man die ontologische Version der Theorieabhängigkeit vertritt, ist es zu einem Pessimismus nicht mehr weit. Die Möglichkeit mehrerer alternativer Paradigmen innerhalb einer Disziplin, die untereinander weitgehend unvereinbar, aber alle empirisch erfolgreich sind, wird schon dadurch wahrscheinlich, dass die verschiedenen Paradigmen in den Bereichen sowohl des Beobachtbaren als auch des Unbeobachtbaren unterschiedliche Gegenstände haben sollen. Auch wenn Kuhn die mögliche Varianz der Gegenstandsbereiche nicht für total hält, scheint klar, dass mehrere empirisch erfolgreiche, aber untereinander weitgehend unvereinbare Paradigmen möglich werden. Aber erstens stützt man den Pessimismus, wenn man ihn durch eine ontologische Abhängigkeitsthese begründet, gerade nicht auf die Theoriebeladenheit von Beobachtungen. Daher gehört eine solche Argumentation nicht eigentlich zum Gegenstand dieser Untersuchung. Zweitens ist diese Form der Stützung des Pessimismus wenig überzeugend. Der Pessimismus folgt aus der ontologischen Theorieabhängigkeit, weil man von ungemein starken Annahmen über die theoretische Konstitution der wissenschaftlichen Gegenstände ausgeht. Diese Annahmen sind für sich genommen aber ungewöhnlich und wenig attraktiv. Denn üblicherweise fasst man einen Gegenstand oder einen Gegenstandsbereich, also einen Teil der Welt, als von unseren Erkenntnisbemühungen unabhängig auf. Es macht wenig Sinn, die Welt als Gegenstand der Forschung von den Erkenntnissubjekten zu unterscheiden, wenn man hierbei gleich eine Abhängigkeit der Welt von ihrer Erkenntnis einbaut. Dies liegt sicherlich daran, dass die ontologisch wie epistemologisch attraktivste Vorstellung einer Welt realistisch und optimistisch ist: Sie vereint die Vorstellung, dass die Welt unabhängig

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von unserer Erkenntnis besteht, mit der Erwartung, dass diese Welt für uns als solche erkennbar ist. Crispin Wright hat dies so ausgedrückt: The unique attraction of realism is the nice balance of feasibility and dignity that it offers to our quest for knowledge. ... We want the mountain to be climbable, but we also want it to be a real mountain, not some sort of reification of aspects of ourselves. (Wright 1987, 25)

Es ist daher abwegig, einen epistemischen Pessimismus auf einen unmotivierten ontologischen Relativismus zu stützen. An manchen Stellen scheint auch Kuhn dies zuzugestehen, indem er selbst den ontologischen Relativismus mit der Unerkennbarkeit subjektunabhängiger Gegenstände begründet. So schreibt er zur chemischen Revolution: Lavoisier [sah] als Ergebnis der Entdeckung des Sauerstoffs die Natur anders. Und da er keinen Zugang zu dieser hypothetischen feststehenden Natur hatte, die er jetzt ‚anders sah‘, zwingt uns das Prinzip der Ökonomie zu sagen, dass Lavoisier, nachdem er den Sauerstoff entdeckt hatte, in einer anderen Welt arbeitete. (Kuhn 1962, 130)

Daher würde vielleicht auch Kuhn der methodischen Einschätzung zustimmen, dass eine ontologische Theorieabhängigkeit bestenfalls das Ergebnis erkenntnistheoretischer Überlegungen sein kann, nicht aber eine Voraussetzung davon. Die ontologische Theorieabhängigkeit kann daher nicht zur Begründung des Pessimismus herangezogen werden. Die starke Variante der Theorieabhängigkeit der Wahrnehmung kann aber einen Pessimismus begründen. Wenn man hier wieder wie im vorigen Unterabschnitt vereinfachend davon ausgeht, dass die gesamte empirische Basis der Wissenschaften in der eben ausformulierten Weise von einem theoretischen Hintergrund abhängt und mit diesem variiert, ergibt sich folgende Situation. Für verschiedene theoretische Hintergründe T, T’ etc. erhält man in den gleichen Situationen S1 bis Sn sehr verschiedene Wahrnehmungen W1 bis Wn, W’1 bis W’n etc. Die Varianz der Wahrnehmungen ist zwar etwas eingeschränkt, indem die Situationen immer zu den gleichen proximalen Reizen führen. Aber die Wahrnehmungen gehen inhaltlich weit über diese Reize hinaus, und insbesondere die Klassifikation und Identifikation gemäß alltäglichen oder wissenschaftlichen Arten hängt von den theoretischen Annahmen ab, die in die Wahrnehmung einfließen. Diese Klassifikationen können daher für verschiedene theoretische Hintergründe stark abweichen und so zu weit divergierenden Beobachtungsbasen führen. Dies macht die Möglichkeit eines pessimistischen Unterbestimmtheits-Szenarios wahrscheinlich. (Vgl. Kap. 1, Abschn. 3c.) Demnach ist es wahrscheinlich, dass es mehrere alternative, weitgehend unvereinbare Theorien gibt, die sowohl systematisch tugendhaft

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sind als auch durch die von ihnen beeinflusste Beobachtungsbasis gut empirisch bestätigt erscheinen. Nun wird diese Form der Theorieabhängigkeit sicherlich nicht zur Folge haben, dass jeder beliebige theoretische Hintergrund im Lichte der von ihm beeinflussten Wahrnehmungen schon als optimal empirisch bestätigt herauskommt. Denn trotz der theoretischen Beeinflussung können die Wahrnehmungen den theoretischen Vorhersagen widersprechen. So kann zwar eine Theorie dazu führen, dass ein wahrgenommenes Objekt als zu einer Art gehörend klassifiziert wird, die in den Gesetzen der Theorie vorkommt. Dennoch könnte das Vorliegen eines Objekts dieser Art just zu diesem Zeitpunkt oder an dieser Stelle den durch die Gesetzeshypothesen genährten Erwartungen widersprechen. Allerdings zeigt dies nicht mehr, als dass Beobachtungen trotz der starken Variante der Theorieabhängigkeit effektiv (im Sinn des Kapitels 2) sein können, etwa indem sie für die geprüften Theorien ein Fehlschlagsrisiko darstellen. Wie im vorigen Kapitel gezeigt, heißt dies jedoch noch nicht, dass die Beobachtungen auch objektiv sind, indem sie die Möglichkeit pessimistischer Szenarien unwahrscheinlich machen. Zudem braucht nicht jeder optimal empirisch bestätigte theoretische Hintergrund auch systematisch tugendhaft zu sein. Auch über die systematischen Tugenden ergibt sich daher eine Möglichkeit, die Unterbestimmtheit der Theorien durch theoriebeladene Beobachtungen einzuschränken. Allerdings ist die anfängliche Zahl denkbarer theoretischer Hintergründe in einem Bereich sicherlich sehr groß und übersteigt die Menge der tatsächlich vorgeschlagenen Theorien bei weitem. Damit man optimistisch sein kann, muss man annehmen, dass hierunter mindestens eine Theorie gibt, die systematisch tugendhaft und durch von ihr abhängige Wahrnehmungen gut empirisch gestützt ist. Denn andernfalls gibt es gar keinen Kandidaten für eine optimistische Einschätzung. Entscheidend ist dann, ob es nur eine solche Theorie (bzw. nur unwesentliche Varianten davon) gibt, die empirisch gestützt und systematisch tugendhaft ist. Bei theorieabhängig weit divergierenden Beobachtungen ist dies unwahrscheinlich. Die Existenz einer solchen Theorie legt nahe, dass es keine grundsätzlichen Hürden dafür gibt, eine theorieabhängige Beobachtungsmenge in eine systematisch tugendhafte Theorie zu integrieren. Dies lässt erwarten, dass es auch für einige alternative Beobachtungsmengen solche Theorien gibt. Da die Beobachtungsmengen aber weit divergieren können, werden wahrscheinlich auch die erklärenden Theorien weitgehend unvereinbar sein.

3. Theoriebeladene Wahrnehmungen

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Man muss daher davon ausgehen, dass die starke Variante der Theorieabhängigkeit von Wahrnehmungen und ihrer begrifflichen Prägung in der Form und unter den Voraussetzungen, wie sie hier diskutiert wurden, tatsächlich den Optimismus gegenüber wissenschaftlichen Theorien stark in Zweifel zieht. Denn sie lässt die Möglichkeit pessimistischer UnterbestimmtheitsSzenarien als wahrscheinlich erscheinen. Damit man gegenüber den Erkenntnisaussichten der Wissenschaften optimistisch sein kann, muss man daher zeigen, dass diese Form der Theoriebeladenheit nicht in der Weise oder dem Umfang besteht, wie es hier angenommen wurde und wofür hier Gründe vorgetragen wurden. Bevor ich aber hierzu in Teil III komme, sollen zuerst noch weitere Versionen der These der Theoriebeladenheit formuliert und die dafür anzuführenden Gründe vorgestellt werden. Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde eine Position zur Theoriebeladenheit von Wahrnehmungen systematisch entwickelt und kritisch diskutiert, wie sie vor allem von Hanson und Kuhn vertreten wird. Dabei hat sich erstens gezeigt, dass Wahrnehmungen in der Regel begrifflich geprägt sind. Hierbei habe ich zwischen einer Prägung durch Klassifikationsfähigkeiten (Sehen-als) und einer durch weiter gehende semantische Fähigkeiten (Sehen-dass) unterschieden (Abschn. 2). Die begrifflichen Fähigkeiten, die unmittelbar in der Wahrnehmung eingesetzt werden, sind hierbei nicht auf sinnliche Eigenschaften (Farbe, Form, etc.) beschränkt, sondern betreffen auch reichhaltigere Eigenschaften, Arten und Individuen (Abschn. 3). Zweitens wurde deutlich, dass viele Gründe, die für die Theorieabhängigkeit dieser begrifflichen Prägung vorgebracht werden, kritisch zu beurteilen sind (Abschn. 4b). Die Befunde und die wahrnehmungstheoretische Position der Gestaltpsychologie stützen keine nennenswerte Theoriebeladenheit von Wahrnehmungen. Und von den wissenschaftshistorischen Fällen, die vor allem Kuhn vorbringt, ist zweifelhaft, dass sie sich nicht ebenso gut ohne die Annahme einer theorieabhängigen Varianz der Wahrnehmung beschreiben lassen. Demgegenüber ist eine Helmholtz’sche Wahrnehmungstheorie mit der Theoriebeladenheit gut verträglich. Wenn man diese Theorie in der von Kuhn vorgenommenen Weise ausgestaltet, lässt sie eine massive Theorieabhängigkeit erwarten. Allerdings werden damit substanzielle Annahmen über die menschliche Wahrnehmung gemacht, die vielfältiger empirischer Prüfung bedürfen. Die ausführlichere Diskussion dieser Annahmen wurde auf Kapitel 7 verschoben. Eine weitere Argumentationsstrategie für die Theorieabhängigkeit der begrifflichen Prägung, die von der theoretischen Konstitution der Begriffe ausgeht, wird im Zentrum des nächsten Kapitels stehen.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Drittens wurde diskutiert, in welcher Weise die Theoriebeladenheit von Wahrnehmungen einen Pessimismus stützen kann. Dabei ist es wichtig, zwischen zwei Formen der Theoriebeladenheit zu unterscheiden (Abschn. 4a). Durch schwache Theoriebeladenheit, die bloß zu einer theorieabhängigen Erweiterung der Menge der Beobachtungen führt, lässt sich der Pessimismus nicht stützen (Abschn. 5a). Demgegenüber werden pessimistische Unterbestimmtheits-Szenarien wahrscheinlich möglich, wenn bei starker Theoriebeladenheit die Beobachtungsmengen für alternative Theorien weit divergieren können (Abschn. 5b).

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Kapitel 4: Die syntaktische Theorie der Beobachtungen 1. Einleitung In diesem Kapitel soll es um eine Position zur Theoriebeladenheit der Beobachtung gehen, die in zentralen Punkten auf Paul Feyerabend zurückgeht und von Paul Churchland weiter ausgearbeitet wurde. Wie im vorigen Kapitel werde ich mich in der Rekonstruktion aber wieder daran orientieren, eine aus systematischer Sicht möglichst interessante Position zu formulieren. Weitere Überlegungen der Autoren zur Theoriebeladenheit werden, soweit sie nicht schon im vorigen Kapitel angesprochen wurden, im nächsten Kapitel behandelt werden. Die Position wird grob durch die folgenden beiden Thesen charakterisiert, die im Vergleich zur Position des vorigen Kapitel sowohl allgemeiner als auch inhaltlich stärker sind: 1. Beobachtungen sind im Allgemeinen als Prozesse auffassbar, die zu Sätzen als wissenschaftlich relevantem Produkt führen. 2. Die Bedeutung der Begriffe in Beobachtungssätzen wird durch das Netz theoretischer Überzeugungen bestimmt, in dem diese Begriffe stehen.

Die Thesen sind zunächst allgemeiner als die des vorigen Kapitels, weil sie nicht auf Wahrnehmungen beschränkt sind, sondern alle Formen der Beobachtung betreffen. So sollen sie insbesondere auch für Beobachtungen mit Hilfe von Messgeräten gelten. Die Allgemeinheit der Thesen wird möglich, weil Feyerabend und Churchland ein generelles Modell für Beobachtungen zugrunde legen, das eine einheitliche Beschreibung aller Beobachtungen sowie eine generelle Argumentation für ihre Theorieabhängigkeit erlauben soll. Diesem Modell zufolge sind Beobachtungssätze das in allen Fällen wissenschaftlich relevante Ergebnis eines Beobachtungsprozesses. Dieses Modell für Beobachtungen, das in der ersten These angedeutet ist, werde ich in Abschnitt 2 ausführen und diskutieren. Die Theorieabhängigkeit von Beobachtungen soll sich dann gemäß der zweiten These vor allem durch die theoretische Bestimmung der Bedeutung von Beobachtungssätzen ergeben. Die hier von den Autoren vertretene semantische Theorie, eine Begriffliche-Rollen-Semantik bzw. NetzwerkSemantik, und die dafür vorgebrachten Gründe werde ich in Abschnitt 3 diskutieren. Feyerabend bezeichnet das Bild von Beobachtungen, das sich so insgesamt ergibt, als „pragmatische Theorie der Beobachtung“.1 Wie aus den Ausfüh1

Siehe Feyerabend (1962), 36.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

rungen in diesem Kapitel deutlich werden wird, ist die Bezeichnung „syntaktische Theorie“ aber angemessener. Denn im Kern wird der Beitrag von Beobachtungen zur wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung auf die Festlegung der Syntax von Beobachtungssätzen beschränkt. Im letzten Abschnitt wird zu fragen sein, ob und auf welche Weise diese Position einen Pessimismus stützt. Diese Position zur Theorieabhängigkeit von Beobachtungen ist stärker als die des vorigen Kapitels. Der Position zufolge wird der gesamte Inhalt dessen, was an Beobachtungen wissenschaftlich bedeutsam ist, durch Theorien festgelegt. Die Position des vorigen Kapitels sah dagegen vor, dass der Inhalt von Beobachtungen partiell empirisch und partiell theoretisch festgelegt ist. Die dort angeführten Gründe stützen nur diese schwächere Fassung. Inbesondere ist eine Wahrnehmung gemäß einer Helmholtz’schen Wahrnehmungstheorie zum einen zwar durch bestehende (theoretische) Annahmen, zum anderen aber durch die Sinnesreize kausal bestimmt. Für die Position dieses Kapitels wird dagegen nicht die kausale Genese von Beobachtungsergebnissen angeführt, sondern die Konstitution ihres Inhalts. Es wird zum einen angenommen, dass Theorien den Inhalt von Beobachtungssätzen vollständig konstituieren. Zum anderen sollen neben Beobachtungssätzen keine anderen Stufen oder Produkte von Beobachtungsprozessen wissenschaftlich bedeutsam sein. Zwar wird eine Netzwerk-Semantik nicht nur von Feyerabend und Churchland, sondern auch von Hanson und Kuhn für die Theoriebeladenheit von Beobachtungen angeführt.2 Aber nur die erstgenannten Autoren nehmen eine vollständige theoretische Determination der Beobachtungsinhalte an. Daher ist verständlich, wenn Feyerabend seine Position von solchen anderen abgrenzt, indem er schreibt:3 [O]bservations (observation terms) are not merely theory-laden (the position of Hanson, Hesse and others) but fully theoretical (observation statements have no ‚observational core‘). (Feyerabend 1981, x; Feyerabends Hervorhebungen.)

Um die Diskussion überschaubar zu halten, werde ich in diesem Kapitel eine besondere Dimension von Beobachtungen außer Acht lassen. Beobachtungsergebnisse können Hypothesen nur prüfen und haben so Auswirkungen auf die Annahme wissenschaftlicher Theorien, wenn sie wissenschaftlich auch als gültig akzeptiert sind und insbesondere für verlässlich gehalten werden. Eine solche Einschätzung der Verlässlichkeit stellt eine zusätzliche Hürde für die epistemische Wirksamkeit von Beobachtungen dar. Die Theoriebeladen2 3

Für Hanson siehe Kap. 3, Abschn. 4b(i); siehe Kuhn (1970), 258ff. Vgl. Churchland (1979), 21/22.

4. Die syntaktische Theorie der Beobachtungen

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heit, die sich aus dieser Einschätzung ergeben kann, werde ich erst im nächsten Kapitel diskutieren. 2. Ein allgemeines Modell für Beobachtungen Feyerabend und Churchland vertreten eine einfache Ansicht darüber, was Beobachtungen im Allgemeinen sind.4 Demnach sind Beobachtungen Kausalprozesse, die von Umständen der Welt über variable Zwischenzustände zu Sätzen (bzw. genauer zu Satztoken) führen. Die Sätze werden zudem als einzige Resultate der Beobachtungsprozesse in Betracht gezogen, die für eine weitere wissenschaftliche Verwendung relevant sein können. Sätze sind hierbei in sehr weitem Sinn zu verstehen; wie wir sehen werden, betrachten Feyerabend und Churchland bei verschiedenen Beobachtungsarten recht unterschiedliche Dinge als Sätze. Zentral ist jeweils, dass die Beobachtungsergebnisse eine syntaktische Struktur haben und dass ihr Inhalt begrifflich und insgesamt wahrheitswertfähig, also propositional, ist. Interessant ist hier zunächst, wie diese allgemeine Konzeption von Beobachtungen zu den verschiedenen Arten von Beobachtungen passt, die in den Wissenschaften vorkommen. Feyerabend und Churchland nehmen vor allem zwei Typen von Prozessen in den Blick, die (in einem weiten Sinn) als Beobachtungen gelten können, erstens die Feststellung irgendwelcher Sachverhalte mit Hilfe von Messgeräten und zweitens die sinnliche Wahrnehmung von etwas. Wichtig ist dabei, dass Beobachtungen mit Messgeräten als Modell auch für Beobachtungen durch Wahrnehmungen aufgefasst werden. Zentrale Aspekte von Messungen finden sich Feyerabend und Churchland zufolge auch bei Wahrnehmungen. Eine Beobachtung mit Hilfe eines Messgeräts (etwa eines Strommessgeräts oder eines Quecksilberthermometers) lässt sich oft in mindestens zwei Schritte einteilen. Erstens führt ein kausaler Prozess vom (vermeintlichen) Untersuchungsgegenstand über innere Zustände des Messgeräts zu einem sichtbaren Zustand dieses Geräts, etwa einem Zeigerstand oder einer bestimmten Höhe der Quecksilbersäule. Zweitens muss dieser Zustand interpretiert werden, etwa als „Es fließt ein Strom von 5 mA“ oder „Temperatur 20°C“. In diesem zweiten Schritt wird also dem sichtbaren Zustand des Messgeräts ein Satz (bzw. eine Proposition) zugewiesen. Dieser Satz ist dann als wissenschaftlicher Befund verwertbar. Zwar fallen in der Praxis beide Schritte oft zusammen. In der Regel benutzt man Geräte, deren Skala schon beschriftet ist. Viele Geräte arbeiten auch 4

Für das Folgende siehe Feyerabend (1958), Abschn. 2; Feyerabend (1962), 36-39; Feyerabend (1975), 92-96; Churchland (1979), Kap. 2, insbes. §5.

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digital und zeigen als sichtbare Zustände sowieso nur Sätze (oder Teilsätze) an, ein digitales Amperemeter beispielsweise „5mA“. Die Trennung der beiden Schritte ist aber analytisch sinnvoll. Denn man muss Messgeräte zuerst kalibrieren, indem man eine Skala anbringt oder einstellt, und man kann sie auch rekalibrieren, indem man beispielsweise die Beschriftung der Skala ändert. Messgeräte, die nicht kalibriert sind, führen zwar oft zu sichtbaren Zuständen, diese sind aber als solche wissenschaftlich nicht verwendbar. Erst die Abbildung der Zustände auf Sätze macht den ablaufenden Prozess zu einem, dessen Ergebnis wissenschaftlich als Beobachtung verwertbar ist. Im Fall der Rekalibrierung bleiben die Abläufe im ersten Teil des Prozesses unverändert, aber die Zuordnung zu Sätzen wird neu vorgenommen. In gleicher Weise ändert sich der potenzielle Beitrag der Beobachtung zur Forschung.5 Beim zweiten Schritt selbst kann man wiederum zwei Aspekte unterscheiden. Zum einen wird einem Zeigerstand ein Satz, bloß syntaktisch spezifiziert, zugewiesen. Zum anderen hat dieser Satz eine bestimmte Bedeutung. Wenn man eine Skala mit den Ausdrücken ‚5 ... 10 ... 15 mA‘ beschriftet, haben die Ausdrücke zwar bereits eine Bedeutung. Diese kann sich aber ändern, etwa indem man zu einem neuen Verständnis von Stromstärke kommt. Dann ändert sich die Bedeutung der Sätze, die produziert werden; davon bleibt aber der Prozess, der im Messgerät bis zu den bloß syntaktisch spezifizierten Sätzen abläuft, unberührt. Man könnte diese Auffassung so veranschaulichen: Messung:

...

Zeigerstand

Beobachtungssatz || Interpretation

Ein wissenschaftlich relevantes Ergebnis erhält man erst, indem man dem Zeigerstand einen Beobachtungssatz zuordnet, der eine Interpretation hat. Dabei macht sich die Zuordnung zunächst nur an der Syntax des Satzes fest. Auch wenn sich das Verständnis der Ausdrücke ändert, bleibt die Relation zwischen Zeigerstand und Beobachtungssatz bestehen, solange man nicht die Beschriftung des Geräts ändert. Man könnte einwenden, dass in dieser Beschreibung von Beobachtungen mit Messgeräten mindestens drei Aspekte fehlen. Erstens möchte man nicht beliebige zugeordnete Sätze wirklich wissenschaftlich als Beobachtungen gebrauchen. Vielmehr ist man an solchen Sätzen interessiert, die verlässlich die Umstände angeben, die man mit Hilfe der Messung untersuchen möchte. Man muss daher einschätzen, durch welche Kalibrierung das Gerät zuverläs5

Vgl. Feyerabend (1962), 36/37 u. Churchland (1979), 38.

4. Die syntaktische Theorie der Beobachtungen

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sig funktioniert. Feyerabend und Churchland ziehen diesen Aspekt in Betracht, ich werde ihn aber hier weitgehend heraushalten. Denn eine solche Einschätzung der Zuverlässigkeit ist in der Regel selbst wieder von theoretischem Wissen abhängig. Wie schon angekündigt, möchte ich diese Form der Theorieabhängigkeit im nächsten Kapitel separat betrachten. Zweitens könnte man einwenden, dass auch uninterpretierte Messgerätszustände häufig schon gehaltvoll sind. Hierbei könnte man auf Dretskes Explikation der Information, die ein Signal trägt, zurückgreifen. Demnach trägt ein Messgerätszustand grob gesprochen die Information, dass ein bestimmter Sachverhalt besteht, sofern es nomologisch notwendig ist, dass der Sachverhalt besteht, wenn das Gerät in diesem Zustand ist.6 Demnach steht ein bestimmter Zeigerstand beispielsweise für die Stromstärke von 5mA, wenn er nur durch einen solchen Strom verursacht werden kann. Dieser Inhalt ist unabhängig davon, ob die Skala auch entsprechend beschriftet ist. Aber auch wenn man diese Zuschreibung von Inhalten akzeptiert,7 ist offensichtlich, dass diese Inhalte von Zeigerständen als solche wissenschaftlich nichts austragen. Zeigerstände sind als solche ‚stumm‘, wie Churchland es ausdrückt.8 Man muss erst versuchen, die Ursache des Zeigerstands explizit zu machen, um zu einem wissenschaftlich verwendbaren Ergebnis zu gelangen. Das bedeutet aber gerade, dass man den Zeigerstand interpretiert. Drittens muss jemand die Sätze auf dem kalibrierten und skalierten Messgerät auch ablesen, damit sie wirklich wissenschaftlich wirksam werden können. Dieser Schritt wird von Feyerabend und Churchland meist übergangen, was aber meiner Einschätzung nach nicht dazu führt, das entworfene Bild nutzlos zu machen. Das Ablesen selbst ist meist unproblematisch. Das kallibrierte Messgerät zeigt mehr oder weniger deutlich einen Satz an. Bei digitalen Geräten muss man ihn einfach lesen. In anderen Fällen muss man ihn aus Zeigerstand und Skala rekonstruieren. In beiden Fällen liegt aber das eigentliche Beobachtungsergebnis schon begrifflich gefasst vor. Daher macht es guten Sinn, nur den Messprozess als wesentlichen Bestandteil des Beobachtungsprozesses aufzufassen und das Ablesen hier außer Betracht zu lassen. (Zur Abgrenzung von Ablesen und Beobachten siehe auch Kapitel 6, Abschn. 2a.) Der solcherart analysierte Messprozess dient Feyerabend und Churchland als Modell, um auch Wahrnehmungen deskriptiv zu erfassen. Ihnen zufolge sind bei Wahrnehmungen – zumindest insoweit sie wissenschaftliche Beob6 7 8

Siehe Dretske (1981); vgl. Beckermann (2001), 334/335. Churchland erkennt grundsätzlich solche Inhalte an. Siehe die Unterscheidung von objektiver und subjektiver Intentionalität, Churchland (1979), 14. Siehe Churchland (1979), 38.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

achtungen sein können – ebenfalls zwei Teilprozesse unterscheidbar. Der erste Teilprozess führt von (vermeintlichen) Umständen der Welt über Reizungen der Sinnesorgane zu Empfindungen („sensations“). Diesen Empfindungen werden dann im zweiten Teilschritt ‚Beobachtungssätze‘ zugeordnet.9 Zunächst ist es hilfreich, sich etwas mehr Klarheit darüber zu verschaffen, was die Autoren unter Empfindungen und Beobachtungssätzen verstehen. Dann kann man verdeutlichen, welches allgemeine Bild von Beobachtungen sich aus der Analogie von Wahrnehmungen und Messungen ergibt. Feyerabend und Churchland lassen keine Zweifel daran, dass sie Empfindungen als rein sinnliche Zustände auffassen, die zunächst nur durch ihre phänomenale Qualität charakterisiert sind, d.h. durch die Weise, wie es sich anfühlt, sie zu haben.10 Dies bedeutet, dass erstens Empfindungen bewusste Aspekte des Wahrnehmungsprozesses sein sollen, zweitens Empfindungsarten durch rein intrinsische Eigenschaften individuiert werden. Dieses Verständnis von Empfindungen lässt es offen, welche Inhalte eine Wahrnehmung hat, die von bestimmten Empfindungen begleitet wird. Wie wir sehen werden, sind Feyerabend und Churchland der Ansicht, dass Empfindungen weder selbst Inhalte besitzen noch durch ihren phänomenalen Charakter etwas zum Inhalt der Wahrnehmungen beitragen. Als zweites Element des Wahrnehmungsprozesses machen Feyerabend und Churchland Beobachtungssätze aus. Zwar vertritt Churchland auch die Ansicht, dass die Kategorie ‚Beobachtungssatz‘ letztlich inadäquat ist und durch eine andere Kategorie ersetzt werden muss. Wie sich aber zeigen wird, verändert diese zusätzliche Annahme die gegenwärtig diskutierte Position nicht grundlegend. Vorkommnisse von Beobachtungssätzen sind in Feyerabends und Churchlands Bild von Wahrnehmungen zunächst kausale Produkte des Wahrnehmungsprozesses und folgen in diesem auf Empfindungen. Dabei sind sie aber in der Regel keine öffentlichen sprachlichen Äußerungen, 9

10

Siehe Feyerabend (1958), 7; Feyerabend (1961), 83; Churchland (1979), Kap. 2. Feyerabend (1962) spricht statt von Empfindungen auch von einem sich charakteristisch anfühlenden Drang, einen Satz zu äußern: „ ... the urge we feel under certain circumstances to say ‚I am in pain‘ and the peculiar character of this urge (it is different from the urge we feel when we say ‚I am hungry‘) ...“ (Feyerabend 1962, 38). Insbesondere Churchland spricht auch oft von Beobachtungsurteilen statt von Sätzen. Ich werde aber durchgehend von Sätzen sprechen, da das Verhältnis dieser Sätze gemäß Churchlands und Feyerabends Verständnis zu den Beobachtungsurteilen, wie sie in Kap. 3, Abschn. 2 besprochen wurden, problematisch ist. Hierzu gleich mehr. Siehe etwa Churchland (1979), 15, und Feyerabend (1962), die in der vorigen Fußnote zitierte Stelle.

4. Die syntaktische Theorie der Beobachtungen

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sondern mentale Zustände. Trotzdem werden sie im Übrigen weitgehend als Sätze im sprachlichen Sinn aufgefasst, d.h. man kann fragen, wie sie syntaktisch strukturiert sind, welche Bedeutung sie haben und wodurch diese festgelegt wird, und unter welchen Umständen wir dazu neigen, die Sätze zu produzieren. Wenn sie bedeutungsvoll sind, haben sie propositionalen Gehalt, d.h. ihr Inhalt ist begrifflich. Es lohnt sich, genauer zu fragen, was hier mit Beobachtungssatz gemeint ist. Zum einen kann man fragen, welche Aspekte der komplexen Phänomenologie von Wahrnehmungen damit beschrieben werden sollen. Zum anderen ist zu untersuchen, was mit dieser Beschreibung über Wahrnehmungen behauptet wird und wie adäquat dies ist. Ein Beispiel kann helfen festzustellen, welcher Aspekt der Wahrnehmung von Feyerabend und Churchland als Beobachtungssatz bezeichnet wird. Angenommen, es sieht für mich so aus, als wäre da ein Lindenbaum. Das heißt, ich habe bestimmte Empfindungen, überwiegend Lindgrün-Empfindungen. Ich sehe das Objekt meiner Wahrnehmung zudem als Lindenbaum, d.h. ich klassifiziere es perzeptuell entsprechend. Nehmen wir aber zusätzlich an, dass ich nicht perzeptuell urteile, dass da ein Lindenbaum ist. Denn ich weiß, dass ich mich in einem Freizeitpark befinde, in dem ausschließlich Plastikattrappen von Bäumen aufgestellt sind. Ich komme daher visuell zur Überzeugung, dass da eine Lindenbaum-Attrappe steht. Was ist in dieser Wahrnehmung der Beobachtungssatz? Es gibt hier zwei Optionen. Der ersten Option zufolge ist erst das eigentliche Beobachtungsurteil ein Beobachtungssatz, die zugrunde liegende und inhaltlich abweichende perzeptuelle Klassifikation ist kein solcher Satz. Dann ist aber Feyerabends und Churchlands Beschreibung von Wahrnehmungsprozessen durch Empfindung und Beobachtungssatz nicht erschöpfend. Sie lässt eine Stufe außer Acht, die gehaltvoll und daher erkenntnistheoretisch von außerordentlicher Bedeutung ist. Eine solchermaßen lückenhafte Beschreibung stellt aber keine brauchbare Grundlage für eine erkenntnistheoretische Diskussion von Beobachtungen dar. Man muss daher annehmen, dass Feyerabend und Churchland der zweiten Option folgen. Gemäß dieser Option stellt schon die perzeptuelle Klassifikation als Lindenbaum, also der Umstand, dass mir etwas wie ein Lindenbaum visuell erscheint, die Produktion eines Beobachtungssatzes dar.11 Möglicherweise wird man das abweichende Beobachtungsurteil als gesonderten Beobachtungssatz betrachten müssen, eher wird man es jedoch als Schluss aus dem zugrunde liegenden Beobachtungssatz und dem Wissen um die besondere 11

Vgl. hierzu Feyerabend (1975), 92/93.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Umgebung rekonstruieren. Wichtig ist aber, dass Feyerabend und Churchland davon ausgehen müssen, dass die Kategorie ‚Beobachtungssatz‘ den Inhalt perzeptueller Erfahrungen vollständig erfassen muss. Denn Inhalte von Wahrnehmungen sind ganz offensichtlich erkenntnistheoretisch bedeutsam, und die Autoren haben nur eine einzige Kategorie, um diese Inhalte zu beschreiben, die des Beobachtungssatzes. Dies muss im Folgenden im Auge behalten werden. Wenn es etwa um die Frage geht, wodurch der Inhalt von Beobachtungssätzen festgelegt wird, kann eine Position, die für Sätze im üblichen Sinn plausibel erscheint, sich als fragwürdig oder falsch herausstellen, wenn man sich klarmacht, was mit der Kategorie ‚Beobachtungssatz‘ eigentlich beschrieben wird. Feyerabend und Churchland zufolge macht sich die Kausalrelation zwischen Empfindungen und Satz zunächst an der Syntax des Satzes fest, sie besteht daher schon allein kraft der syntaktischen Eigenschaften der Sätze. Dies kann man zugeben, ohne der Debatte um die Semantik für Beobachtungssätze vorzugreifen, die im nächsten Abschnitt aufgenommen werden soll. Denn man kann hier die beiden Fragen unterscheiden, erstens woran sich die kausalen Relationen zwischen mentalen Zuständen festmachen, und zweitens, wodurch der Inhalt der mentalen Zustände festgelegt wird. Es ist nicht unplausibel (und alles andere als ungewöhnlich) anzunehmen, dass die kausalen Relationen zwischen mentalen Zuständen sich an deren syntaktischer Struktur festmachen. Diese Ansicht ist aber mit sehr unterschiedlichen semantischen Positionen vereinbar. Man kann einerseits der Ansicht sein, dass die kausalen Relationen die Bedeutung der Zustände mit festlegen. Andererseits kann man aber auch wie Feyerabend und Churchland behaupten, dass durch das Bestehen kausaler Relationen noch nichts über den Inhalt der Sätze festgelegt wird. Dann ist bei Wahrnehmungen wie bei Messgeräten zu erwarten, dass die Inhalte der Beobachtungssätze sich radikal ändern können, während deren Verursachungsrelationen bestehen bleiben. Wie schon angedeutet, vertritt Churchland auch die Ansicht, dass die gehaltvollen mentalen Wahrnehmungszustände letztlich nicht adäquat als Sätze beschrieben werden können, auch wenn er selbst diese Beschreibung häufig verwendet. Stattdessen sollten sie Churchland zufolge als mentale Repräsentationen im Sinne des Konnektionismus aufgefasst werden, die keine satzartige Struktur haben.12 Doch auch vor dem Hintergrund dieser Position ergibt sich, dass die mentalen Repräsentationen schon allein kraft ihrer strukturellen, nicht aber ihrer semantischen Eigenschaften in Kausalrelationen 12

Siehe etwa Churchland (1990). Mehr zum Churchland’schen Konnektionismus im nächsten Abschnitt.

4. Die syntaktische Theorie der Beobachtungen

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zu anderen mentalen Zuständen stehen. Zudem sollen die Inhalte der Repräsentationen auch in der konnektionistischen Variante begrifflich sein. Das Bild von Wahrnehmungen wird daher insofern von einer Festlegung auf satzartige oder konnektionistische mentale Repräsentationen nicht berührt. Insgesamt ergibt sich aus Feyerabends und Churchlands Auffassungen zu Messungen und Wahrnehmungen das folgende allgemeine Bild von Beobachtung. Beobachtungsprozesse führen zu Beobachtungssätzen. Im Fall von Wahrnehmungen folgen die Beobachtungssätze auf Empfindungen, bei Messungen auf Zustände des Messgeräts. Die kausale Relation macht sich aber zunächst nur an den syntaktischen Eigenschaften der verursachten Sätze fest. Wodurch die Bedeutung der Sätze festgelegt wird, muss gesondert entschieden werden. Es ist aber denkbar, dass sich die Bedeutung von Sätzen ändert, während die Kausalrelationen bestehen bleiben. Das oben skizzierte Bild soll sich demnach auf alle Beobachtungen anwenden lassen: Beobachtung: ...

Zeigerstand/ Empfindung

Beobachtungssatz || Interpretation

Dieses Bild ermöglicht zunächst die Auszeichnung eines besonderen Teils des wissenschaftlichen Vokabulars als Beobachtungsvokabular. Ein Ausdruck gehört demnach für eine wissenschaftliche Gemeinschaft zum Beobachtungsvokabular, wenn er – grob gesagt – in den Beobachtungssätzen vorkommt, die durch Messgeräte oder Beobachter der Gemeinschaft produziert werden. Feyerabend fügt einige zusätzliche Bedingungen an,13 aber für unsere Zwecke ist vor allem wichtig, dass Beobachtungsvokabular wie Beobachtungssätze bloß durch kausale Verknüpfungen spezifiziert werden und nicht etwa durch semantische Kriterien (als Ausdrücke, die Inhalte besonderer Art haben). Aus Feyerabends und Churchlands Bild von Beobachtungen ergeben sich zwei Weisen, auf die Beobachtungen theorieabhängig sein können. Erstens könnten Theorien beeinflussen, welche Sätze überhaupt in der Folge von Empfindungen oder Zuständen des Messgeräts produziert werden. Demnach wäre der Prozess der Produktion der Beobachtungssätze theorieabhängig. Zweitens kann es von Theorien abhängen, welche Bedeutung die Beobachtungssätze haben.14 13

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Dies sind Einhelligkeit für die Beobachter einer Gemeinschaft, Schnelligkeit der Produktion des Satzes bei ihnen und kausale Abhängigkeit der Produktion von der Situation. Siehe Feyerabend (1958), Abschn. 2. Es ist zusätzlich denkbar, dass Theorien auch beeinflussen, welche Empfindungen man in bestimmten Situationen hat. Feyerabend und Churchland halten eine solche Abhän-

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Es ist sicherlich plausibel, für Messgeräte die erste Form der Theorieabhängigkeit anzunehmen. Messgeräte muss man explizit skalieren, d.h. den Zeigerständen etc. Sätze zuordnen. Und diese Zuordnung wird sicherlich im Lichte all dessen vorgenommen, was man über den Gegenstandsbereich und das Messgerät zu wissen glaubt. Theoretische Annahmen können hierbei eine zentrale Rolle spielen. Insgesamt wird es darum gehen, dem Messgerät Sätze (mit Bedeutungen) so zuzuweisen, dass die Beobachtungen möglichst verlässlich sind. Diese Form der Theoriebeladenheit werde ich im nächsten Kapitel genauer besprechen. Es ist weniger klar, ob dasselbe auch für Wahrnehmungen gilt. Feyerabend und Churchland gehen davon aus, dass die kausalen Relationen zwischen Empfindungen und Beobachtungssätzen im Wesentlichen aufgrund von Lernprozessen so bestehen, wie sie es tun. Soweit diese Lernprozesse dann vor verschiedenen theoretischen Hintergründen verschieden ablaufen, wäre mit (starker) Theorieabhängigkeit zu rechnen. Die Rede von Sätzen mag dies nahe legen, indem suggeriert wird, dass konventionelle sprachliche Ausdrücke kausal mit Empfindungen verknüpft werden müssen. Dies ist allerdings eine Stelle, an der Vorsicht geboten ist. Denn tatsächlich ist hier von mentalen Zuständen die Rede. Es ist weit weniger klar, dass theorieabhängig erlernt wird, mentale Zustände welcher Struktur in der Folge von welchen Empfindungen produziert werden. Man könnte stattdessen der Ansicht sein, dass die Syntax der Beobachtungssätze bei allen Beobachtern gleich ist, weil sie entweder durch angeborene oder gemeinschafts-invariante Faktoren festgelegt wird.15 Die erste Annahme der Theorieabhängigkeit ist daher problematisch. Allerdings wird diese Form möglicher Theorieabhängigkeit im Folgenden nicht weiter von Bedeutung sein. Stattdessen tritt die zweite mögliche Theorieabhängigkeit in den Vordergrund. Hier geht es nicht darum, welche Syntax produzierte Beobachtungssätze haben, sondern darum, was die Bedeutung dieser Sätze bestimmt. Eine solche Theorieabhängigkeit ergibt sich bei Feyerabend und Churchland, weil sie davon ausgehen, dass erstens der gesamte Inhalt der Beobachtungen in der Form begrifflich ist, in der es auch die Bedeutung von Sätzen ist und zweitens diese begrifflichen Inhalte durch Theorien determiniert sind. Für diese zweite Annahme wird die Netzwerk-Semantik angeführt, auf die ich gleich im

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gigkeit zwar für plausibel, räumen ihr aber keinen zentralen Platz in ihrer Argumentation ein. (Siehe Feyerabend 1975, 93/94; Churchland 1988, 185.) So vertritt Fodor die gegenteilige These, dass das mentale Beobachtungsvokabular syntaktisch gesehen nicht in Abhängigkeit vom Lernhintergrund variiert. Siehe Fodor (1984). Für mehr hierzu siehe Kap. 7.

4. Die syntaktische Theorie der Beobachtungen

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nächsten Abschnitt zu sprechen komme. Vorher ist abzuschätzen, was für die erste Annahme spricht. Der Inhalt von Beobachtungen mit Messgeräten ist – soweit keine Bilder produziert werden –,16 offensichtlich in sprachtypischer Weise begrifflich. Schließlich führen die betrachteten Messgeräte zu Sätzen im weiten, oben erläuterten Sinn. Die Bedeutung dieser Sätze ist begrifflich und wird durch die verwendeten wissenschaftlichen Ausdrücke bestimmt. Über die Theorieabhängigkeit dieser begrifflichen Inhalte kann daher durch eine Semantik für die fraglichen sprachlichen Ausdrücke entschieden werden. Wiederum ist es aber unklar, ob der Fall der Wahrnehmung zu dem der Messung analog ist. Zwar sprechen Feyerabend und Churchland auch hier von Beobachtungssätzen. Damit legen sie nahe, dass die Inhalte wie bei gewöhnlichen Sätzen begrifflich sind und gebräuchliche semantische Theorien die Festlegung der Inhalte beschreiben. Allerdings wurde schon festgestellt, dass damit insbesondere Zustände perzeptuellen Erscheinens, wie etwa das Aussehen von etwas wie ein Lindenbaum, beschrieben werden. Zunächst könnte man hier für die Annahme argumentieren, dass solche Wahrnehmungsinhalte gar nicht begrifflich sind. Wie im vorigen Kapitel schon gesagt, werde ich aber nicht versuchen, eine solche Position gegen die Theoriebeladenheit stark zu machen, sondern vielmehr davon ausgehen, dass Zustände des perzeptuellen Erscheinens als F schon eine perzeptuelle Klassifikation als F einschließen. Aber auch dann bleibt die Frage, begriffliche Fähigkeiten welcher Art für eine solche perzeptuelle Klassifikation notwendig sind. Perzeptuelle Inhalte setzen plausiblerweise keine Sprache voraus. Daher ist zu erwarten, dass für sprachliche begriffliche Inhalte andere Anforderungen bestehen als für perzeptuelle. Insbesondere könnte man glauben, dass Klassifikationsfähigkeiten, die perzeptuelle begriffliche Inhalte ermöglichen, allein durch Wahrnehmung erworben werden können, wohingegen sprachliche Inhalte kompetente Sprecher voraussetzen. Indem Feyerabend und Churchland den gesamten Inhalt von Wahrnehmungen als den von Beobachtungssätzen beschreiben, übergehen sie diese Möglichkeit einer Differenzierung zwischen sprachlichen Fähigkeiten und perzeptuellen Fähigkeiten. Darin liegt eine Voraussetzung, die für ihre Position wichtig ist. Denn nur so lässt sich mit einer allgemeinen semantischen Theorie für die Theorieabhängigkeit aller Beobachtungsinhalte argumentieren. Diese Voraussetzung werde ich um dieser Argumentation willen für dieses Kapitel zugestehen. Erst in Kapitel 7 werde ich sie angreifen und einige

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Zu bildgebenden Verfahren siehe Kap. 7, Abschn. 6.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Besonderheiten perzeptueller begrifflicher Fähigkeiten und ihres Erwerbs herausarbeiten. Damit komme ich jetzt dazu, die zweite, in der Einleitung zu diesem Kapitel angekündigte Annahme zu diskutieren, die zur FeyerabendChurchland’schen Form der Theoriebeladenheit führt: die Annahme der Netzwerk-Semantik. 3. Eine Semantik für Beobachtungsterme a) Die Netzwerk-Semantik Feyerabend und Churchland vertreten eine semantische Theorie für Beobachtungsausdrücke, die man als ‚Netzwerk-Semantik‘ bezeichnen kann.17 Damit ist eine Spielart einer Begrifflichen-Rollen-Semantik gemeint. Der Theorie zufolge wird die Bedeutung eines Beobachtungsausdrucks vor allem durch das Netz allgemeiner Überzeugungen oder Hypothesen festgelegt, in dem er vorkommt. Für diese Grundannahme gibt es eine alternative Formulierung. Allgemeine Sätze der Form ,Wenn etwas F ist, dann ist es auch G‘ rechtfertigen einen Schluss von einem F auf ein G. Der Grundidee der Netzwerk-Semantik zufolge wird daher die Bedeutung eines Beobachtungsausdrucks auch durch das Muster der gerechtfertigten Schlüsse festgelegt, in denen ein Ausdruck vorkommt. Diese Grundidee lässt sich in verschiedenen Hinsichten weiter präzisieren. Erstens kann man spezifizieren, welche Schlüsse oder Sätze die Bedeutung des Ausdrucks festlegen und damit semantisch konstitutiv sein sollen. Klassischerweise sollten dies nur die analytischen Schlüsse sein. Stattdessen könnte man auch einige oder alle materialen Schlüsse für semantisch bestimmend halten. Feyerabend und Churchland sind skeptisch darüber, dass sinnvoll zwischen analytischen und synthetischen Schlüssen oder Sätzen unterschieden werden kann. Sie betrachten daher auch materiale Schlüsse bzw. Sätze als semantisch konstitutiv. Churchland vertritt zudem die Ansicht, dass verschiedenen Sätzen dabei ein unterschiedliches Gewicht zukommt. Einige Prinzipien seien wichtiger für die Bestimmung der Bedeutung eines Ausdrucks, andere dagegen leisteten nur einen geringen Beitrag. Aber auch die zentraleren Annahmen seien nicht analytisch, sondern könnten revidiert werden. Zudem lässt Churchland die Möglichkeit zu, dass auch singuläre Sätze, und hierbei auch solche mit indexikalischen Ausdrücken, zum semantisch be-

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Churchland spricht vom „network approach“ (Churchland 1988, 181), während Feyerabend oft von der „contextual theory of meaning“ spricht (Feyerabend 1962, 68).

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stimmenden Netzwerk gehören. Churchland denkt hierbei insbesondere an solche Sätze wie ‚Wasser ist der Stoff in unseren Seen und Flüssen‘.18 Zweitens kann man präzisieren, in welchem Umfang die Bedeutung oder allgemeiner die semantischen Eigenschaften von Beobachtungsausdrücken durch das Netzwerk festgelegt werden. Feyerabend sowie an vielen Stellen auch Churchland sehen die Bedeutung eines Ausdrucks vollständig durch das Netzwerk festgelegt.19 Aber bisweilen zieht sich Churchland auch auf die schwächere Position zurück, dass der Einfluss des Netzwerks durch kausale Faktoren oder Umstände der Umwelt beschränkt ist.20 Auch hierbei wird der Einfluss des Netzes jedoch immer als dominierend angenommen, so dass ein und derselbe Ausdruck völlig verschiedene und unvereinbare Bedeutungen haben kann in Abhängigkeit davon, in welches Netz er eingebettet ist. In jüngerer Zeit hat Churchland eine alternative Formulierung dieser Netzwerk-Semantik gegeben. Hierbei stützt er sich auf eine konnektionistische Auffassung mentaler Repräsentationen und kognitiver Verarbeitung. Der Konnektionismus fasst mentale Repräsentationen nicht als satzartige Einzeldinge auf, die gemäß explizit repräsentierten Schlussregeln verarbeitet werden. Vielmehr werden Zustände neuronaler Netze, und hierbei in der Regel die Muster der Aktivation einer Ebene von Einheiten (‚Neuronen‘), als mentale Repräsentationen betrachtet. Die Verarbeitung dieser Repräsentationen erfolgt dann nicht durch einen zentralen Prozessor, sondern verteilt entlang den Verbindungen zur nächsten Ebene von Einheiten. Das Muster der Aktivation einer Ebene ist insgesamt durch die Aktivation der vorhergehenden Ebene, die Art der Verschaltung, die Gewichtung der Verbindungen sowie die Summationsfunktion (die Funktion, die der Summe des Inputs einer Einheit eine Aktivation der Einheit zuordnet), festgelegt.21 In der Churchland’schen Netzwerk-Semantik für konnektionistische mentale Repräsentationen können nicht mehr Schlussregeln zwischen Sätzen semantisch konstitutiv sein. Mentale Repräsentationen sind dem Konnektionismus zufolge nicht satzartig und werden nicht gemäß Schlussregeln verarbeitet. Stattdessen werden die Relationen zu anderen Aktivationsmustern, zu denen ein Aktivationsmuster gemäß der Struktur des Netzes und der Gewichtung seiner Verbindungen steht, als konstitutiv für dessen Inhalt angese18

19 20 21

Siehe etwa Churchland (1979), Kap. 3. Um Churchlands semantischen Gradualismus hat sich eine Debatte mit Fodor und Lepore entwickelt. Siehe die Stellungnahmen in McCauley (1996) sowie Churchland (1998) und Fodor/Lepore (1999). Siehe etwa Feyerabend (1981), x; Churchland (1979), 14. Siehe Churchland (1985a), 287; (1988), 183; (1998). Eine einleitende Darstellung neuronaler Netze gibt Churchland (1990). Vgl. auch z.B. Bechtel/ Abrahamsen (1991).

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hen. Für ein bestimmtes Muster einer Ebene sollen insbesondere die Aktiviationsmuster vorhergehender Ebenen, durch die es hervorgebracht werden kann, und die Aktiviationsmuster der nachfolgenden Ebenen, die es hervorbringt, semantisch bestimmend sein.22 Da aber die Inhalte der konnektionistischen mentalen Repräsentationen als begrifflich angenommen werden, ergibt sich ihr Inhalt weiterhin aus der Rolle, die sie in der kognitiven Verarbeitung begrifflich gehaltvoller Zustände spielen. Auch die konnektionistische Variante der Netzwerk-Semantik ist eine Begriffliche-Rollen-Semantik.23 Aus der Netzwerk-Semantik ergibt sich sehr unmittelbar, dass die Bedeutung von Beobachtungsausdrücken von Theorien abhängt. Man kann hierzu grob zwischen zwei verschiedenen Konzeptionen von Theorien unterscheiden. In einem schwachen Sinn gilt jedes Netzwerk von Begriffen als Theorie, da ein solches Netzwerk eine rudimentäre Taxonomie für einen Gegenstandsbereich einschließt.24 Dann sind Ausdrücke wie ‚grün‘ oder ‚Hund‘ schon theorieabhängig, da sie in einem Netzwerk von Begriffen stehen, das im schwachen Sinn theoretisch ist (Farbausdrücke oder Ausdrücke für sinnliche Qualitäten im einen, Tier- oder Haustierausdrücke im anderen Fall). Ein stärkerer Begriff von Theorie würde von einem theoretischen Netzwerk verlangen, dass es eine größere Zahl von Phänomenen umfasst und ihnen gegenüber Erklärungskraft besitzt.25 Typischerweise müssen hierfür Entitäten und Mechanismen postuliert werden, die nicht direkt wahrnehmbar 22 23

24 25

Siehe Churchland/ Churchland (1996), 274-77. Wenn man die Churchland’schen Äußerungen zur Semantik konnektionistischer mentaler Repräsentationen genau betrachtet, kann man (mindestens) drei Stufen der Position unterscheiden (vgl. hierzu Tiffany 1999). Die von mir dargestellte Variante, die am deutlichsten eine Begriffliche-Rollen-Semantik darstellt, macht Stufe zwei aus. Stufe eins sieht den Inhalt eines Aktivationsmusters durch sog. ‚microfeatures‘ festgelegt, d.h. durch spezifische Inhalte, die die Aktivationsgrade einzelner Einheiten haben, aus denen das Muster besteht. Es ist klar, dass diese Mikromerkmals-Position eigentlich keine vollständige philosophische Semantik ist, da darin lediglich der Inhalt komplexer Zustände zu Inhalten der Teile des Zustands in Beziehung gesetzt wird. Für Kritik an dieser Position siehe Fodor/ Lepore (1996), und für eine weitgehende Rücknahme der Position Churchland/ Churchland (1996). In Churchland (1998) hat Churchland eine dritte Stufe angedeutet, wonach nicht die Relationen zu vorhergehenden und nachfolgenden Aktivationsmustern, sondern die Relationen zu alternativen Mustern derselben Ebene sowie zu externen Ursachen dieser Muster semantisch konstitutiv sein sollen. Einen vergleichbaren Vorschlag hat Tiffany (1999) skizziert. Es ist aber unklar, ob diese Position noch eine BegrifflicheRollen-Semantik darstellt und wie sie sich zur Variante der Theoriebeladenheit verhält, die Thema dieses Kapitels ist. Für Kritik der dritten Stufe siehe Fodor/ Lepore (1999). Siehe Churchland (1988), 182. Vgl. Churchland (1979), §3.

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sind. Aber die Bedeutung von Beobachtungssätzen ist der Netzwerk-Semantik zufolge auch von Theorien in diesem Sinn abhängig. Dies gilt jedenfalls für Beobachtungssätze, die potenziell für Theorien evidenziell relevant sind. Denn damit Beobachtungssätze als Evidenz für oder gegen Theorien sprechen können, müssen sie mit diesen in inferenziellen Beziehungen stehen. Die Beobachtungssätze müssen beispielsweise aus den Theorien ableitbar sein. Dann gehören aber auch die Theorien, für die ein Beobachtungssatz potenziell evidenziell relevant ist, zum Netzwerk von Sätzen, das die Bedeutung der Beobachtungsausdrücke festlegt.26 Feyerabend und Churchland vertreten die Netzwerk-Semantik nicht nur für Beobachtungsausdrücke, sondern auch für alle anderen, insbesondere theoretischen wissenschaftlichen Ausdrücke. Ihre Semantik ist demnach holistisch. Ihnen zufolge erhält generell eine Menge von Ausdrücken Bedeutung durch das Geflecht inferenzieller Relationen, in dem die Ausdrücke zueinander stehen. Keiner der Ausdrücke ist unabhängig von diesem Netz bedeutungsvoll, vielmehr wird die Bedeutung jedes Ausdrucks durch seine Position im Netz bestimmt. Veränderungen in diesem Netz haben daher Auswirkungen auf die Bedeutung aller verbundenen Ausdrücke. Was spricht für diese Netzwerk-Theorie als Semantik speziell für Beobachtungsausdrücke? Bei Feyerabend und Churchland findet sich eine große Zahl von Überlegungen. Sie lassen sich aber weitgehend in zwei Argumentationslinien zusammenfassen. Erstens argumentieren sie dafür, dass die Netzwerk-Theorie eine angemessene Semantik für theoretische Ausdrücke darstellt und dass es zwischen solchen theoretischen Ausdrücken und Beobachtungsausdrücken keine wesentlichen semantischen Unterschiede gibt. Ich nenne dies das Argument von der Semantik theoretischer Ausdrücke. Zweitens weisen sie einige alternative semantische Theorien für Beobachtungsausdrücke zurück und schließen so auf die Netzwerk-Theorie als einzige verbleibende Option. Ich nenne dies das Ausschluss-Argument. Die beiden Argumente ergänzen sich ihrer Struktur nach sehr gut, so dass sie zusammen genommen, sofern die Prämissen haltbar sind, eine starke Begründung der NetzwerkTheorie bilden. Churchland scheint zu glauben, dass sich zusätzliche Gründe für die Netzwerk-Semantik und damit die Theorieabhängigkeit aus der konnektionistischen Auffassung mentaler Repräsentationen ergeben.27 Dies ist aber sehr unwahrscheinlich. Erstens ist der Konnektionismus selbst sehr umstritten. So 26

27

Vgl. Feyerabend (1958), 18, seine „These 1“. Feyerabend vertritt auch die weitergehende These, dass der semantische Gehalt einer Theorie auch von den in Betracht gezogenen theoretischen Alternativen abhängt. Siehe Feyerabend (1962), 68/69. Siehe etwa Churchland (1990) und (1992).

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wird er mit dem Einwand konfrontiert, dass er die Systematizität und Produktivität des Denkens nicht erklären kann und daher als allgemeine Theorie mentaler Repräsentation und kognitiver Verarbeitung scheitert.28 Zwar kann der Konnektionismus beachtliche Ergebnisse etwa in der Simulation des perzeptuellen Erkennens von Mustern aufweisen.29 Wenn man aber nur Teile der kognitiven Architektur wie perzeptuelles Erkennen konnektionistisch auffasst, lässt sich damit die Theoriebeladenheit nicht mehr begründen. Denn diese Begründung muss darauf bauen, dass auch zentrale theoretische Kompetenzen konnektionistisch aufgebaut sind. Andernfalls gehören unsere theoretischen Überzeugungen nicht zum bedeutungsbestimmenden Netzwerk. Zweitens ist der Konnektionismus vor allem eine Theorie mentaler Repräsentationen und kognitiver Verarbeitung, d.h. es geht darum, wie die mentalen Träger semantischer Gehalte strukturiert und verarbeitet werden. Zur Diskussion steht, ob diese Träger satzartig sind oder als Aktivationsmuster aufgefasst werden, ob sie durch einen zentralen Prozessor nach expliziten Regeln oder verteilt nach vom Netz verkörperten Funktionen verarbeitet werden. Wie diese Repräsentationen zu ihren Inhalten kommen, ist eine davon völlig unabhängige Frage. Mit dem Konnektionismus sind ganz verschiedene Positionen der Semantik vereinbar, etwa externalistische (z.B. kausale), oder eben auch eine Begriffliche-Rollen-Semantik.30 Selbst wenn der Konnektionismus daher als allgemeine Theorie der Kognition gut begründet wäre, würde dies nicht ausdrücklich zugunsten der Netzwerk-Semantik sprechen. Ich werde daher nur das Argument von der Semantik theoretischer Ausdrücke und das Ausschluss-Argument diskutieren. b) Das Argument von der Semantik theoretischer Ausdrücke Das Argument von der Semantik theoretischer Ausdrücke hat zwei Prämissen. Erstens wird behauptet, dass die Bedeutung theoretischer Ausdrücke durch das Netzwerk allgemeiner Sätze festgelegt wird, in denen sie vorkommen. Zweitens wird dafür argumentiert, dass es zwischen theoretischen Ausdrücken und Beobachtungstermen keine semantischen Unterschiede gibt. Daraus folgt offensichtlich, dass auch die Bedeutung von Beobachtungstermen durch das Netzwerk von Sätzen bestimmt wird. Bevor das Für und Wider der Prämissen bewertbar ist, muss die Theorie-Beobachtung-Unterscheidung, auf die hier Bezug genommen wird, geklärt werden. 28 29 30

Siehe Fodor/ Pylyshyn (1988). Siehe Bechtel/ Abrahamsen (1991), Kap. 4. Dieser Punkt wird auch von Tiffany (1999) und Fodor/ Lepore (1999) herausgestellt.

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(i) Die Theorie-Beobachtung-Unterscheidung Traditionellerweise werden theoretische Ausdrücke den Beobachtungsausdrücken gegenübergestellt. Die logisch-empiristische Standardsicht wissenschaftlicher Theorien ging davon aus, dass es – von logischen und mathematischen Ausdrücken abgesehen – eine ausschließende, erschöpfende und universelle Unterteilung des wissenschaftlichen Vokabulars in theoretische Terme und Beobachtungsausdrücke gibt. Wie jedoch seither oft festgestellt wurde, sind hierbei nicht eine, sondern zwei Unterscheidungen am Werk.31 Zum einen kann man zwischen Beobachtbarem und Unbeobachtbarem unterscheiden, zum anderen können Ausdrücke theoretisch oder nicht theoretisch sein. Die Unterscheidung ‚beobachtbar – nicht beobachtbar‘ betrifft primär Dinge (Gegenstände, Ereignisse, Eigenschaften). Erst abgeleitet davon kann man Ausdrücke danach unterscheiden, ob sie Beobachtbares oder Unbeobachtbares bezeichnen. Man kann hierbei unterschiedlich weite Begriffe der Beobachtbarkeit vertreten, nach denen der Bereich des Beobachtbaren verschieden umfangreich ist. Man könnte nur Dinge für beobachtbar halten, die von uns ohne Hilfe von Instrumenten wahrgenommen oder erkannt werden können. Demnach wären Jupitermonde, nicht aber Bakterien beobachtbar. Oder man kann auch solche Objekte hinzunehmen, die man nur mit Hilfe von Instrumenten wahrnehmen kann, wodurch Bakterien und anderes Kleines beobachtbar wären. Elektronen und ihr Spin, die starke Wechselwirkung oder chemische Bindungen wären demnach nicht beobachtbar. Und schließlich kann man alles, was mit Instrumenten und Experimenten überhaupt detektierbar ist, als beobachtbar bezeichnen, ohne dass Wahrnehmung hierbei eine ausgezeichnete Rolle zu spielen bräuchte. Danach wären selbst Neutrinos beobachtbar.32 Da ich an Beobachtungen vor allem insoweit interessiert bin, als damit empirische Beiträge zur wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung beschrieben werden, folge ich in dieser Studie dem weitesten der Begriffe und bezeichne dasjenige als beobachtbar, mit dem man epistemisch fruchtbar interagieren kann. Allerdings wird sich aus der Diskussion der Theoriebeladenheit von Beobachtungen ergeben, dass es eine epistemisch wichtige Untergruppe von Beobachtungen gibt, die ungefähr vom Beobachtungsbegriff mittleren Umfangs erfasst wird. Demnach will ich alles, was auf eine Weise beobacht31 32

Siehe etwa Putnam (1962); van Fraassen (1980), 14; Kosso (1989), 12/13. Für Beobachtungsbegriffe ungefähr entsprechend der drei genannten Umfänge siehe jeweils van Fraassen (1980), Hacking (1983) und Shapere (1982). Siehe auch Feyerabend (1960), 42/43 für den weitesten Beobachtungsbegriff.

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bar ist, bei der perzeptuelle Fähigkeiten eine zentrale Rolle spielen, als perzeptuell beobachtbar bezeichnen. Für die Zwecke des Arguments von der Semantik theoretischer Ausdrücke werden am besten Ausdrücke für perzeptuell beobachtbare Dinge betrachtet.33 Die Unterscheidung in theoretisch und nicht theoretisch betrifft primär Ausdrücke. Ein Ausdruck könnte demnach als theoretisch gelten, wenn er wesentlich in einer Theorie vorkommt oder durch eine solche eingeführt wird. Wie eben schon ausgeführt, gibt es auch hier unterschiedlich weite Begriffe der Theorie. Allerdings ist der schwache Begriff, demzufolge schon eine Menge aufeinander bezogener Begriffe eine Theorie darstellt, für die gegenwärtige Diskussion nicht brauchbar, da diesem Begriff zufolge fast alle Ausdrücke, wie auch ‚grün‘ oder ‚Hund‘, theoretisch sind. Besser geeignet ist hier ein anspruchsvollerer Begriff von Theorie, demzufolge eine Theorie ihrer Art nach explanatorische Kraft gegenüber einem großen und in gewissem Ausmaß disparaten Phänomenbereich besitzen sollte. In Ableitung davon kann man dann auch Dinge der Welt als theoretisch bezeichnen, indem man damit meint, dass sie überwiegend von theoretischen Ausdrücken bezeichnet werden oder ihre Existenz theoretisch postuliert wird. Wenn man die beiden Unterscheidungen so auseinander hält, gibt es Dinge, die sowohl theoretisch postuliert als auch beobachtbar sind. Dies ist offensichtlich für den Fall, dass man den weitesten Begriff von Beobachtungen voraussetzt, gilt aber auch für perzeptuell beobachtbare Gegenstände. So wurden beispielsweise Träger und Mechanismen der biologischen Vererbung oder Infektionskeime zuerst theoretisch angenommen und dann mikroskopisch beobachtbar. Allerdings kommt es sehr häufig vor, dass theoretisch postulierte Dinge nicht perzeptuell beobachtbar sind. Dies gilt etwa für die oben aufgezählten, nicht perzeptuell beobachtbaren Entitäten. Es scheint, dass dies kein Zufall ist. Entitäten müssen gerade dann theoretisch postuliert werden, und die Einführung von Ausdrücken dafür muss gerade dann über explanatorische Theorien erfolgen, wenn man keinen unabhängigen Zugang zu Instanzen der Dinge durch die Wahrnehmung hat (und sei es durch Wahrnehmung mit Hilfe von Instrumenten). Zwar kommt es vor, dass unsere Möglichkeiten der Wahrnehmung sich verbessern, indem wir neue Bereiche der Welt erschließen oder über neue Instrumente verfügen, so dass zuvor bloß theoretisch postulierte Entitäten perzeptuell beobachtbar werden. (Die angeführten Beispiele für theoretisch postulierte und gleichwohl perzeptuell beobachtbare Entitäten

33

Für weitere Überlegungen zur Beobachtbarkeit siehe das Kapitel 6.

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sind gerade von dieser Art.) Dennoch kommt der Fall regelmäßig vor, dass theoretische Ausdrücke nichts perzeptuell Beobachtbares beschreiben. Für die Zwecke des Arguments von der Semantik theoretischer Ausdrücke ist es sinnvoll, sich auf die so verstandene Unterscheidung zwischen theoretischen Ausdrücken und Beobachtungsausdrücken zu stützen. Demnach behauptet die erste Prämisse, dass eine Netzwerk-Semantik für theoretische Ausdrücke, die nichts gegenwärtig perzeptuell Beobachtbares beschreiben, angemessen ist. Die zweite Prämisse behauptet dann, dass es keine semantischen Unterschiede zwischen solchen Ausdrücken und Ausdrücken für perzeptuell Beobachtbares gibt. (ii) Theoretische Ausdrücke Hiermit komme ich zur ersten Prämisse. Für theoretische Ausdrücke, die nichts perzeptuell Beobachtbares bezeichnen, besitzt eine Netzwerk-Semantik einige Anfangsplausibilität. An einem Beispiel Churchlands lässt sich diese Plausibilität aufzeigen. Angenommen, wir führen den Term ‚Phlogiston‘ durch eine einfache Theorie mit den folgenden vier Annahmen ein: (1)

Phlogiston ist eine elementare Substanz.

(2)

Phlogiston bildet Verbindungen mit anderen Substanzen.

(3)

Verbrennen und Kalzinieren bestehen im Freisetzen von Phlogiston aus einer Verbindung, die es enthält.

(4)

Das Freisetzen von Phlogiston wird von hohen Temperaturen hervorgerufen.34

Churchland schreibt: Let us put ourselves in the position of a proto-chemist who has just formulated this theory in hopes of rendering intelligible the details of certain familiar physical transformations. Aside from a few leading assumptions as to which substances are phlogiston compounds (wood, metals), the set of assumptions (1)-(4) effectively exhausts our conception of phlogiston, our understanding of the term ‚phlogiston‘. These are the sentences that introduce the term into our general linguistic commerce, and it has no source of semantic identity, initially at least, beyond these. (Churchland 1979, 47; Churchlands Hervorhebung.)

Im Rahmen dieses Beispiels ist es plausibel anzunehmen, dass unser Verständnis des Ausdrucks von der Theorie (vielleicht zusammen mit den intendierten Anwendungsfällen) festgelegt wird. Ohne die Theorie hätte der Ausdruck keine Bedeutung, und mit einer anderen Theorie hätte er eine 34

Siehe Churchland (1979), 47.

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andere. Wer demnach ‚Phlogiston‘ vollständig verstehen will, muss die Theorie kennen. Und die Wahrheitsbedingungen von Sätzen, in denen der Ausdruck ‚Phlogiston‘ vorkommt, etwa von Behauptungen wie ‚da entweicht Phlogiston‘, werden durch die Theorie bestimmt. Demnach wären erstens dasjenige, was man zum Verständnis des Ausdrucks kennen muss, und zweitens die Wahrheitsbedingungen von Sätzen mit dem Ausdruck durch das theoretische Netzwerk bestimmt. Allerdings sind diese Behauptungen für theoretische Terme in Frage gestellt worden. Insbesondere Putnam hat, in der Folge von Kripke, eine Semantik unter anderem für theoretische Terme vorgeschlagen, wonach erstens Referenz und Intension des Ausdrucks nicht durch Theorien, sondern weitgehend durch die Welt festgelegt werden, und zweitens auch das Verständnis des Ausdrucks oder semantische Kompetenz für den Ausdruck nicht das Kennen einer Theorie voraussetzen.35 Die Kernidee besteht darin, dass die Referenz eines theoretischen Ausdrucks festgelegt werden kann, indem man bei der Einführung des Ausdrucks auf irgendeine Weise ein Exemplar der Art, die der Ausdruck bezeichnen soll, herausgreift. Dieses Herausgreifen kann mit Hilfe einer Beschreibung geschehen, die bloß kontingenterweise (nicht semantisch notwendig) auf das Exemplar zutrifft, oder es kann im Extremfall auch rein demonstrativ sein. Zum Beispiel kann man den Ausdruck ‚Wasser‘ (der allerdings kein theoretischer Ausdruck ist) einführen, indem man bestimmt, dass er das Zeug in unseren Seen und Flüssen bezeichnen soll. Oder man kann auf eine Menge Wasser deuten und sagen: Dieses Zeug ist Wasser. Das bloße Herausgreifen eines Exemplars der Art kann hinreichend für die Festlegung einer Referenz (einer Extension in der tatsächlichen Welt) und sogar einer Intension (einer Extension in jeder möglichen Welt) sein, sofern man einen starken Arten-Realismus voraussetzt. Diesem Realismus zufolge gehört erstens aufgrund der Beschaffenheit der tatsächlichen Welt ein herausgegriffenes Exemplar zu einer bevorzugten Klasse von Dingen, die damit als Extension des Ausdrucks bestimmt werden kann. Indem man auf eine vorliegende Menge von Wasser deutet, muss demnach klar sein, welches Zeug in unserer Welt damit exemplarisch herausgegriffen wird. Zweitens soll damit eine Extension in allen möglichen Welten festgelegt sein, indem das herausgegriffene Exemplar essenzielle Eigenschaften haben soll, anhand derer sich die Zugehörigkeit zur herausgegriffenen Art auch in anderen möglichen Welten bestimmt. Demnach bezeichnet unser Ausdruck ‚Wasser‘ nur Substanzen, die dieselbe chemische Zusammensetzung wie unser Wasser (das 35

Siehe Putnam (1973) und (1975a).

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Wasser in der tatsächlichen Welt) haben. In dem Maß, in dem man auf die Annahme eines solchen Arten-Realismus verzichtet, kann nicht die Welt selbst die nötigen eindeutigen Ähnlichkeitsrelationen zwischen dem Exemplar und der Extension in unserer Welt und in allen möglichen Welten zur Verfügung stellen. Dann muss man diese Relationen durch weitere explizite Beschreibungen oder durch andere beteiligte Umstände spezifizieren. Wenn auf diese Weise eine Art herausgegriffen und ein Ausdruck dabei als Bezeichner für diese Art erfolgreich in die Sprache eingeführt wird, dann hat dieser Ausdruck eine Bedeutung: Er hat eine Art als Intension sowie die tatsächlichen Exemplare der Art als Extension. Damit ist sein Beitrag zu den Wahrheitsbedingungen der Sätze, in denen er vorkommt, festgelegt (soweit keine hyper-intensionalen Kontexte betrachtet werden). Eine Theorie braucht hierbei keine wesentliche Rolle zu spielen. Alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft können dann unabhängig von Theorien mit dem Ausdruck auf die Art Bezug nehmen und Behauptungen über die Art aufstellen. Zudem soll für linguistische Kompetenz und das Verstehen von Ausdrücken viel weniger Wissen erforderlich sein als angenommen. Erstens betont Putnam die Möglichkeit linguistischer Arbeitsteilung. Damit ich einen Ausdruck kompetent verwenden kann, muss ich nicht selbst über Wissen verfügen, das dem Wissen einer Theorie über die Dinge irgendwie nahe kommt. Es ist hinreichend für Kompetenz, dass es Experten für die Dinge gibt, die eine solche Theorie kennen, und ich in geeigneter Relation zu diesen Experten stehe (indem ich beispielsweise den Ausdruck von ihnen gelernt habe oder ihn mit einer auf sie bezogenen Absicht verwende). Allerdings ist die Möglichkeit linguistischer Arbeitsteilung nicht an eine Putnam’sche Semantik geknüpft. Vielmehr kann auch Churchland weitgehend davon ausgehen. Denn man könnte immer noch festhalten, dass semantische Kompetenz sich daran festmacht, dass wenigstens die Experten über eine Theorie verfügen, durch die das Verständnis des Ausdrucks festgelegt wird.36 Aber die zweite Möglichkeit der Reduzierung notwendigen Wissens ergibt sich erst vor dem Hintergrund der Putnam’schen Weise der Festlegung der Bedeutung. Indem ein Ausdruck schon durch das Herausgreifen eines Exemplars eine Intension erhält, haben Sätze mit diesem Ausdruck Wahrheitsbedingungen unabhängig davon, ob es überhaupt eine Theorie für diese Ausdrücke gibt, und auch unabhängig davon, wie eine eventuell bestehende Theorie beschaffen ist. Ich muss dann für solche linguistische Kompetenz nur in geeigneter Relation zu dieser Einführung des Ausdrucks stehen. Demnach braucht es in der Sprachgemeinschaft nur sehr wenig Wissen über die bezeichneten Entitäten zu 36

Siehe Churchland (1979), §8.

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geben, etwa nur Wissen über typische Instanzen und die grobe Art von Dingen, um die es sich handelt. Auch sprachliche Kompetenz für die Ausdrücke wäre demnach einerseits weitgehend ohne theoretische Annahmen möglich, andererseits könnte sie auch von theoretischen Annahmen, wenn es sie gibt, unabhängig bleiben. Allerdings lassen sich erhebliche Zweifel daran anmelden, dass diese semantische Theorie für theoretische Ausdrücke, die nichts perzeptuell Beobachtbares bezeichnen, in der vorgestellten Weise funktionieren kann. Zunächst ist es für solche Ausdrücke nicht möglich, Exemplare der Referenz rein demonstrativ herauszugreifen. Denn es wird gerade angenommen, dass die Exemplare nicht perzeptuell beobachtbar sind. Man kann daher nicht auf sie deuten. Die Exemplare müssen daher wohl mit Hilfe einer Beschreibung herausgegriffen werden. In einem sehr einfachen Fall könnte diese Beschreibung von der Form ‚die Ursache von dem‘ haben, wobei man auf einen perzeptuell beobachtbaren Umstand zeigt. Aber häufig wird es eine solche einfache Beschreibung nicht geben. Erstens haben so gut wie alle Umstände sehr viele Ursachen. Man müsste daher weitere Spezifikationen hinzufügen, um die richtige Ursache festzulegen. Zweitens sind theoretische Entitäten häufig nicht bloß sozusagen einen einzigen kausalen Schritt vom perzeptuell Beobachtbaren entfernt. Für einen Ausdruck wie ‚starke Wechselwirkung‘ findet man unter Umständen keine perzeptuell beobachtbare direkte Wirkung. Auf die Stabilität von Atomkernen kann man ebenso wenig unmittelbar zeigen wie auf die starke Wechselwirkung selbst. Man muss dann aber den theoretischen Term wohl mit Hilfe einer Beschreibung einführen, und in dieser werden sowohl andere theoretische Terme wie auch angenommene Relationen zwischen diesen Termen auftreten. Dann hängt die Referenzfixierung doch wieder von theoretischem Wissen ab. Zudem droht ein Regress: Man kann die Bedeutung des theoretischen Ausdrucks nur fixieren, wenn die hierfür benutzen theoretischen Ausdrücke schon eine Bedeutung haben. Wie ist aber diese festgelegt? Beispiele wie ‚starke Wechselwirkung‘ oder ‚Neutrino‘ legen zudem einen weiteren Mangel in einer Putnam’schen Semantik für theoretische Ausdrücke offen. Theoretische Begriffe für nicht perzeptuell Beobachtbares sind typischerweise über postulierte kausale Relationen mit sehr vielen perzeptuell beobachtbaren Phänomenen verknüpft. Dies scheint kein Zufall zu sein. Denn es ist gerade der Witz des Postulierens nicht perzeptuell beobachtbarer Entitäten, dass man dadurch eine umfassende Erklärung einer großen und disparaten Menge von Phänomenen erreicht. Ohne dieses Ziel hätte man keinen Grund, die Existenz der Entitäten überhaupt anzunehmen. Daher wird verständlich, dass solche theoretischen Begriffe typischerweise tatsäch-

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lich nicht demonstrativ oder mit Hilfe einer Beschreibung anhand eines einzelnen Phänomens eingeführt werden, sondern im Rahmen theoretischer Erwägungen.37 Man erhofft sich von der Einführung die Möglichkeit der Erklärung vieler, disparater Phänomene. Es wäre irrational, die Bedeutung des Ausdrucks von einer einzelnen Relation zu einem Phänomen abhängig zu machen. Vielmehr könnten solche Relationen höchstens einen partiellen Beitrag zur Bedeutungsfixierung leisten.38 Da die explanatorische Fruchtbarkeit eines theoretischen Ausdrucks an der Rolle hängt, den dieser Ausdruck innerhalb der ganzen Theorie spielt, trägt diese Rolle plausiblerweise aber die Hauptbürde in der Bedeutungsfestlegung. Dass wir bei theoretischen Ausdrücken für nicht perzeptuell Beobachtbares dem auch folgen, wird daran deutlich, dass wir typischerweise nicht die Fähigkeit der Erklärung eines besonderen, einzelnen Phänomens, sondern den Beitrag zur Erklärungskraft gegenüber einem großen Phänomenbereich zur Bedingung dafür machen, dass man von der tatsächlichen Existenz der postulierten Entität ausgehen kann. (iii) Beobachtungsausdrücke Aber auch wenn dies bedeutet, dass einiges zugunsten einer NetzwerkSemantik für theoretische Terme, die nichts perzeptuell Beobachtbares bezeichnen, spricht, ist noch offen, wie es um die zweite Prämisse des Arguments von der Semantik theoretischer Ausdrücke steht. Gibt es Gründe dafür anzunehmen, dass Ausdrücke für perzeptuell Beobachtbares semantisch auf gleiche Weise funktionieren? Churchland hat eine interessante Fiktion einer menschlichen Gemeinschaft entworfen, bei der es zunächst sehr plausibel erscheint anzunehmen, dass Ausdrücke, die semantisch wesentlich durch eine Rolle in einer Theorie bestimmt sind, für Wahrnehmbares verwendet werden. Die ‚Freunde des Wärmestoffs‘ verfügen über ein alltägliches Temperaturvokabular und alltägliche allgemeine Annahmen über Temperatur, die ungefähr denen der Wärmestoff-Theorie des 19. Jahrhunderts entsprechen.39 Die Wärmestoff-Freunde machen eine ganze Reihe allgemeiner (und für sie ganz alltäglicher) Annahmen über Wärmestoff. Wärmestoff wird für eine 37 38 39

Vgl. auch Hacking (1983), Kap. 6. Siehe Churchland (1985a), 286. Siehe Churchland (1979), 16ff. Churchland führt die Gemeinschaft primär ein, um die systematische Fallibilität auch von Wahrnehmungsurteilen zu demonstrieren. Allerdings beruht sein Punkt wesentlich auf der Annahme, dass die Bedeutung der Urteile durch die Hintergrundtheorie bestimmt wird. Auf diese Annahme werde ich mich an dieser Stelle konzentrieren.

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feine, unsichtbare Flüssigkeit gehalten, die von Körpern in unterschiedlichem Maß aufgenommen werden kann. Zudem nehmen sie beispielsweise an, dass sich unterschiedlicher Wärmestoff-Druck in Körpern ausgleicht, wenn die Körper in Berührung kommen. Churchland verwendet einige Mühe darauf, die Alltagsannahmen der Wärmestoff-Freunde soweit anzureichern, dass sie eine Theorie ausmachen, die einen ziemlich großen Bereich von Temperaturphänomenen wie die Ausdehnung von Körpern bei Erwärmung oder einige Charakteristika des Temperaturausgleichs zwischen verschieden warmen Körpern ganz gut erklären kann. Zudem kommen gemäß Churchlands Beschreibung Ausdrücke dieser Alltagstheorie wie ‚hat einen hohen Wärmestoffdruck‘ und ‚hat einen niedrigen Wärmestoffdruck‘ regelmäßig in den Beobachtungssätzen vor, die die Wärmestoff-Freunde unmittelbar in der Folge von Warm- bzw. Kalt-Empfindungen produzieren. Die Wärmestoff-Freunde urteilen demnach unmittelbar perzeptuell, dass Gegenstände einen hohen oder niedrigen Wärmestoffdruck haben. Die Ausdrücke dafür stehen für etwas (vermeintlich) direkt Wahrnehmbares. Dieses Beispiel einer fiktiven Gemeinschaft scheint nahe zu legen, dass Ausdrücke, die wesentlich durch eine Rolle in einer weitreichenden explanatorischen Theorie charakterisiert sind, auch für perzeptuell Beobachtbares stehen können. Die Begründung der Netzwerk-Semantik ließe sich dann auf diese Ausdrücke übertragen. Damit wäre gezeigt, dass zumindest für einige Ausdrücke für perzeptuell Beobachtbares dieselbe Semantik wie für theoretische Ausdrücke gilt. Gegen diese Argumentation habe ich allerdings einige Bedenken. Erstens ist unklar, ob das Beispiel tatsächlich menschlich möglich ist. Zunächst scheint zwar nichts dagegen zu sprechen. Es scheint möglich, dass die Wärmestofftheorie alltäglich akzeptiert wird. Warum sollten dann nicht perzeptuelle Beobachtungssätze in diesem Vokabular möglich sein? Mein Einwand richtet sich gerade gegen die Annahme, dass die Freunde des Wärmestoffs den unmittelbaren sinnlichen Eindruck haben können, dass da ein hoher Wärmestoffdruck herrscht. Die Schwierigkeit liegt dabei nicht darin, Drücke wahrzunehmen. Wir können Druck fühlen und so wahrnehmen. Aber ein Gefühl eines hohen Drucks ist von ganz anderer Art als eine Warm-Empfindung. Es scheint unmöglich, dass diese Warm-Empfindung Teil einer unmittelbaren Wahrnehmung eines hohen Drucks ist. Vielmehr kann sie nur Teil einer unmittelbaren Wahrnehmung einer hohen Temperatur sein. Dann kann es aber den Wärmestoff-Freunden aufgrund ihrer Temperatur-Empfindungen nicht unmittelbar sinnlich so vorkommen, als ob etwas einen hohen oder niedrigen Wärmestoffdruck hat.

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Aber selbst wenn die Ausdrücke der Wärmestofftheorie in den unmittelbaren Beobachtungssätzen vorkommen könnten, ist zweitens nicht klar, ob das regelmäßige Auftreten in solchen Sätzen ihre Semantik unverändert theoretisch belässt. Wenn sie als Beobachtungsausdrücke eingesetzt werden, könnten andere Faktoren ihre Bedeutung bestimmen als wenn sie für nicht perzeptuell Beobachtbares verwendet werden. Die lose Anbindung an Wahrnehmungen, die für theoretische Terme charakteristisch ist, fällt bei Beobachtungsausdrücken weg. Als Ausdrücke für perzeptuell Beobachtbares sind sie vielmehr durch eine Fähigkeit oder Neigung zu perzeptueller Klassifikation eng an bestimmte wahrnehmbare Phänomene geknüpft. Demgegenüber könnte ihre theoretische Rolle an semantischer Bedeutung verlieren. Theoretische Annahmen, die einstmals bedeutungsbestimmend waren, könnten zu bloßen Alltagsüberzeugungen über dasjenige werden, das wahrgenommen wird, ohne für die Bedeutung der Ausdrücke konstitutiv zu sein. Die semantischen Unterschiede zwischen einem bloß theoretisch verwendeten Ausdruck für hohen Wärmestoffdruck und einem solchen Ausdruck für perzeptuell Beobachtbares könnten sich in unterschiedlichen Reaktionen auf die wissenschaftliche Entdeckung ausdrücken, dass die allgemeinen Annahmen über Wärmestoff falsch sind. Wir, die Wärmestoff weitgehend im Rahmen der Theorie verwenden, reagieren auf die Entdeckung, dass die Theorie empirisch widerlegt oder durch eine bessere Theorie ersetzt wird, mit der Feststellung, dass es Wärmestoff und damit hohe oder niedrige Drücke davon gar nicht gibt. Wir entdecken, dass der theoretische Ausdruck gar keine Referenz hat. Dies erscheint ganz vernünftig, da wir den Ausdruck dafür eingeführt haben, um eine einheitliche Erklärung von Temperaturphänomenen geben zu können. Wenn die Theorie damit scheitert, fallen die Gründe weg, an die Existenz des theoretisch Postulierten zu glauben. Für die Wärmestoff-Freunde scheint bei derselben wissenschaftlichen Entdeckung aber eine ganz andere Reaktion angebracht. Sie würden wohl einfach zu Kenntnis nehmen, dass das Phänomen, das von ‚hoher Wärmestoffdruck‘ beschrieben wird, gar kein Druckzustand einer Flüssigkeit ist, sondern tatsächlich einen hohen Grad der Ausschöpfung einer Kapazität, kinetische Energie aufzunehmen, bezeichnet. Zwar haben sich damit eine ganze Reihe theoretischer oder alltäglicher Annahmen als falsch herausgestellt. Aber es wäre für sie unsinnig anzunehmen, dass es gar nichts gab, das sie spürten und dessen verschiedene Konfigurationen sie mit TemperaturEmpfindungen wahrnahmen. Insbesondere überdauert ihre Fähigkeit, hohe von niedrigen Temperaturen perzeptuell zu unterscheiden, problemlos die Veränderung des theoretischen Verständnisses dessen, was da verlässlich unterschieden wird. Deshalb gibt es auch keinen Grund anzunehmen, dass sie

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mit ihren alten Beobachtungssätzen gar keine wirklich existierenden Phänomene unterschieden und beschrieben haben. Es ist daher zweifelhaft, dass erstens die Freunde des Wärmestoffs überhaupt mit ihren Temperaturempfindungen unmittelbar den (vermeintlichen) Druck von Wärmestoff wahrnehmen können und dass zweitens, wenn sie dies tun sollten, die Semantik der betroffenen Ausdrücke unverändert durch die Wärmestofftheorie bestimmt wird. Aber selbst wenn man beides zugesteht, ist noch nicht klar, wie repräsentativ diese Situation ist. Ließe sich die Argumentation überhaupt auf die meisten Ausdrücken für perzeptuell Beobachtbares ausweiten? Hierfür müsste es für diese Ausdrücke zuallererst geeignete Theorien geben, die für die Bedeutungsfestlegung in Frage kämen. Churchland geht tatsächlich von der Existenz solcher Theorien aus. So behauptet er, dass auch unser gewöhnliches Temperaturvokabular wie ‚warm‘ oder ‚kalt‘ in ein Netzwerk alltäglicher Annahmen eingebettet ist, die eine Theorie mit gewisser explanatorischer Kraft und einem recht breiten Anwendungsbereich bilden.40 Hierzu sollen solche Annahmen gehören wie die folgende: (A) Von zwei Körpern desselben Gewichts ist derjenige wärmer, der einen dritten Körper am stärksten aufwärmen wird.

Feyerabend versucht in ähnlicher Weise allgemeine Annahmen auszumachen, die hinter der Bedeutung von alltäglichen Ausdrücken wie ‚oben‘ und ‚unten‘ oder Farbausdrücken stehen sollen.41 Zu diesem Zweck führt er beispielsweise zwei populäre antike Probleme an, die sich daraus ergaben, dass man oben und unten als absolute Richtungen im Raum auffasste. Zum einen fragte man sich, wie es die Antipoden (die Bewohner der anderen Seite der Erde) schaffen, nicht von der Erde herunterzufallen, wenn man zugleich annimmt, dass die Erde kugelförmig ist. Zum anderen stellte man sich die Fragen, weshalb nicht die Erde selbst herunterfällt oder wodurch sie gestützt wird. Feyerabend behauptet, dass den Problemen u. a. die folgende kosmologische Annahme zugrunde liegt, die implizit im Alltag gemacht wurde: (B) Der Raum ist anisotrop, d.h. er hat nicht in allen Richtungen dieselben physischen Eigenschaften.

40

41

Siehe Churchland (1979), 22ff. Churchland argumentiert zumindest an dieser Stelle aber nicht auf der Grundlage, dass es diese Theorien gibt, für die Netzwerk-Semantik. Vielmehr setzt er eine solche aufgrund einer Ausschluss-Argumentation wie der, die ich im folgenden Unterabschnitt vorstelle, schon voraus. Siehe Feyerabend (1962), 85/86 zu ‚oben‘/‚unten‘. Zu Farbausdrücken siehe Feyerabend (1960), 68/69.

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Allerdings ist hierbei erstens fragwürdig, ob diese Annahmen im Alltag tatsächlich gemacht wurden oder werden. Beide Annahmen scheinen mir sowohl zu allgemein als auch zu komplex zu sein, um sie zum Common Sense zu zählen. Annahme (A) bestimmt die Wärmemenge auf eine Weise, die zu differenziert ist. Annahme (B) enthält den Begriff der Anisotropie, über den der Alltagsverstand aber plausiblerweise nicht verfügt, auch nicht in impliziter Form. Zweitens ist fragwürdig, dass diese Annahmen etwas zur Bedeutung der alltäglichen Ausdrücke ‚warm‘ bzw. ‚oben‘ beitragen, wie sie in perzeptuellen Beobachtungsberichten vorkommen. Zunächst sind beide Annahmen falsch. Der Umfang der Erwärmung eines dritten Körpers hängt nicht nur an der Temperatur, sondern auch an der Wärmekapazität der ersten beiden Körper. Daher kann ein erster, weniger warmer Körper den dritten Körper stärker aufwärmen als ein zweiter Körper, wenn der erste eine größere Wärmekapazität hat. Unsere Beobachtungssätze scheinen aber von der Falschheit dieser Annahme völlig unberührt. Wenn unsere unmittelbaren Urteile vor der Entdeckung, dass (A) falsch ist, wahr waren, werden sie es auch danach sein, auch wenn dann (A) zurückgewiesen wurde. Dann hängen die Wahrheitsbedingungen dieser Sätze aber nicht an (A). Ähnlich lässt sich mit Bezug auf (B) argumentieren. Die Wahrheit der Auskunft eines Atheners einem Touristen gegenüber, dass die Akropolis oberhalb der Stadt liege, ist völlig unberührt von der eventuellen Annahme von (B) in der Antike oder seiner späteren Zurückweisung. (B) trägt dann offenbar nichts zu den Wahrheitsbedingungen des alltäglichen Satzes über einen wahrnehmbaren Sachverhalt bei. Dann wurden aber keine überzeugenden Gründe für die zweite Prämisse des Arguments von der Semantik theoretischer Ausdrücke gefunden. Zwar lassen sich Gründe für eine Netzwerk-Semantik für theoretische Ausdrücke für nicht perzeptuell Beobachtbares angeben. Es wurde aber nichts vorgebracht, das letztlich für die Annahme derselben Semantik bei Ausdrücken für perzeptuell Beobachtbares spricht. Allerdings haben Feyerabend und Churchland noch ein weiteres Argument, das dies begründen soll. c) Das Ausschluss-Argument Feyerabend und Churchland argumentieren für die Netzwerk-Semantik für Beobachtungsausdrücke auch, indem sie alternative semantische Theorien als inadäquat zurückweisen.42 Insbesondere zwei Arten alternativer Semantiken 42

Diese Argumentationsstrategie ist besonders deutlich in Feyerabend (1958) und Churchland (1979), § 2.

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werden dabei behandelt. Zum einen sind dies Ansätze, die die Bedeutung von Beobachtungssätzen an Empfindungen knüpfen, zum anderen solche, die äußere Umstände bzw. regel- oder gesetzmäßige Zusammenhänge zu diesen Umständen als konstitutiv für die Bedeutung von Beobachtungsausdrücken ansehen. Empfindungen werden in der Regel für (relativ) theoriestabil gehalten. Wenn sie dazu beitragen, die Bedeutung von Beobachtungsausdrücken festzulegen oder wenn sie die Bedeutung einiger Ausdrücke vielleicht vollständig determinieren, würde dies die theoretische Varianz der Bedeutung der Ausdrücke einschränken oder ausschließen. Für eine solche Bedeutungsfestlegung kommen auf den ersten Blick Ausdrücke für sinnliche Eigenschaften wie ‚rot‘, ‚süß‘ oder ‚warm‘ in Frage. Denn es gibt hier jeweils besondere Empfindungsarten, deren Vorkommnisse uns üblicherweise veranlassen, Sätze mit den Ausdrücken zu behaupten oder für wahr zu halten. Die Empfindungsarten werden daher in der Regel ebenfalls unter Verwendung des entsprechenden Ausdrucks charakterisiert. Rot-Empfindungen führen typischerweise dazu, „hier ist etwas Rotes“ für wahr zu halten, usw. Feyerabend und Churchland leugnen eine solche Korrelation zwischen Vorkommnissen bestimmter Empfindungsarten und Sätzen nicht. Sie bestreiten aber, dass diese Korrelation die Bedeutung der Ausdrücke auch nur zum Teil festlegt. Churchland argumentiert hierfür, indem er die Möglichkeit von Wesen nachzuweisen versucht, bei denen Empfindungen mit anderen Ausdrücken korrelieren als bei uns.43 Die ‚Infrarot-Seher‘ haben, so geht die Fiktion, Augen, die nur für Infrarotstrahlung sensitiv sind. Die anschließende kognitive Verarbeitung führt bei ihnen zu Empfindungen der Art, die wir beim Sehen schwarzer oder weißer Gegenstände haben. Sie haben WeißEmpfindungen, wenn sie heißen Gegenständen begegnen, und SchwarzEmpfindungen, wenn etwas Kaltes in ihrem Blickfeld ist. Dennoch ist es möglich, so Churchland, dass sie auf die Empfindungen regelmäßig mit Sätzen reagieren, die „da ist etwas Heißes“ bzw. „da ist etwas Kaltes“ bedeuten. Um diese Möglichkeit zu plausibilisieren, gesteht Churchland den Infrarot-Sehern Temperatur-Überzeugungen ganz ähnlich den unseren zu. Sie glauben, dass Feuer heiß und Eis kalt ist, usw. Wenn diese Fiktion möglich ist, zeigt dies, dass die Bedeutung von Ausdrücken, die regelmäßig in der Folge von Empfindungen verwendet werden, nicht schon dadurch notwendig in ihrer Bedeutung festgelegt sind. Bei denselben Empfindungen, auf die wir mit Behauptungen der Präsenz weißer Gegenstände reagieren, behaupten die Infrarotseher, dass da etwas Heißes ist. 43

Siehe Churchland (1979), §2.

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Diese Behauptungen sind ihrem Inhalt nach grundsätzlich verschieden. Die Empfindungen scheinen demnach die möglichen Bedeutungen auch nicht wesentlich zu beschränken. Aber auch die Unabhängigkeit der Bedeutung von „da ist etwas Heißes“ im Mund der Infrarot-Seher von ihren Weiß-Empfindungen lässt offen, ob nicht die Bedeutung mancher unserer Ausdrücke an Empfindungsqualitäten hängt. Jemand mag rote Gegenstände immer nur als mit Erdbeergeschmack erlebt haben. Wenn er daher einen roten Gegenstand auch nur sieht, urteilt er sofort: Da, etwas mit Erdbeergeschmack. Die Möglichkeit dieser Reaktion und die Unabhängigkeit der Bedeutung von der Empfindungsqualität zeigen aber nicht, dass die Bedeutung eines Satzes wie „da, etwas Rotes“ ebenfalls von der Empfindungsqualität unabhängig ist. Es ist demnach denkbar, dass das Temperaturvokabular der Infrarot-Seher seine Bedeutung auf andere Weise erhält als unser Farbvokabular. Ob man eine semantisch konstitutive Rolle von Empfindungen für möglich hält, kann davon abhängen, wie man Empfindungsqualitäten auffasst. Man könnte von einer notwendigen Verknüpfung zwischen Empfindungsarten und intentionalen Gehalten ausgehen.44 Demnach ist es mit dem Haben einer Rot-Empfindung notwendig verknüpft, dass es mir sinnlich so vorkommt, als wäre da etwas Rotes. Natürlich brauche ich kein entsprechendes Urteil zu fällen. Ich komme vielleicht bloß zur Überzeugung, dass da etwas mit Erdbeergeschmack ist. Trotzdem ist es visuell so, als ob etwas Rotes vor mir wäre. Wenn Empfindungen – zumindest der Arten, die in sinnlichen Wahrnehmungen vorkommen – notwendig intentional sind, ist es nahe liegend anzunehmen, dass man mit einigen Ausdrücken den Inhalt von Empfindungen wiederzugeben versucht und deren Bedeutung daher zumindest teilweise durch die Empfindungen bestimmt wird. Dieser Position zufolge könnten die Infrarot-Seher zwar in der Folge von Weiß-Empfindungen behaupten, dass da etwas Heißes ist. Gleichzeitig haben ihre Empfindungen aber einen anderen intentionalen Gehalt und präsentieren weiße Gegenstände. Diesen Gehalt drücken wir aus, wenn wir in der Folge dieser Empfindungen behaupten, dass da etwas Weißes ist. Diese Möglichkeit einer semantisch konstitutiven Rolle von Empfindungen ist aber versperrt, wenn man die Feyerabend-Churchland’sche Annahme teilt, dass Empfindungsarten lediglich durch intrinsische Qualitäten charakterisiert werden, die nicht notwendig mit intentionalen Eigenschaften verknüpft sind. 44

Von einer solchen notwendigen Verknüpfung gehen etwa Autoren aus, die phänomenale Qualitäten als identisch mit intentionalen Eigenschaften auffassen. Siehe etwa Harman (1990), Tye (1995), Dretske (1995).

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Denn dann scheint es zunächst plausibel anzunehmen, dass die Bedeutung von Beobachtungssätzen schon deshalb nicht durch eine Empfindungsqualität mitbestimmt wird, weil diese Sätze öffentliche Sachverhalte der Welt zum Inhalt haben, Empfindungsqualitäten jedoch Eigenschaften privater, mentaler Zustände sind.45 Allerdings gibt eine theoretische Option, um die Kluft zwischen semantisch konstitutivem mentalem Zustand und so festgelegtem öffentlichem Inhalt zu überbrücken. Einer klassischen Position zufolge sind Farbeigenschaften und andere sinnliche Eigenschaften relational. Die Eigenschaft, rot zu sein, besteht demnach beispielsweise in der Disposition, unter normalen Umständen bei normalen Beobachtern Empfindungen einer bestimmten intrinsischen Qualität – Rot-Empfindungen – hervorzurufen. Dieser Position zufolge behaupten wir mit „da ist etwas Rotes“ das Vorliegen einer dispositionalen Eigenschaft eines Gegenstands der Welt, also etwas Öffentliches, das dennoch wesentlich die intrinsische Qualität mentaler Zustände einschließt. Demzufolge konstatieren die Infrarot-Seher vermutlich mit ihrem „da ist etwas Heißes“ das Vorliegen einer anderen Eigenschaft, als wir es mit einem entsprechenden Satz tun. Denn ihre Äußerung bezieht sich vermutlich auf die Disposition, bei gewöhnlichen Infrarot-Sehern WeißEmpfindungen hervorzurufen. Dagegen nimmt unsere Behauptung Bezug auf die Disposition, bei normalen Menschen Heiß-Empfindungen hervorzurufen.46 Dies zeigt, dass die Feyerabend-Churchland’sche Zurückweisung der semantischen Konstitutivität von Empfindungen an speziellen Annahmen zur Natur von Empfindungen und sinnlichen Eigenschaften hängt. Empfindungen dürfen demnach als solche nicht intentional sein, und sinnliche Eigenschaften sollen keine Relationen zu Empfindungsarten sein. Aber auch wenn man diese Annahmen zurückweisen könnte, käme nur eine recht beschränkte Menge von Prädikaten für eine Bedeutungsfestlegung durch Empfindungen in Frage. Es sind dies Prädikate, die sehr direkt einzelnen perzeptuellen Empfindungen (Farb-, Geräusch-, Geschmacks- etc. Empfindungen) zugeordnet werden können und insofern sinnliche Eigenschaften bezeichnen. Viele andere Prädikate, die alltägliche oder wissenschaftliche beobachtbare Eigenschaften, Stoffe oder Arten bezeichnen – von ‚stabil‘ oder ‚durchsichtig‘ über ‚Milch‘ und ‚Schlamm‘ zu ‚Kirschbaum‘ und ‚Hund‘ – kommen für eine solche semantische Position zunächst sowieso nicht in Frage.

45 46

Vgl. Feyerabend (1960), Abschn. 3. Für eine solche Antwort auf Churchlands Beispiel der Infrarot-Seher siehe Tagliaferro (1991). Vgl. Churchland (1979), 12/13 für Überlegungen hierzu.

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Das Churchland’sche Beispiel der Infrarot-Seher scheint aber eine andere semantische Position nahe zu legen, deren Anwendungsbereich nicht so beschränkt zu sein braucht und derzufolge die Bedeutung von Beobachtungsausdrücken ebenfalls weitgehend theorieunabhängig wäre. Die Sätze der Infrarotseher mit der Bedeutung, dass da etwas Heißes ist, werden regelmäßig im Laufe von Sinneserfahrungen produziert, die von heißen Gegenständen verursacht werden. Dies ist bei normalen Menschen nicht anders. Zwar führen heiße Gegenstände bei gewöhnlichen Menschen zu anderen Empfindungen als bei Infrarotsehern, die jeweils folgenden Beobachtungssätze haben aber dieselbe Bedeutung. Dies legt die Idee nahe, dass – grob gesagt – die regel- oder gesetzmäßigen Korrelationen von Vorkommnissen heißer Gegenstände und Vorkommnissen des Satzes „da ist etwas Heißes“ die Bedeutung des Satzes festlegen. Es gibt eine ganze Familie von semantischen Positionen, die davon ausgehen, dass die Bedeutung eines Beobachtungsausdrucks oder -satzes A durch die Eigenschaft F festgelegt wird, mit deren Instanzen die Vorkommnisse des Ausdrucks nomologisch verbunden sind. So hat Dretske eine informationale Semantik vorgeschlagen, wonach die Bedeutung einiger Ausdrücke oder mentaler Zustände durch die Information mit festgelegt wird, die sie tragen. Dabei trägt der Ausdruck A die Information, dass ein F vorliegt, wenn es nomologisch wahr ist, dass wenn A vorkommt, auch ein F vorliegt.47 Fodor hat die Position vertreten, dass der Ausdruck A die Eigenschaft F genau dann zum Inhalt hat, wenn gilt: 1. Instanzen von F verursachen unter optimalen Bedingungen in Beobachtern Vorkommnisse von A. 2. Falls Dinge, die nicht F sind, auch As verursachen, hängt diese Verursachung asymmetrisch von der Verursachungsrelation zwischen F und A ab.48

Dabei ist eine zweite Verursachungsrelation von einer ersten asymmetrisch abhängig genau dann, wenn die erste auch bestehen würde, wenn die zweite nicht bestünde, die zweite aber ohne die erste nicht bestehen würde. Wenn tatsächlich neben Fs auch nicht-Fs As verursachen, dürfen demnach in den nächsten möglichen Welten, in denen Fs keine As verursachen, auch die fraglichen nicht-Fs keine As verursachen. Gleichzeitig müssen in den nächsten möglichen Welten, in denen die nicht-Fs keine As verursachen, die As dennoch von Fs verursacht werden. 47 48

Siehe Dretske (1981). Dretske zufolge bedeutet ein Ausdruck nicht alle Information, die er trägt, sondern nur eine Teilmenge davon. Vgl. Beckermann (2001), 334ff. Siehe Fodor (1987), Kap. 4, und Fodor (1990), Kap. 4; vgl. Beckermann (2001), 349ff.

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Beide Positionen sind in vielen Hinsichten genauer spezifizierbar. Für den gegenwärtigen Kontext ist aber zunächst bemerkenswert, dass die Positionen zur Folge haben, dass die Bedeutung von Beobachtungsausdrücken weitgehend oder vollständig von Theorien unabhängig ist. Denn die nomologischen Relationen zwischen F und A bestehen unabhängig von Theorien. An dieser Stelle ist keine vollständige Würdigung dieser Positionen möglich. Feyerabend diskutiert kausale Bedeutungstheorien zwar recht ausführlich unter der Bezeichnung ‚pragmatisches Sinnprinzip‘.49 Allerdings legt er sehr schlichte Versionen der Bedeutungstheorie zugrunde, so dass eine sinnvolle Übertragung der Diskussion auf die ausgefeilten Positionen Dretskes und Fodors nicht sinnvoll ist. Churchland geht an einigen Stellen kurz auf solche Theorien ein. Insbesondere formuliert Churchland einen Einwand, den ich hier diskutieren möchte. Churchland bezieht sich ursprünglich auf eine frühe Version von Dretskes Vorschlag und wendet ein, dass der Vorschlag es unmöglich zu machen scheint, dass sich Beobachter systematisch irren. Als Beispiele führt Churchland Beobachtungssätze wie ‚die Götter schreien‘ und ‚da sind Fenster in der Kristallsphäre‘ an.50 Man kann hier annehmen, dass diese Sätze in einer Sprachgemeinschaft aufgrund einer nomologischen Relation regelmäßig beim Hören von Donnern bzw. Sehen von Sternen geäußert werden. Dennoch müssen die Sätze nicht bedeuten, dass es donnert oder dass da Sterne stehen. Vielmehr können sie einen Inhalt haben, der immer und systematisch falsch ist. Churchland geht aber davon aus, dass Positionen der besprochenen Art mit ständigem und systematischem Irrtum unvereinbar sind. Diese Positionen scheinen, indem sie die Bedeutung von Sätzen oder Ausdrücken an eine nomologische Korrelation mit äußeren Umständen binden, es semantisch unmöglich zu machen, dass ein Satz immer falsch ist. Wenn man es aber wie Churchland von allen unseren Beobachtungssätzen für möglich hält, dass sie systematisch falsch sind, kann man schließen, dass diese semantischen Positionen für Beobachtungssätze ungeeignet sind. Wie gesagt, formuliert Churchland seinen Einwand gegen eine frühe Fassung der Position Dretskes. Im Weiteren hat Dretske seine Position weiter entwickelt und dabei einen Schwerpunkt auf die Möglichkeit von Irrtümern gelegt.51 Aber auch Fodor hat sich des Problems angenommen. Ich möchte jetzt untersuchen, wie weit der Churchland’sche Einwand gegen Fodors Position trägt. 49 50 51

Siehe insbes. Feyerabend (1958). Siehe Churchland/ Churchland (1983), 67. Siehe Dretske (1986).

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Hierbei sind zunächst zwei Bemerkungen zum intendierten Anwendungsbereich von Fodors Theorie angebracht. Erstens formuliert Fodor seine Position nicht nur oder nicht vorzugsweise für sinnliche Eigenschaften wie Röte oder Wärme, sondern für Eigenschaften, die alltägliche und wissenschaftliche Klassen und Stoffe charakterisieren, wie anhand seiner Beispiele klar wird (Pferd und auch Proton).52 Fodors Position ist daher ein gutes Beispiel für eine semantische Theorie, die nicht auf Ausdrücke für sinnliche Eigenschaften beschränkt ist. Zweitens formuliert Fodor seine Position für syntaktisch primitive Ausdrücke, die in elementaren Sätzen wie ‚das ist ein Pferd‘ vorkommen. Die Churchland’schen Beispiele sind schon deswegen als Fälle für Fodors Position ungeeignet, weil es recht komplexe Sätze sind, in denen mehrere Begriffe vorkommen. Vielleicht wären statt ‚die Götter schreien‘ und ‚da sind Fenster in der Kristallsphäre‘ solche Äußerungen wie ‚da, Göttergeschrei!‘ und ‚da, Himmelsfenster!‘ besser für die Diskussion geeignet. Aber die Prädikate sind hier zumindest im Deutschen immer noch syntaktisch komplex. Besser scheint es, andere Beispiele zu wählen, die nicht im Verdacht syntaktischer Komplexität stehen. Man braucht hierzu den Bereich des Okkulten nicht zu verlassen, vielmehr bieten sich Ausdrücke wie ‚Hexe‘, ‚Meeresungeheuer‘ oder ‚Ufo‘ an (oder ‚Drache‘, ‚Gespenst‘ ‚Irrlicht‘, ‚Nessie‘ etc.). Es fällt wohl nicht schwer, sich in eine Zeit zurückzuversetzen, in der diese Ausdrücke – mit im Großen und Ganzen unveränderter Bedeutung – regelmäßig in der Folge bestimmter Erscheinungen oder für Menschen bestimmten Aussehens verwendet wurden. Beispielsweise wurde ‚Hexe‘ regelmäßig auf rothaarige Frauen, die einen bestimmten wirren Blick hatten, angewendet. (Ich vereinfache die komplexen Anwendungsbedingungen stark.53) Alle diese Äußerungen waren falsch: Es gab keine Hexen. Aber innerhalb der Gemeinschaft verursachten Frauen des beschriebenen Aussehens systematisch solche Äußerungen. Ihr Ausdruck ‚Hexe‘ ist nomologisch mit den Frauen verknüpft.

52 53

Fodor (1987), Kap. 4. Für die gewöhnliche Vorstellung von Hexen siehe den Artikel ‚Hexe’ in BächtoldStäubli (Hg.) (1931), Bd. III, insbes. 1896/1897: „Aussehen: Eine Hexe ist meist eine alte hässliche Frau ... mit roten, und entzündeten, tiefliegenden und rotgeschwollenen, von roten, fleischigen Ringen umgebenen, triefenden oder leuchtenden Augen und mit zusammengewachsenen Augenbrauen. Alle Hexen blinzeln. Sie sind schmutzig, haben zerzaustes Haar, einen Bart, Schnurrbart, ein spitzes Kinn und sprechen wie ein Mann. Sie sind mager, bleich, erdfarben, hinken und haben einen Buckel, eine krumme Nase, die bis ans Kinn reicht...“

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Die Bedeutung von ‚Hexe‘ und ähnlich gelagerten Beispielen stellt Fodors Position vor zwei Schwierigkeiten.54 Erstens gibt es keine Hexen. Also gibt es keine Hexen, die tatsächlich ‚Hexe‘-Vorkommnisse verursachen. Fodors Vorschlag kann aber im Prinzip mit diesem Problem zurechtkommen.55 Denn Fodor betrachtet eine nomologische Korrelation zwischen Eigenschaften als semantisch bestimmend. Solche Korrelationen können aber auch zwischen Eigenschaften bestehen, die tatsächlich nicht instanziiert sind. Wichtig ist daher, dass es, wenn es Hexen gäbe, diese Hexen ‚Hexe‘-Vorkommnisse verursachen würden. Genauer gesagt muss Fodor davon ausgehen, dass gilt: (1) In den nächsten Welten, in denen es Hexen gibt, verursachen diese ,Hexe‘Vorkommnisse.

Die zweite Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass die tatsächlichen Vorkommnisse von ‚Hexe‘ von rothaarigen, wirr blickenden Nicht-Hexen verursacht werden. Warum bedeutet ‚Hexe‘ dann nicht einfach rothaarige, wirr blickende Nicht-Hexe, sondern Hexe? Doch auch für dieses Problem hat Fodor im Prinzip eine Lösung, die in der obigen Präsentation von Fodors Position schon enthalten ist. ‚Hexe‘ bedeutet dennoch Hexe und nicht rothaarige Frau mit wirrem Blick, wenn die Verursachungsrelation zwischen rothaarigen, wirr blickenden Frauen und ‚Hexe‘ asymmetrisch von der Verursachungsrelation zwischen Hexen und ‚Hexe‘ abhängt. Dies schließt die Behauptung ein (siehe die obige Vorstellung der Position): (2) In den nächsten möglichen Welten, in denen es Hexen gibt, die keine ‚Hexe‘Vorkommnisse verursachen, verursachen auch rothaarige, wirr blickende Frauen keine ‚Hexe‘-Vorkommnisse.

Beide Lösungsansätze sind aber im Fall von ‚Hexe‘ (und allen Fällen dieser Art) unbrauchbar. Zunächst ist es unklar und in der Tat unwahrscheinlich, dass Hexen, wenn es sie gäbe, überhaupt ‚Hexe‘-Vorkommnisse verursachen würde. Denn die Verursachung tatsächlicher ‚Hexe‘-Vorkommnisse macht 54

55

Putnam kritisiert Fodors Position ebenfalls anhand einer Diskussion des Beispiels ‚Hexe‘. Allerdings beruht seine Kritik nicht auf dem Churchland’schen Einwand, dass Beobachtungssätze systematisch falsch sein können. Vielmehr untersucht Putnam, ob der Begriff der Hexe überhaupt kohärent ist. Er bezweifelt dies, und kommt zum Schluss, dass das subjunktive Konditional „wenn es Hexen gäbe, würden sie ‚Hexe‘Vorkommnisse verursachen“ daher nicht wahr sein kann. Fodor braucht die Wahrheit dieses Konditionals aber für die Erfüllung der ersten Bedingung der oben dargestellten Position. Siehe Putnam (1992), 43ff. Ich gehe im Folgenden in der Diskussion des Beispiels aber davon aus, dass Hexen metaphysisch und auch nomologisch möglich sind. Vgl. Fodors Diskussion von ‚Einhorn‘, Fodor (1990), 100/101.

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sich am Aussehen vermeintlicher Hexen fest: Die Vorkommnisse werden verursacht von Frauen, die rothaarig sind und wirr blicken. Eine Hexe wird aber letztlich nicht durch ihr Aussehen charakterisiert, sondern dadurch, ob sie beispielsweise über außergewöhnliche Kräfte oder Fähigkeiten verfügt, mit dem Teufel im Bunde steht oder Ähnliches. Es gibt keine notwendige Verbindung zwischen diesen ‚inneren‘ Eigenschaften und ihrem Aussehen. Die populären Vorstellungen nicht nur darüber, dass es Hexen gibt, sondern wohl auch darüber, wie sie aussehen würden, wenn es sie gäbe, sind völlig irrig. Es ist daher extrem unwahrscheinlich, dass Hexen in der möglichen Welt, die der unseren am nächsten ist und in der es welche gibt, überwiegend rothaarige, wirr blickende Frauen sind. Dann ist es aber extrem unwahrscheinlich, dass sie ‚Hexe‘-Vorkommnisse verursachen würden. So unwahrscheinlich es ist, dass Hexen ‚Hexe‘-Vorkommnisse verursachen würden, so wahrscheinlich ist es, dass rothaarige, wirr blickende Frauen dies tun würden, auch wenn die Hexen dies nicht tun würden. In der nächsten möglichen Welt mit Hexen, die keine ‚Hexe’-Vorkommnisse verursachen, sind Hexen vielleicht überwiegend blond und blicken gutmütig. Es wäre anzunehmen, dass trotzdem rothaarige, wirr blickende Nicht-Hexen ‚Hexe‘Vorkommnisse verursachen. Jedenfalls wäre eine solche mögliche Welt, in der diese Kausalrelation besteht, unter sonst gleichen Umständen der unseren Welt ähnlicher als eine, in der sie nicht besteht. Doch dann ist auch die zweite Annahme, die von Fodor in Anspruch genommen werden muss, falsch. Es ist insgesamt unglaubwürdig, dass eine Verursachungsrelation zwischen Hexen und ‚Hexe‘ besteht. Diese besteht zwischen rothaarigen, wirr blickenden Frauen und ‚Hexe‘. Wenn aber die erste Relation besteht, dann ist die zweite nicht davon asymmetrisch abhängig. Es ist vielmehr umgekehrt: Wenn die erste Relation besteht, dann deswegen, weil Hexen (zufällig) rothaarig und wirr blickend aussehen und solche Frauen ‚Hexe‘-Vorkommnisse verursachen. Das Argument der letzten beiden Abschnitte gegen eine Fodor’sche Semantik für ‚Hexe‘ lässt sich verallgemeinern. Betrachten wir eine Eigenschaft F von möglichen Dingen, die sich nicht hauptsächlich in Oberflächeneigenschaften der Dinge ausdrückt, sondern eine ‚innere‘ Eigenschaft ist. (Dazu zählen die Eigenschaften, eine Hexe zu sein genauso wie die, ein Hund zu sein oder ein Proton zu sein.) Nehmen wir an, die Eigenschaft ist nicht tatsächlich instanziiert. Dennoch kann es einen primitiven Ausdruck A geben, der diese Eigenschaft bezeichnet. Dann ist es aber möglich, dass eine Klasse tatsächlicher Dinge mit der Oberflächeneigenschaft G regelmäßig diesen Ausdruck verursacht. Es ist möglich, dass wir uns ständig und systematisch darin irren, dass etwas F ist. Die Bedeutung dieses Ausdrucks wird aber dann

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nicht in der Weise festgelegt, die Fodor vorschlägt. Denn die Kausalrelation besteht zuallererst zwischen den tatsächlichen Dingen, die G sind, und A. Es ist erstens unklar, ob überhaupt eine Kausalrelation zwischen F und A besteht. Und falls eine solche Kausalrelation besteht, ist es zweitens unglaubwürdig, dass die Relation zwischen G und A asymmetrisch davon abhängt. Vielmehr ist zu vermuten, dass die Abhängigkeit in umgekehrter Richtung besteht.56 Wenn es aber von allen unseren Beobachtungsausdrücken, die nicht rein sinnliche oder Oberflächeneigenschaften bezeichnen, möglich ist, dass sie nicht tatsächlich instanziiert sind und wir uns in ihrer Anwendung ständig und systematisch irren, dann kann die Bedeutung aller dieser Ausdrücke nicht auf Fodor’sche Weise festgelegt sein. Denn Fodors Weise der Bedeutungsfestlegung ist mit einer solchen Situation unvereinbar. Die Situation müsste demnach semantisch unmöglich sein. Insgesamt zeigt sich, dass semantische Positionen, die nomologische Korrelationen zwischen Vorkommnissen von Ausdrücken und Eigenschaften oder Tatsachen als semantisch konstitutiv auszeichnen, durch die Möglichkeit systematisch falsch angewendeter Ausdrücke, die nichts tatsächlich Bestehendes bezeichnen, vor hohe Hürden gestellt werden. Positionen, die demgegenüber auf Empfindungen bauen, können dagegen auch für den Fall, dass Empfindungen oder sinnliche Eigenschaften eine geeignete Natur haben, allenfalls für ein sehr beschränktes Vokabular semantisch bestimmend sein. Feyerabend und Churchland schließen aus den Schwächen dieser alternativen Theorien, dass die Netzwerk-Semantik auch für Ausdrücke für perzeptuell Beobachtbares die beste theoretische Option darstellt. Dieser Schluss ist aber nicht zwingend. Erstens könnte die Netzwerk-Semantik selbst bei Beobachtungsausdrücken mit Problemen konfrontiert sein; zweitens könnte es eine weitere Alternative geben, die erfolgreich ist. Diese Möglichkeiten, die Geltung des Ausschluss-Arguments zu untergraben, werde ich aber erst in Kapitel 7 ausloten.

56

Vgl. Fodor (1987), 121/122: Fodor erwägt hier, dass die Kausalrelationen zwischen Gegenständen, die nicht durch ihre Oberflächeneigenschaften wesentlich charakterisiert sind, und Ausdrücken für diese Gegenstände vermittels der Oberflächeneigenschaften und Ausdrücken für diese Eigenschaften bestehen. Dies ermöglicht aber gerade den diskutierten Einwand.

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4. Die syntaktische Theorie der Beobachtung und der Pessimismus a) Zusammenfassung der Position Wenn man die Argumentation, wie sie bisher präsentiert und vorläufig akzeptiert wurde, zusammenfasst, ergibt sich die folgende Position zur Theoriebeladenheit der Beobachtung. Erstens werden Beobachtungen im Allgemeinen nach der Funktionsweise von Messgeräten modelliert: Sie sind Kausalprozesse, die zu Beobachtungssätzen führen. Die Kausalrelation macht sich dabei an der Syntax der Beobachtungssätze fest. Beobachtungen haben zudem keine weiteren Ergebnisse, die epistemisch von Bedeutung sind. Zweitens wird angenommen, dass die Bedeutung der Beobachtungssätze durch die inferenziellen Relationen festgelegt wird, in denen sie (bzw. die darin vorkommenden Ausdrücke) gemäß den geltenden Theorien stehen. Die Argumentation für diese Position ist komplex und mit vielen Fragezeichen zu versehen. Insgesamt aber wurde zunächst dafür argumentiert, dass eine solche Netzwerk-Semantik für Ausdrücke, die wesentlich in explanatorischen Theorien vorkommen und nichts perzeptuell Beobachtbares bezeichnen, plausibel ist. Dann wurde behauptet, dass Ausdrücke für perzeptuell Beobachtbares semantisch genauso funktionieren. Dafür konnten bei Feyerabend und Churchland aber keine überzeugenden Gründe gefunden werden. Die Argumentation lässt sich aber verstärken, indem man einige alternative semantische Positionen zu Wahrnehmungsausdrücken zurückweist. Zum einen beruht die Churchland’sche Zurückweisung auf der Ablehnung bestimmter Positionen zur Natur von Empfindungen und sinnlichen Eigenschaften. Zum anderen habe ich einige Ideen Churchlands zu einem Einwand gegen Fodors kausale semantische Position ausgebaut. So entstand insgesamt eine Argumentation, die die Netzwerk-Semantik für Beobachtungsausdrücke jedenfalls nicht von vornherein unplausibel erscheinen lässt. Allerdings ist die Begründung anfällig insbesondere gegenüber der Präsentation einer möglichen weiteren, alternativen semantischen Position für Beobachtungsausdrücke. Damit ergibt sich folgende Vorstellung von Beobachtungen: Beobachtungen führen zu Beobachtungssätzen als wissenschaftlich verwertbaren Ergebnissen. Die Bedeutung der Beobachtungssätze ist aber völlig unabhängig von ihrer kausalen Genese. Vielmehr wird die Bedeutung vollständig durch das theoretische Netzwerk festgelegt. Zu diesem Netzwerk gehören insbesondere die Theorien, welche die Beobachtungen erklären sollen. Man kann daher die Tatsache, welche Beobachtungssätze in einer Beobachtung produziert werden, von der Tatsache trennen, welche Bedeutung diese Sätze durch die Einbettung in Theorien erhalten. Insbesondere können die Kausalprozesse,

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die zu Beobachtungssätzen führen, gegenüber theoretischem Wandel stabil sein. Alternative Theorien zu einem Gegenstandsbereich können mit derselben Menge von Beobachtungssätzen konfrontiert werden. Allerdings erhalten die Beobachtungssätze durch verschiedene Theorien unterschiedliche Bedeutungen. Die alternativen Theorien stehen also nur insofern denselben Sätzen gegenüber, als diese uninterpretiert sind, d.h. bloß syntaktisch spezifiziert sind. Die Beobachtungsprozesse legen daher nur die Syntax der Beobachtungssätze und die Zeitpunkte, zu denen sie produziert werden, fest. Wegen der Weise, in der äußere Umstände die Produktion von Beobachtungssätzen bestimmen, nennt Feyerabend diese Auffassung von Beobachtungen die „pragmatische Theorie“.57 Da diese äußeren Ursachen aber, wie gesehen, bloß die Syntax der Sätze festlegen und ihr Inhalt damit durch empirische Faktoren völlig unbestimmt bleibt, scheint die Bezeichnung als syntaktische Theorie angebrachter. Im Folgenden will ich Beobachtungen, die entsprechend der syntaktischen Theorie beschaffen sind, als Feyerabend-Churchland-Beobachtungen bezeichnen. Stützen Feyerabend-Churchland-Beobachtungen und ihre Theorieabhängigkeit einen epistemologischen Pessimismus? Dann könnte man gegenüber den Erkenntnisaussichten der Wissenschaften nicht mehr optimistisch sein. Feyerabend und Churchland selbst nehmen hier verschiedene Positionen ein. Zwar hat Feyerabend seine philosophische Karriere als Realist begonnen. Allerdings schließt seine Variante des Realismus nicht explizit einen epistemischen Optimismus ein. Vielmehr ist sein Realismus durch die Behauptung charakterisiert, dass wissenschaftliche Theorien wörtlich verstanden werden sollten, also als Annahmen über in der Regel unbeobachtbare Entitäten, und nicht etwa instrumentalistisch.58 Später hat sich Feyerabend zum Anarchisten gewandelt und äußert sich explizit pessimistisch über die Erkenntnisaussichten der Wissenschaften.59 Churchland gibt sich dagegen oft als optimistischer wissenschaftlicher Realist aus.60 Besonders interessant ist hierbei, dass er die Theoriebeladenheit von Beobachtungen nicht vorwiegend als Bedrohung der wissenschaftlichen Objektivität, sondern als epistemische Chance auffasst. Er glaubt, dass die gegenwärtigen Beobachtungen und Wahrnehmungen häufig irreführend und in ihrer Reichweite unnötig eingeschränkt sind. Indem wir unsere Beobachtungen von den besten verfügbaren Theorien beeinflussen lassen, soll ihre 57 58 59 60

Siehe Feyerabend (1962), 36. Siehe etwa Feyerabend (1960a). Vgl. Preston (1997), 61ff. Siehe Feyerabend (1975), z.B. 34 u. 49/50. Siehe insbes. Churchland (1979).

4. Die syntaktische Theorie der Beobachtungen

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Verlässlichkeit erhöht und insbesondere der Bereich dessen, was wir beobachten können, erweitert werden. Diese Idee erscheint zunächst attraktiv. Die epistemische Qualität theoriebeladener Beobachtungen hängt auch von der Qualität der Theorien ab, die sie beladen. Wenn wir Beobachtungen durch gute Theorien beladen, können wir die Beobachtungen so vielleicht verbessern. Allerdings ist hier auch Vorsicht geboten. Verhindert ein Übermaß an Theoriebeladenheit nicht schon, dass wir zuallererst zu guten Theorien kommen? Ich werde gleich zur Frage kommen, ob das Maß an Theorieabhängigkeit, das Feyerabend und Churchland vertreten, selbst dem möglichen epistemischen Ertrag, den Theoriebeladenheit erbringen kann, die Grundlage nimmt. Zunächst aber werde ich Bedenken gegenüber dem Optimismus ausarbeiten, die Churchland selbst artikuliert hat. b) Das Heuhaufen-Argument Wie gesehen, legt der vorgestellten Position zufolge der Beobachtungsprozess die Beobachtungssätze nur hinsichtlich ihrer Syntax fest. Wissenschaftler sind dann vor die Aufgabe gestellt, eine Theorie zu formulieren, die diese Beobachtungen sowohl erklärt als auch deutet. Ein Optimist muss davon ausgehen, dass die Wissenschaft hierbei unter geeigneten Umständen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Theorie kommen wird, die überwiegend wahr ist. Churchland hat aber das Bedenken geäußert, dass diese Suche nach einer wahren Theorie der Aufgabe gleicht, „eine Nadel in einem gewaltigen Heuhaufen“ zu finden. Es gibt Churchland zufolge eine schier unermessliche Anzahl von Theorien (bzw. begrifflicher Schemata), die denkbar sind. Es sei daher extrem unwahrscheinlich, dass wir jemals auf die richtige, d.h. eine überwiegend wahre Theorie stoßen werden. Deshalb müsse man gegenüber den Erkenntnisaussichten der Wissenschaften letztlich pessimistisch sein.61 Churchland formuliert dieses Bedenken vor dem Hintergrund seiner konnektionistischen Vorstellung wissenschaftlicher Theorien. Zudem diskutiert er bloß die Frage, wie wahrscheinlich es ist, eine wahre Theorie über alles („a final, true theory of the cosmos“) zu finden. Sein Heuhaufen-Argument ist aber unabhängig von diesen Voraussetzungen. Es ist auch für Theorien gültig, die nur einen eingeschränkteren Anwendungsbereich haben, und es lässt sich auf der Grundlage der allgemeinen Position zu Beobachtungen und ihrer Semantik formulieren, die Gegenstand dieses Kapitels ist. Das Heuhaufen-Argument beruht zum einen auf einer Abschätzung der Zahl denkbarer Theorien, zum anderen auf der Charakterisierung der epis61

Siehe Churchland (1996), insbes. 42.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

temischen Rolle, die Beobachtungen im Forschungsprozess spielen. Churchland errechnet die Zahl denkbarer Theorien auf der Grundlage seiner konnektionistischen Theorie des Geistes. Jede Verteilung von Gewichtungen der Verbindungen, die zu einer spezifischen Einteilung des Raums möglicher Aktivitäten führt, hat zur Folge, dass das Netzwerk die Repräsentationen auf besondere Weise verarbeitet. Aus der Sicht der konnektionistischen Netzwerk-Semantik ist es daher nicht unplausibel, die spezifischen Verteilungen der Gewichte als Repräsentationen besonderer Theorien bzw. begrifflicher Schemata aufzufassen. Churchland kommt mit der Annahme, dass die geschätzten 1011 Neuronen und 1014 Synapsen des menschlichen Gehirns ein konnektionistisches Netzwerk sind, von denen jede Synapse zehn mögliche Gewichtungen hat, zur Abschätzung, dass es die astronomische Anzahl von 10 hoch 1014 oder 10100.000.000.000.000 möglicher Verteilungen von Gewichtungen oder denkbaren Theorien gibt.62 Aber auch wenn man die Schätzung etwas konservativer auslegt und nicht an die Annahmen des Churchland’schen Konnektionismus bindet, kommt man ausgehend von einer gewöhnlichen Netzwerk-Semantik auf eine große Anzahl denkbarer Theorien. Angenommen, wir haben eine mittelgroße Theorie mit 30 Begriffen. Jeder dieser Begriffe stehe in zehn inferenziellen Relationen mit anderen Begriffen. Hierbei seien drei verschiedene Relationen möglich, etwa Koinstanziierung (‚A immer genau dann, wenn B‘), kausale Folge (‚wenn A, dann folgt kurz darauf B‘) und Oberbegriff-Unterbegriff (‚alle A sind B‘). Insgesamt bestehen also 150 inferenzielle Relationen: Jeder der 30 Begriffe steht in 10 Relationen, in jeder Relation stehen zwei Begriffe. Die Anzahl der möglichen Relationen beträgt 1305, denn jeder der 30 Begriffe kann mit 29 anderen Begriffen in drei Relationen stehen, die je zwei Begriffe umfassen, und (30·29·3)/2 = 1305. Es kann also eine Auswahl von 150 Relationen aus 1305 bestehen. Demnach sind 1305 über 150 = 1305!/(1155!·150!) Kombinationen möglich. Eine Abschätzung der Größe ergibt, dass dies mehr als 10187 mögliche Kombinationen sind.63 Es ist also auf der Grundlage einer Netzwerk-Semantik anzunehmen, dass es eine unüberschaubar immense Anzahl denkbarer Theorien auch für beschränkte Anwendungsbereiche gibt. Die weitaus meisten dieser Theorien werden in großen Teilen falsch sein. Es ist von einer beliebig herausgegriffenen Theorie sehr unwahrscheinlich, dass sie überwiegend wahr ist. Um wissenschaftlich erfolgreich sein zu können, muss man daher dazu kommen, 62 63

Siehe Churchland (1996), 10ff. Es ist: 1. 1305! > 1155!·1156150 > 1155!·1000150 = 1155!·10450. 2. 150! ≈ 5,7·10262 < 10263. Daher ist 1305!/(1155!·150!) > (1155!·10450)/(1155!·10263) = 10187.

4. Die syntaktische Theorie der Beobachtungen

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Theorien in Betracht zu ziehen, die eine überdurchschnittliche Wahrscheinlichkeit darauf haben, überwiegend wahr zu sein. Wenn man nur durchschnittlich wahrscheinliche Theorien testet, wird man auch nach sehr langer Zeit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine überwiegend wahre Theorie gestoßen sein. Von Feyerabend-Churchland-Beobachtungen ist aber keine Hilfe darin zu erwarten, die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit von in Betracht gezogenen Theorien zu erhöhen. Denn solche Beobachtungen führen, wie gesehen, zu Sätzen, die qua Beobachtungssätze inhaltlich völlig unbestimmt sind. Man kann sich die Sätze als von der Form ‚hier ist jetzt ein F‘ oder auch ‚zum Zeitpunkt t befindet sich am Ort (x,y,z) ein F‘ vorstellen. Wenn man diese Sätze nicht durch eine schon vorgegebene Theorie (und sei es eine Alltagstheorie) interpretiert, haben sie der Feyerabend-Churchland’schen Vorstellung gemäß keine Bedeutung. Die Sätze können dann aber keine semantische Rolle spielen, indem sie etwa den Besitz von (empirischen) Begriffen ermöglichen würden, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit eine korrekte Beschreibung untersuchter Phänomene ermöglichen. Und selbst eine heuristische Rolle, die darin bestehen könnte, dass Beobachtungen von sich aus neuartige empirische Regularitäten nahe legen, scheint ausgeschlossen. Denn auch die heuristische Rolle für noch nicht in Betracht gezogene Theorien könnten sie nur spielen, wenn sie von sich aus eine Bedeutung der Art hätten, die Hinweise auf noch unentdeckte Theorien geben würde. Daher können Feyerabend-Churchland-Beobachtungen nur empirisch zur Forschung beitragen, wenn schon eine interpretierende Theorie vorgegeben ist. Wenn es aber darum geht, zuallererst vielversprechende Hypothesen und Theorien zu formulieren, können solche Beobachtungen keine Beiträge leisten. Es erscheint dann aber unwahrscheinlich, dass wir angesichts der Unmenge denkbarer Theorien über einen Gegenstandbereich jemals dazu kommen sollen, eine überwiegend wahre Theorie auch nur zu formulieren.64 c) Empirische Prüfung durch die Syntax von Beobachtungssätzen Damit stützt die syntaktische Theorie der Beobachtung und die implizierte Theorieabhängigkeit der Beobachtungsinhalte den epistemischen Pessimis64

Man könnte versuchen, unabhängig von Erfahrung gegebene Einschränkungen für die in Betracht gezogenen Theorien anzunehmen, etwa natürliche Neigungen zu bestimmter Begriffsbildung, angeborene Begriffe oder Erkenntnisse a priori. Aber diese Einschränkungen müssten angesichts der großen Zahl möglicher Theorien massiv sein. Zudem ist unklar, ob wir so zu Theorien kommen, die eine höhere Wahrscheinlichkeit auf überwiegende Wahrheit haben. Weitgehende Annahmen in diese Richtung scheinen jedenfalls empiristisch nicht akzeptabel.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

mus auf die erste der beiden möglichen Weisen, die in Kapitel 1 unterschieden wurden.65 Schon die Formulierung einer überwiegend wahren Theorie wird durch diese Form der Theoriebeladenheit unwahrscheinlich gemacht. Aber auch auf die zweite Weise führt die syntaktische Theorie der Beobachtung zum Pessimismus. Feyerabend-Churchland-Beobachtungen machen die Möglichkeit pessimistischer Unterbestimmtheits-Szenarien wahrscheinlich. Wenn es eine systematisch tugendhafte Theorie gibt, die durch die Menge aller in einem Bereich aufstellbaren Beobachtungssätze empirisch bestätigbar ist, dann gibt es wahrscheinlich damit weitgehend unvereinbare Theorien, die mit derselben Menge von Beobachtungen vereinbar ist. Denn Feyerabend-Churchland-Beobachtungen sind unabhängig von Theorien nur in ihrer Syntax (und dem Zeitpunkt ihrer Produktion) festgelegt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Dispositionen zur Produktion von Beobachtungssätzen unabhängig von den geprüften Theorien sind, gibt es daher nur eine syntaktisch und durch den Zeitpunkt der Produktion bestimmte Menge von Beobachtungssätzen, die für alle alternativen Theorien gemeinsam ist. Die jeweiligen Theorien bestimmen dagegen vollständig die Interpretation der Beobachtungssätze. Daher können die Mengen der Beobachtungssätze ihrem Inhalt nach vor verschiedenen theoretischen Hintergründen weit divergieren. Zwar wird nicht jede beliebige Theorie durch die Menge unabhängig produzierter und von ihr interpretierter Beobachtungssätze bestätigt werden. Wie Feyerabend zu Recht bemerkt, kann in einer Beobachtung beispielsweise auch die Negation eines Satzes, der aus der Theorie ableitbar ist, produziert werden.66 Es ist daher nicht garantiert, dass eine syntaktisch geprüfte Theorie empirisch bestätigt wird. Dies zeigt aber nur, dass für die Theorie ein Fehlschlagsrisiko besteht. Die Möglichkeit pessimistischer UnterbestimmtheitsSzenarien bleibt wahrscheinlich. Denn für den Optimismus muss man annehmen, dass von den vielen denkbaren Theorien mindestens eine sowohl systematisch tugendhaft sein als auch durch die von ihr interpretierten Beobachtungssätze empirisch gestützt erscheinen kann. Da es demnach keine grundsätzlichen Hindernisse für die Erklärung einer solchen Beobachtungsmenge durch eine systematisch tugendhafte Theorie gibt, ist zu erwarten, dass auch einige alternative, weitgehend unvereinbare Theorien die Menge der Beobachtungssätze integrieren können. Hierfür ist lediglich erforderlich, dass die Beobachtungssätze, rein 65 66

Siehe Kap. 1, Abschn. 3c. Siehe Feyerabend (1965), 213-215 für eine Darstellung des Zusammenspiels von Produktion und Interpretation Feyerabend’scher Beobachtungssätze und ihrer Rolle in der empirischen Prüfung von Theorien.

4. Die syntaktische Theorie der Beobachtungen

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syntaktisch spezifiziert, aus der Theorie ableitbar sind. Die Netzwerk-Semantik garantiert dann, dass die Sätze so interpretiert werden, dass sie auch inhaltlich die Theorie zu bestätigen scheinen. Es ist dann weder von einer empirisch gestützt erscheinenden Theorie noch von den von ihr interpretierten Beobachtungssätzen wahrscheinlich, dass sie überwiegend wahr sind. Auch wegen der wahrscheinlichen Möglichkeit solcher UnterbestimmtheitsSzenarien stützt die Theoriebeladenheit von Feyerabend-Churchland-Beobachtungen einen Pessimismus. Zusammenfassung Gegenstand dieses Kapitels ist eine Position zur Beschaffenheit und Theoriebeladenheit von Beobachtungen, die vor allem von Feyerabend und Churchland vertreten wird. Demnach sind erstens Beobachtungen im Allgemeinen als Kausalprozesse auffassbar, die zu Sätzen als wissenschaftlich relevanten Ergebnissen führen. Dabei soll sich die Kausalrelation nur an der Syntax der Sätze festmachen, so dass die Frage nach deren Semantik zunächst offen bleibt. Dieses nach dem Ablauf von Messprozessen gebildete Modell erwies sich insofern als problematisch, als es auch für Wahrnehmungen gelten soll. Denn Zustände perzeptuellen Erscheinens und die eingeschlossenen perzeptuellen Klassifikationen setzen für ihre Verursachung Fähigkeiten perzeptueller Klassifikation voraus, die mit dem vorgeschlagenen Modell nicht eingefangen werden können (Abschn. 2). Die zweite zentrale Annahme der Position ist die Netzwerk-Semantik, derzufolge die Bedeutung der Beobachtungsausdrücke durch ein einbettendes Netz theoretischer Annahmen festgelegt wird (Abschn. 2a). Zwei Argumente hierfür wurden diskutiert. Das Argument von der Semantik theoretischer Ausdrücke setzt darauf, dass Beobachtungsausdrücke semantisch wie theoretische Ausdrücke funktionieren und dass für theoretische Ausdrücke eine Netzwerk-Semantik plausibel ist (Abschn. 3b). Als entscheidende Schwäche erwies sich die behauptete semantische Ähnlichkeit von theoretischen Termen und Beobachtungsausdrücken. So lässt sich die Sprache der fiktiven Gemeinschaft der Wärmestoff-Freunde gerade dann gut verstehen, wenn die Bedeutung ihrer Beobachtungsausdrücke an ihre perzeptuellen Fähigkeiten und nicht an ihre Theorien angebunden ist. Das Ausschluss-Argument weist zunächst zwei alternative semantische Theorien für Beobachtungsausdrücke zurück, die Empfindungen bzw. nomologische Relationen zu Tatsachen oder Eigenschaften als semantisch konstitutiv auffassen. Es schließt dann daraus auf die Netzwerk-Semantik als verbleibende Option (Abschn. 3c). Die durchgeführte Diskussion ergab, dass die Zurückweisung der Alternativen plausibel ist. So könnte eine an Empfin-

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Theoriebeladenheit und Objektivität

dungen anknüpfende Semantik von vornherein nur die Bedeutung von Ausdrücken für sinnliche Eigenschaften erklären. Eine auf nomologische Verknüpfungen setzende Semantik gerät dagegen durch die Möglichkeit umfassenden Irrtums in der Anwendung von Prädikaten in Schwierigkeiten. Allerdings ist das Ausschluss-Argument anfällig gegenüber der Formulierung einer weiteren Alternative, auf die ich aber erst in Kapitel 7 im Detail zu sprechen komme. Die Auffassung von Beobachtungen und ihrer Theoriebeladenheit, die sich insgesamt ergibt, erwies sich für den epistemischen Optimismus als doppelt katastrophal. Erstens lässt sich mit nahe liegenden Zusatzannahmen dafür argumentieren, dass wir vermutlich niemals eine überwiegend wahre Theorie zu einem Bereich überhaupt empirisch zur Prüfung stellen werden (Abschn. 4b). Zweitens könnten wahrscheinlich viele weitgehend unvereinbare Theorien empirisch als gut gestützt erscheinen (Abschn. 4c). Beide Weisen der Stützung eines Pessimismus hängen daran, dass der diskutierten Position zufolge Beobachtungen nur hinsichtlich der Syntax von Beobachtungssätzen empirisch, in ihrer Semantik aber vollständig theoretisch festgelegt sind. Für eine Begründung des Optimismus muss daher gezeigt werden, dass diese extreme Form der Theoriebeladenheit unhaltbar ist.

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Kapitel 5: Die Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen 1. Einleitung In diesem Kapitel soll es um eine weitere Form der Theoriebeladenheit gehen, die unabhängig von den Varianten ist, die in den vorhergehenden Kapiteln behandelt wurden. Bisher wurden Formen der Theoriebeladenheit untersucht, bei denen der Inhalt der Ergebnisse von Beobachtungsprozessen theorieabhängig sein soll. So wurde diskutiert, ob perzeptuelle Klassifikationen oder Wahrnehmungsurteile bzw. der semantische Gehalt von Beobachtungssätzen so durch Theorien bestimmt wird, dass man vor dem Hintergrund verschiedener Theorien in denselben Situationen Beobachtungen unterschiedlichen Inhalts macht. Demgegenüber soll in diesem Kapitel eine Form der Theoriebeladenheit behandelt werden, die unabhängig davon bestehen kann, ob der Inhalt möglicher Beobachtungsresultate theoretisch beeinflusst wird. Diese Form der Theorieabhängigkeit macht sich vielmehr daran fest, dass ein bestimmtes Beobachtungsresultat erst dann wissenschaftlich akzeptabel ist, wenn man innerhalb der Wissenschaft davon ausgeht, dass es verlässlich ist. So ist ein Beobachtungssatz gegebenen Inhalts nur als Evidenz für oder gegen Hypothesen verwendbar, wenn man wissenschaftlich davon ausgehen kann, dass er die tatsächliche Sachlage vermutlich richtig wiedergibt. Man kann aber dafür argumentieren, dass solche Einschätzungen der Verlässlichkeit von Beobachtungsresultaten theorieabhängig sind. Die zu diskutierende Position wird daher durch die folgenden beiden Thesen grob charakterisiert: 1. Ob Beobachtungsresultate wissenschaftlich akzeptiert werden, hängt von einer Einschätzung ihrer Verlässlichkeit ab. 2. Theoretische Annahmen bestimmen (mit), welche Beobachtungsresultate in den Wissenschaften als verlässlich eingeschätzt werden.

Diese Position kann ihrer Art nach in sehr allgemeiner Weise vertreten werden. Sie kann sich zunächst auf Beobachtungsresultate beziehen, die man durch Wahrnehmungen – mit oder ohne Instrumente – erhält. Zudem kann sie sich auf satzartige Messgeräte-Daten erstrecken. Und schließlich kann man überlegen, in welcher Form sie auch auf empirische Resultate zutrifft, die man in komplexen, mit hohem instrumentellem Aufwand betriebenen Experimenten und nach ausgefeilter Fehlerkontrolle und Datenanalyse gewinnt. Denn in allen Fällen scheint es möglich, dass theoretische Annahmen insbesondere über den Verlauf der Beobachtungsprozesse – über Wahrnehmun-

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Theoriebeladenheit und Objektivität

gen, Messungen mit Geräten oder mögliche Störungen – die Verlässlichkeitseinschätzung beeinflussen. Damit würde sich zeigen, wie wissenschaftliche Annahmen über das Zustandekommen von Beobachtungsresultaten die wissenschaftliche Verwendbarkeit dieser Ergebnisse beeinflussen. Im nächsten Abschnitt werde ich zunächst die erste These erläutern und hierbei diskutieren, welche Formen eine solche Einschätzung annehmen könnte. Im darauf folgenden Abschnitt will ich dann die zweite These diskutieren und hierbei Argumente untersuchen, die dafür und dagegen vorgebracht wurden, dass die Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen theorieabhängig ist. Im letzten Abschnitt wird es darum gehen festzustellen, ob die Position zur Theoriebeladenheit, die sich vorläufig aus der Diskussion ergibt, einen Pessimismus stützt. 2. Formen der Verlässlichkeitseinschätzung a) Einige mögliche Varianten Beobachtungen kann man im Allgemeinen als Prozesse charakterisieren, die von (vermeintlichen) Untersuchungsgegenständen über verschiedene Zwischenstufen zu Ergebnissen führen, die ihrer Art nach einen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung über diese Gegenstände leisten können. (Siehe Kap. 1, Abschn. 2.) Diese grobe Charakterisierung wirft zwei Fragen auf. Erstens kann man fragen, was dazu führt, dass ein Beobachtungsergebnis nicht nur potenziell, sondern tatsächlich einen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung leistet. Hier wird behauptet, dass Beobachtungsergebnisse typischerweise einer Einschätzung unterworfen werden, ob sie verlässlich sind, bevor sie tatsächlich – beispielsweise als Evidenz – Verwendung finden. (In Abschnitt 3 werde ich Beispiele und Belege für diese wissenschaftliche Praxis anführen.) In diesem Unterabschnitt will ich ausführen, welche Formen diese Einschätzung annehmen könnte. Zweitens kann man aber auch fragen, wie weitreichend die angesprochenen Beobachtungsprozesse eigentlich sein sollen. Sollen die Prozesse beispielsweise nur soweit gehen, bis das erste Ergebnis mit repräsentationalem Inhalt vorliegt, z.B. ein Wahrnehmungsurteil, ein Bild oder eine Messgerätsanzeige? Oder sollen Stufen eingeschlossen werden, die sich bei vielen empirischen Untersuchungen an diese ersten Daten anschließen und die für die Frage der Verlässlichkeit der Ergebnisse wichtig zu sein scheinen, etwa Datenanalyse, Datenauswahl und Fehlerrechnung? Im nächsten Unterabschnitt werde ich diese zweite Frage diskutieren. Zur Praxis der Wissenschaften gehört, in bestimmter Weise über die Verlässlichkeit von Beobachtungsresultaten zu befinden. Eine solche Einschätzung muss von einer Einschätzung der epistemischen Qualität von Be-

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obachtungen unterschieden werden, die man im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Untersuchung machen würde, etwa einer Untersuchung, wie sie diese Studie darstellt. Die wissenschaftliche Praxis der Einschätzung ist hier zunächst von Interesse, um festzustellen, in welcher Weise die Beobachtungsresultate, die in den Wissenschaften Verwendung finden, von Theorien abhängen. Die erkenntnistheoretische Frage ist dann, ob diese Formen der Theorieabhängigkeit dazu führen, die Objektivität von Beobachtungen in Frage zu stellen. Es ist zu erwarten (und aus der Argumentation in dieser Studie offensichtlich), dass für die erkenntnistheoretische Einschätzung andere Überlegungen und Gründe angeführt werden als für die innerwissenschaftliche Einschätzung. Und auch die Resultate können verschieden sein. Es könnte sich erkenntnistheoretisch herausstellen, dass die wissenschaftlich als verlässlich eingestuften Beobachtungen dies aufgrund von Theorieabhängigkeit nicht sind. Es sind mehrere Formen denkbar, in denen eine wissenschaftliche Einschätzung der Verlässlichkeit vorkommt. Erstens kann die Einschätzung natürlich positiv oder nicht positiv sein, indem das Beobachtungsresultat als verlässlich (und damit als wissenschaftlich verwendbar) oder nicht als verlässlich (und damit als nicht verwendbar) eingeschätzt wird. Zweitens kann man ganze Arten von Beobachtungen oder aber einzelne, konkrete Beobachtungen einschätzen. So kann man einerseits Beobachtungen einer Art im Allgemeinen für verlässlich machbar halten. Andererseits kann man beurteilen, ob einzelne Beobachtungen unter für sie günstigen Umständen gemacht wurden. Es ist dann möglich, dass man zwar Beobachtungen einer Art im Allgemeinen für verlässlich hält, aber eine besondere Beobachtung dieser Art als unzuverlässig einschätzt, weil man einen außergewöhnlichen Störeinfluss annimmt. Drittens kann die Pflicht, Gründe für oder gegen eine Einschätzung anzuführen, auf verschiedene Weisen geregelt sein. So kann man großzügig verfahren, indem man Beobachtungsergebnisse zunächst für verlässlich hält, solange keine speziellen Gründe gegen eine solche positive Einschätzung angegeben wurden. Oder man kann knauserig sein, indem man zunächst keine positive Einschätzung gibt, es sei denn man führt Gründe an, die für eine Verlässlichkeit sprechen. Damit ist klar, wie Beobachtungen aufgrund der Verlässlichkeitseinschätzung theorieabhängig sein können. Die wissenschaftliche Verwendbarkeit von Beobachtungsergebnissen ist in dem Maße theorieabhängig, in dem es theoretische Gründe sind, die für oder gegen eine positive Einschätzung sprechen. Indem man die Theorieabhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung von Beobachtungen untersucht, lässt sich gleichzeitig eine weitere Form der

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Theoriebeladenheit von Beobachtungen erfassen. Die Konstruktion vieler Geräte zur Messung und Beobachtung und der Einsatz vieler Methoden erfordern detaillierte wissenschaftliche Theorien. Ohne oft weitreichende theoretische Annahmen käme man nicht dazu, Geräte der Datengewinnung wie Magnetresonanz-Tomographen oder Neutrino-Detektoren überhaupt zu bauen. Allerdings handelt es sich hierbei zunächst nur um eine schwache Theorieabhängigkeit: Die Geräte und damit die Ergebnisse bestimmten Inhalts stünden nicht zur Verfügung, wenn nicht jemand über eine geeignete Theorie zu ihrem Bau verfügt hätte. Dies heißt aber nicht automatisch, dass die Ergebnisse auch stark theorieabhängig sind. Denn die Ergebnisse können allen, unabhängig von ihrem theoretischen Hintergrund, zur Verfügung stehen. Daher können auch Ergebnisse, die für ihr Zustandekommen auf bestimmte theoretische Annahmen angewiesen sind, im Prinzip Beiträge zu sehr verschiedenen Theorien leisten. Die entscheidende Frage ist hier lediglich, ob man die Ergebnisse vor dem Hintergrund dieser Theorien als verlässlich einschätzt.1 Eine mögliche starke Theorieabhängigkeit von Beobachtungsresultaten, die theoretisch aufwändig gewonnen wurden, lässt sich daher dadurch erfassen, dass man die Abhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung von verschiedenen theoretischen Hintergründen untersucht. Damit kann das Verhältnis zwischen den verschiedenen Formen der Theoriebeladenheit, die in diesem und den beiden vorangehenden Kapiteln diskutiert werden, klarer herausgestellt werden. In den Kapiteln 3 und 4 geht es um starke theoretische Abhängigkeiten der Inhalte von Beobachtungen. In Kapitel 4 ergibt sich diese, weil die semantische Interpretation der Beobachtungsergebnisse von Theorien abhängt. In Kapitel 3 geht es vor allem darum, ob theoretische Einflüsse einen kausalen Einfluss auf die Genese der Wahrnehmungen ausüben. In beiden Fällen kann dies zu starker Abhängigkeit führen, weil die Theorien semantisch bzw. psychologisch notwendig für die jeweiligen Inhalte sind. Ohne die Voraussetzung oder den (impliziten) Erwerb der Theorien kann man über diese Inhalte nicht verfügen. Die starke Theoriebeladenheit in diesem Kapitel kann dagegen auch dann bestehen, wenn dieselben Beobachtungsresultate für alle theoretischen Hintergründe zur Verfügung stehen. Denn sie macht sich daran fest, ob diese Resultate vor einem Hintergrund für verlässlich gehalten werden. Daher können auch 1

Vgl. Hacking (1983), 199 für diese Unterscheidung zwischen Theorien, die für die Produktion der Ergebnisse vorausgesetzt werden, und Theorien, die die Verlässlichkeitseinschätzung leiten. An dieser Stelle behauptet Hacking auch, dass der Bau von Geräten oft theoretisch anspruchslos sei und nur Erstsemester-Physik voraussetze. Für Instrumente wie Magnetresonanz-Tomographen oder Neutrino-Detektoren gilt dies aber nicht.

5. Die Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen

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Resultate, über deren Inhalt zwischen Vertretern verschiedener Theorien kein Streit gibt, auf diese Weise theoriebeladen sein. b) Lange und kurze Beobachtungsprozesse Um zu untersuchen, ob Beobachtungsergebnisse wegen einer Verlässlichkeitseinschätzung theorieabhängig sind, muss man sich darauf festlegen, auf welcher Stufe des Prozesses der Gewinnung empirischer Daten die Beobachtungsresultate überhaupt liegen. Solange man nur Wahrnehmungen und Gerätedaten in den Blick nimmt, ist die Entscheidung nicht schwer zu fällen. Hier sind es sinnvollerweise die perzeptuellen Klassifikationen oder Wahrnehmungsurteile bzw. die satzartigen Anzeigen der Geräte. Zwar kann man gegen Gerätedaten als Beobachtungsergebnisse einwenden, dass man nur eine Beobachtung nennen sollte, wofür Wahrnehmungsleistungen wesentlich sind. Ich habe mich aber schon gegen einen solchen engen Begriff von Beobachtung entschieden. Stattdessen ist für meine erkenntnistheoretischen Zwecke ein Begriff besser, der die Resultate aller empirischen Prozesse, die einen Beitrag zur wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung leisten können, als Beobachtung auffasst, und der insofern weit ist. (Vgl. Kap. 1, Abschn. 2.) Allerdings bleibt für Fälle empirischer Datengewinnung, die komplexer sind als einfache Wahrnehmungen oder Messungen, immer noch die Unklarheit, wie lang oder kurz hier die Beobachtungsprozesse sein sollen und welche Stufe des Prozesses als das eigentliche Beobachtungsergebnis betrachtet werden soll. Solche komplexen Fälle der Datengewinnung umfassen häufig viele Stufen, indem sie vom Aufbau und der Abschirmung der Apparatur über Eingriffe auf das Untersuchungsobjekt zu Wirkungen dieses Objekts auf Messgeräte führen, die zuerst Rohdaten produzieren, die dann durch Auswahl, Analyse und Fehlerkorrektur weiter zum experimentellen Befund verarbeitet werden. Wenn man Beobachtungsprozesse als kurz auffasst, wird man typischerweise schon die Rohdaten – oder allgemeiner die ersten verfügbaren Repräsentationen, die Rückschlüsse auf den Untersuchungsgegenstand und seine Eigenschaften erlauben – als die eigentlichen Beobachtungsergebnisse auffassen. Wenn man Beobachtungsprozesse dagegen in Fällen komplexen Experimentierens für lang hält, betrachtet man üblicherweise erst die Ergebnisse der Datenauswahl, Datenanalyse und Fehlerkorrektur als Beobachtungsergebnis. Man könnte der Ansicht sein, dass über die Frage nicht entschieden zu werden braucht, solange klar ist, wie die Wissenschaften tatsächlich vorgehen. Dem ist im Prinzip zuzustimmen. Allerdings ist für die Zwecke dieser Untersuchung eine nicht willkürliche Eingrenzung der Länge von Beobachtungsprozessen notwendig. Hierbei ist zwar weniger wichtig, wo die Beobachtung

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genau anfängt, ob beispielsweise erst beim Untersuchungsgegenstand oder eigentlich schon bei Aufbau, Eingriffen und Abschirmung. Wichtiger ist eine Entscheidung darüber, wo Beobachtungsprozesse enden und wo die anschließende Verwendung der Beobachtungsergebnisse in weiterer wissenschaftlicher Forschung beginnt. Denn die Aufgabe besteht darin, die Objektivität von Beobachtungen angesichts ihrer Theoriebeladenheit zu begründen. Eine bestimmte Entscheidung über die Länge von Beobachtungsprozessen könnte zwar diese Aufgabe leichter machen. Wenn die Datenauswahl auf theoretische Annahmen zurückgreift, könnten kurze Beobachtungsergebnisse weniger theorieabhängig sein als lange. Aber ohne gute Begründung der Auffassung von Beobachtungsprozessen als kurz könnte es so aussehen, als ob das Problem nur verschoben werde. Viele Autoren fassen in ihrer Diskussion der Theoriebeladenheit Beobachtungsprozesse als lang auf. Hierbei wird angeführt, dass nur so Beobachtungsergebnisse auch von den Gegenständen handeln, die von den zu prüfenden Theorien beschrieben werden. So schreibt Kosso: [If] an observation report is to be relevant to a theory it must include some of the language of theory. It must assertively be evidence of an x if it is to be evidence in the case to justify a theory about x. (Kosso 1992, 111)2

Die Auffassung von Beobachtungsprozessen als lang könnte also damit begründet werden, dass der Prozess zu einem Beobachtungssatz führen muss, der direkt für eine Theorie evidenziell relevant ist. Der Bericht müsse demnach etwas über Objekte oder Sachverhalte der Art behaupten, von denen auch die Theorie spricht. Es wäre dann plausibel zu machen, dass die Ergebnisse kurzer Beobachtungsprozesse dies oft nicht tun. Allerdings kann man hiergegen einwenden, dass ein Beobachtungssatz auch dann als Evidenz für eine Theorie fungieren kann, wenn er von anderen Objekten oder Eigenschaften handelt als die Theorie. In diesem Fall könnte der Bericht zwar nicht direkt als Evidenz dienen. Es ist aber nicht ausgemacht, dass man vom Bericht ausgehend erst noch weitere Inferenzschritte machen müsste, um empirisches Ergebnis und Theorie in Kontakt zu bringen und so einen empirischen Beitrag der Beobachtungen zu ermöglichen. Ebenso gut könnte es möglich sein, von der Theorie auszugehen und aus ihr unter Hinzunahme weiterer Theorien oder Hilfsannahmen eine Vorhersage des Ergebnisses abzuleiten. Es scheint daher möglich, statt mit dem Beobachtungsprozess ‚aufwärts‘ bis zur Theorie zu kommen, von der Theorie ausge2

Vgl. auch Carrier (1994), 10. Carrier bezeichnet die Annahmen, die man braucht, um bis auf theoretisch beschriebene Zustände zu schließen, als Beobachtungstheorien. Demnach sollen diese Schlüsse Teil des Beobachtungsprozesses sein.

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hend abwärts bis auf ein Resultat kurzer Beobachtungsprozesse zu schließen. Je nachdem, welche Vorgangsweise oder welche Rekonstruktion des wissenschaftlichen Vorgehens man wählt, wird das Beobachtungsergebnis weiter oben oder unten angesiedelt sein und der Beobachtungsprozess entsprechend eher länger oder kürzer sein. Aus solchen Überlegungen heraus hat John Worrall im Kern für eine Auffassung von Beobachtungsprozessen als kurz plädiert.3 Zwar gesteht er zu, dass experimentell arbeitende Wissenschaftler oft Ergebnisse langer empirischer Prozesse als Beobachtungssätze behandeln. So gelten beispielsweise Elektronenbahnen und Bahnen von Planeten, nicht aber Nebelkammerspuren oder die Ablesungen der Stellung, in der sich das Fernrohr befindet, wenn ein charakteristischer Lichtpunkt in der optischen Achse liegt, als Beobachtungsergebnisse. Solche langen Beobachtungsresultate seien aber stark theorieabhängig und müssten häufig im weiteren Verlauf der Forschung revidiert werden. Man sollte Worrall zufolge daher eher die Ergebnisse kurzer Beobachtungsprozesse wie die Anzeigen von Messgeräten als Beobachtungsresultate auffassen. Zwar ist auch Worrall der Ansicht, dass solche kurzen Beobachtungsergebnisse selten direkt aus den zu prüfenden Theorien ableitbar sind. Allerdings glaubt er, dass man sie unter der Hinzunahme von Hilfsannahmen sehr wohl ableiten kann. So würden theoretische Annahmen, die in den Ergebnissen langer Prozesse nur implizit enthalten sind, explizit gemacht und gemeinsam mit den zu prüfenden Theorien an den viel unproblematischeren Ergebnissen kurzer Beobachtungsprozesse geprüft. Worrall illustriert dieses Vorgehen an der Reaktion Newtons auf Flamsteeds ‚Beobachtungen‘ von Planetenpositionen, die der Newton’schen Gravitationstheorie und Mechanik widersprachen. Die gefundenen Planetenpositionen sind hier Ergebnisse langer Beobachtungsprozesse, indem sie aus zugrunde liegenden Daten über ‚Sichtungen‘ der Planeten mit Zusatzannahmen errechnet wurden. Newton hat auf die empirische Anomalie für seine Theorien damit reagiert, eine neue Annahme über die atmosphärische Brechung des Lichts einzuführen, was auf der Grundlage derselben Sichtungsdaten zu korrigierten Planetenpositionen führte, die mit seiner Theorie vereinbar waren. Tatsächlich, so legt Worrall nahe, wurden hier Newtons Mechanik und Gravitationstheorie zusammen mit Annahmen über die optischen Eigenschaften der Erdatmosphäre durch die Sätze über Sichtungen der Planeten empirisch geprüft. Die Annahme kurzer Beobachtungsprozesse hat hier den Vorteil, die Unabhängigkeit der Beobachtungsergebnisse von denjenigen 3

Siehe Worrall (1982), 163/164.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Theorien zu erhalten, die für die weiteren Schritte bis hin zu den Ergebnissen langer Beobachtungsprozesse in Anspruch genommen werden. Allerdings spricht einiges dafür, dass in vielen Fällen die Ergebnisse kurzer Beobachtungen nicht sinnvoll als die eigentlichen Prüfinstanzen für Theorien betrachtet werden können. Dies trifft besonders auf Ergebnisse zu, die im Rahmen von Experimenten gewonnen werden, die mit hohem instrumentellen und analytischen Aufwand betrieben werden. Bogen und Woodward unterscheiden zwei Stufen solcher empirischer Ergebnisse, die sie als Daten bzw. Behauptungen über Phänomene bezeichnen und die oft eine Menge charakteristischer Eigenschaften besitzen.4 Daten – die direkten Ergebnisse der eingesetzten Geräte wie Blasenkammer-Fotos oder Geräteanzeigen – fallen oft in großer Menge an. Sie sind hierbei idiosynkratische Produkte des besonderen experimentellen Aufbaus, und zudem werden sie oft eigentlich für falsch oder unzuverlässig gehalten, da eine Fehlerkorrektur oder eine Datenauswahl noch nicht stattgefunden hat. Das wissenschaftliche Interesse daran ist darauf beschränkt, dass sie als Grundlage dafür dienen, auf die Präsenz oder auf Eigenschaften von Phänomenen zu schließen. Phänomene sollen hierbei von den Theorien postulierte Entitäten sein, die typischerweise in verschiedenen Kontexten auftreten und im Prinzip auf verschiedene Weisen nachweisbar sein sollen. Aus der großen Menge von Daten muss in der Regel eine Auswahl getroffen werden, man muss sie statistisch analysieren sowie angenommene Fehler korrigieren, um zu Behauptungen über Phänomene zu gelangen. Ohne auf weitere Einzelheiten der BogenWoodward’schen Bestimmung einzugehen, ist leicht zu sehen, dass Daten als die Ergebnisse kurzer Beobachtungsprozesse, Phänomene dagegen als die Resultate langer Prozesse zu identifizieren sind.5 In den Fällen, in denen aber der Weg von kurzen zu langen Ergebnissen solche Schritte der Datenreduktion, Datenanalyse und Fehlerkorrektur 4

5

Siehe Bogen/ Woodward (1988) und (1992). Ganz ähnlich unterscheidet auch Brown (1995) zwischen den direkten Anzeigen von Geräten und den empirischen Ergebnissen, die mit theoretischen Vorhersagen verglichen werden können. Bogen und Woodward lehnen es ab, hier von Beobachtung zu sprechen, allerdings weil sie annehmen, dass Beobachtungen wesentlich Wahrnehmungen einschließen. Sie haben also einen engen Begriff von Beobachtung. Bogen und Woodward unterscheiden in (1988) auch zwischen systematischer und singulär-kausaler Erklärung und behaupten, dass man nur Phänomene systematisch erklärt (in eine umfassende Theorie einbettet), man Daten dagegen nur singulär kausal erklärt (man nur einzelne Ursachen angibt). Brown hat dagegen eingewendet, dass häufig auch Daten systematisch erklärt werden (siehe Brown 1995, 397, Fn. 37). Allerdings wird mich die Kontroverse um dieses Merkmal von Daten im Folgenden nicht beschäftigen.

5. Die Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen

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einschließt, ist es sinnvoll, erst die Ergebnisse der langen Prozesse als die eigentlichen Beobachtungsergebnisse aufzufassen. Denn zum einen können die Schritte zwischen kurzem und langem Ergebnis – anders als von Worrall vorgesehen – nicht in beide Richtungen gemacht werden. Man kann eine Datenauswahl ebenso wie eine statistische Datenanalyse nur in eine Richtung vornehmen, nämlich von der großen Menge von Rohdaten auf eine reduzierte Menge und der statistischen Erfassung ihrer Eigenschaften. Und wenn man die kurzen Ergebnisse für fehlerhaft hält, führt zwar ein sinnvoller Korrekturschritt zu den langen Resultaten; die bewusste Ableitung falscher kurzer Resultate kann dagegen nicht sinnvoll als theoretische Prognose betrachtet werden. Zum anderen könnten die kurzen Ergebnisse als solche gar keinen wirklichen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung leisten. Die kurzen Resultate liegen oft in so großer Menge und Vielfalt vor, dass erst eine Auswahl getroffen und diese statistisch analysiert werden muss, um einen Vergleich mit Ergebnissen vornehmen zu können, die aus theoretischen Überlegungen auch mit Hilfe von Hilfsannahmen ableitbar sind. Das einzelne kurze Datum ist typischerweise nicht von Interesse, und die Gesamtheit der kurzen Daten ist als solche oft nicht überschaubar. Wenn die kurzen Daten zudem für eigentlich falsch und korrekturbedürftig gehalten werden, kann man sie auch nicht positiv einschätzen. Vielmehr ist erst eine Fehlerkorrektur notwendig, um zu Resultaten zu gelangen, die man für verlässlich halten kann. Es wäre absurd, die Prüfungssituation so zu beschreiben, dass man mit Hilfsannahmen eine Theorie an Daten prüft, die man eigentlich für falsch hält. Dies zeigt, dass Daten, die erst noch ausgewählt, analysiert und korrigiert werden müssen, noch nicht als eigentliche Beobachtungsergebnisse zählen können. In diesen Fällen – typischerweise Experimente, die einen großen instrumentellen Aufwand erfordern und zu großen Mengen analysebedürftiger Daten führen – sind es daher nicht schon die Ergebnisse kurzer, sondern erst langer Beobachtungsprozesse, deren Verlässlichkeit eingeschätzt werden muss. 3. Die Theorieabhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung a) Direkte Wahrnehmungen Damit komme ich zur Frage, ob die wissenschaftliche Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen theorieabhängig ist. Ich gehe nacheinander verschiedene Arten von Beobachtungen durch, hier zunächst direkte Wahrnehmungen, in den nächsten Unterabschnitten dann Wahrnehmungen mit Instrumenten, Messgeräte-Daten und lange Beobachtungsprozesse.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Wenn Wissenschaftler direkt etwas wahrnehmen, d.h. es ohne Hilfe eines Instruments sehen, hören, etc., hängt dann ihre Einschätzung der Verlässlichkeit der Wahrnehmung von theoretischen Annahmen ab? Viele Autoren vertreten diese Ansicht.6 Ein Ansatzpunkt sind hierbei theoretische Annahmen über die physischen und physiologischen Prozesse, die bei der Wahrnehmung ablaufen, sowie über Umstände, die für Wahrnehmungen bestimmter Arten günstig oder ungünstig sind. So schreibt Kosso: [T]heories influence observation ... by guiding decisions as to when observations are credible. ... The assessment of the viewing conditions, attesting that there are no distorting factors or correcting for any distortions that persist, is based largely on an understanding of the causal mechanisms of observation. Clearly, there must be adequate lighting if a visual observation is to be credible. Why? Because vision is accomplished by receiving the light energy that bounces off the specimen and is transmitted through the space to the observer and into the eye. Light carries the information. Furthermore, it is no threat to the accuracy of the observation if the light must travel through air before reaching the observer. A theoretical understanding of the optical properties of air assures that, unless there is significantly uneven heating, light will pass straight through. ... [It] is clear that a different understanding of the causal interaction, that is, a different theory of what’s going on in the event of observation, may sanction different observation reports as acceptable. (Kosso 1992, 115)

Kosso zufolge greift die Einschätzung der Verlässlichkeit von Wahrnehmungen auf eine Theorie ihres kausalen Ablaufs zurück. Verschiedene Theorien darüber können dabei zu positiven Einschätzungen unterschiedlicher Wahrnehmungen führen. Dem ist zunächst hinzuzufügen, dass neben theoretischen natürlich auch empirische Gründe in die Einschätzung einfließen können. Insbesondere können andere Wahrnehmungen – etwa solche aus anderer Perspektive, unter anderen Umständen, mit anderer Sinnesmodalität oder mit anderen Objekten – die Einschätzung begründen. Wer den visuellen Eindruck, dass ein ins Wasser gehaltener Stab geknickt ist, für unzuverlässig erklären will, kann zwar auf optische Theorien der Brechung zurückgreifen. Er kann aber auch einfach andere Wahrnehmungen des Stabs – Tasteindrücke oder das Aussehen außerhalb des Wassers – anführen. Zudem kann man fragen, ob die Einschätzungen der Verlässlichkeit jeweils in knauseriger oder großzügiger Weise von Theorien abhängen. Kosso fordert, dass die theoretischen Erklärungen jedenfalls dann verfügbar sein müssen, wenn die Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Wahrnehmungen in 6

Siehe Lakatos (1970), 105; Feyerabend (1975), 85/86; Wright (1992); Kosso (1992), 115.

5. Die Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen

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Frage gestellt wird. Er scheint daher eher großzügig zu sein. Lakatos und Feyerabend vermitteln an einigen Stellen den Eindruck der Knauserigkeit. Ihrer Ansicht nach muss jede Einschätzung von Wahrnehmungen als im Allgemeinen zuverlässig eine Theorie, etwa „eine vage physiologische Theorie des menschlichen Sehens“ in Anspruch nehmen oder voraussetzen.7 Allerdings führen sie keine Beispiele an, die belegen könnten, dass diese Knauserigkeit auch wissenschaftliche Praxis ist. Feyerabend diskutiert in diesem Zusammenhang Galileis Behandlung des Turmexperiments.8 An diesem Beispiel lässt sich eine Theorieabhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung aufzeigen, allerdings eine großzügige und keine knauserige. Im Experiment, das gegen Kopernikus’ Behauptung angeführt wurde, dass sich die Erde bewege, lässt man einen Stein von einem Turm fallen. Wie alle zugestehen, sieht es dabei so aus, als ob der Stein in einer geraden Linie auf die Erde fällt. Soviel lässt sich direkt wahrnehmen. Allerdings folgt aus Kopernikus’ Theorie, dass der Stein sich tatsächlich gemischt geradlinig und kreisförmig bewegt.9 Der Augenschein widerspricht dieser Behauptung. Zwar sagt Feyerabend, dass für den Augenschein hierbei eine Theorie vorausgesetzt werden muss, nämlich dass die Sinneseindrücke im Wesentlichen verlässlich sind und daher die absolute Bewegung der Gegenstände zeigen.10 Allerdings ist es unpassend, diese Annahme als ‚Theorie‘ zu bezeichnen. Es geht vielmehr darum, zunächst grundsätzlich von der Zuverlässigkeit der Wahrnehmungen auszugehen und diese nur bei begründetem Zweifel in Frage zu stellen. Es handelt sich also um eine großzügige Regelung der Verlässlichkeitseinschätzung von Wahrnehmungen.11 Gleichzeitig zeigt der Fall, dass die großzügige Grundeinstellung gegenüber direkten Wahrnehmungen durch theoretische Gründe untergraben werden kann. So führt Galilei Belege dafür an, dass wir in der Regel nicht die absoluten Bewegungen der Gegenstände im Raum, sondern nur die Bewegungen der Gegenstände relativ zu uns als Beobachtern wahrnehmen. Dieses Prinzip über die Bewegungswahrnehmung untergräbt zum einen die prima facie Annahme, dass die Wahrnehmung des fallenden Steins verlässlich dessen tatsächliche, absolute Bewegung anzeigt. Die Wahrnehmung soll insoweit durch theoretische Überlegungen als Täuschung entlarvt werden. Es etabliert zum anderen, dass die Wahrnehmungen hinsichtlich der Relativbewegung 7 8 9 10 11

Lakatos (1970), 105; siehe auch Feyerabend (1975), 85. Feyerabend (1975), Kap. 6/7. Siehe Galilei (1632), 248 u. 256. Siehe Feyerabend (1975), 96/97. Feyerabend selbst kommt dieser Beschreibung nahe, indem er die grundsätzliche Einstellung als „naiven Realismus“ bezeichnet. Siehe Feyerabend (1975), 96.

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zwischen Stein und Beobachter verlässlich sind. Die so korrigierten Beobachtungsergebnisse sind mit der kopernikanischen Theorie vereinbar, sofern man die Trägheit der Kreisbewegung annimmt.12 In anderen Fällen direkter Wahrnehmung ist eine ähnliche Abhängigkeit von theoretischen Annahmen festzustellen. So geht man naiv davon aus, dass man die Himmelskörper im Wesentlichen so wahrnimmt, wie sie gegenwärtig sind. Erst die Einsicht in die große Entfernung der Sterne (die etwa Kopernikus postulieren musste, um erklären zu können, warum keine Parallaxe der Sterne aufgrund der jährlichen Erdbewegung beobachtbar ist) und Erkenntnisse über die Lichtgeschwindigkeit zeigen, dass man oft den Zustand von vor einigen 10.000 Jahren zu sehen bekommt. Schließlich erscheint es bei Gewittern in der Regel so, als ob der Donner nach dem Blitz stattfindet. Schon Aristoteles hat aber diese Wahrnehmung für unzuverlässig erklärt. Seiner Theorie von Blitz und Donner zufolge entsteht der Donner sogar vor dem Blitz, nämlich wenn die warme Ausdünstung mit den Gewitterwolken zusammenstößt. Der Blitz wird später sichtbar, wenn die nach unten gepresste Ausdünstung aus den Wolken tritt und sich entzündet. Um den Augenschein mit der Theorie zu vereinbaren, hat Aristoteles angenommen, dass man entfernte Ereignisse früher sieht als hört. Dies zeige sich daran, dass der Ruderschlag entfernter Schiffe oft erst zu hören ist, wenn sich die Ruder wieder heben.13 Diese Beispiele legen nahe, dass man bei direkten Wahrnehmungen in der Regel zunächst großzügig verfährt und sie prima facie als verlässlich einschätzt. Zugleich kann eine solche positive Einschätzung aber sowohl durch theoretische als auch durch empirische Gründe untergraben werden und die Wahrnehmungen so als Evidenz für oder gegen Theorien entkräften. b) Wahrnehmungen mit Instrumenten Bei Wahrnehmungen, die mit Hilfe von Instrumenten durchgeführt werden, scheint klar, dass man nicht von vornherein von ihrer Zuverlässigkeit ausgehen kann. Als etwa Galilei die von ihm weiterentwickelten Fernrohre einsetzte, war die Zuverlässigkeit der damit gemachten Beobachtungen zunächst begründungsbedürftig. Obwohl ein genaues theoretisches Verständnis der Funktionsweise von Wahrnehmungsinstrumenten sicherlich eine positive Einschätzung stützen kann, deuten Galileis Beobachtungen darauf hin, dass dies nicht notwendig ist. Wie Feyerabend deutlich macht, gab es keine ausreichende optische Theorie des Geräts, die fähig war zu erklären, warum und 12 13

Vgl. Feyerabend (1975), Kap. 7. Siehe Aristoteles, Meteorologie, Buch II, Kap. 9 (369a/369b).

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unter welchen Bedingungen es verlässlich funktioniert hat. Auch spielten solche Theorien – entgegen Galileis eigenen Bekundungen – beim Bau der Geräte offenbar keine wesentliche Rolle.14 Dennoch wurden die Beobachtungen mit den neuen Fernrohren sehr schnell von vielen als verlässlich akzeptiert. Woran lag das? Offenbar gibt es weitere Mittel, um die Verlässlichkeit von Wahrnehmungen mit einem neuen Gerät zu sichern. Beispielsweise kann man die Verlässlichkeit prüfen, indem man mit dem Gerät Objekte betrachtet, die man schon kennt oder die man auch ohne Instrument wahrnehmen kann. So schreibt Galilei: Es lässt sich auch nicht bezweifeln, dass ich jetzt zwei Jahre lang mein Instrument (oder vielmehr Dutzende meiner Instrumente) an Hunderten und Tausenden von Gegenständen geprüft habe, an nahen und fernen, großen und kleinen, hellen und dunklen; daher sehe ich nicht ein, wie jemand auf den Gedanken kommen könnte, ich hätte mich bei meinen Beobachtungen naiv täuschen lassen.15

Demnach kann man die Verlässlichkeit von Wahrnehmungen mit Hilfe von Geräten auch empirisch stützen. Allerdings stößt ein solches Verfahren auch an seine Grenzen. Zunächst ist prinzipiell zu bemerken, dass – wie eben gesehen – die positive Einschätzung der Verlässlichkeit direkter Wahrnehmungen durch theoretische Annahmen untergrabbar ist. Wenn man die positive Einschätzung für Instrumentewahrnehmungen durch direkte Wahrnehmungen stützt, ist diese Einschätzung daher zumindest indirekt theoretisch untergrabbar. Aber auch abgesehen davon kann es besondere Schwierigkeiten geben, wenn man die Verlässlichkeit des Geräts über den Bereich hinaus begründen will, den man auch direkt wahrnehmen kann. Hier ist es möglich, dass man Artefakte des Geräts nicht leicht empirisch als solche erkennt. Duhem hat hierauf hingewiesen: Ist es wirklich wahr, dass man [die Lupe] verwenden kann, ohne auf die Theorien der Dioptrik Bezug zu nehmen? Die Objekte, die durch die Lupe gesehen werden, scheinen einen Rand bestehend aus den Regenbogenfarben zu besitzen. Bedürfen wir nicht der Theorie der Dispersion, die uns lehrt, dass diese Farben vom Instrumente geschaffen werden, um von ihnen zu abstrahieren, wenn wir das beobachtbare Objekt beschreiben? Und um wieviel bedeutungsvoller wird diese Bemerkung, wenn es sich nicht um eine einfache Lupe, sondern um ein Mikroskop von starker Vergrößerung handelt! Welchen eigenartigen Irrtümern würde man sich aussetzen, wenn man naiverweise den beobachteten Objekten die Form und Farbe zuschreiben wollte, wenn eine Diskussion, die aus den optischen Theorien abgeleitet ist, uns nicht erlauben würde den Anteil der Erscheinungen und den der Wirklichkeit zu sondern! (Duhem 1906, 202) 14 15

Siehe Feyerabend (1975), 135-137. Brief an Dini vom 12. Mai 1611, zitiert bei Feyerabend (1975), 139, Fn. 25.

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Duhem scheint hier nahe zu legen, dass man ohne eine Theorie der Dispersion unweigerlich davon ausgehen würde, dass die Gegenstände von einem Halo umgeben sind, der nur mit der Lupe sichtbar wird.16 Das scheint übertrieben. Man könnte auch ohne theoretische Gründe zumindest vermuten, dass es sich um ein Artefakt handelt. Aber es bleibt richtig, dass Theorien zusätzliche Gründe für die Annahme solcher Artefakte liefern können und dass solche Theorien um so bedeutsamer werden, je weiter die beobachteten Gegenstände und Eigenschaften von denen entfernt sind, die auch ohne Instrumente wahrnehmbar sind. Wie im übernächsten Unterabschnitt deutlich wird, gibt es gerade im Zusammenhang ausgedehnten Experimentierens viele Strategien zur Unterscheidung von Artefakt und getreuem Abbild. Diese werden aber dort zu besprechen sein. So bleibt vorerst festzuhalten, dass die Verlässlichkeit von Wahrnehmungen mit neuartigen Instrumenten zunächst begründungsbedürftig ist. Empirische wie theoretische Gründe können zugunsten der Verlässlichkeit angeführt werden, sie können eine positive Einschätzung aber auch untergraben. Insbesondere wenn durch die Instrumente der Bereich des Wahrnehmbaren entscheidend ausgedehnt werden soll, kann man auf Theorien angewiesen sein, um Artefakte zu erkennen. c) Messgeräte-Daten Damit komme ich jetzt zur Frage, auf welche Weise die Einschätzung der Verlässlichkeit von satzartigen Messgeräte-Daten theorieabhängig ist. Messgeräte führen oft zu Daten, die satzartig sind. (Siehe Kap. 3, Abschn. 2.) Manchmal sind die ‚Sätze‘ recht ungewöhnlich, etwa wenn bei einem Thermometer die Quecksilbersäule bis zur Beschriftung „20°C“ reicht; oft genug sind Geräteanzeigen aber auch digital und es werden nur sprachliche Ausdrücke angezeigt, etwa „5mA“. In anderen Fällen führen Instrumente zu Daten, die mehr bildartig sind, insbesondere bei bildgebenden Verfahren. Hier gelten viele der Besonderheiten von Instrumente-Wahrnehmungen. (Siehe hierzu Kap. 7, Abschn. 6.) Der Übergang zwischen bildartigen und satzartigen Anzeigen ist dabei fließend. Bei einem Oszilloskop etwa werden Diagramme produziert, bei denen die Skalen zum einen beschriftet sind. Zum anderen ist die Verlaufskurve aber sehr fein graduierbar, was typisch für Bilder ist. In diesem Abschnitt werde ich solche bildhaften Aspekte aber ausklammern und mich auf die Verlässlichkeitseinschätzung konzentrieren, die bei Daten von Geräten mit überwiegend satzartigen Anzeigen vorkommt.

16

Vgl. Carrier (1994), 15.

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Eine ganze Reihe von Autoren hat die Auffassung vertreten, dass bei solchen Beobachtungen eine weitreichende Theorieabhängigkeit aufgrund der Einschätzung der Verlässlichkeit besteht.17 Am Beispiel des Geigerzählers lässt sich diese Abhängigkeit recht gut plausibel machen. Geigerzähler bestehen üblicherweise aus einem gasgefüllten Zylinder mit einem Draht entlang der Achse. Zwischen Zylinder (als Kathode) und Draht (als Anode) wird eine Spannung angelegt. Eindringende radioaktive Strahlung kann zum Herauslösen von Elektronen aus den Gasatomen führen, die dadurch ionisiert werden. Die geladenen Teilchen – insbesondere die leichten Elektronen – werden im elektrischen Feld beschleunigt. Wenn die Feldstärke groß genug ist, führen die Stöße der Elektronen mit Gasatomen zu weiteren Ionisierungen; insgesamt kann es so zu einer ganzen Welle von Ionisationslawinen kommen, die erst abklingt, wenn die trägen positiven Gasionen eine Wolke um die Anode bilden und dort das elektrische Feld schwächen. Der erzeugte Stromimplus ist leicht messbar, und man kann so die Anzahl der eindringenden radioaktiven Strahlungspartikel oder deren Rate durch einen Zähler anzeigen lassen. Es ist hier offenkundig, dass man einiges über die Funktion solcher Zähler – die ionisierende Wirkung der Strahlung, die Bildung der Lawinen und deren Abklingen – wissen muss, um einschätzen zu können, ob die festgestellte Rate verlässlich ist. Wenn man solche theoriegeleiteten Annahmen nicht macht, ist zum einen unklar, warum man radioaktive Strahlung auf solche Weise überhaupt für messbar halten sollte. Zum anderen muss man im Einzelfall begründen, dass keine unkontrollierten Störeffekte aufgetreten sind. So muss man für die Hintergrundstrahlung oder für andere Quellen radioaktiver Strahlung Sorge tragen und auch die Empfindlichkeit des Geräts geeignet einstellen. Auch hier können theoretische Gründe mögliche Störeffekte oder Wege ihrer Kontrolle nahe legen, so dass die Frage, ob die spezifische Messung unter günstigen Umständen stattfand, auch unter Rückgriff auf theoretische Annahmen beantwortet werden wird. Insgesamt wird man hier knauserig sein und sowohl die grundsätzliche Funktion des Geräts als auch die Abwesenheit von Störeffekten durch – oft theoretische – Gründe stützen müssen. Entsprechend können andere theoretische Annahmen eine so gestützte positive Einschätzung auch untergraben. Es liegt zunächst nahe anzunehmen, dass der Umfang der Abhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung von theoretischen Annahmen der Tendenz nach zunimmt, je mehr instrumentelle und inferenzielle Schritte im Beobachtungs17

Siehe Lakatos (1970), 104/105; Shapere (1982); Kosso (1992), 115ff.; Carrier (1994), 9ff; Brown (1995), 363 ff. Vgl. Kuhn (1962), 138.

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prozess eingeschlossen sind und je höher der experimentelle Aufwand ist. Man könnte dann davon ausgehen, dass Ergebnisse langer Beobachtungsprozesse in ihrer Verlässlichkeitseinschätzung in noch stärkerem Maße theorieabhängig sind. Allerdings ergeben sich bei komplexen Experimenten und im Rahmen einer etablierten experimentellen Praxis eine Vielzahl von Möglichkeiten des Vorgehens, die vielleicht dazu in der Lage sind, die starke Rolle von Theorien auszuhebeln. Dies jedenfalls wird von einer Reihe von Autoren, die man überwiegend dem Neuen Experimentalismus zurechnen kann, so gesehen. Ich werde daher jetzt daran gehen zu untersuchen, ob sich gute Gründe dafür finden lassen, dass die Verlässlichkeitseinschätzung langer und in eine reiche experimentelle Praxis eingebetteter Beobachtungsprozesse weniger theorieabhängig ist, als dies auf der Grundlage der bisherigen Diskussion zu erwarten ist. d) Lange Beobachtungsprozesse und der Neue Experimentalismus Seit Hacking (1983) wird der experimentellen Praxis der Wissenschaften verstärkte wissenschaftstheoretische Aufmerksamkeit geschenkt. Im Rahmen der damit verknüpften wissenschaftstheoretischen Strömung des Neuen Experimentalismus wird oft betont, dass experimentelle Praktiken relativ eigenständig sind. Dem Slogan Hackings zufolge führen Experimente ein Eigenleben. Im Rahmen des Neuen Experimentalismus wird auch die These vertreten, dass die Verlässlichkeit von empirischen Ergebnissen wissenschaftlicher Experimente oft unabhängig von Theorien oder viel theorieunabhängiger eingeschätzt wird als bislang angenommen.18 Studien zum experimentellen Vorgehen der Wissenschaften haben dabei eine ganze Reihe von Verfahren und Techniken zu Tage gefördert, mit denen die Verlässlichkeit von experimentellen Ergebnissen gesichert wird. Eine umfangreiche Aufstellung und Diskussion solcher Strategien gibt Franklin.19 Einige der Strategien sind hierbei aber offensichtlich theorieabhängig, etwa wenn die Geräte auf gut gestützten Theorien beruhen oder wenn man die Verlässlichkeit der Beobachtungen dadurch begründet, dass die Ergebnisse auch von einer unabhängigen, gut gestützten Theorie vorhergesagt werden. Franklin sieht beispielsweise die Verlässlichkeit von Galileis Beobachtungen der Jupitermonde dadurch gesichert, dass die Daten eine besondere Konsistenz aufwiesen: Sie stellen Jupiter und seine Satelliten als ein System dar, das 18

19

Siehe Hacking (1983), 199/200; Ackermann (1989), 186; Mayo (1996), Kap. 3. Vgl. auch Bogen/ Woodward (1988). Aber nicht alle Autoren, die gemeinhin dem Neuen Experimentalismus zugerechnet werden, halten die Verlässlichkeitseinschätzung für überwiegend theorieunabhängig. Siehe insbesondere Franklin (1990), z.B. 4 u. 196. Siehe Franklin (1986), Kap. 6 und Franklin (1990), 104.

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Keplers drittem Gesetz „R3/T2 = konstant“ genügt. Was hier als besondere Konsistenz angesehen wird, ist offensichtlich theoretisch bedingt. Bei anderen Strategien ist die Theorieabhängigkeit allerdings weniger offensichtlich, und von diesen möchte ich einige, die mir als die wichtigeren erscheinen, ausführlicher diskutieren. (i) Datenauswahl und Datenanalyse Rohdaten werden oft statistisch bearbeitet, zudem wird häufig eine Auswahl aus den Daten getroffen. Bogen und Woodward behaupten, dass man Methoden der Datenreduktion und der statistischen Analyse anwenden kann, um verlässliche Daten zu erhalten, ohne dass hierfür ein theoretisches Verständnis des Zustandekommens der Daten erforderlich wäre. Auch Mayo betont eine zunehmende Rolle statistischer Analysen für die Trennung von Signal und Hintergrund bzw. von Effekt und Artefakt.20 Bei vielen Experimenten etwa in der Hochenergiephysik oder der Astronomie fallen große Mengen von Rohdaten an – z. B. Fotos von Ereignissen in Blasenkammern oder von Ausschnitten des Nachthimmels –, aus denen eine Auswahl relevanter Daten getroffen werden muss. Bei den ersten CERN-Experimenten zur Suche nach neutralen Strömen etwa wurden aus 290.000 Fotos letztlich 100 als relevant ausgewählt.21 Bei einer Messung von Sonnenneutrinos am Sudbury Neutrino Observatory wurden aus 355 Millionen Ereignis-Registrierungen 1169 Neutrino-Ereignisse herausgefiltert.22 Bogen und Woodward betonen, dass diese Auswahl oft zu großen Teilen automatisiert sei oder von Hilfskräften ohne genaues Verständnis der Interaktionen durchgeführt werden könne. Man suche einfach nach „potenziell interessanten Fotos“. Im Fall statistischer Analyse sei in gleicher Weise oft kein genaues Verständnis der bearbeiteten Daten erforderlich. Man müsse nur annehmen, dass die Fehlerquellen zufällig und unabhängig sind, damit die Methoden zu zuverlässigen Ergebnissen führten.23 Allerdings zeigt dies nicht, dass die Gewinnung einer Auswahl verlässlicher Daten vollständig theorieunabhängig wird. Erstens versteht sich die Annahme, dass Fehler oder Störeinflüsse zufällig oder unabhängig sind, nicht von selbst, sondern kann oft auch theoretisch begründet werden. Zwar kann sich diese Annahme vor sehr verschiedenen theoretischen Hintergründen ergeben. Dieselbe statistische Analyse wird dann zu Daten führen, die vor 20 21 22 23

Siehe Bogen/ Woodward (1988), insbes. 333/334; Mayo (1996), 92ff. Zu den ersten Experimenten zur Entdeckung der neutralen Ströme am CERN und am Fermilab siehe Galison (1987). Siehe SNO Collaboration (2001). Siehe Bogen/ Woodward (1988), 334.

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allen diesen Hintergründen als verlässlich eingestuft werden. Insofern kann die Verlässlichkeitseinschätzung theorieunabhängig sein. Oft hat man aber auch Gründe für die Annahme, dass Störeinflüsse nicht zufällig sind, sondern zu systematischen Fehlern führen. Dann reicht keine bloße statistische Analyse, vielmehr ist eine Kontrolle der Störfaktoren oder eine Fehlerkorrektur notwendig. Inwieweit Theorien hier eine Rolle spielen, werde ich gleich unter Punkt (ii) besprechen. Zweitens findet die Auswahl der Daten, auch wenn sie teilweise automatisiert abläuft, oft unter theoretischen Vorgaben statt. An einem Fallbeispiel aus der Astronomie lässt sich die Interaktion zwischen automatisierter Datenreduktion und theoretischen Vorgaben zeigen. Fallbeispiel: Jupitermond S/1999 J 1 Im Juli 2000 gaben das Minor Planet Center am Smithsonian Astrophysical Observatory (MPC) und das Spacewatch Project der University of Arizona gemeinsam die Entdeckung eines Jupitermondes bekannt, der die vorläufige Bezeichnung ‚S/1999 J 1‘ trug. Damit galt der insgesamt siebzehnte Mond des Jupiter als sicher nachgewiesen. Die Entdeckung stellt – ganz anders als die Entdeckung der ersten Monde durch Galilei – sicherlich keine große wissenschaftliche Überraschung dar. Es sind keine großen theoretischen Implikationen zu erwarten, vielmehr fügt sich die Entdeckung fest in das ein, was man mit Kuhn eine normalwissenschaftliche Tradition nennen kann. Ihr liegen routinemäßige Beobachtungen des Nachthimmels zugrunde, die Daten wurden mit den Standardmethoden der gegenwärtigen Astronomie bearbeitet und berechnet. Aber gerade deshalb scheint das Beispiel gut geeignet, um das gewöhnliche wissenschaftliche Vorgehen bei einer Datenreduktion zu illustrieren.24 Das Spacewatch-Programm der Universität von Arizona benutzt ein 36Inch-Teleskop auf dem Kitt Peak in Arizona, um das Sonnensystem vor allem nach Asteroiden und Kometen abzusuchen. Im Oktober 1999 scannte man in mehreren Nächten denselben Bereich um Jupiter, der um diese Zeit besonders erdnah war. Bei den Scans wird der Nachthimmel ausschnittsweise automatisch beobachtet und fotografiert. In einer Nacht entstehen so mehrere Fotos desselben Ausschnitts am Nachthimmel. Fotos eines Ausschnitts aus einer Nacht werden dabei per Computer nach Objekten abgesucht, die sich innerhalb der Nacht relativ zum Fixsternhimmel bewegt haben. (Siehe Abb. 5.1.) Die Messungen der so gefundenen Objekte wurden routinemäßig 24

Die Darstellung stützt sich auf Minor Planet Center (2000), International Astronomical Union (2000) und Spacewatch (2000).

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zur weiteren Untersuchung an das MPC weitergereicht. In einem ersten Schritt werden also aus der großen Zahl der Fotos Daten gewonnen, die die Bewegung von Objekten innerhalb einer Nacht darstellen.

Abb. 5.1: Jupitermond S/1999 J1, in drei Aufnahmen vom 6.10.99, sich durch das Quadrat im Zentrum der Fotos bewegend.25

Die Aufgabe der weiteren Bearbeitung besteht dann darin, die Daten aus verschiedenen Nächten zu verknüpfen, um so die Bahn der Objekte auf einem größeren Ausschnitt verfolgen zu können. Je weiter die Aufnahmen dabei zeitlich auseinander liegen, desto schwieriger ist die Zuordnung als zum selben Objekt gehörend, gleichzeitig steigt aber die Aussagekraft der Daten über die Bahn. Zunächst wurden Aufnahmen vom 30.10.99 und 4.11.99 verknüpft und das Objekt daraufhin als Asteroid – also als Kleinplanet mit einer Bahn um die Sonne – eingestuft und als ‚1999 UX18‘ bezeichnet. Einige Monate später, im Juli 2000, nahm man sich die Daten erneut vor. Hierbei glaubte einer der Forscher, T. Spahr, in Daten vom 19.10.99 ebenfalls den Asteroiden 1999 UX18 zu erkennen. Um diese Annahme zu überprüfen, nahm er weiter zurückliegende Daten vom 6.10.99 hinzu, auf denen der Asteroid auch verzeichnet sein musste. Tatsächlich fand er einen geeigneten Himmelskörper. Der Versuch, eine Bahn um die Sonne zu berechnen, die mit den Daten der vier Nächte vereinbar war, schlug aber fehl. Daraufhin versuchte man es mit einer Bahn um den Jupiter und war damit erfolgreich. Nachdem man eine Bahnberechnung hatte, die Störungen durch Sonne, Saturn und andere Planeten berücksichtigte und die mit den Daten gut zusammenpasste, war man sich sicher, dass man es mit einem Jupitermond zu tun hatte, der verschieden von allen bisher bekannten Monden des Jupiters war. Man versuchte dennoch, die Datenbasis zu erweitern. So suchte man in der Datenbank nach Beobachtungen in früheren Jahren. Eine Beobachtung aus dem Jahr 1975 passte aber nicht zur berechneten Bahn, und in Beobachtun25

Entnommen aus Spacewatch (2000).

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gen aus 1998 konnte man den Mond nicht finden, weil er für die damaligen Messungen zu schwach leuchtet. Stattdessen hat man eine geeignete Region aber auch am 12.10.99 am Spacewatch beobachtet. Eine Nachprüfung ergab, dass die Software den Mond damals nicht registrierte, weil er auf einem der drei Fotos der Nacht mit einem Stern zusammenfiel. Die von Hand gemessenen Daten fügten sich aber gut in die Berechnungen des MPC ein. Dieses Beispiel zeigt, wie vielfältig die Methoden der Auswahl geeigneter Daten sind. Es gibt eine erste Stufe, in der die Fotos einer einzelnen Nacht automatisch untersucht werden. Hier scheint zunächst tatsächlich bloß die Veränderung der Position relativ zu den Fixsternen von Interesse. Dies führt zu einer Auswahl der Fotos prospektiver kleinerer Himmelskörper des Sonnensystems aus der großen Menge von Fotos, auf denen sich vermutlich nichts Interessantes befindet. Allerdings ist dieses Verfahren keineswegs perfekt, wie die nachträglich gefundenen Aufnahmen vom 12.10.99 zeigen. In der zweiten Stufe müssen Daten aus verschiedenen Nächten verknüpft werden. Hier geht es darum, Objekte, die in verschiedenen Nächten auftreten, als dieselben Objekte zu identifizieren. So gelangt man zu einer Zuordnung der Daten zu bestimmten Objekten. Offensichtlich spielen hierbei Berechnungen möglicher Bahnen eine wichtige Rolle. Die Zuordnung der Daten vom 19.10.99 zum Asteroiden 1999 UX18, der aufgrund der Daten vom 30.10.99 und 4.11.99 identifiziert worden war, sollte dadurch gerechtfertigt werden, dass sich die Extrapolation der Bahn auf den 6.10.99 machen lässt und sich die vier Datensätze in eine Asteroiden-Bahn einfügen lassen. Als dies scheiterte, lieferte die alternative Bahn um den Jupiter eine Integration. Man versuchte dann, diese Integration auch auf weitere Datensätze auszudehnen – im Hinblick auf den 12.10.99 mit Erfolg, aus unterschiedlichen Gründen ohne Erfolg in Bezug auf die Daten von 1975 und 1998. Die Bahnberechnungen sind aber durch physikalische und astronomische Theorien (Gravitation, Bahnstörungen durch Sonne und andere Planeten, etc.) bestimmt. Dieser zweite Schritt der Datenauswahl und -verknüpfung wird also offensichtlich von theoretischen Annahmen mitgeleitet. Ohne diesen Schritt hat man aber keine Bahn, sondern bloße Bahnpunkte (bzw. Bahnschnipsel, wie sie sich in einer Nacht ergeben). Man hat im ersten Schritt noch gar keine Objekte identifiziert. Spätere oder frühere Beobachtungen lassen sich nur als Beobachtungen derselben Objekte bestimmen, wenn man eine Bahn berechnet hat. So kann man nur mit Bahndaten die Anzahl der bisher entdeckten Jupitermonde bestimmen. Wie die Daten vom 12.10.99 zudem zeigen, kann dieser zweite Schritt Rückwirkungen auf den ersten haben.

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Auch in der Hochenergiephysik scheint sich die Datenauswahl oft auf eine Mischung theoretischer Überlegungen und empirischer Befunde zu stützen, nicht aber bloß auf statistische Verfahren oder theorieunabhängige Annahmen. Galisons Untersuchung der Experimente zu neutralen Strömen stützen jedenfalls dieses Bild. Die Datenauswahl ist hierbei eng auch mit Überlegungen verknüpft, wie Störeinflüsse unter Kontrolle gehalten werden können und somit der gesuchte Effekt vom irreführenden Hintergrund unterschieden werden kann. Bei den CERN-Experimenten galt dabei als besondere Schwierigkeit, die gesuchten Ereignisse, bei denen Neutrinos schwach und elektrisch neutral interagieren (ein neutraler Strom fließt), von Ereignissen zu unterscheiden, die von Neutronen ausgelöst wurden. Denn beide Ereignis-Typen waren in der Blasenkammer durch einen Regen von Hadronen nachzuweisen. Aus den Kandidaten für neutrale Ströme – Ereignisse mit Hadronen-Regen – waren daher möglichst diejenigen herauszufiltern oder herauszurechnen, die auf Neutronen-Interaktionen zurückgingen. Man nahm dabei an, dass die Neutronen entstehen, wenn ein Neutrino aus dem Strahl, der auf die Blasenkammer gerichtet ist, die Neutronen aus einem Atomkern herauslöst. Wie Galisons Darstellung aufweist, wurde eine Vielzahl von Strategien entwickelt, um mit dem Problem umzugehen. Unter anderem betraf dies schon die Auswahl der Ereignisse, die in Betracht gezogen wurden: Baltay, Camerini, Fry, Musset, Osculati and Pullia ... proposed that they could best isolate neutrino from neutron interactions at high energies, because they expected neutrons to have considerably less energy than neutrinos. Simply put, this is because the neutrinos are the primary particles of the beam, whereas neutrons are released from a nucleus when a neutrino hits it. From the data already collected, the subgroup could see that protons (which behave much like neutrons) were blasted out of a nucleus with only a fraction of the neutrino’s original energy. And the similarities between protons and neutrons inside the nucleus were reasonably well understood theoretically, on grounds independent of the Glashow-Weinberg-Salam theory. (Galison 1987, 176)

Man konzentrierte sich also auf Ereignisse, die bei hoher Energie abgelaufen waren, und hoffte so, den Anteil der Neutronen-Ereignisse zu reduzieren. Die Annahme, dass die Neutronen eher eine geringere Energie haben würden, stützte sich u. a. auf Überlegungen zur Entstehung der Neutronen (sie werden von Neutrinos aus Kernen herausgelöst), auf empirischen Befunde (Protonen haben bei solcher Entstehung eine geringere Energie) und auf theoretische Annahmen zur Ähnlichkeit von Neutronen und Protonen im Atomkern. Es ist offensichtlich, dass diese Form der Datenauswahl nicht in besonderer Weise theorieunabhängig stattfindet. Auch hier findet sich eine Mischung theoretischer Überlegungen und empirischer Befunde.

164

Theoriebeladenheit und Objektivität

(ii) Die Kontrolle von Störfaktoren Es gibt eine Vielzahl weiterer Strategien, um mögliche Störeinflüsse unter Kontrolle zu halten. So kann man versuchen, sie zu modellieren oder zu berechnen und daraufhin die Daten bei Bedarf zu korrigieren, oder man kann schon im experimentellen Aufbau Vorkehrungen treffen, um Störfaktoren auszuschließen oder einzudämmen. Ein dramatisches Beispiel für die Abschirmung von Störeffekten bieten die verschiedenen Experimente zur Untersuchung der Sonnenneutrinos. Beim Sudbury Neutrino Observatory in Kanada baute man den Detektor zweitausend Meter unter der Erdoberfläche in einer Kupfer- und Nickelmine auf. Zudem werden die 1000 Tonnen schweren Wassers, die dem Einfangen der Neutrinos dienen, von 7000 Tonnen leichtem Wasser umgeben. Motiviert sind diese Maßnahmen durch die Annahmen, dass sich so die kosmische Hintergrundstrahlung sowie Gammastrahlen und Neutronen abschirmen lassen, die aus Radioaktivität im Fels entstehen, dass aber gleichzeitig die Neutrinos die Abschirmung praktisch ungehindert durchdringen.26 In der Geschichte der Experimente zum Lichtdruck findet sich ein anderes Beispiel dafür, dass die Einschätzung der Wirksamkeit einer Abschirmung theorieabhängig sein kann.27 Man kann beobachten, dass sich leichte Gegenstände im Licht bewegen, beispielsweise dreht sich eine spezielle Mühle, wenn man Licht auf einen Flügel fokussiert. Allerdings ging schon Mairan 1747 davon aus, dass diese Bewegung nicht als verlässlicher Nachweis für einen Druck aufgefasst werden kann, der von den auftreffenden Lichtstrahlen ausgeübt wird. Denn thermische Effekte aus der Erwärmung und Ausdehnung der umgebenden Luft können für die beobachteten Bewegungen verantwortlich sein. Man sollte denken, dass sich dieser Effekt ausschalten ließe, indem man das Experiment im Vakuum durchführt, etwa indem man die Lichtmühle in Glas einfasst und die Luft herauspumpt. Doch Mairan hielt eine solche Abschirmung nicht für ausreichend. Er ging davon aus, dass sich durch das Glas nur die ‚grobe Luft‘ ausschließen ließe, die wir atmen, nicht aber eine ‚feinere Luft‘, die auch Bestandteil der Atmosphäre sei, die aber das Glas durchdringen könne und weiterhin für thermische Störungen sorgen würde. In diesem Fall hat eine – aus heutiger Sicht falsche – theoretische 26

27

Siehe Sudbury Neutrino Observatory (2001) für weitere Merkmale der Apparatur. Siehe SNO Collaboration (2002) für den Nachweis, dass die in der Sonne entstehenden Elektron-Neutrinos sich auf dem Weg zur Erde zu 2/3 in µ- und τ-Neutrinos umwandeln. Dieser Befund erklärt, warum in bisherigen Experimenten stets viel weniger Neutrinos nachzuweisen waren, als die theoretischen Modelle der Sonne erwarten ließen. Siehe Worrall (1982) für eine Darstellung und Analyse dieser Geschichte.

5. Die Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen

165

Annahme über die Existenz eines nicht wahrnehmbaren Äthers dazu geführt, eine bestimmte Abschirmung für unzureichend zu halten.28 Die Bestimmung des Neutronen-Hintergrunds bei den CERN-Experimenten gibt wiederum ein Beispiel dafür ab, wie Störeinflüsse detailliert untersucht und berechnet werden. Hierbei wurde eine Vielzahl von teilweise unabhängigen Überlegungen angestellt, die jeweils sichern sollten, dass die ermittelte Rate an Kandidaten-Ereignissen für neutrale Ströme gegenüber dem Hintergrund von Neutronen-Ereignissen signifikant ist. So suchte man nach sog. ‚associated events‘ zu Neutronen-Interaktionen. Dies sind die Ereignisse, bei denen – durch Interaktion mit den Neutrinos – die Neutronen überhaupt erst freigesetzt wurden. Diese Freisetzung fand häufig in der Beton-Ummantelung der Blasenkammer statt und war deshalb nicht zu beobachten. In manchen Fällen wurde das Neutron aber in der Blasenkammer freigesetzt, und diese assoziierten Ereignisse hinterließen hierbei charakteristische Spuren. Wenn man zu einem Kandidaten für einen neutralen Strom ein assoziiertes Ereignis fand, konnte man sich sicher sein, dass man es mit einen Neutronen-Ereignis zu tun hatte. Man konnte so die NeutronenEreignisse genauer untersuchen und Informationen gewinnen, um so auch in Fällen, in denen keine assoziierten Ereignisse auffindbar waren, die Identifikation zu erleichtern.29 Auch andere Überlegungen wurden zur Bestimmung des Hintergrunds an Neutronen-Ereignissen angestellt. So konnte man erwarten, dass die Neutronen-Ereignisse häufiger am Rand der Blasenkammer als in der Mitte zu finden sind. Denn zum einen entstanden die meisten Neutronen in der Ummantelung. Zum anderen ist ihre Wahrscheinlichkeit so groß, dass sie mit Kernen der Blasenkammer-Flüssigkeit stark wechselwirken, dass die Häufigkeit der Ereignisse mit zunehmendem Abstand vom Rand abnehmen musste. Demgegenüber war zu erwarten, dass die Ereignisse mit nur schwach wechselwirkenden Neutrinos gleichmäßig in der Kammer verteilt sein würden. Aufgrund dieser theoretisch gestützten Überlegungen konnte man die Häufigkeit der Ereignisse am Rand und im Zentrum der Kammer dazu heranziehen, um den Hintergrund vom gesuchten Effekt zu trennen.30 Aus diesen Fällen ergibt sich das Bild, dass sowohl die Auswahl von Daten als auch die Kontrolle erwarteter Störfaktoren selbst zu einem ganz gewöhnlichen Teil der wissenschaftlichen Forschung geworden sind – gewöhnlich insbesondere in dem Sinne, dass nicht eine bloß beschränkte Art von An28 29 30

Siehe Worrall (1982), 142/143. Siehe Galison (1987), 170. Siehe Galison (1987), 169-172 u. 179.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

nahmen oder Strategien, sondern die ganze Breite wissenschaftlicher Überlegungen und Befunde zum Zug kommen, und neben vielfältigen empirischen Daten auch viele theoretische Überlegungen. Offensichtlich wird auch der Einfluss von Theorien darauf, welche Störfaktoren oder Hintergrundeinflüsse überhaupt erwartet werden. Dies kann eine recht inhomogene Menge sein, wie etwa die Aufstellung der Einflüsse zeigt, die bei den CERN-Experimenten in Betracht gezogen wurden.31 Zudem ist klar, dass Erwartungen über Störeinflüsse eine Form einer Prognose darüber sind, was im Laufe eines Beobachtungsprozesses alles ablaufen und Einfluss nehmen könnte. Theorien können zu solchen Prognosen über Störeinflüsse führen, wie das Beispiel der ‚feinen Luft‘ illustriert. Neue theoretische Annahmen über den Prozess führen zudem recht wahrscheinlich dazu, dass sich die Prognosen ändern. Auch wenn man daher Beobachtungsergebnisse als verlässlich einschätzt, weil man für alle erwarteten Fehlerquellen vorgesorgt hat, ist diese Einschätzung immer untergrabbar durch neues, insbesondere theoretisches Wissen über den Beobachtungsprozess. (iii) Erwartete Daten und gezielte Eingriffe Man kann die Verlässlichkeit eines Beobachtungsprozesses auch dadurch begründen, dass man nachweist, dass sich mit dem Prozess schon bekannte Sachverhalte beobachten lassen. Diese Strategie spielte eine Rolle beim Nachweis, dass die physikalischen Gesetze nicht invariant sind gegenüber Raumspiegelung und Ersetzung aller Teilchen durch ihre Antiteilchen (Verletzung der CP-Invarianz).32 Hierfür war nachzuweisen, dass K² -Mesonen in π+- und π--Mesonen zerfallen. Man wusste bereits, dass K¹ -Mesonen ebenfalls in π+ und π- zerfallen. Zudem war bekannt, dass sich K¹ -Mesonen aus K² -Mesonen erzeugen lassen. Diesen bekannten Prozess [K² generieren K¹ ; K¹ → π+ π-] benutzte man, um die Apparatur zu ‚kalibrieren‘: Indem sich hier dieselben Daten ergaben wie bei Zerfällen von K² , konnte man davon ausgehen, dass auch K² -Mesonen in π+ und π- zerfallen.33 In anderen Fällen schließt man aus der Verlässlichkeit eines Beobachtungsprozesses für eine Art von Ergebnis auf die Verlässlichkeit auch anderer Ergebnisse des Prozesses. Für die Untersuchung organischer Moleküle durch Infrarot-Spektroskopie mussten diese oft in Öl gelöst werden. Dies führte dazu, dass das erhaltene Spektrum nicht nur die Eigenschaften der untersuchten Moleküle, sondern auch die des Öls repräsentierte. Dieser Artefakt 0

0

0

0

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0

31 32 33

Siehe Galison (1987), 177. Siehe Franklin (1986), Kap. 3. Siehe Franklin (1986), 175/176.

0

5. Die Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen

167

der Untersuchungsmethode ließ sich aber dazu benutzen, die Verlässlichkeit des Verfahrens zu stützen. Denn das Spektrum des Öls war bekannt. Indem man dieses Spektrum im Ergebnis wiederfand, hatte man Gründe dafür, auch das Spektrum in den Teilen, die man den untersuchten Molekülen zuwies, für verlässlich zu halten.34 Hier schließt man aus der Verlässlichkeit des Beobachtungsprozesses in einigen Fällen induktiv auf die Verlässlichkeit in anderen Fällen. Dabei stützt sich die erste Verlässlichkeitsannahme auf Erwartungen über das Beobachtungsergebnis in diesen Fällen. Diese induktive Stützung ist aber nicht völlig theorieunabhängig. Zum einen braucht man zunächst begründete Annahmen über bestimmte Sachverhalte. Im ersten Beispiel sind dies Annahmen über den Zerfall von K¹ -Mesonen, im zweiten Beispiel über das Spektrum des Öls. Beides sind Sachverhalte, die man in der Regel nur durch Beobachtungsverfahren eben der Art herausfinden kann, deren Verlässlichkeit einzuschätzen ist. Die Einschätzung beruht daher schon auf der positiven Einschätzung dieser anderen Verfahren. Es ist nicht von vornherein klar, dass diese Einschätzung theorieunabhängig ist. Zum anderen ist der induktive Schluss von der Verlässlichkeit des Prozesses bei bekannten Sachverhalten auf die bei unbekannten Sachverhalten nur gerechtfertigt, wenn man von einer relevanten Ähnlichkeit der untersuchten Sachverhalte ausgehen kann. Es ist aber zu erwarten, dass wissenschaftliche Theorien, insbesondere Theorien über die untersuchten Gegenstände und die vorgenommenen Eingriffe, für die Annahme der Ähnlichkeit wichtig sind. Die Ähnlichkeitsannahme und damit die positive Einschätzung insgesamt ist sicherlich durch Theorien untergrabbar. Eine verwandte Strategie sieht vor, dass man durch gezielte Eingriffe in den Beobachtungsprozess und auf das Objekt die Genese des Beobachtungsergebnisses kausal analysiert. Hierbei nähren die Eingriffe Erwartungen darüber, wie sich das Beobachtungsergebnis verändert. An den Veränderungen, die sich tatsächlich einstellen, lassen sich dann kausale Beiträge von Objekt und Gerät identifizieren und die Verlässlichkeit des Prozesses bezüglich bestimmter Aspekte begründen. Wenn sich beispielsweise das Mikroskopbild verändert, während man mit einer Nadel ins Objekt sticht, kann man dies auf eine Veränderung des Objekts selbst zurückführen. Wenn dagegen das Bild verschwimmt, während man an der Scharfstellung dreht, kann man hieraus klarerweise nicht schließen, dass das Objekt sich gerade auflöst. Ein Vorgehen solcher Art ist auch bei Probeläufen einer Beobachtungsapparatur üblich. Mit verschiedenen bekannten Objekten oder Eingriffen auf sie wird so die Abhängigkeit des Ergebnisses von Eigenschaften des Objekts 0

34

Siehe Franklin (1986), 177.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

ermittelt. Zu beachten ist hier aber, dass gerade bei langen Beobachtungsprozessen diese Objekte oder Eingriffe selbst oft theoretisch beschrieben werden. Daher können auch solche Prüfungen theorieabhängig sein. (iv) Koinzidenz unabhängiger Beobachtungen Eine starke Argumentation für die Verlässlichkeit von Beobachtungsergebnissen kann sich ergeben, wenn empirische Ergebnisse, die mit verschiedenen, unabhängigen Beobachtungsprozessen produziert werden, übereinstimmen. Hacking beschreibt zwei Methoden, um Flecken, sog. dichte Körperchen, an roten Blutkörperchen zu beobachten. Die Körperchen sind mit einem Elektronenmikroskop beobachtbar, aber auch mit einem Lichtmikroskop, sofern die Blutplättchen dann für Fluoreszenz-Mikroskopie präpariert werden. Wenn man dieselben Plättchen auf beide Weisen beobachtet, zeigt sich jeweils dasselbe Muster der Körperchen: Two physical processes – electron transmission and fluorescent re-emission – are used to detect the bodies. These processes have virtually nothing in common between them. They are essentially unrelated chunks of physics. It would be a preposterous coincidence if, time and again, two completely different physical processes produced identical visual configurations which were, however, artifacts of the physical processes rather than real structures in the cell. (Hacking 1983, 201)

Die Koinzidenz verschiedener Beobachtungsergebnisse scheint sehr aussagekräftig für die Verlässlichkeit der Ergebnisse. Allerdings stoßen solche Koinzidenz-Argumentationen auch an Grenzen. Hudson (1999) diskutiert ein in dieser Hinsicht bemerkenswertes Beispiel. Lange Zeit nahmen Biologen an, dass es sog. Mesosome, eine Art von Organellen, bei Bakterien gibt. Mesosome ließen sich elektronenmikroskopisch beobachten. Zwar mussten die Bakterien für die Beobachtungen stark präpariert werden, so dass mit Artefakten der Präparation zu rechnen war. Die Mesosome konnten aber mit sehr vielen verschiedenen Präparationsverfahren beobachtet werden, die Ergebnisse unabhängiger Beobachtungsprozesse stimmten offenbar überein. (Siehe in Kapitel 7 die Abb. 7.4 für ein solches Mesosom.) Zwar waren die Befunde von Mesosomen recht variabel. So traten Mesosome in unterschiedlicher Gestalt, variabler Größe und an verschiedenen Stellen in den Bakterien auf. Zudem fand man in den präparierten Bakterien Mesosome in unterschiedlicher Anzahl und nur mit bestimmter Häufigkeit überhaupt welche. Dennoch war die Koinzidenz offenbar stark genug, um die Annahme der Existenz der Mesosome in lebenden Bakterien fest zu etablieren. Inzwischen ist man sich sicher, dass Mesosome tatsächlich Artefakte der Präparation sind. Die wenigen Verfahren, die nicht zu Mesosomen führten, werden aufgrund anderer Befunde für zuverlässiger gehalten als die größere

5. Die Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen

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Anzahl der Verfahren, die Mesosome beobachten lassen. In diesem Fall wogen andere Überlegungen zur Verlässlichkeit der Beobachtungsprozesse stärker als Koinzidenz-Annahmen.35 Zudem ist zu Koinzidenz-Argumenten zu bemerken, dass auch Hackings eigener Darstellung zufolge die Schlagkraft der Koinzidenz davon abhängt, dass man die ablaufenden Prozesse für physikalisch verschieden hält. Eine Übereinstimmung unzuverlässiger Ergebnisse wäre gerade deshalb eine groteske Koinzidenz, weil die Prozesse zu völlig unabhängigen Bereichen der Physik gehören.36 Eine auf Koinzidenz beruhende Einschätzung der Verlässlichkeit ist aber dann zumindest von dieser Annahme der Verschiedenheit der Prozesse abhängig. (v) Empirische und theoretische Gründe in der Verlässlichkeitseinschätzung Es zeigt sich insgesamt, dass es eine beeindruckende Vielfalt von Strategien gibt, um sich der Verlässlichkeit der Ergebnisse langer Beobachtungsprozesse zu versichern. Angesprochen wurden hier insbesondere Methoden der Datenauswahl, der Fehlerkorrektur, der Kontrolle von Störfaktoren, der induktiven Stützung der Verlässlichkeit, der kausalen Analyse des Beobachtungsprozesses durch gezielte Eingriffe und der Koinzidenz unabhängiger Beobachtungen. Dabei hat sich aber die Annahme des Neuen Experimentalismus, dass die experimentelle Praxis, in die lange Beobachtungsprozesse eingebettet sind, ein von Theorien unabhängiges Eigenleben spielt, nicht bestätigt. Zwar spielen vielfältige empirische Untersuchungen und Resultate eine Rolle. Gleichzeitig werden aber auch häufig theoretische Annahmen für oder gegen eine positive Einschätzung der Verlässlichkeit empirischer Resultate angeführt.37 Hierbei handelt es sich keinesfalls nur um niedrigstufige phänomenologische Verallgemeinerungen, die speziell zum experimentellen Wissen gehören würden und von übergreifenden Theorien weitgehend unabhängig wären. Vielmehr werden oft systematische, explanatorische Theorien oder Konsequenzen solcher Theorien verwendet.38 In den angeführten Beispielen waren dies u. a. theoretische Annahmen über starke und schwache Wechselwirkung, 35

36 37 38

Siehe Hudson (1999). Vgl. auch Culp (1994) für die abweichende Einschätzung, dass letztlich doch mangelnde Koinzidenz den Ausschlag für die Feststellung gab, dass Mesosome Artefakte sind. Siehe auch Rasmussen (1993) für eine weitere Darstellung der Episode. Vgl. Franklin (1986), 166. Vgl. Galison (1997), 426-429. Siehe Carrier (1998) für eine Argumentation für das Vorkommen systematischer Theorien als Beobachtungstheorien und gegen den Neuen Experimentalismus.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

über Neutronen, Protonen und Neutrinos, über mögliche Bahnen von Himmelskörpern, über die Existenz eines Äthers, über den Zerfall von K¹ Mesonen oder über die physikalische Verschiedenheit der Funktion von Licht- und Elektronenmikroskop. Dies sind theoretische Annahmen ganz gewöhnlicher Art, die hier lediglich im Kontext von Beobachtungen verwendet werden.39 Demnach lässt sich nicht nachweisen, dass die theoretischen Hilfsmittel in experimenteller Forschung auf dasjenige beschränkt wären, was selbst lokal empirisch zu stützen ist. Vielmehr zeigt sich, dass alles herangezogen wird, was an gut begründeten theoretischen Annahmen wie auch weiteren, als verlässlich eingeschätzten empirischen Ergebnissen verfügbar und für die vorliegende Beobachtung relevant ist. Es wäre auch verwunderlich, wenn dies gerade bei langen Beobachtungsprozessen anders wäre. Denn lange Beobachtungsprozesse sind typischerweise dann erforderlich, wenn es einen einfachen, direkten Zugang zu wissenschaftlichen Objekten mit StandardMessgeräten oder durch direkte oder instrumentegestützte Wahrnehmungen nicht gibt. Die Beobachtungsobjekte sind oft nur durch komplexe kausale Interaktion zugänglich. Die eingesetzten Geräte und die Methoden des Experimentierens sind häufig Produkte dessen, was theoretisch möglich erscheint. Dies zeigt sich am Beispiel der Neutrino-Messungen am Sudbury Neutrino Observatory. Es ist völlig unklar, wie man ohne Theorien über Neutrinos und deren möglichen Wechselwirkungen auf die Idee kommen könnte, gerade die Lichtblitze zu zählen, die sich im Laufe von fast zwei Jahren in eintausend Tonnen schweren Wassers ereignen, die man zwei Kilometer unter der Erde deponiert hat. Und dies gilt auch für die besondere Weise, auf die man die Daten auswählt, das Signal vom Hintergrund trennt und auf Zustände der Art, wie sie theoretisch postuliert werden, schließt. Es ist daher nur zu erwarten, dass es auch theoretischer Gründe bedarf, um die Verlässlichkeit solcher Beobachtungen einzuschätzen. Trotz dieses Einflusses von Theorien dürfen aber die gewichtigen Beiträge nicht unterschätzt werden, die durch die herangezogenen oder erhobenen empirischen Befunde geleistet werden. Gerade weil Beobachtungen hier nicht isoliert vom wissenschaftlichen Kontext betrachtet werden können, werden die vielfältigen Möglichkeiten sichtbar, wie empirische Befunde gegenseitig ihre Verlässlichkeit prüfen und stützen. Insbesondere wenn die empirischen Befunde reichhaltig und detailgenau sind, können Koinzidenz-Argumente oder kausale Analysen starke Gründe für eine Verlässlichkeitseinschätzung 0

39

Siehe Kosso (1992), 117; Carrier (1994), 18 u. (1998).

5. Die Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen

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darstellen. So sind Beispiele perzeptueller Beobachtungen wie das von Hacking, wo unterschiedlich gewonnene Bilder dichter Körperchen detailreich übereinstimmen, sind besonders aussagekräftig. Diese Einsicht werde ich im Folgenden wieder aufnehmen, wenn es speziell um die Theorieabhängigkeit perzeptueller Wahrnehmungen geht. (Siehe Kap. 7, Abschn. 5 u. 6.) Für den allgemeinen Fall langer Beobachtungsprozesse bleibt es aber bei dem Ergebnis, dass eine positive Einschätzung der Verlässlichkeit der Befunde gleichermaßen von empirischen wie theoretischen Gründen sowohl gestützt als auch untergraben werden kann. 4. Die Verlässlichkeitseinschätzung und die Objektivität von Beobachtungen a) Starke Theorieabhängigkeit durch die Verlässlichkeitseinschätzung Es zeigt sich, dass die Verlässlichkeit verschiedener Arten von Beobachtungen auf unterschiedliche Weise eingeschätzt wird. Wahrnehmungen ohne Instrumente gelten prima facie als zuverlässig, man verfährt hier großzügig. Diese positive Einschätzung kann aber für besondere Arten u. a. durch theoretische Annahmen untergraben werden. Instrumentewahrnehmungen werden demgegenüber zunächst knauserig behandelt, sie müssen zuerst als verlässlich begründet werden. Hierfür können sowohl theoretische als auch empirische Gründe sprechen. Bei der Ausweitung einer positiven Einschätzung auf neue Bereiche des Wahrgenommenen ist man aber eher großzügig, wobei eine solche Ausweitung u. a. theoretisch untergraben werden kann. Bei einfachen, satzartigen Messgeräte-Daten muss zunächst plausibel gemacht werden, warum man eine Größe überhaupt so für messbar hält. In der Regel wird man hierzu theoretische Annahmen benötigen. Zudem werden mögliche Störeinflüsse ebenso wie ihre Kontrolle oft theoretisch spezifiziert. Theoretische Annahmen müssen daher die Verlässlichkeit von Messungen stützen, können sie aber auch untergraben. Wenn Beobachtungsprozesse lang sind, erweitert sich erheblich das Arsenal der Strategien, mit denen die Verlässlichkeit von Beobachtungen begründet werden kann. Dies führt dazu, dass die Gewinnung empirischer Ergebnisse selbst zu einem komplexen Forschungsprojekt werden kann, das viele Entwicklungen, Überlegungen und Beobachtungen zusammenführt. Für die Verlässlichkeitseinschätzung sind hier in der Regel sowohl verschiedene Theorien als auch vielfältige empirische Gründe unverzichtbar. Somit ergibt sich für alle Beobachtungen eine Theorieabhängigkeit durch die Einschätzung ihrer Verlässlichkeit. In vielen Fällen – insbesondere bei Messgeräte-Daten und langen Beobachtungsprozessen – muss theoretisch plausibel gemacht werden, dass solche Beobachtungen überhaupt machbar

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Theoriebeladenheit und Objektivität

sind. In allen Fällen, auch den großzügig geregelten direkten Wahrnehmungen oder empirisch stützbaren Instrumentewahrnehmungen, kann aber eine gegebene positive Einschätzung durch gut gestützte theoretische Annahmen untergraben werden. Diese theoretische Bedingtheit der Verlässlichkeitseinschätzung kann sowohl zu schwacher wie zu starker Theoriebeladenheit führen. (Vgl. Kap. 3, Abschn. 4a.) Schwache Theoriebeladenheit folgt, wenn man in einer Situation eine Menge von Beobachtungen bestimmter Informativität nur deshalb für verlässlich hält, weil man bestimmte theoretische Annahmen macht, man andernfalls aber keine Beobachtungen oder nur Beobachtungen geringeren Informationsgehalts als verlässlich einschätzen würde. Solche schwache Theorieabhängigkeit kann sich bei einer knauserig geregelten Verlässlichkeitseinschätzung ergeben, wenn man ohne theoretische Gründe, nur auf der Basis empirischer Gründe, keine positive Einschätzung geben könnte. Die positive Einschätzung von Messgeräte-Daten und auch von Ergebnissen langer Beobachtungsprozesse sind in der Regel knauserig geregelt und auf theoretische Gründe angewiesen. Hier ermöglichen Theorien eine Erweiterung der empirischen Daten, die zur Verfügung stehen. Nur mit Theorien können Beobachtungen bestimmter Art (z. B. Beobachtungen der radioaktiven Strahlung) oder bestimmter Präzision positiv eingeschätzt werden. Eine schwache Theoriebeladenheit führt als solche aber nicht dazu, die Objektivität von Beobachtungen in Zweifel zu ziehen. Wenn von zwei alternativen Theorien nur die eine Theorie aufgrund schwacher Theoriebeladenheit zusätzliche empirische Ergebnisse für verlässlich erklärt und durch diese Ergebnisse gestützt wird, dann kann die andere Theorie nicht als gleichwertig empirisch gestützt erscheinen. (Siehe Kap. 3, Abschn. 5a.) Starke Theorieabhängigkeit ergibt sich aus der Theorieabhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung, wenn vor dem Hintergrund unterschiedlicher Mengen theoretischer Annahmen T und T’ in derselben Situation verschiedene, eventuell unvereinbare empirische Ergebnisse, die vergleichbar gehaltvoll sind, für verlässlich gehalten werden. Hier gibt es im Wesentlichen zwei Konstellationen, wie sich aufgrund der Verlässlichkeitseinschätzung starke Theoriebeladenheit ergeben kann. Der erste Typ von Konstellation betrifft Fälle, in denen man ein bestimmtes Ergebnis zunächst großzügig für verlässlich hält oder man die positive Einschätzung durch empirische Gründe stützt, die vor beiden Hintergründen verfügbar sind. Dann könnte die eine Menge theoretischer Annahmen T diese positive Einschätzung bestehen lassen, während man vor dem Hintergrund der anderen Menge T’ dieses Ergebnis für unzuverlässig erklärt und stattdessen in derselben Situation ein anderes Ergebnis für zuverlässig hält. Ein

5. Die Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen

173

Beispiel hierfür sind die Beobachtungen des fallenden Steins im Turmexperiment. Die Aristoteliker halten die Wahrnehmung für zuverlässig und finden hierdurch ihre Annahme über die Ruhe der Erde bestätigt. Galilei argumentiert dagegen dafür, dass man nur Relativbewegungen wahrnimmt. Die kopernikanische Theorie ist mit diesem korrigierten Verständnis der Beobachtungsergebnisse vereinbar, sofern man die Annahme der Trägheit der Kreisbewegung hinzunimmt. Dieser Typ von Konstellation ist natürlich auch mit vertauschten Rollen für T und T’ möglich, so dass sich die beiden Varianten Ia und Ib ergeben. (Siehe die folgende Tabelle.) Der zweite Typ von starker Theorieabhängigkeit tritt auf, wenn Beobachtungsergebnisse knauserig behandelt werden. Es kann dann vorkommen, dass unterschiedliche zugrunde gelegte Theorien in derselben Situation verschiedene, unvereinbare Ergebnisse als verlässlich auszeichnen. Dies tritt beispielsweise auf, wenn nur eine der Theorien eine bestimmte Korrektur der Beobachtungsdaten für erforderlich erscheinen lässt. Siehe hierzu Typ II in der Tabelle.40 Konstellation: Theorie T:

Theorie T’:

Typ Ia:

Die positive Einschätzung von B wird von T’ in S untergraben, stattdessen wird B’ positiv eingeschätzt.

Die Beobachtung B in einer Situation S wird großzügig oder empirisch positiv eingeschätzt.

Typ Ib:

Wie Typ Ia mit vertauschten Rollen

Typ II:

T stützt bei einer knauserig T’ stützt dagegen in S die posigeregelten Beobachtung in S tive Einschätzung von B’. eine positive Einschätzung von B.

b) Optimismus oder Pessimismus? Lässt sich durch die starke Theorieabhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung ein Pessimismus stützen? Dazu müsste wegen dieser Theorieabhängigkeit ein pessimistisches Unterbestimmtheits-Szenario wahrscheinlich möglich werden. (Siehe Kap. 1, Abschn. 3c.) Es müsste gelten: Wenn es eine optimal erscheinende Theorienmenge T gibt, ist es wahrscheinlich, dass es eine weitgehend unvereinbare alternative Theorienmenge T’ gibt, die ebenso 40

Es sind hier natürlich auch Mischformen denkbar, etwa wenn beide Theorien eine großzügige positive Einschätzung untergraben, sie aber jeweils theoriebedingt durch andere Beobachtungen ersetzen.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

optimal erscheint. T erscheint optimal, wenn sie erstens in den relevanten Situationen S1 bis Sn eine Menge von informativen Beobachtungen B1 bis Bn als verlässlich auszeichnet. Zweitens muss sie durch diese Beobachtungen gut gestützt werden. Und drittens muss T systematisch tugendhaft sein. Dementsprechend müsste T’ in denselben Situationen S1 bis Sn eine alternative Menge von ebenso informativen Beobachtungen B1’ bis Bn’ als verlässlich auszeichnen, die weitgehend mit B1 bis Bn unvereinbar sind. T’ müsste durch diese Beobachtungen gut empirisch gestützt werden. Und T’ müsste schließlich selbst systematisch tugendhaft sein. Denn dann wären die beiden Theorien in ihren empirischen Teilen weitgehend unvereinbar: Sie werden durch weitgehend unvereinbare Beobachtungen gestützt. Zudem wäre es wahrscheinlich, dass sie in ihren theoretischen Teilen ebenfalls weitgehend unvereinbar sind. Denn diese theoretischen Teile implizieren weitgehend unvereinbare empirische Konsequenzen. Schließlich erscheinen beide Theorien aber wegen der Theorieabhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung als empirisch gestützt: Sie zeichnen verschiedene Mengen von Beobachtungen als verlässlich aus. Wenn zu einer optimal erscheinenden Theorie T auf solche Weise eine ebenso optimal erscheinende Alternative T’ wahrscheinlich möglich ist, wäre es unwahrscheinlich, dass eine optimal erscheinende Theorie in ihren empirischen oder theoretischen Teilen überwiegend wahr ist. Man müsste wegen der Theorieabhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung pessimistisch gegenüber den Erkenntnisaussichten der Wissenschaften sein. Wie wahrscheinlich ist es, dass es eine solche Alternative T’ gibt, gegeben es gibt eine Theorie T? Es scheint zunächst klar, dass die Möglichkeit zumindest abstrakt vorstellbar ist. Diesem abstrakten Szenario zufolge kommt es in den meisten Beobachtungssituationen relativ zu den beiden Theorien T und T’ zu Konstellationen vom Typ I oder Typ II. Die beiden Theorien schätzen demnach erstens Mengen weitgehend unvereinbarer Beobachtungen als verlässlich ein. Zudem werden sie zweitens durch die jeweils von ihnen ausgezeichneten Beobachtungen gestützt, und sie sind drittens systematisch tugendhaft.41 Aber auch wenn die erste Bedingung erfüllt ist, folgt daraus nicht die Erfüllung der beiden weiteren Bedingungen. Es ist möglich, dass zwei Theorien weitgehend unvereinbare Beobachtungen auszeichnen, die Theorien aber durch die von ihnen ausgezeichneten Beobachtungen nicht gut empirisch bestätigt werden. Auch brauchen die Theorien nicht systematisch tugendhaft zu sein.

41

Für ein solches abstraktes Szenario siehe Wright (1992).

5. Die Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen

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Nun muss man für den Optimismus davon ausgehen, dass es mindestens eine Theorie gibt, die systematisch tugendhaft und durch die von ihr ausgezeichneten Beobachtungen gut empirisch gestützt ist. Denn sonst hätte man keine Theorie, der gegenüber man optimistisch sein könnte. Man muss dann plausibel machen, warum es wahrscheinlich keine zweite, weitgehend unvereinbare Alternative geben soll, die gleich optimal erscheint. Hierzu kann jede der drei notwendigen Bedingungen in Frage gestellt werden. Allerdings ist bei der dritten Bedingung schwer zu erkennen, warum die alternativen Theorien nicht gleich systematisch tugendhaft sein sollten. Womöglich sind die alternativen Mengen von Beobachtungen ähnlich kohärent. Dann sollten sie von Theorien erklärbar sein, die in ähnlichem Umfang systematisch tugendhaft sind. Bei der zweiten Bedingung könnte man zunächst denken, dass eine alternative, aber tatsächlich weitgehend falsche Theorie durch die von ihr ausgezeichneten Beobachtungen kaum gut empirisch bestätigt sein könnte. Sollte sich, trotz aller Theorieabhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung, nicht doch die Empirie durchsetzen und die Beobachtungen auch vor verschiedenen theoretischen Hintergründen letztlich in eine eindeutige Richtung zeigen? Die Idee ist hier, dass die tatsächlichen Sachverhalte letztlich den Beobachtungsergebnissen in der Weise den Stempel aufdrücken werden, dass radikal falsche Theorien keine dauerhafte Chance haben. Allerdings wird diese Idee durch die angenommenen Möglichkeiten theoretischer Varianz der Beobachtungsergebnisse in der ersten Bedingung untergraben. Denn dort ist gerade angenommen, dass die Mengen von Beobachtungsergebnissen weitgehend unvereinbar sind. Das heißt aber, dass meist mindestens eine der Beobachtungen eigentlich falsch ist. Bei solcher massiven Unzuverlässigkeit der Beobachtungen scheint aber nicht klar, dass sich die tatsächlichen Umstände letztlich in der Theoriewahl niederschlagen müssen. Es scheint daher für den Optimismus am vielversprechensten, die Erfüllung der ersten Bedingung – die Möglichkeit weitgehend divergierender Mengen von Beobachtungen – anzugreifen. Hier sind insbesondere Situationen vom Typ I interessant. In diesen Situationen hat man aufgrund einer großzügigen Regelung oder durch allgemein zugängliche empirische Gründe zunächst eine für verlässlich eingeschätzte Beobachtung, die vor dem einen theoretischen Hintergrund Bestand hat, vor dem anderen aber durch eine meist unvereinbare Beobachtung ersetzt wird. Die Möglichkeit des pessimistischen Szenarios verlangt, dass in den meisten Situationen großzügiger oder empirisch gestützter positiver Einschätzung eine der beiden Theorien diese Einschätzung untergräbt. Hier sind nun zunächst zwei Fälle denkbar. Erstens

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Theoriebeladenheit und Objektivität

könnte jede der Theorien ungefähr die Hälfte der zuerst positiven Einschätzungen theoretisch untergraben. Demnach bestehen Situationen der Typen Ia und Ib ungefähr gleich häufig. Zweitens könnte eine der Theorien, z.B. T’, eine größere Zahl der zunächst positiven Einschätzungen untergraben. Im zweiten Fall stünde aber T’ empirisch schlechter gestützt dar als T. Denn die positive Einschätzung der Beobachtung ist von epistemischem Gewicht, das die untergrabende Theorie erst aufwiegen muss. Wenn eine Theorie eine solche Einschätzung untergräbt, dann widerspricht sie damit einem gültigen empirischen Befund. Damit eine Theorie einen solchen Befund zurückweisen kann, muss sie selbst empirisch gestützt sein. Letztlich werden daher die Beobachtungen, die diese Theorie stützen, gegen die Beobachtungen aufgewogen, die von der Theorie für unzuverlässig erklärt werden. Eine Theorie, die viele Beobachtungen für unzuverlässig erklärt, untergräbt so ihre eigene empirische Stützung. Wenn T’ mehr Beobachtungen, die zunächst positiv einzuschätzen sind, für unzuverlässig erklärt als T, gleichzeitig aber – wie im Szenario vorgesehen – durch die gleiche Anzahl (vergleichbar gehaltvoller) Beobachtungen gestützt wird, ist sie daher insgesamt empirisch schlechter gestützt als T. Daher muss man für das pessimistische Szenario davon ausgehen, dass der erste Fall besteht und beide Alternativen ungefähr die Hälfte der prima facie positiv einzuschätzenden Beobachtungen theoretisch untergraben. Dies ist ein wichtiges Ergebnis. Denn es zeigt, dass es zu einer Theorie, die mit weit mehr als der Hälfte der großzügig oder empirisch positiv einzuschätzenden Beobachtungen vereinbar ist, nicht aufgrund der Theorieabhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung eine alternative Theorie geben kann, die durch Typ-1-Beobachtungen ebenso gut empirisch gestützt ist. Es ist allerdings zu beachten, dass die Theorieabhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung mit den anderen Formen der Theoriebeladenheit kombiniert sein könnte. Beobachtungen können sowohl ihrem Inhalt nach in den Formen theoriebeladen sein, die in Kapitel 3 und 4 diskutiert wurden, als auch in der Einschätzung ihrer Verlässlichkeit von Theorien abhängen. Auch wenn man zeigen kann, dass eine einzelne Form der Theoriebeladenheit keine pessimistischen Szenarien ermöglicht, ist damit die Objektivität der Beobachtungen noch nicht begründet. Man kann Beobachtungen letztlich nur dann trotz ihrer Theoriebeladenheit für objektiv halten, wenn auch die Kombination der Formen der Theoriebeladenheit solche Szenarien nicht wahrscheinlich möglich macht.

5. Die Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungen

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Zusammenfassung Beobachtungsergebnisse können nur dann als Evidenz für oder gegen Theorien Verwendung finden, wenn sie innerhalb der Wissenschaften als verlässlich eingeschätzt werden. Wenn diese Verlässlichkeitseinschätzung auf theoretische Gründe zurückgreift, sind Beobachtungen damit theoriebeladen (Abschn. 2a). Mehrere Arten von Beobachtungen können hinsichtlich ihrer Verlässlichkeitseinschätzung unterschieden werden. Bei direkten Wahrnehmungen geht man typischerweise prima facie davon aus, dass sie zuverlässig sind. Allerdings kann diese Annahme in besonderen Fällen unter anderem durch theoretische Gründe untergraben werden (Abschn. 3a). Für Wahrnehmungen mit Instrumenten ist in der Regel zuerst zu begründen, warum diese verlässlich sein sollen. Jedoch können hierfür oft nicht nur theoretische, sondern auch empirische Gründe angeführt werden (Abschn. 3b). Der Nachweis der Verlässlichkeit von Messgeräte-Daten ist im Vergleich dazu oft stärker auf ein theoretisches Verständnis des Messprozesses angewiesen (Abschn. 3c). Allerdings lassen sich auch hier oft empirische Gründe anführen, wenn man die weitere experimentelle Praxis betrachtet, in deren Rahmen die Messung stattfindet. Diese Praxis ist von besonderer Bedeutung auch für lange Beobachtungsprozesse, bei denen ein Resultat in seiner Verlässlichkeit eingeschätzt wird, das durch oft komplexe Auswahl, Analyse und Korrektur von Daten zustande kommt (Abschn. 2b). Für die Verlässlichkeit solcher ausgedehnten Prozesse der empirischen Datengewinnung können oft eine Vielzahl von Gründen angeführt werden, zu deren Gewinnung eine ganzen Palette verschiedener Strategien zur Verfügung steht. Allerdings hat sich – entgegen der Annahme im Neuen Experimentalismus – gezeigt, dass diese Gründe hinsichtlich ihrer theoretischen Voraussetzungen nicht in besonderer Weise beschränkt sind. Zwar finden sich vielfältige empirische Gründe, aber genauso oft auch hochgradig theoretische Überlegungen (Abschn. 3d). Die Rolle von Theorien in der Verlässlichkeitseinschätzung kann zwar zu Situationen starker Theoriebeladenheit führen (Abschn. 4a). Es zeigt sich aber, dass die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass allein aufgrund dieser Form der Theorieabhängigkeit pessimistische Unterbestimmtheits-Szenarien möglich werden. Denn jede Theorie, die letztlich optimal empirisch gestützt sein soll, muss mit einer überwiegenden Mehrzahl der prima facie oder empirisch als verlässlich eingeschätzten Ergebnisse vereinbar sein (Abschn. 4b).

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III. Die Objektivität von Beobachtungen Kapitel 6: Wissenschaft ohne Erfahrung? 1. Einleitung Nachdem in Teil II gezeigt wurde, welche Positionen zu Beobachtungen und Theoriebeladenheit einen Pessimismus stützen, soll es in diesem Teil darum gehen, die Voraussetzungen dieser Positionen zurückzuweisen und stattdessen für eine Auffassung von Beobachtungen und ihrer Theorieabhängigkeit zu argumentieren, die eine neue Begründung des Optimismus ermöglicht. Im Zentrum dieses Kapitels soll die These stehen, dass die Wissenschaften im Prinzip ohne Erfahrungen auskommen. Diese These ist relevant für die Frage, ob Beobachtungen trotz ihrer Theoriebeladenheit objektiv sind. Denn um diese Frage zu beantworten, muss man sich zunächst darüber klar werden, Beobachtungen welcher Art für die Wissenschaften epistemisch zentral sind. Die zu besprechende These sagt gerade etwas hierüber. Ihr zufolge fallen Beobachtungen, die in wesentlicher Weise Erfahrungen oder Wahrnehmungen einschließen, epistemisch nicht ins Gewicht. Demgegenüber sollen Daten, die schon als Sätze vorliegen, für die Wissenschaften zentral und auch empirisch ausreichend sein. Diese These wurde zuerst von Paul Feyerabend in einem Aufsatz mit dem Titel „Wissenschaft ohne Erfahrung“ vertreten. Sie wurde seither von einer ganzen Reihe von Autoren wieder aufgegriffen und neu begründet.1 Feyerabend hat ursprünglich eine sehr schwache Variante der These vertreten. Danach soll eine Wissenschaft ohne Erfahrung vorstellbar sein. Bogen und Woodward nehmen darauf Bezug, wenn sie schreiben: Paul Feyerabend argues für the “possibility” that one might test a hypothesis without undergoing “some relevant [sensory] experience” ... Feyerabend ... does not go far enough. What Feyerabend describes is not just a “[logical] possibility”, but is rather an accurate description of much present day science. (Bogen/ Woodward 1992, 599/600, Fn. 8)

Aber auch Feyerabend selbst hat nachgelegt und behauptet: 1

Siehe Feyerabend (1969) u. (1977), Fodor (1991), Bogen/ Woodward (1992), Brown (1995); Vgl. auch Shapere (1982), Churchland (1985), 43.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Die Ersetzung der Erfahrung durch das Experiment wurde von Bacon gefordert. Das Experiment untersucht die Natur, und die Sinne werden nur beim Ablesen des Endergebnisses verwendet. Bacons Programm ist heute in vielen Teilen der Physik erfüllt. (Feyerabend 1977, 77, Fn. 1)

Demnach sollen in weiten Teilen der gegenwärtigen Wissenschaft Erfahrungen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen.2 Die festgestellte Tendenz hierzu wird oft durch die epistemischen Vorteile von Satzdaten gegenüber Erfahrungen begründet. So schreibt Fodor: As the predictions that distinguish theories become increasingly precise, it becomes correspondingly inadvisable to let the burden of experimental confirmation rest on the observational capacities of the scientist. It makes sense to get experiences, sensory bombardments, and the like, out of the circuit if you can. (Fodor 1991, 209)3

Daher wird eine Wissenschaft für möglich gehalten, die insgesamt weitgehend auf Erfahrungen verzichtet: Imagine a really hi-tech, capital intensive sort of future science, in which you just plug the experimenter’s cortex into the computer that collects the experimental data. So now there aren’t any sensory bombardments, and nobody ever looks at anything ... But have we, therefore, stopped doing science? Have our experiments therefore ceased to provide rational constraints on our theories? Has, in fact, anything gone wrong at all? (Fodor 1991, 209)4

Die These ‚Wissenschaft ohne Erfahrung‘ ist für die Einschätzung der epistemischen Konsequenzen der Theoriebeladenheit relevant. Wenn die These zutrifft und Wahrnehmungen tatsächlich unbedeutend sind, ist auch die Weise, in der Wahrnehmungen theorieabhängig sein könnten, epistemologisch irrelevant. In diese Richtung hat Fodor argumentiert. Ihm zufolge stellt eine mögliche Theoriebeladenheit von Wahrnehmungen, wie sie etwa Hanson und Kuhn vertreten und ich sie in Kapitel 3 diskutiert habe, keine Gefahr für die Objektivität der Wissenschaften dar, da es andere Möglichkeiten gibt, die erforderlichen empirischen Befunde zu erhalten.5 Aber auch wenn man die These ‚Wissenschaft ohne Erfahrung‘ zugesteht, bleibt noch zu zeigen, dass die anderen Beobachtungen nicht auf solche Weise theoriebeladen sind, dass durch sie dennoch ein Pessimismus gestützt wird. Mit dieser These wäre bestenfalls eine partielle Verteidigung des Optimismus zu bewerkstelligen.

2 3 4 5

Siehe auch Brown (1995), 392. Siehe auch Shapere (1982), 508. Siehe Brown (1995), 390. Siehe Fodor (1991), 219.

6. Wissenschaft ohne Erfahrung?

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Im Folgenden will ich zunächst die These ‚Wissenschaft ohne Erfahrung’ präzisieren und einige Teilthesen unterscheiden. Dann werde ich beurteilen, inwieweit die These zutrifft und welche Behauptungen man zurückweisen muss. 2. Die These ‚Wissenschaft ohne Erfahrung’ a) Perzeptuelles Beobachten und die Kenntnisnahme von satzartigen Daten Die Autoren, die für die These ‚Wissenschaft ohne Erfahrung‘ argumentieren, glauben keineswegs, dass die Wissenschaften auf empirische Daten verzichten könnten. Vielmehr halten sie eine besondere Klasse dieser Daten für überflüssig, und zwar solche, für die Sinneserfahrung eine zentrale Rolle spielt. Zentral für die Klärung der These ist daher zunächst eine Unterscheidung zwischen Erfahrungen und anderen empirischen Daten und Beobachtungen. Dabei sind zunächst einige terminologische Klärungen vorzunehmen. Einige der Autoren formulieren die These ‚Wissenschaft ohne Erfahrung‘ als die Behauptung, dass Beobachtungen in den Wissenschaften verzichtbar seien.6 Allerdings setzen sie dabei einen engen Begriff von Beobachtungen voraus. Demnach schließen Beobachtungen in besonderer Weise Wahrnehmungen oder Sinneserfahrungen ein. Empirische Prozesse wie Messungen, die zu Sätzen als relevanten Ergebnissen führen, zählen hier nicht als Beobachtungen. Andere Autoren vertreten dagegen einen weiten Begriff von Beobachtungen. Danach zählen auch Messungen und lange Beobachtungsprozesse, die mit Hilfe von komplexen Instrumenten und von Datenbearbeitung zu empirischen Ergebnissen führen, zu den Beobachtungen. In solchen Beobachtungsprozessen brauchen Wahrnehmungen oder Erfahrungen nicht vorzukommen. Aber auch hier gibt es Vertreter der These ‚Wissenschaft ohne Erfahrung‘. Diese Autoren formulieren die These, indem sie sagen, dass Beobachtungen, bei denen Sinneserfahrungen zentral sind, zunehmend verzichtbar werden.7 Hinter den verschiedenen Formulierungen stehen damit zwar verschiedene Begriffe von Beobachtungen, aber im Kern dieselbe These ‚Wissenschaft ohne Erfahrung‘. Wie schon in Kapitel 1 gesagt, will ich Beobachtungen weit auffassen.8 Demnach sind alle Prozesse der Gewinnung empirischer Daten Beobachtungen, insbesondere auch Messungen und lange Beobachtungsprozesse. Eine besondere Rolle für Wahrnehmungen ist nicht erforderlich. Zudem bezeichne ich die Unterklasse der Beobachtungen, bei denen Wahrnehmungen eine 6 7 8

Siehe Fodor (1991); Brown (1995). Siehe Shapere (1982), 508. Siehe Kap. 1, Abschn. 2.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

besondere – gleich zu identifizierende – Rolle spielen, als ‚perzeptuelle Beobachtungen‘.9 In dieser Terminologie geht es daher bei der These ‚Wissenschaft ohne Erfahrung‘ um die Frage, ob die Wissenschaften weitgehend ohne perzeptuelle Beobachtungen auskommen. Nun ist zu fragen, wie perzeptuelle Beobachtungen von anderen Beobachtungen abgegrenzt werden sollen. Fodor illustriert den Gegensatz durch zwei prototypische Beispiele. In meiner Terminologie ausgedrückt, macht man demnach eine typische perzeptuelle Beobachtung, wenn man sieht, wie sich ein Lackmusstreifen nach dem Eintauchen in eine Flüssigkeit rot verfärbt. Als ähnlich typische Fälle perzeptueller Beobachtungen kann man hier auch das Erkennen von HCl-Gas am Faule-Eier-Geruch oder das Feststellen morphologischer Merkmale wie der Blattrandform von Pflanzen anführen. Als typisches empirisches Ergebnis, für das Wahrnehmungen unbedeutend sind, nennt Fodor dagegen das Resultat eines psychologischen Experiments. In diesem Experiment sitzen Versuchpersonen vor einem Bildschirm und müssen eine Aufgabe lösen: Sie müssen Wörter aussprechen, sobald sie auf dem Bildschirm erscheinen. Gleichzeitig werden ihnen über Kopfhörer Sätze ihrer Mutterssprache vorgespielt. Die Idee ist, dass man durch die Reaktionszeiten zwischen Erscheinen der Wörter auf dem Bildschirm und deren Aussprechen Auskunft über die Einfachheit erhält, mit der die gleichzeitig vorgespielten Sätze zu verstehen sind. So kann man prüfen, ob etwa aktive Sätze leichter zu verstehen sind als passive, indem man misst, ob die Reaktionszeiten unterschiedlich sind. Das Experiment läuft hierbei weitgehend computergesteuert ab. Ein Computer ist so programmiert, dass vorgespielte Sätze und erscheinende Wörter koordiniert werden. Die Zeiten werden automatisch gestoppt und vom Computer gesammelt. Ein Statistikprogramm besorgt die Datenanalyse. Man erhält schließlich ein analysiertes Ergebnis in Satzform, beispielsweise dass die Reaktionszeit für passive Sätze im Schnitt 15 Millisekunden länger ist und das Ergebnis statistisch signifikant ist, etwa dass die Irrtumswahrscheinlichkeit p < 0,05 beträgt. In diesem Fall führt das computergesteuerte Experiment zu empirischen Daten in Satzform, ohne dass – zumindest Fodors Beschreibung zufolge – Wahrnehmungen irgendeines Experimentators notwendig wären. Das Ergebnis muss dann zwar noch zur Kenntnis genommen werden: Es muss jemand die Sätze lesen, die der Computer anzeigt. Hierbei macht man Wahrnehmungen. Aber es scheint klar, dass es einen wichtigen epistemischen Unterschied gibt zwischen den Wahrnehmungen, die in Fällen wie dem Lackmustest

9

Vgl. Kap. 4, Abschn. 3b(i).

6. Wissenschaft ohne Erfahrung?

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vorkommen, und den Wahrnehmungen beim Lesen von satzartigen Daten wie im psychologischen Experiment. Der zentrale Unterschied zwischen den beiden Fällen liegt in der Weise, in der perzeptuelle Fähigkeiten des Klassifizierens und Urteilens zur Hervorbringung gehaltvoller sinnlicher Zustände beitragen. Zwar setzen sowohl das Lesen eines Satzes als auch die Wahrnehmung der Rotverfärbung perzeptuelle Klassifikationsfähigkeiten voraus. Aber sowohl die Rolle, die Klassifikationsfähigkeiten spielen, als auch die Art der eingesetzten Fähigkeiten sind in den beiden Fällen typischerweise verschieden. Erstens ist beim perzeptuellen Beobachten die Klassifikationsfähigkeit – etwa die Fähigkeit, eine blau-zu-rot-Verfärbung zu erkennen – notwendig, um im Verlauf des Beobachtungsprozesses die erste begrifflich gehaltvolle Repräsentation zu erzeugen. Die satzartigen Daten haben dagegen schon propositionalen Inhalt, die Gegenstände der Forschung sind daher schon vor dem Ablesen begrifflich bestimmt. Während perzeptuelle Fähigkeiten bei perzeptuellen Beobachtungen daher zentral dafür sind, dass die Untersuchungsobjekte durch die Beobachtung begrifflich repräsentiert werden, kommt ihnen beim Lesen von satzartigen Daten nur eine – wie Brown es bezeichnet – „pragmatische“ Rolle zu: [The] only reason that our senses need enter into this process [of gaining empirical evidence] is that they provide the sole conduit by which information from the empirical procedure can be transferred into our brains. If some future technology produces a way of transferring information from the external world to our brains without having to pass through the senses, then we may have empirical science without sensation, as Feyerabend once suggested. (Brown 1995, 390)

Wenn empirische Informationen schon in begrifflicher Form vorliegen, können sie uns im Prinzip unter Umgehung der Wahrnehmungsfähigkeiten sozusagen eingeflöst werden. In allen anderen Fällen sind aber Fähigkeiten perzeptueller Klassifikation unverzichtbar, um empirische Informationen wissenschaftlich verwendbar zu machen. Zweitens sind die perzeptuellen Erkennensfähigkeiten, die beim Lesen eines Satzdatums zum Einsatz kommen, überwiegend gar nicht charakteristisch für die empirische Datengewinnung. Genau dieselben Fähigkeiten kommen zum Einsatz, wenn man eine theoretische Vorhersage oder einen Science-Fiction-Roman liest. Demgegenüber sind die Fähigkeiten des Klassifizierens und Urteilens in perzeptuellen Beobachtungen typischerweise auf bestimmte Eigenschaften, Arten oder Objekte spezialisiert. Man muss wissen, wie HCl-Gas riecht oder wie ein einziges Keimblatt aussieht, um es zu erkennen. Daher werden diese Fähigkeiten üblicherweise vorwiegend für die

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Theoriebeladenheit und Objektivität

empirische Datengewinnung eingesetzt, und hierbei wiederum bestimmte Fähigkeiten oft nur für spezifische Objekte oder Kontexte. Dies hat Folgen für die erkenntnistheoretische Einschätzung solcher Informationsgewinnung. Bei perzeptuellen Beobachtungen ist zu fragen, wovon die spezifischen perzeptuellen Fähigkeiten abhängen, wie sie erworben werden können und unter welchen Umständen sie zuverlässig sind. Für das verlässliche Ablesen von Satzdaten muss man dagegen – etwas vereinfacht gesagt – nur lesen können. Wissenschaftlich verwendbar sind die Daten natürlich nur für den, der sie auch versteht. Aber auch hierfür sind eher Kenntnisse theoretischer Art als besondere, auf spezifische Beobachtungssituationen zugeschnittene Fähigkeiten nötig. Die Unterscheidung von perzeptuellen Beobachtungen auf der einen Seite und satzartigen Daten und ihrer Kenntnisnahme auf der anderen Seite macht daher aus erkenntnistheoretischer Sicht Sinn: Nur für perzeptuelle Beobachtungen sind üblicherweise spezifische perzeptuelle Fähigkeiten wesentlich; bei der Kenntnisnahme von Satzdaten spielen dagegen in der Regel nur allgemeine Lesefähigkeiten eine bloß pragmatische Rolle.10 10

Fodor hebt einen anderen Unterschied zwischen den Fällen hervor. Ihm zufolge ist nur in Fällen wie dem Lackmus-Test die Art der Erfahrung, die man machen wird, wissenschaftlich prognostizierbar, nicht aber in Fällen von Satzdaten. Fodor scheint dabei Erfahrungsarten durch intrinsische Eigenschaften (insbesondere phänomenale Eigenschaften) zu individuieren, und geht davon aus, dass ein Empirist behauptet, dass Theorien anhand ihrer Vorhersagen über solche intrinsischen Eigenschaften von Erfahrungen geprüft werden: „There is, as one says, ‘something it’s like’ to see litmus paper turn pink, and what confirms the theory is the experimenter’s having an experience that is like that. But there’s nothing it’s like to ‘observe’ a p-value; to a first approximation, ‘observing that p is less than .05’ is just having some or other experience that causes one to believe that p is less that .05.“ (Fodor 1991, 206; Fodors Hervorhebungen.) Zwar ist Fodors Punkt durchaus plausibel, dass man nur im Lackmus-Fall eine Erfahrung mit charakteristischer phänomenaler Qualität macht. Allerdings scheint dies nicht wirklich von Bedeutung zu sein. Denn ein Empirist ist nicht darauf festgelegt zu behaupten, dass Theorien anhand von Vorhersagen über intrinsisch spezifizierte Erfahrungen geprüft werden. Viel sinnvoller scheint es, dass sie anhand der Inhalte von Erfahrungen oder durch die erfahrbaren Sachverhalte geprüft werden. Hierin gibt es aber keinen klaren Unterschied zwischen den Fällen. Denn im einen Fall sieht man eine Lackmusverfärbung, die eine Säure anzeigt. Eine chemische Theorie über Säuren kann zusammen mit Annahmen über Lackmus solche Verfärbungen implizieren. Ganz analog sieht man im anderen Fall das Ergebnis des Experiments auf dem Computerschirm. Hier kann eine psychologische Theorie zusammen mit Annahmen über die Funktion des experimentellen Aufbaus solche Ergebnisanzeigen vorhersagen. Fodor argumentiert letztlich auch dagegen, dass sich der Lackmus-Fall so auffassen lässt, wie es sein Empirist vorsieht; dagegen schlägt er eine eigene erkenntnistheoreti-

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Wie stehen andere Arten von Beobachtungen als die prototypischen zu dieser Unterscheidung von satzartigen Daten und perzeptuellen Beobachtungen? Fodors psychologisches Experiment ist ein Beispiel für einen langen Beobachtungsprozess. Auch bei vielen anderen langen Beobachtungsprozessen werden Daten oft über mehrere Messreihen gesammelt, statistisch analysiert und schließlich das Ergebnis in Satzform präsentiert. Insoweit handelt es sich auch hier um Satzdaten. Auch einfache Messungen mit Geräten wie einem Amperemeter oder Thermometer führen oft zu satzartigen Daten. Hier sind die Sätze zwar oft etwas ungewöhnlich hingeschrieben.11 In manchen Fällen, etwa wenn ein Geigerzähler die gemessene Radioaktivität in hörbaren Klicks ausgibt, werden die Daten zudem in sinnlich besonders leicht erfassbarer Form präsentiert. Aber von solchen Grenzfällen abgesehen sind Messgeräte-Daten in der Regel klar begrifflich gehaltvoll und haben eine syntaktische Struktur, so dass sie zu den Satzdaten zu zählen sind. Wenn man etwas mit Hilfe eines Instruments wahrnimmt, etwa durch ein Teleskop oder Mikroskop sieht oder mit einem Stethoskop hört, spielen offensichtlich auch perzeptuelle Fähigkeiten eine entscheidende Rolle. Wenn man unter dem Mikroskop ein Pantoffeltierchen erkennt, führen perzeptuelle Fähigkeiten der Klassifikation zu ersten begrifflichen Repräsentation der Tierchen im Beobachtungsprozess. Zudem sind auch hier die zum Einsatz kommenden Fähigkeit spezifisch. Man muss extra lernen, wie Pantoffeltierchen aussehen. Solche Wahrnehmungen mit Hilfe von Instrumenten sind daher auch als perzeptuelle Beobachtungen aufzufassen. Bei Beobachtungen mit bildgebenden Verfahren, etwa mit der Computeroder der Magnetresonanz-Tomographie, wird zwar durch Instrumente und häufig durch computergestützte Datenverarbeitung eine Repräsentation der Forschungsgegenstände erzeugt, nämlich ein Bild. Dieses Bild wird dann betrachtet. Insofern haben diese Prozessse oft eine äußere Ähnlichkeit zu langen Beobachtungsprozessen. Doch die Bilder repräsentieren ihre Gegenstände dabei nicht überwiegend begrifflich, sondern piktorial. Auf einem klassischen Röntgenbild ist genauso wie auf einem Computertomogramm ein Knochenbruch nicht begrifflich repräsentiert, sondern abgebildet.12 Es muss erst jemand die Bilder betrachten und auf ihnen etwas erkennen, damit es im Beobachtungsprozess zu einer begrifflichen Bestimmung der Gegenstände

11 12

sche Beschreibung von Experimenten als kognitivem Selbstmanagement vor. Die Annahmen hierzu werden mich hier aber nicht beschäftigen. Vgl. Kap. 4, Abschn. 2. Siehe Kap. 7, Abschn. 6a für eine ausführliche Diskussion der Frage, inwieweit die Inhalte von Bildern bildgebender Verfahren begrifflich oder piktorial sind.

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kommt. Die hierbei zum Einsatz kommenden perzeptuellen Fähigkeiten sind zudem oft wieder typisch für bestimmte Beobachtungsprozesse. Es braucht einige Übung, um etwa einen Knöchelbruch auf einem Bild als solchen zu erkennen. Auch das Beobachten von Sachverhalten und Gegenständen mit Hilfe von bildgebenden Verfahren muss daher üblicherweise als perzeptuelles Beobachten aufgefasst werden.13 b) Teilthesen Nach der Klärung dessen, was in der These ‚Wissenschaft ohne Erfahrung‘ sinnvollerweise als Erfahrung angesprochen wird, kann man nun verschiedene Varianten der These unterscheiden. Ich möchte die folgenden drei Teilthesen unterscheiden: 1. Die empirische Grundlage der Wissenschaften erschöpft sich letztlich nicht in perzeptuellen Beobachtungen, sondern umfasst auch Satzdaten. 2. Perzeptuelle Beobachtungen spielen zunehmend eine geringere epistemische Rolle und sind in Teilbereichen bereits weitgehend überflüssig. 3. Eine Wissenschaft völlig ohne perzeptuelle Beobachtungen ist epistemologisch möglich und hat dabei ungeschmälerte Erfolgsaussichten.

Die erste Teilthese ist eigentlich noch keine These ‚Wissenschaft ohne Erfahrung‘, sondern eine These ‚Wissenschaft nicht nur mit Erfahrung‘. Als solche richtet sie sich gegen eine empiristische Position, die davon ausgeht, dass sich die empirische Grundlage der Wissenschaften letztlich völlig in perzeptuellen Beobachtungen erschöpft.14 Die zweite Teilthese bezieht sich auf die epistemische Verfasstheit der gegenwärtigen Wissenschaft und auf die sich abzeichnenden Entwicklungen. Hier wird behauptet, dass in vielen wissenschaftlichen Disziplinen perzeptuelle Beobachtungen nur eine vernachlässigbare epistemische Rolle spielen und die anderen Disziplinen sich auch in diese Richtung entwickeln.15 Die dritte Teilthese bezieht sich darauf, welche Form der Wissenschaft erkenntnistheoretisch möglich wäre. Der These zufolge könnten wir Wissenschaft insgesamt auch so betreiben, dass dabei perzeptuelle Beobachtungen keine wesentliche Rolle spielen würden. Trotzdem sollen die Erfolgsaussichten der Wissenschaften dadurch nicht wesentlich geschmälert werden. Wenn 13

14 15

Häufig liegen empirische Daten auch in Formen vor, die sich am besten als Mischung zwischen bildartiger und satzartiger bzw. begrifflicher Repräsentation auffassen lassen, etwa bei Diagrammen, Karten oder Graphen. Siehe Fodor (1991), Shapere (1982), Brown (1995), 390. Vgl. die Zitate in der Einleitung des Kapitels.

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dies zutrifft, leisten perzeptuelle Beobachtungen keinen spezifischen Beitrag zum wissenschaftlichen Erfolg, der nicht genauso gut von anderen Beobachtungen geleistet werden könnte. Eine erkenntnistheoretische Beschreibung der Wissenschaften braucht dann nicht eigens auf perzeptuelle Beobachtungen einzugehen. Vielmehr kann in der Wissenschaftstheorie auf die Kategorie perzeptueller Beobachtungen verzichtet werden – wie Fodor und Brown dies empfehlen.16 3. Beurteilung der These Wie sind diese Teilthesen von ‚Wissenschaft ohne Erfahrung‘ zu beurteilen? Die erste Teilthese ist die schwächste. Gleichzeitig ist sie außerordentlich plausibel. Sie richtet sich jedoch schon gegen eine empiristische Position, wonach die Evidenzgrundlage der Wissenschaften letztlich durch Erfahrung erschöpft wird.17 Dieser Position wird entgegengehalten, dass die Wissenschaften viele empirische Informationen über Eigenschaften, Größen und Objekte nur durch Messungen und lange Beobachtungsprozesse erlangen. Diese empirischen Ergebnisse liegen in der Regel als satzartige Daten vor, die demnach einen wichtigen Teil der empirischen Grundlage der Wissenschaften darstellen. Ein Empirist könnte zum einen einwenden, dass auch die Kenntnisnahme der Satzdaten Sinneserfahrung erfordert und dass sich der empirische Beitrag der Satzdaten auf diese Erfahrung beschränkt. Dem ist zu entgegnen, dass damit erkenntnistheoretisch sehr verschiedene Vorgänge unter den Begriff der Erfahrung gefasst werden. Wie schon oben deutlich wurde, sind Art und Rolle perzeptueller epistemischer Fähigkeiten bei Satzdaten und bei perzeptuellen Beobachtungen sehr verschieden. Soweit die Wahrnehmung betroffen ist, gibt es zudem oft keine relevanten Unterschiede zwischen dem Ablesen eines Satzdatums von einem Messgerät und dem Lesen der Daten in einem Forschungsbericht. Das letztere kann aber offensichtlich nicht als Erfahrung gelten. Dies legt nahe, dass der empiristische Einwand ad hoc ist. Die vorgeschlagene Grenzziehung läuft quer zu wichtigen erkenntnistheoretischen Unterschieden und Gemeinsamkeiten und dient nur dem Zweck, den Empirismus vor einer offensichtlichen Schwierigkeit zu bewahren. Zum anderen könnte ein Empirist einwenden, dass auch Satzdaten selbst oft perzeptuelle Beobachtungen voraussetzen, die etwa für den Bau der Messgeräte oder die Prüfung von Theorien, auf denen diese Geräte beruhen, notwendig sind. Auf diesen Punkt werde ich gleich ausführlicher zu sprechen 16 17

Siehe Brown (1995), 392. Vgl. Fodor (1991), 203. Vgl. Fodor (1991), 201/202.

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kommen. Aber auch wenn man ihn zugibt, ist klar, dass solche vorausgesetzten perzeptuellen Beobachtungen die Information, die man mit dem Gerät erhält, nicht ausschöpfen. Die Satzdaten leisten empirische Beiträge, die über die Beiträge solcher vorausgesetzter perzeptueller Beobachtungen hinausgehen. Sinn der Messung ist es gerade, etwas in Erfahrung zu bringen, das man nicht schon aufgrund vorausgehender perzeptueller Beobachtungen weiß. Indem die Wissenschaften sich in großem Umfang auf solche Daten verlassen, beruhen sie letztlich auch auf Satzdaten. Die zweite Teilthese sieht vor, dass viele wissenschaftliche Teilbereiche schon heute weitgehend unabhängig von perzeptuellen Beobachtungen sind und dass die Tendenz in den anderen Disziplinen in dieselbe Richtung geht. Hierbei bemisst sich die Bedeutsamkeit perzeptueller Beobachtungen an ihrer epistemischen Rolle. Der Teilthese zufolge soll also die Begründung wissenschaftlichen Wissens und der epistemische Erfolg der Wissenschaften zunehmend von perzeptuellen Beobachtungen unabhängig sein. Hier sind zunächst zwei Punkte zu beachten. Erstens sind perzeptuelle Beobachtungen nicht schon dadurch insgesamt überflüssig, dass die empirischen Endergebnisse in der Regel in Satzfom vorliegen. Denn wenn solche Resultate in aufwändigen Experimenten gewonnen werden, sind oft viele Vorstufen und Nebenuntersuchungen notwendig, bevor man die endgültigen Daten erhält. Es ist gut möglich, dass perzeptuelle Beobachtungen für die Gewinnung der Rohdaten oder die Auswahl relevanter Rohdaten gemacht werden müssen, bevor man das Endergebnis erhält. Oder sie kommen in anderen Vorstufen vor, etwa bei Vorstudien und beim Aufbau des Experiments, bei der Kalibrierung und den Probeläufen, bei der Fehlerkontrolle oder bei Zusatzuntersuchungen, in denen die Verlässlichkeit einzelner Schritte empirisch überprüft wird. Es ist daher auch zu beachten, ob perzeptuelle Beobachtungen in diesen Phasen der Gewinnung der experimentellen Daten häufig vorkommen. Zweitens ist zu fragen, inwieweit sich die gegenwärtige Wissenschaft auf frühere perzeptuelle Beobachtungen stützt. So könnte es sein, dass man über Messgeräte nur verfügt oder sie nur einzusetzen berechtigt ist, weil man schon perzeptuelle Beobachtungen gemacht hat. Dann bleiben perzeptuelle Beobachtungen bedeutsam, auch wenn man sie gegenwärtig nicht mehr zu machen braucht. Man könnte hier einwenden, dass eine Wissenschaft sich von früher gemachten perzeptuellen Beobachtungen emanzipieren kann, indem die empirischen Beiträge, die diese Beobachtungen geleistet haben, von neuen Satzdaten nachgeholt werden.

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Allerdings ist hier genau zu betrachten, inwiefern spätere Satzdaten wirklich die Beiträge früherer perzeptueller Beobachtungen übernehmen können. Wenn die früheren Beobachtungen die Gewinnung der Satzdaten erst ermöglicht haben und so einen erst in die Lage versetzen, perzeptuelle Beobachtungen durch Satzdaten zu ersetzen, dann tragen sie auch heute noch epistemisches Gewicht. Denn der Erfolg der heutigen Wissenschaft bei der Ersetzung perzeptueller Beobachtungen durch Satzdaten hängt dann immer noch mit davon ab, wie die früheren perzeptuellen Beobachtungen beschaffen sind. Schließlich gilt, dass wir nur eine epistemisch erfolgreiche Wissenschaft haben können, wenn es eine Entwicklung hin zu einer solchen Wissenschaft gibt. Frühere perzeptuelle Beobachtungen werden nur dann vollständig überflüssig, wenn nicht nur ihr Informationsinput durch Satzdaten ersetzt wird, sondern die ersetzenden Beobachtungen auch die Entwicklung der Wissenschaft mindestens so, wie sie besteht, selbst ermöglicht hätten. Es reicht nicht, dass wir die Leiter perzeptueller Beobachtungen wegwerfen können, nachdem wir auf ihr hinaufgestiegen sind. Es hätte uns auch möglich sein müssen, ohne die perzeptuellen Beobachtungen hinaufzukommen. Wie steht es dann um perzeptuelle Beobachtungen in der gegenwärtigen Wissenschaft? Zunächst ist auch bei einem nur oberflächlichen Überblick auffällig, dass in vielen Disziplinen und Bereichen perzeptuelle Beobachtungen insbesondere mit Hilfe von Wahrnehmungsinstrumenten und bildgebenden Verfahren eine ganz zentrale Stelle einnehmen. Viele Bereiche der Biologie, der Medizin, der Neurowissenschaften, aber auch große Teile der Chemie, der Geowissenschaften, der Materialwissenschaften oder der Nanowissenschaften sind ohne den massiven Einsatz von Verfahren der empirischen Gewinnung von Bildern der Untersuchungsgegenstände schlechterdings nicht vorstellbar. Hierbei scheint es sich keineswegs um ein zufälliges oder vorübergehendes Phänomen zu handeln. Vielmehr haben viele dieser Bereiche durch die Beobachtungsverfahren einen enormen Aufschwung erlebt, und die Entwicklung neuer bildgebender Verfahren wird hierdurch weiter vorangetrieben. Natürlich sind Mikroskope oder Röntgengeräte schon lange sehr wichtig. Aber zusätzliche Formen der kausalen Interaktion mit den Forschungsobjekten und insbesondere die elektronische Datenverarbeitung ermöglichen eine nie dagewesene Vielfalt von Verfahren der empirisch gesteuerten Generierung von Bildern.18 Die Tendenz deutet hier nicht auf eine Ersetzung solcher bildgebender Verfahren durch Messgeräte, die Satzdaten produzieren, hin. Vielmehr scheinen die Verfahren integraler und 18

Für eine ausführliche Diskussion verschiedener bildgebender Verfahren siehe Kap. 7, Abschn. 6.

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notwendiger, gar prosperierender Baustein der wissenschaftlichen Praxis zu sein. Dann werden aber perzeptuelle Beobachtungen zumindest in den angesprochenen Bereichen nicht überflüssig oder insgesamt ersetzt. Aber auch in anderen Bereichen als den angesprochenen spielen perzeptuelle Beobachtungen häufig eine wichtigere Rolle, als dies in der zweiten Teilthese angenommen wird. In vielen Bereichen auch der Physik, etwa der Astrophysik oder der Hochenergiephysik und damit gerade in den Disziplinen, die auch grundlegende Strukturen und allgemeinste Gesetze der Materie und des Universums erforschen, kommen ebenfalls häufig perzeptuelle Beobachtungen vor. Indem man einige der Beispiele, die in Abschnitt 3d des Kapitels 5 besprochen wurden, nochmal betrachtet, kann dem nachgegangen werden. Bei den CERN-Experimenten zu neutralen Strömen wurden in großen Mengen Blasenkammerfotos als Rohdaten erzeugt. Die relevante Auswahl aus diesen Fotos und die Analyse der abgebildeten Ereignisse wurde dann aber auch anhand ausführlicher visueller Begutachtung von Einzelfällen vorgenommen. Dies wird von Galison geschildert: Musset issued a plea for help with the extraordinary amount of work required to study each neutral-current candidate in detail, asking for discussion at the CERN collaboration meeting two days later. Scanning groups from Milan to London worked to sort, classify, and measure the event types. Technicians prepared huge enlargements of the appropriate photographs so that the group as a whole could judge their validity. Around each photograph physicists congregated, arguing over its proper analysis. Records from these meetings contain long lists of such judgments ...: “OUT possible [muon]” – this picture was no longer a candidate because one of the “hadron” tracks might actually be a stopping muon. “OK one track badly measureable” – if the event could not be properly measured, then conclusions drawn would be unreliable ... “OUT possible mu-kink” – a “muon” track with a kink might in fact be a pion. Track by track these arguments proceeded. Measurements, computer analysis, and long experience were needed to pass judgment here: sometimes a kink could be seen in a track by holding the photograph up to one’s face and staring, at a glancing angle, down the track. (Galison 1987, 187)19

Einzelne Ereignisse werden demnach auf großen Fotos visuell begutachtet. Wichtig hierfür ist eine lange Erfahrung im Umgang mit solchen Fotos, was auf den Erwerb perzeptueller Fähigkeiten hinweist. Zudem werden Messun19

Vgl. ein ähnliches Vorgehen zu einem früheren Zeitpunkt: „[D]uring the fall of 1972, each of the subgroups conducted their respective data analyses, long, often frustrating tasks in which hundreds of events had to be compared, definitions modified, and criteria adjusted.” (Galison 1987, 179).

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gen angestellt und Computeranalysen hinzugezogen. So muss man, wie sich aus der Schilderung erschließt, Myonen- und Hadronen-Spuren erkennen oder einen Knick in der Bahn aufspüren. Offensichtlich sind hier vielfältige Wahrnehmungsfähigkeiten erforderlich. Man könnte denken, dass man anstrebt, die Last solchen perzeptuellen Erkennens zunehmend auf automatisierte Verfahren zu verlagern, gerade wenn man es mit einer sehr großen Menge von bildartigen Rohdaten zu tun hat. Die Bildanalyse lässt sich natürlich besonders dort gut automatisieren, wo man recht genau weiß, wonach man sucht. Der Fall der Entdeckung des 17. Jupitermonds ist gerade Ergebnis einer solchen automatisierten Bildanalyse.20 Die Entdeckung wurde in der Folge des systematischen Scannens von Teilen des Nachthimmels gemacht, womit man vor allem nach Asteroiden und Kometen suchte. Man kann hier einen Computer einsetzen, um die Bewegungen von Objekten in einer Nacht relativ zum Fixsternhimmel zu registrieren. Hierdurch werden in der Tat menschliche Fähigkeiten des perzeptuellen Erkennens durch Computeranalyse ersetzt. Allerdings ist in diesem Beispiel auffällig, dass eine Bildserie des Jupitermonds vom Programm nicht entdeckt wurde, weil der Mond auf einem der Fotos mit einem Stern zusammenfiel. Dies wurde erst durch eine direkte Durchsicht der Fotos entdeckt. Die Computeranalyse wies insofern Mängel auf. Das zeigt zum einen, dass – im beschränkterem Umfang – perzeptuelle Fähigkeiten weiterhin gebraucht werden. Wichtiger ist aber, dass es zum anderen zeigt, dass die menschlichen Erkennensfähigkeiten weiterhin als Maßstab und zur Kontrolle der Korrektheit der Computeranalyse dienen. Die Computeranalyse wird danach beurteilt, ob sie die menschlichen perzeptuellen Beobachtungen reproduzieren kann, und Abweichungen oder Auslassungen der besprochenen Art werden als Fehler betrachtet. Daher bleibt auch hier eine zentrale epistemische Rolle für perzeptuelle Beobachtungen erhalten.21 Dieser kurze Überblick vermittelt den Eindruck, dass perzeptuelle Beobachtungen ein fortdauernder Bestandteil empirischer Forschung sind. Vielleicht gibt es einige Bereiche der Forschung, die weitgehend darauf verzichten. Fodor zufolge gehören Teile der psychologischen Forschung dazu. 20 21

Siehe Kap. 5, Abschn. 3d. Einen interessanten Fall für perzeptuelle Beobachtungen schildert auch Schickore (1999). In dem Beispiel begutachten Astrophysiker die Graphen von Quasarspektren – also gemischt begriffliche und piktorielle Repräsentationen – visuell. Dabei stellen sie beispielsweise fest, ob sich zwei Spektren in solchem Maße ähnlich sind, dass man davon ausgehen kann, dass man es mit zwei Bildern desselben Quasars zu tun hat, der durch eine Graviationslinse verdoppelt erscheint. Schickore zieht daraus ähnliche Schlüsse für die Relevanz perzeptueller Beobachtungen wie ich.

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Allerdings ist die empirische Basis der Psychologie nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Mein Interesse gilt vor allem den (anderen) Naturwissenschaften. Dort scheinen perzeptuelle Beobachtungen in den meisten Bereichen allgegenwärtig zu sein. Insbesondere sind der Vielfalt von Beobachtungen mit bildgebenden Verfahren keine Grenzen gesetzt, und die Wissenschaftler erkunden diese Möglichkeiten mit großen Interesse. Warum? Was macht den besonderen epistemischen Wert solcher perzeptueller Beobachtungen aus? Warum folgen die Wissenschaftler nicht Fodors Rat und machen einen großen Bogen um sie? Dies führt zur dritten Teilthese. Wäre eine Wissenschaft, die weitgehend auf perzeptuelle Beobachtungen verzichtet, weiterhin funktionsfähig, oder werden die Erfolgsaussichten geschmälert? Ist eine Wissenschaft ohne Erfahrung erkenntnistheoretisch möglich? Sie ist möglich, wenn perzeptuelle Beobachtungen keinen ausgezeichneten Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung leisten, der nicht ebensogut von anderen Beobachtungen übernommen werden kann. In diesem Fall wären perzeptuelle Beobachtungen kein zentraler Bestandteil der empirischen Wissenschaft als epistemischem Projekt, und eine erkenntnistheoretische Beschreibung der Wissenschaften könnte auf diese Kategorie verzichten. Man kann die Untersuchung dieser These angehen, indem man sich fragt, ob durch perzeptuelle Beobachtungen spezifische Beiträge geleistet werden, die von Satzdaten nicht erbracht werden. Dann ist zu fragen, ob diese Beiträge für die Wissenschaften epistemisch wichtig sind. Wenn sie es sind, ist eine Wissenschaft ohne Erfahrung wahrscheinlich nicht ohne Schmälerung der Erfolgsaussichten möglich. Auf die Nachteile perzeptueller Beobachtungen gegenüber Satzdaten wird von Vertretern der These ‚Wissenschaft ohne Erfahrung‘ gerne immer wieder hingewiesen.22 Perzeptuelle Beobachtungen sind in der Regel eher ungenau, sie gelten als unzuverlässig, und ihre intersubjektive Zugänglichkeit ist eingeschränkt. Demgegenüber brillieren Satzdaten durch Präzision, intersubjektive Verfügbarkeit und zuverlässige Produktion. An dieser Gegenüberstellung ist sicherlich einiges richtig. Während Satzdaten oft quantifiziert sind und eher geringe Fehlermargen aufweisen, sind die Inhalte perzeptueller Urteile oft nur qualitativ oder enthalten allenfalls ungefähre Größeneinschätzungen. Zudem können perzeptuelle Beobachtungen einer Art – etwa eines Knöchelbruchs auf einem Röntgenbild – nur von denen gemacht werden, die spezifische perzeptuelle Erkennensfähigkeiten besitzen. Diese Fähigkeiten sind in der Regel Art-spezifisch und müssen extra erworben werden. Wer dies nicht 22

Siehe Feyerabend (1969), 76; Shapere (1982), 508; Fodor (1991), 209.

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gelernt hat, hat nur eingeschränkten Zugang zu den Beobachtungen, die insofern nicht ohne Weiteres intersubjektiv zur Verfügung stehen. Dagegen sind Satzdaten schon allen denjenigen zugänglich, die nur lesen können und die Ausdrücke der Wissenschaftssprache, die in den Satzdaten vorkommen, verstehen. Schließlich sind Wahrnehmungen unzuverlässig insofern, als uns bei mangelnder Aufmerksamkeit leicht etwas entgeht oder wir uns ablenken lassen. Solchen subjektiven Schwankungen sind Geräte nicht unterworfen. Aber auch wenn man diese Nachteile von perzeptuellen Beobachtungen akzeptiert, muss man davon ausgehen, dass sie spezifische Beiträge zur wissenschaftlichen Forschung leisten, die sie unersetzbar machen. Die Besonderheiten, die sie hierfür gegenüber Satzdaten empfehlen, lassen sich am besten an perzeptuellen Beobachtungen anhand von bildlichen Repräsentationen aufzeigen. Sie gelten jedoch in ähnlicher Weise auch für direkte Wahrnehmungen und für Wahrnehmungen mit Hilfe von Instrumenten. Nehmen wir zum Beispiel die Untersuchung subatomarer Ereignisse mit Hilfe von Nebel- oder Blasenkammerfotos. Hier fällt auf, dass der Inhalt der Repräsentation oft sehr reichhaltig ist. Vieles ist bildlich repräsentiert, auch solches, das nicht speziell erwartet oder gemessen wurde. Man erhält eine recht umfassende Repräsentation der Ereignisse und der Umstände – ein Bild eben. Das hierbei Dargestellte ist oft vielfach begrifflich fassbar. Man kann viele Elemente, Aspekte und Relationen erkennen, das Bild eröffnet die Möglichkeit zu vielfältigen perzeptuellen Beobachtungen, in denen die Objekte durch viele verschiedene Begriffe bestimmt werden. Dagegen sind satzartige Daten inhaltlich typischerweise eng begrenzt. So misst man mit Geräten üblicherweise nur eine bestimmte physikalische Größe, es gibt ein festes und begrenztes Repertoire von Begriffen, die den Inhalt der Anzeige eines Messgeräts ausmachen können. Zudem sind die Untersuchungsgegenstände auf dem Bild nicht begrifflich, sondern piktorial repräsentiert. Dies bringt Vorteile mit sich. Für eine begriffliche Repräsentation muss der entsprechende Begriff verfügbar sein. Ein Satzdatum kann daher keine Kategorie repräsentieren, die nicht schon wissenschaftlich bekannt ist. Dagegen müssen für eine piktoriale Repräsentation noch keine Begriffe verfügbar sein, unter die das Abgebildete fällt und als unter die fallend es auf dem Bild gesehen werden kann. Bilder ermöglichen zudem den Erwerb perzeptueller Fähigkeiten bezüglich neuer Begriffe. Man kann daher auf einem Bild nicht nur Unerwartetes, sondern auch Neuartiges beobachten und es anhand von Bildern zuallererst zu beobachten lernen. Mit

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Satzdaten kann man dagegen nur beobachten, wofür man schon Begriffe besitzt.23 Diese Vorteile perzeptueller Beobachtungen kann man am Beispiel der experimentellen Entdeckung der Positronen durch Anderson im Jahr 1932 verdeutlichen.24 Anderson studierte die kosmische Strahlung (bzw. durch kosmische Strahlung verursachte sekundäre Teilchen) mit einer Nebelkammer, an die ein starkes Magnetfeld angelegt und in die eine Bleiplatte eingefügt war. Auf den gewonnenen Fotos waren hierbei Spuren von Teilchen auffällig, die sich durch das Magnetfeld so ablenken ließen, als ob sie positiv geladen sind. Solche Teilchen waren anderen Physikern schon früher aufgefallen, sie wurden aber entweder als Protonen, als Elektronen, die aus der entgegengesetzten Richtung (von der Erde her) kommen, oder als Schmutzeffekte aufgefasst.25 Auch die Bildung von Elektron-Positron-Paaren war offenbar schon vorher abgebildet, nicht aber erkannt worden.26 Anderson studierte solche Abbildungen sehr genau, zudem führten das vergleichsweise starke Magnetfeld und die eingefügte Bleiplatte zu Spuren, die eine bessere Identifikation der Teilchen ermöglichte. Anderson stützte sich hierbei auf eine Untersuchung von einigen Fotos, bei denen verschiedene Details der Abbildungen wichtig sind. Auf einem der Fotos finden sich zwei Spuren, von denen je eine oberhalb und unterhalb der Bleiplatte verläuft. (Siehe Abb. 6.1.) Anderson argumentiert, dass die Genauigkeit, mit der die Spuren zusammenpassen, mit hoher Wahrscheinlichkeit zeigt, dass es sich um die Spuren eines einzigen Teilchens handelt, das die Platte durchquert hat. Aus der größeren Krümmung der Spur in der oberen Hälfte wird abgelesen, dass das Teilchen dort eine geringere Geschwindigkeit hatte. Mit der Annahme, dass das Teilchen beim Durchgang durch die Bleiplatte nur langsamer, nicht aber schneller werden konnte, ist so die Richtung feststellbar, in der sich das Teilchen bewegt hat. Dies ist entscheidend für den Nachweis, dass das Teilchen eine positive Ladung hatte. Auf einem anderen Foto finden sich Spuren, die parallel verlaufen, wovon zwei aber in entgegengesetzte Richtungen gekrümmt sind. Anderson verweist hier 23

24 25 26

Für direkte Wahrnehmungen oder Wahrnehmungen mit Instrumenten gilt dies entsprechend: Mit solchen Wahrnehmungen kann auf viele, auch unerwartete Eigenschaften und Objekte zugegriffen werden. Insbesondere kann man so bislang unbekannte Objekte und Eigenschaften, für die man noch nicht über Begriffe verfügt, beobachten. Für eine ausführliche Argumentation hierfür siehe Kap. 7. Siehe Anderson (1932) und (1933). Siehe Hanson (1963), 138/139. Siehe Skobeltzyn, Brief an Hanson vom 24.10.1960, abgedruckt in Hanson (1963), 181-183.

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darauf, dass zum Zeitpunkt des Fotos die beiden Spuren in gleichem Maß verschwommen sind. Die entstandenen Ionen sind offenbar in gleichem Umfang diffundiert, woraus man schließen kann, dass die Spuren gleichzeitig entstanden sind.

Abb. 6.127

Anderson kommt auf diese Weise unabhängig von Diracs theoretischem Postulat zu empirischen Belegen für die Existenz positiv geladener Teilchen, die ungefähr die Masse von Elektronen haben. Anderson führt für sie die Bezeichnung ‚Positronen‘ ein. Die Bildartigkeit der Rohdaten ermöglichten diese Entdeckung offensichtlich in besonders guter Weise. Denn obwohl man nicht wusste, wonach man suchte und was man finden könnte, hat man Bilder der Positronen (bzw. genauer der Positronenspuren) erzeugt. Auf diesen Bildern ließen sich im Nachhinein viele Details entdecken und untersuchen, die für verschiedene Rückschlüsse auf die Eigenschaften der Teilchen wichtig wurden. Auf dieser Grundlage konnte man einen Begriff für eine Art von Elementarteilchen bilden, die man auf anderen (und auch früheren) Fotos wiederfinden konnte.28 27 28

Aus Anderson (1933). Die Rolle von Bildern und Wahrnehmungen in der Mikrophysik wird ausführlich von Galison (1997) behandelt. Siehe etwa S. 120-144 zur Rolle von Nebelkammerfotos in den 1930er und 1940er Jahren.

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Seit den 60er Jahren wurden zwar in der Hochenergiephysik menschliche Beobachter auch bei Blasenkammerfotos zunehmend durch Methoden automatischen Scannens ersetzt. Zum einen ist diese Ersetzung aber nicht vollständig, wie das obige Beispiel der Entdeckung neutraler Ströme zeigt. Zum anderen wurde diese Ersetzung auch von den beteiligten Wissenschaftlern selbst nicht in allen Hinsichten als Fortschritt eingeschätzt. Wie das folgende Zitat aus einer Diskussion um die Einführung solcher Methoden am CERN zeigt, war man sich vielmehr bewusst, dass Vorteile in der bewältigbaren Datenmenge mit einem Verlust an Flexibilität und Offenheit gegenüber unerwarteten Phänomenen erkauft werden mussten: K. EKBERG: I would like to ask a question of principle which touched on the point that one might wish to do the first scanning of these pictures automatically. Now it is surely so that many important discoveries have been made because the scientists have noticed something which they did not expect. Something new which they could not explain from their previous knowledge. Now we surely can’t programme computers and automatic devices for this kind of thing. Do you think there is any danger here? KOWARSKI: Well, first of all you must know what you want. You obviously cannot produce in a year several million or several tens of million pictures and at the same time explore each picture in an adventurous way as Blackett used to treat his cloud chamber pictures back in 1934. It just cannot be done. These millions will be taken mainly for kinds of experiments in which you know more or less in advance what kind of information you want to extract. In some intermediate cases there might perhaps be not millions but shall we say a hundred thousand pictures, which are worth to look at not in a statistical way but in a more enquiring mood...29

Damit eine Wissenschaft auf die spezifischen Beiträge perzeptueller Beobachtungen ohne Einschränkung der Erfolgsaussichten verzichten kann, darf es in ihr nicht darum gehen, noch wenig bekannte Bereiche zu erforschen, in denen unerwartete oder neue Phänomene auftreten. Vielmehr muss sie sich darauf konzentrieren, schon weitgehend Bekanntes zu untersuchen, wofür die geeigneten Begriffe schon zur Verfügung stehen und man weiß, welche spezialisierten Messgeräte eingesetzt werden müssen, um die relevanten Daten zu gewinnen. Aber erstens sind unsere Wissenschaften nicht von dieser Art. Im überwiegenden Teil der wissenschaftlichen Forschung steht man einer sehr reichen und komplexen Phänomenmenge gegenüber, die teilweise unerforscht ist, eine große Menge von Überraschungen bereithält und für eine adäquate Beschreibung sicherlich vieler neuer Begriffe bedarf. Die Flexibilität und Offenheit perzeptueller Beobachtungen gegenüber Unerwartetem und 29

Kowarski (1964), 39/40. Zitiert nach Galison (1997), 402.

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Neuartigem scheinen hierbei unverzichtbar. Und auch wenn wir eine Wissenschaft entwickeln sollten, die auf perzeptuelle Beobachtungen weitgehend verzichten kann, ist zweitens unwahrscheinlich, dass wir diesen Zustand ohne perzeptuelle Beobachtungen genauso gut erreichen könnten.30 Insgesamt zeigt dies, dass perzeptuelle Beobachtungen wichtige empirische Beiträge zur Forschung leisten. Eine Wissenschaft ohne Erfahrung ist nicht ohne Schmälerung der Erfolgsaussichten möglich. Eine wissenschaftstheoretische Beschreibung muss dann perzeptuelle Beobachtungen auch herausheben. Entgegen der Empfehlung von Fodor und Brown ist die Kategorie perzeptueller Beobachtungen erkenntnistheoretisch nicht verzichtbar. Fodor führt die These ‚Wissenschaft ohne Erfahrung‘ auch gegen die Annahme ins Feld, dass die Theoriebeladenheit die Objektivität von Beobachtungen in Frage stellt. Er verweist darauf, dass sich aus der Theoriebeladenheit von Wahrnehmungen keine epistemischen Schwierigkeiten ergeben, wenn perzeptuelle Beobachtungen keine zentrale epistemische Rolle spielen. Allerdings hat sich die These der ‚Wissenschaft ohne Erfahrung‘ insbesondere in der zweiten und dritten Teilthese als unhaltbar erwiesen. Es kann daher kein Weg sein, für die Objektivität von Beobachtungen zu argumentieren, indem man die Relevanz von Wahrnehmungen bestreitet. Vielmehr muss man sich die Thesen zur Theoriebeladenheit von Wahrnehmungen, wie sie in Kapitel 3 diskutiert wurden, vornehmen und auf ihre Haltbarkeit überprüfen. Hierzu werde ich im nächsten Kapitel kommen. Es bleibt vorerst die Einsicht der ersten Teilthese, dass sowohl von Satzdaten als auch von perzeptuellen Beobachtungen wichtige empirische Beiträge zur wissenschaftlichen Forschung geleistet werden. Dies widerspricht zwar einem eng verstandenen Empirismus, demzufolge die empirische Basis der Wissenschaften letztlich bloß durch Erfahrungen gegeben ist. Es folgt aber einer im weiteren Sinne empiristischen Einsicht, nämlich dass es gut ist, die empirische Basis der Wissenschaften so reichhaltig und vielfältig zu machen wie möglich. Der epistemische Erfolg scheint demnach umso eher erreichbar, je mehr Quellen empirischer Information sich den Wissenschaften erschließen. Ich werde im Kapitel 8 der Frage nachgehen, wie die hier unterschiedenen Hauptarten von Beobachtungen, perzeptuelle Beobachtungen und satzartige Daten, zusammenwirken können, um diesen Erfolg trotz der Theoriebeladenheit wahrscheinlich zu machen. 30

Vgl. auch Kuhns Diskussion der Entdeckung neuartiger Phänomene in Kuhn (1962a). Es ist bezeichnend, dass in allen Beispielen – den Entdeckungen des Uranus, des Sauerstoffs und der Röntgenstrahlen –, perzeptuelle Beobachtungen von zentraler Bedeutung sind.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Zusammenfassung Welche Arten von Beobachtungen sind für die Naturwissenschaften epistemisch von zentraler Bedeutung? Einige Autoren vertreten die zuerst von Feyerabend formulierte These, dass Erfahrung für die Wissenschaften verzichtbar ist. In diesem Kapitel wurde die These zunächst in verschiedenen Hinsichten präzisiert. Erfahrung wird demnach sinnvollerweise im Sinne der Ergebnisse perzeptueller Beobachtungen verstanden, die von satzartigen Daten zu unterscheiden sind. Perzeptuelle Beobachtungen sind dadurch ausgezeichnet, dass bei ihnen typischerweise perzeptuelle Klassifikationfähigkeiten, die für die beobachteten Objekte spezifisch sind, innerhalb des Beobachtungsprozesses zur ersten begrifflichen Repräsentation führen (Abschn. 2a). Einer sehr plausiblen, aber noch recht schwachen Formulierung der These zufolge ist dann die empirische Grundlage der Wissenschaften nicht schon durch perzeptuelle Beobachtungen ausgeschöpft. Vielmehr bauen die Wissenschaften auch auf viele satzartige Daten, deren empirische Beiträge sich nicht letztlich auf perzeptuelle Beobachtungen zurückführen lassen. Für eine stärkere Formulierung der These, derzufolge perzeptuelle Beobachtungen in den gegenwärtigen Wissenschaften zunehmend unbedeutend und durch satzartige Daten ersetzt werden, haben sich dagegen keine Anhaltspunkte ergeben. Und auch die Behauptung, dass perzeptuelle Beobachtungen aus epistemologischer Sicht verzichtbar sind, wurde zurückgewiesen. Eine Analyse der jeweiligen Stärken und Schwächen von satzartigen Daten und perzeptuellen Beobachtungen hat vielmehr ergeben, dass perzeptuelle Beobachtungen aufgrund ihrer oft vielfältigen Inhalte und ihrer Offenheit gegenüber unerwarteten, neuartigen Phänomenen in vielen Bereichen der Wissenschaft unersetzbar sind (Abschn. 3).

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Kapitel 7: Theorieunabhängige perzeptuelle Beobachtungen 1. Einleitung Perzeptuelle Beobachtungen sind weitgehend theorieunabhängig. Diese These soll in diesem Kapitel verteidigt werden. Hierzu ist zu zeigen, dass die anführbaren Begründungen der Theoriebeladenheit bei perzeptuellen Beobachtungen weitgehend ins Leere laufen und es stattdessen gute Gründe für deren Theorieunabhängigkeit gibt. Dies soll im Folgenden nacheinander für verschiedene Arten perzeptueller Beobachtungen und die möglichen Begründungen ihrer Theorieabhängigkeit geschehen. Bei den perzeptuellen Beobachtungen unterscheide ich zwischen direkten Wahrnehmungen (Abschn. 2 bis 4), Wahrnehmungen mit Hilfe von Instrumenten (Abschn. 5) und Wahrnehmungen auf Bildern, die mit bildgebenden Verfahren produziert werden (Abschn. 6). Es ist jeweils zu argumentieren, dass die Begründungen der Theoriebeladenheit, die sich in den Kapiteln 3 bis 5 als vorläufig vertretbar herausgestellt haben, letztlich nicht greifen. So wird es hauptsächlich darum gehen, ob erstens die Verarbeitung der Sinnesreize, die zu Sinneserfahrungen, perzeptuellen Klassifikationen und Wahrnehmungsurteilen führt, von Theorien beeinflusst wird (siehe Kap. 3). Zweitens stellt sich die Frage, ob die Bedeutung von Beobachtungsausdrücken theoretisch konstituiert wird (siehe Kap. 4). Und drittens ist zu untersuchen, ob durch die wissenschaftliche Einschätzung der Verlässlichkeit von Beobachtungsprozessen deren Ergebnisse theorieabhängig werden (siehe Kap. 5). Die Kapitel 3 bis 5 haben gezeigt, dass starke Fassungen verschiedener Theoriebeladenheitsthesen ausreichen, um einen Pessimismus zu begründen und so die Objektivität von Beobachtungen in Zweifel zu ziehen. In Kapitel 6 wurde nachgewiesen, dass perzeptuelle Beobachtungen in der empirischen Stützung unverzichtbar sind. Die Theorieunabhängigkeit perzeptueller Beobachtungen ist daher wichtig für die Objektivität von Beobachtung insgesamt. Es soll aber erst im nächsten Kapitel gezeigt werden, dass diese Objektivität trotz der verbleibenden Theoriebeladenheit insbesondere von anderen Beobachtungsarten als perzeptuellen Beobachtungen besteht. 2. Perzeptuelle Reizverarbeitung Direkte Wahrnehmungen führen ohne den Einsatz von Instrumenten von den Objekten der Wahrnehmung über Sinnesreize und deren Verarbeitung zu Sinneserfahrungen und Wahrnehmungsurteilen, die für eine weitere kognitive Verwendung etwa in expliziten Schlüssen zur Verfügung stehen. Dabei sind Objekte in der Sinneserfahrung nicht nur als mit sinnlichen Eigenschaften –

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etwa als von bestimmter Farbe und Gestalt –, sondern auch als mit reichhaltigen alltäglichen oder wissenschaftlichen Eigenschaften repräsentiert. Mir kommen in der Regel in der Sinneserfahrung Objekte unmittelbar als Amsel, als aus Holz oder als mein Freund Paul vor. Der Wahrnehmungsprozess führt zu solchen perzeptuellen Klassifikationen, die Teil der bewussten Erfahrung sind, und zu entsprechenden Wahrnehmungsurteilen. (Siehe Kap. 3, Abschn. 2 u. 3.) Es stellen sich die Fragen, ob die Reizverarbeitung, die perzeptuelle Klassifikation, deren begriffliche Inhalte oder die Einschätzung der Verlässlichkeit der Wahrnehmungen theorieabhängig sind. a) Helmholtz’sche Theorien versus modulare Theorien der Wahrnehmung In Kapitel 3 wurde deutlich, dass sich Vertreter der Theorieabhängigkeit von Wahrnehmungen zentral auf eine Helmholtz’sche Wahrnehmungstheorie berufen. Einer typischen Helmholtz’schen Position zufolge ist der visuelle Eindruck bzw. die visuelle Klassifikation Ergebnis einer Verarbeitung der Reize in Schlüssen, die meist unbewusst bleiben. (Wie in Kapitel 3 werde ich hier visuelle Wahrnehmung stellvertretend für Wahrnehmung insgesamt behandeln.) In diese Verarbeitung soll – in Abhängigkeit von früherer Erfahrung und Lernen – sehr verschiedenes weiteres Wissen einfließen können. Man nimmt zudem an, dass das Vokabular, in dem dieses Wissen formuliert ist, keiner natürlichen Beschränkung unterliegt, so dass auch theoretisches und theorieabhängiges Wissen in die Verarbeitung eingehen können. Schließlich soll die Verarbeitung intelligent sein in der Weise, wie es Problemlösen ist. Es soll möglich sein, verschiedene Strategien der Verarbeitung zu verfolgen und alternative Zwischenergebnisse abzuwägen.1 Insgesamt sieht die Helmholtz’sche Theorie die Verarbeitung des visuellen Reizes daher als sehr ähnlich zu zentralen Denkvorgängen, es gibt demnach keinen kategorialen Unterschied zwischen der Verarbeitung in der Wahrnehmung und in allgemeiner Kognition. Wie in Kapitel 3 gesehen, legt eine solche Theorie etwa in der Kuhn’schen Ausarbeitung nahe, dass verschiedene Beobachter, deren Wissen und perzeptuelle Verarbeitung durch unterschiedliche theoretische Hintergründe geprägt sind, in gleichen Situationen oft zu sehr verschiedenen Wahrnehmungen – etwa perzeptuellen Klassifikationen – kommen. Zu dieser Helmholtz’schen Grundposition gibt es aber seit den 1980er Jahren eine gewichtige theoretische Alternative, die insbesondere von David Marr, Jerry Fodor und Zenon Pylyshyn vertreten wird:2 die ‚modulare‘ Theorie des Sehens. Dabei setzen sie zwar auch voraus, dass der Wahrneh1 2

Vgl. Kap. 3, Abschn. 4b(iii). Siehe Marr (1982), Fodor (1983) und (1989), Pylyshyn (1999); vgl. Kitcher (1985).

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mungsprozess die Verarbeitung von Symbolen oder Repräsentationen einschließt und insofern aus (unbewussten) Schlüssen besteht. Aber im Prinzip ist eine modulare Theorie nicht darauf festgelegt und könnte wohl auch im Rahmen einer konnektionistischen Auffassung mentaler Verarbeitung formuliert werden. Denn zentral für die modulare Theorie ist erstens, dass die Verarbeitung nicht als intelligent in der Art allgemeinen Problemlösens aufgefasst wird. Vielmehr soll die Verarbeitung endogen feststehenden Abläufen folgen. Anders als bei intelligentem Problemlösen ist die Verarbeitungsprozedur nicht variabel und muss nicht erst noch festgelegt werden.3 Zweitens läuft die Verarbeitung abgeschlossen von anderen, insbesondere zentralen kognitiven Prozessen und Informationen ab. Dem visuellen System stehen demnach keine Informationen oder Informationen nur in sehr beschränktem Umfang aus diesen anderen Bereichen zur Verfügung, und die Zwischenschritte der visuellen Verarbeitung sind außerhalb des visuellen Systems nicht verfügbar. Das Wissen, das in die Verarbeitung einfließt, soll drittens in einem beschränkten Vokabular formuliert sein. So sollen vorwiegend Annahmen über geometrische Eigenschaften von Gegenständen verwendet werden. Die Verarbeitung im visuellen System verläuft somit modular, das visuelle System stellt ein Modul dar, das von den anderen Bereichen abgekapselt ist. Der Unterschied zwischen Kognition im Allgemeinen und Wahrnehmung wird so rehabilitiert. Diese Position hat zur Konsequenz, dass die Ergebnisse der visuellen Verarbeitung nicht stark theorieabhängig sind. Die Outputs eines modularen visuellen Systems können nicht vor dem Hintergrund verschiedener Theorien grundlegend verschieden sein. Denn erstens besteht der Input des visuellen Systems in den Sinnesreizen, die als solche theorieneutral sind. Zweitens hat das System selbst nur sehr beschränkte Ressourcen, die nicht durch zentrale theoretische Annahmen oder theorieabhängige Ausbildung prinzipiell variabel sind. Und drittens ist die Verarbeitungsweise starr festgelegt und lässt so ebenfalls keinen Freiraum zu. In den beiden folgenden Unterabschnitten will ich diskutieren, auf welche Weise diese Theorieunabhängigkeit der Ergebnisse visueller Verarbeitung zu verstehen ist, wie sich diese Ergebnisse zu visuellen Erfahrungen und insbesondere perzeptuellen Klassifikationen verhalten und wie die empirische Datenlage aussieht. Da sich trotz der Übereinstimmung in der Grundposition doch einige relevante Abweichungen zwischen den genannten Vertretern der modularen Theorie finden, werde ich mich hierbei auf einen Autor konzentrieren. Ich werde Pylyshyn (1999) heranziehen. Seine Position ist exempla3

Siehe Fodor (1989), 212-214.

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risch insoweit, als er wesentliche Einsichten der anderen beiden Autoren aufnimmt. Zugleich nimmt er auch eine Einschätzung der umfangreichen empirischen Evidenz vor. b) Die kognitive Abgeschlossenheit des visuellen Systems Der Wahrnehmungsprozess führt letztlich zu perzeptuellen Erfahrungen bzw. zu perzeptuellen Klassifikationen oder Wahrnehmungsurteilen. Dabei werden die Objekte auch gemäß reichhaltigen alltäglichen oder wissenschaftlichen Kategorien für Arten, Eigenschaften oder Individuen klassifiziert. Pylyshyn argumentiert dafür, dass ein wichtiger Teil dieses Wahrnehmungsprozesses modular – oder wie er es formuliert –, kognitiv abgeschlossen bzw. undurchdringlich (cognitively impenetrable) oder kognitiv abgekapselt (cognitively encapsulated) abläuft. Diesen Abschnitt des Prozesses bezeichnet Pylyshyn als frühes Sehen (early vision), das entsprechende Modul als early vision system oder einfach als das visuelle System. Auf anderen Stufen des Wahrnehmungsprozesses als dem so verstandenen visuellen System hält Pylyshyn dagegen kognitive Einflüsse für möglich. Der Input des visuellen Systems soll aus den Reizen vor allem der Retina, aber wohl auch des Gleichgewichtsorgans und aus proprioperzeptiven Reizen der Augen bestehen. Welche Reize hereinkommen, wird dadurch beeinflusst, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet. Die Ausrichtung des Fokus der Aufmerksamkeit kann Pylyshyn zufolge sowohl durch explizite Erwartungen und Annahmen als auch durch Lernprozesse und Spezialisierungen beeinflusst werden.4 Die Verarbeitung der Reize im visuellen System soll dann ausschließlich den modular festgelegten Prinzipien folgen. Demnach sind die Schlussweisen nicht durch Zustände von außerhalb des Systems beeinflussbar. Es können nur Informationen einfließen, die sich aus den Reizen oder einem lokalen, dem Modul zugehörigen Gedächtnis ergeben. Ein solches Modul kann einige weitere Merkmale aufweisen. So kann es erstens innerhalb des Moduls zu topdown-Verarbeitung kommen. Spätere Stufen der Verarbeitung, die etwa übergreifende Merkmale des visuellen Feldes betreffen, können so auf frühere Stadien zurückwirken, etwa auf lokale Inhalte der Repräsentation. Zweitens wird angenommen, dass sog. „natural constraints“ eine zentrale Rolle spielen.5 Darunter versteht man allgemeine geometrische oder optische Annahmen über die Beschaffenheit von Wahrnehmungsobjekten oder Wahrnehmungssituationen. Diese Annahmen sollen aber nicht explizit 4 5

Siehe Pylyshyn (1999), 360. Vgl. Marr (1982), 103ff.

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repräsentiert sein. Stattdessen soll der Ablauf der modularen Verarbeitung so festgelegt sein, als würde die Verarbeitung diesen Annahmen folgen. Durch solche natural constraints kann etwa der kinetische Tiefeneffekt erklärt werden. Dieser Effekt ergibt sich beispielsweise, wenn man eine Anzahl sich bewegender Lichtpunkte auf einem Computerschirm betrachtet. Wenn die Punkte sich solchermaßen synchron bewegen, dass sie auf der Oberfläche eines dreidimensionalen starren Körpers liegen könnten, hat man auch einen entsprechenden visuellen Eindruck: Man sieht einen solchen dreidimensionalen starren Körper. Dieser Effekt lässt sich erklären, wenn man davon ausgeht, dass die modulare Verarbeitung der impliziten Annahme folgt, dass synchron bewegte Punkte zur Oberfläche starrer Körper gehören.6 Es wird drittens für plausibel gehalten, dass das visuelle System intern in weitere Subsysteme unterteilt ist, die einzelne Merkmale wie Farbe, Form, Bewegung, Helligkeit oder dreidimensionale Ausrichtung bei nur beschränktem Austausch untereinander berechnen. Der Output des visuellen Systems soll Pylyshyn zufolge noch nicht in der Sinneserfahrung und den eingeschlossenen perzeptuellen Klassifikationen bestehen. Vielmehr wird angenommen, dass nur eine Vorstufe für solche Klassifikationen herauskommt. Im Output sollen insbesondere sichtbare Formen und Oberflächen im Raum repräsentiert werden, die in einem geometrischen Vokabular beschreibbar sind.7 Obwohl es empirisch nicht völlig klar ist, welche Inhalte die Ergebnisse der visuellen Verarbeitung genau haben, spricht einiges dafür, dass die Aufschlüsselung von Form und Ausrichtung der Oberflächen zueinander und in Bezug auf den Beobachter auf der Basis von Repräsentationen solcher Eigenschaften wie Farbe, Helligkeit und Bewegung geschieht. Möglicherweise enthält der Output auch einige besondere Merkmale wie die wahrgenommene Gefährlichkeit oder einfache kausale Relationen.8 Diese Eigenschaften bezeichne ich im Folgenden als ‚modular repräsentierbar‘. Es ist klar, dass diese modular repräsentierbaren Eigenschaften noch nicht den unmittelbaren Inhalt bewusster Erfahrungen und deren Klassifikation gemäß gewöhnlicher perzeptueller Kategorien ausschöpfen. Pylyshyn zufolge beruht diese perzeptuelle Klassifikation allerdings auf der modularen Repräsentation. Da er aber davon ausgeht, dass diese Klassifikation auf Wissen zurückgreifen kann, das einem Modul nicht

6 7 8

Siehe Pylyshyn (1999), 354. Siehe Pylyshyn (1999), 361. Dies entspricht Marrs 2½-D-Skizze. Siehe Marr (1982), Kap. 4. Siehe Pylyshyn (1999), 360/361.

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zur Verfügung steht, zählt er diesen Schritt nicht mehr als Teil der Verarbeitung des visuellen Systems:9 [T]he visual system does not identify the stimulus in the sense of cross-referencing it to the perceiver's knowledge base ... That is because the category identity is inextricably linked to past encounters and to what one knows about members of the category (e.g., what properties – visual and nonvisual – they have). After all, identifying some visual stimulus as your sister does depend on knowing such things as that you have a sister, what she looks like, whether she recently dyed her hair, and so on. But, according to the present view, computing what the stimulus before you looks like – in the sense of computing some representation of its shape, sufficient to pick out the class of similar appearances – and hence to serve as an index into long-term memory – does not itself depend on knowledge. According to this view, the visual system is seen as generating a set of one or more shapedescriptions that might be sufficient (perhaps in concert with other contextual information) to identify objects stored in memory. (Pylyshyn 1999, 361)

Gemäß der modularen Theorie des Sehens, wie sie von Pylyshyn vertreten wird, ist daher die visuelle Verarbeitung der Reize bis hin zu einer Repräsentation der sichtbaren Oberflächen im Raum modular. Die perzeptuelle Klassifikation findet dann auf der Grundlage dieser modularen Repräsentation statt. Bevor ich in Abschnitt 3 zu diesem Schritt komme, ist zu fragen, ob die empirischen Befunde eher die Helmholtz’sche oder die modulare Theorie des Sehens bestätigen. c) Empirische Belege für die kognitive Abgeschlossenheit Es gibt eine sehr große Zahl von Befunden und Studien, die für die konkurrierenden Theorien des Sehens relevant sind. Pylyshyn gibt einen Überblick 9

Im Gegensatz hierzu geht Fodor davon aus, dass der Output des modularen visuellen Systems auch Repräsentationen alltäglicher Kategorien umfasst, insbesondere Rosch’sche basic-level categories. Zudem soll der modulare Output Fodor zufolge bewusst als Erfahrung zugänglich sein. (Siehe Fodor 1983, 87 u. 93-97; 1988, 197.) Fodor muss dann davon ausgehen, dass Modul-externes Wissen keinen Einfluss auf diese perzeptuellen Klassifikationen ausüben kann. Ich werde im Folgenden Pylyshyn folgen und einen solchen Einfluss nicht ausschließen. Richard Schantz, der auch eine modulare Theorie der Wahrnehmung vertritt, hält wie Fodor die Ergebnisse der modularen Verarbeitung für bewusst erfahrbar, glaubt aber im Gegensatz zu Fodor, dass deren Inhalte nicht-begrifflich sind. (Siehe Schantz 2000, 67-69.) Eine vergleichbare Position vertritt auch Bermudez (1999). Wie oben dargelegt, werde ich die Möglichkeit nicht-begrifflicher Wahrnehmungsinhalte für die Argumentation gegen die Theoriebeladenheit nicht verfolgen. (Siehe Kap. 3, Abschn. 2b.) Siehe auch Pylyshyn (1999), 362 und (1999a), 407 für Kritik an der Auffassung, dass bewusste Sinneserfahrungen direkte Hinweise auf die Inhalte der modularen Outputs liefern oder gar mit den modularen Outputs gleichzusetzen sind.

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über diese Befunde, der zeigt, dass die empirische Evidenz insgesamt für die modulare und gegen die Helmholtz’sche Theorie spricht.10 Aus der Vielzahl der Belege und Fälle möchte ich nur einige anführen. Es gibt interessante Fälle visueller Agnosie, die dafür sprechen, dass die einzelnen Fähigkeiten und Stufen perzeptueller Verarbeitung voneinander unabhängig sind. So hat ein Patient nach einem Schlaganfall zwar die Fähigkeit behalten, einzelne Merkmale und Eigenschaften von Gegenständen zu sehen. Allerdings hat er vollkommen die Fähigkeit verloren, die Dinge als Ganze zu sehen und visuell zu erkennen, worum es sich handelt. Dennoch wusste er weiterhin, welche Merkmale Gegenstände charakterisieren und konnte die Gegenstände beispielsweise aus dem Gedächtnis zeichnen. Dieser Fall spricht dafür, dass es für die visuelle Verarbeitung nicht ausreicht, Wissen über die Eigenschaften von Dingen im Rahmen einer allgemeinen Problemlöseaufgabe mit Reizen und wahrgenommenen Teilaspekten zusammenzubringen. Vielmehr scheint eine spezifische Fähigkeit visueller Integration notwendig, die der Patient verloren hat.11 Auch viele der einfachen Effekte und Regularitäten, die sich in der Wahrnehmung finden, stützen eine modulare Theorie besser als eine Helmholtz’sche. Wie schon in Kapitel 3 erwähnt, sind viele Wahrnehmungstäuschungen wie die Müller-Lyer-Täuschung oder illusorische Konturen, wie sie sich beim Kanisza-Dreieck zeigen (Abb. 3.5), durch Wissen um ihren täuschenden Charakter unbeeinflussbar.12 Dies ist gerade zu erwarten, wenn das visuelle System autonom und von allgemeinem Wissen abgekapselt arbeitet. Vor einem Helmholtz’schen Hintergrund, wo solche Einflüsse im Prinzip erwartbar sind, ist diese Unbeeinflussbarkeit dagegen rästelhaft. Ähnliches gilt für Regularitäten wie das gestaltpsychologische Gesetz der Nähe, wonach näher beeinander liegende Elemente eher als zur selben Gestalt gehörend wahrgenommen werden, oder wie die Weise, in der verdeckt erscheinende Figuren vervollständigt werden. Hier folgt die Wahrnehmung eigenen Regeln, die oft nicht solchen Regeln entsprechen, die zu einer rational optimalen Lösung führen würden. Dies zeigt sich in Abb. 7.1. Die mittlere Figur wird zu einem unregelmäßigen Sechseck vervollständigt, obwohl der Kontext der anderen beiden Figuren nahe legt, dass es sich auch hier um ein regelmäßiges Achteck handelt.13 Dies stützt gerade die Annahme, 10

11 12 13

Siehe insbesondere auch die im Anschluss an Pylyshyn (1999) abgedruckten Kommentare für teilweise übereinstimmende, teilweise abweichende Einschätzungen der empirischen Evidenzlage. Siehe Humphreys/ Riddoch (1987); vgl. Pylyshyn (1999), 348. Siehe Rock (1984), 228 u. (1985), 4. Siehe Kansiza (1985), 30ff.; vgl. Pylyshyn (1999), 344/345.

206

Theoriebeladenheit und Objektivität

dass der Reiz starr, informativ abgeschirmt und nicht intelligent verarbeitet wird.

Abb. 7.1

Was solche Fälle betrifft, kommt einer der Hauptvertreter der Helmholtz’schen Position, Irvin Rock, in seiner Ausarbeitung der Position der modularen Theorie weit entgegen.14 So geht Rock wie Pylyshyn davon aus, dass die visuelle Wahrnehmung in zwei Hauptschritten erfolgt. Zunächst werde eine Repräsentation erzeugt, die visuelle Eigenschaften wie die Form und die räumliche Lage der Objekte enthalte. Dann erst würden Gegenstände klassifiziert. Erst für den zweiten Schritt sei konkretes Wissen über die wahrgenommenen Objekte notwendig, das aus früherer Erfahrung stamme. Der erste Schritt sei dagegen sowohl von explizitem, bewusstem Wissen als auch von implizitem Wissen über die spezifischen Eigenschaften und Arten unabhängig. Anders als die modulare Theorie betont Rock aber die Intelligenz auch der ersten Stufe der Wahrnehmung in solchen Fällen, in denen komplexere Regularitäten betroffen sind. Hierzu zählen insbesondere die Wahrnehmungskonstanzen. Beispielsweise können zwei unterschiedlich helle Hälften einer Seite als gleich hell (d.h. als von gleichem Grauton) erscheinen. So könnte die eine Hälfte weiß und die sich anschließende Hälfte grau sein und dennoch die Seite ganz als weiß erscheinen. Um diesen Effekt zu erzielen, muss die Seite so gefaltet sein, dass der Unterschied der Helligkeit auch auf einen unterschiedlichen Lichteinfall zurückgehen könnte. Die Situation muss es als möglich erscheinen lassen, dass die vergleichsweise geringere Lichtreflektion der grauen Hälfte dadurch zustande kommt, dass sie beispielsweise im Schatten liegt. Dieser Effekt lässt sich erklären, wenn man annimmt, dass das visuelle System die Möglichkeiten unterschiedlicher Beleuchtung der Hälften ‚in Betracht zieht‘ und daraus folgert, dass die Seiten tatsächlich dieselbe Helligkeit (denselben Grauton) haben.15 Bei der Wahrnehmung der Größe von Objekten spielt insbesondere die wahrgenommene Entfernung eine Rolle. Es ist ein einfaches geometrisches Gesetz, dass der Sehwinkel, unter dem ein Objekt erscheint, umgekehrt 14 15

Siehe Rock (1985), insbes. 16. Vgl. Rock (1984), 49; Churchland (1988), 172; Pylyshyn (1999), 355.

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proportional zur Entfernung des Objekts ist. Diese Regel scheint sich das visuelle System zunutze zu machen, um die Größe von Objekten zu bestimmen. Dies zeigt sich beispielsweise an der scheinbaren Größe von Nachbildern. Ein bestimmtes Nachbild erscheint umso größer, je weiter die betrachtete Fläche entfernt ist.16 Allerdings sprechen auch diese Beispiele scheinbaren intelligenten Schlussfolgerns in der Wahrnehmung letztlich eher für die modulare Theorie als für die Helmholtz’sche Theorie. Denn die herangezogenen Regeln sind gerade von solcher Art, von der die natural constraints gemäß der modularen Theorie sind.17 Sie betreffen optische oder geometrische Eigenschaften, die innerhalb des visuellen Systems verfügbar sind – etwa scheinbare Entfernung oder Beleuchtung. Zudem gelten sie allgemein und nicht etwa nur für besondere Fälle. Es hängt daher nicht an intelligentem Problemlösen, ob sie eingesetzt werden. Damit können sie in einer autonomen und informational abgekapselten Reizverarbeitung implizit wirksam werden. Doch damit steht nicht nur eine Erklärung der Wahrnehmungskonstanzen zur Verfügung, die der Helmholtz’schen Theorie gleichwertig wäre. Die modulare Theorie braucht für diese Erklärung nur mentale Mechanismen anzunehmen, die niedrigstufiger als bei der Helmholtz’schen Erklärung sind. Statt von intelligentem Problemlösen mit potenziellem Zugriff auf vielfältige, in reichhaltigem Vokabular formulierte Regeln auszugehen, braucht bloß eine starre Verarbeitung nach implizit verkörperten Regularitäten in beschränktem Vokabular angenommen zu werden. Eine solche sparsamere Erklärung ist aber zu bevorzugen. Die modulare Theorie ist deshalb auch hier der Helmholtz’schen überlegen.18 Schließlich verfügt die modulare Theorie auch über die Ressourcen, um ein Problem, das oft im Zentrum des Interesses Helmholtz’scher Theorien steht, zu erklären. Wie schafft das visuelle System es, zu einer eindeutigen und oft zutreffenden Repräsentation der wahrgenommenen Objekte und Eigenschaften zu kommen, obwohl der Reiz nur unzureichend informativ ist?19 Eine besondere Schwierigkeit stellt die sog. inverse Abbildung dar, d.h. die Erzeugung einer dreidimensionalen visuellen Repräsentation auf der Basis 16

17 18 19

Vgl. Rock (1984), 29ff. Das Nachbild entsteht dadurch, dass die Rezeptoren in einem bestimmten Bereich der Netzhaut durch eine vorausgehende Reizung übermüdet sind und nun beim Betrachten einer homogenen Fläche ein anderes Signal senden als die benachbarten Rezeptoren. Die unterschiedlich groß erscheinenden Nachbilder beruhen daher auf der Reizung eines konstanten Ausschnitts der Netzhaut, entsprechend einem konstanten Sehwinkel. Siehe Pylyshyn (1999), 355/356. Siehe Pylyshyn (1999), 357; vgl. Rock (1983), 338/339. Vgl. Kap. 4, Abschn. 4b(iii).

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von bloß zweidimensionalen Reizen. Auch hier geht die modulare Theorie davon aus, dass in die Verarbeitung eingebaute natural constraints eine zentrale Rolle spielen. Auf solche Weise kann man durch Bezug auf die oben angeführte Annahme, dass synchron bewegte Punkte auf der Oberfläche starrer Körper liegen, nicht nur den kinetischen Tiefeneffekt erklären. Mit dieser Annahme lassen sich auch die relativen Positionen mehrerer Punkte im Raum eindeutig aus einer kurzen Sequenz zweidimensionaler Bilder dieser bewegten Punkte bestimmen. Wenn die Verarbeitung der Reize dieser Annahme folgt, kommt das visuelle System daher zu einer eindeutigen Repräsentation. Die modulare Theorie des Sehens kann so die Fähigkeit zur inversen Abbildung erklären.20 Auch hierbei ist die modulare Erklärung besser empirisch gestützt als die Helmholtz’sche. So stellt sich der kinetische Tiefeneffekt ein, obwohl man die bewegten Punkte auf einem Computerschirm betrachtet, es also dem Betrachter klar ist, dass die Punkte nicht auf einem starren Körper liegen.21 Wieder zeigt sich die Verarbeitungsweise des visuellen Systems daher als durch Wissen des Beobachters über die Situation unbeeinflussbar. Das visuelle System ist inflexibel und folgt bloß seinen eigenen Prozeduren. Die modulare Theorie erweist sich damit insgesamt der Helmholtz’schen Theorie überlegen. Sie kommt zum einen mit dem Postulieren von niedrigstufigeren mentalen Mechanismen aus. So werden die perzeptuellen Fähigkeiten durch einfache und inflexible Reizverarbeitung erklärt. Eine Helmholtz’sche Theorie muss demgegenüber eine anspruchsvolle Verarbeitungsweise annehmen, die auf einen großen Fundus von Wissen zurückgreifen und diesen intelligent einbringen kann. Zum anderen sprechen die empirischen Befunde in ihrer Mehrzahl für die modulare Theorie, wohingegen die Helmholtz’sche Theorie in vielen Fällen eine größere Flexibilität der visuellen Reizverarbeitung und eine stärkere Beeinflussung von weiterem, im Prinzip zur Verfügung stehendem Wissen erwarten ließe. Der modularen Theorie zufolge sind die Outputs des visuellen Systems aber weitreichend theorieunabhängig. Zwar wird dieser Output nicht ausschließlich durch den Reiz bestimmt. Vielmehr sind die natural constraints in die Verarbeitung inkorporiert. Damit fließen einige Annahmen darüber, wie

20

21

Siehe Pylyshyn (1999), 354. Für eine vollständige Erklärung der inversen Abbildung reicht die genannte Annahme natürlich nicht aus. Vielmehr müssen auch schon bei bewegten Objekten weitere natural constraints sowie ein Modus, gemäß dem sie interagieren, angenommen werden. Eine solche umfassende Erklärung gibt es noch nicht. Siehe hierfür Pylyshyn (1999), 355 und (1999a), 412. Vgl. Pylyshyn (1999), 355.

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typische Wahrnehmungssituationen beschaffen sind, in die Wahrnehmung ein. Aber daraus ergibt sich keine Theorieabhängigkeit. Erstens ergibt sich keine starke Theorieabhängigkeit. Denn die Verarbeitung im visuellen System kann gemäß der modularen Theorie nicht mit einem variablen theoretischen Hintergrund variieren. Vielmehr sind diese Verarbeitung und die bestimmenden natural constraints endogen festgelegt. Zweitens ergibt sich auch keine schwache Theorieabhängigkeit, etwa eine Abhängigkeit von einer angeborenen Theorie, der wir nicht entgehen könnten. Denn die einfließenden natural constraints sind nicht theoretisch in irgendeinem interessanten Sinn. Sie sind bloß in einem beschränkten, visuellen oder geometrischem Vokabular formuliert. Sie betreffen solche Faktoren wie den Sehwinkel, unter dem Objekte erscheinen, deren Entfernung, Starrheit oder Beleuchtung. Sie greifen damit den meisten Eigenschaften, nach denen perzeptuell klassifiziert werden kann, und entsprechenden, hierfür zuständigen alltäglichen oder wissenschaftlichen Theorien nicht vor. Drittens ist zu erwarten, dass eine solche Reizverarbeitung in den überwiegenden Fällen zu wahren Repräsentationen führt. Denn das visuelle System und die damit verbundene Verarbeitungsweise sind der modularen Theorie zufolge endogen festgelegt und daher evolutionär entstanden. Man kann daher davon ausgehen, dass die natural constraints an unsere gewöhnliche Umgebung angepasst sind. Da aber zutreffende Wahrnehmungen in der Regel den größten Fitnesswert besitzen, kann man davon ausgehen, dass das visuelle System auch seiner Zuverlässigkeit wegen selektiert wurde.22 Zwar geht Pylyshyn davon aus, dass auf anderen Stufen der Reizverarbeitung als der im visuellen System ein kognitiver Einfluss möglich ist. Erstens kann die Fähigkeit, den Fokus der Aufmerksamheit auszurichten, für viele Situationen erlernt werden, und zweitens ist sicherlich die perzeptuelle Klassifikation von Lernprozessen und früherer Erfahrung abhängig. Durch den ersten Einfluss – auf die Ausrichtung des Fokus – können sich in derselben Situation natürlich unterschiedliche Wahrnehmungen ergeben. So kann es kommen, dass der eine etwas wahrnimmt, das dem anderen entgeht, oder dass mehrdeutige Figuren wie der Hasen-Enten-Kopf, der Neckerwürfel oder das Bild der alten bzw. jungen Frau unterschiedlich erscheinen.23 (Siehe Abb. 3.1, 3.2 u. 3.3.) Aber auch aus einem Einfluss von Lernprozessen auf die Ausrichtung der Aufmerksamkeit kann sich letztlich keine Theorieabhängigkeit ergeben. Auch wenn man mit einer solchen, eventuell theoretisch geleiteten Ausbildung leichter zu den Stimuli kommt, die in einer bestimmten 22 23

Vgl. Pylyshyn (1999), 357. Vgl. Pylyshyn (1999), 358.

210

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Situation für die Wahrnehmung wichtig sind, kann man diese Reize auch ohne Ausbildung erhalten. Der Input bestimmter Stimuli hängt letztlich nicht von einem theoretischen Hintergrund ab.24 Ob die zweite Art kognitiver Einflüsse – auf die perzeptuellen Klassifikationen – zu einer Theorieabhängigkeit der Wahrnehmungen führt, werde ich jetzt ausführlich untersuchen. 3. Fähigkeiten perzeptueller Klassifikation a) Theorieunabhängigkeit und Zuverlässigkeit von Klassifikationsfähigkeiten Perzeptuelle Erfahrungen schließen Klassifikationen gemäß alltäglichen oder wissenschaftlichen perzeptuellen Kategorien ein. Wenn man mit Pylyshyn von der Modularität des visuellen Systems ausgeht, müssen die Fähigkeiten zu perzeptueller Klassifikation im Anschluss an die Ergebnisse der visuellen Verarbeitung der Reize operieren. Dann operieren diese Fähigkeiten auf der Grundlage einer Repräsentation bestimmter Eigenschaften wie Form, räumliche Lage, Farbe, Bewegung etc. – der modular repräsentierbaren Eigenschaften. Für eine Identifikation vieler alltäglicher Eigenschaften, Arten oder Individuen muss man sicherlich spezifisches Wissen verwenden. Man kann eine Person nur erkennen, wenn man charakterisierende Merkmale kennt. Genauso kann man eine Amsel nur als Amsel sehen, wenn in die visuelle Verarbeitung Wissen über typische Amseleigenschaften einfließen. Solches Arten- oder Individuen-spezifisches Wissen bleibt oft so implizit wie die Fähigkeiten perzeptuellen Klassifizierens. Man kann aus der Klassifikation der Arten oder Individuen in der Erfahrung auf die Fähigkeiten und auf zugrunde liegendes Wissen schließen.25 Die Zuverlässigkeit von Wahrnehmungen hängt dann zentral an der Zuverlässigkeit der Klassifikationsfähigkeiten. In diesem Unterabschnitt ist zum einen zu fragen, unter welchen Bedingungen eine Klassifikationsfähigkeit als zuverlässig aufzufassen ist. Zum anderen muss geklärt werden, wann eine solche zuverlässige Klassifikationsfähigkeit als theorieunabhängig gelten kann. In den nächsten Unterabschnitten werde ich dann untersuchen, ob solche Klassifikationsfähigkeiten in unserer Welt und für uns möglich sind und von uns eingesetzt werden. 24 25

Vgl. Fodor (1988), 191. Für die Theorieabhängigkeit und -unabhängigkeit ändert sich nichts Wesentliches, wenn die Klassifikationen explizit ablaufen, etwa auf der Grundlage bewusst wahrgenommener Eigenschaften. Wer zum ersten Mal eine Amsel sieht, kann etwa mit Hilfe expliziten Wissens aus einem Vogelbestimmungsbuch und auf der Grundlage von Wahrnehmungen der Form, Farbe und Bewegung des Vogels diesen als Amsel erkennen.

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Damit man über eine zuverlässige klassifikatorische Fähigkeit etwa für eine Vogelart verfügt, muss man die Exemplare keineswegs unter allen möglichen Umständen als solche erkennen und von anderen Arten unterscheiden können. Für erkenntnistheoretische Zwecke reicht es aus, wenn die Zuordnung in unserer gewöhnlichen Umgebung funktioniert. Es mag einen Freizeitpark geben, in dem eine Nachbildung des Markusplatzes von Venedig mit Taubenrobotern bestückt wird. Unsere alltägliche Fähigkeit, Tauben als solche zu erkennen, würde durch diese Taubenroboter irregeleitet und wäre damit im Freizeitpark unzuverlässig. Dies stellt aber nicht die epistemische Nützlichkeit der Fähigkeit für unsere gewöhnliche Umgebung in Frage. In unserer Fußgängerzone und im Vorgarten kommen Taubenroboter nicht vor. Deshalb reicht die Fähigkeit für den relevanten Kontext – hier unseren Alltag – aus epistemologischer Sicht völlig aus.26 Man kann nachschieben, dass die Klassifikationsfähigkeit auch dann brauchbar bleibt, wenn sich einige wenige Taubenroboter aus dem Freizeitpark in unsere gewöhnliche Umgebung verirren. Eine Klassifikationsfähigkeit für Tauben arbeitet für unseren Alltag auch zuverlässig genug, wenn sie die weit überwiegende Zahl von Tauben als solche erkennt und nur wenige NichtTauben als Tauben klassifiziert. Hierbei muss man zwischen zwei Hinsichten unterscheiden, die mit einer Klassifikation von Dingen als F verbunden sind. Zum ersten werden die Dinge hinsichtlich Art, Eigenschaft oder Identität als gleich zu und verschieden von anderen Dingen klassifiziert. Damit werden die Objekte eines Bereichs Äquivalenzklassen zugeordnet, und eine perzeptuelle Fähigkeit hierzu führt zu Repräsentationen der Objekte als gleich oder verschieden. Zum zweiten klassifiziert man die Objekte als von bestimmter Art, als unter einen bestimmten Begriff fallend – etwa den Begriff der Taube. Hierzu ist es aber notwendig, dass man über diesen Begriff auch verfügt. Die Theorieabhängigkeit der Klassifikation muss letztlich in beiden Hinsichten untersucht werden. Die mögliche Theorieabhängigkeit von Begriffsbesitz bereitet aber Probleme, die ich auf Abschnitt 4 verschieben möchte. Daher werde ich in diesem Abschnitt Klassifikationsfähigkeiten nur als Fähigkeiten, Objekte als gleich oder verschieden zu repräsentieren, betrachten. Perzeptuelle Klassifikationsfähigkeiten gelten demnach lokal als zuverlässig, wenn sie in der relevanten Umgebung ziemlich genau die richtigen Dinge als gleich oder verschieden repräsentieren. Im Allgemeinen gilt, dass eine Klassifikationsfähigkeit theorieunabhängig ist, wenn man unabhängig von theoretischen Hintergründen über sie verfü26

Vgl. Goldman (1977) u. Brown (1998), 288-292.

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gen und sie einsetzen kann. Klassifikationsfähigkeiten sind nicht stark theorieabhängig, wenn es nicht mit den theoretischen Hintergründen variiert, über welche Fähigkeiten man verfügt oder welche man einsetzt. Sie sind nicht schwach theorieabhängig, wenn Besitz und Verwendung überhaupt keinen theoretischen Hintergrund voraussetzen. Können lokal zuverlässige Klassifikationsfähigkeiten, die auf der Basis modular repräsentierbarer Eigenschaften operieren, theorieunabhängig sein? Wie gesagt, setzen solche Fähigkeiten Wissen über die repräsentierten Individuen, Arten oder Eigenschaften voraus, das in der Regel stillschweigend ist. Allerdings braucht dieses Wissen nicht theoretisch oder theorieabhängig zu sein. Das eingesetzte Wissen wäre in relevanter Weise theoretisch, wenn es Teil einer Theorie wäre. Es wäre zudem theorieabhängig, wenn das Verfügen über dieses Wissen selbst von Theorien abhinge, beispielsweise wenn das Besitzen des Wissens das Glauben einer Theorie voraussetzt oder dadurch unmöglich gemacht wird. Theorien kann man aber dadurch minimal charakterisieren, dass sie eine Taxonomie von Dingen in einem Bereich implizieren oder gegenüber Phänomenen in diesem Bereich Erklärungskraft besitzen. Solche Erklärungskraft ergibt sich grob gesagt, wenn die Theorien generelle notwendige Zusammenhänge, insbesondere kausale und konstitutorische, postulieren und die Einordnung von Phänomenen in diese Zusammenhänge möglich machen. (Vgl. Kap. 4, Abschn. 3a.) Eine lokal zuverlässige Fähigkeit zur Klassifikation als gleich oder verschieden muss aber nicht auf solchermaßen theoretisches oder theorieabhängiges Wissen zurückgreifen. Es kann die Annahme genügen, dass die weitaus meisten hier vorkommenden Exemplare einer Art (und weitgehend nur diese) eine Reihe von Merkmalen E1 bis En besitzen – etwa dass Tauben und nur Tauben eine bestimmte Form und Bewegungsweise haben. Wenn die Eigenschaften E1 bis En aber nicht zentral dafür sind, dass etwas zur Art gehört, trägt die Annahme nicht zu einer theoretischen Taxonomie der Objekte bei. Beispielsweise besagt das Wissen über das typische Aussehen von Tauben nichts über eine theoretische Taxonomie von Vogelarten, die sich vermutlich an der genauen Morphologie, an gemeinsamer Abstammung, genetischer Ähnlichkeit oder freier Kreuzung festmachen würde. Die Annahme trägt aber offensichtlich auch nichts zu notwendigen Generalisierungen und damit zu explanatorischen Theorien über Tauben, Vögel oder Lebewesen im Allgemeinen bei. Sie ist daher nicht theoretisch. Auch das Verfügen über die Annahme braucht nicht theorieabhängig zu sein. Es wäre denkbar, dass man sie macht, ohne dass man über eine Theorie für Tauben oder Vögel verfügt; und es ist sogar vorstellbar, dass sie still-

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schweigend in eine Klassifikation einfließt, obwohl sie explizit und bewusst vertretenen Theorien widerspricht. Daher könnten das Wissen, das in die Klassifikationsfähigkeit einfließt, und damit auch die Klassifikationsfähigkeit selbst vollkommen theorieunabhängig sein. b) Die beobachterfreundliche Welt Diese Möglichkeit von theorieunabhängigen und dennoch zuverlässigen Klassifikationsfähigkeiten besteht besonders dann, wenn Arten, Eigenschaften oder Individuen beobachterfreundlich sind. Die Idee der Beobachterfreundlichkeit lässt sich auf der Grundlage der modularen Theorie des Sehens explizieren. Eine Art soll als beobachterfreundlich gelten, wenn eine Klassifikationsfähigkeit für sie möglich ist, die nur auf der Grundlage der modular repräsentierbaren Eigenschaften operiert und in der relevanten gewöhnlichen Umgebung zuverlässig ist. Dies ist gegeben, wenn es für die Art F eine Anzahl von Eigenschaften E1 bis En gibt, die durch unser Wahrnehmungssystem modular repräsentierbar sind, und etwas in unserer gewöhnlichen Umgebung ziemlich genau dann ein F ist, wenn es die Eigenschaften E1 bis En besitzt. Denn dann kann eine Zuordnung allein auf der Basis modular repräsentierter Eigenschaften der Arten lokal zuverlässig sein. Diese Bedingungen für Beobachterfreundlichkeit kann man mindestens in zwei Hinsichten verfeinern. Erstens dürfte man von Instanzen von F wohl nicht die strikte Instanziierung aller Eigenschaften E1 bis En verlangen, sondern nur die Instanziierung einer gewichteten Mindestanzahl von Eigenschaften, die für die Art charakteristisch sind. So wird es möglich, dass auch Arten, die durch Familienähnlichkeit gebildet werden oder die sich in Familienähnlichkeit der modular repräsentierbaren Eigenschaften ausdrücken, beobachterfreundlich sind. Zweitens ist für epistemische Zwecke wohl nicht notwendig, dass Arten aufgrund einer intrinsischen Menge Art-typischer Eigenschaften auszumachen sind. Es reicht, wenn die Arten sich so in einer Anzahl von typischen Eigenschaften ausdrücken, dass die Exemplare von Exemplaren relevanter anderer Arten der gewöhnlichen Umgebung unterscheidbar sind.27 Beide Überlegungen lassen sich vielleicht am besten durch die Idee eines modularen Prototypen für die Arten ausdrücken. Der modulare Prototyp für Tauben ist ein Ding, welches die für Tauben prototypischen Eigenschaften, sofern sie modular repräsentierbar sind, am besten instanziiert. Demnach sind Arten unserer gewöhnlichen Umgebung beobachterfreundlich genau dann,

27

Vgl. Goldman (1977).

214

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wenn die Artzugehörigkeit in der weit überwiegenden Zahl der Fälle der größten Nähe zu den modularen Prototypen der relevanten Arten folgt. (Im Folgenden werde ich aber der Einfachheit halber in der Regel auf die einfachere Bestimmung der Beobachterfreundlichkeit als Möglichkeit der Zuordnung auf der Grundlage der Eigenschaften E1 bis En zurückgreifen. Die Fassung des Begriffs durch modulare Prototypen ist hierbei mit gemeint.) So zeigt sich, dass viele alltägliche Arten, Eigenschaften und Individuen beobachterfreundlich sind. So gilt für die Vogelarten, die sich im Vorgarten tummeln – etwa Amseln, Sperlinge, Tauben, Rotkehlchen, Elstern, Grünfinken usw. –, dass Exemplare dieser Arten aufgrund von Form, Farbe und Bewegung meist zuverlässig als gleich und verschieden klassifiziert werden können. Unsere Amseln haben eine charakteristische Form, schwarzes oder graues Gefieder, springen in typischer Weise durchs Gras oder flattern weg. Aufgrund dieser Merkmale können wir sie in der Regel eindeutig als solche erkennen und von anderen Arten unterscheiden. Das gilt nicht nur für Vögel, auch andere Tierarten (Kühe, Schafe, Ziegen, Schäferhunde, Kaninchen ...), viele Pflanzen (Linde, Buche, Eiche, Fichte, Kiefer ...), Substanzen und Materialien (Metalle, Plastik, Papier, Holz, Beton, Granit, Marmor, Asphalt ...), Flüssigkeiten (Wasser, Milch, Öl ...), Früchte, geographische, meteorologische und geologische Formationen, Himmelskörper (Sonne, Mond), usw. und natürlich Personen. Der Bereich der Welt, der für direkte Wahrnehmungen beobachterfreundlich ist, umfasst einen großen Teil der alltagsrelevanten Welt eingeschlossen viele menschliche Artefakte wie Autos oder Straßenschilder und einen guten Teil der natürlichen Welt, insbesondere der Bereiche der Biologie, Geologie und Chemie, aber auch der Astronomie und Physik. Damit ergibt sich jetzt ein grobes Bild davon, wie Fähigkeiten perzeptueller Klassifikation für viele Eigenschaften, Arten und Individuen theorieunabhängig möglich sein könnten. Die Reizverarbeitung im visuellen System führt zu einer Repräsentation modularer Eigenschaften der Objekte. Darauf greifen die perzeptuellen Klassifikationsfähigkeiten zu. In die Klassifikationen fließen Annahmen der Art „Dinge mit den modularen Eigenschaften E1 bis En gehören zur selben Kategorie F“ ein, die selbst weder theoretisch noch theorieabhängig sind. (Siehe Abb. 7.2.) Auf solche Weise sind für beobachterfreundliche Eigenschaften, Arten und Individuen lokal zuverlässige Klassifikationen erreichbar. Charakteristisch für dieses Bild ist die Unterscheidung zwischen den Eigenschaften, auf deren Basis die Klassifikation stattfindet, und der Eigenschaft (Art, etc.), als die besitzend das Objekt repräsentiert wird. Als Klassifikationsbasis sollen modulare Repräsentationen dienen. Hierfür sprechen die Umstände, unter denen wir uns mit perzeptuellen Klassifikationen täuschen.

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Papierblumen sehen für uns oft wie echte Blumen aus, sie sind in unserer Wahrnehmung als echte Blumen repräsentiert und klassifiziert. Eine Wachsfigur von Charly Chaplin kann uns wie Charly Chaplin erscheinen, eine PressSpanplatte, die mit einem imitierten Holzfurnier aus Plastik überzogen ist, sieht wie ein massives Brett aus. Jedesmal teilen sich echte Instanzen und Imitate modular repräsentierbare Eigenschaften. Wir halten die Klassifikationen jeweils für täuschend, weil der Inhalt der Klassifikation – als was die Gegenstände in der Wahrnehmung klassifiziert werden – von dieser Klassifikationsbasis abweicht und alltägliche reichhaltige Kategorien umfasst. PROXIMALE REIZE Modulare Verarbeitung im perzeptuellen System

+ natural constraints

MODULARE REPRÄSENTATION DER OBJEKTE perzeptuelles Klassifizieren

+ implizite Annahmen über charakteristische modulare Eigenschaften

PERZEPTUELLE KLASSIFIKATION IN DER SINNESERFAHRUNG Abb. 7.2

Wie schon erwähnt, soll aber in diesem Abschnitt die Frage ausgeklammert werden, inwiefern der Besitz der Begriffe, als unter die fallend klassifiziert wird, theorieabhängig oder theorieunabhängig ist. Klassifikationsfähigkeiten sind daher nur darüber bestimmt, welche Zuordnung lokaler Objekte zu einer Äquivalenzklasse sie bewirken. Es handelt sich insofern nur um Fähigkeiten, lokale Objekte als gleich oder verschieden zu repräsentieren. Die Kategorie F, als zu der gehörend klassifiziert wird, ist als solche unbestimmt. Es ist aber wichtig festzuhalten, dass diese Kategorie von der Reihe der Eigenschaften E1 bis En, auf deren Basis klassifiziert wird, verschieden sein kann. Was spricht nun für dieses Bild und allgemeiner für die Theorieunabhängigkeit perzeptueller Klassifikationsfähigkeiten? Hier lassen sich die Umstände anführen, unter denen man Klassifikationsfähigkeiten erwerben kann.

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c) Der theorieunabhängige Erwerb klassifikatorischer Fähigkeiten Angenommen, ich sehe zum ersten Mal eine Bachstelze. Ich beobachte, wie der Vogel an einem Teich hin und her hüpft, wie er mit dem Schwanz wippt, kurz aufflattert und auf einen Stein, einen Ast, ins Gras springt. Schließlich fliegt er davon. Es ist wahrscheinlich, dass ich das nächste Mal, wenn ich eine Bachstelze sehe, sie nun auch als solche visuell erkenne: Ich sehe sie als einen Vogel derselben Art, die ich zum ersten Mal am Teich gesehen habe. Ich habe mit anderen Worten eine Fähigkeit zum Klassifizieren von Bachstelzen als zu dieser Art gehörend erworben. Ganz ähnlich kann es mir mit Litschi ergehen. Wenn ich zum ersten Mal einige Litschi sehe, sie in die Hand nehme, sie schäle und esse, ist es wahrscheinlich, dass ich beim nächsten Sehen von Litschi sie unmittelbar als Früchte derselben Sorte erkenne. Man kann offenbar perzeptuelle Fähigkeiten zum Erkennen von Arten oft sehr leicht erwerben, indem man einfach einige (oder ein einziges) Exemplar der Art eine Zeit lang mit einiger Ausführlichkeit beobachtet oder damit hantiert. Man braucht demnach keine Theorie darüber, was man eigentlich wahrnimmt, der Erwerb klassifikatorischer Fähigkeiten ist nicht schwach theorieabhängig. Auch eine falsche Theorie über die wahrgenommenen Objekte verhindert den Erwerb der Fähigkeit nicht. Angenommen, ich habe vage davon gehört, dass es eine neue Art von Süßigkeiten gibt. In dem Moment, in dem ich zum ersten Mal eine Litschi sehe, schließe ich leichtfertig, dass das da vor mir diese Süßigkeit ist, die aus einer Mischung aus Zucker, Wasser, Gelatine und künstlichen Aromen produziert wird. Dennoch kann ich auf die beschriebene Weise eine Fähigkeit zum Klassifizieren von Litschi erwerben. Ich werde in unserer gewöhnlichen Umgebung, in der alle Litschi und nur Litschi wie Litschi aussehen, alle Litschi als gleich und als verschieden von anderen Früchten und von Süßigkeiten klassifizieren. Eine Theorie über das Wahrgenommene braucht daher keinen Einfluss auf die erworbene Klassifikationsfähigkeit auszuüben. Demnach ist es auch zu erwarten, dass man vor verschiedenen theoretischen Hintergründen gleiche Klassifikationsfähigkeiten erwirbt. Angenommen, Paul glaubt, dass Litschi und Gummibärchen ihrem Wesen nach von gleicher Art sind. Dennoch muss er für die beiden Ausprägungen der Art unabhängige Klassifikationsfähigkeiten erwerben. Wenn er bisher die LitschiVarianten noch nie gesehen hat, kann er sie auch nicht erkennen, auch wenn er Gummibärchen als solche erkennt. Paula glaubt dagegen, dass die Dinge, die wie Litschi aussehen, tatsächlich zwei verschiedenen Arten zugehören. Es soll demnach chinesische Litschi geben, die als Früchte am Baum wachsen, und deutsche, die auf den Produk-

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tionsbändern der Lebensmittelindustrie entstehen. Wenn sie zum ersten Mal Litschi sieht, kann sie aber nur die Klassifikationsfähigkeit erwerben, die alle Litschi als gleich oder verschieden klassifiziert – unabhängig davon, ob sie die Musterexemplare für chinesische oder deutsche Litschi hält. Angenommen, sie hält die Musterexemplare für deutsch. Dann werden ihr alle anderen Litschi visuell als von gleicher Nationalität vorkommen. Obwohl Paul und Paula daher ganz unterschiedliche Auffassungen von den Objekten und insbesondere dem Ausmaß haben, in dem sie gleich und verschieden sind, können sie doch nur bestimmte Klassifikationsfähigkeiten erwerben – eben diejenigen, die man auch ohne Theorie erwirbt. Der Erwerb dieser Fähigkeiten ist demnach auch nicht stark theorieabhängig. Dieser Befund zu den Möglichkeiten des Erwerbs klassifikatorischer Fähigkeiten steht im Gegensatz zur Lernweise, die Kuhn beschreibt.28 Kuhn zufolge kann man Klassifikationsfähigkeiten nur erwerben, wenn die eigenen Klassifikationsversuche durch eine theoretisch geprägte Gemeinschaft kontrolliert und korrigiert werden. Demnach hängt es von diesem theoretischen Hintergrund ab, sowohl ob man eine solche Fähigkeit, als auch welche Fähigkeit man erwirbt. Die gegebenen Beispiele zeigen aber, dass beides falsch ist. Vielmehr können wir über theorieunabhängige Klassifikationsfähigkeiten für beobachterfreundliche Eigenschaften, Arten und Individuen verfügen, die in unserer gewöhnlichen Umgebung zuverlässig sind. Hierfür gibt es weitere Belege. d) Weitere Belege für die Theorieunabhängigkeit Wenn Klassifikationsfähigkeiten für einen beobachterfreundlichen Bereich nicht schwach theorieabhängig sind, setzt der Besitz dieser Fähigkeiten keine Theorie über den Bereich voraus. Es ist dann zu erwarten, dass Gemeinschaften, die keine Theorie über den Bereich haben, ihn dennoch zuverlässig richtig unterteilen – und damit weitgehend so unterteilen, wie es wissenschaftliche Gemeinschaften tun, die theoretisch tragfähige Unterscheidungen treffen. Die vorwissenschaftliche und die wissenschaftliche Taxonomie sollten weitgehend übereinkommen. Einen besonders bemerkenswerten Beleg hierfür liefert die anthropologische Forschung zur Alltagsbiologie, d.h. zu den im Alltag verbreiteten Annahmen und Kategorien der biologischen Welt. Brent Berlin hat die alltagsbiologischen Klassifikationen der Tzeltal, einer Gruppe von Maya-Indianern, mit denen der wissenschaftlichen Systematik der Biologie verglichen.29 28 29

Siehe Kuhn (1974) und Kap. 3, Abschn. 4b(iii). Siehe Berlin (1973); vgl. auch Berlin (1999).

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Insbesondere auf der alltagsbiologischen Ebene der ‚generischen Arten‘, die in ihrer Allgemeinheit ungefähr der wissenschaftlichen Ebene der Spezies entspricht, findet sich eine weitgehende Übereinstimmung zwischen wissenschaftlichen und alltäglichen Klassifikationen. Von 471 generischen Pflanzenarten, die bei den Tzeltal allgemein bekannt sind, entsprechen 291 direkt wissenschaftlichen Spezies, soweit sie in der Umgebung der Tzeltal vorkommen. 98 weitere Tzeltal-Arten korrespondieren zwar mehreren wissenschaftlichen Spezies, die aber jeweils zur selben wissenschaftlichen Gattung gehören. In diesen Fällen entspricht die Alltagsart daher einer wissenschaftlichen Kategorie, die Wissenschaft unterteilt Spezies hier aber feiner. Nur in 82 Fällen entspricht der Alltagsklassifikation keine lokalisierte wissenschaftliche Kategorie, entweder weil im Alltag feiner unterschieden wird oder weil wissenschaftlich gesehen disparate Pflanzen in einer Kategorie zusammengefasst werden. In über 80% der Fälle stimmt daher die alltägliche Kategorisierung mit der wissenschaftlichen Systematik überein. Die wissenschaftliche Systematik wird aber vor dem Hintergrund einer ausgefeilten biologischen Theorie und Methodologie zur Entstehung, Identität und Verwandtschaft von Arten entwickelt. Ein solcher Hintergrund fehlt der Alltagsbiologie völlig. Die weitgehende Übereinstimmung zeigt, dass wir schon vorwissenschaftlich über Klassifikationsfähigkeiten verfügen, die sich auch nach wissenschaftlichen Standards in weiten Teilen als zuverlässig erweisen. Dann können diese Klassifikationsfähigkeiten aber auch für schon entwickelte Wissenschaften epistemisch bedeutsam sein. Denn wenn sie vor verschiedenen theoretischen Hintergründen gleichermaßen verfügbar sind, können sie zur empirischen Entscheidung zwischen konkurrierenden Theorien beitragen. In der Wissenschaftsgeschichte gibt es vielfältige Belege für eine solche Konstanz von Klassifikationsfähigkeiten über theoretische Unterschiede hinweg. So ist es offensichtlich, dass die Identifikation von Himmelskörpern wie dem Mond oder der Sonne vor völlig verschiedenen theoretischen Hintergründen einmütig vorgenommen wird. Die theoretischen Auffassungen darüber, worum es sich jeweils handelt – etwa Planet oder Satellit –, haben keinen Einfluss auf die Fähigkeit, den Mond in der Wahrnehmung als solchen zu erkennen und als denjenigen zu identifizieren, den man zu anderen Gelegenheiten schon gesehen hat. Ganz ähnliche Konstanzen finden sich in vielen anderen Bereichen, etwa bei der Klassifikation von Gesteinsarten in der Geologie. So gab es zwar lange Zeit grundlegende Meinungsverschiedenheiten über die Entstehungsweise und das Alter etwa des Gneis. Werner hielt ihn für das zweitälteste, aus dem Urozean auskristallisierte Mineral. Lyell fasste ihn dagegen als metamorphes Gestein auf, das zu verschiedenen erdgeschichtlichen Perioden unter Hitze und Druck, aber ohne

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vollständiges Schmelzen entstanden sein konnte. Dabei war es aber unstrittig, über welche Gesteinsart man verschiedener theoretischer Auffassung war. Offenbar gab es keine theoriebedingten Schwierigkeiten, Gneis als solchen zu identifizieren. In der Chemie schließlich zeigt sich im Umfeld der chemischen Revolution die Konstanz klassifikatorischer Fähigkeiten. Kuhn betont die Diskontinuität, wenn er schreibt: Lavoisier [musste] ... seine Anschauung von vielen ... [vertrauten] Stoffen ändern. Er musste beispielsweise ein zusammengesetztes Erz sehen, wo Priestley und seine Zeitgenossen eine elementare Erde gesehen hatten. (Kuhn 1962, 130)

Aber Kuhn übergeht hier die Kontinuität der Klassifikationsfähigkeiten über theoretische Differenzen und mögliche begriffliche Veränderungen hinweg. Obwohl es sehr unterschiedliche Auffassungen etwa über die Natur von metallischem Quecksilber und mercurius calcinatus, dem roten Quecksilberoxid, gab, brauchte die Identifikation dieser Substanzen nicht problematisch zu sein. Man kann wissen, wie mercurius calcinatus und metallisches Quecksilber üblicherweise aussehen – man kann über lokal verlässliche Klassifikationsfähigkeiten für die Substanzen verfügen – unabhängig davon, welcher Theorie man anhängt. Damit kann man aber beispielsweise theorieunabhängig beobachten, dass sich mercurius calcinatus beim Erhitzen in metallisches Quecksilber umwandelt, ohne dass man Holzkohle zugeben muss. Dass diese Reaktion möglich ist, brachte die Phlogistontheorie aber in erhebliche Bedrängnis. Zuverlässige Klassifikationsfähigkeiten ermöglichen auf solche Weise theorieunabhängige empirische Befunde, die für konkurrierende Theorien evidenziell höchst bedeutsam sind.30 In allen geschilderten Fällen theorieunabhängiger Klassifikationsfähigkeiten scheint es sich um Arten, Eigenschaften oder Individuen zu handeln, die vermutlich im oben bestimmten Sinn beobachterfreundlich sind. Dies spricht dafür, dass die Theorieunabhängigkeit auf dem dargestellten Zusammenspiel von modularer Reizverarbeitung und empirischem Erwerb impliziten klassifikatorischen Wissens beruht. Demnach ist das Wissen, das in solche Klassifikationsfähigkeiten einfließt, weder theoretisch noch theorieabhängig. Aber auch wenn man die modulare Theorie des Sehens nicht voraussetzt und damit das detaillierte Bild nicht teilt, zeigen die angeführten Befunde, dass viele Klassifikationsfähigkeiten und damit die in den unmittelbaren Erfahrungen enthaltenen Klassifikationen gemäß alltäglichen und wissenschaftlichen Kategorien weitreichend theorieunabhängig sind. 30

Vgl. auch meine kritische Einschätzung anderer Kuhn’scher Fälle aus der Wissenschaftsgeschichte in Kap. 3, Abschn. 4b(iv).

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Theoriebeladenheit und Objektivität

4. Zur Semantik von Beobachtungsausdrücken Perzeptuelle Klassifikationsfähigkeiten wurden bisher im Sinne der Fähigkeiten verstanden, Objekte als gleich oder verschieden zu repräsentieren. Allerdings werden in der Wahrnehmung Objekte auch als von bestimmter Art (als Rotkehlchen), mit bestimmten Eigenschaften (als herzförmig) oder von bestimmter Identität (als die Sonne) klassifiziert. Die Objekte werden so begrifflich bestimmt. Dieser begriffliche Inhalt von Wahrnehmungen kann oft durch einen entsprechenden Beobachtungssatz ausgedrückt werden. Es stellt sich die Frage, ob auch diese Inhalte theorieunabhängig sein können, oder ob man davon ausgehen muss, dass man nur vor einem geeigneten theoretischen Hintergrund über diese Begriffe verfügen kann oder Ausdrücke die entsprechende Bedeutung haben können. Damit greife ich die Überlegungen auf, die in Kapitel 4 zur semantischen Theorieabhängigkeit diskutiert wurden. Feyerabend und Churchland begründen die Theorieabhängigkeit von Beobachtungen insbesondere damit, dass ihrer Ansicht nach eine Netzwerk-Semantik die plausibelste semantische Theorie für Beobachtungsausdrücke ist. In Kapitel 4 wurde nicht nur gezeigt, dass diese Annahme fatale Konsequenzen für die Objektivität von Beobachtungen hat. Es wurde auch klar, dass Feyerabends und Churchlands Argumentation für die Netzwerk-Semantik von Beobachtungsausdrücken sehr schwach ist. Ihr erstes Hauptargument, das Argument von der Semantik theoretischer Ausdrücke (siehe Kap. 4, Abschn. 3b), krankt daran, dass es nicht zwingend ist anzunehmen, dass die Bedeutung aller wissenschaftlichen Ausdrücke auf dieselbe Weise festgelegt wird. Auch wenn man akzeptiert, dass eine Netzwerk-Semantik für viele theoretische Ausdrücke angemessen ist, können Feyerabend und Churchland nicht überzeugend darlegen, dass dann auch Beobachtungsausdrücke ihre Bedeutung durch ein Netzwerk theoretischer Annahmen erhalten müssen. Im zweiten zentralen Argument, dem Ausschlussargument (Kap. 4, Abschn. 3c), werden zwei alternative semantische Konzeptionen – dass die Bedeutung durch Empfindungsqualitäten bzw. durch kausale Verknüpfungen mit Eigenschaften festgelegt wird –, zurückgewiesen. Aber auch wenn man dieser Zurückweisung folgt, bleibt das Argument anfällig gegenüber der Präsentation einer weiteren, alternativen semantischen Theorie für Beobachtungsausdrücke. Ich werde hier anknüpfen und argumentieren, dass man davon ausgehen muss, dass Beobachtungsausdrücke auf eine bisher unberücksichtigte Weise ihre Bedeutung bekommen können. Diese Weise der Festlegung der Inhalte ermöglicht es, dass eine Gemeinschaft unabhängig von einem theoretischen Hintergrund über Ausdrücke bzw. Begriffe für beobachterfreundliche Arten verfügt.

7. Theorieunabhängige perzeptuelle Beobachtungen

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Allerdings werde ich in diesem Abschnitt keine umfassende semantische Theorie für Beobachtungsausdrücke formulieren. Zum einen möchte ich hier nur argumentieren, dass eine Menge von Bedingungen hinreichend für Bedeutung bzw. Begriffsbesitz ist. Es ist damit nicht die Behauptung verbunden, dass damit die einzige mögliche Fundierung der Bedeutung von Beobachtungsausdrücken angegeben ist. Es kann durchaus weitere, ebenfalls hinreichende Faktoren für die Bedeutungsfestlegung geben. Zum anderen werde ich nicht anstreben, die Bedeutung von Ausdrücken auf eindeutig nicht-semantische Eigenschaften zurückzuführen. Vielmehr werden insbesondere Klassifikationsfähigkeiten und auch bestimmte Absichten oder Urteilsdispositionen zu den angegebenen Bedingungen gehören. Beide Einschränkungen des Anspruchs sind aber mit dem Argumentationsziel vereinbar. Die Bedeutung eines Ausdrucks ist schon dann theorieunabhängig, wenn eine Gemeinschaft auch ohne theoretischen Hintergrund oder vor verschiedenen theoretischen Hintergründen über den Ausdruck mit dieser Bedeutung verfügen kann. Dies ist gegeben, wenn es theorieunabhängige Faktoren gibt, die zusammen hinreichend für die Festlegung der Bedeutung sind. Es ist in diesem Zusammenhang weder notwendig, dass diese Faktoren selbst aus einem bestimmten ontologischen, etwa naturalisierten Bereich, stammen, noch dass dies die einzigen Faktoren sind, die dem Ausdruck eine solche Bedeutung verschaffen können. Bekanntermaßen haben insbesondere Saul Kripke und Hilary Putnam dafür argumentiert, dass auch solche Gemeinschaften über Ausdrücke insbesondere für natürliche Arten verfügen können, die noch keine oder nur radikal falsche wissenschaftliche Theorien über die Arten besitzen.31 Nach Kripke und Putnam kann die Bedeutung (Intension) für Art-Ausdrücke in zwei Schritten festgelegt werden. Zum ersten greift man auf irgendeine Weise ein Muster oder eine Menge von Mustern der Art heraus. Man zeigt beispielsweise auf ein Exemplar oder eine Reihe von Exemplaren oder benutzt eine Beschreibung, die auf einige Exemplare zutrifft. Zum zweiten wird durch eine objektive Ähnlichkeitsrelation zwischen den Exemplaren (oder den meisten Exemplaren) und anderen Gegenständen (auch in anderen möglichen Welten) eine Intension festgelegt. Im Fall von Gold könnte die Mustermenge beispielsweise in den Substanzen bestehen, die eine Gemeinschaft als ‚Gold‘ bezeichnet. Die Intension umfasst dann alle Substanzen derselben Natur, etwa alle Atome derselben Ordnungszahl. Es ist nun nahe liegend anzunehmen, dass ein solches Verfahren der Bedeutungsfestlegung für all diejenigen Arten, Eigenschaften und Individuen 31

Siehe Kripke (1980), Kap. III; Putnam (1975b).

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Theoriebeladenheit und Objektivität

funktionieren kann, für die wir lokal zuverlässige Klassifikationsfähigkeiten besitzen. Diese Idee wurde insbesondere von Jessica Brown ausgearbeitet, und die folgenden Ausführungen greifen einige Merkmale dieser Ausarbeitung auf.32 Für die gegenwärtigen Belange sind insbesondere theorieunabhängige Klassifikationsfähigkeiten von Interesse, da dann auch die Fähigkeiten selbst kein theoretisches oder theorieabhängiges Wissen voraussetzen. Wie gezeigt, sind solche Fähigkeiten für beobachterfreundliche Arten möglich. Kann damit auch die Bedeutung von Beobachtungsausdrücken (der Besitz von Begriffen) festgelegt werden? Angenommen, wir haben eine verlässliche, theorieunabhängige Klassifikationsfähigkeit für eine in unserer Umgebung beobachterfreundliche Art erworben, beispielsweise für Bachstelzen. Wir führen einen Ausdruck in unsere Sprache ein – etwa „Teichhopser“ –, womit wir die Art, als zu der gehörend wir hier klassifizieren, bezeichnen wollen. Doch dann ist es zu erwarten, dass dieser Ausdruck tatsächlich die Art der Bachstelzen bezeichnet. Denn zum einen haben wir eine lokal verlässliche Fähigkeit, ziemlich genau die lokalen Exemplare der Art dem Ausdruck zuzuordnen, und wir gebrauchen den Ausdruck in Übereinstimmung mit dieser Klassifikation. Zum anderen ist die Zugehörigkeit zu dieser Art gerade dasjenige, was diese Exemplare zentral gemeinsam haben. Es ist daher zu erwarten, dass „Teichhopser“ erstens genau die Bachstelzen in unserer Umgebung bezeichnet. Auch einige wenige Bachstelzen in unserer Umgebung, die nicht Art-typisch springen, etwa weil sie einbeinig sind, und die unsere Klassifikationsfähigkeit daher nicht erfasst, werden demnach von „Teichhopser“ bezeichnet. Die wenigen Bachstelzen-Roboter, die aus dem fernen Land stammen, wo es sie als Teil eines Gartenteich-Bausatzes im Baumarkt zu kaufen gibt, fallen dagegen nicht in die Extension. Denn obwohl die lokalen Bachstelzen-Roboter zur Mustermenge gehören, die einbeinigen Bachstelzen aber nicht, sorgt die Bedingung der Artgleichheit mit der weit überwiegenden Mehrzahl der Musterexemplare dafür, dass die einen aus der Extension ausgeschlossen, die anderen dagegen hereingenommen werden. In gleicher Weise ist es zweitens zu erwarten, dass auch die Bachstelzen anderer, entfernter oder bloß möglicher Umgebungen von „Teichhopser“ bezeichnet werden. Man könnte einige Einwände dagegen vorbringen, dass „Teichhopser“ auf die beschriebene Weise theorieunabhängig als Artbezeichnung eingeführt 32

Siehe J. Brown (1998); Grundzüge der Idee finden sich schon bei Evans (1982), 382/383. Während aber Brown Klassifikationsfähigkeiten für notwendig hält, damit Bedeutung auf insgsamt Putnam’sche Weise festgelegt werden kann, will ich nur plausibel machen, dass sie hinreichen.

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werden kann. Erstens könnte man einwenden, dass durch die Art der Einführung gar nicht klar ist, was genau der Ausdruck bezeichnet. Es ist demnach fraglich, ob man einen Ausdruck für die Art der Bachstelzen erhält oder aber einen Ausdruck, der auf alles zutrifft, was wie die lokalen, klassifizierten Objekte aussieht. Die eingesetzte Klassifikationsfähigkeit operiert auf der Basis einer Reihe E1 bis En von theorieunabhängig repräsentierbaren Eigenschaften. Der alternativen Bedeutung zufolge bezeichnet unser eingeführter Ausdruck gerade alle diejenigen Objekte, die diese Eigenschaften besitzen. Demnach fallen alle Bachstelzen-Roboter in die Extension des Ausdrucks, die einbeinigen Bachstelzen dagegen nicht. Brown argumentiert hier, dass sich solche Ausdrücke dann eindeutig die Art und nicht das Aussehen (bzw. eine Reihe modular repräsentierbarer Eigenschaften) bezeichnen, wenn die Benutzer des Ausdrucks sich klar darüber sind, dass das Fallen unter den Ausdruck nicht am Aussehen, sondern an den grundlegenden Eigenschaften der Objekte liegt.33 Diese Annahme brauchen die Sprachbenutzer nicht explizit zu machen. Es soll ausreichen, dass sie bereit sind, ihre Urteile im Lichte von Informationen über die grundlegenden Eigenschaften zu revidieren. Auf unsere Fälle übertragen müssen Sprachbenutzer etwa eine Klassifikation eines Roboters als Teichhopser auf die Information hin als irrig zurücknehmen, dass dessen grundlegende Eigenschaften ganz andere sind als bei den weitaus meisten anderen klassifizierten Teichhopsern.34 Diese Anforderung ist aber plausiblerweise oft erfüllt. Auch wenn man einen wissenschaftlichen Ausdruck über eine Klassifikationsfähigkeit einführt, beabsichtigt man häufig nicht, damit die Klasse der Objekte mit den Eigenschaften der Klassifikationsbasis E1 bis En zu bezeichnen, sondern eine wissenschaftlich interessante Art oder Eigenschaft. Wissenschaftlich von Interesse sind aber Kategorien, über die gesetzesartige Verallgemeinerungen möglich sind, die in Erklärungen oder induktive Schlüsse eingehen können. Wenn man erfährt, dass ein zunächst als F klassifiziertes Objekt nicht in solcher Weise zu den weitaus meisten anderen, als Fs klassifizierten Dingen passt, ist es wissenschaftlich nur vernünftig, das Objekt nicht für ein F zu halten. Dann bezeichnet F aber nicht die Klassifikationsbasis, sondern eine davon verschiedene, wissenschaftlich interessante Art oder Eigenschaft. Doch diese Antwort auf den ersten Einwand legt einen zweiten Einwand bzw. eine kritische Frage nahe. Setzt das Verständnis dafür, dass die eingeführten Ausdrücke wissenschaftlich interessante Eigenschaften und Arten 33 34

Siehe Brown (1998), 286/287. Analoges gilt für Individuen. Vgl. Brown (1998), 287/288.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

bezeichnen, nicht theoretisches Wissen voraus? Müssen nicht die Sprecher etwa die grobe theoretische Kategorie kennen, der die Exemplare angehören sollen?35 Dem ist entgegenzuhalten, dass solches Wissen nicht notwendigerweise vorausgesetzt ist. Dies zeigt sich daran, dass es plausibel erscheint, dass eine eindeutige Extension in lokalen, entfernten und bloß möglichen Umgebungen auch dann herausgegriffen werden kann, wenn sich die Sprachgemeinschaft über die grundlegende Natur der Objekte irrt. Angenommen, die Teichhopser sind entgegen den Annahmen der Sprachgemeinschaft tatsächlich keine Vögel, sondern gefiederte Säugetiere. Dies ändert nichts daran, dass der über die Klassifikationsfähigkeiten eingeführte Ausdruck eben diese Art von Säugetieren bezeichnet. Wenn die Sprecher von diesem grundlegenden Merkmal erfahren, werden sie nicht zum Schluss kommen, dass es Teichhopser gar nicht gibt – dass die vielen bisher als Teichhopser klassifizierten Tiere gar keine sind –, sondern dass Teichhopser von einer anderen allgemeinen Art sind als angenommen. Die Referenz des Ausdrucks bleibt daher von den theoretischen Annahmen über die grobe Beschaffenheit der Objekte unabhängig, solange damit nur eine wissenschaftlich interessante Klasse herausgegriffen wird. Im Übrigen stellt sich für die Position, die im Einwand vorausgesetzt wird, ein gravierendes Problem. Wenn man davon ausgeht, dass die grobe theoretische Bestimmung einer Kategorie für die Festlegung der Referenz mitverantwortlich ist, wird unerklärlich, wie die Referenz einer sehr großen Anzahl von Eigenschafts- und Artbezeichnungen über viele Jahrhunderte offenbar stabil sein konnte, obwohl sich die theoretischen Annahmen bezüglich ihrer groben Beschaffenheit zum Teil radikal geändert haben. Eine Unmenge von Tierund Pflanzenbezeichnungen haben die Darwin’sche Revolution ohne gravierende Änderungen des Bezugs überstanden. Wechselnde geologische und mineralogische Theorien haben vielen Bezeichnungen für Gesteinsarten keine Referenzänderung gebracht. Und in der Chemie werden viele Trivialnamen oft ebenfalls schon sehr lange stabil über Änderungen theoretischer Auffassungen hinweg verwendet. Diese Stabilität erscheint für eine Semantik, die Referenz auf theoretische Annahmen gründet, unerklärlich. Vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen Möglichkeit der Bedeutungsfestlegung ist hingegen eine solche Stabilität in all jenen Fällen, in denen Arten, Eigenschaften oder Individuen beobachterfreundlich sind, gerade zu erwarten.36 35 36

Dies ist Hansons Auffassung. Siehe Kap. 3, Abschn. 4b(i). Auch Fälle, in denen eine leicht beobachtbare Klasse obsolet geworden ist – wie etwa ‚Hexe‘ (siehe Kap. 4, Abschn. 3c) –, sind durch die vorgeschlagene Semantik leicht zu erklären. In diesen Fällen hat sich herausgestellt, dass die als gleich klassifizierten Ob-

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Zudem schließt die vorgeschlagene Position eine semantische Rolle für theoretische Annahmen nicht aus. Verlässliche Klassifikationsfähigkeiten und objektives wissenschaftliches Interesse sind demnach zwar oft hinreichend dafür, dass eine Gemeinschaft über Ausdrücke für Arten, Eigenschaften und Individuen verfügt bzw. Begriffe für sie besitzt. Es ist jedoch denkbar, dass die Bedeutung der Ausdrücke überdeterminiert ist, so dass allein durch allgemeine theoretische Annahmen die Bedeutung ebenso festliegen würde wie durch Klassifikationsfähigkeiten. Aber eine solche theoretische KoFestlegung tut der Theorieunabhängigkeit der Bedeutung keinen Abbruch. Denn auch eine Gemeinschaft ohne theoretischen Hintergrund oder mit einem anderen Hintergrund könnte aufgrund der empirischen Bedeutungsfestlegung über Ausdrücke weitgehend derselben Bedeutung verfügen. Damit wird erklärbar, wodurch die Bedeutung des Temperaturvokabulars bei den Freunden des Wärmestoffs festgelegt wird.37 Diese Churchland’sche fiktive Gemeinschaft gebraucht das Vokabular der Wärmestofftheorie, etwa den Ausdruck „hat einen hohen Wärmestoffdruck“, in unmittelbarer Reaktion auf Temperaturempfindungen. Churchland zufolge wird die Bedeutung dieser Wahrnehmungsurteile durch eine alltäglich gewordene Wärmestofftheorie festgelegt. Wie auch Churchland zugesteht, ist zu erwarten, dass die Freunde des Wärmestoffs sich wenig beeindruckt von der Mitteilung zeigen, dass es Wärmestoff gar nicht gibt.38 Sie werden ihre Wahrnehmungsurteile weiterhin für zutreffend halten. Während aber Churchland diese Reaktion als Beleg dafür wertet, wie schwierig es ist, tief im Alltag und in der Wahrnehmung verankerte theoretische Irrtümer einzusehen und zu korrigieren, liegt jetzt eine ganz andere Erklärung auf der Hand. Die WärmestoffFreunde verfügen über verlässliche Fähigkeiten, verschiedene Temperaturen perzeptuell zu unterscheiden und zu klassifizieren. Diese Fähigkeiten bestimmen die Bedeutung ihrer Beobachtungsurteile. Unsere Mitteilung besagt daher nur, dass semantisch unbedeutende, wenn auch weit verbreitete Annahmen über das so Bezeichnete falsch sind. Sie berührt nicht die Wahrheit der Beobachtungsurteile. Insgesamt spricht somit Vieles dafür, dass – entgegen den in Kapitel 3 bis 5 diskutierten Gründen – direkte Wahrnehmungen vieler Eigenschaften, Arten und Individuen theorieunabhängig sind. Die Verarbeitung der Reize im

37 38

jekte tatsächlich durch keine wissenschaftlich interessante Gemeinsamkeit charakterisiert sind und insofern dem Ausdruck keine Referenz zukommt. Somit ist es der vorgeschlagenen Position zufolge semantisch möglich, dass Ausdrücke systematisch falsch angewendet werden. Siehe Kap. 4, Abschn. 3b(iii). Siehe Churchland (1979), 18-20.

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visuellen System ist aller Wahrscheinlichkeit nach modular; viele Arten, Eigenschaften und Individuen sind allein aufgrund der so repräsentierbaren Eigenschaften verlässlich klassifizierbar; und solche Klassifikationsfähigkeiten reichen für den Erwerb und den Besitz von entsprechenden Begriffen. Vor völlig verschiedenen theoretischen Hintergründen und auch völlig ohne einen solchen Hintergrund sind daher die gleichen perzeptuellen Klassifikationen und Wahrnehmungsurteile möglich. Wie schon gesehen, kann auch die wissenschaftliche Einschätzung der Verlässlichkeit solcher Wahrnehmungen nicht zu einer weit greifenden Theorieabhängigkeit führen. (Siehe Kap. 5, Abschn. 4b.) Denn direkte Wahrnehmungen gelten als prima facie glaubwürdig. Eine Theorie kann daher nur Einfluss auf die Einschätzung einer Wahrnehmung ausüben, indem auf ihrer Grundlage die Wahrnehmung als unzuverlässig eingeschätzt wird. Damit setzt sie sich aber in Widerspruch zu einem prima facie akzeptablen empirischen Befund. Eine Theorie, die insgesamt optimal empirisch bestätigt sein soll, kann keine große Anzahl solcher Befunde als unzuverlässig erklären. 5. Wahrnehmungen mit Hilfe von Instrumenten Neben direkten Wahrnehmungen zählen auch Beobachtungen mit Hilfe von Wahrnehmungsinstrumenten wie dem Lichtmikroskop und mit bildgebenden Verfahren wie der Computertomographie zu den perzeptuellen Beobachtungen. Der Grund hierfür ist, dass in allen Fällen charakteristische perzeptuelle Erkennensfähigkeiten dafür eingesetzt werden, um im Beobachtungsprozess zu einer ersten begrifflichen Repräsentation zu kommen. (Siehe Kap. 6, Abschn. 2a.) Es ist sinnvoll, für die Frage der Theorieabhängigkeit zwischen Beobachtungen mit Wahrnehmungsinstrumenten und mit bildgebenden Verfahren zu unterscheiden. Für die Unterscheidung kann man sich an zwei Merkmalen orientieren, wobei eine Reihe von Grenzfällen bleibt. Zum ersten nimmt man mit Hilfe eines Wahrnehmungsinstruments typischerweise primär wissenschaftliche Gegenstände und deren Eigenschaften wahr, bei bildgebenden Verfahren dagegen Bilder. Wenn man durch ein gewöhnliches Lichtmikroskop schaut, kann man damit beispielsweise ein Pantoffeltierchen sehen. Mit einem bildgebenden Verfahren wie der Computertomographie kann man dagegen beispielsweise einen Tumor auf einem Bild sehen. Etwas auf einem Bild zu sehen impliziert aber nicht, das Ding selbst – etwa mit Hilfe des Bildes – zu sehen. Ich kann eine Person auf einem Bild wahrnehmen, auch wenn sie schon gestorben ist und sie daher nicht wahrnehmbar ist. Bei Wahrnehmungsinstrumenten sieht man oft die wissenschaftlichen Gegenstände quasi ‚durch das Instrument hindurch‘.

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Zweitens ist bei bildgebenden Verfahren das Bild typischerweise Ergebnis einer digitalen Datenverarbeitung. In bildgebenden Verfahren werden oft Informationen über einzelne Punkte des abgebildeten Bereichs separat gewonnen und als solche symbolisch repräsentiert, diese Repräsentationen werden per Computer verarbeitet und die Pixel schließlich zu einem Bild zusammengesetzt. Beispielsweise gewinnt man in der Computertomographie Informationen über die Röntgenabsorption einzelner Volumenteile des Körpers, indem dieser schichtweise aus vielen Richtungen durchstrahlt wird. Die so gewonnenen Daten werden dann per Computer aufbereitet und zu einem Bild zusammengesetzt. Demgegenüber findet bei Wahrnehmungsinstrumenten in der Regel keine digitale, auf einzelne Bildpunkte bezogene Verarbeitung symbolischer Repräsentationen statt; vielmehr werden die Signale als ganze und durch bloße physikalische Komponenten (etwa Linsen, analoge Verstärker, etc.) verarbeitet. Wenn man so zwischen Wahrnehmungsinstrumenten und bildgebenden Verfahren unterscheidet, führt dies zu einigen Grenzfällen. Gewöhnliche Röntgengeräte funktionieren zwar durch analoge und bloß physikalische Signalverarbeitung, man stellt aber Bilder her und nimmt etwa einen Knochenbruch auf einem Foto oder einem Schirm wahr. Ganz ähnlich funktionieren Elektronenmikroskope. Aber die Theoriebeladenheit dieser Grenzfälle lässt sich durch die Diskussion der klaren Fälle mit behandeln. Bei Wahrnehmungen mit Hilfe von Instrumenten wird zunächst ein Signal, das vom Untersuchungsgegenstand ausgeht oder bei ihm hervorgerufen wird, aufgefangen. Beispielsweise fällt das Licht, das von einer durchleuchteten Flüssigkeitsschicht ausgeht, in die Objektivlinse eines Mikroskops. Das Signal wird im Gerät verarbeitet, beispielsweise durch Linsen und Prismen gebeugt, und schließlich so aufbereitet, dass es wahrnehmbar wird. Wenn alles gut geht, kann ein Beobachter auf solche Weise Dinge, die sich in der Flüssigkeit befinden, wahrnehmen, sie beispielsweise als Pantoffeltierchen erkennen, und zu Wahrnehmungsurteilen gelangen. Solche Beobachtungen sind weitgehend theorieunabhängig möglich. Die Gründe hierfür sind im Kern dieselben, die auch für die Theorieunabhängigkeit vieler direkter Wahrnehmungen sprechen. Erstens ist festzustellen, dass Arten, Eigenschaften oder Gegenstände relativ zu Wahrnehmungsinstrumenten beobachterfreundlich sein können. Das bedeutet hier, dass beispielsweise Exemplare einer Art durch eine Menge von Eigenschaften E1 bis En ausgezeichnet sind, die mit Hilfe des Wahrnehmungsinstruments durch das visuelle System modular repräsentiert werden können, und etwas in der relevanten Umgebung diese Eigenschaften ziemlich genau dann besitzt, wenn es zu dieser Art gehört. Die Arten und Gegenstände vieler Bereiche sind

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solchermaßen Instrumente-beobachterfreundlich. Beispielsweise haben verschiedene Gattungen von Einzellern, die sich in Tümpeln finden – Pantoffeltierchen, Rädertierchen, Glockentierchen, Amöben etc. –, oft solche charakteristischen Eigenschaften, die mit Hilfe eines Lichtmikroskops modular visuell repräsentierbar sind. Zweitens ist es dann auch möglich, theorieunabhängige Klassifikationsfähigkeiten für diese Arten zu erwerben. Man kann lernen, mit Hilfe eines Mikroskops Pantoffeltierchen als solche zu erkennen und von Rädertierchen zu unterscheiden, ohne dass man hierfür einen theoretischen Hintergrund benötigt. Abgesehen vom Umgang mit dem Lichtmikroskop läuft dieser Erwerb bei Einzellerarten des Tümpels nicht anders ab als bei den Vogelarten des Vorgartens. Konzentriertes Zuschauen, wenn einige Pantoffeltierchen durch das Blickfeld schwimmen, reicht oft aus, um die Pantoffeltierchen des nächsten Tümpels als von derselben Gattung perzeptuell klassifizieren zu können. Drittens schließlich spricht nichts dagegen, auch Begriffe für diese Arten durch solche Instrumente-Erkennensfähigkeiten externalistisch zu erwerben. Dies zeigt aber, dass solche Beobachtungen mit Hilfe von Instrumenten, was die perzeptuelle Klassifikation und die Semantik der Begriffe angeht, theorieunabhängig möglich sind. Natürlich gestaltet sich nicht alles Beobachten und perzeptuelles Klassifizieren mit Instrumenten so einfach wie bislang beschrieben. Zum einen erfordert die Wahrnehmung mit einem Instrument in der Regel eine gewisse Übung im Umgang mit dem Gerät. Zum anderen sind die relevanten Merkmale, die eine Klassifikation ermöglichen, nicht immer so offensichtlich. Doch die Fähigkeiten, mit dem Gerät richtig umzugehen und die Aufmerksamkeit auf die wichtigen Merkmale zu richten, brauchen selbst nicht theorieabhängig zu sein, auch wenn sie oft im Rahmen einer disziplinären Ausbildung gelehrt werden.39 Allerdings kann die Einschätzung der Verlässlichkeit partiell theorieabhängig sein. Wie oben festgestellt, muss die Verlässlichkeit von Wahrnehmungen, die man mit Hilfe von Instrumenten macht, in der Regel erst begründet werden. (Siehe Kap. 5, Abschn. 3b.) Hierbei können theoretische Gründe für oder auch gegen die Verlässlichkeit sprechen. Aber abgesehen von theoretischen Gründen kann man auch empirische Gründe für oder gegen die Verlässlichkeit anführen. Gerade bei perzeptuellen Beobachtungen können solche Begründungen besonders aussagekräftig sein. In Kapitel 5 wurden einige dieser Verfahren, auf die insbesondere Hacking und Franklin hingewiesen haben, schon ausführlich diskutiert. So kann man 39

Vgl. Hacking (1983), Kap. 10.

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die Verlässlichkeit von Wahrnehmungen mit vielen Instrumenten für einen Teilbereich durch direkte Wahrnehmungen derselben Objekte überprüfen. Darauf aufbauend schließt man dann auf die Verlässlichkeit des Instruments auch in Bereichen, die der direkten Wahrnehmung nicht zugänglich sind. Oder man stützt die Verlässlichkeit dadurch, dass ein erwarteter Befund sich einstellt, oder aber sich mit verschiedenartigen Instrumenten gleiche Wahrnehmungen machen lassen. Eine solche Koinzidenz liefert gerade bei perzeptuellen Beobachtungen eine besonders gute Begründung, da die Wahrnehmungsinhalte oft sehr reichhaltig sind, etwa viele strukturelle Details der Objekte aufzeigen. Wenn verschiedene Verfahren solchermaßen inhaltsreich zu gleichen Ergebnissen führen, stützt dies die innerwissenschaftliche Annahme ihrer Verlässlichkeit besonders gut. Diese Stützung ist aber weitgehend theorieunabhängig. Schließlich lässt sich mit gezielten Eingriffen in den Beobachtungsprozess und auf das Objekt die Genese des Beobachtungsergebnisses kausal analysieren. So lassen sich beispielsweise Merkmale der Ergebnisses, die sich bei Eingriffen auf das Objekt und durch das Austauschen des Objekts verändern, als dessen Beiträge identifizieren. Was dagegen durch Eingriffe in den Abbildungsprozess veränderbar ist, kann unter geeigneten Umständen als dessen Beitrag betrachtet werden. So gewinnt man theorieunabhängige Gründe dafür, den Beobachtungsprozess hinsichtlich bestimmter, damit wahrnehmbarer Eigenschaften für verlässlich zu halten.40 Insgesamt gilt, dass sich für oder gegen die Verlässlichkeit von Instrumentewahrnehmungen häufig vielfältige empirische, nicht weiter theorieabhängige Gründe anführen lassen. Das hat aber Konsequenzen für die Theorieabhängigkeit der Einschätzung insgesamt. Eine Theorie kann Beobachtungen, die empirisch für zuverlässig eingeschätzt wurden, nur zu Lasten ihrer eigenen empirischen Bestätigung für unzuverlässig erklären. Denn sie widerspricht damit den empirischen Befunden, welche die positive Einschätzung der Beobachtungen stützen. Gleiches gilt für Theorien, die solche Beobachtungen für zuverlässig erklären, die empirisch für unzuverlässig gehalten werden. Eine Theorie kann daher nicht in großem Umfang den empirisch getroffenen Verlässlichkeitseinschätzungen für Instrumentewahrnehmungen widersprechen, ohne selbst an empirischer Stützung einzubüßen. Von Theorien, die empirisch optimal erfolgreich sind, kann die Verlässlichkeitseinschätzung deshalb nur in einer Minderzahl der Fälle abhängen.

40

Siehe hierzu Kap. 5, Abschn. 3d.

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6. Beobachtungen mit bildgebenden Verfahren Bei bildgebenden Verfahren werden üblicherweise mehrere Signale, die oft verschiedene Teile oder Teilvolumina des Untersuchungsobjekts betreffen, über eine gewisse Zeitspanne hinweg gesammelt. Diese Signale werden dann typischerweise elektronisch verarbeitet und schließlich zu einem Bild zusammengesetzt. Bei der Computertomographie sammelt man zunächst Informationen darüber, wie durchlässig etwa ein menschlicher Körper aus verschiedenen Richtungen für Röntgenstrahlen ist. Daraus berechnet man die Röntgenabsorption einzelner Volumenelemente, sogenannter Voxel. Diese Werte stellt man in Graustufen in Bildern, den Computertomogrammen, dar. Bei der Magnetresonanz-Tomographie wird ein Signal erzeugt, indem man an das Objekt zunächst ein starkes homogenes Magnetfeld anlegt. Hierdurch richten sich insbesondere die Protonen der Kerne mit ihrem Spin parallel zu diesem Magnetfeld aus. Dann überlagert man einen Puls eines oszillierenden Magnetfelds mit üblicherweise gerade derjenigen Frequenz, die der Energiedifferenz zwischen der parallelen Ausrichtung und einer Ausrichtung senkrecht zum homogenen Magnetfeld entspricht. Dadurch springen die Protonen in einen angeregten, antiparallelen Zustand. Nach Ende des Pulses fallen sie wieder in den parallelen Grundzustand zurück, wobei sie ein charakteristisches Magnetfeld emittieren. Dieses Magnetfeld und dessen räumliche und zeitliche Verteilung wird gemessen und daraus die Dichteverteilung der Protonen im Objekt errechnet. In einer besonderen Variante, der sog. funktionalen MagnetresonanzTomographie, die in der Neuroforschung weit verbreitet ist, macht man sich oft den Umstand zunutze, dass das magnetische Moment der roten Blutkörperchen (genauer: des Hämoglobins) davon abhängt, ob sie Sauerstoff transportieren.41 Aufgrund dieser Abhängigkeit kann man eine zeitliche Veränderung des Sauerstoffgehalts des Bluts in einem Blutgefäß durch Magnetresonanz-Tomographie messen. Zudem geht man von den folgenden physiologischen Zusammenhängen aus. Wenn in einem Gehirnbereich die Aktivität der Neuronen zunimmt, steigt die Durchblutung der direkt versorgenden Blutgefäße. Die Neuronen entnehmen aber trotz erhöhter Aktivität dem Blut nicht mehr Sauerstoff. Damit steigt bei neuronaler Aktivität insgesamt der Sauerstoffgehalt des Blutes im aktiven Bereich. Daher geht man davon aus, dass Darstellungen der Veränderungen des magnetischen Signals des Hämoglobins eine veränderte neuronale Aktivität abbilden.

41

Für das Folgende siehe Turner/ Jezzard (1994), Cohen (1996) und Horwitz/ Friston/ Taylor (2000).

7. Theorieunabhängige perzeptuelle Beobachtungen

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Ist es nicht offensichtlich, dass Beobachtungen mit solchermaßen produzierten Bildern massiv theorieabhängig sind? Meiner Ansicht nach ist dies nicht so. Ich werde die verschiedenen Varianten der Theorieabhängigkeit einzeln durchgehen, zunächst die Frage, ob die Festlegung der Inhalte theorieabhängig ist. a) Inhalte Bei Beobachtungen mit bildgebenden Verfahren lassen sich zunächst Inhalte auf zwei Stufen unterscheiden. Zum einen haben die Bilder, zum anderen die Wahrnehmungen der Bilder Inhalte. Bei den Bildern, die durch solche Verfahren wie die Computertomographie zustande kommen, kann man zunächst fragen, was einzelne Pixel des Bildes (oder einzelne Voxel des dreidimensionalen Datensatzes) anzeigen. Hierbei ist man zunächst darauf verwiesen, was man über das Signal und dessen Verarbeitungsweise weiß. So stehen die Grauwerte bei einem Computertomogramm für das Maß, in dem ein Gewebeteil Röntgenstrahlen absorbiert. Dieses Maß der Absorption ist normiert und wird in Hounsfield-Einheiten angegeben, üblicherweise wird auf Computertomogrammen mit angezeigt, welche Grauwerte für wieviele Einheiten stehen. (Vgl. Abb. 7.3.) Das Bild funktioniert damit in dieser Hinsicht praktisch wie ein Messgerät mit sehr komplexer Anzeige. Es zeigt sehr viele Messwerte an, wobei die gemessenen Größen farblich unterschieden und räumliche Relationen zwischen den gemessenen Punkten wiedergegeben werden. Es ist plausibel anzunehmen, dass diese Bildinhalte und ihre Verwendung oft theorieabhängig sind. Die Grauwerte einzelner Pixel stehen gemäß der explizit angegebenen Skala für bestimmte Messwerte. Um sie in Erfahrung zu bringen, muss man die Grauwerte mit der Skala abgleichen. So kann man ablesen, wofür sie stehen. Soweit die Inhalte der Pixel durch die Skala festgelegt werden, sind sie begrifflich, und man muss über diese Begriffe verfügen, um sie ablesen zu können. Oft besitzt man diese Begriffe – etwa den der Röntgenabsorption oder den des magnetischen Moments – aber nur, weil man über Theorien für diese Größen verfügt. Allerdings könnte man hier – ähnlich wie schon bei der Diskussion von Messgeräten in Kapitel 4 –42 einwenden, dass tatsächlich die Inhalte der angezeigten Pixel nicht von der angegebenen Skala abhängen. Demnach stehen die Pixel vielmehr für diejenigen Größen, die sie tatsächlich verursacht haben, unabhängig davon, ob wir diese Verursachungsrelationen kennen oder

42

Siehe Kap. 4, Abschn. 2.

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Theoriebeladenheit und Objektivität

über Begriffe für die Ursachen verfügen. Diese informationalen Inhalte der Pixel wären dann theorieunabhängig.

Abb. 7.343

Diesem Einwand muss man aber zwei Punkte entgegenhalten. Zum ersten kommen die Pixelfarben bei bildgebenden Verfahren in der Regel durch eine ausdrückliche Kodierung zustande. Es werden zunächst Messwerte, etwa für die Röntgenabsorption eines Voxels, berechnet. Dann werden diese Messwerte für die Produktion des Bildes in Graustufen umgesetzt. Die Regeln für die Kodierung der Messwerte werden ins Programm, nach dem die Bilder erzeugt werden, hineingeschrieben. Es ist daher nicht zu bestreiten, dass die Pixel als solche – durch die Weise, wie sie produziert werden – die in der Kodierungsregel angenommenen Werte begrifflich repräsentieren. Dies schließt zwar nicht aus, dass die Pixelwerte zusätzlich informationale Inhalte haben und ihre Ursachen begriffsunabhängig repräsentieren. Es ist zum zweiten zunächst aber unklar, wie darauf begriffsunabhängig zugegriffen werden soll. Die graue Farbe eines einzelnen Pixelwerts ist als solche genauso ‚stumm‘ wie der uninterpretierte Zeigerstand eines Messgeräts. Erst indem man den Graustufen Größen zuweist und damit interpretiert, werden sie wissenschaftlich verwendbar. Und diese Interpretation setzt gerade wieder Begriffe voraus. 43

Aus Bergmannsheil (1996).

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Allerdings gibt es auch wichtige Unterschiede zwischen gewöhnlichen Messgerätsanzeigen und den Bildern, die man mit bildgebenden Verfahren produziert. Denn anders als ein Zeigerstand kann ein Bild neben Inhalten der Pixel auch noch weitere Inhalte haben. So kann auf dem Bild insgesamt etwas abgebildet sein, das über die begrifflichen Inhalte, die in den Farbwerten der Pixel kodiert sind, hinausgeht und von diesen unabhängig ist. Diese Inhalte sind nichtbegrifflich, sie sind rein ‚piktorial‘. Dies lässt sich am Beispiel der Abbildung 7.3 zeigen. Es handelt sich hier um ein Computertomogramm, das einen Querschnitt des Bauches eines Menschen zeigt. Zum einen stehen die Grauwerte einzelner Pixel des Bildes für die Röntgenabsorption im Gewebe. Diese Kodierung wird durch die angezeigte Skala explizit gemacht. Zum anderen werden aber Knochen und Muskeln – unten in der Mitte etwa die Wirbelsäule und die Rückenmuskulatur – sowie verschiedene Organe abgebildet. Damit Knochen, Muskeln und Organe so abgebildet werden, brauchen sie aber nicht gesondert in Grauwerten kodiert zu werden. Die Objekte tauchen automatisch auf dem Bild auf, indem man dieses aus Werten für die Röntgenabsorption zusammenbaut. Eine Gemeinschaft, die solche Computertomogramme erstellt, braucht daher nicht über Begriffe für die Objekte zu verfügen, um Bilder haben zu können, auf denen sie repräsentiert sind. Diese Inhalte der Abbildung sind daher insofern theorieunabhängig. Ganz ähnlich stellt sich die Situation bei der funktionalen MagnetresonanzTomographie dar. Auch dort werden einerseits die Magnetsignale einzelner Teilvolumina explizit kodiert. Andererseits werden damit aktive Bereiche im Gehirn, deren Umfang, deren gleichzeitige oder aufeinanderfolgende Aktivität, vielleicht deren Koordination und die kausalen Abhängigkeiten zwischen ihnen abgebildet. Zwar hat man weitgehend explizites Wissen darüber, wie es zur Abbildung der Aktivität kommt. Man stützt sich unter anderem auf den oben dargestellten Zusammenhang zwischen neuronaler Aktivität und Sauerstoffkonzentration im Blut. Dieses Wissen setzt den Begriff etwa der neuronalen Aktivität voraus. Aber man braucht über solches Wissen nicht zu verfügen, damit die Aktivität auch abgebildet wird. Obwohl man seit 1992 mit Hilfe der funktionalen Magnetresonanz-Tomographie die Gehirnaktivität beobachtet,44 weiß man erst seit 2001, dass das gemessene Signal weniger mit der Feuerungsrate als vielmehr mit der synaptischen Aktivität der Neuronen in einem Bereich zusammenhängt. Daher weiß man nun, dass auf den Bildern eher der Input und die interne Verarbeitungs-

44

Siehe Kwong et al. (1992) u. Ogawa et al. (1992).

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Theoriebeladenheit und Objektivität

aktivität als der Output einer Neuronenpopulation abgebildet wird.45 Dieses Wissen ist sicherlich von Nutzen, wenn man daran geht, ein Bild zu interpretieren. Bei einer solchen Interpretation macht man sich oft den Inhalt der Bilder wissenschaftlich zunutze, indem man auf explizites Wissen über das Zustandekommen des Bildes zurückgreift. Aber auch unabhängig vom Wissen über das genaue Zustandekommen des Bildes kann dieses entsprechende Inhalte haben. Auch bevor man wusste, dass eher der Input als der Output einer Neuronenpopulation abgebildet wird, wurde auf den Magnetresonanz-Tomogrammen eben diese Form der Aktivität abgebildet. Es ist daher offenbar unnötig, den Zusammenhang zu kennen, um Bilder mit entsprechenden Inhalten zu haben. Zudem gehen die möglichen piktorialen Inhalte über die bloße Aktivität hinaus. Möglicherweise werden damit Eigenschaften von Komponenten des Geistes wie Modularität oder Vernetzung abgebildet. Wieder braucht man darüber nichts zu wissen, um davon Bilder zu erhalten – Bilder, mit denen man diese Komponenten aber dann entdecken könnte. Ein Großteil der Inhalte von Bildern bildgebender Verfahren sind daher nichtbegrifflich. Man braucht demnach nicht für den Begriffsbesitz schon über Theorien zu verfügen, damit die Bilder überhaupt Inhalte haben. Vielmehr kann vieles abgebildet sein, das man noch nicht kennt und wofür man noch keine Begriffe besitzt. Zwar stellt eine wissensgestützte Interpretation der Bilder eine Möglichkeit dar, diese Inhalte wissenschaftlich verfügbar zu machen. Sie ist aber keinesfalls die einzige Möglichkeit. Die nichtbegrifflichen Inhalte der Bilder können auch über Wahrnehmungen rezipiert werden, die selbst theorieunabhängig sind. Um dies zu sehen, ist es hilfreich zu überlegen, wodurch der nichtbegriffliche Inhalt von Bildern festgelegt wird. Es ist nicht leicht zu sagen, wodurch genau bestimmt wird, was auf Bildern, die mit einem bildgebenden Verfahren erzeugt werden, abgebildet ist. Allerdings scheint klar, dass die folgenden Bedingungen oft ausreichen. Angenommen erstens, verschiedene, beim Menschen vorkommende Organe führen mittels des Verfahrens zu unterscheidbaren Bildern. Das bedeutet, dass man perzeptuelle Klassifikationsfähigkeiten besitzen kann, die es erlauben, mit den Bildern die verschiedenen Organe recht zuverlässig zu unterscheiden. Zweitens sind diese Klassifikationsfähigkeiten ähnlicher Art wie diejenigen, mit denen man direkt oder mit Hilfe eines Wahrnehmungsinstruments die Organe unterscheiden könnte, falls sie so wahrnehmbar sind bzw. wären. Demnach sind es entweder dieselben Klassifikationsfähigkeiten, mit denen man etwa das Herz direkt – etwa bei einer Sezierung – erkennt; oder es 45

Siehe Logothetis et al. (2001); vgl. auch Horwitz/ Friston/ Taylor (2000), 838.

7. Theorieunabhängige perzeptuelle Beobachtungen

235

sind Klassifikationsfähigkeiten, mit denen ein solches Erkennen möglich wäre, wenn die direkte oder instrumentelle Wahrnehmung möglich wäre; oder es sind hierzu recht ähnliche Klassifikationsfähigkeiten. Die Möglichkeit solchen Klassifizierens reicht in der Regel, um zu sagen, dass die Objekte und ihre Eigenschaften abgebildet sind. Nehmen wir zur Illustration gewöhnliche Fotografien. Damit eine Person auf einem Foto abgebildet ist, reicht es aus, wenn gilt: Erstens führte das Fotografieren kausal – unter Mitwirkung der Person – zu einem Foto, auf dem die Person von anderen Personen auf dem Foto und anderen relevanten Personen gut unterscheidbar und als diese Person identifizierbar ist. Zweitens genügt hierzu eine Klassifikationsfähigkeit ganz ähnlich der Fähigkeit, mit der man die Person direkt als solche erkennt. Entweder braucht man bloß diese Fähigkeit oder vielleicht eine systematische Variante, die sich aus dieser Fähigkeit und der allgemeinen Fähigkeit, Dinge auf Fotografien zu erkennen, ergibt. Wenn dies hinreicht, dann ist es erstens theorieunabhängig, welche Dinge und Eigenschaften auf dieser Grundlage auf Bildern abgebildet sind. Denn was derart abgebildet ist, hängt nicht von einem theoretischen Hintergrund, sondern nur von den objektiven Möglichkeiten des perzeptuellen Erkennens ab. Zweitens ermöglicht dies aber auch eine theorieunabhängige perzeptuelle Klassifikation. Wenn die wahrgenommenen Eigenschaften, auf deren Grundlage perzeptuell klassifiziert wird, modular repräsentierbar sind und die Objekte bezüglich der Abbildungsmethode beobachterfreundlich sind, sind auch die Klassifikationen theorieunabhängig. Es ist aber bei bildgebenden Verfahren ebenso plausibel wie bei direkten Wahrnehmungen und Instrumentewahrnehmungen, dass diese weiteren Bedingungen oft erfüllbar sind. Demnach können auch perzeptuelle Klassifikationen mit Hilfe von bildgebenden Verfahren theorieunabhängig sein. Es ist von hier aus nur noch ein kleiner Schritt zu einem theorieunabhängigen Erwerb von Begriffen mit Hilfe von Bildern. Ein Beispiel hierfür ist der Begriff des Mesosoms. George Chapman und James Hillier, zwei Pioniere der Elektronenmikroskopie, haben als erste 1953 mit dem Elektronenmikroskop im Innern von Bakterien Objekte gefunden, die sie als periphere Körper bezeichneten.46 Anfang der 1960er Jahre häuften sich Befunde von meist großen, an die Zellmembran angeschlossenen Strukturen, oft in der Nähe der Bereiche, an denen sich die Bakterien gerade teilten. Philip Fitz-James nannte 46

Historisch und philosophisch wird der Fall von Rasmussen (1993), Culp (1994) und Hudson (1999) untersucht. Allerdings konzentrieren sich diese Studien auf die methodologische Frage, wie die Unzuverlässigkeit der Präparationsmethode festgestellt wurde, und nicht darauf, wie der Begriff des Mesosoms erworben wurde.

236

Theoriebeladenheit und Objektivität

sie Mesosome. Abbildung 7.4 zeigt ein solches Mesosom. Man hatte offenbar keine Schwierigkeiten, gut präparierte Exemplare dieser Strukturen auf elektronenmikroskopischen Aufnahmen als solche Mesosome zu klassifizieren. Man untersuchte die Entwicklung und Funktion von Mesosomen. Man ging davon aus, dass Mesosome unter anderem bei der Zellteilung an der Bildung der neuen Zellmembran und der Replikation der Chromosomen beteiligt sind. Die Grafik in Abbildung 7.5, die in ein Lehrbuch der Mikrobiologie der 1970er Jahre Eingang fand, zeigt, wie sich manche die Entwicklung vorstellten.

Abb. 7.447

Abb. 7.548

Im Laufe der 1970er und -80er Jahre kam man allerdings zur Überzeugung, dass Mesosome gar keine Zellorganellen sind, sondern lediglich Artefakte der 47 48

Aus Pelczar/ Reid/ Chan (1977), 95. Aus Pelczar/ Reid/ Chan (1977), 95; ursprünglich aus Rogers (1970).

7. Theorieunabhängige perzeptuelle Beobachtungen

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Präparation der Bakterien darstellen. Es stellte sich heraus, dass die beobachtbare Morphologie der Mesosome stark von der Präparationsmethode abhing. Zudem wurden Methoden entwickelt, bei denen keine Mesosome auftraten, die man aber aus unabhängigen Gründen für zuverlässiger hielt. (Vgl. Kap. 5, Abschn. 3d.) Aus semantischer Sicht ist hierbei interessant, dass man nicht annahm, dass es Mesosome gar nicht gibt, sondern dass sie Artefakte sind: dass sie nicht das sind, wofür man sie hielt. So schreibt Golecki in einem Handbuch zur mikrobiologischen Elektronenmikroskopie 1988 über Mesosome: The mesomes were defined as sac-like invaginations of the cytoplasmic membrane ... They were thought to be involved in several fundamental processes such as replication and segregation of the chromosomes, and cell division ... However, in the recent literature doubts about the classical mesosome concept have been expressed by an increasing number of reports ... [The] results of several investigations using modern cyrofixation methods ... produces evidence that the classical mesosomes are artefacts of the preparation techniques. (Golecki 1988, 73/74; meine Hervorhebung.)

Man sollte sich in dieser Passage nicht durch die Rede von Begriffen und Definitionen darin irreführen lassen, was semantisch durch die Entdeckung geschah, dass es sich um Artefakte handelt. Zentral ist die Einsicht, dass die ‚klassischen Mesosome‘, die man lange erforscht hatte, die man für natürliche Einstülpungen der Zellmembran gehalten und als für verschiedene Prozesse verantwortlich betrachtet hatte (was zum ‚Begriff‘, d.h. der Theorie der klassischen Mesosome gehörte), sich als Artefakte der Präparationsmethode entpuppten. Das bedeutet aber, dass der Ausdruck „Mesosom“ schon immer nur die Strukturen in präparierten Bakterien bezeichnete, die man nach wie vor auf elektronenmikroskopischen Aufnahmen identifizieren kann. Zwar hat sich die Auffassung der grundlegenden Beschaffenheit und Funktion der Mesosome geändert. Die Klasse der tatsächlichen und möglichen Strukturen, die der Begriff bezeichnet – seine Intension –, bleibt aber offenbar von dieser grundlegenden Änderung der theoretischen Auffassung der Entitäten weitgehend unberührt. Diese Stabilität der Bedeutung ist hier plausiblerweise darauf zurückführbar, dass Mesosome ein so charakteristisches Aussehen haben und dass sie daher auf elektronenmikroskopischen Aufnahmen oft ohne Hinzunahme theoretischer Annahmen zuverlässig identifiziert werden können.49

49

Siehe Hacking (1983), 179 für die vergleichbaren Behauptungen, dass Positronen theorieunabhängig auf Fotoplatten erkannt werden können und die Bedeutung von „Positron“ keine Theorie voraussetzt.

238

Theoriebeladenheit und Objektivität

(Es ist klar, dass sich die Zuverlässigkeit der Identifikation hier nur auf Mesosome als Strukturen in präparierten Bakterien beziehen kann. Der Präparationsprozess hat sich ja gerade als unzuverlässig in dem Sinn herausgestellt, als er die natürliche Struktur der Bakterien massiv verändert und zu Artefakten führt.50 Allerdings bezieht sich „Mesosom“ schon immer auf die Strukturen in präparierten Bakterien, und daher waren die Beobachtungen und Beobachtungsurteile über das Vorliegen von Mesosomen tatsächlich immer zuverlässig.) Beobachtungen mit bildgebenden Verfahren sind demnach ihren Inhalten nach oft weitgehend, wenn auch nicht vollständig theorieunabhängig. Die piktorialen Inhalte von Bildern erlauben oft auf theorieunabhängige Weise verlässliche perzeptuelle Klassifikationen, die die Grundlage für den Erwerb von Begriffen für die abgebildeten Strukturen und Objekte sein können. Somit können diese Inhalte außer durch explizite, wissensbasierte Interpretationen auch durch theorieunabhängige Wahrnehmungen wissenschaftlich fruchtbar gemacht werden. b) Die Einschätzung der Verlässlichkeit Auch aus der Verlässlichkeitseinschätzung der Beobachtungsergebnisse ergibt sich bei bildgebenden Verfahren nur eine eingeschränkte Theorieabhängigkeit. Hierfür sprechen bei piktorialen Inhalten und den darauf beruhenden perzeptuellen Klassifikationen weitgehend dieselben Gründe, die schon bei den Instrumentewahrnehmungen vorgebracht wurden. Zwar ist bei solchen Verfahren wie der Magnetresonanz-Tomographie offensichtlich, dass man schon gut ausgearbeitete Theorien etwa über magnetische Momente besitzen muss, um überhaupt die Instrumente konstruieren und bauen zu können. Die wissenschaftlichen Teildisziplinen, die sich mit der Entwicklung und Verbesserung solcher bildgebender Verfahren beschäftigen, sind dementsprechend voll ausgewachsene Spezialdisziplinen, die für die Entwicklung der bildgebenden Verfahren sowohl auf Grundlagentheorien zurückgreifen als auch eigene Theoriebildung betreiben. Insofern sind Beobachtungen mit diesen Verfahren sicherlich schwach theorieabhängig. Aber sobald die Verfahren entwickelt sind, können im Prinzip die Ergebnisse vor völlig verschiedenen theoretischen Hintergründen Verwendung finden. Zentral ist hierfür nur, ob die Ergebnisse vor einem solchen Hintergrund als verlässlich eingestuft werden. (Vgl. Kap. 5, Abschn. 2a.)

50

Es ist diese Unzuverlässigkeit, mit deren Aufdeckung sich die Studien von Rasmussen (1993), Culp (1994) und Hudson (1999) beschäftigen.

7. Theorieunabhängige perzeptuelle Beobachtungen

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Aber gerade was die piktorialen Inhalte der Bilder und darauf aufbauende Wahrnehmungen angeht, können empirische Begründungen besonders aussagekräftig sein. Die Bilder zeigen oft eine Vielzahl von Details, deren Überprüfung starke empirische Begründungen der Verlässlichkeit etwa durch induktive Erweiterungen der Beobachtungsbereiche, Koinzidenzen und kausale Analysen ergeben. (Siehe Kap. 5, Abschn. 3d[iii]-[v].) So kann die Verlässlichkeit von Computertomogrammen hinsichtlich der Abbildung anatomischer Strukturen empirisch geprüft werden, indem man die Abbildungen mit direkten Wahrnehmungen der Strukturen oder mit Abbildungen anderer Verfahren wie der Magnetresonanz-Tomographie vergleicht. Auch bei der Einführung der funktionalen Magnetresonanz-Tomographie in die Neuroforschung spielten empirische Gründe für die Verlässlichkeit eine entscheidende Rolle. So argumentiert Kenneth Kwong in einem der ersten Aufsätze, in denen diese Möglichkeit der Beobachtung von Gehirnaktivität nachgewiesen wurde, vor allem auf zwei Weisen für die Zuverlässigkeit des Verfahrens.51 Zum ersten wird argumentiert, dass die Gehirnaktivität, die man mit Hilfe des Verfahrens bei einer visuellen Stimulation beobachtet, gut mit den Ergebnissen anderer Verfahren übereinstimmt. So erscheint der primäre visuelle Kortex, wie er sich anatomisch identifizieren lässt, als aktiv; und die maximale Aktivität ergibt sich bei einer visuellen Stimulation durch Lichtblitze mit 8 Hz, was genau mit dem Maximum übereinstimmt, das auch die Positronen-Emissions-Tomographie – ein unabhängiges Verfahren der Beobachtung von Gehirnaktivität – ergibt. Zweitens korrelieren die Phasen, in denen der primäre visuelle Kortex als aktiv erscheint, genau mit den Phasen der Stimulation, während die beobachtete Aktivität endet, sobald der Reiz ausgesetzt wird. So ergibt sich insgesamt eine weitgehend empirische Begründung der Annahme, dass die funktionale Magnetresonanz-Tomographie verlässliche Beobachtungen der Gehirnaktivität ermöglicht. Soweit allerdings präzise begriffliche Inhalte der Bilder betroffen sind, die auf der farblichen Kodierung gemessener Größen beruhen, ist die Verlässlichkeit oft wie bei gewöhnlichen Messgeräten einzuschätzen. Bei solchen Messgeräten übernimmt die theoretische Begründung der Verlässlichkeit typischerweise eine größere Rolle. Da die Inhalte explizit und genau spezifiziert werden, ist es in der Regel unerlässlich, exakte Annahmen über die Signale und deren Genese und Verarbeitung anzuführen. Wenn im Falle der funktionalen Magnetresonanz-Tomographie etwa der veränderte Sauerstoffgehalt des Blutes farblich dargestellt werden soll, sind genaue Annahmen über die Magnetisierung des Hämoglobins, über die Ausrichtung im homogenen 51

Siehe Kwong et al. (1992); vgl. Ogawa et al. (1992).

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Magnetfeld, die Anregung durch den gezielten Puls und das Magnetsignal, das bei der wieder parallelen Ausrichtung zustande kommt, notwendig. Hier spielen auch die Annahmen hinein, die für die Konstruktion der Instrumente verwendet wurden, und diese Annahmen sind oft theoretisch sehr voraussetzungsreich. Beispielsweise haben theoretische Berechnungen die Glaubwürdigkeit von Aufnahmen der atomaren Struktur von Metalloberflächen mit dem Rastertunnelmikroskop in Frage gestellt. Bei solchen Mikroskopen werden die Oberflächen in der Regel mit einer feinen Wolfram-Spitze daraufhin abgetastet, in welchem Abstand ein konstanter Tunnelstrom fließt. Daraus erstellt man das Profil der Oberfläche. Die theoretische Simulation dieses Abtastvorgangs auf der Grundlage der Dichtefunktionaltheorie ergab, dass Spitze und Oberfläche sich aufgrund von atomarer Anziehung stark verformen und leicht chemische Bindungen eingehen. Demnach ist eine Abtastung der Oberfläche nur in einem eng begrenzten Abstand sinnvoll möglich, und auch in diesem Bereich führen die Anziehungskräfte dazu, dass Atome der Oberfläche gegenüber Atomzwischenräumen überhöht abgebildet werden.52 Dies illustriert, wie theoretische Gründe zunächst die Verlässlichkeit einzelner Werte für gemessene Abstände in Zweifel ziehen können. Zugleich wird aber auch unklar, was die Bilder, die auf der Grundlage dieser Messwerte erzeugt werden, insgesamt zeigen. Nur die piktorialen Inhalte – die abgebildeten Objekte und Muster und eventuelle Fähigkeiten, diese perzeptuell zu erkennen,– bleiben von dieser Erschütterung theoriegeleiteter Interpretationen verschont. Da solche theoretischen Annahmen bei der Verlässlichkeitseinschätzung bildgebender Verfahren oft eine größere Rolle spielen als bei Instrumentewahrnehmungen, bei denen keine explizite Kodierung von Messwerten und oft weniger theoriegeleitete Interpretation stattfinden, ist diese Einschätzung bei bildgebenden Verfahren insofern oft stärker theorieabhängig. Dies mindert aber nicht die Möglichkeiten, die Verlässlichkeit der Abbildung und der damit gemachten Beobachtungen insbesondere hinsichtlich der piktorialen Inhalte auch empirisch und damit theorieunabhängig zu begründen. c) Theoretische Annahmen in der Bildbearbeitung Eine weitere Theorieabhängigkeit von Beobachtungen mit bildgebenden Verfahren kann sich durch die Signalverarbeitung bei der Bildgenerierung ergeben. Hierbei fließen oft implizit oder explizit Annahmen ein, die das

52

Siehe Hofer et al. (2001).

7. Theorieunabhängige perzeptuelle Beobachtungen

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Beobachtungsresultat mitbestimmen. Es sind hier eine ganze Reihe unterschiedlicher Einflüsse möglich. Beim Einsatz tomographischer Verfahren insbesondere in der medizinischen Diagnostik finden sich häufig sehr ausgeprägte Einflüsse auch von theoretischen Annahmen. Das Ziel ist hier oft, ein Bild zu generieren, in dem verschiedene anatomische Strukturen ‚segmentiert‘, d.h. voneinander abgehoben dargestellt werden. Im hierbei angestrebten Idealfall werden einzelne Gewebearten, Knochen, Blutgefäße, Nervenstränge oder Tumore schon durch die farbliche Darstellung im Bild unterschieden.53 Für die Segmentierung werden eine große Vielfalt von Verfahren eingesetzt, die sich für die vorliegenden Zwecke in drei Gruppen einteilen lassen. Zunächst gibt es eine ganze Palette von Algorithmen, mit denen man den Datensatz – etwa Zellen von Grauwerten für gemessene Röntgenabsorption – als Ganzen bearbeiten kann. Hierzu gehören Filter, die Ausreißer herausnehmen, indem sie einzelnen Volumeneinheiten des Datensatzes den Mittelwert der umgebenden Einheiten zuweisen. Zudem gibt es Kantenoperatoren, die Kanten erkennen und verstärken sollen. Schließlich gibt es eine Vielzahl von Verfahren, um Flächen gleichen Gewebes von solchen anderen Gewebes zu trennen. Hierzu zählt das sog. Keimzellenwachstumsverfahren, bei dem von einem Startpunkt aus solange benachbarte Zellen zur selben Fläche gezählt werden, bis man auf Zellen mit stark differierendem Grauwert stößt. Diese Verfahren können im Prinzip unabhängig davon eingesetzt werden, welche Objekte untersucht werden. Sie sind als abstrakte mathematische Algorithmen programmierbar, brauchen insofern auf keine Merkmale typischer Gewebestrukturen zurückzugreifen und entsprechen oft Algorithmen, wie man sie in der menschlichen perzeptuellen Verarbeitung findet.54 Allerdings führen diese Verfahren selten allein zu zufriedenstellenden Segmentierungen. So scheitert beispielsweise die Abgrenzung von verschiedenen Geweben häufig daran, dass die Grenze nicht durchgängig durch eine Grauwertdifferenz gekennzeichnet ist. Dies führt dazu, dass mit dem Keimzellenwachstumsverfahren abgegrenzte Gebiete oft ‚auslaufen‘, d.h. benachbarte Bereiche eingeschlossen werden.55 Abhilfe können hier die beiden weiteren Methoden schaffen. Zum einen kann man anatomisches Wissen in die Segmentierung einspeißen. Man kann etwa Wissen aus einer Datenbank hinzunehmen, in der normale anatomische Strukturen des untersuchten Bereichs gespeichert sind. Zudem greift man auf 53 54 55

Für das Folgende siehe Sakas (1999), Jendrysiak (1999), Wegner et al. (1999). Siehe Jendrysiak (1999), 26. Siehe Jendrysiak (1999), 27.

242

Theoriebeladenheit und Objektivität

allgemeines Wissen über bestimmte Gewebearten zurück, etwa dass Blutgefäße sich baumartig verästeln und hierbei dünner werden, oder dass dicke Nervenstränge ihre Richtung nur wenig ändern. Zum anderen kann der Benutzer des bildgebenden Verfahrens – in der Regel ein Mediziner – sein Expertenwissen einbringen, indem dieser eine grobe oder feine Segmentierung verschiedener Gewebebereiche auf der Grundlage eigenen anatomischen Wissens oder der eigenen Wahrnehmung eines vorläufigen Bildes vornimmt.56 In der medizinischen Praxis spielen die verschiedenen Verfahren oft zusammen. In einem Verfahren beispielsweise zur Segmentierung von Hirntumoren auf tomographischen Bildern beginnt der Benutzer damit, den Tumor auf dem vorläufigen Bild grob zu umkreisen. Das Programm errechnet dann die spezifischen Textureigenschaften (mittlerer Grauwert, Standardabweichung, Homogenität etc.), die für die Abbildung dieses bestimmten Tumors charakteristisch sind. Mit der so gewonnenen Information werden dann automatisch die genauen Umrisse segmentiert. Auf dem fertigen Bild wird der Tumor dann farbig vom umgebenden Gewebe hervorgehoben.57 Solche Verarbeitungsweisen können über die oben besprochene Theoriebeladenheit von Inhalt und Verlässlichkeit hinaus sicherlich zu zusätzlicher Theorieabhängigkeit führen. Erstens sind die Inhalte segmentierter Bilder weitreichender begrifflich gefasst. Es wird jetzt nicht nur die Röntgenabsorption, sondern auch die Zugehörigkeit zu anatomischen Strukturen angezeigt. Der Begriffsbesitz für einige dieser Strukturen könnte selbst eine Theorie voraussetzen. Zweitens ist das Beobachtungsergebnis in vielen Hinsichten stark von den implizit oder explizit einfließenden Annahmen geprägt. Nach welchen Gewebearten man überhaupt sucht und unterscheidet, richtet sich nach der gängigen Klassifikation und kann daher vor verschiedenen theoretischen Hintergründen verschieden sein. Auch die Eingriffe der Mediziner sind von deren Vorbildung abhängig, und auch hier ist Theorieabhängigkeit möglich. Allerdings muss eine solche Verarbeitung der Signale nicht in allen Fällen zu Theorieabhängigkeit führen. Viele der generellen Algorithmen der Bildbearbeitung sind unabhängig vom spezifischen Gegenstand. Die Bildung von Mittelwerten oder die Verstärkung von Konturen sind sehr häufig hilfreich, um die Abbildungsqualität von Daten zu erhöhen, die einem gewissen Rauschen unterliegen. Daher ist es unwahrscheinlich, dass diese Verfahren sich vor dem Hintergrund verschiedener theoretischer Ansätze der Physiologie 56 57

Siehe Jendrysiak (1999), 26. Siehe Jendrysiak (1999), 27/28.

7. Theorieunabhängige perzeptuelle Beobachtungen

243

oder theoretischer Erklärungen der bildgebenden Verfahren sehr unterscheiden würden. Zudem benutzen Verfahren, die – wie das oben beschriebene Verfahren der Tumorsegmentierung – auf der Grundlage von Textureigenschaften arbeiten, keine theoretischen Annahmen. Offensichtlich macht man sich hier den Umstand zunutze, dass Tumore oft bezüglich der Abbildung mit einem bildgebenden Verfahren beobachterfreundlich sind: Sie lassen sich aufgrund von Textureigenschaften auf vorläufigen Bildern recht zuverlässig vom umgebenden Gewebe unterscheiden. Dieses Verfahren muss nicht auf theoretisches Wissen über Tumore zurückgreifen, und es braucht den Begriff des Tumors nicht vorauszusetzen. Man kann daher ganz grob zwischen zwei Typen bildgebender Verfahren unterscheiden. Diese Unterscheidung lässt sich analog zum Gegensatz von modularer und Helmholtz’scher Theorie der Wahrnehmung treffen. Demnach sind modulare bildgebende Verfahren dadurch gekennzeichnet, dass in die Verarbeitung der Signale im Wesentlichen nur generelle Algorithmen der Bildbearbeitung (analog zu natural constraints in der Wahrnehmung) Eingang finden und dass die Segmentierung bzw. die Klassifikation allein auf Kombinationen von solchermaßen erzeugten Bildeigenschaften reagiert. Demgegenüber greifen Helmholtz’sche bildgebende Verfahren in der Signalverarbeitung und der Identifikation von Strukturen auch auf theoretisches Wissen über die angenommenen untersuchten Strukturen zurück. Es ist zu beobachten, dass eine stärker Helmholtz’sche Bildbearbeitung zwar oft in der medizinischen Diagnostik stattfindet. Forschungsorientiert eingesetzte bildgebende Verfahren etwa in der Neuroforschung laufen aber häufiger modular ab. In diesen Fällen ist weiterhin davon auszugehen, dass die Beobachtungen recht weitreichend theorieunabhängig sind. Damit ergibt sich für perzeptuelle Beobachtungen eine Theorieunabhängigkeit, die für verschiedene Arten der Beobachtungen typischerweise unterschiedlich weit reicht. Direkte perzeptuelle Beobachtungen für beobachterfreundliche Arten sind fast völlig theorieunabhängig möglich. Weder die perzeptuelle Verarbeitung und Klassifikation noch die Inhalte der Beobachtungen setzen hier einen theoretischen Hintergrund voraus oder laufen vor verschiedenen Hintergründen unterschiedlich ab. Die Verlässlichkeitseinschätzung kann nur in einer Minderheit der Fälle von einer Theorie abhängen, sofern diese Theorie auch empirisch optimal bestätigt sein soll. Bei Instrumentewahrnehmungen ergeben sich zwar weiter reichende theoretische Gründe für oder gegen die Verlässlichkeit. Aber auch hier sind – wie auch noch bei bildgebenden Verfahren – vielfältige rein empirische Gründe möglich, die von Theorien nur revidierbar sind, indem sie ihre eigene empiri-

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Theoriebeladenheit und Objektivität

sche Stützung schwächen. Die explizit kodierten Größen bildgebender Verfahren schließlich sind zwar hinsichtlich der Inhalte und der Verlässlichkeit recht stark theorieabhängig. Zudem laufen die Signalverarbeitung und die Klassifikation in einigen dieser Verfahren helmholtzianisch ab. Aber auch noch hier sind recht theorieunabhängige Beobachtungen möglich, wenn man nämlich bei modular arbeitenden Verfahren auf die piktorialen Inhalte zugreift, die theorieunabhängige verlässliche Klassifikationen und sogar den empirischen Erwerb von Begriffen über Strukturen und Objekte ermöglichen, die der direkten Wahrnehmung nicht zugänglich sind. Es zeigt sich damit, dass perzeptuelle Beobachtungen oft auf vielschichtige Weise sowohl theorieunabhängig als auch teilweise theorieabhängig sind. So kann eine Theorieabhängigkeit in einer Hinsicht, etwa bezüglich Teilen des Inhalts, mit Theorieunabhängigkeit sowohl in dieser Hinsicht – anderen Teilinhalten – als auch in anderen Hinsichten – etwa bezüglich der Verlässlichkeit – einhergehen. Zudem gibt es innerhalb des Spektrums perzeptueller Beobachtungen vielfältige Abstufungen der Theorieunabhängigkeit, mit typischen direkten Wahrnehmungen und helmholtzianischen bildgebenden Verfahren als Extrempunkten. Zusammenfassung Verschiedene Formen perzeptueller Beobachtungen haben sich als in unterschiedlichem Umfang, oft jedoch als weitgehend theorieunabhängig erwiesen. Hierfür haben sich folgende Gründe ergeben. Vielfältige empirische Evidenz spricht dafür, dass die frühe Verarbeitung der visuellen Reize kognitiv abgeschlossen ist. Damit ist eine modulare Theorie des Sehens insgesamt empirisch besser gestützt als eine Helmholtz’sche Theorie (Abschn. 2c). Der modularen Theorie zufolge wird durch feststehende Schritte auf der Basis von Vokabular und Information, die bloß Modul-intern sind, eine Repräsentation von Oberflächen und ihrer räumlichen Relationen zum Beobachter erzeugt. Wissenschaftliche Theorien üben dann keinen Einfluss auf diese visuelle Repräsentation aus (Abschn. 2a&b). Auf dieser Grundlage sind für den großen Bereich der beobachterfreundlichen Eigenschaften, Arten und Individuen theorieunabhängige perzeptuelle Klassifikationen denkbar, die lokal zuverlässig sind (Abschn. 3a u. b). Viele Befunde sprechen dafür, dass wir solche Fähigkeiten zur perzeptuellen Klassifikation tatsächlich erwerben können und zum Einsatz bringen (Abschn. 3c u. d). Diese Klassifikationsfähigkeiten reichen aus, um die Bedeutung von Beobachtungsausdrücken festzulegen bzw. den Erwerb von Begriffen für die klassifizierten Eigenschaften oder Arten zu ermöglichen (Abschn. 4). Zuverlässige direkte Wahrnehmungen von beobachterfreundli-

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chen Eigenschaften, Arten und Individuen sind damit sowohl hinsichtlich der eingeschlossenen perzeptuellen Klassifikationen als auch im Wahrnehmungsurteil unabhängig von wissenschaftlichen Theorien möglich. Diese Theorieunabhängigkeit ist – mit einigen Einschränkungen – auch bei Wahrnehmungen mit Hilfe von Instrumenten sowie bildgebenden Verfahren möglich. Auch hier sind für Arten oder Eigenschaften, die relativ zu einer Beobachtungsmethode beobachterfreundlich sind, zuverlässige Klassifikationsfähigkeiten erwerbbar, die den Besitz von Begriffen empirisch fundieren können. Für die Verlässlichkeit der Beobachtungen sind oft empirische Gründe anführbar. Einschränkungen dieser Theorieunabhängigkeit betreffen insbesondere die verstärkte Rolle theoretischer Gründe in der Verlässlichkeitseinschätzung, die theoretische Festlegung der Inhalte einzelner Bildpunkte bei bildgebenden Verfahren bzw. deren theoriegeleitete Interpretation sowie mögliche theoretische Annahmen in der zu Bildern führenden Datenverarbeitung (Abschn. 5 u. 6).

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Kapitel 8: Die Objektivität von Beobachtungen 1. Einleitung Um nachzuweisen, dass Beobachtungen trotz ihrer Theoriebeladenheit objektiv sind, bedarf es mehrerer Schritte. Zunächst ist zu prüfen, welche Formen von Beobachtungen in den Wissenschaften wichtige Rollen übernehmen. In Kapitel 6 habe ich argumentiert, dass außer Messgeräte-Daten und den Ergebnissen langer Beobachtungsprozesse insbesondere auch perzeptuelle Beobachtungen epistemisch unverzichtbar sind. Dann ist zu untersuchen, in welchem Ausmaß diese Beobachtungen theorieabhängig sind. Im vorigen Kapitel habe ich die These vertreten, dass perzeptuelle Beobachtungen in vielen Hinsichten theorieunabhängig sind. Schließlich ist zu zeigen, dass der epistemische Erfolg der Wissenschaften trotz der verbleibenden Theorieabhängigkeit insbesondere der anderen Beobachtungsarten als perzeptuellen Beobachtungen wahrscheinlich ist. Darum soll es in diesem Kapitel gehen. Ich werde hier also nicht dafür argumentieren, dass auch Messgeräte-Daten und die Ergebnisse langer Beobachtungsprozesse weitreichend theorieunabhängig sind. Vielmehr werde ich davon ausgehen, dass diese Beobachtungen häufig in den Weisen, die in Teil II diskutiert wurden, von Theorien abhängen. So gehe ich davon aus, dass man bei Messgeräte-Daten häufig über die Begriffe, in denen die Messergebnisse formuliert sind, nur verfügt, weil man Theorien über die Größen besitzt. Um etwa die Anzeigen eines Geigerzählers als Zählung von Gammastrahlen zu interpretieren, nehmen wir unsere Theorien über Gammastrahlen in Anspruch. Zudem spielen dann häufig Theorien auch für die Einschätzung der Verlässlichkeit eine zentrale Rolle. Wissen über die Funktion eines Geigerzählers, das auch theoretische Annahmen etwa über Gammastrahlen oder Ionisation einschließt, kann hier wichtig sein. (Siehe Kap. 5, Abschn. 3c.) Auch bei langen Beobachtungsprozessen, die neben dem Aufbau und Betrieb komplexer experimenteller Anlagen auch Datenreduktion, Fehlerkontrolle und Datenanalyse umfassen, werde ich von einer Theorieabhängigkeit ausgehen. Es ist auch hier anzunehmen, dass sowohl die Inhalte der empirischen Ergebnisse als auch die Einschätzung der Verlässlichkeit der Beobachtungen oft Theorien in Anspruch nehmen. Die Größen und Teilchen, die in der Hochenergiephysik empirisch untersucht werden, sind oft hauptsächlich über theoretische Eigenschaften spezifiziert, und auch die Fähigkeit der Apparaturen zum Nachweis dieser Objekte wird oft zu einem guten Teil theoretisch verbürgt. Welche Neutrinos man etwa im Fall der

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Theoriebeladenheit und Objektivität

Sudbury-Experimente zu messen glaubt, wie man die Apparatur abschirmen muss und welche Berechnungen und Bearbeitungen der Rohdaten zu validen empirischen Ergebnissen führen, wird oft von weitreichenden theoretischen Annahmen mitbestimmt. Aber wie in Kapitel 5 auch deutlich geworden ist, ergeben sich gerade bei komplexen Experimenten und innerhalb einer reichen experimentellen Praxis oft vielfältige Möglichkeiten, die Verlässlichkeit von Messgeräten oder Analyseschritten empirisch zu prüfen.1 Insgesamt ist daher auch hier nicht von einer vollständigen Theorieabhängigkeit, wohl aber typischerweise von einer gegenüber perzeptuellen Beobachtungen signifikant verstärkten Theoriebeladenheit auszugehen. Ein epistemologischer Pessimismus bezüglich eines Gegenstandsbereichs wird durch die Theoriebeladenheit der Beobachtungen dann gestützt, wenn diese Theoriebeladenheit mindestens eine der beiden folgenden Annahmen begründet:2 1. Es ist extrem unwahrscheinlich, jemals eine überwiegend wahre Theorie für den Bereich zu finden. 2. Falls es eine empirisch gut gestützte und systematisch tugendhafte Theorie für den Bereich gibt, ist dazu wahrscheinlich eine weitgehend unvereinbare Alternative möglich, die empirisch und systematisch ebenso gut abschneiden würde.

Um einen Optimismus angesichts der Theoriebeladenheit zu begründen, ist daher zum einen zu zeigen, dass die bestehende Theoriebeladenheit und Theorieunabhängigkeit von Beobachtungen keine dieser Annahmen stützt. In den nächsten beiden Abschnitten werde ich dies unternehmen. Zum anderen ist deutlich zu machen, wie solche Beobachtungen zum epistemischen Erfolg der Wissenschaften beitragen. Darum wird es im vorletzten Abschnitt gehen. 2. Die semantische Rolle von Beobachtungen Die beste pessimistische Begründung der ersten Annahme aufgrund von Theoriebeladenheit ergibt sich aus Churchlands Heuhaufen-Argument. (Kap. 4, Abschn. 4b.) Dem Argument zufolge gleicht die Suche nach einer überwiegend wahren Theorie für einen Bereich der Aufgabe, eine Nadel in einem gewaltigen Heuhaufen zu finden. Als Prämissen werden vorausgesetzt, dass es erstens eine immense Zahl denkbarer Theorien für diesen Bereich gibt, von denen die allerwenigsten überwiegend wahr sind. Zweitens sollen Beobachtungssätze unabhängig von Theorien bloß syntaktisch spezifiziert sein. Sie können dann unabhängig von Theorien weder den Erwerb geeigneter Be1 2

Siehe Kap. 5, Abschn. 3d. Siehe Kap. 1, Abschn. 3c.

8. Die Objektivität von Beobachtungen

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griffe ermöglichen noch neuartige Regularitäten nahe legen. Die Theorieabhängigkeit des Beobachtungsinhalts führt daher dazu, dass Beobachtungen keinen Beitrag dazu leisten können, dass man aus der Unzahl der denkbaren Theorien eher jene formuliert, die eine gegenüber dem Durchschnitt erhöhte Wahrscheinlichkeit auf überwiegende Wahrheit haben. Daher wird man wahrscheinlich nie dazu kommen, solche Theorien überhaupt empirisch zu testen. Der Pessimismus folgt. Auf der Grundlage der Überlegungen der Kapitel 6 und 7 lässt sich jetzt aber zeigen, dass die zweite Prämisse des Heuhaufen-Arguments unhaltbar ist. In den Naturwissenschaften spielen perzeptuelle Beobachtungen eine wichtige Rolle. Die empirischen Beiträge perzeptueller Beobachtungen sind aber keineswegs auf die Syntax der Beobachtungssätze beschränkt. Vielmehr kann man mit solchen Beobachtungen Begriffe für beobachterfreundliche Arten, Eigenschaften oder Individuen zuallererst empirisch erwerben. Dies wendet die Problemlage, auf der das Heuhaufen-Argument beruht. Dort ergibt sich das Problem für die Entwicklung von vielversprechenden Theorien daraus, dass Beobachtungssätze angeblich unabhängig von Theorien keine Bedeutung haben, sondern nur ihre Syntax zum Erkenntnisprozess beisteuern. Die Schwierigkeit besteht dann gerade darin, auf Begriffe zu kommen, mit denen sich Theorien formulieren lassen, die mindestens eine minimale Wahrscheinlichkeit auf Wahrheit haben. Dieses Problem verschwindet, wenn man anerkennt, dass man über Begriffe für beobachterfreundliche Arten, Eigenschaften oder Individuen verfügen kann, ohne eine Theorie über sie zu besitzen. Denn dann ist es viel weniger unwahrscheinlich, dass man auch erfolgreiche Hypothesen über diese Objekte formulieren kann und insgesamt zu einer Theorie kommt, die überwiegend wahr ist. Natürlich ergibt sich hier kein Automatismus. Man wird allein durch diese Möglichkeit des Begriffserwerbs nicht automatisch zu erfolgreichen Theorien kommen. Aber ein Beispiel kann den dramatischen Unterschied deutlich machen. Eine Biologin, die mit Churchland’schen Resourcen beginnen soll, etwa eine nur in Grundzügen zutreffende Systematik und Entwicklungstheorie für Tierarten aufzustellen, befindet sich in einer üblen Lage. Nehmen wir an, sie ist über Tiere noch völlig ahnungslos. So beginnt sie, die Natur zu erforschen. Nach Churchland’schen Prämissen versteht sie nur theoretische Begriffe, also Begriffe, die über ein Netzwerk allgemeiner Annahmen eine Bedeutung bekommen. Ihre Beobachtungssätze sind vollständig in solchen Begriffen formuliert. Ihre Situation ist praktisch so, als ob sie sich in einem ‚chinesischen Zimmer‘ befindet, oder – wenn sie Feldbiologin ist – in einem ‚chinesischen Geländewagen‘. Die Scheiben sind geschwärzt, die Wände schallgedämmt. Sie hat lediglich einen Ticker, über den ungedeutete

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Beobachtungssätze hereinkommen, und ein Navigationssystem, das die gegenwärtige Position anzeigt. Beispielsweise bekommt sie Sätze wie „jetzt vorne links ein a F“, wenn ein schreiender Papagei durch den Dschungel fliegt. Um Begriffe zu besitzen, mit denen diesen Sätzen Bedeutung verliehen werden kann, muss sie erst eine Theorie über as und Fs formulieren. Damit diese Begriffe aber überhaupt Begriffe von Tieren, Tierarten, deren Verhalten, Verwandtschaftsbeziehungen usw. sind, müsste sie praktisch aus dem Nichts heraus eine halbwegs korrekte Systematik und Evolutionstheorie erfinden. Jede andere Theorie führt zu ganz anderen Interpretationen der Beobachtungssätze, und das macht die Sätze nicht nur nutzlos, sondern massiv irreführend. Entweder also hat sie großes Glück und trifft durch Zufall zunächst auf eine angemessene Theorie (oder fängt schon mit einer solchen Theorie an), oder sie verirrt sich hoffnungslos im Dschungel von falschen Theorien und irreführenden Beobachtungssätzen. Die Situation stellt sich ganz anders dar, wenn man Begriffe empirisch erwerben kann. Auf diese Weise könnte man über Begriffe beispielsweise für verschiedene Tierarten verfügen. Es liegt dann recht nahe, Behauptungen über Verwandtschaftsbeziehungen und Abstammungen zu formulieren. Und man kann Theorien formulieren, die die genaue Natur solcher Verwandtschaftsbeziehungen und die Mechanismen der Abstammung beschreiben. Aufbauend auf einer semantischen ‚Grundausstattung‘ von Begriffen für größtenteils interessante, beobachterfreundliche Tierarten kommt man so über die theoretische Formulierung von Verwandtschaft und Abstammung zu Begriffen der zoologischen Systematik und Evolution. Es gibt natürlich immer noch eine Vielzahl denkbarer Theorien. Es kann hierbei vielleicht auch zu semantischen Rückwirkungen auf die perzeptuellen Kategorien kommen. Trotzdem stellen diese einen guten Ausgangspunkt für die Suche nach erfolgreichen Theorien dar. Es ist keineswegs extrem unwahrscheinlich, zu Formulierungen zu kommen, die überwiegend wahr sind. 3. Die Bestimmtheit der empirischen Basis Die zweite Annahme, auf die sich ein Pessimismus stützen könnte, hat die Form einer Unterbestimmtheitsannahme. Demnach sind wegen der Theoriebeladenheit systematisch tugendhafte Theorien durch die empirische Stützung radikal unterbestimmt. Es sind weitgehend unvereinbare Theorien möglich, die dennoch durch theoriebeladene Beobachtungen gleichermaßen gut empirisch gestützt sind. Die Argumentation für diese Unterbestimmtheit beruht in den Kapiteln 3 bis 5 jeweils auf der Annahme, dass wegen der Theoriebeladenheit die empiri-

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schen Basen alternativer Theorien weit divergieren können. So stützt in Kapitel 3 insbesondere eine Helmholtz’sche Wahrnehmungstheorie die Annahme, dass man vor alternativen theoretischen Hintergründen in denselben Situationen Wahrnehmungen macht, die sehr verschieden begrifflich geprägt sind. Zwar beruhen die Wahrnehmungen jeweils auf denselben Stimuli. Der vorausgesetzten Wahrnehmungstheorie zufolge beschränken diese Stimuli zusammen mit den theorieinvarianten Faktoren der Reizverarbeitung und der perzeptuellen Klassifikation die begriffliche Prägung der Wahrnehmungen aber nur zu einem geringen Grad. Dementsprechend weit können der Wahrnehmungstheorie zufolge die Wahrnehmungen mit variablen theoretischen Hintergründen divergieren. In Kapitel 4 ergab sich die weitgehende Divergenz der Beobachtungsbasen verschiedener Theorien durch die syntaktische Theorie der Beobachtung in Verbindung mit einer Netzwerk-Semantik für Beobachtungsausdrücke. Der syntaktischen Theorie zufolge werden Beobachtungssätze durch den Beobachtungsprozess nur in ihrer Syntax und dem Zeitpunkt ihres Auftretens festgelegt. Alle semantischen Eigenschaften bleiben dadurch unbestimmt. Der Netzwerk-Semantik zufolge sind es aber gerade die alltäglichen oder wissenschaftlichen Hintergrundtheorien, welche die Interpretation der Beobachtungsausdrücke festlegen. Daher kommt man mit verschiedenen Theorien in gleichen Situationen zu Beobachtungssätzen mit völlig unterschiedlichen Inhalten. Aus den Überlegungen des Kapitels 5 ergibt sich schließlich eine weitreichende Divergenz der Beobachtungsbasen, wenn man davon ausgeht, dass vor verschiedenen theoretischen Hintergründen in gleichen Situationen meist unterschiedliche Beobachtungen als verlässlich eingeschätzt werden. Solche Theorieabhängigkeit besteht, wenn bei knauserig geregelten Verlässlichkeitseinschätzungen überwiegend theoretische Gründe für oder gegen die Verlässlichkeit vorgebracht werden und großzügige oder empirisch positive Einschätzungen sehr häufig theoretisch untergraben werden. Aus den Diskussionen der Varianten der Theorieabhängigkeit ergeben sich somit drei recht unabhängige Begründungen der Annahme, dass die empirischen Basen alternativer Theorien stark divergieren können. Dann lässt sich aber argumentieren, dass die überwiegende Wahrheit der Theorien wegen dieser Divergenz durch empirische Bestätigung unterbestimmt ist. Denn angenommen, es gibt eine systematisch tugendhafte Theorie, die durch die Beobachtungen, die vor ihrem Hintergrund möglich sind oder ausgezeichnet werden, optimal empirisch bestätigt wird. Dann gibt es offenbar keine grundsätzlichen Hürden, um eine solche Menge von Beobachtungen in eine systematisch tugendhafte Theorie zu integrieren. Es ist dann wahrscheinlich, dass

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eine alternative, systematisch tugendhafte Theorie möglich ist, die ihre ganz anders beschaffene empirische Basis ebenfalls optimal integriert. Da die beiden Theorien weitgehend divergierende Beobachtungsimplikationen haben, ist zu erwarten, dass sie auch theoretisch weitgehend unvereinbar sind. Sie können nicht beide überwiegend wahr sein. Aus der empirischen Bestätigung einer systematisch tugendhaften Theorie darf dann wegen der Theoriebeladenheit von Beobachtungen nicht auf die überwiegende Wahrheit der Theorie geschlossen werden.3 Dieser pessimistischen Argumentation kann man aber jetzt einiges entgegnen. Es gibt viele Gründe anzunehmen, dass die zentrale Annahme der Argumentation falsch ist. Die empirischen Basen alternativer, optimal empirisch bestätigter und systematisch tugendhafter Theorien können nicht wegen der bestehenden Theoriebeladenheit von Beobachtungen weit divergieren. Zum ersten sind perzeptuelle Beobachtungen oft weitgehend theorieunabhängig. Zum zweiten gibt es vielfältige methodische Beschränkungen, welche die theorieabhängige Ausweitung des Bereichs des Beobachtbaren über das perzeptuell Beobachtbare hinaus regeln. Wie in Kapitel 7 gezeigt, sind direkte Wahrnehmungen weitgehend theorieunabhängig. Vor völlig verschiedenen wissenschaftlich-theoretischen Hintergründen und auch ohne einen solchen Hintergrund sind dieselben Wahrnehmungen möglich. Dies gilt insbesondere für den Teil der Welt, der direkt beobachterfreundlich ist. Die Reizverarbeitung im visuellen System läuft unbeeinflusst von variablen theoretischen Hintergründen ab. Die perzeptuelle Klassifikation braucht nicht auf implizite theoretische Annahmen zurückzugreifen. Vielmehr können Klassifikationsfähigkeiten für beobachterfreundliche Arten, Eigenschaften und Individuen theorieunabhängig erworben und eingesetzt werden. Die Bedeutung von Beobachtungsausdrücken kann auf solchen Klassifikationsfähigkeiten beruhen. Und die großzügige Einschätzung der Verlässlichkeit von Wahrnehmungen kann von empirisch erfolgreichen Theorien nur in Ausnahmefällen untergraben werden. Damit gibt es keinen Grund zur Annahme, dass Beobachtungen dieses Teils der Welt vor verschiedenen theoretischen Hintergründen weit divergieren. Vielmehr ist zu erwarten, dass die Beobachtungsbasen, die alternative Theorien empirisch prüfen, hinsichtlich der beobachterfreundlichen Welt weitgehend übereinstimmen. Die Beobachterfreundlichkeit erstreckt sich aber auf einen beträchtlichen Teil der Welt. (Siehe Kap. 7, Abschn. 3b.) Die empirische Basis 3

Wenn es erst gar nicht möglich ist, die Beobachtungen in eine systematisch tugendhafte Theorie zu integrieren, gibt es nicht einmal einen Kandidaten für eine optimistische Einschätzung. Auch in diesem Fall wäre der Pessimismus begründet.

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der Wissenschaften ist insoweit nicht für sich unbestimmt und wird nicht erst durch theoretische Hintergründe festgelegt, sondern ist bestimmt. Doch die Bestimmtheit der empirischen Basis ist nicht auf direkte Wahrnehmungen beschränkt. Wahrnehmungen mit Hilfe von Instrumenten und bildgebenden Verfahren sind ebenfalls in weiten Teilen theorieunabhängig. Zwar ist man für die Konzeption und Realisierung der Instrumente und Verfahren oft auf wissenschaftliche Theorien angewiesen. Man würde die empirischen Ergebnisse daher häufig nicht erhalten, wenn nicht jemand über bestimmte Theorien verfügen würde. Aber das bedeutet nicht, dass man vor verschiedenen Hintergründen unterschiedliche, oft unvereinbare Beobachtungen machen würde. Denn die wissenschaftliche Verwendbarkeit gegebener Beobachtungen hängt allein davon ab, ob man die Beobachtungen für verlässlich hält. Hierfür können aber gerade im Fall perzeptueller Beobachtungen ganz andere Überlegungen sprechen als diejenigen, die für Planung und Bau der Instrumente nötig sind. Insbesondere können vielfältige empirische, nicht weiter theorieabhängige Gründe für oder gegen die Verlässlichkeit von Instrumentewahrnehmungen und bildgebenden Verfahren vorgebracht werden. (Siehe Kap. 5, Abschn. 3d und Kap. 7, Abschn. 5 u. 6b.) Weiterhin können Arten, Eigenschaften und Individuen auch bezüglich der Wahrnehmung mit Instrumenten oder bildgebenden Verfahren beobachterfreundlich sein. Auch hier ist der Erwerb theorieunabhängiger Klassifikationsfähigkeiten und eine entsprechende Fundierung der Bedeutung von Beobachtungsausdrücken möglich. (Siehe Kap. 7, Abschn. 5 u. 6a.) Dies gilt zwar insbesondere bei bildgebenden Verfahren nicht für die im Bild explizit kodierten Signalwerte, stattdessen aber für die oft reichhaltigen piktorialen Inhalte der Bilder. Daher sind Instrumentewahrnehmungen und Beobachtungen mit bildgebenden Verfahren oft nur schwach theorieabhängig in dem Sinn, dass jemand über Vorstellungen verfügen muss, die zum Bau der Instrumente ausreichen. Dies reicht jedoch bei weitem nicht hin, um eine weitgehende theoretische Divergenz der Beobachtungen zu bewirken. Vielmehr ist zu erwarten, dass vor verschiedenen Hintergründen weitgehend die gleichen Beobachtungen gemacht und für verlässlich eingeschätzt werden können. Daher ist die empirische Basis auch hinsichtlich des mit Instrumenten und bildgebenden Verfahren beobachtbaren Teils der Welt weitgehend bestimmt. Dieser Teil der Welt hat aber keine natürlichen Grenzen. Es ist absehbar, dass ständig neuartige Instrumente und bildgebende Verfahren zur perzeptuellen Beobachtung von Objekten realisiert werden. Vermutlich sind im Prinzip für alle raumzeitlich lokalisierten Objekte, mit deren Teilen man in Abhängigkeit von deren Beschaffenheit kausal interagieren kann, Instrumente

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und Verfahren zur perzeptuellen Beobachtung möglich. Eine Vielzahl solcher Instrumente und Verfahren sind bereits entwickelt und im Einsatz. Der Bereich der Welt, der aktuell in bestimmter, nicht theorieabhängig divergierender Weise beobachtet werden kann, ist daher schon heute sehr umfangreich und umfasst im Prinzip alle lokalisierten, differenziell kausal interaktiven Objekte. Dann ist auch bei den Beobachtungen, die tatsächlich massiv theorieabhängig sind, keine weite theoretische Divergenz zu erwarten. Zwar gehe ich davon aus, dass viele Messungen und lange Beobachtungsprozesse auf Theorien angewiesen sind. Die Begriffe, die zur Deutung von Messgerätsanzeigen eingesetzt werden und in denen Ergebnisse langer Beobachtungsprozesse formuliert sind, sind oft durch Theorien spezifiziert; und die Verlässlichkeitseinschätzung rekurriert häufig auch auf theoretische Annahmen. Aber dennoch ist nicht zu erwarten, dass die Beobachtungsbasen alternativer Theorien weitgehend divergieren können und die Theorien dennoch empirisch wie systematisch optimal bestätigt erscheinen. Denn die Erweiterung der theorieinvarianten Beobachtungsmenge in die Bereiche des theorieabhängig Beobachtbaren ist einer ganzen Reihe von methodischen Beschränkungen unterworfen. Erstens müssen die theorieabhängigen Beobachtungen kohärent mit den theorieunabhängigen Beobachtungen desselben Bereichs zusammenpassen. Es gibt keine Grenze in der Natur zwischen dem perzeptuell Beobachtbaren einerseits und dem Messbaren oder in langen Beobachtungsprozessen Erhebbaren andererseits. Vielmehr kann man häufig dieselben Gegenstände sowohl beispielsweise mit Instrumenten wahrnehmen als auch deren Eigenschaften messen. Oft sind Messungen genauer und auf spezifische Eigenschaften zugeschnitten, die aber als solche auch mit perzeptuellen Beobachtungen zugänglich sind (etwa Temperatur, Geschwindigkeit, Spektralfarbe). Zudem ist der Bereich des perzeptuell Beobachtbaren im Prinzip selbst erweiterbar und kann so in bisher nur mensurell zugängliche Bereiche vorstoßen. So ergänzen und überlappen sich die verschiedenen Möglichkeiten, die Gehirnaktivität zu messen und abzubilden. Während Messmethoden wie die Elektroenzephalographie zeitlich hochauflösende, aber räumlich schwer zu lokalisierende Daten liefert, sind Abbildungsmethoden wie die funktionale Magnetresonanz-Tomographie zeitlich oft schlecht auflösend, aber räumlich präzise. Es wird als ein wichtiges Ziel gegenwärtiger Neuroforschung gesehen, die so jeweils gewonnenen Daten kohärent zusammenzubringen.4

4

Siehe Horwitz/ Friston/ Taylor (2000), 832.

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Zweitens müssen die Theorien, welche die Beobachtungen beladen, selbst empirisch bestätigt sein und sich kohärent in den allgemeinen theoretischen Hintergrund einfügen. Es können daher nicht irgendwelche Theorien herangezogen werden. Eine besondere Beschränkung ergibt sich aus dem Umstand, dass sowohl die beladenden Theorien als auch der theoretische Hintergrund, zu dem sie kohärent sein müssen, oft massiv durch perzeptuelle Beobachtungen empirisch geprüft sind. Beispielsweise können optische Theorien, die zur Berechnung der Lichtbrechung der Atmosphäre und damit zur Korrektur von gemessenen Sternenpositionen herangezogen werden können, selbst durch eine Vielzahl optischer Phänomene zur Lichtbrechung geprüft werden, die oft direkt wahrnehmbar sind. Chemische Annahmen, die beispielsweise in der Ökologie zur Analyse und Feststellung von Umwelteigenschaften herangezogen werden, sind selbst durch eine Vielzahl chemischer Beobachtungen geprüft. Und elektromagnetische Messwerte, die in der Neuroforschung die Aktivität von Gehirnregionen anzeigen, werden auch auf der Grundlage von Annahmen gewonnen, die seit den Tagen Faradays einer Unmenge von empirischen Prüfungen unterzogen wurden. Diese Beispiele weisen schließlich auf eine dritte Beschränkung hin, der beladende Theorien oftmals unterliegen. Häufig sind die beladenden Theorien recht unabhängig von den Theorien, die mit den solchermaßen erhaltenen Beobachtungen geprüft werden. Zwar habe ich in Kapitel 2 ausführlich argumentiert, dass die Unabhängigkeit allein nicht hinreicht, um die Objektivität von Beobachtungen zu sichern. Bei der Betrachtung einzelner Theorien bleibt der Vorteil unabhängiger Prüfung unklar, solange die epistemische Qualität der unabhängigen Theorien unbestimmt ist. Für Theoriennetze ist zwar ingesamt eine Bestätigung trotz weitgehender Falschheit recht unwahrscheinlich. Solange aber über die Wahrscheinlichkeit der Falschheit von zur Prüfung gestellten Theorien nichts bekannt ist, kann auch hier nicht auf die wahrscheinliche Wahrheit bestätigter Theorien geschlossen werden. (Siehe Kap. 2, Abschn. 3c u. d.) Gleichzeitig ist dabei aber klar geworden, dass die Unabhängigkeit zum einen in dem Maße die Objektivität fördert, in dem die unabhängigen Theorien selbst bestätigt sind. Mit der Feststellung, dass die unabhängigen Theorien oft durch theorieinvariante Beobachtungen bestätigt sind, ergibt sich hieraus aber eine Beschränkung der möglichen theoretischen Divergenz von Beobachtungsbasen, die nicht schon die Bestimmtheit anderer theorieabhängiger Prüfungen voraussetzt. Zum anderen erhöhen bei Theoriennetzen die theorieunabhängigen Beobachtungen sowohl die Widerlegungswahrscheinlichkeit falscher Theorien als auch die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit von zur Prüfung gestellten Theoriennetzen. Vor dem Hintergrund der Einsicht,

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dass viele Beobachtungen theorieunabhängig sind, wird daher auch die häufige Verschiedenheit von beladender und geprüfter Theorie zu einem substanziellen Grund gegen die theoriebedingte weite Divergenz der Beobachtungsbasen alternativer Theorien oder Theoriennetze. Damit sind aber die theoriebeladenen Beobachtungen sowohl direkt als auch über ihre beladenden Theorien bei insgesamt empirisch und systematisch erfolgreichen Theorien strikten Bedingungen unterworfen. Es ist nicht zu erwarten, dass sie bei alternativen Theorien weit divergieren können. Auch hinsichtlich der Messungen und der Ergebnisse langer Beobachtungsprozesse wird daher die empirische Basis systematisch und empirisch erfolgreicher Wissenschaften weitgehend bestimmt sein. Damit ist auch die Begründung der zweiten pessimistischen Annahme durch die Theoriebeladenheit von Beobachtungen hinfällig. 4. Eine neue Begründung des Optimismus Aus dieser Zurückweisung der Stützung des Pessimismus wird gleichzeitig eine neue Begründung des Optimismus angesichts der bestehenden Theoriebeladenheit von Beobachtungen erkennbar. Demnach beruht der wissenschaftliche Erfolg angesichts der Theoriebeladenheit von Beobachtungen auf zwei Faktoren. Zum einen sind perzeptuelle Beobachtungen oft weitgehend theorieunabhängig. Zum anderen ermöglichen theorieabhängige Beobachtungen eine Erweiterung und Verbesserung der empirischen Daten der Wissenschaften, ohne zu weitreichender theorieabhängiger Divergenz in den Beobachtungsbasen zu führen. Damit greift die Begründung zwei Argumentationslinien für die Objektivität von Beobachtungen auf, die jeweils insbesondere von Hacking und Shapere stark gemacht werden. Hacking zufolge sind Beobachtungen in vielen Hinsichten theorieunabhängig möglich. Sie sollen in einen Kontext praktischer und perzeptueller Fähigkeiten eingebettet sein, der im Wesentlichen keine Theorien voraussetzt und gegenüber wechselnden theoretischen Hintergründen stabil bleibt.5 Allerdings steht dieser Begründung der Objektivität von Beobachtungen der Befund entgegen, dass viele Beobachtungen – insbesondere Messungen und lange Beobachtungsprozesse – tatsächlich von Theorien abhängen, indem die Deutung der Ergebnisse und die Einschätzung ihrer Verlässlichkeit theoretisch geleitet werden.6 Die empirische Basis der Wissenschaften ist nicht insgesamt theoriefrei, vielmehr wird die ganze Breite

5 6

Siehe Hacking (1983), Kap. 10 u. 11. Siehe Kap. 5, Abschn. 3c u. d.

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wissenschaftlichen Wissens – und hierunter auch theoretisches Wissen – für die Etablierung empirischer Daten fruchtbar gemacht. Diese Rolle theoretischen Wissens in der Erweiterung und Verbesserung der empirischen Basis wird insbesondere von Shapere betont. Seiner Auffassung nach ist die so gewonnene empirische Grundlage objektiv, weil die beladenden Theorien selbst empirisch gestützt sind.7 Diese Begründung des Optimismus bleibt aber unvollständig, solange nicht erklärt ist, warum diese empirische Stützung selbst als objektiv und die beladenden Theorien daher als überwiegend wahr eingeschätzt werden können. Der hier entworfenen Begründung zufolge greifen eine partielle Theorieunabhängigkeit der empirischen Basis und eine Erweiterung der Basis durch gegebene theoretische Annahmen ineinander. Die Theorieunabhängigkeit lässt sich insbesondere bei perzeptuellen Beobachtungen nachweisen, für die perzeptuelle Klassifikationsfähigkeiten von zentraler Bedeutung sind. Solche klassifikatorischen Fähigkeiten liefern erstens für einen beträchtlichen Teil der Welt – den beobachterfreundlichen Teil – verlässliche Repräsentationen der Arten, Eigenschaften und Individuen als gleich oder verschieden. Sie können als solche in der Regel ohne wissenschaftlich-theoretische Voraussetzungen erworben werden und liefern somit eine theorieunabhängige, oft alltägliche Wissensbasis für wissenschaftliche Forschungen. Zweitens ermöglichen die Klassifikationsfähigkeiten die Festlegung der Bedeutung von Beobachtungsprädikaten und den Erwerb von Begriffen. Die Bedeutung von Sätzen wie „das ist Quecksilber“ und „das ist ein Mesosom“ kann damit unabhängig von theoretischen Annahmen über die Substanzen und Objekte bestimmt sein. Daher können Vertreter verschiedener Theorien ernsthaft über die Wahrheit solcher Behauptungen streiten, ohne zwangsläufig aneinander vorbeizureden. Die empirische Kommensurabilität verschiedener Theorien ist gewährleistet. Und die empirisch erworbenen Begriffe stellen eine theorieunabhängige semantische Grundausstattung dar, die zur Formulierung von Hypothesen und Theorien zur Verfügung steht. Diese epistemischen und semantischen Beiträge der Erfahrung stellen die Grundlage dar, auf der aufbauend die empirische Basis theoriegeleitet erweitert werden kann. Theorien, die die Konstruktion von Wahrnehmungsinstrumenten und bildgebenden Verfahren anleiten, erweitern den Bereich des perzeptuell Beobachtbaren beträchlich über das direkt Wahrnehmbare hinaus. Dennoch können auch hier perzeptuelle Klassifikationsfähigkeiten erworben und mit epistemischem Gewinn eingesetzt werden. Messungen mit Hilfe von Messgeräten öffnen einen empirischen Zugang zu weiteren Eigenschaften. 7

Siehe Shapere (1982), 513ff.

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Zudem sind Messungen in der Regel mit einer Präzision möglich, die durch perzeptuelles Erkennen allein nicht geleistet werden kann. Lange Beobachtungsprozesse schließlich ermöglichen den Einsatz des ganzen Wissens, das man über die Untersuchungsobjekte, Interaktionen und Störungen, Instrumente und Fehlerquellen bereits hat, um zu weiteren empirischen Befunden zu gelangen. Durch statistische Analysen werden zudem Sachverhalte beobachtbar, die nicht raum-zeitlich lokalisiert sind oder durch eine lokale Beobachtung nicht erhoben werden können. In Extremfällen wie der SudburyNeutrino-Beobachtungen sammelt und analysiert man über ein Jahr lang Daten, um den Neutrinofluss und die Anteile verschiedener Neutrinoarten darin zu erheben. (Siehe Kap. 5, Abschn. 3d.) Die theorieabhängige Erweiterung des Beobachtbaren liefert daher den Wissenschaften oft unmittelbare empirische Daten über Bereiche, über die man vorher nur theoretische Annahmen und mittelbare empirische Hinweise besaß. Zwar besteht die prinzipielle Gefahr, dass man aufgrund falscher Theorien zu irreführenden theorieabhängigen Beobachtungen kommt. Diese Risiken können aber durch vielfältige empirische Prüfungen und systematische Beschränkungen, denen die Erweiterung unterliegt, unter Kontrolle gehalten werden. Insgesamt ist zu erwarten, dass die epistemischen Chancen, die sich aus einer Erweiterung der empirischen Basis und den damit verbesserten Möglichkeiten der empirischen Prüfung ergeben, gegenüber den Risiken aus der Theoriebeladenheit der so gewonnenen Beobachtungen weit überwiegen. Somit entsteht das Bild einer Wissenschaft, die empirisch auf einer theorieunabhängigen Erfahrungsbasis aufbaut, die theoretisch erweitert und verbessert wird. Dieses Bild setzt keineswegs voraus, dass es eine historische Phase theoretischer Unschuld gegeben hat, in der man nur vorurteilsfrei und unfehlbar beobachtete. Im Gegenteil ist die Theorieunabhängigkeit perzeptueller Beobachtungen gerade damit vereinbar, dass es gleichzeitig Theorien oder Vorstellungen der Welt gibt, die radikal falsch sind, und dass einige Beobachtungen von solchen Theorien geprägt sind. Die Theorieunabhängigkeit vieler Beobachtungen kann gerade erklären, wie man sich solcher falscher Vorstellungen entledigen konnte, indem sich ein empirischer Common Sense gegenüber der scheinbaren Übermacht von Aberglauben und Mythos behauptet hat. Gleichzeitig ist nicht vorausgesetzt, dass diese Erfahrungsbasis unfehlbar ist. Erstens wird nur davon ausgegangen, dass die Erfahrungen überwiegend zuverlässig sind, man mit ihnen also viel häufiger richtig als falsch liegt. Zweitens erstreckt sich diese Zuverlässigkeit in der Regel nur auf beschränkte, meist lokale Kontexte. Es ist möglich, dass in ungewöhnlichen Situationen die Erfahrung überwiegend täuscht. Daher ist zu erwarten, dass im Lichte späte-

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rer theoretischer Einsichten theorieunabhängige Erfahrungen in Teilen als irreführend erkannt werden und dass solche Einsichten oft benötigt werden, um in ungewöhnlichen Kontexten überhaupt verlässlich beobachten zu können. Dennoch legt diese Begründung des Optimismus nahe, für die Entwicklung epistemisch erfolgreicher Wissenschaft eine typische Abfolge zu erwarten. Demnach geht der wissenschaftliche Erfolg in empirischer Hinsicht zunächst aus der Stützung auf weitgehend theorieunabhängige perzeptuelle Beobachtungen hervor.8 Mit zunehmenden Fortschritten sowohl in der betreffenden Disziplin als auch in Theorien, die relevante Beobachtungen beladen, kann dann der Erfolg empirisch zunehmend auf theorieabhängige Beobachtungen zurückgeführt werden. In diesem Verlauf können dann frühere Beobachtungen sowohl verbessert als auch in gewissem Umfang korrigiert werden. Solange sich die Disziplin hierbei neue Phänomenbereiche erschließt und bislang Unbekanntes erforscht, werden gleichwohl perzeptuelle Beobachtungen unverzichtbar bleiben.9 Eine solche Abfolge scheint sich in groben Zügen tatsächlich in der Geschichte der Naturwissenschaften abzuzeichnen. So wurden etwa in der Astronomie und Physik wichtige theoretische Neuerungen durch Daten und Beobachtungen wie Tycho Brahes Messungen der scheinbaren Planetenpositionen und Galileis Fernrohrbeobachtungen bestätigt, die für sich weitgehend theorieunabhängig sind. Die chemische, biologische und geologische Theoriebildung konnte auf den Beobachtungs- und Klassifikationsleistungen der naturgeschichtlichen Tradition aufbauen. Und jüngere Disziplinen wie die Hochenergiephysik oder die Neuroforschung hatten oder haben frühe Phasen, in denen perzeptuelle Beobachtungen eine zentrale Rolle spielen. Die erste Grundlage des Optimismus angesichts der Theoriebeladenheit besteht damit in einer besonderen Rolle von Erfahrung. Diese Rolle ist aber gegenüber einer klassisch empiristischen Sicht in guten Teilen modifiziert. Erfahrung wird demnach als perzeptuelle Klassifikation gefasst.10 Als solche ist sie oft eine unabhängige Quelle sowohl von Wissen als auch von Bedeutung. Die Klassifikationsfähigkeiten betreffen bei weitem nicht nur rein sinnliche Eigenschaften, sondern auch eine große Zahl reichhaltiger alltäglicher und wissenschaftlicher Eigenschaften, Arten und Individuen. Und sie

8

9 10

Damit wird natürlich nicht angenommen, dass die erfolgreichen Theorien aus theorieunabhängigen Daten zuallererst induktiv erschlossen werden, wohl aber, dass sie sich stark darauf stützen. Siehe Kap. 6, Abschn. 3. Siehe Kap. 6, Abschn. 2a.

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werden auch bei Beobachtungen mit Wahrnehmungsinstrumenten und bildgebenden Verfahren eingesetzt. Der zweite Schritt in der Begründung bricht deutlich mit dem Empirismus. Indem die theorieabhängigen Beobachtungen als verlässliche Erweiterungen der empirischen Basis aufgefasst werden können, ist die empirische Grundlage der Prüfung und Bestätigung wissenschaftlicher Theorien viel umfangreicher als dasjenige, was in der Erfahrung gegeben ist. Man kann demnach verlässliche empirische Evidenz über Objekte und Strukturen gewinnen, die mit Wahrnehmungsinstrumenten, bildgebenden Verfahren, Messgeräten oder in langen Beobachtungsprozessen beobachtet werden können. Damit werden viele Annahmen zur Existenz und Beschaffenheit desjenigen Bereichs, der in den Wissenschaften theoretisch postuliert wird, durch Beobachtung unmittelbar prüfbar und bestätigbar. Die gegebene Begründung stützt somit nicht nur einen optimistischen Empirismus, demzufolge unsere wissenschaftlichen Behauptungen über direkt Wahrnehmbares oder perzeptuell Beobachtbares wahrscheinlich überwiegend wahr sind. Es wird insoweit auch ein optimistischer wissenschaftlicher Realismus partiell begründet. Schlussbetrachtung: Theoriebeladenheit und Objektivität Für die Beantwortung der Frage, warum Beobachtungen trotz ihrer Theoriebeladenheit objektiv sind, müssen zwei zentrale Voraussetzungen geklärt werden. Zum einen geht es um das Phänomen der Theoriebeladenheit als solches. Hier ist festzustellen, in welchem Umfang und auf welche Weisen verschiedene Arten von Beobachtungen typischerweise theoriebeladen sind. Zum anderen ist ein erkenntnistheoretischer Zusammenhang zu untersuchen. Es ist hier zu bestimmen, welchen Beitrag Beobachtungen zum naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess leisten müssen, damit die Erfolgsaussichten der Wissenschaften optimistisch eingeschätzt werden können. Nach meinem Verständnis bemisst sich die Objektivität von Beobachtungen an der Fähigkeit zu diesem Beitrag. Beobachtungen können daher trotz ihrer Theoriebeladenheit als objektiv gelten, wenn sich so angesichts der bestehenden Theoriebeladenheit eine optimistische Einschätzung der Erkenntnisaussichten partiell begründen lässt. Die hier gegebene Begründung des Optimismus bezieht hinsichtlich beider Voraussetzungen Position. Sie weist zunächst die Annahme der weitreichenden Theoriebeladenheit aller Beobachtungen zurück. Tatsächlich zeigt sich, dass das Phänomen der Theoriebeladenheit vielschichtig ist und in mehreren Abstufungen auftritt. Erstens gibt es verschiedene Formen der Theoriebeladenheit. Eine Beobachtung kann dabei in der einen Form theorieabhängig und gleichzeitig in einer anderen Form theorieunabhängig sein. So kann der

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Inhalt einer Beobachtung theorieunabhängig sein, dessen Verlässlichkeit aber auf theoretischer Basis eingeschätzt werden. Zweitens schließen sich für einige Formen theoretische Einflüsse und ein gewisses Maß an Theorieunabhängigkeit nicht aus. So kann es für oder gegen die Verlässlichkeit eines Beobachtungsergebnisses gleichzeitig theoretische und empirische Gründe geben, und der Inhalt etwa eines Computertomogramms kann zum Teil theoretisch, zum Teil theorieunabhängig festgelegt sein. Drittens sind verschiedene Arten von Beobachtungen typischerweise in sehr unterschiedlichem Umfang theorieabhängig. Während perzeptuelle Beobachtungen oft weitreichend theorieunabhängig sind, hängen Messgeräte-Daten und die Ergebnisse langer Beobachtungsprozesse häufig stärker von Theorien ab. Wenn Beobachtungen solchermaßen sowohl theorieunabhängig als auch theorieabhängig sind, kann dann ihre Rolle im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess neu aufgefasst werden. Theorien ermöglichen oft Beobachtungen von Objekten und Prozessen, die anders nicht oder nicht mit gleicher Präzision beobachtet werden können. Damit führt die Theoriebeladenheit zu einer massiven Erweiterung der empirischen Basis der Wissenschaften. Gleichzeitig sind viele Beobachtungen weitreichend oder partiell theorieunabhängig und können als solche auf unabhängige Weise sowohl wissenschaftliche Theorien empirisch prüfen als auch den Erwerb relevanter Begriffe ermöglichen. Man kann daher im Ganzen davon ausgehen, dass die Theorien, insoweit sie von Beobachtungen vorausgesetzt werden, ausreichend empirisch kontrollierbar und fundierbar sind. Es ist insgesamt zu erwarten, dass zuverlässige und aufschlussreiche Beobachtungen von immer umfassenderen Bereichen der Wirklichkeit möglich sind. Eine optimistische Einschätzung der Erkenntnisaussichten der Naturwissenschaften lässt sich daher nicht trotz, sondern wegen der bestehenden Theorieabhängigkeit von Beobachtungen begründen: Weil Beobachtungen sowohl teilweise theorieunabhängig als auch teilweise theoriebeladen sind, sind sie objektiv.

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273

Index Anderson, C. 194-195 Aristoteles 154 Barnes, B. 9, 11 Bayesianismus 29-36 Begriffe Erwerb von 228, 235, 248-250, 257, 261 Besitz von 54, 56, 59-61, 72-74, 194, 211, 221-222, 225-226, 231, 234, 242, 250 s.a. Beobachtungsausdrücke; Sinneserfahrung, begriffliche Prägung von; theoretische Ausdrücke Begriffliche-Rollen-Semantik s. NetzwerkSemantik Beobachterfreundlichkeit 213-214, 219, 224, 227-228 Beobachtungen 12-15, 99-109 Bestimmtheit von 250-256 divergierende 21, 93, 95-96, 140, 174175, 251-256 Effektivität von 28-37, 39 Einschätzung der Verlässlichkeit von 100, 143-146, 151-160, 163-176 empirische Determination von 33-37 enger/ weiter Begriff von 12-13, 115, 147, 181 Erweiterung des Bereichs von 86, 92, 137, 172, 253-254, 256-261 heuristische Rolle 13, 139, 193-197, 248-250 Ineffektivität von 28-37, 39 mit bildgebenden Verfahren s. bildgebende Verfahren, Beobachtungen mit Objektivität von 11, 36-37, 43, 46, 92, 136-137, 247, 256-257, 260-261 perzeptuelle 115-117, 182-186, 188194, 196-197, 199-244, 252-254 pragmatische Theorie der 99 semantische Rolle von 13, 139, 193, 248-250 syntaktische Theorie der 100, 136, 140-141 Zuverlässigkeit von 37, 42-43, 144-

145, 209-210, 237-238, 258, 261 s.a. Beobachtungen, Einschätzung der Verlässlichkeit von; perzeptuelle Klassifikation, Zuverlässigkeit von Beobachtungsausdrücke 64-65, 107 Bedeutung von 110-114, 121-134, 221-225, 249-250, s.a. Theorieabhängigkeit der Bedeutung; Theorieunabhängigkeit der Bedeutung Beobachtungsbegriffe s. Begriffe; Beobachtungsausdrücke Beobachtungsergebnisse 14-15, 174-175 Koinzidenz von 168-169 Beobachtungsprozesse 101-107, 143-144 gezielte Eingriffe in 166-167 kausale Analyse von 167 kurze 14-15, 147-151 lange 12, 14-15, 147-151, 158-170, 181, 185, 247-248, 258 Beobachtungssätze 61-62, 99-109, 143144, 218 Syntax von 102, 106-108, 248-250 Bedeutung von 102-103, 106-107, s.a. Beobachtungsausdrücke, Bedeutung von Berlin, B. 217 bildgebende Verfahren 226-227, 230 Beobachtungen mit 185-186, 192, 230-244, 253-254 Beobachtungsinhalte bei 231-238 Bloor, D. 9, 11 Bogen, J. 150, 159, 179 Brown, H. I. 11, 27-30, 32, 36, 183, 187, 197 Brown, J. 222, 224 Bruner, J. 80, 83 Churchland, P. M. 10, 63, 73-75, 77, 80, 83-84, 99-131, 134-141, 220, 225, 248249 Collins, H. M. 11, 17 Daten 7 Analyse von 159, 258 Auswahl von 159-163, 190-191, 196 satzartige 101-103, 179-194

274

Theoriebeladenheit und Objektivität

und Phänomene 150 s.a. Messgeräte-Daten Descartes, R. 16 Divergenz der Beobachtungsbasen s. Beobachtungen, divergierende Dretske, F. 103, 129, 130 Duhem, P. 20, 155, 156 Duhem-Quine-These s. Prüfungsholismus

Hanson, R. N. 51-58, 60, 62, 65-74, 7677, 79, 91-93, 97, 100, 180 Helmholtz, H. von 80 Helmholtz’sche Wahrnehmungstheorie s. Wahrnehmungstheorie, Helmholtz’sche Hempel, C. 7 Heuhaufen-Argument 137-139, 248-249 Hudson, R. 168

Effektivität s. Beobachtungen, Effektivität von Ekberg, K. 196 Empfindungen 63-64, 79, 104-108, 122, 124, 126-129, 225 empirische Ergebnisse s. Beobachtungsergebnisse; Daten Empirismus 11, 186-187, 197, 259-260 Erfahrung 179-182, 259, s. a. perzeptuelle Klassifikation; Sinneserfahrung Experimente 7, 8, 15, 147, 150-151, 158170, 188, 247-248, s.a. Beobachtungsprozesse, lange; Neuer Experimentalismus experimentelle Praxis 158, 169, 248 experimentelle Daten s. Daten; Beobachtungen; Beobachtungsergebnisse

Ineffektivität s. Beobachtungen, Ineffektivität von Inkommensurabilität 18, 256 Instrumentewahrnehmungen 154-156, 185, 226-229, 253-254, s.a. Theorieunabhängigkeit von Instrumentewahrnehmungen

Fehlerkontrolle 157, 164-166 Fehlschlagsrisiko 26-37 Feyerabend, P. 9, 11, 17, 23, 41, 73, 99101, 103-111, 113, 124-128, 130, 134137, 139-142, 154-155, 180-181, 183, 198, 220 Fodor, J. 10, 129-135, 180, 182, 185, 187, 191-192, 197, 200 Flamsteed, J. 149 Fraassen, B. van 11 Franklin, A. 158, 228 French, P. 12 Galilei, G. 88, 153-155, 158, 160, 173, 259 Galison, P. 163-164, 190 Gestaltpsychologie s. Wahrnehmungstheorie, gestaltpsychologische Golecki, J. 237-238 Gregory, R. 80-81, 83 Hacking, I. 11, 158, 168-171, 228, 256

Jastrow, J. 55 Jeffrey, R. 35-36, 49-50 Kanisza, G. 75-77, 205 Knorr-Cetina, K. 11 Konnektionismus 106-107, 111-114, 137138, 201 Konstruktivismus 9 Kopernikus, N. 87, 153-155 Kosso, P. 38-45, 48, 62, 148, 152 Kowarski, L. 196 Kripke, S. 118, 221 Kuhn, T. 9, 11, 17, 23, 51-53, 65-67, 6972, 74, 78, 80, 84-88, 90, 93-95, 100, 160, 180, 200, 217, 219 Kwong, K. 239 Lakatos, I. 153 Lueken, G.-L. 16 Lyell, C. 218 Mairan, J. 164 Marr, D. 200 Mayo, D. 159 Messgeräte-Daten 101-103, 109, 147, 156-157, 231-232, 247 s. a. Daten Messungen 12, 101-103, 181, 185, 257258 modular repräsentierbare Eigenschaften 203, 213-215, 223

Index

275

Modularität s. Wahrnehmungstheorie, modulare

Relativismus 9, 11, 23, 95 Rock, I. 80, 83, 206

Nagel, E. 7, 9 Newton, I. 149 Netzwerk-Semantik 99, 110-114, 117125, 134-135, 138, 141, 220 Neuer Experimentalismus 158-160, 166170 nichtbegriffliche Bildinhalte s. bildgebende Verfahren, Beobachtungsinhalte bei nichtbegriffliche Wahrnehmungsinhalte s. Sinneserfahrung, nichtbegriffliche

Satzdaten s. Daten, satzartige Sehen-als s. perzeptuelle Klassifikation Sehen-dass s. Wahrnehmungsurteile Semantik s. Begriffe; Beobachtungen, semantische Rolle von; Beobachtungsausdrücke, Bedeutung von; Beobachtungssätze, Bedeutung von; Netzwerk-Semantik; theoretische Ausdrücke, Bedeutung von Shapere, D. 12, 256-257 Shapin, S. 10, 23 Shogenji, T. 29-33, 36 Sinneserfahrung begriffliche Prägung von 53-97 nichtbegriffliche 59-60, 64 reichhaltige 66-70, 76-77 unmittelbare 66-70, 122 s.a. perzeptuelle Klassifikation Sinnesreize 79, 80-83, 202, 215 Verarbeitung von 81-83, 200-202, 205-210, 215 Skeptizismus 9, 11, 16-17 Spahr, T. 161 Störfaktoren s. Fehlerkontrolle Systematische Tugenden 18

Objektivität von Beobachtungen s. Beobachtungen, Objektivität von der Wissenschaft 8, 136 Zweifel an 9-10, 97 Optimismus 11-12, 136, 175 Begründung des 10, 16-19, 248, 256260 perzeptuelle Beobachtungen s. Beobachtungen, perzeptuelle perzeptuelle Erfahrung s. Sinneserfahrung perzeptuelle Klassifikation 53-60, 65, 85, 105, 109, 203, 211, 214-219, 222-225, 235 Fähigkeiten zu 56, 59-60, 64, 86, 8889, 109, 183-187, 193, 210, 219, 228, 235-237, 257 Zuverlässigkeit von 210-213, 258-259 Pessimismus 10-11, 19, 94-95, 137-141, 173, 248-250, 252 pessimistisches UnterbestimmtheitsSzenario 19-23, 91, 95-97, 140-141, 173-176, 250-252 Popper, K. 29, 63 prädiktive Irrelevanz 30-36 Prüfungsholismus 20, 41, 45 Putnam, H. 118-120, 221 Pylyshyn, Z. Quine, W. 20-22 s.a. Unterbestimmtheit, Quine’sche Realismus 10-11, 94-95, 136

Theorieabhängigkeit 8, 15, 256-261 des Begriffsbesitzes 72-74 der Bedeutung 99, 107-109, 112-113, 124-125, 249-250 der Entwicklung von Geräten 146, 238, 253 der Produktion von Sätzen 107-108 der Signalverarbeitung 240-243 der Verlässlichkeitseinschätzung 145147, 151-160, 163-176, 228, 238-240 ontologische 94-95 schwache 70-71, 90-92, 172 selbstabhängige 25-38 starke 70, 92-93, 172-173 unabhängige 25-27, 38-49, 255-256 von Bildinhalten 231, 242 von Wahrnehmungen 52-53, 69-97, 197 Theoriebeladenheit s. Theorieabhängigkeit

276

Theoriebeladenheit und Objektivität

Theorie-Beobachtung-Unterscheidung 115-117 Theorien 18, 21-22, 112 Bestätigung und Widerlegung von 3949 Unvereinbarkeit von 20-21 s.a. Unterbestimmtheit theoretische Ausdrücke 116-117 Bedeutung von 117-121 Theorieunabhängigkeit 33, 256-261 der Bedeutung 118-120, 130, 221, 225, 235-237, 257 der Signalverarbeitung 242-243 der Syntax von Beobachtungssätzen 108 der Verlässlichkeitseinschätzung 152153, 155, 158-160, 163-170, 176, 228229 der visuellen Verarbeitung 201, 209210 direkter Wahrnehmung 225-226 perzeptueller Klassifikation 88-89, 211-212, 215-219, 228, 235, 239, 257 von Bildinhalten 235 von Empfindungen 126 von Instrumentewahrnehmungen 227229

nehmungen mit bildgebenden Verfahren s. bildgebende Verfahren, Beobacbtungen mit natural constraints in 202-203, 207209, 215, 243 veränderliche 67-68, 74-78, 86-88, 209 Wissen in 77, 81-85, 200-203, 205208, 212 Zuschreibungen von 53-65 Zuverlässigkeit von s. Beobachtungen, Zuverlässigkeit von; perzeptuelle Klassifikation, Zuverlässigkeit von s.a. Beobachtungen, perzeptuelle; perzeptuelle Klassifikation; Sinneserfahrung; Sinnesreize Wahrnehmungstheorie gestaltpsychologische 74-80 Helmholtz’sche 80-86, 200, 205-208, 243 modulare 200-210, 243 Wahrnehmungsurteile 53-54, 59-60, 105, 225 Werner, A. 218 Wissenschaftlicher Realismus s. Realismus Wittgenstein, L. 54-55 Woodward, J. 150, 159, 179 Worrall, J. 149, 151 Wright, C. 23, 95

Unabhängigkeit von beladender und geprüfter Theorie s. Theorieabhängigkeit, unabhängige Unterbestimmtheit 9, 10, 18, 19-23, 250256 Quine’sche 20-22 s.a. pessimistisches Unterbestimmtheits-Szenario

Zirkularität 17, 25-26, 28, 37, 39 s.a. Theorieabhängigkeit, selbstabhängige

Verlässlichkeitseinschätzung s. Beobachtungen, Einschätzung der Verlässlichkeit von; Theorieabhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung; Theorieunabhängigkeit der Verlässlichkeitseinschätzung Wahrnehmung 52-97, 103-109, 200-219 direkte 151-154, 199-200, 225-226 Inhalte von s. perzeptuelle Klassifikation; Sinneserfahrung; Wahrnehmungsurteile mit Instrumenten s. Instrumentewahr-

Einführungen / Introductions

Eine Einführung in die Ethik

Studien zur Logik, Sprachphilosophie & Metaphysik Hrsg. von Volker Halbach • Alexander Hieke Hannes Leitgeb • Holger Sturm

lo/goj

Diese Einführung in die Ontologie zeigt die Geschichte der abendländischen Philosophie als einen dauernden Kampf zwischen den Riesen und Göttern von Platons Sophistes. Auf der einen Seite gibt es Philosophen, die die Auffassung vertreten, daß das physikalische Universum existiert und auf der anderen Seite gibt es solche Philosophen, die darauf bestehen, daß es eine weit ‚größere‘ Welt gibt, die auch zeitlose und nicht-räumliche Dinge enthält. Der Autor diskutiert detailliert die wichtige metaphysische Debatte, die diesem Kampf zugrunde liegt, nämlich die Auseinandersetzung zwischen Naturalisten und Ontologen. Diese Einführung in die Ontologie dient zugleich als Einführung in die Philosophie insgesamt und zeichnet sich durch Klarheit, gute Verständlichkeit und einen lebendigen Stil aus. ISBN 3-937202-12-9, 187 Seiten Pb € 15,00

Herbert Hochberg

Introducing Analytic Philosophy Its Sense and its Nonsense 1879 – 2002

lo/goj

Moralisches Sehen

In den vergangenen 50 Jahren war die vorherrschende Auffassung, dass Bemerkungen über richtig und falsch möglichst nicht als der Versuch verstanden werden sollten, die Welt zu beschreiben, da es keine moralischen Fakten gibt. Statt dessen glaubte man, dass moralische Urteile andere Funktionen haben, wie etwa die Haltungen oder Vorlieben des Sprechers auszudrücken. In den letzten Jahren wurde diese non-kognitivistische Position mehr und mehr von moralischen Realisten angegriffen, die darauf beharren, dass es moralische Tatsachen gibt, die von unseren Meinungen unabhängig sind und die wir zu entdecken versuchen. David McNaughton ist Professor der Philosophie an der Universität Keele, Großbritannien. ISBN 3-937202-16-1 Hardcover € 30,00

Studien zur Logik, Sprachphilosophie & Metaphysik Hrsg. von Volker Halbach • Alexander Hieke Hannes Leitgeb • Holger Sturm

Hrsg. von / Edited by Heinrich Ganthaler • Neil Roughley Peter Schaber • Herlinde Pauer-Studer

PRACTICAL PHILOSOPHY

David McNaughton

Reinhardt Grossmann

Die Existenz der Welt Eine Einführung in die Ontologie

Starting with the roots of the analytic tradition in Frege, Meinong and Bradley, this book follows its development in Russell and Wittgenstein and the writings of major philosophers of the analytic tradition and of various lesser, but well known and widely discussed, contemporary figures. In dealing with basic issues that have preoccupied analytic philosophers in the past century, the author notes how analytic philosophy is sometimes transformed from its original concern with careful and precise formulations of classical issues into the dismissal of such issues. The book thus examines the change that came to dominate the analytic tradition by a shift of focus from the world, as what words are about, to a preoccupation with language itself. Herbert Hochberg is Professor for Philosophy at the University of Texas at Austin. He “has emerged as one of the most distinctive and throroughgoing of contemporary ontologists” (Grazer Philosophische Studien). ISBN 3-937202-21-8 280 Seiten, Pb. € 22,00

Neuerscheinung

Georg Brun

Die richtige Formel Philosophische Probleme der logischen Formalisierung

Logik ist nach dem traditionellen Verständnis eine ars iudicandi, eine Kunst, die Gültigkeit von Schlüssen zu prüfen. Damit die formalen Mittel der modernen Logik zu diesem Zweck eingesetzt werden können, müssen erst Formeln an die Stelle von Sätzen treten: umgangssprachliche Schlüsse müssen adäquat formalisiert werden. Die richtige Formel entwickelt ein theoretisches Konzept des Formalisierens und praktisch anwendbare Adäquatheitskriterien für Formalisierungen. Dabei werden zentrale Fragen der Philosophie der Logik unter dem Gesichtspunkt des Zusammenspiels von Umgangssprache und Formalismus diskutiert. Die ausführliche und systematische Diskussion von Formalisierungstests bietet eine wichtige Ergänzung zu den traditionellen Logiklehrbüchern. ISBN 3-937202-13-7 ISBN 1-904632-06-8 (USA und UK) ca. 400 Seiten • € 44,00

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